Physik und Poetik: Produktionsästhetik und Werkgenese. Autorinnen und Autoren im Dialog 9783110440362, 9783110406511

Physics and literature are two forms of knowing the world that are both complementary and contingent. Poetical-physical

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German Pages 320 Year 2015

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Table of contents :
Inhalt
Dialogisches Denken. Für eine Kultur des Ideenaustausches und der Wechselwirkungen zwischen Schriftstellern, Physikern und Literaturwissenschaftlern
Auf der Suche nach Sprache. Ulrike Draesner im Dialog zu »Mitgift« und »Vorliebe«
Librationen. Durs Grünbein im Dialog zu »Cyrano oder Die Rückkehr vom Mond« und »Vom Schnee oder Descartes in Deutschland«
Fiktionen, Simulationen, Dialoge. Erkenntnisstrategien in Wissenschaft, Erzählung und Philosophie
Evolution im Comic. Jens Harder im Dialog zu »Alpha ... directions«
Horizonte der Einsamkeit. Reinhard Jirgl im Dialog zu »Nichts von euch auf Erden«
Die Zeit ist der Abgrund, in den wir fallen. Thomas Lehr im Dialog zu »42«
Sokratische Dialoge. Raoul Schrott im Dialog zu »Tropen« und »Gehirn und Gedicht«
Romane schreiben wäre eine Lösung. Über die Vernetzung von Naturwissenschaft und Literatur. Ulrich Woelk im Dialog zu »Freigang«, »Die Einsamkeit des Astronomen«, »Joana Mandelbrot und ich«
Physik und Ethik. Juli Zeh im Dialog zu »Schilf«
Anhang
Interviewer
Index
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Physik und Poetik: Produktionsästhetik und Werkgenese. Autorinnen und Autoren im Dialog
 9783110440362, 9783110406511

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Physik und Poetik

Literatur- und Naturwissenschaften

| Publikationen des Erlangen Center for Literature and Natural Science/ Erlanger Forschungszentrums für Literaturund Naturwissenschaften (ELINAS)

Herausgegeben von Aura Heydenreich, Christine Lubkoll und Klaus Mecke Editorial Board Jay Labinger, Bernadette Malinowski, Arkady Plotnitsky, Dirk Vanderbeke

Band 1

Physik und Poetik

| Produktionsästhetik und Werkgenese. Autorinnen und Autoren im Dialog Herausgegeben von Aura Heydenreich und Klaus Mecke

ISBN 978-3-11-040651-1 e-ISBN (PDF) 978-3-11-044036-2 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-041788-3 ISSN-Print 2365-3434

Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution-NonCommercialNoDerivatives 3.0 Lizenz. Weitere Informationen finden Sie unter http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/. Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2015 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Umschlaggestaltung: Joseph Reinthaler Satz: PTP-Berlin, Protago-TEX-Production GmbH, Berlin Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Inhalt Zur Einführung Dialogisches Denken Für eine Kultur des Ideenaustausches und der Wechselwirkungen zwischen Schriftstellern, Physikern und Literaturwissenschaftlern | 1 Auf der Suche nach Sprache Ulrike Draesner im Dialog zu »Mitgift« und »Vorliebe« | 23 Librationen Durs Grünbein im Dialog zu »Cyrano oder Die Rückkehr vom Mond« und »Vom Schnee oder Descartes in Deutschland« | 50 Fiktionen, Simulationen, Dialoge. Erkenntnisstrategien in Wissenschaft, Erzählung und Philosophie Michael Hampe im Dialog zu »Tunguska oder Das Ende der Natur« | 94 Evolution im Comic Jens Harder im Dialog zu »Alpha . . . directions« | 130 Horizonte der Einsamkeit Reinhard Jirgl im Dialog zu »Nichts von euch auf Erden« | 146 Die Zeit ist der Abgrund, in den wir fallen Thomas Lehr im Dialog zu »42« | 186 Sokratische Dialoge Raoul Schrott im Dialog zu »Tropen« und »Gehirn und Gedicht« | 228 Romane schreiben wäre eine Lösung. Über die Vernetzung von Naturwissenschaft und Literatur Ulrich Woelk im Dialog zu »Freigang«, »Die Einsamkeit des Astronomen«, »Joana Mandelbrot und ich« | 262 Physik und Ethik Juli Zeh im Dialog zu »Schilf« | 286

VI | Inhalt

Anhang Interviewer | 311 Index | 312

Aura Heydenreich und Klaus Mecke

Dialogisches Denken Für eine Kultur des Ideenaustausches und der Wechselwirkungen zwischen Schriftstellern, Physikern und Literaturwissenschaftlern Warum beschäftigen sich zeitgenössische Schriftsteller mit physikalischen Theorien, Modellen und Experimenten? Welche kulturelle Relevanz schreiben sie ihnen zu? Welche kognitive Signifikanz schreiben wiederum Schriftsteller, Philosophen und Physiker literarischen Texten zu? Die Idee zum vorliegenden Band, der neun Dialoge von Literatur- und Naturwissenschaftlern mit deutschsprachigen Autoren über diese Fragen versammelt, entstand anlässlich der Feststellung einer Asymmetrie zwischen der Fülle der Neuerscheinungen, die physikalische Prinzipien, Modelle und Theorien thematisch oder strukturell aufgreifen, und dem mangelnden interdisziplinären Dialog zwischen Literaturwissenschaftlern und Physikern, um dieses Phänomen zu problematisieren bzw. die Texte zu interpretieren. Jahr für Jahr erscheinen zahlreiche belletristische Publikationen, in denen Physiker als Protagonisten agieren, physikalische Institute als Schauplätze fungieren, physikalische Theorien thematisiert werden oder physikalische Experimente die Erzählstrukturen literarischer Texte prägen. Das ›Science in Fiction‹Genre lebt und ist so vital wie nie zuvor. Als wenige – besonders auflagenstarke – Beispiele seien nur genannt: Michael Frayns »Copenhagen« (1998), ein Drama, das die wissenschaftshistorische Darstellung der Zusammenarbeit zwischen Niels Bohr und Werner Heisenberg während des Zweiten Weltkriegs hinterfragt und zugleich das quantentheoretische Doppelspaltexperiment als Strukturmuster funktionalisiert; Thomas Pynchons Roman »Against the Day« (2006), der William Rowan Hamiltons Quaternionen und James Clerk Maxwells Gleichungen zur Begründung der Elektrodynamik aufgreift und damit zwei viktorianische Wissenschaftler figurieren lässt, die nicht nur wissenschaftliche Theorien entwarfen, sondern überdies Gedichte schrieben; Dietmar Daths Roman »Dirac« (2006), in dem die gleichnamige Gleichung der Quantenfeldtheorie den Roman narrativ strukturiert; Reinhard Jirgls Zukunftsroman »Nichts von euch auf Erden« (2013), in dem biopolitische Aspekte der ›Terraforming‹-Projekte zur Kolonisierung des Mars kritisch hinterfragt werden; Markus Orths’ Roman »Alpha & Omega« (2014), der den Wissenschaftsbetrieb und den Umgang der Medien mit kosmologischen Theorien und astrophysikalischen Modellen satirisch darstellt; Michael Hampes

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Roman »Tunguska oder Das Ende der Natur« (2011), in dem unter dem Vorwand der Aufklärung des Tunguska-Mysteriums, dem vermutlichen Eintritt eines Asteroiden in die Erdatmosphäre, ernsthafte wissenschaftstheoretische Debatten geführt werden. Zu nennen sind auch Durs Grünbeins Gedichtzyklus »Cyrano oder Die Rückkehr vom Mond« (2014), der eine kulturgeschichtliche Kartographie des Mondes als poetische Selenografie entwirft, und Raoul Schrotts Gedichtband »Tropen« (1998), in dem unterschiedliche ästhetische Diskurse des Erhabenen thematisiert werden und für das zwanzigste Jahrhundert ausgerechnet die Quantentheorie als Inbegriff des Erhabenen fungiert. All diese Romane, Dramen und Gedichtzyklen belegen das große Interesse zeitgenössischer Schriftsteller daran, sich mit physikalischen Theorien auseinanderzusetzen und ihre Relevanz für den menschlichen Erfahrungshorizont zu reflektieren. Sie greifen sie auf, wenn sie ihnen poetologisch fruchtbar erscheinen. Literarische Texte wirken so als Bindeglieder, als interdiskursive Medien der Herstellung semantischer Flexibilität. Zwar haben sie seit der Autonomisierung der Literatur in der Sattelzeit um 1800 an referentiellem Anspruch verloren, dafür aber die Freiheit gewonnen, Diskurskonstellationen herzustellen, die dem methodischen Anspruch des disziplinenspezifisch organisierten Wissenschaftsbetriebs nicht verpflichtet sind. Angesichts der Vielfalt einschlägiger Neuerscheinungen in den letzten Jahren verwundert es, wie vergleichsweise gering die Bereitschaft unter Literaturkritikern, Literaturwissenschaftlern und Physikern ist, sich mit den Theorien, Gegenständen, Forschungsansätzen der jeweils anderen Expertengemeinschaft auseinanderzusetzen, um die Probleme, die die literarischen Texte aufwerfen, über disziplinäre Grenzen hinweg zu verhandeln. Wir waren überrascht, mit welcher Freude und Bereitschaft die Schriftsteller auf unsere Anfragen nach einem Dialog über Physik und Poetik antworteten. Überrascht waren aber auch die Autoren, hatte doch noch kaum jemand sie auf diese Bezüge in ihren Werken angesprochen – so offensichtlich diese auch sind. Nach Jahrzehnten der Auseinandersetzungen zwischen den topisch gewordenen »zwei Kulturen« (C. P. Snow benannte ausgerechnet Schriftsteller und Physiker als jene Vertreter, die sich in dieser Kontroverse antipodisch gegenüberstehen) ist es an der Zeit – so die Idee dieses Bandes – den Dialog zu intensivieren, um sichtbar zu machen, was sich in der Arbeit eines Schriftstellers verändert, nachdem er sich mit der Physik beschäftigt hat. Oder umgekehrt, was sich am Selbstverständnis eines Physikers verändert, nachdem er sich intensiv mit der Ästhetik literarischer Texte auseinandergesetzt hat. Setzt dadurch ein Umdenken ein? Auf welchen Ebenen und durch welche Argumente geschieht dies? Dem Band liegt die Idee zugrunde, den Akteuren des literarischen und des wissenschaftlichen Feldes – Schriftstellern, Künstlern, Physikern, Philosophen und Literaturwissenschaftlern – die Möglichkeit zu bieten, ihre eigenen Denk-

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positionen vorzustellen und diese miteinander reflexiv auszuhandeln. Die grundlegende Gesprächssituation ist die des Dialogs als Möglichkeit der thematisch zentrierten Interaktion.¹ Im Vordergrund stehen die Fragen: In welchen kulturellen Spannungsfeldern, die für die zeitgenössische Literatur, Philosophie und Kunst von Relevanz sind, ist die Physik verortet? Und welche Themen geht man – trotz der spezialisierten Expertendiskurse – besser gemeinsam an?

ELINAS – das interdisziplinäre Forschungszentrum für Literatur- und Naturwissenschaften Die genannten Berührungsängste zwischen den Wissenschaften sind eher auf institutioneller Ebene angesiedelt, da die Sprachen und die Methodiken der Physik und der Literaturwissenschaft jeweils hochspezialisiert sind. Die institutionelle Trennung ist eine nicht leicht zu überwindende Hürde, doch es galt sie durch den dialogischen Austausch zumindest nachhaltig zu hinterfragen: Denn wie sollte man sich sonst Zugang zum Wissen der je anderen Expertengemeinschaft verschaffen als durch interdisziplinäre Zusammenarbeit? Dieser Überzeugung folgend, gründeten wir, die Herausgeber dieses Bandes – Klaus Mecke vom Institut für Theoretische Physik und Aura Heydenreich vom Department für Germanistik und Komparatistik der Friedrich-Alexander-Universität ErlangenNürnberg –, 2010 den Arbeitskreis für »Physik und Literatur«, in dem Physiker und Literaturwissenschaftler zusammenarbeiten, deren Forschungsinteressen auf diese Problematik fokussiert sind. Wir waren überrascht über die vielen positiven Reaktionen auf diese Initiative – vor allem auch in den Naturwissenschaften. Vier Jahre später, 2014, ging daraus das Erlanger Zentrum für Literatur- und Naturwissenschaften, ELINAS, hervor, ein interdisziplinäres Forschungszentrum, das sich dem wechselseitigen Wissenstransfer zwischen Physik und Literatur widmet und von der Naturwissenschaftlichen, der Philosophischen und der Medizinischen Fakultät getragen wird. ELINAS wird als ein ›Emerging-Field‹Projekt von der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg gefördert. Mit ihm wurde eine ungewöhnliche Fächerkooperation eröffnet, die auf Dauer angelegt ist: Natur- und Kulturwissenschaftler führen darin ihre Methoden zusammen und untersuchen den wechselseitigen Wissenstransfer zwischen Physik, Literatur und Literaturwissenschaft. Das Thema »Physik und Literatur: Theorie –

1 Ernest Hess-Lüttich: Gespräch. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Bd. 3. Hrsg. von Gert Ueding. Tübingen: Niemeyer, 1996. S. 929.

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Popularisierung – Ästhetisierung« stand im Mai 2014 auch im Mittelpunkt der interdisziplinären Gründungstagung des ELINAS, an der Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen beider Expertengemeinschaften aus elf verschiedenen Ländern beteiligt waren. ELINAS widmet sich zudem der Untersuchung kulturspezifisch geprägter Wissenschaftssprachen und der Analyse der Ethik und Rhetorik wissenschaftlicher Argumentationen in einschlägigen Wissenschaftspublikationen. Diesen Themenkomplex beleuchtete die Tagung »Argumente und Rhetorik in der Physik« im Dezember 2014, die in Zusammenarbeit mit dem Fachverband »Geschichte der Physik« und mit dem Arbeitskreis »Philosophie der Physik« der Deutschen Physikalischen Gesellschaft (DPG) veranstaltet wurde. Die Sammelbände dieser Tagungen erscheinen nach und nach in der (mit dem vorliegenden Band gestarteten) »ELINAS-Schriftenreihe zu Literatur- und Naturwissenschaften«, die 2014 gemeinsam mit dem De Gruyter Verlag konzipiert wurde. Schon jetzt, nach einem Jahr, zeichnet sich ein Wandel des Verhältnisses zwischen den Fakultäten an der Erlanger Universität und den wissenschaftlichen Kulturen in den Fachgesellschaften deutlich ab. Eine nächste Priorität, der wir uns gewidmet haben, war der Dialog mit Gegenwartsautorinnen und -autoren. Ein Dialog, bei dem es vornehmlich darum geht, folgende Fragen gemeinsam zu erörtern: Konkurrieren Physiker und Dichter auf gleicher Ebene mit theoretischen Modellen und literarischen Texten in der Beschreibung der Wirklichkeit? Sollten sie sich deshalb stets die Diskurs- und Deutungshoheit wechselseitig absprechen – oder eher gemeinsam die komplementären Denk- und Darstellungsebenen beobachten? Warum sollte man Zeit mit ›science wars‹ und dem Projizieren von Klischees verbringen, statt wechselseitige Vorurteile im Gespräch zu überprüfen und die Möglichkeit eines konstruktiven Dialoges auszuloten? Um diese Dialoge über den vorliegenden Band hinaus fortzuführen und zu vertiefen, haben wir 2014 das ELINAS »Science & Poetry-Lab« ins Leben gerufen. Darin sollen Autoren als ›Artists in Residence‹ gefördert werden, die ihre Projekte vor Ort im Kontext aktueller universitärer Forschung und im interdisziplinären Dialog verwirklichen können. Als erster Autor suchte Raoul Schrott die Zusammenarbeit mit ELINAS-Mitgliedern aus der Theoretischen Physik und der Astroteilchenphysik für sein Projekt »Die erste Erde. Von der Entstehung des Universums bis zur Erfindung der Schrift«, das als modernes Epos die Verbindung zentraler Weltschöpfungsmythen mit den Diskursen der Naturwissenschaften herstellen soll. Im Februar 2015 fand ein erster Workshop mit Raoul Schrott zum Thema »Lyrik und Physik« statt, bei dem Studierende und Dozenten der Physik und Literaturwissenschaft das Handwerk des literarischen Schreibens in der Werkstattsituation – gleichsam als ›Literatur im Labor‹ – beobachten und

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diskutieren konnten. Vor allem für die Physiker war diese Erfahrung der anderen Kultur eine Bereicherung, die Denkmöglichkeiten eröffnete.

Warum ein Dialogband als Auftakt der ELINAS-Schriftenreihe zu Literatur- und Naturwissenschaften? Als Auftakt zur ersten wissenschaftlichen Schriftenreihe, die Natur- und Literaturwissenschaftler gemeinsam herausgeben, sollten jene Fragen thematisiert werden, die in den Jahrzehnten der gegenseitigen Nicht-Beachtung bzw. der ›science wars‹ unbeantwortet geblieben waren – oder gar nicht erst verhandelt worden waren, weil sie sich erst durch die Interaktion stellen können. Deshalb erschien es uns als Herausgebern angebracht, die Reihe nicht mit einer geschlossenen monographischen Darstellung oder mit einem Sammelband wissenschaftlicher Artikel disziplinärer Herkunft zu eröffnen, sondern vielmehr die Chancen und Grenzen der Interdisziplinarität in einem dialogzentrierten Ansatz polyperspektivisch auszuloten. Denn die monographische Schreibweise hätte die monologische Argumentation der Einzeldisziplinen fortgeführt, während es in der ELINAS-Schriftenreihe um die Wechselwirkungen zwischen den Disziplinen gehen soll. In diesem ersten Band wird der Dialog zwischen den Schriftstellern und den jeweiligen Expertengemeinschaften eröffnet, ist doch die Kommunikationspraxis im literarischen Feld und in den unterschiedlichen Expertengemeinschaften so unterschiedlich,² dass es diese Differenzen in der Wissensproduktion und Wissensvermittlung zunächst im dialogischen Austausch zu erörtern gilt. Während die monographische Schreibweise die Form der Kommunikation gesicherter Erkenntnisse ist, die »Subjekt-Objekt-Relationen« als Erkenntniskonstellationen voraussetzt, setzen die Dialoge auf die kommunikative »Subjekt-SubjektRelation«,³ auf den wechselseitigen Austausch von Argumenten, die Feststellung von Gemeinsamkeiten, aber auch auf das dezidierte Herausarbeiten von Unterschieden, die im Idealfall zur Erkenntnis der Wissensgrenzen des je eigenen Metiers oder der eigenen Disziplin führen kann.

2 Vgl. hierzu Winfried Thielmann: Wissenschaftliche Publikationskulturen und Texttypen. In: Handbuch Literaturwissenschaft. Bd. 3: Institutionen und Praxisfelder. Hrsg. von Thomas Anz. Stuttgart: Metzler, 2007. S. 295–302. 3 Horst Gronke: Die Grundlagen der Diskursethik und ihre Anwendung im sokratischen Gespräch. In: Diskurstheorie und Sokratisches Gespräch. Hrsg. von Dieter Krohn, Barbara Neisser und Nora Walter. Frankfurt a. M.: Dipa-Verlag, 1996. S. 17–39, hier S. 26.

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Dialogisches Denken – Dynamik der Interaktion Eines der Ausgangsprobleme zu Beginn eines solchen Dialogs ist die Erkundung einer gemeinsamen Sprache, in der die wechselseitige Anerkennung der Kongruenz von Relevanzsystemen möglich ist.⁴ Sie wird in fast jedem Dialog thematisiert, denn diese bieten die Möglichkeit, Chancen für die Etablierung einer Diskurs- und Argumentationsgemeinschaft auszuloten.⁵ Damit verbunden ist die Hoffnung auf eine reflexive dialogische Verständniskonstellation, die es erlaubt, die Voraussetzungen und Möglichkeiten des Austausches und des gegenseitigen (Miss-)Verstehens zu thematisieren. Die Form des Gesprächs ermöglicht es überdies, festzustellen, welche Denkstile und Widersprüche die jeweilige Argumentationspraxis prägen. Deshalb geht es in unseren Dialogen auch nicht in erster Linie darum, Konsens herzustellen, sondern vielmehr darum, die Legitimität der dialogischen Vielfalt, die Plausibilität der Positionen und Perspektiven vorzustellen, um in Erfahrung zu bringen, welche Querpfade sich aus dieser Dynamik herausbilden und warum es sich lohnt, diese Pfade zu betreten und trotz aller systemischen Differenzen systematisch zu verfolgen. Verbunden ist damit die Hoffnung, eine gemeinsame Ebene der Beobachtung dritter Ordnung zu schaffen, die die Reflexion über die eigenen Bedingungen der Wissensproduktion gestattet und die jeweiligen Denkstile und Schreibweisen sowie die Möglichkeiten und Voraussetzungen der Interaktion mit ins Visier nimmt. Raoul Schrott gab dem Gespräch, an dem er beteiligt war, den Titel »Sokratische Dialoge« und benannte damit eine Traditionsrichtung dieses hybriden Genres zwischen Expertendialog, Künstlergespräch und Interview. Geht es doch in der dialogischen Situation nicht darum, gewonnene Erkenntnisse zu vermitteln, sondern liebgewordene Selbstverständnisse zu hinterfragen. In genau diesem Sinne verstehen sich alle hier abgedruckten Dialoge als Anregungen zur Hinterfragung kognitiver und diskursiver Mechanismen der Wissensproduktion im jeweiligen disziplinären Kontext. So wie in der Philosophie mit dem sokratischen Dialog eine Gattung etabliert wurde, die die Kategorie der Intersubjektivität für das philosophische Denken ernst nimmt,⁶ sollte auch auf dem zu etablierenden interdisziplinären Feld mit der Grundkonstellation dialogisch geformter Rede die Denk-Interaktion im Vordergrund stehen. Dadurch ist die Chance eröffnet, perspektivisch zu reflektieren, unter welchen methodi-

4 Hess-Lüttich: Gespräch, S. 929. 5 Gronke: Grundlagen der Diskursethik, S. 30. 6 Herbert Schnädelbach: Zum Verhältnis von Diskurswandel und Paradigmenwechsel in der Geschichte der Philosophie. In: Das sokratische Gespräch. Ein Symposion. Hrsg. von Dieter Krohn. Hamburg: Junius, 1989. S. 21–31, hier S. 22.

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schen Voraussetzungen, im Lichte welcher Annahmen und geleitet von welchen Erkenntnisansprüchen man in der eigenen Disziplin oder in der eigenen Arbeit Urteile oder produktionsästhetische Entscheidungen trifft.

Zur Konzeption der Dialoge Unsere Dialoge sind nicht in der Tradition des journalistischen Interviews zu verstehen.⁷ Dagegen spricht allein schon ihre Länge, die keinem Tageszeitungsformat entsprechen würde. Insofern, als sie wichtige Fragen zur Poetik, Werkgenese und Ästhetik der literarischen Texte ausführlich erörtern, knüpfen sie an die Tradition der Werkstattgespräche mit Schriftstellern an,⁸ wie sie etwa Horst Bienek führte,⁹ oder an die Künstlergespräche aus der »Paris Review«.¹⁰ Im Vordergrund der Dialoge stehen aber nicht nur Produktionsästhetik und Werkgenese, sondern stets auch die Physik, ihre Theorien und Experimente, ihre Poetisierung und Ästhetisierung. Jedem Dialog ging eine ausführliche Beschäftigung mit dem dichterischen und essayistischen Werk des jeweils befragten Autors voraus, sodass in vielen Fällen deutlich wird, in welchen diskursiven Kontexten seine Auseinandersetzung mit den Naturwissenschaften und speziell mit der Physik steht. Obwohl sich Künstlergespräche schon seit hundert Jahren im Literatur-, Kunst- und Medienbetrieb großer Beliebtheit erfreuen, erfahren sie erst seit kurzem Aufmerksamkeit als Untersuchungsgegenstand der Literaturwissenschaft.¹¹ In dem 2014 erschienenen Band von Torsten Hoffmann und Gerhard Kaiser, der 7 Eine historisch-systematische Übersicht, die die literarischen Felder der angloamerikanischen, deutschsprachigen und frankophonen Sprachräume aus komparatistischer Perspektive vergleicht und auch die journalistische Tradition des Interviews nachzeichnet, bieten: Anneleen Masschelein und Cristophe Meurée: The Literary Interview: Toward a Poetics of a Hybrid Genre. In: Poetics Today 35.1–2 (2014). S. 1–49. 8 Vgl. Volkmar Hansen: Das literarische Interview. In: »In Spuren gehen . . . « Festschrift für Helmut Koopmann. Hg. von Andrea Bartl. Tübingen: Niemeyer, 1998. S. 461–473. Hansen bietet hier eine erste Typologie der literarischen Interviews an und unterscheidet dabei zwischen dem »Ritual« (bei Neuerscheinungen usw.), dem »Feuilletongespräch« und dem »Werkstattgespräch«. 9 Horst Bienek: Werkstattgespräche mit Schriftstellern. München: dtv, ³1976. 10 George A. Plimpton: Poets at work. The Paris Review Interviews. New York: Viking, 1989. 11 Vgl. Klaus Birnstiel: Interview, Präsenz, Paratext. Versuch einer vorläufigen Feldbestimmung. In: Echt inszeniert. Interviews in Literatur und Literaturbetrieb. Hrsg. von Torsten Hoffmann und Gerhard Kaiser. Paderborn: Fink, 2014. S. 63–80. Birnstiel untersucht hier die Funktion des Schriftstellerinterviews im zeitgenössischen literarischen Feld und stellt fest, dass die Praxis des Interviews zum integralen Bestandteil des Literaturbetriebs und des Schriftstellerberufs geworden ist. Er begründet dies damit, dass das literarische Leben zunehmend von einer »Präsenzkultur« geprägt ist.

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dieses Genre aus historischer und systematischer Perspektive beleuchtet, und im jüngst erschienenen komparatistischen Forschungsüberblick zum ›Literary Interview‹ von Anneleen Masschelein und Christophe Meurée in der Zeitschrift »Poetics Today« attestieren die Autoren, dass eine kategoriale Unterscheidung zwischen den Begriffen ›Interview‹ und ›Gespräch‹ bei einem solch hybriden Genre zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit, zwischen Authentizität und Spontaneität, zwischen der Dynamik des Denk-Austausches und der nachträglichen schriftlichen Bearbeitung kaum haltbar wäre.¹² Hoffmann und Kaiser heben zudem die Multifunktionalität der Textsorte hervor und unterstreichen vor allem drei wichtige Funktionen: die werkpolitische, die literarhistorische und die ästhetische Funktion.¹³ Aus unserer Sicht wäre im Falle der in diesem Band versammelten Dialoge auch die Funktion der Flexibilisierung disziplinenspezifischer Grenzziehungen zu ergänzen.¹⁴ Wenn die Autoren in ihren Dialogen Werkpolitik betreiben, dann plädieren sie insgesamt für eine größere Offenheit des Literatur- und Literaturwissenschaftsbetriebs im Hinblick auf die Fragen, die von der physikalischen Forschung aufgeworfen werden und die nicht nur im engen Rahmen dieser Expertengemeinschaft auf ihre gesellschaftlichen, ethischen, weltbildgenerierenden Implikationen erörtert werden können.

Themen- und Problemkomplexe der Dialoge Im Folgenden stellen wir in einem ersten Schritt die Fragen, Themen und Problemkomplexe vor, denen sich die Dialoge generell widmen, um dann in einem zweiten Schritt darzustellen, worauf sich jeder der einzelnen Dialoge thematisch fokussiert.

12 Vgl. Masschelein, Meurée: The Literary Interview; sowie Torsten Hoffmann und Gerhard Kaiser: Echt inszeniert. Schriftstellerinterviews als Forschungsgegenstand. In: Hoffmann, Kaiser (Hg.): Echt inszeniert. S. 9–29. Hoffmann und Kaiser bieten folgende Definition, die wir für unsere Zwecke übernehmen können, zumal auch hier, wie in der bisherigen Forschung, die Termini ›Interview‹, ›Gespräch‹, ›Dialog‹ weitgehend synonymisch verwendet werden: »Für Schriftstellerinterviews [und] -gespräche gilt, [. . . ] dass es sich um Dialoge handelt, die [. . . ] für eine (nachträgliche) Veröffentlichung [. . . ] geführt werden und an denen mindestens ein Schriftsteller beteiligt ist.« Hoffmann, Kaiser: Echt inszeniert. S. 15. 13 Ebd., S. 11. 14 Zur Modernisierung und zur Aktualität der sokratischen Dialoge sowie zu ihrer Eignung für den zeitgenössischen interdisziplinären Austausch vgl. Dagmar Fenner: Was ist und zu welchem Zweck brauchen wir das sokratische Gespräch? Vom sokratischen Dialog zum sokratischen Gespräch nach Nelson und Heckmann. In: Perspektiven der Philosophie 36 (2010). S. 211–243.

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Fragen nach Recherche und Aneignung Welche Materialien ziehen die Dichter zu Rate, um sich über den aktuellen Stand der physikalischen Forschung zu informieren? Sind es Artikel aus Fachzeitschriften, populärwissenschaftliche Schriften von Physikern bzw. Wissenschaftsjournalisten oder Feuilleton-Darstellungen der Tageszeitungen? Wir waren überrascht darüber, dass jeder Autor eine ganz eigene Motivation anführte, Physik zum Thema zu machen: die eigene Ausbildung als Physiker (Ulrich Woelk), die Faszination für moderne physikalische Weltbilder und ihre philosophischen Implikationen (Thomas Lehr), die Poetik der zeitgenössischen Naturlyrik (Raoul Schrott). Als entsprechend verschieden erwiesen sich auch die Zugänge zum Fach – seien es Diskussionen mit dem Bruder (Juli Zeh), Interviews mit Experten (Ulrike Draesner) oder ein selbst aufgenommenes Studium (Reinhard Jirgl).

Ist der Austausch mit den Expertengemeinschaften gegeben bzw. möglich? Wie gestaltet sich der Austausch, wenn er überhaupt stattfindet? Sind direkte Gespräche mit Experten aus der Theoretischen Physik oder Experimentalphysik mit all ihren Spezialisierungen notwendig oder gar erwünscht? Wie steht die Physikercommunity zur Darstellung ihrer wissenschaftlichen Ergebnisse in der Populärliteratur oder im Feuilleton? Haben die Autoren das Gefühl, dass die Physiker im Dialog Verständnis aufbringen für die konzeptionellen Probleme des poetischen Schreibprozesses bzw. für den komplexen Prozess der Literarisierung? Wie geht man mit der – nach wie vor unter Physikern vorherrschenden – Meinung um, dass physikalische Theorien, die in literarischen Texten poetisiert werden, verifiziert sein sollten, keinen ›esoterischen‹ Kontexten entstammen sollten und dass zudem ihre wissenschaftshistorischen Kontexte korrekt oder zumindest realgetreu repräsentiert werden sollten? Wie reagieren Physiker auf die Position der Schriftsteller, dass derlei für ihren Produktionsprozess und für ihre Texte nicht zwingend ist, weil sie im Namen der Fiktionalität keinen Anspruch auf Realitätstreue bzw. wissenschaftshistorische Exaktheit erheben? Einig waren wir uns in den Gesprächen, dass es bei ›Physik und Poetik‹ nicht um Science-Fiction und auch nicht um ›erzählte Physik‹ gehen kann, sondern um die Suche nach einer Sprache, die den Erkenntnissen der Physik gerecht wird. Dabei treffen sich Physiker und Schriftsteller in gemeinsamen Erfahrungen wie dem Schreiben als Forschungsprozess (Thomas Lehr) oder dem genauen Beobachten (Juli Zeh) sowie bei gemeinsamen Themen wie dem Erhabenen (Raoul Schrott) oder der Verantwortung des Wissenschaftlers (Reinhard Jirgl).

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Die Hürde der Mathematik im interdisziplinären Austausch Ist die Formelsprache der Mathematik eine unüberwindbare Hürde zum Verständnis physikalischer Theorien? Wie findet man, sofern das so ist, als Schriftsteller bzw. Literaturwissenschaftler trotzdem einen Zugang zu den Problemstellungen der Physik, auch wenn sich einem nicht alle mathematischen Formalismen erschließen? Wo fängt man an? Wie erhält man Zugang zu den großen Debatten und Kontroversen der Wissenschaftscommunity? Welche Möglichkeiten gibt es, das angeeignete Wissen abzusichern? Wie viel muss man wissen, um zu verstehen? Wie können Kulturtechniken und -praktiken des literarischen Schreibens und der physikalischen Forschung überhaupt verglichen werden? Gibt es Gemeinsamkeiten, die die Herstellung von Analogien rechtfertigen würden? Oder sind beide Gebiete so weit voneinander entfernt und zudem so unterschiedlich, dass der Austausch immer mit dem Risiko des wechselseitigen Missverständnisses konfrontiert ist? Die Antworten fallen durchaus unterschiedlich aus: Während Ulrike Draesner etwa den »Zahlenwald«, den »Formelforst« als eine abschreckende Dornröschenhecke empfindet, um darauf mit einer Übersetzung ins »Normalvokabular« zu antworten, beklagt Thomas Lehr, dass Literaturverleger keinen mathematischen Zeichensatz zur Verfügung stellen, sodass Formeln im Layout mit der Hand eingefügt werden müssen.

Poetologisches Potential physikalischer Erkenntnisse Welche theoretischen Modelle der Physik erweisen sich als poetisch funktionalisierbar? Wie finden die Autoren ihren Zugang dazu? Welche Theorien erscheinen ihnen interessant? Welche Gedankenexperimente bergen heuristische und poetologische Potentiale? Interessieren sich Schriftsteller eher für Lösungswege physikalischer Probleme oder vielmehr für ungelöste Fragen und aporetische Konstellationen? Eine Gemeinsamkeit findet sich bei allen hier befragten Autoren darin, dass sie der Physik eine Bedeutung für ein zeitgemäßes Selbstverständnis des Menschen zuweisen, das insbesondere den Zumutungen der Quantentheorie und Relativitätstheorie ausgesetzt ist. Diese nicht nur mit ›gesundem Menschenverstand‹, sondern auch literarisch auszuloten, ist nicht nur in Essays (Durs Grünbeins »Cartesischer Taucher«) und philosophisch-literarischen Dialogen (Michael Hampes »Tunguska«) sinnvoll, sondern auch in Gedichten (Raoul Schrotts »Tropen«), Romanen (Thomas Lehrs »42«) und sogar im Comic (Jens Harders »Alpha . . . directions«) und im Kriminalroman (Juli Zehs »Schilf«). Darüber hin-

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aus finden sich bei den Autoren in diesem Band sehr spezifische Fokussierungen, u. a. auf die Innenperspektive eines Physikers (in Ulrich Woelks »Freigang«) oder die Implikationen physikalischer Erkenntnisse für Recht und Moral (in Juli Zehs »Schilf«).

Erkenntniszugänge und Darstellungsmodelle Wie sehen die Schriftsteller die Dreierrelation ›Literatur – Natur – Physik‹, in der die Letztere stellvertretend als ›die‹ Wissenschaft von der Natur fungiert? Lässt sich eine Verschiebung des Interesses feststellen – von der Beschäftigung mit der phänomenalen Natur zur Beschäftigung mit den Fragen, welche Erkenntniszugänge es zu dieser gibt und welche Darstellungsmodelle es von ihr gibt? Ist die zeitgenössische Lyrik nicht mehr schwerpunktmäßig in einer Naturlyriktradition situiert, die sich einer phänomenalen Beschreibung der Natur verpflichtet sieht? Geht es in zeitgenössischen literarischen Texten eher um die Beobachtung zweiter Ordnung, also darum, zu beobachten, wie die Naturwissenschaften ihre Gegenstände erfassen, und zu reflektieren, welche Modelle Naturwissenschaftler konzipieren, um theoretische Zugänge zur Beschreibung von Naturphänomenen zu konstruieren? Mit dem Themenkomplex ›Physik und Literatur‹ wird gemeinhin – wenn überhaupt etwas – vor allem das Genre Science-Fiction assoziiert. Im Gegensatz zu dem, was diese landläufige Zuschreibung erwarten ließe, ist allen von uns befragten Autoren eine gewisse Berührungsangst oder besser Ambivalenz gegenüber diesem Genre gemeinsam. Sie äußert sich etwa in einer Charakterisierung wie »Nicht-Science-Fiction-Science-Fiction-Roman« (Thomas Lehr), mit der Genre-Zuweisungen abgewehrt werden sollen, die auch literarische Stilerwartungen transportieren. Physikern kommt dies entgegen, haben sie doch häufig eine besondere Freude an Science-Fiction im Sinne der Exploration des poetologischen Potentials physikalischer Erkenntnisse in einer literarisch eigenen Sprache.

Wissenschaftliche Metaphorik und semantische Flexibilität Zudem geben die Dialoge nicht nur Anlass, zu eruieren, was passiert, wenn Schriftsteller die Forschungen der Naturwissenschaftler wahrnehmen und sich mit ihnen poetisch auseinandersetzen, sondern auch, was sich daraus ergibt, wenn Wissenschaftler den Umgang mit Literatur und Literaturwissenschaftlern pflegen. Wie reagieren Physiker auf Diskussionssituationen, in denen Fragen an ihre Disziplin gerichtet werden, die ihnen offensichtlich sonst nie (oder viel zu

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selten) gestellt werden? Zum Beispiel die Frage danach, in welchen Zusammenhängen und unter Einsatz welcher diskursiver Praktiken die semantische Metareflexion im Expertendiskurs der Physik geführt wird. Inwiefern ist es für Physiker von Vorteil, die Diskussionen um Begriffsrevisionen im kulturwissenschaftlichen Kontext zu verfolgen, kommen doch hier auch vermehrt physikalische Begriffe zum Einsatz, die häufig kulturell umfunktioniert werden und trotzdem ihre physikalischen Konnotationen nicht verlieren, sondern diese vielmehr auf den ursprünglichen Kontext zurückreflektieren? Die Antworten hierauf sind nicht nur für die Fachdidaktik der Physik von Relevanz, sondern auch für die Kreativität im Forschungsprozess, in dem auch Physiker immer wieder ungesichert über das Drahtseil der Sprache balancieren müssen. Schon Georg Christoph Lichtenberg stellte zu Beginn seiner Sudelbücher fest: »Der große Kunstgriff, kleine Abweichungen von der Wahrheit für die Wahrheit selbst zu halten, worauf die ganze Differential-Rechnung gebaut ist, ist auch zugleich der Grund unsrer witzigen Gedanken, wo oft das Ganze hinfallen würde, wenn wir die Abweichung in einer philosophischen Strenge nehmen würden.«¹⁵ Die Bandbreite all dieser zu erörternden Fragen war nicht nur in den Dialogen eine Herausforderung, sondern bleibt es auch jetzt noch bei deren Lektüre. Da sich herausgestellt hat, dass die Zugänge der Autorinnen und Autoren zum Thema Physik und Poesie so einzigartig wie unterschiedlich sind, werden die Dialoge im Folgenden in alphabetischer Reihenfolge dargeboten. Ausgehend von den oben skizzierten Fragehorizonten sollen die unterschiedlichen Perspektiven der Autoren nun etwas detaillierter vorgestellt werden:

Ulrike Draesner Der Dialog mit Ulrike Draesner widmet sich in erster Linie den beiden Romanen »Mitgift« (2002) und »Vorliebe« (2010), in denen Physikerfiguren als Protagonisten agieren. Er diskutiert, wie Wissenschaftler-, speziell Physikerbilder kulturell konstruiert werden. Ausgangspunkt der Überlegungen ist die erzähltheoretische Beobachtung, dass sich eine literarische Figur unter verschiedenen Perspektivierungen lesen lässt: etwa als ästhetisches Artefakt, als fiktive Figur oder als Symbol.¹⁶ Die Physiker-Figuren in fiktiven Welten konstituieren sich aufgrund unterschiedlicher Codes, die intertextuelle und intermediale Bezüge bündeln, so dass

15 Georg Christoph Lichtenberg: Schriften und Briefe. Hrsg. von Wolfgang Promies. München und Wien: Hanser, 2 2006. A1. 16 Vgl. Jens Eder: Die Figur im Film. Grundlagen der Figurenanalyse. Marburg: Schüren, 2008.

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sie als »subjektive mentale Entitäten oder als intersubjektive kommunikative Konstrukte«¹⁷ existieren. Insofern scheint die Frage berechtigt, mit welchen diskursiven Praktiken und durch welche Medialisierungsstrategien am Mythos des genialen Physikers gearbeitet wird. Wie tragen literarische Texte und kulturelle Kontexte zu der Konstruktion und Dekonstruktion des Wissenschaftler-Images bei? Draesner thematisiert in ihren Romanen und Essays den Unterschied zwischen einem naiven Konzept von Wissenschaftlichkeit, das in der öffentlichen Meinung relativ weit verbreitet ist und demzufolge die Naturwissenschaften die wahren, zuverlässigen und ›letztgültigen‹ Antworten geben, während sie zugleich die fundamentalen Probleme der Wissenschaften verhandelt, für die es noch keine Antworten gibt. So widmet sich unser Dialog mit Draesner auch den Möglichkeiten der Fabrikation und Kommunikation von Erkenntnis: Einerseits geht es um die Frage nach den Möglichkeiten, Erkenntnisse zu produzieren, andererseits um die Frage nach den Möglichkeiten, Realitäten durch Modellsimulationen bzw. virtuelle Bilder zu fabrizieren. Ein interessantes Beispiel hierfür liefert die Urknalltheorie, das Standardmodell der Kosmologie für den Beginn des Universums. Obwohl der Urknall bis heute für die Fachwelt einen rein theoretischen Status hat, scheint er im allgemeinen kulturellen Bewusstsein als Realität fest verankert zu sein. Es scheint eine Parallele zu geben zwischen der Literatur, die im Prozess der Autonomisierung und der funktionalen Ausdifferenzierung ihre spezifische Rolle darin gefunden hat, auf unlösbare Probleme hinzuweisen, und der Wissenschaft, die sich ebenfalls mit ungelösten Problemen auseinandersetzt: Die Literatur eröffnet die Möglichkeit des symbolischen Probehandelns in imaginären Räumen, die Theoretische Physik entwirft Modelle in der Hoffnung, dass eines Tages eine experimentelle Apparatur vorhanden sein werde, um sie zu bestätigen oder zu falsifizieren.

Durs Grünbein Durs Grünbein betreibt in seinem Gedichtband »Cyrano oder Die Rückkehr vom Mond« – wie bereits erwähnt – eine Art Selenografie. Sein Zyklus ist ein Projekt der Mondkartierung durch die Poesie, wobei es um die Genealogie kultureller Mond-Vorstellungen geht. An ihm kann gezeigt werden, wie ein Himmelskörper

17 Jens Eder, Fotis Jannidis und Ralf Schneider: Characters in Fictional Worlds. An Introduction. In: Characters in Fictional Worlds. Hrsg. von Jens Eder, Fotis Jannidis und Ralf Schneider. Berlin: De Gruyter, 2010. S. 3–66, hier S. 9.

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nicht nur der Gegenstand der Astrophysik oder Astronomie ist, sondern zum Kompendium kultureller Projektionen werden kann. Denn die Kartierung des Mondes hatte jahrzehntelang nicht mit der realen Geographie übereinzustimmen gehabt, sondern mit dem kulturell Imaginären, das die menschliche Beobachtungsperspektive erzeugt. Von Grünbein zusammengetragen wurde ein Palimpsest aus astrophysikalischen Beobachtungen, Messungen und Astrofiktion. Interessant ist die historische Epoche, in der Grünbein den Beginn der poetischen Mondarchäologie verortet: zu Beginn des siebzehnten Jahrhunderts nämlich, als der Mond nicht nur ein harmloses Traummotiv romantischer Projektion ist, sondern ein Kampfgebiet metaphysischer, theologischer und naturwissenschaftlicher Weltanschauungen. Damit verbunden ist auch die Neu-Perspektivierung, der neue Blick, den man auf die Erde richtet, wissend um das geistige Abenteuer der Rekonzeptualisierung des Mondes als Erdsatellit und der Erde als Himmelskörper. Grünbein ist fasziniert von der Epoche der frühen Neuzeit, von dem Philosophen René Descartes und dem Dichter Cyrano de Bergerac, die er zu Protagonisten seiner Gedichtzyklen macht, aber auch von den wissenschaftlichen Persönlichkeiten Galileo Galilei und Johannes Kepler. Es scheint so, als vollziehe sich in »Cyrano oder Die Rückkehr vom Mond« eine Revision der Konstruktion von Antipoden zwischen Wissenschaft und Literatur, die noch in Grünbeins frühem Essay »Galilei vermißt Dantes Hölle« (1996) aus der Retrospektive betrieben worden war. Dies ist bereits an den Gedichttiteln erkennbar, die im poetischen Universum des »Cyrano«-Bandes eine Fülle von Wissenschaftler-Persönlichkeiten der frühen Neuzeit evozieren. Diese arbeiteten parallel auf physiko-theologischem, naturphilosophischem und physikalischem Gebiet an der Rekonzeptualisierung der Beziehungen zwischen Mond und Erde und an der Aufhebung der aristotelischen sublunaren und supralunaren Grenze, um die kopernikanische Revolution durchzusetzen. Somit werden in diesem Dialog anhand der Gedichtzyklen »Vom Schnee oder Descartes in Deutschland« (2003) und »Cyrano oder Die Rückkehr vom Mond« die Genealogie der Beziehungen zwischen Literatur und Wissenschaft diskutiert. Insbesondere finden sich darin zwei Dimensionen des Grünbein’schen Werks nachgezeichnet: erstens die Konzeption des Descartes-Zyklus als poetische Streitschrift gegen die reduktionistische Tradition der philosophischen Rezeption, zweitens die Konzeption des Mond-Gedichtzyklus als poetisches Medium der Erkenntnis kulturell tradierter Mondvorstellungen. Problematisiert werden auch die Begriffsbildung in den Naturwissenschaften und der metaphorische Gebrauch wissenschaftlicher Begriffe in der Poesie. Vor diesem Hintergrund werden auch die epistemischen Funktionen wissenschaftlicher und poetischer Bilder vergleichend diskutiert. In der modernen Mondfotografie werden Bilder der Mondgeographie aus mehreren Detailaufnahmen zusammengestellt; erst durch

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Zusammenstellung entsteht das Gesamtbild des Mondes. Die Fotografie kann als Medium der Erkenntnis gelten, da durch Übergänge und Überlappungen ein Ganzes konstruiert wird. Verhält sich dieser künstlerisch-fotografische Zugriff auf den Mond analog zum poetologischen Kunstgriff des Gedichtzyklus, in dem eine Kulturgeschichte des Mondes mosaikartig entsteht, die dank der kontextuellen Differenzen intersubjektiv nachvollzogen werden kann? Oder besteht ein Unterschied darin, dass die Fotografie Ganzheitlichkeit simuliert und ihren Konstruktcharakter versteckt, während die Poesie Widersprüche potenziert und ihren Konstruktcharakter ausstellt?

Michael Hampe Michael Hampe vertritt in dieser Reihe ein Projekt der negativen Naturphilosophie und fragt sich, ob man heutzutage im philosophischen Diskurs überhaupt noch nach einem Naturbegriff fragen kann oder ob dieses Problem nicht gänzlich in den mathematischen Formalismen der Physik und Biologie verhandelt wird. Wenn das so wäre, wie steht es dann um die historische Dimension naturwissenschaftlicher Disziplinen? Wie wichtig ist es für die Physik, sich auf die kulturhistorische Dimension des eigenen Faches zurückzubesinnen, um zum Beispiel Transformationen von Konzepten in physikalische Größen nachvollziehen zu können? Anhand von Michael Hampes Schrift »Tunguska oder Das Ende der Natur« reflektiert der Dialog auch über die Unterschiede in der Bewertung begrifflicher Bedeutungsvielfalt in explanatorischen versus erzählenden Projekten und darüber, dass der historische Prozess der Herausbildung und Klärung naturwissenschaftlicher Begriffe vor allem mit einer Entnormativierung einhergeht. Paradox erscheint dabei auch eine Beobachtung: Je mehr physikalische Begriffe von den metaphorischen Ursprüngen bis zur Formalisierung an semantischer Dichte verlieren, desto mehr gewinnen sie an Erklärungsreichweite. Die harte Arbeit der Physiker bei der physikalischen Begriffsprägung, die mit der mathematischen Formalisierung verbunden ist, besteht in der Beseitigung von möglichen Konnotationen als Misskonzeptionen. Die Funktion der Philosophie in diesem Zusammenhang ist nicht – so Hampe – die Natur in Konkurrenz mit der Physik zu erklären, sondern eine vergleichende Übersicht darüber zu bieten, wie in unterschiedlichen naturwissenschaftlichen Disziplinen Bedeutungen geschaffen werden und aufgrund welcher Überlegungen in gewissen Fällen Bedeutungsvielfalt verengt werden muss. Die Vorführung des vorgegebenen Spielraums zwischen Bedeutungsvielfalt und Bedeutungsverengung führt zu einer Übersicht über die semantische Landschaft eines Begriffes in unterschiedlichen Disziplinen. Als Folge ist im Idealfall mit der Hebung des Reflexionsniveaus im Umgang mit

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Begriffen in unterschiedlichen normativen, deskriptiven oder explanatorischen Projekten zu rechnen.

Jens Harder Der Dialog mit Jens Harder beschäftigt sich mit der Konkurrenz oder Komplementarität zwischen Bild- und Textmetaphorik in der Darstellung naturwissenschaftlicher Phänomene in seiner ›Graphic Novel‹ »Alpha . . . directions« (2010). Sie stellt die Geschichte von der Entstehung des Universums bis zu den Anfängen der menschlichen Kultur zeichnerisch dar. Zugleich präsentiert sie in einer beeindruckenden Synopse die Geschichte unterschiedlicher mythischer und kultureller Darstellungen der Erdevolution sowie unterschiedliche wissenschaftliche Zugänge zur Erklärung der Erd- und Menschheitsevolution. Dabei überlappen sich die Poietik der Erdentstehung mit der Poetologie des Comics gleich zu Beginn des Bandes: Aus den Speedlines der Inflation entfalten sich lose Linien, die sich dann zu Panelrändern gruppieren – und dies sechs Seiten lang, erst dann fällt das erste Wort. Das scheint den erzählerischen Primat des Bildes vor dem Text zu betonen – eine äußerst selbstbewusste Autopoetologie des Comics. Dieser beobachtete Konnex wird zum Anlass, darüber nachzudenken, was das Medium Comic anderen Medien voraushat, wenn es um die Erzählung von Kosmogonie und Evolution geht. Zugleich fragt der Dialog, wie in einem so großangelegten erzählerischen Projekt, das Kosmologie und mythische Vorstellungen, religiös motivierte Darstellungen und wissenschaftlich fundierte Theorien zum Urknall und zur Evolutionsbiologie miteinander vereint, das Verhältnis zwischen Wissenschaft und Religion in seiner historischen Entwicklung gedacht wird. Schließen diese Zugänge einander aus? Oder machen sie vielmehr in der erzählerischen Synthese sichtbar, dass für den Menschen die Bezüge zur Transzendenz und zur wissenschaftlichen Objektivität komplementär zueinander notwendig sind? Und wie steht ein solches Projekt, das zumindest erzählerisch und konzeptionell auf Ganzheitlichkeit angelegt ist, zu den postmodernen Postulaten des Verschwindens der großen Erzählungen, denen ein einzelnes Narrativ zugrunde liegt? Ist auch »Alpha . . . directions« als Projekt ein Symptom der NachPostmoderne, in der sich eine gewisse Tendenz zur Wiedergeburt der ›grands récits‹ abzeichnet? Wie lässt sich ein solches Projekt gestalten, wenn man bereits um die Kontingenz der Zusammenhänge weiß? Wie lassen sich dann Brüche, Leerstellen und die zahlreichen Gebiete des Nicht-Wissens in einer Geschichte des Wissens darstellen? Und wie geht man künstlerisch damit um, dass stets wissenschaftliche Theorien referiert werden müssen, die sich nur durchsetzen

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konnten, weil sie in ihrem Anspruch auf Objektivität und Kontextfreiheit überzeugen konnten, und diese wiederum nun aus subjektiver Perspektive in einen bildnerischen Erzählrahmen rekontextualisiert werden müssen?

Reinhard Jirgl Das Interview mit Reinhard Jirgl widmet sich dem Roman »Nichts von euch auf Erden« (2013), der visionäre ›Terraforming‹-Projekte zur Kolonisierung des Planeten Mars kritisch darstellt. Der Roman erkundet die permanente Tendenz der Menschheit, nach Entwicklung zu streben, und beschreibt dabei ihr Verhältnis zum ›Hauptgegner Natur‹ bzw. die Neigung des Menschen dazu, Wirklichkeitssysteme zu wechseln oder Visionen und Zukunftsszenarien zu entwickeln, um gegenwärtige Horizontbegrenzungen zu transzendieren. Der Dialog reflektiert die wissenschaftsethischen Dimensionen solch technischer Zukunftsvisionen, die in nicht allzu ferner Zeit das menschliche Leben prägen werden. Wie gestaltet sich der schleichende Übergang des Funktionentransfers – wenn Mythos, Religion, Literatur und später auch Philosophie ihren explanatorischen Anspruch aufgegeben haben und diesen zunehmend den Naturwissenschaften überlassen, die dafür hochspezialisierte und erfolgreiche Methoden entwickelt haben? Inwiefern werden für die politische Vermittlung solcher Visionen Wissenschaftsdiskurse zur Tarnung von Machtansprüchen instrumentalisiert? Welche Kommunikationsstrategien kommen dabei zum Einsatz? Welche Möglichkeit hat Literatur, diese kritisch zu hinterfragen? Zudem diskutieren wir mit Reinhard Jirgl über den Unterschied zwischen dem Gebrauch wissenschaftlicher Metaphern in Fachtexten und über den Einsatz wissenschaftsbezogener Begriffe als Metaphern für Wissenschaftlichkeit in literarischen Texten. Interessant ist auch die Auseinandersetzung um die Verwendung pseudowissenschaftlicher Theorien in literarischen Texten, wie zum Beispiel die Theorie der morphologischen Felder von Rupert Sheldrake in »Nichts von euch auf Erden«, die zwar in der Physik nicht anerkannt ist, für den Schriftsteller aber ein großes poetologisches Potential hat.

Thomas Lehr Bei der Literarisierung physikalischer Theorien konzentriert sich Thomas Lehr hauptsächlich auf deren erkenntnistheoretischen Inhalt. Der Roman ist für ihn ein ›Erkenntnisinstrument‹, das Schreiben ein forschendes, geistiges Abenteuer. Das soll am Beispiel seines ›Zeitromans‹ »42« (2005) illustriert werden,

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in dem die physikalische Thematik eine zentrale Rolle spielt. Der Roman ist als Gedankenexperiment konzipiert: Eine Gruppe von Besuchern des Genfer CERN-Zentrums befindet sich auf einer Erkundungsreise im Inneren des Teilchenbeschleunigers DELPHI und stellt bei ihrer Rückkehr ins Freie fest, dass dort unterdessen für die restliche Welt die Zeit stehengeblieben ist. Lediglich die Besuchergruppe – bestehend aus CERN-Physikern, ein paar Politikern und den Romanprotagonisten, die Wissenschaftsjournalisten sind – ›haben noch Zeit‹. Doch der dramaturgische Motor des Romans ist nicht der Zeitstillstand an sich, sondern die Diskrepanz zwischen den zwei Situationen Zeitstillstand und Zeitfluss, die auf allen Romanebenen ausgespielt wird: auf der Inhaltsebene, der Darstellungsebene, auf intermedialer und intertextueller Ebene. Der Roman bietet eine profunde gedankliche Auseinandersetzung mit den philosophischen, physikalischen, soziologischen Versuchen, das Wesen der Zeit zu definieren und ihre Bedeutung für den menschlichen Lebenshorizont zu reflektieren. Denn schon die entscheidende Frage ›Was ist denn eigentlich die Auffassung von Zeit und Zeitlichkeit in der Physik?‹ ist nicht widerspruchsfrei zu beantworten, erscheint die Zeit doch bei Aristoteles als Maß für die Bewegung, in der Mechanik Newtons als Parameter in einer Gleichung, in der Thermodynamik als Richtungsangabe für die scheinbar irreversible Zunahme entropischer Prozesse, in der Relativitätstheorie als nicht mehr ausgezeichnete Größe eines vierdimensionalen Raumzeitkontinuums und speziell in der Kosmologie als Maß für die Expansion oder Kontraktion des Universums. Zudem ist eine zentrale Diskrepanz in der physikalischen Forschung beobachtbar: jene zwischen dem ständigen Bestreben nach Vereinheitlichung fundamentaler Theorien – zum Beispiel Quantentheorie und Relativitätstheorie – und den zahlreichen Widersprüchen, die dieser Vereinheitlichung im Weg stehen; etwa auch im zentralen Punkt der Auffassung der Zeit. Diese wird in der einen Theorie klassisch – im Sinne Newtons – und in der anderen relativistisch konzeptualisiert, was nicht miteinander vereinbar ist. Somit rücken vor allem der Forschungsprozess, die grundlegende Neugierde, die Suche nach Erkenntnis und die hierfür immer neuen und verwirrenden Aspekte der Theoriebildung in den Vordergrund des dynamischen Erzählprozesses. Lehr kommt es darauf an, die Dynamik der Denklust, den »Eros der Denkmühe« im Erkenntnis- und Forschungsprozess literarisch zu vermitteln. So konzentriert sich unser Dialog mit Lehr vor allem auf die Frage, ob literarische Texte das Bewusstsein schärfen können für die Komplexität der semantischen Felder, in denen mit diesen Begriffen operiert wird (zum Beispiel mit dem Begriff der Zeit – im philosophischen, biologischen, theologischen, physikalischen, kosmologischen, soziologischen, geschichtsphilosophischen, anthropologischen Kontext), und auf die Widersprüche und Aporien, die damit einhergehen.

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Raoul Schrott Raoul Schrott hingegen interessiert sich für die tropische und rhetorische Seite der wissenschaftlichen und kulturellen Diskurse. Seine Beschäftigung mit der Literarisierung der Physik findet ihren Ausdruck sowohl in expositorischen Überlegungen, in seinen Essays zu »Schrödingers Katze« (1999) oder »Zur Symmetrie der Poesie« (1999), als auch im erwähnten Lyrikband »Tropen. Über das Erhabene« (1998). Dieser ist ein poetischer Traktat über das Erhabene, der dessen tradierte Diskurse und Vorstellungsbilder mit neuen, ungewohnten aus dem physikalischen Bereich kontrastiert: Optik, Farbenlehre und Quantentheorie. Gegenstände der Poetisierung sind die Phänomene der Symmetriebrechung, der Dekohärenz und die Übergänge von den Wahrscheinlichkeitszuständen in der subatomaren Welt zu anschaulichen Phänomenen in der makroskopischen Welt. Naturgemäß stellt sich in unserem Dialog die Frage, warum ausgerechnet die Phänomene der Quantentheorie der epistemologische Ausgangspunkt zu einer poetologischen Erkundung des Erhabenen sind. Für das neunzehnte Jahrhundert war das von Hegel formulierte Diktum, demzufolge das Erhabene nur noch in Bezug auf vergangene Epochen Bedeutung besitzt, noch sehr wirkmächtig. Schrotts Band scheint ein Gegenkonzept zu vertreten, wobei das Erhabene jenseits der Ästhetik auch in den Erkenntnissen oder Erkenntnisweisen der Naturwissenschaften zu erahnen ist. Doch was zeichnet die Physik im Vergleich zu anderen Naturwissenschaften aus, das ihre besonders große Bedeutung für diesen Lyrikband rechtfertigt? Kann man in der Lyrik der Gegenwart von einer neuen Qualität der Auseinandersetzung mit den Naturphänomenen sprechen, insofern, als nicht mehr diese selbst geschildert werden, sondern eher auf zweiter Stufe beobachtet wird, wie die Naturwissenschaften die Naturphänomene konzeptualisieren? Kann Lyrik dann markieren, wo die Wissenschaft sprachlos bleibt, weil ihre Erklärungen nicht mehr greifen? Und was ist mit der Sprachlosigkeit der Nicht-Eingeweihten gegenüber der Funktion der Mathematik in der physikalischen Forschung? Ist die Mathematik mit einer Sprache oder einem Symbol- bzw. Kommunikationssystem vergleichbar? Oder unterscheidet sie sich von einer Sprache gerade dadurch, dass ihre Begriffe stets eindeutig definiert sind, ihre Sätze axiomatisch aufgebaut sind und ihr System logisch rekonstruierbar ist? Was macht die Schönheit einer Formel aus? Welchen ästhetischen Prinzipien folgen Physiker, wenn sie ästhetische Urteile über mathematische Formeln aussprechen? Spielen die ästhetischen Prinzipien auch als kognitive Kategorien eine Rolle und beeinflussen sie die Richtung der Entwicklung einer Theorie oder die Darstellungsform einer mathematischen Gleichung?

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Ulrich Woelk Ulrich Woelk hat sich als promovierter Physiker sein ganzes Schriftstellerleben mit dem Verhältnis zwischen Physik und Literatur auseinandergesetzt. Und das in unterschiedlichen Medien: Seine poetologische Position reflektiert er in den Essays »Literatur und Physik« und »Science-Fiction ohne Plot« (2001). Die literarisch-fiktionale Auseinandersetzung mit dem Thema beginnt schon in seinem Debütroman »Freigang« (1990) und in dessen Fortsetzung »Die Einsamkeit des Astronomen« (2005). Schließlich widmet er den grundlegenden mathematisch-physikalischen Theorien des zwanzigsten Jahrhunderts – Relativitätstheorie, Quantentheorie, Chaostheorie – eine Romantrilogie, bestehend aus den Titeln »Einstein on the Lake« (2005), »Schrödingers Schlafzimmer« (2006) und »Joana Mandelbrot und ich« (2008). Mit »Sternenklar« (2008) verhandelte er solche Themen auch im Genre der Kinderbuchliteratur. Ausgangspunkt der Auseinandersetzung Woelks mit dem Thema ›Physik und Literatur‹ ist sein frühes Interesse für die philosophischen Implikationen physikalischer Theorien. Dennoch unterscheidet Woelk sehr klar zwischen den beiden Zugängen, denn die Literarisierung physikalischen Wissens erfordert besondere Techniken des ›emplotments‹, der Figurendarstellung, des Geschichtenerzählens; hinzu kommen die Besonderheiten der poetischen Strukturierung des Materials. Wie wird physikalisches Wissen poetisiert? Wie inszeniert man die Dynamik der Denkvorgänge? Wie recherchiert man Informationen zum Habitus der Figuren? Welche Selbstinszenierungspraktiken sind typisch für den Habitus des ›genialen Physikers‹? Sind diese vergleichbar mit der Konstruktion eines Schriftstellerbildes als Kunstfigur? Wie kann man eine Figur dramaturgisch führen, deren Hauptmotivation der Erkenntnisdrang ist? Welche Funktion hat der Plot in einem Wissenschaftsroman? Welche Genre-Erwartungen haben sich bereits durchgesetzt? Wie spielt man virtuos auf der Klaviatur zwischen Erfüllung und Enttäuschung von Erwartungen? Worin besteht das Faszinationspotential der Quantentheorie, des ›Darlings‹ der naturwissenschaftlich informierten zeitgenössischen Poesie? Wie ist die Antinomie zu überbrücken, dass die Quantentheorie einerseits für den Expertendiskurs der Physiker die Theorie ist, die am besten funktioniert, weil ihr Formalismus es ermöglicht, die präzisesten Voraussagen zu treffen, während sie für den breiten kulturellen und physik-philosophischen Diskurs noch so viele ungelöste epistemologische und ontologische Fragen aufwirft? Und inwiefern prägen kulturelle Vorstellungen auch die Genese naturwissenschaftlicher Theorien?

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Juli Zeh Der Dialog mit Juli Zeh widmet sich hauptsächlich dem Roman »Schilf« (2007), der die Frage aufwirft, welche Denkmöglichkeiten im Ethischen und Moralischen durch physikphilosophische Konzeptionen von Quantenwirklichkeiten eröffnet werden. Wenn der Mensch als Beobachter in Quantenprozesse eingreift, ist er dann als Individuum auch mitverantwortlich für die Erschaffung der Wirklichkeit? Was bedeutet das für die ethische Bewertung unseres Handelns? Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, auf welcher Grundlage man von ethischen und moralischen Grundsätzen sprechen kann, die zwar gesellschaftlich im diskursiven Prozess ausgehandelt werden sollen, aber dann per Gesetz allgemeine Gültigkeit haben sollen. Und in welcher Weise sollte der Begriff des Gesetzes verstanden werden? Entspricht er eher einer juristischen normativen Vorgabe, dann ist er Ausdruck der menschlichen Gesellschaft und das Ergebnis einer anthropozentrischen Perspektive auf die Welt. Und wie ist dann der Begriff ›Naturgesetz‹ an der Schnittstelle zwischen dem physikalischen und dem juristischen Kontext zu verstehen? Sodann geht es im Dialog um die Frage nach der Verknüpfung von physikalischen Experimenten und literarischen Versuchsanordnungen in der Konzeption eines Romans. Für das literarische Schreiben trifft man im Prozess der Selektion und der Kombination des physikalischen Stoffes wichtige künstlerische Entscheidungen. Es geht um ein Wissen, das einer hochspezialisierten Expertenkultur entnommen ist und in dieser Art von Differenziertheit im literarischen Text nicht wiedergegeben werden kann. Stellt sich das Problem der notwendigen Komplexitätsreduktion? Wie geht man mit der Sprachmetaphorik um, die sowohl im wissenschaftlichen als auch im literarischen Diskurs disziplinenspezifisch zur Anwendung kommt? Wie funktionieren die Vermittlungsprozesse zwischen dem wissenschaftlichen Expertendiskurs und dem kulturellen Diskurs bzw. der breiten Öffentlichkeit? Und wie viel Tiefe und Ernsthaftigkeit der Auseinandersetzung, wie viel Komplexität des physikalischen Denkens kann oder darf der Textproduzent seinem Leser zumuten?

Danksagung An dieser Stelle möchten wir uns bei allen beteiligten Schriftstellerinnen und Schriftstellern ganz herzlich bedanken – für ihre unglaubliche Bereitschaft zum Dialog und für die Ernsthaftigkeit, mit der sie auf unsere Fragen eingegangen sind.

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Unser Dank gilt auch Manuela Gerlof und dem De Gruyter Verlag für die Einrichtung der ELINAS-Schriftenreihe für Literatur- und Naturwissenschaften sowie auch Rainer Rutz für die äußerst sorgfältige Betreuung dieses Bandes. Die Arbeit an diesem Projekt begann im Sommersemester 2011 im Rahmen eines interdisziplinären Seminars an der Universität Erlangen-Nürnberg, das vom Department für Germanistik und Komparatistik gemeinsam mit dem Institut für Theoretische Physik angeboten wurde. An diesem Seminar nahmen Studierende und Doktoranden teil, die zur Hälfte aus der Physik und zur Hälfte aus der Literaturwissenschaft kamen und die im Anschluss auch an der Konzeption, Durchführung und Transkription der Dialoge beteiligt waren. Dank gebührt hierfür Stefanie Burkhardt, Miri Köbner, Stephanie Richtmann, Eckhard Strobel und Christina Tanase. In einer nächsten Phase weitergeführt wurde das Projekt August 2012 auf einer Sommerakademie der Studienstiftung des deutschen Volkes zum Thema »Zahl und Erzählung: Physik und Poesie« in Salem am Bodensee, die die Herausgeber leiteten. Unter den Physikern und Literaturwissenschaftlern, die daran teilnahmen, fanden sich auch Studierende, die sich an den Dialogen sowohl konzeptionell als auch redaktionell beteiligten: Martin Idel und Oriana Schällibaum. Ebenfalls zu danken haben wir weiteren Kolleginnen und Kollegen, die das Forschungszentrum ELINAS mitbegründeten und/oder sich auch an den Dialogen mit den Schriftstellern beteiligten: Angelika Lampert, Isolde Meinhard und Clemens Heydenreich. Der Band wäre nicht zustande gekommen ohne den unermüdlichen Einsatz von Bastian Greven, Alexander Laska, Vera Podskalsky, Joseph Reinthaler, Maria Sawitzki, Christina Sontowski, Elena Walter und Stefan Winter, denen hiermit für die mühevolle Arbeit an Transkriptionen, Lektorat und Korrekturen gedankt sein soll. Da in einem Dialogband eher ein sparsamer Umgang mit Fußnoten geboten ist, sind die Primärwerke und Essays der Schriftsteller, aus denen zitiert wird, mit Siglen versehen, die bei der Ersterwähnung der Werke zu finden sind. Die Quellen, denen die Zitate entstammen, sind im Literaturverzeichnis am Ende des jeweiligen Interviews aufgeführt. Aura Heydenreich und Klaus Mecke

Erlangen, 24. März 2015

Aura Heydenreich und Klaus Mecke

Auf der Suche nach Sprache Ulrike Draesner im Dialog zu »Mitgift« und »Vorliebe« Heydenreich: Im Zuge unserer interdisziplinären Arbeit haben wir eine Asymmetrie festgestellt zwischen dem Interesse der Autorinnen und Autoren an physikalischen Theorien und dem etwas geringeren Interesse der Literaturwissenschaftler, sich mit diesem Thema im Dialog mit den Physikern auseinanderzusetzen und es zu untersuchen. Dabei scheint das Thema ja seit mehreren Jahren virulent zu sein. Deshalb dachten wir, es sei an der Zeit, diesen Dialog zwischen Physikern, Schriftstellern und Literaturwissenschaftlern zu beginnen. Sie sind beides, Literaturwissenschaftlerin und Autorin. Wie reagierten das breite Publikum und die jeweilige Expertenkultur auf die Thematisierung des physikalischen Wissens in Ihren literarischen Texten? Wurden Sie überhaupt schon einmal dazu genauer befragt? Draesner: Nein, eigentlich nicht. Und Reaktionen gab es auch nur wenige. Wenn ich mit Physikern spreche, brauche ich sie meistens als Quellen für meine Interessen und sie kommen gar nicht darauf, mir Fragen zu stellen. Mit anderen Literaturwissenschaftlern habe ich auch noch nie darüber gesprochen. Die Asymmetrie, die Sie eben erwähnten, fällt mir auch aus anderer Perspektive auf. Geisteswissenschaftler und Naturwissenschaftler bespielen getrennte Felder nach jeweils eigenen Regeln, und wenn man nicht wirklich eine bewusste Anstrengung unternimmt, trifft man sich nicht und tauscht sich auch nicht aus. Kein Wunder, die Sprachen sind nicht unbedingt kompatibel. Konkret: In dem Augenblick, in dem ich das Reich mathematischer oder physikalischer Formeln betrete, brauche ich jemanden, der mir seine Regeln und Zeichen erklärt bzw. mir das Ganze in Sprache übersetzt – es darf ruhig auch die Fachbegrifflichkeit sein –, mich an die Hand nimmt und herumführt. Ich wiederum kann dann fragen und nachbohren. So sieht der Austausch im Endeffekt aus. Es gibt einen Physiker, der mir bei dem Roman »Vorliebe« sehr geholfen hat, Dr. Herbert Scheingraber, er forscht am Max-Planck-Institut für Extraterrestrische Physik in Garching bei München. In diesem Fall kam es zu einem wirklichen Austausch, denn Herbert Scheingraber hat sich seinerseits für Literatur und meine Arbeit interessiert. Heydenreich: Wissenschaftler als Protagonisten literarischer Texte sind en vogue, die Beispiele zahllos. So auch in Ihrem Werk: in »Mitgift« Lukas, ein Astrophysiker, in »Vorliebe« Harriet, eine Astrophysikerin, der Physiker Erik kommt in beiden Romanen vor, und auch in Ihrem letzten Band mit Erzählungen, »Richtig liegen«, taucht mit Kurt wieder ein Physiker auf. Warum beschäftigen Sie sich mit dieser

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Expertengemeinschaft der Physiker? Welches Wissen transportiert sie, das für die Problematik der literarischen Texte interessant ist? Draesner: Lukas als ›mein‹ erster Physiker kam in den Roman »Mitgift« über mein Interesse am Vokabular der Astrophysik und an ihrer bemerkenswerten Perspektive – sie blickt von der Welt her in einen sogenannten ›Weltraum‹, in dem man als Mensch nahezu blind ist. Der Schwerpunkt in »Mitgift« entwickelte sich dann aber anders, zwischenmenschlich, wenn man so möchte, bezogen auf den Typus des Naturwissenschaftlers einerseits und der Kulturwissenschaftlerin andererseits. Wie prägt das Fach auch die Person? Wie leben und arbeiten sie zusammen? Bei den Naturwissenschaftlern ist im Gegensatz zu den Geisteswissenschaftlern Teamwork ausschlaggebend. Hinzu kommen eine andere Art von Ästhetik – sowohl für die Gegenstände als auch für die Personen –, eine andere Weise des Auftretens und sich Bewegens, das Englische als Wissenschaftssprache. Auch die Institutszimmer sehen anders aus. Meine Physiker horten Crackertüten in allen Stadien des Geleertseins und lassen die Computer von einer riesigen chinesischen Glückskatze bewachen. Ähnliches kannte ich ganz gut aus meinen Studienzeiten, denn mein Schulinteresse an den Naturwissenschaften war mit der Schule ja nicht einfach vorbei. Ich habe daher während meines Studiums immer auch Kontakt zu Naturwissenschaftlern gesucht. Nicht nur so, dass wir gemeinsam auf Partys gingen, das auch, sondern auch als Austausch. Ich lebte von 1981 bis 1989 im Maximilianeum in München. Unter meinen Mitstipendiaten gab es vorwiegend Naturwissenschaftler, insbesondere Mathematiker und Physiker. So kam es, dass ich Zugang zu dem einen oder anderen naturwissenschaftlichen Institut hatte und vieles sah und hörte. Ich erinnere mich gut an die Operation an einer Ratte, der mit aller Vorsicht die obere Schädelplatte aufgesägt wurde, um Elektroden einzuführen zur Untersuchung der Gehirnaktivitäten in den verschiedenen Seharealen. Oder an das Stöhnen der praktischen Physiker in der TU über den Einfluss des Straßenbahnrüttelns auf ihre Messergebnisse. Die Naturwissenschaftler waren in der Regel sehr kommunikativ, kluge Leute, die die Inhalte ihrer wissenschaftlichen Interessen gut in Sprache übersetzen konnten. Davon habe ich immens profitiert, dabei aber auch, nolens volens, den Menschen oder Typus beobachtet. Heydenreich: Ihren Physiker-Figuren gesellen Sie Geisteswissenschaftler hinzu, eine Kunsthistorikerin in »Mitgift«, einen Theologen in »Vorliebe«. Keine Frage, eine immer noch interessante und brisante Gegenüberstellung. Aber besteht nicht die Gefahr der Anhäufung und wechselseitigen Zuschreibung von Klischees über die Vertreter der ›zwei Kulturen‹? Warum sind Ihre Figurenkonstellationen so angelegt? Draesner: Klischees haben immer eine Funktion, sie erleichtern uns die Wirklichkeitswahrnehmung. Wir arbeiten ständig damit. Mich interessiert ihr ge-

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mischter Charakter: Sie sind Fiktion – ein einfaches Bild –, halten sich andererseits nur solange, wie eine bestimmte Deckung dieses klischierten Bildes durch die Wirklichkeit vorhanden ist. Das Klischee sagt, dass vor allem Männer sich für Naturwissenschaften interessieren. Wenn man sich ansieht, wer heutzutage Mathematik und Physik studiert und wer in die Geisteswissenschaften geht, entdeckt man, dass sich an der Mann/Frau-Verteilung seit den Achtzigerjahren tatsächlich nicht viel geändert hat. Das Klischee spricht Bände über unsere Gesellschaft, unsere Gender- und Rollenideen. Selbstverständlich greife ich Klischees auf, selbst beobachtet, und gern auch lustige, schräg-komische, denn das sind diese Erstarrungen von Wirklichkeit häufig. Wenn ich in »Vorliebe« drei Physiker in ihr Institutszimmer setze und so und so auftreten lasse, weiß ich, dass es sie geben könnte. Natürlich habe ich sie erfunden: aus Wirklichkeitsbeobachtungen, Erinnerungen, eigenen Urteilen und Vorurteilen zusammengesetzt. Aber ich habe sie nicht als Klischeebilder aus den Medien übernommen. Was man liest, ist also wenigstens ein Klischeebild erster Art, nicht eines zweiter oder dritter. Das muss zum einen so sein: Im Roman nimmt man durch die Augen einer Figur wahr. Und das ist zum anderen ein Stück Anspruch von mir an mich selbst: Was gesehen wird, muss durch meine Beobachtung beglaubigt werden. Wenn auch doppelt oder stereoskop. Im Blick auf ›die Wirklichkeit‹ ebenso wie im Blick auf die Wahrnehmungsinteressen der Figur, die spricht. An anderen Stellen geht es aus eben diesen Gründen aber auch gegen das Klischee. Harriet als Physikerin in »Vorliebe« ist kein Klischee. In der Astrophysik gibt es relativ viele Frauen im Vergleich zu anderen physikalischen Bereichen. Dennoch stellt Harriet als Forscherin eine Minderheit dar. Sie ist in ihrem Berufsumfeld exklusiv von Männern umgeben und wird exklusiv von Männern beurteilt. Da kann man, leider, nicht mehr von Klischee sprechen. Die Szenen im Roman sind gebrochen – sie sind künstlich, übertreibend, auch komisch –, aber sie spiegeln wirkliche Verhältnisse. Dass der Roman »Vorliebe« deutlich lokalisiert ist, dass es einen bestimmten Raum und eine bestimmte Zeit gibt, in der er spielt, ist mir bei diesem Projekt, meinem Roman zu den Nullerjahren, wichtig. Schließlich gibt es noch eine dritte Art, wie ich Klischees einsetze: als Running Gag oder Slapstick. Vorgeformte erwartete Muster werden überboten und dadurch eben ›als‹ Klischees lächerlich. Erik ist für so etwas immer gut. Ich denke, dass ich ihn weiterhin in jeden Roman aufnehmen werde, in dem etwas Naturwissenschaftliches vorkommt. Irgendwo, in irgendeiner Ecke des Kosmos, könnte da dann auch Erik sitzen wie Schroeder in den »Peanuts«, hingebungsvoll über aufgemalte schwarze Tasten gebeugt. Mecke: Wir hatten den Eindruck, dass auf Lukas ganz verschiedene Astrophysikertypen projiziert werden und dass diese Figur dadurch nicht ganz stimmig ist. Er ist

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beobachtender Astronom, aber auch theoretischer Astrophysiker, und er beschäftigt sich mit Poincaré-Vermutungen, ist also rein mathematisch orientiert. Das ist aus meiner Perspektive, der Physikerperspektive, nicht stimmig. Draesner: Das gestehe ich Ihnen gern zu. Und erkenne Ihr wissenschaftlichordentliches Denken darin. Man könnte aber auch sagen: Also ist Lukas ein nicht ganz in seinem Fach versunkener – soll ich sagen: ein ungewöhnlicher? – Physiker, der hier und dort gern über seinen Tellerrand hinausschaut. Wenigstens bis in die Mathematik? Nicht nur Klischee, sondern Figur mit einem individuellen Profil? Aber ich glaube, dass Sie mit Ihrer Frage noch auf etwas anderes zielen. Sie berühren ein Prinzip, das bei der Konstruktion vieler Figuren zum Tragen kommt. Aspekte aus verschiedenen Bereichen oder von verschiedenen Figuren werden übereinander geblendet, um eine fiktive Figur entstehen zu lassen. Ein erprobtes Mittel beim Schreiben, um Präsenz und Dichte von Figuren zu erzeugen. Ich lasse sie ihre Nasen in Dinge hineinstecken, die dem Standardmodell ›Physikerinteresse‹ nicht entsprechen, aber natürlich gilt das nicht nur für die Naturwissenschaftler, sondern für alle. Die Naturwissenschaftler, denen ich begegnete, waren übrigens sehr oft – und das ist dann eben nicht das Klischee – breit gefächert interessiert. Vielleicht lag das auch an der Studiensituation. Ich kannte sie in der Regel ab dem ersten Semester. Auch Lukas ist am Anfang Student und erst später kristallisiert sich heraus, wohin seine fachliche Orientierung sich neigt. Heydenreich: Im Roman geht es nicht – essentialistisch gedacht – um die Gegenstände seiner Forschung, sondern um kulturelle Bilder, die auf einen Physiker projiziert werden, um den kulturellen Diskurs, der darüber geführt wird, um das ›Image‹, das den Physikern kulturell zugeschrieben wird, und das natürlich auch ein Resonanzbild dessen ist, wie geniale Physiker sich in der Öffentlichkeit inszenieren. Welche Funktion hat die Figur Lukas speziell in Verbindung zu Aloe? Draesner: Er erscheint als ein Repräsentant, das heißt, er trägt das Jungphysiker-Klischee an sich, ob er möchte oder nicht. Es wird ihm zum einen übergestülpt, zum anderen hat es ihn aber vielleicht auch angezogen und seine Wahl des Faches mitbeeinflusst. Sodass er nun ganz gern versucht, dem Klischee zu entsprechen: genialisch, leicht zerstreut, nicht zuständig für Haushaltsfragen . . . Da sitzt er also, etwa auf einer Party, und da taucht in einem Gespräch etwas Mathematisches auf, Poincarés Vermutung oder so ähnlich, irgendjemand hat davon gehört, keiner weiß Genaueres und alle denken: Da fragen wir den Naturwissenschaftler. Man erwartet, dass ein Physiker über eine gewisse mathematische Bildung verfügt bzw. dass er notfalls wenigstens weiß, wo er schnell nachschauen kann . . . In Bezug auf Aloe kommt etwas anderes, etwas Inneres, zum Tragen: Lukas liebt

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sein Fach, es fasziniert ihn, es saugt ihn in gewisser Weise auch auf, die Beziehung zu Aloe ist für ihn zweitrangig – er versinkt so sehr in seiner Arbeit, dass er der Freundin gegenüber teilweise blind wird. Heydenreich: Bei einer genaueren Betrachtung der Art der Perspektivierung des physikalischen Wissens in »Mitgift« wird deutlich, dass das Verhältnis zwischen denen, die über das Wissen verfügen, und denen, die das physikalische Wissen im Roman thematisieren, asymmetrisch ist. Lukas ist der Physiker, der Vertreter der Expertenkultur, jedoch fungiert er sehr selten direkt als Sprachrohr für dieses Wissen, denn er würde das, was er sagt, wissenschaftlich präzise formulieren. Wäre die Wiedergabe dieses Wissens im literarischen Text nicht zumutbar? Oder wird im Text implizit auch thematisiert, dass aufgrund der hohen Spezialisierung dieser Expertenkultur die Kommunikation mit Nicht-Experten kaum möglich ist oder nicht der Mühe wert? Wir dachten, dass es im Roman eher um die Bedingungen der Möglichkeit des Sprechens über die Physik in der Kultur allgemein geht. Draesner: Damit treffen Sie den Kern. Das Übersetzungsproblem, das Problem, dass alle Nicht-Experten sich aufgrund der Fachsprache einer komplexen Wissenschaft ausgeschlossen fühlen, ja fühlen müssen, ist entscheidend für das Schreiben eines Romans, der als Sprachwerk selbst in dieser Übersetzungsarbeit gefangen ist, aber zugleich die Möglichkeit hat, über die Bedingungen dieses Übersetzens zu reflektieren. Also sie mitdarzustellen. Man würde übrigens gern denken – aber das ist vielleicht auch eine Illusion –, dass der Weg andersherum einfacher sein müsste, also dass ein Physiker die Sprache der Kulturwissenschaften besser verstehen könnte. Daran glaube ich nicht oder nicht mehr. Vielmehr scheinen wir unsererseits leicht zu vergessen, wie viel Fachvokabular vorausgesetzt wird und wie ein bestimmtes Weltbild diesen Wortschatz prägt. Mecke: Das erleben wir auch im Seminar immer wieder . . . Draesner: Und andersherum ist der Zahlenwald, der Formelforst, auf äußerst effektive Weise abschreckend – wie eine Dornröschenhecke. Ein Code, eine Geheimsprache. Ich beobachte es auch an den Reaktionen meiner Kollegen auf meine Bücher. Des Öfteren höre ich: Ich habe nur schlechteste Erinnerungen an Physik und Mathematik und bin froh, dass ich nie mehr rechnen muss. Warum beschäftigst du dich damit? Da wird eine tiefe, erfahrungsgesättigte Trennung der Wissensbereiche wiederholt und damit erneut befestigt – als wäre der Zerfall der Welt in Körper und Geist richtig oder gar unumstößlich. Daran wollte ich nie glauben, damit wäre ich nicht zufrieden. Man beschnitte sich ja, von jeder Seite her, um wesentliche Aspekte der Wirklichkeit. Ich weigere mich, daran zu glauben, dass das so sein muss – und so finde ich mich in Grenzgängen wieder, in Übersetzungsprojek-

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ten, auf der Suche nach einer Sprache, die, angeregt von Gedanken und (Er-) Findungen der Wissenschaft, unser ›Normalvokabular‹ in Bewegung versetzt.

Physikalisch-literarische Dialoge: Wie viele Kulturen? Burkhardt: Sie hatten darüber gesprochen, dass Physiker und Kulturwissenschaftler unterschiedliche Sprachen benutzen. Sehen Sie das auch so? Ist das Ihre Beobachtung, dass es diese zwei Kulturen gibt? Oder haben Sie das Gefühl, dass es eher ein Missverständnis ist? Man hat das Gefühl, dass Sie durch das Aufgreifen beider Kulturen in Ihren Romanen eine Verbindung schaffen oder eine Kommunikation anregen wollen. Draesner: Ich habe es immer bedauert, dass es diese beiden Kulturen gibt. Die Zeit vorm Abitur fand ich höllisch, weil ich mich nach der Schule für ein Fach, eine Richtung entscheiden musste. Vor lauter Nicht-Entscheiden-Können studierte ich zunächst Jura, das ja weder eine Natur- noch eine Geisteswissenschaft ist. Es wurde mir dann noch im ersten Semester klar, dass das für mich nicht passte. Ich schaute mir damals parallel die Medizin an und arbeitete für ein paar Wochen in einem Krankenhaus. Von der Germanistik war ich enttäuscht. Nach der Vorlesung »Metrum als Lust und Sinn«, die, so weiß ich heute, strukturalistischen Methoden folgte, beschloss ich, lieber allein lesen zu wollen. Erst als ich, noch immer als Juristin, in Oxford studierte, fand ich meine Fächer, Literaturwissenschaften und Philosophie, und wurde Geisteswissenschaftlerin. Je weiter man in die Fachgebiete eindringt, umso deutlicher werden die Trennlinien in Methodik, Ausrichtung und Sprache. Die gibt es ja schon, wenn man nur auf den eigenen Fachbereich sieht. Wie gut kennen wir uns in der Sinologie aus? Gar nicht! Vielleicht ist die eine oder andere Interpretationsmethode von Texten ähnlich. Doch welche Auswirkungen haben die kulturellen Differenzen, die chinesische poetische Tradition, die chinesischen Sprachen? Ich habe mich im Lauf des letzten Jahres mehrfach mit Wolf Singer vom MaxPlanck-Institut für Neurologie in Frankfurt getroffen, der mir netterweise bei neurologischen Fragen für meinen nächsten Roman hilft. Wenn er mir Sachverhalte aus der Forschung an Affen übersetzt und klarmacht, komme ich in der Regel im Denken und in der Logik, in der Modellbildung ganz gut mit. Viel fremder hingegen ist mir die Technik, die die Forschung erst ermöglicht. All die Apparaturen, die erfunden und gebaut werden wollen, die gesamte Mechanik, die eine entscheidende Rolle spielt. Das bereits trennt uns immens! Hinzu kommen die Geld- bzw. Sponsoringwelten und die Art und Weise, wie Wissenschaft organisiert ist bzw. wie sie im gesellschaftlichen Diskurs angesehen und verankert wird.

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Auch dabei findet sich eine zunehmend spürbare Asymmetrie. Man erzählte mir, nahezu beiläufig, hier wird ein Gerät angeschafft, das kostet eine halbe Million. Von diesem Geld könnte ich mein gesamtes Schriftstellerleben, meine ganze Zukunft bestreiten. Und der Apparat wird nach zwei Jahren als veraltet wieder aussortiert. Dabei ist er, versteht sich, nur eines von 25 oder 250 Geräten. Man ahnt, was da fließt, was notwendig sein mag, was möglich ist. Unsere zunehmende Ausrichtung auf Dinge, die nützlich sind – und das noch möglichst rasch –, schlägt dann innerhalb der Naturwissenschaften selbst noch einmal zu. Um Mittel für Grundlagenforschung muss ebenfalls gekämpft werden. Nach meiner Wahrnehmung hat sich die Asymmetrie seit meinen Studienzeiten in den Achtzigern und frühen Neunzigern noch einmal verschärft. Und als Schriftsteller ist man dann ja noch mal doppelt und dreifach nutzlos. Meine Antwort auf Ihre Frage ist also ein entschiedenes Nein-Ja: Es gibt den Versuch, er hat Grenzen, die Grenzen sind aufschlussreich, die Neugier treibt. Heydenreich: In Ihrem Essay »Zauber im Zoo« stellen Sie zwei wissenschaftliche Modelle einander gegenüber: das Standardmodell der Physik und das der Doppelhelix, des entschlüsselten menschlichen Genoms. Wir vermuten, dass Sie damit auch über verschiedene Konzepte der kulturellen Inszenierung von Wissenschaftlichkeit reflektieren. Die Humangenetik und die Life Sciences stehen für den Diskurs der ›Machbarkeit‹. Nach der Entzifferung des menschlichen Genoms scheinen ihnen alle Wege offen zu stehen, um als Life and Engineering Sciences den neuen Menschen zu fabrizieren. Sie hingegen weisen darauf hin, dass trotz der zahlreichen erfolgreichen ›Technologien des Körpers‹ bei Weitem noch nicht alles verstanden ist. Die Theoretische Physik andererseits, die in den letzten achtzig Jahren u. a. an dem Problem der Vereinheitlichung von Quantentheorie und Allgemeiner Relativitätstheorie arbeitet, hat das Image der immer noch Suchenden und gibt das ›Wissen um das eigene NichtWissen‹ offensiv zu. In Ihren kritischen Essays scheint Ihre Sympathie als Literatin auf der Seite der Wissenden um das Nicht-Wissen zu sein. Stimmt dieser Eindruck? Draesner: Ja, keine Frage. Was die anderen von Ihnen genannten Aspekte betrifft, so sind da wohl auch einige Klischees über die Genetik im Spiel. Mag sein, dass um das Jahr 2000, als man die Entschlüsselung des menschlichen Genoms veröffentlicht hatte, hie und da die Hoffnungen hochflogen. Eine Art Aufbruchsund Entdeckereuphorie. Die Physik, die ihren großen Erkenntnisschub schon Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts hatte, verhält sich da gelassener. Ich nehme das als etwas Verbindendes, als etwas zur Literatur Hinüberreichendes wahr, und es zieht mich an, dass es in der Physik grundsätzliche Zweifel am eigenen Fach und seinen Methoden gibt. Das Bewusstsein, dass man Modelle bildet für etwas, das noch gesucht wird, ist von einem literarischen Schreibprozess nicht so weit entfernt, in dem man zum Beispiel etwas sucht, von dem man nicht weiß, was

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es ist. Eben diese Bewegung macht die Astrophysik so faszinierend: In ihrem Fall ist evident, dass sie die untersuchten ›Gegenstände‹ in keiner Weise beherrscht. Welch große Diskrepanz zwischen der Physik, die einem in der Schule beigebracht wird, und der heutigen Astrophysikforschung! Bei Galilei ging es um Gesetze, die auf der Erde gelten, man konnte sich Versuche ausdenken und ihre Objekte anfassen. Die Astrophysik hingegen forscht an Gegenständen, die man nicht greifen und nicht manipulieren kann. Sie kann sich Experimente ausdenken, doch soll sie dann ein paar tausend Jahre warten, bis die zwei benötigten Sterne netterweise wieder aneinander vorbeirauschen? Das ist eine extreme Konstellation für Forschung, die ich spannend finde, da sie in die angeblich harte Naturwissenschaft etwas Unkalkulierbares einführt und Bereiche der Spekulation öffnet. Durch ihre extremen Außenbedingungen wird die Astrophysik in die Nähe geisteswissenschaftlicher Konstruktionsarbeit gerückt. Man muss sich alle möglichen Bilder ausdenken. Sie sind notwendigerweise menschliches Konstrukt. Muss den Versuch den Gegebenheiten anpassen oder irgendeinen Ersatz finden – und schon ist man im Übersetzen, im Bereich der Sprachen und der Modellbildungen gelandet. Richtmann: Wie eng ist die Zusammenarbeit mit Physikern, die Sie für Ihre Romane bei der Recherche zurate ziehen? Schreiben Sie und lassen Sie das jemanden lesen oder suchen Sie sich einen Lektor, der einen physikalischen Background hat? Wie funktioniert das? Draesner: Bei »Vorliebe« wusste ich das Thema und damit war auch klar, wen unter den Physikern ich als Ratgeber brauchte. Ich war zunächst unschlüssig, wie ich den Kontakt herstellen sollte, am Ende fragte ich die Studienstiftung, die über ein ausgezeichnetes Netzwerk verfügt. Dort vermittelte man mich an das MPI in München, an – das hatte ich ja vorhin erwähnt – Herbert Scheingraber. Ich fuhr zu ihm und verbrachte einen Tag in seinem Institut. Danach schwirrte mir der Kopf, das war exakt, was ich gesucht hatte. In Garching gibt es einen langen Flur mit verschiedenen Modellen und Teilen von Satelliten. Herbert Scheingraber zeigte mir zunächst mehrere Power-Point-Präsentationen für Laien, und ich konnte ihm Fragen stellen. Auf der Suche nach meinem Romanstoff brauchte ich alles, Sachinformationen ebenso wie Atmosphäre, Schaukästen, Informationen zu konkreten Arbeitsbedingungen. Ich brauchte das gesamte Institut, um mein »Vorliebe«Institut erfinden zu können. Es gibt auch in Brandenburg ein Max-Planck-Institut für Astrophysik, dorthin bin ich in aller Absicht nicht gefahren. Niemand sollte auf die Idee kommen können, es wäre gemeint. Mein Institut ist ein utopischer Ort, gebaut aus Realitätssplittern. Herbert Scheingraber hatte mir angeboten, ihn auch weiterhin zu konsultieren. So fragte ich ihn zwei oder drei Jahre nach dem Besuch, ob er das fertige Manuskript lesen wolle. Was er tat und auf alles Physikalische hin ›absegnete‹. Den Lektor indes kann ich mir nicht aussuchen, er ist Angestellter

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des Verlags. Und wird sich kaum meinetwegen in die Astrophysik einarbeiten. Am Ende muss ich entweder darauf vertrauen, dass ich keine gravierenden Fehler gemacht habe, oder mir noch einmal jemanden suchen, der liest und überprüft.

Poetisierung der Physik Mecke: Wieweit suchen Sie eigentlich gezielt nach physikalischen Erkenntnissen, um sie zu poetisieren oder sie in Ihrer Erzähltechnik zu spiegeln? Draesner: Bei den Shakespeare-Übersetzungen habe ich mich mit Genetik und Biologie auseinandergesetzt und im nächsten Roman werden Aspekte der Verhaltensforschung und der Biologie eine Rolle spielen. Das sind meine Hauptbereiche: Fragen der Physik, der Biologie bzw. Verhaltensforschung und der Medizin. In jedem dieser Fälle spielt die Verbindbarkeit mit der im Alltag erfahrbaren Welt eine entscheidende Rolle. Manchmal suche ich gezielt, manchmal erinnere ich mich an etwas, manchmal finde ich das naturwissenschaftliche Thema in dem literarischen Text selbst. So war es zumindest bei den Shakespeare-Sonetten. Mein erstes schriftstellerisches Interesse an der Astronomie bezog sich vor allem auf den Wortschatz. ›Weiße Riesen‹, ›Rote Zwerge‹, ›Schwarze Löcher‹, um nur die populärsten zu nennen. Was für Metaphern! Die Physik ist in zahlreichen Forschungsbereichen dazu aufgerufen, Begriffe zu erfinden, hier wird poetische Arbeit, Spracharbeit, geleistet. Das war es auch, was mich zunächst an der Biologie anzog: Man spricht von einem genetischen Alphabet. Doch wer so metaphorisiert, holt sich mit der bildlichen Redeweise verschiedenste fremde Ideen ins Boot, von denen unklar ist, ob sie passen. Möchte man wirklich alle konnotierten Bedeutungen von ›Alphabet‹ mitaufrufen? Dann wird man sich die Frage gefallen lassen, ja selbst stellen müssen, wie die Buchstaben zusammenhängen. Wie Worte gebildet werden. Wie Sätze. Wie sehen Grammatik und Syntax aus? Diese Gedanken werden allein durch das Sprachbild unausweichlich. Doch sind sie sachdienlich – oder nur metapherninduziert? Tatsächlich ist in der Genetik in diese Alphabet-Richtungen weitergedacht worden. Die Metaphorik entwickelt hier eine ganz eigene Kraft, wenn nicht sogar Gewalt. Ich habe darüber lange mit Physikern und Biologen gesprochen und fand, dass relativ wenig Bewusstsein für die Wirkkraft sprachlicher Denkmuster vorhanden war. Die eingeführten Begrifflichkeiten wurden häufig als Fakten hingenommen und nicht hinterfragt. Dass etwas so heiße, sei völlig klar, und die Formeln sähen sowieso noch einmal ganz anders aus. Was gern so sein mag. Dennoch sind die sprachlichen Gewänder nicht einfach durchsichtig oder belanglos. Man legt mit ihrer Hilfe mehrere Raster über die vor-

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gefundene Wirklichkeit. Eines der schönsten Beispiele hierfür ist die Entwicklung der DNA-Spirale: Da hatte man zunächst Formeln. Dann setzten sich die Theoretiker mit einem Techniker der Universität Cambridge zusammen. Er baute ihnen die Spirale als Modell. Man entwickelt das also gemeinsam in einer dreidimensionalen Figur, eben um die Idee zu visualisieren, und dann trat Sprache hinzu und fügte dem Modell eine zusätzliche metaphorische Ebene bei. Wo ist nun die ›Wirklichkeit‹? Die gibt es sowieso nie, aber hier sieht man, wie Schichten aufeinandergelegt werden. Wenn man diesen Forschungsgang strukturell beschreibt, kann man entdecken, dass er sehr, sehr viel mit Schreiben, mit Fiktion, mit Poesie zu tun hat und mit der Art und Weise, wie etwa ich mit Sprache umgehe. Ich versuche immer wieder, Sprache so einzustellen, dass Gefühls- und Gedankenkomplexe in Konstellationen von Figuren dadurch sichtbar werden. Schichtungen also, ein wechselndes Auf- und Abtragen. Und ein ähnlicher Prozess ist in diesen Wissenschaftsbereichen zu beobachten, insofern man strukturell denkt. Das war der Einstieg. Mecke: Wir Physiker und Literaturwissenschaftler haben in unserem interdisziplinären Seminar darüber gesprochen, dass es in »Mitgift« neben Fotografie auch sehr viel um Bewegung geht: Quasare, die tanzen, Rennwagen, die fahren. Lukas beschäftigt sich mit dem Drei-Körper-Problem, das nicht lösbar ist. Wieweit suchen Sie gezielt nach ungelösten Problemen, um diese auf die Figuren zu übertragen, zum Beispiel die Unlösbarkeit des Drei-Körper-Problems? Draesner: Ich weiß nicht mehr, wie sich das in »Mitgift« speziell zusammengesetzt hat und wie ich jeweils auf einen einzelnen Sachverhalt kam. Ich glaube, es handelt sich um eine Mischung zwischen gezielter Suche und Funden, die mich ihrerseits auf literarische Ideen bringen. Im Rechercheprozess ist es in der Regel so, dass ich viel mehr lese und recherchiere, als ich im Endeffekt brauchen kann. Also suche ich gezielt-ungezielt, weil ich zunächst nicht exakt weiß, wonach ich suche. Ich muss eine Menge lesen, um herauszufinden, was ich verwenden könnte. Irgendwann stoße ich darauf, es gäbe vielleicht noch zwei oder drei andere mathematische Probleme, die ebenfalls passen würden, doch ich nehme auf, was mir am spiegelungsfähigsten erscheint. Also worin sich meine Menschen-Figurenwelt spiegeln und entwickeln kann. Was zum Frageund Bildkosmos des Romans passt. Bei »Vorliebe« erinnere ich mich deutlicher an die Recherche. Es handelt sich eigentlich immer um ein Ineinandergreifen. Bei diesem Roman lag der Fokus von Anfang an auf der Frage nach den Tücken und Künsten des Bildermachens. Es bestimmt sowohl die Liebe wie auch den Umgang mit Gott. Ich suchte in der Astrophysik gezielt nach Möglichkeiten, wie Weltraumbilder erzeugt werden und nach Reflexionen darauf. Dann liest man und findet etwas über Fehlfarben, liest weiter

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über Satellitentechnik. Im nächsten Schritt entsteht daraus ein Handlungsschritt oder eine Szene im Roman. Der Inhalt eines Gesprächs. Die Möglichkeit, eine Arbeitsstunde Harriets zu beschreiben. Ich bin wachsam und nehme auf, was mir in einem Institut entgegenkommt, wenn ich es besuche. Prominent und offensichtlich wichtig waren immer wieder auch Fragen der Wissenschaftsorganisation. So ergab sich, dass Harriet auch als Pressefrau würde arbeiten müssen. Das sind die Bedingungen des Betriebes. Andere Dinge kommen aus der Erinnerung in einen Text, früher Gelesenes oder Aufgeschnapptes, das mir nach Jahren beim nächsten Romanprojekt wieder einfällt. Das gilt nicht nur für Naturwissenschaften, das gilt für alles, das ist so eine Art innerer Thesaurus, ein Zettelkasten im Kopf mit farbigen Markern für Bereiche, die mich interessieren. Im Kern handelt es sich um Interaktion: aufnehmen, verwandeln, neu aufnehmen. Für mich ist das die einzige Art zu schreiben – leider –, weil ich mir manchmal denke, es wäre viel einfacher und würde immens viel Zeit sparen, wenn ich mich hinsetzen könnte und ein Planer-Schriftsteller wäre wie Thomas Mann: Dann würde ich mir einen großen Zeit- und Orts-Chart machen und loslegen. Heydenreich: Das ist ein Mythos. Draesner: Aber der Mythos ist lebendig und deswegen kann man ihn zitieren. Manchmal träumt man von Erleichterungen der Schreibarbeit. Und kann nicht aus seiner Haut heraus. Heydenreich: Wie lässt sich physikalisches Wissen in der Literatur verarbeiten? Es geht um ein Wissen, das einer hochspezialisierten Expertenkultur entnommen ist und in seiner Differenziertheit literarisch nicht wiedergegeben werden kann, weil das breite Publikum hierfür nicht informiert ist. Wie stellt sich das Problem der Komplexitätsreduktion? Welchen Preis bezahlt man dafür? Und inwieweit ist es möglich, sich mit einem physikalischen Problem wirklich so zu beschäftigen, dass man den wissenschaftlichen Hintergrund kennt? Muss man den kennen, um die poetischen Bilder dafür zu schaffen oder befürchtet man, dass man an dem wissenschaftlichen Gehalt vorbeischreibt? Draesner: Ich würde mich hüten, einen Astrophysiker zur Hauptfigur zu machen, der an einem schwierigen aktuellen astrophysikalischen Problem herumtüftelt, und dann dieses Problem in den Roman zu heben. Das erfasse ich nicht. Und wie sollte ich das erfinden? Wie sollte ich den Mann vorantreiben? Damit sind zum einen die Grenzen meines Wissens erreicht, eindeutig. Und zum anderen auch die des Romans. Warum lesen wir Romane? Weil wir uns über ein spezifisches astrophysikalisches Problem informieren wollen? Bestimmt nicht. Auch deswegen ist Harriet gut so positioniert, wie sie ist. Sie nennt einen Aufgabenbereich ihr Eigen, den man nachvollziehen kann – sie arbeitet in der

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Übersetzung. Sie beschäftigt sich mit etwas, was auch im Alltag von NichtPhysikern eine große Rolle spielt: Bilder-Machen, Bilder-Fälschen. »Vorliebe« ist kein Physikroman. Harriet wird in all ihren Lebensbereichen gezeigt. Ihr Beruf, Physikerin, ist ein Aspekt. Zentral war für mich die Frage danach, wie für eine Frau in gehobener Position Beruf und Liebesleben vereinbar sein sollen. Und zu Ihrer Frage nach dem ›Herunterbrechen‹: Ich schreibe kein Sachbuch. Entscheidend ist für mich nicht ein wie auch immer gearteter Sachverhalt ›an sich‹, sondern die Verquickung der ›Sache‹ mit den sie betreibenden Menschen. Entscheidend sind Bruchstellen, Mehrdeutigkeiten. Der Prozess läuft also andersherum: nicht herunterbrechen und vereinfachen, sondern Ambivalenzen und Unklarheiten hervortreten lassen. Sie kommen mir – dank kluger, vermittelnder Bücher, wenn ich weit genug eingedrungen bin – unmittelbar aus den Forschungsgegenständen entgegen. Dass ich sie sehe, ist vielleicht ein Vorteil des Umstandes, dass ich eigentlich von außen komme. Ich habe dabei nicht den Eindruck, ich müsste die Gegenstände herunterbrechen und dann in eine künstliche Sprache übersetzen, sondern ich kann ganz faktenbezogen bleiben. Ich beschreibe möglichst exakt, dabei aber einfach, wie Satelliten aufgebaut sind, doch ich beschreibe es nicht in einer technischen Sprache, indem ich notiere: Frequenz soundso, Frequenz soundso. Das sagt niemandem etwas. Sehr wohl aber versteht man, wenn man Konsequenzen beschreibt: Die Maschinen versorgen uns mit Daten, die immens schwierig zu verstehen sind für uns, weil uns die Sinnesorgane für sie fehlen – und damit die Sprache. Also weichen Astrophysiker auf für das menschliche Auge sichtbare Farben aus, die bestimmten, außerhalb unseres Spektrums liegenden Wellenlängen zugeordnet werden. Sie selbst brechen, wenn man so möchte, Komplexität, um überhaupt Zugang zu eröffnen. Ich wiederum suche nach einer Sprache dafür. Wenn Harriet Fehlfarben einfüllt, dann tut sie das im Rahmen eines in der wissenschaftlichen Community festgelegten Codes, sie ruft eine Farbe ab, eine Nummer auf der RGB-Skala, was wiederum mir als Bezeichnung nichts nützt. Also suche ich nach Worten: Wie heißen diese Farben? Oder wie könnten sie heißen? Ich verstehe dabei nicht, wie man Chips für die Satelliten baut, um die Messungen vorzunehmen. Und das muss ich auch nicht. Die entscheidenden Fragen nach dem Bildermachen stellen sich einen Schritt später. Dort, wo sich Harriets Farb-Übersetzen in meinem SprachÜbersetzen spiegelt. Sie und ich sitzen an einer parallelen Arbeit. Davon erzählt der Roman untergründig: Wie Sprache ständig Bilder wirft, ständig ›Wirklichkeit‹ übersetzt, ständig Muster formt und in uns zurückspiegelt. Heydenreich: Aloe denkt zum Beispiel über das Relativitätsprinzip nach, über die Relativität der Gleichzeitigkeit und über die Rolle, die der Standort des Beobachters im Beobachtungsprozess spielt. Und sehr oft werden physikalische Zeitbegriffe

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thematisiert. Wir hatten den Eindruck, dass sich diese Prinzipien auch in der Anlage der Romanstruktur niederschlagen, dass sie etwas mit der internen Fokalisierung auf die Perspektive Aloes und mit ihrer Zeitwahrnehmung zu tun haben, dass sie die Struktur der Zeitebenen und die Chronologie des Erzählens bestimmen. Draesner: Dieses Aufragen der Vergangenheit in das, was die Gegenwart ist, ist für den Roman thematisch bestimmend. Also eine Auflösung des konventionellen Zeitbildes – des Denkens in Vorher und Nachher. Zeit wird in »Mitgift«, der Titel deutet das an, als eine Art gelartiger Raum begriffen, durch den verschiedene Kräfte, seien es Gifte oder Segnungen, treiben. Dabei kann man auch an Vektorenzeichnungen denken. Gleich zu Beginn des Romans sieht Aloe, und mit ihr der Leser, ein Plakat. Über das Bild schießt etwas aus der Vergangenheit in Aloes Bewusstsein hoch. Im Kopf ist Zeit nie chronologisch angeordnet, weil es die Möglichkeit gibt, dass sich alles simultan überlagert. Inzwischen weiß man – es ist sogar physiologisch nachweisbar –, dass in dem Moment, in dem man sich an etwas erinnert, diese Erinnerung nicht nur aufgerufen, sondern neu geschrieben wird. Sie wird nicht unverändert aus den Tiefen des Gehirns hervorgeholt und wieder weggepackt, sondern vollkommen aufgelöst und wiedercodiert. Das heißt, dass das Erinnerte sich mit jedem Erinnerungsvorgang verändert. In der Situation, in der man sich erinnert, tritt dem Erinnerten etwas Neues hinzu, weil in der Erinnerung die Situation, in der man sich erinnert, als Erinnerung mitabgespeichert wird. Es bilden sich Schichten, wie Stalaktiten und Stalagmiten, Erinnerungen und die Anlagerungsprozesse des Erinnerthabens. Das heißt, es findet eine ständige Vernähung und teilweise auch Vermischung von Gewesenem und Jetzt statt. Dass wir alle wissen, wie subjektiv Zeit ist, konnte ich in den Romanen nutzen, die angelegt sind wie »Mitgift« oder »Vorliebe«, also konzentriert auf eine Perspektive und den Innen- und Erlebnisraum einer Figur. Diese zeitliche Beweglichkeit ist einer der großen Vorteile von Literatur. Der Film tut sich viel schwerer, das nachzuvollziehen, ohne stark in Stücke oder bloße Innenwelt zu zerfallen.

Zwischen Modellbildung und Fiktion Ein zweiter Aspekt hatte mich schon in der Schule fasziniert: Das Wechselspiel zwischen Objekt und Subjekt, wie es sich etwa in der Relativitäts- und Quantentheorie zeigt. Das Verschwinden der Grenze zwischen ihnen, die Einwirkung des ›Beobachters‹ auf das, was Faktum sein soll, die Auflösung der Faktizität, das ist Heuristik pur, das ist Hermeneutik pur, und damit ergeben sich Parallelen zur Welt der Texte und des Lesens. Die Physik scheint mir in dieser Hinsicht herausfordernder als die Biologie, weil in der Physik der notwendige Fiktionalitätsgehalt

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der eigenen Positionen und Thesen so deutlich geworden ist. Diese Erkenntnisse sind fast hundert Jahre alt, ein forschender Physiker verfügt über sie als Standardwissen. Auch deshalb waren die Diskussionen mit Herbert Scheingraber vom Max-Planck-Institut so fruchtbar: Es dauerte keine drei Minuten, bis wir eine erste gemeinsame Basis für unser Gespräch gefunden hatten, nämlich Modellbildung. Wir sprachen über Phantasien, die erhärtet werden, indem man forscht und versucht, die Ergebnisse der Messungen unter Hypothesen zu subsumieren. Aber die Messungen und die Art, wie man misst, sind ja bereits wieder am Modell ausgerichtet, also findet man sich inmitten eines Kreislaufes, den ich vom Textinterpretieren her bestens kenne. Auch dabei ist man mindestens doppelt, zum einen Subjekt vor dem Text, zum anderen imaginär im Text. Dabei kommt der Text auf das Subjekt zurück und verändert es beim Lesen. Man steht in dieser Wechselwirkung. Etwas, was in der Physik manchmal fruchtbar wird und vielleicht auch als Widerbild der modernen Physik in der Literatur taugt, sind Fragen nach der Perspektive und ihren Veränderungen. Ich habe gestern »Zarte Ration« gelesen, die erste Erzählung aus dem Band »Richtig liegen«. Erzählerisch zoomt der Blick mal dorthin, mal hierhin; nach meiner Unterweisung in Satellitentechnik am MaxPlanck-Institut kann ich mich selbst dabei als Satellit vorstellen, der verschiedene Wahrnehmungsebenen wählt, verschiedene Frequenzen. Einmal blicke ich mit einer langen Frequenz auf oder in die Figuren, dann mit einer kurzen, im dritten Schritt versuche ich eine Frequenz, auf der wir gemeinhin nichts sehen, wo man also – auch in der Physik – wieder übersetzen muss, und so zoome ich mich selbst langsam in die Erzählung und ihren Stoff – ihre Menschenkonstellationen, ihre Lücken und Fehler, Geheimnisse und Intrigen – hinein. Oder, da ich schon bei physikalischen Modellen bin, ich mache Quantensprünge, springe also unvermittelt von diesem Wirklichkeitsfragment zu jenem, sie hängen aber miteinander zusammen; in Raum und Zeit ist das als ein voneinander abhängiges Gewebe angeordnet. Ein anderes schönes Beispiel für verwandte Momente zwischen Physik und Textwissensproduktion, vielleicht auch Textwissenschaft, das mir am MaxPlanck-Institut erläutert wurde und das ich dann auch nachlas, liefert die Vorstellung vom sogenannten Urknall. Das Modell wurde in den Dreißigerjahren des letzten Jahrhunderts von Georges Edouard Lemaître, einem belgischen Theologen und Astrophysiker, erfunden. Welche Berufskombination! Naheliegend eigentlich. Und wie bezeichnend, dass jemand, der aus einer christlich-katholischen Schulung kommt, den Gedanken im Kopf trägt: Es muss einen Anfang gegeben haben. Daraus entwickelt Lemaître ein wissenschaftliches Modell, das über ein paar Umwege in der Physik zum Standardmodell wird, weil man kein Besseres hat. Das finde ich sehr schön. Insbesondere auch deswegen, weil es offensichtlich unmöglich ist, auf die Sekunde Null herunterzurechnen. Bevor man sie erreicht,

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brechen die mathematischen Formeln zusammen. Befriedigend ist das nicht, aber die Physik ist in ihrem Erkenntnisprozess noch nicht weitergekommen. So ergibt sich auch hier eine Parallelität in der Aufgabenstellung und auch in der Lust, mit Modellen in ihrer Begrenztheit, mit Bildern und großen, verzerrenden Lupen umzugehen. Zudem tauchte in den astrophysikalischen Gesprächen ein Interesse der Naturwissenschaft auf, das auch mich beim Schreiben geradezu naturgemäß begleitet, das Interesse am Bild. Die Physik ist, zumindest im Bereich der Sternenforschung, eine Wissenschaft, die Bilder produziert, ja produzieren muss, und zwar nicht nur Modellbilder, sondern auch Bilder der Gegenstände. Sie wiederum stellen immense Kunstgebilde dar, irre Fälschungen, durchtränkt von Interpretation. Diese Verschmelzung zwischen Technik, Denkmodell und Ergebnis, das von Interpretation und Erwartung geleitet wird, fasziniert mich. Hier findet sich auch eine Parallele zu Aloe, der Kunsthistorikerin in »Mitgift«, die sich mit dem Bildermachen im materiellen, ästhetischen und zugleich klassisch irdischen Bereich beschäftigt. Auch dort bezeichnet ›Bild-Machen‹ eine Verschmelzung. Man benutzt Material, Handwerkszeug – auch die eigenen Hände –, also man setzt Werkzeuge ein und fälscht die Wirklichkeit so, dass sie hervortritt. Dieser Aspekt des Fälschens führt noch einmal zu »Vorliebe«. Auch die Liebe lebt davon, dass man sich ein Bild vom anderen macht. Man ahnt, dass es, frisch verliebt wie man ist, vermutlich falsch ist. Kann aber nicht anders! Die große Frage dann lautet, wie erträglich die Abirrungen von beiden Seiten her sind. »Vorliebe« schreibt auf ihre Art »Mitgift« weiter. Beide sind FamilienLiebesromane, und beide kreisen um das Thema des Bildes, wenn auch mit jeweils anderem Schwerpunkt. In »Mitgift« das Sexualitätsbild, in »Vorliebe« die Bildherstellung im wissenschaftlichen Bereich. Deswegen kam dort noch einmal die Astrophysik zum Tragen. In »Vorliebe« drehen Handlung und Gedanken sich zentraler als in »Mitgift« um Bildverfahrens-, Bildherstellungs- und Bildgebungsfragen, um Farben, die man einfüllt, um Technik, die einfließt, und auch um die Schwierigkeiten, die Klimmzüge, die man anstellt, um überhaupt zu einem Bild zu gelangen, das das menschliche Gehirn verarbeiten kann. Während die menschliche Psyche hinterherstolpert. Heydenreich: Die zunehmende Bedeutung des naturwissenschaftlichen Wissens hing lange mit der Funktion zusammen, die ihr gesellschaftlich zugeschrieben wurde: Wahrheiten als letzte Gewissheitsgrundlagen modernen Bewusstseins zu produzieren. Dieses Bild wird auf das Wissenschaftssystem immer noch projiziert. Die Akteure des Wissenschaftssystems jedoch neigen dazu, sich davon zu distanzieren: Die Wissenschaft bietet nicht die Wahrheit als letzte Gewissheitsgrundlage, sondern Hypothesen und Theorien, die systematisch widerlegt und historisch

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überholt werden. Die Falsifizierung der eigenen Theorien scheint als Ethos auch im Mittelpunkt von Lukas’ wissenschaftlicher Tätigkeit zu sein. Draesner: Zum ersten Teil Ihrer Frage: Hier scheinen ganz unterschiedliche Sehnsüchte im Spiel zu sein. Es gibt zahlreiche ernstzunehmende Versuche, wissenschaftliche Ergebnisse und Fragestellungen nach außen zu vermitteln. Doch was will man im nicht-wissenschaftlichen Raum wirklich hören? Welche Funktion soll oder muss die teure Wissenschaft erfüllen? Man verlangt Antworten, Fortschritt etc. Und bedient nicht auch die Wissenschaft selbst oft genug dieses Bedürfnis – zumindest vorgeblich? Um weiterhin finanziert zu werden etwa? Die Wirkung der reichlich fiktiven, im Wortsinn ›geschönten‹ Weltraumbilder wird in »Vorliebe« thematisiert: Sie sind so prächtig und so überzeugend, dass man, kaum sieht man sie, sofort an ihre Wahrheit glauben will. Man nimmt sie als Ergebnisse wahr, als mimetische, getreue Abbilder, und wünscht sich das All so farbenprächtig, funkelnd und symmetrisch. Dann liest man nach, wie die Bilder zustande kommen, und denkt sich: Du meine Güte. Ich kann nicht gut zeichnen, aber wenn ich ein Porträt von Ihnen zeichnete, dann wäre dieses Porträt, obwohl es schlecht wäre, wirklicher als das beste Weltraumbild. Nun zu Lukas: Es gibt so etwas wie einen medialen Turn. Jedenfalls im Schreiben. Ich spüre stark, dass ich sowohl mit der Schrift als auch mit der Romanform an sich ein Medium benutze, und setze beides ein, um über andere mediale Vermittlungen nachzudenken und zu sprechen. Das trifft für »Vorliebe« zu und auch für »Mitgift«. »Mitgift« ist eine Art Spiegelkabinett, alles dort spiegelt sich immer wieder ineinander. Auch Lukas als Figur – also von außen und in seinem Innenleben – ist davon betroffen. Wirklichkeit und Erinnerung, Interpretation und ›Faktum‹ überkreuzen sich. Der Roman beginnt mit einem Werbeplakat, in das sich Wirklichkeit und Erinnerungen einspielen. Für die erlebende Figur sind sie wirklicher als das Plakat. Wie könnten einem da nicht Zweifel am sogenannten Wissen kommen? Mecke: Was Sie eben gesagt haben, betont mehr die Parallelität zwischen den zwei Kulturen. Draesner: Ja, weil das für mich zunächst die Brücke war.

