Petersilie : Die afroamerikanischen Religionen IV : Santo Domingo. Venezuela. Miami. Grenada 3100207084

Am 2. Oktober 1957 zwang der Staatschef der Dominikanischen Republik, Trujillo, die Bevölkerung seines Landes, das spani

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Petersilie : Die afroamerikanischen Religionen IV : Santo Domingo. Venezuela. Miami. Grenada
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Hubert Fichte

PETERSILIE Die afroamerikanischen Religionen

Santo Domingo Venezuela Miami Grenada

S. Fischer

Die afroamerikanischen Religionen

IV

Santo Domingo Venezuela Miami Grenada

Hubert Fichte

PETERSILIE

S. Fischer

© 1980 S. Fischer Verlag GmhH, Frankfurt am Main Umschlag Hubert Fichte und Peter W. Schmidt Satz und Druck Poeschel & Schulz-Schomburgk, Eschwege Einband G. T .arbenmaier, Reutlingen Printed in Germany 1980 ISBN 3 10 020708 4

Am 2. Oktober 1937 liess Trujillo, der Staatschef der Dominikanischen Republik, 20 000 Neger ermorden. Sie wurden von den Exekutionskommandos gezwungen, das spanische Wort für »Petersilie< >Perejil< auszusprechen; Trujillo gab vor, die dominikanischen Schwarzen zu schützen nur die haitianischen Zuckerarbeiter sollten ausgerottet werden. Man behauptet, dass die Haitianer kein R sprechen können. Jedem, der >Pelejil< sagte, wurde der Kopf abgeschlagen. Kein dominikanischer Neger sagt >PerejilCatalinaGuloya< ist eine Verballhornung des englischen »Goliath *. - In dem Kampf unterhegt David. - Mit ihm identifizieren sich die Neger. - Sie sagen: Noch unterliegt David; aber eines Tages wird David siegen.

Fahrt nach San Pedro. Bauern gehen von der scheinwerfererhellten Strasse ins nächtliche Feld.

Ein Hotelbau in der Nachfolge Le Corbusiers. Innen Rüschen. Heiligenbilder. Phosphoreszierende Sterne, die aufglimmen, wenn wir die Nacht­ tischlampen ausknipsen.

Man muss nicht Freud oder Wisemann gelesen haben, das Mär­ chen vom Goldesel und dem Knüppel aus dem Sack genügt, um die Wechselbeziehungen von Gold, Geld und Kot, von Pekuniä­ rem und Analem aufzuzeigen. Nun hat ein bundesdeutscher Schriftsteller zum Zweck des Stu­ diums der Schwarzen Amerika Feature auf Feature gelegt, Ro­ mane, Essais und Nachworte verfasst, Eingänge und Vorschüsse addiert, bis er ein Bündelchen unterzeichneter Travellerschecks in der Tasche fühlt - DM-Travellerschecks - auf den Dollar ist kein Verlass mehr! Das Hotel von San Pedro de Macorix in der Dominikanischen Republik nimmt keine DM-Travellerschecks an. Das Banco de Reservas tauscht keine DM-Travellerschecks um.

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Die Royal Canadian telefoniert zur Mutter in die Hauptstadt. - Nein, DM-Travellerschecks nicht. - Aber es ist die härteste Währung der Welt. - Drum. Der Dominikanische Peso, wie fast alle Währungen in der Karibik, floaled mit dem Dollar. Ehe wir die DM-Travellerschecks gu[geschrieben erhalten, vergehen zwei Wochen. Was kann in zwei Wochen alles mit dem Dollar geschehen! Aber privat möchte der Buchhalter gerne die DM-Traveller­ schecks einlösen. - Der Kurs ist 2 Mark sechzig für einen Dollar, ich meine, einen Peso. -Ja, der Kurs! Ich biete Ilmen einen Dollar, ich meine, einen Peso für drei Mark. Ich fahre lieber in die Hauptstadt. Die freundliche Dame in der First National City Bank will mir helfen und möchte mir für einen Peso 3 Mark dreissig ab­ nehmen. Der Höhere Angestellte der Chase Manhattan ruft dem niederen zu: - Wechseln Sie dem Herrn die DM-Travellerschecks. 2 Mark sieb­ zig für einen Dollar, ist das o. k.? - Das ist 0. k. - Na, sagen wir 2 Mark sechzig! Wir unterhalten uns über die Mischreligionen, bis der junge Mann ein Bündel Geldscheine bringt. Ich zeichne gegen, ich unterzeichne. Ich zähle die Geldscheine im Büro des Höheren Angestellten nicht. Draussen merke ich: Der niedere Angestellte hat mir 2 Mark siebzig für den Peso abgenommen. Akkreditive, Schecks, Depositen, Giro, Noten, Scheine, Wechsel, Wechsel, Kleingeld, Barren, Safes, Schliessfächer, Schliessmuskeln, Hämorrhoiden, Diarrhoe, Bankkrach, Kurssturz.

Die Lagerhallen der Lebensmittelfirma Export in Santo Domingo werden von Polizisten mit Maschinenpistolen bewacht.

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In den Strassen von San Pedro de Macorix kämpfen zwei Jun­ gen um eine schmutzige Kokosnuss.

Gründonnerstag, den 17. April 1974: Ich fahre gegen acht Uhr abends mit dem Minibus nach La Vega. Der riesige Phallus der Zuckerfabrik qualmt auch nachts. Ich gehe durch die Arbeitersiedlungen. Tuten. Mehrere Tuten tuten. An einem silbernen Wasserreservoir eine Laubhütte aus Bananenblättem. Vier Neger blasen in Muschelhörner hinein. Am Mittelpfeiler in der Laubhütte hängen Peitsche und Kerosin­ lampe. Papierfähnchen unter dem Blätterdach. Draussen um eine Eisenstange brennende Holzkloben. Die Kulthelfer giessen Benzin über die Stange, das blufft auf, es sieht aus, als explodiere die Eisenstange. Vier Bambusflöten, eine Rassel, Ratschen - gekerbte Bambus­ stücke, über die mit kleinen Stöcken gestrichen wird. Drei Trommeln; Eine grosse, die steht auf dem Boden, eine dop­ pelt bespannte Umhängetrommel, eine ganz kleine. Dreihundert Gläubige kommen zusammen. Sie sprechen haitia­ nisches Kreolisch und singen Gesänge, die ich schon in den Tem­ peln von Haiti gehört habe. Aber keine heiligen Tänze. Einige der Zuckerarbeiter hüpfen auf der Stelle. Der Priester, der Houngan, der Gangan, der Gaga heisst Antoine. Drei Königinnen, drei >Reinas< lassen Houngan Antoine hoch­ leben. Kostüme, Koffer, Taschen werden um den Mittelpfeiler ge­ stapelt. Das >Bautismo< beginnt - eine katholische Litanei. Ein paar Schritte weiter, in einer anderen Laubhütte, hält ein zweiter Gaga seine Zeremonie ab. Dort springen die Gläubigen über das Holzfeuer. Es gibt auch einen >MariconMarioLa Bahia«, Muscheln, Hammel bei >CordobesLa Bahia« herein und die Kellner bringen in einer zur Menschlichkeit zurückpervertierten Verachtung die Essensreste der Reichen auf Tellern mit Messer und Gabel auf die Strasse. Bei »Mario« huschen die Bettler zwi­ schen den fröhlich Essenden durch. Die Gesättigten rufen die zerlumpten Zeitungsjungen an den Tisch und stellen ihnen die Reste vor und beobachten, wie es die Hungrigen, mit Blicken auf die Kellner, die nichts sehen, reinschlingen.

Octavio: - Die Junta Electoral hat sich vergeblich bemüht, einfarbige Wahlzettel drucken zu lassen - jetzt werden also wieder die Wäh­ ler der Regierungspartei einen grossen roten Zettel - weithin sichtbar - in das Kuvert stecken.

In Pedros Haus. Wenn seine Frau zu lange schweigen muss, zuckt ihr Gesicht. Pedro: - Ich bin ein Konservativer. - Ich treffe politische Entscheidungen im Hinblick auf den Nut­ zen, den sie mir und meiner Familie bringen. - Ich kann warten. - Balaguer ist mein Freund. Ich meine, um ehrlich zu sein, ich benütze Balaguers Stellung. - Ich weiss, er hat sadistische Züge, die er geschickt verbirgt. Es gefällt ihm, Menschen zu zerstören. - Ich liebe Militär. - Ich bin mosaisch veranlagt. Ich stelle das Gesetz über alles, die Ordnung. Das Militär garantiert eine Ordnung. Die sicherste. - Bosch? Bosch hat keine Hosen. Er hat Tonbänder mit seinen revolutionären Ansprachen aus dem Exil geschickt. - Mein Hass auf Bosch ist nicht pathologisch. Nach der Ermor­ dung Trujillos trat ich in die Revolutionspartei ein.

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- Ich war damals 19. Ich machte in meiner Begeisterung alles. Ich kenne das PRD besser als viele andere. Die meisten Linken sind Fils ä Papa, ihre Väter waren unter Trujillo in einflussreichen Stellungen, das heisst, diese Väler waren Schlächter. - Balaguer beherrscht heute das Militär. Es ist wahrscheinlich, dass es einen Coup gibt, wenn die Opposition die Wahlen ge­ winnt. Möglicherweise werden die Militärs bis zum August war­ ten und den Amtsantritt eines linken Präsidenten verhindern. - Kommt General Wessin y Wessin aus dem Exil zurück, steht General Wessin y Wessin gegen General Perez y Perez, General Perez y Perez gegen General Niet Neivar. Gewinnen wird, wen die amerikanische Militärmission gewinnen lassen will.

Donnerstag, den 25. April: La Noticia: Nach 42 Jahren Diktatur in Portugal gestürzt. Santo Domingo: Polizei unterstützt faschistische Banda Colora. Polizist schiesst auf Menschenmenge: 3 Verletzte. El Nacional: Arbeiter in Zuckerfabrik schwer misshandelt.

Deepthroat: - Der Korrespondent der New York Times ist von Juan Bosch rausgeschmissen worden. Er hatte als erstes gefragt: Fühlen Sie sich bedroht? - Das ist eine typische CIA-Frage. Das Interview ist beendet, war die Antwort. - Übrigens ist ein ganzer Flügel des Präsidentenpalastes nur für Abhöranlagen reserviert. Elektronische Überwachung einflussrei­ cher Persönlichkeiten, der Botschaften und so weiter. Die Anla­ gen sind oft kaputt. Der Techniker, der sie wieder in Ordnung bringt, repariert auch in den Botschaften die Anlagen, mit denen der Präsidentenpalast abgehört wird - um es etwas verkürzt dar­ zustellen.

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Freitag, den 26. April 1974: Interview mit Juan Bosch, dem nach Castro meist gefürchteten Politiker Mittelamerikas. Wo sind die Radarstreifen, die magischen Augen, die automa­ tischen Waffen, die Passwörter? Ein freundlicher Wächter in einem unmöblierten Vorzimmer. Juan Bosch führt Leonore und mich in eine sparsam, aber mit goüt eingerichtete Wohnung. — Herr Professor, Sie sind Politiker und Romancier; wie lösen Sie den Widerspruch zwischen taktischer und literarischer Aus­ drucksweise? Juan Bosch: Für mich ist die Lösung sehr einfach, denn das do­ minikanische Volk hat eine sehr unkomplizierte Ausdrucksweise. Hier sind noch keine Feldstudien angestellt worden, um heraus­ zufinden, wieviele Wörter der Dominikaner aus dem Volk im Alltag, bei seinen alltäglichen Verrichtungen anwendet. Ich glau­ be, er benützt etwa 2000 Wörter. Wenn ich also zum Volk spreche, benütze ich keine anderen Wör­ ter als diejenigen, die im Lexikon des Volkes existieren. Ich be­ nütze nicht mehr Wörter als das Volk, und ich benütze wirklich alle Wörter des Volkes. Wenn ich Essays und Romane schreibe, benütze ich eine andre Sprache, die Sprache des Schriftstellers. — Sie haben vor ewa vierzig Jahren das Partido Revolucionario, die Dominikanische Revolutionspartei gegründet. Wie hat sich die Partei entwickelt und warum sind Sie - im letzten Jahr - aus dieser Partei ausgetreten? — Diese Partei hat sich nicht weiterentwickelt. Sie wurde als eine demokratische Partei gegründet, in der Tradition all jener Par­ teien, die für eine repräsentative Demokratie kämpfen. Die Par­ tei hat sich diesem Prinzip unterworfen. Ich habe mich weiterentwickelt und mit mir eine nicht unbedeu­ tende Menge von ehemaligen Mitgliedern der Dominikanischen Revolutionspartei. Als mein Land durch die Truppen der Ver­ einigten Staaten besetzt wurde, habe ich aufgehört, an die reprä­ sentative Demokratie zu glauben. Ich begriff, dass ich getäuscht worden war, dass ich an eine politische Doktrin geglaubt hatte, die keine politische Doktrin ist, sondern ein Lügengebilde; ich hatte an ein politisches System geglaubt, dessen einziges Ziel es ist, dem Kapitalismus zu dienen und den Status quo zu sichern, das heisst.

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gegen alles zu kämpfen, was das kapitalistische System verändern könnte, was den Wohlstand des Volkes herbeiführt und huma­ nere Arbeitsbedingungen. Das wurde mir klar, als die Amerikaner hier intervenierten. Warum? Weil die Amerikaner sich als die grossen Verteidiger der repräsentativen Demokratie ausgeben. Ein Land, das Tausende in einer Revolution niederknüppelt, das eine demokratische Revolution niederknüppelt, keine sozialistische Revolution, niederknüppelt und behauptet, es handle sich um eine kommunistische Revolution, dies Land, die USA, täuscht die ganze Welt, wenn es behauptet, es sei demokratisch. Ich fing an, die Geschichte der Vereinigten Staaten zu studieren, und ich stellte fest, dass die Vereinigten Staaten immer auf diese Weise vorgegangen sind. - Sie denunzieren die repräsentative Demokratie in einem Au­ genblick, wo eben diese Demokratie in Venezuela, in Mexiko und vielleicht sogar in Kolumbien zu einem Vehikel des Fortschritts werden könnte. - Dass die repräsentative Demokratie in Kolumbien und Vene­ zuela dem Fortschritt diene, behauptet die Presse des Kapitalis­ mus. Ich möchte diese Presse fragen: Welches ist der Fortschritt in Kolumbien? - Was in Kolumbien voranschreitet, ist der Hun­ ger, der Mangel an Schulen auf dem Dorf, der Mangel an Kran­ kenhäusern; was in Kolumbien voranschreitet, ist die Ausnützung des Menschen. Und ausserdem - in Kolumbien gab es keine Wah­ len. Den Statistiken zufolge hätten in Kolumbien 13 Millionen Menschen wählen müssen, tatsächlich haben weniger als fünf Mil­ lionen gewählt. Auch die Massen in Kolumbien glauben nicht an das System der sogenannten repräsentativen Demokratie. - Noch vor einem Jahr glaubten viele Dominikaner, besonders Intellektuelle und Studenten, dass Sie bei den Wahlen als Präsi­ dentschaftskandidat der Opposition auftreten würden. Hätte Ihre Kandidatur eine Intervention der Amerikaner ausgelöst? - Ich bin nicht Präsidentschaftskandidat. Ich glaube nicht an die repräsentative Demokratie und folglich kann ich mich nicht bei den Wahlen als Präsidentschaftskandidat aufstellen lassen. Ich könnte Kandidat sein, wenn die Partei sich entschliessen würde, über genau definierte, konkrete Ziele abstimmen zu lassen — aber nicht, um Präsident der Dominikanischen Republik zu werden. In diesem Land könnte ein Mann wie ich nicht regieren. Dies ist

das Land, das von allen Ländern der Erde am meisten von den USA abhängig ist. Dies Land ist so abhängig von den USA, dass der Präsident der Republik, Dr. Joaquin Balaguer, in einer Rede gesagt hat, er würde abdanken, wenn die Vereinigten Staaten ihn aufforderten, auf die Präsidentschaft zu verzichten. Er äusserte in einer anderen Ansprache, dass er keiner politischen Organisation in der Dominikanischen Republik, keinem einzigen dominikanischen Politiker die geringste Wichtigkeit beimesse. - Als der Ex-Oberst Francisco Alberto Caamano im Februar 1973 mit einigen Guerillas vergeblich versuchte, die Regierung Balaguer zu stürzen, hielten Sie sich monatelang verborgen. Hatte man Sie persönlich bedroht? - Aber ja! Dies Haus hier war vom Militär besetzt, alle Türen waren eingeschlagen. Man suchte mich und wollte mich verhaften. Im ganzen Land fanden mehr als 150 Haussuchungen durch das Militär statt, weil man mich festsetzen wollte. Die Streitkräfte erklärten öffentlich, dass ich zu der Bewegung Caamanos gehörte. - Ein Jahr später, im Januar 1974, begann offiziell der Wahl­ kampf. Sind Sie seither bedroht worden? - Jetzt nicht. Ich bin kein Präsidentschaftskandidat und ich nehme nicht am Wahlkampf teil, also folglich .. - Dr. Balaguer bemüht sich um eine Bodenreform. Er hat damit sogar bei seinen Kadern grosse Schwierigkeiten .. - Diese Bodenreform ist in Wirklichkeit nicht die Bodenreform des Präsidenten Dr. Balaguer, es ist die Bodenreform von Punta del Este, es ist die Bodenreform, die von der amerikanischen Re­ gierung empfohlen wurde, die in Kolumbien z. B. bereits fehl­ geschlagen ist und in anderen Ländern Lateinamerikas. Eine Bodenreform, die hier nur etwa 6000 Bauern zufriedenstellt, hat keinen Sinn. In der Dominikanischen Republik leben 65 Pro­ zent der Bevölkerung auf dem Lande — mehr als 2,5 Millionen Menschen, das sind 500 000 Familien. Was nützt es da, Land an 6000 Bauern zu verteilen. Das ist verlogen. Alles das ist ver­ logen. - Wie müsste eine Bodenreform in der Dominikanischen Repu­ blik durchgeführt werden? - Eine Bodenreform kann nur gemacht werden, indem man alles Land nationalisiert - davon ausgenommen sind die kleinen bäu­ erlichen Anwesen. Ein nordamerikanisches Unternehmen, die

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Gulf & Western, besitzt hier ein Siebtel des gesammten Acker­ landes zum Beispiel. Daran wird nicht gerührt, denn die Gulf & Western ist ein amerikanisches Unternehmen, und ein amerika­ nisches Unternehmen darf nicht angefasst werden. - Aus welchem Grunde hat der Präsident Dr. Balaguer in den letzten Wochen die kommunistische Partei legalisiert? - Er hat sie nicht legalisiert. Er hat die Legalisierung vorgeschla­ gen. In diesem Land gibt es zwei kommunistische Parteien, und diejenige, die Balaguer legalisieren wollte, heißt Partido Communista Dominicano. Es ist eine sehr kleine Partei, und Balaguer wollte sie legalisieren, weil sie ihn unterstützt hatte. Aber die Legalisierung hat nicht stattgefunden. Dr. Balaguer hat die Legalisierung vorgeschlagen, aber bis jetzt ist sie nicht durch­ gesetzt worden. - Silvestre Antonio Guzmän ist der Präsidentschaftskandidat der Opposition, die sich zum Acuerdo de Santiago, zum Bündnis von Santiago zusammengeschlossen hat. Antonio Guzmän war 1963 in Ihrer Regierung Landwirtschaftsminister. In letzter Zeit wurde verbreitet, dass die Amerikaner 1965 bei der bewaffneten Intervention Guzmän als Präsidenten akzeptiert hätten - stimmt das? - Nein, das ist nicht wahr. - Guzmän hat für seine Wahlkampagne den General Elias Wes­ sin y Wessin akzeptiert. Es war General Wessin, der während der Revolution von 1965 die Stadt Santo Domingo bombardierte und 2000 Dominikaner, vor allem Frauen und Kinder, tötete. -Ja. Aber man muss sich darüber klar sein, dass die Kommandan­ ten des Militärs in der Dominikanischen Republik die Befehle der USA ausführen. Die Stadt Santo Domingo wurde auf Befehl der amerikanischen Mission bombardiert. Ted Szulc berichtet in seinem Buch über die Revolution von 1965, wie er im April 1965 einen Funkspruch von der amerikanischen Botschaft auffing, durch den der dominikanischen Militärbasis von San Isidro Befehle gegeben wurden. Dort befand sich Gene­ ral Wessin. Die Befehle wurden von der US-Botschaft aus gege­ ben. Ein dominikanischer General hätte grösste Schwierigkeiten gehabt, einem Befehl der Nordamerikaner nicht zu gehorchen. Das geschah nur in aussergewöhnlichen Fällen. Das wagten nur wenige, wie Oberst Caamano. - General Wessin y Wessin putschte nun im Jahre 1971.

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- Ich glaube tatsächlich, dass Wessin dabei war, einen Putsch vor­ zubereiten, um Balaguer abzusetzen. - War der Putschversuch eines rechten Generals von den Ame­ rikanern eingeleitet? - Nein. Ein Putschversuch, hintei- dem die Amerikaner stehen, würde hier nicht scheitern, wie der von Wessin. Die Amerikaner werden hier, auf Grund der kostspieligen Erfah­ rung von 1965, keinen Putschversuch mehr unternehmen. - Was ist Antonio Guzmän für ein Mann? - Er ist ein Grossgrundbesitzer. Er ist ein fähiger Mann, der dem kapitalistischen System dient. Das PRD, die Dominikanische Re­ volutionspartei, ist eine Partei wie jede andre auch, wie das Partido Reformista, die Reformpartei von Dr. Joaqufn Balaguer. Es gibt nicht den geringsten Unterschied zwischen beiden. Das PLD, die von mir neu gegründete Dominikanische Befreiungs­ partei - wir nehmen in keiner Weise am Wahlkampf teil. Wir stehen aussen vor. Es kommt hinzu, dass hier keine Wahlen statt­ finden werden. Die internationalen Presseagenturen, Associated Press, United Press, machen die Welt glauben, hier fänden Wah­ len statt. Aber das stimmt, nicht. Es gibt hier keine Wahlen. Hier spielt sich eine Farce ab. Es ist ein grosser Betrug. Wenn nach den Wahlen behauptet wird, Dr. Balaguer hätte mit soundsovielen hunderttausend Stimmen gewonnen, so ist das nicht wahr. Das war noch nie wahr. Sie stecken den Zettel in die Urne, aber ihre Stimme wird nie gezählt werden. Das Ganze ist eine Lüge. - Es wird im Augenblick viel von einem Militärcoup geredet. Glauben Sie an einen solchen Coup? - Nein. Es gibt hier keinen Militärcoup ohne den Auftrag der amerikanischen Militärmission. Die amerikanische Mission wird hier keine Intervention wiederholen. Der Coup von 1963 - durch den ich der Präsidentschaft enthoben wurde - zwang die Amerikaner, ein Jahr und sieben Monate spä­ ter militärisch zu intervenieren, im April 1965, und diese mili­ tärische Intervention in der Dominikanischen Republik war ein sehr harter Schlag für das Prestige der USA in der ganzen Welt. Sie werden sich nicht wieder darauf einlassen wollen, militärisch zu intervenieren, und deshalb wird es keinen Coup des domini­ kanischen Militärs geben. - Wäre in diesem Augenblick eine Regierung Guzmän für die Amerikaner akzeptabel? 35

- Es ist nicht die Frage, ob Guzmän für die Amerikaner akzep­ tabel wäre. Er wird die Wahlen nicht gewinnen. Dr. Balaguer wird die Wahlen gewinnen. Es genügt, dass in der Dominika­ nischen Republik zehn Leute ihre Stimmen für Dr. Balaguer ab­ geben, nicht mehr, und er wird sich die Mehrzahl der abgegebenen Stimmen zuerkennen. - In einem berühmt gewordenen Buch behandeln Sie die soziale Zusammensetzung der Dominikanischen Republik bis zum Tod Trujillos. Wie würden Sie die soziale Zusammensetzung heute bestimmen? - In diesem Land haben sich einige reiche Kapitalisten entwickelt. Die gab es vorher nicht. Vorher gab es nur die Gruppe um Tru­ jillo, die Familie und einige Freunde von Trujillo. Heute sind es viel mehr - aber es sind immer noch sehr rückständige Kapita­ listen, die auf die Vereinigten Staaten angewiesen sind. Sie sind von den Vereinigten Staaten abhängiger als vorher, unter Tru­ jillo. Als Trujillo starb, beliefen sich die amerikanischen Investi­ tionen in der Dominikanischen Republik auf nicht mehr als 150 Millionen Dollar. Heute hat eine einzige Firma wie die Falconbridge allein mehr als 200 Milhonen Dollar investiert. Wir wissen nicht, wie hoch die Investitionen der Amerikaner hier sind, aber ich schätze sie auf mehr als 500 Millionen Dollar. Beim Tod von Trujillo gab es das nicht - das Land ist also heute sehr viel abhängiger von den Amerikanern als damals. - Es hat sich also ein Grossbürgertum herausgebildet? - Nein, noch immer nicht. Das Grossbürgertum in der Domini­ kanischen Republik ist nordamerikanisch. Es gibt ein reiches mitt­ leres Bürgertum. Wie hoch der prozentuale Anteil an der Bevöl­ kerung ist, kann ich nicht sagen, denn Untersuchungen darüber fehlen. Unter Balaguer sind viele zu Milhonären geworden, denn es gibt viel Korruption, viel Korruption. Betrug und Raub sind an der Tagesordnung - und Balaguer weiss es und er macht es den Leuten leicht. Als Trujillo 1961 starb, belief sich der Staatshaushalt auf 100 Millionen Dollar - er beträgt heute fast 400 Millionen Dollar. Nun hat der Dollar seit dem Tod Trujillos mehr als ein Drittel seines Wertes eingebüsst. - Hat das Elend in der Dominikanischen Republik seit dem Re­ gime von Trujillo zugenommen? - Es ist viel grösser geworden. Der Prozentsatz der Leute, die im

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Elend leben, ist heute sehr viel grösser als je zuvor in der Ge­ schichte des Landes. - Ein Drittel der Bevölkerung etwa? - Sehr viel mehr. - Menschen, die nicht regelmässig wenigstens einmal am Tag essen. - Menschen, die nicht wissen, woher sie überhaupt etwas zu essen bekommen sollen, in den Elendsvierteln der Hauptstadt zum Beispiel. - Wie gross ist der Einfluss des Militärs in der Dominikanischen Republik und wie hat sich dieser Einfluss herausgebildet? - In diesem Lande ist der Einfluss des Militärs determinierend, vor allem ausserhalb der Hauptstadt und ausserhalb der zweit­ grössten Stadt, Santiago de los Caballeros; die Landbevölkerung lebt in einer ständigen Furcht vor dem Militär. Die Soldaten sind hier nicht mit den Soldaten andrer Länder zu vergleichen. Der dominikanische Soldat ist ein Bauer, er kommt vom Lande, aus dem Kleinbürgertum. Er ist sehr arm, er konnte keine Arbeit finden und das kleine Besitztum seines Vaters reicht nicht aus, um seine Familie zu ernähren. Er konnte keine Schule besuchen. Die meisten Soldaten sind Analphabeten. Er kommt in die Hauptstadt und über die Vermittlung irgendeines Politikers gelingt es ihm, zum Militär zu kommen oder bei der Polizei an­ zufangen oder beim Geheimdienst und dann überschlägt er sich in dieser Stellung, er klammert sich an diese Stellung, denn sie ist das einzige, was er im Leben hat und wenn man ihm sagt: Töte!, tötet er; wenn man ihm sagt: Steck ein Haus an!, steckt er ein Haus an. - Gehen die Weisungen der USA nun direkt an das dominika­ nische Militär? - Indirekt, durch die dominikanischen Offiziere als Mittelsmän­ ner. Die Offiziere kommen ebenfalls vom Lande. Die oberen Ränge des Militärs sind nicht aus Offiziersschulen hervorgegan­ gen. Es sind Leute vom Lande, die als einfache Soldaten ange­ fangen haben und langsam aufsteigen, bis sie es schliesslich zum Admiral bringen. - Es wird behauptet, dass der Präsident, Dr. Balaguer, es ver­ stünde, die einzelnen Gruppen der Streitkräfte geschickt gegen­ einander auszuspielen. - Das ist nicht wahr. Wenn die Militärmissionen der USA dem

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Militär liier den Auftrag gibt, Balaguer in fünf Minuten des Lan­ des zu verweisen, wird Balaguer das Land in fünf Minuten ver­ lassen. Als Balaguer sich 1962 den Nordamerikanern widersetzte - das heisst, Balaguer widersetzte sich den Nordamerikanern nicht, als 1962 die Nordamerikaner Balaguer nicht stützten, wurde er gestürzt; die Militärs setzten ihn vor die Tür. - Es werden im Augenblick fast täglich politische Anschläge ver­ übt, Attentate, Altentatsdrohungen, Erschiessungen. Machen Sie dafür auch die USA verantwortlich? - Daran sind verschiedene Gruppen beteiligt. Der CIA ist im po­ litischen Leben hier sehr einflussreich, und zwar über die Direccion National de Investigaciones, über den Dominikanischen Sicherheitsdienst: der gibt zum Beispiel den Befehl, einen be­ stimmten Dominikaner am Flugplatz nicht in das Land zu lassen, weil er in der Sowjetunion war oder in Kuba; der Sicherheits­ dienst weist einen Dominikaner aus, weil behauptet wird, er sei ein Kommunist. Der CIA arbeitet mit dem Dominikanischen Sicherheitsdienst zusammen und, was wichtiger ist, mit dem Departamiento de Emigration, der Ausländerpolizei. - Man kann für die Morde und Drohungen des Wahlkampfes also nicht Dr. Balaguer verantwortlich machen. - Nein. Es gibt viele solcher Organisationen, die ohne das Wissen von Dr. Balaguer arbeiten. - In einem Informationsblatt, das mehr oder weniger vertraulich zirkuliert, »The Dominican News Digest«, wird darauf hingewie­ sen, dass der Bruder des amerikanischen Präsidenten, Donald Nixon und sein Sohn, der Sekretär des flüchtigen IOS-Managers Vesco. über die Toledomining an dominikanischen Grubengesellschaften beteiligt sind - gibt es ein weitgehendes Interesse der Präsiden teil fatnilien Johnson und Nixon an den Mineralvorkom­ men in der Dominikanischen Republik? - Es ist das erste Mal, dass ich davon höre. Donald Nixon und sein Sohn besuchten die Dominikanische Republik, als ich noch nicht wieder im Lande war - 1968 oder 1969. Präsident Johnson war in hohem Masse an der Firma Brown and Roots beteiligt, die mit der Falconbridge in der Dominikanischen Republik zusam­ menarbeitet. Brown and Roots errichteten in Vietnam die Mili­ tärbasis von Kan Ram, ein Auftrag der Regierung Johnson, der auf das persönliche Betreiben des Präsidenten hin vergeben wor­ den war. Die Kosten waren mit 600 Millionen Dollar veranschlagt

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worden und beliefen sich dann tatsächlich auf 1,2 Milliarden. Die Brown and Roots führte die Arbeiten im Auftrage von Johnson aus. - Wenn Präsident Nixon heute zurücktreten würde, hätte das einen Einfluss auf die Wahlen in der Dominikanischen Republik? - Nein. Es besteht kein Unterschied zwischen Nixon und Johnson zum Beispiel. Der eine ist Republikaner, der andre ist Demokrat. In Amerika gibt es da keinen Unterschied. Der eine macht seine Sache besser, der andre macht seine Sache schlechter - aber beide machen das gleiche. In Wirklichkeit war John F. Kennedy der­ jenige, der den Krieg in Vietnam anfing - und in Laos - aber Nixon fing den Krieg in Kambodscha an, der ständig weiter­ geht. Das gleiche kann man von dem Einfluss der USA in der Domini­ kanischen Republik behaupten. Wenn Nixon stürzt, bleibt der Einfluss der USA in diesem Lande, und in Deutschland, in Vene­ zuela, in Kolumbien und in Spanien der gleiche - der kommende Präsident wird in Deutschland, in Spanien, hier, in Venezuela, in Kolumbien den gleichen Einfluss ausüben, den Nixon ausgeübt hat. - Sind Sie wie Fidel Castro der Meinung, dass die Organisation der Amerikanischen Staaten OAS in Wirklichkeit ein Ministerium der Kolonien der Vereinigten Staaten sei? - Ja. Das ist wahr. Es ist nicht wahr, weil Fidel Castro es gesagt hat, sondern was Fidel Castro gesagt hat, ist die Wahrheit. - Wie beurteilen Sie den Versuch des venezuelanischen Staats­ präsidenten Carlos Andres Perez, einen demokratischen Block la­ teinamerikanischer Staaten zu bilden? - Ich glaube, der Präsident Perez hat gute Absichten, nur möchte ich den Präsidenten Perez fragen, mit wem er diesen Block bil­ den will? - Mit Mexiko und Präsident Echeverria? - Ich glaube, Mexiko würde nur unter grossen Schwierigkeiten einem solchen Block beitreten können. Mexiko hat eine sehr par­ tikuläre und eigenwillige Aussenpolitik. Mexiko muss eine solche Aussenpolitik führen, um sich gegen die USA zu verteidigen. - Glauben Sie, dass Kuba einem solchen Block beitreten könnte? - Warum nicht? Ich weiss es nicht. Venezuela unter der Regierung von Perez unternimmt im Augenblick grosse Anstrengungen, um Verbindungen zu Kuba herzustellen. Venezuela ist ein sehr wich­

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tiges Land für die Karibik. Es gibt hier drei wichtige Länder: Die USA, die die Besitzer von Puerto Rico, San Thomas, Santa Cruz, die Besitzer der Virgin Islands, von Haiti, Santo Domingo, Ni­ caragua, Honduras, Guatemala sind - die USA besitzen die mei­ sten karibischen Länder. Das zweitwichtigste Land ist Kuba. Der Einfluss Kubas in der Ka­ ribik ist sehr gross. Es ist nicht gelungen, alle Länder im Hinblick auf Kuba irrezuführen. Die Länder der Karibik fühlen sich stark von Kuba angezogen. Und schliesslich ist Venezuela das dritte wichtige Land in der Ka­ ribik. Es ist ein sehr reiches Land. Dieser Reichtum Venezuelas könnte sich als wichtiger Faktor in der venezuelanischen Aussen­ politik bemerkbar machen. Ich möchte meinen, in Venezuela hat sich bereits eine grössere bürgerliche Schicht auf Grund des Reichtums an Erdöl, Eisen und Bauxit bilden können. Diese bürgerliche Schicht hat eine poli­ tische Funktion zu erfüllen, die sich besonders auf die Beziehun­ gen Venezuelas zu Kuba auswirken könnte. Es handelt sich darum, in Venezuela mit Hilfe des kubanischen Einflusses die Entwick­ lung voranzutreiben. Ich meine da weniger den Einfluss einzelner Kubaner, sondern vielmehr den Einfluss der kubanischen Ideolo­ gie. Auf lange Sicht kann der Einfluss des Sozialismus in der Welt durch nichts aufgehalten werden. - Halten Sie die bürgerliche Phase in der Dominikanischen Re­ publik für eine Voraussetzung einer Entwicklung zum Sozialis­ mus hin oder glauben Sie, dass die bürgerliche Phase liier über­ sprungen werden kann? - Nein, sie kann nicht übersprungen werden. Man kann den So­ zialismus nicht erreichen, ohne vorher den Kapitalismus entwikkelt zu haben. In Venezuela ist der Kapitalismus in Entwicklung begriffen, denn ein gewisses Bürgertum ist dort in Entwicklung begriffen. Das venezuelanische Bürgertum will seinen Reichtum in Frieden geniessen können und der beste Weg, den Frieden zu erhalten, ist, sich mit der Linken abzustimmen. - Meinen Sie nun, Rafael Leonidas Trujillo habe zu der notwen­ digen Entwicklung des Bürgertums in der Dominikanischen Re­ publik beigetragen? - Das ist die geschichtliche Bedeutung des Regimes von Trujillo. Die geschichtliche Bedeutung von Trujillo war, dass er das kapi­ talistische System in die Dominikanische Republik eingeführt hat

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-vor allen den Industriekapitalismus. Wir waren ein reines Agrar­ land, als Trujillo die Macht ergriff, ein sehr unglückliches und verhungertes Land. Die einzige Quelle des Reichtums war aus­ ländisch; der Zucker wurde von den Amerikanern verwaltet. - Ist Balaguers Funktion nun ähnlich, nimmt unter seiner Regie­ rung das mittlere Bürgertum zu? - Balaguers Funktion ist eine andere, nämlich den Interessen der Amerikaner zu dienen. Am Rande werden auch einige Domini­ kaner dabei reich, aber nur am Rande und das Geld von diesen bleibt nicht im Land, sondern geht auf die Banken in den Ver­ einigten Staaten. Unter Trujillo waren nur drei oder vier ameri­ kanische Finnen im Lande verblieben, alle anderen hatte Trujillo nationalisiert. Trujillo nationalisierte die National City Bank und machte daraus die erste dominikanische Bank in der Geschichte des Staates, das Banco del Estado und das Banco de Reservas. Er nationalisierte die Elektrizitätswerke, er kaufte den Amerikanern die Zuckerfabriken ab, er errichtete Mühlen, gründete eine Glas­ fabrik, eine Stoffabrik. Er trieb eine Entwicklung voran, die das Land vorher nicht gekannt hatte. Als Trujillo starb, gehörte den Amerikanern nur noch die Central Romana, eine Tochterfirma der Gulf & Western, die Telefongesellschaft und die Alcoa und noch zwei, drei andre Unternehmen. Balaguer tut nichts derglei­ chen. Balaguer macht genau das Umgekehrte. Balaguer öffnet den Amerikanern die Türen immer weiter. Jetzt hat er ihnen gerade für fast gar nichts die grösste Silber- und Goldmine überlassen, die es in Amerika gibt. Sie wurde der Rosariomining überlassen. - Die Bevölkerung der Dominikanischen Republik hat sich seit 1920 fast verfünffacht. Sie beträgt heute annähernd fünf Millio­ nen Menschen. - Der Lebensstandard der höheren Bevölkerungsschichten war unter Trujillo sehr viel niedriger als heute. Als Trujillo starb, gab es in der Dominikanischen Republik 20 000 Lastwagen und Au­ tos, heute gibt es 110 000 oder 120 000. - Das heisst, nur etwa 2 Prozent der Bevölkerung können sich einen Lastwagen oder einen Personenwagen leisten. Echeverria hat eine Charta der Rechte und der Pflichten der Län­ der ausgearbeitet. Was halten Sie von einer solchen Charta? - Ich halte das für einen positiven Schritt. Ich glaube, alles ist gut, was den Frieden erhält und was das Prinzip der Nichtein­ mischung stärkt.