Physikalische Modelle und poetische Schreibweisen Heydenreich: Interessant ist das Bild, das einmal Lukas in »Mitgift« verwendet, indem er die Phase der Hypothesenbildung im Theoriebildungsprozess mit einer Wachsfigur für eine zukünftige Statue assoziiert, die nur als heuristisches Instrument dient und später eingeschmolzen wird. Dadurch wird eine Konzeption von

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Wissenschaft suggeriert, die ihre Kraft nicht nur der Innovation für die Zukunft verdankt, sondern die ihre Fragestellungen auch aus kulturell tradierten Vorstellungen generiert. Wird damit impliziert, dass auch ein gewisser Anteil an kulturellem Wissen in das physikalische Denken, in die Modellbildung miteinfließt? Draesner: Ja, das ist eine schöne Deutung. Keine Wissenschaft bewegt sich in einem luftleeren Raum. Sie erwächst selbst aus ihrer Geschichte. Mecke: Die Metapher der Wachsfigur fand ich sehr schön. Gestritten haben wir in unserem Kreis über den Welle-Teilchen-Dualismus. Ob und inwieweit das passt. Und über die Funktion der Katze, ob das ›Schrödingers Katze‹ sei. Heydenreich: Das Doppelspaltexperiment wird in »Vorliebe« explizit genannt, in »Mitgift« durchzieht das Problem des Welle-Teilchen-Dualismus den Roman auf verschiedenen Ebenen. Wir Literaturwissenschaftler deuten diesen Dualismus aufgrund des Wissens, das uns aus der kulturellen Überlieferung dieses Paradoxons bekannt ist, als Bild, das mit der Paradoxie des dritten Geschlechts in Analogie gesetzt werden kann, mit der Intersexualität, dem Hermaphroditismus, der – weil undenkbar – keine gesellschaftliche Akzeptanz findet. Wir vermuten, dass auch das Motiv der Katze analog funktionalisiert werden kann. Die Physiker in unserem Team finden jedoch, dass diese Analogie nicht funktioniert, dass der Vergleich weit hergeholt ist. Mecke: Ja, ich finde das Bild nicht passend, weil es den Dualismus festschreibt und mit der Aussage verbunden ist, es gäbe einen eindeutigen Teilchenzustand und einen eindeutigen Wellenzustand und eine Überlagerung der beiden Werte. Ich habe eher die Vorstellung des Kontinuums dazwischen. Draesner: Zwischen Welle und Teilchen? Mecke: Ja, und auch zwischen den sexuellen Ausprägungen. Ich fand, dass dieser Welle-Teilchen-Dualismus viel zu sehr den Mann-Frau-Dualismus festschreibt und deshalb nicht passend ist. Draesner: Das mag sein – und ist dann gerade richtig. Die Widersprüchlichkeit der Auffassungen – die Physik denkt an ein Kontinuum, der Straßenverstand unterscheidet Welle und Teilchen und will an der Unterscheidung festhalten – spiegelt exakt die Konstellation zum Hermaphroditismus, auf die ich beim Schreiben des Romans stieß. Mediziner und Biologen sprechen von einem Kontinuum der sexuellen Ausprägungen, die Taxonomie sieht zweihundert bis vierhundert Positionen zwischen ›männlich‹ und ›weiblich‹ vor, natürlicherweise. Die soziale und auch rechtliche Welt hingegen ist anhand eines klaren und essentiellen Unterschiedes organisiert, den es aufrechtzuerhalten gilt. Mit Mischformen tut sie sich schwer. Also: hier die medizinischen Kategorien ›männlich‹ und ›weiblich‹ samt aller Zwischengestalten, sauber auf Latein benannt. Doch wer weiß das? Kaum jemand. Was herrscht? Dualismus. Und ein paar Zwischenformen, die –

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je nachdem, welchem gesellschaftlichen Segment man angehört – umstritten sind oder in Maßen Akzeptanz finden. Nur dass in dem Moment, in dem eine derartige ›Abweichung‹ körperlich an einem eigenen Kind sichtbar wird, die Akzeptanz gern zu schwinden scheint. Eindrücklich erzählte mir eine Chirurgin aus der Geburtsklinik der Charité, was los ist, wenn Eltern ein Kind bekommen, das sich weder als männlich noch weiblich bezeichnen lässt. Bevor die Oma ›das‹ sieht, muss das Baby ein eindeutiges Geschlecht haben. Die Ärztin berichtete, dass es mehrfach Versuche gab, Akten aus der Charité zu stehlen, weil Eltern um jeden Preis verhindern wollten, dass die Unterlagen an den heimischen Hausarzt geschickt werden. Die Akten werden seither in einem Tresor verwahrt. Es gibt also heftige Eindeutigkeitsbedürfnisse. Und eine große Not, die hinter ihnen steht. Sicherlich lange Zeit noch angeschürt durch den gesetzlichen Rahmen: Innerhalb von sieben Tagen nach der Geburt musste das Geschlecht des Kindes beim Standesamt gemeldet sein. Heydenreich: Und da kann man nicht sagen: Wir wissen es nicht. Draesner: Inzwischen wurde die Gesetzeslage geändert. Bis vor Kurzem aber musste man sich entscheiden, auch ein Nicht-Ausfüllen der Rubriken männlich oder weiblich war nicht möglich. Über dieses gesellschaftliche Bedürfnis nach Eindeutigkeit und klarer Zuordenbarkeit wollte ich schreiben. Das Bild des Dualismus zwischen Welle und Teilchen finde ich dafür nach wie vor passend, denn dieser Gedanke ist ja seinerseits historisch geprägt. Man streitet sich das gesamte neunzehnte Jahrhundert hindurch darüber, ob Licht Welle oder Teilchen ist, um dann zu entdecken, dass die zugrunde liegende Denkfigur selbst falsch ist. Das dualistische Denken führt in die Irre. Im Roman ist jedweder Dualismus eigentlich eine Spiegelung, wie Sie vorhin sagten, er zeigt das Bedürfnis nach sauberer Sortierung und nach Beherrschbarkeit. Der Doppelspaltversuch und seine Folgen sind auch deswegen für mich als Autorin nützlich – wie die Physik hier einen relativ einfachen Denk- und Materiebereich eröffnet, der mit der von Menschen organisierten Alltags- und Sozialwelt unmittelbar verbunden ist und ihr doch widerspricht. Dualismus ist ein wesentliches Element des westlichen Diskurses, des heutigen westlichen Diskurses, wenn man mit ›heute‹ die letzten zweitausend Jahre meint. Die Physik indes lehrt uns, wie komplex bereits Materie organisiert ist, wie uneindeutig zuordenbar sie sich zeigt und verhält. Der Schritt, diesen Gedanken auf den durchaus materiellen Menschenkörper zu übertragen, ist dann nicht mehr groß. Dualismen wie ›Mann‹ oder ›Frau‹, ›groß‹ oder ›klein‹, ›hier‹ oder ›dort‹ erscheinen dann nicht mehr einfach als naturgegeben und daher sakrosankt. Wer kontinuierliche Spektren statt opponierender Positionen zulässt, muss sich bewegen – er wird herausgefordert. Auch das verbindet die beiden Bereiche miteinander.

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Im Universitätsmilieu der Achtziger- und Neunzigerjahre gab es einen lebhaften ›sex and gender‹-Diskurs, in dessen Rahmen Transgender und DragQueens prominent wurden. Als ich zehn Jahre später anfing, zum Thema deutsche Gesellschaft und sexuelle Abweichungen zu forschen, war ich überrascht: Welch massiver ›clash of cultures‹ zwischen kulturwissenschaftlichen Interessen, also auch Textinteressen, und den Herausforderungen, vor die sich eine Familie gestellt sieht, in der ein uneindeutig aussehendes Kind zur Welt kommt. Welche psychologischen Raster, welche Ängste und Schwierigkeiten der Bezugnahme bzw. der wechselseitigen, identitätsstiftenden Spiegelung der Erwachsenen und des Kindes aneinander. Und welche praktischen Probleme. In der Wirklichkeit, im eigenen Leben, war eine derartige Konstellation offensichtlich überhaupt nicht mehr ›chic‹. Auch alles Denken, dass Gender und Sex gesellschaftliche Konstruktionen seien, die zu trennen sind, half dann nicht weiter. Vor den Toren der Universitäten herrschte die Norm. Was für betroffene Familien Schrecken, Hilflosigkeit und oft genug Geheimniskrämerei bedeutete. Burkhardt: Ich finde, dass das gerade in »Mitgift« in der Auseinandersetzung zwischen Aloe und ihrer Schwester Anita auffällt. Aloe setzt sich mit kulturwissenschaftlichen Theorien zu Gender und Sexualität auseinander, so wird dann auch Judith Butler anzitiert. Man hat aber das Gefühl, dass sie das nicht weiterbringt, obwohl darin das Problem beim Namen genannt wird. Dagegen steht die Denkweise des Physikers Lukas. Wir hatten ja gerade bereits festgestellt, dass dieses Umdenken in der Physik schon stattgefunden hat, dass der Druck schon da war, diesen Dualismus aufzugeben. Man hat das Gefühl, dass diese Art von Denken für Aloe viel wirksamer und folgenreicher ist. Es gibt doch wieder in der Literatur eine Vermittlungsebene zwischen den zwei Kulturen und zwar auf einer zwischenmenschlichen Ebene, auf der Ebene der Realität und der Beziehungen und nicht auf der Ebene der Wissenschaft. Und das finde ich sehr interessant. Draesner: Da kann ich Ihnen nur zustimmen. Aus der eben beschriebenen Realitätserfahrung heraus wanderte mein Blick noch einmal zurück in die Theorie und von dort erneut zur Erfahrungswirklichkeit Betroffener und ihres Umfeldes. Auch Aloe helfen Theorien in keiner Weise bei ihrem Lebensproblem mit ihrer hermaphroditischen Schwester. Es ist schön, wenn in den akademischen Diskursen der Neunzigerjahre darüber verhandelt wird und wenn man versucht, Normen und Regeln wenigstens etwas aufzuweichen. Aber das Problem ist für meine Figur ja älter, es reicht durch ihr gesamtes Leben hindurch, und in dem Moment, in dem Anita wieder auftaucht, geht in Aloe die alte innere Geschichte wieder los. Als sehr eindringlich erinnere ich mich an eine zunächst eher zufällige Begegnung mit einer Bekannten während der Zeit, in der ich für »Mitgift« recherchierte. Ich erzählte ihr von dem Romanprojekt, wir saßen in einem Café, Frühjahr 2000, und

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meine Bekannte, eine Anglistin, die sich mit Gender-Theorien bestens auskannte, wurde zusehends nervös. Sie kramte in ihrer Handtasche, holte eine Zigarette heraus – ich hatte sie davor nie rauchen gesehen – und kämpfte mit sich. Dann sagte sie mir, man habe ihr nach der Fruchtwasseruntersuchung an ihrem ersten Kind mitgeteilt, sie würde einen Hermaphroditen gebären. Sie war im vierten Monat schwanger, die Ultraschalltechnik noch nicht sonderlich gut entwickelt. Die Bilder waren nicht aussagekräftig. Aber der Zellbefund. Sie erzählte, dass sie eine höllische Schwangerschaft erlebte. Die Geburt habe Tage gedauert, so groß sei ihre Angst davor gewesen, was sie sehen würde, wenn das Kind auf der Welt sei. Als es doch geboren war, wollte sie es nicht anschauen. Es zeigte sich dann aber, dass das Baby ›nur‹ ein Junge war; die Ärzte hatten bei der Amniozentese versehentlich eine der mütterlichen Zellen mitaufgezogen, sodass sich in der Probe sowohl männliche als auch weibliche Chromosomen fanden. Meine Freundin hielt sich für liberal, aufgeklärt, interessiert und verwandlungsbereit. Und so kannte ich sie auch. Und da saß sie und erzählte mir, wie es ihr ging, als ›das Andere‹ plötzlich in ihrem Bauch zu wachsen schien. Wie die Angst nach ihr griff. Wie sie sich kaum selbst darin wiedererkannte, was sie angesichts dessen dachte. Ich fand das sehr berührend, sehr menschen-wahr auch. Um also noch einmal auf den Dualismus zurückzukommen: Es gibt ihn nicht zufällig. Er ist im Alltag hilfreich und wir sind an ihn gewohnt. Im Kontext der »Mitgift« sind mir zunehmend Menschen begegnet, die auf den ersten Blick zeigten und/oder zeigen wollten, dass sie in den Dualismus männlich/weiblich nicht passten. Anfangs erlebte ich das durchaus auch als Herausforderung an mich. Wie begegne ich ihnen? Viele dieser Menschen hatten eine starke, irritierend sexuelle Ausstrahlung. Markant – eben weil es so ungewohnt ist, und man nicht gelernt hat, damit umzugehen? Wenn Menschen einander sehen und riechen, rastet die gegenseitige Wahrnehmung erst einmal in Klischees ein – Alter, Hautfarbe, Geschlecht, Sozialstatus. Alles klar, Thema abgehakt. Doch was passiert, wenn eine Störung des Gewohnten auftritt? Im Rahmen der Recherchen für den Roman stieß ich auf ein erstaunlich effektives filmisches Experiment zu dieser Frage. Man hatte zwei Schauspieler, eine Frau und einen Mann, getrennt vor die Kamera gesetzt. Beide erschienen als die Personen, die sie waren, nicht weiter verkleidet, beide lasen einen Text vor. Die Frau sprach den Text mit ihrer weiblichen Stimme, hatte sich aber männliche Gestik und Mimik dazu antrainiert. Der Mann umgekehrt. Anfangs merkte man nichts, doch nach einer Minute fühlte sich irgendetwas komisch an. Nach drei Minuten dachte ich: Hier stimmt etwas nicht, ich kann nicht mehr zuhören, mir wird schwindelig. Ein irrer Effekt! Und das allein aufgrund von verschobener Körpersprache und Mimik.

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Heydenreich: Im Roman gibt es eine Szene, in der Aloe mit ihrer Familie diskutiert und in der sie dem Glauben an den wissenschaftlichen Determinismus die Rolle des Zufalls und der Kontingenz als physikalische Theoriekonzeption entgegensetzt – die zufällige Verteilung von Materie und Anti-Materie, wie sie sie von Lukas verstanden hat. Aloes Schwager Walter schert sich nicht um den Inhalt der Aussage, er taxiert vielmehr diejenige Beziehung als langweilig, in der es keinen anderen Diskussionsstoff gibt. Dabei hätte ihm vielleicht der Zugang zu dieser Denkweise geholfen, die Situation seiner Frau Anita zu verstehen sowie auch ihren Wunsch, nicht eindeutig festgelegt zu werden. Unsere These war, dass Aloe über die Auseinandersetzung mit der anderen Denkweise endlich Verständnis für die vielen Dimensionen der Problematik der Intersexualität aufbringt – die kulturelle, die gesellschaftliche, die komplexe medizinische . . . Draesner: Die Auseinandersetzung hilft ihr zumindest, allemal im Vergleich zu jemandem wie Walter. Beide Figuren, Aloe und Walter, bringen – und das bestimmt ihren Umgang mit den Theorieangeboten – eine ganz andere Einlassungsbereitschaft mit. Sie sind ja auch auf sehr unterschiedliche Weise von den Folgen von Anitas Verhalten als Erwachsene betroffen. Und der Roman lässt offen, ob Aloes Traum, ein neues Verhältnis zu ihrer Schwester zu begründen, nachdem sie sie nun besser versteht, wirklich aufgegangen wäre. Zudem macht Aloe im Lauf des Romans selbst eine radikale Körpererfahrung. Sie wird magersüchtig. Dieser Versuch, die eigene Weiblichkeit zu löschen, bewirkt vielleicht mehr an Verständnis für die gemischte Weiblichkeit Anitas als jede Auseinandersetzung mit der Theorie. In gewisser Weise ging es mir in dem Roman auch um die Brutalität und Faktizität der Materie, aus der wir gemacht sind. Wir versuchen, ein wenig daran ›herumzubasteln‹, doch was können wir wirklich bewirken? Und wie stark klaffen sie doch auseinander, vielleicht auch glücklicherweise, die Denk- und die Körperwelten.

Erkenntnisweisen von Physik und Literatur Burkhardt: Uns ist aufgefallen, dass das ein schönes Bild ist, oder dass man es gut als Bild verstehen kann, dass Lukas einen neuen Planeten entdeckt, der auch einen utopischen Raum anzitiert, einen neuen Lebensraum. Ist es vielleicht Ihr Anspruch oder Ihr Wunsch, mit Literatur, wie im Roman »Mitgift«, solche utopischen Räume gedanklich neu zu erschaffen? Draesner: Das würde ich mir durchaus wünschen, doch scheint es mir hoch gegriffen, sozusagen überutopisch. Allerdings empfinde ich oft beim Lesen von Literatur, dass ein Roman ein eigener Planet ist. Er hat seine Gesetze, seine

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Schwerkraft und eine bestimmte Art und Weise zu rotieren. Mit ihr zieht er den Leser in seinen Bann und versetzt ihn für eine Weile in diese Bewegung. Hat man das Buch gelesen, kann man es ins Bücherregal stellen, damit der Roman weiterhin am Lesehimmel leuchte. Diese Eigenweltlichkeit ist ein utopischer Raum, ›u-topos‹ in dem Sinn, dass es ja kein leiblich, aber sehr wohl ein geistig betretbarer Raum und auch ein geistiger Lebensraum sein kann. Das berührt auch noch einen weiteren Punkt. Ich habe kein Interesse an nur-historischen Romanen. Ich kann mir nicht vorstellen, jemals einen Roman zu schreiben, der im sechzehnten Jahrhundert spielt. Das ist für mich Kostüm und Staffage. Mein Interesse ist die zeitgenössische Welt, die Welt, die ich vorfinde, die ich beobachte, die mir gefällt oder missfällt, die mich immer wieder überrascht. Dieses Moment einzufangen durch das Lassoverfahren des Knapp-daneben-Erzählens fordert mich heraus. Ein neuer Raum? In gewisser Weise, ja. Die Sichtbarkeit des Raumes, der uns umfängt, in einem allein sprachlich geschaffenen, bewegten, durch die Zeit gedehnten Bild. Ich finde es spannend, wie Dinge-Sachverhalte-Figuren sichtbar werden, die ich ohne Suche nach Sprache und Form für sie nicht so sehen würde. Anita ist in »Mitgift« die Figur, die dieses Knapp-daneben-Sein am deutlichsten verkörpert. Aber es trifft auch für Aloe und für Lukas zu. Dadurch entsteht die eben beschriebene Parallelbildlichkeit. Ein Moment der Verschiebung. Eben dieses Moment erzeugt dann den Planeten, oder wenigstens die Möglichkeit eines utopischen Raums, in dem Dinge der Welt wieder auftauchen, die wir zwar kennen, aber gleichzeitig auch der Versuch stattfindet, sie dank ihrer Versprachlichung anders zu beleuchten, anders zu mischen. Gute Prosa ist ja kein beliebig vor sich hin plätschernder Satzfluss. Sie hat Rhythmus und Takt, lebt von Modulation und Satzmelodie, Länge und Kürze, Übertreibung, Exposition und Wahrnehmungsschärfe. Das alles hängt miteinander zusammen. Heydenreich: Ich möchte Stefanie Burkhardts Frage noch einmal aufgreifen, ob es denn eine mögliche Verknüpfung zwischen Physik und Literatur darin geben könnte, dass beide Möglichkeiten des symbolischen Probehandelns in imaginären Räumen eröffnen, um Gedankenexperimente zu präsentieren oder kontrafaktische Welten vorstellbar zu machen, von der Hoffnung getragen, durchexerzieren zu können, wie die Gesellschaft darauf reagiert, ob ein Umdenkprozess angestoßen werden kann. Draesner: Dafür wünschte man sich eine andere Medienlandschaft als die heutige, eine andere Valenz der Literatur. Die indes zunehmend marginaler zu werden scheint in der Menge der auf uns einstürmenden Stimmen und Redebeiträge sowie unter dem sozialen wie arbeitsweltlichen Druck effektiven Selbstmanagements. Aber im Grunde haben Sie recht. Ich freue mich manchmal diebisch, wenn ich systemische Lücken entdecke. Eben dort kann man wunderbar Erzählungen ansetzen und sich sagen: Das ist doch eine Möglichkeit, das würde doch funktionieren.

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In der ersten Erzählung in »Hot Dogs« gibt es eine Sperma-Trapperin – ein durchaus vorstellbares Berufsbild. Technisch ist das alles möglich: Samenspenden, Internet, Aufbewahrungstechnik, Transport. Die Protagonistin entdeckt eine Marktlücke und verkloppt das Sperma der Kommilitonen. Die Erzählung wurde 2000 auf den ›Berliner Seiten‹ der FAZ abgedruckt, immer wieder kam jemand und fragte: Gibt es den Beruf wirklich? Es stimmt nicht immer, aber manchmal macht es Spaß: Literatur als das Ausdenken, Weiterdenken und Radikalisieren neuer Entwicklungen. Als Experiment auf menschliche Möglichkeiten. Ich empfinde das im Schreiben als etwas nach außen Gerichtetes. Auch Denkerisches. Andere meiner Texte entstehen aus der gegenteiligen Blickrichtung. Vielleicht würde man sagen, eher von innen her. Oder, bei den Gedichten, von Sprache und ihren Lauten wie Rhythmen geführt. Als offene Suchbewegungen. Heydenreich: In »Mitgift« und »Vorliebe« werden die Urknalltheorie und das Standardmodell der Physik thematisiert. Die Vision des Urknalls ist lediglich eine Theorie, die nicht experimentell verifiziert werden kann. Aber dadurch, dass sie wissenschaftlich vermittelt wird, haben viele Menschen den Eindruck, dass es den Urknall wirklich gegeben hat. Ganz anders mit dem Hermaphroditismus. Er ist ein biologischer Fakt, der aber tabuisiert wird. Dadurch, dass es keine kulturelle Akzeptanz dafür gibt, ist er in dem Bewusstsein vieler Menschen überhaupt nicht präsent, als gäbe es ihn nicht. Draesner: Ich würde noch weitergehen. Man hat heutzutage hierzulande leicht den Eindruck, dass es Hermaphroditismus gar nicht mehr gibt. Das war früher, das haben die Griechen erfunden, das ist nur ein Mythos, jetzt sind wir ›weiterentwickelt‹. Es gibt ja auch viele Formen von Behinderungen scheinbar nicht mehr, weil die Pränataldiagnostik greift – oder die Menschen auf der Straße nicht zu sehen sind. An Ihrem Beispiel kann man schön erkennen, wie Sprechen Wirklichkeit erzeugt oder tilgt. Heydenreich: Und da sieht man die Unterschiede, es gibt einen diffizilen Übergangsbereich zwischen dem, was es gibt, und dem, was von vielen als gegeben wahrgenommen wird. Die Literatur kann solche Setzungen hinterfragen und Verschiebungen provozieren. Draesner: Ich denke an Schärfung, an Scharfstellen, an den Versuch, immer wieder andere Ausschnitte der Bilder zu zeigen, sodass Bilder sich überlappen und dadurch neu lesbar werden. Beim Beispiel des Hermaphroditen: die Art, wie er heute in unserer Kultur behandelt wird, und der Umgang anderer Gesellschaften, anderer Kulturen, anderer historischer Epochen mit Phänomenen der Zwischengeschlechtlichkeit. Mich interessieren die Grenzen von Codes, ihre Zurichtung bzw. zunächst auch die Mechanismen, mit deren Hilfe Codes entstehen

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und etabliert werden. Die Art und Weise, mit Hermaphroditismus umzugehen, ist solch ein Code. In gewisser Weise gilt dies auch für den sogenannten Urknall. Er ist zeitlich begrenzt, wurde 1931 erfunden, und wer weiß, ob es ihn in fünfhundert Jahren noch gibt. Er erwächst aus einem bestimmten kulturellen System, einem System, das diese Art von Wissenschaft hervorgebracht hat, und auch diese Art von Metaphorik. Und eigentlich sieht man, etwa im Vergleich zu asiatischen Kulturen, dass das teleologische Denken von A nach B nach C, auch dieses Zeitdenken, europäisch-christlich geprägt ist, aber keineswegs gottgegeben zu sein scheint. In unseren Gehirnen allerdings ist es tief verwurzelt. Siehe Kant. Wir kommen, siehe Urknall, aus dem Denken in Ursachen und Wirkungen nicht so leicht heraus. Aber eben das lässt sich zeigen: dass das nicht die Wahrheit an sich ist, sondern die Wahrheit in unserem Kopf, die Wahrheit unter menschlichen Bedingungen. Heydenreich: Anita selbst kommt im Roman selten zu Wort, erst sehr, sehr spät und dann nur spärlich. Der Roman verhandelt eher die Bedingungen der Möglichkeit des Sprechens über Hermaphroditismus. Es geht um Zuschreibung und Festlegungen. Worüber man weniger nachdenkt, ist, dass, von dem dritten Geschlecht ausgehend, neue Beobachtungsperspektiven auf den Dualismus zwischen den beiden Geschlechtern entstehen könnten und vielleicht auch neue Denkmöglichkeiten. Draesner: Ich arbeitete mit einer Setzung. Sie hieß: Es gibt eine Erzählstimme, die nicht der Hermaphrodit ist, sondern die auf ihn blickt. Das primäre Interesse des Romans liegt nicht auf dem zwiegeschlechtlichen Menschen, dem ›Exoten‹, dem ›Unikum‹, sondern darauf, wie sich die Existenz dieses Menschen auf seine Umgebung auswirkt. Also auf all jene, die sich als ›normal‹ begreifen und weiterhin so begreifen wollen. Da setze ich an. Anita ist zentral, ich lege mich auf sie fest, die anderen Figuren können eigentlich nur in ihrer Brechung, in ihrer Rahmung, in ihrem Bildschatten auftauchen. Es wäre ein ganz anderer Text geworden, hätte ich den Hermaphroditen sprechen lassen. Das aber hielt ich für keine gute literarische Möglichkeit, weil sie den Voyeurismus weitergeführt hätte, der die Geschichte abweichender Menschen so häufig auf so schlimme Weise bestimmt. Stichwort Zirkus, Stichwort Show. Und noch etwas: Es sollte keine Kampfschrift werden, kein Pamphlet für ein drittes Geschlecht. Dafür ist der Roman nicht das geeignete Medium. Heydenreich: Das wäre ein Manifest gewesen. Mecke: Es ist ja auch kein journalistischer Text. Draesner: Die Begegnung mit der Schwester ist für Aloe eine Herausforderung, aber auch eine Bereicherung ihres Lebens. Das musste ich nicht aus der Hermaphroditensicht manifestartig behaupten. Über Brechung bzw. Spiegelung kann man Wahrnehmung und ihre Veränderungen beobachten, dieser Punkt interes-

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sierte mich. Ebenso: die Bereicherung und die Herausforderung, die Anitas Existenz für ihre Umgebung bedeutet. Dies in dieser Doppelung zu zeigen – Geschenk und Fluch, Mitgift eben –, halte ich für viel wichtiger als eine Kampfschrift. Um etwas zu bewegen, vielleicht auch zu verändern, wenigstens im Kopf, muss man über Grenzziehungen nachdenken. Und sie fühlbar machen. Etwa die Stärke und Brutalität der Grenzziehung ›normal‹, mit der wir alle täglich umgehen. Es ist leicht, auf einen anderen zu blicken, der so anders ist, dass diese Andersheit einen in keiner Weise bedroht oder angeht. Und es ist schwierig und unangenehm, sich selbst darin zu sehen, wie man etwa, trotz aller Aufgeschlossenheit und Liberalität, in seinem Denken »weiblich ›oder‹ männlich, das ist normal« nicht berührt und schon gar nicht aufgestört werden möchte. Es gibt – ich weiß nicht mehr, wo das war, in Afrika oder Polynesien – Gesellschaften, bei denen ungefähr zehn Prozent der Kinder hermaphroditisch sind. Ich erinnere mich an den Bericht über eine Inselbevölkerung, in der sich der Hermaphroditismus der Kinder erst im Alter von etwa zehn Jahren zeigt. Solche Kinder galten als Heilige oder Seher, sie lebten weiterhin mit den anderen zusammen, erfüllten aber eine spezifische Rolle in ihrer Gemeinschaft. Ihre Andersheit war wichtig für alle. Man ging täglich damit um. So könnte es hier ebenfalls sein, um auch das noch einmal in den Blick zu rücken. Burkhardt: Sie haben über »Vorliebe« gesprochen und wie Sie die Wissenschaftssprache der Physik in eine sinnlichere Sprache übersetzen, die ein Romanpublikum auch versteht. Ist das nun Pragmatismus, weil das thematisch zu diesem Roman gehört oder sehen Sie da Literatur als Übersetzungshilfe dieses Codes oder als eine Art Hermeneutik? Draesner: Es geht um Schönheit und Lebenserweiterung! Vokabeltraining, Schärfung der sinnlichen Wahrnehmung, Ausdifferenzierung der erlebbaren Wirklichkeit durch Lektüre. Das ist nicht Pragmatismus, sondern Überzeugtsein von Literatur und Liebe zur Sprache. Und: Ich komme, von meiner Ausbildung her, aus den Geistes- bzw. Kulturwissenschaften, wäre aber nicht damit zufrieden, für den Rest meines Lebens in dieses Kästchen eingesperrt zu werden und nichts anderes mehr wahrnehmen zu dürfen. Richtmann: In Ihrem letzten Werk kommt die Physik nicht mehr vor, gibt es einen Grund dafür? Draesner: Vielleicht mischt die Physik sich in einen späteren Text noch einmal ein, das weiß ich heute nicht. In meinem jüngsten Roman »Sieben Sprünge vom Rand der Welt«, der lange den Arbeitstitel »Die Verzogenen« trug, spielt die Forschung an Menschenaffen eine Rolle. Ich brauche sie, weil Tiere menschliches Verhalten spiegeln. Wir benutzen sie zumindest gern in diesem Sinn. Doch wie weit trägt das? Wo und inwiefern sind in diesem Fall wir ›die Anderen‹? Ich mag

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es an meinem Beruf, dass er mir die Möglichkeit gibt, mich mit verschiedensten Themen zu beschäftigen. Gewiss kann ich keinen Beitrag zur Verhaltensbiologie leisten, aber ich kann mit ihrer Hilfe darüber nachdenken, was wir wahrnehmen und was wir sehen, wenn wir Tiere betrachten, warum wir Tiere brauchen, wie es uns ergeht mit unserem nächsten Verwandten. Ich kann zeigen, wie fremd Menschenaffen sind, wie schön, wie beängstigend und wie aggressiv. Also denke ich auch hier wieder über Bilder nach. Über unser Menschenbild und darüber, wie es sich entwickelt hat, auch durch die durchaus artifizielle Entgegensetzung zum Tier. Was bedeutet es, wenn Genetiker uns dann versichern, dass das Affengenom dem menschlichen Genom wahnsinnig ähnlich ist? Selbstbild, Verhaltensweisen und die Kommunikation Affe-Mensch und Mensch-Affe interessieren mich. Ich versuche, einen Bonobo zu beschreiben. Eine Herausforderung. Ich suche nach Sprache, die zeigt und fühlbar macht. Ich verstehe das als genuin literarische Aufgabe. Wie kann Tierlichkeit in Menschensprache entstehen? Dafür recherchiere ich und stehe ständig in den Zoos herum und fluche, weil mich niemand einen Affen anfassen lässt . . . Mecke: Da bin ich gespannt, wo die Erik’sche Zeitverzögerung vorkommen wird . . . Gab es wirklich nie eine Reaktion von Physikern zu Ihren Physikerfiguren? Draesner: Nein, vielleicht schreiben Sie etwas dazu! Insofern leisten Sie mit diesem Projekt Pionierarbeit. Mecke und Heydenreich: Vielen Dank Frau Draesner – für diesen Mut machenden Ausblick und für dieses interessante Gespräch!

Zur Autorin Ulrike Draesner – Jahrgang 1962, geboren und aufgewachsen in München – studiert ab 1981 an der Ludwig-Maximilians-Universität zunächst Jura, wechselt dann aber recht bald zu Anglistik, Germanistik und Philosophie. Im Anschluss an ihr Studium arbeitet sie ab 1989 als wissenschaftliche Assistentin am Münchner Institut für Deutsche Philologie. 1992 folgt die Promotion mit einer mediävistischen Arbeit über Wolfram von Eschenbachs »Parzival«. Bereits während ihres Studiums und der anschließenden Tätigkeit an der Universität beginnt Draesner Prosa und Gedichte zu schreiben, veröffentlicht jedoch zunächst nicht. 1993 entscheidet sie sich gegen eine weitere Karriere am Institut für Deutsche Philologie in München und für eine Existenz als freie Schriftstellerin. 1995 erscheint ihr erstes Buch, der Gedichtband »gedächtnisschleifen«. Kurz darauf verlässt Draesner ihre Heimatstadt München und zieht nach Berlin. 1998 kommt ihr erster Roman heraus, »Lichtpause«, 2002 folgt »Mitgift«, 2005 »Spiele«, 2010 »Vorliebe« – und zwischendrin Gedichte, Essays, Erzählungen, Übersetzungen, Hörspiele und intermediale Projekte. Zuletzt veröffentlicht sie den Erzählband »Richtig liegen. Geschichten in Paaren« (2011) und den Flucht- und Vertreibungsroman »Sieben Sprünge vom Rand der Welt« (2014).

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Zitierte Literatur Hot Dogs. Erzählungen. München: Luchterhand, 2004 • Mitgift. Roman. München: Luchterhand, 2002 • Richtig liegen. Geschichten in Paaren. München: Luchterhand, 1 2011 • Sieben Sprünge vom Rand der Welt. Roman. München: Luchterhand, 1 2014 • Vorliebe. Roman. München: Luchterhand, 2010.

Mit der Dichterin, Prosaautorin, Essayistin und Literaturwissenschaftlerin Ulrike Draesner sprachen der Physiker Klaus Mecke, die Literaturwissenschaftlerin Aura Heydenreich, die Doktorandin Stefanie Burkhardt vom Zentrum für Literatur- und Kulturforschung Berlin und die Studentin Stephanie Richtmann vom interdisziplinären Erlanger Masterstudiengang »Literaturstudien – intermedial & interkulturell«. Der Dialog wurde am 24. Mai 2011 in Erlangen geführt.

Aura Heydenreich und Klaus Mecke

Librationen Durs Grünbein im Dialog zu »Cyrano oder Die Rückkehr vom Mond« und »Vom Schnee oder Descartes in Deutschland« Heydenreich: Sie gaben in einem früheren Interview mit Sabine Wilke und Anke Biendarra an, dass für Ihre poetologische Position die »naturwissenschaftliche Zeitgenossenschaft« von großer Bedeutung ist. Dass auch speziell die physikalische Forschung zu Ihrem Interessenfeld gehört, wird an zahlreichen poetischen und expositorischen Texten deutlich. Wie ist Ihr Interesse für die Physik begründet? Grünbein: Heute würde ich als Erstes sagen, dass wir es uns in unserer Kultur, in unserem Zeitalter gar nicht aussuchen können. Die Physik ist da, sie hat sich in allen Bereichen durchgesetzt. Vor allem in der Praxis, da zwar oft unbemerkbar, aber doch in jedem Haushalt. Der Widerspruch, der mich oft beschäftigt hat, ist, dass wir von Geräten umgeben sind, deren Funktionsweise wir gar nicht mehr unmittelbar begreifen. Mein Lieblingsbeispiel war früher immer der Schallplattenspieler: Erklären Sie den Piezoeffekt! Das muss man aber nicht, wenn man zum Beispiel eine Schallplatte von den ›Doors‹ auflegt, denn dann hat man schon den gewünschten Effekt: Man hört die Musik und das reicht. Aber von diesen Geräten gibt es ja inzwischen immer feinere, sodass wir nun endgültig sagen können, dass wir auf das Funktionieren von technischen Geräten bzw. von physikalischen Effekten angewiesen sind. Wir merken das immer wieder, zum Beispiel beim Stromausfall, das ist die Ausgangslage. Ob ich mir das nun aussuche oder nicht, es ist so. In meinem Fall war es so, dass ich aus einem Naturwissenschaftler-Haushalt komme. Mein Vater ist Physiker, Flugzeugbauer, Ingenieur und meine Mutter war in der Chemiebranche als Laborantin tätig. Dadurch herrschte zuhause ein naturwissenschaftlicher Diskurs, es gab eine sehr rationalistische Herangehensweise. Es wurde von mir sicherlich auch in gewisser Hinsicht das Gleiche erwartet. Mein Vater, der zuhause noch viel gebaut und gebastelt hat, hat mich zum Beispiel sehr früh in die Elektronik eingeführt. Sodass ich dann selbst ganz viel bauen und basteln musste. Ich bekam später einen Studienplatz, der ›Elektronische Bauelemente‹ hieß, den ich dann aber kurz vor Antritt des Studiums abgegeben habe. Ich hatte plötzlich unglaubliche Angst, dass das mein Leben sein sollte, weil ich in dieser Zeit und auch schon davor sehr intensiv für mich geschrieben hatte. Aber das stand auf einem völlig anderen Blatt und galt, wie es nun einmal so war, als Hobby, als interessante Beschäftigung. Es hieß: ›Interessant, der fällt so aus der Art, der schreibt ständig, aber davon will er hoffentlich kein Leben bestreiten.‹

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Die erste große Lebensentscheidung kam mit den Fragen, die einen beschäftigen: Was willst du eigentlich die nächsten fünf Jahre studieren? Mit wem willst du zusammen sein? Was wird dich theoretisch beschäftigen? Ich wusste in diesem Moment: ›Elektronische Bauelemente‹ wollte ich nicht, und habe den Studienplatz abgegeben. Da setzte ein Bruch ein. In dem Moment habe ich mich entschlossen, Literatur- und Theatergeschichte zu studieren. Verlassen hat mich das aber nie, es waren weiterhin im häuslichen Bereich viele Bücher zur Naturwissenschaft vorhanden. Ich weiß noch, dass ich mir die Lehrbücher meines Vaters, der Physik an der Technischen Universität in Dresden studiert hatte, immer wieder angeschaut habe. Mich hat auch eine Weile Flugzeugbau interessiert. Ich habe mir das immer gerne erklären lassen, wie Turbinen funktionieren. Irgendwann später, mit Mitte zwanzig, als ich viel in Bibliotheken unterwegs war, habe ich mir aus diesem Impuls heraus neben allen möglichen literarischen Werken – Kompendien, Anthologien, Zeitschriften etc. – naturwissenschaftliche Literatur ausgeliehen. Ich habe eine Zeit lang versucht, Richard Feynmans »Lectures on Physics« zu verstehen, aber da merkte ich schon, dass das Bereiche sind, in die man auch studienweise tiefer eindringen müsste. Ich schicke voraus, dass ich kein ausgebildeter Physiker oder Naturwissenschaftler bin. Ich habe Freunde, die das sind, die auch künstlerisch arbeiten. Filmemacher, die nebenbei eine Ausbildung in Quantenphysik haben. Das führt natürlich auch zu ganz anderen Ergebnissen, auch in dem jeweiligen Feld. Heydenreich: Wie sehen Sie die Dreier-Relation Lyrik-Natur-Physik, in der die Letztere als Wissenschaft von der Natur fungiert? Lässt sich eine Verschiebung des Interesses feststellen – von der Beschäftigung mit der phänomenalen Natur zur Beschäftigung mit der Frage, welche Erkenntniszugänge es zu ihr gibt und welche Darstellungsmodelle es von ihr gibt? Sodass die Wissenschaften zunehmend in den Vordergrund rücken? Grünbein: Man findet nach dem Zweiten Weltkrieg einzelne Manifeste der europäischen Neoavantgarden – zum Beispiel italienische –, an denen deutlich wird, dass in den Hauptwerken einzelner Vertreter eine solche Verschiebung stattgefunden hat. Zum Beispiel dringt die Linguistik sehr massiv in die Literatur ein. Aber eben auch die ›Neue Physik‹: Die einzelne Vertreter absolvierten ein Parallelstudium oder suchten diese Verbindung auf autodidaktische Weise. Dadurch veränderten sich schlagartig auch das Vokabular und die Konzepte der Literatur. Gerade an der Nachkriegslyrik, an der reinen Versdichtung, kann man das gut studieren. Da wird es auch noch deutlicher als in der Prosa, wenn zum Beispiel in den Texten jedes romantische, klassizistische Kalkül abgestreift wird und die naturwissenschaftlichen Begriffe auf einmal nackt da stehen oder Ausgangspunkt für Texte sind. Man sieht deutlich, dass das eine Entwicklung gewesen ist, die

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jetzt schon wieder verblasst. Das war wirklich ein Nachkriegspathos, auch um gegenüber allem Vorherigen einen Bruch zu setzen. Es standen ja damals Ideen im Raum, die sagten, dass die große politische Katastrophe des zwanzigsten Jahrhunderts auch eine sprachliche gewesen sei: eine Katastrophe der verblassenden Mythologeme, des unklaren Denkens schlechthin, und je mehr die theoretische Naturwissenschaft auch in das künstlerische Denken Einzug halten würde, umso besser. Solche Momente findet man in der konkreten Poesie, aber eben auch in allen sonstigen literarischen Experimenten. Da fällt mir das Stichwort ›Neoavanguardia‹ ein und deren Vertreter Edoardo Sanguineti und Andrea Zanzotto. Es gab plötzlich Dichter, die eine enge Nähe zur Mathematik suchten. Die berühmte ›Bourbaki-Gruppe‹, bei der plötzlich auch Lyriker dabei waren – das sind wohl die extremsten Fälle. Mecke: Und wer war das in Deutschland? Grünbein: In der deutschen Sprache spielt das bei Gerhard Rühm wohl eine gewisse Rolle. Vielleicht auch in der ›Wiener Schule‹ bei Einzelnen, zum Beispiel bei Konrad Bayer. Ganz sicher auch bei solchen Vertretern wie Oswald Wiener. Heydenreich: Und Max Bense? Grünbein: Max Bense ist natürlich unbedingt zu nennen. Obwohl ich ihn immer eher als Essayisten und Theoretiker sehe. Ich weiß, er hat ganz eigene konkrete Experimente gemacht. Aber er ist als Theoretiker in dieser Hinsicht wichtig. Zunächst einmal ist mir eine Differenz aufgefallen, dass die Texte, die er über Gottfried Benn publiziert hat, anders sind, als die steilen konzeptuellen theoretischen Texte, in denen er selbst diktiert, wie die neue Poesie aussehen soll. Für viele war natürlich Gottfried Benn ein ›Nestor‹ dieses Denkens. Die Personalunion von Naturwissenschaftler und Autor geht im zwanzigsten Jahrhundert natürlich viel früher los: Wir haben interessanterweise vor allem viele Fälle von schreibenden Ärzten, wie zum Beispiel Alfred Döblin oder Gottfried Benn, das scheint mir kein Zufall, sondern eine richtige Konstante zu sein. Dieses Kalkül für die Erzählliteratur, das sieht man schon seit Flaubert. Da geht es darum, das literarische Material so exakt und kalt zu behandeln, ebenso studienmäßig, wie die Natur. Aus dem, was früher einmal ein Charakter war, eine Romanfigur, wird auf einmal eine richtige psychologische Studie nach allen Regeln der sich entwickelnden Psychologie und dann später auch der Psychoanalyse. Das gilt für den Erzählbereich. In der Poesie sind es hingegen eher die Konzepte der Sprache, die sich ändern, beispielsweise die Übernahme naturwissenschaftlicher Terminologie, selbst wenn die gar nicht so große Berechtigung hat, aber sie wird zunächst einmal aufgenommen und als Material eingesetzt. Aber es geht auch bis hin zu einer Änderung im Konzept: Zum Beispiel setzt serielles Schreiben ein, analog zu Forschungsfeldern in den Naturwissenschaften. Es wird plötzlich auf Ausschnitte

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fokussiert, die zuvor für die Poesie nie allein wichtig waren. Nach dem Krieg ist zu beobachten, dass der Input aus vielen Bereichen kommt. Aus der Statistik ebenso wie aus der neuen Ethnologie, der Psycholinguistik, der Kybernetik – was dann Oswald Wiener interessiert hat –, aus der neuen Mathematik. Aber eben in einzelnen Fällen auch aus der Theoretischen Physik. Ich weiß auch von vielen heutigen zeitgenössischen Autoren, dass es bei vielen ein Grundinteresse dafür gibt. Die Frage ist, wie sich das auf den Text durchschlägt – ob es ein allgemeines Interesse ist oder ob es tatsächlich eine Rolle spielt und das Denken oder das Schreiben als solches ändert.

Physik im kulturellen Spannungsfeld Mecke: Die Literatur bietet die Möglichkeit, Widersprüche der spezialisierten wissenschaftlichen Expertendiskurse aufzudecken und ihre Relevanz für den menschlichen Erlebnishorizont zu unterstreichen. In welchen kulturellen Spannungsfeldern, die für die Dichtung von Relevanz sind, verorten Sie die Physik? Grünbein: Da muss ich eine Gegenfrage stellen: Verstehen sich denn die Naturwissenschaftler untereinander? Mecke: Im Detail schon. Grünbein: Verstehen sich Quantenphysiker und Genbiologen tatsächlich? Ich kann ein schönes Beispiel erzählen. Es war ein großes Privileg, aber auch die Belohnung für mich selbst, als ich in den Orden ›Pour le mérite‹ aufgenommen wurde, der sich zweimal im Jahr trifft. Das ist ein interessantes Gremium, denn es besteht zu einem Drittel aus Naturwissenschaftlern, einem Drittel aus Geisteswissenschaftlern und einem Drittel aus Künstlern. Bei den Naturwissenschaftlern ist ein sehr hoher Anteil an Nobelpreisträgern vertreten. Man hat immer zwei, drei Tage lang in sehr ruhiger und lockerer Atmosphäre sehr interessante Koryphäen vor sich, und alle sind aneinander sehr interessiert. Es finden Vorträge, Führungen etc. statt. Dann ist mir aber aufgefallen, dass auch bei den Naturwissenschaftlern die jeweiligen Konzepte der anderen erklärungsbedürftig sind. Es versteht sich nicht von selbst, dass der Quantenphysiker weiß, was die Entwicklungsbiologin gerade macht. Das muss sie ihm erklären, und umgekehrt lässt sie sich erklären, was gerade im Teilchenzoo los ist. Obwohl die Vorträge auf hohem Niveau sind, müssen die Vortragenden vermittelnd ansetzen, um alle Hörer mitzunehmen. Also habe ich festgestellt, dass das nicht selbstverständlich ist, dass sich die Naturwissenschaftler untereinander gut verstehen, weil sie auf verschiedenen Feldern und mit regelrecht verschiedenen Sprachanwendungen arbeiten.

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Mecke: Nun gut, es gibt immer noch die gemeinsame Verständigungsbasis. Methodisch ist man relativ schnell beieinander. Grünbein: Mir ist aufgefallen, dass durchaus frecher argumentiert wird. Es kann schon vorkommen, dass Wissenschaftler X zu Wissenschaftler Y meint: ›Eure Experimentalanordnung leuchtet mir gar nicht ein.‹ Das fand ich großartig, weil es mir zeigte, wie bedingt die Wissensproduktion ist. Das ist natürlich immer von den Institutionen abhängig und kann sich in vier Jahren wieder ändern, dann würde man keine Forschungsgelder mehr in die jeweilige Sache pumpen. Das können aber Naturwissenschaftler untereinander sehr viel schneller bemerken, sie sind da offensiver und machen Vorschläge, worüber die anderen forschen sollten. Wenn wir bei der Entwicklungsbiologie sind: Das ist ein Gegenstand, der allgemein Interesse erzeugt. Da wird richtig experimentiert, am Naturgegenstand werden richtige Versuchsreihen aufgebaut. Ich habe das Gefühl, dass in der Physik die Beobachtung dessen wichtig ist, was in der Materie schon da ist. Die Genforscher hingegen, die manipulieren kräftig mit, und das meine ich wertfrei. Das ist eine völlig andere Perspektive. Stellen Sie sich vor, der Physiker würde versuchen, an der Materie zu manipulieren – aber er kann es nicht, denn er weiß, dass es Konstanten gibt, er muss weiterhin den Bau begreifen. Mecke: Viele theoretische Physiker arbeiten anwendungsfern. Sie haben eher ein Erkenntnisinteresse und nicht ein technisches Interesse. Grünbein: Genau. In der ganz ruhigen Zone sind die Mathematiker. Wir haben im Orden ›Pour le mérite‹ zwei Mathematiker. Yuri Manin zum Beispiel ist ein leidenschaftlicher Leser, Schreiber und Übersetzer von Poesie. Mit ihm sitzen wir manchmal da und reden verstohlen über eine angebliche Nähe der Mathematik zur Poesie. Einig sind wir uns darin, dass man am anwendungsfernsten von allen, am meisten an einem Glasperlenspiel beteiligt ist. Die Frage wäre jetzt also: Welche Widersprüche gibt es innerhalb der spezialisierten wissenschaftlichen Expertendiskurse? Die Literatur könnte das meines Erachtens aufdecken. Die erzählende Literatur zeigt das natürlich besonders gerne an einzelnen Fällen, auch indem sie diese Widersprüche anprangert. Das hatten wir zum Beispiel in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, als es Klagediskurse gegen die Naturwissenschaften gab. Die Relevanz der Naturwissenschaften für den menschlichen Erlebnis- und Erfahrungshorizont, die steht außer Frage, die Menschheit tut da ja insgesamt nichts Unvernünftiges. Nur oft sehr kühne Sachen, bei denen es den Beteiligten oft auch ziemlich unbehaglich wird, was da ausgelöst wird. Wie lange hatten wir einen Atomkraft-Diskurs, bis hin zu apokalyptischen Erwiderungen? Jetzt ist dieser interessanterweise aus der Phantasie der Schriftsteller wieder weitestgehend verschwunden. Auch Fukushima konnte das nicht wirklich neu beleben. Man sollte vielleicht den

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Faktor Gewöhnung nicht unterschätzen. Die Menschheit gewöhnt sich enorm auch an ihre Katastrophen.

Zum Experimentcharakter von Physik und Poesie Heydenreich: Im Gegensatz zur Gewöhnung steht ja das Experiment. So zitieren Sie in Ihrem Essay »Der cartesische Taucher« Marcel Proust: »Für den Schriftsteller ist ein Eindruck, was für den Wissenschaftler ein Experiment – mit dem Unterschied, daß im Falle des Wissenschaftlers die Tätigkeit der Intelligenz dem Ereignis vorangeht, während sie im Falle des Schriftstellers nachfolgt« (Der cartesische Taucher, 93; im Folgenden: CT). Gibt es Gemeinsamkeiten im Experimentcharakter der Physik und der Poesie? Grünbein: Das ist eine wirklich schwierige Frage. Ich war froh, dass ich dieses Zitat in der riesigen »À la recherche du temps perdu« eines Tages fand. Proust ist für mich deshalb so ein interessanter Gegenstand, weil er mit seinem größten Lebensprojekt, der »Recherche«, etwas zu beweisen scheint – nämlich, dass es möglich ist, zumindest psychische Effekte, Langzeitbeobachtungseffekte eines Menschen an sich selbst und seiner Umgebung, in Sprache umzusetzen. Somit ist die »Recherche« für mich ein Beispiel eines gelungenen Beitrags der Literatur zur allgemeinen Anthropologie. Die große Intuition war bei Proust durch Bergson gegeben. Auch da ist es interessant, wie viele Autoren philosophische Grundgedanken aufgreifen und darüber ein Buch schreiben. Aber wie viele beschäftigen sich damit ein ganzes Leben und für wie viele wird daraus eine Einstellung zum Schreiben und zum Beobachten? Das ist meines Erachtens diese einzigartige Perspektive, die Proust als Autor in der Welt eingenommen hat und die wir nie müde werden können zu studieren, deren Beobachtungseffekte uns immer wieder neu überraschen. Was er zeigen kann, ist, wie sich einzelne Aspekte der Psyche über längere Zeiträume verändern und wie wir uns selbst im Beobachten verändern. Es gibt den klassischen Charakter nicht mehr, sondern an seine Stelle treten weiterfließende und wechselnde Beobachterstandpunkte. Mal beobachtet ein Zwanzigjähriger, mal ein Vierzigjähriger, ein Sechzigjähriger, dann wechselt das Blickfeld, und ich bin ein anderer, und dann gehen durch mich Entwicklungen hindurch. Sodass es wirklich zu absoluten Ambivalenzen kommt, zum Beispiel bei der Frage: Was ist Sexualität? Es gibt meines Erachtens kein anderes literarisches Werk, das diese Frage so komplex angeht. Hier würde ich konzedieren, dass der Experimentcharakter gelungen ist. Ich musste einmal darüber systematisch nachdenken und habe einen Artikel geschrieben über das Experiment in der Literatur oder über experimentelle Lite-

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ratur: Dieser Begriff ist in vielen Fällen selbst gewählt, gerade in Abgrenzung zu traditioneller Literatur – wir kennen ihn aus vielen Manifesten. Aber den Beweis bleiben die meisten schuldig, ob sie tatsächlich experimentell etwas Neues haben zeigen können, das nicht auch schon Goethe oder Lichtenberg oder Sappho gezeigt haben. Das ist oft großes Getöse – ich halte nicht so viel von dem selbsterklärten Experimentalbegriff. Deshalb ist mein Fazit, dass er in der Literatur eigentlich nicht so richtig etwas zu suchen hat, wenn man ihn wirklich streng naturwissenschaftlich versteht: Da wissen wir ja, was es ist. Eine Versuchsanordnung soll eine These oder Hypothese beweisen oder falsifizieren, dann kommt es zum vertiefenden nächsten Experiment und so weiter. Oder irgendein Experiment kann zeigen, dass alle bisherigen Annahmen unsinnig waren. Dieses Ausschlussverfahren aber, das Falsifizieren, das gibt es in der Literatur nicht. Wir müssen uns daran gewöhnen, dass dort verschiedene Entwürfe nebeneinander koexistieren. Man kann nicht sagen: ›Dieser Roman ist falsch und dieser Roman ist richtig.‹ Das aber wäre doch im eigentlichen Sinne experimentell. Heydenreich: Es ist vielleicht eher in dem Sinne gedacht, dass dabei so etwas wie ein neues epistemisches Objekt konstituiert wird, weil mehrere Beobachtungsperspektiven aufeinandertreffen. Und dass dabei Wissen in neue Kontexte gestellt wird, so wie es vorher nie gesehen wurde. Grünbein: Das kann es geben. Nehmen wir wieder ein Beispiel: »Der Mann ohne Eigenschaften«. Dann ist quasi das neue epistemische Objekt die neue, moderne Figur. Eine literarische Figur, die vielmehr ein Integral ist von tausenden Entwicklungen der Moderne. Aber dann sind wir eben beim Roman. Beim Roman kann man das eher nachvollziehen. In der Lyrik sind etwa die sprachspielerischen oder sprachdidaktischen Unternehmungen der konkreten Poesie, der ›experimentellen‹ Poesie, den Fragen ausgesetzt: Sind das Experimente im strengen Sinne? Was wird in ihnen bewiesen? In diesem Bereich wird die Sprache selbst zum epistemischen Objekt. Dann wird natürlich sehr viel genauer der Fokus auf einzelne Worte oder Syntaxprobleme gelegt, die dann wiederum Rückschlüsse zulassen, wie unsere Psyche funktioniert, zumindest sprachlich. In diesem Moment haben wir natürlich einen Beitrag, der unmittelbar die Psychologen interessieren könnte. Aber die Grenze ist immer, dass alle Literatur an der Sprache kleben bleibt und die Naturwissenschaften bekanntlich ihre Begriffe, physikalischen Größen, Variablen und mathematischen Gleichungen und Formeln haben. Das ist eine Parallelsprache, die die andere kaum noch braucht.

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Metaphern und Analogien in Physik und Poesie Mecke: Ist das wirklich so? Meine Erfahrung ist, dass auch in der Mathematik und Physik sehr viele Metaphern benötigt werden, gerade wenn es um das Anstoßen neuer Forschungsgebiete geht, angefangen mit Faradays Feldbegriff. Aber auch mathematische Konzepte sind ja erst einmal Alltagsmetaphern, bevor sie dann überhaupt formalisiert werden. Grünbein: Bleiben wir bei dem Begriff des Feldes. Sie als Wissenschaftler wissen es wahrscheinlich genauer: Wann taucht er denn das erste Mal auf? Mecke: Ich bin kein Wissenschaftshistoriker, aber für mich taucht er als zentrale Größe bei Faraday auf. Der hat damit gerungen, herauszufinden, wie man kontinuierliche Verteilungen beschreiben kann, und man kann es in seinen Tagebüchern nachvollziehen, dass er dafür wirklich Spracharbeit betrieben hat. Es geht ja nicht nur darum, die Metapher ›Feld‹ zu verwenden, sondern auch Wirbel, Ströme und Gradienten. Grünbein: Hat Faraday ursprünglich an ein Weizenfeld gedacht? Oder was muss man sich darunter vorstellen? Mecke: Ja, ich denke schon, dass das eine ursprüngliche Größe war, vor allem auch bei seinem Konzept der Wirbelbildung in Feldern. Das ist ja das Grandiose, das einen Physiker ausmacht – wie er Möglichkeiten findet, diese Begriffsarbeit sichtbar zu machen. Grünbein: Klar, ich erinnere mich natürlich auch an unsere Lehrbücher, in denen das graphisch dargestellt wurde. Die Wirbel sehe ich jetzt sofort wieder, wenn wir darüber reden. Mecke: Faraday fängt dann an, Eisenspäne zu streuen, und sieht, wie sie sich gruppieren und eine Art Weizenfeld bilden. Er war nicht wirklich ausgebildet, er war ein mathematischer Autodidakt. Die Formalisierung ist dann erst später durch Maxwell erreicht worden. Ich denke, das kann man bei fast allen physikalischen Gebieten nachvollziehen, dass die eigentliche revolutionäre neue Erkenntnis vor der Formalisierung in metaphorischer Form stattfindet. Grünbein: Dass das Inbild sozusagen früher als die Theorie da war, wie Gerard Manley Hopkins gesagt hat. Mecke: Ich würde es als einen zweiten metaphorischen Prozess beschreiben. Wenn ich etwas erst einmal beschrieben und Messerzählungen dafür erfunden habe, die das herausarbeiten, dann ergeben sich Modellerzählungen. Sie werden ebenfalls durch Metaphern geleitet, die dann in eine mathematische Sprache übersetzt werden.

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Grünbein: Da kann man wahrscheinlich besonders enge Verhältnisse in der romantischen Naturphilosophie finden. Zum Beispiel bei Johann Wilhelm Ritter und Hans Christian Ørsted, da saßen die Richtigen zusammen. Die Freundschaft mit J. W. Ritter und seine Ideen und Ansichten zu der Naturphilosophie halfen Ørsted bei seiner späteren Forschung zum Elektromagnetismus. Mecke: Aber es geht dann leider in eine esoterische Richtung. Grünbein: Ja, das ist eben die Gefahr, die ist immer da, wo die Literatur am Tisch sitzt. Heydenreich: Interessant ist, wenn es gelingt, zwischen vollkommen disparaten Bereichen eine Analogie herzustellen. Von da an beginnt die Arbeit der Physiker, die Messerzählungen zu konzeptualisieren und sich zu fragen: Aufgrund welcher Größen, aufgrund welcher Messhandlungen und mit welcher Skala können wir diese Analogie sichtbar machen und formalisieren? Grünbein: Weltmeister im Herstellen solcher Verbindungen, aber eben auch ein absoluter Lektüre-Stoß gegen den Kopf, war Novalis. Bei dem findet das ja ständig statt, dass er noch nie vorher zusammen Gedachtes zusammenfügt und in einem schnellen Aphorismus blitzartig festhält. Das macht er ja fortwährend, als würde da jemand die Wissenschaftsprogramme der Zukunft einfach mal so hinwerfen. Bei ihm findet sich dieser Aspekt besonders stark, dass weiteste Bereiche zusammengefügt werden, zunächst nur – aber was heißt hier ›nur‹! – romantisch, metaphorisch. Aber wir wissen ja, dass er mindestens eine feste Basis hatte, eben die Mineralogie, die Steinkunde und das Bergwerkwesen. Ich erinnere mich an einen Aufsatz des amerikanischen Germanisten Ziolkowski, der das Thema behandelte, den fand ich ganz interessant. Plötzlich ist mir klar geworden, dass das stimmt: Das hat man bei vielen Romantikern. Immer wieder geht es um das Bergwerk, um Gestein. Bei Goethe ist das vorgeprägt. Das war mindestens eine Denkformation. Bei Novalis springt es dann weiter, er verbindet es mit der Chemie. Alles, was gerade frisch ist, wird sofort in diesen ›Brouillon‹ hineingeworfen. Diese Entwicklung sehe ich stark. Die hat sich dann auch rasend akzeleriert, auf einmal waren die unmöglichsten Kombinationen denkbar. Heydenreich: Die Beschäftigung der Dichter mit den Naturwissenschaften ist also nichts Neues, existierte immer schon. Grünbein: Wir können davon ausgehen, dass es, sagen wir mal im fünften Jahrhundert vor Christus – eigentlich schon in den Jahrhunderten davor –, in einigen griechischen Städten und auch in Unteritalien, zum Beispiel in Elea, Geister auf demselben Marktplatz gab, die diese beiden Haltungen schon verkörpert haben und miteinander im Gespräch waren. So lange geht das mindestens. Weiter kann ich es nicht zurückverfolgen, aber zu dieser Zeit sind sie schon da – diese beiden

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Haltungen, das eher Visionär-Poetische, Metaphorische, und das KonzeptuellMathematische, Beobachtende. Und die konvergieren irgendwann. Ich finde, dass es besonders in der Barockzeit zu enormen Explosionen dieser beiden Haltungen kommt. Oder zum Beispiel bei Dante. Dazu kann ich übrigens gleichsam etwas Frisches beitragen aus meiner Wiederbeschäftigung mit Teilen des »Paradiso«. Da gibt es ein Experiment im zweiten Gesang, im berühmten Mond-Cantus, wo es um die Mondflecken geht. Beatrice schlägt dem Erzähler ein Experiment mit drei Spiegeln vor. Und das im dreizehnten Jahrhundert, das ist faszinierend, was uns eigentlich warnen sollte. Das heißt, die Sehnsucht, so heranzugehen, ist sehr früh da. Noch waren die Mittel nicht wirklich vorhanden, man hatte nur Spiegel, man schnitt noch keine Linsen – aber die Haltung war schon angedeutet: Was ist, wenn man die Spiegel in diese und jene Konstellationen bringt? Was verändert sich dann? Was können wir beobachten? Noch gibt es keine Strahlentheorie, keine Linsen. Aber die Haltung ist bereits da. Und übrigens auch eine Haltung zum Prozess der Gedankenbildung, die meines Erachtens fast schon aus dem scholastischen Disput kommt. Ich sage Position A, man lässt mich ausreden, dann sagt der andere Position B, und die Argumente gehen hin und her in der alten Disputtechnik. Das zeigt Dante dort eben auch. Dieser Mond-Cantus ist phänomenal: Beatrice redet ihm zwei Theorien aus, alles in Terzinen. Heydenreich: Im Zuge der Recherchen zu Ihrem Mondzyklus »Cyrano oder Die Rückkehr vom Mond« habe ich wieder Plutarch gelesen und dabei erst verstanden, dass dessen Begriff des ›Mondgesichts‹ im Grunde gar nicht metaphorisch gemeint ist. Plutarch liefert eine physikalische Erklärung für ein optisches Phänomen. Argumentativ geht er auch wie in einem platonischen Dialog vor: Er versucht, den anderen erst einmal die Widersprüche aufzuzeigen, um ihre Thesen zu widerlegen. Grünbein: Genau das findet sich dann wieder in Dantes zweitem Gesang des »Paradiso«. Das ist genau diese Debatte. Da geht es um Luftschichten – es ist ihnen klar, dass sich da etwas visuell ändert durch die verschieden dichten Luftschichten oder auch durch die Mondfeuchtigkeit. Die Vorstellung ist wohl, dass der Mond eine besonders feuchte Substanz ist und sich auch dadurch vieles visuell ändert. Man spricht auch von einer ›Mondperle‹, es tropft Mondtau. Das sind nicht nur metaphorische Vorstellungen, sondern frühe ›pseudophysikalistische‹ Ideen. Heydenreich: Ich fand interessant, was Kepler in der »Astronomia Nova« berichtet: Wie er jahrzehntelang damit ringt, dass er seinen Berechnungen und den Beobachtungen Tycho Brahes trauen muss, um das Gesetz der Ellipsen durchzusetzen, obwohl er damit der aristotelischen und der scholastischen metaphysischen Tradition widerspricht. Ist das nicht das wirklich Visionäre? Ganze metaphysische

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Weltbilder zu verwerfen, neue zu erstellen und sich damit auch die Verantwortung aufzubürden, dass vielleicht ab jetzt die Metaphysik umgedacht werden muss? Grünbein: Das, was die exakten Naturwissenschaften tun, wenn sie ein Konzept entwickeln, das dann tragfähig ist, das ist dann das eigentlich Visionäre. Absolut. Und man sieht, durch wie viele Widerstände es sich durchsetzen muss, weil es oft gar nicht plausibel erscheint. Das ist ja nun gerade bei der modernen Physik der Fall. Gerade das Unplausibelste, das überhaupt noch denkbar ist, ist am Ende dann wohl die richtige Theorie. Hier sieht man, wie traditionelle Anschauung oft den Dingen im Weg steht, und dass sich die Naturwissenschaft dagegen behaupten muss. Und wenn die traditionelle Anschauung dann noch mit Machtformen bis hin zu Denkverboten oder Todesstrafen belastet ist, dann sieht man, was für Dramen daraus entstehen können. Giordano Brunos Viele-Welten-Theorie war zunächst einmal nur eine Vorstellung. Aber sie war zugleich auch noch die gefährlichste, die es im sechzehnten Jahrhundert geben konnte. Das mit der Scheibe, die keine Scheibe ist, mit dem eigenen Planeten, der angeblich feststeht, aber doch nicht, sondern sich um die still stehende Sonne dreht, das konnte man noch verschmerzen. Aber die Viele-Welten-Theorie war ein absolutes Skandalon! Uns damit in die völlige Relativität zu verbannen! Wo hatte er das her? Das waren auch zunächst einmal Phantasien. Das waren großartige Texte, er hatte eine enorme Intuition. Man könnte an dieser Stelle auch über die Rolle der Intuition für den Wissenschaftsprozess sprechen. Vielleicht gab es sehr viel früher schon Gehirne, die sich mehrdimensionale Räume vorstellen konnten, bevor sie dann mathematisch erfassbar waren. Anhand von Kepler sieht man, dass es auch bei den ernstzunehmenden Astronomen visionäre Ideen gibt. Der Begriff des Traums, wie bei Kepler, spielt ja wirklich eine große Rolle. Vieles wird in Traumbildern formuliert und es gibt sogar über die astromathematisch ausgefeilten Planetentheorien hinaus weiterhin diesen Raum der Träume. Die Parallele haben wir bis heute, zwischen Astrologie und Astronomie – das eine hat das andere nie abgeschafft, es wohnt manchmal im selben Herzen. Da müsste man bei Astrophysikern mal fragen, inwieweit Horoskope für sie persönlich eine Rolle spielen – das ist der politische Hintergrund Keplers. Die Astronomen waren als Astrologen, also Horoskophersteller sehr gefragt. Nur so konnten sie ihre Forschungsprojekte finanzieren. Bei Tycho Brahe sieht man es klar; man musste Hofastrologe sein, um dann mehr heimlich als geduldet die eigene Forschung voranzutreiben. Heydenreich: Aus der Perspektive der Macht war das, was Tycho Brahe astronomisch betrieb – die Messungen und Beobachtungen, die dann zu den Kepler’schen Gesetzen führten – reine Esoterik.

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Grünbein: Ketzerisch. Manches wurde dann verboten, nach dem Motto: ›Lass den Unsinn, du sollst mir sagen, wie die Gestirne demnächst stehen, damit ich weiß, wie ich das Reich regiere oder den Krieg gewinne.‹ Das war das Wichtige. Heydenreich: Selbst wenn man feststellen kann, dass hier die beiden Kulturen auseinanderzudriften beginnen, glaube ich, dass man auch merkt, dass Cyrano de Bergerac mit seinen »Reisen zum Mond und zur Sonne«, Galileo Galilei mit dem »Sidereus Nuncius« und Kepler mit der »Astronomia Nova« aus verschiedenen Richtungen an einem gemeinsamen Projekt arbeiten: an der Durchsetzung des kopernikanischen Weltbildes. Grünbein: Sie hängen auch eng zusammen. Es gab die Trennung in den unterschiedlichen Wissenskammern noch nicht, diese ist im Grunde auch erst ein Ergebnis der Bildungsrevolution, der universitären Entwicklung und Spezialisierung. Ab dem Moment, da sich die moderne Universität mit verschiedenen Fakultäten herausbildet, wird alles getrennt abgelegt und gespeichert. Aber damals gab es durchaus noch Verkehr untereinander.

Revision der Antipodenkonstruktion zwischen Literatur und Naturwissenschaften Heydenreich: Uns irritiert, warum Figuren wie Galilei oder Kepler als Symbolgestalten für diese Trennung genannt werden, und wir fragen uns, ob das nicht eine aus der Retrospektive rekonstruierte Rezeptionsperspektive ist. Wem dient diese Argumentation der Konstruktion von Antipoden, wenn sie schon dem historischen Kontext und den einzelnen Wissenschaftlern nicht gerecht wird? Grünbein: Ich habe diese Sünde sicherlich auch hin und wieder begangen, aber je länger ich mich damit befasse, desto deutlicher wird mir, wie unmittelbar benachbart diese Geister waren. Es ist sicherlich falsch, wissenschaftshistorisch von dieser frühen Trennung auszugehen. Absolut. Man muss davon ausgehen, dass diese Geister und deren Denken enger zusammenhingen. Mecke: Wenn wir nun an den von Ihnen verschmähten Galilei denken: Eine wesentliche Errungenschaft seiner Arbeit ist die Einführung des Geschwindigkeitsbegriffs. Das ist eigentlich erst mal Spracharbeit gewesen, bis er dann auf die geniale Idee kam, wie man Geschwindigkeit messen und mit schiefen Ebenen experimentieren kann. Metaphorisch geschieht da eigentlich etwas völlig Neues gegenüber der aristotelischen Impetustheorie. Bis heute beschäftigt uns das. Grünbein: Er war eben der große Meister des Messens, der Vermessung aller Dinge. Ich habe ihn nicht geschmäht, dieser kleine Beitrag war nur viel zu früh

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geschrieben. Ich habe inzwischen begriffen, dass dieser Vortrag nur ironisch gemeint gewesen sein kann, um anhand von Dante die Maßverhältnisse durchzuexerzieren. Eine Mischung von beidem, denn er hatte es dort ja wieder mit einem Kulturpublikum zu tun, dem wollte er zeigen, dass die Physiker hier noch etwas Neues machen können: Wir können die Elle wirklich anlegen. Er macht hier übrigens Dante gleichsam auch ein Kompliment, so exakt war der schon. Die Situation des experimentierenden Galilei mit Pendel, Schrägen und dann mit den Teleskopen, die hat mich schon stark angezogen. Interessant ist dabei wieder, was für Sprachmethoden in der Zeit zur Veranschaulichung entwickelt wurden. Galilei stand ja noch ganz in der Tradition des platonischen Dialogs: Er versuchte, die verschiedenen Positionen auf Sprecher aufzuteilen. Das ist dann bereits angereichert mit Zeichnungen. Da kommt es tatsächlich darauf an: Was sieht man auf Galileis Mondzeichnungen? Sind sie reiner Augenschein? Sind sie genaueste Übertragungen von Gesehenem? Oder sind sie eine Konstruktion? Heydenreich: Galilei und Descartes, die als Kronzeugen der Gründung der modernen Naturwissenschaften gelten können, spielen in Ihrem Werk eine zentrale Rolle. Was die beiden verbindet, ist der Hinweis, dass unser Wissen nicht nur durch den Rekurs auf die kulturelle Überlieferung zu gewinnen ist, sondern auch durch genaues Beobachten, Messen, Vergleichen und Experimentieren. Damit gewinnt die naturwissenschaftliche Methode Einzug in die Kultur der Neuzeit, und sie schreibt eine so erfolgreiche Geschichte, dass die beiden Bereiche des kulturell tradierten Wissens und der naturwissenschaftlichen Forschung ab hier auseinanderzudriften scheinen. Sind Ihre Texte als Gegenprojekte angelegt, in denen eine Synthese auf poetischer Ebene angestrebt wird? Grünbein: Meine Projekte sind nicht als Gegenprojekte zu verstehen. Ich sehe das eher in einer beschreibenden Tradition. Wie alles erst mal im Leben, versuche ich für mich herauszufinden, wie diese Dinge stehen. Ich versuche dann, Wissenschaftsgeschichte nachzuvollziehen, habe allerdings nicht den Anspruch eines Sachbuchautors, das auf meine Weise noch mal nachzuerzählen. Sondern ich setze dann auf die Unmittelbarkeit des Gedichts, soweit das geht. Aber die Begegnung solcher Figuren, die hat für mich schon exemplarischen Charakter. Das ist ein altes Geschäft der Poesie. Was Descartes betrifft, habe ich irgendwann bei Byron diesen schönen Satz gefunden: »I want a hero to tell something. I want a hero.« Ich brauche einen Helden! Und für mich kam plötzlich Descartes infrage, um zu begreifen, was im Denken am Beginn der neuzeitlichen Philosophie eigentlich passierte. Ich brauchte ihn, um durch das Nadelöhr des Ichs zu kommen. Deshalb ist er der Protagonist dieses Gedichtzyklus. Im Descartes-Zyklus habe ich zumindest versucht, diese Trennung zu problematisieren. Da ist es besonders schwierig und zäh, denn ihm unterstellen alle,

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dass er der böse Trennungsgeist ist. Da sind die Briefe als Zeugnisse hilfreich. Dort erkennt man die Zusammenhänge, dass er sich zum Beispiel Zeit lässt, um sich über ästhetische Phänomene Gedanken zu machen. Das waren für mich die wichtigsten Fundstellen. So ging es los: mit den Briefen an Elisabeth über die Funktion von Poesie, das Gehirn flexibel zu machen. Damit kann man verschiedene Bereiche in Kontakt bringen, und so bekommt man starke Gehirne. Diese Äußerungen habe ich wieder und wieder gelesen, bis ich begriffen habe, was er meinte, und er meinte das wohl wörtlich. Man muss das so verstehen, dass das poetische Denken ihm oft geholfen hat. Deshalb sind es tolle Stellen. Aber das kommt natürlich dann in den »Meditationes« und im »Discours de la méthode« nur noch am Rande vor. Mecke: Ich kannte Descartes vor allem als Philosoph, und ich muss sagen, dass Ihre Texte ihn mir als Naturwissenschaftler wirklich näher gebracht haben. Das fand ich sehr faszinierend. Erst dann sah ich auch viel stärker die Nähe zu Galilei. Es ist schön, dass Sie ihn rehabilitiert haben. Grünbein: Er ist in vieler Hinsicht der experimentelle Mensch schlechthin gewesen. In manchen Bereichen, unter anderem in der Optik, macht man ihm manches streitig. Eine gute Descartes-Biographie kann auf keinen Fall nur auf den Philosophen abheben, das wäre viel zu wenig. Wenn es jemals eine neue gäbe, müsste man auch zeigen, inwiefern für ihn die Künste – allen voran die Literatur, die Sprache – prägend waren.

Zahl und (Vers-)Maß in Physik und Poesie Heydenreich: Sie beschreiben auch, dass mit dem zunehmenden Auseinanderdriften der Wissensdisziplinen der Poesie die historische Mission zukam, diese zu vereinen. In »Der cartesische Taucher« schreiben Sie, dass in verschiedenen Epochen unterschiedliche Stilmittel dafür entstehen: »Die Allegorie ist das Gegenstück zum Integral der neuen Mathematik« (CT, 114). Der Allegorie folgte »die Metapher als frei bewegliche Bildvariable zum Erfassen von Konstellationen und Korrespondenzen in Zeit und Raum« (CT, 114). Sie nennen als Beispiel Baudelaire, der »von der mathematischen Genauigkeit poetischer Metaphern überzeugt« war (CT, 116). Teilen Sie diese Meinung? Grünbein: Zunächst einmal würde man sagen, dass das ein metaphorischer Gebrauch von Wissenschaftsformeln ist. Denn wie exakt kann einer verfahren, der das Sonett benutzt und darin Bildkorrespondenzen aufbaut, vielleicht sogar über mehrere Sonette hinweg, die durchaus wie Konstanten funktionieren: Ist das analog etwa zum Vorgehen der Algebra? Wahrscheinlich nicht. Aber da müsste man

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jetzt versuchen, eine Menge darüber herauszufinden, wie mentale Bildtechniken funktionieren; darüber könnte man dann schon eher reden. Mecke: Als Physiker gehe ich etwas naiv davon aus, dass ein Gedicht doch von Maß und Metrum lebt, also doch auch irgendwie von Zahlen. Somit ist in gewisser Weise eine Nähe zur Naturwissenschaft da, wo Exaktheit durch den Inbegriff der Zahl deutlich wird. Grünbein: Durch Quantifizierung von Sprache unterscheidet sich Poesie gegenüber aller anderen Literatur. Das kann man schon so sagen, ja. Mecke: Wenn man das jetzt kurzschließt, dann müssten Gedichte ja eigentlich eine besondere Nähe zur Naturwissenschaft haben. Grünbein: Ja, aber eben diese trügerische Nähe. Es hat ja Versuche gegeben, Poetiken und Poetologien zu entwickeln, auch im Barock, die diese verschiedenen Maßverhältnisse in Rechnung stellen. Zum Beispiel: kurze Silben, lange Silben. Trotzdem bleibt das immer noch hinter einer Trennwand gegenüber den anderen Wissenschaften. Das sind sprachliche Maßverhältnisse des Ausdrucks, deren Wirkungsweise auf unsere Seelen wir ja noch gar nicht richtig abschätzen können. Es ist eher das Feld der kognitiven Linguistik, das herauszufinden: Was machen ein Stabreim oder ein Alexandriner eigentlich mit unserem Gehirn? Bei einigen Dichtern mit sehr hohem Talent gab es sicher die Vorstellung, dass sie das mit äußerster methodischer Strenge verfolgen könnten. Ich weiß nicht, ob Baudelaire notwendig dazu gehört. Aber die Schule, die sich daraus bis hin zu Mallarmé entwickelt hat, die hatte diesen Ansatz schon. Mecke: Zahlen kommen ja bei Ihnen weniger vor. Aber Sie verwenden in Ihren Gedichten und Essays oft Begriffe, die der physikalischen Forschung entlehnt sind. Wir haben uns gefragt, ob Ihnen diese Begriffe als faszinierendes Sprachmaterial wichtig sind oder ob die genauen Vorstellungen, Prinzipien und Theorien, die mit dieser Terminologie verbunden sind – auch in ihrer historischen Entwicklung – für Ihre Poetologie von Bedeutung sind? Grünbein: Ich verwende Zahlen in Zyklen, aber Zahlen im Sinne eines Konzepts für das Schreiben waren für mich tabu, als ich merkte, dass etwa mit den Fibonacci-Zahlen bereits ganz viel passiert ist. Große Dichter, wie die dänische Inger Christensen, haben damit experimentiert. Übrigens auch in den anderen Künsten, zum Beispiel der Italiener Mario Merz. Das ist mir sehr früh aufgefallen, dass die Fibonacci-Zahlen für viele Künstler extrem attraktiv waren, um in ihren jeweiligen Künsten ein Gerüst zu bauen, ob das jetzt Literatur war oder andere Kunst. Im Sinne von Zahlenexperimenten – Zahlenmystik weniger – sind mir Zahlen auch nicht ganz egal, sie spielen schon eine Rolle. Im Sinne der Komponisten, die sie ja oft verwenden, um Stoffe zu gliedern. Aber die Frage war ja jetzt die nach

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den Termini. Die kamen dann je nach Intensität der Beschäftigung hinzu. Lange Zeit haben mich die Neurowissenschaften stark angezogen, und dann stieß ich automatisch auf eine Menge Begriffe, die ich zuvor nie gekannt hatte, die aber sofort meinen Denkhorizont erweiterten. Überhaupt die Kartographierung des Gehirns und was das für uns bewirkt, dieses Nachdenken über das Organ, das fand ich eine ganze Weile unmittelbar für das Gedicht interessant.

Zur Sprache und »Krisis der Abbildung« in den Naturwissenschaften Heydenreich: In einem 2001 in der FAZ erschienenen Essay zu Darwin und den zeitgenössischen Life Sciences zeigen Sie auf, dass der von Galilei eingeschlagene Weg unter anderem zu einer »Krisis der Abbildung« führte. In dem Sinne, dass Wissenschaften ihre Ergebnisse und Erkenntnisse nicht mehr sprachlich oder durch andere anschauliche Darstellungsformen deutlich machen, sondern lediglich auf Abstraktion und Formalisierung setzen. Sehen Sie das heute noch so? Ist es nicht so, dass wir uns viel zu wenig bemühen, die Komplexität der Modelle und Darstellungsbilder der jeweils anderen Kultur zu verstehen? Ist hier ein möglicher Ansatzpunkt für den – kritisch-konstruktiven – Dialog zwischen Schriftstellern und Naturwissenschaftlern gegeben? Grünbein: Das ist ganz sicher so. Unbedingt sehe ich folgendes Problem: Die Erstvermittlung geschieht ja in diesen Kulturen weitestgehend durch die Schule. Es kann sich jeder erinnern, wie triftig für ihn diese Modellbilder waren. Das aber steht und fällt auch oft mit der Güte und der Begeisterung der Lehrer, der Güteklasse der Modelle und mit der Überzeugungskraft für das Schülergehirn. Die »Krisis der Abbildung« ist im Grunde eine Krisis der Anschauung, der Anschaulichkeit. Das ist ein Aspekt, den schon der späte Goethe stark beobachtete. Er sah eine Zeit heraufkommen, in der es Probleme mit der Anschaulichkeit neuer Erkenntnisse geben könnte und mit der Verständigung darüber. Und das haben wir ja jetzt, das ist ungefähr unsere Grundsituation. Wer in dem jeweiligen Feld zuhause ist, ist ausreichend ausgebildet. Fachleute unterhalten sich in Kurzformeln, sie müssen sich nicht immer alles neu erklären. Sie sind auf derselben Wellenlänge der Anschauung. Bei Mathematikern muss es wohl besonders aufregend sein, da genügen ein Flüstern oder einige kurze Stichworte an einer komplexen Stelle eines Beweises. Aber für die Gesamtkultur ist es wichtig, damit das Ganze nicht auseinanderfliegt, dass diese Anschauung möglichst breit gestreut ist, sodass die meisten Menschen diese Phänomene verstehen und nachvollziehen können.

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Für die externe Verständigung brauchen wir oftmals neue Modelle, die auch für viele Menschen voraussetzungsloser funktionieren. Dann kommt noch hinzu, dass sich die Naturwissenschaften selbst soweit ›radikalisiert‹ haben. Man könnte von Goethe aus sagen, dass sie so weit in die Materie eingedrungen sind, dass am Ende tatsächlich die klassische Idee von Anschaulichkeit auf der Strecke geblieben ist. Jetzt habe ich die Gelegenheit, den theoretischen Physiker zu fragen: Einem Insider scheint alles immer absolut logisch, aber für Außenstehende ist es verdammt schwer, das zu visualisieren, nicht wahr? Mecke: Vielleicht ist aber auch einfach der Anschauungsbegriff erweitert worden und in einen anderen Raum, in einen mathematischen Bühnenraum, transportiert worden, in dem man sich unter Strukturen, Schönheit, Relationen etwas vorstellt. Mathematiker und Physiker stellen sich in abstrakten, strukturierten Räumen das regelrecht bildlich vor, worüber sie reden. Grünbein: Die Mandelbrotmännchen etwa? Mecke: Das ist ja schon im dreidimensionalen Anschauungsraum farbig darstellbar. Aber auch komplexe Gebilde wie Faserbündel oder symplektische Strukturen. Ich kann jetzt nur von mir sprechen, aber ich habe da Skulpturen vor Augen, nur nicht dreidimensional im Anschauungsraum, sondern in mathematisch konstruierten Bühnen. Mir scheint, dass das nicht vermittelt wurde, dass dort vielleicht auch die Schriftsteller nicht mitgekommen sind. Grünbein: Das ist ein interessanter Begriff, die mathematisch-konstruierte Bühne. Die ist sicherlich nicht jedermanns Sache, und sie sich vorzustellen wie alle anderen Bühnen, wie einfach nur andere dreidimensionale Räume, Schauräume, Theaterräume, ist natürlich falsch. Ich glaube, dass nur der geringste Teil der Literatur da hinterhergekommen ist. Heydenreich: Die Frage ist: Wie vermitteln die Mathematiker diese komplexen Räume? Finden sie dafür eine Sprache jenseits der Mathematik? Finden oder erfinden sie die Sprache dafür? Grünbein: Wie kommen sie zurück zu uns damit? Mecke: Ich denke, man erfindet sie. Descartes ist ja ein schönes Beispiel dafür: dass mit ihm plötzlich höhere Dimensionen anschaulich wurden und Geometrie algebraisiert wurde, indem Koordinaten eingeführt wurden und plötzlich vierdimensionale Räume vorstellbar wurden. Das hat sich in den letzten vierhundert Jahren seit Descartes vervielfacht. Heydenreich: Descartes hat eine mathematische Sprache erfunden, die Frage ist aber auch, wie man mathematische Bühnenräume, symplektische Räume und Faserbündel mit ihren mathematischen Strukturen in menschlicher Sprache anschaulich darstellen kann?

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Grünbein: Ich halte das für eine absolute Grenze. Innerhalb des reinen, strengen Wissenschaftsdiskurses funktionieren ja Formeln so, meistens in Englisch. Das englische Fachvokabular erweitert sich ja ständig. Um da mitreden zu können, habe ich mir das große Wörterbuch von McGraw-Hill zugelegt. Da ist zum Beispiel Terminologie aus den Bereichen Physik, Biologie, Chemie festgehalten. Oftmals sind es auch Abkürzungen, diese genügen zur internen Verständigung an Instituten, um auf Effekte ganz kurz anzuspielen, und dann weiß man im Forscherteam, worüber man geredet hat. Am Ende werden wieder eher Tabellen verglichen, mathematisch erfassbare Abläufe. Zunehmend sehe ich, wenn ich in solche Institute komme, Leute an Bildschirmen sitzen. An den Bildschirmen funktioniert die Visualisierung der Sache auch ganz gut. Wahrscheinlich verständigen sich die Mitarbeiter im Teamgespräch untereinander, wenn man mehrere komplexe Perspektiven hat, bis man eine gemeinsame visuelle Anschauung für dieses neue Phänomen hat. Um sich zu verständigen, braucht man die Sprache, das ist aber eine hochabstrakte Sprache, ähnlich der Programmiersprache.

Übertragungsprozesse zwischen Naturwissenschaft und Poesie Mecke: Ja, das ist eine Sprache, deren Vokabeln und Grammatik man lernen muss, um zu wissen, wie man die Vokabeln im Satzbau verwenden kann. Ich sehe da eigentlich mehr eine Verwandtschaft zur normalen Umgangssprache. Man muss die Übersetzungsprozesse lernen. Die Frage ist – und die ist nicht leicht zu beantworten: Wie gut kann man rückübersetzen? Grünbein: So ist es. In jedem Fall geht es nur mit Übersetzung, im klassischen Sinne. Aus dem Wissenschaftlichen muss genauso übersetzt werden wie aus dem Rumänischen. Mecke: Das ist ja eine Domäne des Schriftstellers: die Übertragung, die Metaphorik. Grünbein: Richtig. Wenn es denn nur das Problem einer Fremdsprache wie jeder anderen wäre. Wie gesagt: Das setzt eigentlich ein Studium in diesen Bereichen voraus. Oftmals ein langjähriges Studium, und das ist lebenszeitlich kaum zu machen. Ich sage immer gern, dass sich diese Dinge immer recht früh ausdifferenzieren. Bei den meisten werden im Rahmen von zwanzig bis dreißig Jahren die Weichen gestellt, für welche Art sie dann Spezialisten sind. Man kann es sich offenbar nicht heraussuchen, sich noch in fünf andere Bereiche einzustudieren. Es gibt Menschen mit großen Begabungen, bei denen man merkt, dass sie alle zehn Jahre völlig neue Felder für sich erobern. Es gibt wirklich interdisziplinäre Genies.

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Aber allein schon durch die Ausbildungszeit ist das schwierig geworden. Da sehe ich zum Beispiel eine Grenze. Es ist meistens so, dass wir eher übereinander als miteinander reden. Und nur ausnahmsweise – bei gut vorbereiteten Podien, Kongressen etc. – anfangen, miteinander zu reden. Und dann reden wir die erste halbe Stunde lang nur über Verständigungsprobleme, was auch frustrierend ist. Heydenreich: Vielleicht ist es auch wichtig, darüber zu reden, damit man sich überhaupt inhaltlich austauschen kann. Sonst würde man die Probleme ignorieren und aneinander vorbeireden. Wir fanden das in Seminaren mit Physik- und Literaturwissenschaftsstudenten sehr gut, dass wir dazu genötigt wurden, erst unsere Begriffe zu klären und die Weisen der Begriffsbildung in beiden Disziplinen zu reflektieren. So entstanden fruchtbare Diskussionen, weil sich viele der Studenten in ihrem disziplinären Selbstverständnis infrage gestellt fühlten. Kommen wir also zu einer weiteren Frage: Würden Sie andererseits einem literarischen Text kognitive Signifikanz zuschreiben? Sind durch literarische Werke Erkenntnisse vermittelbar? Grünbein: In meinem Fall, wie ich vorhin sagte, sehe ich die bei Proust gegeben. Es wird tiefenpsychologisch etwas vorgeführt, was während der Lektüre auch einleuchtend ist. Damit gibt es einen wahren Erkenntnisprozess über das Prozessuale des Bewusstseins und der Wahrnehmung. Das finde ich dort mustergültig vorgeführt. Es ist nicht nur rhetorisch nach außen gedreht, wie ich es erzähle, sondern er kann es vorführen. Ich kenne nicht so viele Beispiele, bei denen ich diesen Effekt buchstäblich erkennen konnte. Und das muss man schon doch einmal sagen: Gegenüber den Naturwissenschaften ist doch das meiste, was Literatur macht, auch wenn sie sich mit naturwissenschaftlichen Phänomenen beschäftigt, ›l’art pour l’art‹. Ich kenne kaum einen Physiker, der sagen würde: Das hat uns unmittelbar geholfen. Doch es gibt manchmal Fälle, da sind Begriffe entlehnt worden in den Naturwissenschaften, die aus der Literatur kommen und die dann geholfen haben, ein Konzept oder ein Modell zu entwickeln. Zum Beispiel das Trojanische Pferd: ein Bild aus der Literatur, das dann in anderen Diskursen eine gewisse Funktion erringen konnte. Aber, was es mit der Triftigkeit von Kunstwerken auf sich hat, das ist kaum zu ermitteln. Seine Ziele definiert sich jeder Schriftsteller selbst, und das ist entscheidend: Es gibt eben kaum Teamarbeit. Zu gewissen Zeiten bildeten sich zwar Gruppen mit einem gemeinsamen Manifest, und man hat versucht, an einem Strang zu ziehen. Jeder bekam eine Aufgabe, wie in einem Forscherteam. Das waren aber immer nur vorübergehende Erscheinungen, und das größere Publikum hat davon kaum Notiz genommen. In diesem Sinne wurden auch keine Positionen erzeugt, die seither unumstößlich wären, sondern wieder nur Literaturgeschichte. Das ist der große Unterschied zu den Naturwissenschaften: Dort baut alles aufeinander

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auf. Nimm irgendeinen Baustein weg und es würde zusammenfallen. Die Erkenntnisse bauen aufeinander auf, die naturwissenschaftlichen Prozesse werden stets erweitert. Die Naturwissenschaft ist ein riesiges belebtes Gebäude, in dem Forscher immer ein und aus gehen und weiterarbeiten können. Wir bauen sozusagen ein Archiv der verschiedenen literarischen Ausdrucksformen, die aber oft Muster ohne Wert sind. Das ist ein riesiges Gebäude, die Literatur ist letztlich nur ein riesiges Museum. Heydenreich: Aber reflektiert Literatur nicht auch, wie sich das kulturelle Gedächtnis transformiert? Grünbein: Ein magischer Begriff. Ja, es wird am kulturellen Gedächtnis gearbeitet. Und wenn es dieses einigende Band nicht gäbe, wäre es noch viel schlimmer.

Poetische Kartographie kultureller Mondvorstellungen im Band »Cyrano oder die Rückkehr vom Mond« Heydenreich: Für Ihren 2014 erschienenen Lyrikband wählten Sie Cyrano de Bergerac als Cicerone durch das Labyrinth der kulturellen Konstruktionen menschlicher Mondvorstellungen. Liest man Cyrano de Bergeracs »Reise zum Mond«, ist man erstaunt von der präzisen Kenntnis zeitgenössischer physikalischer Theorien – Kepler, Galilei, Kopernikus – und ihrer naturphilosophischen Reflexion, etwa durch Pierre Gassendi. Das kopernikanische Weltbild zu verbreiten war damals noch ein mutiger Akt der offenen Subversion. Galileo Galileis Widerrufungsakt und Giordano Brunos Todesurteil lagen nicht viele Jahre zurück. Warum ausgerechnet Cyrano? Grünbein: Die Figur des Cyrano war mir wie eine Art Leitfaden. Er taucht immer wieder auf, er ist der Angesprochene, oder seine Erlebnisse kommen vor. Und manchmal gibt es so einen Sprung, da ist es nämlich vielleicht gar nicht er, sondern der Autor oder noch eine andere Bezugsperson. Das ist multipersonal angelegt. Er ist sozusagen der gute Geist, der durch das Ganze führt. Ja, und diese Figur des Jokers an ihm, die hat mich immer fasziniert. Diesen Typus finde ich großartig – in jeder Hinsicht. Sie waren überrascht, wie genau seine wissenschaftlichen Beschreibungen sind, weil man das eben so gar nicht weiß, weil es verschiedene Bilder von ihm gibt. Wer war er denn nun? Sein Bild ist erst durch das neunzehnte Jahrhundert geprägt worden. Da wurde er ja fast so etwas wie eine Witzfigur, der Typus des ›Chevalier‹, ein Abenteurer, ein Unternehmer, ein typischer Projektemacher der Zeit. Seine Nische war offenbar die Bibliothek. Wir haben von ihm die klassische Vorstellung des Gelehrten, so wie auch von Montaigne. Aber eines Gelehrten mit Abenteurerambitionen. Darüber könnte man jetzt noch lange sprechen, was in jener Zeit möglich war. Gewisse terrestrische Unternehmungen

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waren ja längst begonnen worden, Claims waren schon längst abgesteckt, die Kolonisation Amerikas fand zeitgleich statt. Es ist interessant, dass er zunächst nach Kanada fliegt und da fast unter die Rothäute fällt, bis er sich dann in letzter Sekunde zum Mond aufschwingt. Das halte ich für ein absolut entscheidendes Kapitel! Warum startet er eigentlich nicht direkt von Paris aus? Nein, er musste erst rüber in die Kolonien, wie die vielen Siedler dieser Epoche, weil das ein Phantasma dieser Zeit war. Man kann sagen, dass Cyrano de Bergerac oder René Descartes unmittelbar an derselben Quelle sitzen. Sie haben zum Teil dieselben Gewährsleute. Mecke: Aber ich sehe da kaum einen Unterschied zu Kepler und Galilei. Grünbein: Ich auch nicht. Nur das Hinzutreten der Instrumente, mit denen sie arbeiten. Mecke: Und die Qualität des literarischen Textes? (lacht) Grünbein: Es kommt hinzu, dass Kepler ja auch noch den Ehrgeiz hatte, literarische Texte zu schreiben. Denn man musste sich in dieser Zeit auch ausdrücken können und wollte zeigen, dass man brillant ist oder auch Phantasiewelten entwickeln kann. Diese Nähe zu literarischen Verfahren ist hochinteressant. Das ist wahrscheinlich auch das, was ich am Barockzeitalter so unendlich liebe: dass der höfische Kodex der Ausdrucksformen die besten Geister noch verbindet. Aber man sieht auch die Tendenz, wie das auseinanderzustreben beginnt. Das kann man dort ebenso beobachten, wie in einer Experimentalanordnung: wie dieses exakte, naturwissenschaftliche Beobachten und Argumentieren von den literarischen Mythen wegstrebt. Mecke: Aber gerade hierfür hätte ich als Physiker wahrscheinlich eher Kepler als Leitfigur genommen. In seiner Erzählung »Somnium« wird ja auch deutlich, wie sehr er sich in eine literarische Tradition mit Plutarch stellt, welche Phantasien er bei einer Reise zum Mond entwickelt, wie erdähnlich diese sind und wie er das ausgestaltet. Grünbein: Ja, das müssen Sie ja auch, denn bei der Astrophysik ist natürlich Kepler die viel ernstzunehmendere Figur. Er hat Ergebnisse geliefert, auf denen dann aufgebaut wurde. Andersherum ist Cyrano eher der Liebhaber und Dilettant auf diesem Feld, aber mit erstaunlich exakten Kenntnissen. Mecke: Ich würde ihn gar nicht als Dilettanten bezeichnen, denn er war informiert und auf der Höhe seiner Zeit. Heydenreich: Dilettant in dem Sinne, dass er nicht als Astronomie-Experte galt und etwas Vergleichbares wie die Kepler’schen Gesetze entwickelt hat. Grünbein: Die wären ihm auch nicht eingefallen, das ist der Unterschied.

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Heydenreich: Sie betreiben mit dem Cyrano-Gedichtband eine Art Selenografie – ein Projekt der Mondkartierung durch die Poesie. Wobei es weniger um die Mondgeographie geht als vielmehr um die Genealogie kultureller Mondvorstellungen. An ihm kann gezeigt werden, wie ein Himmelskörper zum Kompendium kultureller Projektionen werden kann. Interessant ist dabei, dass jahrhundertelang die Kartierung des Mondes nicht mit der realen Geographie übereinzustimmen hatte, sondern mit der Vorstellung des Menschen und dessen Beobachtungsperspektive. Zusammengetragen wurde ein Palimpsest, das oszilliert zwischen astrophysikalischen Beobachtungen, Messungen und tradierter Astrofiktion. Wie ergänzten und beflügelten die beiden Bereiche sich gegenseitig während der Projektkonzeption? Wie gewichtet man die Quellen, Ansätze und Zugänge? Welche neuen, unerwarteten Querverbindungen haben sich ergeben? Wie kann man durch das Medium der Poesie überraschende Querverbindungen aufzeigen, an die bisher keiner gedacht hat? Grünbein: Durch den Zyklus kursieren biblische, antike, prä-wissenschaftliche, prä-astrophysikalische bis hin zu astrophysikalischen Vorstellungen vom Mond und der Verlauf der sich ändernden Betrachtungsweisen. Ich greife die Referenzen immer nur punktuell auf. Wobei ich eben immer nur meine Perspektive habe, aus der ich sofort ausbrechen würde, wenn ich könnte. Lange Zeit schien die Menschheit wie selbstverständlich davon ausgegangen zu sein, dass da oben Lebewesen sind. Mir scheint, das war nicht nur eine Fiktion. Das finde ich wirklich interessant. Tausendfünfhundert Jahre oder länger sind Menschen, wenn sie nach oben schauten, davon ausgegangen: Da sind andere Wesen, vielleicht sehen die uns genauso, wie wir deren Gestirn sehen. Wir wissen heute: Das ist totes und unbelebtes Gelände, da werden sich keine anderen Lebewesen befinden, erst recht keine anderen Menschen. Und dann kann man beobachten, wie sich die Vorstellungen wandeln. Was für Wesen sind da oben? Menschen, Tiere oder Königreiche? Der Mond ist eine gewaltige Projektionsfläche. Neulich hatte ich wieder ein Gespräch mit meiner Tochter über ihre Vorstellungen von dem, was da oben ist. Natürlich kommt sie nicht von selbst darauf, dass das Meere und Krater sind, sondern sie stellt sich auch zunächst einmal vor, dass da Leben stattfindet. Vielleicht ist diese dunkle Stelle, die man auch bei Galilei sieht, eine riesige Savanne, wo Tierherden umherziehen. Jetzt wissen wir es, dass es nicht so ist. Das ist eine riesige Entzauberung, eine wahnsinnige Enttäuschung. Ich finde, dass alle astronomischen Programme, die wir bisher hatten, zu riesigen Enttäuschungen geführt haben. Jetzt ist als Nächstes der Mars dran. Dann wird dieser auch entzaubert und es wird wieder heißen, dass da außer eine Geröllhalde nicht viel ist. Mecke: Es gibt da dieses schöne Fermi-Problem, der plötzlich ganz fasziniert im Kolloquium fragte: ›Wo sind die Außerirdischen eigentlich?‹

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Grünbein: Ich mache da immer gerne Umfragen. Viele glauben weiterhin daran, ich glaube zum Beispiel gar nicht daran. Ich gehe davon aus, dass bis in die allerletzte, hinterste Galaxie nichts anderes mehr kommt. Ich habe aber auch mit Wissenschaftlern geredet, die sagen: ›Wie kommen Sie denn zu dieser Grundannahme?‹ Da kann ich dann nur dagegen sagen: ›Wie kommen Sie denn zu der anderen?‹ Bisher gingen alle Beweise eher in die gegenteilige Richtung, andere Atmosphärenbedingungen als die der Erde sind einfach tödlich. Das ist die Genealogie kultureller Mondvorstellungen. Spätestens ab dem frühen siebzehnten Jahrhundert werden sie sehr konkret, zum ersten Mal rückt das Gestirn wirklich nahe und wird praktisch dauerobserviert, und in diesem Zusammenhang gesehen ging es sehr schnell, bis der erste Mensch da oben herumsprang. Damit wird meines Erachtens die gute lange Monderzählung abgeschlossen und ist im Rückblick eigentlich nur noch eine Erzählung darüber, wie die Menschheit dieses Gestirn erobert hat – bis zu dem Punkt, wo man sagen kann: Hier waren wir nun, und das war’s, in Zukunft fliegen wir dran vorbei. Demnächst werden wir meines Erachtens eher symbolische Besetzungen erleben, territoriale Landnahme. Die Westmächte segeln schon kühn dran vorbei. Man kann sich eine Kulturgeschichte des Mondes als Buch durchaus gut vorstellen. Das gibt es ja auch. Sodass das Ganze in den Blick gerät, mit den entsprechenden Abbildungen. Es ist sehr viel in dem Bereich geschehen, gerade in den letzten vierzig Jahren, seit die Amerikaner da oben gewesen waren. Der Mond ist, wenn ich es richtig verstehe, endgültig kartographiert. Schon die erste ApolloMission hatte sehr gute Karten, aber die letzte war dann endgültig und enorm detailreich. Heute würde man mit GPS natürlich noch viel weiter kommen, damals mussten sie das Material noch fotografisch auswerten, um zum Beispiel die Anflugplätze herauszufinden. Aber da hatten sie eine ziemliche Präzision, das muss man wirklich sagen, das NASA-Kartencenter war bestens vorbereitet. Mecke: Als Physiker denke ich bei Kartographierung vor allem an Bernhard Riemann, weil das ein schönes Beispiel dafür ist, wie Mathematiker neue mathematische Objekte schaffen, aus der Anschauung oder auch wieder aus dem metaphorischen Übertragungsprozess. Diese Mondkartographierung, bei der jeder seinen Blick hat, es verschiedene Blicke gibt, die zusammengesetzt werden. Bei der Zusammensetzung dieser verschiedenen Blickwinkel, die auch subjektabhängig sind, kommt es darauf an, welche Karte man wählt, um dann zu einem mathematischen Objekt der differenzierbaren Mannigfaltigkeit zu kommen. In gewisser Weise ist das eine Objektivierung von subjektiven Blickwinkeln. Sind Sie in diesen Kontexten auf Riemann gestoßen?

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Grünbein: Nicht wirklich. Über diesen Zusammenhang könnten Sie mir noch ein Kolleg halten. Von dem Namen weiß ich wohl. Aber vom poetischen Standpunkt aus habe ich bis heute keine ganzheitliche Vorstellung. Es ist ja zum Beispiel auffällig, dass uns immer eine Hälfte des Mondes fehlt. Denn erstens ist, was wir mit bloßem Auge sehen, immer nur die eine Seite. Zweitens war nichts, was es sein sollte. Die sogenannten Meere sind keine Meere. Herauszufinden, was im geologischen oder geohistorischen Sinne der Fall ist, dazu gibt es verschiedene Ansätze – etwa ob Krater nun Kometen- oder Meteoreinschläge sind und so weiter –, sodass das Ganze am Ende offenbar ein Streuselkuchen aus Milliarden Jahre langem Beschuss war, eine Megaruine eigentlich, lauter geologischer Schrott da oben im All. Mecke: Die Gedichte im Band »Cyrano oder Die Rückkehr vom Mond« sind nach Mondkratern benannt, und ein Mondkrater ist nach Galilei benannt, doch dieser ist die . . . Grünbein: . . . die fehlende Figur. Mecke: Es gibt in Ihrem Zyklus kein Galilei-Gedicht, obwohl der »Sidereus Nuncius« die erste astronomische Beschreibung des Mondes bietet, die auf Beobachtungen beruht. Warum fehlt Galilei? Grünbein: Galilei hätte natürlich hier unbedingt eine Erwähnung verdient. Ich hatte es am Anfang schon mal angedeutet: Es gab ein Stück, das direkt auf Galilei und auf die Accademia dei Lincei Bezug nimmt. Da es mir aber in mancher Hinsicht ein bisschen zu explizit, zu sehr wissenschaftshistorische Paraphrase war – das hat etwas mit dem Gesamtprojekt zu tun –, habe ich es irgendwann aussortiert. Ich habe vieles aussortiert, nicht unbedingt, weil ich es schlecht fand, es passte nur nicht mehr. In der Tat, die Frage ist richtig, warum ausgerechnet diese Figur aus diesem Pantheon herausfällt, aus dem Pantheon der Mondvisionäre. Ein paar Jahre lang habe ich immer wieder, nur zum Spaß für mich, Mondbetrachtungen gemacht, wenn ich auf Reisen war oder auf dem Balkon stand. Dann habe ich jede Menge Literatur gelesen, und das hat mich für eine Weile sehr gefesselt. Unter anderem habe ich, wie Sie jetzt, auch nachgeprüft: Was ist da eigentlich für Literatur entstanden? Vieles kannte man vielleicht nicht, unter anderem Keplers »Somnium« oder Ähnliches. Dann natürlich auch eine ziemlich lange Beschäftigung mit Galilei. Dass Galilei zu den Aussortierten gehört, hat nichts zu sagen, das ist keine Missachtung oder eine Geringschätzung Galileis. Im Gegenteil, er ist einer der ganz, ganz großen Helden in diesem Projekt. Irgendwann kann man das vielleicht in einer späteren, philologischen Ausgabe in den Materialien unterbringen. Denn es gibt noch viel mehr zum Umfeld des Projektes.

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Das Gedicht als Mond-Palimpsest Heydenreich: Das erste Gedicht im Cyrano-Zyklus trägt den Titel »Riccioli«. Giovanni Riccioli gilt als Diskursivitätsbegründer für die Bezeichnungen und Katalogisierungen der Mondkartographie. Er ist nicht nur der Beobachter, Zeichner, Kartograph, sondern der Schöpfer der Verbindung zwischen Sprache und Ding. Durch die Mondkartographie versuchte man, eine ›Ordnung der Dinge‹ auf dem Mond herzustellen. Könnte der nicht vorhandene logische Konnex zwischen Wort und Ding für die Mondgeographie – der Name ›Meer‹ hat vielmehr mit den barocken Beobachtungsprojektionen zu tun als mit der Mondgeographie – ein Hinweis darauf sein, dass es eine Analogie gibt zwischen der kulturhistorischen Kartographierung des Mondes und der lyrischen Selenografie des Gedichtzyklus? So haben auch die Namen der Mondkrater, die für Ihre Gedichte titelgebend sind, scheinbar keinen inhaltlichen Bezug zu den Gedichten. Und doch stellen sich kulturhistorische, ja kulturübergreifende Konstellationen her, wenn man nicht nur die direkte Verbindung zwischen dem Gedicht und seinem Titel herstellt, sondern mehrere palimpsestische Tiefenebenen miteinander korreliert. Es werden etwa Isidorus von Sevilla und seine Sprachtheorie der ›Etymologie‹ genannt, John Wilkins, dessen sprach- und enzyklopädisches Projekt von Jorge Louis Borges poetisch, von Michel Foucault philosophisch reflektiert wurde. Ist der Zyklus eine poetische Meditation darüber, wie das Bild des Mondes nicht aus dem entsteht, was wir Nacht für Nacht sehen, sondern daraus, was sprachlich, bildnerisch und wissenschaftlich in Gedächtnisschichtungen zusammengetragen wurde? Grünbein: Wenn ich das gleich bestätigen darf: So war es. Es entstanden immer einzelne Gedichte und ich habe sie ursprünglich durchnummeriert. Das hat mir aber gar nicht gefallen. Namen von Mondkratern hatte ich immer schon gesammelt, ich habe mir immer die Verteilung angeguckt, hatte geguckt, wer aufgenommen worden ist und wer fehlt, welche Nationen vorwiegend vorhanden waren und so fort. Und dann, viel später erst, kam ich auf die Idee und fing an, nach einem Zufallsschlüssel Namen der Mondkrater auf Gedichte zu verteilen und diese dann anzuordnen. Es war dann letztendlich für mich selbst ein genialer Einfall, als Titel Namen zu wählen, die für viele eine Konkretheit bezeichnen. Auf diesen schönen Gedanken hat mich ein sprachanalytischer Philosoph gebracht, der darüber nachgedacht hat, was Singularitäten eigentlich sind, und er kommt zu dem Schluss: Namen sind Singularitäten. Alles andere gibt es mehrfach. Aber es gibt nur einen Herrn Riemann. Einen Riccioli. Und indem wir uns jetzt historisch darüber beugen und uns fragen, was hat der geschaffen, was war sein Werk oder Gedanke, kommen wir dieser Singularität dieses einen Menschenlebens näher. Und diese Singularitäten sind jetzt plötzlich Namen für Orte da draußen im All, die

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gestalttechnisch durchaus vergleichbar sind. Mit bloßen Augen wird man diese Krater kaum noch unterscheiden. Die haben auch eine fürchterliche Beliebigkeit. Die haben nicht einmal die Variabilität von terrestrischen Formationen, wo man sagen kann: ›Ihr werdet hier doch noch schön die Alpen vom Himalaya unterscheiden können.‹ Auf der Erde hat alles inzwischen seine Geschichte und ist mit Emotionen besetzt. Das alles gibt es auf dem Mond aber nicht. Er bietet einen vollkommen emotionsfreien Raum. Da sind einfach nur verdammt viele Krater, und da ist jetzt überall ein imaginäres Fähnchen reingesteckt. Ein Krater heißt Kant – was für eine Absurdität! Dort fallen tatsächlich Zeichen und Bezeichnetes radikal auseinander und führen eigentlich auf falsche Fährten, die aber auch interessante Fährten sind, denen man natürlich sofort gierig nachgeht. Mecke: Ich bekenne mich. Grünbein: Auch mich hat es gereizt, ich habe es auch an anderer Stelle gemacht, dass Gedicht und Titel möglichst fast nichts miteinander zu tun haben sollen. Ich habe das irgendwann in der Malerei bei manchen so gesehen. Es hat mich fasziniert. Und dann habe ich mir gesagt, das kann ich auch, das mache ich auch. Im allerletzten Gang ist dann noch mal gewürfelt worden, was die Anordnung der Texte anbetrifft. Nachdem ich das alles den ersten Lesern gezeigt hatte, wurde mir aber klar, dass es irgendwie verdammt inkohärent wirkte. Dann hat mir jemand geholfen, meinen eigenen Kram zu ordnen, und so ist jetzt dieser Ablauf entstanden, der mir ganz gut gefällt. Man kann es nun etwas besser nachvollziehen. Wie gesagt: Die Versuchsanordnung war, dass ich nicht linear erzähle, wie man es üblicherweise bei Zyklen hat, sondern dass die Gleichzeitigkeit von Gedankenimpulsen in Bezug auf das Mondthema eine Rolle spielt. Mecke: Ich glaube Ihnen das jetzt nicht ganz, dass Sie die Anordnung der Gedichte ausgewürfelt haben. Grünbein: Nein? Warum? Mecke: Dass die Gedichte »Avicenna« und »Möbius« am Ende stehen, macht ja durchaus Sinn . . . Grünbein: Bei »Möbius« vielleicht. Das gefällt mir, wenn jetzt Ihre Phantasie da mitzuarbeiten beginnt. Mecke: Gerade das Gedicht »Möbius« fand ich sehr schön, denn das Möbiusband ist für mich eine wunderschöne Metapher für die Verknüpfung zwischen Literatur und Naturwissenschaft. Betrachtet man das aus lokaler Perspektive, sieht man zwei verschiedene Seiten, eigentlich die Opposition. Betrachtet man das Gleiche aus der globalen Perspektive, merkt man, dass es nicht zwei Seiten, sondern nur eine gibt. Deswegen fand ich es auch sehr schön, dass dieser Text das Schlussgedicht ist und dann auch diesen Selbstbezug zum Autor wiederherstellt.

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Grünbein: Ganz beliebig ist es auch nicht, das würde schnell ermüdend werden, sondern man versucht schon, dahinterzukommen, einen Schlüssel zu finden. Ich versuche das selbst noch, Dinge zu schaffen, deren Schlüssel ich hinterher erst finden muss – das ist eigentlich das Schönste! Heydenreich: Da sitzen Sie am selben Tisch wie der Leser. Grünbein: Da sitzen wir am selben Tisch – absolut, ja! Mecke: Manchmal geht es und manchmal geht es nicht. Heydenreich: Das ist ja auch das Schöne. Wenn es immer gehen würde, dann würden wir den Gedichtzyklus sicher schnell weglegen. Grünbein: So ist es! Das meine ich auch. Manchmal habe ich es schon eng geführt, sozusagen. Aber manchmal eben auch nicht. Heydenreich: Das ist das schöne Spiel. Und natürlich ist Ästhetik ein Kalkül, das wohl berechnete Kalkül zwischen gezielt gesetzter Ordnung und gezielt provozierter Unordnung. Grünbein: Richtig. Aber diese kulturübergreifenden Netzwerke, Verbindungen und Konstellationen sind mir natürlich schon sehr wichtig. Ich wollte arabische Gelehrte erwähnen. Alle Völker haben auf den Mond ihre Vorstellungen projiziert, von indianischen Mythen über arabische Erzählungen bis hin zu indischen Zeichnungen – alles ist bezogen auf das eine Objekt der imaginären Begierde. Das fasziniert mich. Das war auch ein Grund, überhaupt zu sagen: Ich nehme dieses uralte und unter poetischen Gesichtspunkten absolut abgegriffene Objekt, das aber für mich nur Objekt A ist. Es ist einfach nur ein abstraktes Objekt des poetischen Begehrens. Ich weiß noch nicht einmal, ob ich wirklich die ganze Zeit ernsthaft über den Mond spreche. Nicht einmal das kann ich garantieren. Sondern ich habe einen Gegenstand gefunden, an dem sich das Gedicht abarbeiten kann. Und das war es wert, das fand ich ganz interessant. Heydenreich: Interessant ist die historische Epoche, in der Sie den Beginn der poetischen Mondarchäologie verorten, zu Beginn des siebzehnten Jahrhunderts, als der Mond nicht nur ein harmloses Traummotiv romantischer Projektion ist, sondern das Kampfgebiet metaphysischer, theologischer und naturwissenschaftlicher Weltanschauung. Damit verbunden ist auch die Neu-Perspektivierung, der neue Blick, den man auf die Erde richtet, wissend um das geistige Abenteuer der Rekonzeptualisierung des Mondes als Erdsatelliten und der Erde als Himmelskörper. »Die Rückkehr vom Mond«: Wird diese Perspektive deshalb eingenommen, weil über die Definition des Mondes als Erdsatelliten auch die sublunare oder supralunare Stellung der Erde rekonzeptualisiert werden kann? Und weil somit denkbar wird, dass für den Mond und die anderen Himmelskörper genau die gleichen Gesetze gelten wie für die Erde?

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Grünbein: Dies ist die Perspektive, die ich einnehme: Das Zurückkehren, die Wiedereroberung des Heimatplaneten, das ist der entscheidendere Aspekt. Das hat mich auch bei Cyrano interessiert. Ich habe ihn mehrmals gelesen, und dann ist mir erst der Effekt klar geworden – dass es ihm darum ging, irgendwo in der Kneipe zu sitzen und seinen Leuten von diesem Mondabenteuer zu erzählen. Das hat mich eigentlich auf die Idee gebracht, dass das Wichtigere war, erst das Narrativ zu schaffen. Das gilt genauso für die Apollo-Mission, die natürlich einen ungeheuren politischen Faktor hat, indem sie die Nationen wahrscheinlich zum letzten Mal zusammengeschweißt hat. Es ist brutal zu sagen, aber die Krise des amerikanischen Systems hat auch damit zu tun, dass es solche Unternehmungen nicht mehr gibt. Irgendwo Krieg zu führen, reicht nicht. Das war noch mal der große Zusammenhalt. Der eigentliche Effekt ist die Rückkehr. Eines ist zum Beispiel ein Faktum, dass die ersten neuen faszinierenden Gesamtbilder unseres Planeten erst im Zuge der Mondmissionen entstanden sind. Das berühmte Foto der frühen Siebzigerjahre von der Erde, die vom Mond gesehen wurde, das erste Farbbild. Diese Bilder haben wiederum, wie man jetzt historisch zeigen kann, zu einem neuen Umweltbewusstsein geführt. Erst durch den Blick der ersten Astronauten bekam man eine Vorstellung von der Einheit dieses Planeten, dieses Ökosystems. Zum ersten Mal sah man diese kostbare Preziöse All insgesamt. Das ist dieser Rückkehrerblick, von dem ich spreche. Der dann auch irgendwann dazu führt, dass man diese Missionen abbricht, man hatte jetzt hier genug getan. Man wird sehen, wie es mit anderen Nationen weitergeht, die Amerikaner haben ihre Programme gerade zusammengestrichen. Heydenreich: Lässt sich die Neu-Perspektivierung des Blicks auf das Eigene angesichts der Erfahrung des Anderen mit dem Blick des Schriftstellers auf das eigene Metier vergleichen, nachdem er sich mit theoretischen Erkenntniszugängen der Naturwissenschaften auseinandergesetzt hat? Anders gefragt: Was verändert sich in der Arbeit eines Lyrikers – in dem, was er tut –, wenn er Gedichte schreibt, nachdem er sich mit der Physik oder allgemein der Naturwissenschaft beschäftigt hat? Grünbein: Was ändert sich dann nun in den Perspektiven – das ist die große Frage. Wenn Sie mich so fragen, ob jetzt nun die Beschäftigung mit den Naturwissenschaften zu einem veränderten Blick auf die Lyrik geführt hat, dann sage ich erst mal, dass es bei mir nie primär um das Gedicht geht, sondern es geht tatsächlich auch privat um einen kleinen Erkenntnisprozess. Wozu es geführt hat, war ein anderer Blick auf das Gehirn, auf das, was das Gedicht – oder ich – über es schreiben kann. Ob sich dadurch Gedichte ändern, müssen andere entscheiden, ich stelle mir diese Frage so nicht. Ich frage nicht: Was ändert sich dadurch am künstlerischen Material? Sondern: Was ändert sich an meiner Haltung dazu und an meinem Bewusstsein? Das ist viel entscheidender.

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Heydenreich: Danach hatte ich gefragt. Grünbein: Daran ändert sich natürlich vieles. Je mehr ich von Perspektiven und Blickwinkeln weiß, je besser ich begreife, wie dieser Draufblick, der Durchblick oder Einblick in das Gehirn funktioniert, umso klarer ändert sich das Ganze bei mir im Denken. Viele Jahrhunderte lang war das Gehirn ein grauer Klumpen, den man gesehen hat, wenn einer dem anderen den Schädel aufgeschlagen hat. Aber heute wissen wir von all den verschiedenen Arealen des Gehirns und deren spezifischen Ausprägungen und auch von ihrer Auswirkung auf die Persönlichkeit. Unsereins müsste sich natürlich eigentlich ständig mit dem Sprachzentrum befassen und was da genau vor sich geht. Wie ich höre, gibt es dazu auch immer genauere Forschungen. Da konvergiert jetzt manches. Wenn ich mit Hirnforschern rede, merke ich, dass sie an der Funktion von Sprache sehr interessiert sind, sogar bis hin zu künstlerischen Sprachen und Ausdruckssystemen. Vor Jahren wollte man mich einmal als Muster-Lyriker in eine Röhre reinschieben und ein MRT davon machen, wie ich mir etwas ausdenke. Ich fand das lächerlich. Ich habe denen das vorher ausgeredet. Ich hielt das für eine falsche Versuchsanordnung, ich kann da nicht in Echtzeit wirklich so tun, als ob mir etwas einfällt. Ich sagte ihnen, ich könnte euch Gedichte wiederholen, ich könnte euch Goethe aufsagen, und ihr könntet gucken, was passiert, aber das wäre noch lange nicht der Prozess, den ihr messen und nachweisen wollt. Mecke: Ich glaube, sie meinten das genauso, wie Galilei Dantes Hölle vermisst. Grünbein: Genau! Ja, die wollten Intensitäten im Sprachzentrum messen. Heydenreich: Und dem Geheimnis der Kreativität auf die Spur kommen. Grünbein: Genau, dem will man ja jetzt auf die Spur kommen. Da gibt es wirklich mittlerweile solche Ansprüche. Ich habe schon öfter mit Professor Wolf Singer darüber gesprochen, mittlerweile geht man da etwas vorsichtiger heran, aber es gibt Forschergruppen, die versuchen, Ästhetik und Neurowissenschaft zusammenzubringen. Es geht nicht um das Gedicht, sondern um das Gehirn. Von Zeit zu Zeit lese ich wirklich gerne Anthologien einer Kultur, einer Sprache. Weil ich dann wirklich merke, wie viele verschiedene Zugriffsweisen es auf dasselbe Phänomen geben kann. So viele Schulen gleichzeitig. Das ist oft ein großes Erlebnis. Alle jeweiligen Vertreter hatten ihre Berechtigung, sonst wären sie ja nicht in diese klassische Anthologie gekommen, sagen wir zum Beispiel der portugiesischen Poesie der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts. Man stellt aber eine enorme Bandbreite fest. Zwanzig verschiedene portugiesische Lyriker, wie verschieden sie in ihrer Zeit dasselbe, ihre Kultur, die Liebe, den politischen Prozess, beschrieben haben, wie viele verschiedene Ausdrucksmöglichkeiten es gibt. Das ist faszinierend. Das ist auch der Grund, warum ich glaube, dass für mich persönlich die Dichtung ein Erkenntnismittel ist. Ich erfahre in ihr sehr, sehr viel über Kultur,

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wie andere, indem sie Zeitung lesen. Ich habe auch mit Musikern gesprochen, denen geht es mit der Musik genauso. Indem sie vergleichende Partituren lesen, kommen sie schnell an einen Kern von Kultur. Heydenreich: Ich finde es interessant, dass im Medium des Gedichts darüber nachgedacht wird, wie angesichts der Neu-Konzeptualisierung des Mondes auch die Sprache, ja das Verhältnis zwischen Zeichen und Bezeichnetem neu gedacht werden muss. Und nicht umsonst fällt der Beginn der neuen Episteme wahrscheinlich mit dem kopernikanischen Zeitalter zusammen, wo Beobachtungen und Berechnungen zu Naturgesetzen führten, die das Weltbild revolutionierten. Nun musste aber auch eine Sprache für diese Dinge gefunden werden. Deshalb, glaube ich, kommen Giovanni Battista Riccioli, John Wilkins und all diejenigen vor, die mit Sprache experimentierten und das sprachphilosophisch reflektierten, die dann neue Theorien über die Verknüpfung von Bezeichnetem und Bezeichnendem vorlegten. Grünbein: Ja, weil ich glaube, dass das unter anderem ein Kerngeschäft der Poesie selbst ist. Das ist ihre Kompetenz: an der Imagination zu arbeiten, deren Schichten freizulegen, deren verschiedene Strukturen vielleicht. Kommen wir da überhaupt weiter? Ich glaube schon, die Poesiegeschichte selbst ist der Beweis für die Arbeit an der Imagination. Und dann kommen wir eben automatisch zu Namen wie Borges oder Foucault. Insofern könnte da ein ganz anderer Diskurs daraus entstehen. Ich hätte nichts dagegen, wenn man das nur als ›apropos‹ nimmt. Hier hat jemand serielle Imaginationsweisen in Bezug auf ein Objekt versucht, das gegeben ist, und das jedes Kind kennt: den Mond! Das ist im Grunde doch ganz einfach. Das ist, wenn man so will, auch eine Konstante aller Kinderbücher. Das fasziniert mich daran: die Einsilbigkeit, die Klarheit, die Nutzlosigkeit für die Astronomie heutzutage; der Mond, der aber lange im Zentrum stand, das uns nächstgelegene und unmittelbar begehrenswerte Objekt im Weltraum. Auch die kulturhistorische Dimension hat mich interessiert. Man hätte das auch viel weiter führen können. Ich habe das nicht endgültig abgebrochen, es kommt schon manchmal noch irgendwas wieder. Doch es gibt solche Momente, wenn ich überlege: ›Jetzt lege ich das mal beiseite, vielleicht packt es mich wieder.‹ Es sind viele Dinge überhaupt nicht klar abgearbeitet, unter anderem der Aspekt, inwiefern dieses Objekt eine kulturgeschichtliche Kohärenz geschaffen hat, bis hin zu den jüngsten Unternehmungen der westlichen Welt. Es war gar kein Zufall, dass Amerika fast pünktlich zu seiner Zweihundert-JahrFeier das letzte große Narrativ der Nation über sich selbst brauchte, nach all den früheren Enttäuschungen. Und insofern ist die Mondmission auch sowas wie ein Schlussbaustein einer Kulturgeschichte. Heydenreich: Horst Bredekamp beschreibt in seiner Studie zu »Galilei als Künstler« die Schwierigkeiten, die Galilei aufgrund des Vergrößerungsfaktors des Tele-

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skops hatte, den gesamten Mond durch einen Teleskopblick zu erfassen. Erst die Zeichnung, nicht der Blick durch das Fernrohr verschaffte ihm das Gesamtbild. Die Zeichnung ist für Bredekamp demzufolge nicht »Illustration oder hilfreicher Zusatz«, sondern Medium der Erkenntnis. Grünbein: Sehr früh bin ich auf das Buch des Kunsthistorikers Horst Bredekamp gestoßen. Ich war von diesen Zeichnungen und von der Beweisführung, die da stattfindet, sehr fasziniert. Ich bedauere den fürchterlichen Fälscherskandal sehr. Unter anderem hatte auch mich diese zentrale These des Buches sehr inspiriert und überzeugt. Ich gehe auch nach wie vor davon aus, unbeschadet dieser gefälschten Stücke, dass die Bredekamp-These ganz gut ist: dass wir es hier im Falle Galileis mit einem sehr genauen Beobachter ›ad oculos‹ zu tun haben. Er hatte da den scharfen Konkurrenten Simon Marius aus Nürnberg, der auch sehr frisch von dem Holländer Lipperhey das Teleskop oder die Linsen bekommen hatte. Dann gibt es ein Kopf-an-Kopf-Rennen, die beiden schreiben sich schnell Briefe hin und her, aber Galilei ist offenbar der genauere Zeichner. Das waren für mich schon sehr entscheidende Ansätze. Ich habe mich dann noch eine Weile umgesehen, die Accademia dei Lincei angesehen. Was waren das für Leute? Das war natürlich eine stolze Vereinigung von Naturbeobachtern. Sie hatten den Anspruch, zu sagen: ›Wir haben die schärferen Augen. Und vor allem wissen wir, was wir sehen, weil wir es nämlich jetzt erstmals deuten können.‹ Und dann kamen sie auf Mondformationen, und auf einmal entsteht eine Landschaft und es wird klar: Unsere Erkenntnisse der Alpen oder der Meere helfen uns jetzt weiter. Und auf einmal wird der Mond exakt geologisch modelliert. Heydenreich: Wenn ich mich nicht täusche, gibt es eine Technik der modernen Mondfotografie, bei der die Gesamtbilder aus mehreren Detailaufnahmen zusammengestellt werden. Erst durch die Zusammenstellung ergibt sich ein Gesamtbild des Mondes, die Fotografie ist das Medium der Erkenntnis. Ist dieser künstlerischfotografische Zugriff auf den Mond zur Konstruktion von Mondvorstellungen ein Äquivalent zum poetologischen Kunstgriff des Gedichtzyklus, in dem das Bild der Kulturgeschichte des Mondes mosaikartig entsteht? Oder besteht der Unterschied darin, dass die Fotografie Ganzheitlichkeit simuliert und ihren Konstruktcharakter versteckt, während die Poesie Widersprüche potenziert und ihren Konstruktcharakter ausstellt? Wird somit der Gedichtzyklus zum Medium der Erkenntnis astronomisch und kulturell tradierter Mondvorstellungen? Grünbein: Im Rückblick vielleicht. Ganz hilfreich finde ich die Behauptung, dass die Poesie diese Widersprüche potenziert, scharf nebeneinander stellt, parataktisch verfährt. Deshalb habe ich ja immer darauf hingewiesen: Für mich ist der Raum des Gedichtes derjenige, in dem ich am schnellsten Perspektiv- und Stellungswechsel vornehmen kann – auf kleinstem Raum. In einer Erzählung dau-

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ert es oft viel länger. Im Gedicht geht es ganz schnell, man muss auch schnell folgen können, und dadurch werden die Widersprüche deutlicher sichtbar. Das wird dann hinterher nicht zusammengeklebt. Das hätte man vielleicht früher gemacht, wenn man sich dem Thema in einem klassischen großen Epos gestellt hätte, vielleicht im Sinne von Whitman oder Däubler. Wenn die das Mondthema behandelt hätten, dann in langen, ausschweifenden Gesängen, die das dann wieder in irgendeiner Form durch den Atem der Stimme zu binden vermochten. Bei mir sind es wirklich Bruchstücke. Zum Teil auch ein bisschen rätselhaft, das sagt mir auch mein eigener Lektor. Dann sage ich, das ist tatsächlich nur so eine kleine Mondprobe. Für mich ist das reizvoll. Ich weiß natürlich, dass es sehr schwierig für manche im Publikum ist, aber für mich hat es seine völlige Berechtigung. Ich muss nicht immer alles ausformulieren.

Poetische Mondlibration als Methode des Gedichtzyklus? Mecke: Sie verwenden diese schöne physikalische Metapher der Libration im übertragenen Sinne, als lyrische Libration, sodass Nicht-Sichtbares sichtbar gemacht werden kann. Mich interessiert, mit welchen Methoden Lyrik etwas sichtbar machen kann? Sind diese Methoden so verschieden von den physikalischen, naturwissenschaftlichen Methoden? Grünbein: Ja, man kann das analogisch anwenden. So habe ich im Nachwort versucht, davon zu sprechen, dass sich die Bedeutung in Bezug auf ein Wort, auf einen Gegenstand, je nach Subjektivität des Sprechers ändert. Und dass dadurch eben auch dieses eigenartige Oszillieren, die Libration, entsteht. Das scheint ja überhaupt ein Grundverfahren jeder Verständigung zu sein. Obwohl wir drei, wenn wir über den Mond sprechen, nicht unmittelbar immer dasselbe meinen, können wir uns dennoch unterhalten, sonst würde das Gespräch sofort stagnieren und abbrechen. Im Rahmen der Poesie ist das meines Erachtens eines der Bewegungsgesetze überhaupt – die Libration. Das ist auch schon sicher hundertmal und anders formuliert worden, aber in meinem Zusammenhang war es mir plötzlich wie ein Fundbegriff. Man kann ihn regelrecht visualisieren, so wie die Mondlibration visualisierbar ist. Das ist das, was mit Blick auf ein Gedicht bei verschiedenen Lesern immer wieder entsteht. Ich bin immer wieder erstaunt, was ein Gedicht bei verschiedenen Lesern für verschiedene Reaktionen hervorrufen kann. Der eine deutet es so, dass es sehr traurig ist, der andere sagt: Das ist eines der heitersten Gedichte, die ich je gelesen habe! Das hat mich interessiert, was Worte für eine Psychodynamik auslösen. Lange Zeit kamen bei dem Wort ›Mond‹ gewisse klare Konnotationen, das war ein gemeinsamer

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Nenner für Schwermut und Melancholie, zum Beispiel im Pietismus, bei Matthias Claudius. In der Antike gab es das überhaupt nicht. Der christliche oder der christianisierte Mond ist natürlich ein ganz anderer als der antike Mond. Der wiederum ein anderer ist als der moderne, kalte Mond der Astrophysik. Aber ältere Schichten oder Konnotationen werden trotzdem noch weiterhin tradiert. Das Kind vorm Einschlafen, das den Mond durch das Dachlukenfenster sieht, hat noch mal ältere Konnotationen. Deshalb kommt der Begriff herein, kommt in die Nähe einer wissenschaftlichen Analogie. Man könnte den Gedanken von der lyrischen Libration noch weiter prüfen, ob er triftig ist. Heydenreich: Man kann sich unzählige Male am Gedicht abarbeiten, aber so wie der Mond seine Rückseite nicht zeigt, so behält auch das Gedicht sein Geheimnis. Grünbein: Die Rückseite meiner Gedichte ist mein Bewusstsein, das keiner kennt und im Dunkeln bleibt. Das Geheimnis kommt aus der Dunkelzone des Bewusstseins in die punktuelle Lichtzone des Formulierten. Aber die Worte bleiben widerständig. Weil das Wort eben auch Psyche ist, so ein mir wichtiger Schlüsselsatz von Mandelstam. Das Wort übernimmt auch in einem selbst, in den verschiedenen psychischen Zuständen, verschiedene Funktionen. Das ist verrückt, daher die Unendlichkeit des Ausdrucksvermögens bei immer gleichem Repertoire. Ja, ich habe selbst überlegt: Es ist natürlich eine sehr monoton – oder: ›mond-o-ton‹ – angelegte Unternehmung. Sie hat etwas Minimalistisches. Ich habe nicht gewagt, es mal durchzuzählen, wie oft alleine das Wort ›Mond‹ insgesamt auftaucht. Aber irgendjemand wird es tun. Dann kommt eine Zahl raus, eine schreckliche – aber okay. Dann könnte man sagen: ›Das ist immer noch viel zu wenig.‹ Ich wollte genau auf diesem blöden Ton die Taste immer wieder drücken. Weil das Wort immer, in jedem Kontext, etwas anderes ausdrückt. Es ist immer dasselbe, komische, einsilbige Wort, aber es durchwandert schon verschiedenste Kontexte. Das war mir eigentlich auch immer sehr wichtig. Abstrakter bin ich bisher nie vorgegangen. An dieser Stelle wollte ich eigentlich in ein Feld der Ungewissheit kommen. Leser werden sicherlich fragen: ›Was ist das jetzt eigentlich hier? Ist das ein regulärer Gedichtzyklus? Das entzieht sich mir.‹ Es hat sich mir auch selbst so entzogen. Das fand ich ganz schön. Ich kann übrigens nur dann richtig gut arbeiten, wenn diese Effekte entstehen. Wenn ich vorher wüsste, dass ich einen Grundriss zeichnen muss, um ein Gedicht über den Mond zu schreiben, dann wüsste ich ganz genau, was ich darin abhandeln will, und mich würde sofort die tödlichste Langeweile erfassen. Hier war tatsächlich eher das Sprunghafte wichtig, mit einer melancholischen Grundierung, mit einem Aspekt der Entzauberung. Wenn man heute Umfragen über den Mond macht, interessiert er als Objekt eigentlich kaum noch jemanden. Er hat aber lange die

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Gemüter beschäftigt. Er war lange Zeit tatsächlich der Darling der Poesie. Das ist sozusagen die Hintergrundspannung für den ganzen Zyklus. Mecke: Ein Gedicht in Ihrem Mondzyklus, das mich sehr fasziniert hat, ist »Avicenna«. Es nimmt Bezug auf die Rotation, auf die Gezeitenkräfte und auf die Trägheit. Ich muss wirklich sagen, das hat viel mit dem zu tun, was man als Physikstudent im ersten Semester studiert hat, nur ist es wirklich in eine sehr schöne Form gebracht. Da fängt man an, die Terzinen zu lesen, und analysiert, wie die Zuordnungen der Rotation und der Trägheit sind. Als Physiker habe ich daran Freude. Die ersten fünf Terzinen lang fühle ich mich in Sicherheit, ich kann mir das schon alles zusammenreimen. Aber dann, in der letzten Terzine, wird das gebrochen: der alte Trödler, der sich verspätet. Grünbein: Ja, da ist es für mich wieder interessant, wie ich auf so etwas komme, weil ich an diesem Mondbild ja die ganze Zeit arbeite. Und was ist ihm eben nicht alles an Attributen zugeschrieben worden? Und nun kommt eben das noch dazu. Der Mond ist jetzt in so einer Trödlerposition gelandet. Offenbar auch ganz streng astrophysikalisch betrachtet, da sich der Mond offensichtlich immer weiter verspätet und sich die Laufzeiten ändern. Das sehen wir mit dem bloßen Auge so nicht – aber messbar ist es. Heydenreich: Das hängt mit den Ellipsen zusammen, dem Zweiten Kepler’schen Gesetz. Grünbein: Genau, nach dem Zweiten Kepler’schen Gesetz wird er zum Trödler! Ja, es ist wohl aus den Gesetzen heraus erklärbar. Oder es ist so wie in den Rechtswissenschaften, im Prinzip ja, aber wir brauchen noch einen Kommentar! Heydenreich: Genau. Mecke: Ja, es steckt da drinnen, aber es ist selbst kein Naturgesetz. Es ist ein Esist-halt-so. Und wir können ausrechnen, dass das so ist. Aber es könnte auch anders sein. Grünbein: Es hätte anders kommen können . . . Mecke: Es hätte anders kommen können. Grünbein: Ja, so ist Natur! Aber wer glaubt denn eigentlich, dass die Natur immer ›according to the laws‹ ist? Das glauben ja die Naturwissenschaftler gar nicht. Die sind ja längst auf dem Trip, dass sie da immer schön aufpassen müssen. Heydenreich: Dass man bei der Formulierung der Naturgesetze durch die anderen eher skeptisch sein soll. Grünbein: Also mich freut so etwas! Ich habe ja auch keine Regelpoetik. Ständig wird man gefragt, ständig kommen Verslehretechniker und wollen einen zum Kronzeugen erheben. Und dann sage ich: ›Nein! Lasst mich raus!‹ Erstens glaube

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ich nicht an so etwas, weil ich glaube, dass alle Metrik seit den Griechen immer noch eine subjektive Färbung erhält. Oder es kommen so arme Leuchten, die sagen: ›Ich muss das immer entlang der Verslehre machen.‹ Aber weil das immer so differiert und Sprache offenbar ein morphologisch sehr wandlungsfähiges Ding ist, halte ich nichts von solchen Regelwerken. Und ich freue mich immer, wenn ich das wieder irgendwo thematisieren kann, dass das sozusagen indirekt einfließt, und ich das kurz ansprechen kann. Mecke: Na ja, das Reimschema – das Kettenreimschema – haben Sie ja angewandt. Grünbein: Hie und da – und dann mal wieder nicht. Und so ist aber alles gebaut. Heydenreich: Das ist sehr schön, dass Sie das sagen, weil das auch ein permanenter Streitpunkt ist, wenn man poetische Strukturen erkannt hat. Die Physiker werden immer fragen: Warum ist das nicht überall so? Ein Gegenbeispiel ist zugleich der Kronzeuge der Falsifizierung der Interpretation. Wir behaupten hingegen: Ein Gegenbeispiel ist die versuchte Irreführung und zugleich der Startpunkt hermeneutischer Prozesse. Grünbein: Genau! Ganz wichtig! Heydenreich: Es muss irgendwelche Irritationspunkte geben, die dazu anregen, das Gedicht noch mal und noch mal und noch mal zu lesen, um es besser zu verstehen. Grünbein: Inzwischen wissen wir, dass es in der Klassik – in der Romantik sowieso – zu permanenten Regelverstößen kam. Mein Lieblingsbeispiel ist die berühmte Stroemfeld/Roter Stern-Ausgabe von Kleist, wo die Editoren erst beim Wiederfinden der Originalmanuskripte feststellten, dass Kleist mitten in der Novelle – und zwar ohne Begründung – den Namen einer Figur änderte. Das ist ein Albtraum für jeden Leser, deshalb ist es auch immer bereinigt worden. Es gibt keine Ausgabe, wo diese beiden Namen auftauchen. Es scheint ihm passiert zu sein, aber jetzt kommen natürlich postfreudianische Schlaumeier und sagen: ›Das kann ihm doch nicht nur passiert sein! Genau an der Stelle!‹ Und zumindest wir hier bei Tisch werden begriffen haben, dass beides richtig ist. Da ist ja auch was dran. Man muss sich schon fragen, wie kann ihm das passieren? Gut, diese Sachen waren alle schon nicht mehr für den Druck bestimmt, und wenn er es noch mal hätte lesen können, wäre es ihm sicher aufgefallen. Aber das sind irre Sachen. Und sie erzählen uns etwas über die Kunst. Die Kunst funktioniert so lange, wie der Künstler mit dem Kunstwerk beschäftigt ist. Danach ist es übergeben, von da an bestimmen andere, wie sie funktionieren soll. Bis dahin ist er in seinem Reich alleine und auch wirklich wie ein Gott. Er macht da wilde Dinge und versucht, sich da offensichtlich währenddessen auch selbst bei Laune zu halten.

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Die fiktive Figur Descartes als poetischer Zeuge gegen den Cartesianismus Heydenreich: Die »fiktive Figur Descartes« erscheint in Ihrem Versroman als Zeuge gegen den Cartesianismus, so die schöne Idee von Steffen Martus und Claudia Benthien in der »Zeitschrift für Germanistik«, die 2011 eine Nummer Ihrem Gedichtzyklus gewidmet hat. Eine interessante Lesart: der Gedichtzyklus als poetischer Gegenentwurf zur einseitig reduktionistischen philosophischen Rezeption der rationalistischen Methodenlehre des Cartesianismus. Doch wird somit die Figure Descartes nicht bloß auf neue Weise funktionalisiert, nun aber poetisch? Grünbein: Das ist es mit Sicherheit in der Wirkung. Es ist die Wiederverzauberung des Descartes – als Figur der Zeit, aber auch als literarische Figur. Man kann sich ihn ja tatsächlich als Figur eines Historienromans vorstellen, aber das hat mich weniger interessiert. Was mich interessiert hat, ist die Idee des unmittelbaren Sprechens und der Verlebendigung in der Zeit. Ich weiß noch, wie ich mit dem Literaturwissenschaftler Friedrich Kittler mal einen ganzen Abend öffentlich darüber debattiert habe, und der hat die schöne These verfochten, es sei doch sehr gut zu wissen, dass Descartes vom Wesen her ein ›Chevalier‹ war, ein nach den Regeln seiner Adelsklasse ausgebildeter Soldat und Kämpfer, ein Mann, der tatsächlich Waffen trug. Bis er sie dann wahrscheinlich irgendwo ablegte und gewissermaßen aus dem Kriegsdienst ausstieg. Aber das war die klassische Ausbildung: Er konnte fechten, er konnte reiten – und dies ist sehr wichtig, somit wird er aus der Abstraktion des rein Verkopften rausgeholt. Er ist eine lebendige Zeitfigur, er ist quer durch Europa unterwegs, in vielen Korrespondenzen stehend, nun aber einen Winter lang in Deutschland festgehalten. Das hat mich eigentlich immer schon gewundert, warum man dieses biographische Moment im herrschenden Bild des Cartesianismus unterdrückt hat. Dabei musste man eigentlich nur den »Discours de la méthode« wieder neu lesen und ernst nehmen. Da steht eigentlich alles drin. Aber mir war klar geworden, dass hier eine Feindfigur entstanden war, er hatte sich selbst angeboten. Und ich habe dann einfach versucht, einen Revisionsprozess zu führen. Wie weit das gelungen ist, weiß ich nicht. Ich weiß aber, dass in vielen öffentlichen Debatten das Vorurteil gegenüber dem Cartesianismus tief sitzt. In Frankreich sieht die Sache anders aus – man sieht es an Beispielen wie Valéry –, da war und ist dieser Autor auch immer ein Muster des Ausdrucks. Gedanklich kann man seine Spuren in der Philosophie bis heute finden. Indem ich den Schwerpunkt lege auf diese Situation, auf die Träume, auf die Dialoge mit dem Diener, dem Assistenten, entsteht eher eine Wiederverzauberung. Mir ging es eigentlich auch um dieses Winterbild, das war ursprünglich die Idee, dass der Winter, der Schnee, der zweite große Held ist in diesem Duell.

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Mecke: Den Schnee, den charakterisieren Sie ja quasi geometrisch. Grünbein: Es gibt ja von Kepler auch eine Schrift zum Schnee. Mecke: Über die Kristallbildung. Grünbein: Ja, genau.

Träume als Initialzündungen philosophischer Projekte Heydenreich: Eine der zentralen Thesen des Gedichtzyklus »Vom Schnee« formulieren Sie im »Cartesischen Taucher«. So schrieben Sie hier, dass »der Weg ins Reich der Naturwissenschaften über Traumpfade führte« (CT, 22). Zugleich ist Ihr Gedichtzyklus eine Abrechnung mit der cartesianischen Methode, die im Zuge der Mathematisierung der Naturwissenschaften das gesamte Wissen der Welt – der sogenannten ›mathesis universalis‹ – zu subsumieren versucht. Ursprünglich gedacht als Projekt der universalen Wissensprogression, stellte es sich als Programm der universalen Wissensreduktion heraus, weil es von all dem abstrahierte, was die Phantasie, Intuition und Einbildungskraft der einzelnen Individuen hervorbringt. Auf diese Leerstellen haben vor allem Dichter hingewiesen. Sind die Träume Descartes’ Teil des Versuchs, zum rationalistischen Erkenntnisweg einen Gegenpol aufzuzeigen? Spielt die poetische Metaphorik Ihrer Meinung nach dabei auch eine Rolle – als Heuristik zur Initialzündung auf dem Weg zur mathematischen Modellierung wissenschaftlicher Erkenntnis? Grünbein: Seine Traumtheorie war sogar ein Weg zur Moralistik, zu der sich im Spätwerk andeutenden Lehre von der Seele. Und dafür sind die Träume wieder wichtig, die sind nicht nur Felder der Spekulation, sondern sie sind Gelände des Bewusstseins. Im »Discours de la méthode« gibt es diese Episode, wo Descartes genau das beschreibt, zumindest, dass der Traum eine große Rolle bei der Wahl seines Lebensweges gespielt hat. Und die Entscheidung, welches Interesse man im Leben verfolgt, ist zentral. Welchem Interesse opfere ich alles andere? Dabei scheinen ihm die Träume geholfen zu haben. Das muss man doch wörtlich nehmen – oder? Alle tun immer so: ›Ach ja, das schreibt er zwar, aber wir wissen ja, wie es gemeint ist.‹ Aber das stimmt nicht. Man kann ihn wörtlich nehmen. Warum sollte man das nicht tun? Das fand ich als Grundlegung eines solchen Werkes – des Schlüsselwerks des Rationalismus – sehr erhellend. Dieser äußerste, frühe Rationalismus – das ›cogito‹ – ruht ursprünglich auf einem Traumpolster. Und das gehört da auch hinein, weil die letzte Gewissheit über dieses ›cogito‹ doch nie zu erzielen ist. So sehr er das eben mit seinem berühmten Spruch isolieren und herauspräparieren wollte. Ich habe eigentlich nur diese andere Seite wieder stark gemacht. Und dadurch ist ein gewisser Widerspruch entstanden, der auch

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provoziert. Für den Philosophen Descartes scheint es klar gewesen zu sein, dass eine Lebenserzählung größer oder umfassender ist als die reine philosophische Leistung. Das formuliert er auch gewissermaßen. Zum Beispiel, dass er durch das Leben in moralische Krisen kommt und dass er Situationen von Unentscheidbarkeit kennenlernt, in denen er erst mal die Moral suspendiert. Er gibt darüber Auskunft, wie verschieden die Menschen leben, der Kulturrelativismus fällt ihm auf: Anderswo wird ganz anders gedacht. Das ist das, was Montesquieu in den »Perserbriefen« beschreibt, und plötzlich ist ihm klar: Die Menschheit ist viel reicher und diverser. Aber auch die Relativität des rein philosophischen Wissens gegenüber dem poetischen Wissen oder den Träumen bzw. den Orakeln beschäftigte ihn. Und dann fand er einen Kompass, um analytisch denken zu können. Persönliche Auskünfte kennen wir auch von anderen Philosophen, wie zum Beispiel von Pascal, die sind aber eher fragmentarisch. Aber hier schreibt einer eine Kurzbiographie, um sich selbst Rechenschaft zu geben, wie er da hingekommen ist. Und er verleugnet nichts. Es ist auch eine außerordentlich farbige Darstellung. Warum hat man ihn so einseitig rezipiert? Das ist merkwürdig. Heydenreich: Interessant ist, wie diese Vereinseitigung in der Rezeption funktioniert. Denn auch bei Newton hat man bewusst ausgeblendet, dass er ein religiöser Mensch war. In seiner Korrespondenz mit Samuel Clarke wird theologisch argumentiert. Und er hatte auch viele esoterische Interessen, die man später bewusst ausblendete, um das Physiker-Image nicht zu gefährden. Grünbein: Der Schulbuch-Newton eben, der die Gesetze der Mechanik entdeckt. Das ist immer eine Verarmung. Heydenreich: Dann wäre es durchaus interessant, was aus Newton werden würde, wenn man in einem poetischen Projekt all diese Perspektiven miteinbeziehen würde.

Zündfunken und Querpfade der Begegnung zwischen Physik und Poesie Grünbein: Das ist ja auch für unsere Fragestellung zentral: Was passiert, wenn Poesie auf Wissen stößt und umgekehrt? Das hat mich auch bei Descartes beschäftigt: Was passiert, wenn er buchstäblich auf Poesie, auf literarische Texte Bezug nimmt? Diese schönen Passagen gibt es ja. Man muss fragen: Welche sind die Zündfunken dieser Begegnung? Es geht darum, diesen einen linearen Erkenntnispfad zu stören und zu fragen: Wie viele Querpfade gibt es? Wo sind die Leute vom Weg abgeirrt und wie war es, wieder auf diese Hauptstraße zurückzukehren? Eine Hauptstraße, die uns heute kulturell zu schaffen macht, weil es eben so eine

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ausbetonierte Straße ist, auf der sich Leute sehr einsam fühlen. Ganze Sklavenherden der Wissensgesellschaft ziehen auf dieser betonierten Autobahn voran, zu gar keinem Horizont mehr außer zu dem der nächsten Erkenntnis. Von diesem Reduktionismus konnte ein Barock-Mensch noch nicht einmal träumen. Das sieht man an Leibniz, der da munter in verschiedene Richtungen forscht und Projekte macht, die ins Phantastische gehen. Das lag so eng beisammen. Mecke: Sie haben in einem Interview mal gesagt, dass Descartes ein besserer Naturwissenschaftler dadurch ist, weil er auch Schriftsteller sein wollte. Grünbein: Habe ich das so gesagt? Mecke: In meiner Interpretation, ja. Aber wenn man sich diese Heerscharen von Leuten anschaut, die diesen ausbetonierten Straßen folgen: Was müsste sich eigentlich in der Physik oder in der Physikausbildung ändern, jetzt ganz praktisch? Gibt es irgendwelche Ideen, was man machen könnte? Im eigenen Interesse der Physiker letztendlich? Grünbein: Also, was es ja praktisch bereits gibt, sind Versuche, interdisziplinär voranzugehen und in einen anderen Bereich zu schauen. Auf der lebensweltlichen Ebene scheint es mir sehr ausdifferenziert. Der Naturwissenschaftler geht gerne in die Oper oder schaut sich eine Ausstellung an. Er ist vielleicht durch eine geschickte, taktische Ehe an die Kunst gebunden. Wobei ich festgestellt habe, dass die sogenannte Partialobjekt-Theorie bei Naturwissenschaftlern funktioniert, die teilen sehr oft das Objekt, sobald sie sich kennengelernt haben, machen es also im Team. Aber die Begegnung, wie der Einzelne persönlich den Bezug zur anderen Kultur aufrechterhält, das muss jeder selbst sehen. Wie es offiziell mit den Kulturen geht, kann ich kaum sagen, da habe ich keine rechte Vorstellung. Dass wir uns darüber unterhalten, ist sicher gut. Mecke: Ich empfand die Studienwochen, die wir bei der Studienstiftung des deutschen Volkes angeboten haben, als ein sehr eindrucksvolles Erlebnis. Da wurden zwischen den Literaturwissenschaftlern und Physikern Tandems gebildet, und so wurde zwei Wochen lang über das Thema Physik und Poesie gesprochen. Und ich glaube, dass dabei den Physikstudenten – das war meine Wahrnehmung als Dozent – eine ganz neue Welt aufging. Sie haben sich plötzlich völlig infrage gestellt gefühlt, allein durch die Konfrontation mit anderen Begriffen und Weltsichten und mit der Diskussionskultur der Literaturwissenschaftler. Ich glaube, dass sie wirklich etwas für ihr Leben gelernt haben. Grünbein: Das ist schön. Das wollte ich überhaupt fragen, wie Ihre Projekte funktionieren. Mecke: Ich finde, sehr, sehr gut.

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Grünbein: Und umgekehrt aus rein literaturwissenschaftlicher Sicht? Wie sieht der Beitrag der Naturwissenschaftler aus? Sind da Begriffe oder Konzeptionen, die man übernehmen kann? Mecke: Ja, ich arbeite daran, eine Narratologie der Physik zu entwickeln. Denn letztendlich basiert alles, was wir in der Physik machen, auf verschiedensten Typen oder Arten von Erzählungen: Messerzählungen, Modellerzählungen, die sich intertextuell aufeinander beziehen. Ich denke, man kann eine Erkenntnistheorie der Physik entwickeln, ohne ontologisch auf einen Realismus Bezug zu nehmen, auf eine Welt der Dinge mit Eigenschaften. Das Einzige, was wir brauchen, sind Erzählungen, die natürlich einen Handlungsmoment involvieren. Messerzählungen machen nur Sinn, wenn man sie ausführen kann und man somit zu einem Messergebnis kommt. Das erdet uns in der Natur. Aber für die Erkenntnistheorie brauche ich nicht irgendein Objekt, dessen Eigenschaften oder dessen mathematische Struktur ich schaffe. Grünbein: Ich verstehe. Mecke: Diese metaphorische Arbeit ist ganz entscheidend: Nur so entstehen neue Messerzählungen, so entstehen neue Modellerzählungen, so kann ich die einen auf die anderen übertragen. Ein Mathematiker abstrahiert – und macht aus einem Stein als typisches Ding ein Punktteilchen. Was bedeutet das eigentlich? Er überträgt physikalische Größen, zu denen Messerzählungen gehören, auf dieses Objekt Punktteilchen und fängt dann an, eine Modellerzählung dafür zu formulieren. Grünbein: Ich habe einen interessanten Fall erlebt. Ich habe einen Freund – einen Filmemacher. Sein Name ist Klaus Wyborny, und er ist von der Ausbildung her Physiker. Er hat mir vor Kurzem eine Schnitttheorie des Films präsentiert. Sie ist auch gedruckt, man merkt, dass sie offensichtlich von einem Physiker geschrieben worden ist, mit wahnsinnigen Schemazeichnungen – unheimlich! Ich merke, dass ich diesem Formelsystem hinterherkommen muss. Es gibt auch beschreibende Passagen, denn er ist auch ein Erzähler, er kann das. Er hat eine Narrationstheorie des Films entwickelt, das habe ich so noch nie gesehen. Das ist genial. Und alle werden davon sprechen müssen – oder es ist einfach nur absurd in seiner Ausprägung. Aber es ist nicht nur absurd, denn er macht das an ganz seriösen Werken fest und fragt sich: Was sind Beispielsituationen – was sind Standarderzählsituationen? Das kann man ja letztendlich alles auch schematisieren. Wie ist es mit zwei Personen, mit drei, mit vier, mit 15? Kein Problem für einen Physiker! Und dann macht er daraus Pfeilsysteme, Formeln, und es wird immer komplexer von Seite zu Seite. Eine Narrationstheorie – ich denke, ich lese nicht recht! Damit kann man jetzt quasi Romane aufsprengen. Das klingt doch faszinierend! Mecke: Das muss ich mir anschauen!

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Heydenreich: Eine Idee, die wir am ELINAS verfolgen, ist die Einrichtung eines ›Science & Poetry Lab‹. Wir laden ›artists in residence‹ ein, deren Projekte sich noch in der Konzeptionsphase befinden und die Interesse daran haben, sich mit Experten aus den Naturwissenschaften über den aktuellen Stand der Forschung auszutauschen. Grünbein: Das ist sicher ein gutes Angebot. Heydenreich: Ja. Es sollten aber eben auch Schriftsteller sein, die gerne über laufende Projekte sprechen. Grünbein: Also eine Werkstattsituation? Heydenreich: Genau. Denn umgekehrt stellen wir auch fest, dass zwar bereits die physikalischen Erkenntnisse, wenn sie in Formeln kodifiziert sind und in den Lehrbüchern stehen, als Gedankengebäude hochinteressant sind – aber es ist auch spannend, mit den Physikern zu sprechen, um den Weg von der Erkenntnis zur Formalisierung nachvollziehen zu können. Grünbein: Das ist überhaupt sehr interessant für alle Beteiligten, wenn wir auf Genealogien stoßen: Wie ist der Prozess der Erkenntnisgewinnung? Umgekehrt hören die meisten gerne, wie ein Künstler eigentlich arbeitet, wie er seine Ideen entwickelt, wie es dazu kam, dass nun dieses fertige Gemälde geschaffen wurde. Wenn wir das in Dialog bringen, ist es bestimmt im gegenseitigen Interesse. Die meisten Menschen erfahren ja offensichtlich naturwissenschaftliches Denken als absolut ergebnisorientiert oder gar schon als Ergebnisvorlegung. Und das frustriert. Aber im fortgeschrittenen Forschungsstadium kommt man ja schnell an Stellen, wo es weiterhin umstrittene Modelle gibt. Mecke: Als Student war ich völlig irritiert, als ich mitbekam, dass Steuergelder dafür ausgegeben werden, zu testen, ob die Lichtgeschwindigkeit konstant ist. Meine Reaktion war: Das wissen wir doch, dass die konstant ist! Bis ich dann dahin kam, zu fragen: Warum wissen wir das eigentlich so genau? Und wie sicher ist das? Grünbein: Aber Sie haben sich als Naturwissenschaftler nie gefragt: ›Wozu müssen wir das wissen?‹ Da kenne ich auch eine Menge Leute, die sagen: ›Ist das nicht egal?‹ Das unterscheidet uns schon mal. Da sind wir dann in dem Club derer, die gerne wissen wollen, warum wir das wissen. Mecke: Ich kann ein Verteidigungsargument anführen, warum ich so dachte. Es ist ein ästhetisches Argument: Die Relativitätstheorie ist so überzeugend schön, dass ich mir als Student gar nicht vorstellen konnte, dass sie falsch sein könnte, dass es irgendetwas daran zu zweifeln gäbe. Grünbein: Aber das ist doch die Überraschung in den Naturwissenschaften. Die Überraschung allein, dass man an irgendetwas nicht gedacht hat. Das ist doch überhaupt das Aufregendste! Da kommt einer und sagt: ›Daran habt ihr aber noch

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nicht gedacht!‹ Und man sagt: ›Oh! Wow! Shit!‹ Und dann muss man alles neu bedenken. Heydenreich: Es ist vielleicht auch eine Frage der Rhetorik der wissenschaftlichen Paper, die heute geschrieben werden. Heute werden Ergebnisse nach ganz präzisen Schemata dargelegt, der Weg dahin wird nie thematisiert. Wenn man Keplers Schriften liest, erfährt man, dass er sich noch zu seinen Irrwegen bekannt hat. Da das heute aber aus dem wissenschaftlichen Paper vollkommen ausgeblendet ist, weiß nur die Expertencommunity, wie es dazu kommt, alle anderen bekommen es überhaupt nicht mehr mit. Mecke: Und noch nicht einmal die wissen es. Ich finde, das ist eine ganz gefährliche Entwicklung. Grünbein: Woher kommt denn eigentlich die Selbstgewissheit des Naturwissenschaftlers? Woher nehmen sie dieses phänomenale Selbstbewusstsein? Bei einigen weiß man, die haben gegen ein Meer aus Widersprüchen und Zweifeln ankämpfen müssen. Mecke: Es sind wohl PR-Strategien, daran hat man sich gewöhnt. Grünbein: Heute . . . Mecke: Ja. Denn das Problem ist, dass auch angesehene Wissenschaftler massiv das Problem haben, ihre Artikel zu publizieren. Das ist ein Kampf mit den Zeitschriften und den Kollegen. Und das zwingt einen dazu, eine Rhetorik der Überzeugung oder der zweifelsfreien Wahrheit in den wissenschaftlichen Artikeln zu vertreten. Grünbein: Ein Bluff. Mecke: Ja. Ein erzwungener Bluff, der durch den Publikationsdruck und den Refereeprozess eingesetzt hat – also dadurch, dass etwas überhaupt nicht gedruckt wird, wenn es nicht bestimmte Hürden von Kollegen übersteht. Deshalb haben die wissenschaftlichen Zeitschriften heutzutage eine viel zu große Macht über das, was geforscht und publiziert und wie es dargestellt wird. Wenn ich ein Paper einreichen würde, in dem ich Zweifel äußern würde, ob das wirklich stimmt, dann würde ich einen ganz kurzen Report zurück erhalten, ich sollte das doch erst einmal klären, bevor ich es einreiche. Grünbein: Man sollte zunächst mit sich selbst ins Reine kommen. Heydenreich: Man sollte einmal ein Paper einreichen, in dem man nur Fragen stellt, denn der Forschungsprozess geht nur voran, wenn die richtigen Fragen gestellt werden. Grünbein: Ja, und was man auch lernen und lehren muss, ist das Infragestellen. Und hier wird es eben gerade nicht gelehrt. Hier gibt es manchmal so autoritäre Systeme, hingegen gibt es zum Beispiel auch die amerikanische Tradition, die

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sagt: Leute, ihr könnt das auch immer infrage stellen, dann seid ihr morgen die Helden. Da hatten wir früher auch so Fälle – Pascal ist so ein Beispiel. Mecke: Das war so ein Punkt, der mich beschäftigt hat, Sie haben sich darüber amüsiert, dass er die Schwingungszahl der Schönheit messen wollte. Sie schrieben ja auch, dass man jede Metapher in zwei Richtungen lesen kann. Und wenn Pascal von der Schönheit der Schwingungszahlen spricht, dann ist es schon ein interessantes Projekt. Ob man daraus nicht eine Art physikalische Ästhetik entwickeln kann? Ich liebe solche gewagten Thesen. Heydenreich: Wir haben öfter darüber diskutiert, was ein Mathematiker oder Physiker an einer Theorie oder an einer Gleichung schön findet. Und wenn eine Formel bei größter Einfachheit höchste Komplexität auf mehreren Ebenen aufweist, dann könnte man in der größten Einfachheit die Schönheit erkennen. Grünbein: In diesem Zusammenhang blühen jetzt auch solche Projekte – und die haben sicher ihre Berechtigung. Und ich habe jetzt neulich wieder mit einer Biologin länger darüber geredet. Ja, wenn man Schönheitstheorien an die Natur anlegt, wie weit kommt man dann? Wir kennen die Geschichte: Im Vogelreich hat es eine Funktionalität, die Schönheit der zumeist männlichen Vögel. Aber wir reden jetzt doch eigentlich über etwas anderes. Wir reden gewissermaßen über eine interessenlose Schönheit. Und da kommen wir in einen Übergangsbereich. Aber dass jetzt ernsthaft versucht wird, das von verschiedenen Seiten anzugehen – Biologen, Neurowissenschaftler und so weiter, Physiker jetzt offenbar auch –, das finde ich interessant. Vielleicht gibt es ja irgendwann mal eine kohärente Theorie über das, was schön ist. Mecke: Nein, das wäre zu naturwissenschaftlich gedacht. Grünbein: Falls es eine Schönheitszahl im Sinne der Primzahlen gibt, wäre ich der Erste, der sie infrage stellt. Heydenreich und Mecke: Lieber Herr Grünbein, wir bedanken uns ganz herzlich für dieses so interessante wie heitere römische Gespräch!

Zum Autor Durs Grünbein, 1962 in Dresden geboren, nimmt Mitte der Achtzigerjahre an der Ostberliner Humboldt-Universität ein Studium der Theaterwissenschaft auf, das er 1987 nach wenigen Semestern desillusioniert abbricht. Der junge Lyriker kehrt zunächst in seine Heimatstadt Dresden zurück, arbeitet dort im Zwinger als Hilfsarbeiter im mathematisch-physikalischen Salon, jobbt nebenbei im Theater, tritt in Galerien auf, schreibt freiberuflich für Zeitschriften.

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Sein lyrisches Talent bleibt nicht lange unentdeckt. Da an eine eigene Buchpublikation in der DDR nicht zu denken ist, vermittelt Heiner Müller einen Kontakt in den Westen, zu Siegfried Unseld von Suhrkamp, wo 1988 Grünbeins erste Gedichtsammlung »Grauzone morgens« erscheint. Drei Jahre darauf folgt 1991 sein zweiter Gedichtband »Schädelbasislektion«. Inzwischen liegen gut 30 Bücher von Grünbein vor, von denen viele in mehrere Sprachen übersetzt wurden. Für sein Werk erhält Grünbein bereits 1995 den Peter-Huchel-Preis und den Georg-Büchner-Preis. Preise, denen sich noch etliche anschließen werden. Seit 2005 ist der Lyriker, Essayist und Übersetzer überdies Professor für Poetik und Künstlerische Ästhetik an der Kunstakademie Düsseldorf, seit 2008 zudem Mitglied des Ordens ›Pour le mérite für Wissenschaften und Künste‹ in Berlin. Angefangen bei »Schädelbasislektion« über den Aufsatzband »Galilei vermißt Dantes Hölle und bleibt an den Maßen hängen« von 1996 oder den Gedichtzyklus »Vom Schnee oder Descartes in Deutschland« von 2003 bis zum 2014 erschienenen Band »Cyrano oder Die Rückkehr vom Mond«: Neben der Philosophie spielt in Grünbergs Werk vor allem eine Thematik eine konstant wichtige Rolle – die Auseinandersetzung mit der naturwissenschaftlichen Forschung.

Zitierte Literatur Cyrano oder Die Rückkehr vom Mond. Berlin: Suhrkamp, 1 2014 • Der cartesische Taucher. Drei Meditationen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1 2008 • Galilei vermißt Dantes Hölle und bleibt an den Maßen hängen. Aufsätze 1989–1995. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1 1996 • »Mit Darwins Augen«. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23. Juni 2001 • Vom Schnee oder Descartes in Deutschland. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1 2003.

Weitere Quellen Wilke, Sabine, und Anke Biendarra: »›Wie kann man zwei auseinanderbrechende Jahrhunderte verbinden?‹. Interview mit Durs Grünbein.« In: Ist alles so geblieben, wie es früher war? Essays zu Literatur und Frauenpolitik im vereinten Deutschland. Hg. von Sabine Wilke. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2000, 113–121.

Mit Durs Grünbein sprachen der Physiker Klaus Mecke und die Literaturwissenschaftlerin Aura Heydenreich. Der Dialog wurde am 6. März 2014 in der Casa di Goethe in Rom geführt.

Aura Heydenreich und Klaus Mecke

Fiktionen, Simulationen, Dialoge. Erkenntnisstrategien in Wissenschaft, Erzählung und Philosophie Michael Hampe im Dialog zu »Tunguska oder Das Ende der Natur« Mecke: Unsere bisherigen Interviewpartner, bisher insbesondere Autoren, die sich intensiv mit Physik beschäftigt haben, haben wir zunächst nach ihrem persönlichen Zugang zur Physik bzw. zu den Naturwissenschaften befragt. Bislang hat uns hier immer eine Stimme gefehlt. Das war die Stimme des Philosophen, der eine gewisse Mediatorenrolle einnimmt. Hampe: Darf ich fragen, für welchen Teil der Physik Sie zuständig sind? Mecke: Ich bin theoretischer Physiker. Hampe: Dann sind Sie ja quasi auch Dichter. Mecke: Ich habe auch Philosophie studiert, habe dann aber gewechselt, weil ich es als kreativer empfand, mich in der Physik zu betätigen. Aufgewachsen bin ich in der Statistischen Physik, in der Physik der kondensierten Materie. Weiche kondensierte Materie und Biophysik, das sind die Bereiche, die mich interessieren. In der letzten Zeit habe ich mich fundamentalen Fragen gewidmet, der Quantengeometrie und der Erforschung von Raum und Zeit. Doch zurück zu Ihrem Werk. Als wir nun im August 2012 gemeinsam bei der Studienstiftung des deutschen Volkes eine Ferienakademie organisierten, stand auch »Tunguska oder Das Ende der Natur« auf der Leseliste . . . Heydenreich: . . . und dabei entwickelte sich eine anregende Diskussion zwischen den zwölf anwesenden Literaturwissenschaftlern und den zwölf Physikern, schließlich ist die Leitfigur im »Tunguska«-Dialog die fiktive Figur Tscherenkov, ein Physiker. Welchen Zugang haben Sie zur Physik? Ist das Interesse professioneller Natur, im Kontext Ihrer philosophischen Forschung? Oder ist es auch Teil einer privaten Faszination? Hampe: Nun, ich selbst verstehe nicht genug von Mathematik, um etwas anderes als mathematikfreie Zusammenfassungen von physikalischen Theorien zu lesen. Den Tscherenkov von »Tunguska« verstehe ich noch, obwohl die Mathematik zu seiner Zeit ja schon merkwürdig ist, sodass man sie nicht mehr in der Schule lernt, die Notation zumindest. Tscherenkov in dem Buch ist ja eher ein Spiegelbild von Steven Weinberg, der sein spezielles reduktionistisches Programm auch auf allge-

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meinverständliche Weise vertritt, also die Idee einer Weltformel. Das Problem der Reduktion und der Emergenz, um das es mir in der Figur Tscherenkov/Weinberg geht, ist ja eher ein philosophisches Problem. Mein philosophischer Lehrer Erhard Scheibe hat immer gesagt, dass die Naturphilosophie heute in der Theoretischen Physik stattfindet. Seitdem der Wechsel in der Sprache der Naturbetrachtung von den Begriffen zur Mathematik stattgefunden hat, sind die theoretischen Physiker die Naturphilosophen. Deshalb ist es unvermeidlich, soweit man das mathematisch kann, wenn man sich mit Naturphilosophie beschäftigt, sich auch mit Physik zu befassen. Aber das mathematische Feintuning in der Quantenfeldtheorie zum Beispiel, das geht über meinen Kopf hinweg.

Kommunikation zwischen den Expertengemeinschaften Mecke: Gibt es an der ETH Zürich Kooperationen zwischen dem Department für Philosophie und dem Physik-Department? Wie schätzen Sie als Philosoph die Möglichkeiten ein, Brücken des kommunikativen Austausches zwischen den Vertretern der Natur- und der Geistes- und Sozialwissenschaften im Universitätsalltag zu schaffen? Hampe: Direkte Kooperation würde ich es nicht nennen. Es gibt Lesegruppen, in denen auch »Tunguska oder vom Ende der Natur« besprochen wurde. Daran haben sich auch Physiker der Universität und der ETH Zürich beteiligt. In diesem Rahmen haben wir auch über den Reduktionismus, das Weinberg-Problem gesprochen, aber die Art von Naturphilosophie, die ich betreibe, ist ja eher negative Naturphilosophie. Wenn man sagt, Anthropologie ist die Suche nach dem Wesen des Menschen, ist die negative Anthropologie die Überzeugung, dass es so etwas nicht gibt, sondern dass Menschen historische Gebilde sind. Und was sich über das Wesen Mensch sagen lässt, findet in der Biologie statt, insofern, als der Mensch dort als ›homo sapiens‹ vorkommt. Das Gleiche, würde ich sagen, hat auch mit dem Naturbegriff stattgefunden. Insofern es so etwas wie ein Wesen der Natur gibt, wird das eben in der Theoretischen Physik erforscht und die Versuche von Philosophen nach Isaac Newton – wie Friedrich Schelling und Charles Sanders Peirce –, etwas über die Natur zu sagen, was nicht in einem mathematischen Formalismus stattfindet, sind Rückzugsgefechte, die meiner Ansicht nach gar nicht erfolgreich sind. Ob die Physiker ›einen‹ Naturbegriff haben, bin ich mir auch nicht so sicher. Es gibt sicher Physiker, die das behaupten. Ich würde sagen, Weinberg ist so jemand, der so etwas glaubt, auch Robert Laughlin, der schon an der ETH vorgetragen hat, vertritt einen solchen Standpunkt. Aber ich kenne auch viele, die sagen: Wir reden über dieses und jenes, aber die Natur – welche Größe

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sollte das sein? Die Natur kommt eigentlich in unseren Formeln gar nicht vor. Sie kommt nur dann vor, wenn wir über alle Theorien, die es in der Physik gibt, im Allgemeinen reden wollen oder vielleicht wenn man physikalische Kosmologie macht. Da gibt es ja genügend Kollegen von Herrn Mecke, die sagen, das sind mathematische Märchen. Zum Beispiel auch Bob Laughlin: Die Big Bang-Theorie ist ein mathematisches Märchen und keine Theorie. Auch da würde ich sagen: Wenn es so etwas wie eine Naturphilosophie gibt, oder ein Reden über die Natur, dann findet das nicht mehr in der Philosophie statt, weil das Reden über die Natur im Allgemeinen im mathematischen Formalismus stattfindet. Und ob es im mathematischen Formalismus ein Äquivalent für den Naturbegriff gibt, da bin ich mir nicht ganz sicher. Heydenreich: Das führt uns zur nächsten Frage. Wie viel naturwissenschaftliche Ausbildung sollte ein Naturphilosoph haben? Wie hält man Kontakt zu den aktuellen Entwicklungen und Fragestellungen der Forschung? Hampe: Wie gesagt, ich weiß gar nicht, ob es in der Gegenwart aussichtsreiche positive Naturphilosophie geben könnte. Ich denke, die Leute wie zum Beispiel Michael Esfeld, die heute Naturphilosophie betreiben, machen das in der Regel, indem sie von der Wissenschaftstheorie einer spezifischen naturwissenschaftlichen Theorie ins Allgemeine abheben. Sie sagen dann: Die Quantenmechanik, da ist doch irgendwie eine Verkopplung drin, die für Holismus spricht. Und indem wir die Quantenmechanik betrachten, können wir vielleicht eine holistische Naturphilosophie produzieren. Aber ich nehme an, dass ganz viele Sachen, die in der Festkörperphysik oder in der Gravitationstheorie stattfinden, damit überhaupt nichts zu tun haben. Wenn man heute Naturphilosophie machen will, dann sollte man in meinen Augen entweder negative Naturphilosophie oder lieber gleich Theoretische Physik machen. Aber das philosophische Projekt, dass man ohne mathematischen Formalismus über die Natur als Ganzes redet, ist in meinen Augen als Erklärungsprojekt gestorben. Und negative Naturphilosophie ist auch kein ergiebiges Vorhaben. Denn man kann das ja nicht ewig machen. Das ›Tot-Erklären‹ ist irgendwann mal erledigt. Eine weitere, aber nicht aussichtsreiche Möglichkeit ist, dass man eine Lieblingstheorie hat, beispielsweise den Darwinismus – der Darwinismus ist die eine Lieblingstheorie vieler Philosophen und die Quantenmechanik die andere. Und von diesen Theorien aus verallgemeinert man dann auf so etwas wie die Natur überhaupt: Selektion, Variation, das findet dann angeblich überall statt und alles ist irgendwie holistisch miteinander verkoppelt. Ja, und dann kommen mathematikfreie und genfreie Erzählungen dabei heraus, die die Verallgemeinerung eigentlich lokal gedachter naturwissenschaftlicher Theorien sind, die aber

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auch keine Naturerzählungen sind, die uns irgendetwas Neues über natürliche Zusammenhänge zeigen. Das Problem, das ich mit solchen Gebilden habe, ist, dass sie keine Erklärungsfunktion mehr wie die lokalen wissenschaftlichen Theorien haben, aber auch nicht Literatur sind, die uns etwas erkennen lässt, ohne zu erklären. Eine erzählende Theorie ohne Erklärungsfunktion und ohne literarische Qualitäten ist etwas ziemlich Schlappes. Ich weiß eigentlich nicht, zu was man das braucht. Ich würde so etwas nicht machen wollen. Aber Sie brauchen natürlich, wenn Sie das wie einige meiner Kollegen verfolgen möchten, eine intime Kenntnis Ihrer Lieblingstheorie. Wenn Sie die Quantenmechanik verallgemeinern wollen, dann müssen Sie erst die Quantenmechanik verstehen, und wenn Sie die Evolutionstheorie verallgemeinern wollen, dann brauchen Sie eine Kenntnis der Evolutionstheorie. Und dann können Sie mit den Fachwissenschaftlern auch fachsimpeln über die richtige Auffassung der entsprechenden Theorien. Aber ich glaube, dass diese Verallgemeinerungen an gewissen Stellen – die müsste man dann im Detail untersuchen – theoretisch abbrechen und auf eine platte Weise metaphorisch werden und nicht mehr funktionieren im Sinne der Generierung einer Einsicht. Es gibt einen Philosophen des neunzehnten Jahrhunderts, Chauncey Wright, ich glaube, er ist nicht sehr bekannt. Er arbeitete mit Charles Peirce und William James im Metaphysical Club zusammen und hat sehr schöne Artikel gegen Herbert Spencer geschrieben. Spencer hat versucht, die Evolutionstheorie naturphilosophisch zu verallgemeinern. Ernst Haeckel ist die entsprechende Figur auf dem Kontinent. Das sind beide Darwin-Fans, die mit dem Darwinismus dann gleich viel mehr anstellen wollen als Darwin selbst. Und ein Artikel von Chauncey Wright heißt »Cosmic Weather«, in dem er sagt, dass eigentlich die ganze physikalische Kosmologie so etwas Ähnliches wie eine Wettererscheinung – die Meteorologie – ist. Und man könnte jetzt natürlich auch versuchen, die Meteorologie mithilfe der Begriffe ›Mutation‹ und ›Selektion‹ zu rekonstruieren. Aber was hätte man davon? Nichts. Wäre das nicht auch lächerlich, zu sagen, dass das Tiefdruckgebiet in der Konkurrenz zum Azorenhoch nicht bestehen kann und ausselektiert wird? Sollte man nicht lieber versuchen, das Ganze mit der Thermodynamik zu machen? Und da hat er meines Erachtens recht. Eine Selektionsrede über das Wetter hat keinen Erklärungs- oder Prognosewert – ist aber auch keine gute Dichtung. Wenn man den Erklärungsanspruch aufgibt aber begriffliche Arbeit machen möchte, die das Verständnis erweitert, dann müsste man eben meiner Ansicht nach gute, das heißt Einsichten befördernde Dichtung machen. Und dazu reicht es dann bei den positiven Naturphilosophen, die ihre Lieblingstheorie ins Kosmische verallgemeinern wollen, in der Regel nicht.

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Mecke: Wenn die Naturphilosophie – wenn überhaupt – nur noch in der Theoretischen Physik stattfindet, und Sie gleichzeitig das historische Reflexionsniveau vieler Naturwissenschaftler beklagen, sehen Sie dann da einen Nachholbedarf? Also, wie viel Philosophie sollte ein Physiker zur Kenntnis nehmen? Für den Physiker Tscherenkov in »Tunguska« ist die Natur nichts anderes als ein logischer Strukturzusammenhang, der grundlegend ist, während die Erscheinungen der menschlichen Welt verhältnismäßig junge Epiphänomene darstellen, die kaum von Relevanz sind. Die Philosophie hat hier eine wichtige Funktion als vermittelnde Disziplin. Welchen Stellenwert hat nach Ihrem Dafürhalten die Philosophie für die Physik? Und wie erfahren Sie den Umgang der Physikergemeinschaft bzw. Physikergemeinschaften mit den Metadisziplinen der Wissenschaftsphilosophie und Wissenschaftsgeschichte? Hampe: Was in den Naturwissenschaften in der Regel nicht präsent ist, ist der sumpfige Boden, aus dem die gegenwärtige Physik entstanden ist. Wenn ich hier in Zürich den Studierenden erzähle, dass Newton meinte, dass die Gravitationskraft eine geistige Kraft, ja gar das Denken Gottes sei, und dass Newton selbst Alchemist war und eigentlich auch nur wegen seiner alchemistischen Kompetenzen den Job bei der Royal Mint erhalten hat, und dass er am Ende seines Lebens die kabbalistische Interpretation der Offenbarung des Johannes mit der Vorausberechnung des Weltuntergangs als seine eigentliche Lebensleistung ansah, dann staunen meine Studierenden. Weil sie natürlich das Kraftgesetz kennen, weil das im roten Kasten im Physiklehrbuch vorkommt. Aber dass Newton so ein schräger Esoteriker war, das wollen sie zuerst gar nicht glauben. Und wenn man das weiß, dann bekommt man vielleicht einen anderen Blick darauf, wie groß der Anteil an schräger Esoterik auch in der gegenwärtigen Physik und wie viel am CERN Alchemie sein könnte oder wie viel an der physikalischen Kosmologie keinen Menschen mehr in hundert Jahren interessieren würde. Das weiß man gegenwärtig noch nicht. Aber die Kenntnis der Physikgeschichte führt zu etwas, was Hermann Lübbe ›Verblüffungsresistenz‹ genannt hat: Man wundert sich dann vielleicht nicht mehr so, was alles an Theoriebestandteilen im gegenwärtigen Denken noch untergehen wird. Die Gegenwart kommt uns ja als der Normalzustand vor, auch wenn gerade quantenmechanische Phänomene anschaulich zu machen sind, da gewöhnt man sich daran und betrachtet das als Normalzustand. Und dass es so viele Elementarteilchen gibt, na gut, das ist halt so. Konrad Osterwalder, der ehemalige Rektor der ETH Zürich, hat in seiner Abschiedsrede gesagt, dass es schließlich sein könne, dass der Zoo der Elementarteilchen in zweihundert Jahren so betrachtet wird wie die Angelologie. Also die Engel-Lehre im Mittelalter. Das war ja auch ein kompliziertes Gebilde, an das sich die Theoretiker damals gewöhnt hatten und wo man sich gefragt hat: Haben die Engel eine eigene Materie? Hat jeder

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Engel eine eigene Materie? Sind Gabriel und Michael bloß zwei Individuen oder unterscheiden sie sich voneinander wie zwei verschiedene Arten? Da haben sich komplizierte Theorien über Art und Materie bei den Engeln entwickelt. Leuten wie Thomas von Aquin war das völlig selbstverständlich, über so etwas nachzudenken. Ebenso kommt uns heute die Suche nach dem Graviton oder dem HiggsBoson¹ ganz selbstverständlich vor. Doch vielleicht langen sich da die Leute in hundert Jahren an den Kopf und sagen: Das war sehr hochbezahlte Esoterik. Was haben die damals nur für einen Quatsch getrieben? Um die Möglichkeit solcher späterer Einschätzungen auf unsere Gegenwart heute schon erwägen zu können, dafür kann einem die Geschichte sehr helfen, wenn man sieht, wie viele vermeintliche Selbstverständlichkeiten in der Wissensgeschichte schon untergegangen sind.

Begriffliche Arbeit in Physik und Philosophie Mecke: Aber das wäre ja eine negative Bestimmung der Rolle von Naturphilosophie in der Physik, also Vorsichtigkeitswissen. Ich werde oft gefragt, warum ich mich mit Literatur und Philosophie beschäftige und was das der Physik bringen sollte. Ich antworte meistens, dass es wichtig sei, die kulturhistorischen Kontexte zu kennen. Hampe: Die Transformation von Begriffen in Größen finde ich auch interessant. Wenn man sich beispielsweise anschaut, was mit dem Kraftbegriff bei Newton passiert, dass das zuvor ein Begriff war, der mit Anstrengung, mit dem, was ein Tier macht, wenn es schwitzt, verbunden war – und dann wird er bei Newton formalisiert. Nachdem der Kraftbegriff definiert und zu einer Größe wird, fällt ganz viel weg, was man früher mit dem Begriff verbunden hat. Ich glaube, dass das exemplarisch für die Arbeit der Physik ist: Wenn ich etwas in den mathematischen Apparat einpassen will, dann muss ich viele Bedeutungselemente weglassen. Und wenn man die Philosophie und die Geschichte der Wissenschaft betrachtet, dann sieht man, wie bedeutungsreich die Termini einmal waren, aus denen die Physik ihren Formalismus geschnitzt hat. In der Philosophie hat man oft die Vorstellung, dass Bedeutungsreichtum ein Vorteil ist. Der ist auch in gewisser Hinsicht ein Vorteil, aber offenbar für explanatorische Projekte nicht. Wenn man etwas erklären will, dann kommt man offenbar mit Bedeutungsverlusten sehr gut klar. Wenn man sagt, das grenze ich noch aus und damit beschäftige ich mich nicht. Das habe ich in der Tscherenkov-Figur darzustellen versucht. Dass er dauernd anführt: ›Damit will ich mich jetzt aber nicht befassen, und das interessiert

1 Der Dialog wurde vor der Entdeckung des Higgs-Bosons am CERN geführt.

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uns hier nicht.‹ Und deshalb funktioniert sein Laden so gut. Weil er sich mit einigem eben ›nicht‹ beschäftigt. Darum funktioniert der ›philosophische Laden‹ explanatorisch nicht, weil er sich mit allem Möglichen beschäftigt und die Bedeutungsvielfalt erhalten will. Das historische Interesse ist das eine – wenn man sieht, wie eine Größe aus einer begrifflichen Geschichte entsteht, eine physikalische Größe, mit der man dann was erklären kann. Und das andere ist, dass wenn ich aus einem Begriff, der in der Regel auch normative Konnotationen hat, eine Größe mache, ich mich des normativen Problems, das damit verbunden war, scheinbar entledige. Und das kann einen dann schon zu Problemen führen. Zum Beispiel sitzt man in Potsdam im Klimainstitut und beschreibt das Klima physikalisch. In der Physik gibt es kein günstiges oder ungünstiges Klima, da gibt es nur die Größen Temperatur, Windgeschwindigkeit usw. Aber wenn die Klimaforscher etwas normativ von sich geben sollen, aber eigentlich nicht geschult sind im Umgang mit normativen Fragen, weil man immer mit Größen, die keine normative Bedeutung haben, zu tun hat, dann kann das schwierig werden. Diese beiden Aspekte, denke ich, wären für Physiker nützlich. Zu wissen, dass die Begriffe am Anfang nicht so einfach waren, wie sie am Ende in der Theorie sind – wenn die Theorie funktioniert. Und in der Regel ist die Reinigung, die da stattgefunden hat, eine, bei der entnormativiert wird. Alles, was mit Schönheit und dem Guten zu tun hat, kommt weg. ›Kraft‹ ist nicht etwas, was mit Anstrengung zu tun hat und was man vermeiden soll. Man soll zwar viel Kraft haben, aber man soll sie nicht immer ausüben, weil es mühsam ist. Das ist ja alles weg bei Newton. Und trotzdem ist der Anwendungsbereich größer. Es ist eine ganz kuriose Entwicklung, dass die Semantik eingeengt wird, aber plötzlich hat alles Mögliche eine Kraft, nicht nur ein Ochse und ein Ringer, sondern eben auch ein Teilchen. Und das finde ich immer wieder erstaunlich, wie es jemandem wie Newton gelingen kann: dass er einen Begriff in seiner Bedeutung verengt und in seiner Anwendung ausdehnt. Mecke: Das ist eine sehr schöne Überleitung zu den poetischen Schreibweisen in der Philosophie.

Funktion der Philosophie: Die Schaffung einer Übersicht über die semantische Landschaft Heydenreich: Warum erscheint Ihnen die literarische Form des polyphonen Schreibens – Michail Bachtin hat diese Technik der Dialogizität meisterhaft analysiert – als geeignete Darstellungsform für philosophische Untersuchungen? Was ist durch die Dialogizität für eine philosophische Fragestellung gewonnen?

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Hampe: Es ist ja zunächst mal eine alte Form. Die kanonisierte, philosophische Literatur liegt ja nicht nur in der Form der Monographien vor. Wir denken immer, eine philosophische Arbeit ist eine Monographie, die eventuell mit Erklärungsanspruch einhergeht. Was man sich vor Augen führen muss, ist, dass diese Form des philosophischen Textes von Aristoteles erfunden worden ist. Er hat seine Vorlesungen so aufgebaut, dass er erstmals gesagt hat, was die anderen zu einem Thema gemeint haben und was er selbst zu dem Thema meint. Und dann kam er auch immer zu der Behauptung, dass seine eigene Überzeugung besser begründbar ist als die seiner Vorgänger. Aber das ist eben nur eine mögliche Form des Philosophierens, die monographische Form, das ist heute die dominante Form, ich glaube zum einen wegen der akademischen Zweckschriften und andererseits wegen der Dominanz der Erklärung als dem vermeintlich wichtigsten intellektuellen Projekt. Biologen, Physiker und auch Soziologen produzieren ihre explanatorischen Theorien ja auch monographisch in Form von Zeitschriftenaufsätzen und darum glauben die meisten Philosophen, dass sie auch explanatorische Theorien produzieren sollten. Die Hochschulen und die Forschungsförderungsinstitutionen nehmen die Naturwissenschaften ja zum Maßstab, an dem sich auch die Geistes- und Kulturwissenschaften formal zu orientieren haben. Deshalb sehen viele philosophische Zeitschriften und viele ›Forschungsprojekte‹ in der Philosophie äußerlich so aus wie die der Physik. Ich glaube aber, dass die Philosophie nicht besonders gut ist im Produzieren von Erklärungen, sondern dass sie beispielsweise im ›Übersicht-über-Bedeutungen-Schaffen‹ viel besser ist als im Erklären. Und dass beispielsweise der platonische Dialog oder das lukianische Totengespräch eine gute Form ist, um Bedeutungsvielfalt vorzuführen, weil man da genau sehen kann, welche Funktion eine gewisse Bedeutungsverengung hat. Man schafft eine Übersicht über die semantische Landschaft und das ist eine intellektuelle Aufgabe, die die Philosophen auch haben und viel besser ausfüllen können, als irgendetwas zu erklären. Eine andere Form, die ich in einem anderen Buch benutzt habe, ist die Meditation, bei der man ein Geistesexerzitium durchführt, um entweder eine Gewissheit zu etablieren oder jemandem eine Gewissheit auszutreiben. In »Das vollkommene Leben. Vier Meditationen über das Glück« habe ich versucht, den Leuten die Gewissheit auszutreiben, dass es eine allgemeingültige Theorie des Glücks geben kann. Mit vier Theorien des Glücks, die nicht kompatibel, aber überzeugend sein sollten. Das ist eine Form, die in der christlichen Erbauungsliteratur verbreitet war und prominent bei Descartes wieder auftaucht, und in einer Meditation wird meines Erachtens auch nichts erklärt. Da wird das Lesen eines Textes als Exerzitium aufgefasst, das dann dazu führen soll, dass sich irgendwas im Kopf des Lesers verändert. Was wir als ein ›Bildungserlebnis‹ in der Literatur bezeichnen,

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ist, glaube ich, auch so etwas: dass Personen, nachdem sie einen literarischen Text gelesen haben, ein wenig eine andere Person sind als vorher. Da gibt es eine Nähe zwischen nicht monographischen Formen der Philosophie und Literatur. Plötzlich einen semantischen Überblick zu haben, ist auch so etwas wie ein Bildungserlebnis. Wenn einem plötzlich aufgeht, dass es eigentlich gar keine Theorie des Glücks gibt: Das ist ein Bildungserlebnis. Aber es wird durch etwas anderes erzeugt als durch einen Roman. Insofern würde ich Ihnen einerseits recht geben, dass man das, was Platon, Lukian oder Descartes gemacht haben, als literarische Formen bezeichnen kann. Aber es ist eben eine literarische Form der Philosophie. Es ist etwas anderes als ein Drama, ein Gedicht oder ein Roman. Und wenn man sagt, es gibt keine positive Naturphilosophie, die sich in irgendeiner Hinsicht explanatorisch mit der Relativitätstheorie oder der Quantenfeldtheorie oder der Quantenmechanik messen könnte, ja gut, dann fällt quasi die Form der Monographie für die Naturphilosophie aus. Dann kann ich nur naturphilosophisch arbeiten, indem ich einen Überblick über verschiedene Naturbegriffe gebe, die sich einander ausschließen. Und wenn ich vorzeige, dass so jemand wie Adolf Portmann oder Steven Weinberg oder Paul Feyerabend, dass die von ganz verschiedenen Naturbegriffen ausgehen, dann zeige ich, dass diese Naturbegriffe schon ihre Berechtigung haben, dass sie aber nicht miteinander vereinbar sind. Aber sie haben vor dem Hintergrund von Erklärungsprojekten eine Funktion. Wenn Sie diese Erklärungen über Elementarteilchen oder Hirnentwicklung bei Großsäugern produzieren wollen, brauchen Sie ein Verständnis davon, was in diesen Bereichen ›natürlich‹ ist. Wenn Sie zeigen können, dass die mit verschiedenen Naturverständnissen operierenden Erklärungsprojekte erfolgreich sind, legitimieren Sie in gewisser Hinsicht auch semantische Vielfalt. Oft denkt man ja, dass Vielstimmigkeit etwas damit zu tun hat, dass man sich in einem Roman oder religiösen Bereichen bewegt – die muslimische Stimme ist eine andere als die christliche usw. Was ich in dem Buch zeigen wollte, ist, dass die Stimme der Biologen eine andere ist als die der Physiker. Aber beide produzieren gute Erklärungen. Ich finde, dass die Erklärungen, die Steven Weinberg produzierte, gut sind. Aber die Erklärungen, die Adolf Portmann produzierte, sind auch gut. Das sind starke Theorien, aber sie haben im Hintergrund Naturverständnisse, die nicht miteinander kompatibel sind. Denn der Physiker würde zu Adolf Portmann sagen: Das sind doch für die Natur als Ganzes betrachtet nur Oberflächenphänomene, mit denen du dich da beschäftigst. Ob jetzt das Gehirn eines Rhinozeros soundso groß ist oder nicht, das betrifft doch die Natur selbst gar nicht. Und der Biologe würde sagen: Wir können uns doch als Menschen gar nicht verstehen, wenn wir nicht die Säugetiere und ihre Gehirne betrachten. Auch der Physiker denkt schließlich mit einem Säugetiergehirn. Was der Physiker über die Natur selbst sagt, ist auch ein Produkt seines Großhirns, mag ein Biologe feststellen.

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Und beide Betrachtungsweisen haben in gewisser Hinsicht ja ihre Berechtigung, finde ich. Es gibt eben eine Vielstimmigkeit innerhalb der Naturwissenschaften. Wenn ich das Label ›Naturwissenschaft‹ nutze, dann scheint es so, als gäbe es eine Einheit, es scheint ›einen‹ Naturbegriff zu geben. Und wenn man dann in die einzelnen Erklärungsprojekte hereinzoomt, dann sieht man, dass da gar keine Einheit vorhanden ist. Und das brauchen sie auch gar nicht. Heydenreich: Für die unterschiedlichen naturwissenschaftlichen Forschungsperspektiven wäre das eher hinderlich. Hampe: Das glaube ich auch. Idel: Uns ist aufgefallen, dass Feierabent, Bordmann und Blackfoot, dass gerade die drei Namen Verballhornungen entsprechender Namen realer ForscherPersönlichkeiten sind, aber Tscherenkov als tatsächlicher Physiker auftritt. Hat das eine besondere Bewandtnis? Hampe: Das ist nur eine stilistische Frage – wie fremd einem die Namen sind. Und in der russischen Übersetzung des Buches heißt der Physiker Tscherenkow auch nicht mehr Tscherenkov, weil der Name Tscherenkov natürlich für einen Russen kein fremder Name ist. Die Idee ist, dass dieses Totenreich eine Traumwelt ist. Und so wie uns Personen, die wir im Wachzustand getroffen haben, im Traum ein bisschen verschoben vorkommen, so wollte ich diese Figuren im Totenreich auch ein bisschen verschieben. Und es sind, glaube ich, nur ein paar Leute, die den Physiker Tscherenkow tatsächlich kennen, die dieses Buch lesen. Sie kennen ihn natürlich, weil Sie Physiker sind, weil Sie wissen, dass er einen Beschleuniger gebaut hat. Aber für den ›Otto Normalverbraucher‹ ist dieser Name fremdartig. Hinzu kommt, dass ich von Tscherenkow selbst nichts gelesen habe, während ich Feyerabends und Whiteheads und Adolf Portmanns Bücher gut kenne. Teilweise kommen sie wörtlich vor und teilweise wird ihnen etwas in den Mund gelegt, das sie gesagt haben könnten. Ich weiß aber nicht, ob sie es sagen würden. Und dann muss man auch noch ein bisschen ›wegrücken‹, weil man ihnen quasi etwas nahelegt, was nicht richtig belegbar ist. Tscherenkow hat sich, glaube ich, nie über die Natur im Allgemeinen geäußert. Der Name ›Tscherenkov‹ ist nur eine Chiffre für so eine Art ›tough guy‹ aus der Physik, wie Steven Weinberg, dessen Sachen ich kenne. Mecke: Der aber in den Dialogen trotzdem historisch erstaunlich reflektiert ist. Er führt Kant an. Ist das so typisch? Hampe: Ich habe hier im Haus die Erfahrung gemacht, dass theoretische Physiker und Mathematiker von den Naturwissenschaftlern die historisch gebildetsten sind. Sie haben auch am wenigsten Schwierigkeiten mit der begrifflichen Komplexität zurande zu kommen. Der Übergang von der mathematischen Komplexität zu

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der begrifflichen Komplexität ist relativ gering – auf der einen Seite. Und auf der anderen Seite, wenn man moderne Physik macht, ist man auch relativ hartgesotten, was den Umgang mit Unplausibilitäten angeht. Wenn man die Quantenmechanik fressen kann, dann kann man auch Kant und Berkeley und sowas, was die Philosophen halt an Abstrusitäten produzieren, lesen. Das kann einen dann nicht mehr besonders schocken. Wenn Sie hingegen Elektrotechnik oder Maschinenbau machen, dann ist das doch ziemlich schräg.

Die Vorführung der Vielstimmigkeit im philosophischen Dialog Schällibaum: Sie haben Platon und Aristoteles erwähnt, die für das dialogische bzw. für das monographische Prinzip der philosophischen Schriften stehen. Auch im Falle von »Tunguska« gibt es eine Art Zweiteilung. Der erste Teil suggeriert mit den platonischen Körpern und den Elementen eine einheitliche Geschlossenheit. Wieso dann noch die Notwendigkeit, einen zweiten Teil zu liefern, der nicht mehr literarisch ist? Wieso diese Kombination von fiktionalem dialogischem Text, der aber naturphilosophisch durchwachsen ist, und dann noch eine Abhandlung? Hampe: Die ganz einfache Antwort ist, dass ich der Gefahr einer postmodernen Fehlrezeption Einhalt gebieten möchte. In dem Sinne, dass die Einsicht in die Vielstimmigkeit nicht bedeutet, dass ich selbst eine Stimme habe. Natürlich habe ich selbst eine Stimme. Doch das ist weder die von Tscherenkov noch die von Feierabent oder die von Bordmann, auch nicht die von Blackfoot. Und das ist natürlich ästhetisch unangenehm, dieser Nachklapp wie bei Nabokov manchmal. Mir hat auch schon ein Mitarbeiter bei einem anderen Buch gesagt, es geht nicht, dass dahinter noch etwas kommt. Auch auf die Gefahr hin, jetzt vielleicht etwas hochtrabend zu antworten: Auch Platon hat einerseits Dialoge geschrieben und andererseits Vorlesungen gehalten, wo er kundgetan hat, was er selbst meint. Und dann hat man ihm vorgeworfen, dass er nicht – wie Aristoteles – sortiert hat, was die anderen zuvor gesagt haben. Dass er in der Vorlesung nicht das gesagt hat, was andere vor ihm gedacht haben. Nun, ich denke das liegt daran, dass er schon ein Regalbrett mit Dialogen vollgeschrieben hatte, also brauchte er das nicht mehr. Ich wollte mich hinter den Dialogfiguren nicht verstecken. Insofern ist dieses Buch in dieser Kombination ästhetisch vielleicht unschön, weil diese beiden Teile nicht ganz zusammenpassen. Aber philosophisch finde ich es nicht besser, wenn es heißen würde: Hampe hat gar keine naturphilosophischen Überzeugungen. Deshalb will ich die Vorstellungen zu einer negativen Naturphilosophie monographisch auf den Tisch legen. Nach der Lektüre des Dialogs erscheint der monographische Teil dann vielleicht hölzern, weil die vorherige Sprache im Kopf des

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Lesers noch nachklingt. Doch ich finde es auch etwas spießig, muss ich sagen, darauf zu bestehen, dass sich ein Dichter oder ein Philosoph angeblich nicht zu seiner eigenen Arbeit äußern darf, weil das dem Werk sein ›Geheimnis‹ oder einen ›Zauber‹ nimmt. Um Geheimnis und Zauber geht es mir nicht bei so einem Text. Um Intensität, ja. Aber nicht um scheinbare Tiefen. Auch in der Lyrik mag ich lieber Jandl’sche Intensität als Celan’sche Geheimnisse. Und schließlich gibt es ja einen klaren Schnitt in dem Band: Teil 1 und Teil 2. Der dialogische Part ist ein eigenständiges Werk und sollte auch so wahrgenommen werden. Der Essay ist nicht Teil der Dialoge, aber zum selben Thema. Schällibaum: Das stellt aber auch den erkenntnistheoretischen Wert von Literatur durchaus infrage. Hampe: Das würde ich nicht so sehen. Gerade wenn Sie sich Dostojewskis Romane ansehen – beispielsweise – und dann im Vergleich seine panslawistischen, monographischen Äußerungen. Da hat man das Gefühl, dass er unglaublich abfällt. Die Romane sind toll, aber was er so über die slawische Seele sagt . . . Mein Gott! Bei mir fällt das vielleicht genauso ab. Ich denke, dass der Dialog besser ist als der Essay. Das liegt daran, dass diese Dialogfiguren sich gegenseitig herausfordern und steigern. Wenn man sich dann fragt: ›Und was denkst du jetzt selbst?‹, dann fällt diese Steigerungsfunktion aus und man bewegt sich zwangsläufig auf trivialeren Ebenen. Aber es hat etwas mit Erkenntnismoral zu tun, dass man das Visier hebt und sagt: Das ist meine Überzeugung. Das findet natürlich vor der Übersicht statt, die man sich über die semantische Landschaft verschafft hat. Insofern ist es einerseits voneinander unabhängig, weil da meine Stimme und nicht andere Stimmen vorkommen, andererseits ist es doch nicht voneinander unabhängig, weil das, was ich zu sagen habe, auf der Lektüre, die in dem vorderen Teil verarbeitet worden ist, beruht. Aber es geht mir nicht um eine aristotelische Argumentationsweise im Sinne von: Wenn man gezeigt hat, dass Weinberg und Portmann Unrecht haben, dann muss man daran glauben, was ich geschrieben habe. – So ist es eben nicht. Das liegt daran, dass ich selbst keine positive explanatorische Naturphilosophie betreibe. In »Tunguska« haben zwei Dialogpartner, Tscherenkov und Bordmann, ein echtes Erklärungsprojekt. Daraus ergibt sich ein intrikates Verhältnis zwischen dem ersten und dem zweiten Teil des Buches. Einerseits gibt es notwendigerweise einen Intensitätsabfall in der Sprache, andererseits gibt es das schwierige Verhältnis zwischen naturwissenschaftlicher Erklärung und negativer Naturphilosophie. Das ist einiges an Zumutung. Und ich habe auch bei ziemlich klugen Lesern in meiner geisteswissenschaftlichen Kollegenschaft gesehen, dass sie diese Zumutung nicht auf sich nehmen wollen, das Verhältnis von Teil 1 und Teil 2 nicht verstehen. In meinem Buch »Das vollkommene Leben« glaube ich, dass die Absage an

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einen theoretischen Standpunkt ganz wichtig ist für die Selbstwahrnehmung des eigenen Lebens. Das ist anders einfacher als mit der negativen Naturphilosophie. Für normative Fragen unseres Verhaltens gegenüber bestimmten natürlichen Wesen ist es wichtig, dass wir den Unterschied zwischen biologischem und physikalischem Naturverständnis sehr gut kennen, und dass wir uns beispielsweise darüber klar werden, wie sich klimatische Prozesse zum Artensterben gegenüber von nicht-klimatischen Prozessen verhalten. Wenn es Selektionsprozesse im biologischen Bereich gibt, die durch Meteoriten, durch Klima oder durch Artenkonkurrenz zustande kommen, dann ist es wichtig zu wissen, auf welcher Ebene der Naturprozesse man intervenieren will. Will man auf der physikalischen Ebene oder auf der biologischen Ebene intervenieren? Und das setzt voraus, dass man unterschiedliche Stimmen kennt. Deshalb ist das Vorführen der Vielstimmigkeit nicht einfach ein Unterhaltungs- oder ein Liberalisierungsprogramm. Sondern es hat etwas mit Reflexionsniveau zu tun, dass man auch normativ auf einem gemeinsamen höheren Reflexionsniveau ist, wenn man den Unterschied zwischen dem biologischen und physikalischen Naturverständnis kennt. Viele Physiker haben mir bestätigt, dass sie die biologischen Phänomene tatsächlich als etwas betrachten, über das sich viele Ökologen viel zu viele Sorgen machen. Das ist für sie etwas, was einfach nicht sonderlich relevant ist. Das liegt an ihrem Naturverständnis, glaube ich. Mecke: Sie haben gerade erwähnt, dass Sie die Dialoge für gelungener halten. Jetzt schließt sich die Frage an, ob es für Sie besondere technische Schwierigkeiten bei der literarischen Umsetzung der Dialoge gab? Worauf haben Sie dabei besonders geachtet? Hampe: Eine der Schwierigkeiten betrifft die elegischen Proömien, wo es um die Geschichte der Elemente geht. Da war das Hauptproblem, Schwülstigkeit zu vermeiden. Es gibt so etwas wie eine Tragik der Elemente, die teilweise mit dem Ökologischen zu tun hat, teilweise aber auch damit, dass die Elemente gar keine richtigen Elemente mehr sind. Dass man das plastisch vor Augen führt, aber nicht in Gejammer ausartet, das fand ich nicht so leicht. Bei den Dialogen muss man sich einfach in die Figuren hineinsteigern, und das ist etwas, was ich dauernd im Hörsaal machen muss. Wenn ich Kant oder Descartes referiere, muss ich mich in diese Autoren hineinsteigern, damit ich sie so darstelle, dass die Studierenden es in der Vorlesung zunächst möglichst plausibel finden. Das fand ich nicht so schwierig. Was ich schwierig fand, war, dass man immer an verschiedenen Enden schreibt – mal im ersten, mal im mittleren, mal im letzten Dialog. Das wächst erst langsam zusammen, weil einem zu den unterschiedlichen Stellen zu unterschiedlichen Zeiten etwas einfällt. Bei einer Monographie kann man quasi deduktiv herunterschreiben: Der hat das gezeigt – und der hat das gezeigt; und darauf dann

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aufbauen. Aber das geht bei so einem Gespräch nicht, weil das ja eine gewisse Intensität haben soll; die Erwiderung, was X auf Y sagt, soll interessant sein. Es gibt manche Passagen, wo ich das nicht machen musste, wenn beispielsweise über das Leben von Tesla berichtet wird. Oder wenn erzählt wird, was in Tunguska passiert ist. Das sind narrative Passagen. Aber wenn sie sich streiten, dann dauert es eine Weile, bis einem die Erwiderung, die sich auch agonal liest, einfällt. Da muss man Geduld haben und an verschiedenen Stellen arbeiten, wenn einem dann zufällig nachts einfällt, was Feierabent da sagen könnte. Und das fand ich nicht von der Kreativität, sondern vom Organisatorischen her mühsam, wie man das Ganze zusammenhält, es einem nicht um die Ohren fliegt. Mecke: Gerade bei den nicht-dialogischen Teilen, hatten Sie dafür literarische Vorbilder? Ich persönlich habe mich stark an W. G. Sebald und an seine Bildermontagen erinnert gefühlt. Hampe: Ja, W. G. Sebald ist sicher ein Autor, der, was Naturbeschreibungen angeht, diesen Ton ideal trifft. Er hat ja auch so einen elegischen Ton – ohne dass ich finde, dass das sentimental wird. Das gibt es auch im neunzehnten Jahrhundert, zum Beispiel bei Stifter; seine Naturbeschreibungen haben teilweise auch etwas Elegisches. Aber es gibt in meinen Augen nicht viel gute Prosa über die Natur im zwanzigsten Jahrhundert, Christoph Ransmayr natürlich. Vielleicht kenne ich aber auch nicht genug. Aber mit W. G. Sebald liegen Sie ganz richtig. Das ist ein Autor, den ich sehr schätze und der sicherlich, weil ich »Die Ausgewanderten« und »Austerlitz« mehrmals gelesen habe, einen stilistischen Einfluss hat. Aber ich behaupte nicht, dass ich machen kann, was Sebald kann.

Zur Intensität ästhetischer Erfahrung Heydenreich: Da ist die Stimme eines weiteren Künstlers, die durchdringt: Tarkowski, genauer: sein Film »The Stalker«. Inwiefern tragen Ihrer Ansicht nach Kunstwerke zur Perspektivierung oder zur kulturellen Deutung solcher vermeintlichen Naturkatastrophen bei? Insofern, als man die Bilder in ihrer ästhetischen Geformtheit im Kopf trägt und diese somit auch zu einer Art von Erkenntnis beitragen? Hampe: Das ist eine schwierige Frage, weil sie das Problem der Intensität der ästhetischen Erfahrung berührt. Das wird heute manchmal durch dieses etwas deplatzierte Wort ›spannend‹ kaschiert. Man sagt: Ein Buch ist spannend. Aber das gilt ja eher nur für einen Plot, was ein Spannungsbogen in einem Handlungszusammenhang ist, kaum für Naturbeschreibungen. Wenn die Filmfiguren in Tarkowskis Film durch die Landschaft laufen und dieses Lot werfen und hinterherlaufen, dann findet da ja nicht viel Handlung statt. Aber es ist dennoch

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eine intensive ästhetische Erfahrung. Was in einem Film oder einem Text dazu beiträgt, dass man zu einer intensiven ästhetischen Erfahrung kommt, kann ich gar nicht sagen. Ich merke erst, wenn ich selbst so etwas zu produzieren versuche, dass ich das nicht technisch machen kann. Wenn ich den eigenen Text wieder anschaue und mich frage, ob mich das langweilt oder nicht, dann erkenne ich, dass ich es noch einmal schreiben muss. Bei einer akademischen Zweckschrift kann man ja sagen: ›Das ist egal, denn die Sache stimmt – die Gutachter müssen sich auch langweilen.‹ Da kann man vielleicht sogar sagen: ›Es ist eine Tugend des Textes, dass er langweilig ist.‹ Aber was die Fähigkeit, etwas zu erkennen, angeht: Wenn man sagt, es gibt so etwas wie einen Erkenntnisprozess, der nichts mit Erklärung zu tun hat, sondern der sich damit einstellt, wenn ich plötzlich Aspekte von etwas wahrnehme, die ich vorher nie gesehen habe – mir wird eine Person oder eine Situation oder eine Ehe oder eine Landschaft, die ich schon gesehen habe, geschildert – aber das, was ich in der Schilderung wahrnehme, habe ich vorher so noch nie gesehen. Diese erkenntniserweiternde Funktion ästhetischer Darstellungen ist nur dann gegeben, wenn das Kunstwerk eine entsprechende Intensität erzeugt. Wenn man gespannt ist und weiterblättert oder das Bild immer wieder angucken will. Oder einen Film noch mal und noch mal sehen möchte, und dann sieht man immer mehr an Details. Wenn das ein philosophischer Text schafft, dass er diese Intensität erzeugt, die ich eben nicht gerne ›spannend‹ nennen wollen würde, dann kann er beim Leser auch Erkenntnisse hervorbringen, die nichts mit Erklärungen zu tun haben. Dass man sagt: Ach ja, so ist das mit dem Naturverständnis! Aber ich kann nicht sagen, wie das geht. Ich kann nur sagen, wenn ich meinen eigenen Text wieder gelesen habe, habe ich mich gefragt: Muss diese Zeile da stehen oder ist das langweilig? Und wenn es nur einen Hauch von Ödnis für mich selbst gegeben hat, dann habe ich sie weggestrichen oder anders geschrieben. Das muss man dann eben solange machen, bis es hoffentlich keine Zeile mehr gibt, die man selbst langweilig findet. Mecke: Aber trotzdem sehen Sie offensichtlich in der Poetisierung von Wissenschaft dann schon einen Mehrwert, eben zum Beispiel durch die Erzeugung dieser Intensität. Hampe: Ja, man sieht irgendetwas, was man zuvor nicht gesehen hat. Das kann man dann Mehrwert nennen. Das ist, wie wenn man reinzoomt mit einem Objektiv. Man sieht immer noch den gleichen Baum, aber jetzt zoome ich mit dem Teleobjektiv ran und plötzlich sehe ich viel mehr Details. Und das ist etwas anderes als zu erklären.

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Mecke: Sie haben bereits erwähnt, dass »Tunguska« zwar ein fiktionaler Text ist, aber kein Roman. Es ist aber auch kein Sachbuch. Sondern es ist ein literarischer Text, in dem auch etwas vermittelt werden soll. Und ich denke, der Reiz besteht für mich vor allem darin, dass es ein Wissenschaftler tut, ohne über die Vermittlungsinstanz eines Wissenschaftsjournalisten, eines Feuilletonisten oder eines Essayisten zu gehen, sondern dass er es direkt aus seinem Denken umsetzt in Metaphern – in Stilmittel. Darauf bezog sich eigentlich der Mehrwert. So, meine ich, konnten das nur Sie als Experte schreiben, nicht aber ein Sachbuchautor, oder? Hampe: Bei einem Sachbuchautor – habe ich den Eindruck – geht es darum, dass es bestimmte Technikalia einer Wissenschaft gibt und dass diese Technikalia ein gewisses Training voraussetzen, dass man diese wieder mit einem bestimmten Training nachvollziehen kann, dass man aber die Inhalte weitergeben möchte, auch an Leute, die diese Technikalia nicht beherrschen. Und das spielt in diesem Buch überhaupt keine Rolle, weil es gar nicht um Technikalia geht. Es geht nirgends darum, Technikalia zu vermeiden. Deshalb stimme ich Ihnen gerne zu: Es ist kein Sachbuch. Es geht eher darum, dass man das Reflexionsniveau, das in einzelnen Wissenschaften vorhanden ist, anhebt. Dadurch, dass man eine Gesprächssituation erzeugt, die es innerhalb dieser Wissenschaften so nicht gibt. Das ist der Vorteil eines Totengesprächs. Sie können beliebige Personen aufeinanderhetzen. Heydenreich: Aus verschiedenen Zeitaltern. Hampe: Ja, genau. Die Hure mit dem Kaiser und dem Philosophen, alle können im Jenseits miteinander reden. Und dadurch können sie problematische Dialogsituationen erzeugen, in denen sich keine Reflexionsspirale ergibt. Wo sie plötzlich über Dinge reden, über die sie – wenn sie nur die biologische oder physikalische Perspektive einnehmen würden – nie reden würden. Und das ist, finde ich, eine Aufgabe, die philosophische Texte haben müssen: das Reflexionsniveau zu heben. Dass Menschen sich in normativen, deskriptiven, explanatorischen Projekten – oft auch in politischen Zusammenhängen – diese Sachen zu einfach denken. Und das tun sie vielleicht aus Faulheit: ›Ich habe keine Lust mich mit diesen Komplexitäten zu beschäftigen . . . ‹ Oder aus Angst davor, dass ihr Verständnis für einen bestimmten Zusammenhang nicht ausreicht. Aber für das Durchschauen von Komplexitäten müssen sie die Denkfaulheit und das Unverständnis dadurch überwinden, dass sie eine bestimmte Klarheit und Intensität erzeugen. Manche philosophischen Texte schaffen das und manche schaffen es nicht. Insofern würde ich das als einen ganz normalen philosophischen Text ansehen, der versucht, das Reflexionsniveau über Naturverständnisse anzuheben. Auch bei Leuten, die keine Naturwissenschaftler sind. Aber auch bei den Naturwissenschaftlern selbst. Mit dem Ziel, dass sie sich hoffentlich in Zukunft

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nicht so grob gegenseitig über den Mund fahren. Nach dem Motto: ›Das, was ihr da macht, ist doch Murks.‹ Wenn man einmal sieht, wie komplex eine Sache ist, dann tut man das nicht mehr – man fährt sich nicht mehr so grob gegenseitig über den Mund. Die Politiker tun es ja auch nur während des Wahlkampfs, und dann wissen sie alle sofort wieder: Das ist alles viel komplexer, wir dürfen uns alle gar nicht so beschimpfen, wenn wir zu einer Problemlösung kommen wollen. Und da trägt, finde ich, die Philosophie geradezu zur Kultivierung der Verhältnisse bei, wenn sich das Reflexionsniveau bei möglichst vielen Leute, die sich mit einem Thema beschäftigen, hebt. Differenzen zu verstehen ist wichtig, wenn man ohne Konsens und ohne Streit an etwas arbeiten muss. Und bei ökologischen Problemen beispielsweise brauchen sie keinen Konsens zwischen den Naturverständnissen von Physikern und Biologen, aber Streit können sie natürlich auch nicht gebrauchen. Idel: Auch wenn Tscherenkovs letzte Worte sind: »Alles Gefasel!« (Tunguska oder Das Ende der Natur, 204) Also genau so, wie Sie es gerade beschrieben haben. Hampe: Das ist ja auch ein Impuls, den man haben kann – der mich auch manchmal befällt. Aber, wie gesagt, das Buch wäre dann theoretisch unendlich weiterschreibbar. Feierabent hätte jetzt auch sagen können: »Moment mal, wieso denn ›Alles Gefasel!‹ – hast du nicht vorhin . . . « Das bricht einfach nur ab; das hat dann auch Pfiff, wenn man es damit abbrechen lässt – oder? Schällibaum: Sie hatten die Lesegruppe erwähnt. Hat das auch hier, in Ihrem Umfeld an der ETH Zürich, konkrete Auswirkungen gehabt? Etwa die Erhöhung des Reflexionsniveaus? Oder dass man eher noch den Dialog gesucht hat? Hampe: So schnell wirkt so etwas nicht. Ich bin natürlich stolz, dass es so eine Lesegruppe gegeben hat, weil darin auch Vertreter unterschiedlicher Disziplinen dabei waren. Und ich war froh, dass der Physiker sich in Tscherenkov wiedererkannt hat und der Biologe in Bordmann. Das bestätigt einen als Autor natürlich darin, dass man die Perspektiven richtig getroffen hat. Ob sie sich dann – beispielsweise im Kampf um Drittmittel – gegenseitig weniger runtermachen oder ob dieser blödsinnige Kampf um die Leitwissenschaft abgestellt wird, das weiß ich nicht. Wenn ein Buch eine solche wissenschaftspolitische Wirkung haben soll, dann wird es ja sehr viel länger dauern als zwei, drei Jahre. Eine solche Langzeitwirkung erhofft man sich als Autor natürlich. Aber man sollte die Wirkung solcher Texte auch nicht überschätzen. Das ist ja auch an sich kontingent, wer sich darauf bezieht und welche wissenschaftspolitische Wirkung der Text entfaltet.

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Zum Erkenntniswert von Fiktionen in den Naturwissenschaften Heydenreich: In »Tunguska« beginnt der Dialog zwischen den Wissenschaftlern und Philosophen mit der Erzählung von Erinnerungsfragmenten von Zeitzeugen. Gleich zu Beginn wird die Unterscheidung zwischen Faktualität und Fiktionalität erörtert, bis hin zur selbstreflexiven Problematisierung der Ontologie der Figuren, die sich zum Teil selbst zu ihrem Status als Stimmen, Artefakte, ästhetische Konstrukte bekennen. Wieso ist die Problematisierung von Fiktionalisierungsstrategien so wichtig in einem Dialog mit wissenschaftsphilosophischem Schwerpunkt? Welcher ist der Mehrwert der Fiktionalität für die Hebung des Reflexionsniveaus? Hampe: Ich glaube, dass die Fiktion außerhalb der Literatur stark unterschätzt wird. Das kommt in diesem Buch nicht vor, dass es beispielsweise einen großen Bereich der juristischen Fiktion gibt. Leibniz hat das ausführlich behandelt, dass in Gerichtsprozessen dauernd normative Fiktionen produziert werden, von der vernünftigen Person ausgehend, indem man sich fragt: Was würden normale Eltern in diesem Fall tun? Und so weiter. Diese Fiktionen werden teilweise sogar gutachterlich abgesegnet, Gutachten in denen beispielsweise das Verhalten eines Angeklagten abgeglichen wird: ›Würde eine normale Mutter ihren Säugling zwölf Stunden unbeaufsichtigt lassen?‹ Die ›normale Mutter‹ ist quasi eine statistische und normative Fiktion, und das kann dann bei der Bewertung im Gericht eine große Rolle spielen. Dann gibt es einen großen Bereich der Fiktionalisierung von Naturprozessen in Simulationen. Da werden bestimmte Faktoren als relevant oder als nichtrelevant angesehen, und dann lässt man einen Algorithmus laufen und macht ein Klimamodell. Oder man modelliert irgendeinen Festkörper, um herauszufinden, wie elastisch er ist. Auch eine Computersimulation ist meiner Ansicht nach eine Fiktion. Man probiert aus, was passiert, wenn soundso viele Algen im Ozean wären oder wenn das Eis in Grönland schmelzen würde. Ich glaube, dass das, was in Romanen von Dostojewski passiert, etwas ganz Ähnliches ist wie eine Simulation. Nur lässt man keinen Algorithmus laufen, sondern man lässt Figuren laufen. Darum geht es, wenn die Figuren in »Tunguska« über ihren eigenen Status nachdenken. Die Dialogsituation ist eine philosophisch-literarische Simulation. Und die Figuren lasse ich das erahnen, damit der Leser erahnt, was für ein Setting das ist. Wenn Sie den Ton der Figuren einmal haben, entwickeln die eine ganz merkwürdige Selbstständigkeit. Sie haben das Gefühl, dass Sie einfach nur notieren, was mit den Figuren passiert. Da ist man einfach nur noch ein Stenograph dieser Figuren. Es läuft dann eine Begriffssimulation, also kein Algorithmus, aber es ist auch eine Simulation.

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Ob ich jetzt sage, ein Roman – Goethes »Wahlverwandtschaften« oder Max Frischs »Stiller« – ist eine Ehesimulation, oder ob ich sage, die Simulation ist eine Klimafiktion, das ist mir eigentlich egal. Aber ich glaube, dass es da einfach eine große Ähnlichkeit zwischen den Naturwissenschaften und der Literatur gibt, die in der Regel nicht gesehen wird. Man könnte einwenden, dass die Naturwissenschaften exakt seien und die Literatur Phantasie sei. Aber das stimmt nicht, glaube ich. Sie probieren Konstellationen aus, Sie drehen an bestimmten Schrauben in Experimenten oder in Computersimulationen und hoffen, dass das irgendetwas mit der Wirklichkeit zu tun hat. Und wenn der Roman gut ist und Sie bei Ihren Figuren das richtige Feintuning am Anfang gefunden oder genug recherchiert haben, dann wird er etwas mit der Wirklichkeit zu tun haben. Und dann sagt man: ›Ja tatsächlich, wie das da mit der Julika Stiller-Tschudy ist, so ist das auch mit meiner Frau.‹ Und dann sehen die Leser etwas aus diesem Eheroman in ihrer eigenen Ehe. Und so ist das auch mit der Klimasimulation. Mecke: Ja, das ist uns bei vielen Autoren schon begegnet, dass sie Gedankenexperimente als Brücke zwischen Physik bzw. Naturwissenschaften und Literatur betrachten. Sie bezeichnen Gedankenexperimente als logisch kontrollierte Fiktionen. Sehen Sie dann trotzdem noch einen ontologischen oder epistemologischen Unterschied in der Fiktionalität von physikalischen und literarischen Gedankenexperimenten? In »Tunguska« wird ja auch über inflationäre Modelle, über Quantenfluktuationen gesprochen. Hampe: Ein wesentlicher Unterschied ist, dass es heute in der Naturwissenschaft Simulationen gibt, die algorithmisiert sind. Dort muss man nicht auf die Semantik von irgendwas achten, sondern man lässt einen Algorithmus laufen und weiß, was er bedeutet. Und wenn man sich das Ergebnis anschaut, nachdem der Algorithmus eine Weile gelaufen ist, dann weiß man, was rausgekommen ist. Der Computer weiß das nicht, sondern der transformiert einfach nur den Algorithmus. Das kann man natürlich bei einem semantischen Gedankenexperiment nicht machen. Ich kann den Roman keiner Maschine übergeben. Das ist die Schwäche der Literatur. Das wird in John M. Coetzees Roman »Elizabeth Costello« problematisiert: Da sagt das Elizabeth Costello am Ende selbst. Die Protagonistin ist Schriftstellerin, die lauter Vorträge hält und sie gerät am Schluss in eine Kafka-Situation. Sie steht vor einem Tor und da wird sie nur durchgelassen, wenn sie aufschreibt, wovon sie wirklich überzeugt ist. Und dann sagt sie, sie möchte von dieser Hürde befreit werden, aufzuschreiben, wovon sie überzeugt ist, weil sie als Schriftstellerin keine Überzeugung hat. Sie hört nur Stimmen, sagt sie. Das klingt jetzt ganz bescheiden, aber die Fähigkeit, Stimmen zu hören, ist natürlich bei unterschiedlichen Leuten unterschiedlich ausgeprägt. Manche hö-

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ren die Stimmen sehr deutlich und manche hören sie nur sehr undeutlich. Und überzeugende, vielstimmige Romane haben – glaube ich – damit zu tun, dass manche Personen irgendwie eine große semantische Kraft haben und ganz kontroverse Sachen sehr deutlich hören können, oder wahrnehmen können, in ihrer Imagination. Und das macht – glaube ich – den Unterschied zwischen guter und schlechter vielstimmiger Literatur aus. Dass manche in der Lage sind, Gegensätze besonders prägnant wahrnehmen zu können, und manche weniger; oder es gerne hätten, aber nicht hinkriegen. Aber eine Schriftstellerin, die in sich bestimmte kontroverse Stimmen vernimmt, ist natürlich etwas anderes als ein Computer, in dem ein Algorithmus läuft. In der Schriftstellerin läuft eine Simulation und in dem Computer auch. Aber die Schriftstellerin deutet selbst diese Simulation, in dem Moment, in dem sie sie aufschreibt. Es ist einmal eine Simulation mit Bedeutungen und Affekten und einmal eine mit Gleichungen, die für den Computer selbst nichts bedeuten, sondern die der Physiker, der auf den Bildschirm oder den Ausdruck schaut, erst deuten muss. Mecke: Nun gibt es jetzt aber auch semantische Gedankenexperimente in der Physik, alles was Einstein mit seinen Fahrstuhl-Gedankenexperimenten gedacht hat, aber auch das Reden von kosmologischen Modellen – da existiert ja kein Algorithmus, sondern es sind fiktionale Gedankenexperimente in der Physik. Hampe: Und gibt es da so etwas wie eine besonders prägnante Darstellung? Ich meine, es gibt doch schon einen formalen Apparat dahinter. Es gibt Feldgleichungen oder so etwas, die ich deuten kann – und dann setze ich soundso viel Materie ein und dann gibt es ein anderes Bild des Universums. Und gibt es da nicht auch prägnante und nicht-prägnante Bilder? Mecke: Sicherlich, das Ziel ist immer, eine mathematische Modellierung zu finden, daraus ergibt sich ein Kalkül. Und das ist dann gewiss auch der Grund, warum sich viele Physiker mit Gedankenexperimenten gar nicht mehr beschäftigen, wenn sie erst einmal im Kalkül sind. Mir scheint eigentlich, dass sich da eine Verarmung der Physik oder der Naturwissenschaft vollzieht. Weil man sich dann immer nur auf den mathematischen Kalkül konzentriert. Was mich ja eigentlich interessiert, ist der Erkenntniswert oder die Erkenntnisweise durch noch nicht mathematisierte Gedankenexperimente. Hampe: Ja, da weiß ich einfach zu wenig darüber, wie die Semantik der nichtformalisierten Physik funktioniert. Bob Laughlin sagte hier an der ETH beispielsweise, man müsse sich das Vakuum so wie eine Glasscheibe vorstellen. Ich weiß, dass das irgendetwas damit zu tun hat, dass er Festkörperphysiker ist. Ich weiß auch, dass es irgendetwas mit Quantenschaum zu tun hat. Aber was das jetzt bedeutet, sich das Vakuum wie ein Glas vorzustellen, das verstehe ich einfach nicht. Und das liegt, glaube ich, daran, dass mir der Übergang zum Formalismus

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fehlt. Mir fehlt die Einsicht, was das bedeutet, das Wort ›Glas‹ zu benutzen, in Bezug auf welchen Teil des Formalismus? Ist das jetzt eine Metapher, eine Veranschaulichung oder was ist es? Er behauptete beispielsweise, dass das Gedankenexperiment von ›Schrödingers Katze‹, die vergiftet wird, gegen Schrödingers Intention diskutiert wird. Dass Schrödinger damit eine Absurdität zeigen wollte – und dann ist es in der Rezeption als ein zu lösendes Rätsel aufgefasst worden. Und da hat sich in seinen Augen die Metapher verselbstständigt. Aber auch zu diesem Kommentar kann ich gar nichts sagen, weil ich dafür eine eigene Meinung zur Quantenmechanik haben müsste. Aber meine Meinungen zur Quantenmechanik finden eben nur auf der Ebene von Beispielen wie ›Schrödingers Katze‹ statt. Und da finde ich, ist das Intrikate der Physik, dass diese Veranschaulichungen offenbar eine große kreative Funktion haben, die sich aber nur dem erschließt, der beides kennt: den Formalismus und die Veranschaulichung. Während man als populärwissenschaftlich Rezipierender, wie ich, nur die Veranschaulichung kennt. Und man denkt, man könnte sich dann auch den Formalismus sparen. Aber ich glaube, den Pfiff der Veranschaulichung versteht man deshalb gerade nicht. Mecke: Aber Bob Laughlin ist gerade ein sehr schönes Beispiel, denn wenn ich ihn richtig verstehe, sieht er sich eigentlich doch als eine Gegenfigur zu Steven Weinberg. Er vertraut auch nicht der Abschließbarkeit der mathematischen Kalküle. Sondern er betont immer die Wichtigkeit von Epiphänomenen, die einen unabschließbaren Forschungsprozess ermöglichen – oder notwendig machen. Er bestreitet zum Beispiel völlig, dass die Kenntnis der subatomaren Dynamiken von Quarks und Elektronen uns irgendetwas über die Physik des täglichen Lebens erklärt. Zum Glück ist die Physik des täglichen Lebens völlig unabhängig von dem, was auf der subatomaren Skala passiert. Und das sind für ihn typische Beispiele für Epiphänomene, für die dann auch wieder eine eigene Wissenschaft zuständig ist, mit einer eigenen Semantik, mit eigenen Gedankenexperimenten, die fundamental wichtig sind. Hampe: Ich habe ihn auch genau so wahrgenommen, aber was ich meinte, war, dass ich glaube, dass er mathematisch denkt. Auch wenn er nicht an die Weltformel oder an den Reduktionismus glaubt, habe ich den Eindruck, dass er, wenn er nachdenkt, in physikalischen Theorien nachdenkt, und dann guckt er, was das eigentlich bedeutet. Das ist so ähnlich wie in der Philosophie und vielleicht ein Unterschied zur Fiktion in der Literatur. Sie denken über ›esse‹ und ›percipi‹ nach, und dann denken Sie darüber nach, ob eine Qualität zweimal oder nur einmal instanziiert ist, und dann sagen Sie: Rot zweimal zu instanziieren, ist eigentlich eine Verschwendung nach dem Ockham’schen Prinzip, also instanziieren wir es nur einmal – daraus folgt: ›esse est percipi‹.

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Und was bedeutet das? Alles ist eine Wahrnehmungsqualität. Und dann schreit die Öffentlichkeit auf, wie bei ›Schrödingers Katze‹: schlimmer Idealismus! Aber Sie haben nur ein bisschen an begrifflichen Schrauben gedreht, und dann kommt eben raus: ›esse est percipi‹. Und ich habe den Eindruck, dass Laughlin auch so denkt. Er dreht an irgendwelchen mathematischen Schrauben in der Festkörperphysik, und dann kommt eben raus, dass das Vakuum ein Schaum oder ein Glas ist. Ich verstehe aber nicht, an welchen Schrauben er auf der Ebene der Mathematik gedreht hat. Weil ich nicht mathematisch denke.

Mathematische Modelle und Messerzählungen Mecke: Ich glaube, dass das auch gar nicht notwendig ist. Es wäre erstaunlich, wenn er als theoretischer Physiker nicht von mathematischen Modellen aus denken würde. Nach meinem Verständnis ist Physik ein zweiteiliger Prozess. Erst der zweite Teil ist die mathematische Modellierung, wo man mit einem Kalkül arbeitet. Der erste Prozess ist eher auf Phänomene orientiert, die es zu beschreiben gilt, wofür es Messhandlungen zu entwickeln gilt, die dann die Phänomene mit Zahlen verbinden. Und erst diese Zahlen ermöglichen dann epistemologisch einen Schritt in die Mathematik, weil die Zahl eigentlich eine Doppelbedeutung hat: zum einen als Ergebnis einer Messhandlung, dass ich eine Skala habe, die ich ablesen, die ich niederschreiben kann, und auf der anderen Seite natürlich als ein Objekt in einem mathematischen Modell. Hampe: Um in der Lage zu sein, in mathematischen Modellen zu denken, müssen Sie ein solches Vertrauen in die Mathematik haben, dass Sie sich von ihr führen lassen. Wenn man nicht in Messprozessen erlebt hat, dass immer wieder bestimmte Zahlen vorkommen, wie ›c‹ und ›h‹, und dass die Vielfachen davon auch immer wieder vorkommen, dann hat man nicht genug Respekt vor den Zahlen, um sich von ihnen führen zu lassen. Das gibt es in der Philosophie auch. Warum ist dort immer von ›Sein‹, ›Kausalität‹ und so weiter die Rede? Weil man merkt, dass, wenn Sie an diesen begrifflichen Schrauben ein bisschen drehen, plötzlich die ganze Weltwahrnehmung kippt. Das sind unglaublich wichtige begriffliche Elemente, an denen unsere Weltwahrnehmung hängt, so ähnlich wie an den Naturkonstanten für die Physiker die mathematische Weltwahrnehmung hängt. Und wenn man diese Erfahrung gemacht hat, dass es solche Großschrauben gibt, dann lässt man sich vom Begriffsapparat führen. Oder man lässt sich vom mathematischen Formalismus führen und sagt, wir können nicht einfach ›h‹ streichen! Die Planck’sche Konstante, die gibt es – was auch immer das bedeutet, dass es sie gibt. Mir fehlt diese Erfahrung. Es ist mir oft berichtet worden, dass man dann

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völlig erstaunt ist, wie sich aus ›h‹ und ›e‹ plötzlich was anderes ergibt. Laughlin hat über Klaus von Klitzing gesprochen, wie bedeutsam der Klitzing-Effekt war. Von außen könnte man ja sagen, der hat doch nur ein bisschen gemessen, und immer dasselbe gemessen, so what! Aber wenn man das nachvollziehen kann, ist das beeindruckend. Genauso, wie es beeindruckend ist, dass x-verschiedene Philosophen – auch wenn sie sich nicht gegenseitig wahrgenommen haben – immer wieder auf die gleichen begrifflichen Grundstrukturen kommen. Manche sagen dann, das gibt es wirklich, diese begrifflichen Grundstrukturen oder Zahlen, die muss es wirklich geben. Dann tritt so etwas ein, dass man darauf hört, was die Begriffe sagen oder was der Formalismus sagt. Das ist, glaube ich, in der Literatur in dieser Allgemeinheit so nicht vorhanden. Da hat man vielleicht das Erlebnis, diese Charaktere sind plausibel und die lasse ich jetzt mal für sich laufen. Aber es ist bei jedem Buch etwas anderes und das gibt es nicht für die Literatur als Ganzes. Vielleicht gibt es so etwas wie Motive, die eine ähnliche Kraft haben wie Naturkonstanten, wie das Odysseus-Motiv zum Beispiel. Insgesamt habe ich den Eindruck, dass die Objektivität und die Allgemeingültigkeit von Philosophie und Wissenschaft damit zu tun haben, dass es mathematische und begriffliche Strukturen gibt, auf die man immer wieder kommt und die man nicht einfach über Bord werfen kann, die sich immer wieder aufdrängen, während das Personal, die Charaktere, die in der Literatur miteinander reden oder handeln, jeweils verschiedene sein können. Dann kommt es darauf an, ob sie in diesem Buch plausibel sind. In einem anderen Buch können ganz andere Charaktere auftreten. Heydenreich: In der »Kleinen Geschichte des Naturgesetzbegriffs« machen Sie auch die wichtige Unterscheidung zwischen dem explanatorischen und dem erzählenden Erkenntniszugang. Sie schreiben dem erzählenden Zugang die Möglichkeit zu, Erkenntnisse an den Tag zu fördern, indem er durch analogische Prozesse NeuPerspektivierungen ermöglicht, die neue Einsichten in komplexe Sinnzusammenhänge plausibel machen. Haben Sie den Eindruck, dass das auch auf breiterer Basis für die Wissenschaftsphilosophie fruchtbar gemacht werden kann? Hampe: Vielleicht habe ich mich nicht genug umgetan, aber ich sehe noch keine bestehende Theorie, die zeigt, inwiefern semantische Verknüpfungen, die in Fiktionen produziert werden, ein kreatives Potential entwickeln, das dann anschlussfähig ist, und wie sich das von dem nicht anschlussfähigen kreativen Potential unterscheidet. Wenn wir uns in der Perspektive von Goodman bewegen, da wird nur gesagt, dass das, was anschlussfähig ist, eine ›world view‹ ausmacht. Aber von meiner eigenen Rezeption her habe ich den Eindruck, man merkt es schon, bevor man von der Anschlussfähigkeit weiß, ob es anschlussfähig sein wird.

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Natürlich kann man sagen, wenn man weiß, dass Kafka und Musil ganz bedeutende Folgen gehabt haben, dann lese ich das vielleicht auch viel aufmerksamer und dann sehe ich darin auch mehr. Aber man liest ja auch Gegenwartsliteratur, von der man noch nicht weiß, ob sie Folgen haben wird oder nicht, und hat aber dabei schon das Gefühl, es funktioniert, es wird wahrscheinlich Folgen haben, wenn nicht in zehn Jahren, dann vielleicht in dreißig. Bei anderen hat man das Gefühl, es ist geblufft, es funktioniert eigentlich nicht, es wird keine Folgen haben. Ganz ähnlich hat sich Laughlin über die kalte Fusion geäußert: »Ich habe nicht verstanden, warum da alle drauf angesprungen sind. Das sah man doch sofort, dass das nicht sein kann.« Es besteht die Gefahr, aus der Goodman’schen Perspektive zu sagen, ob etwas eine fruchtbare Verknüpfung ist oder nicht. Das kann man erst sehen, wenn man gesehen hat, welche Folgen es hat. Leute, die sich in den Feldern bewegen, sehen das oft sofort, ob es funktionieren wird oder nicht, aber sie können oft keine Kriterien dafür angeben. Sie haben ein Gespür dafür, was ›fake‹ ist und was eine neue ›world view‹ sein wird. Heydenreich: David Davies hat sich über den Fiktionalitätsstatus von Gedankenexperimenten Gedanken gemacht, und darüber, was man aus der Literatur lernen kann. Er gibt natürlich zu, dass man aus dem, was man in literarischen Texten liest, keine Phänomene ableiten kann, die experimentell getestet werden können, also wiederholbar, messbar, reproduzierbar sind. Aber trotzdem ist es erstaunlich, dass es viele Menschen gibt, die einen gewissen Roman lesen und plötzlich nicht nur einen Wiedererkennungs-, sondern einen Lerneffekt haben. Es geht um dieses ›Umdenken‹, das trotz des subjektiven Zugangs doch intersubjektiv vermittelbar ist. Hampe: Dem würde ich völlig zustimmen, dass da etwas in dem Text vorhanden ist, das Personen, die aufmerksam lesen können, dann auch wahrnehmen; das aber verlangt, dass man sich auf den Text auf eine bestimmte Weise einlässt und die eigenen semantischen Gewohnheiten auch suspendiert. Das ist, glaube ich, genau dasselbe, was in der Wissenschaft passierte, als Descartes Geometrie und Algebra miteinander in Zusammenhang brachte und sagte, lasst uns doch ein Zahlentripel als einen Punkt ansehen, oder lasst uns einen Punkt im Raum als ein Zahlentripel ansehen – da brachte er Sachen miteinander in Zusammenhang, von denen die Leute sagten: Die gehören nicht zusammen! Dann müssen Sie natürlich zunächst Ihre semantischen Gewohnheiten suspendieren, um zu sehen: Wenn ich es so betrachte, dann passiert etwas ganz Aufregendes. Dann kann ich plötzlich Sachen auf eine Art und Weise beschreiben, wie ich sie vorher nie beschreiben konnte. Da gibt es erst mal einen großen Widerstand. Aber ich glaube, es gibt ein paar Leute, die semantisch locker genug sind, die sofort ahnen: Das, was der da vorschlägt, ist wirklich atemberaubend und da kann man die Welt plötzlich ganz anders sehen.

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Heydenreich: Ja, unter diesem Aspekt der metaphorischen Heuristik als epistemischen, kognitiven Prozess hatte ich gedacht, dass man Vergleichbarkeiten herstellen könnte. Hampe: Ja, das sehe ich genauso.