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- Sie glauben also nicht, dass der Dominikanischen Republik un­ ter den gegebenen Umständen mit einer Revolution gedient wäre? - Ich glaube, der Frieden ist für die Dominikanische Republik etwas sehr Wichtiges, denn die Regierung Balaguer ist sehr bru­ tal. Jedesmal, wenn Dr. Balaguer eine Rede hält, lenkt er die Kräfte der Reaktionäre gegen jemanden. Vor zwei oder drei Jah­ ren hetzte er die Streitkräfte gegen mich auf; sie müssten das Land gegen mich verteidigen, ich sei Maoist und ein Agent der Sowjets, alles in einem! Es war eine sehr gewalttätige Ansprache. Und das macht er immer so. Er schafft ein Klima der Gewalttätigkeit. In den acht Jahren seiner Regierung hat es an die 1000 politische Morde gegeben. - Ist dies Klima der Gewalttätigkeit auf ihn oder auf die ver­ schiedenen nordamerikanischen Interventionen zurückzuführen? - Auf ihn. Er ist ein sehr gewalttätiger Mann. Wenn man mit ihm persönlich spricht, wirkt er sehr ruhig, aber wenn er öffentlich spricht, redet er sehr gewalttätig und hetzt das Volk gegen je­ manden auf, manchmal gegen einen Unglücklichen; einmal hat er mit einer Rede den ganzen Regierungsapparat gegen einen drei­ zehnjährigen Jungen in Bewegung gesetzt, er hiess Cortico Pueblo. Er hat ihn angeklagt, dass er heimlich Karlen in die Sowjetunion brächte und mit diesen Karten würden die Sowjets eine Landung in der Dominikanischen Republik vorbereiten. Das Wichtige ist der Einfluss der Brutalität auf die Politik Balaguers. Er nennt das eine Politik der Härte. Den Arbeitern werden keine höheren Löhne gewährt und wenn sie Lohnerhöhungen ver­ langen, werden sie sofort entlassen. Zwar existieren Gewerk­ schaften, aber sie zeigen deutlich, dass sie nie für etwas kämpfen würden. Wenn die Gewerkschaften anfingen, für etwas zu kämp­ fen, würden sie sofort aufgelöst. Das ist Zeichen einer unglaub­ lichen Rückständigkeit. Das ist Dr. Balaguers Politik. Balaguer macht eine Politik der Rechten, eine Politik, die die Rechte be­ günstigt und den Arbeiter und Bauern ausnützt. Da wird schnell eine Bodenreform gemacht, aber niemand glaubt daran, denn in der Bodenreform wird nicht das geringste poli­ tische Konzept deutlich. Die Bodenreform entspricht den Plänen der Amerikaner, sie entspricht den Plänen von Punta del Este und hat zum Ziel, die Wirtschaft der Dominikanischen Republik nur noch weiter mit der Wirtschaft der Vereinigten Staaten zu

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verflechten, die Dominikanische Republik nur noch abhängiger von den Amerikanern zu machen. - Gewalt und Revolution ist eines der Hauptthemen der Jungen Linken in Europa. Wie ist Ihre Einstellung zur Gewaltanwendung bei einer revolutionären Bewegung? - Hier gibt es im Augenblick nicht die geringste Möglichkeit einer Revolution. Es sind Wirrköpfe, die behaupten, man könnte im Augenblick in der Dominikanischen Republik eine Revolution machen. Wir benötigen hier langsame, bewusste, vorsichtige Ar­ beit, um Kräfte heranzubilden, die später wirklich fällig sind, eine Revolution zu machen. - Sie haben gesagt, dass die Regierung Allende keine sozialistische Regierung gewesen sei. Was meinten Sie damit? - Dass die Regierung Allende eine demokratische Regierung war, durch Wahlen an die Macht gekommen, dass die Regierung Allende ihre Entscheidungen einem Kongress zur Abstimmung vorlegte, einem gewählten Kongress, in dem alle Parteien vertreten waren. Unter Allendes Regierung konnten alle Parteien ihre Funktionen ausüben, es gab Pressefreiheit und keinerlei polizei­ liche Unterdrückung. Es war eine demokratische Regierung, die mit sozialistischen Kräften zusammenarbeitete, aber es war keine sozialistische Regierung. - Welches war, Ihrer Meinung nach, Allendes Irrtum? - Der Irrtum Salvador Allendes war zu glauben, dass man fried­ liche Revolutionen in Amerika durchführen kann, solange es die Vereinigten Staaten gibt. - Glauben Sie an eine Beteiligung der USA am Sturz der Regie­ rung Allende und an Allendes Ermordung? - Der Putsch gegen Allende ist von den Vereinigten Staaten be­ gonnen worden, was immer die USA dagegen vorbringen mögen. - Im Augenblick laufen Verhandlungen mit Kuba. Es geht zuerst einmal darum, so scheint es, dass die Firmen Ford, General Mo­ tors, Chrysler Autos an Kuba und die Regierung Ihres Freundes Castro liefern. Halten Sie das für einen Fortschritt? - Das geht vielleicht weniger von Castro aus. Kuba, nicht Fidel Castro ist im Laufe der Jahre zu einem wichtigen potentiellen Kunden für die Vereinigten Staaten geworden und man muss Kuba jetzt wie einen wichtigen potentiellen Kunden der USA be­ handeln; man kann es nicht mehr so behandeln, wie man es früher getan hat. Die General Motors könnte in Kuba möglicherweise 43

40 ooo Autos verkaufen und das ist fähig, Nixon umzustimmen, denn es ist für die General Motors, Ford und Chryslers von grosser Bedeutung, 40 000 Autos zu verkaufen, besonders in einem Augenblick, wo der Verkauf von Autos in den USA selbst, wegen der Energiekrise, sehr zurückgeht. - Glauben Sie nicht, dass das Eindringen der amerikanischen Autoindustrie eine Gefahr für den kubanischen Sozialismus dar­ stellt? - Genau genommen verhandelt Kuba mit der argentinischen Re­ gierung. Die argentinische Regierung hat von Ford, Chrysler und General Motors eine gewisse Anzahl von Fahrzeugen gekauft, die jetzt nach Kuba gehen sollen. - Ist das nicht ein Irrtum, den amerikanischen Wagen, das Traum­ bild der Konsumgesellschaft, das Symbol der kleinbürgerlichen Ideologie nach Kuba zu bringen? - Ich glaube nicht, dass es sich bei dem Kauf um Privatwagen handelt. Ich glaube, es handelt sich um grössere und kleinere LastfahTzeuge. In Kuba wird im Augenblick eine Autobahn von acht Tagen Ausdehnung fertig, vier Tage hin, vier zurück. Sie reicht von Cabo San Antonio bis Punta Maisi, von einem Ende der Insel zur anderen. Sie geht um die ganze Insel herum. Kuba muß seine Produktionsmethoden motorisieren. Kuba braucht Transportmöglichkeiten. - Sie haben geäussert, der Staatsstreich gegen Sie im Jahre 1965 sei ausgelöst worden, als Sie die Aktivitäten der USA gegen die Regierung Duvalier in Haiti aufdeckten. Warum stellten Sie sich gegen den Kampf der USA gegen die Regierung Duvalier? - Ich stellte mich nicht dagegen. Ich war nicht gegen die Basen der USA, von denen aus Duvalier angegriffen werden sollte. Der Staatsstreich der Vereinigten Staaten 1965, durch den ich ge­ stürzt wurde, geschah auf die folgende Weise: Die USA hatten in der Dominikanischen Republik geheime Mili­ tärbasen, von denen aus sie Haiti angreifen wollten. Ich wusste nicht einmal, dass diese Militärbasen existierten und dass sie funktionierten. Die USA benützen für ihre Pläne dominikanisches Militär, ohne dass ich davon unterrichtet war. Ich erfuhr zufällig davon, dass die Haitianer wussten, man wollte sie von Santo Do­ mingo aus angreifen. Ich verlangte, dass die OAS, die Organisa­ tion Amerikanischer Staaten, den Fall untersuchte. Das sagte ich morgens, in der Nacht war meine Regierung bereits abgesetzt. 44

- Was erklärt diese sofortige, heftige Reaktion der Regierung Kennedy auf ein doch vergleichsweise geringfügiges Faktum für die amerikanische Aussenpolitik? - Es war die Angst, dass die Welt erführe, Kennedy und seine Regierung versuchten nach der missglückten Landung auf Kuba in der Schweinebucht, nach dem Krieg mit Laos, nach dem Krieg mit Vietnam etwas Ähnliches von der Dominikanischen Republik aus, versuchten etwas, das diesmal gegen Haiti und Duvalier ge­ richtet war. Die Amerikaner beeilten sich und stürzten meine Regierung, und als Konsequenz dieses Sturzes brach im April 1965 die Revolu­ tion aus. - Als Trujillo 1930 an die Macht kam, waren Sie 21 Jahre alt. Wie war Ihre politische Entwicklung unter dem Trujillo-Regime? - Ich erfuhr in dieser Zeit keine politische Entwicklung. Ich brauchte sehr lange. Ich entwickelte kein politisches Bewusstsein, ich empfand eine politische Unruhe. Meine politische Entwick­ lung vollzog sich im Exil. In Kuba fing ich an, ein politisches Be­ wusstsein zu entwickeln. 1939. Genau seit dem Einmarsch der deutschen Truppen in Polen. - Sie gingen 1939 ins Exil? - Nein, ich hatte schon vorher die Dominikanische Republik ver­ lassen, denn ich verabscheute, was hier geschah; aber von poli­ tischem Bewusstsein konnte damals, als ich ins Exil ging, noch nicht die Rede sein. - Welches sind die wichtigsten Veränderungen, die in der Domi­ nikanischen Republik stattfinden müssten? - Die notwendigen Veränderungen in der Dominikanischen Re­ publik müssten sehr tiefgehende sein. Im Augenblick können wir nicht daran denken, sie zu realisieren. Wir müssen versuchen, die Veränderungen anzustreben, die im Programm der sogenannten Dignidad Nacional, der Nationalen Würde, niedergelegt sind, das heisst, vor allem freie Gewerkschaften aufbauen, bessere Löhne für die Lohnabhängigen, eine Agrarreform - jedoch eine kapi­ talistische Agrarreform - und dann die Nationalisierung einiger ausländischer Firmen, wie der Gulf & Western, die Nationali­ sierung der Banken - aber alles dies sind noch immer Massnah­ men eines bürgerlichen Regimes, eines fortschrittlichen bürger­ lichen Regimes, wie es sie auch in Frankreich oder in Schweden gibt, in Spanien, ja, sogar in Spanien. 45

- Und die tiefergreifenden Veränderungen? - Eine Revolution. - Welche Art von Revolution? - Es gibt nicht viele. Es gibt nur eine, das ist die sozialistische Revolution!

>BalagueI< steht an der Wand, in roter kleckernder Ölfarbe. Für alle, die es lesen, bedeutet es, dass sogar die Armen, die Ne­ ger, die >HaitianerL< für >RL< für >RJean-Claude Duvalier«; sie sagen >raimer< für >lieben< und setzen sogar vor das afrikanische Wort >Hounsi< ein »R«, das da gar nicht hingehört: »Rounsi«. Alle Dominikaner, die weissen und die schwarzen, sagen »Amol« statt »Amor«, >pol favol« für >por favor« und >Nova Yoll« für »New York« und einige schreiben in der Eile sogar >L< für >R< - wie schon die Spanier statt »Katharina« »Catalina« schrieben. »Balaguel« steht unter den vielen Wahlparolen, mit einem roten kleckernden Ausrufezeichen. Es war ein gerissener Wahltaktiker, der die Banden der Regie­ rungspartei anspornte, nachts mit roter Farbe einen Recht­ schreibefehler an die Wände zu schmieren. Er will alle diejenigen Wähler ansprechen, die sich als Unterdrückte, als Neger, als »Haitianer«, als Vaudoupriester, als Guloyas fühlen - und alle die Wähler dazu, die sehr gut lesen und schreiben können, die links wählen würden, wenn sie glaubten, das Volk wähle in der Über­ zahl links, und rechts, wenn sie glaubten, das Volk wähle in der Überzahl Balaguer - »Balaguel«. Am 2. Oktober 1937 liess Trujillo in 36 Stunden 20000 Neger mit Macheten ermorden. Es waren Siedler und Saisonarbeiter, die sich diesseits und jenseits der nie eindeutig festgelegten Grenze zwischen der Dominikanischen Republik und Haiti niedergelas­ sen hatten. Die Flüsse färbten sich rot. Strassen und Täler waren mit Leichenteilen voll.

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Um jedoch vorgeblich die Neger dominikanischer Nationalität zu schützen, hatte Trujillo den Auftrag erteilt, die Schwarzen, die in Haufen zusarnmengetrieben, Männer, Frauen, Kinder, Vaudoupriester, Spiegelmänner, ihre Enthauptung erwarteten, das Wort »Petersilie« - »Perejil« aussprechen zu lassen. Sagten sie »Pelejil«, wurden sie als »Haitianer« mit den Macheten zerhauen. Alle sagten »Pelejil«, wie sie es als Kinder oder als Ein­ wanderer gelernt hatten. 40 Dollar zahlte Trujillo später dem haitianischen Staat als Ent­ gelt pro Kopf. »Balaguel« steht in roter Ölfarbe an der Wand. Es soll heissen: Alle wählen, alle, die Unterdrückten, die Neger, die Haitianer, die Vaudoupriester, die Spiegelmänner wählen den Ideologen, den Minister, den Ministerpräsidenten Trujillos: Bala­ guer.

Ein deutscher Agronom meint: - Die Ansicht des Ministeriums für wirtschaftliche Zusammen­ arbeit, man dürfe in der Dritten Welt die Arbeitsplätze nicht durch einen teuren Maschinenpark und teure chemische Prozesse ver­ mindern, lässt sich in der Dominikanischen Republik nur sehr beschränkt verwirklichen. Die Dominikaner finden es unter ihrer Würde, Zuckerrohr zu schlagen. Deswegen sind die vielen Hai­ tianer im Land, und deswegen breitet sich der haitianische Vaudou hier so aus. Niemand will hier mehr Unkraut hacken. Also trotz der vernünftigsten Entwicklungsprogramme ist die Einfuhr von teuren Herbiziden nicht zu verhindern. Die Bestechungsgelder und die Reklame der Firmen Dow Chemical, BASF und einiger englischer Firmen können nicht rückgängig gemacht werden.

Alfred, der deutsche Agronom: - Trujillo hat die Rassepolitik Hitlers auf seine Weise interpre­ tiert. Um das Blut der Dominikaner zu verbessern, siedelte er Japaner und Juden an und bot nach dem Kriege flüchtigen SS-Leuten Asyl. - Die SS-Leute gründeten auf seine Empfehlung eine Waffen-

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und Munitionsfabrik, deren Produkte, später, auf Grund eines Vertrages mit Castro, an Kuba geliefert worden sein sollen. - Mit dem Ruin der Familie Trujillo ging auch die Fabrik in die Brüche und die SS-Leute kamen ins Rentenalter. Herr R. in San Cristobal übt die verschiedensten Berufe aus, um sich durchs Le­ ben zu schlagen.

Herr R., der Ex-SS-Mann, interessiert sich für Mischreligionen, wie ich, der Mischling ersten Grades. Wir treffen Herrn R. beim Baden. R. mag das Alter meines Vaters haben, wenn der damals die Flucht nach Schweden überlebte. Herr R., ein Vertreter der Herrenrasse, gebeutelt von Flucht und Tropen. Ein verzogener weisser Körper mit Krampfadern. Ich folge ihm zu dominikanischer Frau und Kind und zu Foto­ alben. Herr R. hat in ein Album fein säuberlich die Zeitungsausschnitte von Trujillos Ermordung, über die Folter an den Mördern und über die synkretistische Bewegung von Palma Sola aufgeklebt. Ich muss ihm versprechen, es nur ja niemandem in der Domini­ kanischen Republik zu sagen, dass er solche Zeitungsausschnitte sammelt, es gäbe sonst noch Scherereien, die amerikanische Bot­ schaft hätte ihm nicht einmal ein Visum ausstellen wollen. Herr R. sieht mich scharf mit den blauen Augen an. Diese Reduktion von Blut und Sehnsucht zu vergilbten Zeitungs­ ausschnitten. Aufstände, Tyrannenmord, Folter, Massaker, Glau­ bensorgien eingeklebt ins Album eines deutschen Einwanderers, der SS-Mann war. — Palma Sola heisst der Ort, wo 1952 die Zwillinge Los Melizos eine Religion wieder aufleben liessen, die von dem religiösen Guerillcro Liberio in den Zwanziger Jahren gegründet worden war. — Liberio und seine Guerilleros, gejagt von dem geheimnisvollen, blonden Mariner, getötet von Brunnenwasser, das der Amerika­ ner vergiftet hatte. — Liberio, 1922 von den Amerikanern ermordet. Ein schlcchtgedrucktes Foto. Zwischen Stangen ein verschnürter, zerfledderter Körper — wie ein Fetisch.

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- Endlose Züge von Bauern, die ihre Äcker verlassen, um den Glaubenslehren der Melizos zu folgen. Am 13. Dezember 1962 sagt Ana Vitalina aus: - Nachts bildeten sich zwei Gruppen, eine aus Männern, die andre aus Frauen, die mit den Priestern in Palma Sola zu singen began­ nen. Sobald die Frauen in Trance fielen, wurden sie in Baracken gebracht und die Priester befreiten sie von dem Geist, der sie besessen hatte. - In der Nacht fanden Orgien statt. - Die Melizos bestreiten das. - Die Bauern haben zu Tausenden ihre Felder verlassen und sind nach Palma Sola gezogen. - Bei der Verhaftung von El Melizo wurde einem Bauern ein Bein gebrochen. Zwei Schüsse fielen. Die Regierung schickte Mili­ tär und Polizei truppen nach Palma Sola, wo die Gläubigen in einer Art Kommunismus lebten. - Angeblich griff ein Gläubiger einen Polizisten an. - Eine Schiesserei wurde ausgelöst. Der Brigadegeneral Michel Felix Rodriguez Reyes fiel bei den Kämpfen. - Ende 1962, kurz vor der Wahl des Sozialisten Bosch zum Prä­ sidenten der Dominikanischen Republik, haben die Anhänger der Familie Trujillo versucht, die Bewegung von Palma Sola politisch zu unterwandern. General Reyes, der in Palma Sola erschossen wurde, war der einzige General, auf den sich Bosch verlassen konnte. Viel mehr ist den Zeitungsausschnitten des SS-Manns nicht zu ent­ nehmen. Die Archive der Bibliotheken sind in Unordnung. Die Sage löst die Fakten auseinander und fügt sie neu zusammen: Hauptmann Caamano, der Rebell in der Nachfolge Che Gue­ varas, damals noch Führer einer Sondereinheit der Polizei, hätte General Reyes erschossen. Die sechshundert Gefangenen aus Palma Sola sind verschwunden. Wie die Gefangenen der royalistischen Hippiegemeinde von Canudos, im Norden Brasiliens, kurz nach Ausrufung der Republik, um die Jahrhundertwende.

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Sonnabend, den 27. April: Miami Herald: Bewundern sich Kissinger und Castro gegenseitig? Castro meint: Kissinger ist ein Mann, der sein Wort hält, berich­ tete der mexikanische Aussenminister Emilio 0. Rabasa: Kissinger vertraute mir an, dass er es sehr interessant fände, mit Castro irgendwann, irgendwo einmal zusammenzutreffen. El Nacional: Vierzehnjähriger, der bei einem Meeting der Opposition von der Polizei zusammengeschlagen wurde, befindet sich in Lebens­ gefahr.

El Indio ist achtzehn. Er arbeitet im Hippodrom. Er hat einen anderthalbjährigen Sohn. Für den braucht er 60 Dollar im Monat. Deshalb geht er auf den Strich.

Sonntag, den 28. April: La Noticia: Soldaten und Polizisten der Banda Colora stören Wahlversamm­ lung der Opposition und erschiessen den 17jährigen Manuel An­ tonio Figuero. 28 Verletzte.

El Indio: - Die Polizei zieht den Langhaarigen die Haare aus. Deshalb habe ich mir den Bart und die Haare schneiden lassen.

Im Fernsehen Dr. Joaquin Balaguer auf Wahlreise. Es ist das erste Mal, dass ich einen Staatschef sehe, der sich fil­ men lässt, wie er den Frauen unter der Bewachung von Gene­ rälen Fünf-Dollarscheine in die Hand drückt.

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Dienstag, den 30. April: La Noticia: Die Zuckerfabriken behalten einen Teil der Löhne ein und schikken das Geld als Wahlspende an Balaguer. Bei der Beerdigung des 17jährigen Manuel Antonio Figuera schoss die Polizei auf den Trauerzug. Der Sarg fiel auf die Erde und öffnete sich. Er wurde von den Polizisten eilig wieder ge­ schlossen. Die Politischen Gefangenen im Gefängnis La Victoria treten in Hungerstreik.

Nachts im Zentralfriedhof Jeeps mit Soldaten. Transportwagen, den Transportwagen von Morguen ähnlich, par­ ken in den Seitenstrassen. - Das sind Krankenwagen, sagt ein Strassenmädchen.

Octavio fährt mit mir zu seiner Tante, der greisen Tochter eines ehemaligen Staatspräsidenten. Sie lebt in einem Kolonialhaus an einem andalusischen restau­ rierten Platz. Die Wände ihrer Wohnung sind bis zur Decke hoch mit Reiseandenken gespickt, vor allem winzige Puppen, aber auch Silberarbeiten vom dohomeyischen Königshof, Kuckucksuhren und Usheptis und abstrakte Gemälde. Sie spricht von den haitianischen Zentren im Süden des Landes. Baraona, San Juan de Maguana, Haina. Dort gab es noch die Ehe auf Probe. Im ersten Jahr der neuen Ehe arbeitete die Dorfgemeinschaft für das junge Paar, baute das Haus, versorgte die Äcker. Es gab die Convite, einen dahomeyischen Brauch, der Koumbile in Haiti heisst, gemeinschaftliche Ackerbestellung. Und die Corvee, gemeinschaftliche Arbeit für den Staat, Strassen­ bau. Im ganzen Land waren die Confradias del Espirito Santo verbreitet. Zu Pfingsten, meistens schon den Mai über, wurde eine Nacht durchgetanzt und den nächsten Morgen ging es zur katholischen Prozession. Am dritten März, dem Tag des Heiligen Kreuzes, gaben die Leute 51

ein Essen für die Toten, damit wurden sie ein Jahr lang von den Geistern verschont und brauchten nicht in Trance zu fallen. Am dritten Mai gab es in Seibo Feste, die eine ganze Woche dauerten. Trommeln. Stierkämpfe. Sie spricht von ihrer Kindheit, von Festungen an der Grenze, von reitenden Staatspräsidenten, haitianischen Zauberern, die Kinder frassen, von rasenden Eltern, die Zauberer zerstückten. Sie serviert uns einen kräftigen, selbstgebrauten Kräuterlikör.

Carlos ist aus dem Büro für Preisbindung entlassen worden, weil er sich geweigert hat, 2 Prozent seines Lohns für die Reform­ partei Balaguers abzugeben. Zu Zeiten Trujillos waren es zehn Prozent. Carlos geht auf den Strich, um die Miete zu zahlen.

Deepthroat: — 70 Prozent des Nickels der Dominikanischen Republik geht nicht in die USA, sondern in die Bundesrepublik. Gelegentlich stürzen Wirtschaftsberater ab, die zu neugierig sind. Angeblich wird das meiste Gold und Silber der Insel in der Frankfurter Scheideanstalt Degussa verschmolzen. Wo Gold ist, ist auch Ko­ balt. Die Amerikaner scheinen vor allem an Kobalt interessiert zu sein.

Luiz arbeitet im Hafen von Haina. Er ist Fünfkämpfer und bereitet sich auf die Olympischen Spiele vor. Er geht auf den Strich, damit er Kraftnahrung kaufen kann.

- Jetzt wird alles besser, sagt Juan, der auf den Strich geht, weil seine Mutter erkrankt ist. - Ich war gestern bei Dr. Balaguer. Er hat mir die Hand gedrückt und gesagt, er würde mir Arbeit geben. - Nach der Wahl kriege ich Arbeit. 52

Montag, den 6. Mai: El Nacional: Bonao: Der 17jährige Student Jose Tolentino wurde einige Kilo­ meter vor der Ortschaft tot aufgefunden. Er hatte in einer besetz­ ten Kirche an einem Hungerstreik teilgenommen. Die Leiche wies Spuren von Misshandlung auf. Der Studentenführer Flavio Suero wurde tot aufgefunden. Die Leiche war durch Schläge völlig entstellt.

El Indio: - Mein Bruder und mein Freund sind von der Polizei erschossen worden. Sie waren Mitglieder der linksextremen MPD. — Ich konnte entkommen. El Indio zeigt mir einen Durchschuss im Oberschenkel. - Ich bin aus der MPD ausgetreten. Aber ich bin weiterhin Sym­ pathisant. Wenn man mir ein Maschinengewehr gibt, schiesse ich besser als die Polizei. — Trrrrrrrrrrrrrrrr!

Dienstag, den 7. Mai: New York Times: Willy Brandt zurückgetreten.

Pedro lädt uns in den einflussreichen Club zum Essen ein. - Aus jeder Sparte sind hier die besten Männer vertreten: Also der beste Buchbinder, der beste Importkaufmann, der angesehen­ ste Diplomat. Von 98 Mitgliedern gehören 96 der Regierungs­ partei, der Reformpartei Balaguers an. 57 sind Mitglieder der Balaguer’schen Entwicklungskommission. — Heute sind auch die Damen gebeten. Ein neugewählter General muss auf die Ideale des Clubs schwö­ ren. Er lispelt sich schwitzend durch die Formeln der Ehrbarkeit. Zum Essen ein Vortrag über Sexualerziehung. Die Damen und Herren des einflussreichen Clubs der Stadt Santo

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Domingo hören dem Redner mit seinem Säufergesicht tränend vor Lachen zu. Pedro: - Wir würden keinen General aufnehmen, der einen Mord be­ gangen hat. - Ich meine, keinen General, von dem bekannt ist. dass er einen Mord begangen hat.

Als Leonore aus dem Hotel geht, wird sie vom ersten Stock foto­ graphiert. Ich hänge meinen Spitzel jeden Abend in Pacos Bar ab.

Fradique arbeitet über afrikanische Tänze. Er wohnt bei seinen Eltern in einem kleinen Zimmer, das er mit Kette und Schloss sichert: - Mein Archiv ist eine Million wert. Fradique organisiert einen Jeep und wir fahren an indianischen Tabakhangaren vorbei durch Flussläufe nach Santa Maria. - Um die Wallfahrtskirche aus Beton haben sich reine Ibos an­ gesiedelt. - Das ganze Jahr über, an den Tagen der populären Heiligen, wallfahren die Leute hier herauf. Katholische Feste, afrikanische Tänze, zu Trommeln, Flöten und Rasseln. Fradique hat ein dickes Buch mitgenommen - eine Art Konto­ buch. Er setzt sich hin und lässt einen weisshaarigen Ibo kommen, den Verantwortlichen für die Zeremonien in der Betonkirche. Fradique fragt ihn aus und schreibt die Anworten in das dicke Kontobuch. Es ist das dicke Kontobuch, mit dem schon Christo­ pher Colon kam und Las Casas, mit dem heute auf jeder Insel der Karibik, in jedem afrikanischen und afroamerikanischen Staat junge Amerikaner, Franzosen, Kubaner, Deutsche Indianern und Negern gegenübersitzen, Studenten, Doktoranden, Sorbonne­ professoren, nach fünf Jahren Grundschule, sieben Jahren Ober­ schule und ein paar Jahren Universitätsausbildung, für zwei, drei Monate, mit einem Stipendium von Fullbright oder der Unesco, um ihre Doktorarbeit über das Erziehungssystem der Yoruba oder ihre Kompilation über die Schwarzen Amerika zu verfassen.

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Gehöre ich auch dazu? Fradique sagt: - Fragen Sie! Genieren Sie sich nicht. Fragen Sie nur! Fragen Sie nach den afrikanischen Tänzen! Fragen Sie nach der Jungfrau Maria! Hier können Sie alles fragen. Ich habe die Leute daran gewöhnt. Ich frage den Ibo, den Bruder des Laienpriesters in der Beton­ kirche, wovon er lebt. - Ich habe Orangenbäume, Apfelsinen, Limonen, Zitronen, Mangos, Pampelmusen, Kokosnüsse, Kochbananen, süsse Ba­ nanen. - Ich halte Kühe, Schweine, Hühner, Ziegen. Die Tiere werden fett bei dem vielen Gras in der Regenzeit. Er sagt >goldos< statt >gordos3,5 Grad Celsius um drei Uhr nachmittags im Schatten. Ich finde die Philosophische Vereinigung der Königin Maria Lionza nicht. Ich klappere das ganze Hochhaus ah. Samenpalimpseste an den Wänden.

Donnerstag, den 21. April: El Universal: Rinder sterben in Yaracuy. Dürre und Futtermangel. Los Teques ohne Fleisch. Butter, Fleisch, Margarine, Karotten, Käse, Kindernahrung, Milch, Kondensmilch, Knoblauch, Eier, Platanos, Hühner, Essig, Thunfisch, Sardinen, Milchpulver, Majonäse, Kartoffeln, Mais, Salz, Schweinefleisch, Verpackungsmaterial aus Plastik, Glas, Blech, Karton und Fisch sollen per Flugzeug importiert werden. Ultimas Noticias: Schüler in Catia ermordet. Mörder des Militärarztes verhaftet - vier Minderjährige.

Der kubanische Babalawo, der Wahrsagepriester Ubaldo Porto. Freundlich. Intellektuell. Undurchdringlich. Er kommt gerade aus den USA zurück: - Es gibt heute viel Santeria in den USA. Auch in Puerto Rico. - In Caracas nimmt die kubanische Santeria zu. - Ich veranstalte gelegentlich Zeremonien. - Aber nur die Eingeweihten dürfen dabeisein.

Der Unheimliche in dem Park der Caobos. Mit Dobermann. - Ich habe keine Wohnung. - Ich lebe in den Caobos. - Ich schreibe an einem Buch über die Gefängnisse von Caracas. - Ich war angeklagt. 8G

- Delito Comun. - Ich ficke Männer und Frauen. - Schätzen Sie Hitler? - Gewalt ist die Lösung! - Sartre: Schmutzige Hände.

Sonntag, den 24. April: Ultimas Noticias: löjähriger hat den Militärarzt von hinten ermordet. Untersuchung gegen Krankenhaus in San Cristobal wegen Sex­ umwandlungen. In Los Teques liest ein Neger aus Trinidad die Messe und heilt Besessene.

Como no! No hay problema! Zwei Ausrufe, welche die Venezolaner wie Fläggchen vor sich herschwenken. Como no! soll heissen: Klar! Praktisch bedeutet es: Ich komme nie! No hay problema heisst: Da gibt es kein Problem! Und bedeutet: Da steigen wir nicht mehr durch!

Die Frau des Waffenhändlers: - Die Ärzte kommen wegen des undurchdringlichen Verkehrs nicht mehr ins Haus. - Das Kind hat 40 Grad Fieber. - Ich musste es so zum Kinderarzt bringen. Wie die Bewohner der Elendsviertel.

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Kleidung im Park der Caobos: Der ganz Violette: violettes Hemd, violetter Anzug, schimmelfarbener Schlips. Der ganz in Rosa.

Der Unheimliche in den Caobos mit seinem Dobermann: - Euch werden wir alle den Kopf abhauen! Seine Freundin Rest: Rasputin, der mystische Sadist.

Zu Senora Rodriguez, der Maria-Lionza-Priesterin, ins feine Vier­ tel Viesta Alegre. An den Mauern: - Escorche! - Zieh die Haut ab!

Montag, den 25. April: El Mundo: i7jähriger tötete mit Schusswaffe seine Frau und seinen achtjäh­ rigen Sohn und schliesslich sich selbst. Wahrscheinlich aus Gründen der Leidenschaft und unter dem Einfluss von Drogen und Alkohol.

Die Frau des Waffenhändlers: - Chevere sein ist alles. Schick! Flott! Dufte! - Um Chevere zu sein, ist B. durch die Glastür des Hotels Tamanaco mit seinem Mercedes gefahren. - Ein Wärter wollte ihm mit dem Holzknüppel auf den Kopf hauen. - B. hielt seinen Arm dazwischen. - Der ganze Ellbogen zersplitterte unter dem Schlag.

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Zur Maria-Lionza-Priesterin Maria Lourcles in La Vega Montalban. Kleinbürgerlicher Vorort. Der Tempel in der Nachbarschaft fast unbekannt. Das Haus wie eine Burg. Ihr Sohn lässt mich rein. Verschiedene Empfangszimmer. Porzellanbuddhas. Drei Hunde. Ölbilder aus Haiti. Warten. Das Warten des Synkretismus. Ein Hof mit Springbrunnen. Betonbarock und Nierentische. Die Tochter zeigt mir Fotos von ihrem 15. Geburtstag. Sie als Rokokoprinzessin in einem Club von Caracas. Die Tochter sagt: - Am Heiligen Berg von Sorte gibt es viele Lügner und Täuscher. Wir gehen in den letzten Jahren nicht mehr nach Sorte. Der Sohn wälzt sich mit den Hunden auf dem Boden. Die Priesterin kommt. Schön. Ganz bleich. Zwischen 30 und 40. So bleich wie nur Negerinnen bleich sein können. Gelbes Kopftuch, mandelfarbenes Hauskleid. Sie ist krank: - Nach einer Fehlgeburt habe ich durch das Auskratzen der Nachgeburt eine Entzündung der Bauchhöhle bekommen. - Mir wurden drei Liter Eiter herausgepumpt. - Mir wurde alles herausgeschnitten. - Als Folge habe ich noch immer eine Venenentzündung. - Ich kann jetzt nur noch kleine Zeremonien ausführen. - Am Freitagabend oder Sonnabendabend. - Ich arbeite hauptsächlich mit afrikanischen Geistern. - Ich war oft in Haiti und auch in Afrika. - Ich plane eine Reise nach Brasilien, nach Bahia de Todos los Santos. - Kubaner gibt es vor allem in New York und Miami. - In Puerto Rico arbeiten die Kubaner sehr versteckt.

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Maria Lourdes beruft sich auf das Werk eines Mexikaners über die Geheimnisse der Pyramiden. Maria Lourdes zeigt mir die Kapelle. Schwarzer Barock. Schwarzangemalte Schaufensterpuppen und schwarzangemalte Götterbilder. Chango in der Mitte, auch Barbara genannt. Yemanya, die Jungfrau Maria. Ochum, die Jungfrau des Kupfers. Obatala. Orunmila. Der ist mir neu. Odua. Und der mildtätige Dr. Gregorio Hernandez mit seinem schwar­ zen Hut. Ein Ölbild der Königin Maria Lionza - eine Mischung aus Modigliani und Haiti.

Dienstag, den 26. April: El Universal: 5000 Rinder verdursten in Guarico und Anzoategui. El Nacional: Wir Sozialisten hoffen nicht, dass Carter uns den Triumph über Pinochet stiehlt, sagte der Ex-Wirtschaftsminister von Allende in Caracas. Ultimas Noticias: Sogar eine Geburtstagstorte nehmen die Diebe mit, als sie ein 9-stöckiges Gebäude plündern.

Der Arzt der Frau des Waffenhändlers: - Die halbe Stadt besteht aus Elendsvierteln. — Diese Ranchos haben keine sanitären Anlagen. - Die Abwässer und alle Keime sickern in die Erde. — Durch Hitze, Wind, Feuchtigkeit wirbeln die Keime durch die Luft und jede kleine Wunde entzündet sich gleich.

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Die anderthalbjährige Tochter des Waffenhändlers flirtet mit einem etwa vierjährigen Jungen. Der zieht sich vorne an seiner Hose. Die Eltern rufen: - No tires! No tires! - Zieh nicht! Zieh nicht!

Sonnabend, den 50. April: El Mundo: Die Vendetta in Maracaibo geht weiter. Chef der Semprun niedergeschossen. Ezequielito tötete bevor er starb seinen Mörder Sanchez. Sein Cousin Norberto Antonio Brancho starb ebenfalls bei dem Schusswechsel. Er ist der 10. der Familie, der auf diese Weise umkommt. Nur ein Semprun lebt noch. Der Karatekämpfer Teiko Sasuro wurde in Caracas ausgeraubt. El Universal: Kubanischer Zucker aus Kolumbien nach Venezuela verkauft.

Sonntag, den ersten Mai: Teodoro Petkoff, der Leader der sozialistischen Partei MAS, ant­ wortet Präsident Perez: Der Präsident sagt, dass 1976 62 Prozent des Nationaleinkom­ mens in öffentliche Arbeiten gesteckt wurden und 38 Prozent ans Kapital gingen - die Zentralbank sagt, dass 1975 44 Prozent in die öffentlichen Arbeiten gingen und 56 Prozent ans Kapital. 629 000 Arbeiter verdienten 1975 weniger als 500 Bolivares im Monat. 1976 sind es nur noch g6o 000. Aber 64 Prozent der venezolanischen Arbeiter verdienen immer noch weniger als 1000 Bolivares im Monat, was als Existenzmi­ nimum angesehen wird. Zwischen 1974 und 1977 stiegen die Kosten für Nahrung und Getränke um 44 Prozent. 1975 betrug die Arbeitslosigkeit, gemessen an der ökonomisch aktiven Bevölkerung, 16,8 Prozent.

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1985 werden wir 16 Millionen Venezolaner sein und wenn alles so weitergeht wie bisher, 3,6 Millionen unterernährt, 4,5 Millio­ nen Venezolaner werden keinen Trinkwasseranschluss haben, 9 Millionen nicht einmal Senkgruben.

Montag, den 2. Mai: Ultimas Noticias: Gestern 5 Tote bei Messerstechereien in Caracas. El Mundo: Trotz des Flehens der Mutter erschossen drei Jungen von 9, 11 und 13 einen 14jährigen.

Platzregen. Wir rennen ans Fenster. Wildbäche über dem Asphalt. Die Autos fahren im Schrittempo.

Freitag, den 6. Mai: Ultimas Noticias: Katholische Universität von Polizei eingekreist. Eine Manifestation sollte verhindert werden. 62 verwundete Studenten. 2 im Koma. 17 verwundete Soldaten.

Für Mutti zum Muttertag! Mixgeräte, Bügelbretter, Bügeleisen. Alle Kleinbürger von Caracas schleppen am Sonnabend für Mutti zum Muttertag: Mixgeräte,

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Bügelbretter, Bügeleisen. Sie packen sie auf der Straße vor den Geschäften aus, gucken sie an, packen sie wieder ein, schlingen die Plastikschleifen wieder über die Geschenkpackungen.

Josö, 19: Sein Vater ist Filialleiter. Jos6 hat vier Brüder. Ein jüngerer ist der eleganteste. Jose geht von Montag bis Donnerstag in die Schule - manchmal bis 11 Uhr abends. Er ist seit zwei Jahren verlobt. Er darf die Brüste seiner Verlobten anfassen. Lohenstein: Das Spielen auf der Brust. . Andre Mädchen lassen die Jungen ran und kriegen trotzdem einen Mann. Aber seine Verlobte will als Jungfrau in die Ehe gehen. Jose hat diese Woche zweimal mit einer Ex-Verlobten. Er geht wenig mit Männern, aber lieber mit Männern. Er würde nie Geld dafür nehmen. Wenn er verheiratet ist, will er es nie mehr mit Männern machen. Josö soll Weihnachten heiraten. Er lädt mich und meine Frau ein. Einer seiner Brüder hörte auch mit den Männern auf, als er hei­ ratete. Der mag Frauen lieber als Männer.

Sonntag, den 8. Mai: Ultimas Noticias: Vier Überfälle - Operation Nackedei! Mehr als 100000 Bolivares, Schmuck und Papiere wurden ge­ stern nacht in zwei Hotels, einer Autobusfirma und einem Nacht­ klub erbeutet. - Ich tötete sie aus Liebe, hatte der Gattenmörder auf einen Casettenrecorder gesprochen, ehe er sich selbst umbrachte.

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Als wir an dem Elendsviertel in San Bernadino vorbeifahren, sagt der Taxifahrer: - Das ist der dunkelste Ort der Stadt. - Nachts laufen die Bewohner des Rancho mit Messern herum und killen die Bewohner. - Der Staat tut nichts. - Anstecken sollte man die Drecksiedlung. - Ich halte nachts für niemanden mehr.

Telefongespräch mit dem kubanischen Babalawo Ubaldo Porto. Der Zwiespalt zwischen den Gesten der Abweisung, der Mystifi­ kation und den Gesten der Gastfreundschaft — zwischen den Ge­ sten des Yorubababalawos und denen des Südamerikaners.

Donnerstag, den 12. Mai: Ultimas Noticias: Die 46 portugiesischen Arbeiter, die kürzlich aus Venezuela aus­ gewiesen worden sind, weil sie angeblich zu einem Streik aufge­ rufen hatten, erklärten auf einer Pressekonferenz in Lissabon, dass sie von bundesdeutschen Firmen in Venezuela als inferiore Wesen behandelt worden seien. Ex-Polizist, der verdächtigt wird, seinen 5jährigen Cousin miss­ braucht zu haben, stellt sich der Polizei. El Mundo: Schwere Unruhen in Catia. Bäckerei von Agitatoren geplündert. Sadist, der unter Todesdrohungen einen 12jährigen Jungen miss­ brauchte, zu fünf Jahren Zuchthaus verurteilt. Die Operation Schmetterling klappt. Heute nacht 50 Transvestiten eingefangen, die Raubüberfälle auf ihre Kunden begingen. »Jacqueline«, die Anführerin, starb bei einem Schusswechsel. Der Minderjährige, der den Militärarzt erschossen hat, ist auch an drei anderen Raubmorden beteiligt. Es gelang ihm zu fliehen. 600 Familien ohne Unterkunft.

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Regen und Erdrutsch zerstören die Häuser in den Elendsvierteln von San Jose de Gramoven.

Ich frage den milden jungen Mann, der mir bei Dr. Scholl einen Splitter aus dem Fuss operiert: - Träumen Sie nachts von Füssen? - Nein. Ich träume von Totschlägen. Nach allem, was man heute hört. Oder von Schlangen. Auch von Flüssen. Neulich habe ich von einer Schlange mit zwei Köpfen geträumt. Sie verwandelte sich in einen Ball.

Sono con un rio. Ich träume mit einem Fluss. AncLrö Eveard, der haitianische Vaudoupriester, sagt: Moin rävö gnoun älöphant. Ich träume einen Elefanten.

Freitag, den 15. Mai: Ultimas Noticias: Ein Unbekannter schickte ein besprochenes Tonband zur Polizei, auf dem die Transvestitenbande droht, einen Polizeichef aus Rache zu töten. Die Transvestiten überfielen Hotels und Nachtbars. In einer Nacht bis zu sechs Örtlichkeiten. Zwei der getöteten Transvestiten wurden in verschiedenen Fried­ höfen beerdigt. Der einzige, der nicht aus der Morgue geholt wurde, ist der Transvestit Jos6 Antonio Goday. Kein Verwandter hat sich gemeldet. El Mundo: Zwei »Unverstandene« begehen gemeinsam Harakiri in einer Pen­ sion. Sterbend und blutüberströmt identifizierte die Polizei sie als Jose

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Ismael Lopez, 25, der sich als Transvestit »La Nena« nannte und als Julian Antön Cumana, 20, seinen Freund. El Mundo: Operation Überraschung. 500 Verhaftungen in Diskotheken, darunter ein Pater und Miss Ebenholz 1977. El Mundo: Er ermordete einen Mann und wollte aus dessen Kopf einen Schlüsselanhänger machen.

Leandro tritt in den Toiletten der Caobos auf als Zorro, der Rächer. - Ich bin unter den Brücken von Strichjungen überfallen worden. - Sie haben mir zwei Zähne ausgeschlagen. - Am Strand von Maiquetia gibt es Schwarze Messen. - Sterne aus Johnsons Babypuder mit brennenden Kerzen. Dar­ über ficken 50 Männer im Kreis rundherum. Aus besseren Krei­ sen, Zahnärzte, Rechtsanwälte. Ich glaube ihm nicht alles.

Dienstag, den 17 Mai: El Mundo: Millionenbetrug im Erziehungsministerium. Ultimas Noticias: 11 Millionen Bolivares für Ackerbauprogramme in Yaracui ver­ schwunden. Vor Monstrum wird gewarnt, das mehrere Jungen missbraucht hat und unter dem Namen »Das kleine Schweinchen« bekannt ist.

Magier sehen nüchtern aus. Gilberto Antolinez hat eine hohe, knarrende Stimme. - Die echte Maria-Lionza gab es nur bis 1938 etwa. - 1940 beginnt der Verfall dieser Religion. - Beatrix Veit-Tane war bei der Einweihung der Maria-Lionza-

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Statue dabei, und als sie merkte, dass der Diktator Perez Jimenez an dieser Religion interessiert war, machte sie sich gleich an eine Reform dieses Kultes. - Früher kamen auch Guerilleros nach Sorte zu den Zeremonien. - Sowohl der Diktator Perez Jimenez als auch die Revolutionäre, die seinen Palast bombardierten, waren Anhänger der MariaLionza. - Ich, Gilberto Antolinez, war der erste, der den Kult analysierte, dann kamen Tamayo und Figueroa. - Beatriz Veit-Tane wurde die Grosse Schamanin der Maria Lionza und war gleichzeitig die Leiterin des Informationsbüros von Perez Jimenez. - Sie war Polizeispitzel.

Zum Orinoco. In der Wartehalle winken zwei Frauen einem startenden Flug­ zeug nach. Sie realisieren nicht, dass man vom Rollfeld aus den Einzelnen hinter den Scheiben nicht mehr erkennt; wie sie an den winzigen Fenstern des abhebenden Flugzeugs niemanden mehr erkennen. Aber für sie zählen die technische Wahrheit und der Analogie­ schluss nicht. Es zählt nur das Bewusstsein von einem Wegreisenden, den sie begleitet haben und dass man dazu winkt.

Rote Dürre. Brände am Fluß. Ciudad Bolivar. Die heisseste Stadt Venezuelas. 40 Grad. Der Orinoco. Fischreich. Eben hat der Mann die Angel ausgeworfen, zieht er schon einen dicken Fisch raus. Eine Kapelle auf einem hohen, isolierten Stein. Papierfähnchen an Kreuzen.