Interdisziplinäre Annäherungen an Naturgesetzbegriffe Mecke: Ich möchte nochmals auf die Naturgesetze und die Mathematisierung zu sprechen kommen. Mein Eindruck ist, dass wir weiterkommen könnten, wenn wir den Begriff des Naturgesetzes entkoppeln von seiner Mathematisierung. Sie haben ja soeben Descartes angesprochen, der ja gerade die Mathematisierung in der modernen Physik angestoßen hat. In »Tunguska« fokussieren Sie ja auf die Rolle von einmaligen, nicht wiederholbaren Ereignissen und stellen die Frage danach, wie diese Ereignisse mit dem Begriff der Naturgesetzlichkeit in Verbindung gebracht werden können. Wenn ich erst mal in einem mathematischen Kalkül bin, dann gibt es keine einmaligen Ereignisse mehr. Dann gibt es nur noch gesetzmäßige Notwendigkeit, einen Determinismus. Aber eigentlich erweist sich das auch als ein Taschenspielertrick. Führt man den mathematischen Kalkül ein, so hat man determinierende Gleichungen. Aber der Determinismus tritt ja nur dann auf, wenn ich beispielsweise alle Anfangswerte einer Gleichung kenne. Das heißt, man verschiebt das eigentlich. Wenn man diesen Schritt der Mathematisierung nicht macht, sondern einen Begriff der Naturgesetzlichkeit vor jeder Mathematisierung zu finden versucht, würde man dieser Falle entgehen, dass zwischen Naturgesetzlichkeit und Freiheit ein Widerspruch besteht, dass Naturgesetzlichkeit automatisch so etwas wie einen Determinismus implizieren würde. Für mich sagen Naturgesetze – und da passt eben auch die Bedeutung von nicht wiederholbaren Ereignissen hinein – etwas über die Redundanz der Wahrnehmung aus: dass ich etwas in verschiedener Art und Weise sehen, hören und messen kann, dass ich Krümmung messen kann, dass ich Energie messen kann – das sind alles Messhandlungen –, und plötzlich durch die Zahlen feststelle, dass es synonyme Begrifflichkeiten gibt. Krümmung ist Energie. Für die Feststellung solcher synonymen quantitativen Metaphern wie Energie und Krümmung ist eine Mathematisierung gar nicht notwendig: Naturgesetze würden dann nur Redundanzen der Erfahrung beschreiben. Was im Rahmen dieser Redundanzen dann an Phänomenen auftritt, wird durch Naturgesetzlichkeit gar nicht erklärt, nicht festgelegt. Hampe: Das ist eine interessante Perspektive. Obwohl ich mich mit den Naturgesetzen aus philosophischer Perspektive lange beschäftigt habe, habe ich mich um diese semantische Transformation von Begriffen innerhalb des Naturgeset-

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zes nicht gekümmert. Ich weiß natürlich, dass Naturgesetze als Definitionen auftauchen und deshalb da auch semantische Äquivalenzen stattfinden, aber dass man diese analogisch oder metaphorisch deuten kann, darauf bin ich bisher noch nicht gekommen. Sondern dieser Kontrast zwischen Tscherenkov und Feierabent in »Tunguska«, den habe ich als einen gedacht, der von nicht weiter rechtfertigbaren Grundüberzeugungen getragen ist, und die betreffen die Genauigkeit. Was ist eigentlich Genauigkeit? Tscherenkov glaubt, dass, wenn man ganz genau ist, man zu Strukturen kommt, die sich überall wiederholen. Das Genaueste, was wir haben, sind Naturkonstanten. Er ist also ein Pythagoräer, der die Einmaligkeit und die Unwiederholbarkeit als ein Phänomen des ungenauen Hinsehens ansieht. Wenn wir einen Körper ganz genau scannen, dann kommen lauter physikalische Naturkonstanten als die Elemente dieses Körpers raus. Und Feierabent ist jemand, der sagt, es ist genau umgekehrt. Wenn wir ganz genau sind, dann unterscheidet sich auch das Elektron Hans vom Elektron Fritz, weil es an einer anderen Raumstelle ist. Und nur die Oberflächlichkeit der Messapparaturen, mit denen wir an diese Gebilde herangehen, führt dazu, dass wir der Meinung sind, es seien nicht zwei verschiedene Individuen. Beide pochen also auf Genauigkeit: Der eine pocht gewissermaßen auf die Genauigkeit der Messoperation, der andere auf die Genauigkeit der Beschreibung des Individuellen. Ich habe bisher keine Möglichkeit gesehen, diese beiden Verständnisse von Genauigkeit anders miteinander in Zusammenhang zu bringen als mit einem ›clash‹. Ich glaube, dass sie nicht vereinbar sind. Die Dichtung geht in der Regel eher von der genauen Beschreibung des Individuellen aus, die explanatorische Naturwissenschaft dagegen von der Genauigkeit der Messoperation, die zwangsläufig – weil der Messapparat überall auf der ganzen Welt der gleiche sein muss – auf Allgemeinheiten zu sprechen kommt. Mecke: Man muss vielleicht die Erklärungskraft der Tscherenkovschen Genauigkeit infrage stellen. Was er eigentlich mit seiner Genauigkeit erreicht, ist nur eine Vervielfältigung der Freiheitsgrade in seinem mathematischen Modell. Und das erklärt gar nichts. Um zu erklären, wie ein Flugzeug fliegen kann, kann ich natürlich Naturgesetze anfügen – die erklären mir aber nur, warum das Flugzeug nicht abstürzt. Warum es fliegt, dafür muss ich erklären, wie der Pilot ausgebildet wurde, wer die Maschine dort hingestellt hat, wer es mit Kerosin befüllt hat . . . Man projiziert die Erklärung zurück auf irgendwelche vorhergehenden Prozesse und kommt so nie zu einem Ende. Hampe: Ich habe den Eindruck, dass viele theoretische Physiker sagen würden – Sie jetzt offenbar nicht –: Na ja, wie der Pilot ausgebildet wurde, ob das Flugzeug getankt wurde, das ist irrelevant. Das ist das, was noch dazukommt, wenn die Naturgesetze gelten . . . Aber würden zum Beispiel die Gravitationsgesetze nicht

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gelten, dann könnten Sie tanken und Piloten ausbilden, solange Sie wollen, aber das Ding würde einfach nicht abheben! Mecke: Worauf ich hinaus will, ist, dass all das erklärt, was geschieht. Es geschieht im Rahmen der Naturgesetze. Mit Naturgesetzlichkeit hat es aber überhaupt nichts zu tun. Die Naturgesetzlichkeit, die in dem Fall im Wesentlichen ausgenutzt wird, ist, dass Impulsströme und Kräfte äquivalent sind. Das kann man an verschiedensten Beispielen demonstrieren, ich kann einen Stein werfen oder ein Flugzeug starten lassen, aber letztlich ist das Naturgesetz beide Male genau das Gleiche. Hampe: Genau deshalb wollte ich den Tscherenkov sagen lassen: Ich interessiere mich nicht für das, was geschieht, sondern für das, was ist! In seiner Welt geschieht eigentlich gar nichts. Da gibt es ewige Zahlenstrukturen und Konstellationen von Naturkonstanten, und was dann noch geschieht, das ist sowieso unangenehm. Diese Sichtweise hat ja auch eine religiöse Komponente. Das, was er dann sagt, der ganze Quark mit den Lebewesen und den materiellen Transformationen, das ist ja eher bedrückend, weil es mit Zerstörungsprozessen und mit Leid verbunden ist. Wenn Sie sich nur auf der Ebene der Naturkonstanten und der Grundgesetze bewegen, dann verändert sich nichts, es stirbt niemand, es geschieht nichts, es hebt kein Flugzeug ab. Sie haben dann eine ewige Weltstruktur ohne Leid. Mecke: Ich würde hier strikt trennen zwischen Naturkonstanten und dem, was tatsächlich geschieht. Kein Physiker würde versuchen zu erklären, warum etwas geschieht. Ein Physiker versucht ja nur zu erklären, welcher der Rahmen ist, in dem etwas geschieht. Und da sehe ich keinen Widerspruch zu der Position eines Feyerabend. Hampe: Ich glaube, es hängt eben mit der Zeit zusammen. Deshalb dachte ich ja auch, dass ein Totengespräch besonders interessant ist. Wenn Sie die Zeit als physikalische Größe haben, dann passiert eigentlich nichts. Dann messen Sie einfach nur die Dauer von etwas, aber es geschieht nichts. In welcher Richtung Sie die Gleichung lesen, ob von rechts nach links oder von links nach rechts, das ist ja egal, auch wenn ›t‹ darin vorkommt. Aber wenn Sie sterben, ist es etwas anderes. Dann hat die Zeit für Sie eine andere Bedeutung. Es gibt dann einen endlichen Prozess, der einen Anfang und ein Ende hat, da erlebt man auch keine Transformation. Die Idee, dass man ein Totengespräch über die Natur führt, hat damit zu tun, dass für uns die Lebenszeit einerseits etwas mit der Materie zu tun hat, weil das Herz stehen bleibt oder das Gehirn ausfällt, wenn wir sterben; andererseits ist es kein bloßer physikalischer Prozess, weil wir dieses Gefühl der Gerichtetheit haben, das weit über die Gerichtetheit irgendwelcher thermodynamischer Beschreibungen hinausgeht.

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Deshalb dachte ich, dass das Geschehen, dass Personen sterben, für uns das eindrücklichste Geschehen ist und die Vorstellung zu leugnen, dass das geschieht, in diesem Fall die größte Unverschämtheit ist! Ein ordentlicher Tscherenkov müsste aber eigentlich sagen: Es geschieht nichts, wenn jemand stirbt. Jedenfalls auf der Ebene der physikalischen Gesetze passiert da nichts Wichtiges. Wenn man diese Zumutung zurückweisen will, muss man natürlich sehr viel zurückdrängen! Das zu sagen, ist unglaublich ungenau! Zu sagen, eigentlich ist gar nichts passiert, als deine Oma gestorben ist, das ist sehr oberflächlich. Wenn Messungen für alles, was die Naturkonstanten angeht, viel genauer sein sollen als alles Literaturwissen, aber nicht das Geschehen des Todes betreffen können, dann stimmt etwas nicht mit dieser Genauigkeit.

Ästhetische Erfahrung und experimentelle Erkenntnis Heydenreich: In »Eine kleine Geschichte des Naturgesetzbegriffs« gehen Sie an mehreren Stellen auf John Dewey ein. Eine besonders interessante Stelle für mich war die, in der es hieß, dass das Erkenntnisinteresse auch von einer bestimmten ästhetischen Erfahrung vorangetrieben wird – und zwar von der ästhetischen Erfahrung der Herstellung von Zusammenhängen, von Sinn und Bedeutung angesichts der kontingenten Zusammenhangslosigkeit. Was ist mit dieser ästhetischen Erfahrung gemeint? Sind Kunstwerke dabei auch anvisiert? Hampe: Ich glaube schon, dass es mit der Kunst zu tun hat. Es sind zwei Aspekte, die Dewey beim Experiment hervorhebt, nämlich erstens, dass das Experiment eine neue Erfahrung produziert, und zweitens, dass im experimentellen Setting alles miteinander zusammenhängt. Man muss das experimentelle Setting semantisch sehr genau eingrenzen: Der Tisch, auf dem die Apparatur steht, gehört natürlich nicht dazu, aber es gibt quasi nichts Überflüssiges. Der Versuchsaufbau am CERN wäre dann gewissermaßen wie ein Kunstwerk, in dem alle Maschinen miteinander zusammenhängen und wenn es dann auch noch Neues produziert, Higgs-Bosonen etwa, dann ist das toll, absolute Kohärenz und neue Erkenntnis. Ähnlich spricht man ja manchmal auch von Kunst: Da gibt es keine überflüssige Zeile in dem Gedicht, und als ich es zum ersten Mal gelesen habe, hatte ich eine neue Einsicht. Vielleicht gibt es im mathematischen Beweis dieses Phänomen ebenfalls. Wir sagen: ›Er ist elegant oder nicht elegant, es ist keine Zeile zu viel da, alles hängt miteinander zusammen, wenn ich diesen Beweis angucke, verstehe ich den Satz des Pythagoras viel besser, als wenn ich den anderen Beweis anschaue, deshalb schätze ich ihn besonders‹ usw. Das sind Phänomene, die Dewey nicht nur ineinander überblendet, sondern er behauptet, dass das sogar der

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Motivation des Wissenschaftlers zugrunde liegen würde. Er geht ins Labor, um ein solches Experiment herzustellen. Er will nicht irgendein Experiment herstellen, sondern er will das Experiment herstellen, in dem es keine Redundanzen gibt, und er will etwas Neues herstellen. Das fand ich relativ plausibel, auch vor dem Hintergrund der Experimente, die ich selbst in der Biologie gemacht habe: dass es da ein puristisches Motiv gibt und ein Streben nach Innovation. Das ist eine inhaltliche Ausfüllung der Vorstellung, dass Wissenschaft auch mit Schönheit zu tun hat, dass es schöne Experimente gibt, und dass Erkenntnis mit Schönheit zu tun hat. Heydenreich: Kennen Sie Richtungen der Wissenschaftsphilosophie, die sich damit ausführlicher beschäftigen? Hampe: Bei Stephen Toulmin spielt das noch eine gewisse Rolle, in der pragmatistischen Tradition. Gegenüber der Frage, wie macht das Wissenschaft, dass sie etwas erklärt, gilt das natürlich als ›weiche‹ Position, und man kann nicht richtig verständlich machen, warum ein bestimmtes Experiment eine solche Erklärungskraft hat gegenüber einem anderen Experiment, das sie nicht hat. Es kann nicht daran liegen, dass es so schön geschlossen ist, sondern es muss daran liegen, dass die richtigen Elemente ausgewählt wurden, die dann auf alles Mögliche andere übertragbar sind. Ich kenne jedenfalls keinen Text, der den Übergang von der Ästhetik eines gelungenen Experiments zu seiner Erklärungskraft hinbekommt. Idel: In der Mathematik gibt es tatsächlich eine Art Übergang. Man sagt, der Beweis ist deswegen schön, weil er die besonderen Elemente, die dazu führen, dass er funktioniert, besonders gut hervorhebt: dass er vielleicht besonders prägnant und klar zeigt, welche Sachen wichtig sind und andere Dinge, die in anderen Beweisen vorkommen, aber vielleicht nicht nötig sind, elegant umgehen kann. Hampe: Bei der Mathematik ist es unklar, was dort erklärt wird! Es ist eine sehr selbstbezogene Veranstaltung. Idel: Auch in anderen Bereichen stellt sich diese Frage; wir haben über die Mathematisierung, über die Formeln usw. gesprochen, aber nicht über die Mathematik an sich. Welche Erklärungsmacht hat die Mathematik? Über die Physik scheint sie eine zu bekommen, doch wie funktioniert das genau? Hampe: Es gibt eine bis heute andauernde pythagoräische Tradition in der Wissenschaft, die der Meinung ist, dass die Grundstrukturen der Wirklichkeit mathematische sind und dass sich daraus die Anwendbarkeit der Mathematik ergibt. Es ist also nicht ein Zufall, sondern auch, wenn man nicht mehr wie Kepler sagt, dass Gott, als er die Welt erschaffen hat, Mathematik betrieben hat, gibt es noch viele Leute, die der Meinung sind, dass die Grundstrukturen der Wirklichkeit eigentlich mathematische Strukturen sind, dass die richtigen Naturkonstanten der Beweis

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dafür sind. Die Konstanten messen wir, die haben wir nicht hervorgebracht, die kann man empirisch nachweisen, aus ihnen lassen sich kombinatorisch alle möglichen anderen Größen erzeugen – und die kann man dann auch wieder messen. Von Pythagoras über Platon bis zu Heisenberg und Carl Friedrich von Weizsäcker hat es immer wieder Leute gegeben, die das geglaubt haben. Und auf der anderen Seite gibt es Leute, die sagen, Mathematik ist einfach ein Symbolismus neben anderen. Wir haben bis zum sechzehnten Jahrhundert den Symbolismus einer irgendwie zurechtgestutzten Umgangssprache benutzt, um die Natur zu beschreiben, und ab 1600 benutzen wir einen anderen Symbolismus, der sich als explanatorisch erfolgreicher erwiesen hat. Vielleicht kommt in ein paar hundert Jahren noch ein anderer Symbolismus. Wegen des Pluralismus, der sich in der Mathematik im neunzehnten Jahrhundert entwickelt hat, mit euklidischen und nicht-euklidischen Geometrien, ist die Vorstellung, dass es eine mathematische Grundstruktur der Wirklichkeit gibt, sowieso nicht besonders plausibel, weil es inkompatible mathematische Systeme gibt. Ich selbst kann dazu nicht Stellung nehmen, weil ich nicht weiß, ob der mathematische Pluralismus auf irgendeine logische Super-Struktur zurückgeführt werden kann, wie das Russell und Whitehead geglaubt haben. Sodass quasi das Pluralismus-Argument kein Gegenargument ist gegen die Vorstellung, die Anwendbarkeit der Mathematik komme dadurch zustande, dass die Wirklichkeit aus Zahlen besteht – das weiß ich einfach nicht, wie plausibel der Logizismus heute noch ist. Mecke: Ich glaube, auch wenn man Russell und Whitehead folgen würde, würde man eine falsche Richtung einschlagen. Für mich wird die Mathematik dann pragmatistisch interessant, wenn man sich anschaut, dass die Zahl, die ja ein fundamentales Objekt in jeder formal-logischen Sprache ist, etwas ist, was mich mit meiner Lebenswelt verbindet. Denn Zahlen kann ich messen, Zahlen sind anschaulich, etwa wenn ich eine Kuhherde betrachte und einfach zähle. Da erweist sich eigentlich die Mathematik als eine besondere Symbolsprache, die eben gerade solch ein Handlungselement beinhaltet. Es ist nicht einfach nur eine formale Sprache, sondern eine Symbolwelt, in der gearbeitet wird. Was ich schade finde, ist, dass diese pragmatistischen Erkenntniseinstellungen eigentlich diese Bedeutung der Mathematik als Handlungswissen gar nicht in den Blick nehmen. Hampe: In Wittgensteins »Bemerkungen zu den Grundlagen der Mathematik« gibt es so etwas wie einen Pragmatismus der Mathematik. Das ist für mich etwas sehr Überzeugendes, aber mir sagen immer wieder Mathematiker, dass das der Vielfalt der mathematischen Kalküle nicht gerecht werde. Wittgenstein ist der Meinung, dass es so ein Geflecht von Einflussnahmen auf unsere – wie er es nennt – Lebensform gibt und dass zu diesem Geflecht der mathematische Kalkül dazugehört. Mit mathematischem Kalkül ist hier das bürgerliche Plus und

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Minus gemeint, schon nicht mehr die Infinitesimalrechnung. Und dass, wenn beispielsweise die Natur nicht so geschaffen wäre, dass wir starre Maßstäbe verwenden könnten, also wenn die Zollstäbe länger und kürzer würden und wir wie Quallen im Meer wären, dann hätten wir keine Messprozesse und auch keine Geometrie. Dass es also so eine naturale Grundlage der Plausibilität, beispielsweise der Geometrie, gibt. Und wenn wir nicht eine Lebensform wären, in der es Tauschhandel gäbe, hätten wir vielleicht auch keine Arithmetik entwickelt. Es ist also eine ethnopragmatistische Nobilitierung der Mathematik als etwas, das mit unserer Lebenswelt, in der es Festkörper und Tauschverhältnisse gibt, zusammenhängt: Ohne Festkörper keine Geometrie, ohne Tauschverhältnisse keine Arithmetik. Und weil wir diese Form zu leben fortführen wollen, drillen wir unsere Kids wie die Hölle darauf, keine Fehler zu machen. Wenn sie nicht richtig Latein und Englisch können, okay. Aber wenn sie nicht richtig addieren oder bei Pythagoras Fehler machen, dann werden sie ausgesondert. Und das liegt daran, dass das ganz elementar in unserer Lebensform vorhanden ist. Er behauptet nicht, dass die Mathematik die Grundstrukturen unserer Wirklichkeit beschreibt, sondern, dass wir in diesem pragmatistischen Sinne gar nicht wüssten, wie wir unsere Lebensform fortführen könnten, ohne Geometrie und ohne ›eins plus eins ist gleich zwei‹. Da müssten wir Quallen werden, oder Brennnesseln, die kommen vielleicht ohne das aus, aber wir nicht. Mecke: Es sind praktisch die erfolgreichen Messhandlungen, die . . . Hampe: . . . zur Wissenschaft führen, genau. Und irgendwann hebt die dann ab und hat gar nichts mehr mit unserer Lebensform oder nur noch mit der Lebensform von Mathematikern zu tun.

Der explanatorische vs. der erzählende Erkenntniszugang Heydenreich: Ich finde es interessant, dass Sie wiederholt – sowohl in »Eine kleine Geschichte des Naturgesetzbegriffs« als auch in »Tunguska« – den explanatorischen und den erzählenden Erkenntniszugang einführen. Sie erläutern dabei, dass die erzählende Erkenntnisform dazu führt, dass man Einzelereignisse, die man so nicht versteht, plausibilisieren kann. Und so wählen Sie für »Eine kleine Geschichte des Naturgesetzbegriffs« wie auch für »Tunguska« eine erzählende Zugangsweise und rechtfertigen sie damit, dass es nicht darum geht, allgemeine Gesetzmäßigkeiten erklärend darzustellen, sondern dass es auf entscheidende ›Ausnahmeereignisse‹ (zum Beispiel einen Meteoriteneinschlag) ankommt, die den Unterschied ausmachen. Den von den Menschen produzierten Erzählungen kommt die Funktion zu, die Veränderungen plausibel zu machen. Inwieweit unterscheidet sich diese These zum Beispiel von der Mythostheorie Hans Blumenbergs?

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Hampe: Ich habe das moderne Erzählen hier formal nur als einen Nachfolger des Mythos angesehen. Platon benutzt ihn in seinen Dialogen immer, wenn er sagt, ich weiß nicht mehr, wie ich begrifflich weiterkommen soll, also erzähle ich eine Geschichte. Im »Timaios« beispielsweise wird im eigentlich naturwissenschaftlichen Dialog ja auch ›nur‹ eine Geschichte erzählt, dass der Demiurg da etwas gemacht hat und er sagt: Es war nicht so. Die bedeutende Stelle in der »Politeia« – wo man immer sagt, er behauptet, dass es goldene Seelen, silberne Seelen und erzene Seelen gibt, und je nachdem, wie die Mischung ist, wird man Wächter oder Beamter oder Bauer –, das ist auch nur eine Geschichte. Wir wissen nicht, wie es kommt, dass einer die Einsicht hat und der andere nicht. Aber die folgende Geschichte könnte es plausibel machen. Die Geschichte ist eine Erklärung, die da eintritt, wo man das Gefühl hat, man muss etwas verständlich machen, aber die kognitiven Mittel, die man eigentlich schätzt, reichen nicht aus, um das verständlich zu machen. Ich denke, das ist etwas, das bis heute gilt. Ich glaube beispielsweise, dass die kognitiven Mittel der Soziologie und der Psychologie immer noch nicht ausreichen, um aus einer Theorie heraus das in den menschlichen Interaktionen verständlich zu machen, was uns vor allem interessiert und was die Geschichtenerzähler ohne Schwierigkeiten thematisieren können. Die Geschichten sind den Theorien dieser beiden Wissenschaften immer noch überlegen, was das Erzeugen von Verständnis angeht. Bei der Natur ist es aber eher umgekehrt: Da haben wir das Gefühl, es gibt kaum noch die Möglichkeit, erzählerisch die Naturwissenschaften in der Förderung unseres Verständnisses zu übertreffen, es sei denn, man hat diese Feyerabend’sche Voraussetzung, dass wir eigentlich in der Natur auch nur lauter Einzelheiten haben. Damit wird der Naturbeschreibung natürlich ein Trumpf zugespielt, dass man sagt: Die Beschreibung eines Waldes oder eines Flugzeugstarts ist das, was eigentlich verständlich macht, was hier passiert, und nicht die Aerodynamik oder die Botanik. Heute sind die Karten kulturell unterschiedlich gemischt. Ich denke, man würde relativ viel Zustimmung finden, wenn man sagt, Romane haben eine Erklärungsfunktion im sozialen und psychologischen Bereich. Aber wenn Sie öffentlich äußern würden, auch die Natur erkennen wir erzählerisch besser, da würden wohl viele fragen, ob das stimmt . . . Ich denke, es hängt davon ab, welche kognitiven Mittel gerade erfolgreich sind. Worauf die empirisch arbeitenden Soziologen und Psychologen setzen, sind ebenfalls Experiment und Messung, Messungen mit Fragebögen. Die narrative Soziologie ist eine Außenseitersache. Ich habe das Gefühl, dass auch die Computersimulationen in den Sozialwissenschaften noch nicht so erfolgreich sind wie die Simulationen, die in Romanen passieren, wenn fiktionale Personen aufeinander losgelassen werden.

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Mecke: In Bezug auf das Bild, das hier über die Naturwissenschaften gezeichnet wird, würde ich widersprechen wollen: Mir scheint es, dass insbesondere in der Naturwissenschaft die Vielfalt der Phänomene und die Vielfalt der Geschichten, die über diese Phänomene erzählt werden können, geradezu explodiert ist. Wir entdecken neue Materie, neue Arten in der Biologie, neue Sterne, neue subatomare Teilchen. Eine Hauptaufgabe oder eine der ehrenvollsten Aufgaben der Naturwissenschaft ist ja gerade die Entdeckung der Vielfalt der Phänomene und gar nicht die Reduktion! Hampe: In der Physik habe ich das von außen auch so wahrgenommen, wie Sie das jetzt schildern. In der Biologie habe ich selbst noch studiert, als es Botanik und Zoologie gab, und ich habe noch mit Leuten in einer Zoologie-Vorlesung zu tun gehabt, die es als wichtigen Bestandteil biologischer Bildung ansahen, zum Beispiel ganz viele Vögel zu kennen. Da mussten wir morgens um sechs am Hauptbahnhof in Heidelberg für die Singvogelexkursion sein – das gibt es nicht mehr. Es gibt keine Botanik und keine Zoologie mehr. Es gibt Molekularbiologie, Genetik. Sie müssen ›drosophila melanogaster‹ kennen und vielleicht noch irgendeine Alge und natürlich die Maus, und mit diesen Modellorganismen können Sie die gesamte Biologie betreiben. Der Rest ist Hobby. Ich weiß nicht, was für ein Preis in der Biologie noch darauf steht, einen Käfer zu entdecken. In einer Zeitung wird natürlich darüber berichtet, aber – die Epigenese, das war toll. Nicht, dass es mit diesem genetischen Determinismus so nicht stimmt, sondern dass das Anschalten von Genen irgendwie den Lamarckismus wieder nach oben bringt. Das müsste eigentlich die Biologie wieder auf die Geschichten bringen, wann warum welches Gen an- oder abgeschaltet wurde. Aber in den letzten vierzig Jahren hat sich die Biologie immer weniger auf die Vielfalt und immer mehr auf einfache grundlegende Mechanismen konzentriert. Ich bin gespannt, ob sich das wieder umkehren wird. Mecke: Die Entdeckung der Vielfalt in der Biologie hat sich meiner Meinung nach nur auf eine andere Ebene verschoben. Es ist jetzt sicher forschungspolitisch nicht mehr opportun, sich mit irgendwelchen Arten im Dschungel zu beschäftigen, doch allein welche Vielfalt an Zelltypen, welche Vielzahl an molekularen Mechanismen gefunden wurden, lässt uns einfach nur staunen vor diesem Phänomen Leben, wie biologische Systeme entstehen. Hampe: Das sehe ich auch so, dass es in der Pharmazie und in der Physiologie, wo es um ganz kleine Mechanismen geht, auch eine Individualisierungstendenz gibt. Aber die Phänomene, die lebensweltlich uns als lebendige präsent sind, die interessieren die Biologen eigentlich nicht mehr. Ich glaube, das liegt daran, dass sie ähnlich wie die Physik sein möchten, dass sie explanatorisch stark sein wollen und nicht nur einfach deskriptiv. Explanatorisch stark ist man, wenn man im

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mikrobiologischen Bereich etwas entschlüsselt. Und da passiert vielleicht genau dasselbe wie in der Physik, dass man inzwischen immer mehr verschiedene Mechanismen entdeckt, die mikrobiologisch relevant sind. Aber ein Projekt wie der Korbinian etwa, dass man sechshundert verschiedene Äpfel- und Birnensorten beschreibt – das ist kein biologisches Projekt mehr, das ist irgendwie verrückt. Es erklärt nichts. Das spielt in der Dichtung über Natur doch eine Rolle, dass man eine Landschaft beschreibt, damit sie zumindest in der Beschreibung noch existiert. Es ist quasi ein semantisches Konservierungsprogramm. Man weiß, es ist bald abgeholzt, aber es ist zumindest nochmals beschrieben worden. Vielleicht gibt es in der Ökologie und in der Systembiologie auch eine ähnliche Wertschätzung der makrobiologischen Vielfalt. Aber dass man die mikrobiologische Vielfalt schätzen lernt, hat, glaube ich, damit zu tun, dass man die grundlegenden Erklärungsmechanismen kennen will. Auch die Elementarteilchen beschreibt man ja nicht einfach als eine schöne Vielfalt, sondern die müssen ja etwas machen. Das Higgs-Boson zum Beispiel muss es geben, weil so eine Erklärungslücke gefüllt wird. Das steht ja nicht wie die Eiche im Wald einfach da. Mecke: Trotzdem ist die Entdeckung der elementaren Teilchen eine Erweiterung der Phänomenwelt. Sie bringt aber nicht zum Verschwinden, dass es Supraleitung gibt, dass es diese anderen makroskopischen Phänomene gibt, die dadurch auch reichhaltiger werden. Aber es stimmt natürlich, dass es eine Verschiebung der wissenschaftlichen Aufmerksamkeit gibt. In Ihren Essays – ich möchte noch einmal auf »Tunguska« zurückkommen – skizzieren Sie in den nicht-dialogischen Teilen ja eine Naturgeschichte aber auch eine Geschichte der Naturerkenntnis. Der letzte Teil ist ein Essay über die ›Quinta Essentia‹, über die Zeit, über die Vergänglichkeit im Tod. So, wie Sie das beschreiben, der Tod in dieser ewigen Gegenwart, in der das Totengespräch stattfindet, erinnert mich das an viele Positionen, die wir auch aus religiösen Kontexten kennen, aus dem Buddhismus, dem Christentum. Da verwundert mich, dass diese religiöse Stimme in Ihrem Buch keine Rolle spielt, wohingegen sie in Tarkowskis »Stalker« zentral ist. Der Stalker ist ja fast eine religiöse Führungsfigur. Zumindest kann man das so interpretieren. Hampe: Das ist die Frage, ob man eine solche Figur handhaben kann. Ich will nicht sagen, es ist nur ein technisches Problem, obwohl es das für mich auch ist. Die religiöse Sprache wird manchmal bemüht, wenn man gedanklich nicht mehr weiterkommt. Da wird in der Philosophie schnell gesagt: Wo ich normativ und explanatorisch nicht mehr weiterweiß, führe ich eine religiöse Rede; wo ich nicht mehr weiß, wie ich mit dem Tod zurande kommen soll, da rede ich über Unsterblichkeit, usw. Dieses Licht hätte ich nicht auf die Religion werfen wollen. Ich glaube auch, dass es so etwas wie eine Naturfrömmigkeit gibt, eine religiöse Perspektive auf

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die Natur und auf den Tod – das würde ich Ihnen sofort zugestehen. Aber dass dieser ›Quinta Essentia‹-Abschnitt so kurz ist, liegt daran, dass ich große Schwierigkeiten habe, einen religiösen Sprecher literarisch zu gestalten. Auch im Glücksbuch, also in meinem Buch »Das vollkommene Leben: Vier Meditationen über das Glück«, spielt das eine gewisse Rolle. Da gibt es eine Szene, wo eine Figur namens Low am Berg abgestürzt ist und von einer anderen gefunden wird. Da gibt es einen religiösen Moment. Die beiden verschmelzen quasi, das sind auch nur zwei, drei Seiten in dem Buch, und sie haben meine Fähigkeiten religiös über den Tod zu schreiben schon erschöpft. Ich glaube, die schwierigste Übung, die Sie machen können, ist einen religionsphilosophischen Dialog zu führen, wo Sie nicht einer Konfession das Wort reden, nicht frömmeln und normativ schummeln, aber trotzdem überzeugend eine religiöse Perspektive entfalten. Das kann ich einfach nicht. Natürlich kenne ich den Buddhismus und das Christentum ein bisschen. Aber zu sagen: Da gibt es eine Figur, die eine religiöse Perspektive hat, aber Sie würden nicht wissen, welcher Religion sie angehört –, das geht über meine darstellerischen Fähigkeiten. Mecke: Ich finde, bei »Stalker« ist das so . . . Hampe: Ja, Tarkowski kann das, ich nicht. Mecke und Heydenreich: Herr Hampe, wir danken Ihnen ganz herzlich für das Gespräch.

Zum Autor Michael Hampe ist seit 2003 ordentlicher Professor für Philosophie am Department für Geistes-, Sozial- und Staateswissenschaften der ETH Zürich. 1961 in Hannover geboren, studiert Hampe ab 1980 Philosophie, Germanistik und Psychologie in Cambridge und Heidelberg, wobei er sich in Heidelberg im Zuge seiner Promotion nicht nur der Philosophie, sondern – im Nebenfach – auch der Humanbiologie zuwendet. Hampe promoviert 1989 in Heidelberg mit einer Arbeit »Über die Voraussetzungen einer naturalistischen Theorie der Erfahrung in der Metaphysik Whiteheads«. Nach einem Aufenthalt in Dublin als Visiting Professor für Philosophie am dortigen Trinity College legt Hampe 1993 in Heidelberg seine Habilitationsschrift vor: »Gesetze. Über Regel, Zwang und Vernunft in der neueren theoretischen und praktischen Philosophie«. Es folgen nacheinander Stationen als Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin, als Professor für theoretische Philosophie an der Gesamthochschule – heute: Universität – Kassel und als Inhaber des Lehrstuhls Philosophie II der Universität Bamberg – bevor Hampe 2003 schließlich in die Schweiz geht. Seit seinem Amtsantritt in Zürich hat Hampe zahlreiche Aufsätze und Bücher zu philosophischen Fragen geschrieben und herausgegeben, darunter »Eine kleine Geschichte des Naturgesetzbegriffs« (2007) und »Das vollkommene Leben. Vier Meditationen über das Glück« (2009),

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zuletzt »Die Lehren der Philosophie. Eine Kritik« (2014). Eines der wichtigsten Hampe-Werke der letzten Jahre ist »Tunguska oder Das Ende der Natur« (2011), ein fiktives mehrstimmiges Gespräch über die Idee der Natur.

Zitierte Literatur Das vollkommene Leben. Vier Meditationen über das Glück. München: Hanser, 2009 • Eine kleine Geschichte des Naturgesetzbegriffs. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1 2007 • Tunguska oder Das Ende der Natur. München: Hanser, 2011.

Mit Michael Hampe sprachen die Physiker Klaus Mecke und Martin Idel, die Literaturwissenschaftlerin Aura Heydenreich und die Zürcher Physikerin und Germanistik-Doktorandin Oriana Schällibaum. Der Dialog wurde am 16. September 2013 an der ETH Zürich geführt.

Aura Heydenreich und Clemens Heydenreich

Evolution im Comic Jens Harder im Dialog zu »Alpha . . . directions« Heydenreich C.: An besonders prominenter Stelle in »Alpha«, nämlich über dem »Nachwort/Vorwort«, zitieren Sie Stephen Hawking: »Im Grunde genommen bewegen nur zwei Fragen die Menschheit – Wie hat alles angefangen und wie wird alles enden?« (»Alpha . . . directions«, 338; im Folgenden: A). Das ist eine sicherlich wahre, aber triviale Aussage. Sinngemäß hätte man eine ähnliche auch bei Woody Allen finden können. Warum berufen Sie sich mit diesem Zitat auf die Autorität ausgerechnet eines Physikers? Was bedeutet Ihnen die Physik? Harder: Diese Aussage ist recht unkonkret, jedoch in ihrer Allgemeingültigkeit unschlagbar. Gerade in Bezug auf meine Trilogie umarmt sie nun mal alle potentiellen Inhalte zwischen »Alpha« und »Gamma«. Warum ich einen Physiker zitiere und nicht Woody Allen, Loriot oder etwa den Dalai Lama, liegt auf der Hand. Gerade die ersten achtzig bis hundert Seiten in »Alpha« sind ja fast ausschließlich physikalischen Phänomenen gewidmet. Und Hawkings »Universum in der Nussschale« war auch eine meiner Startlektüren zur Recherche an meinem Buchprojekt (wenn auch zugegebenermaßen die einzige aus eines Physikers Feder stammende). Zur Bedeutung der Physik kann ich Folgendes festhalten: Die Basis von allem ist unangefochten die Mathematik in ihrer universellen Gültigkeit (ob in irgendwelchen Teilen der Welt andere mathematische Gesetze gelten, wage ich zumindest zu bezweifeln). Gleich danach folgt jedoch die Physik mit all ihren Ausprägungen: Elektro-, Astro-, Kernphysik etc. Auf der Physik gründet die Chemie, auf der Chemie basiert die Biologie, auf der wiederum die Evolutionsbiologie, Paläontologie, Archäologie, Kunst- und Kulturgeschichte, Religionswissenschaften, Philosophie, Psychologie . . . Heydenreich A.: Physiker verbreiten ihre Erkenntnisse in drei verschiedenen Modi: mathematisch formalisiert, als Texte und in Bildern. Welche Art von bildlichen Darstellungen physikalischer Phänomene waren für die Konzeption des vorliegenden Comics wichtig? Harder: Nun, klar habe ich im Vorfeld auch viel gelesen oder mir sogenannte Lehrfilme oder populärwissenschaftliche DVDs angeschaut. Bildliche Darstellungen nutzte ich nur relativ wenige, abgesehen von einigen mechanischen Versuchsanordnungen (Zahnradgetriebe, Kugelstoßpendel), Experimenten zu elektromagnetischen Feldern und dem Foucault’schen Pendel als Nachweis der Erdrotation, wenn man mal auf Physik im strengeren Sinne fokussiert. Ansonsten

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kamen ja aus dem Bereich der Astronomie hunderte Aufnahmen und Illustrationen als Vor-Bilder in Betracht. Als Inspiration für die schwer vorstellbaren Größenverhältnisse im Mikro- und Makrokosmos kam mir immer wieder der grandiose Film »Powers of Ten« der Eames-Brüder in den Sinn. Und zu guter Letzt hat mich die auf einem Zeitstrahl angelegte Darstellung der räumlichen Ausdehnung des jungen Universums als Bild stark angeregt. Überhaupt faszinieren mich alle zeitbasierten Darstellungen wie Experimentieranleitungen, Zeitlupenund Zeitrafferaufnahmen und besonders Diagramme – diese sind ja auch stark verwandt mit Bildern aus der Evolution wie Stammbäumen, Vererbungsschemata oder Verbreitungskarten. Heydenreich A.: Interessant ist die Anordnung der Panels auf den Seiten 24/25, auf denen durch die Konkurrenz von simultanem und sequentiellem Erzählen metapoetologisch reflektiert wird, dass es nicht nur eine Erzählung von der Erdevolution gibt, sondern ein ganzes Geflecht von mythischen, religiösen, wissenschaftlichen Bildern und Theorien. Welchen Stellenwert haben dabei Physik, Astronomie und Kosmologie aus Ihrer künstlerischen Perspektive? Welche Rolle spielen sie im Orchester der Disziplinen, in die Sie sich bei Ihrer Recherche eingearbeitet haben? Harder: Die von mir unterstützte Rangordnung der Wissenschaften habe ich ja schon skizziert. Am meisten begeistert hat mich seit jeher die Evolutionsbiologie – sie regt mich am stärksten zum Nachdenken über die Beschaffenheit unserer Welt an und ist somit die absolute Haupttriebfeder für den Start und das Ausarbeiten meiner Trilogie. Inwieweit evolutionäre Aspekte auch in der Physik eine Rolle spielen bzw. zu Beginn unseres jetzigen Universums spielten, kann ich nicht beurteilen. Es gibt aber Theorien, die besagen, dass es bei der Selbsterschaffung unseres Alls auch eine Auslese gegeben haben könnte – dass sich also in schneller Folge Welten auffalteten und wieder in sich zusammenfielen. Und zwar so lange, bis sich ausreichend stabile physikalische Verhältnisse eingefunden hatten (die nicht nur für Sekundenbruchteile oder wenige Tage, sondern zumindest mehrere dutzend Milliarden Jahre belastbar sind). Aber jenseits des Spekulativen sehe ich die physikalischen Grundlagen für unsere Welt als ebenso verlässliches wie faszinierendes Grundgerüst für eine unglaubliche Vielzahl von Auswirkungen und Erscheinungen, die unser Dasein nicht nur ermöglichen, sondern bis ins winzigste Detail definieren und ausrichten. Heydenreich A.: Bei der Beobachtung des Zusammenhangs zwischen Wort und Bild in manchen Panels des Bandes »Alpha«, die sich mit Physik beschäftigen, etwa auf den Seiten 26/27, scheinen die Worte in erklärendem Zusammenhang zum Bild zu stehen, wobei aber die Physik als intentionaler Handlungsaktant dargestellt wird: »Physik greift ordnend ein in das elementare Wirbeln der Bausteine [ . . . ] und

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versucht Strukturen zu schaffen, wo zuvor nur haltlose Raserei herrschte.« (A, 27) Ist hier die Wissenschaft gemeint oder ihr Gegenstand? Harder: Das ist ein interessanter Brückenschlag zu unserem Bedürfnis nach Ordnung, nach Ordnung schaffendem Wissen. Ich meine hier aber doch die physikalischen Abläufe selbst, wenngleich sie erst durch die Wissenschaft als Gesetze erkannt wurden; aber wirken werden sie ja auch ohne diese Erkenntnisse.

Enzyklopädische Wissensordnungen Heydenreich A.: Etliche Seiten bzw. Doppelseiten, die sehr viel Unterschiedliches und Asynchrones konstellieren, vermitteln trotzdem oder gerade deshalb einen Eindruck von Vollständigkeit, Gesamtüberblick, ja Sinngeschlossenheit. Ähnlich einer Enzyklopädie. Nur dass die Ihre nicht alphabetisch oder thematisch angeordnet ist, sondern nach ästhetischen Kriterien. Entspricht das Ihrer Idee des Projekts? Harder: Nein, gar nicht. Statt ›Gesamtüberblick‹ würde ich eher ›lose Aufzählung‹ sagen. Sinngeschlossenheit existiert nur in religiösen Gedankengebäuden; in der Natur scheint alles nur Sinn zu haben, weil es ein über Millionen und Milliarden Jahre gewachsenes höchst komplexes System ist. Aber eigentlich ist jeder Teil für sich genommen sinnlos. Von Vollständigkeit zu sprechen, wäre hingegen vermessen, wenn nicht gar wahnsinnig. Dazu ist zu bemerken, dass eines der größten Probleme im Erzählen (oder im Medium Comic auch allgemeiner im Darstellen) ist, Nicht-Wissen zu thematisieren. Man kann zwar verschiedene Sichtweisen anklingen lassen oder unklare Übergänge zwischen zwei Zuständen irgendwie hervorheben oder thematisieren. Aber die ungeheure Menge dessen, über das man gar keine Aussagen treffen kann – wie soll man das verdeutlichen? Ein Panel zeichnen und dann zehn, zwanzig Seiten diffusen Nebel bringen, bevor ein weiteres Panel sich aus der Unbestimmtheit herausschält, so wie es der Fundlage in geologischen Schichten entspricht? Nein, ich kann mich – zumindest zeichnerisch – nur an dem abarbeiten, was herausgefunden wurde und in dem Zusammenhang auch erst in unserem Bewusstsein existiert. In den Texten habe ich natürlich eher die Möglichkeit, auf all das Unentdeckte oder zumindest Vage einzugehen, aber selbst dies wird nur selten genutzt. Ich setze vielmehr voraus, dass dem Leser bekannt ist, dass wir bisher nur einen winzigen Teil der ganzen Entwicklungsgeschichte aufdecken konnten, ähnlich, wie wenn man mit einem kleinen U-Boot-Scheinwerfer den Tiefseeboden absucht; die 99,x Prozent der noch auf sich warten lassenden Entdeckungen lassen sich schwerlich konkretisieren, geschweige denn visualisieren. Man sollte sie beim Lesen aber immer als relativierende Hintergrundfolie mit sich führen.

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Heydenreich C.: Hat Sie bei der Konzeption die These der postmodernen Kulturtheoretiker beschäftigt, der zufolge die großen zusammenhängenden Erzählungen, denen ein einzelnes Narrativ zugrunde liegt, nicht mehr möglich sind? Ist Ihr Projekt als mögliches Gegenprojekt konzipiert? Harder: Mir ist völlig klar (und jedem Erzähler sollte klar sein), dass – egal in welchem erzählerischen Rahmen man sich bewegt – immer nur wenige Teilmengen erzählt werden können. Und was heißt bei großen zusammenhängenden Erzählungen ›nicht mehr‹? Wann war denn Komplexität noch so simpel, dass man sie allumfassend beobachten und wiedergeben konnte? Zu Zeiten Trojas etwa, als allein im Mittelmeerraum schon viele Millionen Menschen lebten und sich mehrere große Machtgefüge um die Vorherrschaft in der Ägäis stritten? Postmoderne hin oder her – man kann sich immer konzentrieren, auf eine Art Kernaussage, einen roten Faden, und damit logischerweise viel anderes ausblenden. Wenn ich in »Beta II« an der Wende zum einundzwanzigsten Jahrhundert angekommen sein werde, könnte der Übergang ins neue Jahrtausend doch ganz gut in folgenden Zweizeiler gepackt werden: »Nach dem Zusammenbruch des sozialistischen Blocks endete der ruinöse atomare Rüstungswettlauf zwischen Ost und West. Instrumentalisierte Religionsstreitigkeiten wuchsen nun zur größten Bedrohung der folgenden Jahrzehnte heran – vorrangig im Nahen Osten und unter starker Zunahme terroristischer Aktivitäten und asymmetrischer Kriege.« Wie ich immer wieder unterstreiche, ist meine Trilogie ja nicht wissenschaftlichen Charakters, sondern essayistischer Natur. Ich arbeite also nur heraus, was meiner Erzählung dient und was man überhaupt schon benennen oder zumindest umreißen kann; alles andere bleibt vorerst im Ungewissen. Heydenreich A.: Mit dem Beginn Ihres Comics markieren Sie zugleich eine dunkle Stelle der wissenschaftlichen Theorienbildung: die Zeit vor und kurz nach dem Urknall. Es gibt darüber noch keine gesicherten Erkenntnisse, sodass in der kulturellen Imagination die Erklärungskraft von Schöpfungsmythen mit derjenigen wissenschaftlicher Theorien konkurriert. Sehen Sie hier einen gemeinsamen Ursprung für die Notwendigkeit der wissenschaftlichen Erforschung und die des Erzählens? Harder: Klar – wir alle wollen wissen, wie das Ganze abgelaufen sein mag, ob nun wissenschaftlich begründet oder mit religiösen Vorstellungen verknüpft (selbst rein narrativ gesehen – um einen plausiblen Einstieg zu haben statt des märchenhaften »Es war einmal . . . «). Nur hört es dann doch recht schnell auf mit den Gemeinsamkeiten zwischen Schöpfungsmythen und Weltentstehungstheorien. Und dass sie konkurrieren, würde ich auch stark in Zweifel ziehen (abgesehen von der visuellen Kraft). Je nach Zielgruppe gibt es doch mehr oder weniger klare Präferenzen.

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Heydenreich C.: Wie gelingt Ihnen die Vermittlung zwischen diesen beiden Bereichen? Sie stellen eine Synthese objektiver Ergebnisse naturwissenschaftlicher Theorien dar, die den Anspruch auf allgemeine Gültigkeit haben, und müssen diese Synthese zugleich aus individueller Perspektive darstellen. Welche Prinzipien liegen Ihrer künstlerischen Darstellungsordnung zugrunde? Harder: Nun, es gibt ein Prinzip, um das man gar nicht herumkommt (und das ich immer wieder in den Statements anderer Künstler höre oder lese): Filter sein. Zur Frage der Vermittlung ist festzuhalten, dass die Wissenschaft ja qua ihrer Existenz immer objektiv sein muss. Die individuelle Erzählung, auch die über Wissenschaft (oder über einige Aspekte derselben), wird hingegen immer subjektiv sein. Ich finde, dass das ein sehr produktiver Widerspruch ist. Und falls Ihre Frage auf das Verhältnis von wissenschaftlich fundierten zu religiös motivierten Darstellungen abzielt, muss ich passen. Es gibt hier keinen Masterplan, kein Prinzip, keine Quote. Beim Notieren der wichtigen Ereignisse und Entwicklungen im Storyboard zu »Alpha« hatte ich von Anfang an zu jedem evolutionären Meilenstein äquivalente Motive aus dem visuellen Schatz der verschiedenen Religionen aufgelistet, ob naheliegend oder weit hergeholt war erst einmal zweitrangig. Es ergaben sich aber im Nachhinein, spätestens beim Durchblättern des fertigen Buches, noch mannigfaltige Querverbindungen und Bezüglichkeiten. So stieß ich bei der Suche nach rein formellen Analogien zur aufblühenden Vielfalt des kambrischen Lebens auf Jim Woodrings seltsame, schwebenden »Seelen«. Später fand ich heraus, dass er sich bei der Gestaltung dieser Wesen von den gleichen Haeckel-Tableaus inspirieren ließ, die auch ich auf der betreffenden Seite (A, 180) einarbeitete. Abhängig von persönlichen Abwägungen sowie inhaltlichen Bezügen habe ich meistens mehrere Panels (oder Seiten) mit wissenschaftlichen Abbildungen ›erweitert‹ oder ›gegengeschaltet‹ mit ein, zwei mythologischen Referenzen. Etwa bei der Bildung unseres Sonnensystems mittelalterliche PlanetenPersonifikationen und frühzeitliche Sonnenkult-Darstellungen zu zeichnen oder am Ende der Kreidezeit zur Verdeutlichung des Dinosauriersterbens Siegfried den Drachentöter, das war für mich absolut unvermeidbar und von Anfang an ›gesetzt‹. Andere Zitate hingegen schlichen sich erst beim Ausarbeiten der Seiten hinein, manche buchstäblich in der letzten Sekunde (so die Katastrophen-Postkarte von 1910, als die Panik vor dem Halleyschen Kometen ihren Höhepunkt erreichte – ich fand sie ganz beiläufig bei der Netzrecherche, während ich die Seiten zum Asteroideneinschlag vor 65 Millionen Jahren komponierte). Heydenreich A.: Der Leser Ihres Comics wird herausgefordert durch ein Projekt, in dem, wie Sie selbst im Nachwort schreiben, eine Synthese der Erkenntnisse aus Astronomie und Physik, Chemie und Biologie, Paläontologie und Archäologie zur Entstehung und Evolution der Erde geboten wird. Es scheint wie das Projekt eines

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Universalgelehrten der Renaissancezeit konzipiert zu sein, für den der Anspruch, dass alle genannten Wissensordnungen konvergieren, noch Geltung hatte. Wie sind Sie in Fällen widerspruchsvoller und an sich unvereinbarer Aussagen dieser Theorien vorgegangen? Harder: Anspruch auf allgemeine Gültigkeit habe ich überhaupt nicht, sodass ich recht unbefangen der individuellen Perspektive den Vorrang geben kann. Ich habe mir eine Art Plausibilitätsindikator vorangestellt, eine milde Variante von Ockhams Skalpell. Ich folge der meiner Meinung nach schlüssigsten oder naheliegendsten Erklärung oder stelle – wie bei der Frage nach der Herkunft des ersten Lebens auf unserem Planeten – mehrere nachvollziehbare Ansätze nebeneinander, da sie alle eine gewisse Berechtigung haben und es reizvoll ist, ihnen gedanklich auf der Spur zu bleiben.

Wissenschaft und Religion Heydenreich C.: Viele bedeutende Vorreiter der modernen Physik sahen trotz oder wegen ihrer rationalen Erkenntnisse keinen Grund, von metaphysischen Axiomen abzurücken – siehe etwa Einstein und sein Diktum »Gott würfelt nicht.« Nimmt das menschliche Bedürfnis nach Sinnstiftung durch die Metaphysik ab, je mehr positives Faktenwissen die Physik samt ihrer Nachbardisziplinen anhäuft? Oder wächst es womöglich sogar – in Korrelation mit der Unübersichtlichkeit dieser Fakten? Dies bezogen auf die Sicht der Forscher. Auf die Sicht der Laien, im durchaus klassisch-klerikalen Sinne dieses Wortes, spielen Sie im Paratext zu Ihrem Band selbst an: »Mit ›Alpha‹ möchte ich den Versuch unternehmen, erstmals alle visuellen Vorstellungen über die Entwicklungen ab dem angenommenen Nullpunkt zur Entstehung des uns bekannten Universums zu bündeln. Ähnlich einer Bilderbibel, wie sie früher für Analphabeten herausgegeben wurden, nur hier nun für Alphabeten, und anstelle konfessioneller Zwänge mit naturwissenschaftlichem Hintergrund.« (A, 339) Harder: Mir ging es immer um einen visuellen Zugang. Ich denke, so wie der katholische Priester in der Kirche früher anhand der Altartafelbilder den Kirchgängern von der Erschaffung der Welt oder von Jesu Leiden erzählen konnte, so kann man anhand der Abfolge der vielen tausend Bildbeispiele, -referenzen und -zitate in »Alpha«/»Beta«/»Gamma« zumindest in sehr groben Zügen die Geschehnisse der letzten 14 Milliarden Jahre skizzieren. Ich habe gerade die Ehre, dies allabendlich mit meinen Kindern (drei und sechs Jahre alt) durchzuexerzieren. Und ehrlich – nur auf ihren ausdrücklichen Wunsch hin! Ich habe das Ganze ja nie für junge Leser oder zu explizit didaktischen Zwecken angelegt. Aber es funktioniert;

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und von verschiedenen Seiten (aus Frankreich, Deutschland und der Schweiz) habe ich schon von vielversprechenden Ansätzen gehört, »Alpha« im Schulunterricht einzusetzen. Zu der Zunahme des menschlichen Bedürfnisses nach Sinnstiftung kann ich nur feststellen, dass allein die ausufernde Komplexität unseres Alltagslebens am Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts genügt, um viele Menschen in die Arme der verschiedensten Glaubensgemeinschaften zu treiben. Wie viel unübersichtlicher muss die Situation sein, wenn man sich dann noch als Quantenphysiker in einem Datendschungel von Wahrscheinlichkeitsinterpretationen und Unschärferelationen verstrickt hat? Aber keine Ahnung – ich kann es nicht so richtig nachvollziehen. Es ist aus meiner Sicht eher ein Schutzreflex, eine Geste der Hilflosigkeit, eine Art Sehnsucht nach einer verantwortlichen höheren Instanz – eine Vorstellung, die vielen Zeitgenossen das heutige, immer unübersichtlicher werdende Leben vermeintlich erträglicher macht. Aber ist es denn nicht so, dass besonders Forscher mit religiösem Hintergrund eher an der Nichtvereinbarkeit ihrer bahnbrechenden Entdeckungen mit dem überkommenen Glauben verzweifeln? So ganz extrem der vormals Theologie studierende Darwin, aber auch der aus jüdischem Elternhaus stammende Einstein, dessen »Gott würfelt nicht!« ja übrigens nicht für bare Münze genommen werden sollte, sondern ironisch verpackt der Dominanz von Zufällen in der Physik eine Absage erteilen wollte. Heydenreich C.: Während jener fünf Jahre, in denen Sie an »Alpha . . . directions« arbeiteten, schwappte aus den USA der George-W.-Bush-Ära die Debatte um den Kreationismus nach Europa. Vielen Deutschen wurde erst damals bewusst, dass auf der Welt überhaupt eine Bewegung von einigem Gewicht existiert, die Darwins Evolutionstheorie infrage stellt. Hat diese Debatte Ihr Arbeiten verändert, Ihr Projekt neu motiviert, vielleicht beflügelt? Harder: Verändert nicht, aber sicher neu motiviert und teils auch beflügelt. Heydenreich C.: Die zahlreichen mythischen Modelle, auf die Sie nebenbei in schnellen Einzelbild-Prolepsen verweisen, stehen für verschiedenste Versuche verschiedener Kulturen und Epochen, die Welt und den Weltraum ätiologisch herzuleiten. Indem sie so unvermittelt, punktuell und in chronologischem Durcheinander dastehen, spiegeln sie insgesamt die Vielfalt gedanklicher Möglichkeiten wieder, im Einzelnen aber relativieren sie einander. Die chronologisch durchlaufende Basiserzählung hingegen, in die sie eingebettet sind, also die Erzählung von der naturgesetzlichen Kosmogonie und Evolution, beansprucht Alleingültigkeit, schon allein durch ihre Linearität. Wie sehen Sie als bekennender Agnostiker solche mythischen Erklärungsansätze? Belächeln Sie sie, oder können Sie sie gönnerhaft und frei nach Johann Gottfried Herder alle als »gleich unmittelbar zu Gott« ansehen? Oder haben Sie unter ihnen vielleicht gar heimliche Lieblinge? Welche wären die und warum?

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Harder: Ich bin kein Agnostiker, sondern Atheist – ein großer Unterschied, da Letzterem das gedankliche bzw. argumentative Hintertürchen fehlt. Wie auch immer – ich belächele mythische Erklärungsversuche nicht und sehe sie auch nicht »gleich unmittelbar zu Gott«, eher gleich mittelbar. Sie hatten in ihrer Entstehungszeit sicher ein hohes Maß an Berechtigung und halfen damals, eine verwirrende Flut von Unabwägbarkeiten zu bündeln und auf eine (be)ruhige(nde) Grundaussage zu pflanzen; nur wer sie heute noch für bare Münze nimmt und ihnen folgt, der flüchtet sich in eine Phantasiewelt. Dass meine Kernerzählung Allgemeingültigkeit hätte, bestreite ich. Es ist jedoch der momentan naheliegendste Versuch, die Entstehung von allem hinreichend zu erklären. Das ist ja das Tolle an der wissenschaftlichen Sichtweise, dass sie sich jeden Tag infrage stellt und ständig korrigiert und damit einer wie auch immer gearteten Wahrheit ein wenig näher kommt. Linearität lehne ich als Begriff ebenso ab! Das wäre ja fast schon das mechanistische, berechenbare, ja vorhersagbare Universum, das Isaac Newton noch vorschwebte. Nein, meine Erzählung ist zumindest ein Schlängellauf, wenn nicht ein Mäander . . . Und zu den ›heimlichen Lieblingen‹: Unter den mythologischen Schöpfungsmythen finde ich die hinduistische Vorstellung sehr heraushebenswert, innerhalb der der Schöpfer der Welt, Brahma, sich selbst aus einem goldenen Ei gebären lässt. Ich antworte auch immer auf die Frage, was zuerst da war, Henne oder Ei: das Ei! Aus einem Urzustand, einem Keimstadium, wird etwas Weiterführendes, Komplexeres (bitte nicht mit Fortschrittsgläubigkeit verwechseln)! Heydenreich C.: Halten Sie es für denkbar, dass in fünfhundert Jahren jemand einen welt(all)historischen Comic schafft, in dem Denkbilder, die für uns Heutige axiomatisch sind – etwa die Urknalltheorie – nur noch als wortlose Kurzanspielungen neben den Kosmogonien der Maya oder der Altägypter stehen? Harder: Für denkbar halte ich erst mal absolut alles, nur ob es plausibel ist, wage ich zu bezweifeln. Vielleicht wird dann etwas besser durchdrungen sein, inwiefern dem Urknall eine Transitaufgabe zwischen einem Davor und einem Danach zukommt. Aber ihn gleichzusetzen mit beispielsweise der altägyptischen Schöpfungsgeschichte des Sonnengottes Atum, der aus der Urflut geboren wurde und mit seinen acht Nachkommen die Neunheit von Heliopolis bildet – na, ich weiß nicht . . .

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Chronologie, Kosmogonie und Kontingenz Heydenreich C.: Wie gehen Sie mit dem Problem der Kontingenz um? Bereits an einem Tag im Leben eines Menschen ereignen sich ungezählte Dinge, die sich auch gar nicht oder anders hätten ereignen können – und die dann aber so, wie sie sich ereignet haben, seine Zukunft prägen. Zwischen jeweils zwei Panels von »Alpha« nun aber verstreichen – rein rechnerisch – sieben Millionen Jahre. Wie kann man solche immensen Zeiträume erzählerisch als finalistische, zwingende Kausalketten behandeln, ohne über dem Gedanken zu verzweifeln, dass selbst hinter 99 Prozent der uns bekannten Entwicklungen irgendwelche Zufälle stehen, von denen die Nachwelt nichts wissen kann? Harder: Ich denke überhaupt nicht in diese Richtung. Würde ich das, könnte ich sofort aufhören zu arbeiten. Wie ich im Anhang von »Beta« formuliert habe, ist Evolution (wie jeder komplexe Zusammenhang) nach vorn blind, also anders formuliert nur in der Rückschau erfassbar. Mit diesem – durch die Menge an Fakten und Kausalitäten – angesammelten Wissen lässt sich dann auch einiges erklären. Und manches davon mag scheinbar dem Zufall geschuldet sein, anderes zwingend Gesetzen folgen – aber eine ›finalistische‹ Sichtweise lehne ich komplett ab, das kann man getrost Kreationisten und anderen Religiösen überlassen. Mir fällt da ein schöner Satz ein: »Leben ist Vorwärtsstolpern, ohne hinzufallen« (die Evolutionsbiologin Lynn Margulis in ihrem Buch »What is Life?«). Das trifft es recht gut, schaut man sich mal die vielen Anläufe des Lebens an, Fuß zu fassen auf der Erde und sich gegen die mit schöner Regelmäßigkeit wiederkehrenden Megakatastrophen zu behaupten. Dieses Tasten und Tappen ins Dunkel der Zeit, all die Versuche, all die entstandenen und wieder ausgestorbenen Arten, Gattungen, Ordnungen etc., all die besetzten und wieder aufgegebenen ökologischen Nischen – es steht ständig auf der Kippe, wo und mit wem es irgendwie weitergeht. Ich kann ja nur zusammenfassen, was geschah. Es hätte aber auch – wenn schon nicht völlig, so doch wenigstens ziemlich – anders abgelaufen sein können. Nur eines ist klar: Egal, was sich gerade wo unter welchen Bedingungen herausgebildet haben mag, gehorcht es doch immer und immer wieder sehr strengen evolutionären Gesetzen. Man schaue sich nur die Konvergenz der Körperformen solch verschiedener Wesen wie Haie, Ichthyosaurier und Delphine an ein Leben im Wasser an. Somit ist der Zufall nur eine Art Katalysator für das Einschlagen neuer Richtungen, die Entwicklung des Lebens selbst ist jedoch sehr stark reglementiert, auch wenn das der landläufigen Meinung diametral entgegensteht, dass die Natur frei wäre. Heydenreich A.: Und wie gestalten Sie diesen Gedanken künstlerisch? Harder: Im Aufbau meines Comics gar nicht, höchstens in der Auswahl bestimmter Bilder. So werden ja viele schematische Darstellungen, wie Stamm-

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bäume oder Zeitstrahlen, der Lückenhaftigkeit recht gut gerecht, indem sie zum Beispiel nur die wenigen nachgewiesenen Zwischenstufen sowie die rezenten Erscheinungsformen zeigen und die Verbindung bzw. den Übergang zwischen ihnen dann nur als Tendenzen andeutende Linien markieren, teils sogar nur gestrichelt. Das sagt doch eine Menge aus über das gewaltige Nicht-Wissen – genauso wie die Entscheidung, immer wieder Fossilienfunde (zum Beispiel Abdrücke auf einem Stein oder nur einen Unterkiefer) statt des kompletten Lebewesens abzubilden. Heydenreich C.: Ist eine offenkundig ästhetische Anordnung bestimmter kulturhistorischer Daten schon ein sicheres Mittel, um zumindest nebenher die Kontingenz und Nicht-Geschlossenheit unseres Wissens im Bewusstsein zu halten? Ich frage das, weil ich bei manchen Tableaus auch so etwas wie Erhabenheitsgefühl, um nicht zu sagen: metaphysischen Schauder empfand. Ich denke da etwa an die SplitSplashpage (A, 24/25) oder an die Seite »Magritte«/»Bebra«/»Verne«(A, 76). Ist so etwas nicht gegen Ihre aufklärerische Wirkungsabsicht? Oder haben Sie solch einen Schauder vielleicht selbst manchmal empfunden? Harder: Ich kann auch als Atheist erhabene Gefühle haben! Wer sagt denn, dass gottloses Denken kalt und emotionslos sein muss? Ich bewundere ja auch Phänomene wie die Entstehung des Lebens, die jede Vorstellung sprengende Größe unseres Universums oder die unfassbare Winzigkeit der Quarks als kleinste angenommene Bausteine der Materie. Nur versuche ich dabei immer, Erklärungen für das eine wie für das andere zu finden und zumindest ansatzweise zu verstehen. Und das ist ja zutiefst aufklärerisch. In einem metaphysischen Schauder zu verharren und sich daraus resultierend in der wohligen Vorstellung von höheren Mächten einzurichten – das wäre das lähmende Gegenteil davon. Aber natürlich ist unser Wissen nicht-geschlossen, in seiner Lückenhaftigkeit fast schon chaotisch und teils sogar widersprüchlich. Wenn das durch all diese visuellen Gegenüberstellungen, diese gezeichneten Assoziationsketten in meiner Trilogie ein klein wenig angeritzt würde, wäre ich schon froh. Zumindest entbehrt es aber nicht einer gewissen Poesie, die von Ihnen angemerkten Seiten zu betrachten, das hoffe ich zumindest.

Poetik, Ästhetik und Metaphorik des Comic Heydenreich C.: Sie gestalten den Urknall zugleich als den Urknall des Comic bzw. seiner Darstellungsmittel: Aus den Speedlines der Inflation scheinen wie ein Abfallprodukt gerade Linien herauszufallen, die sich dann zu Panels gruppieren – sechs Seiten, bevor das erste Wort fällt. Das scheint den erzählerischen Primat des

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Bild(panel)s vor dem Text zu betonen – eine äußerst selbstbewusste Autopoetologie des Comic. Was hat dieses Medium anderen Medien voraus, wenn es um die Erzählung solch schwer erzählbarer Dinge wie Kosmogonie und Evolution geht? Harder: Am Anfang war eben nicht das Wort, sondern das Bild! Ganz allgemein, da vor allen verbalen Zuordnungsversuchen durch uns Menschen die visuellen Phänomene selbst da waren. Konkreter: da bei den ersten künstlerischen Versuchen der neolithischen Menschen Bilder entstanden – die dann später teilweise zu Wörtern, Hieroglyphen und damit Schrift wurden . . . Somit hat der Comic den großen Vorteil, die visuelle Welt gleichberechtigt (manchmal sogar erstrangig) in seine Erzählstruktur einzuschließen – etwas, was Filme, DVDs und Webseiten sicher auch leisten, aber auf völlig andere Art . . . Und damit zum unschlagbaren Vorteil des Mediums Comic: Anders als beim Betrachten anderer sequentieller Medien wie Film oder Animation ist der Comicrezipient nämlich nicht dem Zeitdiktat des Erschaffers ausgeliefert. Obwohl jede Comicgeschichte auch zeitbasiert ist, kann der Leser sie in seiner eigenen Geschwindigkeit rezipieren. Er kann vor- und zurückblättern, vergleichen, recherchieren, verifizieren, dadurch Dinge besser durchdringen – gerade bei solch vielschichtigen Abläufen wie den in meiner Trilogie angesprochenen ist das sehr hilfreich. Heydenreich A.: Im Text verwenden Sie für physikalische Vorgänge häufig Metaphern wie »Kraftwerk« (A, 60), »Mobile« (A, 78), »Riesendynamo« (A, 85), »Treibhaus« (A, 86), »Karussell« (A, 97). Bildgebend bzw. sprachbildgebend sind hier technische Artefakte, die der Mensch seinen naturwissenschaftlichen Forschungen abgewonnen hat. Ist es heuristisch oder didaktisch sinnvoll, sie nun auf die Natur rückanzuwenden? Oder unterliegt man damit einem hermeneutischen Zirkelschluss? Harder: Meiner Meinung nach lassen sich mit Technik-Metaphern physikalische Prozesse sehr gut transportieren, weil sie extrem stark sind und recht gut verankert in den Alltagserfahrungen der Leser, und dazu auch viel zusätzliches Hintergrundwissen beisteuern. Es wäre wohl schwierig, alternativ dazu unmissverständliche Einwortmetaphern aus der Natur zu finden. Heydenreich C.: Mitunter konkurrieren aber auch bei der Darstellung desselben Vorgangs eine Text- und eine Bildmetapher – etwa wenn der Text von einem »Treibhaus« spricht, das Bild aber einen Teekessel zeigt. (A, 86) Ist das ein Irritationsmoment, das Sie bewusst eingebaut haben, damit die Metaphern wechselseitig auf ihren Metapherncharakter und somit auf ihre Kontingenz hinweisen? Harder: Wenn man »Treibhaus« liest, erzeugt das präzise Vorstellungen von einem abgeschlossenen System, in dem sich Druck und Temperatur stauen und damit zum vielstrapazierten »Treibhauseffekt« führen. Ein Bild von einem

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Gewächshaus würde etwas ganz anderes bewirken. Genauso beim ›Teekessel‹ – lese ich das Wort, denke ich wohl eher an eine gemütliche Küche. Der Anblick des fauchenden Gefäßes jedoch fokussiert eher auf die Bedingungen (Druck und Temperatur) im Kessel und korrespondiert damit perfekt mit dem Treibhaus der Textebene. Es geht also in diesem Fall nicht um Irritationsmomente, sondern eher darum, was funktioniert und was nicht. Worte lassen sich durch Bilder verstärken, Bilder auch durch Worte – je nachdem, was sie im Rezipienten hervorrufen. Aber man kann sie auf jeden Fall nicht austauschen. Auf eine Kombination von einem Gewächshaus auf der Bildebene und dem ›Teekessel‹ auf der Textebene würde ich keinen Cent verwetten.

Physikalische und bildkünstlerische Zeitund Raumkonzeptionen Heydenreich C.: Als Comicautor und -leser hatten Sie sich ja bereits vor »Alpha« mit den Zeit-Raum-Konstellationen befasst, die für den Comic als sequentielle Bildkunst typisch sind. Was haben Sie bei der naturwissenschaftlichen Recherche bzw. bei der künstlerischen Arbeit an »Alpha« über Zeit und Raum gelernt? Und hat es Ihre Sicht auf das Medium Comic verändert? Harder: Zeit lässt sich, mehr noch als Raum, perfekt im Comic darstellen – und das sage ich jetzt nicht, weil es mir so perfekt gelungen wäre, ich meine damit eher das Potential, das dem Medium innewohnt – siehe Chris Ware, Richard McGuire, Marc-Antoine Mathieu, Tommi Musturi und viele andere. Was ich mit der Arbeit an »Alpha« verwirklicht habe (bei »Leviathan« hatte ich mich das in solcher Strenge und Konsequenz noch nicht getraut), ist die gleichberechtigte, fast egalisierende Gegenüberstellung oder Aufreihung von Panels verschiedenster zeitlicher, örtlicher, stilistischer oder kontextueller Herkunft. Während ich im Fall von »Leviathan« noch eine Art farbliche Staffelung (oder Vorsortierung) für notwendig erachtete, habe ich mittlerweile gelernt, dass man diese Einordnung ruhigen Gewissens dem Leser überlassen kann. Formal gibt einem dieses Vorgehen eine enorme Freiheit, auf der anderen Seite lässt es genügend Raum für eigene Verknüpfungen. Wie ich bei den zaghaften Versuchen, »Alpha« bewegt auf die Leinwand zu bringen, erkennen durfte, hat der Film da zum Beispiel das große Problem, sich der Überleitung stellen zu müssen. Der Panel-Zwischenraum ist offen für verschiedenste Interpretationen; im Film muss man sich entscheiden: Schnitt, Kameraschwenk, Überblendung oder gar ›Morphing‹? Nun, um den Raum jetzt nicht zu kurz kommen zu lassen, will ich zumindest noch erwähnen, dass man mit Comic-Panels nicht nur Raum abbilden, sondern auch Räume

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bauen kann – siehe wieder Chris Ware, aber auch OuBaPo-Experimente, Marc Beyer, Matti Hagelberg, Henning Wagenbreth und viele andere. Ich verglich mal in einer Vorlesung vor Architektur-Studenten Comic mit Architektur und eine Comic-Seite mit einer Hausfassade. Klingt zwar abstrus, ich kam aber dennoch auf eine Reihe von Gemeinsamkeiten . . . Heydenreich A.: Sie sprechen im Nachwort das Verhältnis zwischen Erzählzeit und erzählter Zeit in Ihrem Comic an und kommen zu dem Schluss, dass es sich um zeitraffendes Erzählen handeln muss – 14 Milliarden Jahre auf 350 Seiten. Doch es gibt eine Ausnahme: Der Urknall wird in zeitdehnender, repetitiver Form erzählt. Inwiefern spielt dabei eine Rolle, dass schon die Geschichte vom Urknall als Ursprung des Universums zwar das Standardmodell der Kosmologie ist, aber bisher weder bestätigt noch falsifiziert wurde? Harder: Nun ja, eine so bedeutsame Initialzündung wie den Urknall in mein statistisches Zeitraster zu pressen, wäre schon ein Trauerspiel gewesen – ein Bild maximal hätte es ergeben. Nur welches? Den Punkt? Die große Inflation kurz darauf? Nein, ich denke, es lohnt sich immer, gegenzusteuern, um gewisse Aspekte zu verdeutlichen. Ein wenige hundertstel Sekunden andauerndes Ereignis kann man als Erzähler doch wunderbar auf zwanzig Seiten stretchen (ähnlich dieser neuen Methode, in Action-Filmen gewisse Sequenzen einzufrieren, damit dem Zuschauer kein Detail entgeht). Im Gegenzug erweist es sich doch als sinnvoll (und hat es neben einem ästhetischen auch einen kognitiven Mehrwert), einen viele Millionen Jahre andauernden Prozess wie die Kontinentaldrift oder die Entwicklung einer neuen Tierklasse in einen Bilderstrip aus drei, vier Panels zu verdichten. Der Urknall ist in Sachen zeitlicher Dehnung auch gar nicht so allein in »Alpha«. Es gibt da zumindest noch eine Szene mit einem pantoffeltierschluckenden Geißeltierchen oder einem schnappenden Archosaurier, bei denen die Erzählzeit langsamer abläuft als die erzählte Zeit, zumindest bei einer durchschnittlichen Bildbetrachtungsdauer. Heydenreich C.: Jedes Kapitel der Evolution wird in »Alpha« auf genau 24 Seiten erzählt. Damit unterwerfen Sie die Geschichte der Weltentstehung einem Prinzip formaler Ordnung mit biblischen Anklängen, in dem sowohl Linearität als auch Zyklizität mitbedacht werden. Welche ästhetische Überlegung liegt diesem Darstellungsprinzip zugrunde? Harder: Das mit den 24 Seiten pro Kapitel stimmt nicht, dieser Rhythmus dient allein der Kolorierung, die je Druckbogen wechselt. Und dieses hat nur drucktechnische Ursachen (eigentlich schwebte mir sogar ein 16-Seiten-Takt vor). Da gibt es keinerlei andere Beweggründe. Übrigens ist alles, was sich in den Farbwechseln abspielt, absolut zufällig. Ich wusste an keiner Stelle, welche Farbe die Seite schlussendlich haben würde. Nur die Abfolge der Farben hatte ich eingangs defi-

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niert – und auch die änderten sich stark von anfangs zehn Echt-Pantone-Tönen auf am Ende sieben CMYK-Rasterfarben. Ich hätte mir noch feinere, unmerklichere Übergänge gewünscht – heute würde ich eher eine Lösung wählen, die graduell von Seite zu Seite die Farbe um ein, zwei Prozentpunkte ändert, obwohl ich dann leider die schönen Farbschichten im Buchschnitt verlieren würde, die selbst schon wie Sedimentablagerungen wirken. Ich habe somit nur ein Farbkorsett, jedoch kein formales – das erschiene mir auch höchst unpassend, da es ja eben keinen Schöpfungsplan (sechs Tage!) gibt. Sondern Epochen und Zeitalter, die anhand bedeutender klimatischer (also im weiteren Sinne physikalischer) und in der Folge paläontologischer (also evolutionsbiologischer) Umwälzungen definiert wurden. Es gibt deshalb keine erzählerische Ordnung, dem sich die zeitlichen Abläufe unterordnen müssten, sondern eine Struktur aus sich selbst heraus, denn die geologischen Formationen, der Rhythmus der Ablagerungen (zum Beispiel Silur, Devon, Karbon, Perm usw.), diktieren von selbst deren Klassifizierung. Und genauso ging ich vor – ich ließ die Ereignisse ablaufen (in Text und Bild) und gab ihnen den Raum, den sie innerhalb des Buches brauchten. Erst dann, nach dem Abarbeiten der Seiten des aktuellen Kapitels, suchte ich einen Schlussstrich zu ziehen, um am Ende jedes Zeitalters eine kurze Zusammenfassung des soeben Miterlebten zu bieten. Einziger Wermutstropfen war gegen Ende des Buches die Knappheit an verbliebenen Seiten, die mich zwang, Tertiär und Quartär trotz der überbordenden Fülle an zu verarbeitendem Material in einem wahren Schweinsgalopp abzuhandeln, ähnlich wie später Früh- und Hochantike am Ende von »Beta«. Schlussendlich war mir das Ergebnis aber doch ganz recht, denn immerhin hatte ich diesen letzten Kapiteln für die ungeheure Kürze (im Verhältnis zur Vorgeschichte) schon extrem viel Platz geschaffen. Zum Beispiel in »Beta« der Antike ca. vierzig Seiten, der rund hundertmal so langen Altsteinzeit hingegen auch nur hundert Seiten. Aber auf solche Proportionalitäten konnte ich wirklich nur ganz marginal Rücksicht nehmen. Heydenreich C.: Die Farbgebung Ihrer Kapitel scheint, ebenso wie Ihre Titel, die uns geläufige kanonische Erdalterzeiteinteilung zu bejahen. Haben Sie an diesem Kanon der Epochenbildung im Zuge Ihrer Arbeit auch einmal gezweifelt? Sehen Sie Gründe, ihn anders zu gestalten? Harder: Die Farbgebung soll schlicht und einfach Veränderung symbolisieren. Wie schon ausgeführt, würde ich – so technisch möglich – mittlerweile eine graduelle Änderung bevorzugen. Zweifel am Kanon der Erdzeitalter ist der falsche Begriff. Warum sollte ich auch ein gängiges Instrumentarium der Geologie und Paläontologie infrage stellen? Aber zumindest gezögert habe ich einmal – und zwar bei der Anlage der

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Zeitalter Tertiär und Quartär. Denn modernere Einteilungen sprechen statt dem Tertiär von Paläogen und Neogen (offiziell seit 2004). Ich entschied mich dann aber für die Beibehaltung der traditionellen, wenn auch inhaltlich mittlerweile überholten Begriffe – vorrangig aus strukturellen, vielleicht sogar aus nostalgischen Beweggründen. Der Hickhack betreffs des Quartärs und seines exakten Beginns hingegen ging ja ohnehin noch über die gesamte Arbeitszeit an »Alpha« munter weiter. Heydenreich A.: Glauben Sie, dass es bei der Kanonisierung von Wissen Unterschiede zwischen den Natur- und den Kulturwissenschaften gibt? Harder: Nun, zumindest sind die Kulturwissenschaften etwas leichter zu überblicken, da es nur um wenige Jahrtausende geht und alle Untersuchungsgegenstände menschengemacht sind. Dieses erleichtert jeden Ansatz von Kanonisierung schon mal enorm. Nur sind die Gefahren von Instrumentalisierung und Wertung wiederum um vieles größer als in den weniger emotional agierenden Naturwissenschaften. Heydenreich A.: Dass Ihr Comic sich gegen eine teleologisch ausgerichtete lineare Erzählung ausspricht, erkennt man an der Art, wie er die Wissensordnungen mosaikartig aneinander montiert, wie sie sich gegenseitig kommentieren und infrage stellen. Das kann man unter anderem an der Seiten- und Panelarchitektur erkennen, die manchmal, wie auf der bereits erwähnten Seite 27, durch vertikale Ensembles über vier Zeilen die lineare Leserichtung stört und die Frage nach der richtigen, möglichen Leserichtung erst stellt. Ist damit metapoetisch auch die Frage danach verbunden, wie und ob überhaupt die Evolutionsgeschichte prinzipiell noch erzählt werden kann? Harder: Sie kann natürlich prinzipiell erzählt werden, nur nicht im Ganzen, nicht mal ansatzweise. Man kann aber zumindest (Quer-)Verbindungen aufzeigen, Kausalketten verdeutlichen, Entwicklungsstränge verfolgen, Innovationsschübe beleuchten, Potentiale und Tendenzen herausarbeiten. Als roter Faden galten mir dabei die zur heutigen Flora und Fauna und damit auch zu uns Menschen führenden Linien. Heydenreich C.: Im Nachwort zu »Alpha« danken Sie dem tschechischen Zeichner Zdeněk Burian, der sich intensiv mit der Paläontologie auseinandergesetzt hat. Welche künstlerischen Vorbilder sind für Sie bei der Darstellung von physikalischem Wissen wichtig gewesen? Harder: Wenige, bis auf Leonardo da Vinci – der ist nach wie vor ein Gigant (nicht nur hinsichtlich seiner unzähligen mechanischen Erfindungen und Zeichnungen, auch in Bezug auf seine Wasserforschung, die begleitet wurde von wundersamen Studien zu Wasserfällen, -fontänen und -wirbeln).

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Heydenreich A.: Wie schwer war es, die vielen verschiedenen losen Enden dieses Projektes in eine Form zu gießen und einen ersten Band abzuschließen? Harder: Wie soll ich bemessen, wie schwer es war? Einerseits war ich stets so Feuer und Flamme für das Projekt, dass ich es kaum erwarten konnte, weiterzuarbeiten. Und das Komponieren der neuen Seiten kam mir auch immer wie ein Spaziergang vor, ein Jonglieren mit Bezügen und Verweisen. Nur die Ausführung mit ihren tausenden und abertausenden Details in der Reinzeichnung – das war dann eher zähes Ringen mit dem Papier, eine Art zeichnerischer Marathonlauf über Monate und Jahre. Aber es war ja alles selbstgewählt und -entschieden. Deshalb habe ich immer wieder neu Schwung nehmen können, das Werk zu Ende zu bringen. Übrigens: Die Enden bleiben lose, immer. Heydenreich A. und Heydenreich C.: Vielen Dank, Herr Harder.

Zum Autor Der Comiczeichner Jens Harder wird 1970 in der sorbischen Kreisstadt Weißwasser – damals Bezirk Cottbus, heute Freistaat Sachsen – geboren. Nach der Wende verlässt Harder seine Heimatstadt und zieht nach Berlin. Zunächst beschäftigt sich Harder mit Typographie, Graphikdesign, Fotografie. Erst in der zweiten Hälfte der Neunzigerjahre – er studiert mittlerweile an der Kunsthochschule BerlinWeißensee – fängt er an, Comics für sich zu entdecken. 1999 gründet er zusammen mit Studienkollegen die Comicgruppe Monogatari, in deren Kollektivalben er in der Folgezeit veröffentlicht. Sein erstes eigenes Album bringt er 2003 in Frankreich heraus: »Leviathan«, seine Meisterschüler-Arbeit im Fach Kommunikationsdesign, eine dramatisierte Geschichte um einen Pottwal, gut 150 Seiten, außer Textstellen von Herman Melville oder Thomas Hobbes gänzlich ohne Text. 2004 erhält er dafür den Max-und-Moritz-Preis für die »beste deutschsprachige Comic-Publikation«. Ein Preis, mit dem er 2010 – unter anderem – noch einmal ausgezeichnet werden wird. Diesmal für »Alpha . . . directions«, den Auftakt einer auf vier Bände angelegten Evolutionsgeschichte. Fünf Jahre hat Harder allein am ersten Band »Alpha« gearbeitet, noch einmal vier weitere Jahre am zweiten Teil, »Beta . . . civilisations. Volume I«, der 2014 erscheint.

Zitierte Literatur Alpha . . . directions. Hamburg: Carlsen, 2010 • Beta . . . civilisations. Volume 1. Hamburg: Carlsen, 2014 • Leviathan. Angoulême: Éditions de’l An 2, 2003.

Das Interview mit Jens Harder wurde per E-Mail geführt. Die Fragen stellten die Literaturwissenschaftler Aura und Clemens Heydenreich.

Aura Heydenreich und Klaus Mecke

Horizonte der Einsamkeit Reinhard Jirgl im Dialog zu »Nichts von euch auf Erden« Mecke: Herr Jirgl, zunächst möchten wir Sie fragen, welchen persönlichen Bezug Sie zu den Naturwissenschaften haben – insbesondere zur Physik. Jirgl: Zunächst habe ich einen biographischen Bezug zu Naturwissenschaften: Im Zuge meines Studiums der Elektroniktechnologie und meiner früheren Arbeit als Elektronik-Ingenieur erhielt ich diverse Eindrücke – zumindest in den Randbereichen dieser Wissensgebiete. Somit kann ich die bekannte Formulierung, der zufolge zum Lösen einer mathematischen Gleichung oder eines physikalischen Problems mindestens ebenso viel kreative Phantasie gehört wie zum Schreiben eines Romans, nur unterstreichen. Darin bestehen die Gemeinsamkeiten zwischen Naturwissenschaften und Literatur, was nicht wenig ist. Denn jede Sichtweise auf Wirklichkeit bedeutet eine wesensgemäße Form des Forschens. Die Unterschiede liegen in der Arbeit auf verschiedenen Ebenen der Wirklichkeit. Deren differenzierte Eigengesetzlichkeiten sind durchaus strukturell vergleichbar, aber nicht gleich – so sind Stil und Schreibweise eines Romanciers abhängig vom Material, vom Wörtervorrat des Autors in seiner Zeit und von dessen bewusster Entscheidung über Sprache und Form seiner Arbeit. Aber weder Naturwissenschaftler noch Künstler können von sich aus die Alleinvertretung hinsichtlich der Erkundungen von Wirklichkeiten beanspruchen (das eine sei ›wirklicher‹ als das andere). Es sind nur verschiedene Leute mit unterschiedlichen Werkzeugen an jeweils anderen Orten an der Arbeit am ›Sinn der Realität‹. Möglicherweise erschaffen sie Tunnel und Übergänge für den gegenseitigen Wirklichkeitzuwachs? Mecke: Man kennt Sie als einen Schriftsteller, der in präzisen und oft abgründigen Geschichten die gesellschaftlichen Realitäten in Deutschland im zwanzigsten Jahrhundert schildert. Nach den Romanen »Die Unvollendeten«, »Abtrünnig« und »Die Stille« nun »Nichts von euch auf Erden« (im Folgenden: NvE), Science-Fiction. Welche Motivation hatten Sie, dieses für Sie neue Genre auszuloten? Jirgl: Im eigentlichen Sinn ist »Nichts von euch auf Erden« kein Science-FictionRoman: Vor allem fehlen die für dieses Genre bestimmenden Topoi, so die ›Cockpit‹-Situation (vergleichbar dem Aspekt der ›Kommandohöhe‹), des Weiteren das Sprach- und Szenenreglement als Bestätigung des anthropozentrischen Weltbilds, schließlich der herbeigeführte Triumph des Menschen unter allen Umständen (die Narrative der Technokratie), zugleich mit dem moralischen Postulat

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des Überlegenen und Wertvollen (›Krone der Schöpfung‹). Das Beharren auf dem Anthropomorphen ist des Öfteren schon als grundlegender Mangel an Phantasie in diesen Science-Fiction-Produkten benannt worden, interessanterweise von Schriftstellern eben dieses Genres, wie zum Beispiel Stanisław Lem. Ich denke, dass außerhalb der irdischen Sphäre nirgendwo im All Kreaturen existieren, die dieses Menschliche mit seinen Fähigkeiten sowohl zur Grausamkeit als auch zur Güte übertreffen könnten. Zwei Problematiken, die miteinander ursächlich nichts zu tun haben, brachten mich dazu, dieses Buch in dieser Form anzulegen: Einmal die Diskussion über eine Heimkehrer-Geschichte der besonderen Art, wie sie als Mythos das »Buch Esra« in der Bibel erzählt; sodann die ›Terraforming‹-Pläne der NASA zur Umgestaltung des Planeten Mars. Zur Schaffung einer für Menschen tauglichen Marsatmosphäre, die der auf Erden dann vergleichbar sein soll, sehen die bereits im zwanzigsten Jahrhundert entworfenen ›Terraforming‹-Konzepte der NASA vor allem die Erzeugung eines planetaren ›Treibhauseffekts‹ für den gesamten Mars vor, wodurch etwas, das auf Erden heutzutage vernichtend sein könnte, dort Lebensbegründung hieße: tausende Megatonnen an FCKW, Kohlendioxid, Methan, Ammoniak und Schwefelsäure freizusetzen und in die Marsatmosphäre einzubringen. Viel von diesen hochgiftigen Gasen ist möglichst schnell in ökonomisch effizienten Zeitintervallen (Schnelligkeitseffizienz) zu produzieren: Die Maßgaben für die einstige Industrialisierung im Europa des neunzehnten Jahrhunderts finden sich wiederholt – Taylorismus in der Dreck-Produktion, die Gift-Geburt einer Menschenzukunft. Das »Buch Esra« und das ›Terraforming‹ des Mars: Aus diesen beiden zunächst unabhängig voneinander bestehenden Grundanregungen ließ sich ein Manöverfeld entwerfen, auf dem ich die Handlung des Buches entwickeln konnte, wie in einer großangelegten Versuchsanordnung über die Tauglichkeit des Menschen zu seiner eigenen Zukunft. Dabei ist das Motiv für »Nichts von euch auf Erden« folgendes: »Vor großflächigen Gemälden wie jenen von der-Menschenzukunft muß, um das Gesamte Werk zu überschauen, man etliche Schritte zurückweichen – manchmal bis auf einen anderen Planeten.« (NvE, 392) Die Erzählzeit in diesem Buch – das fünfundzwanzigste Erdzeit-Jahrhundert – ist nicht zufällig gewählt. Von der Gegenwart, in der das Buch abgeschlossen wurde, dem Jahr 2012 ausgehend, bedeutet das fünfundzwanzigste Jahrhundert vier Jahrhunderte im Voraus. Die gleiche Zeitspanne an der Gegenwart zurückgespiegelt, ergibt den Beginn des siebzehnten Jahrhunderts: Die Jahre vor dem Ausbruch des Dreißigjährigen Kriegs, der für Europa im Allgemeinen, für Deutschland im Speziellen, folgenreichste Krieg seit Beginn der Neuzeit. Vor 1618 hatten die mächtigsten Fürstentümer den Frieden durch gegenseitige militärische und wirtschaftliche Bündnisse und Heiraten zu sichern versucht, mithin das in

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der damaligen Zeit effektivste Netzwerk errichtet. Diese Vernetzungen von Macht aber hatten den Konflikt nicht nur nicht verhindern können, sondern ihn auch und gerade durch die vielfachen militärischen Bündnisse heraufbeschworen und verstärkt. Sodass die Erfahrung aus diesen Zeiten die Einsicht vermittelt, dass die Netzwerk-Idee bestenfalls bei politischen und wirtschaftlichen ›Schönwetter‹Verhältnissen von Nutzen ist, während im Streitfall nur umso beschleunigter sämtliche vernetzten Parteien in den Konflikt hineingezogen werden. Obwohl im Buch der Dreißigjährige Krieg mit keinem Wort erwähnt wird, bietet dieser Zeitraum von insgesamt acht Jahrhunderten auch einen Spiel-Zeitraum, der unter Voraussetzung bestimmter technischer sowie geopolitischer Entwicklungen ein, im wahren Wortsinn, beschreibbares Möglichkeitsfeld darstellt. Meiner persönlichen Meinung zufolge sind die abendländischen Menschen mit ihren Fähigkeiten zu Konfliktaustragungen und Friedensschlüssen vom Anbeginn des Dreißigjährigen Krieges bis zum Westfälischen Frieden einmal herum. Besseres ist in dieser Hinsicht nicht zu erwarten. Mecke: Es wird kaum Ihr Interesse gewesen sein, einen Hard Science-Fiction Roman zu schreiben, der physikalisch plausible Erzählwelten entwirft. So sind auch die technischen Entwicklungen, die Sie beschreiben, nicht neu: Von ›Terraforming‹, Genmanipulationen, Halluzinationselektronik und virtuellen Realitäten hat man schon öfter vorher gelesen. Holovisionen sind in zahlreichen Filmen direkt zu sehen. Was reizte Sie daran, diesen wissenschaftlich-technischen Detailreichtum zu beschreiben? Jirgl: Mir ging es darum, technische und technologische Details, die heute noch durchaus neuartig erscheinen können, als integrative, selbstverständliche Elemente eines Alltags in ferner Zukunft zu fassen: das Versprechen des technischtechnologischen Standards als Helfer zur Konfliktbewältigung – die Normalität und die Abweichungen davon im gesellschaftlichen Lebensprozess. Welche Aufgaben kommen derlei Gerätschaften zu, um des Menschen längsten Umweg in den Tod – sprich: Zivilisation – weiter zu verlängern? Zu berücksichtigen bleibt auch hierbei das ›thanatische Element‹ als Stachel der Entwicklung, und es dürfte interessant sein, zu beobachten, wie sich der Mensch auf dieser Zivilisationsebene seinem Hauptgegner, der Natur, stellen wird. Die Fähigkeit des Menschen, die Wirklichkeitssysteme erforderlichenfalls zu wechseln, ist seine Haupttaktik zum Aufschieben des Zustands der Entropie. Des Menschen leibliches wie geistiges Dasein definiert sich in Räumen verschiedenster Kategorien. Die Begrenzungen dieser Räume – Horizonte – bieten ihm Orientierung und ermöglichen überhaupt Erkenntnisse aller Art. Daher gilt menschliches Bemächtigungsstreben sowohl diesen Räumen als auch deren Erweiterungen – Grenzen-, Horizontverschiebungen. In der Horizontalen bedeutet

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das: neue Kontinente, neue Wissensgebiete; in der Vertikalen: von der Tiefsee bis ins Weltall; immer weitere Spezialisierungen in den Wissensgebieten: vom Makro- in den Nanokosmos. Hieraus folgt der Antrieb zu sämtlichen Kulturleistungen, technischer wie intellektueller Art, die der Mensch voller Emphase, von Angst und Ehrdurst beschleunigt, vollbringt, und die neue Lebenshorizonte versprechen – von euklidischen Raumvorstellungen in die nicht-euklidischen; oder Theorien über Felder: von den Gravitations- zu den morphischen Feldern . . . Dieses Entdeckerstreben ist Bestandteil der Suche nach einer positiv bestimmten Macht – im Gegensatz zu Herrschaft –; Beute als Erfahrung von Endlichkeit, und darin die Monstren! Zudem das Weltraum-Paradox: Je weiter das All sich ausdehnt, desto endlicher wird es; je mehr an Einzelwissen hinzukommt, desto geringer das Wissen (Herbert Spencer). Dadurch erweitern sich die Bekanntheitsund die Unbekanntheitshorizonte und mit ihnen die positive Einsamkeit des Menschen. Es ist materielle und geistige Einsamkeit. Je einsamer in diesem Sinn, desto bereicherter der Mensch. Gemäß meinem Verschriftlichungsverfahren erscheint diese erwähnte »›Ein‹samkeit« daher als ein erfüllter, ein reicher Lebenszustand – das Gegenteil ist: »1samkeit« im Sinne von Verlassenheit. Der am weitesten vorgeschobene Horizont war und ist der vorstellbare WeltRaum; darin erstellt den äußersten Horizont, sowohl für alle Lebewesen als auch für die gesamte Gattung, der Tod. Weil den größten Feind des Menschen nicht der Mensch, sondern die Natur darstellt (menschliches Leben in Harmonie mit Natur ist eine Illusion), ist mit jeder seiner Erfindungen, mit der er von der Natur – und seiner eigenen ›Natürlichkeit‹ – sich weiter und weiter entfernen muss, der Mensch zum Erfolg verdammt. Ein ungleicher Kampf, der von Anbeginn zugunsten der Natur entschieden ist. Der Mensch ›weiß‹ von seiner schließlichen Niederlage als Gattung, aber er kann sie nicht verhindern, sondern nur einen immer längeren Umweg in den Tod suchen, der zumindest so lang ist, wie ›ich‹ lebe: Die Zivilisation und ihre Errungenschaften – daher seine tätige Einsamkeit. Hierher gehört auch der äußerst begrenzte biosphärische Horizont des Anthropozentrismus: Es gibt Bereiche sowohl auf Erden als erst recht im Weltall, wo Menschen nicht hingehören, wo sie keine Chance zum Überleben haben können. Diese Bereiche des Nicht-Menschlichen sind naturgemäß die weitaus verbreitetsten. Damit eröffnen sich für die Natur weite Horizonte, menschlos, abiotisch. Es wird immer Natur und Leben geben, und die wird reich- und formenhaltiger, sobald man den anthropozentrischen Standpunkt verlässt. Die Frage mithin lautet: Wie lange wird des Menschen Zukunft andauern?

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Physikalische Metaphorik Mecke: Wie arrangieren Sie die physikalischen Passagen, etwa die Beschreibung der Gravitationssprengung? Dies ist ja keine physikalisch sinnvolle Erklärung, sondern eher eine assoziationsreiche Komposition von klingenden Physik-Wörtern: ›Ereignishorizont‹, ›Kernfusion‹, ›Weiße Zwerge‹, ›Ladungsumkehr‹, ›Wirkfaktor‹, ›Atto-Sekunden-Bereich‹. Folgen Sie einem bestimmten Aufbau? Zudem erscheinen mir viele wissenschaftliche Termini wie Lautmalerei: Bei der Verwendung des Wortes ›Supraleiter‹ zum Beispiel ist nicht das physikalische Phänomen wichtig, sondern der metaphorische Gehalt. Halten Sie das für einen sinnvollen literarischen Umgang mit physikalischen Fachbegriffen? Jirgl: In terminologischer Hinsicht besteht der entscheidende Unterschied zwischen einem wissenschaftlichen Sachtext und einem literarischen Text, der sich auch wissenschaftlicher Termini bedient, in Bezug auf verschiedene Ebenen der Wirklichkeit. Dient der Sachtext vor allem der Ausführung und Begründung spezifischer Wissenschaftsbelange, so dienen dieselben Termini in der literarischen Wirklichkeit vor allem als Metaphern für Wissenschaftlichkeit. Es kann mir im Bereich der Wirklichkeit meines Textes nicht darum gehen, eine naturwissenschaftliche Exaktheit nach- oder herzustellen, sondern die naturwissenschaftlichen Begriffsinhalte transportieren die ihnen eingeschlossenen, inhaltlichen Sachverhalte in den literarischen Kontext, woraufhin sie dort ihre plausible Wirksamkeit entfalten. Den Begriff ›Supraleiter‹ habe ich in »Nichts von euch auf Erden« zweimal verwendet: einmal auf Seite 17 innerhalb einer technischen Passage – hier bezieht sich dieser Begriff auf seine tatsächliche physikalische Bedeutung –, dann auf Seite 371 erfährt er im inneren Monolog der erstmals zu Wort kommenden »morphologischen Bücher« seinen Gebrauch als Metapher für die physikalische Eigenschaft. Die weiteren wissenschaftsbezogenen Begriffe, die Sie aufzählen, wie ›Ereignishorizont‹, ›Wirkfaktor‹, ›Kernfusion‹ etc., folgen demselben Konzept, nehmen jedoch einen weit geringeren auratischen Raum ein, als zum Beispiel beim ›Supraleiter‹. Die zuletzt genannten Begriffe – und derlei geschieht vermutlich in den meisten Romanen, die wie auch immer auf äußere Wirklichkeitszusammenhänge rekurrieren – transportieren in Ganzheit die ihnen eigenen Funktionsinhalte aus der Wissenschaftssphäre in den Text. Sie sollen dort auch in dieser Weise verstanden werden, indem sie zur ›Wirklichkeit des Textes‹ gehören, nicht aber zur Wirklichkeit jener Sach- und Wissensgebiete, denen sie entnommen wurden. Auf durchaus ähnliche Verhältnisse trifft man innerhalb der Literaturwissenschaft. Beispielsweise bezieht sich der Begriff ›Expressionismus‹ einmal auf einen literaturhistorisch definierten Zeitraum, desgleichen aber auf die Besonderheit

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eines Stils, dessen Ausdrucksqualitäten sich auch außerhalb des definierten Zeitraums in den Literaturen auffinden lassen, sodass man sagen kann: Expressionismus, in diesem Sinn gefasst, hat ›schon immer‹ existiert. Mecke: Sie beziehen sich wiederholt auf Rupert Sheldrake und auf seine Spekulation über ›morphogenetische Felder‹, die ein Gedächtnis der Natur darstellen. Die »morphologischen Bücher« scheinen eine andere Metapher zu sein für die morphische Schöpfungskraft im Universum. Warum beziehen Sie sich ausgerechnet auf eine pseudowissenschaftliche Hypothese, die nie Eingang in die Wissenschaft gefunden hat? Jirgl: Von Rupert Sheldrake habe ich das Buch »Das schöpferische Universum« gelesen. Seine Idee, auch der als unbelebt verstandenen Materie ein Gedächtnis zu kreditieren, finde ich eine faszinierende literarische Idee. Zum Glück bin ich kein Schulwissenschaftler und weder kann noch muss ich seine Theorien zu verifizieren oder zu falsifizieren suchen. Sein Fragenansatz ›Wie kommt es eigentlich, dass . . . ?‹ scheint mir genau der Ansatz zu sein, aus dem heraus seit jeher die gravierendsten Entdeckungen gefolgt sind. Und so erscheinen mir als Schriftsteller seine Überlegungen zu den morphogenetischen Feldern als Organisationsfelder von Molekülen, Kristallen, Zellen, Gewebestrukturen – in summa die Organisationsfelder auch sämtlicher biologischer Systeme – als sehr kreativ. Da ist aber auch die Geschichte dieses Begriffes interessant, der ja auch für die klassische Physik problematisch war, wie ich gelesen habe. Es war ja nicht ohne Weiteres möglich, ihn mit dem Bereich der Materie zusammenzudenken. Was ist ein Feld? Man kann es nicht sehen. Mecke: Genau da setzt die Wissenschaft ein und das ist das Schöne an der Physik, dass Michael Faraday im neunzehnten Jahrhundert eine Methode entwickelt hat, wie man Felder messen oder sichtbar machen kann, indem man Eisenspäne streut. Das hat Sheldrake nicht gemacht. Es gibt bis heute weder einen experimentellen noch einen mathematischen Nachweis der morphogenetischen Felder. Sheldrake verwendet den Begriff des Feldes lediglich als Metapher – was ich als Physiker problematisch finde – und führt mit dem Begriff ›morphogenetisches Feld‹ praktisch zwei Metaphernfelder zusammen. Jirgl: Der Feld-Begriff erlebt ohnehin seit vielen Jahren eine Konjunktur, man hat sich an diese Erklärungsstrecke bereits gewöhnt, und niemandem fiele heute mehr ein, an der Existenz beispielsweise von elektromagnetischen oder von Gravitationsfeldern Zweifel zu hegen, obwohl diese Felder immateriell, also weder sicht- noch wägbar sind, allein ihre Wirkungen lassen sich bestimmen. Die Tatsache, dass morphische bzw. morphogenetische Felder bislang weder mathematisch noch durch Messbarkeit jemals begründet werden konnten, spielt in diesem

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Zusammenhang für mich keine Rolle. Ich erkenne in diesen und anderen Begriffen Sheldrakes eine unbedingte Brauchbarkeit für die Poetologie. Mit dieser ins Poetische verlängerten Ausdeutung der Feld-Begriffe erschließen sich für mich auch eine Reihe von einerseits zwar beobachtbaren, doch bislang nicht erforschten Erscheinungen, wie Telepathie, parallele Lernfähigkeit weit voneinander entfernter Zellgewebe und anderes mehr. Mir ist auch bewusst, dass Sheldrake in anderen Arbeiten den Zusammenhang zwischen modernen – das heißt materialistischen – Naturwissenschaften und der überlieferten EngelLehre zu finden sucht und daraus eine ›Resakralisierung‹ des Weltalls vorzunehmen strebt, weil er sowohl in der belebten als auch in der unbelebten Materie Aktivitätsstrukturen erkennt, die er mit der klassischen Vorstellung der Wirksamkeit von Engeln gleichsetzen will. Für mich als Atheist bereitet diese Sichtweise zwar große Schwierigkeiten, doch geht es nicht um persönlich liebgewordene Anschauungen. Entscheidend ist auch an dieser Theorie der für die Literatur ausbeutbare Gehalt, das poetologische Fundament (das sich seinerseits und naturgemäß als Mischprodukt aus vielerlei kultischen und archaischen Bestandteilen zusammensetzt), nicht irgendeine akademisch wissenschaftliche Exaktheit. Vielleicht eignen sich gerade die in ihren eigenen Sachgebieten verfemten Theorien zur kreativen Überbrückung zwischen ursprünglich so entlegenen Gebieten wie der Literatur und den Naturwissenschaften? Könnte man mit deren Hilfe vielleicht jene oben erwähnten Übergänge und Wirklichkeitszuwächse schaffen?

Energie aus redundanter Kommunikation Mecke: Die K.E.R.-Behörde in Ihrem Roman finde ich eine witzige Idee. Aus redundanter Kommunikation Energie zu gewinnen ist etwas, bei dem ich als Physiker sofort anfange zu überlegen, ob und wie das gehen könnte. Mir fallen dann die Publikationen über Information und Entropie ein, die Diskussionen über Entropiezuwachs beim Löschen von Speichern und ob dies nicht dem Zweiten Hauptsatz der Thermodynamik widerspricht. Wie recherchieren Sie solche Diskurse? Jirgl: Die Idee mit der Energierückgewinnung durch redundante Kommunikation enthält zunächst eine Anspielung auf bzw. eine Reverenz für Ray Bradburys »Mars-Chroniken«. Dort gibt es eine Szene, in der ein Mann seine Ehefrau von der Erde auf den Mars nachholen will, also eine Exilantensituation. Am Abend vor dem Abflug von der Erde versucht die Frau in einem Funkferngespräch von der Erde ihren Mann auf dem Mars zu erreichen, damit er ihr die Ängste und Befürchtungen vor dieser alles entscheidenden Ausreise nehmen solle. Das Gespräch kommt zwar zustande, doch ist die Funkstrecke durch kosmische Einflüsse

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enorm gestört, und von einem sehr langen Ferngespräch bleibt der Frau nur das eine Wort ihres auf dem Mars weilenden Mannes verständlich: »Liebe«. Mehr als sich der beständigen Liebe ihres Mannes versichern, wollte die Frau eigentlich auch nicht; alles übrige Gerede, das in den Störungen auf der Funkstrecke unterging, war ohnehin überflüssig, sein Wert lag allenfalls im Energiegehalt der Trägerfrequenz. Tatsächlich erfüllt mich die täglich hör- und sichtbare Flut an derlei Redundanzen – der offenbar in einen Bann zum Dauerredezwang geschlagenen Leute in der Öffentlichkeit – zum einen mit Abscheu. Ich will an dieser zutage schallenden intimen ›Eingeweidewärme‹ solcherart omnipräsenter Ansprachen von Fremden nicht teilhaben, kann mich ihnen in den öffentlichen Räumen aber nicht entziehen. Zum anderen frage auch ich mich nach dem Verbleib der Unmengen in die Luft geschleuderten Energie. Soziologen haben schon vor etlichen Jahren vor dem ›Kommunikationsmüll‹ gewarnt, der, verheerender als alle übrigen Formen von Müll, über kurz oder lang die Lebensräume in den Gesellschaften erst verstopfen, dann ersticken wird. Das würde dann tatsächlich einer Entropie gleichkommen – ein Zustand, auf den, nach bestimmten Theorien, alles bestehende Leben ohnehin zusteuert. Eine katastrophisch ironische Abschiedsszene des postheroischen Menschen. Lampert: Ich will gern den Aspekt des Gedächtnisses aufgreifen. Warum sind die Toten gestorben, wenn sie vergessen sind? Mir erscheinen die Menschen in »Nichts von euch auf Erden« nicht vollkommen hilflos oder unfähig zu denken, wenn sie keine Holovisionen oder funktionierende Imagosphäre haben. Warum sollten sie sich also nicht selbstständig, unabhängig von technischen Hilfsmitteln, an ihre Vorfahren erinnern können? Auch wenn die Verwandten normalerweise auf der Erde jederzeit aufrufbar sind, so muss doch der Mensch selbst den anderen herbeirufen. Doch er muss eine Erinnerung von ihm haben, die ihn dazu bringt, den anderen sehen zu wollen. Jirgl: Der leibliche Tod im Kontext dieses Buches ist etwas anderes als das Vergessen. Letzteres ist das endgültige Löschen jeder Erinnerungsspur im kommunalen Gedächtnis der ›Imagosphäre‹, eines rechnergestützten Datenspeichers, der auch die lebenswichtigen Verhältnisse aller angeschlossenen Wesen beinhaltet. Diese Bemerkung verweist auf Zusammenhänge, die im Buch größeren Raum einnehmen und dort erklärt werden, doch die hier auszubreiten zu viel Platz beanspruchen würde. Unter den Bedingungen des nicht-taktilen Umgangs innerhalb dieser Gesellschaft – sehr selten berührt man den Leib des/der anderen – macht es keinen Unterschied, ob eine Person leibhaftig um mich ist oder virtuell in ihrer dreidimensionalen Erscheinung aus dem elektronischen Speicher. Das

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Ziel der ›elektronischen Aufbewahrungsstätte‹ der virtuellen Personenidentitäten ist, den Schmerz und die Neurose um den Tod abzuschaffen. Die Angst vor dem Verlust einer geliebten Person und der darüber empfundene seelische Schmerz hatte immer sehr viel mit deren leibhaftigem Verschwinden aus der gewohnten Lebenssphäre zu tun. In der umfassenden Virtualität aber spielt es für die ›Imago der Liebe‹ praktisch keine Rolle, ob die betreffende Person in ihrer leibhaftigen oder in ihrer virtuellen Präsenz um mich ist. Die im kommunalen Großrechner aufbewahrten Personen verfügen auch über die Fähigkeit, sich in die Gegenwart von lebenden Personen einzuschalten, sie zu besuchen, zum Beispiel aufgrund einer turnusmäßig wiederkehrenden Festlichkeit oder wegen eines bestehenden Brauchs. Der Besuch des Vaters bei seinem Sohn vor dessen Eheschließung in »Nichts von euch auf Erden« ist ein Beispiel für eine solche Szene. Erst durch eine elektronische Störung wird dem Sohn bewusst, dass sein Vater als virtuelle Figur bei ihm erschienen ist, wahrscheinlich ist er ›in Wirklichkeit‹ bereits längst verstorben. Die Gespräche, die sie führen, beruhen auf der Einsicht, dass es im familiären – und erweitert auf den gesellschaftlichen – Raum praktisch nichts gibt, das nicht bereits besprochen worden ist, alles Sagbare ist in einer langsam erlöschenden Gesellschaft bereits gesagt, alles Denkbare ist gedacht; Gespräche kombinieren sich aus Partikeln früherer Gespräche, die mittels schneller Rechnerprogramme intentional jeweils aufeinander abgepasst werden. Der Wunsch, einem anderen begegnen zu wollen, ist nunmehr frei von der Angst und Sorge um dessen Existenz; seine leibliche Abwesenheit bedeutet zudem die Intensivierung der inneren Bindung an diese Person. Siehe »Der = Bund« und die anschließende, möglichst weite körperliche Entfernung der Ehepartner voneinander. Aus diesen Tatsachen heraus formuliert sich der Begriff des Glückes neu. Zitat aus »Nichts von euch auf Erden«: »Denn was des-Menschen Sommerjahre an Glück u Rausch erfuhren, !Das soll nicht verlungern; nicht ertrinken sollen die Bukolischen Tage im Kummer der Schwerkraft Kinderzwang aufzehrende Nähe aus lustvertriebner Alltag’s Pflicht . . . « (NvE, 260 f.) Erst der Umstand der gesamten Deleatur des Großspeichers konfrontiert diese Menschen mit dem Problem des unwiderruflichen Verschwindens anderer Personen – das Vergessen, das dem früheren leiblichen Tod entspricht – und zugleich mit der Nötigung zur Wiederkehr der persönlichen Erinnerung und daher mit all den Störungen und Einflusssphären, denen die ›klassische‹ Erinnerung ausgesetzt ist; nach der Virtualität kehren Melancholie und Unglück in diese Gesellschaft zurück. Mecke: In einem ARD-Interview sagten Sie einmal: »Die Menschheit ist so, wie sie ist, einmal genug«, und sprachen von »Unflat der Artenvielfalt«: »Diese Unflat der Artenvielfalt ist etwas, was mir doch Sorge macht.« Der »ROMAN EINER ZUKUNFT«

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scheint den Erdianern recht zu geben, da zum Schluss ein Ende der Artenvielfalt geschildert wird. Teilen Sie die geschilderte Detumeszenz-Theorie der Erdianer über das Leben (NvE, 98 ff.), dieses »Urprinzip Alleslebens = zum-Tod« (NvE, 100), nach der allem Leben ein Rückkehrwille innewohnt und es sich selbst wieder auslöschen möchte? Jirgl: Bei einigen Evolutionsforschern und Biologen gibt es die Erkenntnis, dass vor rund sechshundert Millionen Jahren das irdische Leben in vollkommen anderen Bahnen verlief als nach den uns heute bekannten. Eine im Verhältnis gesehen plötzliche Änderung, nachweisbar in all diesen Lebensformen auf Erden, gab den Forschern zu denken. So besteht eine Theorie, der zufolge vor ca. sechshundert Millionen Jahren eine große Impaktion – möglicherweise ein Planetoid – auf die Erde erfolgte und nicht allein etliche der bis dahin herrschenden Lebensformen tilgte, sondern, viel entscheidender, die nachfolgenden Arten in ihrer Grundstruktur vollkommen umgestaltete. Die bis dahin existierenden, vorrangig amöbischen Lebensformen, folgten – gemäß dieser Theorie – keiner irgend gearteten geradlinigen Entwicklung vom Niederen zum Höheren, sondern sie vollführten einen beständigen Kreislauf in der eigenen Form, und nach dem Überschreiten des dieser Form gemäßen Höhepunkts entwickelten sich diese Lebensformen wieder zurück und schafften sich gewissermaßen selbst ab, um den Kreislauf neuerlich zu beginnen. Und so weiter und so fort. Das heißt, kein Bemächtigungsstreben, kein Darwinismus, keine Artenvielfalt, auch keine Arterhaltung um jeden Preis, die übrige Welt galt noch nicht als Beute per se. Die vermutete Impaktion erbrachte dagegen die uns heute bekannten Zustände. Unter diesem Aspekt gesehen ist dieses heutige Leben eine Perversion gegenüber den einstigen Urformen. Die Evolution selbst mit ihren bekannten und noch zu entdeckenden organischen Exemplaren muss daher im biologischen Sinn als Entartung betrachtet werden: als nicht wiederholbare Ausnahmeerscheinung, die aufgrund ihrer nach unwiederholbaren Zufallsketten erstellten Seinsweise im übrigen Weltraum daher nirgends eine Entsprechung finden dürfte. Ich möchte anfügen: glücklicherweise.

Das Ende der utopischen Erzählungen Meinhard: Das Gegenüber von zwei Welten, Mars und Erde, mit ihren verschiedenen Bevölkerungen, Gesellschaften und Idealen erinnert an frühere ›Social Fiction‹Romane, etwa an Ursula LeGuins »The Dispossessed« oder Marge Piercys »Woman on the Edge of Time«. In ihnen werden Eutopien dargestellt. Nichts davon findet sich in »Nichts von Euch auf Erden«. Würden Sie sagen, dass es in unseren Tagen keinen Anlass mehr gibt, sich positive Utopien oder auch nur Momente, die sich zu ihnen entwickeln könnten, auszudenken?

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Jirgl: Tatsächlich erscheint mir die Substanz der utopistischen Erzählungen aufgebraucht, weil der Ort, auf den sie zielen, ein Zukunftsversprechen bedeutet, das niemals eingelöst worden ist. Die gesetzte Utopie strebt nach Verwirklichungsversuchen im gesellschaftlichen Leben, daraus erwachsen sofort Interessenskonflikte der beteiligten Menschengruppen. Die Stabilisierung und Aufrechterhaltung der Normative der betreffenden Utopie führt zu Terror-Regimes. Soweit die bisherigen Erfahrungen mit derlei großangelegten Gesellschaftsentwürfen. Daraus ersieht man die Unmöglichkeit, Utopien zu verwirklichen. Und das als Scheitern bisheriger Utopien bezeichnete Umschlagen in den Terror ist in diesem Sinn kein Scheitern – vielmehr kehrt dieser Zustand den grundlegenden menschlichen Konflikt heraus: Interessen und Wille sind nicht in toto harmonisierbar! Der Mensch gründet in einer ethischen Statik. Meinhard: Die Grundlage dafür ist ein bestimmtes Menschenbild. Jirgl: Gut, wenn man geschichtliche Entwicklung betrachtet: Kann man denn wirklich sagen, dass der Mensch seit dem Dreißigjährigen Krieg einen ethischen Fortschritt gemacht hat? Ich würde eher sagen, er hat es nicht. Mir fällt da ein Vergleich ein: Anthropologen wollen herausgefunden haben, dass das menschliche Skelett in den letzten zwanzigtausend Jahren sich nicht wesentlich verändert hat. Wenn hier ein Mensch von vor zwanzigtausend Jahren hereinkäme und gekleidet wäre wie heute, dann könnte man nicht unterscheiden, wie alt er ist, also aus welcher Epoche er kommt. Mit einiger Zuspitzung könnte man das vielleicht auch auf das ethische Verhalten oder auf die ethischen Fähigkeiten des Menschen zurückführen. Deswegen spreche ich von der ethischen Statik der Menschen. Der Mensch, nicht als Einzelwesen, sondern im Gesellschaftsverbund betrachtet, hat einen Punkt in der ethischen Entwicklung erreicht, der, glaube ich, nicht mehr zu verbessern sein kann. Heydenreich: Den Roman als Science-Fiction anzulegen, scheint ein Kunstgriff zu sein, um die jetzigen Verhältnisse auf der Erde aus der Retrospektive darstellen zu können: aus der Sicht der bereits vollzogenen Katastrophen und angesichts falscher Entscheidungen und fehlgeleiteter Entwicklungen. Wie funktionieren poetische Entwürfe der Geschichtsschreibung aus der Perspektive der Zukunft? Wie gelingt es, religiöse, politisch-utopische Zukunftsvisionen mit wissenschaftlichen Forschungen zu vereinen? Wie gewichtet man die Ansätze? Wie schafft man eine Balance? Jirgl: Das Versagen der Utopien gegenüber den eigenen Entwürfen zeitigt Folgen und deren Schwere hängt vom jeweiligen Niveau ab, auf dem diese Utopien agierten. Es ist schlimm genug, dass es auf Erden im menschlichen Bereich in bestimmten Ländern zu Terror-Systemen ausgeartet ist. Es wird aber mit dem Misserfolg einer Utopie wesentlich schlimmer, wenn diese am Herzen der Zukunft arbeitet, also daran, den angestammten Planeten zu verlassen. Das ist ja auch die

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äußerste Bestrebung, die es heutzutage gibt, einen anderen Planeten zu besiedeln und nach den gleichen Mustern wie auf der Erde umzugestalten und sich einzuverleiben. Wenn dieses Projekt schiefgeht, dann ist wirklich Ende. Nunmehr hat der Mensch das äußerste Gelände betreten: das Verlassen seiner angestammten Lebensräume zur Unterwerfung fremder Planeten – an seiner Neuschöpfung als Maschine wird gearbeitet. Siehe Bionik: Hybride aus menschlichem Gewebe und elektronischen Speichereinheiten . . . In meinem Buch lasse ich diese Menschen in ihrer menschtypischen ethischen Statik auf diesem höchsten Niveau agieren. Das Scheitern auf diesem höchsten technisch-technologischem Gebiet gerät dann zum ›Zahltag‹, denn der verfehlte Eingriff ins ›offene Herz der Zukunft‹ –die Versuche, den Planeten Mars gewaltsam erdähnlich umzuformen – bedeutet das Ende jeglichen Kredits auf menschliche Lebenszukunft. Sie haben ›All in‹ gepokert und haben verloren. Ende der Dominanz der ›Weiter-wie-gehabt‹-Technokraten und der ›Trostverabreicher‹: Im Gesamtprozess dessen, was Leben heißt, bedeutet das Ende dieser alten Lebensformen jedoch lediglich das Ausfallen einer höchst seltenen, singulären Form. Zum Thema Zukunft erscheint mir als zentrale Frage die nach der Historie, salopp formuliert: Was blieb ›unerledigt‹ in den Vergangenheiten, das mich heute interessieren könnte, weil es wirksam geblieben ist? Niemals werden wir einer vollständigen, in sich geschlossenen Historie wiederbegegnen; es werden stets Bruchstücke sein – andere Texte aus anderen Zeiten, Objekte, Dokumente, Aufzeichnungen aller Art etc. –, die uns, aus ihren einstigen Zusammenhängen gelöst, als singuläre Ereignisse bekannt werden. Durch deren Kenntnisnahme lassen sich andere, neue Wahrnehmungen und Erkenntnisse über Historie erzeugen – es geschieht eine Wahrheits-Produktion. Um Vorstellungen von Michel Foucault zu verwenden, entspricht dies dem ›Prinzip der Archäologie‹. Die Resultate dieser Neuordnungen alter Bruchstücke – und der in diesen neuen ›Texten‹ vorkommenden ›Lücken‹ (sie stellen eine eigene Kategorie dar) – weisen unbedingt in eine Zukunft. Aber diese Zukunft ist dann nicht das einfache Produkt der vielgestaltigen Fragmente, schon gar nicht eine Utopie oder die wiedergefundene ›eine‹ unumstößliche Wahrheit. Sondern diese Zukunft besteht aus ihren eigenen Machteffekten: Beziehungen und Interaktionen zwischen Menschen und Menschengruppen, Macht-›Spiele‹ mit veränderbaren Regeln und Bedingungen – dies entspricht dem ›Prinzip der Genealogie‹. Es beruht auf dem kritischen Prozess des beständigen Übergangs von Akzeptabilität gesellschaftlicher Vorgänge zur Akzeptanz dieser Vorgänge als gesellschaftliche Norm.