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Elend in einer Felsensiedlung. Leere FelsWohnungen. Nachts Liebespaare am Orinoco. Ein Junge aus Maturin. Ein Peruaner, der von einem Beso Negro spricht, dem Schwarzen Kuss, wie sonst nur die Mexikaner. Unten am Fluss drei wartende Männer. Einer, der Geld will, steigt zu dem Fahrer eines Mercedestaxis.

Freitag, den 20. Mai: El Universal: Gefangener auf Polizeistation erschossen.

Der Fahrer des Gemeinschaftstaxis: - In Ciudad Bolivar gibt es viele Spiritistenzentren. - Da erscheint der Neger Felipe und der Indianer Guaicaipuro. - Es gibt einige Italiener, die als Hexenmeister arbeiten: - Maluante, der besitzt eine Benzinstation. - Und der Neger Juan Rodriguez.

Mit dem Gemeinschaftstaxi nach El Tigre. Platte Landschaft. Eingezäunte Steppe. El Tigre - eine explodierende Goldgräberstadt.

Der Priester Freddy: - Erst war ich ungläubig. - Ich nahm an einer spiritistischen Sitzung teil und wurde über­ zeugt. - Die Mutter der Maria Lionza heisst Maria da Onza. - Sie war eine Spanierin, die vergewaltigt wurde. - Ein Medium wird geboren. Man kann es nicht trainieren.

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- El medium nace, no se hace. - Die Übungen nützen nichts, wenn die Voraussetzungen nicht vorhanden sind. - In Ciudad Bolivar gibt es viele Tempel der Maria Lionza. Dort ist man freier als in El Tigre.

Nachmittags fünf Uhr. Der Tempel von Jos£ Ochoa. Josö. Sein elfjähriger Sohn Yanio. Ein bleicher Achtjähriger. Drei Eingeweihte. Freddy.

Einer der Eingeweihten trägt zum geistlichen Schutz einen eiser­ nen Fussreifen.

Die Heerscharen der Indianer. Die himmlischen Heerscharen. Die Heerscharen Johannes des Täufers. Die Heerscharen des umgekehrten Heiligen Johannes. Die afrikanischen Heerscharen - das sind die sieben afrikanischen Potenzen.

In einer Ecke weissgepuderte Steine, darauf eine Machete - das ist Guaicaipuro, der grosse König. Kerzen. Schilfverzierte Kerzen. Sie konversieren und lachen. Sie zeichnen Dreiecke mit Johnsons Babypuder auf den Boden, um böse Geister abzuwehren. Olivenblätter. Rosenblätter. Sie rauchen edle eine Zigarre, stumm. Sie ziehen die Schuhe aus. Sie ziehen die Hemden aus. Kräuterwasser über die Körper.

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Auf den Boden. Rum. Anisschnaps.

Die Indianergötter trinken weissen Rum. Die kubanischen Götter trinken braunen Rum. Die Heerscharen des umgekehrten Heiligen Johannes trinken Anisschnaps. Die anderen Süsswein. Jose Ochao bindet sich eine weisse Kordel um. Die anderen binden sich rote Kordeln um. Jos6 bietet mir eine Zigarre an. Ich bleibe am Eingang stehen. Ich solle alles genau aufschreiben. Zigaretten rauchen. Für eine Schwester im Himmel, die gerne Zigaretten raucht. Jose kehrt sich nach innen. Augen zu. Rum über Jose. Weiterrauchen. Yanio holt aus der Küche eine zweite Flasche braunen Rum. Lautes Atmen. Freddy hält seine Hand über Jose. Freddy streicht um Joses Körper mit den Händen herum. Josö atmet schneller. Jose fällt nach vom. Nach hinten. Jos6 verkrampft eine Hand nach hinten. Jos6 stürzt auf den Altar zu. Blick starr. Die anderen beginnen viel auszuspucken. Jos6 hält seine Hände wie Schalen nach oben. Kräuterwasser über Jose. Yanio zieht sein Hemd aus. Jos6 fasst sich ans linke Knie. Jos6 blickt erleichtert um sich. Jos6 trinkt aus einem silbernen Becher. Jos6 kommt die Sprache wieder. Jos6 redet mit Freddy. Yanio raucht eine neue Zigarre.

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Josö geht mit einer Räucherlateme in den Hof. Freddy bindet sich eine rote Schleife um den Kopf. Ich soll rauchen, um die Arbeit zu erleichtern. Rauchen und an Gott denken. Lachen. Ein Eingeweihter: - Ich entdeckte in mir solche Kräfte. - Die Götter haben befohlen, ich muss erst zum Heiligen Berg Sorte pilgern. - Dort wurde ich verkerzt. - Als ich auf dem Boden lag mit ausgestreckten Armen und die Kerzen um mich herum brannten, hatte ich das Gefühl, ich würde von den Füssen her hochgerissen.

Freddy schreibt Kreidezeichen an die Wand. - Hier sind jeden Montag, Donnerstag, Freitag solche Zere­ monien. - Als Weihrauch Olivenblätter.

Kerzen. Rauchen. Gebete. Eine erotische Stimmung zwischen den Männern. Jose Ochoa kümmert sich um den dritten Eingeweihten. Kerzen. Rum. Rauchen. Einer schmatzt. Alle heben die Hände vor dem dritten Eingeweihten in die Höhe. Der zweite Eingeweihte betet und spuckt. Freddy betet. Spuckt. Freddy sieht in die Höhe. Alle Hände richten sich auf Freddy. Freddy erwacht. Reinemachen im Tempel. Zwischen Freddys Beinen wird mit dem Mob gewischt. Wasser auf Freddy.

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Kräuterwasser auf Freddy. Yanio lässt seine Zigarre aus dem Mund fallen. Mehrere spucken. Freddy legt die Zigarre weg. Freddy schnauft. Freddy erschüttert sich. Wellenförmig. Freddys Beine zittern. Jose betet. Freddys Bauch wackelt. Freddy hüpft. Freddy wirft die Hände nach oben. Freddy wackelt mit seinem Unterleib. Freddy spricht zittricht, röhrig. Josö streichelt, redend, Freddy. Josö besprengt Freddys Beine mit Rum. Freddy trinkt Brandy. Freddy und der dritte Eingeweihte vollführen den haitianischen Gruss. Josö schreibt Freddys Botschaften auf. Ich soll reinkommen. Ich behalte meine Brille auf. Alle: - Brille ab! Freddy hält drei Kerzen über den dritten Eingeweihten. Freddy hält die Kerzen über den Kopf, an die Stirn, über die Schultern, wieder über den Kopf. Die Kerzen fallen alle. Eine zerbricht. Was für ein Omen ist das? Freddy gibt Ratschläge. Freddy und der zweite Eingeweihte vollfüliren den haitianischen Gruss. Freddy spricht mit zitternder Frauenstimme. Ich soll noch mal kommen. Ich soll die Brille aufbehalten. Josö sticht mit dem Messer in seinen Finger. Jose zeichnet mit dem Blut ein Zeichen auf ein Stück Papier. Jose steckt das blutige Papier in ein Wasserglas. Freddy spricht würdevoll.

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- San Juan Retornado. - Der umgekehrte Heilige Johannes. Freddy steckt Stecknadeln aus einem neuen Nadelstern in die Oberkörper der Männer. - Die kommen von selbst wieder heraus. Freddy raucht eine Zigarre. - San Juan Retornado ist Ogum. Freddy steckt sich eine Stecknadel durch das rechte Ohrläppchen. Ich soll ihm eine zweite ins linke Ohrläppchen stecken. Ich will nicht. Freddy steckt sich eine Stecknadel durch beide Nasenflügel. Freddy fasst Jos6 an. Jose kehrt seine Iris weg. Rum. Kerzen. Josä Ochoa atmet laut. Jose kommt wieder zu sich. - Ich kann meinen Geist noch nicht überwinden . . - Ich höre mit dem Geist. Freddys Augen sehen ohne zu sehen. Freddy zu mir: - Sie haben keine Kinder? Eine Tirade gegen die Schwangerschaftsverhütung. Freddy verwandelt sich in Franzisca Duarte. Freddy redet wie tuntig. Er brennt seine Haut mit brennenden Kerzenbündeln. Freddy trinkt einen Brandy. Freddy übergiesst sich mit dem flüssigen Wachs aus den Kerzen­ gläsern. Freddy streichelt mich. Freddy zur Gemeinde: - Ihr wisst ja nicht, wie man mit Männern umgeht. Ich soll morgen früh zum Grab von Franzisca Duarte gehen und mir dort einen Goldanhänger stehlen. Freddy bestimmt einen Autobesitzer, der mich hinfahren soll. Ich soll ihm Stecknadeln in den Arm stecken. Ich will nicht. Freddy steckt sich die Stecknadeln eben rein, nimmt meinen Arm, drückt damit die Stecknadeln rein, bis ich den Widerstand an sei­ nen Knochen fühle. 103

Mir wird heiss und schwarz. Ich gehe auf den Hof. Ich meine, wenn jetzt die Trance käme, würde ich weniger schwitzen. Ist die Trance ein Mittel gegen diese fürchterliche Übelkeit? Ich werde wieder reingerufen. Ich soll Freddy eine Stecknadel durch die Nase stechen. Ich will nicht. Freddy tut es selbst. Ich soll hingucken. Freddy nimmt meinen Kopf und richtet ihn auf sein Gesicht. Ich sage: — Ich kotze gleich. Freddy sagt: -Was hast du im Herzen. Er sticht mir mit einer Nadel in die Brust. — Die kommt von selbst wieder raus. Sie kommt in einer halben Stunde von selbst wieder raus. Freddy verwandelt sich in den Neger Felipe. Freddy spricht haitianische Langage. Freddy verwandelt sich in die Königin von Alaska. Freddy verwandelt sich in den Neger Felipe. Freddy schlägt mit einem Messerrücken heftig gegen die Stirnen der Gläubigen. Josö Ochoas Stirn schwillt an. Alle verlassen den Tempelraum. Im Vorraum ein kompliziertes Kreuz aus Johnsons Babypuder auf dem Boden. In den Puderbahnen stecken etwa fünfzig Kerzen. Kruzifixe, Wassergläser, Christusse, Heiligenbilder. Yanio brüllt: — Die Einsame Irrende Seele ist gekommen. Alle hasten an mir vorbei, zurück in den Tempelraum. Es ist jetzt halb zwölf in der Nacht.

Trance ist also eine Reaktion - wie Fieber.

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Jos6 Ochoa: - Das Erdöl verliert in El Tigre etwas an Bedeutung. - Jetzt interessieren sich die Leute wieder für die Landwirt­ schaft. - Hier kann eine Familie mit 2000 Bolivares im Monat gut leben. - Also viermal den Mindestlohn. - Die meisten Kolumbianer hier sind gute Arbeiter. - Die Türken - Araber, Syrer, Libanesen — sind faul. - Sie verkaufen Stoffe. - Gelegentlich werden die Kolumbianer wieder ausgewiesen.

Freddy Ledezma: - Es gibt mehrere Grade der Trance, Luces, Lichter. - Sieben. — Ein geborenes Medium hat gleich alle Grade und braucht nicht vorbereitet zu werden. — Das geborene Medium vergisst sich völlig dabei. — Ist ein Medium besessen und fängt es an zu blitzen und zu donnern, kann das Medium verrückt werden oder sogar sterben. - Geister sind wie Blitze. - Auch das Flashlight könnte gefährlich werden. — Die Geister müssen befragt werden, ob Ihre Frau mit dem Blitz fotografieren kann.

Josö: - Die Königin Maria Lionza duldet die Homosexuellen und die Transvestiten, solange sie nichts Unmoralisches oder Gesetz­ widriges tun. - Ich habe nie einen Priester oder ein Medium gesehen, das homosexuell war. - Vorige Ostern haben sie Homosexuelle aus Sorte gewiesen und der Polizei übergeben. — Freddy lebt mit seiner Mutter zusammen. — Er ist ein Heiliger. — Keinen Sex. — Keinen Alkohol — äusser für die Zeremonien. - Nichts. 105

Freddy: - Der Dr. Gregorio Hernandez ist auf dem Friedhof von Cara­ cas ausgegraben worden. - Die Gläubigen zertrampelten die umliegenden Gräber, auch wurden Besucher, die einzeln kamen, von den Friedhofsbanden ausgeraubt. - Der Heilige Doktor der Armen liegt jetzt in der CandelariaKirche. - Für die Autofahrer gibt es ein Maria-Lionza-Heiligtum in Santa Maria de Ipirö. - Alle Fahrer steigen aus und stecken da eine Kerze an. - Am 24. Juli feiern wir das Fest für den umgekehrten Heiligen Johannes. - Zum Muttertag und am 24. Dezember stellen wir im Tempel Tische mit Früchten auf. - Maria Lionza gibt es heute auf Curacjao, in Kolumbien, auf Trinidad fängt es an. - In jeder Stadt in Venezuela gibt es Maria Lionza.

Jose: - Die Anaconda frisst Rinder. - Aber sie kriegt die Hörner nicht herunter. - Sie bleibt liegen. - Die Hörner ragen aus dem Mund heraus. - Sie liegt solange, bis die Hörner abgefault sind. - Wenn der Orinoco überflutet, fressen die Piraüas die Euter und die Hoden der Rinder ab.

Jose Ochoa sagt: - Ein Medium muss einen Altar haben. - Freddys Zentrum ist das grösste in El Tigre. - Der Banco hilft dem Medium. - Yanio steht in der Ausbildung 7.11m Medium. - Der bleiche Achtjährige hat keine Anlagen. - Es gibt böse Geister. Sie machen viel Blödsinn. Essen die Früchte weg. Trinken. Stossen Parfumflaschen um. 106

- Man darf nie gewaltsam mit ihnen umgehen. - Man muss bestimmte Gebete sprechen, damit sie den Körper wieder verlassen. - Maria Lionza selbst steigt selten in einen Menschen herunter. - Zu Beginn einer Zeremonie raucht man Zigarren vor dem Altar, um sich zu reinigen. - Man bittet um Erlaubnis, eine Zeremonie abhalten zu dürfen. - Bleiben ganze Blätterhüllen der Zigarre unverbrannt, darf man gar keine Zeremonie abhalten. - Brennt der obere Teil nicht: Geistliche Hindernisse. - Brennt der untere Teil nicht: Irdische Hindernisse. - Brennt der rechte Teil nicht: Persönliche Probleme. - Brennt der linke Teil nicht: Probleme durch einen, der an der Zeremonie teilnehmen kommt. - Der ganze Körper schläft und der Geist weiss nichts. - Das Gesicht schläft. - Das Medium schwebt, damit der eine Geist es verlasse und der andre eintrete. - Als San Juan Retomado mich mit Rum überschüttete und mir die rote Schleife umband, fühlte ich, die Kraft stieg in mir hoch bis zum Kehlkopf. Mein Geist war nicht eingeschlafen. Es war eine halbe Trance, weil der Kopf nicht weg war. Ich fühlte mich wie eine Kugel und schwebte und ich dachte, ich würde fallen. - Aber ich fiel nicht. - Es stiess mich nach vorn und wieder nach hinten. Ich schwankte. - Aber ich fiel nicht. - Für Yanio werden wir auf dem Berg Sorte eine Revelaciön machen. - Er wird verkerzt werden. - Es gibt verschiedene Verkerzungen: - Eine zur Einweihung. - Eine andre zur geistlichen Reinigung. - Das Medium wird in einen Brunnen hinuntergelassen. - Wenn bei einer Zeremonie eine Zigarre aus dem Mund fällt, bedeutet das: Die Geister sind nicht ganz einverstanden. - Wenn es regnet, kann die Zeremonie weitergehen. Aber wenn es blitzt, muss aufgehört werden. - Allan Kardec erscheint auch. - Er gehört zum Hofstaat der Marien und erscheint mit ihnen zusammen. 107

- Zur Zeremonie für den Befreier Bolivar tanzen wir auf glü­ henden Kohlen. - Niemand verbrennt sich. - Man verbrennt sich nur die Füsse, wenn man denkt: Aua, ich werde mir die Füsse verbrennen.

Montag, den 23. Mai: El Nacional: Tausende auf der Suche nach Trinkwasser in den Straßen von Catia.

Ein Konservator des städtischen Museums von Caracas: - Afrikanischer Einfluss ist in Venezuela gering. - Nie mehr als 60 000 Neger. - Randexistenzen. Analphabeten. - Nein! Rassistisch sind wir nicht! - Die Neger werden hier - auch im Innern des Landes - nicht gern gesehen. - Kulturell haben sie nur ein paar Musikinstrumente beigetragen. - Riten - nein! Maria Lionza ist keine Religion. - Vor 25 Jahren entdeckten einige Leute in Caracas, dass man mit Hexerei und Pseudoriten Geld verdienen konnte. - Beatriz Veit-Tan6 fing damit an. - Vorher ging niemand nach Sorte. - Dann kamen an den Wochenenden ein paar Trunkenbolde hin, die sich ungestört besaufen wollten. - Der Venezolaner ist nicht christlich. - Er geht einmal im Jahr in die Kirche. - Er schert sich den Teufel darum, wenn man ihn einen schlech­ ten Christen nennt. - Er hatte schon immer einen Hang zur Hexerei.

Dienstag, den 24. Mai: El Mundo: Journalist von einem Unbekannten in Sabana Grande ermordet.

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Der kolumbianische Erzbischof von Cücula sagt, dass an der Grenze kolumbianische Arbeiter von venezolanischen Unterneh­ mern für 20 Bolivares gekauft werden.

Gilberto Antolinez: - Mein Vater hasste die Maria-Lionza-Riten. - Es gab damals um Sorte und San Felipe Einweihungsriten der indianischen Landarbeiter. - Sie dauerten eine einzige Nacht. - Einige Eingeweihte hatten vor der Einweihung Tranccerlebnisse. - Die Einweihung legalisierte diese. - Eine Probe vor wilden Tieren. - Eine Feuerprobe. - Die Novizen wurden dem Wind ausgesetzt. - Sie mussten Palisaden aus dornigen Büschen und Bäumen über­ klettern. - !953 beobachtete ich eine Einweihungszeremonie der Maria Lionza in San Felipe. - Ich war auf einen Baum geklettert und sah durch ein Loch im Tempeldach. - Der Tempel bestand aus einem länglichen Gebäude, das durch einen Vorhang in der Mitte in zwei Räume geteilt war. - Im ersten Raum stand die Gemeinde. - Im zweiten befand sich der Altar mit Heiligenbildern und ein Tisch voller Flaschen mit Alkohol, Sardinendosen, Tabak in Rol­ len, Zigarren, Blumen, Kerzen, Geldstücken . . - Im zweiten Raum waren: Der Mojan, der Priester, und das Medium, das eingeweiht werden sollte. - Dies Medium lag wie eine Mumie, in Tücher gerollt, auf dem Boden. - Vor den Füssen stak ein Pickel in der Erde, von dem ausgehend eine Schnur über das Medium hinweg bis oben an die östliche Wand des Tempels gespannt war. - Durch die Schnur stiegen die Juane, die Königinnen in den Tempel herunter. - Diese Schnur hatte die Funktion des Mittelpfeilers im haiti­ anischen Vaudou.

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- Audi gab es eine Peitsche mit sieben Knoten. - Der Mojan hypnotisierte das Medium. - Nachdem die Zeremonie begonnen hatte, durfte niemand mehr cintreten. - Die Fragen der Gläubigen gingen durch den Vorhang hindurch an den Mojan, der Mojan gab sie an das Medium weiter. - Zur Einweihung wurde das Medium in einen Sarg gelegt. Ein Freimaurer aus San Felipe hatte diese Dinge eingeführt. - Aber der Sarg wurde nicht geschlossen. - Es wurde nur ein weisses Leichentuch darüber gelegt. - Es wurden dicke Zigarren geraucht.

Freddy: - Damit die Geister herunlersteigen, wische ich meinen Geist aus. -- Es gibt auch in der Maria-Lionza-Religion ein Milcbbad, um zu reinigen, zu kräftigen. Milch mit Parfum gemischt. - Früher gab cs auch Blutbäder, die aber verboten worden sind. - Wir haben in Sorte einen Präsidenten Miguel Ramos, er und Beatriz Veit-Tane sind die wichtigsten Persönlichkeiten im Maria-Lionza-Kult. - Ramos ist auch Exorzist. - Er hat mir den Teufel ausgetrieben. - Ich trinke vor jeder Zeremonie eisgekühlte Milch.

Um acht Uhr abends beginnen die Heilzeremonien. Eine Frau setzt sich im Hof des Tempels auf den Stuhl. Freddys Mutter kommt mit einem grossen grünen Tabaksblatt, streichelt, während sie Zigarre raucht, den Körper der Kranken mit dem Blatt. Ein Mädchen, das an Raserei erkrankt war, setzt sich in dem Tempel auf einen Sessel. — Sie wollte alles kaputtschlagen. — Sie wollte ihre Mutter schlagen. — Freddy hat sie in einer Sitzung geheilt. — San Juan Retornado stieg in Freddy herunter und steckte Steck­ nadeln in den Körper des Mädchens. — Heute muss sie zur Nachbehandlung.

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Freddy fällt schnell in Trance. Er lässt sich einen weissen Turban umbinden. Darauf glitzert eine falsche Diamantagraffe. Der Sitzenden wird ein Tuch umgelegt. Sie liest in einem Buch. Sie zuckt in einer leichten Trance. Auf dem Boden: Kerzen, Bücher, Getränke. Pause. Die Götter wechseln sich in Freddy ab. Freddy spricht die Sitzende an und bindet ihr ein geblümtes Tucli um. Drei Mädchen werden von einer alten Eingeweihten zur Trance getrieben: - Füerza India! - Komm schon, Indianerin, streng dich an! Er blitzt draussen. Die Zeremonie wird wegen des Gewitters abgebrochen. Die Gemeindemitglieder entscheiden das.

Wir fahren im Lastwagen mit Freddys Gemeinde weit von El Tigre weg. Abendlicht. Ölpumpen. Gelbes Gras. Rinder. Der Lastwagen fährt an einen Strand hinunter zum Rio Cari. Ein Baumstamm als Brücke. - Dahinter tritt der Orinoco über die Ufer. - Auf dem Inselchen drüben halten wir den Gottesdienst ab. - Im Rio Cari gibt es Piranas. - Aber hier beissen sie nicht. - Der Strom ist so reissend, dass man nicht gegen anschwimmen kann. Leonore will nicht über den Baumstamm gehen. - Mir dreht sich alles vor den Augen, wenn ich in die Strömung sehe. - Wegen drei, vier Fotos!

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Es ist Nacht. Freddy knipst auf dem Inselchen eine Taschenlampe an. — Gucken Sie immer nur auf das Licht! Zwei Männer, einer hüben und einer drüben, halten einen zwei­ ten Baumstamm über den Fluss. Daran hangelt sich die Fotografin entlang. Der Kultplatz wird mit brennenden Palmwedeln gefegt. Freddy lässt Feuer anlegen, gegen die Mücken. Die Frauen pudern mit Johnsons Babypuder Zauberzeichen auf den Boden. Sie richten ein Blätterbett. Eine Kranke legt sich darauf. Arme eng an den Körper. Umrisse mit Johnsons Babypuder nachzeichnen. Schiesspulver in Kreuzesform auf die Erde. Schiesspulver abbrennen. Die Frau atmet schwer. Ein rotes Tuch wird über sie gedeckt. Rum auf das Tuch. Blumen auf das Tuch. Die Gläubigen stellen zehn, zwanzig, dreissig Kerzen um sie her­ um auf. Zünden die Kerzen an. Eine zweite Verkerzung. Diese Kranke leidet an Schlaflosigkeit. Geister stören sie nachts. Sie wird mit einem weissen Tuch bedeckt. Eine dritte Verkerzung. Zur geistlichen Reinigung. Kein Tuch. Eine vierte Verkerzung. Ein Mann. Der Neger Felipe verlangt es. Kein Tuch. Eine fünfte Verkerzung. Die Frau erlebt es zum ersten Mal. Das Tuch über ihr wird an Pfosten verspannt. Die Verkerzten zucken. Freddy legt Melonenstücke vor mir auf den Boden. Ich esse davon.

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Aber es ist ein Opfer für die Geister. Ich erschrecke. Ich denke an den Opferfrass in Haiti und an den Fluch der Toten­ götter. Freddy sagt: - Das macht gar nichts. Freddy rasselt mit einer Kalebassenrassel. Ein Mann trommelt. Zwei Frauen rasseln. Freddy raucht eine Zigarre. Er bindet sich eine Schleife um den Kopf. Kordeln an seinen Körper. Freddy zittert. Wackelt. Ein Mann knöpft ihm das Hemd auf. Freddy hält sich eine brennende Kerze an die Haut. Freddy bindet sich am Kopf und an den Armen brennende Ker­ zen fest. Freddy tritt mit nackten Füssen in die Kerzen der dritten Verkerzten. Freddy zieht der ersten Verkerzten das Tuch weg. Freddy versprüht Rum. Freddy sagt: - Ich bin Changö. Freddy hilft der ersten Verkerzten hoch. Freddy streift mit den Händen über ihren Körper. Die erste Verkerzte wird von den Frauen ins Dunkle gezogen und im Fluss gebadet und neu eingekleidet. Freddy verwandelt sich in eine Indianerin. Der dritten Verkerzten wird aufgeholfen. Freddy rüttelt an ihren Gelenken. Tätschelt ihre Backen. Sie braucht nicht im Fluss zu baden. Sie ist zu alt. - Sie könnte in der kühlen Nacht Kopfschmerzen bekommen. - Esst jetzt keine Früchte mehr vom Boden. - Das Unheil und die bösen Geister aus den Körpern der Kran­ ken sitzen jetzt in den Melonen. Die heruntergebrannten Kerzen werden auf einen Haufen ge­ scharrt. 113

Die Umrisse der Kranken aus Puder - zerfegt, damit kein Un­ hold hineinschlüpfen kann und sich ihrer bedienen. Freddy stellt seine Schwägerin zum Milchbad auf. Freddy richtet das Milchbad an. Ein Plastikeimer halb voll Wasser, zwei Liter Milch aus Papp­ flaschen, Duftwasser »Dr. Gregorio Hernandez«, Johnsons Baby­ puder, ein Pfund Zucker. Freddy schüttet es seiner Schwägerin über den Kopf. Sie schnattert unter dem Schock. Schlagartig besessen. Sie verwandelt sich in eine Königin der Indianer. Freddy schneidet Wassermelonen für ein Fruchtbad klein. Die klebrichte Königin hilft der zweiten Verkerzten hoch. Freddy beginnt einen Drehtanz. Freddy verwandelt sich in die India Rosa. Die Früchte werden in den Fluss geworfen. Die Bemilchte verwandelt sich in die Indianerin Yura und hilft der fünften Verkerzten hoch. Freddy verwandelt sich in einen blubbernden Babbler und hilft dem vierten Verkerzten hoch. Freddy verwandelt sich in die Negerin Francisca. Franzisca ruft Leonore. Francisca bewundert die blonden Haare. Francisca ordnet die Haare gefällig an. Francisca bindet Leonore ein buntes Tuch um den Kopf. Zwei Mädchen rasen ergriffen in den schwarzen Wald. Männer fangen sie wieder ein. Bringen die Kreischenden schweissglitschend zurück. Der Gottesdienst franst aus. Es ist drei Uhr nachts. Freddy dirigiert die Trommler. Freddy verwandelt sich in den Revolutionär Camillo Torres. Freddy diktiert den Trommlern Botschaften. Freddy verwandelt sich in den Befreier Simon Bolivar. Simon Bolivar weint. Simon Bolivar weint über das Schicksal seines Volkes und über das Elend der Welt. Freddy verwandelt sich in den Verlorenen Indianer. Freddy verwandelt sich in den Neger Felipe. Die Feuer sind heruntergebrannt.

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Freddy tanzt in der Glut. - Mehr Glutl Neue Feuer werden entzündet. Die Gemeinde scharrt die Glut zu einem glühenden Beet zu­ sammen. Freddy, lächelnd, mit den tuntigen Gesten der Negerin Francisca, mit der Grazie seiner indianischen Geister, tänzelnd, ein­ hergeweht von geistlichen Turbulenzen, beschreitet das Feuer­ beet. Freddy verwandelt sich in den Neger Felipe. Freddy rollt durch die Glut. Ich sehe keine Brandwunden an seinem Körper. Die Frauen drapieren Freddys bemilchte Schwägerin in ein Bett­ laken und winden ihr Blätterranken um den Dudd. Freddy verwandelt sich in den Umgekehrten Heiligen Johannes. Freddy gibt der Bemilchten einen Hirtenstab in die Hand. Die Bemilchte weint. - Nun darf sie die Kinder den Feuerlauf lehren und den Beses­ senen das Sprechen. Freddy weint. Wütend brüllt Freddy: - Die Geister wollen nicht wieder aus meinem Körper. Er windet sich in den Holzkohlen. Er flieht in den reissenden Rio Cari. Die Männer hinterher. Freddy treibt ab. Die Männer halten ihn. Freddy verwandelt sich im Wasser in die India Rosa. Freddy zieht die Verkerzten hinunter. Schwimmt mit ihnen. Freddy raucht Zigarre. Freddy kämpft mit den Männern. Sie lassen ihn nicht. Einer flieht an Land. Freddy entreisst einem die Machete. Freddy schlägt mit der Machete um sich. Freddy setzt einem Mann die Machete an die Gurgel, zwingt iJin zu tauchen, zwingt ihn, sich unter Wasser zu drehen. Freddy schwimmt, die Machete zwischen den Zähnen. Freddy zieht einen Mann in die stille Bucht. 115

Ein lebendes Huhn wird gebracht. Freddy schneidet dem Huhn die Füsse ab. Freddy trennt ihm den Bauch auf. Freddy stülpt das Huhn dem Mann über den Kopf. Behütet vom Huhn, in der ersten Helle des Morgens, verlässt der Mann den Rio Cari. - Schnell noch das Milchbad für die Lehrlinge. - Damit die Milch nicht sauer wird. Freddy bleibt im Wasser. Neger Felipe - Negerin Francisca. Freddy wäscht einem Mann den Kopf mit blauer Seife. Freddy spült einen Plastikbecher aus, füllt Flusswasser hinein, reibt Seife hinein. Der Mann trinkt den Becher leer. Nochmal. Bechervoll um Bechervoll, bis er zu kotzen anfängt. Ein Gläubiger nach dem anderen, Männer und Frauen. Die Nervösen kotzen schon, bevor sie an der Reihe sind. Freddy seift die Hand ein, langt in den Mund des Gläubigen. Er drückt die Zunge herunter. Liter kotzt der Gläubige aus. Freddy schubst ihn seitlich weg in den Fluss. Der Gläubige taucht. Freddys Brüder müssen, aufstossend und kotzend, mehr Becher leeren als die anderen. Die alten Frauen kotzen nur schwer. Freddy fasst seiner Mutter an den Hals. Es sieht aus, als würge er sie. Alle, äusser den Babies, seinem ungläubigen Bruder, dem India­ ner und uns, müssen dran glauben und kotzen sich aus. Fünfzig. Es dauert zwei Stunden. Freddy geht rückwärts den Flusshang zum Lastwagen hoch. Eine Gestalt nach der anderen schüttelt ihn. Zwischen zwei Besessenheiten fasst er sich an die Augen, schnalzt zur Seite hin mit den Fingern. Die Verwandlung in den nächsten Geist beginnt mit nach oben schräg weggedrehten Pupillen. - Ich will raus! - Es soll aufhören! 116

— Sie sollen raus! — Ich komme nicht wieder zurück! Immer wieder überfällt ihn das verschlagene Lächeln der Götter. Die Gemeinde betet um seine Befreiung. Freddy taucht auf, kommt zu sich, läuft weg, versteckt sich hinter dem Lastwagen. Wir folgen. Freddy sagt: — Ich habe Hunger. Auf der Pritsche des Lastwagens schläft er ein. Zu Hause sieht er verwundert auf die Schnittwunden in seinem Körper. Freddy schläft im Sessel ein. Freddy wacht auf und geht ins Bett. Der Gottesdienst dauerte von abends acht bis mittags halb zwölf.

Die Frau des Waffenhändlers: - Es stimmt nicht, dass die Maria-Lionza-Priester kein Geld nehmen. - Ich weiss das aus eigener Erfahrung. - Ich habe bezahlen müssen, als ich Liebeskummer hatte. - Für die Ärmeren kostet so eine Behandlung zig Bolivares. - Für reiche Leute und Fernsehstars kostet es manchmal Tau­ sende.

Montag, den 30. Mai: Ultimas Noticias: Panik wegen Regen und Orkan. Mehrere Viertel von Caracas ohne Licht. 10 Männer in Kapuzen ermorden Arbeiter vor Frau und Sohn. Im Staate Monagas sind 90 von 100 Kindern, die ins Krankenhaus eingeliefert werden, unterernährt. Die Taxichauffeure von Monagas haben den Ruf, Don Juane zu sein.

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Juan, der jüngere Bruder von Freddy, 22. Er will im Herbst heiraten. Er hat gelernt, Büroarbeiten zn machen und hofft, in Caracas eine Anstellung zu finden. Als er Ostern in Sorte das Bild der Königin Maria Lionza trug, wurde ihm während der Prozession schwach und er betete zu ihr um Kraft. Er fühlte plötzlich in seinen Beinen eine ungeheure Kraft, die bis in seine Arme stieg. Er möchte gerne eines Tages Geister empfangen - aber bis jetzt geschieht das nicht. Er leert seinen Geist - aber kein neuer kommt hinein. Er macht keine Übungen. Aber er will immer das Gute tun und hofft, dass er so zu einem Medium wird.

Dienstag, den 51. Mai: Lebendig oder tot muss der Mörder des Journalisten gefunden werden, befiehlt die Policia Tecnica Judicial.

Der Taxifahrer sagt: - Jetzt verdursten die Rinder und wenn der Regen kommt, er­ trinken sie. So ist die Natur. Immer in Exzessen!

Die anderthalbjährige Tochter des Waffenhändlers wartet beim Kinderarzt. Eine Vierjährige redet auf sie ein: - Was hast du für ein Auto vor der Tür? - Mein Auto ist sehr gross. - Du trägst noch Windeln? Du hast bestimmt in die Windeln ge­ macht. Zeig doch mal her! -Was hast du denn für Sandalen an?! Die sind nur 25 Bolivares wert. Meine kosten 60 Bolivares! 118

Sonnabend, den 4. Juni: El Universal: Miss Venezuela besuchte Präsident Perez und informierte ihn, dass es nicht genug Tennisplätze in Venezuela gibt. Miss Venezuela sagte, dass der Präsident ihren Vorschlägen ge­ genüber sehr aufgeschlossen war und seine ganze Mitarbeit ver­ sprach. Polizei misshandelt in Elendsvierteln. Mann an Schuss ins Gesicht gestorben - nach einem Streit bei einem Autozusammenstoss.

Fahrt am Tag durch San Juan. Ach, ich will meine Angst vergessen. Heute abend gehe ich in San Juan spazieren. Zwischen Nuttchen, Soldatchen, Seeleuten und Transvestiten.

Mittwoch, den 15. Juni 1977: El Nacional. Gestern im Morgengrauen zwei Raubmorde in San Juan. Der Körper von Oswaldo Antonio Silva, 32 Jahre alt, wurde un­ ter einem Auto gefunden. Wahrscheinlich wollte der Mann sich vor seinen Verfolgern un­ ter dem Auto verstecken, nachdem er die tödliche Wunde erhal­ ten hatte. Ausserdem wurde vor den Türen der Geburtsklinik Concepcion Palacios die Leiche eines etwa 40jährigen Mannes gefunden, der ebenfalls an einem Messerstich in der Magengegend verendet war. Dieser Mann, so scheint es auf Grund seiner abgenützten Kleider und auf Grund seines ungepflegten Zustandes, war ein Gewohn­ heitstrinker.

Gespräch mit der Ethnologin Frau Professor Angelina PollakEltz: - Sie arbeiten in einer machistischen Gesellschaft als Ethnologin.

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Wie wirkt sich das auf Ihre Arbeit aus? - Viele Ethnologen und Anthropologen hier sind Frauen. Bei Feldforschungen kann man als Frau mit Männern bestimmte Fragen nicht besprechen. Ich habe über Familienstrukturen in Venezuela gearbeitet. Da hatte ich es vor allem mit Frauen zu tun. Bei Kritiken und Veröffentlichungen ist es unwesentlich, ob man eine Frau ist - da ist die politische Einstellung entscheidend. Auch auf den internationalen Tagungen wird kaum ein Unter­ schied gemacht. - Und in Ihrer eigenen Familie? - Meine Familie ist gegen Ethnologie. Mein Mann würde es lie­ ber sehen, wenn ich mich weniger in der Universität herumtriebe. Hier in Venezuela arbeiten nur wenige Hausfrauen. Den Statisti­ ken nach sind nur 15 Prozent der Frauen zwischen 15 und 60 be­ rufstätig. In der Oberschicht arbeiten die Frauen überhaupt nicht. Die Mädchen der Oberschicht studieren nur, um die Zeit bis zur Heirat rumzukriegen. Die Frauen der Unterschicht arbeiten nur selten; vor allem al­ leinstehende Frauen. Sobald eine Frau mit einem Mann zusam­ menlebt, ist er eigentlich dagegen, dass sie arbeitet. - In Ihren Arbeiten über die Maria-Lionza-Religion gehen Sie kurz auf Homosexualität und Prostitution ein. - Es ist mir aufgefallen, dass Transvestiten, Homosexuelle in einer Verbindung zur Maria-Lionza stehen. Es ist ein Abhängig­ keitsverhältnis. Es gibt dieses Abhängigkeitsverhältnis vor allem in der Santeria, die von Kuba nach Venezuela gebracht worden ist und hier vor allem von Kubanern praktiziert wird. Es gibt eine Santeriapriesterin, die mehrere Bordelle in Catia besitzt. Die Mädchen sind nicht nur Kubanerinnen, sondern auch Kolumbianerinnen und Venezolanerinnen. Sie hält die Mädchen mit Hilfe der Einweihung in Zaum. Viele Priesterinnen und Me­ dien der Maria Lionza sind Ex-Prostituierte. - Man hat gesagt, dass der Heilige Berg von Sorte an den Wo­ chenenden und zu den grossen Feiertagen Homosexuellen als Treffpunkt dient. - Ich war in den letzten drei Jahren nur selten in Sorte. Es ist möglich, dass sich dort jetzt sexuelle Riten abspielen. Es kommen ja auch Hippies und Marijuaneros.

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— Würden Sie sagen, dass sich Trancereligionen und Sexus im all­ gemeinen ausschliessen? — Die Trance kann ein Substitut für den Orgasmus sein. — Haben Sie von satanistischen Puten am Strand von La Guaira gehört, die von Intellektuellen und reichen Bürgern veranstaltet werden? — Nein. Ich weiss nur, dass es in Altamira, einem sehr guten Viertel von Caracas, ein Maria-Lionza-Center gibt, das von Intellektuellen besucht wird. — Gibt es in der Maria-Lionza-Religion bisexuelle oder androgyne Götter? — Soviel ich weiss nicht. Das Geschlecht der Naturgeister ist un­ bestimmt. Sie werden aber eher als männlich angesehen. — Wieviele Tempel - Portales - der Maria-Lionza gibt es? — Die Religion ging vom Zentrum Venezuelas aus, von San Fe­ lipe, Valencia, Maracay, Caracas. Vor 15 Jahren noch gab es keine Portales in den Anden und in Guyana. Ich würde meinen, dass es in Caracas 150 Tempel gibt. In den anderen Grosstädten weniger. In Guyana weiss ich von 10 Tempeln, die in den letzten 8 bis 10 Jahren entstanden sind. Die meisten Gläubigen besuchen den Tempel nur, wenn sie in Not sind. Der Kult der Maria-Lionza ist zweckgebunden. — Wie ja wohl der Volkskatholizismus auch. — Ja. Wie die meisten Volksreligionen. Ich würde sagen, ein Drittel der erwachsenen Bevölkerung von Venezuela hat früher oder später was mit Maria Lionza zu tun. — Diese Religion breitet sich mehr und mehr aus? -Ja. — Bei welchen indianischen Stämmen gab es früher der Maria Lionza ähnliche Riten? — Die Jiajara, die Kaketio, die Ayamanes, die Gayones — vor allem Ackerbauer. Es gibt aus dem 18. Jahrhundert ein Dokument, wo von Teufels­ anbetern in Sorte gesprochen wird. — Was haben die europäischen Kolonisatoren zu dem Kult bei­ getragen? — Den Katholizismus. Die Königin Maria Lionza wird mit der Virgen de Coromoto, der Schutzheiligen von Venezuela identifi­ ziert.

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Auch die Verwendung von Kerzen. Und europäische Volksmedizin. - Welche afrikanischen Einflüsse? - Unmittelbare afrikanische Einflüsse gibt es erst in den letzten 8 bis 10 Jahren. Die Verehrung der Sieben afrikanischen Mächte kam erst in den letzten zehn Jahren mit der kubanischen Santeria. Oder auch durch die Lektüre volkstümlicher Abhandlungen oder durch Reiseberichte. Die Anhänger der Maria Lionza wissen nicht, dass es sich um die grossen Yorubagottheiten handelt. Man betrachtet sie nur als besonders gefährlich und man muss mit ihnen umzugehen wissen. - Die Indianerstämme in Venezuela kannten die Trance. Ist diese denen der afroamerikanischen Religionen zu vergleichen? - Nein. Die Geister sprechen nicht aus dem Mund der indianischen Scha­ manen. Die Schamanen der Indianer halten Zwiesprache mit den Geistern. - Sie sind also eher Psychopomp; eine Metempsychose findet nicht statt. -Ja. - In der Maria Lionza aber wird der Priester von den Geistern besessen, er spricht und handelt als Gott. - Es gibt nur einige Medien, die sagen: Die Geister sprechen nicht durch meinen Mund; sie würden in Träumen und Visionen mit Geistern in Verbindung treten und mit ihnen diskutieren. - Beatriz Veit-Tane hat eine Kodifizierung der Maria Lionza versucht. - Vor acht bis zehn Jahren. Sie hat versucht, Normen aufzustel­ len. Sie hat aber nur wenige Anhänger gefunden, die bereit gewesen wären, sich nach diesen Normen zu richten. Ich habe das Gefühl, sie hatte einiges über die brasilianische Um­ banda gelesen und erfahren, dass es in Brasilien eine Konföde­ ration der Umbandistas gibt. - Im Augenblick gibt es in Venezuela mehrere Maria-LionzaKonföderationen. Sind sie und die ihnen angehörenden Priester staatlich registriert? - Die wenigsten sind registriert. Die Vereinigungen reichen oft nicht weiter als ein Stadtviertel. - Wie drang der Spiritismus in Venezuela ein?