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Zum Dialog von Religion und Literatur Mecke: Ich lese »Nichts von euch auf Erden« als einen Roman aus der Zukunft, in dem die letzten hundert Jahre der Menschheit aus Sicht der die Katastrophe überlebenden Bücher geschildert wird. Fast wie ein Gründungsmythos wird an all das Leid und Grausame der Menschenwelt erinnert, durch die das Wort hindurch musste. Wie die Bibel in ein Altes und Neues Testament in zwei Teile geteilt, zitieren Sie »Buch Esra« im ersten Buch und »Johannes« im zweiten Buch, das vor allem über die Fleischwerdung des Wortes in morphologischen Büchern berichtet und wie die Bibel in der Apokalypse mit der Neugeburt der Welt endet. Sie haben eine Bibel für die Zivilisation der Bücher geschrieben, einen Gründungsmythos, damit sie nicht vergessen, was »um = sie« ist. Ihr Buch kommt wie eine Anti-Theologie, eine AntiGenesis daher, aber im Gewand einer Bibel. Warum? Jirgl: Es war nicht meine Absicht, irgendein Anti-Buch zu schreiben. Die Struktur, die Sie erkennen, ist allerdings zutreffend. Wie Sie gut bemerken, musste auch das Wort durch alle menschlichen Grausamkeiten hindurch. Die Bibel, insbesondere das Alte Testament, ist ein Fundus nahezu aller menschlichen Taten und Untaten, aller psychologischen und moralischen Verfasstheiten aus den Vergangenheiten und der Gegenwart – dieses Erbe tritt sofort hervor, wenn man das eingangs erwähnte menschliche Zukunftsgemälde zu entwerfen beginnt. Und weil die Bibel die abendländische Kultur bis in ihre Feinstrukturen hinein ausprägte, kann, wer über Zukunftsmodelle schreibt, die ›Syntax des Gewesenen‹ nicht ignorieren. So ist ›gestern‹ nur ein anderes Wort für ›morgen‹ – solange es Menschen geben wird. Und die Bibel gibt dem Wissen vom Menschen im Abendland ein großangelegtes Format. Mecke: Die »sich selbst schreibenden Bücher« entstehen aus den geschundenen Körpern ermordeter Menschen und heben damit das Leid und Elend der Menschen auf. Warum diese fast christliche Vorstellung für ein nach-christliches Zeitalter? Jirgl: Die »sich selbst schreibenden Bücher« entstehen ihrer Herkunftsgeschichte zufolge aus den klassischen Büchern, das heißt aus Büchern, von Menschen geschrieben, die von menschlichen Konflikten und Verwicklungen handeln. Dazu gehören auch sämtliche Grausamkeiten, die Menschen anderen Menschen antun. Damit ist eine gewisse Erbschaft auch für die Nachfolger dieser Bücher festgelegt; dieses Erbe heißt wiederum Geschichte. Und Geschichte ist immer genau die Geschichte, die Menschen zulassen. Das hat zunächst nichts mit Christentum oder anderen Religionen zu tun, diese bilden zunächst allenfalls den besonderen, spezifischen Untergrund für Geschichte, ihre Rhetorik und Motivation, nicht aber ihre Relevanz. Und Geschichte wird erst erlöschen, wenn der letzte Mensch auch aus dem All verschwunden sein wird.

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Meinhard: Sie haben das biblische »Buch Esra« im Roman zitiert. Die Situation, die im »Buch Esra« historisch aufgegriffen wird, ist die Situation einer Gemeinschaft, die sich einen Kanon erarbeitet. Es gibt immer beide zusammen, die menschliche Gemeinschaft und den Kanon. Es gibt den Kanon nicht ohne die menschliche Gemeinschaft. Und vielleicht gibt es die Identität der Gemeinschaft auch nicht ohne einen Kanon. Er wird vielleicht einmal festgelegt, aber dann muss man ihn interpretieren und man muss ihn sogar ergänzen oder modifizieren und darüber zeigt sich, wie sich diese Gemeinschaft entwickelt. Da gibt es etwas Prozesshaftes auf dieser Seite, konstruktiv eine Gemeinschaft zu bilden, einen Bezug zu Idealen zu haben oder zu etwas, das dieser Gemeinschaft nützen und helfen könnte. Das alles halten Sie für unwahrscheinlich. Sie erzählen von der genetischen Festlegung für den Menschen, von bestimmten Entwicklungen, getragen durch Übereilung und Hybris. Es gibt jedenfalls Prozesse, es läuft jedenfalls gesetzmäßig. Meine Idee wäre, dass es gerade im Zusammenhang mit dem Kanon noch eine ganz andere Vorstellung gibt, wie sich ein entscheidendes Buch und eine Gemeinschaft miteinander entwickeln können oder auf was für einen Sinn oder Ziel sie hinwandern können. Jirgl: Wenn ich das als geschichtlich verbrieft nehmen kann, was in dem »Buch Esra« steht – tun wir mal so, als sei das so – dann kann ich zumindest erkennen, dass es auf sehr alten, sehr konservativen Werten beruht. Es handelt sich um den biblischen Propheten und Priester Esra, der nach dem ersten babylonischen Exil, mit Erlaubnis des persischen Königs Kyros II., die vermögenden Juden nach Jerusalem zurückführte. Kyros II. hat diese Rückkehrwilligen, die in der persischen Feudalordnung mitunter zu hohen Ämtern, Macht, Einfluss und zu Reichtümern gelangten, mit Privilegien ausgestattet, etwa die Erlaubnis zum Wiederaufbau ihres Tempels in Jerusalem, was einer Staatsgründung gleichkommt. Auch ließ er die Rückkehrer mit materiellen Werten reichlich ausstatten. Diese Maßnahmen des Kyros hatten politische Motive: Vor allem lag es in der Absicht des Persers, diese unruhige Westprovinz seines Reiches um Jerusalem zu befrieden. In einer Art von Selbstverwaltung beabsichtigte er dieser Provinz eine Teilselbstständigkeit zu gewähren, solange sie ihm Tribut zahlte. Diese Heimkehrer gehörten also zur Oberschicht ihres Volkes, waren mit den Insignien der Besatzermacht der Perser ausgestattet und verfügten somit auch über ein moralisches Vorrecht. In ihrem Heimatland mussten die Rückkehrer nun die ethnische und religiöse Vermischung der im Land Gebliebenen erkennen. Große Teile der einst rein jüdischen Glaubensgemeinschaften hatten sich während der Jahre des Exils ihrer Oberen mit Völkern anderer Rassen und anderen Glaubens zusammengetan, hatten Ehen geschlossen, Kinder geboren, und hatten insgesamt eine ›multikulturelle Zivilisation‹ gegründet; sie lebten mit diesen fremdgläubigen Völkern alles in allem friedlich zusammen. Man hatte es aufgegeben, allein an jüdischen Traditio-

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nen festzuhalten. Diese Tatsache erregte bei den Heimkehrenden um Esra großes Missfallen, sahen sie doch unter diesen Umständen ihre religiösen, also politischen Privilegien in Gefahr, die letztlich auf dem einheitlichen – dem jüdischen – Glauben und der Einheit der Rasse des jüdischen Volkes fußten. Im »Buch Esra«, insbesondere in den Kapiteln 7 bis 10, ist nachzulesen, welche Beschlüsse der Priester Esra daraufhin fasste und auch durchführen ließ: Er unterteilte die bei seiner Heimkehr dort angetroffene Bevölkerung in ›rein‹ und in ›gemischtrassige‹ Teile. Von den Männern, die in ›Mischehen‹ lebten, verlangte er die Scheidung, die Preisgabe der fremden Frauen und Kinder sowie die Rückkehr zum tradierten Glauben. Wer sich weigerte, wurde mit Enteignung, Landesverweis oder sogar mit dem Tode bedroht. Das Gutheißen und der Vollzug dieser Maßnahmen – auch das namentliche Erwähnen aller Widersetzlichen, die daraufhin der Bestrafung anheimfielen – beschließen das »Buch Esra«. Im Kern meines Manuskripts steht also die uralte Problematik um ›Emigration und Heimkehr‹, wie sie zu allen Zeiten nach völkervernichtenden Kriegen auf dem Boden der Ursprungsländer sich stellte. Und zwar nicht die Heimkehr verarmter, mittelloser Menschen, sondern die Rückkehr der privilegierten Emigranten, die sich sowohl im Besitz von materiellen Reichtümern als auch und vor allem ausgestattet mit der moralischen Überlegenheit der Sieger gegenüber der übrigen, besiegten Bevölkerung sehen durften. Eine solche Gemengelage aus wieder zu erhaltender politischer Macht und moral-theologischen Reinheitsidealen bereitet stets die Basis für ethnische Säuberungen. Im »Buch Esra« findet sich das Zeugnis wohl einer der ersten, sanktionierten Maßnahmen dieser Art. Die Gewalt, die Esra einfordert, um seine Herrscherrolle als oberster Priester – mit den Insignien der Besatzungsmacht ausgestattet – in seiner Heimat wieder zu erringen und auszubauen, ist insofern neuartig und vollkommen irdischen Interessen folgend, als zum ersten Mal das Rassen-Thema in den Blickpunkt kommt: Die Zugehörigkeit zur ›richtigen‹, zur ›reinen‹ Rasse entscheidet über Verbleib oder Ausstoßung aus der Gemeinschaft – die Verse 9.11, 12 sowie 10.3, 11 und 12 belegen das aufs deutlichste. Von hier aus, meine ich, gehen entscheidende Impulse durch alle folgenden Kulturen, die sich in kultischer bzw. ethischer Hinsicht auf die Bibel berufen. Dem »Buch Esra« kommt somit kein marginaler, sondern ein zentraler Platz in der Bibel zu. Denn schließlich sind es Erwägungen der Rassenzugehörigkeit, die bis in unsere Zeit oft genug zu Völkermorden und damit einhergehenden Scheußlichkeiten führen. Ein ›interesseloses‹ Böses in irgend einer Gesellschaft gibt es nicht, daher ist die Zuschreibung des Bösen stets abhängig vom jeweiligen Sprecher: Das macht dieser Bibeltext deutlich. Meinhard: Man muss allerdings berücksichtigen, dass Esra mit dem Gesetz des Himmelsgottes kommt. Wenn man allerdings in die historischen Entwicklungen

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schaut, die nicht so genau im »Buch Esra« stehen, dann gibt es dieses Gesetz noch gar nicht. Dieses wird über eine längere Zeit ausgehandelt zwischen unterschiedlichen Interessensgruppen, es ist also nicht genau das, was schon da ist und bereits ausgehärtet ist, sondern es gibt ein Ringen zwischen denen, die schon da sind, und denen, die zurückkommen. Da geht es um das Buch und es geht auch um die entscheidende Grundlage, die die Perser brauchen. Dieses Ringen wird gar nicht auserzählt. Ich habe nur deswegen darauf Bezug genommen, weil ich dachte, dass das doch eigentlich der spannende Kontext ist für das, was in Ihrem Roman erzählt wird, wo es ja auch darum geht, dass sich neue Bücher entwickeln. Jirgl: Es spielt keine Rolle, ob in der Bibel die wirklichen historischen Verhältnisse wiedergegeben werden oder nicht. Entscheidend ist vielmehr, dass eine Begründung, Durchführung und anschließende Rechtfertigung des Völkermords den Hauptbestandteil einer Schrift ausmacht, die ihrerseits für das gesamte Abendland kulturstiftend war: die Bibel. Ich habe das »Buch Esra« als eine von einigen Folien für mein Buch verwendet, in dem Sinn, eine Heimkehrergeschichte zu erzählen: die der Rückkehrer vom Mars, die sich der pazifizierten Erdbevölkerungen wieder bemächtigen müssen, um ihre Ziele der erdähnlichen Umgestaltung des Mars durchzusetzen, und sich gegenüber den Erdvölkern als eine moralisch und technisch-kulturell überlegene Besatzermacht verhalten. Wobei diese Heimkehrer gerade nicht dem Klischee des Heimkehrers – mittellos, zerlumpt, ohne Helfer –, sondern mit Privilegien und materiellem Vermögen ausgestatteten Personengruppen entsprechen, so wie das jene Heimkehrer aus Babylon um Esra gewesen waren. Meinhard: Unter anderem ist »Nichts von euch auf Erden« ein Buch über Bücher. Zur Zeit Esras wurde Buchreligion mit dem ›Gesetz des Himmelsgottes‹ begründet. Zur Zeit des Waranleder tragenden Luzifers werden unfassbar viele Nervenbündel in den Dreck getreten. Sie sind es, worauf Millionen von Menschen reduziert wurden, denen Unrecht und Entwürdigung in schwer erträglichem Ausmaß zugefügt wurde. So kommt es zu einer ganz neuen Art von Büchern, den »morphologischen Büchern«, die mit der Schöpferkraft in eins fallen. Darin kann ich einen spannenden theologischen Gedanken sehen. Ging es Ihnen um einen solchen? Jirgl: Dezidiert theologische Gedanken zu formulieren, liegt mir fern, allein schon, weil ich von Theologie nichts verstehe. Die von Ihnen angesprochenen »morphologischen Bücher«, die mit fortschreitender Handlung in »Nichts von euch auf Erden« eine immer bedeutendere Position bekommen, tragen in sich die Sedimente von Historie. Sie, diese Hybride aus organischem Gewebe und elektronischen Speichereinheiten, die sich aufgrund ihrer Herkunft aus den klassischen, den von Menschen geschriebenen und gemachten Büchern teilweise – noch – in dieser altvertrauten Erscheinungsform zeigen, bewahren demzufolge in sich

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Sedimente von Historie, was natürlich der Historie von Menschen gleichzusetzen ist. Die ›Hauptader‹, die sämtliche Schichtungen durchzieht, ist der Schmerz. Er bildet die Kenngröße in dieser Kultur bis auf den heutigen Tag. Seine unübersehbare Existenz, so formulierte bereits Georg Büchner, bildet den Haupteinwand gegen die Omnipotenz Gottes. Denn entweder ist Gott allmächtig, dann hat er den Schmerz absichtlich in der Welt belassen – was ihn moralisch diskreditierte, gilt doch jeder, der einem anderen absichtlich Schmerzen zufügt, als verwerflich. Oder Gott ist nicht allmächtig, demzufolge kann er den Schmerz nicht aus der Welt schaffen, dann gebühren ihm keine Ehren. Daher haben die »morphologischen Bücher« mit ihren Inhalten die Narrative von Glaube, Liebe, Hoffnung, die fortzutragen sie einst erfunden wurden, schon zur Handlungszeit des Romans »Nichts von euch auf Erden« längst verlassen. Aus den mitgetragenen Sedimenten nun sind sie in der Lage zu Spekulationen derart, wie Zukunft ihre Vergangenheit beschreiben könne. Noch eine Anmerkung zu dem Mann »mit Schuhen aus Waranleder«, einem namenlosen Fremden. Er fungiert in »Nichts von euch auf Erden« für die Hauptfigur als ›Spielführer‹ und ›Ratgeber‹, er ermöglicht dem Protagonisten, die alten Peripetien zu meiden, zu umgehen, oder aber Geschehnisse auf neue Kulminationspunkte zu treiben. Sein Auftritt findet immer dann statt, sobald ein Übergang von einer Folie des Romans in die andere bevorsteht, beispielsweise von der Folie des »Buches Esra« zur ›Hölle‹ in Dantes »Göttlicher Komödie«. Diese Figur erklärt sich gegen Ende des Buches als Zugehöriger zu den so genannten »MarsGuerillas«, einer recht kindisch operierenden Untergrundbewegung im europäischen Staatenblock auf dem Mars, die sich in den Besitz einiger »morphologischer Bücher« brachten, um mit deren Hilfe gewisse Staatsaktionen, so das »Unternehmen Uranus«, zu torpedieren, was ihnen auch gelingt. Die »morphologischen Bücher« ihrerseits bezeichnen diese Guerillas als ihre nützlichen Idioten.

Biomorphologische Bücher Mecke: Das bekommt dann aber ja schon eine theologische Konnotation, wenn man am Ende erfährt, dass das Ganze praktisch von den biomorphologischen Büchern geschrieben wurde. Jirgl: Das sind aber rein technokratische Lösungen, das hat also keinen theologischen Horizont, obwohl es natürlich eine Anspielung ist: die Fleischwerdung des Wortes und solche Dinge. Das spielt aber, wie gesagt, als Metapher eine Rolle und nicht als Hoffnungshorizont. Soweit würde ich nicht gehen wollen, diese Bücher – egal, was sie dann auch sein mögen – als besser, im ethischen Sinne, dar-

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zustellen. Oder sie mit einer höheren moralischen Wertigkeit auszustatten als den Menschen. Sie sind einfach diejenigen Existenzelemente, die den Menschen nicht mehr brauchen – nachdem er weg ist, ist es kein Verlust für sie. Wobei das menschliche Leben oder das, was uns so als allgegenwärtig erscheint, in Wahrheit nur eine sehr schmale Existenzweise in allem ist, was Leben heißen kann, im Weltall gesehen. Astrophysiker wissen da natürlich Geschichten darüber zu erzählen, was Leben eigentlich heißen kann, was aber mit unserem anthropozentrischen Weltbild nichts mehr zu tun hat. Sich das vorzustellen, oder das auch zu finden, das ist eine spannende Sache. Da ist dann dieses Menschliche und alles, was damit zu tun hat, noch ein sehr schmaler Grat – und wie Friedrich Nietzsche schon hoffte, der Mensch sei eine sehr seltene Entartung der Natur. Mecke: Ich möchte auf die Menschlichkeit dieser Bücher zurückkommen, weil alles, was wir vom menschlichen Verhalten kennen, die Aggressivität, der Hunger nach Macht oder nach Einfluss, der Gestaltungswille, alles basiert ja letztendlich darauf, dass wir essen müssen, dass wir irgendwie Energie brauchen, um letztendlich auch unser großes Gehirn mit Nahrung zu versorgen. Und den biomorphologischen Büchern kann es nicht anders gehen. Die müssen auch essen, die müssen auch irgendwie ihre energetischen Bedürfnisse befriedigen. Jirgl: Ja, die sind Hybride, auf der einen Seite aus organischem Gewebe, jedenfalls in dem Zustand, wie es dann im Buch auch endet, auf der anderen Seite sind sie technische Gebilde, also elektronische Speichereinheiten. Mecke: Aber sie brauchen Energie. Jirgl: Sie brauchen Energie. Aber sie müssen nicht – sagen wir mal: fressen – sie müssen sich nicht gegenseitig auffressen. Sie können in dem Sinne in der Tat dann durch die Sonne oder von sonstigen, von außen kommenden Energieformen existieren. Nun ist es ja durchaus denkbar, dass auf diesem Weg innerhalb dieser Bücher Umgestaltungsprozesse der Nahrungsaufnahme stattfinden. Wie bei den Pflanzen die Photosynthese. So etwas wäre ja durchaus denkbar. Das habe ich hier nicht ausgeführt, das wäre aber eine Möglichkeit, darüber zu spekulieren. Ihre Frage legt es ja nahe, dass sich diese Bücher nicht gegenseitig fressen müssen, um dann als ein Buch weiter zu existieren. Oder das dickste und schwerste Buch überwältigt die anderen. Oder die kleinen Bücher sind listig und unterlaufen dann die schweren . . . Mecke: Genau das würde passieren. (lacht) Jirgl: Das ist in dem Fall zumindest ausgeschlossen, wenn sie sich auf einem Standard weiterentwickeln, dass sie eben nicht ins rein Organische tendieren. Ich glaube – jetzt weiterführend gedacht –, dass die organische Seite auch nur noch eine alte, sozusagen eine Eierschale der vorgehenden Erscheinungsform ist. Man

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ist schon auf dem Wege in einer gewissen Form technisch, also elektronisch zu formulieren. Das organische Gewebe wird irgendwann einmal abgestoßen, weil man es nicht mehr braucht. Das sind die Zugeständnisse an die, die sie hervorgerufen haben: also an die Menschen. Mecke: Eine der wichtigsten physikalischen Erkenntnisse des zwanzigsten Jahrhunderts war, dass selbst die Information über den Umweg der Entropie mit Energie zu tun hat. Wir können nicht so ohne Weiteres Informationen speichern und verarbeiten, ohne Energie zu benutzen. Jirgl: Nun ist die Frage, welche Form von Energie man für diese Bücher benötigt. Wenn Sie an außerirdische Orte denken, zum Beispiel an den Mond, der keine Atmosphäre hat, da könnte ja unter Umständen auch was mit radioaktiven Strahlen zu machen sein. Mecke: Ja, aber wenn die Ressourcen knapp sind, dann kann ich mir vorstellen, dass das eine Buch sagt: Was ich schreibe ist wichtiger als das, was du schreibst. (lacht) Die Wissenschaft der Erdmenschen erkennt den Willen zur Vernichtung des Lebenden. Die Evolution zielt auf das Verschwinden des Menschen. Die »morphologischen Bücher« überleben und sind sicherlich eine biologische Lebensform. Der alte Geist-Materie-Dualismus wird im Roman ja nicht zugunsten eines reinen Geistes aufgehoben, sondern die überlebenden Bücher sind materialisiertes Wort, Artenvielfalt per se. Widersprechen sich die Bücher in ihrer Welterklärung nicht selbst? Jirgl: Von ihrer Beschaffenheit her gesehen sind die »morphologischen Bücher« eine bionische Hybridform: halb organisches Gewebe, halb elektronische Speichereinheiten. Und wie bei allen Neuheiten tragen diese noch zum Teil die Merkmale der Vorgänger, des Alten. Auch die ersten Automobile ähnelten noch der Pferdekutsche, aber sie waren keine mehr. Ebenso wie die ersten Flugzeuge den Vogelschwingen noch ähnlich sahen. Ohne die sichtbare Relation zum Alten wäre wirklich Neues als solches auch kaum zu erkennen. Das Gleiche bei den »morphologischen Büchern«: Sie sehen zunächst den Büchern aus Menschenzeiten äußerlich noch sehr ähnlich, doch dieser anthropomorphe Charakter dürfte schrittweise verschwinden, nachdem die Menschen als Gattung aus dem All verschwunden sein werden. Andere Formen, die nach Bedürfnissen der Objekte selbst sich entwickeln, werden diesen Objekten künftig ihre Gestalt verleihen. Eines wird allerdings schon zu Zeiten der Handlung in »Nichts von euch auf Erden« einsichtig: Die »morphologischen Bücher« hecken nicht wild, sie schöpfen sich offenkundig nur nach einem bestimmten Bedarf weiter, der im Innern ihrer Texte und ihrer Schrift zu vermuten ist. Aber werden sie zur Realisierung ihrer Wirksamkeit überhaupt noch den Umweg über die Schrift benötigen? Also keine Arterhaltung um jeden Preis, kein unbedingter Bemäch-

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tigungswille (die Welt als Beute) – in diesem Charakter nehmen sie bereits die künftige Biosphäre auf dem Planeten Erde vorweg. Mecke: Ja, ein sehr optimistischer Blick. (lacht) Heydenreich: Hatten wir nach dem utopischen Gedanken gesucht, dann ist es hier: Foucault sprach von der Heterotopie – ein Ort jenseits aller Orte für die Bücher. Jirgl: Ja, so könnte man es sagen, das stimmt.

Wissenschaft als Ersatzreligion? Mecke: Am Ende des zweiten Buches – »Dersturm« – erfährt der Leser das Staatswappen der Zentraleuropäischen Union: das Pascal’sche Dreieck. Es kommt mir vor wie ein religiös-wissenschaftliches Symbol für das, was untergeht: Religion und Wissenschaft als die großen Aneignungsweisen des Menschen, die zwei großen Erzählungen von der Natur des Menschen. Damit endet die persönliche Erzählung von BOSXRKBN 181591481184-E. Was kommt danach? Die Welt der Bücher als postmoderne Vision ohne Religion und Wissenschaft? Jirgl: Die Welt der morphologischen Bücher als Vision ohne Religion: Ja! Was nicht heißt, ohne Transzendenz, denn Letztere bedarf nicht zwingend eines Höheren Wesens. Ohne Wissenschaften: Nein! Denn es ist zu erwarten, dass die »morphologischen Bücher« – ihrer Anlage gemäß – sich aus sich selbst heraus weiterentwickeln werden, sowohl in inhaltlicher als auch in gestalterischer Form, was einer vorherigen Erforschung und daraufhin Erkenntnis ihres eigenen Soseins bedarf! Nach dem Verschwinden der alten – anthropozentrisch wahrgenommenen – Lebensformen gibt es für diese Bücher keinen Grund mehr, sich menschengemäß zu gestalten. Wie schaffen Bücher sich für andere Bücher, wenn es ihre einstigen Erfinder und Leser, die Menschen, nicht mehr gibt? Das bleibt die Frage, die zu beantworten mir unmöglich ist, hieße das doch zugleich, mir die Welt ohne mich darin als Denkenden zu denken. Mecke: Sie haben die Wissenschaft mit der Religion verglichen, dass der Glaube an die Wissenschaft genauso gefährlich sei wie der religiöse Glaube . . . Das ist ein Satz, der mich aufschrecken lässt. Jirgl: Der säkulare Glaube ist genauso gefährlich oder – wie soll man sagen – kritisch zu betrachten, wie der wirkliche, der theologische Glaube. Mecke: Ja, nur das eine ist Glaube aus Unkenntnis und das andere ist ein Glaube aus Nicht-Wissen . . . Jirgl: Überforderung auch!

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Mecke: Ja, aber die Wissenschaft hat ja schon einen methodischen Anspruch, den die Religion nicht hat. Und da sehe ich schon einen gravierenden Unterschied, ob ich nun das nicht kenne, ob ich an wissenschaftliche Aussagen glaube, oder nicht. Jirgl: Aber die Sache ist doch, dass beides dann im Grunde genommen doch Glaubensenergieniveaus aktiviert. Also, ich kann zum Beispiel an Gott glauben, ohne dass ich Gott beschreiben kann. Das ist ja eigentlich der Grundgedanke beim Glauben überhaupt. Ich muss es nicht ›wissen‹, ich muss es ›glauben‹. Auf säkularer Seite wird durch Information aus verschiedensten Medien sehr viel Wissen an die Menschen vermittelt, die diesem Wissenshorizont oder diesen Wissenshorizonten von ihrer eigenen Erfahrung aus überhaupt nicht gewachsen sind. Diese Informationen, die da täglich über uns kommen, haben letzten Endes nur den Effekt, dass man an Beweise glaubt, dass man an Forschungsergebnisse, an Statistiken glaubt, dass man an Demoskopien glaubt. Denn ich kann es selbst nicht überprüfen, es entzieht sich völlig meiner Erfahrung, was da vermittelt wird. Ich kann mich stündlich mit Informationen aus Wissenschaft, aus Gesellschaft, aus was weiß ich, woher übergießen lassen – und davon wird ein immer geringer werdender Anteil überhaupt verständlich sein. Verstehen heißt: mit meiner Erfahrung koppelbar sein. Und diesen Effekt – denke ich – der bekommt in der Tat dann so ein pseudoreligiöses Niveau, was umso gefährlicher ist, als es ja auf Tatsachen beruht. Tatsachen, die dann auch Entscheidungen hervorbringen – und sei es eine Wählerstimme oder irgendetwas in der Art. Oder ›mich mittun lassen‹ an bestimmten Effekten, die mir als solche weisgemacht werden – ohne dass ich sie verstehen kann. Das ist eigentlich fast noch gefährlicher als der wirkliche, der klassische Glaube, der dann letzten Endes doch auf eine Privatsache hinausläuft, jedenfalls bei mir. Und das ist eine bedenkliche Entwicklung – meine ich – die man mit der Veröffentlichung von Themen und Fakten auslöst. Aber es ist natürlich ein zwangsläufiger Prozess: Ohne Veröffentlichungen können Sie auch nicht arbeiten. Sie brauchen den Referenzhorizont der Öffentlichkeit, aber die Öffentlichkeit kann dem immer weniger folgen. Das ist der große Widerspruch. Heydenreich: Der Roman stellt dar, wie moderne Mythen mit alten christlichen Ikonographien vermischt werden, und zeigt, wie die Frau mit dem weißen Gesicht zur Ikone der Marsianer werden konnte, durch ein Amalgam von ikonographischen Attributen: von dem Gekreuzigten über die Pietà-Gestalt und dem Heiligen Sebastian zur Ahasverus-Gestalt. Dargestellt wird der Widerspruch zwischen der religiösen Praxis des Umgangs mit einer Ikone und der dekonstruktivistischen Strategie des Aufzeigens von medialen Bricolage-Konstruktionen von Heiligenbildern aus heterogenen Quellen. Inwiefern beobachten Sie in der Darstellung populärwissenschaftlicher Vermittlung naturwissenschaftlicher Theorien ebenfalls

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eine solche Mythisierungstendenz durch das Aufgreifen überlieferter religiöser oder mythischer Vorstellungen verschiedener Kulturkreise? Jirgl: Nicht die Selbstzensur, auch nicht die zensurähnlichen Eingriffe ›des‹ Kunst- bzw. Literaturmarkts, sind für den Künstler in der Gegenwart das Problem, sondern vielmehr die unterbewusst herbeizitierten Assoziationsmuster aus dem kulturellen Bestand: die Wiederholung dessen, was als Bild/Text in seiner rhetorischen Relevanz in der dem Medium eigenen Diachronie bereits vorgeprägt und zur Ikone geworden ist. Das ist eine besondere Art von Falle. Deutlich sichtbar zum Beispiel in der Fotografie: Die jeweils preisgekrönten Pressefotos des Jahres bedienen in ihrer Bildkomposition den religiösen Kontext, mit Vorliebe die Pose des Gekreuzigten, sodann die Pietà, den Mythos um den Heiligen Sebastian. So bedient sich ein Medium immerfort aus sich selbst durch sich selbst. Die Aushärtung zur Konvention als Selbst-Mythe, die Entzeitlichung als Enthistorisierung bildet den tautologischen Ringschluss als besondere Form zur weiteren Nachahmung und ist somit das Gegenstück zu Kreativität.

Wissenschaftsethische Dimensionen Lampert: Im Roman kommt sehr viel Gentechnik vor und all die Technik, die wir vorhin schon angesprochen haben. Sehen Sie den Roman auch als eine Warnung an die Forscher, verantwortlich und reflektiert mit ihren Forschungen umzugehen? Jirgl: Keine Warnung, vielmehr eine Verdeutlichung zweier Urformen für menschliches Fehlverhalten: die Hybris und die Übereilung. Diese beiden Grundübel scheinen unabänderlich, wies doch bereits Heraklit darauf hin, dass die Hybris zu löschen sei, mehr als eine Feuersbrunst; und Johann Wolfgang Goethe sah den menschlichen Makel der Übereilung stets dann seine unheilbringende Wirkung entfalten, sobald Erfolge, nicht zuletzt bei der Glückssuche, mit aller Brachialgewalt herbeigeschafft werden sollen. Das heißt: Warnzeichen, Notausgänge und andere Lösungsmöglichkeiten finden sich von der kritischen Wahrnehmung ausgeblendet. Um solche ›ur-menschlichen‹ Zustände geht es in meinem Buch. Heydenreich: Warum wird die wissenschaftliche Forschung, so wie sie im Roman dargestellt wird, fast ausschließlich den übergeordneten biopolitischen und energiepolitischen Zielen unterworfen? Und warum zählt sie nur, insoweit sie technisch anwendbar ist und für diese Ziele nutzbar gemacht werden kann? Jirgl: Wir leben schon seit Langem in utilitaristischen Gesellschaftsformen. Alles Geistige, Erdachte und Erforschte wird in die Verwertzyklen eingezogen, woraus dann im ›feedback‹ erneute Denk- und Forschungsperspektiven als Nütz-

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lichkeitshorizonte entworfen werden. Die ›reine‹, ›interesselose‹ Geistigkeit, die ›reinen‹ oder ›freien‹ Wissenschaften waren schon immer pure Illusionen. Mecke: In Ihrem Roman ist Wissenschaft stets zum Scheitern verurteilt. In ihrer Hybris übersehen die Menschen, Wissenschaftler, Techniker stets die kleinen Eigenwilligkeiten ihres Tuns, sodass auch ihre Experimente früher oder später aus dem Ruder laufen. Den Wissenschaftsgläubigen, die die technisch-medizinischen Errungenschaften und Vorzüge preisen, setzen Sie noch nicht einmal die Janusköpfigkeit der wissenschaftlichen Erkenntnis entgegen, sondern gleich die Fratze des Luzifer, der alles im Bösen enden lässt. So wissenschaftlich wie der Roman zunächst daherkommt, so wenig geht es um wissenschaftliche Entwicklungen oder um die Verantwortung der Wissenschaftler. Sondern die Wissenschaft per se ist zum Scheitern verurteilt. Jirgl: Es ist eine zugespitzte Situation, die ich im Roman wähle – das ist ja auch der Sinn eines Romans, dass es eine Peripetie gibt, auf die alles zuläuft. In diesem Moment entfallen diese Betätigungen, die Sie erwähnt haben. Es gibt natürlich auch ruhigere Zonen im Leben, wo das eine Rolle spielt. Ansonsten könnte Wissenschaft nicht weiter existieren, wenn es nicht auch diese Bestätigung gäbe, dass Dinge, die erdacht werden, auch diskutiert und natürlich auch verworfen werden können und dann wiederum zu anderen Ergebnissen führen. Aber der Zustand dieser Zugespitztheit, wo es wirklich eng wird, ist eine besondere Situation, in der wissenschaftliche Erkenntnisse, von diesem Status quo aus gesehen, mit aller Rücksichtslosigkeit eingesetzt werden, die eben dienlich scheint. Der Rest fällt erst mal unter den Tisch. Manchmal kommt es auch nicht mehr hoch – das ist das Problem bei so etwas, wenn so endgültige Entscheidungen getroffen werden, wie das im Roman dargestellt wird. Mecke: Früher wurde das im Kontext von Wissenschaftsmissbrauch diskutiert. Ich als theoretischer Physiker fühle mich eigentlich der Welt der Bücher mehr verwandt als der Welt der tatsächlichen Anwendung. Für mich ist die Wissenschaft eigentlich ein Teil der Buchwelt. Jirgl: Unbedingt gehört jede Wissenschaft zur Welt der Bücher! Bücher, die großartigste Erfindung des Menschen, sind sogar das einzige Medium, das über die Hybris ihrer Autoren zu reflektieren vermag. Warum? Weil den Büchern der Wille fehlt bzw. er ist in den Buchstaben eingetrocknet wie das Blut der Revolutionen in den ihnen nachfolgenden Gesetzesbüchern. Mecke: Aber dann fühlen Sie sich wahrscheinlich zur Lyrik mehr hingezogen? Jirgl: Im Gegensatz zu einem Roman werden Gedichte ja nicht aus Ideen, sondern aus Wörtern gemacht. Diesen schönen Dialog gab es schon damals zwischen Stéphane Mallarmé und Edgar Degas. Das Schöne an dieser Art von Literatur wie

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Lyrik ist die Nutzlosigkeit, während der Roman immer noch eher so einen Zwitter darstellt. Er hat zumindest die Pose des Nutzbaren, was sich bei genauerer Betrachtung natürlich auch auflöst. Aber es gibt nicht wenige Schriftsteller, die an diese Wirkung, die der Roman durchaus in der Gesellschaft haben könnte, glauben. Diesen Glauben habe ich nicht. Aber der Verdacht liegt nahe, dass es so wäre.

Sprache, Macht, Kommunikation Heydenreich: Sind die Akteure der Wissenschaft von den Instrumentalisierungsinstanzen der Politik noch zu unterscheiden? Glauben Sie, dass es noch unterschiedliche Leitdifferenzen für Politik, Wissenschaft und Wirtschaft gibt? Sind die Vernetzungen viel zu komplex, um sie mit einer Antwort zu beschreiben? Oder sollte man sich an die einfache Wahrheit gewöhnen, dass die Gesetze des Marktes alle Bereiche durchdringen – und dass auch das Wissenschaftssystem seinerseits an der radikalen Durchökonomisierung und dem Verlust der Eigenständigkeit krankt? Jirgl: Zunächst ist das ›J’accuse‹ meine Sache nicht. Zudem, wie schon erwähnt, haben die ›reinen‹, ›interesselosen‹ oder ›freien‹ Wissenschaften noch niemals existiert. Auch heute finden sich Wissenschaften und Politik gegenseitig durchdrungen, indem die eine der anderen Ziele und Richtungen der Entwicklung vorgibt; eine irgend vorstellbare ›Eigenständigkeit‹ sowohl von Politik als auch von Wissenschaft ist illusionär. Auch der ›geistige Markt‹ hat enorme Macht – sie zu brechen, erscheint unmöglich. Zudem müsste dann gesagt werden, was innerhalb eines bestehenden Gesellschaftsgefüges an dessen Stelle rücken sollte. Was aber nicht heißt, die Kritik an diesen Zuständen einzustellen. Bekanntlich beginnt Dummheit dort, wo man auf ein aussichtsloses Bemühen verzichtet. Und die Möglichkeiten zur Kritik auszunutzen und Kritik auszuüben, wollen mir als die vornehmlichste Aufgabe des Intellektuellen erscheinen, wie sie desgleichen ein Maß für tatsächlich funktionierende Demokratie innerhalb einer Gesellschaft darstellt. Heydenreich: Neurowissenschaftler werden zur ›psycho-sozialen Korrektur‹ herangezogen, die auf Normalisierungstendenzen unter dem Vorzeichen der Gaußschen Verteilungskurve abzielt. Die Träger der Diskurshoheit, die diese Normalisierungspolitik durchsetzen, sind nicht klar identifizierbar. Die Machtfronten verwandeln sich stets. Ihre Dynamik ist wichtiger als die territoriale Auszeichnung oder offene Identifizierung. Ein wichtiges Instrument der Machtbehauptung ist das der Sprache, deren Einsatz Sie als Schriftsteller sehr genau beobachten. Inwiefern werden wissenschaftliche Termini zur Tarnung von Machtansprüchen instrumentalisiert? Welche Mittel haben Wissenschaftler, um sich dagegen zu wehren?

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Jirgl: Einem praktikablen Ansatz folgend, verweist das Sprechen, Dia- und Polylogisieren per se auf Machtstrukturen: Mit dem ersten Wort, das eine Person zu anderen spricht, entwirft sich ein Machtverhältnis zwischen diesen Teilnehmern an der Kommunikation, das eine positive Seite besitzen kann – dann ist es ein Dialog zwischen gleichberechtigten Partnern – oder Ausdruck eines Herrschaftsverhältnisses: Erteilen von Anweisungen, Befehlen, Behauptungen, die keinen Widerspruch dulden etc. Sprechen – Hören – Interpretieren – Handeln: Das beinhaltet die informelle wie die politische Seite, die ein jeder dieser Sprech-Akte besitzt. Die Regularien dieser Sprache, die Grammatiken, bestimmen das Verfahren zu dieser politischen und sozialen Verständigungsform. Dieser Ansatz eröffnet nun den Überblick über sämtliche Sprach- bzw. Sprechstrategien (die Tarnung von Machtansprüchen durch wissenschaftliche Termini ist nur ein einziger Aspekt von vielen anderen), die im Grunde die nahezu unauslotbare Gesamtheit an Kommunikationsstrategien umfassen, daher kann ich dieses Gelände hier nur im allgemeinen, groben Sinn umreißen. Hierzu gehören alle Formen der Sprach-Spiele: voran die Lüge, d. h. die bewusste Falschinformation von einer Nachrichtenquelle zur Senke. Sodann durch rhetorische Figuren bzw. die Vielzahl in öffentlich gemachte Reden eingestreuten Fach- oder Fremdsprachenanteile, was zum einen den Beschwichtigungsstrategien und zum anderen der Kompetenzbehauptung der Sprecher dienen soll – so gegenwärtig zuhauf anzutreffen das Aufladen der Rede mit ›windschnittigen amerikanisch-englischen Wortpartikeln‹, die, zumeist aus kommerziellen Motiven, auf eine bestimmte Klientel zielen und dort den Eindruck von Jugendlichkeit, ›Coolness‹ und Weltläufigkeit zu erzeugen trachten. Wer sie nicht kennt oder nicht versteht, erfährt zunehmend Ausschließung. Des Weiteren haben Rhetoriken, die zuvor allein hinter den Mauern von Spezialwissenschaften kursierten und nur dort verstanden wurden, nach dem weitgehenden Einreißen dieser Mauern die übrigen Gefilde der massendemokratischen Öffentlichkeit überschwemmt, wodurch mit dieser Redepraktik dann zum Teil unfreiwillig komische Camouflagen von Wissen erscheinen, deren Gefährlichkeit alles in allem in einer weitgehend unbemerkten Entmündigung der Rezipienten besteht – ein Umstand, der seit Langem bekannt ist, und der bereits vor langer Zeit mit der Presseflut seinen Anfang nahm. »Einst durfte man nicht wagen, frei zu denken; jetzt darf man es, aber man kann es nicht mehr. Man will nur noch denken, was man wollen soll, und eben das empfindet man als seine Freiheit«: Dieses Resümee des Medieneinflusses auf die Bevölkerung stammt nicht, wie man denken könnte, aus unseren Tagen; diese Einschätzung schrieb Oswald Spengler im Jahr 1924.

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Eine weitere Form des absichtsvollen Verzerrens von wirklichen Zuständen bildet das ›Lügen mit der Wahrheit‹: In »Nichts von euch auf Erden« habe ich Szenen einer Konferenz von Wissenschaftlern und Politikern auf dem Mars geschrieben (NvE, 406–415), darin geht es um die endgültige Entscheidung, welchem Verfahren zur erdähnlichen Umgestaltung des Planeten Mars künftig der Vorzug eingeräumt werden soll: der Fortführung der ›Terraforming‹-Maßnahmen alten Stils, die sich als entmutigend wirkungsarm zeigten, oder dem Verfahren der Gravitationssprengung zur Achsenkorrektur des Planeten? Welchem Verfahren ist der Vorzug zu geben, d. h. wem kommen die weiteren ökonomischen und finanziellen Förderungen zu, und wem werden sie entzogen? Welche Klientel erstellt daraufhin die führende Position – Macht – in der Gesellschaft? In der beschriebenen Konferenz verwendet die eine Partei die ernüchternden Ergebniszahlen des ›Terraforming‹ zum Lob dieses Verfahrens, indem sie gegenüber den Anfangszuständen die erreichten Ergebnisse als Erfolge verbucht, während der anderen Partei dieselben Zahlen im Hinblick auf die Zielvorgaben als vollkommen unzureichend erscheinen: Ein und derselbe Sachverhalt dient, je nach Faktengewichtung und Aspekt der Betrachtung, der einen Partei als Begründung ihrer Ablehnung, während die Gegenpartei dieselben Umstände zur Stützung ihrer Position verwendet. Zwei verschiedene Argumentationen anhand derselben Zahlenwerte! Und weil rasche Erfolge zumeist nottun, ist klar, dass dem brachialsten Verfahren der Vorzug eingeräumt werden wird. Diese knapp umrissene Übersicht zur Instrumentalisierung gilt bei Weitem nicht allein den Wissenschafts-, sondern auch den übrigen öffentlichen Sprachpraktiken allgemein, sie ist weit davon entfernt, vollständig sein zu wollen – das hieße, den Rahmen dieses Interviews überschreiten. Daher kurz gefasst: Im Unterschied zu Diktaturen – die sich der direkten Lüge, also der absichtlichen Aussage der Unwahrheit bedienen müssen, weil sie über keine differenzierten Formen von Öffentlichkeit verfügen, sondern nur über die eine, von ihnen selbst erstellte Öffentlichkeit, was den Nachteil der prompten Möglichkeit zur Enthüllung jeder Unwahrheit durch die Gegenpropaganda erbringt –, im Unterschied dazu also ist im Umgang mit allen den gesellschaftlichen Frieden störenden Erscheinungen in Massendemokratien die öffentliche Rede, die viel passablere Form der ›Kampagne‹, bestimmend, sowie daraufhin das ›Verschieben des argumentativen Zentrums‹. Im ersten Schritt dazu erfolgt via Medien die Simplifizierung der jeweiligen Nachricht. Aus der Simplifizierung entsteht zweitens der erwünschte Effekt des Herstellens von sozialen Scheinsicherheiten; jedwedes Ereignis darin kann, zum medialen ›Fertigteil‹ gepresst, zur Wahrheit avancieren. Hierzu das Beispiel vom Tod dreier RAF-Häftlinge in Stammheim Ende der Siebzigerjahre (so lange hat es gedauert, bis aus dem Oppositionssystem RAF

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ein zur Show getragener Diskurs hat werden können!). Nach der ersten Phase zur Scheinsicherheit folgt als zweite Phase die Scheindebatte, das aufwendige ›Verschieben des Zentrums auf den Nebensinn‹ – hier auf die Frage: Selbstmord der Inhaftierten oder Mord durch den Staat? Und leitet sogleich über zur dritten Phase, darin auf die Scheindebatten eine Palette von (Schein-)Antworten frei zur Verfügung steht. Das Ereignis findet nun seine Präsentation als vorinterpretiertes Fertigprodukt via ›Medien-Kampagne‹ (Dokumentar- und Spielfilme, Talkrunden im Fernsehen und Rundfunk, Foren in Zeitungen etc.). Allgemein gesagt: Individuell aufgeladene, verstreute Sorgnis in der Bevölkerung, das Gegenstück zu Sicherheit, wird hin auf Furcht verschoben. Denn Furcht zum einen lässt sich binden durch gesteuerte, hypertrophe Bilder für Furcht (›Mythen‹), die dann stets als erklärbar, also beherrschbar erscheinen; zum anderen durch Verschieben in geographisch wie sozial weit entfernte Gegenden der Erde. Im gewählten Beispiel RAF indes wäre das nicht verschobene Zentrum die Feststellung, dass seinerzeit bereits mit dem ersten gezielten Schuss, von welcher Seite auch immer abgefeuert, eine Gesellschaft das Vermittelnde der Diskurse verlassen und den Übergang vom je verdeckten zum offenen Gesellschaftskrieg vollzogen hatte. Gegnerschaft war in Feindschaft umgeschlagen, die niemals befriedet wurde und sich beliebig anderer Ereignisse in derselben Weise annehmen kann, wie zum Beispiel vor Kurzem in den Medienberichten über angeblich beabsichtigte und kurz vor der Ausführung verhinderte islamistische Terroranschläge in Köln. Feinde sind immer zur Stelle, sobald ein Staat Feinde benötigt. Anhand des RAF-Beispiels – das die bis heute zugespitzteste Form einer Auseinandersetzung innerhalb dieser Gesellschaft darstellt – und des befriedenden Umgangs mit der eigentlich unerträglichen Tatsache eines bestehenden Gesellschaftskriegs erklärt sich auch der Umstand, weshalb in den öffentlichen Redepraktiken überhaupt den Formen der Lüge und der Verschleierung von tatsächlichen Gegebenheiten solche Bedeutung zukommt, müssten doch anhand des strikten Offenlegens aller wirklichen Verhältnisse – darin menschliche sowie fachliche Insuffizienz und Streben nach Eigennutz oftmals nur die auffälligsten Eigenschaften von Obrigkeiten abgeben – deren Vertreter daraufhin nicht selten ihrer sämtlichen Machtpositionen in der Gesellschaft verlustig gehen. Somit übernehmen die Redefiguren der Lüge auch in diesen öffentlichen Bereichen zunächst die Aufgabe einer ›lustvollen‹ Korrektur der Wirklichkeit. Doch ist auch ›Lust‹ kein machtindifferenter Begriff! Genau diese Form des Lust-Gewinns dürfte die Voraussetzung bilden für den Kreislauf aus Verbot und Angebot innerhalb eines Gesellschaftsgefüges, das nur solange in Takt bleiben kann, wie diese Attribute der Macht nicht zu Herrschaft (Diktatur) aushärten.

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Zur Machtpolitik und Medienethik Heydenreich: Für den Roman ist die Schilderung epochaler Medienumbrüche wichtig und die Reflexion darüber, wie diese das menschliche Bewusstsein beeinflussen. Stellt sich der Machtkampf nach Diskurshoheit und Zensurmöglichkeiten im digitalen Zeitalter anders dar als in dem von der Schrift dominierten Medienzeitalter? Können Wissenschaft und Ethik im Verbund Mechanismen der Kontrolle der Kontrolleure entwickeln? Jirgl: Zunächst ist die Gesamtheit der bereits in der Gegenwart des digitalen Zeitalters dominierenden elektronischen Medien eine Erscheinungsform der Massendemokratien, nicht umgekehrt. Über diese politische Form ist bereits vieles geschrieben und gesagt worden. Ausgehend davon bleibt hier zusammenfassend festzustellen, dass seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs bürgerlichliberale Gesellschaften verstärkt ihren Übergang in Massendemokratien erfuhren. Diesen Übergang von bürgerlich-liberalen Gesellschaften – getragen vom Denken und Agieren in Eliten – zu Massendemokratien kennzeichnet die Ausweitung von quantitativen Verbreiterungen egalisierender politischer Interessenlagen unter massenhaftem Zuschnitt. Es erfolgte die Entdeckung ›der‹ Bevölkerung als Wirkfaktor für den Kampf der nach wie vor elitär um Herrschaft agierenden politischen Parteien auf der demokratischen Oberfläche. Als typisch für diesen Prozess erscheint die Fähigkeit, jedwede politisch konträre Erscheinung in der Gesellschaft zu banalisieren und daraufhin zu kommerzialisieren, indem sie, zum Massenbedarfsartikel verwandelt, in den Konsumtionsprozess einbezogen wird und somit ihre polemische Entschärfung erfährt. Das bleibt nicht ohne Rückwirkung auf die einstmaligen politischen Akteure: Sie verlieren den Begriff des Politischen zugunsten des Ökonomischen, Konfliktebereinigung durch Geld, der sehr begrenzte Horizont des Kaufmanns. Daher das Versagen im gegenwärtigen Widerstreit mit Regierungen des ›alten‹ Politikstils, wie zum Beispiel mit Russland. Die Attraktivität dieser westlichen Regierungsform, einer beliebigen Produktgüterwerbung nachgestellt, findet sich aufbereitet und dargeboten in einem Tableau von Freiheitswerten. Auf der Basis des großmaßstäblichen Begriffs parlamentarischer Demokratie und politischer Gewaltenteilung entsteht somit eine Öffentlichkeit mit folgenden Wertebeziehungen: Menschenrechte – Freizügigkeit: Universalismus, Toleranz, Flexibilität – Freier Markt und Handel statt Machtpolitik – Ökologismus. Solchermaßen dann in westlich-pluralistische Form gebrachte Welt-Gesellschaft soll aus dem eigenen Sosein heraus ein hohes Maß an Innovationskräften entwickeln, die der im Industriezeitalter verheerenden Naturausbeutung (Erschöpfung der Ressourcen an Bodenschätzen, Beschädigung von Klima und

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Umwelt) nicht nur Einhalt gebieten könne, sondern vielmehr den Weg bereite für ein neues und jederzeit regenerationsfähiges Verhältnis ›Mensch – Natur‹. Soviel zu den Vorstellungen von einer funktionierenden Massendemokratie. Ein Grundzug in der Massendemokratie ist deren universelles Angebot zur massenhaften Verwendung derjenigen Codes – hierzu gehören auch die eben genannten Freiheitswerte –, die, sofern als Identifikationsmittel akzeptiert, die Massen immerfort als Masse bestätigen können: die Selbstkonsumtion und die Konsumtion des Selbst. ›Mein‹ Staat, ›meine‹ Regierung, ›meine‹ Gesellschaft – als absolut gesetzte, feste Identifikationselemente. Ohne die allzeit notwendige Vernunftprüfung durch den Einzelnen härten sie aus zu einem Kanon aus verbindlichen Konventionen. Unter Ägide solcher Konventionen, insbesondere zur Durchsetzung des Friedens als Synonym für – westliche – Freiheit auf der Folie des Krieges, muss zwangsläufig die Wiederlegitimierung und das Aufmarschfeld zur Durchführbarkeit von zunächst ›konventionellen‹ Kriegen, auch in seit Jahrzehnten scheinbar krieglos gebliebenen Regionen in Europa und der übrigen Welt, erneut aufbereitet werden, weil Krieg mit Werte-Inhalten, nicht aber mit wirtschaftlichen und politischen Interessenkonflikten in Zusammenhang gebracht wird. Als Kriegsanlässe gelten, gemäß oben genannter Werte, die Durchsetzung von universeller Freiheit und Demokratie für alle auf der Welt und überall nach stets denselben Regeln. Kriege – unter oben bezeichnetem kaufmännischen Aspekt – sind mithin Instrumente für die Setzung universeller allgemeiner Geschäftsbedingungen namens Demokratie und Freiheit: die Wendung dieser einst ausschließlich politisch konnotierten Begriffe in die Felder der Ökonomie. Dieses Konstrukt als Identitätsstifter soll desgleichen den alten Begriffsinhalt der Nation ablösen. Der soziologisch bestimmte Terminus ›Gesellschaft‹ selbst verwandelt sich dabei weitgehend in den strukturalen Begriff der Öffentlichkeit, die sich auf Konsensfähigkeit mittels totalisierter Kommunikation trainiert. Öffentlichkeit sollte ursprünglich als Kontrollinstanz die Gesellschaft bewahren, insbesondere vor oligarchischen Verteilungspraktiken. Aber ein solches Vertrauen in das Funktionieren dieser ›Instanz Öffentlichkeit‹ ist unbegründet. Öffentlichkeit erscheint innerhalb der bürgerlichen Gesellschaftssysteme als diffuses Bündel heterogenster Interessenlagen, und ihre Bestrebungen bleiben ohne Legitimität. Das wird deutlich anhand der simplen Tatsache, dass zwar jeder das Recht hat, frei über nahezu alles öffentlich zu reden, doch ein Recht, dass dieses Gerede für wertvoll zu erachten und dementsprechend zu handeln sei, ist damit keineswegs verbunden: Es bleibt der ›Speaker’s Corner‹-Effekt. Um Geschehnisse in der Wirklichkeit kommunikabel herzurichten, müssen die vitalen Kontinuen von öffentlichkeitsbeherrschenden Nachrichtenmedien zu Themen zerbrochen werden. Sodann erfolgt deren Zurichtung nach Maßstäben

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dramatischer Tauglichkeit – Schock, Sensation, Anrührung –, die, nach solcher Bearbeitungsstufe zu Sprach- und Bild-Codes vereinheitlicht, die Kommunikationskanäle speisen: So werden Kampagnen geschaffen und mit ihren erstellten Themen dominieren sie nach Chart-Mustern in der Top-Hit-gemäßen Abfolge ephemer die Öffentlichkeit. Diese findet sich zunehmend paralysiert durch solcherlei schubweise losgetretenen Kampagnen ungeschiedenster Inhalte, doch mit stets gleichbleibender Pose hochgeschraubter Relevanz, wodurch als Erstes beim Rezipienten der Maßstab für ›wichtig‹/›unwichtig‹ verlorengeht, denn Wissen ist nicht per se wissenswert. Über die in Rede stehenden Sachverhalte im Einzelnen weiß diese Öffentlichkeit immer weniger zu sagen, schlichtweg weil es für die komplex und zugespitzt hereinbrechenden Probleme den Zugehörigen in der Gesellschaft im steigenden Maß an Einsicht, fachlicher Kompetenz und Erfahrung mangelt. So wiederholt man öffentlich die für die Öffentlichkeit präparierten Verbalformen, woraufhin die Empfänger sich allein dadurch schon im Besitz von Wissen und Zuständigkeit wähnen. Wenn die ›vox populi‹ einen solchen Grad an Subversionsverlust erlitten hat, dass es passieren kann, beispielsweise einen Taxifahrer über ›cash flow‹, ›Derivatenhandel‹, ›Hedgefondsmanagement‹ und ›Euro-Krise‹ parlieren zu hören – Begriffe aus Fachgebieten, von denen er vermutlich so viel versteht wie ich, nämlich gar nichts –, dann könnte man daran nicht etwa den Zuwachs an Mündigkeit ersehen, sondern vielmehr die Einbuße an Erfahrung und Identität des Einzelnen, der mit solcher Camouflage von Wissen ›zu wissen meint‹. Diese Attitüde, eine Arroganz ohne Grund, verwandelt die rationalen Erkenntnisse in Theologeme: Längst glaubt man auch an wissenschaftliche Beweise und an Demoskopie, wie Religiöse an die jungfräuliche Geburt oder die Auferstehung nach dem Tod. Vor dem Hintergrund des vielfach der Natur abgerungenen Wissens ist es problematisch geworden, keine Phantasie zu haben, denn aus diesem Wissen lassen sich wissenschaftliche Beschreibungen und Modelle von der Welt und ihrem Ursprung schaffen. Allerdings kehren all diese daraus entwickelten Theorien von Anbeginn den Makel der Anthropozentrik deutlich hervor, was vor allem oftmals Erfindungen mit Entdeckungen verwechseln heißt. Man denke nur an die Astrowissenschaften und deren Begriffe: Der ›Urknall‹ (noch am nächsten dem theistischen Schöpfungsakt verwandt), sodann ›Krümmung von Raum und Zeit‹, ›Dunkle Materie‹, ›Wurmlöcher im All‹, ›Schwarze Löcher‹, ›Anti-Materie‹, ›Gravitationswellen‹ . . . »Hier riecht’s nach Menschenfleisch!«, bemerkte der Riese im Märchen, und nach Menschengeist!, denn Begriffe sind Wörter und keine Wirklichkeit. Vor einiger Zeit habe ich den Vortrag eines Physikers über ebenjene Themen aus der Astrowissenschaft gehört, und währenddessen fühlte ich mich in die

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Kinderzeit in den Religionsunterricht versetzt, als man mir von Gott, den Engeln, den Zehn Geboten sprach: Denn all dies war in diesem Vortrag enthalten, wenn auch in veränderter Staffage und mit anderen Begriffen. Dasselbe im Politischen: Die Erfahrbarkeit von Demokratie – einem ohnehin sehr großmaßstäblichen Begriff, dem weltweit vielleicht nur ein Dutzend Staaten genügen, und zwischen denen dürfte das Gefälle beträchtlich sein –, die Erfahrbarkeit von Demokratie also schwindet im selben Maß, wie die Grenzen zwischen demokratisch und despotisch verwischen. Verkleinert man nämlich den Blickmaßstab, wird man innerhalb der demokratischen Gehäuse alle Formen von Selbstermächtigung, Autokratie, oligarchischen Herrschafts- und Verteilungsformen erkennen, also genau das, was per definitionem eine demokratische Öffentlichkeit verhindern sollte. Die praktische Erfahrbarkeit von Demokratie scheint dem Alltag der Menschen in immer geringerer Weise gegeben. Und den privilegierten Status für Kompetenz und Wert, also für Gültigkeit und Herrschaft, reservieren sich nach wie vor autoritäre Instanzen und deren Wortführer in Medien, Parlamenten, in der Wirtschaft. Was nicht heißen muss, dass Autorität und Status automatisch Wissen bedeuten; möglicherweise existieren in allen Etagen der Gesellschaft mehr Taxifahrer als man glaubt. Der schließliche ›Erfolg‹ solcherart Kampagnen beim Rezipienten ist allemal die Übersättigung: Man mag es irgendwann nicht mehr hören – Ermüdung statt Erkenntnis. Diesen Effekt lastet man vielfach nicht etwa der banalisierten Kommunikation, sondern der jeweiligen Thematik selbst an. Doch gilt auch hier der Grundsatz der Informatiker: Je mehr Kommunikation, desto weniger Information. Nahezu beliebig steuerbar hat Öffentlichkeit sich selbst zu dem am leichtesten kontrollierbaren und lenkbaren Medium für Oligarchen degradiert. Eine solchermaßen installierte Öffentlichkeit ist zwar eine falsche Öffentlichkeit, weil darin sämtliche akuten Konflikte – wenn nicht durch zufällige Indiskretion, dann bestenfalls im Nachhinein – bekannt und benannt werden. Aber gerade in dieser Gemengelage aus Inkompetenz, Erfahrungsverlust, rudimentärem Wissen und unprivilegierten Redeformen entwirft Öffentlichkeit auf solch indirekte Weise ein präzises Bild von den Konfliktausmaßen der je aktuellen Zeit. Sie fungiert somit in gewisser Weise als Gedächtnis für Spannungen und Zerwürfnisse in der Gesellschaft, entgegen aller staatstragenden Parolik. Dieses auf der einen Seite unlegitimierte, dieses unwissenschaftliche, nichtprivilegierte Wissen und Sprechen der Leute ist anderseits keineswegs mehr ein unterdrücktes, weder ein unterworfenes noch ein verfemtes Wissen. Es findet sich vielmehr eingeschrieben in die kommerzialisierte Ökonomie der Macht – es bildet seine Machteffekte aus, die sich in Sonderheit gewisser elektronischer Medien wie Twitter und Facebook bedienen und von daher ihre steuernden und kontrollierenden Funktionen in die Gesellschaft einführen. Der alte, funktionale Effekt der

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Aufklärung, die Katharsis als Folge der enthüllten Wahrheit eines Skandals, findet praktisch nicht mehr statt. Im Gegenteil schreiben sich diese Wissensinhalte einer ›medialen intelligenten Oberfläche‹ ein, auf der schlichtweg alles erscheinen und ebenso alles wieder spurenlos verschwinden kann. Deren Haupteffekt bildet nicht mehr die provozierte revolutionäre Tat, sondern das Kumulieren der Wissensinhalte zum Zweck des Mehrheitsvotums auf der Basis ebenjenen Wissens der Leute im Befinden über ›wahr‹ und ›falsch‹, in der allbeherrschend kommerziellen Sphäre über ›in‹ und ›out‹. Einerseits unlegitimiertes, unwissenschaftliches Wissen der Leute, anderseits zur machtvollen Diskursivität ausgebreitet – diese elektronischen Medien erfüllen idealerweise die Aufgabe, bei diesen Wissensarten, diesem von mannigfaltigen Surrogaten des Herrschaftswissens verschütteten ›volkstümlichen Wissen‹, das Potential der Subversion zu resorbieren und in die Ökonomie der Neben-Mächte, nämlich dem Votum der Massen, zu überführen. Wobei diesen Neben-Mächten bedeutende Wirkungen zukommen, bedenkt man zum Beispiel, dass selbst in universitären und akademischen Betrieben, also den eigentlich privilegierten Wissensmächten, den Wert einer veröffentlichten Arbeit die Anzahl der ›Klicks‹ im Internet bestimmen – was auf direkte Weise dann über die Freigabe oder die Verweigerung weiterer finanzieller Mittel für die betreffende Forschungsarbeit entscheidet. Sobald ein solcher Werte-Maßstab allgemeingültige Verbindlichkeit erhält, lässt sich deren enormer Machteffekt unschwer erkennen. Die unmittelbare Folge hiervon aber dürfte keineswegs die oft beschworene ›Demokratisierung‹ des Wissens, keine friedvolle Verschmelzung der Diskurse sein, sondern das Gegenteil: Der überwunden geglaubte Kampf um Diskurshoheiten tritt in eine neue, verschärfte Phase. Weil, der alten Erkenntnis zufolge, Wissen Macht sei, somit die Zivilgesellschaft von jeher sortiert ist gemäß Begriffen des Kampfes um jedwede Form von Macht, treten sich mit diesen relativ neuen elektronischen Kampfmitteln gerüstet, und deren tatsächlich neuer Demokratisierung in Erwerb und Verfügbarkeit, die alten Parteiungen in neuer Rüstung gegenüber. Entscheidend für den Ausgang dieser Gefechte dürfte auch hier der technologische Aspekt der Bewaffnung sein: Die wesenseigene Indifferenz jeder Waffe gilt auch für ihre zivile, elektronische Ausführung. Das Fazit mag auf den ersten Blick paradox erscheinen: Öffentliche Medienkampagnen, zuhauf losgetreten und omnipräsent, erweisen gerade einen fundamentalen Mangel an Öffentlichkeit! Denn was in Kommunikationskanälen jeglicher Art erscheint, bedient lediglich die Idee von Öffentlichkeit. Hingegen die Manipulationsabsichten der Börsen zur globalen Reichtum-Armut-Verteilung, Pläne für Wirtschaftskriege, und immer wieder Völkermord, Vertreibung, ›ethnische Säuberungen‹: Diese und andere Szenarien der Mächte für Konfliktproduktion bleiben der realen Öffentlichkeit naturgemäß entzogen. Allenfalls retrospektiv, durch vereinzelte Indiskretionen – doch meist wenn die Dinge längst im

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Gange oder bereits geschehen sind – kommen derlei Machenschaften ans Licht, und das mediale Geschrei, zwar stets zu spät, ist dann umso größer. Was mithin fehlt, liegt auf der Hand: die Ablösung der retrospektiven durch eine prospektive Öffentlichkeit. Heydenreich: Für den Roman ist das Konzept der Verschmelzung von Kultur und Natur sehr wichtig. Und er bietet sogar eine Typologie dafür an: Die erste Stufe ist die des Animismus, die zweite die der Technisierung der Lebenssphäre. Sie kehren dann das Verhältnis um und bieten eine dritte Möglichkeit zur Aufhebung der Trennung an, als »die Virtualisierung verfremdeter menschlicher Verhältnisse in Form von deren Erlebens-Zuspitzung auf die Freiheitsgrade durch hochspezifizierte Technik/Technologie«. (NvE, 26) Ist hier ein ethisch-philosophischer Begriff der Freiheit oder ein naturwissenschaftlicher der Freiheitsgrade impliziert? Naturwissenschaftlich gelesen sind Freiheitsgrade nichts anderes als die Beschränkung auf übersichtliche, vordefinierte und determinierte Dimensionen. Ist das Glück als Maß von individuellen Freiheitsvorstellungen noch möglich oder werden Glücksvorstellungen durch technologische Vorgaben determiniert? Jirgl: Auch in einer vorgestellten ›dritten Natur‹ bleibt für jeden Menschen die Aufgabe, sich sein Glück zu erfinden. Oder, wenn man es technischer mag, sich sein Glück zu produzieren. Darin korrespondiert Glück mit Wahrheiten, die, weil es die ›eine‹ Wahrheit nicht gibt, auch erfunden werden müssen. Zu derlei Produktion allerdings sind Leitbahnen erforderlich, die gerade mit den omnipotent sich ausstellenden technischen (elektronischen) Gerätschaften ein neues, erweitertes Ethos erforderlich machten. Doch aufgrund der konstatierten ethischen Statik ›des‹ Menschen dürfte sich hierbei der Konflikt zwischen Glücksanspruch und dessen Verwirklichungsversuchen enorm verschärfen, neigt doch jegliche Produktion, auch die von Wahrheiten, zur Verfestigung der eigenen Produkte. Will heißen: Aus nur bedingt gültigen Wahrheiten, denen eine zeitliche sowie ereignisbedingte abgemessene Dauer zukommt, versuchen Ideologen die alleinige Beständigkeit der ›einen‹ – ihres Wahrheitsprodukts – festzusetzen. Daher erklärt sich in der Gegenwart die Fülle an Ideologemen, aus denen heraus in der Gesellschaft der herrschende ›Konsens‹ sich zusammensetzt. Allerdings sehe ich in den gegenwärtigen Massendemokratien das Problem nicht in der verfügten Verweigerung der Glücks-Produktion, sondern im Gegenteil: in der inflationären Glücks-Schwemme. Und weil Menschen gewohnheitsgemäß darüber am meisten und liebsten reden, was sie am wenigsten besitzen, sieht man beispielsweise in den künstlerischen Produkten aller Couleur bereits seit Längerem eine ›Glücks-Pornographie‹ sich ausbreiten: die Industrie für Surrogate, die den ›emotionalen Magen‹ verderben, wie der Genuss von zu vielen Süßwaren den leiblichen Magen. Diese Surrogatproduktion hat auch eine

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durchaus politische Dimension; hierzu ein Zitat aus »Nichts von euch auf Erden«: »Aus der Vorschule = für-Obrigkeit: Spare !niemals mit Ver-Sprechungen & mit Surrogaten. !Füttere das-Jenseits deiner Ver-Sprechen, aber !hüte dich davor, den-Unteren Das Echte zu geben. Die-Unteren würden übrigens die Echtheit Des Echten niemals erkennen können; Sklaverei ist !steigerbar, sobald sie An = Schein & Vokabular von Freiheit erhält.« (NvE, 369) Formen der Sklaverei sind auch in dieser gegenwärtigen Gesellschaft auszumachen: darunter Organhandel, Klonen, Leihmutterschaft, das Staatsmonopol auf Sterben und Tod (Bio-Macht). Zudem die neuen elektronischen Kommunikationsmittel: Techniken – arbiträr, indifferent, unregiert.

Zeitkonzeptionen und Zukunftsvisionen Mecke: Auf dem Mars, so schreiben Sie, gilt eine andere Zeitrechnung. (NvE, 106) Im Prolog und am Ende steht der Hinweis auf die Ewigkeit. (NvE, 11, 471) Der ›Waranledermensch‹ klärt uns auf über die Bedeutung der Grammatik für die Zeitlichkeit. Alle diese Hinweise deuten auf ein eigenes Zeitverständnis im Roman, das von dem üblichen physikalischen abweicht. Die Zeitlosigkeit einer virtuellen Buchwelt schimmert überall durch. Wie wichtig war Ihnen die Zeitlosigkeit der Buchwelt für Ihre Zukunftsvision? Haben Sie sich von modernen Zeittheorien inspirieren lassen? Jirgl: Neben den faktischen Zeitverhältnissen – hier der siderischen Dauer eines Mars-Jahres zu 687 Tagen gegenüber 365 Tagen des Erden-Jahres – gibt es in jedem Roman, so auch in diesem, eigene Zeitlichkeiten. Denn als Autor habe ich es mit zweierlei Grundverhältnissen zu tun, die ihre eigene Wirklichkeit als Wirklichkeit des Textes erstellen: die Gesamtheit der Beziehungen zwischen ›Zeitund Wirklichkeits-Empfinden‹ und die ›Erinnerung‹, die wie eine stete Hüllform alles Geschehene umgibt, leitet und die Wahrnehmungen auch in ihrer Dauer lenkt. So kann ein Tag aus mehr als 24 Stunden bestehen, kann mit anderen Größen als denen auf die äußere Zeit bezogenen seine Zeitlichkeit erstellen – zum Beispiel mit der Dauer von Tönen, Gerüchen, Witterungserscheinungen etc. –, die ihrerseits Zeitlichkeiten bedingen, die bei einfachem Zeitbezug verlorengingen. Aber insbesondere das Empfinden von ›Schmerz‹ und die ›Agonie‹ erstellen vollkommen andere Zeitmaßstäbe. Proust schrieb in »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit«, Buch 7: »Das Glück ist einzig heilsam für den Leib, die Kräfte des Geistes jedoch bringt der Schmerz zur Entfaltung.« Denn all diese Geschehnisse zwischen Empfinden und Erinnern (Assoziieren) entfernen sich von jedem linearen Zeit-Maßstab, je weiter sie sich auf einen solchen oder auf Theorien darüber beziehen sollen. Diese beiden unterschiedlichen Pole durch

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sein Schreiben miteinander zu verbinden und daraus seinen Text zu gewinnen, das gehört zur vornehmlichen Aufgabe des Schriftstellers. Das Zeitmaß in der Wirklichkeit des Buches wird auch in seiner Materialität bestimmt von Art und Volumen der jeweiligen Textpassagen. Welchen Verbalaufwand benötige ich beispielsweise zum Beschreiben eines Vorkommnisses oder einer Handlung? Ist der Verbalaufwand in seinem mimetischen Vermögen gegenüber dem zu Beschreibenden adäquat bemessen oder muss der Text seine verbale ›Zwangsverfettung‹ erleiden? Beschreibe ich überhaupt oder erzähle ich? Gebe ich bloße Fakten wieder oder kommentiere ich sie und beziehe sie syntaktisch in die Handlung ein? Diese und mehrere dergestalte Überlegungen verfügen auch über das Zeitmaß in einem Text. Überhaupt stellt erst der Bezug zwischen mindestens zwei Gegenständen, Orten, Personen etc. in der beliebig langen Folge von Satzperioden eine Beziehung her, die den Kausalbeziehungen in den Bereichen der Wissenschaften entsprechen kann. Hier kommt die entscheidende Aufgabe der Metapher zu, die aus dieser Beziehung und der Zufälligkeit alles Zeitlichen eine wirksame Wortverbindung zu schöpfen versteht, um die beiden Pole ›Wirklichkeits-Empfinden‹ und ›Erinnerung‹ sinnlich miteinander zu vereinen. Zur Markierung dieser innertextlichen Zeitzustände – stets in Abhängigkeit vom konkreten Kontext! – verwende ich in meinen Büchern drei verschiedene Schreibformen der Konjunktion, denn in ihr widerspiegeln sich auf direkte Weise die innertextlichen Zeitvorgänge: das regulär geschriebene »und« zur Kennzeichnung von seriell aufzufassenden Abläufen, während das »u« auf Gleichzeitigkeit der miteinander verbundenen Wörter bzw. Textteile verweist; das »+« schließlich bedeutet die Zeitunabhängigkeit der verbundenen Textteile oder Wörter, so zum Beispiel bei erzählten Trauminhalten, weil, der psychoanalytischen Theorie zufolge, die unbewussten Gedächtnisanteile nicht dem zeitlichen Einfluss unterliegen. (Die übrigen Schreiformen der Konjunktion – »&«, »u:« bzw. »:u« – beziehen sich nicht auf Zeitvorgänge innerhalb eines Textes.) Lampert: Ist der Roman so konstruiert, dass man ihn auch nicht-linear lesen könnte? Jirgl: Durchaus. Man kann ihn aber auch nicht-linear lesen, indem man zum Beispiel den Verweisen auf die Anmerkungen folgt und dann entweder dort weiterliest oder in den Haupttext zurückkehrt. Das ist kein Freibrief für Beliebigkeit, sondern die jeweilige Leseweise erstellt ihrerseits eine Metapher für den Umgang mit Wirklichkeit, hier mit der Wirklichkeit des Lesers in Beziehung zum Buch. Somit besteht die Möglichkeit, den Weg der Erfahrung – und sei es die Erfahrung beim Lesen eines Buches – entlangzugehen.

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Poetische Sprache und Wissenschaftssprache Mecke: Zum Schluss wollten wir noch auf die poetische Sprache und die Wissenschaftssprache zurückkommen. Ein alphanumerischer Code erinnert an eine Computersprache und lässt Assoziationen an Formeln und Wissenschaftssprache entstehen. Im Roman ist es aber anders: Der wissenschaftliche Bericht von Io 2034 ist in normaler deutscher Schriftsprache, die persönliche Erzählung von BOSXRKBN 181591481184-E im alphanumerischen Code geschrieben. Es scheint so, als ob eine Schrift, die Zahlen und Symbole verwendet, geeigneter ist, um differenzierter Emotionen und Erfahrungen auszudrücken. Haben Sie ein bestimmtes Konzept verfolgt, wie Sie die Wissenschaftssprache darstellen und von der Umgangssprache absetzen? Jirgl: Offenbar besteht ein Irrtum über das Begriffspaar ›alphanumerischer Code‹: Dieser Begriff ist keine Erfindung von mir, sondern dieser Code ist nichts weiter als die übliche Bezeichnung des Buchstaben- und Ziffernvorrats unserer Schrift, über den jede Schreibmaschinen- bzw. Computertastatur verfügt. Ausgehend von Schriften Roland Barthes’ und Vilém Flussers lässt sich über diesen alphanumerischen Code summarisch Folgendes aussagen: Zum einen gibt er die ›Lautevielfalt unserer Sprache‹ wieder, zum anderen aber birgt er in sich ebenso eine Fülle an ›Bild-Signalen‹ für die Welt der Dinge und Erscheinungen. Der alphanumerische Code repräsentiert demzufolge zweierlei: die ›Lautevielfalt‹ unserer Sprache und ihr ›graphisches‹ Erscheinungsbild! Das Kompositum ›alphanumerisch‹ lässt allerdings fälschlicherweise an Parität und an Gleichberechtigung sowohl in der Bedeutung als auch im Verhältnis von Buchstaben und Ziffern zueinander in einem Text denken. Dem ist keineswegs so. Vielmehr besteht innerhalb dieses verbindlichen Codes die starke Unterdrückung der Ziffern durch die Buchstaben – und schon zwei simple Fragen führen ins Zentrum des Problems. Zunächst: Was mochte vor Jahrtausenden die Menschen dazu bewogen haben, neben der (arabischen) Ziffer auch das ausgeschriebene Zahl-Wort einzuführen? Und weiter: Warum durfte die Ziffer keineswegs allein dem Bezeichnen von Mengenangaben dienen? Was folgt daraus? Es existieren zwei miteinander unvereinbare Wirklichkeiten: die Wirklichkeit des Alphabets und die Wirklichkeit der Ziffern. Man hat in der Hirnforschung erkannt, dass beispielsweise das Lesen eines von links nach rechts zu einem Satzende hin geradlinig verlaufenden, alphabetischen Textes andere neurophysiologische Vorgänge auslöst als das Lesen (Entziffern – Erkennen) einer beliebigen mathematischen Formel. Bereits die einzelne Ziffer inmitten eines alphabetischen Textes zwingt den Leser in seiner Lesetätigkeit zum ›Anhalten‹ und

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›Umschalten‹ von der linearen Wirklichkeit der Buchstabenwörter zur ›insulären‹ Wirklichkeit der Zahlen. Kurzum: Der alphanumerische Code widerspiegelt die beiden Wirklichkeitsbedürfnisse des auditiv und visuell in der Welt seienden Menschen. Er hat demnach eine Möglichkeit gefunden für den Ausdruck zu beschreibender ›Erscheinungen‹ sowie für den zu kalkulierender (abzählbarer, zu wertender) ›Sachverhalte‹. Genau darin finden sich die Gründe zur Verschriftlichung und gleichzeitig zum Verziffern auch unserer Wirklichkeiten. Und das bedeutet zum einen die ›Rückkehr zum Bild‹ – ob in Piktogrammen oder in den Computeranimationen der ›Virtual Reality‹ –, zum anderen den ›Vorausschritt zu den Zahlen‹ – denn Computer waren und sind letztlich bloße Rechenmaschinen. Die Rückkehr zum Bild bedeutet die ›Wiederkehr der Imagination‹, der Vorausschritt zu den Zahlen die ›Festigung der Kalkulation‹. Hierin findet das Spannungsverhältnis zwischen Buchstaben und Ziffern innerhalb des alphanumerischen Codes gegenwärtig seinen deutlichsten Ausdruck wie auch den besten Hinweis auf seine Gebrauchsfähigkeit für literarisches Schreiben. Der paritätische Einbezug der Ziffern ins Alphabet durch die Marsianer im Buch »Nichts von euch auf Erden« ist, wie jeder Eingriff in ein bestehendes Regelwerk der Grammatik, ein politischer Akt und verbindet sich mit Herrschaft, weil dieser Akt über die Kommunikativität innerhalb einer Gesellschaft verfügt. Die ersten Folgen davon sind die neuen Namen, die den Erdbewohnern aufgrund dieser erweiterten Alphanumerik verordnet werden. Mecke: Aber da kommen Sie eigentlich den Physikern sehr nahe, gerade in der Verwendung von graphischen Aspekten, von Körperlichkeit, von visuellen Effekten. Viele Physiker sind einfach sehr visuell orientiert. Da rennen Sie bei ihnen offene Türen ein. Jirgl: Ich habe auch feststellen müssen, dass bei Naturwissenschaftlern, sei es bei Physikern oder Mathematikern, ein viel größeres Verständnis für diese Methode vorhanden ist als bei Literaturkritikern. Bei Vertretern dieser Fächer – also gerade bei Naturwissenschaftlern oder Musikern – hat man einen sehr großen und schnellen Zugang zu dieser Methode. Man ist sich schnell einig, wenn man darüber redet. Heydenreich: Sie verwenden das Prinzip der mathematischen Ziffer subversiv. Denn die Zahl ist da, um etwas zu quantifizieren und um abstrakte Inhalte zu transportieren. Sie steht einerseits für Eindeutigkeit. Wenn Ziffern aber in einem literarischen Text ästhetisch eingesetzt werden, gewinnen sie eine poetische Dimension: Die Zahlen werden plötzlich interpretierbar, semantisch beginnen sie zu schillern. Jirgl: Das ist richtig, völlig richtig. Während wir es in anderen Bereichen – also auf dem Gebiet der Literatur und der Literaturkritik – doch mit sehr harten und

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ausgehärteten Normen zu tun haben. Und wenn Sie gegen die anrennen, dann schlägt es Funken – glaube ich. Das ist aber nicht meine Absicht, gegen Leute oder gegen bestimmte Konventionen vorzugehen, sondern ich mache einfach das, was mir richtig erscheint. Und wenn Sie das so wahrnehmen, dann ist ja meine Rechnung aufgegangen. Das ist vollkommen richtig. Mecke: Der Ich-Erzähler ist eigentlich ein Spielball der Bücher, ein Handlanger, der erst später seine eigentliche Rolle erfährt. Es scheint fast so, als ob der Autor vom Buch geschrieben wird. Der Ich-Erzähler BOSXRKBN 181591481184-E weigert sich auch seine Identität – als ›Reinhard‹ übersetzt (NvE, 221 und 498 f.), Sie schreiben: »Te-s-be-ku-v 10-9-18-7-12 ohne E« (NvE, 233) – wissen zu wollen. Zugleich erfahren wir, dass der Ich-Erzähler Ihren Namen trägt. Jirgl: Den eigenen Namen, verschlüsselt und der neuen Alphabetik gehorchend, in den Text von »Nichts von euch auf Erden« einzubringen, erfüllt dieselbe Funktion, wie beispielsweise Alfred Hitchcocks kurze Auftritte zum Bestandteil seiner eigenen Filme wurden. Derlei Verfahren hat eine viel ältere Tradition, und wenn ich dies Kleine mit Großem vergleichen darf, dann bietet sich der Hinweis auf Maler der Renaissance an, die sich zuweilen ebenfalls – meist als Randfiguren – in ihre Gemälde einbrachten, so zum Beispiel Leonardo da Vinci in »Das letzte Abendmahl« oder Michelangelo in »Das Jüngste Gericht«. Das ergibt gewissermaßen einen ›Fingerabdruck des Ich‹, eine potenzierte Individualität im erschaffenen Werk. Mecke: Welche sind die Funktionen eines Autors beim Schreiben eines Zukunftsromans? Jirgl: Das ist eine sehr umfassende Frage, die im Grunde das gesamte Gelände alles Schreibens einfasst. Kaum eine andere Kunstform ist während des gesamten zwanzigsten Jahrhunderts für großangelegte Zukunftsentwürfe so streng in Fron genommen und missbraucht worden wie die Literatur: Die Vertreter der Rassensowie der Klassentheorien ließen von sogenannten engagierten Literaten zuerst die Kulissen, sodann die Apologetik zu ihren Ideologien sich liefern. Postulate, die Welt durch Literatur zu verändern, wie auch das Heilmittel für die Welt im Kollektiv zu suchen und anderseits der Literatur in den Formen von Gemeinschaftsprojekten eine neue Bedeutung zu vermitteln, daher die Literatur des Autors nicht mehr bedürfe, weil die einzige Stimme, die zähle und daher zu schreiben vermag, die unterdrückten Klassen und Völkerschaften seien: Derlei Auffassungen entspringen einem speziellen Kretinismus. Literatur aller Genres ist weder moralische Besserungsanstalt noch Erziehungsmittel innerhalb soziopathischer Verhältnisse. Der Autor schreibt weder zum Ruhm der Kunst noch zu Ehren eines Gottes oder eines anderen Funktionärs. Mit Literatur ist keine Welt zu retten, wohl aber durch die Welt die Literatur.

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Auf dieser Grundlage formuliert sich Engagement in der Literatur dergestalt: Alle Inhalte sind wegen ihrer Grobmaschigkeiten beliebig, sie erscheinen austauschbar und sind allein daher schon nicht der bestimmende Gradmesser für Bedeutung von Literatur. Konkret allein ist nur die Form. Einzig in der ›Schreibweise‹ – unabhängig vom kursierenden Wörtervorrat einer beliebigen Zeit, ebenso unabhängig von den psychischen und physischen Gegebenheiten des Autors, die ihrerseits und durchaus vorbewusst seinen Zugriff auf Sprache determinieren (das heißt ›Stil‹: die Biologie im Schreiben) –, in der ›bewusst‹ getroffenen Wahl seiner Ausdrucksmittel und seiner Textkompositionen, ›engagiert‹ sich ein Autor. Unabhängig vom Genre eines Buches ist Engagement eine Frage der Form. Form aber ist Leere. Wenn Form mit Dingen (Signifikanten) angefüllt wird, erlangt Form Bedeutung (Sinn). Das ist dann eine weitere Stufe von Leere, die ihrerseits der Anreicherung mit neuerlichen Signifikanten bedarf, um als Form Bedeutung zu erlangen. Und so weiter. Heydenreich: Lieber Herr Jirgl, wir bedanken uns bei Ihnen ganz herzlich.

Zum Autor 1953 in Ostberlin geboren, absolviert Reinhard Jirgl zunächst eine Ausbildung zum Elektromechaniker. 1971 nimmt er ein Studium der Elektroniktechnologie an der Berliner Humboldt-Universität auf, das er vier Jahre später als Hochschulingenieur abschließt. Im Anschluss arbeitet er als Ingenieur an der Akademie der Wissenschaften der DDR in Berlin-Adlershof. 1978 wechselt er schließlich als Beleuchter an die Ostberliner Volksbühne, wo er unter der Ägide Heiner Müllers Zeit für seine eigentliche Leidenschaft findet: das Schreiben. Der junge, experimentelle Autor schreibt und schreibt. Bis zur Wende entstehen sechs Manuskripte – die in der DDR allesamt unveröffentlicht bleiben. Die einzige Veröffentlichung vor 1989 hat Heiner Müller durchgesetzt: einen Auszug aus dem »Mutter Vater Roman« in der Zeitschrift »Sinn und Form« 1986. Die Gesamtpublikation von »Mutter Vater Roman« wird in der DDR abgelehnt. Erst 1990 erscheint das Buch bei Aufbau. Seitdem hat Jirgl mehr als ein Dutzend Bücher veröffentlicht – und dafür fast ebenso viele Preise erhalten. Der Durchbruch gelingt ihm Mitte der Neunzigerjahre mit seinem Roman »Abschied von den Feinden« (1995). Es folgen unter anderem die Romane »Die Unvollendeten« (2003) und »Die Stille« (2009). Zuletzt erschien »Nichts von euch auf Erden« (2013).

Zitierte Literatur Jirgl, Reinhard: Abtrünnig. Roman aus der nervösen Zeit. München: Hanser, 2005 • Die Stille. Roman. München: Hanser, 2009 • Die Unvollendeten. Roman. München: Hanser, 2003 • Nichts von euch auf Erden. Roman. München: Hanser, 2013.

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Weitere Quellen [Reinhard Jirgl im Gespräch mit Denis Scheck zu »Nichts von euch auf Erden«] http:// mediathek.daserste.de/Druckfrisch/Reinhard-Jirgl-Nichts-von-euch-auf-Erde/Das-Erste/ Video?documentId=14918722&topRessort=tv&bcastId=339944. TV-Beitrag aus druckfrisch. Neue Bücher mit Denis Scheck: Das Erste, 26. Mai 2013 (17. März 2015).

Mit Reinhard Jirgl sprachen der Physiker Klaus Mecke, die Literaturwissenschaftlerin Aura Heydenreich, die Neurowissenschaftlerin Angelika Lampert und die Theologin Isolde Meinhard im Februar 2014. Da die für den Dialog anberaumte Zeit sich als viel zu kurz herausstellte, beantwortete Reinhard Jirgl die verbliebenen Fragen später schriftlich. Das vorliegende Interview setzt sich sowohl aus den mündlichen wie aus den schriftlichen Ausführungen Reinhard Jirgls zusammen.

Aura Heydenreich und Klaus Mecke

Die Zeit ist der Abgrund, in den wir fallen Thomas Lehr im Dialog zu »42« Mecke: Sie haben mit »42« einen Roman über die Zeit geschrieben, in dem die Folgen eines Zeitstillstandes eindrücklich geschildert werden, weshalb wir neugierig geworden sind, welche Rolle die Physik in Ihren literarischen Werken spielt. Woher rührt Ihre Faszination für die Physik? Lehr: Das ist biographisch begründet: Ich habe als Schüler Physik und Mathematik gehasst, weil ich darin nicht gut war – zunächst mal. Ich fürchte, es lag einfach an schlechten Lehrern. Ich habe schnell gemerkt, dass ich sprachverliebt bin, für die Literatur gemacht. Allerdings kam mit 16 oder 17 dann plötzlich das Interesse für die Physik. Mit Albert Einstein und Max Planck fing das an, ihre Theorien faszinierten mich. So habe ich gewissermaßen von oben her angefangen, und ich sagte mir: Wenn du Einstein verstehen willst, musst du dich zunächst mal mit der Mechanik beschäftigen. Dann wurden meine Schulnoten schlagartig besser, sowohl in Mathematik als auch in Physik. Das ging so weit, dass ich schließlich Biochemie studiert und dort in den ersten beiden Studienjahren auch sehr viel Mathematik und Physik betrieben habe. Das grundsätzliche Interesse an den Naturwissenschaften hat sich bis heute erhalten. Strobel: Ihre Texte bilden ein Gewebe zahlreicher Anspielungen aus Philosophie und Kunst, Literatur und Physik, Ethnologie, Soziologie und Psychologie. JeanJacques Rousseau geistert ebenso durch Ihre Texte wie Augustinus, Robinson Crusoe findet sich neben Dornröschen, Japan neben Potlatsch. Wie organisieren Sie diesen Diskurs um den Stillstand? Lesen Sie bei Ihrer Recherche einfach korallenartig in alle Richtungen oder wählen Sie die Lektüre nach eher kanonisierten Gesichtspunkten? Wie recherchieren Sie für einen Roman? Lehr: Es ist selten so, dass ich ein Projekt ohne Vorwissen beginne. Die Projekte haben einen Kristallisationskeim, der in meinem sachlichen Interesse begründet ist. Zu »42« ganz konkret: Da habe ich schon Jahre vorher ohne konkrete Schreibabsicht und nur aus wissenschaftlichem und erkenntnistheoretischem Interesse immer wieder zur Zeitphilosophie gelesen. Auf einer solchen Basis beginnt dann das Projekt. Wenn ich mich entschließe, den Roman zu schreiben, dann sammle ich meist alles, was ich habe, stelle Bücher zusammen. Oft habe ich dann schon eine Handbibliothek von sechs bis sieben Büchern irgendwo stehen. Diese lese ich erneut, dann bemühe ich mich, die Lücken zu schließen, kaufe weitere Bücher, lese endlich einmal Augustinus’ »Bekenntnisse« ganz. Oder ich

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recherchiere, was in den letzten fünfzig Jahren auf dem Gebiet passiert ist, und erweitere den Handapparat auf vielleicht zwanzig, dreißig Bücher, mehr sind es oft nicht. Dann exzerpiere ich die, sehr genau, so als müsste ich Vorträge halten. Darauf greife ich beim Schreiben immer wieder zurück. Wenn ich kreativ arbeite, muss ich meinen sachlichen Exzerpten vertrauen. Neben dieser Aufstellung von systematischen Grundlagen beginne ich allerdings schon – assoziativ –, vielleicht wirklich etwas korallenartig zu lesen. Mit dem Hervorbringen des Textes kommen immer neue Facetten hervor. Neugierig folge ich – das ist eine Art Dialogprozess mit dem Werk – verschiedenen Fährten, die sich ergeben. Ich fange zum Beispiel mit der Philosophie der Gegenwart an, dann stolpere ich plötzlich über Rousseau und stöbere in dessen Schriften. So entwickelt sich das dann beim Arbeiten, so verästelt sich das Lesen. Mecke: So wie Sie die Recherche beschreiben, klingt es wie bei einem Forschungsprojekt, so wie wir das auch machen würden. Ist für Sie der Schreibprozess wie ein Forschungsprozess, bei dem man Ziele verwirft, Richtungen ändert, in Sackgassen gerät, neue Ziele formuliert? Ist die ästhetische Bewältigung eines Stoffes ähnlich eines Promotionsprojektes, bei dem man sich an einem Thema abarbeitet, mit jedem Erkenntnisfortschritt die Richtung ändert, frühere Teile revidiert und umarbeitet? Lehr: Ja, ganz sicher, es gibt viele Gemeinsamkeiten. Irgendwann wird der Romanorganismus eine Art Naturgegenstand. Er entwickelt eine Eigendynamik, wenn man ihn erst einmal erzeugt hat, und dann wird er auch widerspenstig. Man merkt, dass bestimmte Dinge, die man versucht, nicht funktionieren. Er entwickelt Asymmetrien und man erkennt Fehlgewichtungen. Das muss man korrigieren und auch analysieren, weswegen es so nicht geht, wie man sich das vorgestellt hat. Jeder Roman eines größeren Umfangs entwickelt sein Eigenleben. Es kann gut gehen oder schlecht gehen, manchmal gerät man in Krisen und Sackgassen. Oder es kann vorkommen, dass ich einen Seitenstrang verfolge, der mich in einen Abgrund zu ziehen droht, wenn ich weitermache. Dann muss ich analysieren, woran das liegt, damit ich es beende. Manchmal kann es auch gerade in der Anfangsphase sein, dass ein Roman einen Verlauf nimmt, der völlig unvorhergesehen, aber gut ist. Es kann sein, dass sich das ganze Buch dann ändert, weil ich merke: Das ist etwas Substantielles, etwas, das ich eigentlich schreiben möchte. So kann unter Umständen ein ganz anderes Buch entstehen. »Nabokovs Katze« hatte ich zum Beispiel als eine vierzigseitige Erzählung geplant und dann merkte ich: Das stimmt überhaupt nicht, das wird ein Roman. Und er hat auch nicht ein einfaches, sondern ein sehr kompliziertes Thema, aber es lohnt sich, dem nachzugehen. Und dann folge ich dem, wenn ich die gute Spur finde. Ich denke, dass das zum Teil ganz ähnliche Prozesse sind wie bei einem größeren wissenschaftlichen Projekt. Der Unterschied besteht darin, dass unsere Arbeit

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genuin schöpferisch ist. Ich muss nicht etwas analysieren oder entdecken, was da ist, sondern etwas hervorbringen – das ist vielleicht am ehesten noch mit der wissenschaftlichen Theoriebildung vergleichbar.

Poetisierung der Physik Mecke: Bei der Theoriebildung oder in einem Forschungsprozess hat man bestimmte Methoden zur Hand. Und das ist beim Schreiben dann vermutlich genau so, dass es gewisse technische Tricks und Methoden gibt. Sie haben 2011 an der FU Berlin ein Seminar zum kreativen Schreiben gegeben. Gerade am Anfang eines Schreibprozesses ist das Lernen von Techniken wichtig und hilfreich. Welche Schreibtechniken verwenden Sie im handwerklichen Sinne, um physikalische Zusammenhänge darzustellen? Welche Stilmethoden haben Sie, um einen lebhaften Eindruck von Physik, von mathematischen Modellen, aber auch von Physikern und von dem Physikbetrieb zu geben? Lehr: Wenn ich mich physikalischen Themen widme, gehe ich so vor, als würde ich gar keinen Roman schreiben. Ich versuche erst mal ein Problem zu verstehen, zu analysieren. Zum Beispiel musste ich mich bei »42« erst mit den Zeitaussagen, die aus der Quantentheorie folgen, auseinandersetzen. Das war auch mein veritables Interesse. Ich fragte mich: Was ist denn eigentlich die Auffassung von Zeit und Zeitlichkeit in der modernen Physik? Ich las einige wichtige Texte dazu, fasste sie zusammen, so entsteht ein Fundus. Ich kann das Gelesene natürlich nicht eins zu eins in meinen Roman übertragen – es ist nur die Voraussetzung für Kunst. Wenn ich etwas erkannt habe, dann ist der Prozess nicht zu Ende, sondern ich muss es künstlerisch formen. Dieses Wissen sackt irgendwo ab, sedimentiert sich, und ich greife dann – ein paar Monate später – in einem verwickelten Prozess darauf zurück. Ich mache auf der Grundlage dieses Wissens eine Szene oder die Aussage einer Romanfigur oder eine Diskussion zwischen Romanfiguren, man muss es malerisch und sprachlich aufgreifen und mit anderen Mitteln darstellen, als es ein Wissenschaftler täte, bei dem es eigentlich egal ist, wie er es präsentiert. Wenn er es in der klaren Sprache ausdrückt, ist das schön, aber es ist nicht das primäre Ziel seiner Arbeit. Mein Ziel ist die Kunst. Das Wissen wird zum Beispiel aufgegliedert in eine Erkenntnis und in eine Szene, die sich ergibt. Es wird entweder ein Szenario oder ein Dialog zwischen Figuren oder ein kleiner Essay im Kopf einer Figur. Das muss ich irgendwann entscheiden. Es ist ein zweiter Prozess, der dann abläuft, der gar nicht simultan zum Erkenntnisprozess ablaufen kann. Die Erkenntnis ist die Voraussetzung und irgendwann kommt die Idee, wie man sie künstlerisch überformen könnte.

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Mecke: Genau dieser Prozess interessiert mich: wie man von einem Sachbuch zu einem ästhetisch anspruchsvollen Text kommt. Man kann ja nicht aus einer Enzyklopädie eine Passage übernehmen und meinen, das ist jetzt eine ästhetische. Lehr: Das wäre schrecklich! Bei »42« ist es ein konkreter Fall: Da habe ich mir das Szenario des Zeitstillstands ausgedacht, und dann beginnen zunächst psychologische Fragen zu wirken und anschließend kommen die physikalischen Überlegungen dazu: Was entsteht aus dieser paradoxen Grundsituation? Ich denke darüber nach, schreibe mir bestimmte Dinge heraus und überlege mir die Umsetzung. Vor allem denke ich szenisch: Wie kann das Ganze spannend erzählt werden? Wie würden sich meine Figuren fühlen und welches Problem haben sie zuerst? Ich habe mir zum Beispiel bei »42« gesagt: Zunächst haben sie das Problem, dass sie sich ihren absonderlichen Zustand erklären müssen. Sie werden gezwungen sein, zu experimentieren. Kann ich überhaupt noch atmen, kann ich mich bewegen, was passiert jetzt? Sie müssen sich mit der ›Neuen Physik‹ beschäftigen, die durch die paradoxe Situation entsteht. Dann fallen mir assoziativ wissenschaftliche Erkenntnisse oder philosophische Ideen ein, die verwende ich, wie zum Beispiel die Leibniz’sche Monadologie, das heißt, ich habe das Instrumentarium im Hintergrund. Es kann auch sein, dass ich plötzlich beim Schreiben eine Leere spüre, weil ich merke, dass ich etwas nicht durchdacht habe. Dann muss ich zurückgehen und Erkenntnisse sammeln, studieren, bis ich einen Baukasten habe, auf den ich zurückgreifen kann. Wie dieser Umschlag eigentlich stattfindet, wie ich aus der Erkenntnis eine Szene mache, das weiß ich gar nicht genau. Das ist, glaube ich, das Mysterium. Ich erkenne nur, wenn es funktioniert. Ich sammle Einfälle, ich setze mich unter Druck, es szenisch spannend umzusetzen, und dann kommen die Ideen auch – szenisch oder bildlich. Man muss Erkenntnisse mit der Intention in sich bewegen, daraus Kunst zu machen. Darüber hinaus gibt es einen Qualitätsrahmen. Ich habe bestimmte Vorstellungen davon, was gute und spannende Literatur ist. Ich akzeptiere nur bestimmte literarische Verfahrensweisen. So lehne ich etwa die Technik ab, einen enzyklopädischen Essay einfach zu montieren. Ich versuche lieber, es szenisch zu lösen. Die rohe Erkenntnis ist noch längst nicht Kunst. Heydenreich: Physik und Poetik sind in Ihrem Roman kunstvoll miteinander verflochten. Doch Ziele der Physik sind zum Beispiel mathematische Evidenz und Komplexitätsreduktion, während sich literarische Texte durch Unbestimmtheitsstellen, Überstrukturiertheit, Perspektivenreichtum, Leerstellen und Paradoxien auszeichnen. Wie befruchten sich diese diametral entgegengesetzten Bereiche dennoch wechselseitig? Lehr: Für mich gibt es eine Grundrelation zwischen Kunst und Wissenschaften generell. Ich lese auch politikwissenschaftliche Bücher, historische Bücher, das

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ist für mich ganz selbstverständlich. Mich interessiert alles, mich interessieren auch die Musikwissenschaft, die Chemie und die Psychologie. Ich bin universell neugierig und es hängt von meinem aktuellen Romanprojekt ab, worin ich mich dann vertiefe. Oft habe ich Ideen, die mehrere Wissenschaftsgebiete berühren. Dank meiner Vorbildung habe ich keine Scheu davor, auch naturwissenschaftliche Abhandlungen oder Bücher einzuschließen, ich besitze die elementaren Voraussetzungen dafür. In der Physik wird es schwierig, wegen des mathematischen Apparats, aber ich kann zumindest gehobene populärwissenschaftliche Literatur lesen. Wenn ich mehr Zeit hätte, würde ich vielleicht auch mehr Mathematik betreiben, wenigstens als Schlachtenbummler. Aber es hängt von meinen aktuellen Projekten ab, wieweit sie physikalische Dinge berühren. Ich habe eine Neigung dazu. Mir gefällt das Elementare und Radikale an der Physik, das Einfache und das Kosmische zugleich.

Gedankenexperimente in Physik und Literatur Heydenreich: Der gesamte Roman hat den Status eines Gedankenexperiments, da der ontologische Status der Welt, die von der Erzählinstanz Adrian entfaltet wird, in der Schwebe bleibt. So stellt sich implizit die Frage, welche epistemische Funktion Gedankenexperimente in der Wissenschaft und in literarischen Texten haben können? Lehr: Mir gefällt es sehr gut, wenn Sie »42« als Gedankenexperiment lesen. So ist es auch geschrieben und gemeint und deswegen problematisiert sich das Buch, was die ontologische Grundlage angeht, ständig selbst. Doch die Ziele eines wissenschaftlichen und eines literarischen Gedankenexperiments sind einfach verschieden. Das Ziel des wissenschaftlichen Gedankenexperiments – so wie Einstein es liebte, Gedankenspiele zu machen: »Stellen Sie sich zwei Photonen vor« – ist es, die theoretische Modellierung zu verbessern, durch ein Gedankenexperiment eine Theorie zu erzeugen oder bestimmte Grundlagen der Physik klarer zu formulieren. Das Gedankenexperiment soll wissenschaftliche Aussagen verbessern oder hervorbringen helfen. Das literarische Gedankenexperiment ist ein Versuch, sich über szenische Anordnungen der ›conditio humana‹ zu nähern. Das Ziel meines Experiments ist die Beschreibung des Menschen und der menschlichen sozialen Verhältnisse. Das Ziel ist im weitesten Sinne dokumentarisch, es geht darum, eine künstlerische Fassung für den Zustand des Menschen zu liefern. Das ist natürlich ein weites Feld. Künstlerische Aussagen sind vielschichtiger, aber auch diffuser. Der Mensch mit all seiner Komplexität spiegelt sich in Kunstwerken wider, auf eine fassliche Weise. Das Kunstwerk

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muss eben auch allgemein rezipierbar sein, da darf am Ende nicht Mathematik rauskommen. Und es geht nicht nur um das Verstehen, die Kunst muss uns berühren, sie muss unmittelbar, intuitiv, emotional wirken. Das ist der große Unterschied, bei vielen Gemeinsamkeiten. Mecke: Ich möchte noch mal auf die Gemeinsamkeiten zurückkommen; die ›conditio humana‹ ist kein Thema der Physik, kann es auch nicht sein. Trotzdem werden Gedankenexperimente von Physikern oft verwendet, um überhaupt Denkmögliches auszuloten, um durchaus fiktive Räume zu schaffen, fiktive Szenarien zu schaffen, um die Grenzen einer Welt überhaupt zu sehen und darüber hinausgehen zu können. Sehen sie da nicht auch Parallelen? Lehr: Die sehe ich schon. Das Kreieren von neuen Räumen und auch Grenzüberschreitungen bei der Wahrnehmung menschlicher Verhältnisse, das berührt sich durchaus. So wie bestimmte Romane oder auch Gedichte wirklich Grenzen sprengen, die wir zuvor nicht gesehen haben. Man könnte Gustave Flaubert als Beispiel anführen. Das ist eine Zäsur in der Geschichte des Romans, nämlich zu sagen: Das gewöhnliche Leben der Menschen ist für mich ein Kunstgegenstand erster Güte. Ich muss keine Heiligenlegende schreiben, ich muss keinen großen Helden haben, ich kann den ganz normalen Alltag untersuchen mit dem verschärften Instrumentarium des modernen Romans und das wird ein Kunstwerk, obgleich ich nur schreibe, wie die Leute leben. Das ist eine Wahrnehmungsverschiebung, die gravierende Auswirkungen gehabt hat auf hundert Jahre Literatur. Im Grunde lässt sich deutlich sagen, dass der gewöhnliche Alltag für die Kunst ein Entdeckungsfeld geworden ist. Das wurde durch James Joyce ins Extrem gesteigert. Diese Entdeckung hat die Kategorien der Wahrnehmung verändert, ich glaube sogar, die Wahrnehmung des Alltags selbst. Das ist so ein ähnlicher Vorstoß und sowas Fundamentales wie eine neue Untersuchungsmethode in der Physik, wenn man sagt: Ich habe einen Teilchendetektor, mit dem ich plötzlich Dinge aufschließen kann, die ich vorher gar nicht gesehen habe.

Wissenschaftlerfigurationen und Figurenkonzeptionen Mecke: Keine Ihrer Hauptfiguren ist Naturwissenschaftler, sondern sie sind Wissenschaftsjournalisten, Literaturprofessoren, Journalisten, Filmemacher. Wieso taucht nie ein Physiker als Protagonist Ihrer Romane auf, obwohl sich doch zum Beispiel »42« so intensiv mit Physik beschäftigt? Lehr: Das passiert in meinem nächsten Roman. Ich musste mich erst langsam annähern. Im nächsten Roman gibt es Physiker auch als Protagonisten. Nicht nur als Bekannte von Helden. Ich denke aber, dass das ein Vermittlungsproblem ist.

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Sehen Sie, »42« ist der Roman, in dem am meisten und explizit über Physik nachgedacht wird. In meinen anderen Romanen spielen naturwissenschaftliche und mathematische Aspekte eine Rolle, aber sie stehen nicht im Zentrum, das ist nur bei »42« so. So habe ich mich gefragt, wie ich den Leser heranführen kann. Denn für das Gros der Leser ist die moderne Physik wahrscheinlich ein Buch mit sieben Siegeln, das muss man einfach sehen. Schon wenn ich sage: ›Wissen Sie, die Quantentheorie . . . ‹, dann erschrecken die meisten und wollen gar nicht mehr hören, wovon ich spreche. Dann ist es natürlich ein Kniff als Erzähler, dem Leser zu sagen: Meine Romanfiguren wissen es auch nicht. So haben sie die Chance, ein komplizenhaftes Verhältnis zu ihnen zu entwickeln. Die Romanfigur verfügt nur über ein Alltagswissen und holt den Leser dort ab, das ist sehr viel weniger abschreckend, als begänne ich sofort von Einstein zu schreiben. Eine andere Sache wäre ein entschieden diskursiver Roman, in dem Hauptfiguren wie Einstein und Planck Gespräche führen. Allerdings läge die Gefahr hier im simplen Kolportieren von Wissenschaft, man würde rasch etwas produzieren, dass wie bloße Physikdidaktik wirkt. Heydenreich: Es ist eine Diskrepanz in der physikalischen Forschung zu beobachten, zwischen dem ständigen Bestreben nach Vereinheitlichung fundamentaler Theorien – zum Beispiel Quantentheorie und Relativitätstheorie – und den zahlreichen Widersprüchen, die dieser Vereinheitlichung im Weg stehen: etwa auch im zentralen Punkt der Auffassung der Zeit. Diese wird in der einen Theorie klassisch – im Sinne Newtons – und in der anderen relativistisch konzeptualisiert, was nicht miteinander vereinbar ist. Ist es ein Anliegen des Romans auf diese Aporien hinzuweisen? Wäre das eine mögliche Funktion der Literatur bei der Thematisierung physikalischer Theorien? Lehr: Dieses Scheitern, eine einheitliche Erklärung zu finden, das gefällt mir. Ich habe mich der Situation in der Physik assoziativ angenähert, die seit neunzig Jahren mit einem sehr hohen Aufwand an denkerischem und experimentellem Material versucht, die beiden Groß-Theorien miteinander zu versöhnen. So wie die Figuren meines Romans es auch nicht schaffen, eine einheitliche und von allen akzeptierte Theorie ihres Zustands zu finden, weil der so bizarr ist. Ich finde es faszinierend, wie schwierig es ist, den Knackpunkt unserer ganzen physikalischen Welterklärung befriedigend, schlüssig, allgemein anerkannt zu erklären oder zu berechnen. Das hängt schon mit der Aporie zusammen, in der sich meine Romanfiguren befinden, die ebenfalls keine einheitliche Theorie entdecken. Heydenreich: Auffallend ist auch, dass dann, wenn es um Physik geht, die Figuren im Roman sich stets mit Theorien beschäftigen, die zum Teil ungelöst und zudem auch miteinander unvereinbar sind. Welche Funktion hat die Literatur im Aufzeigen dieser Aporien?

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Lehr: Aporien erzeugen Geschichten, das ist zweifellos ihr Verdienst. Für mich ist die Literatur auch eine Spielwiese des Denkens, Romane können geistige Abenteuer sein, die unbekanntes Terrain ansteuern. Einerseits kann man mit Kunst den Alltag erschließen, andererseits kann man ihn auch erweitern. Gewagte Theorien zu problematisieren oder die Vielschichtigkeit von Denkmöglichkeiten darstellen zu können, das ist für mich einer der großen Vorzüge des Romans. Deswegen verwende ich gelegentlich auch exotische oder recht artistische Theorien, um den Leser in seinem Denken anzuregen und ihm den Eros des Denkens nahezubringen. In einer Kultur, die, nach meinem Dafürhalten, immer platter wird, ist es ein großes Vergnügen, radikale Hypothesen aufzustellen und die Wirklichkeit durch Theorien zu transzendieren. Wenn die Theorien manchmal absonderlich sind, wenn sie einen großen ästhetischen Reiz haben, habe ich die Hoffnung, dass einige Leser sich dazu verlocken lassen, das eigene Denken zu wagen. Dabei kommt es mir weniger auf die Ergebnisse dieser Theorien an, als auf die Lust, damit umzugehen und den Leser zu provozieren, selbst zu denken. Strobel: Inwieweit hat sich Ihnen die ›Neue Physik« durch die Entscheidung, einen Roman über stillstehende Zeit zu schreiben, aufgezwungen? Inwieweit hatten Sie, nachdem die Grundidee des Romans gelegt war, noch Freiheit bei der Gestaltung dieser Physik? Lehr: Ein großer Reiz des Romans ergibt sich aus der prinzipiellen Reibung einer verrückten Grundidee an den Gesetzen der Physik. Im Grunde ist die Rolle der Physik im Roman – oder sagen wir mal: der realistische Anteil an moderner Physik oder an physikalischen Angaben – die, dass sie ständig dem märchenhaften phantastischen Setting widerspricht. Die Zeit steht still. Ich habe mir überlegt, dass es ganz gut wäre, wenn die Figuren sich bewegen können und kommunizieren können. Aber sie sollen kein Fahrzeug mehr benutzen können, sie sollen in ihrer chronischen monadologischen Isolation verharren. Das waren Parameter, die ich einfach gesetzt habe. Und dann habe ich im Laufe des Romans immer wieder überlegt: Kann das denn sein? Das kann natürlich nicht sein. Die Physik entsteht genau an der Grenzfläche, durch die physikalische Argumentation, die die Figuren immer wieder anführen: ›Aus den und den Gründen sind wir hier in einem völlig verrückten, unwirklichen Modell‹. Deshalb müssen sie neue Theorien bilden. Ich will dem Leser den Spaß an der Theoriebildung vorführen. Dann muss man genau wie beim physikalischen Gedankenexperiment eine kühne Idee haben. So wie Einstein sich einmal fragte, was passieren würde, könnte er so schnell reisen wie ein Lichtteilchen. Das ist ja eine Idee, die seine Theorie später verboten hat. Er hat das Paradox der Idee erklärt, aber er hat es sich zunächst mal vorgestellt. Und ähnlich ist dieses literarische Gedankenexperiment, nur viel märchenhafter, weil es lauter physikalische Paradoxien einschließt. Das Entdecken

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dieser Paradoxien im Roman führt, glaube ich, auf den Grund der Erkenntnis und des physikalischen Denkens. Die Phantasie reibt sich an der Wirklichkeit, und ich glaube, dass an dieser Zündfläche eigentlich auch Wissenschaft entsteht. Wenn man sich also etwa vorstellt: Wie kann ich fliegen? Dann kann ich mir das einmal in einem Erzählkunstwerk ausmalen. Aber um es wirklich zu schaffen, muss ich die Wissenschaft der Aerodynamik entwickeln: Tatsächlich können wir fliegen, aber nur, wenn wir den Weg des Widerstands gegen die Wirklichkeit nehmen. Hier machen Romane oft den ersten Schritt und die Wissenschaften den zweiten. Heydenreich: Die Protagonisten beschäftigen sich zwar auch mit der Quantenfeldtheorie und dem ›Standardmodell der Physik‹, zum Beispiel Quantenchromodynamik, aber auch mit den in der physikalischen Forschung so genannten alternativen Modellen der ›Neuen Physik‹ jenseits des Standardmodells, zum Beispiel Quantengravitation. Waren die alternativen Modelle für Sie eine Inspirationsquelle bei der narrativen Konfiguration im Roman oder ist die ›Neue Physik‹ im Roman ausschließlich imaginativen Gegebenheiten verpflichtet? Lehr: Die Figuren können diese Theorien ja gar nicht so genau kennen und diskutieren sie auch nicht en détail. Ich habe mich nicht umfassend mit Elementarteilchenphysik und dem weiten Spektrum der Experimente am CERN beschäftigt. Mir ging es darum, zu zeigen: Inwiefern berührt die dortige Forschung die Ideen, die die Philosophie der Zeit beeinflussen? Wenn sich dann meine Romanfiguren fragen, was eigentlich die gleichfalls im Roman eingesperrten Physiker über die bizarre Situation des Zeitstillstands denken oder wissen können, dann kann ich den phantastischen Reiz der modernen Theorien ausspielen, die mich – soweit ich sie verstehen kann – wegen ihrer Vertracktheit und ästhetischen Vielfalt stimulieren. Gerne spiele ich dann mit Theorien der Quantengravitation, die an der Grenze des Vorstellbaren agieren. Ich kann mir elfdimensionale Räume allerdings schlecht vorstellen. Es ist ein mathematisches Modell, ich weiß. Jedenfalls gibt es im Roman einen schönen Zusammenklang von Theorien, die unsere Vorstellungskraft und unsere intellektuelle Konvergenzfähigkeit aufs Äußerste strapazieren, mit der absurden Situation, die auch den Horizont der Figuren sprengt. Es hat mir Spaß gemacht, dass es so viele spekulative Theorien in der Physik gibt, die eine gewisse narrative Verrücktheit haben: die Viele-Welten-Theorie, die quantentheoretischen Überlegungen, die die Irrealität der Zeit ableiten wollen. Da hat man ja schon Romane. Das war auch der Grund, warum ich ans CERN gegangen bin, weil eben da auch solche Theorien lauern und auch nötig sind, um Phänomene zu ordnen und zu begreifen, die so enorm vielfältig und phantastisch sind, dass man sich als Künstler wohlfühlt, auch wenn sie natürlich ganz ernsthaft gemeint sind. Manchmal hatte ich allerdings den Eindruck, dass sie auch nicht immer so ganz ernst gemeint waren.

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Mecke: Für mich als Physiker ist es irritierend, wenn in dieser Vielfalt der Theorieansätze ›esoterische Ansätze‹, die in der Physik marginal sind, neben wohletablierten Theorieansätzen wie dem Zweiten Hauptsatz der Thermodynamik gleichberechtigt stehen. Ist das ein legitimes literarisches Verfahren? Lehr: Ich begreife Literatur als Tummelplatz, auf dem man verschiedenste Theorien, Einsichten und Figuren zusammenführen kann. Die Frage der Legitimität der Mixtur habe ich mir gar nicht gestellt. Im Grunde ist es so, dass meine Figuren mit allem ringen, was ihnen helfen würde, die Zeit zu verstehen. Dann kommen sie natürlich auf Grundlagendiskussionen wie denen in der klassischen Thermodynamik, ob man da einen Zeitpfeil ableiten kann oder nicht, das ist was sehr Solides, worüber man schon ein Jahrhundert oder länger nachdenkt. Aber sie begegnen auch bizarren Theorien, die Modelle wie John Archibald Wheelers Wahl berücksichtigen, oder irgendwelchen quantentheoretischen Spekulationen darüber, ob es nun eine m-Theorie gibt, die vielleicht die Zeit abschafft. Keine der Theorien hilft den Figuren aus dem Roman heraus, und so kann ich alle schön nacheinander oder besser durcheinander vorstellen. Die Denknot der Figuren, in die soll man eintauchen. Meine Absicht ist es, die Denklust beim Leser zu verschärfen. Deswegen behandle ich auch komplexe Theorien, die ich auf mathematischem Niveau selbst nicht verstehe. Ich kann aus dem Stegreif niemandem das Standardmodell sauber erklären. Ich habe einiges dazu gelesen, vergesse dann aber immer die Details. Und so geht es meinen Helden dann auch. Ich weiß allerdings recht viel über die Erkenntnisgrundlagen meines Romans und könnte also ein populärwissenschaftliches Buch über das Phänomen der Zeit schreiben, in philosophischer und physikalischer Hinsicht und unter Referenz der einschlägigen Theorien. Das enthält mein Roman als solides Wissensfundament sozusagen. Darauf baut er auf, das musste ich mir aneignen. Aber alle anderen Theorien, mit denen ich umgehe, sind nur dramaturgisches Material und sind auch nicht ernsthaft von mir untersucht, darüber könnte ich auch nicht urteilen. Wenn ein Leser sich sagen würde: Eigentlich möchte ich wissen, was ist denn mit dieser Quantenchromodynamik?, dann hilft ihm mein Buch nicht weiter. Aber vielleicht macht es ihn neugierig und er kauft sich ein Buch darüber. Das wäre ein schöner Nebeneffekt eines Romans, ich habe es ja auch so gemacht. Aber jenseits der Spielerei muss ich bestimmte Dinge ernst nehmen, die im Zentrum des Romans stehen und die Erkenntniskraft haben. So ist es ja auch in unserem Leben: Von bestimmten Wissenschaften verstehen wir etwas und andere nehmen wir bloß als Konsumenten wahr. Der Roman kann wenigstens das interdisziplinäre Feld vorstellen. Tanase: Inwieweit gehen Sie davon aus, dass Ihre Bücher zu verstehen sind, wenn sie so viel Hintergrundwissen voraussetzen?