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- Das geschah etwa zur gleichen Zeit wie in Brasilien - in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Damals war der Spiritismus ein Zeitvertreib der Oberschicht Wohl über die Hausangestellten begann dann der Spiritismus auch das Volk zu beeinflussen. In Venezuela war der Spiritismus aber nie so populär wie in Brasilien. - Welche anderen Sekten gibt es heute in Venezuela? - Juan Trincado - ein Schüler Allan Kardecs. Er glaubt, dass man auch die Geister von Lebenden rufen kann, wenn man einen Kranken heilen will. Es gibt Rosenkreutzer in Venezuela. Es gibt Freimaurer und viel­ leicht ein paar Theosophische Zirkel. Es gibt ein katholisch-gnostisches Bekenntnis, das vor 20 oder 30 Jahren in Mexiko gegründet wurde von Aun Veor. Der Heilige Geist kommt über die Gläubigen. Einige vereinzelte Vaudouzentren. Die kubanische Santeria ist von Bedeutung. Es gibt einen Babalawo hier, einen Orakelpriester, der seit 15 Jahren in Venezuela lebt und viele Anhänger gefunden hat. Er schickt die Gläubigen nach Miami, damit sie dort eingeweiht werden. Es gibt den Tempel einer Kubanerin, die schon mehr als 20 Jahre hier lebt. Sie holt Santeros aus Miami, um hier Einweihungen vornehmen zu lassen. Die Spesen muss der Eingeweihte zahlen. Sie belaufen sich auf mehrere Tausend Bolivares. - Gibt es Shango-Riten? - Vielleicht in Guyana. Aber in Callao, wo viele Nachkommen von Negern aus Trinidad und anderen Inseln leben, gibt es heute keinen Shango mehr. Mir haben aber alte Leute erzählt, dass vor 40, 50 Jahren noch Tieropfer für die Götter aus Trinidad statt­ fanden. Heute gehören die meisten dort der anglikanischen Kirche an oder der katholischen oder einer pentekostalen Sekte. - Schon zur Zeit der Präsidenten Castro und Gomez soll sich die Maria Lionza ausgebreitet haben. - Unter Gomez ja. Gomez hatte eine Geliebte, die Maria-LionzaPriesterin war. - Dolores Amelia Caceres oder Dionisia Bello? - Ich glaube die Cäceres. - Sie erwähnen in Ihrer Monographie über Maria Lionza einen Criado haitiano von Gomez.

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Briceno spricht von dem Neger Tarazona, der haitianische Riten kannte; die Biographen von Gomez wissen aher nur von einem Indianer Tarazona.. - Das habe ich wohl von Briceno übernommen .. - Sind Ihnen der Padre Borges und Tomas Meri im Zusammen­ hang mit der Ausbreitung der Kulte in Maracay aufgefallen? - Nein. - Padre Borges war ein Armeekaplan in Maracay. Er nannte sich selbst einen gefallenen Engel. Alkoholiker, verfasste er blasphemische Hymnen und ein Gedicht auf Lucrezia Borgia. Er erklärte Gomez zum Gott. Tomäs Meri, der mit Borges und Tarazona zum engsten Freun­ deskreis des Präsidenten gehörte, wurde Brujo primero grado ge­ nannt. Er behauptete, auch Gomez sei ein Hexenmeister. Meri soll sich mit Yoga und Theosophie befasst haben. Vielleicht haben Borges und Meri eine Bedeutung für die Ent­ wicklung des Maria-Lionza-Kultes? - Vielleicht. - Wie ist es mit Präsident Perez Jimenez? - Er soll den Kull propagiert haben. Er liess das Denkmal der Maria Lionza an der Autobahn aufstellen. - Wann? - 1954/55Bealriz Veit-Tane soll dazu Modell gestanden haben und so über­ haupt zu dieser Religion gekommen sein. - Mir hat sie erzählt, schon ihre Eltern seien Spiritisten gewesen. Von Präsident Perez Jimenez wird berichtet, dass er eine ma­ gische, klare Flüssigkeit am Denkmal der Drei Indianer stehen hatte, die braun werden sollte, wenn sein Ende nahte. Jeden Tag liess er nachsehen. Eines Tages hatte sie sich dunkel verfärbt. Da packte er seine Sachen. - Und die Staatskasse. -Ja. - Auch die Gegner des Diktators waren Maria-Lionza-Anhänger? - Das kann schon sein. Ich habe bei der Priesterin Lourdes erlebt, dass ein Geist durch den Mund eines Mediums kommunistische Propaganda machte. Zur Zeit der christlich-demokratischen Regierung wurde der Kult eher unterdrückt. Wenn die Adecos regieren, wird er nicht ver­

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folgt. Ich habe das Gefühl, viele Politiker der Acion Democratica sind Maria-Lionza-Anhänger. Von Betancourt wird berichtet, er sei ein Zauberer aus dem Barlovento und dass die Pfeife, die er fast immer im Mund hat, ihn mit magischer Kraft versorge. - Carlos Andres Perez soll in Sorte eine Wahlversammlung ab­ gehalten haben. - 1974 hat Beatriz versucht, eine Partei zu gründen, die nur aus Maria-Lionza-Anhängern bestehen sollte. Sie wollte als Abgeord­ nete ins Parlament einziehen. Aber die Sache hat sich zerschlagen, ehe sie überhaupt begonnen hat. Sie hatte ihre Popularität über­ schätzt. - Der Hexenmeister Tovar Yagure aus Maracay will sich für 1978 als Präsidentschaftskandidat aufstellen lassen. - Ich habe das Gefühl, dass die Wähler doch Politik und Religion ziemlich scharf trennen; das schliesst nicht aus, dass die Götter durch die Medien eine wirkungsvolle Wahlpropaganda machen können. - Kann man nun genau einzelne Riten der Maria Lionza aus in­ dianischen oder afrikanischer Riten herleiten - in einer Art Ar­ chäologie menschlicher Verhaltensweisen? - Was die Tabakriten anlangt, das Rauchen, das Weissagen aus dem Tabak, gibt es schon eine Schilderung aus dem 16. Jahrhun­ dert von Oviedo Ibaldez: Sie rollen die Tabakblätter um einen Maiskolben und rauchen. Wenn links etwas übrigbleibt, verheisst das gutes Gelingen; wenn rechts etwas übrigbleibt, schlechtes. Heute ist das in der Maria Lionza völlig das gleiche. - Es gibt noch das Kriterium oben oder unten. - Ja. Sie ziehen sieben Mal an der Zigarre. Oviedo spricht von den Kariben in der Gegend von Cumana. - Ein andrer Ritus ist das Anblasen des Rauches an einen Er­ krankten. - Das ist typisch für alle Kariben. - Ist nun das Tabakrauchen auch dazu da, die Trancen zu sti­ mulieren? - Immer bevor ein Medium in Trance fällt, hat es 2, 3, 4 Zigarren geraucht. Die Leute essen vor einer Zeremonie nicht viel. Sie trinken Al­ kohol und rauchen. Das befördert die Trance. - Trance bei den Indianern ist oft von Erbrechen begleitet - Er­ brechen zur Reinigung. 125

- Das habe ich auch erlebt in einer Maria-Lionza-Schule für Me­ dien. Die Schüler mussten 7 Glas Wasser trinken, sich übergeben, dann 7 Mal an der Zigarre ziehen und dann in Trance fallen. Rauschmittel sonst habe ich in der Maria Lionza nie gesehen. - Woher kommen die Bäder in der Maria Lionza: Blutbad, Milch­ bad, Fruchtbad? - Von afrikanischen oder afroamerikanischen Riten. - Und das Velatorio, die Velacion, die Verkerzung, wie ich es barock nennen möchte? - Ein Symbol für Sterben und Auferstehung. Aus Afrika. - Gibt es solche Kerzenfigurationen nicht auch bei den indiani­ schen Turafesten? - Ich glaube eher, dass die Velacion mit den Initiationsriten der kubanischen Santeria zu tun hat. Die Leute haben mir gesagt, die Velacion sei ein neuer Ritus, er sei höchstens 20 Jahre alt. - Gelegentlich werden die Leute dazu eingebündelt, dass sie ge­ radezu an Mumien erinnern. Nach dem rituellen Wiederaufstehen renkt der Maria-LionzoPriester, wie viele Schamanen, die Gelenke wieder ein. - Lukas, selbst ein Yoruba, versucht ja, einige Yorubagottheiten auf ägyptische Gottheiten zurückzuführen. - Maria Lionza cobra cara - man muss eventuell für einen Dienst der Göttin mit dem Leben eines Verwandten bezahlen? - Das ist üble Nachrede. - Früchte spielen eine grosse Rolle. Gibt es Früchteriten bei den Indianern? - Ja. Bei den Turafesten der Nachkommen der Gayones und der Ayamanes in den Staaten Falcon und Lara. Die ersten Früchte werden am Tag der Virgen de las Mercedes in die Dörfer ge­ bracht und dann wird darum herum getanzt. Das könnte schon mit Maria Lionza in Verbindung stehen, denn die Turapriester halten auch Zeremonien in Höhlen ab. - Wer sind die Juanes in der Maria Lionza? - Indianische Wald- und Buschgeister. Das waren die Geister, die am frühesten in der Maria Lionza verehrt wurden. Später kamen die indianischen Heroen der Conquista hinzu, noch später der Negro Miguel, der einen Aufstand im Staate Lara leitete, der Negro Felipe, der bei den Freiheitskämpfen auf Kuba eine Rolle

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gespielt hat, schliesslich der Arzt Gregorio Hernandez, der 1919 bei einem Autounfall getötet wurde. Er war ein Arzt der Armen in Isnotu. Seinen Kult gibt es in der Maria Lionza, bei den Spiri­ tisten und in der katholischen Kirche. - Gibt es Tranceexerzitien in der Maria Lionza? - Die Leute sagen, die Trance eines Mediums müsse entwickelt werden. Die erste Stufe sei eine Trance ohne Besessenheit. Ja. Später spricht dann der Geist und schließlich sprechen meh­ rere. - Gibt es Geburtszeremonien, Rites de Passage etc. ? - Ich glaube nicht. Aber man kann mit einer Gottheit verheiratet werden. - Das kann man auch im haitianischen Vaudou. Stimmt es, dass der Maria-Lionza-Kult sich international aus­ breitet? - Ja, dadurch, dass es hier viele kolumbianische Arbeiter gibt, die den Kult dann nach Cartagena, Santa Marta bringen, auch nach Curagao vielleicht und nach Arruba und sogar in die Dominika­ nische Republik. - Es hat in Kolumbien und Venezuela magische Kongresse ge­ geben. Haben Anhänger der Maria Lionza daran teilgenommen? - Beatriz Veit-Tane ist nach Bogota gefahren und wollte irgend­ welche magische Arbeiten vorführen. Aber es hat alles nicht ge­ klappt und schliesslich hat man sie ausgepfiffen. - Gibt es Priesterweihen, verschiedene Grade des geistlichen Le­ bens? - Es fehlt an einer Kodifizierung. Was das eine Zentrum macht, ist nicht unbedingt relevant für das andre. Nach einiger Zeit ma­ chen sich die Medien selbständig. Wenn sie viele Krankenheilun­ gen durchgeführt haben, machen sie ihr eigenes Zentrum auf. Ich habe nur in Catia eine Maria-Lionza-Schule besucht, die nicht mehr existiert heute, wo die Mädchen fasten mussten, Wasser trinken, sich erbrechen, rauchen - und so die Trance herbeige­ führt wurde. - Wurden die Mädchen eine Zeitlang in eine Einweihungszelle eingeschlossen? - Nein. Das Ganze spielte sich an einem Abend ab. Es waren auch viele Kinder darunter. - Es gibt einen Gott San Juan Retornado, der mit Stecknadeln arbeitet.

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- Das habe ich nicht gesehen. Aber ich könnte mir denken, dass es sich um eine Imitation der Akkupunktur handelt. - Stimmt es, dass 50 Prozent der Einwohner von Caracas in Ran­ chos, in Elendsvierteln leben? - 30 Prozent. - Sind die Tempel der Maria Lionza in Caracas nun hauptsäch­ lich in diesen Elendsvierteln? - Sie sind vor allem in kleinbürgerlichen Wohngebieten, wo es eine Mittelklasse gibt. Weniger in den Ranchos. - Es wird immer wieder behauptet, die Heilungen der Brüder in der Maria Lionza seien unentgeltlich. Stimmt das? - Nein. Das stimmt nicht. Es kostet manchmal mehrere Hundert Bolivares. Aber die Leute gehen lieber zur Maria Lionza als zu einem Arzt, der nichts kostet, weil sie einen persönlichen Kontakt suchen. Es heisst in Afrika, dass eine Arbeit, die nichts kostet, nichts wert sei. In der Maria Lionza darf man die Preise nicht diskutieren. Man muss bezahlen, was verlangt wird, sonst wirkt es nicht.

Dienstag, den 21. Juni: El Universal: Zwei Kadaver und der Kopf eines dritten geraubt.

Gilberto Antolinez: Die Grosse Schamanin des Maria-Lionza-Kultes, Beatriz VeitTane, hat 1974 dem Staatspräsidenten vorgeschlagen, ein grosses Kultzentrum der Maria Lionza von staatlicher Seite zu errichten und alle indianischen Stämme dort zusammenzuführen. Ich hatte diesen Vorschlag zu begutachten und schrieb dagegen ein Pamphlet: Die ganze Organisation von Beatriz Veit-Tane, die Künstler, der Dichter Antonio Reyes, sie selbst: Fälscher. Ohne jede Initiation. Sie profanieren den wahrhaften Kult der Maria Lionza. Beatriz hat sich in die Kulturpolitik des Diktators Perez Jimanez eingeschlichen.

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Sie war seine intime Vertraute. Sie möchte jetzt alle indianischen Siedlungen und deren Kunst­ handwerk für ihre eigennützigen Zwecke ausbeuten. Sie will die Indianer kontrollieren. Ein nationales Unglück. Sie will das indianische Erbe verfälschen. Kommerzialismus. Industrialismus. Was will sie? Einen Maria-Lionza-Park? Ein Indianermuseum? Ein Meditationszentrum? Eine Philosophenschule? Verfälschung. Tourismus. Infiltration des nordamerikanischen Kardecismus. Der Theosophie! Kabalen. Was will sie? Ein indianisches Amphitheater? Rituale? Präkolumbianische Choreographie? Ein Zentrum für wissenschaftliche Initiationen? Einen Kult der ganzen Nation? Ein Zentrum psychiatrischer Einweihung? Monumentale Statuen? Neger? Indianer? Eine Karikatur! Religiöser Faschismus! Montag, den 27. Juni: Ultimas Noticias: In der Geburtsklinik Concepcion Palacios müssen die Schwan­ geren mit drei Papierservietten bedeckt in den Kreissaal gehen. Sie werden mit Brunnenwasser desinfiziert und es ist keine Seife vorhanden, damit sich das Ärztepersonal die Hände waschen kann.

Gespräch mit Professor Gilberto Antolinez. - Der Maria-Lionza-Kult entwickelte sich im Bundesstaat Yaracuy — oder um den Staat Yaracuy. 129

Man spricht von einem Einfluss der Stämme der Chipcha, der Jiajara, der Ayamanes, der Gayones, der Cuiba, der Arawak, der Ajagua, der Caquetios. Unter welchem Völkerslamm entstand die Maria-Lionza-Religion wirklich? - Unter den Jiajara. Es gibt immer noch Abkömmlinge der Jiajara im Staat Yaracuy und im Staat Lara. Die Jiajara sind ein Volk der Llanos im We­ sten Venezuelas und der Llanos im Osten Kolumbiens. Die Jiajara gehören der Völkerfamilie der Chipcha an. Diese kannten eine Schlange, eine befederte Schlange in ihren Zeremonien. - Elemente der Chipcha herrschen also bei der Entstehung des Maria-Lionza-Kultes vor? - Ja. Die Chipcha beten Wasserläufe und Lagunen an. In Yaracuy vereinigen sich drei Bilder der Chipchagöttinnen: Batschne, die gute Frau, mit den grossen Brüsten, die Ernähre­ rin, die grosse Mutter. Sie hat einen Sohn, den sie heiratet. Sie steigt mit dem Sohn in eine Lagune hinab. Das Reich der Maria Lionza liegt unter Wasser. Maria Lionza ist zur Hälfte eine Schlange. Die Götter der Chipcha treten paarweise auf. Choue, el sol, die Sonne, ist der Mann und Chia ist die Frau, la luna, der Mond. Chia ist ein andres Bild der Chipchagöttinnen, die Versucherin der Männer, die Zerstörerin. Die Religion der Chipcha war puritanisch. Es gab Männerklöster, wo die Mönche jahrelang in völliger Keuschheit leben mussten. Chia ist die Prostituierte, die böse Seite des Mondes. Sie wurde von Choue in einen Papageien verwandelt. Sie verbreitete die Prostitution unter den Mädchen der Chipcha. Mutter. Prostituierte. Und als dritter Aspekt die Jungfrau. Die Chipcha hatten Klöster für die Jungfraun ihrer Aristokraten. Hier in Venezuela verbanden sich die Caquetios und die Jiajara. Als die Spanier kamen, gab es eine Art Konföderation in den Staaten, wo sich später der Maria-Lionza-Kult entwickelt. 130

Die Jiajara hatten sich mit Sammlern und Jägern vermischt. Die Jungfrau der Chipcha lebt in der verzauberten Jungfrau von Nirgua weiter: Im Staat Yaracuy ergibt sich die folgende Verteilung: Auf die Sammler und Jäger folgen die Stämme der Llanos, die Invasion der Chipcha und der Jiajara. Sie besetzen den ganzen Staat Yaracuy. Dann kommt die Invasion der Caquetios, besser die Kolonisation der Caquetios. Die Arawak aus Brasilien, oder wie man heute glaubt, aus Boli­ vien verdrängen die Jiajara in die Berge. Ein halbes Jahrhundert vor den Spaniern kommt von der See her eine Invasion der Kariben und besetzt die Sierre bei El Tigre. Als die Spanier kamen, waren in den Tälern die Caquetios, in den nördlichen Bergen die Kariben, im Süden die Jiajara, in der Sierra der Maria Lionza und im Zentrum die Caquetios. Sie bekriegten sich und beeinflussten sich gegenseitig. Sie schlossen schliesslich einen Waffenstillstand in der Sierra der Maria Lionza, im Hügelzug von Sorte. Die Jiajara sind in Nirgua. Nirgua wird viermal von den Spaniern zerstört. Sie bauen es viermal wieder auf. Es werden Neger eingeführt, um Kaffee in Nirgua anzubauen. In den Bergen formieren sich Kumbes von Negern. Als die Jiajara ausgerottet werden, kämpfen die Neger auf Seiten der spanischen Monarchie. Man verleiht ihnen den Titel La Republica de los fieles y abnegados Zangos de Negros. San Felipe wird Hauptstadt, besiedelt von zwanzig Familien aus dem Baskenland und von den Kanarischen Inseln und von Negern. Andre Neger hatten an der Küste Kumbes von Zimarronen ge­ bildet. — Es gibt heute noch baskische Elemente in der Maria-LionzaReligion. - Die Basken brachten eine Legende, die ihnen von den Liguriem übermittelt worden war. Sie brachten den Kult der Dame der Höhlen, der Quellen mit dem silbernen Spiegel und dem golde­ nen Kamm. Sie war die Herrin der Berge, der Flüsse, der Metalle, die Herrin aller baskischen Hexen.

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Indianische, afrikanische, baskische Legenden begegnen sich in San Felipe el Fuertc, wo die Religion der Maria Lionza sich ent­ wickelt. Übrigens gibt es auch die Schlange der Chipcha in bas­ kischen Legenden. Daraus entstand die Gestalt des Don Cautalicio de Mapanare. Mapanard ist die Schlange. Die Schlange mit den Federn ist eine Verkörperung der Gottheit der Winde. Später erleichtern Strassen, Eisenbahnen, die Migrationen der Zuckerarbeiter, der Arbeiter der Bananenplantagen die Ver­ mischung der religiösen Elemente. - Nun gab es doch aber auch die Bruderschaften der Neger an der Küste, die mit den Filibustern zusammenarbeiteten. - Die Revolutionen und die Regierungen bemühten sich, diese Neger zufriedenzustellen. Androzote und Manuelote waren mächtige Negerführer. Androzote wurde Kommandant des Heeres. Ein Neger, der noch das Erdbeben in San Fölipe miterlebt hatte, er war etwa 90 Jahre alt, berichtete mir, dass die Neger geheime Erkennungszeichen hatten. Sie standen alle in Verbindung mit Schmugglern und Sklaven­ händlern, aber auch in Verbindung mit den reichen jüdischen Fa­ milien von CuraQao. Die Spione, welche die Filibuster an der Küste hielten, waren Ne­ ger aus den Hermanos de la Costa. Filibuslero heisst übrigens Bruder der Küste. - Im Kult von Maria Lionza gibt es eine Bedeutung der Metalle, der Minen. - Der geht vor allem auf die Neger zurück. Übrigens, eine Information, die ich auf okkulte Weise erhalten habe: Bolivar war in den Vaudou eingeweiht. Er wollte sich deshalb für die Gründung einer panafrikanischen Republik in der Karibik einsetzen. Sowas darf man hier nicht laut sagen. Der Bolivarismus ist hier zu einer entsetzlichen Religion gewor­ den. Dreiviertel aller Entscheidungen Bolivars waren von den Frei­ maurern beeinflusst. Er beging den Coup gegen Miranda, weil er in La Guaira be­ stimmte Karten haben wollte, die Miranda aus Cadiz gebracht hatte.

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Esoterische Zirkel in Europa hatten in Verbindung mit polnischen Adeligen und Marlinisten die Prinzipien aufgestellt, nach denen der neue Kontinent regiert werden sollte. Novus ordo saeculorum. Das amerikanische Wappen hat einen Phönix mit 15 Sternen. 15 Lichter in Form von Rosen. In der einen Klaue 13 Pfeile. In der anderen einen Lorbeerzweig. Auf der anderen Seite steht eine Pyramide aus 72 Steinen - eine abgeschnittene Pyramide, die Spitze schwebt, mit einem Auge im Zentrum — sehen Sie sich mal die Rückseite einer Dollarnote an. Der Chef dieser Neuen Ordnung hier sollte Miranda sein. Sogar Washington stand unter dem Befehl von Miranda. Bolivar und die Patrioten in Chile und Argentinien standen unter dem Be­ fehl von Miranda, der in einer Loge in London eingeweiht wor­ den war, die deutschen Rosenkreutzern zugehörte. - Sie sprachen von Vierteln in San Felipe, die vier Hexenmeistern unterstanden. - Der westliche Teil war afrikanisch, der östliche indianisch. Ich lernte damals in einer Apotheke in Canterana. Und wir ver­ kauften Ingredienzien an die Hexenmeister der Stadt und der Küste. - Was wurden da für Riten ausgeführt? Hiessen die schon Maria Lionza? - Im Westen der Stadt imitierten die Neger die katholische Kirche. Die Hexenmeister kleideten sich wie katholische Priester. Die Neger unter Androzote erkannten keine Geistlichen an und bildeten ihre eigenen Geistlichen aus. - Gab es noch afrikanische Riten? - Doch. Die Kristios Orinocos Atlantes saugte das alles auf. Guedrez Mercedes war der Oberpriester. Er machte von dem Jus Primae Noctis Gebrauch. - Gab es dies Recht auch bei den Indianern? -Ja.. Mit der Konstruktion von Strassen verbreitete sich der Kult der Maria Lionza noch in der Regierungszeit des Diktators Gomez. - Sie haben als Kadett in unmittelbarer Nähe von Gomez ge­ lebt. Stimmt es, dass der Diktator dem Kult der Maria Lionza angehörte? - Das ist völlig falsch. 133

- Eine der Geliebten von Gomez soll Maria-Lionza-Priesterin ge­ wesen sein. Und Gomez dahingehend beeinflusst haben. - Auch das ist falsch. Es ist natürlich möglich, dass unter den 10000 Frauen, die Go­ mez zur Verfügung gestellt worden sind, eine Maria-Lionza-Priesterin war. Aber Einfluss hat das nicht gezeitigt. Gomez war ein Feind des Maria-Lionza-Kultes. Die Krislios Atlantes Orinocos wurden zu Staatsfeinden erklärt. Mercedes hatte die Absicht gehabt, in den Staaten Yaracuy, Lara, Falcön, Portuguesa einen Kult der Sonne und des Mondes zu gründen. Er wollte sich als Grosser Pharao einsetzen. Gomez liess alle diese Leute ins Gefängnis werfen. Später liess sich Mercedes in Caracas nieder. In der Heiligen Woche imitierte er Christus und schleppte sich an den Stationen des Kreuzwegs vorbei. - Wann war das? - 1926 bis 52 etwa. Mercedes fing ganz jung in San Felipe el Fuerte an. - Ich habe gelesen, er gründete die Atlantes Orinocos erst 1945. - Da fing er an zu publizieren. Er reiste damals auch nach Me­ xiko. - Sind Sie in die Religion der Maria Lionza eingeweiht? - Nein. Ich folge den Kräften der Sonne, nicht den Kräften des Mondes. Übrigens, über Gomez wird viel Falsches berichtet. Sein Freund Tarazona soll ein Neger gewesen sein .. - Haitianer. - Kubaner, sagen andre. Er war Indio. Tarazona gehörte dem Stamm der Lache an. Das sind Chipcha, die sich mit Sammlervölkern vermischt haben. - Hatte er einen religiösen Einfluss auf Gomez. - Ich glaube, er war das wichtigste Medium im Kreise des Präsi­ denten. Auch besorgte ihm Tarazona andre Medien aus dem Staate Trujillo. - Was für Riten führte Gomez denn aus? Indianische Riten? - Ja. Er hatte viel mit Kolumbianern zu tun. Er misstraute den Leuten hier. - Und der Padre Borges? - Der Padre Borges hatte nichts mit Maria Lionza zu tun. Er holte Geld aus Gomez heraus und besorgte ihm Frauen.

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Er erinnerte an einen französischen Pater des 17. Jahrhunderts. Abgesehen vom Padre Borges, gab es schon eine Verbindung der Maria Lionza zur Unterwelt, zur Prostitution. Die Medien waren Frauen, denen Bars gehörten, wo kleine Hand­ orgeln gespielt wurden; sie arbeiteten in Bordellen und in ihren freien Stunden machten sie Schokoladenkugeln. Das war 1922 bis 30. Auch die Strafgefangenen glaubten damals an Maria Lionza, sie hofften, durch die Göttin die Freiheit wiederzuerlangen. Damals gab es drei getrennte Kulte: Den der Anima Sola, des Justo Juiz, des gerechten Richters und der Maria Lionza. — Aus welchen Gestalten bestand zu dieser anfänglichen Zeit die Götterfamilie der Maria Lionza? — Maria Lionza, die Königin. Don Cautalizio, ihr Mann. Und die sieben Mädchen und die sieben Knaben. — Und die Juanes. -Ja. — Und der Goldene Knabe? — Der Goldene Knabe erschien damals nur in einem einzigen Zweig. In Barquesimeto. Es ist ein Typus der Chipcha. — In El Tigre habe ich einen kleinen Jesus aus Gold gesehen. Er wurde auch der Kleine der sieben afrikanischen Potenzen ge­ nannt. — Ja, der. Am Rio Cari hatten die Indianer ihre ersten Missionen. — Ist der Herr des Waldes auch ein Juan? -Ja. Er ist austauschbar mit dem weissen Bären, der die Frauen raubt. Sie erinnern die sibirischen Mythen aus dem Paleolithikum. Auch der baskische Jaun ist ein Wilder Mann, ein Herr des Waldes. — Jeder Juan hatte sein Mädchen? — Sie waren gewalttätig, Vergewaltiger. — Es gab einen Don Juan de los Ladrones in San Felipe? Einen Don Juan der Diebe? — Don Juan de los Cabrones. Ein Cabron ist jemand, der ein Bordell unterhält. In den Riten für Don Juan de los Cabrones hatten die Hexen und die Hexenmeister Sexualkontakt miteinander.

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Man betete einen schwarzen Ziegenbock an. Es wurde für jede Zeremonie eine Königin gewählt und die musste sich dem Ziegenbock hingeben. Der schwarze Ziegenbock ist der Patron der Zuhälter und der Nutten. - Mensch und Tier — auch Bisexualität? -Ja. - Ist dies androgyne Element afrikanisch oder indianisch? - In seiner Ausprägung bei den Juanes ist es indianisch, im Staate Lara, in den Gebieten der Ayamanes und der Jiajara. Maria Lionza ist auch die Herrin der feuchten Träume, der Ona­ nie. Es gibt die Gestalt des Pfeifers, der pfeift, wenn die Jungen oder Mädchen masturbieren. - Woher kommt eigentlich die Gestalt des San Juan Retornado? - Die Hexenmeister heutzutage wissen nicht, womit sie es zu tun haben. Der Name einer göttlichen Einheit schreibt sich in der Kabbala von rechts nach Enks. Um nun einen solchen Namen in den Namen eines Dämons zu verwandeln, in einen Namen der Zerstörung und des Todes, muss man die Schreibrichtung um­ kehren. Man sagt auch das Vater Unser verkehrt herum auf, nm den Teufel anzurufen. Um den Teufel zu erschrecken, sagt man das Vater Unser richtig herum auf. Die Yaruru hatten zwei männliche Götter und zwei weibliche. Puana und Ichai, den Schlangengott und den Jaguar; Cuman, die grosse Mutter im Osten und die grosse Zerstörerin im Westen. Die Missionare brachten die Veneration der Heiligen Rosa von Lima mit. Die Indianer verstanden, dass sie die Patronin der Blu­ men war und sie identifizierten sie mit Cuman, der grossen Mutter. In den Llanos bildete sich der Kult der India Rosa heraus und der wurde bis nach Maracay, Falcon und Yaracuy gebracht. Heute ist die Gestalt der Maria Lionza eine Frau aus den Vor­ stellungen aller Gangster von Venezuela. Die Religion wird heute in den Verbrechervierteln weitergeführt von den Nutzniessern in diesen Vierteln. Da gibt es heute eine Rivalität der verschiedenen Riten und Kon­ zepte. Als General Jimenez in Sorte alle die Maria-Lionza-Gläu136

bigen verhaften liess, weil sie sich in politische Angelegenheiten mischten, mussten sie in den Strassen von San Felipe el Fuerte defilieren, alle die Königinnen, die Juanes und die Jungfraun, ge­ schmückt, mit Kronen und grossen Federn - nicht wie heute die Beatriz Veit-Tane, die ihre Kostüme nach Fotografien in den Illustrierten anfertigen lässt. — Wann war dies Defile in San Fölipe? — Noch vor 1922.

Sonnabend, den 2. Juli: Ultimas Noticias: Bei einer Hexenzeremonie wurde ein Junge von 12 Monaten von seinem Vater erwürgt, sein Schädel und seine Beine zerschmet­ tert.

Gespräch mit Professor Sonntag. - Heinz Rudolf, du kommst aus dem Eisenförderungsgebiet zu­ rück. Wie war dein Eindruck? - Ciudad Guyana ist eines der grössten Entwicklungsprojekte der gegenwärtigen und nicht nur der gegenwärtigen venezolanischen Regierung. Eine Manifestation der Gigantomanie, die die vene­ zolanische Bourgeoisie und vor allem die Staatsbourgeoisie in den letzten Jahren erfasst hat. Natürlich unter Beteiligung des inter­ nationalen Grosskapitals — alle grossen bundesrepublikanischen Konzerne sind dort vertreten. Es ist der Eindruck eines völligen Chaos. Es soll etwas aus diesem Land gemacht werden, was mög­ licherweise gar nicht aus diesem Land gemacht werden kann. Die Kontraste treten noch schärfer hervor als in Caracas. Ich habe den Eindruck, wenn man dort überlebt, wird man verrückt. Eine Gesellschaft, die sich selbst nicht mehr kontrolliert. Für die Ökonomen ist es phantastisch: Eines der grossen Entwicklungs­ projekte in unterentwickelten Gesellschaften. Der Kontrast zwischen ökonomischer, technischer Reahtät und sozialer Irrationalität macht einem Angst. - Es hat Streiks gegeben. Portugiesische Arbeiter haben deutschen Firmen unmenschliche Behandlung vorgeworfen. Die Arbeiter sind des Landes verwiesen worden.

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-Ja. Die venezolanische Regierung hat den italienischen Ozeanriesen Cristophoro Colombo für 24 Millionen Dollar gekauft. Der ist im Orinoco genau vor dem Baugelände verankert. Das Schiff ist streng hierarchisch unterteilt. Auf dem Oberdeck leben Ingenieure und Techniker. Auf dem Mitteldeck leben mittlere Techniker und Unterdecks leben die Arbeiter. Für die Arbeiter gibt es drei Schichten. Das Licht wird zentral abgedreht; sie haben einmal pro Woche Ausgang, müssen aber um ein Uhr nachts wieder an Bord sein. Das ganze Schiff ist der Guardia Nacional unterstellt und wird von Soldaten kontrolliert. Ihr Geld bekommen die Arbeiter nicht ausgezahlt, es wird auf ein Konto überwiesen, zu dem sie keinen Zugang haben. Man verdient sehr viel Geld dort. Der Tageslohn eines Facharbei­ ters liegt weit über dem, was ein Facharbeiter sonst verdient. Die verfehlte Zukunftsplanung der Industriegesellschaft: Man lebt für den Augenblick, in dem man nicht mehr leben kann, weil das, womit man leben könnte, kaputtgemacht worden ist. - Venezuela hätte sich zu einem Musterland der III. Welt ent­ wickeln können. 12 Millionen Einwohner nur in einem Riesen­ land voller Rohstoffreserven, ein dynamischer Präsident, mit einer soliden Mehrheit im Parlament und einmalige Mehreinnahmen durch die Steigung des Rohölpreises auf dem Weltmarkt. Was hat Carlos Andres Perez damit erreicht? - Dass die wirtschaftlichen Wachstumsraten 2 bis 3 Punkte höher liegen als in allen anderen demokratischen Regierungen. Heute bei 7 Prozent, 1974 lagen sie bei 5 Prozent. Die Regierung Perez hat erreicht, dass ein ausserordentliches Programm von Stipen­ dien im Ausland Wirklichkeit wurde, dass die venezolanische Bourgeoisie mit Gewinnmargen rechnet, die nicht unter 50 Pro­ zent liegen. Sie hat auch erreicht, dass die Unterbeschäftigung, nicht die Arbeitslosigkeit, weiter gestiegen ist. Sie hat erreicht, dass die Verteilung der Einkommen noch ungleichmässiger ge­ worden ist, dass die Landflucht zugenommen hat, dass Grund­ nahrungsmittel fehlen. - Aber der Kaffee, der hier bei der partiellen Unterernährung wohl als Grundnahrungsmittel angesehen werden muss, ist doch in Wirklichkeit gar nicht knapp. Er wird gehortet. Welche Nah­ rungsmittel sind nun tatsächlich durch die Agrarpolitik der Re­ gierung Perez knapp geworden?

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- Der Reis. In den Sechziger Jahren exportierte Venezuela Reis, heute wird Reis importiert, damit die Bevölkerung ernährt wer­ den kann; Mais, schwarze Bohnen, Bananen, Platanos. - Also nicht nur Hortung, sondern auch Verdrängung aus der Agrarproduktion.. - .. durch die zunehmende Erzeugung von Inputs für die In­ dustrie. Die Hortung spielt eine grosse Ptolle bei Produkten wie Kaffee, Fleisch, Milch. Vor einigen Monaten war der Weltpreis für Kaffee wesentlich höher als der hier bezahlte. Inzwischen ist der Weltpreis gesunken und in einigen Monaten werden wir mehr Kaffee haben als je zuvor. Fleisch wird in grossen Mengen exportiert, was die Öffentlichkeit nicht weiss und auch nicht wissen wird - und in Venezuela herrscht Fleischknappheit. - Warum hat Präsident Perez keine neue Agrarreform durchge­ führt? - Die Agrarreform ist 1961 von Romulo Betancourt verkündet worden. 500 000 Landarbeiterfamilien hätten davon erfasst wer­ den sollen. 90 000 davon sind in die Städte abgewandert. 70 000 haben so viel Land bekommen, dass sie tatsächlich von der Be­ wirtschaftung leben können, die restlichen 140 000 Landarbeiter­ familien müssen ihre Arbeitskraft an die Grossgrundbesitzer ver­ kaufen — wenn sie Glück haben. Die Landwirtschaft in Venezuela ist hochtechnisiert, also Arbeits­ kräfte sparend. Deshalb sind die Arbeiter gezwungen, ihre Ar­ beitskraft weit unter dem gesetzlich vorgeschriebenen Mindestlohn zu verkaufen und sie sind gezwungen, sich auf peonaje einzulas­ sen, eine Art Schuldknechtschaft. Die Agrarreform ist also einge­ schlafen. Der neue Landwirtschaftsminister, Gustavo Pinto Cohen, ein Ag­ rartechnokrat erklärt: Die einzige Rettung der venezolanischen Landwirtschaft sei ohne durchgreifende Kapitalisierung nicht zu schaffen. Er hat schon 1962 geschrieben, dass Venezuela sich auf die Produktion von industriellen Inputs in der Landwirtschaft konzentrieren müsse und die Lebensmittel für die Bevölkerung importieren. Eine solche Politik hat zur Folge gehabt, dass heute rund 65 Prozent der Lebensmittel eingeführt werden. - Wie hoch ist der gesetzliche Mindestlohn für die Landarbeiter? - 15 Bolivares am Tag, etwas mehr als 8 Mark. - Und der wirklich gezahlte Lohn? 159

- 9 Bolivares, 5 Mark und eine volle Mahlzeit. Also 100 Mark im Monat, wenn man von 20 Arbeitstagen ausgeht. - Soviel wie eine Übernachtung im Intercontinental von Caracas koslet. Wie erklärst du dir das Chaos in der Stadtplanung? - Die mit dem Bausektor verbundene Bourgeoisie hängt eng mit der Bourgeoisie des Finanzsektors zusammen. Die Finanzbour­ geoisie hat Präsidenten gestürzt und Präsidenten auf den Thron gehoben, Perez Jimenez zum Beispiel. Diese Bourgeoisie speku­ liert mit städtischem Grund und Boden und baut für die konsum­ starken Schichten der Bevölkerung - also für 10 bis 15 Prozent der Venezolaner - und kontrolliert über vielfältige Mechanismen die gesammte Konsumgüterindustrie, vor allem für längerfristige Konsumgüter wie Autos und forciert den Absatz dieser Güter und damit wird eine auch nur im kapitalistischen Sinne rationale Stadtplanung von vomeherein unmöglich. - Damit hast du auf die Korruption angespielt. - Bestechung spielt eine grosse Rolle. Es soll eine Einschienenbahn an die Küste gebaut werden, ein Projekt von 2,5 Milharden Bolivares. Es wird erzählt, dass be­ reits jetzt 200 Millionen an Bestechungsgeldem gezahlt seien, nur um die Genehmigung zu erwirken. Aber es gibt auch direkten und indirekten Einfluss. Der Mann, der noch vor zwei Jahren der Präsident eines der grossen Finan­ zierungsunternehmen war, ist heute Sekretär mit Ministerrang von Carlos Andres Perez. - Warum konnte Perez, der doch kein zimperlicher Mann ist, da nicht durchdringen? - Perez war immer eng mit dieser Bourgeoisie liiert. Sie hat ihm den Wahlkampf finanziert, einen sehr teuren Wahlkampf - er hat ungefähr 350 Millionen Bolivares gekostet. Auch ist Perez selbst, über seinen Bruder, Mitinhaber von Bauunternehmen und Teilhaber von Finanzierungsgesellschaften. Nadi aussen tritt Perez als einer der grossen Führer der Dritten Welt auf, manchmal an Radikalität nicht einmal von Fidel Castro übertroffen - nach innen treibt er eine reaktionäre Wirtschafts­ und Sozialpolitik. Sein Niederhalten der Mobilisierung der Be­ völkerung ist zwar nicht repressiv zu nennen, aber nur dann nicht, wenn wir unter Repression den offenen Einsatz von Polizeikräften verstehen; der findet zwar auch statt, aber in geringerem Masse als etwa unter dem christdemokratischen Präsidenten Caldera,

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wichtiger sind die geheimen Mechanismen der Kontrolle: Die Politische Polizei, der militärische Geheimdienst, die politisierte Kriminalpolizei, der Geheimdienst der gewöhnlichen Polizei, die nicht nur Bürgertelefone kontrollieren und Briefe öffnen, sondern auch direkten Einfluss auf die Gestaltung von Fernsehprogram­ men nehmen. - Wird die Regierung Perez einen Kollaps der Hauptadt Caracas vermeiden können? - Ich denke, dass sie auf dem Sektor zusammenbrechen wird, von dem die Techniker behaupten, dass sie nicht zusammenbre­ chen kann: in der Versorgung mit Elektrizität und Wasser und in der Bewältigung der Abwässer. Die Elektrizität ist in privaten Händen und die Unternehmer ha­ ben kein Interesse, über ein gewisses Mass hinaus zu investieren. Wir haben schon verschiedene kurze Black-Outs für ganze Stadt­ viertel erlebt, wir werden bald, nach Aussagen des Präsidenten der Elektrizitätsgesellschaft, Black-Outs für die ganze Stadt er­ leben und über längere Zeiträume. Die Wasserversorgung ist bereits im März, April für zwei Wo­ chen völlig ausgefallen. Die Abwässersituation hast du selbst in den Elendsvierteln von Caracas beobachten können; aber die ist nicht nur in den Elendsvierteln katastrophal, sondern auch in den Vierteln, wo anständige Leute wohnen. - Wieviele Analphabeten gibt es in Venezuela? - Die offizielle Zahl ist 28 Prozent, aber das sind Menschen, die nicht einmal ihren Namen schreiben können. Der funktionale Analphabetismus liegt nach unseren Untersuchungen im CENDES bei 45 Prozent. - Präsident Perez fuhr als Vermittler in den Nahen Osten. Ist diese Vermittlerposition Venezuelas echt? - Die Vermittlerposition Venezuelas ist echt. Die Bourgeoisie Venezuelas ist die von den in der OPEC ver­ tretenen Bourgeoisien entwickeltste und selbstbewussteste. Ausserdem hat Venezuela — und das wissen die erdölproduzie­ renden und die erdölkonsumierenden Länder - mit die grössten Erdölreserven der Welt. Die sogenannte Faja Petrolifera del Orinoco - ein Landstreifen, der sich oberhalb des Orinoco 80 Kilo­ meter breit von fast 800 Kilometer Länge dahinzieht - hat an nachgewiesenem Schweröl 750 Milliarden barrels, eine Menge, die 150 Milliarden barrels Leichtöl entspricht; Saudiarabien gilt bis­