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Lehr: Ich muss mir das immer sehr genau überlegen. Den Fundus, der den Büchern zugrunde liegt, gebe ich nie eins zu eins an den Leser weiter. Ich weiß fast immer mehr, als in meinen Büchern steht, und ich muss das auch sehr stark selektieren. Es gibt zwei Einschränkungen, wenn ich mir für ein Kunstwerk Fachwissen erarbeite. Ich schreibe kein Sachbuch, kein wissenschaftliches Werk. Mein Ziel ist es nicht, dem Leser alles beizubringen, was ich weiß, sondern ihn auf höherem Niveau zu unterhalten. Also spiele ich mit dem Wissen. Doch trotzdem muss einem geübten Leser alles verständlich sein, was ich schreibe. Auch wenn ich komplizierte Theorien abhandle. Das ist die Balance, mit der ich kämpfe und um die ich ringe. Selbst wenn ich in mathematische oder physikalische Theorien hineinführe, mache ich das auf eine Art und Weise, dass ein geübter Leser – also jemand, der sprachlich dichtere Kost verträgt und sich auch ein bisschen gedanklich bewegt – das ohne allzu große Mühe lesen kann. Ich kann es mir nicht leisten, wie ein Physiker zu sagen: Bevor du meine Theorien kennst, musst du die Tensoralgebra beherrschen. Ich will sagen können: Wenn du in der Lage bist, anspruchsvolle Literatur zu lesen, Hermann Broch, Thomas Mann oder Robert Musil, dann kannst du auch meine Bücher lesen. Das ist eine Aufgabe, die ich mir stelle: das Vermitteln von Wissen an einen Leser, der nicht viel mehr mitbringt als ein Eingeübtsein in die abendländische Lesetradition. Das ist eine Aufgabe – und deswegen muss ich bisweilen Dinge, die ich genauer kenne, heruntertunen auf ein allgemeinverständliches Niveau. Ich arbeite manchmal schon an der Grenze der Zumutbarkeit. Aber ich sage mir dann auch, wenn ich die Leser in so verwirrende, schräge Welten hineinführe, dann muss ich sie an der Hand nehmen und ihnen etwas dafür bieten, dass sie sich geistig bemüht haben. Ich lasse vieles weg und überlege oft lange, wie ich einen komplexen Zusammenhang in drei, vier klaren Sätzen formulieren kann. Es ist viel Vermittlungsarbeit. Am Ende darf nur übrigbleiben, was logisch und sprachästhetisch in das Gemälde passt. Ich kann zum Beispiel keine Konstruktionszeichnung einfügen, das muss ich wirklich vermeiden, und ein Blick in meine Exzerpte wäre tatsächlich für viele Leser meiner Romane eine Zumutung. Mecke: Das muss man auch jedem Doktoranden beibringen, dass man auch sehr viel weglassen muss. Lehr: Auch als Wissenschaftler sollte ich mich fragen: Was ist eigentlich meine Hauptthese? Wie kann ich die überzeugend und klar vermitteln? Vielleicht mit so wenig Mathematik wie nötig, weil auch mein Kollege nicht jedes Feld versteht und ich versuchen will, einen robusten Weg zu finden. Im Roman befinden wir uns außerhalb jeder quantifizierbaren Möglichkeit, es muss immer nur in Sprache geschildert werden.

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Tanase: Ich stelle mir das sehr schwierig vor, weil Sie sich in die Themen einarbeiten und dann versuchen müssen, den nötigen Abstand zu gewinnen, um alles auf das Verständliche zu reduzieren. Lehr: Ich studiere etwas, stelle ein Exzerpt her und dann schreibe ich einen anderen Teil des Romans. Erst nach einigen Monaten greife ich das wieder auf, dann habe ich den Abstand zu diesem Thema. Das ist da schon ein bisschen runtergekühlt. Jetzt kann ich relativ klar sehen, was davon eigentlich wichtig ist. Ich arbeite mit solchen Techniken des Abkühlens. Ich streiche auch viel: Die Arbeit am Ende des Buches ist oft das Herausstreichen von unnötig komplizierten Passagen, von verworrenen Darstellungen. Klärung ist ein großer Teil der Arbeit.

Zeit – erkenntnistheoretische, physikalische und poetische Konzeptionen Heydenreich: Noch einmal zurück zur Zeit – genauer: zur Zeitdarstellung. Der dramaturgische Motor des Romans ist ja nicht nur der Zeitstillstand, sondern auch die Diskrepanz zwischen den zwei Situationen des Zeitstillstands und des Zeitflusses, die auf allen Romanebenen ausgespielt wird: auf der Inhaltsebene, der Darstellungsebene, auf intermedialer, intertextueller, ikono-textueller Ebene. Zugleich werden physikalische Theorien gegeneinander ausgespielt, die die Zeit als statisch oder dynamisch konzeptualisieren. Das Grundproblem der Zeit ist ihre Nicht-Wahrnehmbarkeit. Wie lässt sich die physikalische Nicht-Darstellbarkeit der Zeit literarisch erzählen? Lehr: Indem ich sie auf das Menschliche bringe und indem ich genau diese Problematik der unfasslichen Zeit darlege. Schon Augustinus hat das verstanden und mit dem berühmten Satz festgehalten, dass er, wenn er nicht gefragt wird, wisse, was Zeit ist. Sobald er aber danach gefragt werde, sei er unfähig, es zu erklären. Eben an diesem Punkt setze ich ein: Es ist sehr schwierig über Zeit zu sprechen, ohne ins Schleudern zu kommen, obwohl wir alle ganz selbstverständlich in unserem Alltag damit umgehen. Wir kalkulieren alles zeitlich. Es gibt eben diese tiefe Verwurzelung der Zeitlichkeit in unserem Denken und in unserer Wahrnehmung, die uns völlig unfähig macht, ohne sie auszukommen. Wir geraten sofort in einen Zirkelschluss, wenn wir versuchen, Zeit zu definieren. Als Autor zeige ich genau diese Denknot auf in den Figuren. So ist mein Held ständig in Zeitnot, in der Not, sich zu erklären, wo er sich befindet, in einer Art philosophischem Zeitnotstand. Das war auch die Grundidee des Romans. Die Figuren müssen denken, weil sie in ein philosophisches Katastrophengebiet gekommen sind. Sie haben eine Notwendigkeit, über Zeit nachzudenken, die wir normalerweise alle gar nicht haben.

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Denn bei uns funktioniert ja alles ›rock around the clock‹. Aber dieser Störfall, der im Roman erzeugt wird – ein Störfall, den der Autor erzeugt, nicht das CERN –, wird jetzt der ständige Wetzstein für eine Art Philosophie im Notzustand, ›in statu nascendi‹. Die Figuren werden die Frage nicht los: Was ist eigentlich Zeit? Das ist mein wichtigster Trick. Heydenreich: Für die Physik gibt es unterschiedliche Möglichkeiten, das Phänomen der Zeit zu konzeptualisieren: als Parameter in einer Gleichung oder als Hintergrund, vor dem Theorien abhängig sind, als Maß für die Bewegung usw. Inwiefern hat die Vielfalt der Möglichkeiten, Zeit physikalisch zu denken, zur Konfiguration der Zeitkonzeption im Roman beigetragen? Lehr: Zunächst habe ich diese Ausgangslage erfunden, den Zeitstillstand als philosophischen Denkwetzstein, und dann die Paradoxien, die durch mein phantastisches Modell entstehen. Ich gehe auf zahlreiche Theorien ein, nicht nur physikalische, die versuchen, uns das Phänomen ›Zeit‹ erklären. Für die Helden meines Romans sind Theorien ja existentiell, sie wollen ihre absurde Situation verstehen. Man kann sich jetzt auch fragen, warum der Roman so stark auf die Physik bezogen ist. Das kann ich damit begründen, dass ich den Eindruck gewonnen habe, dass die Physik in den letzten 150 Jahren, was die Zeitforschung angeht, am innovativsten und am interessantesten gewesen ist. Das beginnt mit der Thermodynamik und mit der Diskussion, ob die zunehmende Entropie im Universum den Zeitpfeil hervorbringt, was auch viele Wissenschaftler noch glauben. Die Figuren fragen sich zum Beispiel, ob das Expandieren des Universums von der Zeit abhängt und ob das Universum gerade kollabiert, weil die Zeit nun plötzlich stehengeblieben ist. Aber weshalb trifft es dann nur siebzig Leute und nicht alle? Wieder ein Paradox. Für die Figuren stellt sich die Frage allgemein, ob die Zeit von der Expansion oder Kontraktion des Universums abhängig ist. Ich glaube nicht, aber es ist faszinierend, es überhaupt mal zu denken. Dann haben wir die Relativitätstheorie, die Abhängigkeit der Zeit von Bewegung und von Masse, also die Spezielle und die Allgemeine Relativitätstheorie. Auch das hinterfragen meine Figuren ständig. Sie merken, dass sie sich mit Überlichtgeschwindigkeit an den gefrorenen Figuren vorbeibewegen, aber das kann relativitätstheoretisch doch gar nicht sein. Der Leser sieht: Stimmt, man kann sich das leicht vorstellen, aber es ist paradox. Die Abhängigkeit der Zeit von Bewegung und Masse bis hin zur Entstehung und Vernichtung von Zeit in einem Schwarzen Loch ist zu berücksichtigen. Dann kommt noch die Quantentheorie hinzu, über die man letzten Endes zu ganz radikalen, spekulativen Modellen findet. Ausgehend vom Ergodensatz: Ich kann das Verhalten eines Systems in der Zeit ersetzen durch das Verhalten vieler Systeme im Raum und so kann ich gewissermaßen versuchen, die Zeit abzuschaffen durch die Multiplikation der Räume.

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Auch das ist die Frage, die sich meine Figuren stellen: Sind wir jetzt plötzlich in einem Quanten-Universum gelandet, in dem es keine Zeit mehr gibt? Sind wir vielleicht nur eine absurde Ausnahme? Oder befinden wir uns in einer Art Zeitbaum, der eigentlich aus aufgefächerten Räumen besteht? Schönere und verrücktere Theorien als die Physik in den letzten 150 Jahren haben die anderen Disziplinen nicht hervorgebracht. Aber es geht dann auch immer wieder auf das Philosophische zurück, auf die Grundfrage, die Augustinus und Immanuel Kant stellen: Was ist eigentlich Zeit? Die Zeit ist ja aus unserem Kopf nicht herauszunehmen. Das ist im Grunde doch eine Denkvoraussetzung, die in uns genau so ist wie in der physikalischen Außenwelt: Wie hängt das denn zusammen? Die Zeit in uns und die Zeit außerhalb? Wie können wir das auseinandernehmen? Wir können das nur erkenntnistheoretisch auseinandernehmen. Deshalb reicht es nicht, nur physikalisch zu denken, man muss auch philosophisch denken. Und je weiter man denkt, desto mehr erkennt man, dass das Phänomen der Zeit ganz verschiedene Diskursebenen hat – bis hin zur gesellschaftlichen Zeit, bis hin zur psychologischen Zeit. So spricht man auch über ganz verschiedene Zeitpfeile. Man spricht über einen Lebenszeitpfeil, man spricht über den Zeitpfeil in der Materie, man spricht über einen thermodynamischen Zeitpfeil, über einen mikrophysikalischen Zeitpfeil. Wir haben uns ja über asymmetrische Prozesse in Quantenumgebungen unterhalten. Es gibt einen Zeitpfeil der Kausalität, mit dem Kant operiert, wenn er sagt: ›Die Zeit muss eine Richtung haben, sonst gäbe es die Kausalität nicht.‹ Auch das würde ein moderner Physiker bezweifeln, aber trotzdem war es ein interessanter Gedanke. Da berühren sich diese Disziplinen. Und das ist das, was mich als Schriftsteller reizt: dass ein Roman all das zusammenbringen kann, was in verschiedenen Fakultäten gedacht wird. Ein Romanschriftsteller kann permanent eine interdisziplinäre Konferenz in seinem Kopf veranstalten. Es geht aber nicht nur um Wissen, es geht auch um Gefühle und Bilder. Das ist für mich das Faszinosum von Literatur oder vielleicht von Kunst überhaupt: dass sie Erkenntnisse mit Erlebnissen vermengt und sie wiedergibt in Form von ästhetischer Erfahrung. Deswegen bin ich glücklich, dass es diesen Beruf gibt. Mecke: Kommen in dieser Konferenz auch literarische Vorbilder vor? Sie haben gerade den Zeitbaum erwähnt. Lehr: Was die Zeitbehandlung angeht, habe ich an Jorge Luis Borges’ Erzählung vom »Garten der Pfade, die sich verzweigen« gedacht. Es gibt eine Szene im Roman, in der ich darauf referiere. Natürlich habe ich Thomas Manns »Zauberberg« im Kopf, das kann ich als deutscher Autor gar nicht nicht im Kopf haben, wenn ich über Zeit schreibe. Ich denke, ich setze mich produktiv davon ab. Ich denke auch an Hermann Broch oder Robert Musil, an Marcel Prousts »Recherche«. Irgendwie

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schwirrt das alles in mir herum. Ich vergesse es aber beim Schreiben. Ich mache dann mein eigenes Produkt und lese diese Bücher dann bewusst nicht in der Zeit, in der ich den eigenen Roman schreibe. Ich habe sie aber in meinem Kanon und denke daran irgendwo auf eine verwickelte Art. Oft kann ich nicht genau sagen, wie es zu meinem Eigenen kommt. Ich versuche nur, nicht zu kopieren, nichts zu übernehmen. Oder es provoziert mich auch, etwas genau nicht zu machen. Was ich zum Beispiel im »Zauberberg« relativ unelegant finde, sind die enzyklopädischen Abschriften. Das darf man meines Erachtens nicht tun. Ich suche andere Möglichkeiten, etwas Essayistisches reinzubringen. Obwohl es auch fremde Erkenntnisse sind, wenn ich zum Beispiel über moderne Physik schreibe, die zitiere ich ja, ich denke sie ja nicht, dann schmücke ich mich auch nur mit fremden Federn. Das kann jedoch auf verschiedene Art und Weise gemacht werden. Wenn das ein Erzähler runtererklärt, dann finde ich das dröge. Da habe ich lieber eine Figur, die sich darin verheddert und sagt: Was wollen die mir eigentlich sagen?

Physikalische Modelle und poetische Schreibweisen Heydenreich: Uns interessiert auch, inwiefern man den Konnex herstellen kann zwischen Prinzipien der Relativitätstheorie – wie dem Raum-Zeit-Kontinuum, der Zeitdilatation und Längenkontraktion – und narrativen Strukturen. Lehr: Manchmal regen mich physikalische Modelle an, zum Beispiel dieses Blasenmodell in »42«, da kommt man sofort auf die Leibniz’sche Monadologie. Ich lese das nach und fange an, damit zu spielen. Gottfried Wilhelm Leibniz war als Denker sehr innovativ. Diese Idee, ein statisches Universum zu denken, in dem zeitlose Monaden durch Spiegelungen das nicht vorhandene Phänomen ›Zeit‹ erzeugen, das ist ein beeindruckendes und originelles Modell. Das wirkt dann auch befruchtend auf meine Idee, mit den Zeitkugeln, den sogenannten Chronosphären, umzugehen. Es gibt da auch diese markanten Bilder, die die Relativitätstheorie hervorbrachte, die in meinem Kopf herumspukten: durch die Luft fliegende Eisenbahnen, um die Lorenzkontraktion zu verdeutlichen. Der Bildapparat, den physikalische Lehrwerke für die Spezielle Relativitätstheorie entwickelt haben, um uns das anschaulich zu machen, der gehört zum Metaphernvorrat des Romans »42«. Die Relativität von Stillstand und Bewegung und das Wegfallen des Rahmens der klassischen Newton’schen Physik erzeugen einen Schwindel, der nach Halt und bildhaften Modellierungen verlangt. Das war ja eine hocherregte Debatte um Einsteins Relativitätstheorie bis zur antisemitischen Verfolgung, weil man diesen Schwindel fürchtete. Dieses Schwindelgefühl, ›vertigo‹, die Spirale der Zeit, in die man plötzlich fiel, als der große Halt weg war. Relativistische Ge-

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dankenexperimente sind jedenfalls sehr befruchtend und bringen Szenarien des Romans hervor, gegen Ende dann eben auch den Zeitbaum. Wenn sich Adrian in diese großen unheimlichen Kugeln begibt, wo plötzlich alternative Vergangenheiten mit alternativen Zukünften sich in einen zeitlosen Baum – der auch an Borges erinnern soll – verzweigen, dann haben mich direkt diese physikalischen Prinzipien zur Abschaffung oder Rekonzeptualisierung der Zeit inspiriert, in klassischer oder quantentheoretischer Hinsicht. Meine Aufgabe war dann, diese zu poetisieren, als poetisches Bild in meinem Roman zu übernehmen. Das ist der Reiz, der mich als Künstler anspornt. Ausgehend von einem Gedanken, ein Bild zu machen, weil er mich fasziniert und auch weil ich es wert finde, das zu denken. Heydenreich: Ich habe auch den Eindruck, dass eine spezifische Technik angewandt wird, poetische Gedankenexperimente zu entwerfen, die den Inhalt dieser Theorien narrativ entfalten. Wo sehen Sie die Grenzen dieser darstellerischen Idee? Lehr: Im Grunde kann die Literatur da sehr weit gehen. Es gibt ja keine Plausibilitätsgrenze. Im Gegensatz zu einem physikalischen Gedankenexperiment, das immer wieder auf die physikalische Logik zurückgeführt werden muss. Der Wert des physikalischen Gedankenexperiments ist nur dann groß in der Physik, wenn es angebunden werden kann an die physikalischen Gesetzmäßigkeiten, sonst platzt die Blase des Experiments. Bei mir ist das aber nicht der Fall, es kann auch bestehen bleiben. Es kann auch eine mystische oder esoterische Behauptung sein, die dramaturgisch wirkt. Da gibt es gar keine Grenze, es sei denn, die Geduld und das spekulative Vermögen des Lesers. Man muss kalkulieren, wie weit man gehen möchte. Ich gehe zumeist an einen Punkt, an dem ich denke: Das ist jetzt eine ganz gute Darstellung der wichtigsten Modelle und der möglichen Gedanken, ich stelle aber keine esoterischen Behauptungen auf, das interessiert mich nicht. Mich interessiert der Eros der Denkmühe mehr als die Ergebnisse. Ich hoffe ja, dass wir mit der Erklärung der Welt nicht fertig werden. Ich finde, dass das Ringen mit den Dingen das Spannende ist. Natürlich ist es auch spannend, wenn man ein paar Zwischenergebnisse bekommt, damit man motiviert ist, weiterzudenken. Es ist doch phantastisch, wenn ich mir denke, wie langweilig das Universum in der Newton’schen Ära war. Aber die Menschen waren auch damals fasziniert vom mechanischen Universum, von der Vorstellung, dass das Universum ein großer Automat sein könnte, dessen innere Abläufe wahrscheinlich vollkommene Laplace’sche Determiniertheit vorweisen. Der Mensch als Roboter – die Welt als Maschine: Wenn wir das heute hören, dann finden wir das eher antiquiert und mechanistisch. Wir sind heute froh über die Farbigkeit, die das Universum wieder bekommen hat, und über die Möglichkeit, dass es Myriaden von anderen Universen gibt. Das finde ich eine tolle Bereicherung des Denkens über die Welt.

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Mecke: Dann habe ich eine Frage an Sie als Neukantianer. Durch die Entdeckung von nicht-euklidischen Geometrien im neunzehnten Jahrhundert – Carl Friedrich Gauß, Bernhard Riemann – ist ja eine Raumdenkmöglichkeit geschaffen worden, die mit apriorischen Raumkategorien kaum fassbar ist. Da sehe ich schon, dass Physik und Mathematik deutlich über den Kant’schen Kategorienapparat hinausgeht. Erwarten Sie so etwas auch für die apriorische Kategorie ›Zeit‹, dass dann neue Denkformen möglich sind? Lehr: Wir sind uns wissenschaftstheoretisch ja einig, dass es Kants synthetisches ›a priori‹ nicht gibt. Aber ich glaube, dass es eine revidierbare Konstruktion ist. Das eine ist es nämlich, zu erkennen, dass Raum und Zeit Kategorien unseres Denkens sind. Kant ist nur zu weit gegangen, indem er sagte, ich kann auch genaue quantitative Schlüsse auf diesen äußeren Raum von dieser Kategorie aus ziehen, Schlussfolgerungen, die empirische Qualität haben. Im Grunde hat er immer noch recht, in dem Sinne, dass wir nicht nicht-raumzeitlich denken können. Aber wie es genau ist, ist eben eine Sache der Empirie. Kant funktioniert in gewissem Sinne immer noch: Wenn Sie ein Lineal nehmen und nachmessen, können Sie messen, dass ein Dreieck etwa 180 Grad hat. Und Sie müssen verdammt genau messen, bevor Sie merken, dass wir nicht in einem euklidischen Raum leben. Man konnte bis vor fünfzig, sechzig Jahren auch gar nicht messen, dass im realen Raum das Dreieck nicht eine Winkelsumme von exakt 180 Grad hat. Und so ist es auch mit der Zeit. Ich glaube, es bleibt immer klar, dass die Zeit eine Grundvoraussetzung unseres Denkens sein wird, und dass wir uns alles zeitlich erklären müssen. Das ist eine fundamentale Erkenntnis, die, glaube ich, durch moderne Zeitvorstellungen nicht revidiert wird. Beziehungsweise wenn diese neu sind, dann werden sie unseren Denkhorizont überschreiten und wir werden in solchen Kategorien nicht mehr denken können. Wir werden vielleicht rechnen können, aber nicht mehr denken können. Denn die Kant’sche Erkenntnistheorie postuliert: Die Zeitkategorie ist epistemologisch unhintergehbar. Das ist für mich die philosophische Erkenntnis: Wir werden keine Erklärung verstehen, die nicht zeitlich konnotiert ist. Das heißt aber nicht, dass wir im Einzelnen schon wissen, wie die Zeit sich gerade im physikalischen Diskurs verhält. Aber wenn zum Beispiel jemand überlegt: Könnte die Zeit mehr als zwei Dimensionen haben? Dann ist das eine interessante Frage, aber ich verstehe zunächst mal nicht, was das eigentlich heißen soll. Da stelle ich mir vor: Wir haben einen Zeitstrahl, kann ich den aufwickeln? Eine tolle Vorstellung, ich kann sie jedoch nicht denken, ich kann sie vielleicht rechnen. Das heißt also, Kant hat im Prinzip recht, aber nicht im empirischen Detail und nicht in den Aussagen, die wir über den Kosmos noch machen werden. Und zwar gerade in dem Bereich, wo wir gar nicht mehr anschaulich denken können. Wir hatten das ja auch als Thema,

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man kann Erkenntnisse formulieren, die man nicht anschaulich denken kann, zumindest nicht im Bereich des Sinnlichen, des normalen menschlichen Vorstellungsvermögens. Aber all unsere Erklärungen werden dort stattfinden müssen, wenn wir etwas verstehen wollen. Und da hat er recht: Diese Mechanismen des Verstehenwollens, die werden sich nicht ändern. Mecke: Ich bin da vielleicht nicht ganz so pessimistisch, denn gekrümmte Räume sind noch relativ harmlose Räume. Physiker denken mittlerweile abstrakte Räume, die Kant, glaube ich, oder jeder normale Mensch gar nicht mehr mit Raum assoziieren würde. Aber trotzdem sind sie in einem mathematischen Kontext denkmöglich geworden. Also sehe ich da durchaus Möglichkeiten, den Zeitbegriff völlig neu zu fassen. Lehr: Das ist eine sehr tiefgehende Diskussion: Ich denke, dass jede wissenschaftliche Theorie am Ende verstehbar sein muss. Und wenn es auch nur zehn Menschen sind, die das nachvollziehen können. Aber ich glaube, dass Sie nicht verstehen können, wenn Sie nicht zeitlich verstehen. Also werden Sie diese Kategorie nicht wegbekommen. Selbst wenn Sie Theorien haben, die diese Kategorie ganz anders erklären, werden Sie nicht umhinkommen, die zeitlich zu denken. So wie man ohne Auge nicht sehen kann. Auch wenn man davor ein Riesenobservatorium stellt, muss man am Ende durch das Auge sehen. Die Struktur des Auges wird alles bestimmen, was Sie sehen. Sie können das nicht hintergehen. Das Auge ist vielleicht ein gutes Bild. Sie können alles sehen, obwohl wir wissen, dass die Welt aus Dingen besteht, die wir nicht sehen können. Wir können keine Quarks sehen. Wir haben aber bewiesen, dass es sie gibt. Wir können es intellektuell erfassen, aber wir müssen uns für unser Augen-Denken Bilder von Quarks machen. Das machen wir ja auch. Wir sagen: Sie sind rot, gelb, grün. Um sie fassen zu können. Da kommen wir nicht drumherum. Mecke: Sie haben Ihrem Roman Einsteins Zitat vorangestellt, dass die Scheidung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft eine Illusion ist, wenn auch eine hartnäckige. Letztendlich könnte man weiterdenken: dass Zeit ein emergentes Psychophänomen ist, das durch biophysikalische Prozesse im Gehirn hervorgerufen wird, was aber für eine fundamentale Weltbeschreibungsebene keine Rolle mehr spielt. So wie ein Auge letztendlich auch. Lehr: Das ist im Grunde eine philosophische Frage. Das habe ich bei der Beschäftigung mit der Zeit in »42« erkannt: Erkenntnistheoretisch aber sind Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft primär und nicht sekundär. Sie können aus dem Denken des ›Vorher‹und des ›Nachher‹, aus der einfachen physikalischen Zeitreihe, die Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft nicht logisch ableiten. Sie müssen erst begründen, weshalb es ein ›Vorher‹ und ein ›Nachher‹ gibt. Und sie können das erkenntnistheoretisch nur aufgrund des menschlichen Bewusstseins tun. Und das

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menschliche Bewusstsein besitzt von vornherein Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft. Das ist eine Sache der Schlusslogik. Bertrand Russell hat in einem schönen Beweis gezeigt, dass man in der Lage ist, aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft eine physikalische Reihe Früher-Später abzuleiten. Jetzt kann man sagen, wenn ich die habe, kann ich eigentlich umgekehrt feststellen: Insofern der Mensch ein physikalischer Körper ist, ist das Früher oder Später primär, und ich brauche die Kategorien ›Gegenwart‹, ›Vergangenheit‹ und ›Zukunft‹ nur als Bewusstseinskategorien. Das ist richtig. Aber dann zu sagen, sie existieren nicht, ist sehr schwierig zu akzeptieren. Die Frage ist, was ist logisch primär? Und ich denke, dass die Philosophie und die Erkenntnislogik primär sind, diese sind maßgeblich. Eine physikalische Theorie kann die Physik erklären oder das physikalische Universum, aber nicht die ›Welt‹. Das ist für mich der Unterschied: Weil der Beweis, dass physikalische Erklärungen die Welt vollständig beschreiben, nicht erbracht werden kann, denke ich, dass die Abschaffung der Zeit nicht möglich ist. Man kann nur daran glauben. Sie können also glauben, dass das Universum zeitlos ist, Sie können es aber für die ›Welt‹ nicht zeigen. Diese Erkenntnisfrage ist letzten Endes eine philosophische Frage. Im Grunde lässt sich Zeit nicht ohne die Philosophie packen. Ohne den Dialog zwischen Philosophie und Physik. Diese Diskussion mit dem VorherNachher, ist ja genau das, was Henri Bergson gezeigt hat. Er meinte, wenn wir die Welt in ein Vorher und ein Nachher zerlegen, fehlt uns das ›tertium comparationis‹, um die Abfolge überhaupt zu verstehen. Das heißt, wir müssen irgendwo in der Gegenwart existieren und das muss ein menschliches Bewusstsein sein, das gewissermaßen die Zeitextensionen zusammenfasst, um überhaupt eine Welt zu konstruieren. Und erst später können wir sagen: Die Vergangenheit ist vorher oder nachher. Plötzlich können wir darauf eine Theorie stützen. Aber im Grunde haben wir mit diesem Erkenntnisvorgang angefangen, wir haben das Vorher-Nachher konstruieren müssen. Mecke: Darauf würde Einstein oder jeder andere Physiker antworten, dass ›früher‹/›später‹ relative Begriffe sind, dass Gleichzeitigkeit kein absoluter Begriff ist. Lehr: Aber Sie müssen epistemologisch aus einem verzeitlichten Bewusstsein eine physikalische Zeit ableiten, in der die Zeit durchaus vorwärts oder rückwärts laufen kann. Dann merken Sie, dass dieser Zeitstrahl sogar verknotet oder verwickelt sein kann. Das Problem ist nur: Egal wie diese Modelle sind, können Sie die denkerische Grundvoraussetzung nicht abschaffen, dass Sie die Außenwelt im Grunde aus einem denkenden Bewusstsein heraus überhaupt erst konstruiert haben. Und Sie können das Bewusstsein, glaube ich, nicht von der physikalischen Seite her wegradieren. Das ist der Grund, weshalb man sich immer an der Schnittstelle zwischen Philosophie und Physik unterhalten müsste. Und das meine ich:

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Man hat dann zwei Seiten, alles was Sie sagen, auch die kompliziertesten Modelle, sind im physikalischen Universum möglich. Aber Sie werden das Problem nicht beseitigen, dass wir diese Modelle hervorbringen und uns deshalb sagen müssen: Es sind wir, es ist unser Geist, nicht das Auge, das wir nicht abschaffen können. Ohne Gehirn werden wir nicht denken können, und das Gehirn ist zeitlich organisiert, es kann nur verstehen, was in einem groben Sinne unser alltägliches Zeitkontinuum teilt. Deswegen finde ich es immer lustig, wenn Leute wie Stephen Hawking sagen, sie schaffen die Zeit ab. Dann stellt sich sofort die alte Frage, was war davor? Und dann würde ich sagen: Das ist jetzt keine zulässige Frage. Was passiert hier? Unser menschlicher Denkapparat kann es nicht verstehen. Er kann keinen Anfang verstehen, vor dem nicht noch ein Anfang sein könnte. Das ist ein Paradoxon, das eigentlich nur durch unsere Denkstruktur zustande kommt. Warum soll das Universum einen Anfang oder ein Ende haben, nur weil wir es gewohnt sind, dass die Dinge einen Anfang oder ein Ende haben und wir eben im Universum sind? Heydenreich: Ein wesentliches Merkmal physikalischer Theorien ist ihre Hintergrundabhängigkeit oder -unabhängigkeit. Bei den hintergrundunabhängigen Theorien wie der Allgemeinen Relativitätstheorie und Quantengravitation, die in Ihrem Roman erwähnt werden, ist die Zeit nicht einfach als Abstraktum gegeben, in der Ereignisse passieren, sondern sie spielt als ›Akteur auf der Weltbühne‹ mit. Diese Zeitkonzeption der dynamischen, in das Geschehen eingreifenden Zeit scheint für Ihren Roman eine entscheidende Rolle zu spielen. Liegen dieser Zeitkonfiguration etwaige physikalische Theorien zugrunde? Lehr: Ja, das Nachdenken über Zeit bringt auch zum Teil die Handlung hervor und die wichtigsten Denkmodelle der Figuren sind wiederum mit Handlungen verknüpft. Es ist immer wieder das szenische Umsetzen dieser Vorstellungen. Es gibt eine quantenmechanische Liebesnacht in diesem Roman, es gibt eine rückwärtslaufende Zeitszene und so weiter. Da haben mir im Grunde Vorstellungen über die Zeit Szenen geliefert, die ich einmal narrativ umsetzen wollte. Das sind szenische Umsetzungen von Gedanken, die ich dann mit einer gewissen Lust an der Phantasie gestalte und worin die Theorien anfangen zu leben, sozusagen. Heydenreich: Das finde ich interessant. Ich hatte immer schon die Vermutung, dass die Liebesszene ein Vorbild hatte, nämlich die Liebesszene in Johann Wolfgang Goethes Roman »Die Wahlverwandtschaften«, die auf ein chemisches Gleichnis zurückgeht, in dem sich der doppelte Ehebruch der Phantasie vollzieht. Dann finde ich es interessant, dass diese neue Liebesszene auf ein quantenmechanisches Gleichnis zurückgeht. Könnte man die Analogie denken? Lehr: Ja, mir ist das auch aufgefallen. Ich habe beim Schreiben an die »Wahlverwandtschaften« gedacht. Das war Absicht, ich benutze nicht die wissenschaft-

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liche Grundlage, auf die Goethe eingeht, die Theorie der chemischen Affinitäten, sondern ich benutze eben ein Modell, das zweihundert Jahre fortgeschrittener ist in der Wissenschaft. Heydenreich: Das Modell der Quantenmechanik oder der Quantenfeldtheorie? Mecke: Quantenfeldtheorie! Lehr: Ich habe die Begrifflichkeiten dafür benutzt und sie eingebaut. Heydenreich: Und in beiden Fällen ist der ontologische Status der Szene in der Schwebe. Das ist das Interessante in Goethes Text, dass das Gefährlichste das ist, was in Gedanken passiert. Bei dieser Szene weiß man ja auch nicht, was sich ereignet hat. Lehr: Nein, man weiß nicht, was passiert, man kann nur durch Überlagerungen der verschiedenen Bilder . . . Heydenreich: . . . eine gewisse Wahrscheinlichkeit . . . Lehr: . . . Dekohärenz herbeiführen und hoffen, dass das die Wirklichkeit ist. Es sind eben Überlagerungsbilder, wie in dem quantentheoretischen Doppelspaltexperiment, wo man sagen muss: Die Wirklichkeit ergibt sich als Überlagerung aller möglichen Wegintegrale oder Pfade. Es ist eine Liebesnacht mit verschiedenen Feynmanschen Integralen und man muss sich die Wirklichkeit eben durch Überlagerung herausrechnen. Das ist ein Spaß. Das hat meines Erachtens noch kein Schriftsteller gemacht. Ich wollte das einfach mal schreiben, die Physik in einen Zusammenhang bringen, wo man ihn normalerweise gar nicht vermutet. Heydenreich: Sie nennen die Quantentheorie als Beispiel: Warum glauben Sie, dass sie eine solche Faszination ausübt, auch auf Literaten? Warum ist sie so wichtig für Sie? Lehr: Weil sie uns noch stärker als die Relativitätstheorie an Denkgrenzen führt. Weil sie Paradoxa enthält. Und weil sie die Möglichkeit von Freiheiten enthält. Deshalb, glaube ich, ist sie so interessant. Die Ausflucht aus dem Newton’schen Universum – ich will jetzt Newton nicht unrecht tun; ich weiß gar nicht, ob er sich das so einfach gedacht hat, wahrscheinlich nicht –, aber die Ausflucht aus dem rein mechanistisch-deterministischen Universum scheint immer in der Quantentheorie zu liegen, wo Vieldeutigkeiten möglich sind, Zeitumkehr und Paradoxien. Diese erlebt man als Quelle von Freiheit und Bereicherung. Ich glaube, das hat schon Niels Bohr ziemlich deutlich gesehen, dieses Potential, das Einstein so geärgert hat: »Gott würfelt nicht!« Aber gerade dadurch, dass er zu würfeln scheint, wird die Welt ja vielfältiger. Vielleicht reizt das deswegen viele Künstler auch, die im Allgemeinen für die Vielfalt der Welt plädieren und Spaß daran haben, dass die Welt nicht so einfach zu erklären ist.

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»42« als quantenmechanisches Gedankenexperiment Heydenreich: Das führt mich jetzt zu einer anderen Frage. Sie sprachen von den Überlagerungen verschiedener Zustände und von der Dekohärenz. Solange es die Wahrscheinlichkeitswelle gibt, sind dem System noch alle Möglichkeiten inhärent. Könnte man das nicht in Analogie zur Romanlektüre denken? Alle wahrscheinlichen Interpretationsperspektiven sind potentiell präsent, bevor man als Leser beginnt, sich für eine Interpretationsperspektive zu entscheiden und eine Lesart herauszufiltern. Lehr: Diese eindeutige Perspektive, den Kollaps der Wellenfunktion, wie es im quantentheoretischen Modell heißt, versucht der Leser herbeizuführen. Der Roman spielt mit fünf oder sechs Interpretationsmöglichkeiten, die er vorgibt, bis zu der radikalsten. Also zählen wir es mal auf: Wir haben die Dornröschentheorie, die Museumstheorie, die Theorie, dass die Blasen eigentlich Ufos sind, eine technische Erklärung, dann die weiterentwickelte sogenannte MUFO-Theorie; wir haben die Theorie, die Adrian vertritt, dass er im Grunde tot ist, und dass das hier eigentlich nicht mehr die Wirklichkeit ist, sondern ein ›rite de passage‹, den wir hier erleben; und wir haben die nabokovianische Theorie, die der Autor dann reinschiebt in Montreux, wenn Adrian sagt, das Ganze sei nur als ein verrückter Roman erklärbar. All diese Theorien überlagern sich. Und der Leser versucht, die Dekohärenz herbeizuführen, indem er sich auf die eine oder andere Seite schlägt, aber dann eben auch merkt, dass eine gewisse Verarmung eintritt. Alles das gehört zum Spiel, der ganze Roman hat interpretatorisch gesehen eine quantentheoretische Struktur. Heydenreich: Das meine ich! Lehr: Das ist der Witz, der mir auch beim Schreiben klar war. Ich lasse mich da auch bewusst inspirieren. Ich denke mir das aus und überlege mir dann: Wie kann ich das einbringen, ohne dass das aufdringlich wirkt? Ich darf das dem Leser nicht aufdrängen. Wie kann ich das in die Struktur des Romans hineinverweben, sodass jemand, der nachdenkt, es sieht, aber so, dass es eine Art Erleben ist, dieses Denken. Heydenreich: Andererseits gibt es auch Theorien und Gleichungen wie zum Beispiel die der Quantengravitation, die von John Wheeler und Bryce DeWitt aufgestellt wurden, in der Zeit gar keine Rolle mehr zu spielen scheint. In Anlehnung daran hat Julian Barbour in »The End of Time« seine Theorie entwickelt, in der nachzuvollziehen ist, wie die Zeit aus der prinzipiellen Zeitlosigkeit heraus gedacht werden kann. Ist auch dieses Paradox der Zeitkonfiguration Ihrem Roman eingeschrieben? Lehr: Ich habe Julian Barbour im Laufe meiner Romanarbeit entdeckt. Das war so nach zwei, drei Jahren. Ich habe ja viereinhalb Jahre an dem Roman gearbeitet.

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Ich las einige Publikationen, die bei der Cambridge University Press erschienen sind. So bin ich auch auf die Aufsatzsammlung über Zeitphilosophie von Craig Callender gestoßen, die ich sehr, sehr gut finde. Und dann entdeckte ich plötzlich Julian Barbour und habe sein Buch »The End of Time« gelesen. Er ist einer dieser Crackpot-Theoretiker, aber das ist ein anspruchsvolles Buch, mit einer wirklich komplexen Argumentation, die in aller Ernsthaftigkeit auf dreihundert Seiten im Grunde alte quantentheoretische Vorstellungen zitiert, dass man die Zeit durch Raum ersetzen könnte. Es ist ja auf der Quantenebene möglich und man könnte sich vorstellen, dass Zeit eine Illusion ist, die entsteht, wenn man sich durch alternative räumliche Universen bewegt. Aber meine Frage ist dabei immer: Wenn man sich bewegt, wie geht das denn ohne Zeit? Da kommt das epistemologische Problem hinzu – und meines Erachtens torpediert das Julian Barbours Idee. Denn er sagt am Ende: Irgendwie spielt dann mein Bewusstsein einen Film ab, aus starren quantentheoretischen, alternativen Wirklichkeiten erzeugt es eine Dekohärenz und spiegelt mir Zeit vor, spielt das ab. Aber wie kann es das Abspielen ermöglichen ohne Zeit? Er fällt genau in die kantianische Falle. Er gibt sich so viel Mühe, ein quantentheoretisches Universum ohne Zeit zu konstruieren, und am Ende sagt er, dass das Bewusstsein durch irgendeinen Zaubertrick in eine Art Kino gerät. Es ist das Kino der Zeit, in dem der Film des Bewusstseins aufgeführt wird. Woher kommt aber diese Spielzeit, ohne die Trickkiste, in der sich die Zeit dann doch wieder versteckt hielt? Barbour macht so eine aufwendige Argumentation, er definiert ein ganzes Universum ohne Zeit aus quantentheoretischen Überlegungen heraus und fällt am Ende in das kantianische ›Schwarze Loch‹. In den modernen physikalischen Fragen lauern die alten philosophischen Ungeheuer. Und solche Denker wie Stephen Hawking oder Julian Barbour fallen darauf herein, weil sie nicht zur Kenntnis nehmen, was erkenntnistheoretisch da ist. Man wird meines Erachtens nie ein statisches Universum überzeugend herbeiargumentieren können. Man kann nur sagen: Das ist eine Illusion, die mir irgendeiner vorspielt. Und ich frage immer: In welchem Kino? Es ist immer das alte kantianische Kino der unhintergehbaren Zeitlichkeit. Eine Welt ohne Zeit können wir uns eben nicht vorstellen, weil wir uns dann selbst nicht mehr vorstellen können. Und Sie können nicht mal sich selbst als Körper konstruieren ohne Zeit. Sie können den Raum nicht definieren ohne Zeit. Und wie die Zeit dann physikalisch in der Außenwelt ist, da werden wir noch viele Überraschungen erleben, glücklicherweise. Aber Sie werden nicht anders denken können, das glaube ich nicht, ohne dass sich die komplette ›conditio humana‹ ändert. Und die ist schon seit einigen Jahrzehntausenden die gleiche. Heydenreich: Viele Physiker würden sagen, dass es für das Gedankengebäude der Physik nicht relevant ist, was in der Erkenntnistheorie erarbeitet worden ist.

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Lehr: Für das physikalische Universum ist das auch so. Da kann die Zeit, wie gesagt, mehrere Dimensionen haben und aufgewickelt werden, rückwärtsgespielt oder wegerklärt. Aber das sind Behauptungen über das physikalische Universum. Und inwieweit wir vollständig da drin sind, das ist die Frage. Deshalb gebrauchte ich den umfassenderen Begriff der ›Welt‹.

Physik, Tod und Zeit-Ekstasen – die Novelle »Frühling« Mecke: Wir haben über die epistemologischen Probleme der Zeit gesprochen. In Ihrer Novelle »Frühling« ist die Erzählerstimme aus der Außenwelt zurückgezogen und in das Bewusstsein einer Figur verlagert, aus der physikalischen Welt in das Bewusstsein eines Sterbenden. Es wird ein Bewusstseinsstrom der Erinnerungen und der Visionen beschrieben, der zumindest bei mir als Leser einen Sog erzeugt hat. Aber dennoch – und das fand ich sehr irritierend – verwenden Sie eine sehr strenge Sekundeneinteilung, die den Text praktisch in Kapitel zerhackt, eigentlich ein physikalisches Konzept von Zeit, das auf Messbarkeit von Uhren beruht. Warum in diesem Bewusstseinsstrom? Lehr: Um dieses gnadenlose Nebeneinander von äußerer und innerer Zeit zu verdeutlichen. Es ist ja ein Countdown, der abläuft, das erzeugt eine Spannung, eine Divergenz zwischen der Außenzeit und der subjektiven Zeit. Während in den subjektiven Szenen die Zeit fast aufhört und verschwimmt, befindet sich der Leser außerhalb. In gewissem Sinne beobachtet der Leser zwei Zeitreihen: eine subjektiv geformte Zeitbeobachtung und eine objektiv ablaufende Countdown-Zeit. Daraus entsteht eine Spannung, die wollte ich nutzen. Es ist ja auch nicht ein Strom, es ist ein stockendes Vorantaumeln, Verschwimmen, Untergehen, und jedes Sekunden-Kapitel wird abweichend geformt. Das strukturiert den Text – und es gibt eine Spannung: Wie wird die vierte Sekunde sein? Wie wird die fünfte Sekunde sein? Durch den Countdown der Außenzeit entsteht der Eindruck einer objektiven Gnadenlosigkeit, die Trennung von Subjekt und Objekt. Der Leser verfügt noch über die getaktete und linear ablaufende Sekundenzeit, der Sterbende hat nur noch einen zerhackten Strom. Das war meine Idee. Ob das bei Ihnen so wirkt, das ist eine andere Sache. Man kann dem Leser einen gewissen Lesevorschlag machen, aber man kann die Wirkung nicht kontrollieren. Man kann sie nur erhoffen. Mecke: Die Novelle »Frühling« lebt von der Erinnerung des Protagonisten. Erinnerung und Wissen werden als zwei verschiedene Zugänge zur Welt anerkannt und dann auch in verschiedenen Wissenschaften angesiedelt. Es fällt auf, dass gerade in diesem Text »Frühling« die starke Trennung zwischen Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft im Prozess der Erinnerung nicht mehr aufrechtzuerhalten ist. Vielmehr

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beeinflusst der gegenwärtige Erinnerungsprozess die Erinnerung selbst. Spielt das für Ihren Schreibprozess auch eine Rolle? Lehr: Ich glaube ja. In gewissem Sinne gilt das ja nicht nur für einen Sterbenden, sondern für uns überhaupt, für unser Bewusstsein. Nun müssen Sie sich ja immer fragen, wo Sie sich befinden, bewusstseinsmäßig, und zwar im Alltag, auch jetzt. Wir befinden uns ständig in drei zeitlichen Ekstasen. Wir sind ständig in der Zukunft, wir kalkulieren: Was mache ich in der nächsten Sekunde? Wir haben ständig Erinnerungen, wir sind ständig da – in einer vermeintlichen subjektiven Gegenwart. Man hat das experimentell vermessen: Wir können bis zu ein, zwei Sekunden glauben, wir seien in der Gegenwart. Das ist die maximale Länge, die das Bewusstsein sich vorstellen kann, es sei ausschließlich gegenwärtig. Üblicherweise vermengen wir aber permanent die Zeitekstasen. Das Bewusstsein basiert auf einer unentwegten Einschließung von Erinnerungen, von Zukunftsmöglichkeiten, von Fälschungen der Erinnerung, von Rückwärtsfiktionen. Wir sind davon überzeugt, in der nächsten Sekunde die Hand von links nach rechts bewegen zu können. Das Bewusstsein ist ein unablässiges Flirren zwischen diesen Ekstasen. Insofern nähere ich mich eigentlich in der Novelle nur der Tiefenstruktur des Bewusstseins. Joyce hat das in seinem Molly-Bloom-Dialog, dem Urbild aller Bewusstseinsströme, überwältigend gut vorgeführt. Da findet man ein totales Durchschießen von Erinnerungen, Zukunft, Hypothesen, Wahrnehmung – das ist das Bewusstsein. Im Grunde ist das Bewusstsein immer in einer zeitlichen Unschärfe und es ist immer verteilt. Ich habe eine Zeit lang gebraucht, um es zu verstehen. Man denkt am Anfang immer, es gibt die Vergangenheit und die Zukunft. Aber primär ist eigentlich das Bewusstsein, das sich ständig in diesen drei Dimensionen verteilt. Und ich denke, dass der Sterbende mit seinem schwindenden Bewusstsein allmählich die Kontrolle darüber verliert, welches Präsens das Wirkliche ist. Die Erinnerung wird dann ein Präsens oder auch die Vision, die Verzerrung der Wahrnehmung wird zu einer Art Realität. Er verliert zunehmend an Kraft, die Dimensionen zu trennen. Bei intaktem Bewusstsein können wir recht gut erkennen, ob wir träumen oder ob wir wach sind. Wir haben Techniken entwickelt, das zu unterscheiden und die Erinnerung von der Prognose zu trennen. Aber im Extremzustand der Novelle verschwimmt das alles. Dennoch können wir das sich auflösende Bewusstsein noch verstehen, zumindest bis zu einem gewissen Grad der Zersetzung, weil auch das Alltags-Bewusstsein immer desintegrierend und integrierend zugleich ist. Mecke: War »Frühling« für Sie wichtig für das Schreiben von »42«? Lehr: Ja, es war die Grundvoraussetzung. Für mich war die künstlerische Erfahrung wichtig, dass es möglich ist, mit einer forcierten Sprache ein komplexes Thema anzugehen. Und dass eigentlich die forcierte Sprache, die künstlerisch

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über die normalen Erzählstandards hinausgeht, es ermöglicht – sogar eleganter ermöglicht –, komplizierte Dinge zu erfassen. Ich habe den Roman »42« viele Jahre nicht weiterschreiben mögen, obwohl ich das erste Kapitel, so wie es vorliegt, bereits 1990 geschrieben hatte. Ich fragte mich, wie ich weiterschreiben sollte. Wegen des komplizierten Themas, der Quantentheorie und der Philosophie, die darin vorkommen, glaubte ich, eine Sprachform finden zu müssen, die leicht verständlich ist, damit die Leser nicht überfordert werden. Aber ich hatte andererseits gar keine Lust, die Patterns und Standards der Science-Fiction-Sprache zu verwenden, noch nicht einmal die des gängigen realistischen Romans. Im Science-Fiction-Genre geht man auf interessante wissenschaftliche Fragestellungen oft mit den drögen Mitteln eines unterdurchschnittlich gut geschriebenen realistischen Romans los, und das macht die Bücher so langweilig oder so unlesbar für Literaturfreunde. Man kann sie ja nur aus sachlichem Interesse lesen. Aber dann wird man sich fragen, ob man nicht doch besser ein Sachbuch aufschlagen sollte, in dem das Thema klarer und umfassender dargestellt ist. Nachdem ich »Frühling« geschrieben hatte, kam ich auf die Idee, dass ich vielleicht doch mit einer spielerischen, Pfauenräder schlagenden, verrückten, subjektiven, deformierten Erzählweise dem Thema von »42« beikommen und damit das Paradox lösen konnte, wie ich einen halbwegs spannenden Roman erzählen kann, in einer Welt, in der nichts passiert. Und je subjektiver und verrückter erzählt wird, je schräger die Perspektive und je forcierter die Sprache, desto interessanter wird das eigentlich. Ich brauchte Jahre, um das zu verstehen. »Frühling« war hierfür der Durchbruch. Genauso wenig wie einen klassischen Science-Fiction-Roman hätte ich eine realistische Erzählung über einen VaterSohn-Konflikt schreiben mögen, wie es vielleicht in der Generation der Achtundsechziger möglich und nötig war. Das war für mich künstlerisch vorbei, das hätte ich jetzt nicht gemacht. Mecke: Das war jetzt eine Antwort auf der methodischen Ebene. Wenn man sich das inhaltlich anschaut, dann sind in »Frühling« ja Tod und Schuld zentral. Und jetzt kommt anschließend »42«, ein Roman über die Zeit. Nun sind Physik und Tod, Physik und Gewalt, Physik und Macht stereotype Paarungen in der Literatur. Ein zweites, großes Thema in »42« ist ja auch Macht und Machtmissbrauch. Ist das zufällig so oder ist das auch auf inhaltlicher Ebene mit Physik verknüpft? Lehr: Was »42« angeht, gibt es schon diese Verknüpfung, die mich immer reizt. Die Geschichte lehrt, dass die Macht stets versucht, sich der Physik zu bedienen. Das beginnt beim Bau von Festungsanlagen und bei der Konstruktion von Verteidigungsmaschinen bis hin zur Organisation des Atombombenprojektes. Heute ist Macht in ihrem primitiven, militärischen Sinne offensichtlich wissenschaftlich gestützt, in einem Maße, wie es nie zuvor historisch der Fall war. Überspitzt

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könnte man sagen: Bei uns ist ja mittlerweile jeder General Wissenschaftler. Soweit ist es gekommen. Es geht nicht nur um die Physik, sondern auch um die Ingenieurwissenschaften, die Chemie, um alle Naturwissenschaften zusammengenommen, sie armieren die Macht. Deswegen denke ich sehr schnell, wenn ich über Wissenschaften nachdenke, auch über Macht nach. In »42« kommt die Macht allerdings nicht über die Wissenschaft, sondern über das phantastische Szenario ins Spiel. Aber es gibt immer so eine Spitze gegen die Hybris von Wissenschaftlern und Wissenschaftsapparaten. Ich finde, dass auch das CERN manchmal eine gewisse Hybris hat, obwohl ich das CERN nicht als bedrohlich empfinde, aber sie sind schon sehr von sich überzeugt. Das ist aber keineswegs die gleiche Hybris, die entsteht, wenn man eine Waffe herstellt, die es früher nicht gegeben hat, mit unvorstellbaren zerstörerischen Ausmaßen. Bei »Frühling« geht es um den Machtmissbrauch der Medizin im Nationalsozialismus, und da ist es ganz klar. Da ist eine ganze Wissenschaft, sofern die Medizin Wissenschaft vom menschlichen Körper ist, verkommen, sowohl in ihrer Praxis als auch in ihrem Wissenschaftsethos. Die Medizin wurde mit abstrusen Lehren, mit Schamanismus und mit Grausamkeiten durchsetzt. Weil mich Wissenschaft so interessiert, interessiert mich auch der Missbrauch von Wissenschaft durch die Macht. Ich will immer an das aufklärerische Potential erinnern, das in der Wissenschaft liegt und versuche, an das Projekt der demokratischen Aufklärung anzuknüpfen. Für mich soll Wissenschaft etwas sein, das den Menschen befreit und nicht quält. Das Thema beschäftigt mich auch in meinem nächsten Roman wieder. Es lässt mich gar nicht los, weil es uns alle nicht loslässt.

Über den Gebrauch von Gleichungen in der Literatur Strobel: Bei den von Ihnen verwendeten Formeln fiel uns eine ungewöhnliche Asymmetrie auf: Die Entropie ist eine grundlegende Größe der Physik, welche jeder Student im Grundstudium kennenlernt, die Wheeler-DeWitt-Gleichung wiederum ist eher unbekannt und man begegnet ihr nur, wenn man sich näher mit der Quantengravitation beschäftigt. Wieso verwenden Sie gerade diese Gleichungen? Lehr: Vielleicht, weil sie so zwei unterschiedliche Qualitätsebenen haben. Wenn ein Schriftsteller eine Gleichung in einem Buch schreibt, dann hat er generell ein Problem. Zumindest schon mit dem Verleger, der keinen mathematischen Zeichensatz hat, was dann dazu führt, dass im Verlag jemand mit einer schönen Handschrift die Formel aufschreiben muss. Für »42« musste die Wheeler-DeWittGleichung mit der Hand gemalt werden, sehr zu meinem Leidwesen. Ich wollte es eigentlich anständig gesetzt haben. Es ist einerseits eine literarische Referenz. Es gibt ganz wenige Formeln in literarischen Texten; mit die bekannteste ist Alfred

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Döblins Zitat in »Berlin Alexanderplatz«, wo er mit Newtons Kraftgleichung in Bezug auf einen Mordfall aussagt: »Das alles ist aber nur Physik«. Ein Körper bringt den anderen mithilfe des Newton’schen Kraftgesetzes ums Leben. Das ist natürlich eine ironische Referenz von mir. Heydenreich: Sie zitieren mit den Gleichungen zwei Theorierichtungen an, die Zeit auf unterschiedlichen Erkenntnisebenen konzeptualisieren: Der Zweite Hauptsatz der Thermodynamik schreibt der Zeit eine Richtung ein, die den Übergang physikalischer Vorgänge von einem unwahrscheinlichen zu einem immer wahrscheinlicheren Zustand symbolisiert; die Wheeler-DeWitt-Gleichung scheint den Parameter Zeit gar nicht zu berücksichtigen, dann eben auch nicht ihre Richtung. Spielen die unterschiedlichen Zeitbegriffe, die von diesen Gleichungen impliziert werden, eine Rolle für die Zeitkonfiguration im Roman? Lehr: Die Entropieformel habe ich benutzt, weil mit dem Zweiten Hauptsatz der Thermodynamik eine Asymmetrie in die sonst zeitlich neutralen Gesetze der Physik zu kommen schien und das ein erster Durchbruch war, der Organisation von Leben auf die Spur zu kommen, den Zusammenhang des Lebens mit dem physikalischen Zeitpfeil zu verstehen. Das ist etwas Fundamentales. Ich glaube auch, dass wir in unserer makroskopischen Welt, in der wir als makroskopische Großkörper leben, dem Zweiten Hauptsatz der Thermodynamik unterworfen sind. Das Leben ist ein ständiges Arbeiten dagegen. Wir leben jedoch in offenen Systemen, wir können uns wehren und können Ordnung anhäufen, nur am Ende verlieren wir doch. Wir sind alle dem Zweiten thermodynamischen Hauptsatz unterworfen, aber das Leben basiert auf der ständigen Gegentendenz, das ist auch eine Definition von Leben. Weil sie so fundamental für unsere Lebenszeit ist, habe ich also die erste Formel aufgenommen. Die zweite Formel habe ich wegen ihrer spekulativen Verrücktheit angeführt, die ist auch nicht so ganz ernst gemeint. Das Faszinierende an der WheelerDeWitt-Gleichung ist, dass sie keinen Zeitparameter mehr enthält. Im Grunde beschreibt diese Gleichung die ganze Welt. Es ist eine Art Schrödinger-Gleichung für das gesamte Universum. So habe ich das in meinem laienhaften Verständnis empfunden. Ich verstehe die Formel in ihrer mathematischen Spezifität auch gar nicht, der Leser muss sie auch nicht verstehen. Was sie aussagt, wird aber im Roman beschrieben und erklärt: Im Grunde kann man die Welt in der erweiterten Quantengravitationstheorie so beschreiben, dass es physikalisch keine Zeit mehr gibt. Und das entspricht natürlich dem phantastischen Grundmodell des Romans. Er ist angelegt im Spannungsfeld zwischen etwas sehr Solidem, dem Zweiten Hauptsatz der Thermodynamik, bis hin zu etwas äußerst Spekulativem, dieser Wheeler-DeWitt-Gleichung, die gewiss nicht zum kleinen Einmaleins der Physiker gehört. Wheeler hat ja auch so verrückte Modelle wie Wheelers Wahl ins Spiel

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gebracht. Er war, glaube ich, jemand, der es liebte, riskante Gedankenspiele zu machen. So hat er die Frage aufgeworfen, ob das Universum eigentlich nur dadurch entsteht, weil wir es beobachten. Es kann, verallgemeinert man das Quantenmodell, eigentlich gar nicht anders sein, als dass diese Dekohärenz erst von uns herbeigeführt worden ist, damit das Universum, in dem wir uns befinden, als Realität überhaupt existiert. Den Eros dieser Modelle finde ich äußerst reizvoll. Der Leser soll über diese Formeln stolpern, weil sie den ästhetischen Reiz des Gedankens noch verstärken. Normalerweise scheuen die Leser solche Gleichungen wie der Teufel das Weihwasser. Ich wollte es ihnen aber zustoßen lassen. Strobel: Es fällt ja nicht leicht, Ihren Roman einem Genre zuzuordnen. Man hört dann immer so etwas wie Science-Fiction, Dystopie, Märchen. Sie selbst haben sogar einmal recht kryptisch gesagt, es ist ein »Nicht-Science-Fiction-Science-FictionRoman«. (»Die Seifenblasen der Kunst müssen begehbar sein«, 17) Lehr: Ich würde ihn als phantastischen Roman bezeichnen, im weitesten Sinne. Ich meine damit eben keinen Genre-Roman. Und deswegen habe ich ironisch ein »Nicht-Science-Fiction-Science-Fiction-Roman« gesagt. Es ist leider so, dass in der Literaturtradition die phantastischen Romane, die solche Denkmodelle ausprobieren, mit Genrebezügen verhaftet wurden, nehmen Sie Jules Verne oder klassische Science-Fiction-Schriftsteller wie Orson Welles oder H. G. Wells, die »Time Machine« und so etwas, die Romane waren gedanklich explorativ, aber sprachlich oft auf einem standardisierten Niveau. Und da frage ich mich, was passiert, wenn ich einen gedanklich explorativen, phantastischen Roman schreibe, aber in einer Sprache, die überhaupt nicht aus dem Genre kommt und auch die Standards des gewöhnlichen Erzählens überschreitet. Meines Erachtens schreibe ich dann einen Thomas-Lehr-Roman wie immer, nur ist er jetzt anderswo angesiedelt; das Thema ist ernsthaft, wenn auch das Setting eines phantastischen Romans vorliegt, in dem etwas, was nicht möglich ist, die Grundlage der Ereignisse wird. Deswegen fand ich den Begriff Science-Fiction unpassend. Aber ich lasse mir auch gefallen, wenn man sagt, das sei ein anspruchsvoller Science-Fiction-Roman. Ich wehre mich nur, weil es für das Schreiben dieses Buches so grundlegend war, es in einer ähnlich elaborierten Sprache zu schreiben, in der ich auch meine anderen Bücher geschrieben habe. Für mich gibt es unter dem Aspekt der Sprachkunst gar keinen Unterschied zwischen »Nabokovs Katze« oder »September« und »42«. Heydenreich: Eine Parallele, die ich zwischen den Romanen sehe, ist die grundlegende Suche nach Erkenntnis. Deshalb denke ich immer an epistemologische Romane, wenn ich an Romane Thomas Lehrs denke. Lehr: Es ist immer eine Erkenntnissuche mit drin. Das kennzeichnet ganz bestimmte Schriftsteller, ganz bestimmte Romane. So wie »September« versucht,

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die politisch-historischen Zusammenhänge aufzuklären, wie »Nabokovs Katze« einen Diskurs über Bildlichkeit enthält, so enthält »42« einen Diskurs über Zeit. Für mich sind alle Romane auch geistige Abenteuer und da gehöre ich zu einem bestimmten Typus von Schriftsteller in der Linie von Hermann Broch und Robert Musil, die den Roman unter anderem auch als Erkenntnisinstrument begreifen. Mecke: Eine Forschungsarbeit in ästhetischer Form sozusagen. Lehr: Vielleicht. Ich erforsche für mein Gefühl immer etwas, weil für mich der Roman ein geistiges Abenteuer ist. Ob das die Wissenschaft voranbringt, das ist, Gott sei Dank, nicht mein Problem. Ich weiß hinterher immer mehr als vorher und der Leser hoffentlich auch. Das muss aber jetzt nicht ›state of the art‹ sein. Besziehungsweise ›state of the art‹ muss es sein – aber es muss nicht ›state of the science‹ sein. Ich muss nicht weitergehen als die Wissenschaft meiner Zeit, das kann ich auch gar nicht. Heydenreich: Mich hat immer schon eine Frage fasziniert, die wahrscheinlich den Anspruch der Literatur überfordert. Wir hatten darüber gesprochen, dass es Räume in der Physik gibt, die für Menschen schwer konzeptualisierbar, fast nicht mehr intuitiv denkbar sind, obwohl sie mathematisch berechnet werden können. Ist es möglich Metaphern, poetische Bilder dafür zu finden? Lehr: Ja, manchmal versuche ich schon neue Denkbilder zu formen, die komplexen modernen wissenschaftlichen Erkenntnissen entsprechen. Aber ich würde sagen, nicht da, wo die Knackpunkte der modernen Physik sind. Da finde ich keine Bilder, weil mir die Probleme nicht genügend vertraut sind. Ich würde vielleicht welche finden, wenn ich das ein oder andere Problem ernsthaft studieren würde, dann käme mir vielleicht etwas in den Sinn. Aber ich gehe zumeist nur von populärwissenschaftlichen Einsichten aus. Würde ich mich jetzt an der Front der Theoretischen Physik befinden oder darauf einlassen, kämen in mir womöglich neue Bilder auf, die einen guten illustrativen Wert hätten, das kann ich mir vorstellen. Aber ich habe nicht die Zeit dafür und es ist auch nicht mein Hauptarbeitsgebiet. Mecke: Wenn ich mich richtig erinnere, dann haben Sie von »42« als mechanischen Roman gesprochen. Das ist eine Anspielung auf die Physik im Zeitalter des achtzehnten Jahrhunderts. Lehr: Er ist eben kein psychologischer Roman, er behandelt die Figuren eher so, wie die Physik des achtzehnten Jahrhunderts mechanische Partikel behandelt hat. Er interessiert sich für die Soziomechanik mehr als für die einfühlende Psychologie. Außer der Hauptfigur werden alle Figuren nur von außen betrachtet. Das ist ein Missverhältnis. Ich habe nur einen Erzähler, aber zahlreiche Figuren im Roman, ein großes Romanpersonal, das gar nicht so genau betrachtet wird, sondern studiert wird wie mechanische Kügelchen. Man sieht eine Art kühles Sozial-

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experiment und das entspricht den Modellen der frühen Gesellschaftstheoretiker wie Thomas Hobbes und Rousseau, die auch so kühl, soziomechanisch, eigentlich wenig psychologisch sind und den Menschen eher als Maschine behandeln. Diese Theoretiker versuchten quasi-mechanische Modelle zu finden, um mit relativ primitiven Psychologismen zu erklären, wie die Soziologie der Gesellschaft entsteht. In einer bewussten Anlehnung daran ist der Roman auch so, er versucht das Verhalten der Gruppe in dieser Extremwelt gewissermaßen von außen, mit mechanischen Mitteln zu untersuchen.

Poetik der Entropie in »42« Heydenreich: Sie wählen für die erzählerische Gestaltung Ihres Stoffes eine fünfaktige Struktur, die der Dramenpoetik entnommen zu sein scheint und die den Text auch nur scheinbar strukturiert. Welche Überlegung liegt dieser dramaturgischen Struktur zugrunde? Lehr: Ich musste zunächst mal definieren, wie lange die Zeit stehenbleiben würde. Das war das erste Problem: ein, zwei, zehn Jahre. Ich hatte keine Ahnung. Dann habe ich mir einen Zeitraum überlegt, in dem sich ein gewisser vollkommener Überdruss herstellen würde. Intuitiv habe ich mir gesagt: Etwa fünf Jahre wird das dauern, dann sind die Figuren am Ende, dann haben sie alles ausprobiert und haben jede Hoffnung verloren. Genau damit wollte ich beginnen und dachte, das ist ein guter Zeitraum – vielleicht nicht zufällig der Zeitraum, in dem ich am Roman gearbeitet habe, bis ich seiner überdrüssig und als Autor selbst auch überflüssig wurde. Ich bin solche Zeitabstände gewöhnt, nach fünf Jahren habe ich immer genug von einem Roman und vielleicht auch die Figuren meines Romans von diesem Roman, in dem sie sich befinden. Und dann habe ich mir aus dramaturgischen Gründen überlegt, dass diese Figuren gewisse Phasen der Degeneration durchleiden würden, die ich im Roman schildere. Ich hielt das einfach intuitiv für wahrscheinlich, ohne dass ich versucht habe, das an Gesellschaftstheorien oder psychologische Theorien rückzubinden. Es gibt also auch ein bewusstes – vielleicht ist das erleichternd zu hören – Nicht-Forschen von mir. Bestimmten Dingen gehe ich absichtlich nicht nach – auch damit ich überhaupt zu einem freien Erzählen komme – und vertraue meiner Intuition. Ich finde auch nicht, dass es Aufgabe des Romans sein muss, Wissenschaft zu bebildern oder jedwede Wissenschaft bei der Konstruktion einer Fabel heranzuziehen. Da habe ich meiner Intuition vertraut und mich darauf konzentriert, meine eigenen Gedanken zum Ausdruck zu bringen. Meine Überlegung war, dass Macht prinzipiell zu Missbrauch neigt, dass dieser Missbrauch nach einer Weile aber in Depression umschlagen würde, weil die sinnlose Verfügungsgewalt

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über andere erschöpft, und dass schließlich aus der Einsamkeit der Macht die Flucht in eine fanatische Phase resultiert. Der dramaturgische Trick ist im Grunde der, dass ich es nicht nur im Roman so ausführe, sondern schon im ersten Kapitel explizit ankündige, durch den Chronisten Sperber und sein Journal der Chronifizierten. Dadurch entsteht die Spannung, der Leser möchte sehen, wie ich das einlöse. Heydenreich: Potenziert wird das dadurch, dass der Erzähler das zunächst postuliert und sich überhaupt nicht daran hält, vielmehr alles subvertiert. Lehr: Das wäre natürlich sehr dröge, wenn ich das jetzt säuberlich sortiert hätte. Es wäre langweilig gewesen. Das darf man nicht, in der Kunst darf man nicht so ordentlich sein. Man muss mit Geschick Unordnung herstellen. Wenn die Entropie ihr Ziel erreicht hat, herrscht die kosmische Langeweile. Die Kunst muss immer Quellen von Entropiezunahme und Entropieabnahme produzieren, Abwechslung, Rhythmus, Musik. Es geht auch darum, Irregularitäten zu produzieren. Die Natur ist ja so spannend, weil sie so undurchschaubar ist und so tückisch, und sie ist oft nicht so, wie unsere schönen symmetrischen wissenschaftlichen Modelle das wollen. Gerade die menschliche Natur ist eben nicht so geometrisch kristallin. Mecke: Verwenden Sie dann auch gern Physik als dramaturgisches Mittel, um Spannung zu erzeugen? Heydenreich: Das mit der Entropie vielleicht, mit der gezielten Unordnung? Lehr: Ja, wenn ich sage, ich schaffe gezielte Unordnung. Also, ich denke dabei gar nicht an Physik, sondern das ist ein intuitives dramaturgisches Vorgehen. Aber im Prinzip gibt es eine Analogie. Mecke: Sie haben ja so eine Liste der absurden Phänomene genannt . . . Lehr: Ja genau, das sind zum Teil physikalische Erkenntnisse oder Modelle. Oder ich verwende oft Einsichten in die Folgen der Romanhandlung und der Szenerie und füge die an dramaturgisch geeigneten Stellen ein. Wenn ich im Roman Aspekte der Physik oder Philosophie zitiere, entspricht das am Ende dramaturgischen und szenischen Notwendigkeiten. Eine Liste absurder Phänomene, die in meiner phantastischen Welt entstehen könnten, habe ich als Vorrat angelegt, war aber sehr vorsichtig mit dem Einfügen, das musste immer gut in die Handlung eingebaut werden können, das musste narrativ flüssig wirken. Das Grundgesetz ist die Lebendigkeit des Kunstwerks. Da ist natürlich auch handwerkliche Routine oder künstlerische Übung, wie man das macht. Das ist ein ganz eigenes Thema, wie man sich in den Stand versetzt, den Leser zu überraschen, und welcher Mittel man sich bedient, um dramaturgisch geschickt zu erzählen. Strobel: Sie bedienen sich einer speziellen Erzähltechnik, die durch eine ›gebrochene Anaphorik‹ einen auffälligen Störeffekt beim Lesen erzielt. Das heißt, es wird

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auf eine Erinnerung, eine Person, ein Ereignis – oft mittels rückbezüglichem Pronomen – verwiesen, dass der Leser aber an dieser Stelle noch gar nicht verstehen kann, weil es erst danach, also Seiten oder Kapitel später wirklich erzählt wird. Ist das Ausdruck eines ästhetischen Programms? Lehr: Auch das ist ein dramaturgisches Mittel, wenn ich den Leser störe, indem ich ihm Rätsel aufgebe oder nur mit einem fragmentarischen Wissen versehe. Ich konstruiere sorgfältig, wann ich etwas aufkläre. Das ist genau überlegt, ich notiere mir das auch, damit ich die Auflösung an der richtigen Stelle nicht vergesse. Ich weiß, der Leser weiß jetzt über die und die Figuren das und das und er hat auch Sachen erfahren, die ihn stören, weil er nur partielles Wissen besitzt. An einer bestimmten Stelle im Roman muss ich das auflösen oder muss dem Leser sagen: Tut mir leid – ich hab dich an der Nase herumgeführt. Das Spiel, die Karten an bestimmten Punkten aufzudecken und zu verdecken, ist das dramaturgische Spiel. Bei »42« und bei »Frühling« ist es wichtig, dass man in das Bewusstsein einer Figur gewissermaßen blind hineinstolpert, das ist eine Grundwurzel der Spannung, die für die Gesamtkonzeption fundamental ist. Im Zeitroman wäre es viel zu umständlich gewesen, die Geschichte von Anfang an zu erzählen. Die Zeit bleibt stehen, alle fragen sich, was jetzt passiert . . . Dann habe ich schon hundert Seiten mit Dialogen verpulvert. Nein, ich mache es anders: Ich erzähle vom Ende her, im Zeitraffer, aus der Erinnerung der Figur, wir sind schon fünf Jahre drin. Man ist einem Subjekt ausgeliefert, einer unzuverlässigen Erzählerstimme, die sich für Dinge interessiert, die einen selbst nicht unbedingt interessieren, die noch nicht mal ein moralisch sauberer Charakter ist. Man steckt mitten in so einer merkwürdigen schrägen Figur – und damit kriegt das schon eine ganz andere Spannung, als wenn ich die Sache säuberlich aufzäumen würde. Das Verfahren ist uralt – Homer erzählt in der »Ilias« die letzten Tage des trojanischen Kriegs und fängt nicht von Anfang an, er erinnert erst daran, wie die Sache mit Paris und Helena war – das wird eingeschoben. Also eine sehr tradierte erzählerische Technik im Grunde.

Der Roman »42« als Experimentalsystem Strobel: Am Ende des Romans erlebt der Protagonist etwas, was sowohl an die Viele-Welten-Theorie erinnert als auch an eine Nahtoderfahrung. Man hat dieses filmähnliche Durchspielen von Szenen aus der Vergangenheit und aus der Zukunft, die jedoch nur teilweise im Roman so erzählt wurden. Vielmehr scheinen diese Szenen auch aus möglichen Vergangenheiten und Zukünften zu entstammen. Stand schon am Anfang des Schreibprozesses fest, wie der Roman enden würde?

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Lehr: Also, es war lange Zeit das Problem, wie der Roman enden soll. Ich habe lange nachgedacht und es dauerte fast drei Jahre, bis ich mich für diesen Schluss entschieden habe. Es wäre mir auch langweilig, wenn ich von Anfang an immer wüsste, wie die Bücher enden. Ich schiebe das als Denkproblem vor mir her. Eins war klar: Am Ende wird es dieses finale Experiment geben. Das habe ich mit dem sogenannten Ruck, dem plötzlichen, dreisekündigen Wiedereinsetzen der Zeit, von Anfang an angelegt. Ich wollte eine Trajektorie in das Buch hineinbringen, einen Vektor, der die Figuren nach Genf zusammenführt. Es ging ja darum: Wie dramatisiere ich etwas Stehengebliebenes? Dieses Bild hatte ich immer. Die Figuren kommen nach Genf und gehen auf das Experiment zu. Nur, was da passiert, wusste ich selbst noch nicht. Es hat mir aber schon gereicht, um den ganzen Roman zu schreiben, oder siebzig Prozent zu schreiben, weil ich ja meinen Motor hatte. Mir kam es auf das an, was ich unterwegs erzähle. Also war ich die ganze Zeit auf der sicheren Seite und fragte mich immer: Wie geht das Experiment aus? Und dann kam im Laufe der Beschäftigung mit der Zeit und den Zeittheorien eben dieses Modell, was bei Borges schon in »Der Garten der verzweigten Pfade« auftaucht: Die Welt zusammengesetzt aus allen möglichen Vergangenheiten und Zukünften. Dann dachte ich, dass das eigentlich ein schöner verwirrender Schluss wäre, der allerdings auch wieder in die Irre führt, weil am Ende dieses Experiments die totale Monade herauskommt. Man erkennt, dass der Erzähler mutterseelenallein ist. Es wird auch nahegelegt, dass er jetzt noch einsamer ist als zuvor und dass er seinen Zustand nur noch als Übergang in den Tod definieren kann. So habe ich es dann, nach drei Jahren etwa, entschieden zu gestalten. Ich wollte noch einmal auf diese schön bizarren Modelle von Universen ohne Zeit oder aller Zeiten – das ist ja fast synonym – rekurrieren und dann aber auch diesen Weg zu Ende gehen, der von Anfang an angedeutet ist, dass die Figur sich vielleicht in einem Übergang befindet. Aber der Witz dieses Romans ist nicht, dass er eine eindeutige Lösung hat – er ist ein quantentheoretischer Roman, wie wir festgestellt haben. Vielleicht folgt daraus die Kategorie ›Quantenroman‹. Würde ich jetzt nicht ablehnen. Der Beobachter stört das Experiment mit einer Deutung, aber der Roman entfaltet sich immer wieder in seinen Deutungsmöglichkeiten. Und es soll auch keine definitive Deutung geben. Im Grunde bringt der Leser die Dekohärenz in den Roman hinein. Es gibt Leute, die interpretieren ihn hartnäckig auf eine bestimmte Weise. Ich selbst interpretiere ihn am meisten als eine große Analogie auf das Schreiben und Lesen. Für mich sind im Grunde die Chronifizierten die Leser und das Erfrorene ist das Buch. Und wie die Leser in einem Buch sich bewegen, so bewegen sich meine Figuren in der erstarrten Welt. Der Roman an sich, das Buch, ist eine erstarrte Fiktion, an der man partizipieren kann, in der man aber nicht leben kann, die einem

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das Leben nicht abnimmt, die man auch nicht verändern kann – man kann das missbrauchen, indem man Seiten rausreißt oder diagonal liest, aber man kann nicht positiv interagieren. Das Kunstwerk bleibt unveränderlich. Und wenn man den ganzen Roman einmal so liest, nur als Metapher auf das Schreiben, das Erzählen der Figur und das Lesen durch die Chronifizierten – sie lesen die erfrorene, zu einem Buch gewordene Gesellschaft sozusagen –, dann kann man den Roman von Anfang an noch mal aus einer anderen Sichtweise lesen. Heydenreich: Ich glaube, dass er nicht gefroren, sondern unheimlich lebendig ist. Die Herausforderung an den Interpreten ist die, im Interpretationsakt nicht den Kollaps der Wellenfunktion hervorzurufen und den Interpretationsprozess auf eine Lesart zu reduzieren, sondern zu beschreiben, wie viele verschiedene, einander widersprechende Lesarten und Deutungen potentiell möglich sind. Lehr: Mit dem Gefrorensein meine ich das in einem primitiven, mechanischen Sinne. Es sind einfach die Buchstaben linear auf das Papier fixiert. Heydenreich: Aber das Lesen . . . Lehr: Das ist natürlich dann der geistige Gehalt, der schwirrende, sich widersprechende Hypothesen hervorruft. Das ist das Schöne an dem Roman. Mecke: Ich finde das gerade sehr spannend, dass offensichtlich eine physikalische Welt oder ein physikalisches Modell praktisch beschrieben werden für den Leseund den Erzählprozess. Eigentlich ist es ja sehr schön zu parallelisieren, wie das funktioniert. Obwohl ein Buch fixiert ist, da ist ja nichts unbestimmt, es ist alles gegeben und unverändert. Aber trotzdem kann diese Lebendigkeit im Leseprozess erzeugt werden. Das ist schon die gleiche Situation, die die Protagonisten im Roman haben. Lehr: Ja. Heydenreich: Das Unbefriedigende an den Theorien, die von den Protagonisten im Roman vehikuliert werden, ist, dass die Lösungen zwar theoretisch errechnet werden könnten, dass jedoch die Möglichkeiten, dass diese Theorien jemals überprüft werden können, nicht absehbar sind: bei der Stringtheorie, weil die zehn bis zwölf Dimensionen nicht realisierbar sind, bei der Quantengravitation, weil keine Experimente unter der Planck-Größe durchgeführt werden können. Dennoch bewerten Physiker konkurrierende Theorien und versuchen durch Experimente Plausibilitäten zu konstruieren, auch wenn keine der Theorien eine schlüssige Antwort liefert. Ich finde es interessant, dass die Figuren sich die ganze Zeit mit solchen Theorien beschäftigen, die experimentell nicht überprüfbar sind, wie die Stringtheorie und die Quantengravitation, und dass sie dann merken, dass ihnen keine andere Möglichkeit mehr übrigbleibt, als das Experiment selbst zu produzieren. Sie überlegen sich: ›Wie wäre es, wenn wir das in Gang setzen, selbst wenn wir nicht wissen, was da-

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bei rauskommt?‹ Welche Funktion hat hier der Experimentalcharakter des Romanendes? Lehr: Sie erhalten durch das sogenannte finale Experiment im Grunde zum ersten Mal eine Antwort von der Welt, in der sie sich befinden. Da passiert ja was mit ihnen, plötzlich entstehen diese Klone. Da wird zum ersten Mal reagiert. Normalerweise missbrauchen sie die Dinge nur oder schieben sie herum. Also sie können eigentlich nur Entropie hervorrufen – so kann man es sagen. Sie legen sich neben einen Schlafenden, dann wächst dem ein Bart, aber er kommt nicht zu Bewusstsein, die Dinge zerfallen nur. Das Experiment ist die erste Antwort, die ihnen diese verrückte Welt gibt. Sie merken, dass plötzlich Klone entstehen und dem Sog können sie sich nicht entziehen. Vielleicht ist das auch der große Reiz eines Experiments, vielleicht ist es auch die Grundstruktur, warum man Experimente macht, weil man in Experimenten die Natur zwingt, eine Antwort zu geben. Ist mir noch nie als Definition eingefallen, aber das ist ja genau das: Wir versuchen die Natur so zu fragen, dass sie antworten muss. Und genau das ist das einzige strukturverändernde Experiment, das in dem Roman stattfindet, es zerreißt seine Textur. Zum ersten Mal erhalten die Figuren eine Antwort. Natürlich nur vom Autor des Buches. Heydenreich: Meistens ist ja die Antwort so, dass sie fast nichts erklärt, sondern andere Fragen aufwirft, die man überhaupt nicht versteht. Lehr: Das finale Experiment selbst wird nicht erklärt, ich habe keine Theorie zu zitieren versucht, die das Experiment erklärt. Es wird einfach als Phänomen gesetzt, so wie der Ruck auch nicht erklärt wird, es sind ›dei ex machina‹, Naturphänomene sozusagen. Es ist genauso ein Phänomen wie der Zeitstillstand ein Phänomen ist, der plötzlich auftritt. Natürlich erinnern die ersten Stufen des Experiments, das schrittweise wiederholt wird, an bestimmte quantenmechanische Standards, wie die Doppelung von Phänomenen, wie die Konjugation von Teilchen. Es geht mir darum, die Struktur eines Experiments als verführerischen Reiz zu definieren. Meine Figuren sehen: Jetzt antwortet mir die Welt. Aber auch die Lebensmüdigkeit und der Überdruss der Figuren an der gefrorenen Welt werden durch die Teilnahme fast aller Figuren an diesem Experiment ausgedrückt, denn der Ausgang ist völlig ungewiss, möglicherweise sogar tödlich. Die Bereitschaft zu einem solchen Risiko soll zeigen, dass die Dornröschenwelt von »42« sinnlos ist, keiner möchte eigentlich dort auf Dauer leben.

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Zur Rezeption des Romans »42« Strobel: Zu einem anderen Thema: die Rezeption von »42«. Wir mussten feststellen, dass sich je nach Wissen und Fachrichtung völlig unterschiedliche Lesarten ergeben. Die Jury bei der Verleihung des Berliner Literaturpreises 2011 betonte, dass Sie Ihre Romane mit »einer Vielzahl von Themen und zeitgenössischen DiskursElementen [. . . ] unterfüttern«. Weiter heißt es hier: Ihre »verfeinerte narrative Technik lässt den Erzähler inzwischen ganz verschwinden und löst ihn auf in einer genau komponierten Polyphonie der Stimmen«. Die meisten Leser werden durch ihre Interessen und Universitäts- bzw. Schulbildung nur auf die Erkenntnis einer Stimme spezialisiert sein. Wie stellen Sie sich den idealen Leser Ihrer Romane vor? Lehr: Als neugierig und abenteuerlustig – und mutig. Genau das, was mich – hoffe ich – als Schriftsteller auszeichnet, erhoffe ich mir vom Leser. Ich schreibe für geübte Leser, das heißt für Leser, die Spaß an sprachlicher und gedanklicher Komplexität, nicht Kompliziertheit, aber Komplexität finden. Ich bin auch so ein Leser. Ich lese Bücher, die mich geistig oder sprachlich langweilen, einfach gar nicht. Ich vergeude nicht meine Lebenszeit damit. Ich empfinde Vergnügen dabei, komplexe Literatur zu lesen, ich empfinde es auch nicht als große Anstrengung, sondern als Bereicherung. Ich mache E-Literatur und gebe das zu und verteidige das auch. Wenn man in die Philharmonie geht, erwartet man auch nicht, dass man tanzen kann. Beim Lesen meiner Bücher kann man nicht bügeln, das geht nicht. Man muss sich darauf einlassen, damit sie wirken. Das ist meines Erachtens aber überhaupt nicht exotisch. Unsere ganze Kultur basiert auf einer Einübung in sublime Kunst. Man muss ein Bild sehen lernen, man muss eine Orchestersuite hören lernen und man muss Literatur lesen lernen. Das kann ich den Lesern nicht abnehmen. Wir haben leider zum Teil eine derartig trivialisierte Kulturauffassung, da fällt mir dann doch Herbert Marcuses Begriff der ›repressiven Desublimierung‹ ein. Ich provoziere die Leser durch anspruchsvolle Produkte und will das auch gar nicht groß verteidigen. Ich biete ihnen aber etwas oder sogar sehr viel dafür, dass sie sich konzentrieren müssen, das ist meine Auffassung von anspruchsvoller Kunst. Und umgekehrt als Konsument von Kunst, ist es genau das, was ich gerne mag. Ich lese auch gerne vielfältige, herausfordernde Autoren und mir macht das wirklich Vergnügen. Strobel: Sie verwenden eine Vielzahl von physikalischen Metaphern, um auch ganz alltägliche Dinge zu beschreiben. Teilweise ist für das Verstehen dieser Metaphern ein profundes Wissen über die zugrunde liegende Physik notwendig. Wie wichtig schätzen Sie das Verständnis der Physik über die von Ihnen verwendeten Metaphern hinaus für den Leser und auch für Sie selbst ein?

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Lehr: Das eine ist, wenn ich die Physik als musikalisch-metaphorisches Element benutze und das nur anreichere mit Begrifflichkeiten aus Theorien, die der Leser gar nicht verstehen muss. Aber manchmal gehe ich eben auch an die Substanz dieser Theorien. Es gibt zum Beispiel diese eingesprengten Essays über die Zeit, die Gegenwart, Vergangenheit, Zukunft – die meine ich ernst. Die tragen Erkenntnisse und sind aber frei formuliert in einer allgemeinen Sprache, nicht im Jargon. Wenn ich Scherze am Rand mache, benutze ich durchaus den Jargon und zeige auch dem Leser, es ist jetzt nicht wichtig, dass du weißt, was Quantenelektrodynamik ist. Das ist nur ein Spiel, eine Metapher dafür, dass es etwas ist, was verdammt kompliziert ist, was du nicht verstehen musst, ich verstehe es auch nicht, aber es ist wohl sehr wichtig. In solchen Fällen markiere ich das dann für den Leser, hoffe ich. Ich glaube, der intelligente Leser merkt durch den Kontext, dass er das nicht wissen muss. Er muss nichts von Quantenchromodynamik verstehen, um mein Buch genießen zu können. Er darf es auch nicht wissen müssen, das wäre schrecklich. Wenn ich aber sage: Die Zeit ist der Abgrund, in den wir fallen, dann verwende ich keinen Jargon. Die zentralen Thesen des Buchs über die Zeit sind in einer klaren, allgemeinverständlichen Sprache geschrieben, ohne den Jargon oder die Terminologie der Wissenschaft zur Hilfe zu nehmen. So kriege ich das für mich auseinanderdividiert. Mecke: Stört es Sie dann, wenn Physiker als Leser – meinetwegen gerade bei den Stellen, wo sie wiederum Jargon verwenden – fachliche Unstimmigkeiten feststellen? Lehr: Im Allgemeinen kriege ich die Vorwürfe nicht gemacht. Wenn sie ausgesprochen werden, dann kommen sie gerade nicht von Physikern, sie kommen eher von Unkundigen, die glauben, das Ganze nicht verstanden zu haben oder gestresst waren, weil sie dachten, sie müssten eben jetzt Quantentheorie lesen, um meinen Roman verstehen zu können. Darum sage ich, wenn sie ihn genau läsen, würden sie merken, dass sie das eben nicht müssten. Wenn sie ein Vergnügen an der Quantentheorie gewinnen, weil sie meinen Roman gelesen haben, bin ich begeistert. Es freut mich, es ist aber nicht die primäre Absicht gewesen und überhaupt nicht die Lesevoraussetzung. Mecke: Sie haben eine Lesung aus »42« am CERN gehalten und an verschiedenen Universitäten in Deutschland und im Ausland. Haben Sie auch Gespräche mit Physikern über den Roman geführt? Haben sich die Diskussionen und Reaktionen von Physikern oder von Hörern an typisch naturwissenschaftlichen Universitäten und Forschungsstätten wie dem MIT oder dem CERN unterschieden von denen an geisteswissenschaftlich geprägten Orten wie Harvard oder der FU Berlin? Lehr: Verblüffenderweise gar nicht so sehr. Glücklicherweise waren sie dann doch auch einfach Leser bei einer literarischen Veranstaltung. Bei der Auswahl meiner Lesestellen habe ich nie variiert. Ich hatte zwei, drei Standardlesungen

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aus »42«, die ich gut fand – man muss immer was aussuchen, was sich für einen öffentlichen Vortrag auch eignet. Nicht alle Physiker beschäftigen sich im Übrigen mit den eher philosophischen Fragen ihres Faches. Viele waren in einem gewissen Sinne dann auch Laien, auch was das Zeit-Thema in ihrer eigenen Wissenschaft angeht. Natürlich kennen sie die Grundlagentheorien gut, aber sie haben sich nicht unbedingt im Detail und in aller Konsequenz darüber Gedanken gemacht, was denn jetzt speziell für den Zeitbegriff aus diesen Theorien oder den CERN-Experimenten folgt. Die Diskussionen waren deshalb nicht so viel anders als vor einem weniger physikalisch vorgebildeten Publikum. Fast alle haben sich gleichermaßen für die sozialen und für die philosophischen Dimensionen interessiert. In Einzelgesprächen habe ich Zuspruch für meinen artistischen Umgang mit der Theoretischen Physik bekommen. Ich glaube, es gab auch negative Reaktionen, weil es ja ein dunkler, sarkastischer, respektloser Roman ist, der einiges am CERN anrichtet, insbesondere in der Kantine, aber diese Kritik wurde nicht explizit an mich herangetragen. Von einigen Physikern – am CERN war es am besten – kamen dann auch noch Ideen und Vorschläge, was ich noch alles hätte anstellen können. Das war schon sehr stimulierend, und dann dachte ich: Wenn ich mit denen vorher gesprochen hätte, wäre mir noch verrückteres Zeug eingefallen. Aber dann wäre das Buch wirklich überkomplex geworden. Heydenreich: Was beobachten Sie als Schriftsteller, der sich einerseits mit Sprache und andererseits mit naturwissenschaftlichen Theorien professionell auseinandersetzt: Wie wird das physikalische Theoriengebäude durch die journalistische Wissenschaftskommunikation vermittelt? Leistet der Roman auch eine Art Medienkritik des Wissenschaftsjournalismus? Lehr: Im Alltag – ich weiß nicht, ob ich das in »42« groß zum Ausdruck gebracht habe –enttäuscht mich ja der geringe Diskurs zwischen Wissenschaft und Feuilleton. Ich finde, dass es zu wenig Zeitungen gibt, die eine gute naturwissenschaftliche Seite haben, die über bloße Sensationsfunde hinausgeht: wieder eine Maus mit drei Ohren in Australien gefunden und das CERN entdeckt Higgs, aber auch nur so zehn Zeilen. Ich wünschte mir, dass das ergiebiger und niveauvoller wäre. Es gibt zwischen den Sensationsberichten und Kurznotaten und dem »Scientific American« zu wenig Zwischenebenen.

Naturwissenschaft als Narrativ für die moderne Mythengenese Heydenreich: Dadurch, dass die Erzählperspektive auf Adrian intern fokalisiert ist, erfährt der Leser wissenschaftliche Erklärungen, so wie er sie versteht, als Mosaik von möglichen Deutungen, wobei kaum eine mögliche Wertehierarchie zwi-

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schen den herkömmlichen Mythen und den wissenschaftlichen Erklärungsansätzen hergestellt wird. Wird auch hierbei deutlich, dass die Naturwissenschaften das Narrativ für neuzeitliche moderne Mythengenesen bieten? Lehr: Ich glaube schon. Die Menschen suchen immer Grundmetaphern für ihre Befindlichkeit in der Welt und im Universum, und ich denke schon, dass zum Beispiel der Urknall so eine Standardvorstellung ist. Ich glaube, dass die meisten Menschen glauben, dass das Universum physikalisch aus dem Urknall entstanden ist, ohne dass sie das beweisen könnten oder auch nur begriffen haben, warum man das denkt. Das ist einfach so ein Bild, da sind wir eigentlich ganz zufrieden damit, es gibt diesen Knall und das Universum expandiert. Die meisten wissen nicht, dass es quantentheoretische Probleme mit der Singularität gibt. Früher war es eben Gott, vielleicht hat Gott auch den Urknall inszeniert, und schon hat man ein Bild. Es geht vor allem um bildhafte Fasslichkeit. Der Einstieg in die Relativitätstheorie erfolgt hauptsächlich über Einstein als eine Art Popfigur. Man weiß nun irgendwie, es ist alles relativ – und Punkt. Und dass die Zeit sich irgendwie durch Bewegung ändert, glaubt man auch. Das sind Glaubenssätze. Die meisten können die Argumentation nicht nachvollziehen. Ich denke, dass diese Bilder Einzug in das kollektive Bewusstsein finden. Das ist nicht neu. Das achtzehnte Jahrhundert konstruiert diese mechanischen Modelle vom Universum: die Uhren, die mechanischen Roboter, die Automaten. Es wirft die Frage auf: Ist der Mensch nichts anderes als ein Automat? Ist das Universum eine Maschine? Es sind solche zeitbedingten Grundlagenmodelle, an denen wir unsere Fragen entzünden und die das kollektive Bewusstsein oder Halbbewusstsein einer Kultur prägen. Mecke: Gerade diese begriffliche Arbeit ist eigentlich auch eine Aufgabe der Physiker. Um das zu verdeutlichen: Die Lorentz-Transformation ist ein mathematischer Begriff, aber letztendlich nur für die Relativität der Gleichzeitigkeit, was man dann wieder begrifflich und bildlich fassen kann. Haben Sie Vorschläge oder Ideen, wie Physiker so etwas besser lernen können, konkret für ihre eigene begriffliche Arbeit? Lehr: Ich glaube, sie sollten sich mit Kunst befassen, in irgendeiner Weise. Man weiß ja aus Biographien von Wissenschaftlern – ich nenne jetzt mal Werner Heisenberg oder Einstein –, dass sie ein großes Interesse an Musik oder an Literatur hatten. Viele Bilder wären nicht gefunden worden ohne bestimmte kulturelle Verortungen der Wissenschaftler in ihre künstlerischen Bildlichkeiten. Der Wissenschaftler selbst schwimmt ja auf diesem kulturellen Untergrund. Bei seiner Suche nach Bildern und Analogien können ihm künstlerische Vorstellungen hilfreich sein, glaube ich. Die Kunst erstellt ein Reservoir, das uns Bilder liefert, mit denen wir Wissen gut veranschaulichen können. Mecke: Ich frage mich dann, ob wir auch an der Physik-Fakultät Kurse für kreatives Schreiben einführen sollten.

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Lehr: Warum nicht? Ich kann mir das schon vorstellen. Wobei ich wirklich denke, dass die Modellaufgaben, die die Physik stellt, oft so speziell sind, dass man das nicht in Lektionsform lernen kann, sondern eher einen Fundus haben muss, aufgrund dessen dann spontane Reaktionen möglich sind. Man braucht schon ein Reservoir, das man heranzieht, wenn Not am Mann . . . Not am Bild ist. Mecke und Heydenreich: Herr Lehr, wir möchten uns bei Ihnen ganz herzlich für Ihre Bereitschaft, auf unsere Fragen einzugehen, bedanken!

Zum Autor Der Schriftsteller Thomas Lehr – 1957 im pfälzischen Speyer geboren – lebt seit 1979 in Berlin, wo er nach einem Studium der Biochemie an der dortigen Freien Universität längere Zeit als Systemverwalter und Programmierer in der Datenverarbeitung einer Uni-Bibliothek arbeitet. Seit 1999 widmet sich Lehr ausschließlich dem Schreiben. Seine Werke – die Romane »Zweiwasser oder Die Bibliothek der Gnade« (1993), »Die Erhörung« (1994), »Nabokovs Katze« (1999), »42« (2005), die Novelle »Frühling« (2001) – sind mit zahlreichen Literaturpreisen ausgezeichnet worden. So bekommt Lehr für seinen Roman »42« den Kunstpreis Rheinland-Pfalz, die höchste Auszeichnung der Mainzer Landesregierung im künstlerischen Bereich. Zuletzt macht Lehr mit seinem 9/11-Roman »September. Fata Morgana« (2010) von sich reden. »September. Fata Morgana« wird 2010 – wie schon fünf Jahre zuvor »42« – für den Deutschen Buchpreis nominiert. 2012 veröffentlicht Lehr die Aphorismensammlung »Größenwahn passt in die kleinste Hütte. Kurze Prozesse«. 2011 erhält er den Berliner Literaturpreis, 2012 wird er mit dem Marie-Luise-KaschnitzPreis für sein Gesamtwerk geehrt.

Zitierte Literatur 42. Roman. Berlin: Aufbau, 3 2005 • Frühling. Novelle. Berlin: Aufbau, 1 2001 • Nabokovs Katze. Roman. Berlin: Aufbau, 3 1999 • September. Fata Morgana. Roman. München: Hanser, 4 2010.

Weitere Quellen Reulecke, Anne-Kathrin: »Die Seifenblasen der Kunst müssen begehbar sein. Ein Gespräch mit Thomas Lehr über physikalisch-literarische Experimente und den Roman ›42‹«. In: Von null bis unendlich. Literarische Inszenierungen naturwissenschaftlichen Wissens. Hg. von Anne-Kathrin Reulecke. Köln, Weimar, Wien: Böhlau, 2008. 17–36 • »Thomas Lehr erhält den Berliner Literaturpreis 2011«. http://www.geisteswissenschaften.fu-berlin.de/we03/media/ pdf/Pressemitteilung_Lehr2011.pdf?1361061904. Pressemitteilung der Stiftung Preußische Seehandlung und der Freien Universität Berlin, 22. September 2010 (17. März 2015).

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Mit Thomas Lehr sprachen der Physiker Klaus Mecke, der Physik-Doktorand Eckhard Strobel, die Literaturwissenschaftlerin Aura Heydenreich und die Germanistik-Studentin Christina Tanase. Der Dialog wurde am 19. Januar 2012 an der Universität Erlangen-Nürnberg geführt.

Aura Heydenreich und Klaus Mecke

Sokratische Dialoge Raoul Schrott im Dialog zu »Tropen« und »Gehirn und Gedicht« Mecke: In Ihren biographischen Notizen geben Sie »[e]inige ganz private Überlegungen zur Literatur und den eigenen Anfängen« bekannt. (»Die Erde ist blau wie eine Orange«, 115–149, hier 115; im Folgenden: EbO) Naturwissenschaft oder gar Physik kommen gar nicht vor; Sie bekennen, dass Literatur für Sie immer ein Mittel war, »um sich Welten anzueignen, ebenso: Gedanken, Erfahrungen und Bilder«. (EbO, 148) Trotzdem interessieren Sie sich ja sehr für Physik und auch für andere Naturwissenschaften – woher kam dieses Interesse? Schrott: Was das Private betrifft: Ich war in Mathematik immer gut; ich hatte einen guten Lehrer und Freude daran. Wahrscheinlich hat es mich deshalb nach der Matura – also dem österreichischem Abitur – nicht mehr interessiert. Meine heutige Beschäftigung mit den Naturwissenschaften scheint mir hingegen das zu kompensieren, was der Unterricht verbaut hat. Landeck war eher ein Gymnasium, in das die Lehrer strafversetzt wurden, die ihrerseits wiederum lieber nach Innsbruck gegangen wären. Darum hatten wir in Physik, Chemie oder Darstellender Geometrie schlechte Lehrer. Das heißt, es wurden uns verschiedene Theoreme präsentiert, ohne dass wir sie richtig begriffen hätten. Stattdessen wurde Wissen abgefragt: So begreift man keine Strukturen. Das ist sicher ein nicht unwesentlicher Punkt. Entscheidender ist wohl aber die Poesiegeschichte. Seit sich die Poesie von der Religion emanzipiert hat – in einem langen Prozess, der eigentlich erst im Spätmittelalter auf ein Ende zuging –, lässt sich beobachten, wie das Profane sich zwar zu behaupten begann, aber immer noch mit demselben Sprachgestus, mit demselben Vorrat an Tropen und Stilfiguren aufwartete. Bis dahin – es ist unsinnig eine klare Grenze zu ziehen, sagen wir also bis zu Rilke oder Krolow – lebte alles, was Naturlyrik, aber auch Lyrik im weiteren Sinne war, von Personifikationen, von irgendeinem göttlichen oder pantheistischen Agens: dass in jedem Baum eine Najade, in jeder Quelle eine Nymphe sitzt. Wenn ich Karl Krolow lese, dann hat die Natur eine Schrift, dann ist jedes Zeichen immer noch Abdruck einer höheren Realität, die meist transzendent-metaphysisch, ja schon fast religiös gefasst ist. Das naturwissenschaftliche Wissen dahinter ist da nur ein stereotypes Wissen. So gibt es tausende Vogelgedichte, in denen aber immer dieselben Vögel auftauchen: Spatzen, ein paar Nachtigallen und Lerchen. Wenn man sich bewusstmacht, wie viele Vögel es tatsächlich gibt, und wie wenig Dichter diese Vogelarten zu differen-

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zieren vermögen, dann stellt sich die Frage nach dem eigenen Handwerk. Bin ich also ein Kunstmaler, der poetische Kuckucksuhren fabriziert und irgendwelche gefiederten Wesen nachschnitzt, oder etwas anderes? Jedenfalls erschien es mir aus beiden Gründen – also von meinem Handwerk und von meinem Selbstverständnis her – wichtig, dass wenn ich über die Natur schreibe, ich auch einen zeitgemäßen Blick darauf wende. Damit meine ich nicht dieses überkommene Wissen, das kein Wissen mehr ist, sondern nur ein Weitertransportieren von Stereotypen, Dogmen, tradierten Symbolen. Im Grunde ist dies bis Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts überall noch nachvollziehbar. Mein Interesse ging nun in eine andere Richtung: Jeder Mensch redet vom Sonnenuntergang, obwohl wir längst wissen, dass sich die Erde von ihr wegdreht. Aber was sehe ich bei einem Sonnenuntergang? Und Sonnenuntergänge sind ein innig geliebtes Thema der Naturlyrik – wie Wein, Weib, Gesang und Vögel. Doch wo wäre da ein echtes Durchdringen des Gegenstandes festzustellen? Das frage ich nicht nur ironisch. Am ehesten noch beim Weib – da dürfte noch die größte Kenntnis vorhanden sein –, aber alle anderen Gebiete sind völlig auf Plakatives reduziert. Daher mein Interesse, die Welt mit optischen und physikalischen Augen zu betrachten – um gleichzeitig die Physik als Wissenschaft zu befragen und damit der Natur auf die Spur zu kommen. Wobei das Interessante war, dass solch ein Blickwinkel bei vielen Kollegen nicht gerade auf Gegenliebe stößt: Sie sehen das als Kniefall vor den Naturwissenschaften – die ohnehin unser Weltbild dominieren. Ich sehe die mangelnde Auseinandersetzung damit dagegen als Borniertheit und halte sie für ignorant, unangemessen und dumm.

Recherche und Aneignung Mecke: Andererseits muss man sagen, dass kein Schriftsteller oder auch kein Literaturwissenschaftler die Zeit hat, ein naturwissenschaftliches Studium zu absolvieren und wie ein Physiker in die Materie einzudringen. Meinen Sie, dies wäre notwendig? Wie geht man vor, wenn man sich etwas aneignen möchte? Schrott: Nun, ich habe kein naturwissenschaftliches Studium absolviert. Gott sei Dank gibt es aber – zumindest im angelsächsischen Raum – genügend Literatur, die Einzelerkenntnisse der Physik präsentiert. Im deutschsprachigen Raum gilt dies allerdings oftmals als bloß populistisch, während es dort nicht nur als Vermittlungstätigkeit gesehen wird, sondern gleichzeitig auch als ein Präsentieren von Strukturen, mit denen Einzelerkenntnisse überhaupt erst konfiguriert werden. So wären Lee Smolin zu nennen, Roger Penroses ›Spin-Netzwerke‹ – die einen kombinatorischen Zugang zur Raumzeit der Allgemeinen Relativitätstheorie darstellen und später zur Quantengravitation führten – oder als bekanntestes

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Beispiel Stephen Hawkings Bücher, die ja fachlich dadurch nicht schlechter werden, dass sie allgemeinverständlich formuliert sind, im Gegenteil; deren Ruf besteht sogar im Wesentlichen darin, dass sie solche Meta-Strukturen anbieten können. Um nun auf Ihre Frage zurück zu kommen: Wenn ich ein Naturgedicht über Bäume schreibe, dann sollte ich doch wenigstens etwas von Bäumen verstehen. Und dies gilt generell: Schreibe ich über Sonnenuntergänge, Wasser oder Wind, so muss ich verstehen, um welche Phänomene es sich dabei handelt. Unser Weltbild hat sich in den letzten hundert Jahren durch Wissenschaftler wie Charles Darwin, Albert Einstein, Niels Bohr und deren Nachfolger radikal verändert. Dem nicht Rechnung zu tragen, ist anachronistisch. Heydenreich: Was ich bei Ihnen heraushöre, ist die Bereitschaft zum Dialog mit der ›anderen Kultur‹, eine Bitte, die insbesondere an die deutschen Physiker gerichtet ist, allgemeinverständliche Texte zu publizieren. Denn das Interesse an solchen Texten ist vorhanden, Dichter möchten sich mit diesen Themen auseinandersetzen. Doch der Dialog ist nicht besonders ausgeprägt. Dabei wäre es an der Zeit, dass er verstärkt wird . . . Schrott: Dem kann man nur zustimmen. Zugleich bin ich skeptisch, was die Akademie betrifft. Meine Erfahrungen beziehen sich zwar hauptsächlich auf die Geisteswissenschaften, aber ich halte die Naturwissenschaften für aufgeklärter, weil sie mit einem dynamischeren Feld zu tun haben, sich mehr mit Realität auseinandersetzen – daher auch ein größeres philosophisches Bedürfnis haben –, und das akademische Biotop größer ist als bei den Geisteswissenschaften. Zudem ist einer der größten Unterschiede, den ich zwischen dem deutschen akademischen Universitätswesen und dem des Angelsächsischen feststellen konnte, die Tatsache, dass bei den Deutschen permanent Wissen abgefragt wird, während es im englischsprachigen Raum vielmehr darum geht, während seines Studiums zu argumentieren und Strukturen erkennen zu lernen. Das war in meiner Studienzeit so – und hat sich inzwischen noch zum Schlechteren verändert: Heute ist die Uni noch verschulter als früher. Das führt mittelbar zu einem aktiven Desinteresse an klar formulierten Dingen diesseits von Fachtermini – weil man damit meint, das ohnehin schon angeschlagene Selbstverständnis weiter infrage zu stellen. Ein Germanist, der klar verständlich schreibt, setzt sich der Gefahr aus, dass man seine Ideen für nicht besonders clever hält. Gleiches gilt für Naturwissenschaftler. Zu dem Aspekt gibt es ein paar sehr lesenswerte Aufsätze des Chemikers Roald Hoffmann, der übrigens auch literarische Arbeiten verfasst. Er schreibt über die Ästhetik und Stilistik des ›scientific papers‹ und bringt dieselbe Kritik an. Er behauptet, dass das, was noch vor 150 Jahren deutlich dargestellt wurde – nämlich der persönliche Impetus und Zugang für eine bestimmte Forschung –, heute zugunsten einer reinen Konvention des ›Objektiven‹ in den Hintergrund

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gedrängt wird. Deshalb kommt es zu vielen diffusen Formulierungen, weil man das notwendig Subjektiv-Interpretative – das doch wesentlicher Bestandteil jedes wissenschaftlichen Denkens und Auslöser für jede Forschung ist – zu reduzieren bemüht ist: mehr oder minder als Lippenbekenntnis zur ›objektivistischen‹ Konvention. Dabei geht es auch um Karrieren: Forschung ist per se unorthodox, sonst könnte sie nichts Neues finden; Lehre und Beruf aber profitieren von konventionellem Verhalten. Fachtermini gelten dabei als Beleg für disziplinäre Qualifikation und kaschieren doch oft genug mangelnde Einsicht – sie belegen eben nur übernommenes Wissen, nicht aber auch eigenes Strukturdenken und Argumentationsfähigkeit. Das macht es schwierig: Im Studium wird es nicht praktiziert und im Beruf gilt es als verpönt. So finden sich bei uns wenige Wissenschaftler, die bereit sind, allgemeinverständlich Meta-Strukturen zu präsentieren. Denn Einzelerkenntnisse gestalthaft zu sehen, Daten zu konfigurieren, heißt immer auch sie zu exponieren – jede neue Idee stößt ja zuerst in der Regel auf Ablehnung. Statt dass man solche Vorstöße, von denen nur die wenigsten – wie die Wissenschaftsgeschichte zeigt – sich durchsetzen, als notwendig und unabdingbar erachtet, hat man Angst um den eigenen Ruf. Mecke: Dann bräuchte man Schreib- und Rhetorikkurse für alle Studenten, egal welcher Fachrichtung. Schrott: Ich glaube nicht, dass es eine Frage der Rhetorikkurse ist, es ist eine Frage der Haltung. Es ist die Frage: Was will ich mit dem Wissen? Wozu will ich wissen? Was ist relevant? Und weshalb? In der deutsch-, italienisch- oder französischsprachigen Wissenschaftstradition steht das Arbeiten innerhalb der eigenen Disziplin immer noch im Vordergrund. Da fällt mir immer das Beispiel einer deutschen Geschichte der Perspektive ein, die mit Albrecht Dürer beginnt, statt mit Filippo Brunelleschi – weil der Autor das in seinem Fach nicht durfte. Bei den Naturwissenschaften ist es ähnlich: Es gibt Kosmologie, Astrophysik, Astroteilchenphysik – und nicht alle wissen unbedingt vom anderen. Das hat einerseits mit einer aus dem neunzehnten Jahrhundert stammenden Fachaufteilung zu tun, andererseits mit der Anhäufung von speziellen Einzelerkenntnissen in einzelnen engen Forschungsbereichen. Was fehlt, ist jedoch der Überblick, der Versuch, sie in einem größeren Rahmen zu konfigurieren. Das ist generell nachteilig. Dazu kommt, dass sich die Wissenschaftscommunity schwertut, ihr Wissen der Öffentlichkeit zugänglich zu machen – und weil sie sich damit schwertut, ist umgekehrt das allgemeine Publikumsinteresse daran eher gering. Naturwissenschaftliche Bücher verkaufen sich bei uns schlecht – und eine Gilde wie die der amerikanischen ›Science Writers‹, die dies leisten, gibt es bei uns nicht. Damit tritt aber die Frage nach der Relevanz immer mehr in den Hintergrund. Und je

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mehr die Frage der Relevanz in den Hintergrund gerät, desto eher verliert man den Zugang zu den eigentlich interessanten Fragestellungen.

Das Erhabene in Natur und Wissenschaft Mecke: Nun gibt es aber auch immer ganz verschiedene Zugänge. Beobachte ich einen Sonnenuntergang, so kann ich das Erhabene als Naturerfahrung darin sehen, aber ich könnte auch die Geschwindigkeit des Sonnenuntergangs mit der Entfernung des Horizontes korrelieren. Dies wäre ein Faszinosum, das vor allem einen Physiker interessiert. Sehen Sie da Unterschiede? Schrott: Grundsätzlich nicht. Es kommt auf die Situation an. Meine Erfahrung beim Gedichteschreiben ist, dass sich zunächst ein Eindruck einstellt, der meist bildhaft ist, schwer in Sprache zu bringen. Zunächst sehe ich etwas. Und dann versuche ich das, was mir durch den Kopf geht, auf den nächstliegenden Zettel aufzuschreiben. Und dann merke ich, dass ich erst im Nachhinein dabei bin, das zu verorten, ein Koordinatensystem dafür zu entwerfen, dieses mittels Gedichtform zu konstruieren und zu rekonstruieren. In dem Moment, in dem ich etwas sehe, kann mich beispielsweise durchaus die Frage interessieren, wie weit denn der Horizont eigentlich entfernt ist. Dies ist mir besonders auf Schiffen öfters bewusst, wo man das Gefühl hat, man könne ewig weit sehen. Berechnet man jedoch die Blickweite, stellt man fest, dass der vom Schiff aus sichtbare Horizont gerade mal eineinhalb Kilometer entfernt ist. Dieser Fakt könnte im Rahmen eines Textes der Reiseliteratur die Bestimmung des erzählerischen Standpunktes sein, der abhängig ist von der Art und Weise, welche Art von Wahrheit ich reklamiere. Deshalb würde ich behaupten, dass Eure Fragen – die der Physiker – und die meinen von der gleichen Neugier getragen werden. Das Grundinteresse ist das Gleiche, es ist eine Art von Neugierde an der Welt. Diese Neugierde hat etwas Jungenhaftes, etwas Naives und Spannendes – quasi all die guten Eigenschaften, die der Mensch hervorbringen kann, stecken da drin. Mecke: Ich kann das gut nachvollziehen, dass auch Physiker viel über Tropen, Metaphern oder Analogie lernen müssten, weil sie diese ja eigentlich unbewusst mehr oder weniger ständig benutzen. Umgekehrt finde ich es faszinierend, dass bei Ihnen oft physikalische Erkenntnisse als Metaphern für das poetische Arbeiten eingesetzt werden. In den »Grazer Poetikvorlesungen« sprechen Sie von einem Kristallisationsprozess oder vom Differenzieren und Integrieren eines Gedichtes. Schrott: Nun, um ein kurzes Wort zu den »Grazer Poetikvorlesungen« vorauszuschicken. Ich wurde eingeladen und gefragt, ob ich nicht Lust hätte, Poetikvorlesungen zu halten. Ich nahm diese reizvolle Chance wahr; da ich aber im Zeitdruck

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war, konnte ich keine jahrelang durchdachten Aufsätze präsentieren. Dabei ging es natürlich um Dinge, die mich schon lange beschäftigten, aber es war vor allem auch ein Extemporieren. Die Auseinandersetzung mit den Naturwissenschaften war auch dadurch motiviert, vom Prestige der Naturwissenschaft zu profitieren – aufzuzeigen, dass auch die Naturwissenschaften poetische Strategien einsetzen. Es war ein Versuch, mein im Untergang begriffenes Fach dadurch wieder aufzuwerten. Die Poesie – muss man sich leider eingestehen – ist eine aussterbende Gattung, deren öffentliche Relevanz nicht mehr gegeben ist. Gleichzeitig war es der Versuch, eine Art Dialektik aufzubauen: unter dem Blickwinkel, dass die Naturwissenschaften sich kaum bewusst sind, wie viele poetische Strukturen sie einsetzen, um ihre Weltbilder zu konfigurieren – während die Dichter meist keine Ahnung von den Naturgesetzen haben. Zudem entwerfen die Naturwissenschaften dann oft genug Weltbilder, ohne dass sie mit unseren unmittelbar menschlichen, psychologischen oder existentiellen Erfahrungen so ohne Weiteres abgleichbar wären. Carlo Ginzburg redet diesbezüglich vom Galilei’schen Paradigma: von der Abspaltung der naturwissenschaftlichen von den humanen Erkenntnissen, bedingt durch die Messgeräte und optischen Instrumente des siebzehnten Jahrhunderts. In dem Maße, in dem ich heute Instrumente gebrauche, kann ich auch nicht mehr sagen, dass das Renaissance-Genie im Vordergrund steht, sondern erstmals das Sammeln von Daten – wie es das CERN heute exemplifiziert. Insofern ist der Gegensatz, den ich in meinen Vorlesungen aufgestellt habe, jedoch auch ungerecht: wenn ich den Naturwissenschaften zuschreibe, dass sie hart, objektiv und nur am Toten interessiert sind. Gleichzeitig befördert diese Dialektik aber auch einen Erkenntnisprozess, denn indem ich die Gegner extremer skizziere – hier der feinfühlig-nuancierte Poet, dort der an harten Fakten interessierte Physiker –, stecke ich damit zwar eine Bandbreite ab, aber die eigentlich interessante Frage ist: Was ergibt sich nun daraus? Und da habe ich beim jetzigen Durchblättern meiner alten Vorlesungen gemerkt, dass das Ende meines Essays »Über Schrödingers Katze« das Ergebnis einer Verlegenheit war. Mir war nicht klar, wie die Dialektik auflösbar wird. Deshalb sind die letzten zwei Seiten des betreffenden Essays schwach. Weil das mit den Signaturen und Siglen der Natur und dem Alchemistischen einfach nicht funktioniert. Ich habe gedacht, man könnte es zurückrechnen auf die Zeit vor dieser Spaltung und Ausdifferenzierung, vor dem Galilei’schen Paradigma, aber das funktioniert so nicht. Mecke: Ich war auch richtig erschrocken, als ich sah, dass Sie zunächst mit der Quantentheorie argumentieren und dann in der Zeit vor der Renaissance ankommen. Schrott: Es passt auch nicht mal zur alchemistischen Denkweise. Weil das, was ich da zu den Siglen und der Schrift der Natur sage, eher so definiert ist, dass man

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merkt, es geht um die Mitte zwischen Natur- und Geisteswissenschaft. Als ich den Essay gestern las, dachte ich, die letzten zwei Seiten müsste man rausstreichen, weil sie den Punkt nicht abliefern können. Doch es hat mich immer schon sehr interessiert, was beides miteinander verbindet, die Geistes- und die Naturwissenschaft, oder welches ihre gemeinsamen Denkprozesse sind. Ich glaube, es ist unbestreitbar, dass poetische Strukturen in der Naturwissenschaft auftauchen, dort auch fruchtbar sind und benutzt werden – und damit ein großes heuristisches Potential haben. Dabei werden auch viele naturwissenschaftlichen Daten über kulturell bereits vorhandene Denkmuster konfiguriert, über philosophische Denkstrukturen, etablierte Vorstellungen, Bilder, Imagos – oder wie immer man das nennen will. Aber ich wusste nicht, wie die Mitte zu benennen oder zu beschreiben ist. Erst die Arbeit an »Gehirn und Gedicht« hat mir geholfen festzustellen, was denn der kleinste gemeinsame Nenner zwischen uns dreien hier sein könnte. Mecke: Inwiefern geholfen? Schrott: Weil schon allein die Durchsicht der Stilfiguren zeigt, dass wir sehr großen kognitiven Beschränkungen unterworfen sind. Dass wir ein äußerst primitives kognitives Instrumentarium haben – aber dass wir es durch eine ebenso einfache Kombinatorik zu ganz erstaunlichen Differenzierungen bringen. Und dies finde ich das wahrnehmungspsychologisch, philosophisch, naturwissenschaftlich und poetisch Relevante. Dass unser Denken so einfach strukturiert ist – seine einzelnen Grundmuster jedoch so gut kombinierbar sind, dass daraus Strukturen entstehen, die der Welt dann doch in sehr großem Maß gerecht werden –, das ist für mich immer noch etwas Überraschendes. Wobei ich mit einfach meine, dass unser Denken leider letztendlich über binäre, dialektische Gegensätze kaum hinauskommt. Wir tun uns schwer, ein Drittes oder Viertes zu denken, tun uns schwer mit ›fuzzy logic‹, mit Wahrscheinlichkeiten, Statistik und Kontingentem. Mecke: Vor diesem Faszinosum steht auch immer wieder jeder Physiker, wenn er plötzlich feststellt, dass etwas funktioniert, wenn er plötzlich eine Struktur erkennt. Heydenreich: Und gleichzeitig weisen Sie immer wieder darauf hin, unter anderem in »Gehirn und Gedicht«, dass die Wahrnehmungsstrukturen wesentlich differenzierter sind, als unsere Ausdrucksmöglichkeiten, dass wir für verschiedene Farben, die wir doch so nuanciert sehen können, dennoch nur auf einen sehr limitierten Wortschatz zurückgreifen können. An dieser Stelle sehe ich den Spielraum der Poesie: Dort erfindungsreich zu wirken, wo die herkömmliche Sprachverwendung nicht mannigfaltig genug ist. Schrott: Das ist nun kompliziert. Denn unser Denken besteht nun mal zur Hälfte aus Sprachlosem. Ein großer Teil dieses sprachlosen Denkens bezieht sich auf körperliches Agieren im Raum, ein Sich-Verorten. Zum Beispiel, sich

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zu überlegen: Passt der Schrank in diese Ecke? Oder Skifahren. Das sind lauter Intelligenzleistungen, die keine Sprache benötigen. Auf der anderen Seite spricht die Mathematik oft davon, dass sie auf einem vorsprachlichen Denken basiert. Ich habe mir das immer so vorgestellt, als würden Mathematiker wirklich in Feynman-Diagrammen oder in Vektoren denken – und das Gedachte dann erst in Sprache, in Formelsprache oder Zahlen übersetzen. Ich weiß nicht, inwieweit beides auf die gleiche Wurzel zurückgeht, die sprachlose Art des räumlichen Denkens und dieses quasi unsprachliche oder vorsprachliche Denken. Da würde ich gerne mehr darüber wissen. Der andere Punkt ist, dass unsere Wahrnehmung äußerst komplex ist, aber dass wir ein geradezu primitives Instrumentarium haben, um das Wahrgenommene wiederzugeben. Die Welt einzuteilen in Substantive, also in unveränderliche Objekte, und Adjektive, also unveränderliche Eigenschaften abgelöst von ihren Trägern, und so weiter – das ist zu einfach, um nicht zu sagen: unheimlich primitiv. Und dennoch erlaubt uns die Sprache mittels Überblendungen und Überschneidungen, also über bestimmte Formen der Kombinatorik, Komplexitäten zumindest zu suggerieren. Das Entscheidende, was Literatur betrifft – aber es betrifft auch jede schriftliche Darlegung, jedes ›scientific paper‹, jede germanistische Arbeit –, sind die mentalen Konzepte, die man im Kopf hat – und die dann erst notdürftig zur Sprache gebracht werden müssen. Das entspricht auch der ältesten chinesischen Dichtungstradition: Dichtung ist dort das Gedachte – Sprache stellt da bloß das Vehikel dar, um es jemand anderem in seinen Kopf zu setzen. Entscheidend ist also nicht das Wörtliche, nicht das, was auf dem Papier steht, sondern die Gedankenprozesse davor und danach. Was ich jedoch aufgrund des Papiers rekonstruieren kann, spiegelt dennoch unser Denken wider. Mich hat grundsätzlich verblüfft: dass es nur These, Antithese und Synthese gibt. Als gäbe es immer nur drei Dinge, wovon das Dritte bloß das Produkt von etwas Binärem ist. Als könnte es für uns nichts Viertes geben. Mecke: Es gibt noch die Quantenlogik. Schrott: Ja, aber mit ihren Doppel- und Mehrdeutigkeiten kommen wir doch eigentlich kaum zurande, oder? Mir scheint, als wären wir gar nicht in der Lage anders zu denken als: Das gibt es und das gibt es nicht. Vielleicht noch eine Wahrscheinlichkeit des Kompromisses in der Mitte oder die Summe der beiden Möglichkeiten. Darüber hinaus gibt es noch eine rudimentäre Art von Wahrscheinlichkeitsdenken, bei dem wir aber generell sehr schlecht sind. Vielleicht weil es in unserer primitiven Steinzeitkognition nicht vorgesehen ist, die einfachsten Erkenntnisse der Wahrscheinlichkeitsrechnung zu internalisieren und in den ›gesunden Menschenverstand‹ einzusetzen. Und das muss seine Gründe in unserer Wahrnehmung haben. Das war auch das Interessante bei »Gehirn und Gedicht«:

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Wenn ich die Stilfiguren durchgehe, die kognitive Operationen repräsentieren, stelle ich fest, dass ich zunächst ›plus‹ oder ›minus‹ als Operatoren habe. Das heißt, dass ich bei der Hyperbel etwas übertreiben kann, indem ich etwas hinzufüge. Bei der Meiosis kann ich etwas verkleinern, wie bei der Kamera, die mit der Zoomfunktion auf Nah- und Weitwinkel gehen kann. Dann gibt es noch ›da‹ und ›nicht-da‹, die Negation wie in dem einen Beispiel von Simonides von Keos, das sich in »Gehirn und Gedicht« befindet: »Ich habe den Rauch vom brennenden Tegeia nicht aufsteigen gesehen«. Dieser Satz stellt eine interessante kognitive Projektion dar, denn hier muss ich mir über das Negative das Positivbild der Stadt Tegeia vorstellen – und das Negative ist größer, umfassender. Selbst bei der Metalepse – die mir die spannendste Figur schien, weil ich mit ihr Ursache und Wirkung, Kausalität und zeitliche Abfolge vertauschen kann – pole ich eigentlich nur zwei Dinge um: ›vorher‹ und ›nachher‹ oder Ursache und Wirkung. Es ist erstaunlich, dass wir so etwas im Alltag anwenden, wie in dem Geburtstagsspruch: »Wie schön, dass du geboren bist, wir hätten dich sonst sehr vermisst.« Ein letztlich surrealer Satz, bei dem wir uns zurückversetzen in eine Zeit, um daraus den Irrealis einer Zukunft zu konstruieren – wobei wir den Satz doch für ganz selbstverständlich und real auffassen. Aber in diesem Vertauschen von Ursache und Wirkung zeigt sich, dass wir Ursache und Wirkung nur als reines Vorher und Nachher begreifen. Als wären wir bloß in der Lage, zwei verschiedene Zeitsequenzen gegeneinander zu halten, oder zwei verschiedene Schnappschüsse, ohne dass wir merken, dass es etwas dazwischen gibt, oder ohne dass wir realisieren, dass auch eine andere Idee von Zeit möglich und denkbar wäre. Die einzige Ausnahme ist die Metapher, bei der wir etwas überblenden, und plötzlich etwas Drittes dabei herauskommt, das oszillierend bleibt. Trotzdem ist es enttäuschend, dass wir nur über diese paar Denkfiguren verfügen, mit denen wir nur einen kleinen Teil der Wirklichkeit suggerieren können, auf welche die Physik und die Naturwissenschaft permanent stoßen. Diese Art von oszillierendem Bild, das einmal diese Proportion hat, einmal jene Größe, einmal diesen Vektor und einmal jene Form, das ist das, glaube ich, woran sich die Naturwissenschaften abarbeiten. Trotzdem versuchen sie dessen habhaft zu werden – während uns letztlich nur Sprache bleibt, um sie wiederzugeben und zu vermitteln.

Quantentheorie vs. Metapherntheorie Mecke: Sie vergleichen die Metapherntheorie gerade wegen des Oszillierungsprozesses mit den Quanten, was ich als Physiker problematisch fand. Denn letztendlich ist dieses Oszillierende oder Überlagern eigentlich eher ein Feld- bzw. ein Wellenphänomen. Das spezifische Quantenartige kommt hierbei eigentlich nicht zum Tra-

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gen. Ich versuche es nun von einer Metaebene aus zu betrachten: Das Wesentliche ist, was in unserem Gehirn vor sich geht. Auf der Makroebene von Nervenzellen sind quantenphysikalische Prozesse aber eher nicht relevant; hier spielt die klassische Physik die zentrale Rolle. Aus diesem Grund möchte ich es doch infrage stellen, ob eine Analogie zwischen den quantenphysikalischen Phänomenen und der Metapherntheorie berechtigt ist. Schrott: Nun, meine Erfahrung damit als Laie war, dass die Quantenprozesse an sich nicht zugänglich sind. Wenn wir von Quantenprozessen reden, dann reden wir von Interpretationen davon. Auf diesen ersten Punkt werden wir uns einigen können. Dadurch ist festzuhalten, dass es keine unabhängige, objektive Realität dieser Quantenprozesse gibt – außer derjenigen, die sich durch unsere Beobachtung feststellen lässt. Mecke: Ich denke, hierbei folgen Sie einer Kopenhagener Deutung, die ich für etwas veraltet halte. Denn wir kennen ja makroskopische Quantenphänomene; wir kennen Supraleitungen. Und wenn wir – wie zum Beispiel Anton Zeilinger – ganze ›Buckyballs‹ zur Interferenz bringen können, dann ist da prinzipiell keine Beobachtungsgrenze quantenphysikalischer Phänomene in der Makrowelt. Schrott: Dem will ich nicht widersprechen. Aber wie deuten wir diese Beobachtungen? Ich habe Herrn Zeilinger einmal ins Seminar eingeladen. Und alles, was er demonstrieren konnte – Laserpointer durch den Wollpullover gehalten –, waren Lichtmuster an der Wand, die zu interpretieren waren. Beim Doppelspaltexperiment sagt man: Das hat mit dem Wellencharakter zu tun und das mit dem Auftreten als Partikel. Doch der Begriff ›Welle‹ stammt bereits aus einer Vorstellungswelt, die nichts mit Quantenphänomenen zu tun hat. Das Gleiche gilt, wenn ich von Partikeln oder Korpuskeln rede. Es sind nur zwei Behelfskonstruktionen – das will ich unterstreichen. Dass sie in der Wirklichkeit rückprüfbar sind und realiter etwas leisten, stelle ich nicht infrage. Ich sage nur: Die Art und Weise, wie wir darüber denken können, besteht darin, sich Behelfskonstruktionen zu bedienen. Hören Sie sich Schrödingers oder Heisenbergs erhaltene Vorlesungen an, und Sie werden überrascht merken, dass sie auf den Behelfscharakter ihrer Interpretationen klar verweisen, oder sie – wie im Falle Heisenbergs – auf die griechischen Vorsokratiker beziehen. Ob Begriffe wie Welle oder Partikel, die Kopenhagener Interpretation oder die Frage der Dekohärenz – allesamt sind sie letzten Endes nur Behelfskonstruktionen: weil wir keinen direkten Zugang zu dieser Quantenwelt haben. Mecke: Aber hierbei ist kein prinzipieller Unterscheid zur Quantentheorie oder zur klassischen Feldtheorie oder zur Newton’schen Mechanik. Sie wollten vermutlich eine generelle Aussage über unseren Erkenntnisprozess fällen.

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Schrott: Richtig. Was das Spezifische betrifft, so konnte ich, wie gesagt, in diesen ersten Vorlesungen nur anbieten, dass die Poesie gar nicht mal so anders funktioniert wie die Naturwissenschaften und dass die Naturwissenschaftler wiederum gar nicht viel anders denken als die Poeten. Wenn ich diese Versuchsanordnung habe, wo ich Interferenzmuster des Lichtes mit sich selbst erhalte, führe ich sie einmal auf Vorstellungen von Partikel, einmal auf Vorstellungen von Wellen zurück. Das ist eine Analogie – noch einmal: eine Analogie. Damit ist weder gesagt noch bewiesen, dass beide Seiten – Interferenzmuster und unsere Interpretation davon – ident und deckungsgleich sind: Sie weisen nur eine ähnliche Struktur auf. Schon, dass wir zwei völlig unterschiedliche Analogien dafür aufbringen müssen, um ein und dasselbe Quantenphänomen zu beschreiben, weist darauf hin. Wie vielseitig anwendbar solche Grundstrukturen sind, auf wie viele Bereiche wir sie projizieren, ist dabei verblüffend. Das betrifft auch die Metapherntheorie. So gibt es eine Analogie zwischen dem Wellen-/Partikelphänomen und der Wörtlichkeit bzw. dem Figurativem, mit dem wir ein und dieselbe Metapher lesen. Ich kann eine Metapher wörtlich lesen – dem würde dann physikalisch das Partikelhafte entsprechen – und ich kann die Metapher figurativ lesen – gewissermaßen physikalisch als Überlagerung von Wellen. So zum Beispiel im Satz: Richard ist ein Löwe. Nun kann ich mir das wörtlich denken und mir einen Mann als Mischwesen zwischen Mensch und Löwen vorstellen – mit Krallen und Tatzen statt Fingernägeln und Händen, Reißzähnen, Mähne statt Haaren und Schwanz. Andererseits kann ich diesen Satz auch figurativ verstehen und ihn in unserer Wirklichkeit auflösen – um dann einen Mann mit wilden, blonden Locken, breiter Brust und einer tiefen Stimme zu sehen, der vor allem eines ist: löwenmutig. Ähnlich ist es mit dem Doppelspaltexperiment, das einmal ein Lichtphänomen als Welle, ein andermal als Partikel zeigt – ähnlich wie ich beim Lesen nicht vorhersagen kann, ob ich eine Metapher nun wörtlich oder figurativ verstanden habe. Nun gibt es ja tatsächlich einen Metaphernstreit, bei dem die einen sagen, eine Metapher ist figurativ, die anderen sagen, sie sei wörtlich zu verstehen. Beide sind komplementär, beide sind aber auch nie vorhersehbar – in welchem Moment lese ich welche Metapher wie? Hier würde ich gerne die Frage an den Physiker stellen: Was ist mit solchen Analogien zu tun? Mecke: Analogien bergen natürlich eine Faszination in sich. Dennoch finde ich es problematisch, diese Überlegungen mit Quantentheorie in Verbindung zu bringen. Denn beim Interferenzexperiment, über das Sie gesprochen haben, machen Sie eigentlich nur die Analogie zur Überlagerung: dass sich eine Welle auf verschiedene Wege aufteilen kann und sich dann wieder überlagert. Das hat mit Quantenphysik erst mal gar nichts zu tun. Das Quant kommt im Detektor eigentlich erst ganz am Ende, wenn die Welle und dann ein lokalisiertes Ereignis gemessen wird. In diesem

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ganzen Strahlteileraufbau spielt der Quantencharakter eigentlich keine Rolle; nur der klassische Feldcharakter spielt eine Rolle. Metaphorisch ist man da eigentlich bei Faraday und Maxwell im neunzehnten Jahrhundert, als man gegen die Newton’sche Teilchentheorie solche Interferenzexperimente demonstriert hat. Schrott: Aber ist nicht das Entscheidende, dass es Metapherntheorien wie die von Max Black gibt, die mehr oder weniger diese Interferenz von Begriffen in den Vordergrund spielen? Das heißt, zu den zwei Worten einer Metapher gibt es eine Liste von Konnotationen: Jene, die zueinander passen, verstärken sich gegenseitig, die anderen löschen sich aus und fallen weg. Dies entspricht dem physikalischen Interferenzprinzip von Wellen. Hier zeigt sich also eine Denkfigur, die auch bei quantenphysikalischen Phänomenen zum Tragen kommt. Und aus solchen Denkfiguren werden dann auch ganze poetische Parabeln konstruiert – denken Sie an das Szenario von ›Schrödingers Katze‹ – womit wir letzten Endes wieder bei der Diskussion über kognitive Raster landen: nämlich, welches davon das passendste ist, um einem Phänomen produktiv zu begegnen. Heydenreich: Die Frage ist auch, ob Sie auf der Ebene der Quantentheorie oder auf der Ebene der epistemologischen Interpretationen der Quantentheorie diskutieren. Schrott: Ja. Ich denke, wir befinden uns hierbei auf allen Ebenen. Die Quantentheorie ist ein Produkt von solchen Denkrastern, die ich auf Phänomene anwende, von denen ich nicht weiß, wie ich sie rastern soll. Dann greife ich auf das zurück, was ich in meiner Vorstellungswelt präsent habe, um es zu konfigurieren, um es wahrnehmungstechnisch in eine möglichst gute Gestalt zu bringen. Ich bin überhaupt kein Konstruktivist, der sagt, dass wir uns unsere Wirklichkeiten quasi solipsistisch erschaffen. Dennoch stammen bereits das Wort ›Quantum‹ und das Wort ›Physik‹ aus einer anderen Vorstellungswelt, wo sie eine lange Vorgeschichte haben. Dass Max Planck auf das Wort ›Quantum‹ kam, bedeutet ja bereits, dass er einen Begriff für etwas Neues, nicht Fassbares brauchte: Er übernahm es aus der Kaufmannssprache, wo es mit Quantität zu tun hat – während sein ›Quantensprung‹ ein Sprung in eine andere Dimension bedeutet, die ein Phänomen qualitativ verändert. Die Analogie hält also nur teilweise: Denn zwischen Quantität und Qualität gibt es eine grundsätzliche Differenz. Und ›Physik‹ hat eine Begriffsgeschichte, die auf eine Zeit zurückverweist, wo es Physik in unserem Sinn noch gar nicht gab, nur Physis. Mecke: Dennoch würden manche Physiker argumentieren, dass das sekundär ist, dass das anschließend kommt. Wortschöpfungen kommen oft erst im Anschluss. Die Matrizenmechanik von Heisenberg hat demonstriert, dass sie als eine mathematische Theorie funktioniert – doch dann erst kam der Konflikt mit den klassischen Begrifflichkeiten: Teilchen oder Welle, die Metaphernebene, mit der sich Bohr oder

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Einstein auseinandersetzen mussten. Aber ein Physiker würde hier strikt trennen zwischen der physikalischen Theorie, die mathematisch formuliert ist, und ihrer begrifflichen Bewältigung. Diese begriffliche Bewältigung würden manche vermutlich als sekundär betrachten. Schrott: Nun, hier habe ich zwei Einwände. Zum einen, dass die mathematische Theorie nicht in einer Wirklichkeit für sich besteht, sondern dass auch die Mathematik auf metaphorischen Vorstellungen beruht. Hinter ›eins plus eins ist zwei‹ steckt die Vorstellung von ›Eins‹ als Bauklötzchen. ›Eins plus eins‹ kann in der Realität aber auch ›eins‹ bleiben – wenn zwei Wassertropfen etwa zu einem verschmelzen. Und dann wieder gibt es die Vorstellung von Zahlen als Strecke, aufgereiht von null bis unendlich. Mecke: Aber die sich darin nicht erschöpft. Schrott: Das ist logisch. Ich bin kein Reduktionist, aber ich sage, dass wir solche Vorstellungswelten wie die Mathematik aufgrund von verschiedenen kognitiven Rastern entwickeln, einem relativ kleinen Repertoire von elementaren Grundmustern unseres Denkens, das wir in der Kindheit herausbilden. Diese Raster sind im Grunde sehr einfach, doch erstaunlich entwicklungsfähig. Auf der anderen Seite gehören diese ganzen Debatten über Teilchen und Welle eigentlich zu Eurem Diskurs. Es ist nicht die Sonntagspredigt, die der Physiker für das arme Volk von sich gibt. Mecke: Na ja, schon. Schrott: Dieser Diskurs prägt die weitere Richtung der Forschung. Das ist ein Koordinatensystem für den Physiker, das immer in gewissem Maße vorläufig bleibt, dabei aber auch die Art und Weise bestimmt, in welche Richtung weitergeforscht wird. Mecke: Richtig, und auch behindern kann. Ich würde sogar behaupten, es bestimmt nicht nur, in welche Richtung geforscht wird, sondern es bestimmt auch, in welche Richtung nicht geforscht wird. Denn die Rede vom Welle-Teilchen-Dualismus und vom Kollaps der Wellenfunktion oder vom Komplementaritätsprinzip – was metaphorisches und nicht mathematisches Reden ist – hat vermutlich die Quantentheorie fünfzig Jahre lang behindert. Erst ab Ende der Siebziger-, Anfang der Achtzigerjahre kamen Theorien wie die Dekohärenztheorie auf, durch die ein innerquantentheoretisches Verständnis von Messprozessen entwickelt wurde. Denn in gewisser Weise hat dieses metaphorische Reden die mathematische Weiterentwicklung der Quantentheorie verhindert. Heydenreich: Wenn das metaphorische Reden für die Physikcommunity konzeptuell keine Rolle spielt, wieso konnte es dann die Weiterentwicklung der Forschung behindern? Wieso hat die Metaphorik die mathematische Weiterentwicklung des

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innerquantentheoretischen Verständnisses von Messprozessen verzögert, wenn es etwas Sekundäres, Nachgeschobenes ist? Spielt das Metaphorische doch eine wichtigere Rolle, als sich das die Physiker zugestehen wollen? Mecke: Ja, in der Auswahl des Interesses. Schrott: Das grundsätzliche Problem scheint doch zu sein, dass das Paradox des Welle-Teilchen-Dualismus begrifflich nicht gefasst werden kann. Vielleicht hat dies zu fünfzig, sechzig Jahren Stillstand in der Forschung geführt, wobei ich nicht glaube, dass es Stillstand war, sondern ein permanentes Aufrechterhalten von ungelösten Spannungen. Diese haben wiederum dazu geführt, dass ein neues Modell entstand, welches zumindest mathematisch befriedigend ist. Das Problem ist aber, dass jede Art von wissenschaftlicher Erkenntnis ohne die Frage ihrer Relevanz für uns Menschen letztlich nicht auskommen kann. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein Physiker sich sein ganzes Leben mit diesem Problem beschäftigt, ohne für sich auch eine private Vorstellung davon herausgebildet zu haben. So rechne ich dann das Ganze wieder auf unsere alltägliche Realität um, in der wir Wellen auf der Wasseroberfläche sehen können oder Staubteilchen in der Luft. Mecke: Ja, aber in der Physik gibt es auch das: ›Shut up and calculate‹. Also die Haltung, alles was Einstein und Bohr beschäftigt hat, war nur ein Ausarbeiten ihrer begrifflichen oder metaphorischen Verständnisprobleme. Und das muss einen Physiker eigentlich nicht unbedingt interessieren. Ich pointiere das hier, um zu provozieren. Denn Physiker meinen die Sprache der Mathematik und das Experiment zu haben, mit denen sie arbeiten können – ohne metaphorisch-begriffliches Denken. Schrott: Nun, dieses Ausschließen – dass Arbeiten ohne jegliche metaphorische Begrifflichkeiten funktionieren könnte – bezweifle ich. Natürlich habe ich keinen privilegierten Zugang zu dem Problem, aber ich kann mir vorstellen: Würden wir uns ein konkretes Problem vornehmen, dann kämen wir relativ schnell zu dem einen Knackpunkt, an dem eine Vorstellung sitzt, die eine solipsistische mathematische Welt mit der unseren verbindet, ein kognitives Raster, das dann auch wieder auf diese solipsistische Welt rückwirkt. Ich weiß, dass eine Tendenz dahin geht, die Geschichte kurz zu schalten. Man sagt: Man geht vom Phänomen zur Mathematik und von der Mathematik zum Phänomen. Doch dies führt dann auch wieder zu den großen Problemen, die die Kosmologie im Augenblick hat: Sie stellen ein Modell nach dem anderen auf, ohne dass es überhaupt noch experimentell testbar ist, falsifizierbar schon gar nicht. Was soll ich denn an der Inflationstheorie falsifizieren? Es gibt kein Experiment, das ich durchführen könnte. Natürlich erklärt diese Theorie einiges auf elegante Weise, aber ob es wahr ist oder nicht, dafür gibt es nicht den geringsten experimentellen Beweis – nur neue Interpretationen von Daten, die mit den erstellten Rastern kongruent gehen oder nicht.

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Physikalische Formeln als Tropen? Mecke: Das stimmt. Und es könnte auch der Grund dafür sein, dass die Idee keinen Nobelpreis erhält; da das Nobelpreiskomitee Wert darauf legt, dass die Theorien falsifizierbar sind. Aber lassen Sie mich nun meine nächste Frage etwas literaturwissenschaftlicher stellen: Sie legen großen Wert auf Tropen und Stilmittel und räumen hierbei der Poesie ein gewisses Primat im Erkenntnisprozess ein, weil unsere Denkstrukturen eigentlich auch diesen Stilprinzipien folgen. Diese stellen Sie als ewig gegeben, als Urtypen, als Archetypen dar, die uns seit Anbeginn prägen. Aber kann man sich nicht vorstellen, dass es auch neue Denkprozesse, neue Tropen, neue Stilmittel gibt? Zum Beispiel eben ein mathematischer Beweis? Eine logische Deduktion in einem formalen Kalkül? Löst sich das wirklich in Tropen auf? Kann man das durch Stilmittel einholen? Ist es nicht eine neue Erkenntnisfigur? Schrott: Das ist eine interessante Frage, die ich nicht aus dem Stegreif beantworten kann. Sagen kann ich: In all den verschiedenen Poetiken, die es gibt, in den chinesischen, in der ›oral poetry‹, im Griechischen oder im Provenzalischen habe ich nie eine Stilfigur entdeckt, die wir nicht schon besessen hätten. Da liegt einfach der Schluss nahe, dass dieses das Instrumentarium unseres Denkens ist. Die Wie-Vergleiche, mal größer, mal kleiner gesehen – viel mehr haben wir nicht. Auch musikalische Tropen – sozusagen musikalische Figuren – gibt es je nach Sprache und Kultur: Einmal wird diese Stilfigur mehr in den Vordergrund geholt, in der nächsten Epoche wird eine andere Stilfigur bevorzugt. Ich glaube, dass keiner die Metapher je erfunden hat, außer in einer so weit zurückliegenden Zeit, wo sie mit der Evolution von Sprache und unserer Kultivierung als soziale Wesen zu tun hat. Auf der anderen Seite finde ich es sehr interessant, auch wenn ich noch nie genauer darüber nachgedacht habe, ob ein Studium der Mathematik, also quasi ein Denken in diesen Formalismen, ob dies andere Erkenntnisformen konditioniert. Dem näher nachzugehen, wäre spannend. Heydenreich: Deshalb finde ich die kognitionslinguistischen Untersuchungen interessant, die Sie mit Arthur Jacobs durchgeführt haben. Ich habe den Eindruck, dass bei diesen Untersuchungen immer ein idealer Leser vorausgesetzt wird. Gibt es Tests und vergleichende Analysen unterschiedlicher Lektüren gleicher Texte durch verschiedene Experten? Besonders bei mathematisch geschulten Gehirnen ist die kognitive Fähigkeit gut ausgeprägt, im Erkennen von Strukturen, Symmetrien und avancierten Kombinatoriken. Lassen sich hierbei gewisse Dominanten erkennen? Ausgehend von Ihren Texten – zum Beispiel »Finis terrae« oder »Tropen« – ist es interessant, wie mathematisch geschulte Gehirne Wörter wie Hyperbel, Parabel, Ellipse prozessieren. Klaus Mecke – als Physiker – erkannte in Hyperbel, Parabel und Ellipse sofort Kegelschnitte; während ich als Germanistin darin rhetorische Figuren

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sah. Deshalb ist es spannend, wer was sieht und welche kulturellen Konnotationen und gattungspoetologischen Assoziationen entstehen. Schrott: Mein Fazit von »Gehirn und Gedicht« ist letztlich, dass unser Gehirn eine Assoziationsmaschine ist. Das Prinzip dieser Maschine ist einerseits, dass sich über unsere neuronalen Schaltungen – ganz allgemein gesagt – Daten aus den verschiedensten Sinnesebenen miteinander verbinden lassen. Ich empfinde es als eine schon fast verstörende Willkürlichkeit, dass man ein Zeichen, das aussieht wie eine Schlange – ›S‹ also –, ein anderes wie ein Halbmond, ein drittes wie ein Teil von einer Leiter, ein übernächstes wie ein Blitz, eine Bucht, ein rechter Winkel etc., dass man das in Verbindung bringt mit einem Objekt aus Hartplastik und Weichgummi – um es schließlich ›Schnuller‹ auszusprechen. Das sind drei verschiedene Ebenen, die nicht zusammenhängen: Weder gibt es einen Zusammenhang zwischen Schriftzeichen und Objekt, noch einen zwischen ihnen und dem lautlichen Begriff. Ich glaube, dass unser Gehirn unser gesamtes Wissen durch eine Art Konditionierungsprozess generiert, bei dem manche Assoziationen sich als brauchbar erweisen und deshalb bestehen bleiben, während andere nicht durchgebracht werden und wegfallen. Das nennen die Neurowissenschaften ›neuronal pruning‹. Der eine Mechanismus ist also diese Assoziationsmaschine, die Dinge und Erfahrungen aus unterschiedlichsten Wirklichkeitsbereichen miteinander verbinden kann. Das Wort stellt dann den lautlichen Sammelbegriff dafür dar: Mit ihm lassen sich all diese assoziierten Bereiche abrufen – es vermittelt uns eine Einheit all dieser Uneineinheitlichkeiten. Der zweite Mechanismus unseres Gehirns ist unser Gestaltsehen: Damit konfigurieren wir all diese Assoziationspunkte zu einer wahrnehmungspsychologischen Gestalt; indem wir drei Punkte, die nebeneinander liegen, zu einer Linie verbinden, oder Umrisse sehen, wo keine vorhanden sind. Die Sternbilder dürften hierfür das schönste Beispiel sein: Jeder glaubt, dass da oben Sternbilder seien, dabei befinden sich die Sterne nicht einmal miteinander in einer Galaxie. Dennoch geben wir ihnen einen Namen und schreiben ihnen Geschichten zu. Dazu kommt, dass das Ganze noch unser Schicksal beeinflussen soll – zumindest dachte man vor hundert Jahren noch so, wobei es auch heute genügend Menschen gibt, die astrologische Notizen lesen. Zu denken heißt demnach, beide Prinzipien miteinander zu verbinden: also Strukturen analogisch auf andere Bereiche zu übertragen. Das zeigt sich schon am Wort, das wir für unsere Erkenntnisprozesse haben: ›Verstand‹ – also: Was ›steht‹ denn da? Denn Verstand war im Althochdeutschen schon ein ›vorstehen‹. Und es ist nicht klar, wer steht vor wem? Ist es so, weil ich so knapp am Objekt stehe? Aber dann ist man normalerweise eher blind, weil man zu nah davor steht. Oder rage ich durch mein Wissen aus der Masse heraus, weil ich so einzigartig etwas verstanden habe? Ist es eher eine soziale Dimension von einem, der außen steht und versucht zu schlichten? Warum heißt es dann im englischen: ›under-

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standing‹ – warum ›stehen‹ sie ›unter‹? Ist es das hierarchische Schüler-LehrerVerhältnis? Ich weiß es nicht. Aber es steckt bereits eine Vorstellung darin, für etwas Körperhaftes, äußerst simples – das ›stehen‹ – und das Wort wird über drei, vier Schritte auf etwas völlig anderes übertragen. Unsere gesamte Sprache entwickelt sich dadurch, dass sie von primitiven, essentiellen und existentiellen Erfahrungen ausgeht, um sie in immer größeren konzentrischen Kreisen auf unsere Wirklichkeit zu projizieren. Ein anderes Beispiel ist das Wort ›Tragweite‹. Das Wort kommt eigentlich aus der Artillerie bzw. aus der Ballistik. Und selbst da steckt bereits ein figurativer Wortgebrauch dahinter: nämlich, dass eine Kanone eine Kugel in die Hand nimmt und trägt, über eine gewisse Weite hinweg. Inzwischen wird das Wort ›Tragweite‹ aber anders verwendet und in seiner Bedeutung mit ›Nachhaltigkeit‹ gebraucht. Und selbst ›Wissen‹ heißt etymologisch bloß: ›Sehen‹. Das ist eine klassische Metalepse. Sie sagt: Wenn ich etwas sehe, dann habe ich es schon begriffen. Was schön wäre – wenn es nicht einen Unterschied zwischen sehen und wissen gäbe, zwischen dem im schlimmsten Fall Jahrtausende liegen. Im Grunde funktioniert unser Denken, indem wir permanent assoziieren und dabei Konditionierungen ausgesetzt sind, ähnlich denen in der Naturwissenschaft, weil ja auch dort Assoziationen an der Wirklichkeit nachgeprüft werden. Wenn ein Kind zuerst das Wort ›rot‹ hört und meint, da kommt immer diese Stimme, die mir ›rot‹ sagt, also muss die Stimme etwas mit rot zu tun haben – dann merke ich, beim dritten Nachprüfen an der Wirklichkeit, dass dies falsch ist. Dann fällt diese Assoziation weg. Das Falsifizieren in der Wissenschaft ist nichts grundlegend anderes. Erst danach entwickelt sich die Vorstellung davon, dass rot die Farbe von diesem Pullover, diesem Wein, dieser Karotte ist. Obwohl diese Dinge ja nie das gleiche Rot haben. Es sind Vorstellungen, für die ich permanent etwas an Struktur rausdestillieren muss. Und dann beginnt der Prozess der Übertragung, ich konfiguriere das auf einer höheren Ebene, entdecke darin Strukturen, Raster, Muster, und übertrage sie aufgrund von Ähnlichkeiten. Das ist das Prinzip der Metaphorik: das Assoziieren von Dingen miteinander und das Übertragen. Ich glaube nicht, dass wir auf andere Erkenntnismechanismen zurückgreifen oder je über andere verfügen werden können. Das scheint mir die Grundstruktur unseres Denkens zu sein.

Ästhetik in Physik und Poesie Heydenreich: »Ein elegant ausgeführter mathematischer Beweis ist ein Gedicht, in allem, außer der schriftlichen Form«, schreiben Sie in Ihrem Essay »Über die Symmetrie der Poesie«. (EbO, 29–48, hier 29) Wenig später zitieren Sie Paul Dirac:

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»Heute scheint es mir, [. . . ] daß der beste Ausgangspunkt, den man in der Physik haben kann, in der Annahme liegt, daß physikalische Gesetze auf schönen Gleichungen beruhen. Die einzige wirklich bedeutende Anforderung ist, daß die zugrunde liegenden Gleichungen von ausgeprägter mathematischer Schönheit sein sollten.« (EbO, 40) Ihr Vergleich zwischen der ästhetischen Qualität eines mathematischen Beweises und der eines poetischen Textes leuchtet beim ersten Lesen unmittelbar ein . . . Mecke: Nun ja, es ist schwierig über die Schönheit einer mathematischen Gleichung zu reden . . . Aber ich denke ›Einfachheit‹ ist hier sicherlich ein zentraler Punkt. Einfachheit in mathematischen Strukturen. Eine Gleichung ist schön, wenn sie praktisch keine Alternative in einem bestimmten mathematischen Rahmen zulässt. Wenn ich weiß, ich kann eine Gleichung nur auf diese eine Art niederschreiben – und dass alles andere inkonsistent wäre –, und wenn das dann auch noch eine sehr einfache Struktur ist, dann würden Mathematiker die Gleichung vermutlich als schön bezeichnen. Schrott: Aber damit greifen wir wieder auf sehr humanistisches und traditionelles Denken zurück. Letztendlich heißt das, es ist eine Art von Minima-MaximaRechnung – wie ich mit kleinstmöglichen Mitteln möglichst viel herausholen kann. Bislang war ich davon überzeugt, dass die einfachste Alternative auch die beste ist. Das ist das, was man in der Wissenschaftstheorie mit dem Diktum von Ockhams Rasiermesser bezeichnet. Dann habe ich den Chemiker Hoffmann gelesen, der behauptet hat, dass es in seinem Fach nicht zutrifft, dass die einfachsten Lösungen immer auch die besten, produktiven und richtigen Lösungen sind, weil die Natur wesentlich komplexer und letztlich nicht für uns überblickbar ist – in unseren Vorstellungen also auch chaotisch. Bei chemischen Verbindungen scheint es so zu sein, dass je einfacher sie dargestellt werden, sie umso unbrauchbarer sind, da die Welt, auf die zugegriffen wird, von einer unüberblickbaren Komplexität ist, die sich bloß für bestimmte Zwecke und Ziele reduzieren lässt. Mecke: Ich glaube auch, dass für einen Mathematiker die Schönheit einer mathematischen Formel sehr eng mit der mathematischen Sprache zusammenhängt. Ein Beispiel: Die Maxwell-Gleichung ist eine der zentralen Gleichungen der Physik; allerdings würde wohl niemand die erste Version dieser Gleichung, die Maxwells Feder entsprungen ist, als schön bezeichnen. Dabei handelte es sich um zwanzig, dreißig Gleichungen mit dutzenden von Indizes, ein völliger Wirrwarr. Danach ist jedoch eine Tensor-Formulierung geschaffen worden, die schon kompakter war, bis man letztendlich zu einer differenzialgeometrischen Formulierung kam. Von dieser wiederum wird wohl jeder sagen: Das ist elegant, einfach und eindeutig klar. Mathematisch hat sich die Gleichung an sich überhaupt nicht geändert. Aber die Ausdrucksweise, die Formulierung hat sich geändert – und dadurch wurde auch diese mathematische Struktur, die diese Gleichung codierte, deutlicher.

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Schrott: Es ist eine Steigerung von Komplexität innerhalb von einem Raum – also das ist die elegante Formel? Mecke: Ja, eine Steigerung von erkannten mathematischen Strukturen. Schrott: Wenn ich es jetzt quasi vergleiche und übertrage, dann würde es einem mehrdimensionalen Schachspiel ähneln. Mecke: Eigentlich hat sich nichts geändert, nur die Ausdrucksweise dieser Gleichung hat sich geändert. Schrott: Die Gleichung ist also kürzer geworden. Mecke: Richtig. Man hat eine mathematische Sprache gefunden, die dem Problem angemessener war. Schrott: Und das heißt wirklich, dass es dem Problem angemessener war? Heißt es nicht, dass eine Kombination von vier Zeichen genauso viel leisten kann, wie zuvor eine Kombination von zwanzig Zeichen? Mecke: Genau das heißt es. Schrott: Also heißt es auch, dass es eine Reduktion ist, bei gleichzeitigem Komplexitätsgewinn. Mecke: Ich persönlich würde es nicht Reduktion nennen, weil der mathematische Inhalt schließlich der Gleiche geblieben ist. Ich glaube, dass man nur besser verstanden hat, was diese Zeichen bedeuten und dafür eine neue Sprache gefunden hat. Schrott: Was heißt das, was die Zeichen bedeuten? Heißt das nicht, dass es ein möglichst regressives Verfahren ist? Die ideale Formel wäre doch, wenn ich ein Ergebnis erhalten würde, von der Einfachheit einer Gleichung ›a = b‹. Womit ich wieder bei unserem Assoziationsmechanismus lande, der ›a‹ mit ›b‹ gleichsetzt. Wenn ich eine Formel, die zwanzig Positionen umfasst, reduzieren kann auf 15, dann scheint es noch mal besser, wenn ich diese Formel auf zehn reduzieren kann. Also ist es nicht diese Art von regressivem Verfahren, mit möglichst wenigen Faktoren möglichst viel zu erklären? Mecke: Ja, aber es ist in der Hinsicht nicht reduktionistisch, weil der Inhalt der Gleiche bleibt. Ich denke, es ist ein Erkenntnisprozess, der zu neuen Definitionen von mathematischen Größen führt, in denen man dann das Gleichgebliebene besser ausdrücken kann. Schrott: Noch mal. Heydenreich: Das Reduktionistische bezieht sich nicht auf den Erkenntnisprozess, sondern nur auf die Anzahl der Zeichen. Deshalb würde Klaus Mecke den Ausdruck reduktionistisch als unpassend bezeichnen. Mecke: Nur die Anzahl der mathematischen Zeichen nimmt ab. Deshalb würde ich es mathematisch nicht als Reduktionismus bezeichnen. Denn inhaltlich, mathema-

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tisch ist es eine völlig äquivalente Formulierung, es drückt völlig das Gleiche aus. Doch man hat eine neue Sprache gefunden, man hat neue Begriffe definiert. Schrott: Was ist dann aber der Unterschied zwischen der ersten Version der Maxwell-Gleichung mit zwanzig, dreißig Zeichen und der letzten? Eine Position kann dann die Arbeit von dreien leisten. Mecke: Man hat besser erkannt, was wesentlich ist. Heydenreich: Erkenntniszuwachs bei gleichzeitiger Zeichenökonomie? Das könnte man als mathematische Schönheit bezeichnen? Mecke: Vielleicht ist es ein unzulässiger Analogieschluss. Ich sehe das so ähnlich, als wären es verschiedene Fassungen von Goethes »Wandrers Nachtlied«. Die Arbeit der Mathematiker ist ein ganz ähnliches Ringen um den angemessenen Ausdruck dessen, was an mathematischen Inhalten gedacht war. Man kann das auch ungeschickt machen und dann hat man das Wesentliche nicht getroffen. Das ist auch ein Ringen, es ist ein Erkenntnisprozess, dass es jemandem gelingt, eine Sprache zu finden; ich meine, eine mathematische Sprache, in der genau das gleiche mathematische Objekt, wie zum Beispiel die Maxwell-Gleichungen, transparenter dargestellt werden. Schrott: Dabei gehe ich völlig d’accord mit Ihnen. Ich denke, wir reden da schon vom Gleichen. Wenn ich jetzt eine Formel hätte, bei der zum Beispiel zuerst Beschleunigung wichtig ist, ich dann aber merke, dass sich die Beschleunigung aus der Formel streichen lässt, indem ich sie einbinde in etwas, was dann nun mehr Geschwindigkeit braucht, dann wäre das doch ein Gewinn an Eleganz und mathematischer Schönheit. Aber das heißt gleichzeitig, dass ich auch eine Beziehung voraussetze, die ihrerseits wieder ein Strukturtransfer ist, nämlich: Was hat Beschleunigung mit Geschwindigkeit zu tun – über die Masse? Aber dabei bin ich schon wieder in einem Geflecht von zusammenhängenden Strukturen. Im Grunde genommen brauche ich für die Maxwell-Gleichung ein Riesennetz, ein Raster von zehn Punkten oben und zwanzig Punkten unten auf der anderen Achse, und dann muss ich aber nicht alle Punkte antippen, weil ich eine elegante Linie hindurchziehen kann, denn ich verweise mit einem Punkt gleichzeitig auf fünf weitere. Jedenfalls: In dieser schönen Formel genügt es Geschwindigkeit anzutippen, um gleichzeitig auch die Beschleunigung und die Masse zu haben. Da wird etwas ohne Komplexitätsverlust auf möglichst wenige Faktoren reduziert. Der Idealfall wäre doch nun, wenn ich das Wetter erklären könnte und dafür nur zwei Faktoren benötigen würde: Zeit und Luftdruck. Nur geht das leider nicht. Mecke: Das erinnert mich an einen schönen Aphorismus Einsteins: »Man muss die Dinge so einfach wie möglich machen. Aber nicht einfacher.«

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Schrott: Herrlich! Das gefällt mir. Aber ich denke, was uns hierbei alle verbindet, ist die Tatsache, dass Schönheit und Ästhetik etwas mit Erkenntnis zu tun haben. Ich habe vor einiger Zeit eine Biographie von de Saussure gelesen, in der sich eine interessante Definition des Schönen von Adolphe Pictet findet, einem der Begründer der Indogermanistik und Lehrer Ferdinand de Saussures. Pictet unterschied grundsätzlich zwischen der Sprache als etwas nicht Materiellem, einer virtuellen Konstruktion also, und der Realität. Vielleicht ist es in unserem Fall am besten, dies auch mit der Mathematik zu vergleichen – unserem menschlichen Zeichenvorrat hier und der Realität dort. Jedenfalls sagt Pictet, dass die Kunstobjekte, die uns aufgrund ihrer Schönheit vor Augen gestellt werden, uns in dieser Form in der Realität nicht begegnen, dennoch aber nicht nur virtuelle Zeichen sind. Die Schönheit – und das gilt wohl auch für die Mathematik – liegt in der Zwischenregion, die zwei Extreme verbindet und versöhnt. Sie vermittelt uns auf einen Blick Idee, Form, abstrakte Vorstellung – aber auch die Fülle einer realen Existenz. Ein doppeltes Problem, gelöst im Gebrauch eines Bildes.

Physikalische Facetten des Erhabenen Mecke: Aber ist nicht genau das Ihre Chiffrekonstruktion? Schrott: Das stimmt. Das ist für mich der eigentliche Grund, Gedichte zu schreiben. Beim Gedichteschreiben setzt man sich mit Realität auseinander. Das heißt, mit der ›brute reality‹. Das ist das Gleiche wie bei Euch . . . Da liegt zwischen einem Lyriker und einem Physiker kein großer Unterscheid. Beide vereint das Interesse an Fragen wie: Warum ist etwas vorhanden? Was hat dieses Etwas mit mir zu tun? Und da ist dieses naturwissenschaftliche Wissen relevant – und da ist dieses Thema des Erhabenen ein wirklich tolles Thema, weil es eine Extremposition von Realität in den Raum stellt. Gleichzeitig kann ich das Ganze aber nur über Sprache fassen, die ja letztendlich völlig virtuell ist, nur in einem Raum von Sprechern existiert; und vor allem hat ja Sprache ihre ganz eigenen Mechanismen. So werden Worte in unserem Kopf beispielsweise aufgrund ihrer klanglichen Ähnlichkeit gespeichert – sie stellen den Index für unseren lexikalischen Zugriff dar: Klangähnlichkeit als Ordnungsprinzip. Wenn ich zum Beispiel das Wort ›Bank‹ höre, dann denke ich automatisch an Geld und an Sitzen; des Weiteren an alle Worte, die ähnlich klingen. Und das ist ein völlig anderes Konstruktionsprinzip als das Prinzip der Realität da draußen. Ästhetik heißt nun also, beide Konstruktionsprinzipien so miteinander zur Deckung zu bringen, dass daraus ein Objekt entsteht, nämlich das Gedicht. Das Gedicht als Objekt abstrahiert von mir – selbst was meine Muttersprache betrifft, die ein Dialekt ist: Ich bediene mich als gebürtiger Österreicher ja nicht

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des Hochdeutschen und denke schon gar nicht in hochdeutschen Reim- und Versmaßen. So versuche ich aus der Sprache etwas zu machen, was quasi in der Mitte steht, natürlich nur rein vorstellungsmäßig, denn real existiert es trotzdem nicht. Ich versuche das, was es da an ›brute reality‹ gibt, und das, was an ›sensible form‹ in meinem Kopf vorhanden ist, aufzulösen, und das Ganze funktioniert meistens, wenn es sich in einem Bild ausdrücken lässt. In einem Bild verbindet sich das Subjektive mit dem Objektiven und wird gleichzeitig präsent. Nun würde ich außerdem behaupten, dass die Mathematik auf ihre virtuelle Art und Weise eine noch strengere Form von eigengesetzlicher Abstraktion als Sprache darstellt. Dennoch ist Sprache im Vergleich damit nicht zu unterschätzen. Damit meine ich, dass Sprache nicht viel einfacher oder in ihrer Komplexität nicht geringer ist als die Mathematik. Im Grad ihrer Abstraktion sind Sprache und Mathematik kongruent. In der Auseinandersetzung mit der Realität ist diese – hier wie da – sehr rätselhaft. Das, was dabei rauskommt, ist ein knappes, verdichtetes Gebilde – in welchem Maß, stellt auch das Qualitätskriterium für Mathematik wie Poesie dar. Wenn es zehn verschiedene Lesarten zulässt, ist es ein gutes Gedicht; je vielseitiger eine Formel einsetzbar ist, desto brauchbarer ist sie. Wenn es nur eine zulässt, ist es platt und uninteressant. Eröffnet sich aber bei jedem Lesen ein anderer Aspekt von Wirklichkeit, dann entspräche dies – meiner Meinung nach – der Eleganz einer mathematischen Formel. Heydenreich: Wir haben uns im Gedichtband »Tropen« die Auseinandersetzung mit dem Konzept des Erhabenen genauer angeschaut und uns gefragt: Wie funktioniert der Übergang von den Glossen, die sich auf die Quantentheorie beziehen, zu den poetischen Gebilden? Schrott: Das Erhabene wird auf verschiedene Themen projiziert – zuerst auf den Krieg, darum die Kriegsgedichte, dann auf den Berg, mit Berggedichten, dann auf die Physik, obwohl dort zwar keiner gemeinhin etwas Erhabenes sieht, aber das Entdecken des Erhabenen in der Physik war für mich persönlich das Spannende. Darum auch die „Physikalische Optik«, weil ich einfach einen Blick einnehmen möchte, bei dem der Sonnenuntergang eben auch mit Sicht auf Wellenlinien betrachtet werden soll. Da ich aber kaum brauchbare Definitionen des Erhabenen gefunden habe, manche Definitionen – Lyotard beispielsweise – als fürchterliches Geschwafel empfunden habe, es mir jedoch darum ging, die Struktur des Erhabenen zu begreifen, habe ich versucht, einen gemeinsamen Nenner in all den Definitionen zu finden. Der Mensch mit seiner eigenen Bedeutungslosigkeit wird sich der Größe bewusst, tut es aber auch in einem relativ gefahrlosen Rahmen. Das ist das Schiffsbruch-mit-Zuschauer-Phänomen Blumenbergs. Diese Angst-Lust, die man als Zuschauer empfindet, habe ich heute in jedem Horrorfilm. In der realen Sicherheit ist es ein besonderes Vergnügen, sich

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den Schrecken anderer anzusehen. Das ist wohl die Erfahrung des Erhabenen im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert. Mich hat diese Angst-Lust-Vorstellung weniger interessiert als das Gegenüber von überproportionaler Realität und dem unterproportional kleinen Menschen. Diesen Blick bekomme ich dank der Physik tagtäglich geliefert. Weil ein großer Teil meiner Arbeit darin besteht, Vorstudien und Datensammlungen, Recherchen zu betreiben, empfinde ich diesen Teil genauso interessant wie das Produkt selbst. Da ich das aber beim Leser nicht voraussetzen kann, dachte ich mir, schreibe ich den physikalischen, erkenntnistheoretischen Teil in Glossen als eine kleine Zugangs-Perspektive. Das Gedicht aber muss für sich stehen können – brauche ich meine Aufzeichnungen, die ich danebenlegen muss zum Vergleichen, dann ist das Gedicht gescheitert. Dennoch fand ich das, was ich an Grundlagen zu einem Thema recherchieren konnte, so interessant, dass ich mir dachte: Warum sollte ich die Recherchearbeit nicht danebenstellen? Es ist als dialektischer Dialog gedacht: hier die Auseinandersetzung mit den Grundlagen, daneben die spezifische Erkenntnis eines Gedichts. So ergab sich dann eine weitere Metaebene – ohne dass ich werten möchte, welche höher steht. Mecke: Mich als Leser hat es irritiert. Da lese ich das Gedicht »Albert Einstein – Spezielle Relativität« (»Tropen«, 157; im Folgenden: T) zum Thema Spezielle Relativitätstheorie von 1905, aber in der Glosse steht etwas zum Thema Schwerkraft, etwas zu der Allgemeinen Relativitätstheorie von 1915. Da war ich zuerst verwirrt. Schrott: Ja gut, das hat mit der Übergriffigkeit des poetischen Arbeitens zu tun, das seine eigene Systematik entwickelt. Bei dem konkreten Beispiel ging es mir vor allem um Einstein selbst, um seine Denkart. Ich beschäftigte mich mehr damit, wie Einstein auf das Bild des freien Falls kam. Oder wie Einstein auf sein Zugexperiment kam. Mich faszinierte es, wie Einstein versuchte, Bilder aus seiner Lebenswirklichkeit zu gewinnen und auf seine Arbeit zu übertragen. Dasselbe auch bei Niels Bohr, etwa zu der Zeit, als die Solvay-Konferenz 1927 stattfand. Und das ist doch letztendlich die Aufgabe von Literatur: die Reflexion über die menschliche Relevanz wissenschaftlicher Erkenntnisse. Heydenreich: Tatsache ist, dass sich die Physiker wenig darum kümmern. Es ist tatsächlich die Übersetzungsleistung der Poesie: sich einerseits in den wissenschaftlichen Kontext einzuarbeiten und sich andererseits zu überlegen, was das dann für den einzelnen Menschen bedeutet. Schrott: Ja, schön wäre es, wenn Gedichte noch gelesen werden würden. Da aber Gedichte nicht mehr gelesen werden, ist die Übersetzungsleistung solcher Interviews wie dieses, das wir führen, notwendig, um zu präsentieren, dass es da einmal etwas gab, was versucht hat, es auf einen Punkt zu bringen.

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Mecke: Wobei ich es persönlich beim Gedichtband »Tropen« am reizvollsten fand, dass das Ganze unter dem Begriff des Erhabenen gefasst wurde, und nicht unter dem Begriff des Schönen. Für ein physikalisches Weltbild ist das ein Zugang, der angemessener ist. Denn dieser Begriff beinhaltet doch auch den Aspekt des Subjektiven: dass das Subjekt vor dem Erhabenen steht. Schrott: Das ist in diesem Zusammenhang nur wieder eine Kontextfrage, denn das Schöne, das wir gerade definiert haben, ist das funktionelle Schöne, das dem Prinzip ›form follows function‹ entspricht. Das Natur-Schöne, über das wir auch gesprochen haben, ist eigentlich meist etwas, was wir mit dem Pittoresken verbinden. Da das Pittoreske jedoch zum Kitsch neigt, und damit eigentlich keine Potenz mehr hat, ist das Erhabene deswegen so fruchtbar, weil es ein angemessenes Verhältnis zwischen Betrachter und Realität herstellt. Der Betrachter ist ganz klein, die Realität entsprechend groß. Schon allein die Vorstellung, dass nicht einmal unser Sonnensystem als Modell darstellbar ist, weil es alles an Größe und Proportion übertrifft, zeigt, dass das Größenverhältnis zwischen uns und dem restlichen Sonnensystem schon etwas ist, was unserem heutigen, atheistischen Weltbild entspricht. Mecke: Wobei das nicht nur für diese Größenordnungen gilt, sondern auch für das Verhältnis zwischen dem Subjekt und seiner eigenen Theorie oder zu den theoretischen Modellen, die sein Weltbild prägen. Auch davor kann man schaudernd stehen und sich wundern, wie weit es von dem Menschen entfernt ist. So würde ich nicht direkt das Erhabene in der Größe des Weltalls sehen, sondern in der Größe des Weltbildes. Heydenreich: Der Mensch ist überwältigt vor der Größe des Weltalls – und dennoch kann er in einem noch viel größerem Maß davon überwältigt werden, dass die mathematischen Formeln so weit reichen, dass man mit dieser mathematischen Sprache Symmetrien des Universums erkennen kann. Mecke: Sich letztendlich verbeugen vor der Erkenntnisfähigkeit des Menschen. Schrott: Ja, wenn man sich das so bewusstmacht, scheint es schon erstaunlich, wozu der Mensch alles fähig ist. Mecke: Wir gehen von wenigen Prinzipien aus und sind in der Lage, Weltbilder zu erschaffen, die weit über uns hinausweisen. Schrott: Das ist die Frage. Weisen diese Weltbilder denn tatsächlich weit über uns hinaus? Mir kommt es immer so vor, als würden wir uns nur immer wieder selbst entdecken – und zwar in allem. Heydenreich: So braucht es wieder die Perspektive des Menschen, die zeigt, dass diese Weltbilder, soweit sie auch über uns hinausweisen mögen, immer wieder relativiert werden müssen.

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Schrott: Ja, dem stimme ich zu. Ich finde gerade die Bastelfähigkeit des Menschen einfach wunderbar; wie der der Mensch gewissermaßen aus ein paar Schnürbändern und etwas Plastik etwas zu erschaffen weiß – dieses, ich nenne es jetzt mal: MacGyverhafte Phänomen. Darin sehe ich schon auch das konstruktivistische Element, dass wir permanent Gerüste immer besser und näher an die eigenen Gegebenheiten heran bauen. Aber das Eigentliche kann vom Menschen nie ganz erreicht werden, seine Konstruktionen sind nie ganz deckungsgleich mit der Realität: Sie bleiben Abstraktionen. Keine einzige Formel liefert genau die Zahl, die ich beim CERN zum Beispiel am Ende herausbekomme – immer existiert eine kleine Plus-Minus-Abweichung. Die Realität ist immer schmutziger, die Realität ist nie so ideal wie das, was ich selbst konstruiere. Aber wie nah ich an diese Gerüste herankomme, ist wirklich verblüffend. Dieser Fakt ist natürlich der Überprüfbarkeit geschuldet, mit der ich mich durch eine mathematische Theorie, durch eine Folge von virtuellen Zeichen, immer wieder dazu bringen lasse, eine Maschine anzusetzen, um das dann auch zu testen. Das ist etwas, was die Poesie nicht macht – sie testet sich ja immer nur selbst mit ihrem Konstrukt. Die Poesie stellt ein Gebilde auf, damit sich der Mensch daran testet, während Ihr Physiker das gleiche Gebilde dazu benutzen würdet, um die Realität zu testen. Das ist etwas, was ich persönlich sehr schade finde, denn wenn ich mir bei einem Gedicht Mühe gebe, die Realität wiederzugeben – wen interessiert das noch? Keinen Menschen mehr. Niemand benutzt Gedichte noch, um herauszufinden, wie die Realität ist. Außer, wir werden vielleicht in zweitausend Jahren von einer anderen Zivilisation ausgegraben und dann wird plötzlich das, was zum Beispiel Heraklit geschrieben hat, als Demonstration einer bestimmten Weltsicht benutzt.

Erkenntnisweisen in Physik und Literatur Mecke: Erstaunlich, dass Sie das so interessant finden, weil ich den Eindruck habe, Ihr Interesse an der Physik ist im Wesentlichen vom Erkenntnistheoretischen oder auch vom Anthropologischen her geprägt. Was kann uns die Physik eigentlich über unsere Erkenntnisfähigkeit sagen? Schrott: Das ist nur die Ebene, bei der ich sagen kann: Ab hier kommt auch die Poesie mit ins Spiel, das muss mich als Dichter interessieren. Aber was mich tatsächlich interessiert, ist das, was die Physiker am Ende herausfinden. Nur darf man eines nicht vergessen, und das zeigen ja schon die Erfahrungen der letzten paar tausend Jahre, dass sich nur die allerwenigsten Erkenntnisse je unverändert gehalten haben.

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Mecke: Nun, für viele Menschen scheint wohl auch das Handwerkliche faszinierend an der Physik zu sein, das Arbeiten mit der Materie, dass wir technisch umgehen können mit der Welt, die uns umgibt. So zum Beispiel die ganzen neuartigen Materialien, die hergestellt werden können. Etwa die Eigenschaften von Gummi, dass diese Eigenschaften verstanden und getestet werden können. Alles, was wir heute als Materialwissenschaft bezeichnen, als das Umgehen mit den Dingen. Auch in »Finis Terrae« kommt es vor: Pytheas beobachtet auf seiner Forschungsreise Treibeis und fragt sich, was das für eine merkwürdige Konsistenz hat. An einer anderen Stelle wird Zinn gewonnen. Oder man findet Bernstein und fragt sich: Was ist das eigentlich für ein Material? Das sind Auseinandersetzungen mit der Welt, die weniger weltbildprägend sind, sondern mehr auf eine haptische Beschäftigung mit dem Material abzielen. Schrott: Aber das ist die Basis jeder Literatur. Was mich betrifft, so stellt eine weitgefasste haptische – also konkrete – Auseinandersetzung die Basis für mein Schreiben dar. Darum muss ich zum Schreiben meiner Bücher auch direkt zu den Fundstellen fahren. Steht man dann zum Beispiel an der Fundstelle von Lucy, einem etwa 3,2 Millionen Jahre alten Skelett, das im Afar-Dreieck 1974 gefunden wurde, dann kann man sich vor Ort ganz anders an eine haptische Fragestellung heranwagen: Wie sah es einst hier aus, was wuchs da, wie war die Beschaffenheit der Umgebung? So habe ich zum Beispiel einmal eine bezahlte Arbeit angenommen und sollte einen Aufsatz über Tirol schreiben. Ich entschied mich dafür, etwas über die geographischen Besonderheiten Tirols zu schreiben. Erst im Zuge meiner Arbeit bin ich dann darauf gekommen, dass Tirol geologisch den Nordraum der Afrikanischen Platte bildet. Wobei wir hier in Bregenz auf der Europäischen Platte sitzen, die sich an diesem Berg dort unter die afrikanische Kontinentalplatte zu schieben beginnt, das ist eine völlig neue Sichtweise auf das geographische Tirol. Die Neigungen der Berge prägen sogar den Wald. Bis Arlberg geht alles unter den Alpen rein und liegt bei Mailand bereits in hunderten Kilometer Tiefe. Ich habe die letzten Wochen versucht in Gesprächen mit Geologen die Grundlagen dafür zu verstehen, wobei leider festzustellen ist, dass Geologen in der Regel wenig mit Literatur anfangen können. Dennoch brauche ich ihre Basis. Ich glaube, dass das nicht voneinander zu trennen ist: Das, was ich haptisch erlebe, und das, was ich erkenntnismäßig daraus mache. Ich hatte bislang eine völlig andere Vorstellung von den Alpen, die sich durch diese Erkenntnisse völlig verändert hat. Damit geht auch das neue Wissen in einer anderen haptischen Wahrnehmung auf. Diese neue Erkenntnis, so könnte man sagen, hat meine fünfzig Jahre existierende Wahrnehmung verändert. Wenn ich jetzt auf einen Berg gehe, dann habe ich ein völlig anderes Gefühl. Denn zu wissen, dass die gesamten Nordtiroler Alpen Meeresgrund waren, und dass dieser Wettersteinkalk

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Ablagerungen von Lebewesen ist und stellenweise eine Dicke von zwei Kilometern erreicht hat, bedeutet nun für mich auch, völlig anders auf den Berg zu gehen. Etwa im Bewusstsein, dass die Alpen gleichzeitig entstanden sind, als sich der Ostafrikanische Graben gebildet hat. Das heißt, in Ostafrika weitet sich etwas aus, was hier in den Alpen zusammengestaucht wurde. Gleichzeitig wird es in Tirol aber nur gestaucht, weil es sich in Ostafrika ausweitet. All dies sind Erkenntnisformen, die dann die Haptik prägend verändern. Und um nun die Brücke zum Thema Physik zu schlagen: Auch bei einem Physiker muss dies doch ganz ähnlich sein. Jede neue Entdeckung kann das eigene Weltbild wieder nachhaltig verändern. Mecke: Dem stimme ich zu. Dies wird übrigens den Physikern auch immer wieder vorgeworfen. Denn mit dem, was der Physiker weiß, reflektiert er auch immer wieder über die Materialien und Eigenschaften. Heydenreich: Warum sollte man den Physikern diese Art des Zugangs vorwerfen? Es ist schlicht die Aufgabe des Physikers, so an Dinge heranzugehen. Mecke: Nun, vielleicht muss ich meine Aussage revidieren, vielleicht ist dieser Vorwurf heutzutage tatsächlich obsolet geworden. Dennoch wurden Naturwissenschaftler immer wieder dafür kritisiert, gerade wegen ihres erkenntnistheoretischen Zugangs zum Haptischen. Heute würde man das ›Nerdiness‹ nennen. Schrott: Nun, das hat man ja bei den Dichtern genauso. Und in umgekehrter Weise existiert auch der Vorwurf gegen einzelne Dichter, denen man von vornherein jeden Zugang zum Greifbaren und Haptischen abspricht. Aber eines möchte ich nun doch noch in den Raum stellen zum Thema Bild: Ich glaube, dass die Weinberg’sche Inflationstheorie nicht aufgestellt worden wäre, wenn Steven Weinberg nicht Bilder von sich ruckartig in Zeitlupe ausbreitenden Explosionen aus dem Fernsehen gekannt hätte. Auch die Vorstellung des Urknalls von Georges Lemaître entstammt einer kulturellen Ikonographie: Als katholischer Priester hat er seine Vorstellung von der Entwicklung von Zeit und Raum aus einem Punkt von Augustinus übernommen. Während Fred Hoyle die seine von Lukrez hat. All diese zunächst metaphorischen Vorstellungen besitzen aber heuristisches Potential. Mecke: Dem stimme ich zu. Schrott: Denn nun kann ich mich fragen, was wäre, wenn ich von diesem ikonographischen Element diese Struktur ableiten könnte. Und dann überlege ich, wie ich diese Struktur auf ein spezielles Problem übertragen könnte. Und plötzlich merke ich, dass ich mir mit der Inflationstheorie dieses oder jenes Problem erklären kann. Doch gerade da, weil ich es ja nie beweisen kann, bleibt es dann die Vorstellung, die in Konkurrenz tritt mit zwanzig anderen Vorstellungen. Auch die Idee der Multiversen ist in letzter Konsequenz ja nicht beweisbar. Da all diese Dinge letztlich nicht überprüfbar sind, bleibt nichts anderes übrig als eine

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Auswahl an Modellen, die miteinander konkurrieren, nach Kriterien wie: Welches Modell denn nun das schönste sei, das plausibelste oder schlicht das individuell als am angenehmsten empfundene. Mecke: Nun, aber ich glaube, dass das doch etwas kurzgeschlossen ist. Gerade wenn man bei dem Modell der Inflationstheorie bleibt. Ich habe nicht wissenschaftshistorisch nachgeforscht, aber ich kann mir gut vorstellen, dass das Agens, das Treibende, durchaus ein mathematisches Problem war. Also auch die Suche nach einer Möglichkeit, einen möglichst großen Ereignishorizont zu erhalten. Und dann wird von einem Mathematiker in den Gleichungen eben auch mal ein neuer Term eingefügt und siehe da, das führt zu einer Explosion. Nun, ich denke, dass Physiker viel mit der Mathematik und mit den Gleichungen arbeiten, ohne jetzt explizit diesen heuristischen Gedanken dabei zu haben. Diese Gedanken mögen natürlich im Hinterkopf irgendwie leitend sein und bestimmen, warum man ausgerechnet diesen Term einführt, aber leitend, so denke ich, sind nicht nur die Metaphorik und die Bilder, die man möglicherweise hat, sondern auch die mathematischen Strukturen der Gleichungen. Wie kann ich mit der Gleichung formal spielen? Und was kommt am Ende dabei heraus? Schrott: Dass es leitende Hintergedanken gibt, die das Instrumentarium und eine bestimmte Richtung, in die sich die Forschung weiterbewegt, nahelegen und die Dispositionen bestimmen, das glaube ich. Mecke: Es ist das Instrumentarium selbst, das weitertreibt . . . Schrott: Nun, andererseits könnte ich nun wieder entgegenhalten, dass ein elementares Prinzip bei wissenschaftlichen Entdeckungen auch das sogenannte serendipische ist. Dieses serendipische Prinzip besteht darin, dass man bei wissenschaftlichen Entdeckungen ein unerwartetes Nebenprodukt entdeckt. Denken wir doch an den Schweizer Ingenieur Georges de Mestral. Mestral hatte sich immer wieder beim Wandern über die nervigen Kletten geärgert, die im Fell seines Hundes hängenblieben. Bei der Beschäftigung mit der Frage, weshalb das so ist, dass eine Klette sich so gut festhalten kann, erfand er schließlich den Klettverschluss. Auch Saccharin war ein solch unerwartetes Nebenprodukt, das beim Überkochen eines Reaktionsansatzes entdeckt wurde. Das Interessante ist nun, dass all das eine Erkenntnisform ist, die ja auch zum Teil der Kriminalroman anwendet: das Prinzip der Abduktion. Das heißt, ich habe ganz viele Einzelfälle – die ich ohne die logisch eindeutig schlüssigen Formen der Induktion oder Deduktion lösen muss. So zum Beispiel viele weiße Bohnen, die am Boden verstreut liegen. Sehe ich dann einen nahestehenden Sack mit weißen Bohnen, kann ich schlussfolgern, dass die Bohnen am Boden aus dem Bohnensack stammen. Obwohl die Bohnen natürlich auch aus einem anderen Sack stammen könnten, den sich in der Zwischenzeit jemand geholt hat.

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Das heißt also, dass ich viele Einzelbeobachtungen sammle und dann eine Regel auf diese Einzelbeobachtungen projiziere – und dennoch darf nicht vergessen werden: Es bleibt in letzter Konsequenz eine Hypothese. Wie letztlich alles, was die Naturwissenschaft und die Physik zu bieten hat, Hypothesen sind. Natürlich kann etwas 999 Mal bewiesen worden sein, aber auch das geozentrische Weltbild war über hunderte Jahre immer wieder bewiesen worden, bis man sich auf das neue Weltbild geeinigt hat. Aber heißt das nicht, dass man all diese Daten immer wieder auf ein Referenzsystem beziehen muss? Und dieses System ist ein Kulturelles. Und woraus besteht dieses kulturelle Referenzsystem? Aus einem Fundus an Vorstellungen, die wir kulturell generieren und tradieren. Und dann kann ich sagen: Die Sammlung von Einzelfällen ist ein Thema der Mathematik. Ich sammle Daten und frage mich, wie ich sie definiere. Doch die Entscheidung, wie ich sie gruppiere, basiert auf einem Referenzsystem. Ich habe, wie erwähnt, damals Anton Zeilinger in ein Seminar eingeladen und gehofft, dass Zeilinger mit dem Problem der Metaphorik vertraut sein müsste, doch leider konnte er persönlich mit diesem Thema wenig anfangen. Ich hatte gedacht, dass alles, was ich von den Darstellungen und Problematiken seines Gegenstandes lesen kann – die natürlich auch ins Philosophische übergehen – , dieses metaphorische Problem aufbringt. Da sich Zeilinger ja auch über die Bedeutung seines Faches äußert und über diese Bedeutungen in einen öffentlichen Diskurs tritt, müsste diese Reflexivität über unsere Kognition wesentlicher Bestandteil seiner Arbeit sein. Mecke: Da leben wir vielleicht in verschiedenen Kulturen. Nun, auf eine gewisse Art ist es auch zu verstehen. Denn wenn wir von »Tropen« reden, dann kommt mir – da hat Aura Heydenreich schon vollkommen recht – bei Hyperbeln, Ellipsen oder Parabeln auch nicht sogleich der Gedanke an Stilmittel, sondern Kegelschnitte. Schrott: Ja, mir persönlich auch. Ich finde das wunderbar, weil es Figurationen sind, bei denen ich einen Brennpunkt habe, eine Kurve und ein gewisses Verhältnis zwischen meinen Subjekten, meinen Protagonisten zur Welt – die Hyperbeln, Ellipsen oder Parabeln somit verschiedene Spannungsverhältnisse widerspiegeln. Mecke: Hier möchte ich gerne eine ganz banale Frage anhängen: Bei »Finis Terrae« habe ich Ellipsen und Parabeln gesehen; nur die Hyperbel ist mir entgangen. Mit einem Augenzwinkern sage ich als Physiker an dieser Stelle, dass ich der Vollständigkeit halber schon eine Hyperbel erwarten würde . . . Schrott: Das amüsiert mich. Doch eine solche Erwartung ist in der Literatur schlecht. Erst nach viel Schreibarbeit lernt man, das Akademische so weit zu vergessen, also das Vollständigkeitsprinzip zu ignorieren. Das musste auch ich erst lernen. Denn man rekapituliert und sagt sich, jetzt hast du das und das, aber

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da fehlt noch dieses und jenes. Doch das schadet der Geschichte. Dann bin ich bei der Geschichte so weit weg, dass es die Stromlinienform des Erzählens stört. Und das ist nach wie vor eine große Spannung beim Arbeiten: dass ich auf der einen Seite die Phänomene durchkatalogisieren möchte und auf der anderen Seite das Katalogisieren nicht das Erzählen ist. Das Auflisten ist etwas Vertikales, das Erzählen ist etwas Horizontales. Und das ist die Spannung, die ich beim Erzählen permanent habe. Eben auch bei dem von mir geschriebenen Tirol-Artikel. Immer wieder stößt man beim Schreiben auf zahlreiche neue Entdeckungen, die man sich ebenfalls erarbeitet hat und einarbeiten möchte. Doch in letzter Konsequenz führt es dann zu weit vom Thema weg. Dabei ein Gleichgewicht zu finden, was mehr und was weniger wichtig ist, ist oft eine schwierige Aufgabe. Natürlich ist das Katalogisieren ein wichtiger Teil – ich sehe es als einen wichtigen Teil des Epischen. Ungeachtet dessen, dass Literatur heute überwiegend auf Unterhaltung aus ist und nur den Anspruch auf Zeitvertreib erhebt. Der epische Anspruch, den ich immer in Bezug auf Literatur habe – den man noch bei Robert Musil bis zurück zu Homer findet –, ist heute immer weniger gefragt, weil dieses Wissen und Können den Schriftstellern immer weniger zugetraut wird. Zusammenfassend: Der epische Anteil an Literatur wird heute immer weiter zurückgedrängt. Und das, was Daniel Kehlmann schreibt, das finde ich amüsant, aber leider zu platt. Leider, denn das Thema an sich gefällt mir gut. Über die von ihm skizzierten mathematischen Genies wie Carl Friedrich Gauß kann man bestenfalls lachen, doch eine Komplexität der Auseinandersetzung mit den Figuren sucht man vergebens. Mecke: Was ich dabei auch interessant finde, ist, dass Sie in den »Grazer Poetikvorlesungen« zum Beispiel bei der »Physikalischen Optik« die Entstehungsgeschichte mitangeben. Da ist mir etwa aufgefallen, dass der »strange attractor« erstmals handschriftlich auftaucht – in Klammern – (EbO, 154–168, hier 154), dann erscheint er in der Glosse (Tr, 16), in einem Kontext, wo ich als Physiker sagen würde, völlig falsch . . . Schrott: Eben! Das war einer der Punkte, bei denen mir ein Physiker gesagt hat: Das ist kein ›strange attractor‹, sondern nur ein ›attractor‹. Heydenreich: Darum haben Sie es dann in der Taschenbuchausgabe auch wieder gelöscht? Schrott: Genau deswegen. Es war schlicht falsch. Aber solche Fehler passieren eben. Als ein Physiker mich dann auf diesen Fehler aufmerksam gemacht hat, war ich doch ganz erleichtert: „weil es der einzige Fehler war, den er gefunden hat.« Doch es war mein Stolz beim Arbeiten, zu sagen: Wenigstens meine Recherchearbeiten waren gut. Es hätte auch sein können, dass ich permanent völlig danebenliege.

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Mecke: Ich bin auch sofort darüber gestolpert; doch wenn ich dann diese handschriftliche Notiz sehe, begreife ich, dass es wirklich sehr viel Sinn macht, dass da eigentlich »strange attractor« stand. Schrott: Weil das figurativ gedacht war. Doch Fehler haben ganz allgemein einen Vorteil, den ich ganz produktiv finde: Da ich keinen fachlich vorgeformten Blick habe, kann ich das Ganze anders unter vielen verschiedenen, nicht vorgeprägten Blickwinkeln sehen. Dies mag der einzige Vorteil sein, den man als Dilettant im guten Sinne hat. Was aber auch nicht heißen soll, dass ich zu physikalischen Erkenntnisprozessen etwas beitragen könnte. Aber ich finde, dass man sich das alles für das Bild des Menschen nutzbar machen kann. Das ist doch die zentrale Funktion von Literatur. Natürlich ist das Erzählen in der Literatur ganz spannend und nett, doch soll Literatur uns auch von all dem, worüber wir etwas wissen, etwas vermitteln. Das ist zumindest mein privates Interesse – was mich zum Schreiben bringt, ist die Motivation, Dinge zu begreifen, die mich selbst interessieren. Da ist der Prozess des Schreibens ein wesentlicher Erkenntnisprozess, weil man nur beim Schreiben richtig denkt. Das habe ich auch bei diesem kurzen Essay über die Geologie Tirols gemerkt: Beim Schreiben erst ergeben sich die Zusammenhänge, die man bis dahin nicht erkannt hat. Das Einordnen in eine Geschichte ist nicht nur ein Übertragen in ein Medium, bei dem der Unterhaltungswert im Vordergrund steht, sondern auch etwas, bei dem ein Thema eine neue Art von Meta-Struktur erhält, die Neues aufzeigen kann. Sonst wären wir wie die Ingenieure, die den Kurzschluss machen und sagen: Ich habe das Phänomen und rechne mit der Mathematik gleich wieder auf das Phänomen zurück. Heydenreich: Würde Sie auch die Perspektive des Produktionsprozesses – wie zum Beispiel physikalisches Wissen entsteht – interessieren? Schrott: Zugang zur physikalischen Denkweise habe ich eben nur über die Zweit- und Drittverwertung; natürlich hätte ich gerne einen Primärzugang. Aber dazu Zugang zu bekommen, scheint illusorisch. Ich habe zwar gehört, dass beim CERN jetzt auch Künstler eingeladen wurden, die sich dort aber nur eine sehr begrenzte Zeit aufhalten sollten, um nicht zu sehr mit der wissenschaftlichen Denkweise infiziert zu werden. Nach drei Monaten würden sie ja vielleicht schon mitreden wollen. Ein solches Treffen kann sicher sehr fruchtbar sein. Auch ich hatte mir immer gewünscht, an einem solchen Projekt teilnehmen zu können. Ich habe für mein aktuelles Projekt »Die erste Erde. Von der Entstehung des Universums bis zur Erfindung der Schrift« vor einiger Zeit Interviews mit drei Astrophysikern für den Bayerischen Rundfunk durchgeführt und mich davor intensiv in die kosmologische Forschung eingearbeitet. In der Hoffnung, die zu diskutierende Thematik verstanden zu haben, kam es dann zu den Inter-

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views. Währenddessen merkte ich, dass ich einiges immer noch nicht richtig verstanden hatte. Solche Treffen sind nicht nur faszinierend – sie schaffen Weltzugang. Mecke: Was bringt es denn nun aber für einen Schriftsteller, Zugang zu dieser primären Ebene zu haben? Schrott: Das ist meine Materie! Die ungefilterte Materie, die ich darstellen will. Ich meine, ich kann mich auf die Genesis berufen und glauben, die Erde wurde in sieben Tagen erschaffen – was vor dreitausend Jahren den damaligen wissenschaftlichen Stand wiedergab. Die Schreiber des Alten Testaments haben die Vorstellung, dass sich die Erde erst vom Wasser abscheiden muss, damals von den Assyrern übernommen: Wenn ich an den Irak denke, wie schnell dort das Grundwasser steigt, ist es beeindruckend, wie sich die Menschen damals die Entstehung der Welt erklärt haben. Will ich das Thema jedoch zeitgemäß darstellen, dann komme ich nicht um die Erkenntnis herum, dass die ersten Elemente Helium und Wasserstoff waren – und dann ein bisschen Beryllium und ein bisschen Lithium dazu kamen. Wenn hier die Entwicklung gestoppt hätte, dann hätten wir heute nur diese vier Elemente. All dies sind Versuche, sich der Entstehung in einem gewissen Sinn ›haptisch‹ zu nähern. Dennoch zeigt es, dass das Ganze, also was die Kosmologie betrifft, eigentlich nur in einem großen Maße Konstrukte sind. Ja gut, es gibt Aufnahmen von Teleskopen, die aber sind immer nur mittelbar und statistisch verwertbar – es fallen viele Wirklichkeitsbereiche aus. Aus diesem Grund treibt mich die Frage um: In welchem Moment werde ich dessen als Mensch mit meinen Sinnen habhaft? Und das ist ziemlich spät. Gemäß Theorie durchdrangen 380.000 Jahre nach dem Urknall Lichtphotonen erstmals den glosenden Nebel des Universums, deren Licht-Wellen – wieder die Wellen! –, bis sie uns heute erreichen, so sehr an Energie verloren haben, dass sie Radiowellen geworden sind: zum sogenannten Hintergrundrauschen. Und dieses Hintergrundrauschen macht nun ein Prozent des Rauschens aus, das man beim Flimmern im Fernsehen sieht oder in der Statik eines Radios hört. Dies zu wissen, verändert mein Weltbild. Stimmt diese Theorie aber nicht, dann höre ich einfach nur Rauschen, aber eben kein kosmisches Hintergrundrauschen. Aber selbst wenn diese Theorie stimmt, ist es schwer, das eine Prozent bewusst herauszuhören – dieses Licht, das immer kälter wird, bis es hörbar wird. Ist das in seiner wissenschaftlichen Korrektheit auch ein essentiell poetischer Gedanke? Und hier wirft sich dann die Frage auf: Inwieweit ist das theoretische Wissen auf uns übertragbar? Sie bekommt dazu eine ganz seltsame, eigentlich religionsstiftende Dimension: Beziehungen zwischen uns und dem Kosmos herzustellen, war immer das Privileg der Religion. Ich

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selbst bin Atheist. Wenn man versucht, sich das Weltbild mit astrophysikalischen Mitteln zu entschlüsseln und dann zum Menschen in Bezug zu setzen, dann überkommt einen ein gewaltiger Schauder. Stellen wir uns alleine vor, dass das Fernste, was man mit den eigenen Augen sehen kann, bloß unsere Nachbargalaxie ist – die Andromedagalaxie . . . Diese Größenverhältnisse sind sinnesübersteigend. Heydenreich: Noch einmal zu Ihrem eigenen Projekt: Was wird es und als was ist es gedacht? Schrott: Ja nun, das soll eine epische Form sein, wobei das immer noch relativ offen ist. So wie Homer als Langgedicht zu erzählen, ist fast nicht möglich, hierfür gäbe es wohl kein Interesse. Auf der anderen Seite ist es gerade die poetische Form, die sehr vieles prägnant auf den Punkt bringen kann. Prosa hingegen tendiert zu Dramaturgie und auch zu Geschwätzigkeit: Aber mit Dramaturgie kommt man dem Universum schlecht bei – außer man setzt einen Weltschöpfer voraus. Es geht ja um Bestandsaufnahmen: darum, Beziehungen herzustellen, zu definieren, zu sehen. Die Widersprüchlichkeiten, auf die man dabei stößt, stellen das eigentliche Faszinosum dar. Um es anschaulich zu formulieren, dazu brauche ich eine poetische Sprache. Wenn ich etwas für mich wirklich begreifen möchte, dann brauche ich dafür Bilder, Vorstellungen, Metaphern und Vergleiche. In ihnen kann ich die Themen pointieren – und dem Ganzen auch wieder seine Ambivalenzen und Paradoxien zurückgeben. Es wird zumindest suggeriert. Doch dann habe ich ein Buch mit tausend Seiten – und wer liest es dann? Keiner. Heydenreich: Aber das wird dann bleiben. Schrott: Ja, ob es bleibt, das wäre die Frage . . . Bücher versteinern schlecht. Mecke und Heydenreich: Vielen Dank, Herr Schrott, für dieses Gespräch und für diesen spannenden Ausblick auf zukünftige physikalisch-literarische Wechselwirkungen!

Zum Autor Raoul Schrott – Jahrgang 1964 – wächst in Tunis und Landeck/Tirol auf. Nach seiner Matura 1981 studiert er Literatur- und Sprachwissenschaften in Innsbruck, Norwich und Paris. 1988 promoviert er an der Universität Innsbruck mit einer Arbeit über »Dada 1921–1922 in Tirol«. 1990 geht Schrott nach Neapel, um am dortigen Istituto Orientale für die nächsten drei Jahre als Lektor für Germanistik zu arbeiten. 1996 habilitiert er sich schließlich mit einer Arbeit über Vergleichende Poetik am Innsbrucker Institut für Komparatistik.

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Zu diesem Zeitpunkt hat sich der Dada-Experte und Sprachwissenschaftler längst einen Namen als Schriftsteller gemacht. Schon 1989 erscheint sein erster eigener Gedichtband – »Makame«. 1995 folgt ein weiterer, »Hotels«. Dazu sein Romandebüt »Finis Terrae«. Nach der Anthologie »Die Erfindung der Poesie« (1997), die zu einem lyrischen Bestseller wird, veröffentlicht Schrott 1998 dann den Gedichtband »Tropen« – ein poetisches Traktat über das Erhabene, in dem die physikalische Optik und die Quantentheorie in besonderer Weise poetisiert werden. 2011 schreitet der Literaturwissenschaftler Schrott – gemeinsam mit dem Hirnforscher Arthur Jacobs – in dem Band »Gehirn und Gedicht« noch einmal ein ganz eigenes Feld ab. »Gehirn und Gedicht« versucht auf über 500 Seiten das rhetorische System der Lyrik aus kognitionswissenschaftlicher Perspektive zu erklären, Poetik und Hirnforschung kurzzuschließen.

Zitierte Literatur »Einige ganz private Überlegungen zur Literatur und den eigenen Anfängen«. In: Raoul Schrott: Die Erde ist blau wie eine Orange. Polemisches, Poetisches, Privates. München: dtv, 1999. 115–149 • (mit Arthur Jacobs) Gehirn und Gedicht. Wie wir unsere Wirklichkeiten konstruieren. München: Hanser, 2011 • Finis terrae. Ein Nachlaß. Frankfurt a. M.: Fischer, 2009 (zuerst: Innsbruck: Haymon, 1995) • »Physikalische Optik I–V«. In: Raoul Schrott: Die Erde ist blau wie eine Orange. Polemisches, Poetisches, Privates. München: dtv, 1999. 154–168 • Tropen. Über das Erhabene. Frankfurt a. M.: Fischer, 2002 (zuerst: München: Hanser, 1998) • »Über die Symmetrie der Poesie«. In: Raoul Schrott: Die Erde ist blau wie eine Orange. Polemisches, Poetisches, Privates. München: dtv, 1999. 29–48 • »Über Schrödingers Katze«. In: Raoul Schrott: Die Erde ist blau wie eine Orange. Polemisches, Poetisches, Privates. München: dtv, 1999. 49–73.

Weitere Quellen Erste Erde Epos. http://www.br.de/radio/bayern2/sendungen/hoerspiel-und-medienkunst/ hoerspiel-pool/raoul-schrott-erste-erde-epos-100.html. Hörspielreihe von Raoul Schrott: Bayerischer Rundfunk, 2013 – (17. März 2015) • Raoul Schrott im Gespräch mit Markus Lisker, Jochen Liske und Alexander Unzicker: Poesie, Riesenteleskope und Kosmologie. http://www.br.de/radio/bayern2/sendungen/hoerspiel-und-medienkunst/artmix-gespraech/ raoul-schrott-im-gespraech100.html. Dreiteilige Gesprächsreihe: Bayerischer Rundfunk, 2011 (17. März 2015).

Mit Raoul Schrott sprachen der Physiker Klaus Mecke und die Literaturwissenschaftlerin Aura Heydenreich am 14. Mai 2012 in Bregenz.

Aura Heydenreich und Klaus Mecke

Romane schreiben wäre eine Lösung. Über die Vernetzung von Naturwissenschaft und Literatur Ulrich Woelk im Dialog zu »Freigang«, »Die Einsamkeit des Astronomen«, »Joana Mandelbrot und ich« Heydenreich: Sie beschäftigen sich mit den Beziehungen zwischen Physik und Literatur bereits seit sehr langer Zeit. Wie zahlreichen Essays und fiktionalen Prosatexten zu entnehmen ist, begleitet Sie diese Thematik schon seit vielen Jahren. Seitdem 1990 Ihr Roman »Freigang« erschienen ist, ist Ihre Begeisterung für diese beiden augenscheinlich diametral entgegengesetzten Themenbereiche auch uns und einem breiten Publikum bekannt. Könnten Sie uns wichtige Stationen und Wegmarken Ihres Denkens über dieses Verhältnis schildern? Woelk: Nun, die naturwissenschaftliche Ebene und das Interesse daran waren bei mir schon immer da – auch im Hinblick auf meine schulische Laufbahn. Das Geschichtenerzählen kam dann durch meine Beschäftigung mit Literatur, wie zum Beispiel mit dem »Steppenwolf« im Alter von 14, 15 Jahren hinzu. Man fängt natürlich nicht gleich an, über diese beiden Bereiche in ihrer umfassenden Komplexität nachzudenken. Zunächst war dies mehr eine friedliche Koexistenz zweier Materien, die mich faszinierten. Ich begann dann auf der einen Seite die kanonischen Werke der Literatur zu lesen, auf der anderen Seite habe ich Physik studiert und dann sehr bald aber angefangen, selbst literarisch zu arbeiten. Dies natürlich immer unter Vorbehalt, denn retrospektiv gesehen haben jene Texte, die in der Anfangszeit entstanden, natürlich noch nicht das Niveau, das man später an sich selbst stellt. Jedenfalls waren schon immer die Versuche da, mit Texten zu arbeiten. Dazu kam eine intensive Beschäftigung mit der europäischen Philosophie. Die Verbindung zwischen Physik und Philosophie ist offensichtlich, weil sich diese beiden Bereiche mit der Konstitution der Welt befassen, um diese irgendwie in den Griff zu bekommen. Für mich war klar, dass zwischen den beiden Gebieten eine enge Verbindung besteht. So habe ich zunächst in diesen Disziplinen danach gefahndet, wie sich möglicherweise philosophische Aspekte in physikalischen Sachverhalten und Theorien wiederfinden – und umgekehrt. Als Stichwort möchte ich hier die Quantenmechanik nennen – ein Thema, das bis heute aktuell ist. Die Frage nämlich, inwieweit wir durch unsere Anwesenheit als Beobachter die Welt in ihrer Art verändern. Ohne jetzt tiefer darauf eingehen zu wollen, ist bei der Beschäftigung mit solch elementaren physikalischen Fragen der Weg zur Philosophie schnell eingeschlagen. Mit Philosophie habe ich mich in

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den kommenden Jahren dann in einem parallelen Studium sehr intensiv befasst. Das Schreiben begann während dieser Phase der intellektuellen Auseinandersetzung mit den Bereichen Physik und Philosophie. Als ich dann so weit war, mich ernsthaft literarisch zu artikulieren, lag es nahe, in meinem ersten Roman ein Thema aufzugreifen, das mich bereits dreißig Jahre lang beschäftigt hatte und mir auf der Seele brannte. So führte kein Weg daran vorbei, dass auch das Thema Physik in »Freigang« eine Rolle spielen würde. Diese Auseinandersetzung, die ich über lange Zeit geführt habe, musste in irgendeiner Form in das literarische Werk miteinfließen. Dennoch kam ich nicht umhin, das Schreiben an sich lernen zu müssen, denn dies ist definitiv etwas anderes als Philosophie. Der Literat hat den Kern seiner Ideen in Geschichten zu erzählen. Es mag essayistische Literatur geben, deren Hauptgewicht auf Reflexion liegt, mir jedoch war relativ früh klar, dass ich meine literarischen Werke nicht zu sehr mit gedanklichen, essayistischen Strukturen anfüllen wollte. Ich bin zwar bis heute essayistisch tätig, aber Literatur war für mich doch stets ein erzählendes Medium, bei dem es um die Bildung von Charakteren geht. Am Ende dieses langjährigen Prozesses stand schlussendlich der Roman »Freigang«, in dem der ganze thematische Komplex zu einer eigenen Form gefunden hat. Heydenreich: Wann wurde Ihnen klar, dass Sie lieber das Schreiben als die Physik zu Ihrem Beruf machen möchten? Woelk: So eindeutig sagen kann man dies wohl nicht; denn ich würde für mich bis heute reklamieren, beides geblieben zu sein: sowohl Schriftsteller als auch Physiker. Doch das Leben und die Welt verlangen von einem ab einem gewissen Punkt, sich für einen Weg zu entscheiden, schon allein aufgrund der materiellen Existenz. Deshalb musste ich rein pragmatisch eine Entscheidung treffen. Immerhin hatte ich über einen Zeitraum von knapp acht Jahren zunächst promoviert und dann als Postdoc gearbeitet. In all dieser Zeit habe ich aber auch immer geschrieben. Es entstanden seinerzeit zwei Romane und der Beginn eines dritten, »Amerikanische Reise«, und außerdem ein Theaterstück. Ich hatte damals die Möglichkeit, in Göttingen zu habilitieren. Das war der Moment in meinem Leben, in dem mir bewusst wurde, mich für einen Weg entscheiden zu müssen. Denn eine Habilitation hätte die Konsequenz gehabt, mich nicht länger in dem Maß und mit der Intensität auf meine literarischen Werke konzentrieren zu können, wie ich das gerne gewollt hätte, sonst hätte die Habilitation wohl zu nichts geführt. Natürlich ist eine so weitgreifende Entscheidung keine leichte. Dennoch habe ich die Entscheidung für die Literatur getroffen und denke bis heute, die richtige Option gewählt zu haben. Dass es im Rückblick immer wieder Momente gibt, in denen ich zweifle und über den alternativen Weg nachdenke, ist verständlich. Heute hat

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sich das Verhältnis dieser beiden Seelen in meiner Brust in einen ausgeglichenen Zustand eingependelt. Mecke: Was war der Auslöser, der Sie dazu bewog, die Seiten zu wechseln? Woelk: Da möchte ich gar nicht drumherum reden – der Antrieb, mich literarisch zu äußern, war dann eben doch im Kern stärker. Hier konnte ich meine spezielle Form von Kreativität stärker einbringen, als ich es in der Physik gekonnt hätte. Mecke: Wie bereits erwähnt, ist Ihr Roman »Freigang« 1990 erschienen. Haben Sie seither den Eindruck, dass sich Ihr Denken bezüglich Physik und Literatur durch den schöpferischen Prozess geändert hat? In Ihrem Vortrag zu »Literatur und Physik« erwähnten Sie 1993, dass Sie dieses Verhältnis früher mehr antithetisch formuliert haben und nun eher verbindende Elemente suchen. Wie sehen Sie dieses Verhältnis heute? Woelk: Natürlich liegt dem Ganzen ein langer Prozess zugrunde. Nachdem ich »Freigang« geschrieben hatte, bekam ich innerhalb des Literaturbetriebs schnell ein Etikett verpasst: der schreibende Physiker. Verständlich, denn tatsächlich dürfte diese Kombination nicht so häufig zu finden sein. Dies hat dann auch zu skurrilen Bewertungen geführt, zum Beispiel bei »Rückspiel«, ein Werk bei dem die Physik keine Rolle spielt. Die Kritik schien darüber überrascht, denn man hatte wohl erwartet, abermals einen gewichtigen Teil Physik darin zu finden. Ich hatte für mich zunächst aber entschieden, dass ein Teil dessen, was ich dazu zu sagen hatte, mit »Freigang« und einigen Essays abgeschlossen sein sollte. Das Thema sollte zunächst einmal ruhen. Darum habe ich dann auch in »Rückspiel« und in »Amerikanische Reise« den thematischen Faden Physik nicht mehr zentral verfolgt. Als jedoch mein Vater vor zehn Jahren verstorben ist – ein natürlich einschneidendes Erlebnis – setzte sich die Idee in meinem Kopf fest, auch literarisch auf dieses Ereignis zu reagieren. Der Roman »Freigang« beginnt mit dem Satz: »Ich habe meinen Vater umgebracht.« (Freigang, 7; im Folgenden: F) Da sieht man sehr schnell die Verbindung und so entstand die Idee zum Roman »Die Einsamkeit des Astronomen«. Ich dachte, ich kann den Tod meines Vaters literarisch am besten reflektieren, wenn ich wieder in die Rolle des Frank Zweig aus »Freigang« schlüpfe. Zudem war die Figur Frank Zweigs für mich auch deshalb von großem literarischen Reiz, weil ich ihn in meiner Imagination einen anderen Lebensweg einschlagen lassen konnte als jenen, den ich selbst beschritten hatte; somit nicht den Weg des Schriftstellers, sondern die Verzweigung hin zum Weg des Physikers. Das hat mir literarisch großes Vergnügen bereitet, setzte aber auch den Themenfokus zurück auf den Bereich Physik. Im Einstein-Jahr 2005 hatte ich dann die Idee zu einer Erzählung, in der ein Taucher wissenschaftliche Unterlagen von Albert Einstein im Templiner See ver-

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mutet – Einstein hatte dort vor 1933 ein Ferienhaus und war passionierter Segler. Das war nicht ganz ernst gemeint, aber eine wunderbar schräge Spekulation für eine Erzählung. Meine Agentin und ich überlegten, welcher Verlag das Buch veröffentlichen könnte, und der Deutsche Taschenbuch Verlag zeigte großes Interesse. Der Verlag war über Jahre hinweg als reiner Taschenbuchverlag bekannt, suchte damals aber nach Erstveröffentlichungsrechten. Und da dtv die Idee gefiel, den Fokus verstärkt auf Physik in Romanen zu setzen, wurde von Seiten des Verlags angefragt, ob ich nicht drei Romane ausarbeiten könnte, in die physikalische Ideen eingewebt werden könnten. Das fand ich sehr reizvoll, doch was bedeutete dies für mich? Ich dachte nach, welche Theorien es gibt, die für das zwanzigste Jahrhundert bedeutend waren. Erstens die Relativitätstheorie, zweitens die Quantenphysik und als drittes kam mir die mittlerweile prominent gewordene Chaostheorie in den Sinn. Gerade diese Theorie birgt eine große Metaphorik in sich und ist über die Reihen der Theoretiker hinaus in die Ästhetik und das Bewusstsein der Allgemeinheit gedrungen. So kam es dann schlussendlich zu den drei ›Physik-Romanen‹: »Einstein on the Lake«, »Schrödingers Schlafzimmer« und »Joana Mandelbrot und ich«. Heydenreich: Relativitätstheorie – Quantentheorie – Chaostheorie. Welche waren denn die Kriterien, wie haben Sie sich für diese Theorien entschieden? Woelk: Sie sind für mich im physikalisch-mathematischen Bereich die drei wesentlichen Theorien der Gegenwart. Am Anfang des Jahrhunderts Relativitätstheorie und Quantenphysik und am Ende des Jahrhunderts die Chaos- oder besser Komplexitätstheorie, wobei man hinzufügen muss, dass es sich bei Letzterem um ein ganzes Konglomerat von Theorien, Ideen und Ansätzen handelt. Bei Einsteins Relativitätstheorie ist eine Personalisierung möglich und richtig; schon bei der Quantenmechanik kann man nicht mehr so genau entscheiden, wem man sie zuordnen soll. Durch ›Schrödingers Katze‹ ist der Name von Erwin Schrödinger ein wenig in das allgemeine Bewusstsein gelangt, daher der Name »Schrödingers Schlafzimmer« für den zweiten der drei Romane. Für die Chaostheorie ist es noch schwieriger einen einzelnen Wissenschaftler stellvertretend ins Zentrum zu stellen, aber Benoît Mandelbrot ist mit den ›Apfelmännchen‹ kulturell am stärksten präsent, und ich fand, dass Joana Mandelbrot ein klingender und passender Name für meine Hauptfigur war. So kam das zustande. Mecke: Sie wechselten hierbei also immer zwischen Physik und Literatur hin und her. Dies scheint nicht der Regelfall zu sein, denn viele Autoren bleiben den Gesetzmäßigkeiten der eigenen Wissenschaft verbunden und in deren Normen verhaftet. Sehen Sie Chancen, eine Art dritte Kultur zu etablieren? Lassen sich zumindest Anstöße geben, um eine Synthese beider Bereiche zu ermöglichen?

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Woelk: Wünschenswert wäre eine solche Verschmelzung durchaus. In einem ersten Schritt würde es diverse Kommunikationsbarrieren aufzuweichen gelten. Daran arbeite ich schon sehr lange. Doch einfach ist dies natürlich nicht. Ob der Weg in eine Art dritte Kultur gehen sollte, kann ich dennoch nicht klar beantworten. Solche Kategorisierungen haben etwas Hierarchisches an sich: Wir haben einen ›Block A‹, einen ›Block B‹ und brauchen jetzt noch einen ›Block C‹. Man sollte vielleicht eher in die Richtung einer besseren Vernetzung und Kommunikation denken. Wir haben all diese unterschiedlichen Systeme, doch es gibt keinen Grund, warum man diese nicht vernetzen sollte. Wenn wir das Augenmerk auf eine bessere Verständigung zwischen den verschiedenen Bereichen legen, sind interdisziplinäre Fortschritte zu erzielen. So können sich die verschiedenen Bereiche gegenseitig befruchten. Das klingt alles sehr abstrakt. Eine konkrete Lösung wäre vielleicht: Romane schreiben. Dies war und ist ein Kernanliegen für mich. Mecke: Ich fragte das auch deswegen, weil die Kommunikation viel im Feuilleton stattfindet. Wenn ich zum Beispiel »Joana Mandelbrot und ich« lese . . . Woelk: »Joana Mandelbrot und ich« ist natürlich auch eine Medienpersiflage, die meine Erfahrungen mit der Welt der Feuilletons zum Ausdruck bringt. Diese werden, zugegeben, durchaus abstrus geschildert. Im Normalfall treten die Feuilletonisten leider selten mit der Bitte an Naturwissenschaftler heran, etwas Wissenschaftliches zu schreiben. Natürlich kann dies bei großen Ereignissen der Fall sein; so zum Beispiel als der LHC-Teilchenbeschleuniger am europäischen Kernforschungszentrum CERN in Betrieb genommen wurde. Bei derartigen Medienereignissen kann dann doch einmal die Anfrage an einen Physiker und Schriftsteller herangetragen werden, darüber zu schreiben.

Physikalische Metaphorik, literarische Poetik Mecke: Stört es Sie als Schriftsteller, wenn Sie in anderen Werken physikalische Metaphorik entdecken, welche Ihnen von wissenschaftlicher Seite aus nicht ausgereift scheint? Woelk: Global kann man das nicht beantworten. Als gutes Beispiel kann Thomas Pynchon genannt werden, der ebenfalls ausgebildeter Physiker ist. In seinem Werk »Gravity’s Rainbow« werden physikalische Sachverhalte in zum Teil geradezu burleske Zusammenhänge gesetzt, was durchaus einen gewissen Reiz in sich birgt. Diese Texte erheben aber nicht den Anspruch, Welterklärungen zu liefern, sondern nutzen schlicht die Physik als Spielmaterial. Sobald man jedoch Physik auf wissenschaftlicher Ebene in Literatur umsetzen möchte – oder um-

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gekehrt –, werde ich hellhöriger und frage tiefgründiger nach: Was wird denn hier tatsächlich gemacht? Was liegt hier tatsächlich an Wissenschaftlichem vor? Aus meinen persönlichen Erfahrungen weiß ich, wie schwer und zweischneidig es sein kann, Physik und Literatur zu kombinieren, weil Missverständnisse und Fehlinterpretationen vorprogrammiert sind. Mecke: Sie verwenden in Ihren Werken eine ganze Reihe physikalischer Metaphern und haben mit dem Material der Sprache gleichermaßen als Physiker wie als Schriftsteller gearbeitet. Lässt sich die physikalische Metaphorik für die literarische Poetik fruchtbar machen? Und haben Sie für sich hierbei gewisse Techniken oder Schreibmöglichkeiten entwickeln können? Woelk: Spezielle Techniken habe ich nicht. Oft entstehen Sprachbilder aus einem Gefühl heraus: Was könnte passen, was könnte funktionieren? Etliche meiner Ideen werden später dann doch wieder gelöscht. Der Leser weiß ja nicht, wie meine Ursprungsversion ausgesehen hat. Da ich sehr selbstkritisch mit meinen Texten bin, muss zuvor mehr erarbeitet werden, als später in meinem Werk erscheint. In »Freigang« schrieb ich mit einem Augenzwinkern: Literatur sei nichts für Physiker, sondern nur für Leute, die zu viel Zeit haben. Und in dieser Formulierung steckt durchaus ein tieferer Hintergrund. Schließlich kann die Literatur nicht alle Aspekte der Welt erfassen; man kann niemals so viel lesen, wie Welt existiert. Und so viel schreiben auch nicht. Der Satz funktioniert als Überspitzung für mich auch heute noch nach über zwanzig Jahren. Heydenreich: Die Physik zu poetisieren scheint eine Herausforderung zu sein. Hierbei mag es verschiedene Möglichkeiten geben: Man kann physikalische Zusammenhänge inhaltlich thematisieren, man kann Motive aufgreifen, Metaphern einsetzen oder Physiker als Figuren auftreten lassen. Können Sie für die spannende Transformation von Prinzipien physikalischer Theorien in narrative Strukturen Beispiele aus Ihrer eigenen Arbeit nennen? Vielleicht in dem Roman »Schrödingers Schlafzimmer«? Woelk: Ja, hierfür kann ich gleich ein ganz konkretes Beispiel nennen; eine Stelle, in der so eine Transformation nachvollziehbar vorliegt – auch wenn es bisher keiner gemerkt hat. Es geht um eine Szene in »Schrödingers Schlafzimmer«. Der Roman ist auf der vorderen Erzählebene eine ganz normale Ehegeschichte. Eine Ehe, die nicht mehr recht funktioniert und in deren Nachbarschaft die etwas sonderbare Figur des Herrn Schrödinger auftaucht, ein Zauberer, der einen Raum in seinem Haus hat, um den er ein großes Gehabe macht – natürlich sein Schlafzimmer – und den niemand außer ihm selbst betreten darf. Auf dem Höhepunkt des Romans wird die gleiche Sequenz zeitlich zweimal erzählt; sowohl aus der Sicht des Ehemanns als auch aus der Sicht seiner Frau. Der Mann stolpert betrunken zum Schrödinger’schen Haus und dringt in das geheimnisvolle Zimmer

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ein. Dort findet er eine ganz üppige Szenerie mit drei weltberühmten Heldinnen aus der Geschichte vor: Salome, Tullia d’Aragona und Mata Hari. Und er lebt in dem Zimmer eine etwas schwülstige Sexualphantasie aus. Doch im Anschluss daran wird die gleiche Szene noch mal aus der Sicht der Frau erzählt, die ebenfalls zum Schrödinger’schen Anwesen fährt. Und das Ganze ist so gebaut, dass sie sich im Grunde zur selben Zeit in demselben Raum aufhält wie ihr Mann. Doch diesmal steht in dem Zimmer nur ein Feldbett, und es ist alles abgeräumt und karg. Sie folgt nun ihrer heimlichen Leidenschaft für den Zauberer und erfährt hierbei allerdings von seiner Homosexualität. An einer anderen Stelle des Romans bin ich sogar so weit gegangen, dass eine Szene – diesen Spaß habe ich mir gemacht –, eine Unterhaltung auf einer Party, zweimal erzählt wird; im Dialog absolut wortgleich, lediglich einmal aus der Perspektive der Frau und einmal aus der des Mannes. Beide sagen exakt das Gleiche, die Interpretation des Dialogs ist bei beiden jedoch eine völlig andere. Nun gut, dies ist jedenfalls ein Beispiel für das Umsetzen von Quantenparadoxa, für die Viele-Welten-Theorie, dafür, dass sich die Welt verzweigt und in viele einander widersprechende Realitäten aufspaltet, die parallel nebeneinander existieren. Diese Art der Erzählkonstruktion mag ich. Eigenartigerweise wurde ich bis heute darauf noch gar nicht angesprochen. Die Leute nehmen das Buch und lesen es – dabei mögen sie es als gut oder weniger gut ansehen –, aber die gedankliche Konstruktion dahinter fällt eigentlich bis in die Rezensionen gar nicht auf. Was mich insofern, besonders an dieser Stelle, gewundert hat, als sich der Dialog der Eheleute im Roman ja tatsächlich wortgleich wiederholt. Ein gründlicher Leser dürfte nicht umhinkommen zu bemerken, diese Stelle bereits gelesen zu haben. Würde er zwanzig Seiten zurückblättern, dann würde er natürlich sofort merken, dass es sich um genau die gleiche Szene handelt – nur eben jetzt aus einer anderen Perspektive und mit völlig anderen Konsequenzen. Dies möchte ich aber gar nicht negativ gewertet verstehen. Ich schreibe diese Romane nicht, damit irgendwer die Texte – einem Kreuzworträtsel gleich – aufschlüsselt und sagt: Ah! So wurde das also gemacht! Dies mag vielleicht eine Art Zusatzvergnügen für jemanden sein, der quantenphysikalisch versiert ist. Aber im Grunde genommen sollen die Romane auch auf der normalen Ebene des Story-Erzählens funktionieren. Mecke: Haben Sie ähnliche physikalisch inspirierte narrative Strukturen auch in Ihren beiden anderen Texten »Einstein on the Lake« und »Joana Mandelbrot und ich« verwendet? Woelk: Nun, bei »Joana Mandelbrot und ich« liegt der Fokus auf dem Schmetterlingseffekt der Chaostheorie. Wäre die Hauptfigur der Erzählung zum Beispiel eine Minute früher aus dem Büro ihrer Literaturagentin hinausgegangen, dann wäre ihr ein Kritiker nicht über den Weg gelaufen – und sämtliche Verzweigungen der

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Geschichte wären vollkommen anders verlaufen. Auf dieser Grundidee basierte die Erzählung. Bei »Einstein on the Lake« hingegen inspirierten mich physikalische Strukturen nur am Rande, dafür aber die – wenn man so will – Metaphorik der Theorie. In dieser Geschichte gab es, wie gesagt, die Grundidee, dass ein Jurist nach dem Vermächtnis Einsteins im Templiner See bei Potsdam taucht. Einstein – so seine Überlegung – hätte, bevor er Deutschland verlassen hat, wichtige Schriftstücke in einer wasserdichten Kiste im See versenkt, damit sie nicht in die Hände der Nazis fallen würden. In der Erzählung gibt es viele augenzwinkernde Verweise auf die Relativitätstheorie. So heißt es zum Beispiel, dass der Ortsname Templin, aufgeschlüsselt in Buchstaben, ungefähr die Einstein’sche ›Atombombenformel‹ e = mc2 enthält. Manche schmunzeln über eine solche Stelle, aber es gibt auch Leser, die die Ironie nicht erkennen und deswegen verärgerte Briefe schreiben und erklären: Einstein habe sich dergleichen so nie überlegt und wie ich denn überhaupt darauf käme, so etwas zu behaupten! Aber vielleicht ist ja auch das ein Beispiel für die Ambivalenz der Realität in der Quantenphysik: Zwei lesen das Gleiche und interpretieren es völlig anders. Mecke: An dieser Stelle möchte ich kurz nachfragen: Wenn ich als Physiker ein Buch mit dem Wort ›Mandelbrot‹ im Titel lese, dann habe ich eine bestimme Erwartung an das Buch; ich suche nach Selbstähnlichkeit. So zum Beispiel in der Kaskade aus Verträgen. Was ich persönlich dann aber auch gesucht habe, war, dass Texte ineinander geschachtelt wurden. Haben Sie dergleichen bewusst versucht? Woelk: Nein, in diesem Fall nicht. Das einzige Experiment, wenn man so will, war in »Schrödingers Schlafzimmer« dieselbe Szene aus verschiedenen Blickwinkeln zu inszenieren. Aber lassen Sie mich zu einem anderen Beispiel kommen, auch wenn Sie es vielleicht nicht kennen: Es gibt von mir ein Hörspiel namens »Der Mann im Mond« über den umstrittenen deutschen Raketeningenieur Wernher von Braun. Es wurde 2012 anlässlich seines hundertsten Geburtstags gesendet. Die Vorlage für dieses Hörspiel ist ein Opernlibretto, das ich über ihn und seinen Traum von der Eroberung des Weltraums geschrieben habe. Leider ist bisher nur die Ouvertüre uraufgeführt worden. Der Opernbetrieb ist hermetisch und nicht sehr experimentierfreudig, und sowohl der Komponist als auch ich sind da Quereinsteiger. Aber was nicht ist, kann ja noch werden . . . Doch wie auch immer: Das Leben Wernher von Brauns dramaturgisch stimmig zu erzählen, war eine lohnende Herausforderung. Seine Biographie chronologisch zu erzählen – also zuerst seine Konstruktion der V2-Waffe in Deutschland und dann die erfolgreiche Mondlandung der Amerikaner –, wäre langweilig gewesen und wegen der Problematik seiner historischen Verstrickung in die Kriegsmaschinerie der Nazis auch nicht überzeugend. Eine einfache Heldengeschichte daraus zu spinnen, mit Verfehlung und Läuterung, also die Abkehr von der Politik der NS-Zeit hin zu

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einer demokratischen Einstellung, hätte die Figur nicht passend getroffen. Von Braun war ein Opportunist – wenn auch als Ingenieur und mehr noch wohl als Manager und Organisator ein Genie. Ganz gezielt hat er nach den Stellen gesucht, die Gelder für seinen Raketenbau locker machen würden. Darum würde eine reine Heldengeschichte seinem durchaus facettenreichen Charakter nicht gerecht werden. So kam ich schließlich auf die Idee, die Geschichte chronologisch rückwärts zu erzählen. Die Geschichte beginnt nun mit Wernher von Brauns Tod auf dem Mond und endet schließlich bei seiner Kindheit. Das Libretto besteht aus elf Szenen aus seinem Leben, einem Countdown gleich: von zehn runter zu null. Die Grundidee empfand ich schon als recht ansprechend, da eine sinnfällige mathematische Struktur eingebaut war. In einer der Szenen unterhält sich von Braun mit seiner Frau. Beide haben dabei nur fünf Sätze – Standardsätze, in denen im kurzen Wechsel Floskeln ausgetauscht werden: über den richtigen Sitz der Krawatte, den Verlauf der bevorstehenden Geburtstagsfeier oder das Aussehen des Mondes. Diese fünf Kernsätze habe ich nummeriert und den Nachkommastellen der Kreiszahl π folgend nacheinander angeordnet. Dies lief dann bis zur sechzigsten Stelle von π – also die Sätze werden beständig wiederholt – die geraden Zahlen bekam ›sie‹, die ungeraden ›er‹ – und siehe da: Es funktionierte. Zusammen mit der Musik wirkt diese Stelle enorm authentisch. Die beiden Eheleute reden wahrhaft im Kreis, sie reden aneinander vorbei. Solche versteckten Konstruktionselemente mag ich sehr. Warum ich das Ganze erzähle? Nun, immer wieder habe ich solche Zahlenspiele in meinen Texten. In der textuellen Struktur eines Opernlibrettos kann man dies aber ganz besonders wunderbar einflechten. Ich habe es zwar noch nicht beweisen können, bin aber überzeugt, dass es sehr gut funktioniert. Übrigens ist diese Stelle auch in dem Hörspiel zu finden; in verkürzter Form allerdings, da dies sonst ohne die immer wieder aufs Neue nuancierende Musik repetitiv wirken würde. Bei Prosatexten finde ich es schwieriger, in die Textstruktur mathematisch strukturell einzugreifen. Würde man sich hier zu sehr binden und sagen, hier möchte ich solche strukturellen Dinge einbauen, könnte es schnell trocken oder künstlich wirken. Bei Lyrik ginge es sicherlich. Beim Erzählen steht für mich die Geschichte im Vordergrund. In »Die Einsamkeit des Astronomen« kann man aber sehen, wie man thematische Blöcke setzt, schachtelt und Dinge aufeinander bezieht. Das geht und schließt Konstruktionsprinzipien nicht aus. Ich glaube, es gibt sogar eine Arbeit über »Freigang«, die zeigt, wie viele verschiedene Blöcke es zahlenmäßig überhaupt gibt und wie sich diese aufeinander beziehen. Aber bis hinunter in die Textstruktur – in die Sätze selbst – habe ich dies in der Prosa bisher noch nicht gemacht.

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Mecke: Erwarten Sie von Ihren Lesern, dass sie solche Konstruktionsprinzipien auch erkennen? So zum Beispiel in »Joana Mandelbrot und ich«? Fast fühlte ich mich dazu animiert, kabbalistische Spiele mit den Namen des Erzählers und der Figuren zu vollziehen . . . Woelk: Das hätten Sie auch tun können. In der Tat sind alle Namen Anagramme. An dieser Stelle haben Sie mich erwischt. Die Namen beziehen sich auf bekannte Mathematiker – auf ein paar der Namen bin ich sogar richtig stolz. Lassen Sie mich kurz überlegen: zum Beispiel der italienische Restaurantbesitzer, Salvatore Egisi, dessen Namen sich aus den Buchstaben des französischen Mathematikers Évariste Galois zusammensetzt. Als ein anderes Beispiel wäre noch der holländische Doktorand, Alex Fruidhoffs, zu nennen, hinter dem sich Felix Hausdorff verbirgt, der Entdecker der nicht-ganzzahligen Hausdorff-Dimensionen. Damit habe ich jedenfalls ein bisschen rumgespielt. Heydenreich: In »Joana Mandelbrot und ich« inszeniert der Erzähler ein raffiniertes Spiel der vierfachen fiktiv-konstruierten Autorschaftsidentitäten, die unterschiedliche Rollen erfüllen: Das öffentliche visuelle Image wird von dem jugendlichen Doktoranden Fruidhoffs geprägt, der von einer Profifotografin gekonnt in Szene gesetzt wird. Dieses öffentlich-mediale Image unterscheidet sich jedoch erheblich vom epistemologischen Profil des Autors als Mathematikprofessor. Der Stoff wiederum entstammt den Erfahrungen einer Edelprostituierten. Die Rolleninszenierung geht so weit, dass für die Hauptfigur selbst Fiktionales und Reales nicht mehr zu unterscheiden ist. Dazwischen geschaltet wird immer wieder die mathematische Figur der Selbstähnlichkeit. Welche Rolle spielt die Selbstähnlichkeit im verwirrenden Verhältnis zwischen Realität und Fiktionalität der narrativen Selbstrepräsentation der Hauptfigur? Woelk: Nun, bei der Umsetzung der Buch-im-Buch-Idee merkte ich selbst, dass mir das alles zu kompliziert wird. Wer schreibt hier eigentlich was – wer über wen? Das war eine Frage, die ich mir spätestens dann stellen musste, als neben mir als Autor und meinem Protagonisten auch noch Joana, die Titelheldin, anfing, einen Roman über das alles zu verfassen. Da habe ich mich dann doch dafür entschieden, dieses Spiel nicht weiterzutreiben und meinem Helden ein ganz normales biographisches Ende zu gönnen, anstatt ihn sozusagen in einem unendlichen literarischen Regress aufzulösen. So erklärt sich dann auch seine Internetbeziehung, die dann schließlich real wird.

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Erkenntnisweisen von Physik und Literatur Mecke: Was ich aber sehr schön finde bei »Joana Mandelbrot«: Sie lassen den Erzähler praktisch glücklich enden. Er beobachtet seine Tochter, wie sie schaukelt, und betrachtet es als Glück, mit dem zu spielen, was ihr noch ein Rätsel ist. Das ist in gewisser Weise diese Freude an Erkenntnis oder auch diese Freude an Naturwissenschaft. Würden Sie auch Literatur so eine Erkenntnisfunktion zuschreiben? Woelk: Ich weiß nicht, ob man es Erkenntnis nennen sollte. Literatur ist für mich eine Welt, die man mit sehr viel Gewinn entdecken kann. Literarische Werke zu lesen und überhaupt diese Welt für sich aufzuschlüsseln – das ist ein intellektueller Prozess, der etwas mit mir macht, der Freude bereitet und mich verändert. Ganz klar. Nur ob für diese Veränderung und das, was dabei passiert, das Wort Erkenntnis der richtige Ausdruck ist, weiß ich nicht. Es gibt Momente des Erkennens, ja. Oder Momente des Wiedererkennens, wenn man in literarischen Werken etwas liest, das man vielleicht schon einmal erlebt hat, und sich sagt: Ja, genau. Aber literarische Werke funktionieren auf sehr viel mehr Ebenen, Literatur spricht emotionale Affekte an und so weiter – das ist ein klarer Unterschied zur physikalischen oder allgemeinen wissenschaftlichen Erkenntnis. Mecke: Ich kam vor allem deshalb darauf, weil Sie in »Joana Mandelbrot« Ihren Erzähler sagen lassen, dass es diese Barriere gibt, zwischen der Natur und der Welt in uns, und dass es zwei Arten gibt, sich damit auseinanderzusetzen. Es gibt einerseits die Zugangsweise der Wissenschaft, die den distanzierten Blick auf Natur und Welt praktiziert, und andererseits die der Literatur, die einen Vermittlungsweg zwischen der Welt und uns versucht. Woelk: Im Grunde genommen ist es auch so. Ich bin immer gefragt worden: Physik und Schreiben – was hat das denn miteinander zu tun? Das hat doch gar nichts miteinander zu tun. Ich hatte dafür immer zwei Antworten parat, die sich aber widersprechen. Die eine ist, dass man sagt: In gewissem Sinne sind sowohl Literatur als auch Physik eine Art von Weltverarbeitung. Das heißt, wir sind da und beobachten und setzen das in irgendeiner Form um – sei es nun mit der Sprache der Mathematik, wenn man es physikalisch betreibt, oder mit der gesprochenen Sprache. Beides ist eine Form von Welttransformation in ein anderes Medium, und deshalb gibt es dabei etwas, das sich berührt. Andererseits kann man aber auch genau das Gegenteil behaupten: Der Physiker beobachtet und reflektiert die Welt und kondensiert sie in ein mathematisches Modell. Wohingegen der Schriftsteller eigentlich genau in die Gegenrichtung geht: Er erschafft ja überhaupt erst mal Welt. Das heißt, er baut eine ganz eigene Welt aus seinem Geist. Natürlich nutzt er die Beobachtungen bzw. Erfahrungen, die er macht, aber letztlich errichtet er eine Welt, in der andere unterwegs sein können oder nach Strukturen fahnden

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können und so weiter und so fort. Das machen Physiker nicht. Sie dürfen es nicht einmal. Wenn man eine physikalische Theorie hat, dann ist man fertig – man kann dann versuchen, sie besser zu verstehen oder zu erweitern. Oder man kann damit rechnen und sie anwenden. Mecke: Aber gerade Einstein mit seinen Gedankenexperimenten – das kann man ja elaborieren . . . Woelk: Ach, Sie meinen den Roman als aufwendiges Gedankenexperiment! Das ist ja seinerzeit über »Freigang« auch viel geschrieben worden, dass es eine Art von Versuchsanordnung sei, in der man ausprobiert, in die man bestimmte Figuren reinsetzt und schaut, was passiert. Und stimmt – ich habe vorhin selbst behauptet, dass der »Einsamkeit des Astronomen« auch eine Art von Gedankenexperiment zugrunde liegt, die darauf basiert, was gewesen wäre, wenn ich nicht Schriftsteller geworden, sondern Physiker geblieben wäre. Ich möchte aber mit aller Vorsicht darauf hinweisen, dass ich nicht mit dem Ich-Erzähler des Romans verwechselt werden darf, der eine Konstruktion ist, die dazu dient, dem Leser identifikationsstiftende Momente zu bieten und ihn in die Erlebniswelt des Romans hereinzuholen. Heydenreich: Nun sind Sie in der glücklichen Position, dass Sie sich sowohl mit der Physik und mit der Mathematik als auch mit der Literatur beschäftigt haben. In Ihrem Essay »Science-Fiction ohne Plot« von 2002 denken Sie über das Verhältnis von Literatur und Naturwissenschaften nach und sehen die formale Sprache der Physik, ihre Mathematizität, als hohe Hürde, die nur von einer kleinen Minderheit überwunden werden kann. Wie beurteilen Sie das Verhältnis zwischen literarischer Sprache und Mathematik? Schließen sie sich gegenseitig aus? Oder würden Sie es als wichtig erachten, eine poetische Sprache zu schöpfen, die mit künstlerischen Mitteln das auszudrücken versucht, was durch den abstrakten Formalismus der Mathematik nicht anschaulich vermittelbar ist? Woelk: Wahrscheinlich kann man zum Beispiel tatsächlich die Formalismen der Komplexitäts- oder Chaostheorie zur Sprachanalyse verwenden, da wird man vermutlich fündig. Hintergrund der Chaostheorie ist es, mit mathematischen Mitteln komplexe Formen zu beschreiben; und da Sprache und Literatur komplexe Ausdrucksformen sind, würde es mich nicht wundern, wenn der mathematische Apparat Texte zu einem gewissen Teil aufschlüsseln und umgekehrt vielleicht sogar erschaffen kann. So ähnlich wie man den goldenen Schnitt bei Sonnenblumen findet oder Apfelmännchenstrukturen – also Selbstähnlichkeitsphänomene – ganz allgemein in der Natur. Dass man also in literarischen Texten Strukturen findet, die sich auf andere Bereiche beziehen, das kann ich mir vorstellen. Aber ob man Relativitätsphysik literarisch fruchtbar machen könnte, das ist wahrscheinlich schwierig – glaube ich.