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her mit 80 Milliarden barrels als das Land mit den grössten Erd­ ölreserven. Die venezolanische Regierung tritt auf den Foren der Weltöffentlichkeit als grosser Verleiher von Geld auf. Nicht, weil es Venezuela besonders gut gefällt, Geld zu verleihen, sondern weil die Wirtschaft nicht in der Lage ist, das Geld zu absorbieren, ohne es inflationär werden zu lassen. - Du arbeitest mit dem CENDES zusammen an einem Projekt über die Faja. W'as ist das für ein Projekt? Hiess es nicht, dass die Ölvorkommen am Orinoco gar nicht publik gemacht wer­ den sollten? - Unser Forschungsprojekt hat mit dem Erdöl an sich nichts zu tun. Es entstand auf Wunsch einer kleinen Schicht von Techno­ kraten im Ministerium für Bergbau und Energie, die Entwicklung dieses Erdölgebietes nicht in der gleichen anarchistischen und chao­ tischen Weise verlaufen zu lassen, wie das im Staate Anzoategui. im Staate Zulia etc. geschehen ist. Die Grunddaten stellt uns das Ministerium zur Verfügung, da­ von ausgehend machen wir ökonomische Planung, Gesellschafts­ planung und politische Planung. Ich sage: Wir machen. Das ist natürlich eine typische Übertreibung. Wir haben eine Diagnose der Zone durchgeführt und einige Strategien vorgeschlagen. Ob diese Strategien in die Wirklichkeit umgesetzt werden, ist unge­ wiss, wir selbst glauben nicht daran. -Was sind das für Strategien? - Gegen die ausserordentliche Kapitalkonzentrierung in den Zentralen Caracas, Maracaibo, Valencia, eine Förderung des in­ ternen Kapitals; auf dem gesellschaftlichen Sektor versuchen wir, die in den Gebieten vorhandenen Sozialstrukturen nicht zu zer­ schlagen, sondern mit den neuen Strukturen zu verbinden, inner­ halb des Städtebaus, des Erziehungswesens, der Gesundheitsfür­ sorge. Aber, wenn unsere Auftraggeber merken, dass dort struk­ turelle Veränderungen eintreten müssen und nicht nur dort, dann werden sie uns den Forschungsauftrag wieder wegnehmen. Das passiert ja nicht das erste Mal. So wie die technologische Angebotslage ist, kann die Faja nur in Verbindung mit den multinationalen Gesellschaften ausgebeutet werden. Es gibt drei Länder, die über die Technologie verfügen, Schweröl in Leichtöl umzuwandeln: Canada, die Vereinigten Staaten und die Bundesrepublik. Du fragtest, ob die venezola­ nische Regierung versucht hätte, dies Vorkommen geheimzuhal­

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ten. Erdölvorkommen werden heute nicht mehr von den betref­ fenden Regierungen publik gemacht. Sie werden von den Ver­ einigten Staaten publik gemacht. Sie werden von Satelliten ausge­ kundschaftet und fotographiert. In Venezuela hat die Regierung versucht, mit der Öffentlichkeit zu spielen. Man hat von Erdöl­ sand gesprochen, von Schweröl, das man nicht umwandeln kann. Man wollte Spekulationen verhindern. Eine grosse kapitalistische Gruppe, die Delfino, hat aber bereits 40 000 Hektar dort aufge­ kauft, Kiefern gepflanzt und wird jetzt eine Papierfabrik in der Gegend bauen. - Wie sind die Kontakte zwischen Venezuela und der Bundesrepu­ blik, was ein Prozessieren des Schweröls anlangt? - Solche Kontakte laufen nicht über die Botschaft. Die Bundesrepublik hat einen grossen Vorteil. Die Lurgi in Frankfurt hat eine Bohrtechnik entwickelt, die billigere Bohrun­ gen erlaubt als bisher. - Wie sind die deutsch-venezolanischen Beziehungen? - Die Beziehungen zwischen Accion Democratica, der Regie­ rungspartei und der SPD sind sehr gut. Brandt und die ihm nahe­ stehenden Parteifunktionäre werden in Venezuela besonders gut aufgenommen. Es ist kein Zufall, dass am 30. Juli Herr Ehmcke nach Venezuela kommt, um hier seinen Urlaub zu verbringen. Was die wirtschaftlichen Beziehungen angeht, so finden sie statt zwischen der Staatsbourgeoisie, also zwischen den Führungskräf­ ten der Erdölindustrie und bundesdeutschen Wirtschaftsunter­ nehmen. Diese Kontakte laufen ausgezeichnet. - Es gibt eine Option, die über den herrschenden Ideologien steht, in Mexiko, wie in Lybien, in Haiti und der Sowjetunion: Indu­ strialisierung — eine Option, die letztlich, ohne dass man sich dar­ über im klaren ist, ideologischen Charakter hat. Die Regierung Perez setzte auf Industrialisierung. Ist das sinnvoll in Anbetracht der immer engeren Absatzmärkte, in Anbetracht der mangelnden Kader im Land hier? - Das Problem ist, dass die Entwicklungsideologie des kapita­ listischen und des angeblichen sozialistischen .. - .. und des sozialistischen .. - . . und des sozialistischen Zuschnitts auf Industrialisierung setzt, mit einer Ausnahme: Kambodscha. - Und Tanzania. - Ich würde meinen, dass Venezuela ein Entwicklungsmodell ent­ 143

wickeln könnte, das es dem Lande erlaubte, auf dem Weltmarkt zu konkurrieren. Dies Modell müsste auf die Produkte abgestellt sein, für die es hier Grundstoffe gibt: Auf Petrochemie, Alumi­ nium, Eisen. Die venezolanische Bourgeoisie ist an diesen Sektoren aber ge­ rade nicht interessiert. Mit Petrochemie, mit Aluminium, mit Eisen kann man keine Pro­ fite von 50 bis 60 Prozent erzielen. - Das Absurde ist, während alle sozialistischen Regime die In­ dustrialisierung hochhalten, die kommunistische Gewerkschaft in Paris protestiert gegen das Landeverbot der Concorde in New York, scheinen die Vereinigten Staaten mehr und mehr auf Agrarstrukturen zu setzen. - Das ist leider richtig. In den Vereinigten Staaten ist man da­ hinter gekommen, dass Industrialisierung nicht alles ist - aber zur gleichen Zeit wird von den USA die Idee weiter gehandelt, dass Entwicklung gleich Industrialisierung ist. Für das eigene Land ist längst nicht mehr gut, was sie für andre Länder noch verkaufen. - Perez, so scheint es, lässt sich also die Umweltverschmutzung von den USA importieren. - Ohne Zweifel. Seine Politik fällt in diesem Punkt mit den Inter­ essen der USA zusammen, ob diese Politik nun von Ford - ich meine Gerald Ford - oder von Carter repräsentiert wird. - Hätte man sich nicht ein anderes Modell für Venezuela denken können: Subventionierung der Agrarproduktion, höhere Löhne für Landarbeiter, dirigistische Massnahmen gegen ein Anschwel­ len der Elendszonen der Grosstädte? - Schon, in Verbindung mit einer Industrie, für die es in diesem Land die Rohstoffe und die Kader gibt. Eine venezolanische Wirt­ schaft muss auf zwei Beinen stehen. Venezuela müsste industriali­ siert werden, aber nur, wenn die Entscheidungsprozesse in der venezolanischen Gesellschaft nicht mehr so ablaufen wie bisher - die Schlüsselentscheidungen werden hinter einer demokratischen Fassade von 12, 13 Familien getroffen. - Nehmen wir an, ein Sozialist, ein Petkoff würde Staatspräsident. Glaubst du, dass er sich gewissen Strukturen der venezolanischen Gesellschaft entziehen könnte: Machttrieb und Korruption, zum Beispiel? - Ich bin der Meinung, es ist kein Zufall, dass Fidel Castro in Kuba jahrelang eine unipersonelle Entwicklungsdiktatur errichtet 144

hat. Die unipersonelle Erziehungsdiktatur ist in der Lage, gewisse soziale Strukturen mit Gewalt zu zerbrechen, die sich in der ku­ banischen Vergangenheit herausgebildet hatten. Ähnliches wird in Venezuela notwendig sein. Dass damit eine Veränderung der psychosozialen Strukturen, eine intensivere Beteiligung der Mas­ sen an den Entscheidungsprozessen stattfindet, ist eine Hoffnung, die ich derzeit noch nicht aufgeben möchte. Innerhalb dieses Zeit­ raums wird eine Erziehungsdiktatur notwendig sein, eine relativ strikte soziale Kontrolle, orientiert an einem Wertsystem, das dem Wertsystem der gegenwärtigen Gesellschaft diametral entgegen­ gesetzt ist. Wenn das nicht geschieht, dann würde geschehen, was in Chile passiert ist. — Und wer erzieht die Erzieher? Die Deformationen der Technokratie haben Venezuela und Cara­ cas erreicht. Inwieweit haben sie das gesellschaftliche Leben ver­ ändert? — Ich möchte dich an den Ausruf eines Freundes erinnern, der sich versprach, als ihm sein Bekannter mitteilte, dass er we­ gen der Erkrankung seiner Frau nicht kommen könnte: O, fein! Ich meine natürlich: Scheisse! - Die Bevölkerung Venezuelas ist dabei, sich in eine völlig in­ humane Gesellschaft zu verwandeln. Und das ist erstaunlich, denn die Venezolaner sind soziokulturell ein sehr liebenswertes Volk, auf Vertrauen, auf Miteinanderleben angelegt. Heute ist Venezuela ein Land, in dem ständig Agressionen, Neu­ rosen, sogar Psychosen erzeugt werden, die mit den traditionellen Geisteskrankheiten der venezolanischen Agrargesellschaft sehr wenig zu tun haben. Die Möglichkeiten der Kommunikation ver­ ringern sich. Die Atomisierung des Individuums ist dem Zustand in europäischen und nordamerikanischen Grosstädten zu ver­ gleichen. Man merkt es an sich selbst. Man verinnerlicht be­ stimmte Syndrome der kapitalistischen Gesellschaft. Das Wettbe­ werbssyndrom. Das Misstrauenssyndrom. Ich bin selbst davon betroffen. Es findet eine Subversion gegen die Humanität statt. Der ungeheure Verkehr. Der Verkehr blockiert einen. Die Ge­ walttätigkeit. Wenn man überleben will, muss man die Augen verschliessen, vor dem Elend, das hier besteht. Die Tatsache, dass man Freunde wochenlang nicht sieht und dann redet man am Telefon eine halbe Stunde miteinander. Die Tatsache, dass man in einer Stadt als Privilegierter lebt und zu gleicher Zeit Be­ 145

wusstsein davon hat, dass Millionen oder wenigstens Hunderttau­ sende im Elend leben. - Man sagt, dass anderthalb Milhonen Ranchobewohner, Bewoh­ ner von Elendsvierteln in Caracas .. - Ungefähr .. - Die Hälfte der Hauptstadt. - Und dass man plötzlich an sie nicht mehr als menschliche Wesen denken kann, sondern an sie als Arme denken muss. Das ist ja die ganze Scheisse mit den Linken - die reden von den Prole­ tariern, als wenns ne Sache wäre. - Die Armut in Caracas ist eine sekundäre Armut. Es sind Arme, die sich eine gewisse erträgliche Unerträglichkeit geschaffen ha­ ben. In den Elendsvierteln gibt es Elektrizität, Wasser, Steinhäu­ ser. Viele dieser Ranchobewohner weigern sich, auf dem Lande oder im Haushalt zu arbeiten. Für diese Arbeiten werden die Ar­ beiter aus Kolumbien eingeschleust. - Es gibt einen Ausdruck: Viva la Pepa! Es lebe das leichte Leben. Es wird den beherrschten Klassen von den herrschenden Klassen vorgelebt. Der Arme in Caracas rechnet auf die 10 Bolivares, die er dir aus der Tasche klauen kann. Der Arme identifiziert sich hier nicht mehr mit sich selbst, nicht mehr mit seiner Armut. Und dann kommen die Kolumbianer und werden ausgebeutet. Sie sind das Proletariat unter dem Subproletariat. Denn jemand muss ja ausgebeutet werden in dieser Ideologie des Viva la Pepa. Das ist der Mechanismus, der am Ende dazu führt, dass man die Armut der Venezolaner verachtet. - Kannst du etwas über die Entwicklung der Geisteskrankheiten in Venezuela sagen? - Neurosen und Psychosen waren in der venezolanischen Gesell­ schaft selten. Aus eigenen Untersuchungen weiss ich, dass sie in den letzten 5, 6 Jahren erschreckend zugenommen haben. Vor al­ lem Konsumneurosen und Konsumpsychosen. Alkoholismus. Ge­ walttätigkeit. Es gibt hier keine psychiatrische Betreuung für das Volk. Die Zahl der chronischen Alkoholiker, die sich in Behand­ lung begaben, hat sich seit 1970 verdreifacht. - Spielt die Homosexualität bei deinen Untersuchungen als Neu­ rose eine Rolle? - Nicht als Neurose. Meine Frau charakterisiert die Situation so: Der Machismo ver­

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sucht in Venezuela täglich mehr, die Homosexualität zu ver­ schleiern. Und dabei treten natürlich Neurosen auf. Bei der indianischen Urbevölkerung stellte die Homosexualität kein Delikt dar und wurde bei den Cariben nicht negativ beur­ teilt. Noch heute wird die Homosexualität bei einigen Indianer­ stämmen im Amazonasterritorium eher gefördert. Der Machismo Venezuelas hat als Unterströmung immer die Ho­ mosexualität. Der Machismo tritt hier mit bestimmten Formen des Matriarchats auf. Die malrifokale Gesellschaft ist in unter­ entwickelten Ländern die Regel. Die Rebellion gegen die Mutter geschieht als Inzeslwunsch und als Homosexualität. Auch ist Ho­ mosexualität ein Pattern, das gewisse Türen öffnet, besonders bei der kulturellen Elite. Transvestiten, Homosexuellenbanden, die ihre Klienten ausrauben, sind eine pervertierte Form des Viva la Pepa. Die Zeitungen haben nur eine Alternative: Die Schnauze halten oder sich darüber lustig machen. - Drückt sich in der Rücksichtslosigkeit der veröffentlichten Mei­ nung nicht auch ein Rest Kolonialismus aus?: Weisse männliche Herrscherschicht, minderwertige indianische Ambivalenz!? - Natürlich. Man muss hinzufügen, dass Diego de Losada zum Beispiel, der Gründer von Caracas, grosses Vergnügen daran fand, mit den männlichen Indianern vom Stamm der Los Caracas in der Öffentlichkeit sexuelle Akte vorzunehmen. - Auf Grund von aufklärerischer Brüderlichkeit oder um der in­ dianischen Bevölkerung gegenüber den äussersten Grad von Er­ niedrigung auszudrücken? - Das weiss ich nicht. Viele Eroberer hatten homosexuelle Nei­ gungen. Sie konnten diese Neigungen in den Gesellschaften der Indianer ohne gesellschaftliche Sanktionen ausleben. Im Süden bieten die Indianer sexuelle Beziehungen an, wenn sie einem Zuneigung, Freundschaft bezeugen wollen. Bei den Makiritari kannte ich einen jungen Mann, der mir sogar einmal das Le­ ben gerettet hatte. Er erschoss eine Schlange, die mich beinahe ge­ bissen hätte. Er bot mir sexuelle Beziehungen an und war sehr böse, traurig, frustriert, als ich ihm sagte, dass ich keine homo­ sexuellen Neigungen hätte und dann musste ich ihm die ganze Nacht erklären, warum ich sein Angebot nicht angenommen hätte. - Bot er dir aktive oder passive Beziehungen an?

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- Ich sollte der Aktive sein. - Glaubst du, dass die Verhältnisse in Venezuela durch eine Re­ volution verändert werden könnten? - Du, das glaube ich nicht. Du, ich bin da im Widerspruch mit mir selbst. Allendes Chile zeigt, dass die herrschende Bourgeoisie eine friedfertige Verände­ rung in eine humanere Gesellschaft nicht zulässt. Auf der ande­ ren Seite bin ich davon überzeugt, dass es gefährlich ist, Gewalt anzuwenden. Das, was die Gewalt erzeugt, ist das ausbeuterische System, aber, wenn ich die Gewalt perpetuiere, indem ich das ge­ walttätige System mit Gewalt stürze, besteht die Gefahr, dass sich das System in der Gewalt perpetuiert. - Letzten Sonntag haben die Vorwahlen in der Accion Democralica stattgefunden. Es soll 1,3 Millionen zur Wahl eingeschriebene Adecos geben. Tatsächlich aber haben nur etwa 800 000 Partei­ mitglieder ihre Stimmen abgegeben. - Die erste Hypothese: Die AD hat systematisch gelogen, was die Höhe der eingeschriebenen Parteimitglieder anlangt. Die zweite Hypothese: Die beiden Kandidaten stellen in den Augen der Adecos keine wirkliche Alternative dar. Die Apathie war aus die­ sem Grunde so gross. Ich neige der ersten Hypothese zu. Ich glaube, dass heutzutage in Venezuela nur ein Präsidentschafts­ kandidat die Wahlen gewinnt, wenn er einen hochorganisierten Parieiapparat hinter sich hat. Das Phänomen der Protestwähler ist seit 1975 ausgeschaltet. 1973 hat sich herausgestellt, dass nur Parteimaschinerien Präsidentschaftswahlen gewinnen können. Zum Abschluss möchte ich gerne noch ein paar Bemerkungen über die bisher drei sozialistischen Präsidentschaftskandidaten machen. Ich möchte meinen, dass die Linksparteien ihr Wähler­ potential überschätzen. Sie werden nicht über die 10 Prozent her­ auskommen, die sie auch 1975 gehabt haben. Und das liegt nicht daran, dass die Linksparteien nicht gemeinsam marschierten, das liegt daran, dass sie sich über viele Probleme, über die wir heute abend gesprochen haben, keine Gedanken machen. Über das Pro­ blem der Marginalisierten, die selbst, wenn sie von dem System zurückgeworfen werden, noch zu dem System Vertrauen haben, das Problem der Unterdrückten, die sich nicht mehr als Unter­ drückte empfinden. - Es ist also programmatisch, dass du dich in letzter Zeit mit Psychologie und Psychiatrie befasst?

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- Ja. Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass die primitive Vor­ stellung: Mit der Erfahrung der Ausbeutung nimmt auch die Re­ bellion gegen die Ausbeutung zu - nicht stimmt. Wenn das stimmte, dann würde eine Gesellschaft wie die venezolanische in dieser Form längst nicht mehr bestehen. Den Vorgang, dass Unterdrückte sich nicht mehr als Unterdrückte empfinden, kann man mit politökonomischen und soziologischen Argumentationen allein nicht erklären. Ich untersuche Legitima­ tionsmechanismen nicht nur auf Seiten der Unterdrücker, sondern auch auf Seiten der Unterdrückten.

Der Waffenhändler: - Die kleinen Jungen in Caracas gehen durch den Autoverkehr mit Zeitungen. Wenn ein Autofahrer das Fenster herunterdreht, stopfen sie ihm eine Zeitung ins Gesicht und rauben Uhr, Geld, Schmuck. Alles, an was sie rankommen können. Die Polizei fährt mit Motorrädern durch den Verkehr. Sie ergreift die Kinder an den Haaren, schleift sie durch den Ver­ kehr und schlägt sie am Strassenrand zustimmen.

Zum letzten Mal in die Bar hinter der Oper. Früher kriegte man zum Bier pikante Würstchen oder kleine Klösse. Nichts mehr.

Eine Freundin der Frau des Waffenhändlers verbringt den Tag damit, ihre behinderten Kinder in verschiedene Spezialschulen zu fahren. Der älteste Sohn ihres Mannes, 14, 90 Kilo, frißt fürch­ terlich. Er ist so aggressiv, dass alle Angst haben, er würde eines Tages einen von ihnen umbringen. Sie haben ihn in eine Vorschule des Militärs gebracht. Da ist er wegen Aggressivität rausgeflogen. >49

Ihre 11jährige Tochter hat Dvslexia, sie kann sich beim Lesen die Buchstaben nicht zu einem Sinn zusammensetzen. Die vierjährige hübsche Tochter spuckt dauernd um sich. Sie hat solche Angst vor ihrem dicken Halbbruder. Die Freundin der Frau des Waffenhändlers selbst leidet an Ischias. Manchmal kann sie nicht gehen oder sie hat einen steifen Nacken.

Eine letzte Auskunft des Waffenhändlers: - Jeder Autofahrer hat eine Pistole bei sich. - Wenn einer sieht, dass bei einem anderen das Auto aufgebro­ chen wird, schiesst er auf den Räuber. - Oft springen mehrere Autofahrer aus dem Wagen und schiessen auf den Räuber.

Miami 1977-1978

Donnerstag, den 7. Juli 1977: Eine Haitianerin will bei Panam einchecken. Sie hat kein Visum für die USA. Sie zeigt den Brief einer einflussreichen Persönlichkeit vor. Die Mädchen mit den lustigen Uniformen weisen sie ab. Sie muss in Haiti bleiben.

Das Panamflugzeug startet nicht. Ein Haitianer wird aufgerufen. Er geht nach vom. Die uniformierten Mädchen fragen nach seinen Papieren. Er zieht seine Brieftasche raus. Seine Hände beginnen zu fliegen. Zettel flattern auf den Boden. Auf seiner Stirn quellen helle Schweisstropfen hervor. Er muss das Flugzeug verlassen. Er kommt nicht wieder. - Wir starten endlich.

In Miami am Panamschalter ein alter Mann. Er ist aus Santo Domingo hergeflogen. Er sucht Arbeit. Er zeigt eine Adresse vor. Die Angestellte von Panam ruft für den Mann an, der nur spa­ nisch spricht. Sie übersetzt dem alten Mann: - Sie müssen jetzt nach Santo Domingo zurückfliegen und warten, bis die für Sie eine Anstellung gefunden haben. — Der nächste, bitte!

Ich bin Jude und suche die Freiheit in Miami. Ich bin KZ-Wärler und suche die Freiheit in Miami. Ich bin Gegner von Duvalier und suche die Freiheit in Miami. Ich bin der haitianische Innenminister und suche die Freiheit in Miami. 153

Ich bin die Muller des Präsidenten Duvalier und suche die Freiheit in Miami. Ich bin der Präsident von N icaragua und suche die Freiheit in Miami. Ich bin ein Ex-Gegner von Castro und suche die Freiheit in Miami. Tch bin der Ex-Freund von Castro und suche die Freiheit in Miami. Ich bin Kubanerin und hasse die Schwulen und suche die Freiheit in Miami. Tch bin ein deutscher Waffcnhändler aus Caracas und suche die Freiheit in Miami. Ich bin ein deutscher Zeilungsverleger und suche die Freiheit in Miami. Ich bin ein Mafia-Boss und suche die Freiheit in Miami. Ich bin ein russischer CIA-Agent und suche die Freiheit in Miami. Ich bin ein Phantom-Pilot aus llarlem und suche die Freiheit in Miami. Ich bin ein Mirage-Pilot aus Uganda und suche die Freiheit in Miami. Aus Nigeria. Aus Ghana. Übrigens: Ich bin Idi Amin und suche die Freiheit in Libyen. Teil bin der Kaiser von Zentralafrika und suche die Freiheit in Libyen. Ich bin neunzig und meine Frau ist achtzig - wir suchen die Frei­ heit in Miami Beach.

Kein Mensch auf der Strasse. Nur die grossen Wagen. Alle iin gleichen Abstand, in der gleichen Geschwindigkeit. Wehe! einer schert aus. Der Taxifahrer ruft ihm zwanzigmal »Motherfucker« nach. Meilen Hotels. Fährt inan zuin Eingang, sieht man Greise auf der Veranda und an der Rezeption.

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Der Taxifahrer sagt: — Letztes Jahr war es so kalt, dass Anita Bryant die Orangen erfroren. - Aber hier kann jeder sagen, was er will. Die Normalen fahren wir zu den Bunnies und die Schwulen fahren wir zu den Schwulen. Das Fontainebleau-Hotel - ein Berg aus blauen Fenstern. - Im Winter, zu Weihnachten, summen sie hier wie die Bienen. Millionen. — Alles Greise.

Ach, ja - ich bin in Anita-Bryant-Hausen, in Schwulen-Schwanzab-Witz. 1. April 1977. Ehemalige Kandidatin für Miss Amerika. Die Stimme, die erfrischt. Das Symbol von Florida Orange-Juice. - Ehe ich diesem schlimmen Angriff auf Gott und sein Gesetz nachgebe, werde ich einen Kreuzzug dagegen führen, wie ihn das Land noch nicht gesehen hat. Die 57jährige Anita Bryant will eine Verordnung niederstimmen, die von der Dade County Commission (in Miami) erlassen wurde und jede Diskriminierung auf Grund von gefühlsmässigen oder sexuellen Neigungen untersagt. Bob Green, Anita Bryants Mann: - Wir arbeiten hart, um zu gewinnen. Wenn nicht, wird Dade County wie San Francisco werden, wo Schwule das tägliche Leben bestimmen. Bob Kunst, schwuler Leader in Miami: - Wir gehen von Tür zu Tür. Wir werden die ganze Stadt abklappern. 2. Mai. Anita Bryant verdiente im letzten Jahr 400 000 Dollar. Durch ihre Kampagne verliert sie vielleicht Engagements. 23. Mai. Der ultrarechte Aktivist Edwin Walker, Ex-Komman­ dant der US-Truppen in Deutschland und Kandidat für den Po­ sten des Gouverneurs von Texas, wurde wegen unmoralischen Verhaltens verurteilt. Er hatte einen Polizisten auf dem Abtritt eines öffentlichen Parks unehrenhafte Anerbieten gemacht. 155

Der Richter erkannte auf tausend Dollar Geldstrafe; er hatte dreissig Tage Haft verhängt, die in ein Jahr überwachte Freiheit geändert wurden. Walker, 67 Jahre alt, war ani 16. März an einem ähnlichen Ort schon einmal wegen desselben Deliktes festgenommen worden. 24. Mai. Die Schwulen führen mit 2 zu 1 in der Finanzierung ihrer Gegenkampagne. Sie brachten mehr als 115 000 Dollar zusammen. 8. Juni. 2001, Caracas: Die Homosexuellen verlieren in den Ver­ einigten Staaten. El Mundo, Caracas: Homosexuelle können von nun an in Miami weder wohnen noch arbeiten. Miami Herald: Florida ist nicht allein. Auch Minnesota und Wa­ shington lassen Diskriminierung von Homosexuellen bestehen. 9. Juni. El Mundo: 20 Millionen auf Kriegsfuss. Tunten der USA verlieren eine Schlacht. 11. Juni. The Economist, London: Trauriges Resultat. Die Be­ wohner von Miami stimmten 2 zu 1 dafür, dass ein Gesetz zu­ rückgezogen werde, welches bestimmte, dass sexuelle und emo­ tionale Neigungen niemanden bei der Wohnungs- oder Arbeits­ suche diskriminieren dürften. 20. Juni. Anita Bryant tanzte einen Jig, als sie von dem Resultat hörte. Wie Hitler bei der Niederlage Frankreichs. Sie sagte: Je mehr wir Gewalttätigkeit und Homosexualität die Norm wer­ den lassen, desto mehr wird unsre Nation erkranken, dass die Kommunisten uns nicht mehr zu erobern brauchen - wir geben einfach auf. Anita Bryant sagte auf einer Versammlung von Exil-Kubanern: Es würde mein Herz brechen, wenn Miami ein zweites Sodom und Gomorrha würde und sie ein zweites Mal zu emigrieren hätten. Anita Bryant nannte I lomosexuelle »menschlichen Müll«. Time veröffentlicht das Bild eines strahlenden Paares — Anita Bryant und ihr Mann Bob Green, die die Abstimmung gewonnen haben; dagegen steht ein andres Bild einer halb irre und verhascht wirkenden Gruppe von homosexuellen Verlierern. Dazu wird geschrieben, dass die Verteidiger der Rechte der Schwulen »rosa Dreiecke« an ihre Kleider steckten, die an den gelben Stern erinnern sollten, den Juden im Hitler-Deutschland zu tragen gezwungen waren.

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Time veröffentlicht heftige Leserbriefe, die die Redaktion darauf hinweisen, dass die Schwulen die rosa Dreiecke in den Konzen­ trationslagern zu tragen gezwungen wurden, um sie von den poli­ tischen und anderen Gefangenen zu unterscheiden; auf Grund dieses rosa Dreiecks erlitten sie oft eine besonders unmenschliche Behandlung. 26. Juni. Innerhalb von 12 Stunden wurden vier Männer gefasst, zwei davon Teenager, und des Mordes an Robert Hillsborough angeklagt, einem 35jährigen Stadtparkgärtner. Er starb an 19 Messerstichen, während seine Mörder schrien: Tucke! Maria S. wurde aus der Armee wegen homosexueller Neigungen entlassen. 9. Juli. Mitglieder der Miami Beach Kirche diskutieren über die Entlassung eines Geistlichen, der sich für die Schwulen eingesetzt hat. 15. Juli, lßjähriger verhaftet. Er wird verdächtigt, am 26. Juni einen Homosexuellen in Coconut-Grove, Miami, angeschossen zu haben. 18. Juli. Die Verhaftung von Hill und Kearny, die verdächtigt werden, 28 Müllsackmorde an jungen Männern begangen zu ha­ ben, was sie zu den grössten Massenmördern des Jahrhunderts machen würde, kann das Gay-Rights Mouvement im Lande be­ einflussen. Es wird Leute geben, die sagen: Seht, so handeln die Homosexuellen. Seht, Anita Bryant hat recht. 2. August. Fall von Homosexualität zum Supreme Court. 13 Jahre lang war Gaylord Lehrer in der Wilson Hochschule. Er verheimlichte seine Homosexualität in der Schule und sogar vor seinen Eltern. 1972 erzählte ein ehemaliger Student, der kurz mit ihm über Ho­ mosexualität gesprochen hatte, dem Vice-Principal der Schule, er glaubte, der Lehrer sei homosexuell. Am 24. Oktober wurde er gefragt, ob er homosexuell sei. Der Lehrer bejahte. Die Schulverwaltung feuerte ihn am 21. November.

Mittwoch, den 3. August: Hotel Fontainebleau. Bringing in food

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for consumption is a violation of health and sanitary laws causing insects and is strictly forbidden.

Clubhouse Bath. Diskussion über Anita Bryant. - Die Rechte der Schwulen sind bereits in der Verfassung der Vereinigten Staaten garantiert; es war ein Fehler, sich auf eine Abstimmung einzulassen. - Auch in Kuba gibt es noch Homosexualität. - Sie können die Natur nicht ändern. - Viele lernen es gerade in den Konzentralionslägern. Im Fernsehen eine Talk-Show. Einer kommt mit Hakenkreuzbinde und macht den Deutschen Gruss. Die Schwulen in ihren feuchten Handtüchern lachen. Lustig.

Innen sieht das Fontainebleau-Hotel aus wie das Haus in Space Odyssee, wo die gealterten Raumfahrer sich ausruhen. Hier jetzt ein Kongress von Divine Light. Alle heben sich - in Jeans und indischer Baumwolle. Sie suchen die Power und haben käsefarbene Kinder an verschie­ dene Stellen ihres Körpers geschnürt. Fake-Gandhis in Fake-Rokoko.

Warehouse VIII. Gespräch mit dem Portier. - Der älteste Sohn von Anita Bryant lässt sich einen blasen. Da bin ich ganz sicher. - Die Kubaner sind ein Problem in Miami.

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- Sie weigern sich Englisch, zu lernen. Sie können sogar die Fahr­ prüfung auf spanisch machen. - Die weissen Kubaner sind am spiessigsten. - Seit der Kampagne von Anita sind die Orgie-Rooms in den Schwulen-Bars geschlossen worden. - Die kubanischen Nachbarn von Warehouse VIII beschweren sich, dass die Kinder verdorben würden. Plain-Cloth-Men, Polizisten in Zivil überall - aber man erkennt sie daran, dass sie schwarze Stiefel tragen. - Wo Neger hinziehen, ziehen die Weissen weg. - Mit den Schwarzen ist immer trouble.

Die Leute lächeln einen so heftig an, als hätten sie ein schlechtes Gewissen. Sieht man einen etwas länger an, nickt er eilfertig und grüsst. - Hallo! Hubert, sagt der Fahrstuhlführer. Kennt er mich? Ich sehe an seinem schon wieder unbeteiligten Gesicht - es ist nur eine rhetorische Figur.

Poliklinik Mount Sinai. Eine Greisin wird eingeliefert. Sie schnattert vor Angst. Ihr Herzschrittmacher hat ausgesetzt. Thermometer in den Mund. 1. Fragebogen. 2. Fragebogen am Composer. Religion? Ein Arzt sieht zu ihr rein. Eine junge Ärztin sieht zu ihr rein, kommt wieder raus, lacht sich schief und sagt etwas Verächtliches zu ihren Kollegen. Eine Greisin wird auf einer Bahre eingeliefert. Eine Greisin wird hereingeführt. Sie rülpst ohne aufzuhören.

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Club Miami. Jean, der Haitianer. - Die Amerikaner stehen auf, wenn sie gefickt haben und sagen nicht einmal Auf Wiedersehen. Jean ist verheiratet. Seine Frau ist aus Hawai. Sie sagt: Ich steh auf deinen Arsch. - Mit Männern lässt sie mich. Aber nicht mit anderen Frauen. - Sie ist im vierten Monat. - Sie will jeden Abend. Aber ich will mit ihr nur 3, 4 Mal in der Woche.

How are you this morning? How do you feel today? I would be happy to. Sure! Is everything allright? I hope to see you again. Sorry, we are closed. Yes, we are open! Thank you so much for coming. Enjoy your meal. Have a nice evening. The pleasure was mine. Great! Gorgeous! Take care of your seif. You are welcome. Nice to meet you. We shall miss you. Thank you. Be good!

Der Haitianer Jean hat einen nervösen Tick. Er zwinkert zu oft mit dem linken Lid. Um Haiti verlassen zu können, hat er eine ältere Frau aus Miami geheiratet.

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Greater Miami Telefonbuch Gelbe Seiten 1976-1977 Rund 1900 Seiten. Abdominal Supports Abstractors 30 Seiten Airconditioning Ambulance Ammunition Amüsement 46 Seiten Attorneys 90 Seiten Automobiles 9 Seiten Churches 10 Seiten Draperies and Drapery 9 Seiten Funeral 30 Seiten Fumiture 5 Seiten Guards 2 Seiten Gems 6 Seiten Hospitals 8 Seiten Hotels 30 Seiten Insurance 6 Seiten Landscape 16 Seiten Moving 10 Seiten Nursery, Nurses, Nurserymen 2 Seiten Oxygen 7 Seiten Pest 50 Seiten Physicians - Ärzte Davon zweieinhalb Seiten Psychiatrists, Psychologues etc. 23 Seiten Real Estate - Grundstücke 31 Seiten Restaurants 21 Seiten Television 1 Seite Wigs - Perücken.

Hotel Fontainebleau: Salut zu Deutschland. Fontainebleau bietet den Besuchern eine Auswahl of Sport. Es gibt zwei 18 Locken Meigterschaffs-Golfplätze mit unbegrenzt freien plielen, die nur wenige Minuten vom Hotel enfernt sind und zu denen ein kostenloser Limousinentransport durchgeführt wird. Weitere zugängliche Betriebsamkeiten.

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Greater Miami Telefonbuch 1976-1977 Gelbe Seiten Churches African Methodist Episcopal Baha’i Assembly of North Dade Baptist Churches Catholic Churches Christian Sciences Church of Christ Eastern Orthodox Episcopal Evangelical Islamic Jewish Latter Day Saints Lutheran Mennonit Methodist Nazarene Orthodox Pentecostal Presbyterian Reformed Religious Science Russian Salvation Army Unitarian.

Der kubanische Neger M. ist ein Babalawo, ein Wahrsage­ priester. — Ich habe in Miami die erste Lucumikirche der Welt gegründet. Er zeigt eine polizeiliche Genehmigung vor mit Briefkopf und Stempel. Er sagt, mit kubanischem Akzent: - Lets talk business. Er möchte mich zum Priester weihen, damit ich eine Branche sei­ ner Kirche in Venezuela errichte.

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Er gibt eine Zeitschrift heraus und einen Ratgeber in allen re­ ligiösen Fragen. Sein Büro befindet sich in einem grün angcslrichenen Law Office. Er hält nicht viel von der kubanischen Schriftstellerin Lydia Cabrera. Sie ist widersprüchlich wie die Bibel. Wenn man in den Kreisen der Santeria eine Auskunft für zweifel­ haft erklärt, sagt man: Das meint Lydia. - Lydia hat behauptet, Orula und Ogum, der Gott des Krieges, hätten ein Verhältnis zusammen. Das ist ein Sakrileg. Ich schätze M. auf 50. - Ich bin der erste Babalawo, der in Miami eingeweiht worden ist. - Ich bin Kongo. Lucumi und Kongo. Er zeigt mir sein Ekuele, seine Wahrsagekette. Wir gehen einen kubanischen Sandwich essen. Nachmittags hat er keine Zeit mehr. Er hält in seinem Law Office Konsultationen ab. Im Vorzimmer brennt auf der Erde eine Funzel. Püppchen hocken daneben - die Yorubagottheiten aus Kuba. Ich sehe einen grauen Muddkopf — Augen und Mund aus Kauris. Es ist Elegba, Eschu, Legba, der Matschberg, der Pimmel, der Götterbote.

Donnerstag, den 4. August: Miami Herald. Kann ich ganze Avocados einfrieren? Sonderbeilage Fressanzeigen 28 Seiten: Wir sparen Ihr Geld. Sparen Sie 15 Cents bei drei Rollen. Sie sparen 2 Dollar 13 Cents. Sie sparen 15 Cents. 7 Cents weniger. Sie sparen 10 Cents. 25 Cents weniger. Sie sparen bis zu 2 Dollar 50. Sie sparen 25 Cents. Sie sparen 15 Cents.

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Zum Tempel von M. Eine von ihm Eingeweihte, seine »Tochter«, macht vor seinem Strassenkreuzer die Tür auf. Schäferhund. Die Plastikeinrichtung aller afroamerikanischen Priester. Ein überlebensgrosser Heiliger Christopherus. Buffets voller Götter und Indianer. Im Altarraum neben den bekannten Utensilien zwei blaue Por­ zellantöpfe mit violetten Korallenfächern. Im Garten Swimmingpool und Gipspielä von Michelangelo in Originalgrösse. Heilige Bäume, Götterfiguren, geistliche Blitzableiter. Eine heilige Abwässergrube. Ein Tempelraum voll mit präpariertem Rehkopf, Totenköpfen aus Plastik, gehäuften Tierknochen, einer Hose, einem Schellen­ stab, Frauenschuhen, Fahrrad, Wespen, die den Priester stechen und vertreiben. Auf der Toilette, neben dem Sitz Utensilien für den Totengott, zwei Tafeln, Dachziegel, voller Kreideeinsen und Kreidenullen, Blutspuren, an denen Federn kleben, Teller mit Essen, Kerzen, brennend, Kaffee. Pfeile, ein Spazierstock. M. sagt: — In Kuba schmecken die Früchte besser als hier. In der Küche bereiten mehrere weisse Kubanerinnen, M’s. schwar­ ze Frau und sein Sohn Francisco das Essen vor. Eine Taube und Angolahühner werden gerupft. Bier. Cola. Kaffee. Ein Polizist kommt und verwarnt M. wegen des streunenden Schäferhundes.

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M. kann sich kaum mit ihm auf amerikanisch verständigen. In einem grossen, kahlen Zimmer versammeln sich zehn Frauen, fünf Männer, drei Jungen. Frau M. stellt eine weisse Plastikbalje voller Wasser auf den Boden. Sie löst Wäscheblau darin auf und streut weisse Chrysanthe­ menblüten hinein. Sie spült ihre Hände darin ab, schnalzt mit den Fingern, be­ streicht sich den Nacken, die Haare, die Kniekehlen, die Beine. Alle Versammelten vollführen nacheinander diese Geste der geist­ lichen Reinigung. Frau M. setzt sich neben einen Tisch. Darauf eine weisse Spitzendecke, Chrysanthemen, Cognac­ schwenker. In einem Cognacschwenker Wasser und ein silbernes Kruzifix. Frau M. parfümiert sich. Sie gibt die Parfümflasche weiter. Alle parfümieren sich im Sitzen. Frau M. liest Gebete und Hymnen aus dem kleinen Devotionarium von Allan Kardec. Frau M. sagt: - Redet frei. - Keiner ist hier mehr als der andre. Eine Frau sagt: - Ich habe von einer Frau im Cognacschwenker geträumt. Die sah aus wie die Göttin Yemaya. Ein dicker, etwa 25jähriger Sohn von M. hüpft herzu und gibt flatternde Kommentare: - Wie heisst das noch?! - Manchmal seh ich was, manchmal seh ich nichts. - Vielleicht haben Sie eine Feindin, die insgeheim etwas gegen Sie plant? Die Frau nickt. Der dicke Sohn von M. hüpft wieder hinaus. Alle singen ein Kirchenlied. Der Maurer Manolo sagt mit nassen Augen: - Ich muss immer weinen. Eine Frau: - Wehr dich nicht dagegen. - Weine.

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- Rede. - Das ist ein Geist, der aus dir sprechen will. Wieder ein Kirchenlied. Manolo lehnt sich mit tränenerfüllten Augen zurück. Eine Frau steht auf, ergreift Manolos Hände, vollführt kreisende Bewegungen damit. - Herbei! Herbei! Du, Geist! - Rede, damit man weiss, worum es geht! Manolo atmet laut. Er zittert. Tränen laufen aus seinen Augen. M. sagt: - Ein Toter! Ein Toter! Manolo schluckt heftig. Er nennt den Namen seines Grossvaters. M.: - Eine Verdoppelung! Kirchenlieder. M. holt einen Wedel und ein Hirschhorn, an dem ein grüner Per­ lenbeutel hängt. M. geht auf Manolo zu. M. rüttelt Manolo. Manolo stürzt sich auf M. Manolo beruhigt sich und setzt sich wieder. Eine Frau begrüsst mit geschlossenen Augen einen nach dem ande­ ren, sagt wahr, betastet die Körper der Gläubigen. Zum Schluss werden die Cognacschwenker genommen, zu einem Kirchenlied drehen sich die Gläubigen im Kreis und um sich selbst. Sie giessen das Wasser aus den Cognacschwenkern in den Garten.

Während dieser spiritistischen Zeremonie, die von M.’s Frau gelei­ tet wird, krault der Vater den kleinen Francisco, die Mutter krault ihn, alle die Gläubigen. Der dicke Bruder küsst seinen kleinen Bruder. M. küsst Francisco. Die Mutter küsst ihn. Die Frau rät einer Mutter mit zwei Söhnen: Ochun sagt: Der Kleine darf nicht an den Kopf geschlagen wer­ den. Die Mutter entgegnet: 166

- Das tu ich auch gar nicht! Der kleinere Bruder sieht den grösseren an. Er schlägt sich selbst an die rechte Wange. Er sieht den grösseren Bruder an. Er schlägt sich selbst an die linke Wange. Er sieht den grösseren Bruder an. Er schlägt sich auf die beiden Augen. Und ans Kinn. Er zieht sich selbst am Haarschopf und deutet mit der Faust auf seinen grösseren Bruder. Der guckt wütend.

Manolo und Lily fahren mich ins Hotel. Manolo sagt: - Ich bin ein Aboku. - Ich wurde deshalb mit 12 dem Gott Ogum geweiht. - Ich trage eine Eisenkette am Fuss, weil ein Aboku sonst leicht stirbt. - Ich sollte mit 15 füsiliert werden. - Wir wohnen auf dem Lande. - Ich habe noch nie so etwas erlebt wie heute abend. - Ich hatte Angst. Mir wurde heiss und kalt. Ich sah Nebel. Ich fühlte mich verlassen und klein in einem nebligen Nachthimmel ohne Sterne. Nachher war ich wie erleichtert. - Lily wollte immer ein Kind haben. - Es hat sie sehr verwundert, dass die Göttin Ochun, die Frau mit den geschlossenen Augen, den Unterleib betastete.

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Freitag, den 5. August: Newsreel: Der verwundete Killer eines Polizisten, der eine Blutspur hinter sich her zeichnete, löst Menschenjagd aus. Die Polizei sucht Felix Ramon Cärdenas Casanova! Exilkubanische Terroristenorganisationen bedrohen Kubaner in den USA: Nicht mehr für die Carter-Administration arbeiten! Das State Department und Castro tauschen Informationen über kubanische Terroristen aus! Sechs in der Todeszelle. Wird der Gouverneur die Hinrichlungsurkunde unterschreiben?

An der 22. Strasse eine Klappe und ein schwuler Strand. Strich für Achtzigjährige. New Yorker und Kubaner.

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Für Felix Ramon Cärdenas Casanova, gesucht wegen Totschlags an Bradley Glascock. In einem Gespräch mit der Miami News sagte der öffentliche Ver­ teidiger Bennett Brunner heute, dass er vermitteln will, wenn Sie sich stellen wollen. Die Telefonnummer des öffentlichen Verteidigers ist 547 - 4g 33. Am Mittwoch, den 10. August, auf der Titelseite auf amerikanisch und spanisch.

Zu Manolo. Eine Reihenhaussiedlung ausserhalb Miamis. Äcker. - M. hat was mit der Revolution der Exil-Kubaner zu tun. Des­ halb musste er nach Mexiko. Und deshalb will er mit seiner Lucumi-Kirche so viel Geld verdienen. In Mexiko hat er angeblich eine halbe Million Dollar zugesetzt. - Alle Kubaner hier sind mehr oder weniger in eine Revolution gegen Castro verstrickt. - Ich habe mich geweigert. - Ich habe gesagt: Revolution gegen Castro? Das ist zu spät. - M. war früher ein Castro-Anhänger. Als Castro sich an die Rus­ sen verkauft hat, begann er gegen ihn zu kämpfen. Viele Babalawos und Santeriapricster waren für Castro. - Auch Castro ist eingeweiht. Castro trägt immer zwei Armband­ uhren und dazwischen das Lederarmband seines Gottes. - Castro kann gar nichts gegen die Santeria machen, denn das ganze Volk glaubt daran. - Als junger Mann habe ich mit der Geheimgesellschaft der Abakua zusammengelebt. Ich habe alles gesehen. - Bei den Nanigos werden keine Schwulen geduldet. - Die Nanigos, die Felix-Guzman, die Kimbisa machen alle den Blutpakt. Beide Blutsbrüder schneiden sich jeder die Pulsadern auf und halten die Wunden gegeneinander. - Ich bin heute 29 und wurde 1960 mit 12 Jahren eingeweiht. - Sie machten ein Blutbad. - Ara Tage des Ita kommen die Babalawos und sagen die Zukunft und die Vergangenheit. - Vorher sass ich auf einem Thron aus Büschen.

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- Tiere liefen dazwischen herum. - Der älteste Babalawo fragt die Götter, welche Tiere geschlach­ tet werden sollen. Dann werden die Tiere über dem Novizen geschlachtet. - Ich lief hinaus. Ich ergriff Hunde und biss hinein. - Ich fühlte mich nachts verlassen und voller Angst. - Mit 16 verliess ich Kuba. - Ich war nicht für Castro und nicht gegen ihn, aber die Schika­ nen begannen. - Ich liess die Suppenterrinen, in denen die Götter aufbewahrt werden, bei meiner geistlichen Mutter und bei meinem geistlichen Vater. M. gab mir hier, ohne Geld dafür zu verlangen, neue Götter. - Ich pflanze im Vorgarten viele heilige Pflanzen, auch Kakteen für den Heiligen Lazarus. - In Miami werden die Kulte unterdrückt. - Man braucht Genehmigungen und darf keine Opfertiere schlachten wegen der Tierschutzvereine. Wenn man beim Opfern erwischt wird, muss man 500 Dollar Strafe zahlen und kann zwei oder drei Monate ins Gefängnis gehen.

FBI: Cärdenas aus Florida geflohen!

Andy, Neger, 48. Verheiratet. Lehrer. Ein autistischer Sohn. Zwei Töchter. - In der Schule dürfen sie es nicht wissen. - Ich gehe nicht in die Schwulen Bars, aus Angst, dass mich dort jemand erkennt. - Wenn ich zur Klimax kommen will, muss ich bei meiner Frau an ein Erlebnis mit einem Mann denken. - Ich war auf dem Virginia Key. - Auf der Klappe an der 14. Strasse.

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- Neulich nachts beobachtete ich dort einen Überfall. Ich hatte jemanden auf den Knien gesehen, wie er einem anderen einen blies. Später hörte ich die Schreie. Wir fahren auf den nächtlichen Virginia Key. Meer. Eine Plastikdecke. Voyeure in Jeeps. Andy gerät in Panik, als sein grosser Wagen im Sand stecken­ bleibt. Aber wir kommen wieder los.

Donnerstag, den 11. August: Newsreel: Raoul Llerena, ein Mann, der Cärdenas ähnlich sieht, lebt in Angst. - Ich bin es nicht. Ich bin es nicht! Raoul Llerena wacht nachts schreiend auf. Das ist ihm zweimal seit Sonnabend passiert. Edouardo Perez: - Wenn ich Polizist wäre, würde ich ihm sofort in den Kopf schiessen und die Belohnung kassieren. Raoul Llerena: - Ich kann mir keine Schönheitsoperation leisten.

Cärdenas gibt auf. Ein Freund von Cärdenas telephonierte mit der Polizei von Miami und sagte auf spanisch, Cärdenas wolle sich ergeben, ohne Auf­ sehen. Keine Kameras, keine markierten Autos, keine Lichter, keine Si­ renen, keine Uniformen. Zwei Polizisten ohne Uniformen trafen Cärdenas an einer Kreu­ zung in Little Havanna und er ergab sich. Mehr als sieben Tage hatte Cärdenas Hunderte von Polizisten irre geführt, die Strassensperren aufgestellt hatten und Wälder, Dickichte und Häuser von den Key Inseln bis nach Palm Beach durchkämmten. 171

Windward Ressort. »Wo Schwulsein das Normale ist!« Nylonrasen. Mädchen mit gigantischen Ärschen. Ältere Lauernde. Ein alles Ercundespaar, das beim Dosenbier voneinander weg­ guckt. Leere angegammelte Matratzen. Gelbschwarze Liegen. Gelbschwarze Stühle. Gefärbte Haare.

Der Wal’fenhiindler kauft sich auf Key Biscayne für 177 000 Dol­ lar ein Appartment.

Sonnabend, den 13. August: Newsrcel: Feodore Fedorenko, 70, ein ehemaliger ukrainischer Soldat, der in Miami Beach zwischen den tätowierten Überlebenden der Konzenlralionsläger des III. Reiches lebt, wird verdächtigt, in Maidanek und Treblinka, wo iiu Zweiten Weltkrieg 1,5 Millionen Juden getötet wurden, an der Ausrottung von Juden mit betei­ ligt gewesen zu sein. I no kill no one, sagt Fedorenko.

Billy, der amerikanische Neger im R&R. Er ist fest mit einem Deutschen befreundet. Aber er geht in den Orgieroom des R&R. Er arbeitet als Grundstücksmakler.

Zeugenaussage von G. B., jetzt 76, der Barbier in Treblinka war: Ich sah, was Fedorenko tat: Er tötete und schlug mit seinen blos­ sen Händen.

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M.: - Warum bist du nicht zur Party für den 15. Geburtstag meiner Tochter gekommen?! - Ich hatte 2000 Gäste eingeladen. - Es war im Ungarischen Club. - Ich habe eine Rede gehalten. - Sie hatte alte kubanische Festtracht an. - Dann wurde Menuett getanzt. - Später haben wir auch religiöse Tänze aus der Sanleria getanzt. - Sechs Fotografen waren da.

Zeugenaussage von E. T., jetzt 63: Fedorenko kam zu ihnen und sagte: Wir wollen Spazierengehen. Dann nahm er sie mit zum Lazarett. Es war alles getarnt. Die Totengruben waren als Fcldkrankenhaus getarnt. Dann schoss er eine Kugel in ihren Nacken und liess sie fallen.

Die Kette der schwulen »Club«Bäder: 40 in den USA. 3 in Kanada.

Fedorenko lebt wie die meisten in South Miami Beach in einem kleinen properen Appartment, mit einer Mezuzah, einer zigaret­ tengrossen Rolle aus Pergament mit hebräischen Segenssprüchen, an seinem weissen Türpfosten. Er ist stolz darauf - wie die Überlebenden der Nazi-Konzentra­ tionslager dass er ein widerstandsfähiger alter Mann ist und noch meilenweit täglich geht.

Nachts fahre ich an die Ecke der ersten und achten Strasse. Ich sehe zu dem vereinzelt stehenden zweistöckigen Holzhaus hoch.

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Dori hinter den Fl iegengi Ilern das Unheimliche: Die verwesenden Schweine. Die greise Priesterin. — Die Götter essen. In der Mulde in Bahia de lodos os Santos der Ewepriester Vicente, wo die Kinder geopfert wurden: - Der Gott isst.

Sonntag, den 14. August: Newsrecl: Fcdorenko schlägt vor Angst die Tür zu. Max Bleiberg, ein gläubiger Jude, sagt: - Ich kenne Fedorenko nicht gut. - Er ist ein ruhiger Mann. - Er griissl uns immer auf seinem Weg zum Baden. - Er badet zwei oder drei Mal täglich. - Ich habe vergessen. Ich habe alles vergessen. Ich will nicht über Treblinka reden, sagt Fedorenko erregt. Die Überlebenden von Maidanek und Treblinka erinnern sich: Mil Hilfe eines 200 Mann starken Kommandos, das von Fe­ dorenko angeführt wurde, wurden 830000 Juden entkleidet, ge­ schoren, gefoltert, vergast und verbrannt.

Die Wetteranzeige im Fernsehen. Der Mann gerät an seinen Tafeln und Karlen immer mehr in Trance. Er kaut und pupst die Wörter immer schneller, ohne Pausen her­ vor. Er kann nicht mehr aufhören. Ein säkularisiertes Delire Verbal.

Montag, den 15. August: Newsreel: Solange keine Anklage erhoben ist, kann Fedorenko fliehen. 174

M. in seinem Law Office. Heute blaue Bäckermütze und blaues Hemd. Sonntag weiss und weiss. Neulich violett und violett. Ganz violett von oben bis unten.

Montag, den 15. August: Telefonanruf: Auf dem Internationalen Flughafen von Miami haben die Luis Boitel Commandos als Vergeltung gegen die Festnahme der exil­ kubanischen Bosch Guerillas ein Flugzeug der venezolanischen Luftwaffe angegriffen. Das nächste Mal könnte es ein Passagierflugzeug sein. Denken Sie daran, es gibt politische Gefangene in Amerika. Luis Boitel war ein politischer Gefangener in Kuba, der während eines Hungerstreiks gegen die Haftbedingungen in kubanischen Gefängnissen 1972 starb.

Zu Manolo in eine Reihenhaussiedlung vor der Stadt. Manolo hat mit Fusspilzen zu tun. - Mein Fuss ist so entzündet, dass ich kaum gehen kann. - Die ganze Stadt Miami ist auf Sumpf gebaut. Daran liegt es. - Auch arbeite ich auf dem Bau dauernd im Feuchten. - Die Pilze wachsen überall wieder durch. - Ich kenne einen guten Babalawo, der kann euch viel berichten. - Aber ich will nicht mehr mit ihm verkehren. - Es ist der Vater meiner zweiten Frau. Ich war drei Mal verhei­ ratet. Ich habe aus der ersten Ehe einen 13jährigen Sohn und aus der zweiten Ehe einen Jungen und ein Mädchen. Lily hat noch kein Kind. - Meine zweite Frau war sehr eifersüchtig. Sie hetzte ihren Vater, den Babalawo auf, dass er einen bösen Kongozauber für mich machte und ich sterben sollte. - Das Zauberpaket brachte mir mein eigener Sohn ins Haus. - Ich hatte dann allerhand Unglück. Mein rechter kleiner Finger wurde steif.

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- Ich habe mir daraufhin einen Freund gedungen, der den Babalawo umbringen sollte, wenn das nicht aufhört. - Ich liess dem Babalawo sagen: Halb bin ich ein gläubiger Mann. Aber halb bin ich ein Ehrenmann. Wenn der Zauber nicht nach­ lässt, lasse ich dich umbringen. - Heute spreche ich nicht mehr mit ihm. Aber da er ein guter Ba­ balawo ist, werde ich es einrichten, dass ihr ihn kennenlernt. - Ich hoffe, dass ich bald viel Geld verdienen werde. Dann gehe ich äusser Landes. Nach Puerto Rico. Da lasse ich mich dann weiter einweihen. In Puerto Rico ist alles viel einfacher. Das ist ein lateinisches Land und die Polizei unternimmt nichts gegen die Santeria-Zeremonien. - Hier in Miami sind die Tieropfer verboten. Hier gelten Tiere mehr als Menschen. - Die USA sind nichts weiter als der Kommunismus mit viel Waren. - Sie überwachen hier jeden Schritt. Als ich mal auf die Polizei musste, sagten sie mir genau, wann ich in New York gewesen war, wann ich wieder abgereist bin und in welchen anderen Bun­ desstaaten ich mich aufgehalten habe. In Kuba wird gesagt: Wer nicht arbeitet, der soll nicht essen. Aber als ich in Kuba lebte, konnte ich nicht arbeiten und ass trotz­ dem, weil mich Freunde und Verwandte zum Essen einluden. Wenn hier einer nicht arbeitet, verhungert er. - Die Menschen sind hier keine Menschen mehr. - Als wir aus Kuba ankamen, halfen wir, wenn einer nach dem Verkehrsunfall auf der Strasse lag, und dann wurden -wir von dem Verunglückten zu Schadenersatz verklagt. Amerikaner rühren einen Verunglückten nicht an. Die Polizei kommt und rührt ihn nicht an. Die Ambulanz kommt und die lädt ihn ein. - Power ist das Wort hier. - Wer Geld hat, hat Power. Er kann einen Mord begehen und läuft frei auf der Strasse rum. Der Rechtsanwalt spricht mit dem Richter und besticht ihn. Am Tage des Urteils weiss der Ange­ klagte längst, was er für eine Strafe erhält. - Ich selbst werde unmenschlich und schicke die Nachbarskinder weg, wenn sie hier spielen wollen, denn wenn ihnen hier was pas­ siert, stellen die Nachbarn Schadenersatzansprüche. - Das haben wir Kubaner hier gelernt.

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- Morgens keine Zeit zum Frühstück. - Im Wagen eine Tasse Kaffee runtergiessen. - Eine halbe Stunde Mittagszeit. Jeder. Um zu essen und aufs Klo zu gehen. - Nein. Nach Kuba möchte ich nicht zurück. - Rassismus hat es in Kuba nie gegeben. - Hier in den kubanischen Restaurants von Miami kann man nur die amerikanischen Neger nicht ausstehen mit ihrem schlechten Benehmen und ihrem grässlichen neurotischen Gehabe. - In Kuba hatte man nur etwas gegen Ehen zwischen Weissen und Negern. Mit solchen Leuten redete man nicht. - Neger haben schlechtes Haar - pelo malo. - M. hat schlechtes Haar. Seine Frau nicht.

Im Reformhaus Oak Feed: Karottentorte.

Essen im Mutiny-Club. Keine flache Freundlichkeit oder unechte - Hass. How are you today heisst nicht: Na, du Oymel, was machst du denn? Es heisst, wenn man die Gesten wahmimmt, unter denen es geäussert wird: - Halt bloss das Maul, du Idiot! - How is your meal? - Fang bloss nicht an, über die Scheisse auch noch zu meckern! - Do you want some more champain? - Los, rausreissen, du Stoffel! Die Bunnies mit ihren Hüten sind keine Andeutung von verzwängter Erotik - sie sind eine Kastrationsdrohung. Anita Bryant als Playmaid of the month.

Dienstag, den 16. August: Newsreel: 61 Haitianer suchen in kleinem Segelboot Asyl in Miami.

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Die Frauen wurden in das Frauengefängnis von Miami gebracht. Die Männer ins Gefängnis Palm Beach. Der Immigrationsoffizier Mariano Faget sagte, die Flüchtlinge würden nicht ohne weiteres als illegale Einwanderer nach Haiti zurückgeschickt werden. Im ganzen sind etwa 2000 Haitianer nach Süd-Florida gekom­ men.

Kalorienarme Hundekost.

Newsreel: In Port-au-Prince unterstrich US-Botschafter Adrew Young die Verteidigung der Menschenrechte durch die Carter-Administra­ tion. Federenko entkommen. Der Vermieter zeigt das leere Zimmer.

Abends zu Carlos Canet nach Hialeah. Proletarierviertel mit Wildlife Reserve und Rohrbruch. Lokstedt mit Negern. Canet hat sehr helle, grosse, etwas atavistische Augen - oder sie sind nur unverhältnismässig vergrössert durch die dicken Brillen­ gläser. Alt? So wie sie immer alt sind. Das Alter von Orestes, von Andre Pierre, von Pedro de Batefolha. Schuhe vor dem Konsultationszimmer ausziehen. Canet setzt sich auf die Erde. Ich soll mir einen kleinen blauen Hocker nehmen. - Das hier ist ein Kultraum und ein kleines Musetun. - Die Informationen von Forschern wie Fernando Ortiz und Lydia Cabrera beruhen auf Bestechung. - Lydias Vater war Rechtsanwalt und Fernando Ortiz war Rechtsanwalt. 178

- Lydia hat den armen Teufeln ein paar Schnäpse ausgegeben und dann wartete sie, bis sie sprachen. Der Vater und der Onkel haben den Negern in ein paar ver­ zwickten Rechtssachen geholfen. - Aber die Neger haben nicht alles gesagt, denn sie wollten nicht, dass die Weissen die afrikanischen Religionen kennen. - Erst ab 1900 begann der Einfluss der Weissen und schliesslich gab es in der kubanischen Santeria mehr Weisse als Schwarze. - Hier in Miami herrscht eine ungeheure Kommerzialisierung. Die Priester haben religiöse Kaufhäuser eingerichtet. »Sie möch­ ten keine Santeria?! Bitte, wir machen auch Palo Monte oder Mayombö. Meine Frau kann mit spiritistischen Sitzungen die­ nen!« - Aber es ist möglich, dass diese Santeriawelle nicht anhält. Heute gibt es täglich 10 bis 20 Kubaner, die auf Kuba politische Schwie­ rigkeiten haben. Sie lassen ihre Verwandten drüben und fliehen nach Miami. Sie leben in einer psychisch schwierigen Situation und suchen in der Santeria Halt. - Aber wer sagt, dass das ewig so weitergeht. - Ich möchte die Santeria reformieren. - Jede Religion hat sich weiterentwickelt. Warum nicht die San­ teria?! - Ich will das Regnum der Furcht und der Unsicherheit in der Santeria ausrotten — und die blutigen Riten. - Auch in Afrika, in Nigeria gibt es immer weniger blutige Riten. Die Leute können sich keine Opfertiere mehr leisten. - Ich war in Afrika. Aber das Yoruba, das die sprechen, verstehe ich nicht. - Ich habe es aufgegeben, Yoruba zu lernen. Ich bin Kubaner und mache Santeria, nichts anderes. - Ich glaube, man sollte sich bei den Heilungen nicht allzusehr auf die Kräuter verlassen. Heute hat man die moderne Medizin und die kann das besser. Früher hatten die Leute ja nichts Andres als Pflanzen. - Ich halte jeden Dienstag in einer Botanica, in einer Devotiona­ lienhandlung, Konsultationen ab. Gestern kam eine Frau, die sagte: Ich lasse mich von Ihnen be­ handeln unter der Bedingung, dass Sie mich zuende anhören, wenn Sie mich nicht bis zuende anhören, sterbe ich. Sie hatte Schmerzen überall, Angstträume, Todesfurcht. Darauf­

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hin konsultierte ich das afrikanische Orakel Ifa und ich sagte: Da ist etwas sehr Hübsches herausgekommen. Sale una letra muy bonita. Ausserdem sollte sie mal zum Arzt gehen. Nicht zum Psychiater, denn sie hätte ja Angst, dass man sie für verrückt er­ klärte. Zum Internisten. Ich glaube, sie hatte was mit der Leber und eine leichte Schilddrüsenüberfunktion. Sie verliess mich als ein völlig neuer Mensch. Canet hat Zauberkräuter aus Afrika mitgcbracht. Er öffnet den Eisschrank und holt aus einer Wurstschachtel die heilige Obinuss - die Colanuss. Er hat auch Orobo und Pedjeregum und etwas, das aussicht wie ein roter Pilz und etwas Schwarzes, Muschelartiges. Canet fertigt die heiligen Rasseln selbst an. Ich sehe bei ihm die gleiche Krone aus roten Federn, die ich in Dahome, in Ouidah ein einziges Mal gesehen habe, bei einer Ein­ weihungszeremonie. - Religion ist dazu da, die Mächtigen zu binden, sagt Canet. Er war auf dem Kongress der Hexenmeister in Bogota und hat einen Vortrag über Menschenopfer gehalten. Er stellt mich in der Fernsehlounge seiner Frau vor und einer geistlichen Tochter, die er Changö geweiht hat. Eine seiner geistlichen Töchter ruft aus San Francisco an.

Freitag, den ig. August: Newsreel: Beamte müssen entscheiden, ob Mafioso nach Florida umsiedelt. Zicarelli lieferte Waffen in die Dominikanische Republik. Auch verkehrte er mit Capitol Hill in Washington, mit einem Mann, der ehemals ins Weisse Haus sollte.

M.: - Zu Zeiten meines Grossvaters musste man auf Kuba warten, bis er zu essen anfing. - Ein Liebhaber musste ein Jahr warten, bis er auch nur ins Haus gelassen wurde. Dann durfte er von 8 bis io mit seiner Auser­ wählten in Gegenwart einer Anstandsdame sprechen. 180

- Heute geben die Mütter in Miami ihren Töchtern eine Schach­ tel Präser mit. - In Kalifornien wurden 25 Schwule als Polizisten eingestellt. - Und warum eigentlich nicht. - Wenn mein Sohn schwul ist, soll ich ihn umbringen?! - Soll ich ihn wieder in meinen Schwanz reinsaugen? - Das ist seine Sache, was er mit seinem Schwanz macht. Ein alter Neger mit makellosen Zähnen nickt dazu. Facjon de parier?

Sonntag, den 21. August: Newsreel: Knallkopf I Felix Cärdenas, der Polizistenmörder, tritt im Dade-County-Gefängnis in Hungerstreik. Er denkt, jeder hasst ihn. Axel Springer kauft sich auf Key Biscayne ein. Sonneninsel als Alterssitz für umstrittene Persönlichkeit der deut­ schen Presse? Run der Chefredakteure auf Grundstückspekulanten!

Der Waffenhändler überlegt, ganz nach Miami überzusiedeln.

Zum Virginia Key. Jungfrauninsel. Es ist schon zu spät. Nur drei Schwule laufen noch im Urwald herum. Ein Exhibitionist. Versteckt im Mangrovenunterholz ein Polizeiwagen.

Dienstag, den 25. August: Newsreel:

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Um 9 Uhr 50 ergriff ein Krankenwärter in der Gefängnisabtei­ lung des Jackson Memorial Felix Cärdenas an der Taille, ehe er von einem umgekehrten Papierkorb springen konnte. Cärdenas hatte eine elektrische Verlängerungsschnur an seinem Nacken und an der Türangel befestigt. Später vor Gericht: Cärdenas spricht fast kein Englisch.

M. führt uns in ein Wohnhaus, wo der Dia del Medio abgehalten wird. Der Tag der Mitte der Einweihungsriten. Die Novizen werden in Göttertracht den Verwandten und Freun­ den gezeigt. Bürgerliche Leute. Sie halten Leonore und mich für Nordamerikaner. Wir werden nicht willkommen geheissen. M. ist heute ganz in Rosa. Er nimmt die Sonnenbrille ab. Sein Gesicht ist von den Wespen im Tempel zerstochen. Er hat helle, böse Augen. M. stellt uns seinen geistlichen Vater vor. El Padrino. Der trägt Hellgrün. El Padrino sieht aus wie II Padrino. Die Trommler die einzigen Neger - Kubaner aus New York. Yorubaarroganz — sie erwidern unseren Gruss nicht. Aber ins Einweihungszimmer werden wir geführt. Eine Laubhütte, in der Würste, geräucherte heilige Tiere und kleine Schnapsflaschen hängen. Hier steht der Ogum Geweihte. Ein dicker Junge in grünem und rotem Satin. Leopardenfell an der Mütze. Machete in der Hand. Palmstroh am Gürtel. Schellen am Gürtel und an den Füssen. Ein roter, geschminkter Bart. Rote Striche an den Füssen und Waden. Gegenüber eine weiss ausgeschlagene Nische mit einem Obatala Geweihten.

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Silbrig weiss gekleidet. Er trägt einen silbernen Fächer. Weisser, geschminkter Monjoubart. Neben ihm eine weisse Dame in Spitzenkleid. Die beiden Eingeweihten werfen sich vor jedem Besucher bäuch­ lings auf den Boden. Die Besucher vollführen über dem Rücken der Novizen Zeichen und legen in ein bereitstehendes Körbchen einen Dollar. Die Trommler kommen rein. Sie haben jetzt Bäckermützen auf. Zwei sind grün-weiss gekleidet. Zwei ganz weiss. Eine grosse Trommel. Zwei grosse Kalebassen mit Perlennetzen. Eine kleine Kalebasse. Eine eiserne Hacke, die mit einem Metallstab angeschlagen wird. Eine Frau rasselt mit einer der grossen Kalebassen. Die bleiche Dame wirft ihre Hände hoch und rüttelt in der Luft. Sie fängt an zu taumeln. Eine Frau ergreift die Hände der weissen Dame. Die Dame erwacht. Schämt sich. Will weinen. Aber auch das Weinen kommt nicht richtig. Die Trommler und Rassler gehen in den Living. Eine Frau tanzt wild. Ein Mann holt eine Bimmel. M. bimmelt die Tanzende an. Sie verkantet ihre Kiefer. Sie blickt den Trommlern starr in die Augen. Sie löst sich. Lacht über sich selbst. Sie fängt wieder an. Sie will aus dem Kreis der Besucher heraus. Die lassen sie nicht heraus. Sie bricht aus. M. geht in den Vorgarten. Er taumelt leicht. Er wischt sich den Schweiss ab. Er sagt: - Muy fuerte! — Sehr stark, sagt er. 183

Ich finde das nicht. Und ausserdem - ein Babalawo, der in Trance fällt. Es ist ein Skandal. Auch seine Frau läuft zuckend zwischen den Gartenzwergen des Vorgartens herum. Elfriede Gerstl kommt schwankend in den Vorgarten. El Padrino sieht sie scharf an. Er zieht an ihren Armen. Er führt sie zu seinem Mercury. Gibt ihr auf dem Vordersitz Wasser zu trinken. Vor dem Haus hegen zwei Blätter einer Pflanze, die in Bahia Milagre de Säo Joaquim heisst. Pedros heilige Pflanze. Ich nehme eines davon. Sie merken es nicht.

Montag, den 29. August: Newsreel: Sklaverei in den Lagern der unständigen Landarbeiter. Vorarbeiter arbeiten in Florida und verschleppen Landarbeiter nach North Carolina.

Im Aufzug ein parfümierter Pudel.

Dienstag, den 1. September: Newsreel: 101 haitianische Flüchtlinge stellen den USA ein schmerzliches Problem. Ihnen politisches Asyl geben, ist wegen der Beziehungen der Ver­ einigten Staaten zu Haiti problematisch und sie als Flüchtlinge hereinzulassen auf Grund der zunehmend schlechteren ökonomi­ schen Bedingungen auf Haiti, könnte noch andre zur Flucht ermu­ tigen. .. Das State Department soll von der Regierung des Präsi­ denten Jean Claude Duvalier die Versicherung gefordert und erhalten haben, dass ehe Flüchtlinge ohne Fragen und ohne Re­ pressalien zurückgenommen werden.

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Professor D. lädt zu einer afroamerikanischen Party ein. Ein Herr von einer Presseagentur der Exilkubaner. Aufdringliche Jungen mit Gästelisten. Der Veranstalter biedert sich halblinks an mit Lesungen des Ku­ baners Nicolas Guillen und des Exilhaitianers Rene Depestre. Die Eingeladenen verdrücken sich schnell wieder. Die Jungen laufen ihnen mit den Gästelisten bis zum Fahrstuhl nach. Der Mann, der mit uns runterfährt, will sich auch nicht eintra­ gen.

Die Frau des Waffenhändlers besitzt einen eigenen Kefirpilz.

Sonntag, den 4. September: Bei Carlos Canet läuft neben den heiligen Suppenterrinen, wo die magischen Steine und Muscheln der Götter verborgen sind, das Fernsehen. Früchte sind vor den heiligen Gegenständen aufgehäuft, aber eine Zeremonie findet nicht statt. Geselliges Zusammensein. Exilklatsch. Kein Anwesender redet von einem Abwesenden gut. Keiner dieser weissen afroamerikanischen Priester achtet einen anderen weissen afroamerikanischen Priester. Das ist in Brasilien und Haiti anders. Wenigstens sind die Diffamierungen raffinierter. Unter den Gästen ein Mann, der sich sehr aufmerksam Leonores Buch ansieht. Er sagt: — Da ist vieles Authentische drin. — Man sieht, dass Sie gut arbeiten. — Aber alles ist nicht drin. — In der Santeria wird nicht fotografiert und bei den Kongos erst recht nicht. Es gibt keine Fotos von den kubanischen Riten. Die Fotos in den Büchern von Lydia sind gestellt. Das sagt sie selbst. Ich bin Mayombero. Palero. Kongo. Ich gebe Thnen meine 185

Adresse. Kommen Sic mal. Ein bisschen lasse ich Sie fotografieren. Als Künstler. - Alles lasse ich Sie natürlich nicht fotografieren.

Onyx war hyperactive und wurde von seinen Eltern mit 9 zum Psychiater geschickt. Der Psychiater heisst the shrink. Der Schrumpfer.

Montag, den 5. September: Newsreel: Killer-Kroko von seinem Besitzer zerstört. Der Besitzer des Serpentariums konnte nicht schlafen seit dem Tode des sechs Jahre alten David Mark Wasson, der zwischen den Kiefern des afrikanischen Nilkrokodils Cookie den Tod gefun­ den hatte. Mistress Haast fand ihren Gemahl, Tränen strömten sein Gesicht herunter und er leerte die dritte Kartusche seiner Luger in den massiven Kopf des Krokodils, das seinen dicken Schwanz im Mudd hin und her schlug. - Honey, ich habe ihn getötet, sagte er. Cärdenas wird misshandelt. Er wird nackt in seiner Zelle gehalten und gezwungen, mit den Händen zu essen. 97 von 101 Haitianern, die in einem sinkenden Boot ankamen, wurden von den USA in ihre Heimat zurückgeflogen.

Lydia: - Am Sonntag war ich zu einer Santeriazeremonie eingeladen. - Abendanzug erwünscht. - Ich bin nicht hingegangen. - Ich habe Ihnen nicht Bescheid gesagt. Ich wollte nicht, dass sie so etwas sehen.

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Leonore wird von den Freimaurerinnen zu Kartoffelsalat in den Tempel gebeten.

Esmeralda hat mich bei Bepo Sanchez angemeldet. - Bepo ist einer der ältesten und angesehensten Priester aus Kuba. - Er weiss sehr viel. - Vielleicht redet er. Ein hübsches gelbes Holzhaus. Vorgarten. Springbrunnen. Kaktus. Ein Rehpinscher. Bepo Sanchez sitzt am Eingang im Schaukelstuhl. Ein zarter, untersetzter Mann. Ein gelbes, hinschwindendes Gesicht. Alter oder Krebs? Er sieht sich Leonores Buch an und beim Blättern öffnet er sich. Er kommentiert die Bilder. - Ein Blutbad wird in Kuba nicht gemacht. Höchstens im Falle einer schweren Krankheit. Man nennt es Efün. Bei einem Todkranken, den man schon aufgegeben hat. Manch­ mal gibt dem das Blutbad so viel Kraft, dass er weiterleben kann. Er sagt: - Ich habe sehr abgenommen. Ich bin sehr vermindert. - Was haben Sie denn? - Zirrhose. - Zirrhose?! — - Das Milchbad wird in Kuba gemacht. Hier auch. Um geistliche Kraft zu geben. Die Milch wird für Obatala in ein gewöhnliches Bad gegossen, mit Parfüm und Kräutern. - Hier in Miami sind die Priester nicht rigoros genug. - Ich weihe hier niemanden ein. - Die wollen auch gar nicht von mir eingeweiht werden. Ich bin zu streng. - Das letzte Mal habe ich 1970 jemanden in Kuba eingeweiht. - Damals liess Castro das noch zu. Heute scheint es schwieriger zu sein. - Es war eine 70jährige Frau.

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- Ich schor sie kahl. Hier wollen die Leute ihre Haare nicht opfern. - Die Alten wurden in Kuba nur selten geschoren. Für Obatala schor man nicht. Da schneidet man nur eine Corona, eine Tonsur. - Mein Sohn, Ramon, ist seit zwölf Jahren eingeweiht. - Er ist Changö. - Aber einige Zeremonien lasse ich ihn immer noch nicht machen. Er ist noch nicht weit genug. - Ich wurde vor 40 Jahren eingeweiht. - Ich habe Yemaya. - Ich habe mehr als 130 Menschen eingeweiht. - 1970 verliess ich Kuba. - Ich nahm die Steine und die Muscheln der Heiligen mit. Die Kauris. - Ohne Muscheln hat man keine Götter. - Mein Geburtstag ist am 20. Oktober. - Wenn ich mich gut fühle, mache ich eine Matanza in der alten Weise. - Aber wenn man krank ist, darf man keine Zeremonien aus­ führen. - Man darf kein Blut opfern, wenn man krank ist, sonst stirbt man. - Zur Einweihung werden vier farbige Kreise auf den geschorenen Kopf gezeichnet. - In die Mitte kommt die Farbe des Gottes, des Heiligen, dem der Novize, die Iawo, geweiht wurde. - Die anwesenden Priester malen jeder einen Kreis. - Der Pate oder die Patin setzen die Farbe für den Gott des No­ vizen ein. - Ich glaube nicht an die Babalawos, an die Wahrsagepriester. - Die Babalawos bilden sich zu viel ein. - Bei mir kommt der Babalawo nur, um die Opfertiere bei der Einweihung zu töten. - Zur Zeremonie des Dilogun werfe ich selbst die Kauris. - Nachdem die Kreise auf den geschorenen Kopf gemalt worden sind, tupfen die Santeros, die Priester, Farbpunkte darüber. - Darauf wird das Ache befestigt. Es besteht aus Ossu, in der Farbe des Heiligen, aus Ero, aus Colanuss, aus Obi. - Und die Kräuter des Heiligen: 7 für Yemaya.

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8 für Obatala. 5 für Ochun. 6 für Changö. 9 für Oya. - Dann werden von den Santeros 4 Tücher über den Eingeweih­ ten gehalten. Ein weisses, ein gelbes, eins punzol, ein blaues. - Das ist die Parada. - Dann werden die Suppenterrinen auf den Kopf des Novizen gehalten. Erst die der Götter der Patin und des Paten, dann die der Götter des Novizen, als letzte die des Schutzengels. - Manchmal ergreift der Heilige den Novizen schon, wenn die Opfertiere geschlachtet werden. - Dann wird der Kopf zugebunden und die Priester gehen mit der Iawo zum Thron. - Jeden Tag muss der Novize baden und Omiero, einen Kräuter­ trank trinken. - Am 7. Tag darf der Novize einmal heraus. - Olofi. - Er muss wieder hinein. - Wenn der Novize geschoren wird, lassen die Priester in der Mitte einen Zopf stehen. Eine Schleife in der Farbe des Gottes, dem er geweiht wird, wird daran gebunden. - Diesen Zopf schneidet der Pate ab und hebt ihn auf für den Todestag, für die Zeremonie des Itutu. - Der geschorene Kopf wird mit kastilischer Seife gewaschen. - Kein Blutbad. - Das Schlachten der Opfertiere geschieht nicht über dem Kopf. Es geschieht auf dem Boden. - Die Iawo berührt mit der Zunge das blutige Fleisch des Opfer­ tieres. - Bei mir dauern die Einweihungen 16 Tage. Nicht sieben, wie hier, in Miami. - Nach 16 Tagen werden die Novizen den Trommeln vorgestellt. - Sie tragen dasselbe Kostüm wie bei der Einweihung. - Die Trommel Anyar ist auch ein Gott. - Das Ache wird gegeben, manchmal beim Schlachten, manchmal bei der Vorstellung. - Wenn das Ache nicliL gegeben wurde, kann der Gott, wenn er den Eingeweihten besitzt, nicht sprechen. - Blut von Guineahühnern wird für das Ache gegeben. 189

- Mit dem Messer wird kreuzweise über die Zunge gefahren. Aber die Zunge wird nicht eingeschnitten. - Es wird Kakaobutter gegeben, ein Stückchen Kokosnuss, Pfeffer. - Es gibt Götter, denen kann man nicht geweiht werden, die er­ hält man. - Agayu kann nicht gegeben werden, man erhält ihn. - Olokun erhält man. - Ocha Oko erhält man. - Babaluaye erhält man. - Oba erhält man. - Inle erhält man. - Nana Buluku erhält man. - Odua erhält man. - Für Oba gibt man Ochun. -Für Agayu gibt man Changö. - Für Inle gibt man Yemaya. Für Changö schlachtet man über dem Kopf — zwei Wachteln und eine Schildkröte. - Olofi gibt man nicht. Olofi erhält man nicht. - Es gibt Babalawos, die behaupten, sie hätten Olofi bekommen. - Kann man den allmächtigen Schöpfer bekommen? - Die Schildkröte für Changö wird mit einem Stein getötet. Der Kopf wird mit der Hand rausgezogen. - Für Changö und Agayu Weisswein - kein Wasser. - Sonst kein Alkohol während der Zeremonien. - Etwas Branntwein in den Kräutertrunk, aber nur, damit ein starkes bieriges Gären verhindert wird. -21 Blätter in den Omiero. - Es gibt zwei Arten von Omiero. - Für die Göttin Nana Buluku werden die Tiere mit einem Bambusmesser getötet. - Auf einem weissen Laken hegt das Schwein für Nana Buluku. - Es werden die Gesänge für Nana Buluku gesungen und das Schwein stirbt von selbst. Bepo weiss mehr als alle hier in Miami. Er erzählt mir seine geheimsten Dinge. Ohne dass ich ihn frage oder dränge. Warum?

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Zu Ernesto Gonzalez. 961 East Street 51. Die Versammlung empfängt uns sehr freundlich. Ernesto führt uns in den Raum für die spritistischen Zeremonien. Ein Altar ohne Bilder. Nur Cognacschwenker voller Wasser. In zweien Kruzifixe. Weisse Chrysanthemen und weisse Gladiolen. Ein Haufen frischer Kräuter liegt auf dem Altar. - Wenn Heiligenbilder auf diesem Altar stehen, ist er schon nicht mehr spirituell. An der Wand hängt eine Madonna in Ikonenart. Oben links in der Ecke vor einem Übereckspiegel St. Lazarus. Wir gehen über einen Hof. Ein grosser Mangobaum voller dicker Eisenketten. Da der Kultraum der Kongo, des Mayombe-Ritus. Zwei mal sechs Meter ungefähr. Mit Fenstern. Grün angemalt. - Sie brauchen die Schuhe nur auszuziehen, wenn sie auf die Matte treten. Da stehen die blutverkrusteten Töpfe. Zwei schwarze, grosse Eisenkessel, fettig, klebrig, angefüllt mit Knochen, Hörnern, Ketten, Messern, Spiegeln, Münzen glänzend von Fett und altem Blut. Es kleben Federn daran. Darauf grelle Perlenamulette, nussgrosse Kissen, die mit Kauris und Glasperlen bestickt sind. Winzige Göttergesichter starren uns an. Der eine Topf ist für Tierra Tiembla, der andre für Sarabanda. Darum herum stehen viele Muddköpfe, Zementgötterstatuen, Elegguas, mit Augen und Mündern aus Kauris. Wie einen Zaun haben diese Elegguas Holzstückchen um sich herum - das ist das Zeichen, dass sie nicht zum nigerianischen Yorubakult gehören, sondern zum Kult der Kongogötter, der Toten. Ernesto zeigt uns ganz kleine Muddköpfe, die man in der Hosen­ tasche unterbringen könnte. Sie sind als Talismane für die Straßenkreuzer bestimmt. Auf einer Bank Negerfiguren aus Holz. Auch eine grosse und eine kleine Trommel aus Haiti.