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Heydenreich: Bleiben wir noch beim Verhältnis zwischen Sprache und Mathematik. Ihre Figur Zweig findet zu Beginn von »Freigang«, dass das Schreiben als Beschäftigung für einen Physiker Zeitverlust sei. Er begründet das damit, dass die Sprache nicht präzise genug sei, um die Sachverhalte in der gebotenen Komplexität darzustellen. Es geht ihm aber zunächst um die Komplexität der Naturgesetze. Im Verlauf des Romans erkennt er jedoch, dass die hermeneutische Erkundung des Selbst ebenso komplex ist und dass auch hierfür eine differenzierte Sprache unerlässlich ist. Könnte der Roman auch als Plädoyer für eine notwendige Synthese der beiden Erkenntniswege gelesen werden? Woelk: Es ist so, dass jeder Erkenntnisprozess, den Frank Zweig in »Freigang« durchlebt, schon daher zum Scheitern verurteilt ist, weil er nach diesem Erkenntnisprozess nicht mehr der Gleiche ist, der er vorher war – er muss wieder neu anfangen. Und dieser unendliche Regress leuchtet ihm schließlich ein. Auf dieser Ebene kann er verstehen, dass sein Versuch, ein psychologisches System mit seinem Vater im Zentrum aufzubauen, nach dem er sich selbst analysieren kann, zum Scheitern verurteilt ist. In dem Moment, wenn er das Rätsel gelöst hat, ist es schon wieder veraltet. Das ist es, was er am Schluss akzeptieren muss, dass nicht geht, was er versucht hat. Das ist seine Erkenntnis: dass man so nicht weiterkommt. Heydenreich: Wir haben uns auch gefragt, in welchem Verhältnis sein Schreiben zu den Visualisierungsmodellen steht, die er entwirft, und zur Rekonstruktion der Vergangenheit. Ich glaube nämlich nicht, dass er nichts dabei lernt: Davor dachte er, dass er sich alles erklären kann; jetzt lernt er, dass alles viel komplexer ist, als er gedacht hat, und dass der Erklärungsprozess sehr viel mit ihm zu tun hat; während er früher dachte, dass der Prozess nur von externen Faktoren abhängt und nicht von ihm selbst. So verlagert sich der Befragungsprozess in ihn selbst. Woelk: Das ist richtig. Der Vater wäre das externe Motiv schlechthin, und Zweig kommt immerhin dazu, festzustellen, dass er damit nicht weiterkommt. Er kann seinen Vater nicht als zentralen Bezugspunkt für seine eigene psychologische Entwicklung setzen. Das versteht er auch. Es ist ein gängiger Prozess, dass Vater- oder Elternfiguren an einer bestimmten Stelle der Selbstreflexion zentral auftauchen und man sie für vieles verantwortlich macht. Dann ist es notwendig, darüber hinaus zu gehen und zu verstehen, dass es so einfach nicht ist. Banal ausgedrückt: Man kann die Schuld nicht einfach auf diese Weise abwälzen, sondern man ist für sich selbst verantwortlich – das steckt da natürlich drin, das ist wirklich richtig. Mecke: Mir ist noch etwas aufgefallen, das sich jetzt nicht auf Frank Zweig bezieht, sondern auf Bernhard Schmidt in »Einstein on the Lake« und auf Paul in »Joana Mandelbrot und ich«: Ich habe das Gefühl, dass die Entwicklung des Erzählers im-

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mer weg von der Physik führt, in ein anderes Leben, das eine andere Komponente hat, die nicht physikalisch ist, und dass die Figuren damit glücklich werden. Woelk: Bernhard ist Wissenschaftsjournalist, er ist nicht vom Fach. Er ist eine Art gescheiterte Existenz; er ist nicht sehr erfolgreich als Journalist und lässt sich in diese Geschichte mehr oder weniger hineinziehen. Er versteht sich mehr als Medium und muss mit seinem eigenen Scheitern umgehen, mit diesem unerfüllten Wunsch, Schriftsteller zu werden. Er erlebt diese Geschichte, bleibt in ihr aber eher passiv, als erzählendes Medium. Mecke: Aber Sie lassen ihn am Ende sehr intensiv über Zeit reflektieren. Er bringt das Einstein-Zitat, in dem die Einteilung der Zeit in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu einer psychologischen Illusion erklärt wird. Er negiert diese wissenschaftliche Deutung und führt eine Gegenthese ein, widerspricht Einstein, indem er über seine Freiheit als Handelnder reflektiert, die ihm überhaupt erst ermöglicht, diese Liebesbeziehung als etwas Positives und Wertvolles zu sehen. Woelk: Er kommt als Laie in diese Geschichte hinein, doch dann fängt er an, Bücher zu lesen. Über die lange Beschäftigung mit der Fachliteratur nimmt er gewisse Begrifflichkeiten auf, mit denen er sich ein Weltsystem bastelt. Das ist ja vielleicht legitim: Man versteht die Relativitätstheorie zwar nicht, aber man weiß, dass es sich dabei um ein Begriffssystem handelt, in dem die Zeit vorkommt – und sie ist relativ. Dann kann Bernhard mit diesem Begriffssystem erstaunlicherweise aufschlüsseln, was gerade mit ihm passiert; es scheint irgendwie zu passen. Ob das dann eine reale, eine echte Verbindung ist oder nur eine metaphorische, ist in dem Moment gar nicht so wichtig. Das Begriffssystem passt und bietet gewissermaßen die Möglichkeit, das, was gerade geschieht, in einen höheren begrifflichen Rahmen einzubinden. Eine ähnliche Funktion hat früher die Religion erfüllt – Begriffe wie ›Gott‹ und ›Schicksal‹ und Ähnliches. Doch das Religionssystem funktioniert nicht mehr – für Bernhard jedenfalls nicht, er lebt ein rein weltliches Leben. Der Wunsch, trotzdem über einen höheren begrifflichen Rahmen zu verfügen, der dem eigenen unbedeutenden Leben eine gewisse Weihe und Würde oder tiefere Eingebundenheit verleiht, ist aber da. Vielleicht kommt an dieser Stelle für manche die Wissenschaft ins Spiel, die Begriffe zur Verfügung stellt, von denen man sich vorstellen kann: Ja, das ist bei mir auch so. Mecke: Ich hatte den Eindruck, dass die Erzähler den Sinn oder das Glück ihres Lebens immer in einer Gegenposition zur Physik finden, zumindest habe ich das so gelesen. Woelk: Es ist immer die Auseinandersetzung mit der Physik. Die Physik – die Berechenbarkeit der Welt – ist eine unheimliche Macht. »Freigang« thematisiert den Versuch, die Physik gegen das Leben, das Unberechenbare zu setzen, da sind starke antithetische Elemente drin. Bei »Einstein on the Lake« kommt der Tod

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ins Spiel, weil Bernhards Freund stirbt. Der Tod ist ein Element, das über die Physik hinausgeht. Bernhard versucht sich das in irgendeiner Form zu erklären und damit sprachlich umzugehen. Und dann benutzt er solche Begrifflichkeiten: Relativität. Nichts ist absolut. Diese Stellen sind eigentlich sehr melancholisch. Vielleicht ist die Physik melancholisch, weil es in ihr keinen Platz für etwas Höheres gibt.

Der Physiker als literarische Kunstfigur in »Freigang« Mecke: Viele Figuren Ihrer Prosatexte sind Physiker und reflektieren auch stets ihre spezifische Denkart als Physiker – in »Freigang«, »Einstein on the Lake«, »Die Einsamkeit des Astronomen«. Interessiert Sie in der literarischen Darstellung eher die Innenperspektive – die Art des Denkens – oder auch der Habitus der Physiker und die Außenperspektive der Gesellschaft, also das, was auf die Physikercommunity gemeinhin projiziert wird? Gibt es große Diskrepanzen zwischen der Innen- und der Außenperspektive? Woelk: Zunächst einmal geht es mir um die Innenperspektive, die nicht so bekannt ist. Wer kennt schon Physiker? Die kennen sich nur untereinander. Es gibt viele Vorurteile, die einfach nicht zutreffen. Physikern bzw. Naturwissenschaftlern wird oft nachgesagt, dass sie ein gewisses Desinteresse an anderen Aspekten der Welt haben. Das ist ein Klischee. Mecke: Aber Sie spielen auch ein bisschen mit diesem Klischee. Woelk: Natürlich spiele ich damit. Die Figuren wehren sich ja auch gegen das Klischee. Oder – wie im Falle von Frank Zweig – sie übererfüllen es in einer Art Trotzreaktion. Eben durch die Haltung: Man muss sich ja nicht mit dem Rest der Welt beschäftigen, das ist nur Zeitverschwendung. Aber dann merkt man beim Lesen schon, es ist gar nicht so. Vielmehr muss es einen Grund dafür geben, dass sich die Figur so positioniert. Sie tut es, weil da offenbar irgendeine Katastrophe im Vorfeld passiert ist, die Frank jetzt in dieses Schneckenhaus zurückkehren lässt. In Wahrheit ist er natürlich schon jemand, der sich für den Rest der Welt interessiert. Bei Zweig ist das sogar das Problem: Er kann sich nicht nur auf die Physik fixieren, sondern sein Interesse ist viel weiter gefächert. Aber davon will er in dem Roman nichts wissen, weil er an diesem anderen gescheitert ist. Er ist eben eine komplexe Figur, aber leider begegnen einem die einfachen Physikerklischees doch recht häufig – übrigens auch im Kulturbetrieb immer wieder. Heydenreich: Durch das Gespräch mit Conradi, dem Frank Zweig zunächst vehement widerspricht, wird ihm deutlich, dass die Widersprüche, in denen sein Denken verhaftet ist, zwischen »Spontaneität oder Rationalität«, zwischen »Wissenschaft

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oder Kunst« (F, 57), im Grunde unüberbrückbare Antinomien sind, die im gesellschaftlichen Diskurs konstruiert werden, die unter anderem der Untermauerung von erfolgreichen Erziehungsmodellen dienen. Können durch den literarischen Text die Mechanismen solcher künstlichen Konstruktionen entlarvt werden und auch die Art, wie sie sich auf die Psyche und den Werdegang eines Menschen auswirken? Woelk: Das wäre schön. Vielleicht ist es so. Frank Zweig wehrt sich zunächst gegen das Erziehungsmodell seines Vaters, aber dann gibt er diese Vater-Fixiertheit auf. Beim Schreiben denke ich nur wenig an formal-strukturelle Aspekte. Als Erzähler ist es für mich entscheidend, dass die Charaktere Glaubwürdigkeit haben. Wenn das so ist, dann haben sie automatisch auch etwas Entlarvendes. Ich forciere das nicht, darum geht es mir nicht, aber wenn es passiert, wenn es Eingang in die Literatur findet, habe ich auch nichts dagegen. Mecke: Was mich als Physiker interessiert: Zweig ist auf der Suche nach den Mechanismen der Unterdrückung eines komplementären Teils seiner Persönlichkeit, seiner Begabung als Künstler. Er analysiert, welche psychologischen, kulturellen, erziehungsbedingten Faktoren dazu geführt haben. Erst spät im Roman wird deutlich, dass er auch während der Beziehung mit Nina selbst Theaterstücke schrieb. Doch ihr gegenüber wagte er es nie, dies zu thematisieren. Haben Sie den Eindruck, dass im Milieu erfolgreicher Physiker die Offenbarung eines schriftstellerischen Talents, das ausgelebt werden will, zur gesellschaftlichen Stigmatisierung führt? Woelk: Das war sehr unterschiedlich. Als »Freigang« herauskam, gab es natürlich auch Reaktionen von Physikern. Sie waren durchaus vielfältig und von einer gewissen Neugier geprägt. Stigmatisierend aber nicht. Ich habe das von Seiten der Physik nie erlebt. Ich hatte mich mit dem Schreiben nicht disqualifiziert. Einer meiner Doktoranden-Kollegen meinte sehr pragmatisch: immerhin eine Dauerstelle. Da hatte er recht. Frank Zweig ist es da ganz anders ergangen. Irgendwann denkt er darüber nach, dass er selbst einmal literarische Ambitionen hatte und sogar schon als Kind geschrieben hat. Und dann wird ihm diese Urvernetzung mit dem Vater wieder bewusst, der diese Kinder-Kriminal- und Abenteuergeschichten als sprachlich mangelhaft abgekanzelt hatte. Andererseits muss man die Figur Frank Zweig aber sehr stark aus dem emotionalen Scheitern in der Liebesbeziehung her deuten. Dieses Scheitern ist der Grund dafür, dass er alles, was nicht Physik ist, wie eben das Schreiben, auf die Seite seines Scheiterns stellt. Und das ist ja das Verrückte: Er schreibt ja! Er lässt sich eine Schreibmaschine bringen und fängt an zu schreiben – da ist der Widerspruch doch schon eingebaut. Er schreibt und sagt: Das ist ja alles nichts, ich bin Physiker und fertig. Heydenreich: Man bemerkt, dass das, was auf inhaltlicher Ebene thematisiert wird, die Antithese zwischen naturwissenschaftlichem und geisteswissenschaftlichem Denken, auch die Struktur des Romans prägt, durch die Alternanz der

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Szenen zwischen Passagen, in denen Zweig sein rationales Denken rechtfertigt, und solchen, in denen er sich schreibend erinnert, die die gerade eben postulierten Prinzipien ins Wanken bringen. Sehr schön wird das an der Struktur der Modelle deutlich, die Zweig als Schemata der Erkenntnis zur Klärung seiner Situation konstruiert: von symmetrisch arrangierten, konzentrischen Ringen zu einem Mosaik, dem interstellaren Nebel, um schließlich zum Aufschlussreichsten – einer Leerstelle – zu gelangen. Er scheint zur Erkenntnis zu kommen, dass nicht die eindeutige Gewissheit, sondern ihre stete Verschiebung im Spielraum der Interpretationen wichtiger ist. Woelk: Die Karten- und Motivmodelle und die Verschiebungen dieser, die er entwirft, sind Bilder für seinen Reflexionsprozess. Nach der einfach strukturierten Geschichte am Anfang wird es von Konstruktion zu Konstruktion immer komplizierter – und am Ende gelangt er zu der Einsicht, dass es kein bindendes Zentrum gibt. Wir kreisen um nichts. Ich meine, das sind schon Schritte oder Stufen einer Bewusstwerdung. Wenn wir uns auf uns selbst beziehen, sind wir immer zum Scheitern verurteilt. Wir müssen uns sozusagen ständig neu erfinden. Heydenreich: Interessant ist in den beiden Romanen, die Frank Zweigs Werdegang darstellen, ein Vergleich in Bezug auf die Anlage der Figuren. In »Freigang« dominiert die antithetische Struktur nicht nur das Denken Zweigs, sondern auch die Beziehung zwischen Nina und Frank auf intellektueller und geschlechtlicher Ebene. In »Die Einsamkeit des Astronomen« tritt überraschenderweise eine andere Konstellation auf; die Pole der physikalischen und künstlerischen Begabung werden paradoxerweise von Geschwistern, Frank und Marthe vertreten – eine Musil’sche Konfiguration –, wobei der Gedanke des Inzests nicht selten im Raum steht. Zugleich neigt der reife Frank viel eher dazu, die strenge Antinomie zwischen den beiden Kulturen zu relativieren. Zeichnet sich hier ein möglicher Weg der Synthese ab, der auch durch die Figuren symbolisiert wird? Woelk: Da muss ich mal drüber nachdenken – wie gesagt, man macht sich nicht alles bewusst. »Die Einsamkeit des Astronomen« ist ein literarisch gereifteres Buch als »Freigang«. Zunächst einmal würde ich Ihre Frage dramaturgisch formal beantworten: Als ich an der »Einsamkeit des Astronomen« gearbeitet habe, merkte ich, dass mir für Frank eigentlich ein Gegenpart fehlt, und dachte zuerst wieder an eine Liebesgeschichte. Aber eine Figur wie Nina wieder einzuführen, das schien mir literarisch nicht wirklich interessant zu sein; man kann nicht das gleiche Buch noch einmal schreiben. In dem Moment kam Marthe, die Schwester, ins Spiel, die es in »Freigang« gar nicht gibt. Ich musste »Freigang« sogar noch einmal lesen, um zu prüfen, ob eine Schwester überhaupt widerspruchsfrei integrierbar war. Ich war froh, dass es in dem Punkt kein Problem gab. In »Freigang« reduzieren sich Franks Aussagen über sein Elternhaus auf die Behauptung: Da

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gab es einen Vater und der hat mir damals mit seiner intellektuellen Überlegenheit sehr wehgetan. Doch das ist nun vorbei, der Vater ist tot. Es geht für Frank Zweig in »Die Einsamkeit des Astronomen« also nicht mehr darum, eine Weltsicht gegenüber dem Rest der Welt durchzuboxen. Er liebt seine Schwester. Und im Gegensatz zu einer Geliebten darf Marthe sogar irrational sein – er liebt sie trotzdem. Ja, ein bisschen inzestuös ist das, wenn auch nicht im erotischen Sinne. »Freigang« ist monolithisch. Ich musste alles auf Frank Zweig hin organisieren. »Die Einsamkeit des Astronomen« ist ein realistischeres Buch. Heydenreich: In »Joana Mandelbrot und ich« wird die Art der Selbstinszenierung eines Schriftstellers in der Öffentlichkeit thematisiert. Das wird von den Verlagen wahrscheinlich als Marketingstrategie gefordert, wie auch das, was sich manche Autoren einfallen lassen, um im Literaturbetrieb stets präsent zu sein. Andererseits tragen die Titel Ihrer Bücher auch die Namen berühmter Wissenschaftler, Einstein, Schrödinger usw., die sich auch zu inszenieren wussten. Gibt es Parallelen in der Art der Selbstinszenierung? Woelk: Das ist eine ganz interessante Frage. Ich persönlich bin eher ein zurückgezogen agierender Autor, ich inszeniere mich sehr ungern. Ich denke, man kann im Literaturbetrieb über Selbstinszenierung mehr erreichen als in der Wissenschaft. Dass es auch in der Wissenschaft auf Selbstdarstellung ankommt, das ist gar keine Frage. Aber für die Reputation ist beim Wissenschaftler die Arbeit wichtiger. Ich wüsste kein Beispiel dafür, dass einer als toller Wissenschaftler gehandelt wird, der eigentlich gar nichts gemacht hat. Irgendwo haben sie alle ihre Meriten verdient. Im Kulturbetrieb ist das schon anders. Es gibt Autoren, die zwei, drei Jahre toll laufen – und dann, fünf Jahre später, weiß man schon gar nicht mehr, wie die eigentlich hießen. Sie haben sich – oder wurden – in den Medien aber gut inszeniert. Diese Medienkompatibilität spielt eine immer größere Rolle – das ist schon richtig. Das war natürlich auch etwas, was mir Spaß gemacht hat: bei »Joana Mandelbrot« den einen oder anderen Pfeil darauf abzuschießen. Mecke: Nun kommt die unvermeidliche Frage nach Vorbildern oder nach ähnlichen Autoren, die Sie gerne lesen. Woelk Das ist immer eine sehr schwierige Frage. Erstens wechselt das ständig und zweitens denke ich, dass es nicht wirklich aussagekräftig für mein Werk ist. Im Moment lese ich zum Beispiel gerade Vidiadhar S. Naipaul, ein großartiger Autor, den ich in den vergangenen Jahren entdeckt habe. »An der Biegung des großen Flusses« war beeindruckend – ein reiches, welthaltiges, wunderbares und trauriges Buch. Ich wüsste aber nicht zu sagen, ob dieses im tiefsten Afrika angesiedelte Werk irgendeinen Einfluss auf meine Arbeit ausübt. Von deutschsprachigen Autoren sind es eher die klassischen, die man so schätzt. Von Johann Wolfgang Goethe über Theodor Fontane bis hin zu Thomas Bernhard, der aber

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absolut nicht dazu taugt, ihn sich zum Vorbild zu nehmen. Ein deutschsprachiger Autor, den ich persönlich ein wenig kenne und sehr schätze, ist Paul Nizon. Sein Werk ist eher klein, aber sehr sprachintensiv. Der Stil ist präzise und originell, aber er ist auch nicht unbedingt der Autor, den ich in die Hand nehme, wenn ich selbst gerade an einem Buch arbeite. Am prägendsten war ganz zu Beginn Max Frisch. Ihn habe ich sehr intensiv gelesen, darüber gibt’s auch einen Vortrag in einem Bändchen, das 2011 erschienen ist: »Max Frisch – Citoyen und Poet«. Gut zwei Jahre zuvor gab es einen Frisch-Kongress in Brüssel und dort habe ich über meine Auseinandersetzung mit dem Werk Frischs gesprochen. Der Essay heißt »Frisch und ich«. Vielleicht ist das eine Erfahrung, die einige Autoren meiner Generation gemacht haben: Zunächst verehrt man Frisch – und später wundert man sich ein wenig darüber.

Relevanz von Sprache und Metaphorik für die Physik Heydenreich: Gibt es aktuelle Entwicklungen in der physikalischen Forschung, die Sie spannend finden und die Sie gerne in aktuellen Projekten berücksichtigen? Woelk: Ja, ich bin immer interessiert und offen für alles. Vor allem bin ich gespannt, ob sich am CERN in Genf irgendetwas ergibt. Ich bin einfach neugierig, ob am LHC etwas gefunden wird.¹ Und natürlich tut sich auch in der Astronomie eine Menge. Die Kosmologie ist sehr in Bewegung. Das sind schon Dinge, die ich aufmerksam verfolge. Mecke: Wird das in Zukunft auch noch eine Rolle spielen? Woelk: Im Prinzip weiß ich nie, welcher Stoff als Nächstes um die Ecke steht, das wird man sehen. Das Thema Sprache und Wissenschaft wird dabei in jedem Fall eine Rolle spielen – in welcher Form auch immer. Bemerkenswert finde ich, dass die Sprache selbst auch für Wissenschaftler eine inspirierende oder manchmal sogar steuernde Kraft hat. Gerade haben wir über ›Schrödingers Katze‹ gesprochen. Über solche griffigen Metaphern oder Bilder setzt man die Phantasie in Gang, das ist mitunter besser als ein abstraktes mathematisches Konzept. Bekannte Beispiele dafür sind der ›Big Bang‹ und die ›Schwarzen Löcher‹, die ›Black Holes‹. Die dazugehörigen mathematischen Konzepte gab es auch vorher schon, aber die neuen Begriffe dafür waren so stark – das kann man nachweisen –, dass es eine Flut von Veröffentlichungen gab, nachdem der Begriff ›Black Hole‹ in der Welt war. Das Interesse an ›Schwarzen Löchern‹ stieg danach sprunghaft an, weil dieser Begriff offenbar für Studenten so elektrisierend war, dass sie anfingen, sich 1 Der Dialog wurde vor der Entdeckung des Higgs-Bosons am CERN geführt.

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mit dem abstrakten Konzept gravitativer Singularitäten zu befassen. Tatsächlich gab es die Idee solcher Singularitäten schon vor hundert Jahren bei Karl Schwarzschild. Mecke: Spätestens, wenn es eine Publikation gibt, brauchen die Physiker literarische Qualitäten. Woelk: Es gibt ja so viele Beispiele dafür. Das berühmteste: »Three quarks for Muster Mark« von James Joyce. So schlimm kann es um die Allgemeinbildung von Physikern nicht bestellt sein, wenn sie sich literarischer Wortspiele aus »Finnegans Wake« bedienen, um für ihre Elementarteilchen einen passenden Namen zu finden: Quarks. Im Moment ist die Physik in einer merkwürdigen Situation. Man hat das sogenannte Standardmodell der Elementarteilchen und ein bisschen was darüber hinaus – und damit kann man tolle Sachen berechnen. Aber man weiß nicht recht, in welche Richtung es weitergehen soll: Stringtheorie, Supersymmetrie? Es sind viele Alternativen da, aber keiner weiß so richtig, wohin die Reise nun eigentlich geht. Und manchmal denke ich, was uns vielleicht fehlt, ist doch letztlich ein sprachlich klar formulierbares Bild dafür, was wir eigentlich machen wollen. Solange sich das alles noch im abstrakten Bereich mathematischer Rechnungen und Beweisführungen bewegt, ist das zwar sehr aufregend, aber im Grunde genommen noch unausgegoren. Man weiß nicht, was man eigentlich möchte. Vielleicht müsste der Durchbruch auf der Ebene der Sprache stattfinden. Einsteins berühmte Arbeit von 1905 über die Relativitätstheorie enthält auf den ersten Seiten keine Mathematik, sondern liest sich fast wie eine Erzählung. Das wäre im Moment undenkbar. Mecke: Ich denke das auch, sobald ein großes Fragezeichen in der Physik da ist, muss man sprachlich, mehr metaphorisch arbeiten, um überhaupt weiterdenken zu können. Woelk: Einstein hat sich über eine Art Erzählung von Uhren, Bahnen, Zügen und Blitzeinschlägen den Zugang zur Relativitätstheorie erarbeitet. Und auch in der Quantenmechanik war es ähnlich. Man hatte zwar brillante mathematische Konzepte, aber das Ringen zum Beispiel bei der sogenannten Kopenhagener Deutung der Quantenmechanik ging im Grunde um die Verbalisierung dessen, was man rechnerisch wusste und tat. Und deshalb glaube ich schon: So stark und unersetzlich die Mathematik als Instrument für die physikalische Beschreibung auch ist – als Menschen sind wir gewohnt in sprachlichen Begriffen und Bildern zu denken, und ein tiefes Verständnis von Naturvorgängen ist uns ohne Sprache und Bilder vielleicht gar nicht möglich. Mecke: Und wenn Sie jetzt rückblickend auf Ihr Studium schauen – hat Ihnen etwas gefehlt in der Ausbildung? Was würden Sie Dozenten empfehlen? Gibt es etwas, das in der Physik vernachlässigt wird?

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Woelk: Jeder müsste noch etwas anderes machen. Es muss nicht viel sein, aber etwas anderes: Literatur oder Philosophie oder etwas, das eine Öffnung zu etwas Neuem hin hat. Heydenreich: Wir haben viel über physikalische Theorien gesprochen, einen großen Teil der Physik machen aber auch die Experimente aus. Fanden Sie es reizvoll, physikalische Experimente in experimentelle Schreibweisen umzusetzen? Visueller, optischer oder akustischer Art? Woelk: Kennen Sie den französischen Film »Letztes Jahr in Marienbad«? Es handelt sich um einen Film von Alain Resnais nach einem Drehbuch des französischen Schriftstellers Alain Robbe-Grillet, der wiederum als einer der Väter des ›Nouveau roman‹ gilt. Ein typischer Sechzigerjahre-Schwarz-Weiß-Film; alles Edeloptik, aber Kunst. Der Film selbst ist aber gar nicht in dem Kurort Marienbad gedreht worden; das ging damals nicht – es gehörte ja zur Tschechoslowakei. Darum wählte man als Kulisse Schloss Nymphenburg in München. Der Film behandelt die Geschichte dreier sehr schöner Menschen – eine Frau und zwei Männer –, die immer durch das Schloss irren. Es ist eine Art Dreiecksgeschichte. Die Frau hat zwar einen Mann, aber das Verhältnis der drei zueinander ist nie ganz klar und die Beziehungen sind mit Pseudobedeutungen aufgeladen. Am Anfang sehen sich die drei ein Theaterstück an – am Ende sind sie aber selbst Teil eines Theaterstücks. Beziehungsweise: Sie sind selbst das Theaterstück. Warum erzähle ich das? Ich habe den Film mit einer experimentierfreudigen Theatertruppe für die Bühne adaptiert. Als ich den Film gesehen hatte, war mir allerdings sofort klar, dass man ihn für die Bühne nicht nacherzählen kann. Es gibt ja gar keine kohärente Handlung. Ich griff also die Elementarsituation des Films wieder auf – zwei Männer und eine Frau – und unterlegte dies mit völlig neuen Unterhaltungen und Texten; Texte, die sich thematisch um eine Frau ranken, die zwar einen Ehemann hat, aber dennoch ein Verhältnis zu einem anderen Mann. Das ist so ungefähr der kleinste gemeinsame Nenner dessen, was alle kennen. Die eigentliche Idee war aber: Wir holen die Zuschauer in ein altes, verfallenes Kino und dort können sie sich frei bewegen – damit sind die Zuschauer selbst der Film. Theater im Film, Film im Theater, Film im Film, Theater im Theater – also quasi: die Schleife in der Schleife in der Schleife. Du bist, was du siehst, und was gezeigt wird, bist du. Den Zuschauern wurden Kopfhörer aufgesetzt, sodass sie die Schauspieler, die alle über diese kleinen Ansteckmikrofone gesprochen haben, hören konnten – allerdings ohne zu wissen, dass es drei verschiedene Kanäle gab. Das heißt, dass alle etwas anderes hörten. Während die einen auf Schauspieler-A geschaltet wurden, wurden die anderen auf Schauspieler-B geschaltet. Die dritten bekamen vorproduzierte Texte. Natürlich war das alles beim Schreiben ein ganz fürchterliches Gebastele und Geschiebe, welche Gruppe auf wen

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und was geschaltet werden sollte. Technisch war das unglaublich kompliziert – doch die Zuschauer empfanden das gar nicht so. Sie kannten den Hintergrund an Komplexität ja gar nicht und erlebten nur die Geschichten der Protagonisten. Ich versuchte, dass alle drei Gruppen einerseits dieselbe Geschichte komplett erzählt bekamen – oder diese permanenten Andeutungen einer Geschichte –, aber aus völlig unterschiedlichen Perspektiven. Eine Gruppe nahm die Situationen mehr aus der Sicht der Frau wahr, eine andere Gruppe aus der Perspektive des Ehemannes, die letzte aus Sicht des Geliebten. Wir hatten den Leuten erzählt, sie sollten auf keinen Fall etwas an ihren Kopfhörern verändern. Es sei alles so richtig, wie sie es hörten. Was jetzt natürlich passierte, war, dass der eine Zuschauer mal dahin, der andere mal dorthin sah. Verständlich, da die Zuschauer ja auf unterschiedliche Szenen geschaltet wurden. An den Kopfhörern waren kleine Symbole angebracht, sodass die Schauspieler erkennen konnten, wer zu welcher Gruppe gehörte. So war es ihnen möglich, die Beobachter gezielt anzusprechen. Ohne die Kopfhörer ergab sich im Saal ein fast gespenstisches Szenario. Denn immer war irgendwo ein Gewisper und ein Gerede zu hören, doch die ganze Struktur war dann verloren. Der Text selbst war in dem Fall sozusagen nichts. Ich denke, das ist das Experimentellste, was ich je gemacht habe. Permanente Selbstähnlichkeiten in der Geschichte, Überlagerung von Realitäten, Texte die für jeden etwas anderes bedeuten. Heydenreich: Das heißt also, das Stück funktioniert nur in der Performance, nur während der Aufführung. Woelk: Richtig. Nur in der Aufführung funktionierte das Stück – das reine Lesen des Textes wirkt nicht. Aber ich glaube, im Erlebnis für die Zuschauer hat das Ganze – es dauerte anderthalb Stunden, wie ein Film eben – sehr gut funktioniert. Alle haben hinterher geredet und diskutiert – denn schließlich waren alle ja im gleichen Raum gewesen und hatten dennoch etwas anderes gesehen. Eigentlich ja so, wie es immer ist. Nur hier wurde der Effekt ganz bewusst eingesetzt. Heydenreich: Unterhielten Sie sich im Anschluss mit den Rezipienten darüber? Denn auch beim Lesen eines Textes werden unterschiedliche Leser einen Text immer anders interpretieren. Vermutlich kann man sogar noch weitergehen: Denn selbst wenn ein Leser ein und denselben Text mehrfach liest, wird er den Text nach jedem Lesen auf verschiedene Arten wahrnehmen. Zum Beispiel, weil die Aufmerksamkeitsverteilung eine andere ist. Im Grunde haben Sie nun genau diesen Prozess bewusst transparent gemacht. Woelk: Das war die Idee: Den Text an sich gibt es nicht. Auch ein Theaterstück an sich gibt es nicht. Es gibt immer nur den Zuschauer, der ganz konkret in diesem Moment etwas sieht, wahrnimmt und für sich konstruiert. Dieses Prinzip wurde

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in dem Stück direkt erfüllt. Denn es war ganz klar: Ich stehe hier neben einem anderen Rezipienten, doch dieser wird zu einem völlig anderem Ergebnis kommen. Heydenreich: Wo wurde das Stück eigentlich erstmals aufgeführt? Woelk: In Zürich und in Berlin am HAU – mit einem immensen Aufwand, allein schon die Elektronik. Ich habe die Schauspieler bewundert, wie sie die Verzahnung der Szenen im Timing immer hinbekommen haben. Das war großartig – aber im Repertoire eines Stadttheaters gar nicht machbar. Auf YouTube gibt es einen kleinen Trailer, unter dem Titel des Stücks »MARIENBAD : coming soon«. Der ist zwar informativ, vermag aber die Wirkung des Ganzen natürlich nicht annähernd zu transportieren. Mehr ist im Moment nicht drin. Aber das ist ja wohl für so ein Stück auch richtig so: diese Momenthaftigkeit und Unwiederholbarkeit. Heydenreich: Verfolgen Sie zurzeit ähnliche oder andere Projekte, in denen Sie experimentell arbeiten? Woelk: Nein. Das Stück, das ich danach geschrieben habe, war genau das Gegenteil. »Licht an«² , ein Familiendrama. Hierbei habe ich mich bewusst auf die Einheit von Zeit und Raum beschränkt. Wahrscheinlich brauchte ich das nach »MARIENBAD :: coming soon«. Das Stück beschränkt sich auf 24 Stunden – das Ganze in fünf Akten. Geht das Licht an, wird in Echtzeit ein Ausschnitt aus diesem Tag gespielt. Dadurch ist eine extrem geschlossene Form entstanden. Mecke und Heydenreich: Vielen Dank, Herr Woelk, für dieses Gespräch!

Zum Autor Ulrich Woelk – geboren 1960 in Bonn, aufgewachsen in Köln – absolviert nach dem Abitur 1979 ein Physikstudium in Tübingen, das er 1987 mit einer Diplomarbeit zur Chaostheorie abschließt. Anschließend zieht er nach Berlin und promoviert 1991 am Institut für Astronomie und Astrophysik der Technischen Universität zum Thema »Zyklotronstrahlung in teilchengeheizten Atmosphären magnetischer Weißer Zwerge«. Noch bis 1995 arbeitet Woelk als Astrophysiker – Spezialgebiet Doppelsterne – an der Berliner TU, ehe er sich als freier Schriftsteller selbstständig macht. Woelks erste literarische Arbeiten entstehen bereits in den Achtzigerjahren. 1990 – also noch während seiner Promotionszeit – erscheint sein Romandebüt »Freigang«, ein von der Kritik einhellig als literarische Entdeckung gefeiertes Werk. Seither hat Woelk zahlreiche erfolgreiche Romane und Erzählungen geschrieben, daneben Theaterstücke und Hörspiele. Sein großes Thema bleibt dabei immer wieder auch das Verhältnis zwischen Physik und Literatur – angefangen bei »Freigang« über die Fortsetzung »Die Einsamkeit des Astronomen« (2005) bis zur

2 So der Arbeitstitel. Inzwischen ist das Stück als »In der Nähe der großen Stadt« am Theater des Kantons Zürich uraufgeführt worden.

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Romantrilogie »Einstein on the Lake« (2005), »Schrödingers Schlafzimmer« (2006) und »Joana Mandelbrot und ich« (2008), in denen er nacheinander Relativitätstheorie, Quantentheorie und Chaostheorie literarisch verhandelt. Nach einem Hörspiel und einer »dokumentarischen Oper« über Wernher von Braun (beide 2012) sowie dem Liebesroman »Was Liebe ist« (2013) legt Woelk zuletzt »Pfingstopfer« (2015) vor.

Zitierte Literatur Amerikanische Reise. Roman. Frankfurt a. M.: Fischer, 1996 • Die Einsamkeit des Astronomen. Roman. Hamburg: Hoffmann und Campe, 1 2005 • Einstein on the lake. Eine SommerErzählung. München: dtv, 2005 • »Frisch und ich. Identifikation eines Lesers«. In: Max Frisch. Citoyen und Poet. Hg. von Daniel de Vin. Göttingen: Wallstein, 2011. 72–81; Freigang. Roman. München: dtv, 2005 (zuerst: Frankfurt a. M.: Fischer, 1990); Joana Mandelbrot und ich. Roman. München: dtv, 2008 • Rückspiel. Roman. Frankfurt a. M.: Fischer, 1993 • Schrödingers Schlafzimmer. Roman. München: dtv, 2006 • »Science-Fiction ohne Plot«. In: Süddeutsche Zeitung, 21. März 2001 • Sternenklar. Ein kleines Buch über den Himmel. Köln: DuMont, 2008.

Weitere Quellen Der Mann im Mond (Buch: Ulrich Woelk; Regie: Thomas Werner). Hörspiel: Westdeutscher Rundfunk, 2012 • »Literatur und Physik«. Vortrag gehalten in der Akademie der Wissenschaften und der Literatur. Mainz, 1994. http://www.ulrich-woelk.de/essays/lituphys.html (17. März 2015) • MARIENBAD :: coming soon (Buch: Ulrich Woelk; Regie: Bernhard Mikeska). https://www.youtube.com/watch?v=P1Kv85V8jvw. Theaterstück-Trailer: Koproduktion des Theaterhauses Gessnerallee Zürich und HAU Berlin, 2009 (17. März 2015).

Mit Ulrich Woelk sprachen die Literaturwissenschaftlerin Aura Heydenreich und der Physiker Klaus Mecke. Der Dialog fand am 27. März 2012 in Berlin statt.

Aura Heydenreich und Klaus Mecke

Physik und Ethik Juli Zeh im Dialog zu »Schilf« Mecke: Frau Zeh, »Schilf« scheint mir keine Kriminalgeschichte zu sein, wie es im Klappentext steht, sondern ein Roman über die moralische Frage nach Verantwortung. Letztlich geht es um Physik, Wissenschaft und Moral. Ein Dauerbrenner. Wie sind sie zu diesem Thema gekommen? Zeh: Das ist schwierig zu sagen, weil es keinen griffigen Auslöser gab, aber es gab doch mein jahrelanges Interesse an diesem gesamten Themenkreis, angestoßen vor allem durch meinen Bruder, der schon immer ein Hobby-Physiker war. Er hatte Physik als Leistungskurs in der Schule und wollte das studieren, hat das Studium aber nach zwei Semestern wieder abgebrochen, weil es ihm dann doch zu anstrengend wurde und weil er – so ähnlich wie ich auch – sich im Grunde eher für die Philosophie der Physik interessierte und nicht so sehr für das echte, naturwissenschaftliche Physikalische. Wir haben gern an rotweinseligen Abenden unsere Gedanken schweifen lassen und auf mich hat der Gedanke eine starke Faszination ausgeübt, dass die Physik vielleicht in Wahrheit die Wissenschaft ist, die im zwanzigsten Jahrhundert auf unbemerkte Weise angefangen hat, die Aufgabe der Philosophie zu übernehmen. Die letzten Fragen werden heute eigentlich gar nicht mehr von der Philosophie gestellt, die Philosophie ist so pragmatisch und kleinteilig geworden. Sie sieht ihre Aufgabe immer noch darin, zu schreiben, was Immanuel Kant gesagt hat oder was Martin Heidegger geschrieben hat, aber eben nicht mehr darin, selbst tatsächlich aktiv zu versuchen, das Terrain zu beackern. Und das ist vielleicht heute eher die Physik, die das macht. Mecke: Und dann lassen Sie Sebastian sagen: »Deshalb sei die Physik vor allem eine Dienerin der Philosophie«? (Schilf, 31; im Folgenden: S) Zeh: Ja, meine Figuren sagen ja nicht immer das, was ich denke. (lacht) Das ist nicht meine persönliche Meinung, ich würde gar nicht versuchen wollen, zwei Wissenschaften gegeneinander in einem Konkurrenzverhältnis auszuspielen. Mecke: Wie haben Sie die physikalischen Hintergründe recherchiert? Nach einer Selbstauskunft in einem »Spiegel«-Interview vom 13. Oktober 2007 haben sie Physik in der Schule gleich abgewählt, haben keine Begabung für Mathematik, kennen persönlich keine Physiker und wissen daher nicht, wie und worüber Physiker in Ihrer Community reden. Zeh: Na ja, eigentlich habe ich mir das ausgedacht – und danach haben Sie die Fehler rausgefiltert. Ich kenne tatsächlich keine Physiker, auch nicht im weiteren

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Bekanntenkreis. Als ich angefangen habe, das Buch zu schreiben, hätte ich mich gerne an Physiker gewendet. Man weiß ja schon, dass es in jeder Berufsgruppe auch einen gewissen Slang gibt, einen Jargon. Worüber spricht man als Physiker eigentlich so? Gar nicht unbedingt aufs Fachliche bezogen, aber es hat schon immer eine gewisse Eigenheit, wenn man ›unter sich‹ ist, das weiß ich von den Juristen und von den Autoren. Da gibt es zum Beispiel Themen, die immer wieder aufkommen. Und das war mir alles völlig unvertraut, deswegen fühlte ich mich auch sehr unsicher. Aber das habe ich schon öfter so gemacht, dass ich über Dinge schrieb, von denen ich eigentlich keine Ahnung hatte, und mir das erst mal nur vorstellte. Ich versuchte einfach, mich in die Situation hineinzudenken, sie zu erfinden und dann nachher zu überprüfen. Da waren Sie wirklich der Einzige, der dafür Sorge getragen hat, dass es keine größeren Schnitzer gibt, ich hatte sonst niemanden. Keine Anschauung und keine andere Korrektur. Mecke: Keine andere Korrektur? Zeh: Nein. Das war ganz lustig: Als das Romanmanuskript fertig war und es, nach dem Gutheißen meines Mannes, dem Verlag zugestellt wurde, habe ich vom Verlag erst mal tagelang nichts gehört. Das war untypisch und für mich eine harte Zeit. Ich wurde auch sauer, weil das ein kleiner Verlag ist und ich deren wichtigste Autorin bin – und das sage ich jetzt frei von Eitelkeit, das ist einfach ein Fakt: Sie reagieren normalerweise sofort. Wenn ein neuer Roman von mir kommt, ist das für sie wichtig. Ich dachte, sie finden das Manuskript schlecht, und habe mich darauf vorbereitet, dass es jetzt zu Problemen kommt. Hinterher wurde mir dann von Verlagsmitarbeitern zugetragen, dass diese Tage damit verbracht wurden, dass der Verleger wie ein aufgescheuchtes Huhn durch den Verlag rannte und schrie: ›Wir brauchen einen Physiklektor! Wir brauchen einen Physiklektor!‹ Er hatte sich einfach völlig überfordert gefühlt, vieles nicht verstanden und den Eindruck gehabt, das sei außerhalb seiner Kontrollmöglichkeiten. Was ich verstehen kann, es war ja auch außerhalb meiner. Köbner: Gab es später Beschwerden wegen Ihrer Ausführungen über die Physik? Zeh: Es gab keine richtigen Beschwerden, obwohl ich davor lange Angst hatte, weil ich große Ehrfurcht habe vor der Arbeit anderer Leute und vor Wissensgebieten, in denen ich mich nicht auskenne. Dieses ›Wildern‹ genieße ich zwar einerseits, aber andererseits, wenn es wirklich in Stein gemeißelt, also im Buch steht, möchte ich auch nicht, dass das Leute verletzt. Ich kenne das von mir selbst, ich kann als Juristin eigentlich keine Krimis genießen! Ich halte es nicht aus, wenn ich sehe, wie das Rechtssystem oder das Polizeiwesen im Krimi dargestellt werden, das regt mich auf, weil es sachlich falsch ist. Das finde ich dann auch respektlos gegenüber der Sachlage und das wollte ich nicht, deshalb hatte ich davor Angst. Aber ich habe eigentlich eher das Gegenteilige erlebt. Ich fand

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das anrührend und überraschend, denn ich habe schon sehr viel Feedback von Physikern bekommen, und die haben eher gesagt: Wir finden es schön, dass überhaupt mal jemand versucht, sich mit unserem Fach zu beschäftigen. Die waren so begeistert davon, dass ein Fachfremder vorbeikommt, dass die sowieso bereit waren, mir jeden Fehler zu verzeihen, weil sie von der bloßen Tatsache, dass sich jemand für die Physik interessiert, erfreut waren. Und das fand ich einerseits natürlich toll, das war ja ein nachträglicher Freibrief. Aber andererseits fand ich es auch ein bisschen gruselig, weil das ja heißt, dass eigentlich die Wissenschaft selbst das Gefühl hat oder die Wissenschaftler allgemein das Gefühl haben, komplett in der dunklen Ecke zu operieren und von außerfachlichen Personen wenig wahrgenommen zu werden. Und das so sehr, dass sie einen Schriftsteller wie die Taube am Horizont begrüßen: ›Juhu! Jemand sieht uns!‹ Und das fand ich eigentlich erschreckend. Mecke: Aber das scheint so zu sein, wenn selbst der Lektor im Verlag plötzlich so in Panik gerät und offensichtlich zum ersten Mal mit Physik konfrontiert wird. Zeh: Ja klar, man hat ja auch große Berührungsängste. Die Physik ist ja auch eine sehr ehrfurchtgebietende Wissenschaft, weil sie sich erst mal für den Laien unzugänglich präsentiert. Was aber auch daran liegt, dass sie, finde ich, medial zu wenig vermittelt wird. Die Dinge, um die es geht, wären schon vermittelbar, aber man muss eine Sprache dafür finden, die verständlich ist. Heydenreich: Haben Sie selbst recherchiert und sich mit den physikalischen Theorien, die im Roman behandelt werden, auseinandergesetzt? Zeh: Ein bisschen, klar, natürlich! Aber auf eine Art und Weise, das darf man eigentlich gar nicht sagen: völlig oberflächlich. Ich habe im Internet gegoogelt und Texte gesucht, die ich verstehen konnte, was ja nicht immer der Fall ist. Ich hatte keine Chance, das, worüber ich schrieb, zu durchdringen, das war mir unmöglich. Man kann das ohne den mathematischen Formalismus ja gar nicht verstehen. Man ist darauf angewiesen, auf einer metaphorischen Ebene nachzudenken und man ist sich auch darüber bewusst, dass man der eigentlichen Sache dadurch nicht nahekommt. Zugleich finde ich das auch gar nicht so ungewöhnlich, weil man letztlich immer metaphorisch unterwegs ist, wenn man über Dinge spricht, selbst, wenn sie nicht so komplex sind wie die Physik. Einerseits habe ich gedacht, ich habe alles Recht, hier als Dilettant rumzuschnüffeln, andererseits hatte ich aber das Gefühl, es ist eigentlich unseriös, was ich da mache. Und schlussendlich habe ich mich dann dafür entschieden, das Recht zu haben, das zu tun. Aber wenn man sich meine Recherchen so angeguckt hätte, hätte man Wikipedia und Ähnliches gesehen. Ich habe auf oberflächlichstem Surfniveau versucht, das abzugreifen, was ich verstehen konnte, und mir daraus das zusammenzubauen, was ich brauchte.

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Mecke: Sie haben es sozusagen wie Schilf gemacht: Die Titel gesucht, in denen man viele bekannte Worte findet? Zeh: (lacht) Ja, genau. Anders geht das wahrscheinlich gar nicht, es sei denn, man ist Physiker und schreibt selbst ein Buch. Gibt es eigentlich zur Zeit jemanden? Einen Physiker, der ein Buch geschrieben hat? Heydenreich: Ulrich Woelk, Thomas Lehr, der aber nicht Physiker, sondern Biochemiker ist. Zeh: Ja, stimmt. Der ist ja auch wirklich einer der wenigen, der mit dem Buch »42« versucht hat, in diese Richtung zu gehen, was mir auch gut gefallen hat. Ich habe das Buch wirklich gerne gemocht!

Physik und Ethik, Wissenschaft und Moral Mecke: Welche Problemkomplexe sind Ihnen bei der Konzeption des Romans wichtig gewesen? Der Zusammenhang zwischen Wissenschaft und Moral oder die Erkenntnisprozesse, die durch Quantentheorie problematisiert werden? Beide sind im Roman angelegt. Zeh: Ich wollte mich damit beschäftigen, weil ich fasziniert war von einer Parallelität, die ich glaubte entdeckt zu haben, zwischen dem Beobachter, der in der Quantenphysik die Rolle eines Einwirkenden bekommt, und dem, was die Erkenntnistheorie genau dazu sagt, und zudem habe ich mir die Frage gestellt, was angesichts dessen die Rolle des Erzählers in einem Roman ausmacht. Da war erst mal die Faszination für eine sehr vage und vor allem metaphorisch begriffene Konstellation, die ja letztlich eine ganz große Menschheitsfrage beinhaltet: Was können wir über die Wirklichkeit wissen? Gibt es eine objektive Wirklichkeit, über die wir etwas wissen können? Oder sind wir als Subjekte immer mitverantwortlich für die Erschaffung dieser Wirklichkeit? Und daraus folgen dann auch tatsächlich diese Fragen nach Moral und Verantwortung, mit denen ich mich auch generell, auch jenseits von diesem Buch, viel beschäftigt habe. Ich persönlich neige zu der Auffassung, dass es eine objektiv erkennbare Realität nicht gibt, sondern dass wir immer in der Subjektivität der Beobachtung gefangen sein werden. Und wenn man davon ausgeht, ist es interessant, danach zu fragen, auf welcher Grundlage dann eigentlich Moral oder Verantwortung stattfinden soll. Deswegen ist das in »Schilf« auch in dieser Konstellation mitverarbeitet, dass im Grunde Sebastian und Oskar an diese Frage ganz konkrete ethische Konsequenzen knüpfen. Sie sagen im Prinzip: Wenn wir jetzt tatsächlich davon ausgehen, dass es nicht nur eine Realität gibt, sondern möglicherweise sogar parallel geschichtete Realitäten, wenn es sowieso keine Grundlage gibt, auf der wir uns ver-

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ständigen können, wer sagt uns dann überhaupt noch, dass wir für irgendeine Art von Handeln verantwortlich sind? Das ist das, womit ich mich beschäftigt habe, aber ich wollte das nicht so offenlegen. Wenn überhaupt, dann drückt sich da vielleicht nur eine persönliche Meinung aus, die ich generell zu dieser Frage von Moral und Verantwortung habe. Diese kann aus meiner Sicht nur so gelöst werden, dass man am Ende zu dem Schluss kommt: Ganz egal, wie wir die Prämissen beantworten – erfülltes menschliches und soziales Leben ist immer nur möglich, wenn man Verantwortung übernimmt. Ganz egal, worüber man davor alles nachgedacht hat: Das muss das Ergebnis sein. Deswegen ist es im Buch natürlich auch so, dass letztlich diese Auffassung gewinnt, dass das Negieren von Verantwortung nicht belohnt wird, weil das meine persönliche Meinung ist. Aber auch das wollte ich nicht in Form des Zeigefingers transportieren. Mecke: Es ist ja offensichtlich, dass Oskar scheitern muss. Zeh: Ja, das ist ja auch klar! Es gibt, glaube ich, wenige Menschen, die für totale Morallosigkeit und totale Verantwortungslosigkeit plädieren würden. Es gibt viele, die das leben, aber wenige, die das tatsächlich verlangen würden.

Das physikalische Experiment als literarische Versuchsanordnung Mecke: Die Vogelperspektive ist Ihnen wichtig: Am Anfang und Ende sieht man Freiburg vom Flugzeug aus, Schilf mit seinem Vogelei im Kopf. Die Vögel scheinen auch Beobachter zu sein, »denn immer war einer von uns dabei« (S, 7), wie es im Prolog heißt, und: »Täglich senden Wald und Berge eine große Menge Vögel in die Stadt, mit dem Auftrag, über die neuesten Ereignisse zu berichten.« (S, 9) Am Ende verabschiedet Schilf seinen Kopf-Beobachter und ein Vogel steigt auf. Warum sind Ihnen Vögel in diesem Roman so wichtig? Zeh: Da man ja auch tatsächlich im Deutschen ›Vogelperspektive‹ sagt, war es eine naheliegende Idee, das auch so zu bauen. Das ist auch der große formelle Überbau der Geschichte geworden. Die Vögel, die über der Stadt kreisen und die Geschichte erzählen, haben im Kopf des Kommissars einen Ableger, der wiederum wie der Beobachter eines Experiments ist und das Geschehen mitbeeinflusst. Heydenreich: Das physikalische Experiment als literarische Versuchsanordnung wird gleich auf den ersten Seiten von »Schilf« referiert. Hat Sie bei der Konzeption des Romans beschäftigt, inwiefern physikalische Prinzipien den narrativen Strukturen des Romans zugrunde liegen können?

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Zeh: Klar! Das ist natürlich immer reizvoll und auch, glaube ich, generell ein menschliches Bestreben. Die ›Theory of Everything‹ ist etwas, wonach Menschen sich generell sehnen, weil sie einfach gerne alles auf einen Nenner bringen würden. Es ist für uns schwierig, die Tatsache auszuhalten, dass wir umgeben sind von einer unfassbaren Komplexität der Dinge, die wir niemals im Einzelnen durchdringen werden. Daraus resultiert der Wunsch danach, zu sagen: Es lässt sich alles auf Prinzipien reduzieren. Am Ende haben wir vielleicht nur noch eine einzige Formel, aus der man all das ableiten kann. Das ist, glaube ich, eine große Sehnsucht in uns. Und diese ›Theory of Everything‹, als Metapher begriffen, wäre bei »Schilf« für mich der Versuch gewesen, wieder alles auf diese Idee zu reduzieren, dass man die Welt letztlich aus einer Erzählperspektive erklären kann. Das, was der Erzähler macht, das, was der Beobachter macht, ist letztlich Gott, der in dieser Perspektive steckt. Gott ist derjenige, der sagt: »Am Anfang war das Wort, dann erzählte ich euch die Welt.« Und er schuf sie dadurch. Darin sieht man die Größe dieser Idee. Sie ist in der Lage, das ganze Universum in sich aufzunehmen und das ist generell natürlich reizvoll: Parallelen zu schaffen, die es hinterher so aussehen lassen, als könnte man alles mit einer Struktur erklären. Das macht Spaß. (lacht) Man kann vielleicht wenig Nützliches daraus ableiten, aber es gibt einem eine tiefe Befriedigung. Heydenreich: Aber dann merkten Sie, glaube ich, ziemlich schnell, dass die Interpretationen der Quantententheorie der Idee der ›Theory of Everything‹ geradezu widersprechen, weil eben nicht so leicht alles auf einen Nenner zu reduzieren ist. Sie hatten gesagt, dass Sie nicht nur der physikalische Inhalt, sondern auch die epistemologischen Deutungen der Quantentheorie interessieren. Werden die Deutungen der Quantentheorie dafür eingesetzt, um den Plot glaubwürdig zu machen? Wieso werden die verschiedenen Interpretationen der Quantentheorie ausgerechnet in dieser Weise den Figuren zugeordnet und wieso werden aktuellere Deutungen oder zum Beispiel die Dekohärenz nicht erwähnt? Zeh: Weil ich es simpel brauchte! Ich brauchte einen möglichst klar bipolar aufgespreizten Antagonismus für die Figuren. Das Erzählen von Geschichten hat einfach auch Gesetzlichkeiten, denen man gehorchen muss. Zum einen, weil man die Leser nicht überfordern darf, und zum anderen, weil man auch aufpassen muss, dass es, damit es gute Literatur bleibt, nicht kippen darf zwischen dem Versuch, der Theorie gerecht zu werden, und dem, was das Narrativ in sich trägt. Und da ist es unheimlich wichtig gewesen – glaube ich nach wie vor und ich würde es auch jederzeit wieder so machen –, dass Sebastian und Oskar möglichst einfach aufgeteilt, bis hin zum Holzschnittartigen, Vertreter ihrer Positionen sein müssen. Ich glaube, dass sonst die Geschichte in sich zerbröselt wäre. Das geht ja so weit, dass ich Oskar dunkelhaarig entworfen habe und Sebastian blond. Die sind ja in

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jeder Hinsicht so klar voneinander geschieden! Ich glaube einfach, dass es sonst nicht möglich gewesen wäre, zwischen den beiden ein Spannungsverhältnis aufzubauen, das die Handlung trägt. Da müssen ja auch Psychologien bedacht werden, das allein ist schon schwierig! Wenn man sich die Figuren wirklich anguckt und deren Motivationen hinterfragt, dann ist das psychologisch natürlich nicht besonders glaubwürdig, wenn man es mal wirklich so nimmt, wie es da steht. Das ist dem Buch auch vorgeworfen worden, zu Recht! Man muss schon mit sehr viel Geduld und Bereitschaft an das Buch rangehen und es so annehmen, wie es ist, weil man ansonsten immer nur sagen würde: Es ist einfach nur wahnsinnig konstruiert! Was es ja auch ist. Heydenreich: Das ist Literatur doch immer, mich stört das nie. Ob man es durchscheinen lässt oder nicht: Das ist vielleicht die große Kunst. Zeh: Ja, ich hätte es lieber weniger durchscheinen lassen. Aber es war bei dieser Grundkonstellation einfach sehr schwierig, die Schrauben zu kaschieren. Mecke: Literatur ist sicherlich eine Möglichkeit, parallele Welten zu schaffen und parallele Erzählstränge zu führen. Literatur kann Gedankenexperimente treiben und fragen, was wäre wenn? So basiert die Handlung des Romans wesentlich darauf, dass es parallele Welten vor allem in der Wahrnehmung gibt. Die akustische Täuschung, die dem Roman zugrunde liegt, führt zu solchen parallelen Wirklichkeiten, in denen Sebastian etwas anderes meint als Oskar. Erstaunlich wenig wird im Roman aber mit den parallelen Quantenwelten gespielt, mit Überlagerungszuständen, mit dem durch Beobachtung induzierten Kollaps von Wellenfunktionen. Warum? Zeh: Ja, auch da habe ich ein bisschen Respekt davor gehabt, wie viel den Lesern da wirklich zuzumuten ist. Als ich überlegt habe, wie ich die Handlung baue, um das alles anklingen zu lassen, da hätte man natürlich noch viel weiter gehen können und noch schöne Möglichkeiten gehabt. Aber ich glaube, das wäre dann zuviel geworden, auch erzählerisch. Ich bin mir nicht richtig sicher, ob das in dem Umfang und in dem Rahmen und mit all den anderen Dingen, die ich eben auch noch stattfinden lassen wollte, noch gegangen wäre. Ich hatte schon den Anspruch, ein Buch zu schreiben, was einigermaßen voraussetzungslos von jedem lesbar ist, das alles, was man an Infos braucht, selbst mitbringt. Und man kann nicht voraussetzen, dass jemand weiß, was eine Wellenfunktion ist. Da muss man erst mal hundert Seiten Erklärung schreiben, bevor jemand danach einen kleinen Witz versteht. Da kann man nicht drauf aufsetzen. Das ist nicht Allgemeinbildung. Das wird auch an Schulen nicht unterrichtet, soweit ich weiß, zumindest bei uns nicht.

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Genrekombination zwischen Wissenschaftsthriller und Kriminalroman Heydenreich: Und dann ist der Roman zu einer Art von hybrider Genrekombination zwischen Wissenschaftsthriller und Kriminalroman geworden. Wir haben uns über die Kriminalromanstruktur lange Gedanken gemacht und wir nehmen sie dem Roman nicht so ganz ab. Dient diese Krimistruktur der Behandlung physikalischer Themen oder werden die physikalischen Themen auch dafür genutzt, um den mysteriösen, etwas konstruierten Plot des Romans etwas glaubwürdiger zu machen? Zeh: Das ist Zufall. Ich habe zu dem Zeitpunkt, als ich so vage angefangen habe, über den Roman nachzudenken, den unheimlichen Wunsch verspürt, einen Kommissar auftreten zu lassen. Das ist schwer begründbar. Der erschien mir sozusagen irgendwann, übrigens schon mit dem Namen ›Schilf‹ versehen. Das hatte ich davor auch noch nie, zudem mit diesem seltsamen Namen, den ich auch gar nicht weiter erklären kann. Ich hatte sozusagen die Idee in Form einer Figur, die da relativ unvernetzt einfach stand, und es war klar, wie er hieß, und es war klar, er war Kommissar, und ein gewisses visuelles Bild hatte ich auch schon und irgendetwas an dem hat mich fasziniert. Es ist nun mal so: Wenn du einen Kommissar hast, kannst du schreiben, was du willst, es wird immer ein Krimi sein. Das ist vor allem in Deutschland so. Du brauchst nur einen Kommissar auftreten lassen, dann ist es sowieso ein Krimi, selbst wenn niemand stirbt und auch sonst eigentlich nichts Genremäßiges vorkommt, es wäre ohnehin einer geworden, das ist einfach ein Schlüsselreiz. Und so dachte ich mir: Gut, jetzt hab ich den Kommissar, warum nicht einfach mal mit so ein paar Genre-Sachen dann auch tatsächlich arbeiten? In den Romanen, die ich davor geschrieben habe, war es auch schon in gewisser Weise um Fälle gegangen, und man hätte die auch schon ›Thriller‹, ›Krimis‹ oder wie auch immer nennen können – das war vielleicht nur weniger offensichtlich, weil eben kein Kommissar darin vorkam. Und dann hab ich gedacht: Na, warum nicht? Jetzt gibt es einen Kommissar, dann gibt es auch ein paar Polizisten . . . Das hätte man ja gar nicht gebraucht, man hätte die ganze Sebastian-undOskar-Geschichte auch ohne Schilf und ohne diese Ermittlungen genauso schreiben können, das wäre überhaupt nicht wichtig gewesen. Mecke: Aber ab der Hälfte des Romans treibt Schilf doch die Handlung voran! Das ist doch dramaturgisch wichtig! Zeh: Das schon, aber das hätte man auch anders machen können. Den Kommissar hätte es nicht notwendig gebraucht. Dass er so spät kommt, zeigt ja schon, dass er in dem Plot nichts zu suchen hat. Ich habe dann angefangen, mich mit der Physik-Sache zu beschäftigen, und da stand die Geschichte um Sebastian und

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Oskar viel mehr im Vordergrund. Dann wartete da aber noch der Kommissar, um den ging es ja eigentlich, und so ist der dann irgendwann, ziemlich spät, noch in das Buch reingefahren. Das ist wirklich eher so, dass da zwei Sachen, die mich gleichermaßen interessiert haben, von mir gewaltsam zusammengebracht worden sind. Das hatte nichts miteinander zu tun. Mecke: Das wundert mich jetzt, denn Schilf ist ja wirklich die zentrale Figur, die Titelfigur. Und Sie meinen, es wäre auch ohne ihn gegangen? Zeh: Ja klar! Für mich ist er auch die zentrale Figur! Aber für die Handlung . . . Man hätte die Geschichte um Sebastian und Oskar über Physik und Moral und Verantwortung auch ohne Schilf schreiben können. Ich nicht! Das war nicht mein Wunsch, aber es wäre gegangen. Ich meine jetzt, rein von den narrativen Konstruktionen her. Mecke: Ja, aber diese Figur Schilf hätte man auch ohne die Physik schreiben können, ohne Oskar und Sebastian! Zeh: Ja! Heydenreich: Das Interessante dabei ist, dass der Krimiplot zwar angedeutet, aber nicht so wichtig ist. Der Roman ist meiner Ansicht nach nicht auf den Krimiplot hin, sondern geradezu gegen den Krimiplot zu lesen. Denn Schilf verhält sich dann letztlich doch nicht wie ein Kommissar, sondern versucht mit diesem Habitus genau das zu machen, was Kommissare üblicherweise nicht tun. Er als Ermittler hat den Mörder identifiziert, sieht aber zu, ihn vor der Polizei und vor allem vor sich selbst zu schützen. Zeh: Absolut! Er ist ja wirklich ein Anti-Kommissar. Nichts verbindet ihn eigentlich mit den echten Kommissaren. Ich bin auch nicht unglücklich mit dieser Konstellation, ich will nicht sagen, dass das Buch in irgendeiner Art und Weise daran krankt. Ich weiß einfach noch sehr genau, wie sich das beim Schreiben angefühlt hat: Ich hatte die Physik und ich hatte einen Kommissar. Und jetzt bring die Sachen mal zusammen!

Beobachtung als Erkenntnisperspektive Heydenreich: Die Literatur leiht sich den Darstellungsmodus des wissenschaftlichen Protokolls aus, um das explizit darzulegen, was der literarische Text ohnehin schon leistet: die Beobachtung der Beobachtung. Oder das Aufzeigen dessen, was die Figur, während sie handelt, nicht beobachten kann. Insofern ist auch der Krimiplot nichts anderes als ein komplementärer Teil der Versuchsanordnung, die nicht physikalisch, sondern literarisch ist und die durch die Mittel der Physik zeigt, wie Literatur funktioniert.

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Zeh: Genau! Mecke: Beobachtung ist sicherlich ein zentrales Thema, »Schilf« ist auch ein Roman über das Beobachten und die Wahrheit hinter dem Scheinbaren. Dafür stehen für Schilf der Schmetterling und die Vogelperspektive. Sehen sie Parallelen oder eher Unterschiede in der Art, wie Kriminalkommissare beobachten und wie Physiker beobachten und analysieren? Zeh: Ja. Den Unterschied würde ich doch sehr stark darin sehen, dass die beobachtende Physik heute ja nur noch eine messende sein kann, oder? Also, korrigieren Sie mich, wenn das nicht stimmt, aber es gibt ja eigentlich nichts, was man noch mit Augenschein entdecken könnte. Sie werfen auch keine Kugeln mehr von Tischen oder Äpfel von Bäumen oder was weiß ich, was man früher so gemacht hat. Das ist ja gerade das, was es der Physik so schwer macht, noch im Diskurs vorzukommen, glaube ich. Zum Beispiel so ein Teilchenbeschleuniger: Erklär mal den Leuten, dass das ein Fernrohr ist! Das ist, doch schwer nachzuvollziehen: Ich glaube nicht, dass das noch als Beobachtung empfunden wird, obwohl es das letztlich schon ist. Dennoch würde ich auch sagen: Das ist etwas völlig anderes als die Beobachtung, die ein Kommissar anstellt, weil der mit den natürlichen Sinnen und durch das Gespräch mit Menschen versucht, eine Wahrheit zu konstruieren. Das ist schon etwas anderes, als wenn eine Maschine, die nur von tausenden von Menschen überhaupt beherrscht werden kann, das Instrument der Beobachtung ist. Ich glaube, dass das durchaus wesenhaft verschieden ist. Mecke: Das empfinde ich gar nicht so. Wir haben auch unsere Bausteine, die wir zusammensetzen und umsortieren müssen, und wir haben immer ein Rätsel. Ich spreche jetzt als Theoretiker. Der Experimentalphysiker wäre da bestimmt viel handwerklicher unterwegs als ein Theoretiker, der einfach nur Fakten beobachtet, die sich widersprechen, die nicht zusammenpassen . . . Zeh: Das ist genau das, glaube ich, was sich keiner mehr richtig vorstellen kann, was schade ist. Man kann sich nicht vorstellen, was ein Physiker wirklich macht! So gesehen würde ich auch sagen, dass da eine gewisse Ähnlichkeit zum Kommissar gegeben ist. Mecke: Deshalb fand ich das auch sehr plausibel: Diese zentralen Figuren, den Kommissar und die Physiker, über das Thema der Beobachtung miteinander zu verknüpfen, das fand ich eigentlich schlüssig. Zeh: Ja, weil es letztlich, wie gesagt, auch auf die mich faszinierende Frage hinausläuft: Gibt es überhaupt etwas zu Beobachtendes in objektiver Hinsicht? Oder drehen wir uns alle mit unseren Instrumenten und Sinnen um etwas herum, was immer im Unklaren bleiben wird?

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Heydenreich: Wir sprachen von verschiedenen Modi der Beobachtung durch die Physiker und durch den Kriminalkommissar. Ich glaube, dass es für den Roman auch sehr wichtig ist, dass die Literatur ein Medium der Beobachtung ist, und zwar der Beobachtung dessen, was normalerweise nicht beobachtet werden kann. Der Leser kann wahrnehmen, was die Figuren im Einzelnen – während sie agieren – nicht sehen können, und das trägt zur Selbsterkenntnis bei. Ich glaube, dass Schilf in dieser Hinsicht eine sehr interessante Figur ist. Schilf ist die einzige Figur, die sich der reflexiven Funktion der Beobachtung bewusst ist und aus dieser Position heraus auch reflektieren kann, was den anderen Figuren bei mangelnder Selbstbeobachtung entgeht. Ist er der eigentliche Experimentator und nicht Oskar? Der Zeuge zum Beispiel, der im Kriminalplot überhaupt keine Rolle spielt, taucht hier als Nabokov-Figur, als Schmetterlingssucher auf und gibt Hinweise darauf, dass die Figuren vielleicht Teil einer experimentellen Anordnung, eines fiktiven Szenarios sein könnten. Zeh: Ich glaube, dass mindestens neunzig Prozent der Leser sich an den Augenzeugen, an den Schmetterlingssucher, nicht erinnern können, sie nehmen die Figur überhaupt nicht wahr. Da muss man sich also schon sehr gut auskennen, um das zu merken. Und die Leser werden auch gar nicht so weit denken, dass sie sagen: Huch! Das ist ja voll Anti-Krimi, was hier passiert! Da überschätzt und überfordert man, glaube ich, auch die Leser. Das ist aber auch nicht schlimm! Es wird so unterschiedlich gelesen. Jeder liest ein anderes Buch, und es gibt tatsächlich auch Leser, aus deren Reaktion ich weiß, dass sie den Roman einfach als Krimi gelesen haben. Die finden das Ende dann nicht so gelungen, und das ist es auch, das gebe ich auch zu. Das ist nicht besonders gelungen. Aber dafür, dass sie das als Krimi gelesen haben, waren sie eigentlich trotzdem recht zufrieden mit dem Plot und der Geschichte. Und dann gibt es wieder andere, die lesen von einem philosophischen Standpunkt aus. Die interessiert überhaupt nicht, was da für Kommissare vorkommen. Und Leute, die sich sehr gut auskennen mit Literatur, verstehen dann eben auch so kleine Anspielungen. Das ist ein typischer Autorenwitz. So etwas macht mir beim Schreiben einfach unglaublichen Spaß. Ich kann mich daran wahnsinnig delektieren und das macht mir große Freude, aber ich erwarte nicht, dadurch eine Botschaft zu senden. Das ist wirklich eher ein selbstbezügliches Spiel. Es ist natürlich schön, wenn es jemand auffängt, aber ich weiß schon, dass man sowas in dem Moment für sich selbst macht. Ich bin völlig einverstanden damit, wenn jemand an dem Buch Dinge interessant findet, die ich vielleicht noch nicht mal bemerkt habe. Das ist gerade das Wunderbare an Literatur, dass das funktioniert. Heydenreich: Vladimir Nabokov spielt auch mit dem Wechsel der narrativen Ebenen, mit metaleptischen Transgressionen, sodass der Autor als fiktive Figur selbst in

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der fiktionalen Welt erscheint. Ihr Roman fokussiert auf das mangelnde Bewusstsein der Figuren für das Problem der ›Beobachtung der Beobachtung‹. Könnte deshalb die Stellung Oskars oder Schilfs als diejenige, die mit der Versuchsanordnung spielen, mit der Stellung des Autors parallelisiert werden? Sodass der Autor sich in die Karten gucken lässt und zeigt, was er tut, wenn er literarische Werke konzipiert, und dabei stets bewusst die Künstlichkeit der Versuchsanordnung durchscheinen lässt? Deshalb der doppelte Verweis des Schmetterlingssuchers – einmal an Sebastian, der nichts versteht, einmal an Schilf, der die Situation Sebastians durchschaut? Zeh: Im Grunde ja. Wobei ich dann sagen würde, das geht darüber hinaus, wie Literatur funktionieren kann. Im Grunde könnte man auch umgekehrt sagen, dass Schilf behauptet, dass das, was wir als unsere normale Welterfahrung betrachten, auch nichts anderes ist als Literatur. Man könnte es auch umdrehen und sagen, dass das Buch eigentlich die Grenze zwischen Realität und Fiktion erforscht und diese Grenze auch negiert. Von daher ist das sowohl eine Studie darüber, was Literatur eigentlich vermag, aber es ist auch – und das hat mich fasziniert – eine Studie darüber, was Erkenntnis eigentlich bedeutet. Gibt es Erkenntnis ohne Erschaffen? Das war eigentlich meine Frage. Gibt es Erkenntnis als eine Einbahnstraße? Ich, der ich hier sitze und passiv beobachte, und auf mich strömt etwas ein, was ich beobachte, und daraus gewinne ich Erkenntnis? Das ist die Art, wie wir uns Welterfahrung im ersten Moment vorstellen. Ist das tatsächlich so? Oder ist Erkenntnis nicht immer auch ein schöpferischer Prozess, der in Interaktion tritt mit dem, was erkannt wird? Und in dem Moment, in dem man das bejaht – und das tut die Physik ja in gewisser Weise, indem sie eine Interaktivität zwischen Erkennen und Beobachten feststellt –, wenn man das bejaht, dann ist man ja schon an dem Punkt, an dem man sich fragen muss: Gibt es eigentlich tatsächlich einen fundamentalen Unterschied zwischen Realität und Fiktion? Gibt es den überhaupt? Mecke: Es gibt eine Widerständigkeit der Welt gegenüber meiner Beobachtung oder meiner Erkenntnis. Sie fügt sich nicht. Zeh: Warum? Mecke: Ja, das ist für mich wirklich das größte Geheimnis der Natur, dass sie sich nicht meiner Vorstellung oder meiner Fiktion fügt. Zeh: Aber so, wie Sie das formulieren, gehen Sie schon davon aus, dass es etwas Objektives gibt, das zu erkennen wäre, wenn es sich nicht dagegen sperren würde. Mecke: Ich möchte nicht über ein Ding an sich oder über eine objektive unberührbare Natur sprechen, aber ich empfinde es als Physiker so, dass ich nicht beliebig denken kann oder beliebig experimentieren kann, dass die Natur vielmehr eine Instanz ist, die wirklich antwortet und autonom antwortet.

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Zeh: Aber verlässlich. Mecke: Verlässlich antwortet. Zeh: Und nicht bis ins Letzte! Mecke: Nein. Zeh: Das ist dann eben die Frage: Liegt das an der Natur oder liegt das an der Erkenntnisfähigkeit, die wir haben? Und ich würde sagen, es liegt an der beschränkten Erkenntnisfähigkeit. Und ist das überhaupt ein Unterschied? Das ist dann die nächste Frage. Heydenreich: Denn wer hat jemals vollständige Erkenntnis erlangt? Zeh: Ja. Der Autor und Gott, sonst keiner. Mecke: Oder der Physiker. (alle lachen) Man muss nur nah genug herangehen, dann sieht man alles.

Physiker als Kunstfiguren Heydenreich: Bei der Analyse der Verfahren, mit denen die Physiker-Figuren als fiktive Artefakte angelegt sind, fällt auf, dass der Aspekt der Konsistenz der Figuren außer Acht gelassen wird. Oskar ist theoretischer Physiker, arbeitet an Experimenten im Beschleuniger am CERN und bekennt sich zur »Gültigkeit der Empirie als Erkenntnisverfahren«. (S, 31). Sebastian ist Experimentalphysiker, Nanotechnologe, und überzeugt von den philosophischen Grundlagen der Quantentheorie, er interessiert sich für ihre epistemologischen Deutungen: »Deshalb sei die Physik vor allem eine Dienerin der Philosophie«. (S, 31) Oskar und Sebastian beschäftigen sich in gewisser Weise jeweils mit dem Forschungsgebiet des anderen. Und das, was sie erforschen entspricht jeweils nicht dem Habitus eines Experimentalphysikers oder eines Theoretikers. Wird diese Inkohärenz dadurch aufgelöst, das man annimmt, dass Sebastian und Oskar zwei Facetten einer Forscherpersönlichkeit sind und sich stets im gedanklichen Austausch befinden und gegenseitig ergänzen? Zeh: Ja, das ist über Kreuz. Aber das wirft Oskar Sebastian ja auch vor, er bezeichnet ihn als Abtrünnigen und sagt: ›Du bist immer auf meiner Seite gewesen und hast dich dann falsch entschieden.‹ Soweit das psychologisch motiviert ist, ist das ja fast schon wie eine Vater-Sohn-Beziehung. Oskar wirft ihm im Grunde vor, dass er sich nur aus Trotz dagegen positioniert hat, weil er irgendwann gemerkt hat, dass er nie so gut sein wird. Eigentlich sind die Figuren vom Ansatz her nicht wirklich verschieden. Sie sind Abspaltungen einer Person, müsste man eigentlich sagen.

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Mecke: Aus der Sicht von Oskar also wäre die experimentelle Nanophysik eigentlich eine Fluchtbewegung . . . Heydenreich: Wenden wir uns beispielsweise der ersten Begegnung des Kriminalkommissars mit Sebastian zu. Der Kommissar hat zunächst versucht, sich in das Forschungsgebiet Sebastians einzudenken, um seinen Fall zu lösen. Vielleicht ist es ihm dabei nicht so gut gelungen, die Physik zu verstehen, aber es ist ihm gelungen, den Physiker besser zu verstehen, als er sich selbst versteht. Und an dieser ersten Begegnung ist interessant, dass man nicht weiß, ob der Kriminalkommissar gerade einen Angeklagten vor sich hat oder ob er ihn als Zeuge befragt. Tatsächlich spielt der Fall auch keine Rolle mehr, weil das Kind ja schon wieder aufgetaucht ist. Statt als Zeuge durch Schilf befragt zu werden, legt Sebastian ein anderes Zeugnis ab: über die philosophischen Überzeugungen, die seinem wissenschaftlichem Weltbild zugrunde liegen. Teil dieser Überzeugungen ist auch, dass der Zufall nur ein Aspekt tiefer liegender Zusammenhänge ist, die noch nicht vollständig verstanden worden sind. In diesem Kontext spricht er auch von den Menschen als Puppen, die von unbekannten Drahtziehern manipuliert werden. So liefert er als Figur im Roman alle Elemente, die dem Verständnis seiner eigenen Verwicklung im Plot dienen würden. Doch diese tragen nicht zur Selbsterkenntnis bei. Ist das eine Parodie auf das Wissenschaftlerbild? Oder ist diese Einsicht charakteristisch für den Menschen allgemein, dass das eigene wissenschaftliche Verständnis und die Selbsterkenntnis auseinander streben, statt sich gegenseitig zu bedingen? Zeh: Letzteres. Man kann das bestimmt auch lesen als Parodie auf Wissenschaftlichkeit an sich, das hatte ich aber nicht im Sinn. Die Unfähigkeit des Menschen, Erkenntnis und Selbsterkenntnis zusammenzubringen, ist, glaube ich, etwas vollkommen anthropologisch Konstantes, dafür brauchen wir noch nicht einmal in die Wissenschaft zu gehen. Das ist einerseits eine immer wieder erheiternde, aber letztlich auch total tragische Neigung, von der man – obwohl man weiß, dass es sie gibt – trotzdem nicht ausschließen kann, dass man ihr selbst unterliegt. Das macht die Sache ja noch schlimmer, mir geht es immer wieder so! Man hat sich selbst auch immer im Verdacht, dass das mit dem Alter schlimmer wird. Und das ist tatsächlich so: Die Fähigkeit zur Selbsterkenntnis nimmt ab. Ich weiß nicht, warum das so ist, aber man beobachtet das auch bei anderen Menschen stark. Man versucht, es zu verhindern, merkt aber trotzdem, dass der Zugriff nicht da ist, um vermeintlich Erkanntes auf die eigene Person anzuwenden. Das ist, glaube ich, wahrscheinlich sogar ein unmöglicher Schritt. Und das ist das, was Sebastian passiert und was an Romanfiguren generell interessant ist. Da bin ich nicht die Einzige, die damit immer wieder lustvoll arbeitet. Es gibt Romane, in denen Figuren mit dem Autor in Streitgespräche darüber geraten, weil sie ihren Figurenstatus erkannt haben. Das ist natürlich eine sehr

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lustvolle Angelegenheit. Meine Figuren erkennen ihren Figurenstatus nicht und bleiben sozusagen im realistischen Menschsein, weil auch wir Menschen nicht in der Lage sind, unseren Figurenstatus zu erkennen, selbst wenn wir es versuchen. Ich glaube, das ist unmöglich. Selbst wenn man an Gott, den Schöpfer oder an was auch immer glaubt, wäre man trotzdem nicht in der Lage, sich als Figur in einem erdachten Spiel zu betrachten. Das ist uns einfach verwehrt. Mecke: Aber beide Figuren kommen ja am Ende zur Selbsterkenntnis: Oskar, der bekennt, dass er der Meister des ›Doublethink‹ ist, und Sebastian mit seinem Bekenntnis, dass er einfach nicht versteht, in welchen Bezügen er lebt. Zeh: Bloß, dass Sebastian ja auch noch lernen muss, was Oskar ihm anträgt. Oskar hat mit seinem Grundvorwurf an Sebastian nicht unrecht: Er wirft Sebastian vor, dass er eigentlich ein Scheinleben führt, ganz simpel in Bezug darauf, dass er mit ihm die wahre Beziehung hätte führen müssen und sich zum einen in die bürgerliche Ehe geflüchtet hat und zum anderen auch in die universitäre Existenz und in sein Fachgebiet. Er bezichtigt ihn eines ultimativen Weglaufens vor dem, was ihm eigentlich bestimmt war, in eine Parallelwelt. Das will er ihm beibringen. Und das tut er auch, er schafft es auch. Mecke: Genau das meinte ich: Er erlangt diese Selbsterkenntnis am Ende. Zeh: Ja, aber das ist keine Selbsterkenntnis in der Form, die Aura Heydenreich gemeint hatte, sondern in einem anderen Sinn. Man kann seine eigenen Handlungen schon selbst moralisch beurteilen – und das gelingt den Figuren am Ende des Romans zumindest teilweise. Eine Selbsterkenntnis in der Form, über die wir gerade gesprochen haben, bezieht sich aber mehr auf die Frage: Was bin ich? Was ist der Mensch? In was für einer Beziehung stehe ich tatsächlich zum Geschehen, zur Welt, zu dem, was mich umgibt, zu einem eventuellen Schöpfer? Könnte mich jemand erdacht haben? Ist meine Existenz real oder fiktiv? Das sind, glaube ich, Fragen, die wir nicht beantworten können. Mecke: Aber Sebastian kommt doch zu dem Punkt, an dem er selbst sagt ›Was ich bin, weiß ich nicht.‹ Zeh: Genau. Wenn man sagt: Selbsterkenntnis ist, dass ich nichts wissen kann, dann ja. Aber dann ist ja die Negation der Selbsterkenntnis die Selbsterkenntnis. Heydenreich: Zumindest das! Zeh: Ja, ›ich weiß, dass ich nichts weiß!‹ Hm . . . traurig! War auch anders gemeint vom Schöpfer dieser Welt . . . Heydenreich: Der Versuch gibt nicht nur Auskunft über das Experimentalobjekt sondern auch über den Experimentator. Man hat das Gefühl, dass Oskar, obwohl er Sebastian versucht zu beweisen, dass es keine Paralleluniversen gibt, sich geradezu ein solches wünscht, eines, in dem er als Partner der Familie vorgezogen wird. Indem

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Oskar Sebastian die Flucht anbietet, stellt er ihm einen parallelen Lebensentwurf vor. Man kann sich die Frage stellen, ob er ihn damit zu einer Entscheidung zwingen will oder ihm die Alternative anbietet, von der er ihn durch den Versuch eigentlich abbringen wollte. Köbner: Im Prinzip kreiert Oskar dann wieder eine Parallelwelt und macht genau das, was er Sebastian ankreidet? Zeh: Ja, im Prinzip ja. Das ist auch das, was ihm dann am Ende vorgeführt werden muss, damit er versteht, worin seine Schuld besteht. Die Schuld, die Oskar letztlich am Ende auf sich nehmen kann, ist noch nicht mal nur die, moralisch falsch gehandelt zu haben, indem er eine Entführung inszenierte und dadurch Leute ins Unglück stürzte. Die Schuld ist eigentlich die, einen Denkfehler begangen zu haben. Und der Denkfehler besteht eben darin, dass er zum Schöpfer eines Paralleluniversums geworden ist, obwohl er genau das Sebastian immer vorgeworfen hat. Da beißen sich mehrere Katzen in den Schwanz. Köbner: Weisen diese Unsicherheiten, die es beim Lesen immer wieder gibt – etwa: Ist das Kind jetzt entführt oder nicht? Wer ist Täter, wer ist Opfer? Was ist gut, was ist schlecht? – strukturell auf Parallelwelten hin oder interpretiere das nur ich da hinein? Zeh: Gedacht habe ich das nicht so, sondern das dreht sich alles eigentlich immer um die Frage: Gibt es für Menschen überhaupt etwas Entscheidbares? Können wir überhaupt im zwischen richtig und falsch entscheiden? Oder sind das immer nur individuelle Setzungen? Schon die Frage, ob das Kind entführt wurde oder nicht, ist eine, die man natürlich gemeinhin als beantwortbar definieren muss, sonst wären wir nicht mehr lebensfähig, wenn wir das nicht mit einem klaren, für alle gültigen Ja und Nein beantworten könnten. Aber das ganze Buch spielt damit, selbst solche simplen Fragen immer wieder zu hinterfragen. Ist nicht auch das nur eine Perspektive, ob das Kind entführt worden ist oder nicht? Aus der Sicht des einen sieht es eindeutig so aus, aus der Sicht von jemand anderen möglicherweise nicht. Und dann, wie vorhin schon gesagt, stellt sich immer wieder diese Frage der Verantwortung: Wenn wir nicht wissen, wovon wir ausgehen, wie können wir dann daraus ableiten, wie wir handeln sollen? Ist das nicht in sich ein Problem, über das komischerweise nicht so viel nachgedacht worden ist in den letzten Jahrzehnten, obwohl sich das ja eigentlich ziemlich aufdrängt? Heydenreich: Wahrscheinlich wird nicht darüber gesprochen, weil so viel radikal infrage gestellt wird. Wie geht man denn zum Beispiel im juristischen Bereich damit um? Wird da nicht auch so viel angezweifelt, dass es am Ende nicht mehr möglich ist, so objektiv, wie viele sich das wünschen, zu urteilen?

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Zeh: Ja. Das Schöne ist aber doch, dass man bei einer Branche wie der Juristerei einfach sagen kann: Wir brauchen die. Zum Beispiel wird von der Rechtswissenschaft ja sehr weitverbreitet erwartet, dass sie Gerechtigkeit herstellt. Das ist das, was Menschen erwarten. Das setzt schon voraus, dass es so etwas wie Gerechtigkeit überhaupt gibt. Das wiederum setzt voraus, dass es doch einen objektiven Maßstab von ›richtig‹ und ›falsch‹ gibt, weil es ohne den keine Gerechtigkeit gäbe. Und wenn man so über die Welt denkt und darüber auch nicht gesprochen wird und das auch nicht infrage gestellt wird, dann entstehen natürlich die ganze Zeit Enttäuschungen. Ich glaube, dass gerade das Recht das gar nicht nötig hat, sich mit so einem Anspruch zu wappnen. Man kann einfach sagen: Das ist eine Instanz, in der geht es nicht objektiv um Gerechtigkeit, sondern es geht darum, Zusammenleben gewaltfrei zu regulieren. Und das ist eine völlig pragmatische Aufgabe, die wir innerhalb einer Gesellschaft brauchen, und man kann erklären, wie die funktioniert. Das wäre mir eigentlich lieber. Ich glaube auch, dass das eine viel versöhnendere Wirkung hätte. Mich hat in diesem Zusammenhang ein eigenes Erlebnis überrascht: Ich hatte einmal ein Seminar mit Studenten, in dem haben wir auch über die Frage geredet, was Moral mit Recht zu tun hat, was für Erkenntnismöglichkeiten es eigentlich vor Gericht gibt, denn auch der Richter muss die Wahrheit herausfinden. Bevor er ein Urteil spricht wird ein Tatbestand festgestellt, durch Zeugenaussagen. Das, was im Krimi die Polizei gemacht hat, ist nur die Vorarbeit für das, was der Richter hinterher dann im Prozess als Grundlage für sein Urteil bekommt, und da stellt sich diese Frage noch viel intensiver als auf Ermittlungsebene: Was für eine Wahrheit ist das jetzt eigentlich, über die da geurteilt wird? Und über all sowas haben wir gesprochen. Ich habe versucht zu erklären, dass der Richter, der da sitzt, letztlich ein Gefühlsurteil trifft – das ist meiner Meinung nach so. Das hat die Studenten aber zutiefst geschockt. Wir haben dann über die Frage geredet, warum das schockierend ist, und aus der gesamten Studentengruppe kam unisono: Ihnen wäre es eigentlich lieber, wenn sie selbst vor Gericht angeklagt werden, von einem Computer verurteilt zu werden. Sie wollten eine Maschine, in die man erst Gesetze, dann einen Tatbestand reinfüttert und dann die Strafe berechnet. Das ist die Gerechtigkeitsvision, die diese Studenten hatten! Das Menschliche wird als Willkür empfunden und deswegen verdächtig. Die Idee, dass ein Richter mehr ist als einfach nur ein Gesetzes-Computer, fanden sie total gruselig. Heydenreich: Dann haben sie auch die Idee des Gesetzes wahrscheinlich verkannt. Das ist ja auch nicht das Objektive, was man da in den Computer reinfüttern und was angeblich objektive Ergebnisse liefern würde. Zeh: Natürlich nicht, das sind Wörter! Und nichts ist vielschichtiger als das. Das ist das, was Leute denken. Und deswegen, glaube ich, wäre es schon ganz gut,

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diesen Diskurs vielleicht doch mal zu führen. Natürlich ist der jetzt nicht tauglich, in aller Komplexität verhandelt zu werden, aber es geht letztlich immer um Mentalitäten und um Weltsichten. Und ich glaube, dass es uns eigentlich guttun würde, wenn wir uns mal trauen würden, ein bisschen loszulassen. Wir sind immer noch in dem Gefühl gefangen, wir müssten unsere Institutionen, unsere Weltbilder schützen durch diesen Objektivitätsmantel, durch die Behauptung, es gäbe etwas in Stein Gehauenes, auf das wir uns stützen können. Seit Gott ein bisschen an Kraft verloren hat, muss man umso mehr daran festhalten. Vielleicht will auch deswegen keiner so richtig wissen, was die Physik eigentlich macht. Mecke: Ist die Physik daran schuld? Ist es eine moralische Konsequenz eines physikalischen, objektiven Weltbildes, das dann auf eine Automaten-Gerechtigkeit Wert gelegt wird? Oder das alles angeblich aus fundamentalen Prozessen deterministisch ableitbar ist? Zeh: Das ist nicht Schuld, aber das zeigt, dass die Physik der Sehnsuchtsort geworden ist. ›Physik‹ ist zu kurz gegriffen, sagen wir einfach: ›die Naturwissenschaft‹. Man könnte auch ›Mathematik‹ sagen. Dass das für viele Leute, glaube ich, inzwischen der Sehnsuchtsort geworden ist. Sie haben Schwierigkeiten damit, wenn man ihnen sagt: Der Himmel ist leer, da sitzt kein Schöpfer. Von wem kommen dann bitte die Regeln, an die wir uns halten sollen? Dass das etwas individuell Ausgehandeltes ist, das ist schwer zu ertragen. Dann hofft man eben, dass es irgendwo anders doch dieses Regelwerk gibt, und da richtet sich – nicht so sehr bewusst, vielleicht mehr instinktiv – schon eine gewisse Hoffnung an die Naturwissenschaft. Generell neigt unser Weltbild ja dazu, sehr naturwissenschaftlich zu werden. Da ist auch die Medizin, in die in den letzten Jahrzehnten zunehmend ungeheure, sinnstiftende, heilstiftende Kräfte hineinprojiziert werden. Das alles hängt zusammen. Wogegen ich grundsätzlich nichts habe. Nur hat die Physik es bislang einfach nicht geschafft, darauf zu antworten. Und ich weiß nicht, ob man sie nicht antworten lässt oder ob die Physiker – also Sie und ihre Kollegen – das nicht können.

Die Relevanz der kulturellen Wahrnehmung physikalischer Forschung Mecke: Was würden Sie sich denn wünschen? Zeh: Ich würde mir wünschen, dass Physiker sich erklären. Ich würde es mir wünschen, dass in großen Tageszeitungen Essays erscheinen, die von Physikern geschrieben sind. Ich gehe mal einfach davon aus, dass, genauso wie ein Jurist sich vor seinem juristischen Hintergrund über die Welt Gedanken macht, sich

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wahrscheinlich auch ein Physiker vor seinem physikalischen Hintergrund über die Welt Gedanken macht. Ein Jurist denkt ja auch nicht nur über Erlaubnistatbestandsirrtümer nach, die wieder nicht vermittelbar sind, sondern der denkt ja auch über Größeres nach, zum Beispiel: Was ist Recht? – Was ist Gerechtigkeit? Fragen, die dann doch wieder allgemein verständlich sind, und da hat ja bestimmt auch jeder Physiker Themen, die ihn bewegen, und die müssten eigentlich benannt werden, das müsste existent werden, und es ist schade, dass das so nicht ist. In diese Richtung gibt es ganz wenig. Mecke: Tja. Ich weiß nicht, woran es liegt. Heydenreich: Aber auch dieses Bild, das auf die Naturwissenschaften projiziert wird, ist eine starke Verkennung der Naturwissenschaften. Denn auch die Naturwissenschaften erstellen Theorien, die ein begrenztes Erklärungspotential haben. Die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse sind exakter, man kann Modelle mathematisch berechnen und experimentell verifizieren oder falsifizieren. Die physikalische Erkenntnis ist nicht nur das Ergebnis des individuellen oder gesellschaftlichen Aushandelns, sie ist klar etwas anderes, aber trotzdem sind die Theorien nicht uneingeschränkt gültig. Und sich dann von ihnen diese regulatorische Sicherheit zu erhoffen, ist eine Verkennung. Andererseits entspricht das Bild, das manche Naturwissenschaften von sich nach außen transportieren, diesem Machbarkeitsimage. Da ist Vorsicht geboten! Zeh: Ich kenne das auch. Neurobiologen behaupten, sie würden demnächst erklären, was Liebe ist, oder sie würden beweisen, dass es keinen freien Willen gibt. Wenn man allein diese Versuche, in denen das bewiesen wird, mal durchdenkt, merkt man, dass dahinter eine unglaubliche Verkennung dessen steckt, was ›Wille‹ überhaupt ist. Sie nehmen sich zum Teil Begriffe vor, die hundertprozentig Verhandlungsbasis zwischen den Menschen sind und auch nie etwas Festgefügtes sein werden oder sein können, sondern immer ›Wolken‹, in denen wir uns irgendwie begegnen. Sie legen diese Begriffe aber auf den Tisch, wie Untersuchungsgegenstände, und sagen: So, und das wird jetzt analysiert. Das steht in Zeitungen! Seit es damit losging, mit ›Es gibt keinen freien Willen mehr, die Neurobiologie hat das bewiesen‹, ist es seit Jahren das Gleiche: Talkshows, Essays und so weiter! Das findet statt. Und das finde ich erstens schade und zweitens ungut. Wir sind immer darauf angewiesen, ein Menschenbild zu haben, mit dem wir uns wohlfühlen können. Ich glaube, dass wir da gerade so ein bisschen kranken, dass wir es uns gerade ein bisschen erschweren – in politischer Hinsicht auf einem ganz anderen Terrain, aber auch in einer existentiellen Hinsicht –, ein Menschenbild zu finden, mit dem wir irgendwie einverstanden sein können. Dieses Menschenbild, was da generiert wird, von dieser Welterklärungsnaturwissenschaft, ist, glaube ich, nicht gesund.

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Mecke: Aber das ist nicht die Naturwissenschaft, die dieses Welterklärungsbestreben hervorbringt. Das ist das Feuilleton! Zeh: Ja, das ist das Feuilleton. Natürlich. Deshalb habe ich ja auch gesagt, das hat nichts mit Schuld zu tun! Das ist Rezeption. Und deswegen ist für mich die Frage auch unbeantwortet, warum jetzt zum Beispiel Physik im Feuilleton nicht stattfindet. Liegt das daran, dass das Feuilleton das nicht möchte? Neurobiologie ist auch ein schwieriges Fach und trotzdem wird das populärwissenschaftlich in alle Richtungen plattgewalzt und veröffentlicht. Mecke: Wobei das nur unter dem Aspekt von Freiheit und im juristischen Sinne von Schuld gemacht wird. Die Neurobiologie aber, die sich beispielsweise mit Sinneswahrnehmung beschäftigt, wird überhaupt nicht wahrgenommen. So etwas wird immer nur im Feuilleton diskutiert, wenn es scheinbar um menschliche Themen geht. Zeh: Das ist ja auch verständlich, ich würde jetzt auch nicht vom Feuilleton erwarten, dass es wirklich haargenau durchdringt, was am CERN gemacht wird. Mecke: Die Reaktion von Physikern – also meine eigene Reaktion zum Beispiel, wenn ich sehe, was im Feuilleton verhandelt wird – ist, dass das nichts mit mir oder meinem Beruf zu tun hat. Und wenn mal etwas über Physik geschrieben wird, dann nur im Zusammenhang mit einem Atomunfall in Japan oder einem Lebensmittelskandal in Europa. Das erscheint dann im Feuilleton unter ›Wissenschaft‹. Dass sich da kaum ein Wissenschaftler damit identifizieren kann, ist letztlich nachzuvollziehen. Zeh: Das prägt eben das öffentliche Image sehr stark. Es war ja schon frappierend zu sehen, als der Teilchenbeschleuniger ans Netz gehen sollte, dass die Leute dachten, dass da jetzt ein ›Schwarzes Loch‹ unter Europa entsteht. Das ist doch schon sehr, sehr erschreckend, wie die Physik gesehen wird. Als Hexenwerk!

Romankonzeption und Zufall Heydenreich: Vielleicht noch einmal zurück zu Ihrem Roman. Die Tragödie nimmt hier aufgrund eines Zufalls seinen Lauf. Aber Schilf glaubt nicht an den Zufall. Sebastian auch nicht. Sie glauben an verborgene Ursachen, die scheinbar Zufälliges verstehbar machen. Man könnte argumentieren, dass das Missverständnis ›Dabbeling‹ nicht Zufall ist, sondern auf Sebastians Eifersucht beruht und seiner Unkenntnis der Literatur, insbesondere George Orwells 1984. Andererseits zeigt die Physik, vor allem die Quantenphysik, wie der Zufall in der Natur regiert, mit dramatischen Folgen. Hat die Physik mit der Entdeckung des Zufalls in der Welt das Erzählen von der Welt verändert?

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Mecke: Der gesamte Romanplot basiert auf einem akustischen Missverständnis . . . Zeh: Ja. Das ist eine radikale Setzung. Das muss man schlucken, das ist einfach so. Das Ganze steht, wie eine umgedrehte Pyramide, auf einer Bagatelle. Ich habe auch darüber nachgedacht, ob ich das mit mir selbst vereinbaren kann. Von dem her, was das darstellt, kann ich das total, weil ich sogar fest daran glaube, dass ganz große, wichtige, sogar menschheitsgeschichtliche Fragen von Bagatellen abhängen. Von mir aus auch von akustischen Missverständnissen oder von der Laune von jemandem. Ich glaube, dass das Menschliche viel seltener von großen, durchdachten, planvollen, schicksalhaften, wie in der griechischen Tragödie dargestellten Kollisionen zwischen was auch immer tatsächlich gesteuert wird. Sondern es ist eher die Summe von Bagatellen und Kleinigkeiten. Deswegen habe ich persönlich mit dem, was da über die Welt gesagt wird, kein Problem. Ich glaube, dass das sogar realistisch ist in diesem Sinne. Aber für den Krimileser ist es natürlich ein Affront. Der Krimileser würde sagen: Ich verlange mehr Auflösung oder mehr Geheimnis von einem Plot! Aber in dieser Hinsicht habe ich beschlossen, diese Erwartung nicht zu erfüllen. Köbner: Man hat das Gefühl, dass man als Leser selbst Opfer eines Versuchs wurde. Dass man sich dieser Krimistruktur hingegeben hat und dann darüber hinaus vergessen hat, nach rechts und links zu schauen, und die anderen Ebenen nicht mitbekommen hat. Zeh: Das ist komischerweise bislang in wenigen Reaktionen aufgeschienen. Die wenigsten Leute, die mir gesagt haben, wie ihnen das Buch gefiel und was sie dachten, sind dem Krimi auf den Leim gegangen. Die wenigsten, komischerweise. Die meisten haben ziemlich schnell gemerkt, dass das kein Krimi ist, nicht erst bei der zweiten und dritten Lektüre, sondern eigentlich schon ziemlich schnell. Das hat eigentlich die wenigsten gestört, kritisiert wurden vor allen Dingen – und das kann ich, wie gesagt, gut verstehen – die Psychologien, die da stattfinden, die Motivationen: Warum verhalten sich die Leute so? Macht Oskar wirklich das, was er macht? Macht ein Mensch sowas? Konstruiert ein Mensch eine Scheinentführung eines Kindes, um einen ehemaligen Freund, Geliebten oder was auch immer über ein moralisches Faktum zu belehren? Diese Motivationen, die da am Werk sind, sind arg weit hergeholt – und das hat die Leser gestört. Das kann ich verstehen. Wenn man sehr psychologisch-naturalistisch liest, dann sträubt sich da innerlich was dagegen. Mecke: Warum diese langen, erklärenden Kapitelüberschriften, diese Textfragmente, die da herausgegriffen wurden? Zeh: Das ist eigentlich nur eine persönliche Autorvorliebe, das hat keine Botschaft. Ein Grund, warum es »Schilf« auch als Roman gibt, ist, dass es eine relativ lange, mehrjährige Vorgeschichte dieser auktorialen Erzählperspektive gibt, in

Physik und Ethik | 307

der der Roman verfasst ist, dieser Vogelperspektive. In der Zeit, in der ich angefangen habe am Literaturinstitut zu studieren, mich wirklich professionell mit Literatur auseinanderzusetzen, gab es in Deutschland eine totale Abneigung gegen auktoriale Erzählungen. Uns wurde da gesagt: Das ist veraltet. So erzählt man heute nicht mehr. Das entspricht nicht unserem Weltbild. Es gab nur noch Ich-Erzählungen oder Personalerzählungen, aber nicht mehr diese Sicht von oben. Und ich habe immer eher Literatur aus dem neunzehnten Jahrhundert gelesen oder aus der Jahrhundertwende und meine ganzen Lieblingsautoren haben auktorial erzählt. Für mich war das einfach die Königsperspektive. Und ich habe mich stark dagegen gewehrt, dass das jetzt nicht mehr gehen soll. »Spieltrieb« ist auch schon das Ergebnis des Versuchs gewesen, wieder zeitgemäß auktorial zu erzählen. Und das ist eine auktoriale Erzählung! Auch da gibt es schon Kapitelüberschriften, die eine liebevolle Referenz sind zu Autoren wie Robert Musil oder wem auch immer. Auch dort ist es ein Gestus des auktorialen Erzählers, ein Kapitel mit einer kleinen Zusammenfassung anzukündigen, weil das eben etwas ist, was der auktoriale Erzähler schlicht kann – und deswegen auch macht. Mecke: Ich hatte die Assoziation zum wissenschaftlichen Bericht, in dem vorher eine Zusammenfassung mit den wichtigsten Schlagworten gegeben wird. Zeh: Ja, das ist auch eine Idee! Daran habe ich noch gar nicht gedacht. Nein, das ist wirklich eine Verehrungsgeste gegenüber dem eigentlichen auktorialen Erzähler. Heydenreich: Das mit dem wissenschaftlichen Bericht stimmt dann doch nicht ganz, weil dort im wissenschaftlichen Abstract nur das genannt wird, was wirklich wichtig ist, während in »Schilf« spielerisch zum Beispiel heißt: »Ein Zeuge, auf den es nicht ankommt«. (S, 243) Zeh: Ja! Und irgendwie dann aber auch doch . . . Heydenreich: Aber das ist tatsächlich eine wichtige Frage, mit der ich mich auch als Literaturwissenschaftlerin beschäftige, wenn ich die wissenschaftshistorischen Hintergründe der physikalischen Theorien beleuchten möchte, die in den Romanen poetisch verarbeitet werden, um neue Interpretationsperspektiven zu erschließen. Zeh: Zumal man auch noch nicht mal weiß, was der Autor gewusst hat und was nicht. Man weiß noch nicht mal, auf welches Niveau man sich jetzt begeben muss, wenn man versucht, es zu verstehen. Denn es gibt Autoren, die würden so ein Buch mit einem unglaublichen Rechercheraufwand schreiben. Die hätten zwanzigtausend Fachbücher gelesen und an 20 Konferenzen teilgenommen. Und es gibt Leute, die würden noch nicht mal bei Klaus Mecke anrufen, sondern sagen: Ist mir doch egal! Ich bin Autor! Ich bin Beobachter!

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Zwischen diesen beiden Polen, in dieser Grauzone, ist alles möglich. Und deswegen weiß man noch nicht mal, auf welchem Niveau man recherchieren muss. Aber man lebt doch eigentlich auch ganz gut damit. Es gibt einem auch eine gewisse Freiheit, einfach selbst zu gucken, wo man sich wohlfühlt. Wie viel muss ich wissen, um verstehen zu können? Heydenreich: Eine schöne Frage, die neue Denkhorizonte eröffnet . . . Liebe Frau Zeh, wir bedanken uns ganz herzlich für das Gespräch!

Zur Autorin Juli Zeh ist der Öffentlichkeit nicht nur als Autorin von Bestsellern wie den Romanen »Spieltrieb« (2004) und »Schilf« (2007) bekannt, sondern auch als publizistische Streiterin zu gesellschaftlichen Fragen – in letzter Zeit zum Beispiel gegen den Überwachungsstaat und die Ausspähungen durch Geheimdienste. Ein Engagement gegen offensichtliche Rechtsbrüche, das nicht von ungefähr kommt. Denn Juli Zeh ist nicht auch zuletzt promovierte Juristin. 1974 in Bonn geboren, studiert sie ab 1993 Jura, zunächst in Passau, dann in Leipzig, wo sie 1998 ihr Erstes, 2003 ihr Zweites Staatsexamen ablegt. Parallel dazu nimmt Zeh 1996 ein Studium am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig auf, das sie 2000 mit einem Diplom abschließt. Kurz darauf wird 2001 ihr erster Roman »Adler und Engel« veröffentlicht. Seither sind zahlreiche Bücher von Zeh erschienen – Reiseerzählungen und Romane ebenso wie Essaybände und Theaterstücke, Kinderbücher ebenso wie politische Stellungnahmen. Ihr Werk ist mittlerweile in 35 Sprachen übersetzt worden. Zuletzt veröffentlicht sie den Essayband »Nachts sind das Tiere« (2014).

Zitierte Literatur Schilf. Roman. Frankfurt a. M.: Schöffling, 2007 • Spieltrieb. Roman. Frankfurt a. M.: Schöffling, 1 2004 • Hoch, Jenny: »Schriftstellerin Juli Zeh: ›Ich verstehe, dass mein Stil viele nervt‹«. http://www.spiegel.de/kultur/literatur/schriftstellerin-juli-zeh-ich-verstehedass-mein-stil-viele-nervt-a-511197.html. Interview: SPIEGEL ONLINE, 13. Oktober 2007 (17. März 2015).

Über ihren Roman »Schilf« sprachen mit Juli Zeh der Physiker Klaus Mecke, die Literaturwissenschaftlerin Aura Heydenreich und die Studentin Miri Köbner aus dem interdisziplinären Erlanger Masterstudiengang »Ethik der Textkulturen«. Das Gespräch wurde am 7. März 2013 in Erlangen geführt.

| Anhang

Interviewer Stefanie Burkhardt Studium der Germanistik und Religionswissenschaft, Masterstudiengang »Ethik der Textkulturen« an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, derzeit Doktorandin am Zentrum für Literatur- und Kulturforschung (ZfL) Berlin Aura Heydenreich Studium der Neueren deutschen Literaturwissenschaft, Anglistik und Politikwissenschaft, Master of European Studies an der Babeş-Bolyai-Universität Klausenburg, Promotion in der Neueren deutschen Literaturwissenschaft an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Mitbegründerin des Erlanger Forschungszentrums für Literatur und Naturwissenschaften ELINAS Clemens Heydenreich Studium der Neueren deutschen Literaturwissenschaft, Philosophie und Geschichte an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Promotion in der Neueren deutschen Literaturwissenschaft an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Journalist und Publizist Martin Idel Physiker, derzeit Doktorand am Zentrum für Mathematik der TU München Miri Köbner Studium der Neueren deutschen Literaturwissenschaft und Philosophie, Masterstudiengang »Ethik der Textkulturen« an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen Angelika Lampert Studium der Humanmedizin in Jena und Strasbourg, Promotion am MaxPlanck-Institut und in der Arbeitsgruppe für Molekulare und Zelluläre Biophysik Jena, Postdoctoral Fellow an der Yale University, New Haven, Gruppenleiterin am Institut für Physiologie und Pathophysiologie der Friedrich-Alexander-Universität ErlangenNürnberg, Professorin für Physiologie, Schwerpunkt Neurophysiologie, an der Uniklinik RWTH Aachen Klaus Mecke Studium der Physik und Philosophie in Darmstadt und München, Promotion in Physik an der Ludwig-Maximilian-Universität München, Postdoktorand an der University of Texas in Austin, Recherche associé an der Joseph Fourier Universitaire, Grenoble, Professur der Theoretischen Physik an der Friedrich-Alexander-Universität ErlangenNürnberg, Mitbegründer des Erlanger Forschungszentrums für Literatur und Naturwissenschaften ELINAS Isolde Meinhard Studium der Evangelischen Theologie in Bethel-Bielefeld, Heidelberg, Amsterdam und Tübingen sowie am Austin Presbyterian Theological Seminary; Promotion in Homiletik unter Berücksichtigung zeitgenössischer Erzähltheorie in Münster/Westfalen, Vikarin und Pfarrerin in Stuttgart, Weinsberg und Ulm, Hochschul-Pfarrerin an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg Stephanie Richtmann Studium der Germanistik und Kunstgeschichte an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Masterstudiengang »Literaturstudien – intermedial & interkulturell« an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg Oriana Schällibaum Master of Science in Theoretischer Physik und MA in deutscher Literaturwissenschaft, derzeit Doktorandin in deutscher Literaturwissenschaft an der Universität Zürich Eckhard Strobel Bachelor und Master Physik an der Friedrich-Alexander-Universität ErlangenNürnberg, derzeit Doktorand der Physik an der Università di Roma La Sapienza und der Université de Nice Sophia-Antipolis Christina Tanase Studium der Neueren deutschen Literaturwissenschaft an der FriedrichAlexander-Universität Erlangen-Nürnberg

Index Anmerkung: Die Seitenverweise im Personenregister zu den Interviewpartnern beziehen sich nur auf Erwähnungen im Vorwort bzw. in einem der anderen Interviews Allen, Woody 130 Aristoteles 18, 101, 104, 105 Augustinus 186, 197, 199, 254 Bachtin, Michail 100 Barbour, Julian 207, 208 Barthes, Roland 181 Baudelaire, Charles 63, 64 Bayer, Konrad 52 Benn, Gottfried 52 Bense, Max 52 Benthien, Claudia 85 Bergerac, Cyrano de 14, 61, 69–71, 77 Bergson, Henri 55, 204 Berkeley, George 104 Bernhard, Thomas 279 Beyer, Marc 142 Bienek, Horst 7 Black, Max 239 Blumenberg, Hans 124, 249 Bohr, Niels 1, 206, 230, 239, 241, 250 Borges, Jorge Luis 74, 79, 199, 201, 219 Bradbury, Ray 152 Brahe, Tycho 59, 60 Braun, Wernher von 269, 270, 285 Bredekamp, Horst 79, 80 Broch, Hermann 196, 199, 215 Brunelleschi, Filippo 231 Bruno, Giordano 60, 69 Büchner, Georg 162 Burian, Zdeněk 144 Butler, Judith 41 Byron, George Gordon 62 Callender, Craig 208 Celan, Paul 105 Christensen, Inger 64 Clarke, Samuel 87 Claudius, Matthias 82 Coetzee, John Maxwell 112

Dante (Dante Alighieri) 59, 62, 78, 162 D’Aragona, Tullia 268 Darwin, Charles 65, 97, 136, 230 Dath, Dietmar 1 Däubler, Theodor 81 Davies, David 117 Da Vinci, Leonardo 144, 183 Degas, Edgar 168 Descartes, René 14, 62, 63, 66, 70, 85–88, 101, 102, 106, 117, 118 Dewey, John 121 DeWitt, Bryce 207, 212, 213 Dirac, Paul 244 Döblin, Alfred 52, 213 Dostojewski, Fjodor Michailowitsch 105, 111 Draesner, Ulrike 9, 10, 12, 13 Dürer, Albrecht 231 Eames, Charles 131 Eames, Ray 131 Einstein, Albert 113, 135, 136, 186, 190, 192, 193, 200, 203, 204, 206, 225, 230, 240, 241, 247, 250, 264, 265, 269, 273, 275, 279, 281 Elisabeth von der Pfalz 63 Esfeld, Michael 96 Faraday, Michael 57, 151, 239 Fermi, Enrico 71 Feyerabend, Paul 102, 103, 120, 125 Feynman, Richard 51, 206, 235 Flaubert, Gustave 52, 191 Flusser, Vilém 181 Fontane, Theodor 279 Foucault, Léon 130 Foucault, Michel 74, 79, 157, 165 Frayn, Michael 1 Frisch, Max 112, 280 Galilei, Galileo 14, 30, 61–63, 65, 69–71, 73, 78–80, 233

Index | 313

Galois, Évariste 271 Gassendi, Pierre 69 Gauß, Carl Friedrich 169, 202, 257 Ginzburg, Carlo 233 Goethe, Johann Wolfgang 56, 58, 65, 66, 78, 112, 167, 205, 206, 247, 279 Goodman, Nelsen 116, 117 Grünbein, Durs 2, 10, 13, 14 Haeckel, Ernst 97, 134 Hagelberg, Matti 142 Hamilton, William Rowan 1 Hampe, Michael 10, 15 Harder, Jens 10, 16 Hausdorff, Felix 271 Hawking, Stephen 130, 205, 208, 230 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 19 Heidegger, Martin 286 Heisenberg, Werner 1, 123, 225, 237, 239 Heraklit 167, 252 Herder, Johann Gottfried 136 Hitchcock, Alfred 183 Hobbes, Thomas 145, 216 Hoffmann, Roald 230, 245 Hoffmann, Torsten 7, 8 Homer 218, 257, 260 Hopkins, Gerard Manley 57 Hoyle, Fred 254 Isidorus von Sevilla 74 Jacobs, Arthur 242, 261 James, William 97 Jandl, Ernst 105 Jirgl, Reinhard 1, 9, 17 Joyce, James 191, 210, 281 Kafka, Franz 112, 117 Kaiser, Gerhard 7, 8 Kant, Immanuel 46, 75, 103, 104, 106, 199, 202, 203, 286 Kehlmann, Daniel 257 Kepler, Johannes 14, 59–61, 69, 70, 73, 83, 86, 91, 122 Kittler, Friedrich 85 Kleist, Heinrich von 84 Klitzing, Klaus von 116

Kopernikus, Nikolaus 69 Krolow, Karl 228 Kyros II. 159 Laplace, Pierre-Simon 201 Laughlin, Robert Betts 95, 96, 113–117 LeGuin, Ursula 155 Lehr, Thomas 9–11, 17, 18, 289 Leibniz, Gottfried Wilhelm 88, 111, 189, 200 Lem, Stanisław 147 Lemaître, Georges Edouard 36, 254 Lichtenberg, Georg Christoph 12, 56 Lipperhey, Hans 80 Lorentz, Hendrik Antoon 225 Loriot (d. i. Vicco von Bülow) 130 Lübbe, Hermann 98 Lukian 102 Lukrez 254 Lyotard, Jean-François 249 Mallarmé, Stéphane 64, 168 Mandelbrot, Benoît 66, 265, 269 Mandelstam, Ossip 82 Manin, Yuri 54 Mann, Thomas 33, 196, 199 Marcuse, Herbert 222 Margulis, Lynn 138 Marius, Simon 80 Martus, Steffen 85 Masschelein, Anneleen 8 Mata Hari (d. i. Margaretha Geertruida Zelle) 268 Mathieu, Marc-Antoine 141 Maxwell, James Clerk 1, 57, 239, 245, 247 McGuire, Richard 141 Melville, Herman 145 Merz, Mario 64 Mestral, Georges de 255 Meurée, Christophe 8 Michelangelo 183 Möbius, August Ferdinand 75 Montaigne, Michel de 69 Montesquieu, Charles de 87 Müller, Heiner 93, 184 Musil, Robert 117, 196, 199, 215, 257, 278, 307 Musturi, Tommi 141

314 | Index

Nabokov, Vladimir 104, 207, 296 Naipaul, Vidiadhar S. 279 Newton, Isaac 18, 87, 95, 98–100, 137, 192, 200, 201, 206, 213, 237, 239 Nietzsche, Friedrich 163 Nizon, Paul 280 Novalis 58 Ockham, Wilhelm von 114, 135, 245 Ørsted, Hans Christian 58 Orths, Markus 1 Orwell, George 305 Osterwalder, Konrad 98 Pascal, Blaise 87, 92, 165 Peirce, Charles Sanders 95, 97 Penrose, Roger 229 Pictet, Adolphe 248 Piercy, Marge 155 Planck, Max 115, 186, 192, 220, 239 Platon 102, 104, 123, 125 Plutarch 59, 70 Poincaré, Henri 26 Portmann, Adolf 102, 103, 105 Proust, Marcel 55, 68, 179, 199 Pynchon, Thomas 1, 266 Pythagoras 121, 123, 124 Ransmayr, Christoph 107 Resnais, Alain 282 Riccioli, Giovanni 74, 79 Riemann, Bernhard 72, 74, 202 Rilke, Rainer Maria 228 Ritter, Johann Wilhelm 58 Robbe-Grillet, Alain 282 Rousseau, Jean-Jacques 186, 187, 216 Rühm, Gerhard 52 Russell, Bertrand 123, 204 Salome, Tochter der Herodias 268 Sanguineti, Edoardo 52 Sappho 56 Saussure, Ferdinand de 248 Scheibe, Erhard 95 Scheingraber, Herbert 23, 30, 36 Schelling, Friedrich 95 Schrödinger, Erwin 39, 114, 115, 213, 237, 239, 265, 279, 280

Schrott, Raoul 2, 4, 6, 9, 10, 19 Schwarzschild, Karl 281 Sebald, Winfried Georg 107 Shakespeare, William 31 Sheldrake, Rupert 17, 151, 152 Simonides von Keos 236 Singer, Wolf 28, 78 Smolin, Lee 229 Snow, Charles Percy 2 Spencer, Herbert 97, 149 Spengler, Oswald 170 Stifter, Adalbert 107 Tarkowski, Andrei Arsenjewitsch 107, 127, 128 Tesla, Nikola 107 Thomas von Aquin 99 Toulmin, Stephen 122 Tscherenkow, Pawel Alexejewitsch 103 Unseld, Siegfried 93 Valéry, Paul 85 Verne, Jules 214 Wagenbreth, Henning 142 Ware, Chris 141, 142 Weinberg, Steven 94, 95, 102, 103, 105, 114, 254 Weizsäcker, Carl Friedrich von 123 Welles, Orson 214 Wells, Herbert George 214 Wheeler, John 195, 207, 212, 213 Whitehead, Alfred North 103, 123, 128 Whitman, Walt 81 Wiener, Oswald 52, 53 Wilkins, John 74, 79 Wittgenstein, Ludwig 123 Woelk, Ulrich 9, 11, 20, 289 Wolfram von Eschenbach 48 Woodring, Jim 134 Wright, Chauncey 97 Wyborny, Klaus 89 Zanzotto, Andrea 52 Zeh, Juli 9, 10, 21 Zeilinger, Anton 237, 256 Ziolkowski, Theodore 58