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- Es gibt drei Grade der Einweihung in der Religion der Kongo. - Bei den Einweihungszeremonien werden Schnitte in den Körper gemacht. Tiefe Schnitte. Früher machte man sogar Schnitte in die Zunge. Irma sagt: - Die Narben von diesen Schnitten beginnen zu schmerzen, wenn sich der Eingeweihte in Gefahr befindet. Der Präsident Battista sollte vergiftet werden. Als er das Glas Champagner ergriffen hatte, schmerzten die Narben von seiner Kongoeinweihung so, daß er das Glas fallen liess. So entging er dem Attentat. - In diesen Tempel treten keine Effeminierten und Invertierten, sagt Ernesto. Irma: - Nur Frauen, die Frauen sind und Männer, die Männer sind. Ernesto: - Weil wir so streng sind, sind die Santeros so wütend auf die Mayomberos und sagen, wir arbeiteten mit dem Teufel zusam­ men. Dabei sind wir ehrlicher als die Santeros und die Babalawos. Wenn ich einen einweihe oder reinige, sage ich meinem Kunden alles. Ich nehme nicht das Geld von Ihnen und sage dann: Sie sind ein Fall für das Krankenhaus, und schicke Sie weg. Wenn jemand ins Krankenhaus muss, dann sage ich ihm genau, was er vorher zu machen hat und was hinterher, wenn er wieder entlassen ist. Deshalb werden wir auch überall hingerufen. In die Dominikanische Republik zum Beispiel. Von da bringe ich dann Waren mit, die ich hier für 3000 Dollar verkaufe. Irma ist eine schöne Frau. Ihr Gesicht überanstrengt. Durch Schminke und Puder hat es etwas Seherisch-Übertriebenes - fast wie eine Maske. - Morgen zum Schlachten müssen wenigstens sieben Eingeweihte anwesend sein. - Die heiligen Schlangen nennen wir »Einundzwanzig«.

Die Babalawos haben ihre Totengötter auf dem Klo. Im Hotel haben wir ein Telefon auf dem Klo.

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Lily: — M. hat mich in sein Law Office geführt und die Tür abgesdilos sen und sich mir unehrerbietig genähert. — Ich gehe nie wieder zu ihm.

Freitag, den 25. September: Newsreel: Heute wurden 70 000 Bewohner von Miami Beach gewarnt. Pestizide vergiften das Trinkwasser.

Zu Ernesto Gonzalez nach Hialeah. Der unterwürfige Freche weist den Wagen ein. Es ist etwa acht. Irma und Ernesto essen. Sie wollen bald nach Santo Domingo und Puerto Rico fahren zu magischen Kunden und auch, um Ware für ihre Devotionalien­ handlung einzukaufen. Der Vater mit der Zigarre kommt. Sein zweijähriger Sohn ist so dick und riesig, als wäre er vier. Der rast herum, wird bestraft, mault und so weiter. Im Fernsehen ein amerikanischer Film aus den 40ger Jahren. Die junge Üppige sagt: — Als der Film gedreht wurde, war ich noch nicht geboren. Ernesto sagt mit vollem Mund: - Ich kannte einen, der hatte Menschenfleisch von einem Opfer probiert. Gegen neun sind zwanzig Personen versammelt. Wir gehen durch den Versammlungsraum der Spiritisten. Der Omiero, der Kräuterabsud wird vorbereitet. Hinüber in den Kongotempel. Eine Frau wird vor die Bluttöpfe geführt. Anrufe auf Kongo. Ernesto bittet die Götter um Erlaubnis. Die Gemeinde sagt nach jeder Formel: -Ba. 193

Irma verbindet der Frau mit einem weissen Tuch die Augen. Ernesto nimmt ein Ei. Hält es der Frau auf den Kopf. Führt es um den Kopf herum. Ernesto ergreift die rechte Hand der Frau, streckt sie waagerecht aus, führt das Ei den Arm entlang, den Körper hinunter bis zu den Füssen. Rechts das gleiche. Ernesto hält das Ei der Frau an die Brust, an den Rücken, an den Unterleib. Ernesto legt das Ei auf einen Bluttopf. Er verlangt von der Frau einen kupfernen Penny und legt ihn in den Bluttopf. Ernesto nimmt bröckeliges weisses Pulver, zeichnet der Frau da­ mit ein Kreuz in die Haare, den Haaransatz entlang eine Linie, Kreuze zwischen Daumen und Zeigefinger, Kreuze über die rechte und die linke Brust, an den rechten und linken Oberarm, auf das rechte und linke Schulterblatt. Ernesto zeichnet mit dem bröcke­ ligen weissen Pulver Kreuze auf die Machete. Ernesto hält der Frau die Machete an den rechten Unterarm, schlägt mit einer kurzen Eisenstange auf die Machete, als wolle er der Frau den rechten Unterarm abhacken, als wolle er ihr den linken Unterarm abhacken, als wolle er ihr das rechte Schienbein vom brechen, das rechte Schienbein hinten brechen, das linke vom brechen, das linke hinten brechen. Ernesto hält die Machete mit der Schneide von oben auf die Brüste der Frau, schlägt mit der kurzen Eisenstange darauf, als wolle er ihr die Brüste abhacken. Ernesto hält die Machete an die Schultern, schlägt mit der Eisen­ stange drauf, als wolle er der Frau das Genick brechen, als wolle er ihr das Kreuz brechen. Ernesto hält der Frau die Machete flach quer vor die Stirn, flach längs vor die Stirn. Ernesto hält der Frau die Machete flach auf den Kopf. Ernesto legt die Machete weg. Irma gibt Ernesto eine Schere. Ernesto schneidet der Frau eine Haarsträhne ab, wickelt die Strähne in ein trockenes Maisblatt, knotet das Maisblatt einmal, 194

misst damit die Breite der Stirn, die Länge des Gesichts, die Tiefe des Schädels. Ernesto legt das Maisblatt mit der cingeknoleten Haarsträhne auf einen der Bluttöpfe. Der Frau wird die Augenbinde abgenommen. Irma hält ein Glas voll Wasser. Ernesto stippt den Zeigefinger ein und benetzt das linke und das rechte Lid der Frau. Ernesto nimmt einen Drahtbügel von der Wand, auf den das Bauchfell eines Opferhammels gespannt ist und festgetrocknet. Er hält diesen adrigen Schirm vor das Gesicht der Frau. Irma hält eine brennende Kerze hinter das Bauchfell, manso (der TLeithammel), auch Alä. Ernesto fragt: -Was siehst du? Die Frau antwortet: - Das Licht. Ernesto: - Dies Licht leuchte dir und erhelle dich .. Ernesto kontrapunktiert über das Licht, über Helligkeit und Auf­ klärung und Erleuchtung. Alle Männer müssen jetzt den Kongotempel verlassen. Ernesto nimmt mich beiseite. Ernesto hält das Ei in der Hand. Alle Männer hinter uns durch den Vorgarten. Ernesto sagt zu den anderen: - Bleibt hier, dass es nicht so auffällt. Ich, Fototasche um, auf Strumpfsocken, mit Ernesto die Strasse in Miami entlang. Ernesto murmelt Formeln. Ich verstehe: - Remolino quatro vientos. Dreissig Meter vor der Kreuzung wirft Ernesto mit schräggestell­ tem Körper, auf einem Fuss, wie ein Junge, das Ei zur Kreuzung und dreht sich schnell um. - Dreh dich schnell um und sieh nicht hinter dich! Ich höre wie das Ei, roh, zerplatzt. Wir gehen zurück. - Das Paket mit den Kleidern schicke ich übers Meer oder ich gebe es in den Müll - wie der Tote es bestimmt. Nach dem Rayamento, nach der Schneidezeremonie, werde ich den Toten be­ fragen. 195

- Wir müssen durch eine andre Tür herein, als wir heraus sind. - Die junge üppige mache ich heute zur Mutter. Aber sie weiss es noch gar nicht. Leonore ist bei den Frauen im Zimmer mit den Bluttöpfen ge­ blieben. Jede geht zu einer Plastikwanne mit Omiero, mit Kräuterabsud. Sie stecken die Hände hinein und schütteln sie trocken. Irma nimmt die Schere. Sie schneidet die Bluse der Frau an der linken und rechten Brust ein, schneidet die Bluse hinten, oben, in der Mitte, ein. Irma reisst die Bluse der Frau vom ganz durch. Alle Frauen stürzen herzu, reissen, reissen die Bluse kaputt. Irma sagt: - La Luz y la Claridad! - Licht und Klarheit! Niemand äussert etwas Kongolesisches. Irma schneidet die Hose der Frau ein. Irma reisst die Hose vorne entzwei. Alle Frauen wollen die Hose der Frau anfassen, kaputtreissen. Schnitt hinten in den Büstenhalter. Die Frauen reissen, reissen den Büstenhalter kaputt. Schnitt in den Slip. Die Frauen reissen den Slip herunter, reissen den Slip kaputt. Die Frauen stopfen die Fetzen in eine Einkaufstüte. Irma stellt die Plastikwanne mit Omiero neben die Frau. Langsam wäscht Irma, redend, die Nackte von oben nach unten ab. - Salud! - Gesundes Wasser! Die Nackte steigt in die Plastikwanne. Irma wäscht ihr vorne mit dem Wasser und den Kräutern rein. Hinten. Die Nackte steigt wieder heraus. Irma trocknet sie mit gelben Kleenextüchern ab. Die Nackte zittert. Sie setzt sich. Irma und die Frauen sprechen ihr zu. Irma rüttelt ihr an den Armen. Die Einkaufstiite mit den Fetzen wird hinten auf einen Stuhl gelegt.

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Die Frauen geben der Nackten ein andres Paket. Die Nackte packt neue Kleider aus und zieht sich frisch an. Die Tür wird wieder geöffnet. Jetzt soll die in der bunten Bluse gereinigt werden. Rompimiento. Zerbrechung. Sie ist krank. Sie soll geistlich auf ihren Krankenhausaufenthalt vorbereitet werden. Die Männer müssen draussen bleiben. Aber Leonore geht nicht aus dem Kongozimmer. Irma packt vor den Bluttöpfen sieben Stücke rohes Fleisch aus und legt sie auf ein weisses Stück Papier. Irma legt neben die sieben Stück rohes Fleisch sieben kupferne Pennies. Die mit der bunten Bluse wird entkleidet. Sie behält nur ihre Hose an. Irma nimmt ein rohes Stück Fleisch nach dem anderen und be­ rührt den Körper der Kranken damit. Gesicht, Arm, Bauch, Rücken - ein rohes Stück Fleisch nach dem anderen, ein Körperteil nach dem anderen. Lang wird ein roher Fleischlappen an den Unterleib der Kranken gehalten. Spanische Reden. Nichts Kongolesisches. Die gebrauchten Fleischstücke werden in eine zweite Einkaufslüte gesteckt. Die Kranke zieht sich wieder an. Leonore sagt: - Nach einer Geburt hat man einen Horror, die allen Kleider wie­ der anzuziehen. Irma führt die Erste in den Garten, in den Spritistenraum und wäscht sie dort noch einmal mit Omiero. Nun muss auch Leonore den Kongotempel verlassen. Wir warten im Garten. Ernesto tröstet uns. - Es ist sehr gefährlich zuzusehen, wie geschnitten wird, wenn ihr nicht selbst geschnitten worden seid. Ihr könntet sterben. Ernesto sagt, dass die Kongo hier in Miami ihre Totenriten voll­ führen.

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Wenn ein Priester stirbt und er hat keine Nachkommen, wird sein Bluttopf vergraben. - Hat er einen Sohn, erbt der den Topf. Irma führt die Erste in den Garten, verbindet ihr die Augen, dreht sie um und um. Ernesto geht in den Kongotempel zurück. Ich sage ihm an der Tür: - Lass uns wieder rein, wenn du geschnitten hast. - Lass Leonore ein Foto machen, wenn du den letzten Schnitt gemacht hast. Ich meine, wenn du den letzten Schnitt machst. Ich bin ganz ruhig. Von einer Ruhe jenseits der Ruhe. Ich weiss, dass Ernesto Leonore alles fotografieren lassen wird. Irma führt die Erste zur Tür des Kongotempels. Irma klopft an. Drinnen fragen sie: - Wer ist das. I rrna geht mit der Ersten hinein. Die Tür wird zugerammt. Ich sehe die Schemen der Schneidung durch die verhängten Fenster. Dann geht das Neonlicht aus und ich sehe nur noch Flammen­ spuren. Ich höre das Rasseln der Kauris. Höre: - Foforifo. - Glugluglu. - Pino congo nuevo. - Neue Kongo-Kiefer. - Vieja semilla. - Alter Same. Wir werden reingerufen. Da sieht die Erste ganz entgeistert, ganz begeistert, Schnitte an den Armen, über den Brüsten, auf den Schulterblättern. Rote Pulvermaie in den Schnitten an den Armen. Schwarze Pulvermale in den Schnitten über den Brüsten und auf den Schulterblättern. Der unterwürfige Freche bringt einen weissen Hahn. Die Gemeinde singt. Ernesto schneidet dem Hahn den Kopf ab und lässt ihn über den Bluttöpfen ausbluten.

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Ernesto haut auf den Rumpf des Hahns, dass der noch einmal wie singt. Ernesto: - Jetzt hat er geredet. Ernesto steckt den Hahnenkopf vorne auf den Blutlopf. Ernesto schneidet die Schwanzfedern des weissen Hahnes ab und steckt sie hinten in den Bluttopf. Flügel ab, seitlich hin. Füsse ab, vorne hin. So sieht es aus, als sei der Hahn durch die blutigen Zinken und Zacken, Spiegel und Perlenkissen des Topfes hindurchgewachsen. Einer klopft. Die Gemeinde fragt: -Wer ist das? Ich erinnere die Antwort von draussen nicht; aber der Stimmung nach etwas wie: - Eine irrende Seele. - Ein Wandersmann von weither. Tür auf. Der Vater mit der Zigarre. Nackter Oberkörper. Weissverbundene Augen. Weisse Hose. Barfuss. Die Gemeinde singt: - Ya llego. Ya llego. - Da ist er ja schon. Da ist er ja schon. Der unterwürfige Freche hat sich mit einem lebenden Hahn hin­ ter die Tür gestellt und als der Vater mit der Zigarre - jetzt ohne Zigarre - zum Schneiden eintritt, überrascht er ihn mit dem flatt­ rigen, kechzenden Hahn. Der Vater wird zu den Bluttöpfen geführt und auf eine mit Kreide gezeichnete Pappe gestellt. Irma krempelt dem Vater die Hose hoch. Ernesto wirft 25 mal die vier Kauris zwischen die Beine des Va­ ters auf die Pappe. Ernesto kreuzt den Körper des Vaters mit dem bröckeligen weis­ sen Pulver an. Pulver in die Haare. Irma gibt Ernesto eine Rasierklinge aus einem Satz auf einem Samtkissen.

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Die Arara hält eine Kerze an den Körper des Vaters, damit Er­ nesto besser sehen kann. Schnitte. Schnitte, wo die weissen Kreuze auf der Haut sind. Vier Schnitte zwischen rechten Daumen und Zeigefinger. Kreuzschnitte rechts an die Brust. Links an die Brust. Vier Schnitte zwischen linken Daumen und Zeigefinger. Kreuzschnitte auf das linke Schulterblatt. Auf das rechte Schulterblatt. Kreuzschnitte an die linke Wade. Kreuzschnitte an die rechte Wade. Es blutet nicht genug. Ernesto schneidet tiefer. Die Oberarme sind auch angekreuzt. Dort wird nicht geschnitten. Ernesto tupft mit dem Zeigefinger etwas Blut von der rechten Hand des Vaters weg und streift es auf dem einen Topf des Toten ab. Schwarze Tusche in alle Wunden. Graue Asche in alle Wunden. Kreuzweise die Machete auf alle Wunden mit dem Eisenstab schlagen - so als rührten die Wunden in Wirklichkeit von der Machete her. Ernesto schneidet eine Haarsträhne vom Kopf des fast kahlen Vaters, wickelt sie in ein trockenes Maisblatt, knotet das Maisblatt, Ernesto misst ehe Breite der Stirn des Vaters mit dem geknoteten Maisblatt, legt es auf den Bluttopf. Ernesto fragt den Vater: - Wie heisst du? - Fulano de tal. - Soundso. - So hiessest du, jetzt heisst du Engello des Gottes Kuyo Malongo. Eine Frau schreibt den Namen für den Vater auf. Ernesto zeichnet ein Kreuz mit dem bröckeligen Pulver auf die Zunge des Vaters, schliesst ihm den Mund mit ausgeslrecktem Zeigefinger. Ernesto gibt ihm eine Flüssigkeit aus einer Kokosschale zu trinken. 200

Der Vater schüttelt sich. Ernesto gibt ihm Honig zu trinken. — So bitter und so süss. Ernesto hält dem Vater einen blutüberströmten Muddkopf Elegba oder Kuyo Malongo vor die Lippen. Der Vater küsst ihn. Augenbinde ab. Wasser auf die Lider. Die Kerze hinter dem adrigen Bauchfell. — La Luz y la Claridad. Alle fassen sich an, tanzen um den neuen Geschnittenen. — De semilla conga nace pino nuevo, nace pino nuevo. — Aus dem Samen der Kongo wird eine neue Kiefer geboren. Alle geben dem Vater die Hand nach der Art der Black Muslims. Sagen: — Sala Maleikum. Er antwortet: — Maleikum Sala. Ernesto zwischendurch: — Die Yoruba, die Lucumi machen das mit dem Manso, dem Ala, dem Bauchfell nur kurz, denn sie wollen nicht, dass die neuen Eingeweihten hellsichtig werden. Die junge Üppige wird zur Madre gemacht. Wir müssen wieder raus. Eine letzte wird mit verbundenen Augen reingeführt. Aber Irma lässt die Tür einen Spalt offen. Ich kann der jungen Üppigen, die jetzt mit den blutigen Malen dasteht, ein Zeichen machen. Sie sagt: — Der Deutsche will was. Ernesto ruft mich: — Hast du eine Frage? — Nein. Aber ich möchte wieder rein. — Komm rein. Willst du dich auch schneiden lassen? — Nein. — Komm rein. Als Ernesto der Letzten in die Brüste schneiden will, sagt Irma: — Nicht so tief. Das ist gefährlich. Ernesto: — Wer ist hier Tata. Ich oder du?

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Irma still und sicher: - Wir beide! Ernesto sagt: - Ich schneide, wie ich es für nötig halte! Und schneidet nicht so tief. Es kommt doch noch einer. Der lange Commandante wird mit verbundenen Augen reinge­ führt. Als der unterwürfige Freche ihm den Hahn entgegenschwenkt, zuckt der lange Commandante zusammen und ruft: - Huch! Bei den Schnitten zuckt er nicht. Ernesto schneidet tief und kompliziert. Blutbuchstaben. X-förmige Schnitte an die Oberarme. Drei Kreuze auf den Rücken. Der lange Commandante hat Angst, als er die Zunge heraus­ strecken soll. Zum Abschluss werden draussen auf dem Hof zwei geistliche Reinigungen mit Schiesspulver gemacht. Kreidezeichen auf einer Holztafel. Schiesspulverzeichen auf die Kreidezeichen. Ein dicker Mann, mit Kräutern hinter die Ohren geklemmt, stellt sich hinter die Tafel. - Um Gotteswillen, stell dich nicht auf die Tafel! Ernesto hat eine brennende Havanna an einem Draht befestigt. Er steckt sie zwischen den Beinen des dicken Mannes durch und entzündet damit das Schiesspulver. - In der Wolke erkennt man den Ungeist, der den Mann besessen hat. - Manchmal erkennt man im Pulverdampf ein grosses Tier. - Je schneller sich die Pulverwolke verzieht, desto weniger war der Kunde verhext. Der Rumpf des zerschnittenen Hahnes wird auf dem Hof einge­ graben. Es gibt Eierspeise und Cocacola. Wir fahren weg. Leonore hat eine Einweihungszeremonie der Kongo in Miami, Florida, fotografiert.

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Sonnabend, den 24. September: Newsreel: Die neuen kubanischen Flüchtlinge finden, die Geschäfte in Miami sind ein Traum. Reisen in den USA werden ihnen vom Bund bezahlt. Sozialämter unterstützen sie finanziell.

Manolo: - M. hat Lily in seinem Law Office an die Brust gefasst und ge­ sagt: Was hast du denn da. - Wenn ich zu ihm gehe, schlage ich alles kaputt. - Aber ich will keine Probleme. - Ich habe schon genug Probleme.

Abends zu Carlos Canet nach Hialeali. Er hat sich heute fünf afrikanische Papageien gekauft, 500 Dol­ lar das Stück. Die Federn werden für die Einweihungsriten der Lucumi benö­ tigt. Carlos Canet will eine Papageienzucht aufmachen. Ich interviewe ihn. - Carlos Canet, Sie sind afrikanischer Abstammung. Sie gingen als kubanischer Priester nach Afrika zurück. Was hat Sie am mei­ sten beeindruckt? - Ich war zwei Mal in Afrika. Auf meiner zweiten Reise war das wichtigste Erlebnis meine Einweihung. Die kubanischen Riten sind auf den Zeremonien der Nigerianer begründet, aber sie ha­ ben sich doch sehr verändert. - Wann sind Sie das erste Mal gefahren? - 1971. Ich halle den Eindruck, ich käme zu meinem Volk zurück. Einige Dörfer in Afrika wirkten wie die Dörfer auf Kuba, als ich klein war, vor fünfzig Jahren. Ich hatte geglaubt, dass alle Afrikaner zur Religion der Yoruba gehörten. Aber ich bemerkte, dass viele Afrikaner nichts von mei­ ner Religion wussten. Sie kannten weder Changö noch Yemaya. Ich war vor allem in Lagos. Der grösste Teil der Bewohner von Lagos sind Muselmanen. Auch der Katholizismus ist kräftig. 20-,

Die Religion der Yoruba ist eine der kleinsten, die es in Nigeria gib. - Waren Sie enttäuscht? - Enttäuscht nicht, überrascht. Das zweite Mal kam ich mit der Idee, mich als Babalawo einweihen zu lassen. Seit dreissig Jahren bin ich Priester der Göttin Yemaya. Ich kehrte nach Afrika zurück, um mich in den Kult von Ifa entweihen zu lassen und Babalawo zu werden. Meine Ansichten veränderten sich. Viele Leute üben die Religion der Yoruba nicht aus, aber die meisten Nigerianer stehen doch mit den traditionellen Religionen in Verbindung. Lagos ist der Ort, wo die traditionellen Religionen die wenigsten Anhänger haben. In Oya, in Ife begegnet man sehr viel mehr Gläubigen. - Wann reisten Sie zum zweiten Mal? - Januar 1977. - Die Religion der Yoruba ist also in Miami verbreiteter als in Nigeria? -Ja. - Hatten Sie diese Reisen seit langem geplant? - Ja. Seit ich erfahren hatte, dass die Religion der Lucumi aus Afrika stammt. Noch vor 5, 6 Jahren wussten nur wenige Sante­ ros, woher ihre Religion kam. Und auch heute noch kommen Priester aus Kuba in Miami an, die es nicht wissen. Es hat mich viel Arbeit gekostet, das zu entdecken. Es geschah 1960 etwa, als ich anfing, über die Religion zu lesen. Ich war einmal in der Universität und wollte das Wort Lucumi nachschlagen. Ich fand es nicht, denn das Wort Lucumi existiert in Afrika nicht. Das afrikanische Wort ist Olukumi und heisst: Mein Freund, mein Meister. Ich forschte weiter. Ich las Frobenius, Bascom etc. Dann veröffentlichte ich selbst und viele Kubaner erfuhren so, wo sie herkamen. - Sie selbst wussten vorher, dass Sie aus Afrika stammten? - Ja, aber nicht, aus welchem Land. Ich wusste es nicht einmal, als ich anfing, an eine Afrikareise zu denken. Afrika ist so gross. Ich rief die Vereinten Nationen an und fragte, ob sie einen Stamm der Lucumi kennen. Sie sagten: Nein! Ich forschte weiter und entdeckte, dass wir Kubaner die Religion

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modernisiert hatten. In unserer Kultur konnte ein afrikanischer Typ der Religion nicht funktionieren. Die Verse der afrikanischen Religion sind nur in Afrika anwend­ bar. Sie beziehen sich immer auf afrikanische Tiere, auf afrika­ nisches Essen, auf afrikanische Probleme, die doch von den Pro­ blemen in den Vereinigten Staaten unterschieden sind. In Kuba wurde zum Beispiel die Taufzeremonie der Yoruba un­ terschlagen. Die Kirche zwang uns zur christlichen Taufe und zur christlichen Trauung. Auch die afrikanischen Beerdigungszeremo­ nien mussten abgewandelt werden. - Haben Sie schon als Kind daran gedacht, nach Afrika zuriiekzukehren? - Als ich ani'ing zu denken und herauszufinden, woher ich stammle. Wenn man einen Saniere fragt, woher er kommt und er antwortet: Ich weiss es nicht, ist er ein Dummkopf. Wenn man in einem kleinen Dorf lebt, geht das vielleicht, aber nicht in Miami, wenn man anfängt mit Anthropologen zu sprechen, mit gebilde­ ten und wohlerzogenen Menschen. Es ist doch lächerlich, wenn ein Anthropologe kommt und muss mir erklären, was meine Reli­ gion ist. Sehr wenige Santeros wissen, wie die Hochzeitszeremonie bei den Yoruba ausgeführt wird. Sie glauben, eine solche Zeremonie gäbe es nicht. Wir fuhren nicht, weil wir glaubten, dort besonders gute Ferien zu verbringen. Wir fuhren wegen der Religion. Das Essen ist dort anders. Ich lebte in einem Hotel, wo es kein fliessendes Wasser gab. Und alles ist sehr teuer. Es ist ein Ort, eher um Geschäfte zu machen oder um religiöse Probleme zu lösen. Wir mussten zu Fuss gehen, Autos und Taxen sind dort sehr teuer. Das waren wir nicht gewöhnt. Der Autoverkehr ist dort sehr belastend. Die Strassen sind sehr eng. Wenn du mich fragen würdest: Willst du in Afrika leben? - würde ich antworten: Nein, auf keinen Fall. - Warum? - Ich lebe hier bequemer. Hier habe ich meine Tradition und meine Lebensweise. Meine Lebensweise ist nicht wie die dortige. Wir fahren dahin, um etwas zu lernen. Zu den Festivals, zu den Egungunzeremonien. Aber leben dort? - Nie! - Wo waren Sie überall? - In Lagos, Ibadan, Ife-Oya. 205

- Wo wurden Sie eingeweiht? - In Lagos. - Wie machten Sie sich verständlich? - Auf Englisch. - Sprechen alle Englisch? - Nein. Yoruba. Aber das Yoruba, das sie sprechen, verstehe ich nicht, und das Yoruba, das ich auf Kuba gelernt habe, verstehen sie nicht. - Mussten Sie sich in den Tempeln als Angehöriger der LucumiReligion ausweisen? - Ja. Aber das war schon brieflich geschehen. - Haben Sie etwas von der afrikanischen Cortesia gespürt. Senghor sprach mir von der Kultur der Höflichkeit in Afrika? - Ja. Höflichkeit gibt cs - unter kultivierten Leuten. Beim Oba von Lagos zum Beispiel. Er lud uns zu einem Glas Champagner ein. Auch unter den Angehörigen der Religion gibt es Höflichkeit. Aber auf der Strasse, in den Geschäften, in den Restaurants, da gibt es keine Höflichkeit, wie man sie vielleicht in Afrika erwar­ tet hatte. Das Land ist nicht auf den Tourismus vorbereitet. Ihnen ist es egal, ob du kommst. Auf dem Flughafen wird man behan­ delt, wie man es nicht gewöhnt ist. Miami ist höflicher und diszi­ plinierter. Jeder versucht in Afrika einen oder zwei Dollar zu ver­ dienen. Sie versuchen dir jeden nur möglichen Fehler im Pass nachzuweisen. Man hat den Eindruck, die Leute wären angestellt worden, um dir Schwierigkeiten zu machen. - Welches sind die wichtigsten Unterschiede der Einweihung in Kuba oder Miami und der Einweihung in Nigeria? - In Miami dauert die Einweihung zum Babalawo eine Woche in Nigeria zwei Wochen. Die Rituale sind verschieden. Das afri­ kanische Ritual ist primitiver, wilder. Das Ritual in Miami ist zivilisierter, hohler, gelehrter. Die Essensvorschriften in Nigeria während der Einweihung sind strenger. In Afrika finden die Riten bei Sonnenaufgang statt - in Miami am Tage. In Afrika wird ständig getrommelt - in Miami nicht. In Afrika wird dazu nur Yoruba gesprochen - in Miami eine Sprache, die sie für Yoruba halten, und Spanisch. - In Miami kosten die Einweihungen zum Babalawo zwischen 10 und 15000 Dollar. Gibt es in Afrika eine ähnliche Kommerziali­ sierung der Religion? - Es wird mir sehr schwer, das auszusprechen: Der Beginn der

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Religion selbst in Afrika war kommerziell. Der Babalawo lässt sich als Professioneller bezahlen. Sie haben feste Preise für jede Arbeit. Dort ist es wie überall auf der Welt. Einige nehmen mehr, andre weniger — einige haben weniger Skrupel, andre mehr. Die Geburt der Religion ist Kommerz. - Was kostet eine Einweihung zum Babalawo in Nigeria, die 2 Wochen dauert. - Zwischen 4 und 6000 Dollar. - Was gibt nun einem kubanischen oder einem brasilianischen Gläubigen aus den Schwarzen Amerika die Sicherheit, dass er in Nigeria wirklich eingeweiht worden ist und nicht einem Scharla­ tan oder einer Scharlatanerie aufgesessen ist? - Man muss vorher genau wissen, was man will. Ich wusste, was ich wollte. Ich habe vorher gefragt und er hat mir erklärt, was er mit mir machen würde. In Miami machen sie nur die Hälfte der afrikanischen Riten. - Fehlt Wichtiges? - Alles, was sie in Afrika zur Einweihung machen, ist wichtig und hat seine Bedeutung. - Fehlen in Bascoms Buch entscheidende Riten? - Bascom schrieb, was man ihm erzählt hat, und was sie ihm oder Frobenius erzählten, ist nicht die ganze Wahrheit. Die Afrikaner haben Frobenius hinters Licht geführt. - Sie erfuhren also in Afrika Riten, die Sie weder aus Kuba noch durch Lektüre kannten. - Ja. Riten, die ich jetzt als einziger hier begehe. In Miami kann sowieso nur die Hälfte gemacht werden, weil sie hier kein Olofi haben. - Haben Sie die Gewissheit, dass Sie in Afrika gänzlich eingeweiht worden sind? - Ja. Denn in der Zeit, als ich eingeweiht wurde, weihten sie vier Babalawos ein. Zwei Kubaner und zwei Nigerianer. Einer der beiden Afrikaner war der Sohn des Babalawos, der uns alle einweihte. Und alles, was er an seinem Sohn vollzogen hat, wurde auch mit uns gemacht. - Wer war dieser Babalawo? - Der oberste Babalawo von Lagos. Der Araba von Lagos - Fabeny Ayanaku. Er schien mir ehrlich und anständig. Ich glaube, 207

ich hätte keinen Besseren finden können. - Erhielten Sie auch handgeschriebene Bücher, wie cs die Einge­ weihten auf Kuba gewohnt sind? - Ja. Aber auf Yoruba. Sie übersetzen das Buch jetzt für mich ins Englische. Der Padrino schrieb mir in seinem letzten Brief, dass die Übersetzung fast fertig ist. - Wie gefällt Ihnen Miami? - Das Leben in Miami scheint mir besser als in Afrika und auf Kuba. Auf Kuba war ich Arbeiter und arm und hatte keine Be­ quemlichkeit. Auf Kuba halte ich keinen Wagen, kein Fernsehen, keine Klimaanlage. - Haben Sie keine Sehnsucht nach Kuba? - Ja. Ich möchte Kuba besuchen. Aber leben möchte ich da nicht. - Warum verliessen Sie Kuba? - Ich hatte keine reichen Angehörigen. Ich hatte keine Paten, die mir helfen konnten hochzukommen. Ich kannte keine einfluss­ reichen Politiker. Ich war Arbeiter und ich war sicher, ich würde immer Arbeiter bleiben. Um hochzukommen, muss man krie­ chen und schmieren. Das lag mir nicht. Ich hatte einen Freund, der sagte mir: Warum gehst du mit deinem Charakter nicht in die USA. Da wirst du was werden. Ich ging. Ich kämpfte. Ich fand Arbeit. Ich lernte die Verwaltung. Ich arbeitete mich hoch. Das hätte ich in Kuba nicht geschafft, bei der Familienwirtschaft. - Wann gingen Sie in die USA? - 1955- Vor Fidel. Ich bin kein politischer Flüchtling. Ich bin ein ökonomischer Flüchtling. - Sie könnten also nach Kuba zurück? - Im Augenblick kommt niemand rein. Aber wenn er wieder welche reinlässt, kann ich zurück. Aber wenn ich in Kuba erkläre, was ich hier gesagt habe, dass ich gerne in Miami lebe, dann werde ich verhaftet, als Imperialist. Ich habe auch keine Lust, nach Afrika zurückzukehren. Kein Ne­ ger hier hat Lust, nach Afrika zurückzukehren. Ich habe mit vie­ len Negern hier gesprochen. Ihnen gefallen Autos, Fernsehen, Klimaanlage. Ich lebe hier wie der Oba von Benin in Afrika lebt. Als Arbeiter hier lebe ich wie ein König dort. Anthropologen, die ihr ganzes Leben lang rumziehen und Hunger haben - ich bin über das Alter hinaus. Die Medizin in Afrika ist rückständig. Das Essen in Afrika ist rückständig. Hier kannst du gesünder leben als in Afrika.

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Der Babalawo und Kirchen gründer Orestes Meneses will ein Buch über die Santeria schreiben. Der Babalawo und Kirchengründer Carlos Canet hat ein Buch über die Santeria geschrieben. Der Santero Julio Garcia hat ein Buch über die Santeria geschrie­ ben. Der Santero Eduardo Pichero will mehrere Bücher über die San­ teria schreiben. Der Babalawo Wilfredo will ein geneologisches Buch schreiben. Der Kongopriester Ernesto Gonzales will ein Buch über den Spi­ ritismus schreiben. Alle besitzen die Bücher von Fernando Ortiz und Lydia Cabrera und sprechen schlecht davon. Jeder, der ein Buch schreibt, verachtet jeden, der ein Buch schreibt.

Die sanften Formeln von Hearings: - We look foreward to meet you .. - We appreciate that you let us in .. - Mr. Lance who tries to help Mr. Carter .. - I guess that.. - I tried to explain .. - I would be glad to provide ..

Ich rufe Bepo Sanchez an. Sein Sohn ist am Telefon. - Mein Vater ist ins Krankenhaus gekommen. - Er hat Zirrhose. - Aber rufen Sie ihn an. Er hat mir von Ihnen erzählt. Er freut sich, wenn Sie ihn anrufen.

Eine junge Anthropologin knipst bei Canet mit der Instamatic herum. Sie sagt: - Die Religionen der Nigerianer sind mir karmisch vorherbe­ stimmt. 209

Bepos Stimme ist leiser geworden, dünner, kleiner. - Es ist nett, dass Sie anrufen. - Meine Leber ist nicht gut. Als ich ihn frage, wie er sich fühlt, antwortet er: - Regular.

Bert Lance ist proud, nach Georgia zurückzukehren. Onyx fühlte sich proud, als er Roots las. Frau Lance sagt zu den Reportern: I'm proud of you all! Carter sagt: Bert, I’m proud of you!

Ich rufe Bepo an. - Wie geht es Ihnen? - Regular. - Essen Sie was? - Nein. Ich darf nichts essen.

Esmeralda ruft mich an: - Bepo Sanchez ist auf die Intensivstation gekommen. - Er hat Leberkrebs.

Felix Cärdenas, der des Mordes an einem Polizisten angeklagt ist, stopfte sich die Finger in die Ohren und weigerte sich zuzuhören, als seine Verhandlung aufgeschoben wurde. Cärdenas sagte dem Richter in gebrochenem Englisch: - Ich will keine Rechtsanwälte.

Esmeralda: - Bepo Sanchez ist an Leberkrebs gestorben, während ihr auf Haiti wart. 210

- Er wollte nicht, dass für ihn ein Itutu, eine Totenzeremonie be­ gangen wird. - Alle seine Götter sollten von seinem Solm ins Meer gestreut werden oder in den Wind auf freiem Feld. - Das ist wohl auch geschehen.

Zu Ramon, Bepos Sohn. Am Zaun hängt jetzt ein Schild: Zimmer an Erwachsene zu vermieten. Keine Tiere. Bepos Zimmer steht leer. Ramon Sanchez wirkt verschüchtert. Sein Ausdruck des vom Vater Unterdrückten, der immer bösen Schabernack macht. Unverheiratet. Er gibt sich sehr beschäftigt. Er hat im Altarzimmer die Tücher von den heiligen Suppenter­ rinen genommen. Religiöse Utensilien stehen im Zimmer hinter der Küche auf dem Teppich. Er bereitet Los Guerreros, die Kriegerzeremonie, für eine Frau vor. - Ich werde Weiterarbeiten. - Mein Vater erkannte keine Babalawos über sich an. Seine ganze Linie nicht. Warum, weiss ich nicht. Als junger Mann interessierte ich mich nicht dafür. Ich interessierte mich nur für meine Arbeit. Ich wollte Mayombero sein und mit den Toten arbeiten. Ich habe einen Kongotopf. Ich bin auch von den Kongo geschnitten. - Jetzt werde ich in die Religion der Lucumi, der Yoruba einweihen, mit einer Priesterin zusammen. Ich als Padrino, sie als Madrina, als geistliche Mutter. - Das Fest meines Vaters am 20. Oktober ist nicht gefeiert wor­ den. - Mein Gott ist Chango. Und Ochum. Und Yemaya. Ramon hat den Kräuterabsud Omiero vorbereitet und in die Sonne gestellt. - Ich habe die Götter meines Vaters ins Meer und in den Fluss geworfen. Wie mein Vater es bestimmt hat. - Er wollte kein Itutu, keine Totenfeier.

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- Ich habe seine Götter auch im Wald, auf dem Berg gelassen. - Ich habe alles allein am Sarg, ich habe alles allein gemacht. - Beim llutu sagt der Gott, ob er mit dem Toten davongehen will. Oder ob er bleiben will. - Mein Vater wollte kein Itutu. - Er wollte nicht, dass seine Götter hier bei uns blieben. - Ich weiss nicht warum. - Wenn ich einmal sterbe, lasse ich meine Götter auch nicht hier. - Vielleicht nehme ich sie mit. - Meine Götter gehören mir. - Das ist eine Laune. - Vielleicht helfen einem die Götler, wenn man gestorben ist. - Aber dem Gesetz nach muss man ein Itutu machen. - Wenn die Götter nicht bleiben, werden die Kelten zerrissen, und die Suppenterrinen werden zerbrochen. Alles wird in den Fluss geworfen, ins Meer und aufs Ödland, auf den Berg und in den Wald. Ich zerriss die Kelten vor dem Sarg und warf die Götler ins Meer. Ich allein. Es ist eine sehr einfache Zeremonie. - Ich wollte kein Priester sein. - Aber mein Vater hat mich dazu gezwungen. - Wenn alles zerbrochen und zerrissen ist, müssen die Tränen des Toten einem abgenommen werden. - Manche baden in Omiero oder in Milch. - Es werden Tiere geopfert. Das Blut wird den Göttern gegeben und die Äser werden aufs Ödland geworfen. Dort holt sie Echu, das ist ein Elegba der Toten.

Eine alte Kubanerin, Margot, macht Altärchen. Sie befestigt Ramschfiguren und Flitter auf Scifenstücken und verkauft sie in den Devolionalienhandlungen und Kranken­ häusern. San Lazaro. Santa Barbara. San Martin. La Caridad del Cobrc. San Juda. San Juan Bosco.

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La Virgen de las Mercedes. La Virgen de Regia. Aber auch frivole Tänzerinnen balancieren auf dem Stück Seife, in deren Händen wieder winzige frivole Tänzerinnen balan­ cieren. Von den afrikanischen Göttern, die mit den Heiligen identifi­ ziert werden, will sie nichts wissen. Sie wohnt in einem dürftigen Zimmer. Dünn. Ausgezehrt. Wo man hinkommt, ist das Fernsehen an. Auch hier.

Zu Willito, dem Babalawo, dem Orakelpriester, dem Sohn des Babalawos. Die Mutter gibt mir wieder nicht die Hand. Willito: - Unsere Familie ist die älteste der vornehmen Familien Kubas. - Mein Vater ist der Dekan der vornehmen Familien Kubas. - Braganza. - Hohenlohe. - Habsburg. - Alba. - Adelig. - Vornehm. - Bühlow. - Duc. - Graf. - Comte de Paris. - Roi. - Rey. -De. - Von. Im Hause des kubanischen Orakelpriesters in Miami. Zum Schluss eine Bemerkung über die Kongo: - Ich besitze einen Totenkopf der Kongo - N’tu Kiyumba. - Die begehrtesten Totenköpfe waren die der Weissen.

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Sonnabend, den 15. Oktober: Newsreel: Felix Cärdenas klagte heute vor Gericht, dass er nackt in seiner Zelle gehalten würde und nur einen braunen Papiersack bekäme, um sich nachts in der kühlen Zelle zuzudecken . . Ilun wurde eine Matratze zugestanden und ein Lampenschirm, um das 24. Stunden brennende Licht vor seiner 6 mal 9 Fuss gros­ sen Zelle abzuschirmen und einige Tücher für seine persönliche Hygiene. Ein Gefiingnispsychiater sagte aus, Cärdenas schlafe nur zwei bis drei Stunden in der Nacht. Die Gefängnisbeamten gaben zu, dass Cärdenas auf einer Stahl­ platte schlafe und Kleidung nur bekomme, wenn er Besuch er­ warte. Cärdenas hat drei Selbstmordversuche begangen, sagten sie. Cärdenas, der kein Englisch spricht, sagte 45 Minuten mit Hilfe eines Übersetzers aus: Die Gefängniswärter beleidigen und provozieren mich. Sie beschreiben die Art und Weise, wie man auf dem elektrischen Stuhl stirbt. Fast den ganzen Tag höre ich Stimmen von fern. Die Stimmen sagen, dass ich mich töten soll oder auf den Gorilla achtgebcn. Ich lasse sie nicht zuende reden. Ich fange an zu singen oder zu schreien. Gefängnisbeamle sagten aus, dass 11 von den 21 Gefangenen dort unter den gleichen Bedingungen wie Cärdenas gehalten werden.

Zu Wilfredo, dem Babalawo, dem Orakelpriester, dem Vater des Babalawos Willito, des Orakelpriesters. Wilfredo ist geistlich mit zwei Kunden beschäftigt. Die Mutter macht mir einen Kaffee. Wir sprechen über den Kaffee. Sie löst sich etwas. Sie schwört auf den Strumpf. Plötzlich unvermittelt: - Meine Familie war so streng und traditionsgebunden, dass man mich nicht einmal in die Schule gehen lassen wollte. — Es gab in der kubanischen Aristokratie niemanden, der würdig gewesen wäre, mich zu begleiten.

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— Ich machte mir klar, dass ich dumm bleiben würde wie eine Bohne und bat darum, in einer Klosterschule leben zu dürfen. Da hatte ich endlich Freiheit und ich konnte lesen. - Alles, was ich weiss, habe ich mir selbst erlesen.

Sonnabend, den 15. Oktober: Newsreel: Ein homosexueller Demonstrant warf Anita Bryant eine Bana­ nencremetorte ins Gesicht, als die Sängerin eine Pressekonferenz gab. Sie brach in Tränen aus und, während noch die Bananencreme von ihr abtropfte, begann sie mit ihrem Gatten Bob Green um Vergebung für ihren Angreifer zu beten. Als Green mit Beten fertig war, folgte er dem Angreifer und sei­ nen Freunden auf den Parkplatz, nahm einem von ihnen eine andre Cremetorte weg und warf sie ihm ins Gesicht.

Zu Gilberto in die Devotionalienhandlungen Los Hermanos Die geheimnisvollen Brüder. Gilberto redet: - Weisst du, was das Schlimmste im Exil ist? Sie haben Schwule in die Religion des Kongo eingeweiht! - Mein Geschäft geht schlecht. - Ich habe die Botanica erst sieben Monate. Die Gegend ist schlecht. - Ein Kongopriesler braucht 21 Hölzer und Stecken für seinen Topf. - Es gibt verschiedene Möglichkeiten, die Hölzer auszuwählen. - Eigentlich muss der Kongo, von seinem Toten geführt, die Hölzer auf dem Berg, im Wald selbst brechen und nur die, die er holen soll, aber nicht finden kann, darf er in einer Botanica kaufen. - Es gibt Palos de Fundamento, Hölzer zur Grundlegung eines Altars. - Mein Padrino, mein geistlicher Vater hat alle Wörter der Kongo im Kopf.

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- Er kennt die Wörter für die Tiere. Die Wörter für die Glieder des Körpers. Für die Geschlechtsteile des Mannes. Für die Farben. Für die Mahlzeiten und die Opferspeisen. Ich erzähle Gilberto, dass mir ein Antiquitätenhändler einen ech­ ten Totenkopf für 100 Dollar angeboten hat. - Das ist billig. - Und ein ganzes Skelett für 600 Dollar. - Das ist sehr billig. - Der Handel mit Menschenknochen ist in den Vereinigten Staa­ ten verboten. - In Kuba war es immer leicht, Menschenteile zu bekommen. - Die Totengräber verkauften dir alles, was du brauchtest. - Hier in den Devotionalienhandlungen bieten sie einen echten Totenkopf für 300 Dollar an und du kannst dir ausrechnen, was ein ganzes Skelett dann kostet. - Für den Topf der Kongo genügt schon ein Totenkopf - Kiriyumba mit oder ohne Kinn, zur Not genügt die Schädelplatte, Caravela, und ein Beinknochen, das Schienbein oder das Waden­ bein, Pakanani, und ein Finger, besser die ganze Hand, Moko. - Dann muss der Tote für einen arbeiten. - Aber man muss den Vornamen, den Nachnamen wissen, damit man ihn rufen kann, und das Geburtsdatum, damit er einem un­ tertan wird. - Moko con moko, No endiata, Si endiata, acaba el mundo. Hand in Hand, Streitet nicht, Wenn ihr streitet, endet die Welt. Wie heisst es in den Merseburger Zaubersprüchen: - Ben zi bena. Bluot zi bluoda Lid zi geliden. Sose gilimada sin. Auf den Begalen der Botanica, der Handlung von Devotionalien und Paramenten, stehen Spraydosen mit Afrikanischer Geistes­ kraft: Aerosol 7 potencias africanas. Gilberto erschrickt: - Sag niemandem, was ich gesagt habe. Wenn sie erfahren, dass ich geplaudert habe, kriege ich vier Schläge mit der Machete.

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Wenn man an den Sossen im Hotel riecht - die stinken. Das heisse Wasser, in das man den Teebeutel hängen soll - riecht nach Chlor, wie das Badewasser und das Wasser im Swimming Pool.

Im Club Bath liegt ein Prospekt aus: Haitianische Ferien vom 27. bis 30. Oktober. Ein elegantes, sinnliches, erotisches, schwules Wochenende für Sie und Ihren Liebling in der Habitation Ledere einem intimen und abgeschirmten napoleonischen Anwesen in Port-au-Prince. Es schliesst ein: Gourmet Dinners. Maskeraden. In die Erde eingelassene Badewannen. Eigenen Swimming Pool. Eigenes Zimmermädchen und Butler.

Flugblatt. Stopt alle Deportationen. Politisches Asyl für Haitianische Flüchtlinge. Hier in Miami kämpfen mehr als 2000 Haitianer um politisches Asyl vor der brutalen Diktatur der Duvaliers in Haiti.

Sonnabend, den 29. Oktober: Newsreel: Felix Cärdenas für zurechnungsfähig befunden. Ein Arzt: Cärdenas ist sich über die gegen ihn erhobene Anklage im klaren, auch wenn sein Bewusstsein in Auflösung begriffen ist. Ein Psychiater: Cärdenas leidet an Halluzinationen, Visionen von Ungeheuern. Er nimmt an, dass sein Essen vergiftet sei und dass er das Opfer 217

einer riesigen Verschwörung werde, die seine Anwälte einschliesst, den Richter, den CIA, Fidel Castro und die Mafia.

Ein Ausflugsboot kehrt an den Quai zurück. Die Rentner sitzen mit gesenkten Köpfen. Sie warten. Sie stehen nicht auf, obwohl das Boot schon längst angelegt hat. Sie werden durch den Lautsprecher zum Aufstehen ermuntert. Sie stehen auf.

In einer vierspurigen Strasse der Innenstadt fehlen noch die weis­ sen Markierungen. Verkehrs chaos. Verstopfung. Verloren und hilflos stehen die Strassenkreuzer schräg und quer.

In den Restaurants bilden sich oft kleine Menschenschlangen, auch wenn viele Tische leer sind. Die Gäste warten, bis der Empfangschef sie einweist. Keiner würde sich selbständig hinsetzen. Wenn Leonore und ich es tun, geraten alle weiteren Riten durch­ einander.

Ein Babalawo aus Kuba kauft in der Gallery Twenty-Four afri­ kanische Plastiken für seinen Tempel in Miami.

Zwei greise Juden mit Käppi sitzen sich bei Eiscreme gegenüber. Zwischen ihnen steht ein Transistorradio. Sie reden nicht miteinander. Sie halten den Kopf schräg und hören in den Transistor hinein. 218

Unter der Manschetic hervor, auf der gefleckten Haut, die eintä­ towierte KZ-Nummer, Tn der Konditorei drei stramme junge blonde Bediener.

Carlos Canet kommt mit seiner Lucumi-Kirche voran. Er hat draussen vor Miami bereits das Terrain gekauft und er will jetzt — als provisorischen Tempel - einen Wohnwagen instal­ lieren, damit die Nachbarn dort sich an die Riten gewöhnen. Vielleicht hält er dort am 2. November eine Zeremonie für die Toten ab.

Carlos Canet sagt: - Wenn die Muscheln, Ifa, einer Frau, die ganz verzweifelt zu mir kommt, sagen, dass ihr kranker Sohn sterben wird, werde ich ihr das nicht mitteilen; denn ich will der Frau in ihrer Verzweiflung helfen und sie nicht noch verzweifelter machen. Was die Muscheln sagen, ist nicht das Entscheidende, sondern die Hilfe, die ich mit Ifa geben kann. Ifa motiviert mich zur Psychotherapie. - Woran glauben Sie, an die Aussagen von Ifa oder an die Mög­ lichkeit der Therapie? - An die Möglichkeit der Therapie. - Wird Ihnen das bei der Einweihung in Afrika mitgeteilt? - Nein. Die afrikanischen Babalawos folgen strikt den Vorschrif­ ten und Regeln. Und wenn Ifa neun verschiedenen Personen das Gleiche sagt, weissagen sie neun verschiedenen Personen das Gleiche. Ich habe in zwei Tagen in New York 96 Personen das Orakel von Ifa gelesen. Alle 96 sind zufrieden und erleichtert weggegangen. Ich soll die Leute zum Reden bringen. Sie sollen sich aussprechen. Die meisten Frauen - es sind 90 Prozent Frauen und 10 Prozent Männer, die mich besuchen - die meisten Frauen sitzen verschlos­ sen und verkniffen da und sagen keinen Ton. - Mit den Kauris bringe ich sie zum Reden. Ich sehe einmal hin und dann geht alles von alleine. - Was immer die Kauris sagen, Sie benützen es, um die Schwie­ 219

rigkeiten der Leute herauszubekommen? - Die Leute wollen eine Bestätigung haben. Ich muss ihnen be­ weisen, dass die Kauris die Wahrheit sagen. - Sagen sie nun die Wahrheit oder sagen sie sie nicht? Wenn mein Vater früh gestorben ist und Sie wissen das nicht, teilen die Kauris Ihnen das mit? - Sie würden nicht sagen: Ihr Vater ist schon lange tot, sondern: Sie haben Schwierigkeiten mit Ihren Vorfahren. - Aber das ist doch eine von den Aussagen, die immer stimmt. Und daraufhin öffnen sich die Leute und beginnen zu reden? -Ja. Ich frage mütterlicherseits oder väterlicherseits . . Wenn ich merke, dass dies Thema meinen Kunden unangenehm ist, bestehe ich nicht weiter darauf. Es geht darum, die Methoden der afrikanischen Babalawos und der kubanischen Babalawos auf die moderne Wirklichkeit anzu­ wenden. Die Geschichten, mit denen in Afrika die Aussagen von Ifa um­ schrieben werden, sprechen von Tieren, die hier unbekannt sind. Wenn ich einem Geisteskranken das hier antworten würde, glaubte er, ich sei verrückter als er. Ich glaube, ich kann mit Ifa leichte Neurosen und Psychosen hei­ len - natürlich nicht die Veränderungen, die auf Grund der Sy­ philis eingetreten sind. Ich kann heilen, weil mir die Religion zur Verfügung steht. Wenn hier einer irgendwelche psychischen Störungen hat, sagt die Familie: In dir steckt ein Toter oder ein Haitianer und die wollen arbeiten, solange, bis er es selbst glaubt und da ich die Therapie auf derselben Ebene durchführe, heile ich ihn. Ich habe im Jackson Hospital darüber gesprochen, aber die Psy­ chiater und die Psychologen waren nicht sehr daran interessiert. Ich glaube, die Anthropologen in Amerika verstehen mehr von der Psyche als die Psychologen. Die Mediziner, sobald sie das Studium beginnen, sehen nur noch die 50-Dollarnote vor sich. 8 Stunden Arbeit pro Tag, einen Gei­ steskranken pro Stunde, das macht vierhundert Dollar pro Tag. Ein Psychiater wollte mit mir Zusammenarbeiten: Sie als Kubaner könnten mir religiöse Hilfe geben. Und wie stellen Sie sich diese Zusammenarbeit vor? Wenn ich einen schwierigen Fall habe, rufe ich Sie an und Sie kommen zu mir und wir behandeln ihn gemeinsam. 220

Wenn wir die Honorare teilen, gerne. Ich habe nie wieder was von ihm gehört. - Wird nun bei der Einweihung in Afrika aufgedeckt, dass die Kauris, das Ekuele, die Palmkerne nur Mittel zum Zweck sind? - Nein. Ich glaube, ich bin heute stärker als die afrikanischen Babalawos. Sie können mir nur die Wahrheit mit Ifa sagen, aber ich kann ihnen die Zukunft mit Ifa sagen. In Afrika ist alles sehr kommerzialisiert. Man kauft sich die Ein­ weihung wie eine Ware. Ich kriege diesen Ritus. Ich bezahle was dafür. Jetzt habe ich ihn erworben. Es wird einem gesagt, man soll mit seinem Padrino sein Leben lang in Verbindung stehen. Warum? Ich habe bezahlt. Damir ist die Verbindung beendet. - In Haiti zum Beispiel spricht ein Orakelpriester durch verschie­ dene Manipulationen aus einem Tontopf mit der Stimme eines Toten. Es muss doch bei der Einweihung der Moment gekommen sein, wo man ihm sagte: Hör zu, da nimmst du eine Bambusrohre und sprichst mit Fistelstimme und behauptest, du seist der verschie­ dene soundso. - Die Yoruba in Nigeria sind raffinierter. Sie stellen die Toten in den Kostümen der Egungun dar. Die Priester sagen zu den Novizen: Ihr stellt jetzt die Toten dar. Ich werde in meinem neuen Tempel nur noch Babalawos einweihen. Die Einweihung in Nigeria ist im wesentlichen die Über­ windung des Todes. Ich kann heute nicht mehr durch einen Autounfall ums Leben kommen oder bei einem Flugzeugunglück! Die Einweihung zum Babalawo in Nigeria ist ein Drama. Der Novize ist wie ein Schauspieler, den man durch ein Theaterstück führt, in dem die einzelnen Todesarten dargestellt werden. - Das werden Sie hier mit Ihren Novizen auch durchführen? - Es ist schwer, die modernen Todesarten darzustellen. Wie wollen Sie einen Autounfall imitieren oder einen Flugzeug­ absturz?! Ich werde mit den Novizen wohl nacli Afrika zur Ein­ weihung fahren. Dort nehmen sie den Novizen an die Hand und führen ihn durch die verschiedenen Situationen, in denen man in Afrika stirbt:

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Vom Löwen gefressen werden, verbrennen, ertrinken. Für mich ist die Einweihung das Allerhöchste und Reinste, so dass ich eigentlich gar nicht darüber sprechen kann. Und deshalb has­ sen mich auch die anderen Babalawos hier, die aus der Religion einen Kommerz gemacht haben. - Vielleicht auch, weil Sie liier nicht als Exilierter leben, als poli­ tischer Flüchtling und nicht die Traumata und die Komplexe eines politisch Exilierten haben. - Übrigens ein Wort zu Castro: Ich verliess Kuba fünf Jahre bevor Castro an die Macht kam. Battista hatte lange Jahre mit einer Militärdiktatur regiert. Es gab Leute, die lebten sehr gut und es gab andre, die lebten schlecht. Dazwischen gab es nichts. Es musste jemand kommen wie Castro. Zuerst war das Volk von der Revolution begeistert. Castro versuchte, sich mit den Amerikanern zu einigen, denn eine Insel in der Karibik kann nicht ohne die USA existieren. Aber die USA nahmen Castro nicht für voll, weil hier in Miami dauernd Flüchtlinge eintrafen, die sagten, Castro hält sich nicht länger als sechs Monate - und so war Castro schliesslich gezwun­ gen, die Russen reinzulassen. Von dem Augenblick an änderte sich alles. - Es wäre interessant, zu sehen, was geschieht, wenn Sie mir das Orakel von Ifa werfen würden. Ich könnte Ihnen jedesmal sagen, wann Sie sich geirrt haben und wann nicht. - Nein. Das geht nicht mehr. Ich kenne Sie zu lange. Meiner Frau kann ich auch nicht mehr die Zukunft sagen. - Das verstehe ich.

Ernesto: - Die Weissen haben den Schwarzen auf Kuba die Religionen abgeschnackt. Also können die Schwarzen nicht sehr verschwiegen gewesen sein. Und sie waren entgegenkommend. Die Weissen, die jetzt - und besonders in Miami - die Religionen in der Hand haben, sitzen auf ihren Geheimnissen. (Die jeder kennt.) Ernesto sagt: - Die weissen Santeros. Babalawos, Mayomberos. Kimbisa, Aba222

kua hier in Miami sagen nichts uncl lassen euch nicht fotogra­ fieren, weil sie nichts wissen. Das würde dann nämlich raus­ kommen. Ernesto hat mir ein kleines Recado, einen Perlentalisman ge­ macht. Ein afrikanisches Gesicht, das mich unbeteiligt ansieht. - Es gibt eine Zeremonie, um ihn zu weihen. Ein Hahn wird dabei geschlachtet. Sonst ist er nicht wirksam. Ernesto will mir aus den Kauris lesen. Wir setzen uns in den kleinen Altarraum in der Devotionalien­ handlung. An der Wand das Bild des Reformators Andres Petit, des Freimaurers, Abakuas, Kimbisas. Darum herum viele angenagelte Dollarnoten. Ernesto zeichnet auf eine schwarzbemalte Holztafel Kreide­ zeichen. Kreise, Kreuze, Pfeile. Ernesto wirft die vier grossen Kauris: - Elegba ist verstimmt und will ein Essen. Der nigerianische Hermes verhält sich also nicht viel anders als ein bundesdeutscher Redakteur. - Du hast Schwierigkeiten. Aber Ochossi wird alles lösen. Wer hätte keine?! - Ogun verteidigt dich auch! Ausgerechnet. Der Schwulenhasser, der Macho? - Für Schriftsteller ist Ochossi gut! Der Jäger und Sammler? - Schriftsteller haben doch was mit Federn zu tun. - Dass ich es mir nicht gedacht hatte! - Aufpassen mit der Gesundheit. - Die Probleme werden gelöst. - Viel Geld kommt rein. Der »stem«. Ernesto erklärt die Kreidezeichen: - Der Kreis ist die Erde. - Die Schlangenlinien sind die 21, die Maha, die Schlange. - Die Pfeile bedeuten Pfeile. - Die Kreuze bedeuten die Baumstücke der Kongos, die immer gekreuzt werden. - Die kleinen Kreise sind Sonne und Mond.

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Donnerstag, den 5. November: Newsreel: Die Richterin Morphonios weigert sich, das Schuldgeständnis von Felix Cärdenas vor der Polizei von Miami für ungültig zu er­ klären; sie billigte dem Angeklagten nicht zu, dass die Verhand­ lung ausserhalb von Dade County geführt werde und dass die Geschworenen in einem Hotel abgeschlossen lebten, solange die Verhandlung dauerte. Zur Nachmittagssitzung kam Felix Cärdenas zu spät, denn er hatte sich seine Hose und sein Hemd, alles, was er trug, herunter­ gerissen.

In Ernestos Botanica eine weisse Kubanerin in Weiss. - Ich bin 42. - In Kuba sagte das Orakel, ich sollte mich einweihen lassen. - Schliesslich sagte ich zu San Lazaro: Wenn du mich aus dem Kommunismus befreist, lasse ich mich in Miami einweihen. - In Miami sagten mir die Santeros: Wenn du dich nicht einwei­ hen lässt, wirst du bald im Rollstuhl fahren. - Ich habe mich einweihen lassen. Aber die Beschwerden blieben nicht aus. Ich musste mich operieren lassen. Meine Beine sind auch durch die Einweihung nicht viel besser geworden. Ernesto sagt: - Das ist oft so. Der Santero sieht die Gefahren, die eintreten würden, wenn du dich nicht einweihen lässt. Klar, wenn du dich dann hast einweihen lassen, merkst du nichts mehr von den Ge­ fahren.

Dienstag, den 8. November: Newsreel: Felix Cärdenas reichte am Montag ein guilty plea ein und wurde daraufhin von einer Richterin, die ihn auf den elektrischen Stuhl bringen wollte, lebenslänglich ins Gefängnis geschickt. - Ich hoffe, niemand hält mich für blutrünstig und ich hoffe, ich bin es nicht. Aber nichts würde mir ein grösseres Vergnügen be­ reiten, als die Todesstrafe zu verhängen, sagte die Richterin Ellen Morphonios. 224

Staatsanwalt Richard Gerstein sagte, der Staat habe nur wider­ strebend das guilty plea anerkannt. - Meine persönliche Auffassung ist, sagte Gerstein, dass jeder, der einen Polizisten tötet, zum Tode verurteilt werden sollte. Ein 72jähriger Bürowächter, der in den letzten Jahren fünfmal gewürgt, niedergeschlagen und ausgeraubt worden ist, schoss am Montag auf einen Teenager, der ihn zum zweiten Mal in zwei Wochen ausrauben wollte.

Zu Ernestos Devotionalienhandlung. Ernesto ist in der Botanica San Pedro allein. Er freut sich, dass wir kommen: - Carlos Canet will im Januar schon mit einigen nach Afrika fahren, damit er sie dort von seinem Padrino als Babalawos einweihen lässt. Er und sein Padrino haben sich abgesprochen. - Ich halte nicht viel davon. - Früher hat er immer gesagt, ich sollte mitkommen und auch ein afrikanischer Babalawo werden. Aber ich sagte, ich wollte erstmal zugucken und sehen, was da los wäre. Als ich ihn jetzt wieder auf meine Reise ansprach, ist er ausgewichen. - Ich habe meine Toten und meine Töpfe. Damit bin ich zu­ frieden. - Canet blieb ja nichts anderes übrig, als sich in Afrika einweihen zu lassen. Kein Babalawo hier wollte es tun. - Canet hatte sie alle im Radio beleidigt und als Betrüger bezeich­ net. Wenn man sie erst kritisiert, kann man nicht hinterher er­ warten, dass sie einen einweihen. - Canet hat mir erzählt, was er in Afrika hat machen müssen: Zuerst musste er eine grosse Ratte essen und Spinnen und so wei­ ter. Dann hat er drei Tage lang im Busch leben müssen und drei Nächte dort alleine schlafen. Das glaube ich nicht. Das ist viel zu gefährlich für einen, der das nicht gewohnt ist. Da kann er sterben. Dann hätten sie ihn in Schlamm und Sumpf gelegt und seien alle über ibn hinweggetrampelt. Dann haben sie ihn mit Lederstücken durchgeprügelt. Ich glaube das alles nicht. Ich glaube, Canet erzählt nur, was er im Kino gesehen hat. 225

- Und ausserdem: Der Babalawo in Lagos, der Canet eingeweiht hat, soll ein ganz armseliger Babalawo gewesen sein. Nun frage ich dich: Warum soll ich mich von einem Babalawo einweihen lassen, der ärmer ist als ich?!

Herzschrittmacher für Hunde 1500 Dollar. Gebrauchte Schrittmacher von Menschen können für Hunde wie­ derverwendet werden.

Zu Milian in die Botanica Los Hennanos. Gilberto ist betrübt. Er kann sich nicht um seine geistliche Entwicklung bemühen. Die Botanica reibt ihn auf. Sie geht nicht. - Ich will verkaufen. - Ich habe 11 geistliche Söhne. - Die wichtigsten Opfertiere für den Kongopriester sind die Lechusa und die Maha. Die Schlange. Aber man darf sie nicht Schlange nennen oder Maha — man sagt die 21. - Das Tier für den Gott Siete Rayos - Sieben Blitze - ist der Löwe. - Hier in Miami hat ein Mayombero einen Löwen geopfert! - Stell dir vor. Wir haben doch einen Pakt mit dem Löwen. - Ein Kongopriester kann doch keinen Löwen opfern. - Es war auch kein Löwe, soviel ich weiss, sondern eine Löwin - aber trotzdem. - Wir haben auch einen Pakt mit den Krokodilen. Wir ziehen sie von klein an auf und sprechen ihnen in der heiligen Sprache der Kongo zu und schliesslich antworten sie auf kongo­ lesisch. - Wer bei der Mahlzeit für die Toten rückwärts geht, hat einen jüdischen Topf und treibt schwarze Magie. Bei mir wird nicht rückwärts gegangen. - Ich arbeite nur christlich und schade meinem Nächsten nicht. - Gelegentlich steigt der Hund des Topfes herab. Das ist fürch­ terlich. Der Hund des Topfes ist stärker als edle. - Um ihn zum Sprechen zu bringen, muss man eine geheime Zeremonie machen. 226

- Die Talismane ans Perlen heissen Recuaclos. auch Borna oder Macuta. - Ich arbeite auch spiritistisch. - Von mir nehmen zwei Tote Besitz, die sind Kongos, Mayoinberos. Mihaela, eine Schwarze, die nie Sklavin war und die zwi­ schen Afrika und Amerika hin und herreisl und ihr Sohn Fran­ cisco Xavier Gonzalez, ein schwarzer Sklave. - Diese beiden haben mir gesagt, dass ich mich einweihcn lassen müsste. - Aber ich habe ihren Rat nicht genau befolgt. - Vor zehn Jahren hat mich ein Haitianer eingeweiht, auf Kuba, ein Mayombero, mit einem jüdischen Topf, sein Altar war eher eine Kiste, die er mit Ketten und Vorhängeschlössern sichern musste. So stark war sie. Wenn er das heilige Getränk Tschambe darauf goss, fing die Kiste an, wie eine Kuh zu muhen. - Wenn ich nur daran denke, kriege ich eine Gänsehaut und die Haare stehen mir zu Berge. - Dieser haitianische, jüdische Mayombero machte nur das Böse. - Er war sehr schmächtig. - Er hatte sieben 14jährige Mädchen, die alles für ihn tun muss­ ten. Er war sehr männlich. - Es gibt keine schwulen Mayomberos, denn vor der Schneidung erkundigt man sich genau, ob einer schwul ist oder nicht. Wenn sich ein geistlicher Vater hat täuschen lassen und einen Schwulen eingeweiht hat, dann muss er seinen Topf zerstören. - Einem Schwulen den ersten Grad der Einweihung zu geben, Engello, das geht noch, aber zum Tata darf man einen Schwulen nicht machen. - Der Haitianer war mein Freund geworden. Er wollte mir hel­ fen und deshalb weihte er mich ein. - Aber er gab mir keinen geistlichen Namen. - Er hat mir auch einen Talisman gemacht und gesagt, wenn du den mal loswerden willst, dann musst du ihn vergraben. Ich lebte damals auf Kuba in einem Lager und wartete auf meine Ausreisegenehmigung und der Talisman brachte mir nur Be­ schwer. Ich hatte das Lager hinter mir gelassen und war spazieren gegangen. Ich hörte eine Stimme, die sagte: Vergrab deinen Talis­ man und ich vergrub ihn auf einem Berg, an einem Abhang, in den Wurzeln einer Palme. Inzwischen war meine Genehmigung zur Ausreise nach Miami

gekommen und ich reiste nach Havanna zurück und verabschie­ dete mich von meinem Padrino, dem Haitianer. Ich sagte ihm: Dein Talisman hat mir nur Unglück gebracht. Ich musste ihn vergraben. Er antwortete: Ich weiss. - Und er zeigte mir den Talisman vor. Es war mein Talisman in seiner Hand. Et­ was fettig, vom Herumtragen in der Küche, ich hatte im Lager als Koch gearbeitet, und noch voller Erde und Wurzeln von der Palme. Als ich in Miami ankam, sagte ich zu den Kongos: Ich bin auf Kuba geschnitten worden. - Und wie lautet dein Name? - Ich hatte keinen geistlichen Namen. Wilhams, ein sehr feiner Neger, sagte: Du musst dich noch einmal einweihen lassen. Er tat es. Aber er war ein Scharlatan. Sieh dir die Narben von seinen Schnitten an. Ich habe überall violette Narben, an den Ar­ men und an den Füssen. Die Schnitte eines guten Tata hinterlas­ sen keine violetten Narben. So kam es, dass ich zweimal falsch eingeweiht wurde, weil ich nicht genau die Ratschläge von Mikaela und Francisco befolgte. Schliesslich fand ich Orlando, er ist einer der besten Mayomberos im Exil. Er hat mich ein drittes Mal eingeweiht. Er hat mich geschnitten. Er hat mir die Ketten gegeben. Er hat mir einen Topf gegeben. Er hat mir das Embelle gegeben, die Machete. Die hat nicht jeder. - Es gibt Regeln, wenn man jemanden schneiden will. Man kann nicht zu jeder Stunde schneiden und nicht an jedem Tag. - Ich selbst schneide nur zweimal im Jahr. Im Januar, an dem Tag, an dem mir selbst das heilige Kleid, die Manta, übergeben wurde, und im Juni. - Ich lese nicht das Orakelzeichen für das nächste Jahr am 31. De­ zember. Ich sollte am 31. bei meinem Padrino sein, und die von mir Eingeweihten sollten bei mir sein. Das ist schwierig zu lösen. - Ich gebe den Toten in ihrem Topf ein Essen. Ich ganz allein. Für den Enfumbe, für den Toten. - Nicht jeder hat das Embelle. - Wenn ich jemanden schneide, kostet das 121 Dollar. Die an­ deren nehmen 300 und 400 Dollar dafür. - Wenn mein Padrino wüsste, was ich dir alles erzählt habe, würde ich 21 Schläge mit dem Embelle bekommen.

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Im R&R an die Wand geschrieben: Anita Bryants husband walks funny!

Mittwoch, den 9. November: Newsreel: 52 Haitianer und die Leiche eines weiteren, der auf See starb, wurden von exilkubanischen Fischern zur Küstenwache von Miami gebracht. Die Haitianer hatten gewaltsam Saft in den Mund des Mannes gegossen, der später starb, aber er spie den Saft wieder aus. Ungefähr vierzig der hungrigen, durstigen Haitianer waren ins Wasser gesprungen und auf die zwei Hummerboote der Exilkubaner zugeschwommen. Sie schrien um Wasser. Die Einwanderungsbeamten brachten die männlichen Flüchtlinge ins Belle Glade Gefängnis, die Frauen ins Dade County Women Haftzentrum und die beiden Jugendlichen in das Haus für Ju­ gendliche.

Im Reformhaus: Organic Turkey.

Sonnabend, den 12. November: Newsreel: Erpresser droht, die Wasserleitung von Dade County zu vergiften, wenn ihm nicht 1,6 Millionen Dollar gezahlt werden. Dr. Manuel Artime Bueza, Anführer der Invasion der Schweine­ bucht von 1961, ein angesehener Sprecher der Exilkubaner, starb am Donnerstag im Alter von 45 Jahren an Krebs. Er hatte mit Fidel Castro gegen den kubanischen Diktator Fulgenico Batista gekämpft, brach aber 1960 mit Castro, als der sich dem Kommunismus zuwandte. Artime war der Freund mehrerer amerikanischer Präsidenten, be­ sonders von Robert und John F. Kennedy. Er leitete Guerilla­ attacken gegen Castro mit Unterstützung des CIA. 229

Zur menschlichen, zur humanen Gesellschaft - Humane Society dem Hundefriedhof. Eine Frau mit schwarzem, dickem Zopf verkauft Schappy und Halsbänder. Sie weist uns stumm und niedergeschlagen ins Fried­ hofsbüro. Die Sekretärin spricht mit einer kaum die Tränen niederkämpfen­ den Stimme: - 1940 gegründet. - Begräbnispreis etwa 125 Dollar. - Pferde, Schildkröten, Katzen, Hunde, Vögel, ein Opossum. - Keine Fische. - Keine Schlangen. - Auf vier beerdigte Hunde kommt eine beerdigte Katze. - Pferde selten, teuer, wegen der Flaschenzüge. - Reiche Tierhalter. - Keine Kindersärge. - Extra Särge. - Es besteht die Möglichkeit, einen Geistlichen für das Adieu in der Kapelle zu rufen. Es sieht aus wie ein Friedhof für die Bürger von Miami. Blumenvasen. Rasen. Sehr kleine Steine für die Kanarienvögel. Und ein Bronzeschäferhund - wo sonst der Engel stünde. »Nixon« 1957 bis 1962 Never Forgotten »Rosenberg« 1967 bis 1975 »Bismarck« 1965 bis 1974 Trauernde Kubaner kommen. Der Mann hat einen schwarzen Anzug an, weisse Lackschuhe. Ich spreche sie in meinem dunklen Anzug an und fühle mich wie ein Wiederverkäufer von Staubsaugern. Aber mein Kalkül stimmt: Leute, die Wauwis beerdigen, sind an Verewigung interessiert. Sie stimmen schluchzend zu. In der Kapelle liegt der steife Pudel in einem würstchenfarbenen Sarg. Die beiden Frauen und der Mann weinen laut und lange. Sie stossen Erinnerungen hervor: - Weisst du noch, mit dem Kissen! - Jetzt wird er nie mehr sein Plätzchen essen! Zum Blitzen weinen sie heftiger. Ich fühle, dass ich auch gleich anfange zu heulen. 230

Leonore ist mit ihrer Arbeit in Farbe und schwarz-weiss fertig. Wir wollen dezent gehen. Sie möchten uns aufschluchzend zurückhalten. Draussen warten wir auf der Steinbank noch eine Stunde, bis sie in der Kapelle Abschied genommen haben. Der Totengräber in Jeans, mit nackten Armen. Tierry, die Gehilfin des Totengräbers. - Manche lassen die Hunde auch einäschem. - Es gibt hübsche bunte Dosen fürs Heim. - Einige reservieren sich hier Plätze für alle Hunde ihres Lebens. - Manche Hundebesitzer verfügen, dass sie eingeäschert werden und neben ihren Lieblingen hier beigesetzt. - Für die Entschlafenen machen wir wenig Kosmetik, nachdem wir sie aus den Gefrierfächern geholt haben. - Bei den Verkehrstoten ist es schwierig. - Ibisse? Nein.

Gourmet-Dinner in Vintons Town House. Kellner im Frack. Acht-Gänge-Menu. Champagner-Sorbet. Kalb: Gummireifen. Am Nebentisch sitzt eine junge Dame in rotem Kleid von Marcel Rochas. Die Maitresse d’Hotel, im schwarzen Abendkleid, strei­ chelt die junge Dame in Rot. Die junge Dame sitzt unbewegt. Ein Fleck. Ein Fleck auf dem roten Kleid von Marcel Rochas. Von den Wangen der jungen Dame fallen in dicken Tropfen die Tränen. Die Maitresse d’Hotel eilt weg. Die Maitresse d’Hotel eilt wieder herbei. Sie sagt dumpf: — I feel so responsible. Starr heult die Rote weiter. Die Maitresse d’Hotel unterdrückt ihr Aufschluchzen und eilt wieder weg. 231

Die Rote heult weiter. Die Maitresse d’Hotel kommt heulend mit einem Lappen zurück. Sie reibt an der Roten herum. - I feel so responsible. Ein Barry Lyndon am Nebentisch tätschelt der Roten die Wange. Von den Wangen der Maitresse d'Hotel fallen die Tränen in dicken Tropfen auf das schwarze Abendkleid. Sie bringt jetzt alles durcheinander. Sie vergisst das Messer. Sie tunkt in die Sosse. Die junge Dame im roten Kleid von Marcel Rochas erhebt sich und stürzt aufs Klo. Eine zwei le junge Dame vom Nebentisch hinterher. Nach einer halben Stunde kommen beide frisch gepudert aus dem Klo zurück. Als die Gesellschaft geht, heult die Maitresse d’Hotel ein letztes Mal auf: - I feel so responsible. Die junge Dame im roten Kleid von Marcel Rochas sagt damen­ haft: - It has no importance. Barry Lyndon tätschelt ihr viermal die linke Wange.

Sonntag, den 20. November: Newsreel: Clovius Joseph, ein 26 Jahre alter Arbeiter, starb letzte Woche auf See in einem Boot mit 55 anderen Flüchtlingen aus Haiti. — Wir haben dem amerikanischen Volk gezeigt, wie Haiti wirk­ lich ist, sagte Jean Bart von der Haitianischen Flüchtlingsorgani­ sation. Als Papa Doc starb, schickten die USA eine Million Dollar rüber, damit das Volk nicht aufstünde und gegen Jean Claude rebellierte. Wir wollen, dass die USA ihre Hände rauslassen! 30 Anglos, Lalinos, Schwarze und Haitianer trugen Schilder mit der Inschrift: Erinnert Clovius und Tirenne. Deville Tirenne erhängte sich 1974 in seiner Zelle, als er und 47 andre Haitianer nach Haiti deportiert werden sollten. Pierre Valcourt sagte am Grab von Clovius: 232

- Er trotzte dem Atlantischen Ozean. Er suchte Befreiung, Freiheit und ein besseres Leben. Wasser und Essen gingen auf der 14 Tage langen Reise zuende. Und Clovius’ Zustand wurde schwach. Er trank Seewasscr und er konnte nicht überleben. Und er ging dahin.

Zu Willito, dem Babalawo, dem Orakelpricsler, dem Sohn des Babalawos, des Orakelprieslers. Er verspätet sich. Der Vater wirft in seinem Konsullationszimmer die Wahrsage­ kette. Ich höre: - Tiene que evitar .. - Vermeiden Sie besser .. - Tiene que tener muy cuidado .. - Müssen Sie sehr vorsichtig sein .. Die Mutter kocht mir wieder Kaffee mit dem Kaffeestrumpf. Sie sagt: - Wilfredo hat mich aus meiner Familie befreit. - Als ich Wilfredo heiratete, wurde alles anders. Willito kommt und wir fahren ins Dadeland-Einkaufszentrum. Wir essen in der Creperie. Jm Stossgeschäft am offenen Sonntag, zwischen Pfannkuchen und Weihnachtsmännern, berichtet mir Willito von seiner Einweihung zum Babalawo. - Nein, Lydia weiss es nicht. - Kein Babalawo würde darüber zu einer Frau sprechen. - Angeblich hatte Ifa gesagt, ich müsse eingeweiht werden, als kleiner Junge. Nachher soll sich herausgestellt haben, dass es gar nicht nötig war. - Ich interessiere mich nicht für die Religion der Babalawos. - Ich hatte grosse Schwierigkeiten. Immer wieder haben die Ba­ balawos versucht, sich in meine Privatangelegenheiten zu mischen und mich aus religiösen Gründen in meinen Entscheidungen zu beeinflussen. - Ich will selbst entscheiden. - Ich will meine Arbeit in dem Museum in. South Carolina wieder aufgeben.

- Ich werde weiter versuchen, mich bei den Luftfahrtsgesellschaf­ ten zu bewerben. - Ich war ein ganzes Jahr arbeitslos. - Ich bin auf Kuba eingeweiht worden, als ich 15, 14 war. 1954. - Mein Vater hatte gerade das Olofi bekommen. Es war ihm von einem verstorbenen Babalawo vererbt worden, der keine Erben hatte, die Babalawo waren. - Mein Vater ist der einzige Weisse, der ein Olofi hat. - Es gibt ungefähr 20 schwarze Babalawos, die das Olofi haben. - Ich werde es erben, wenn mein Vater stirbt. - Nur die Afrikaner konnten die Olofis herstellen, angeblich gab es einen Schwarzen auf Kuba, der es konnte. - Eines der Geheimnisse des Olofi ist ein Knochen des Elefanten­ kopfes. Ein Knochen von der Stelle, wo das Rückgrat an den Schädel schliesst. Was sonst noch hineinkommt, weiss ich auch nicht. - Am Donnerstag kam ich in den Tempel und schlief dort. - Sie hallen einen besonderen Altar für mich aufgebaut. - Morgens wurde ich mit Omiero gebadet. - Ich musste auch einen Schluck Omiero trinken. - Jeden Morgen. Eine Woche lang. - Ich hatte in einem Korb alle nötigen Dinge für meine Ein­ weihung mitgebracht. - Am Freitag wurden mir nach dem Bad die Augen verbunden und ich wurde so in der Wohnung herumgeführt. Sie riefen: Cuidado la piedra! - Vorsicht der Stein! Cuidado el mueble! - Vorsicht das Möbel! Cuidado el hueco! - Vorsicht das Loch! Dann betrat ich das Einweihungszimmer Bordu. Ich wurde auf ein kleines Bänkchen gesetzt, das in einer Waschbalje stand, mit Omiero gewaschen, mit Seife gewaschen. Für edle Götter werden vierfüssige Tiere geopfert. Ein Opfer für den Gott Orunmila. Meine Einweihung war die grösste, die je statlgefunden hat. Es waren 200 Babalawos eingeladen worden. - Mir wurde der Kopf geschoren. - Ein Messer wurde kreuzweise auf meinem Kopf in die Kopf­ haut gedrückt. Es tat weh. Also waren wohl Schnitte gemacht worden. - Dann wuschen sie alles mit Branntwein ab.

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-r Sie legten einige Federn auf meinen Kopf. - Dann wurde nochmal alles mit Branntwein abgewaschen. - Etwas Geheimes wurde nun durchgeführt. Sie nahmen mich etwas zur Seite, dass ich es nicht sehen sollte. - Die 16 Zeichen des Orakel Ifa sind auf eine schwarze Holztafel mit gemahlener Eierschale gezeichnet worden. - Sie legen auf jedes Zeichen ein Häufchen aus geräucherter Julia, geräuchertem Fisch, Kokos, Vogelblut, Pfeffer, Federn. - Ich muss diese 16 Häufchen essen. - Am Sonnabend muss ich mich ausruhen. - Am Sonntag se saca la letra - wird das Orakel befragt. Die Tafel mit den 16 Zeichen wird hinter das Olofi gestellt, in eine mit Stoff ausgeschlagene Ecke des Einweihungszimmers. Dort schlief ich auch. Ich schlief in Gegenwart des Olofi. - Vor dieser Einweihung zum Babalawo war mir schon die erste Hand gegeben worden, die Hälfte der Palmenkerne, die der Ba­ balawo zum Weissagen benützt. Mit der grösseren Hand werfe ich jetzt selbst das Zeichen, das mein Leben bestimmt, diese Palmenkerne werden mir in der Suppenterrine des Gottes Orunmila gegeben. Am siebten Tag machen sie Häufchen aus Kräutern. Darin stecken die Schalen von kleinen Kokosnüssen mit Geld. Der Babalawo wird nun nie wieder das Feld beackern. Er schlägt mit einer Haue in die Häufchen und nimmt die Kokosschalen mit dem Geld auf und rennt damit so schnell er kann ins Bordu, ins Einweihungszimmer. Die anderen Babalawos haben sich in zwei Reihen aufgestellt mit Gerten des Busches Rasca Barriga. Der neue Babalawo muss da hindurchlaufen. Einige schlagen nur symbolisch auf ihn ein, aber einige schlagen auch hart. Die Freunde passen auf, dass nicht zu hart geschlagen wird. Mit Rasca Barriga wurden früher die Sklaven geprügelt. - Der neue Babalawo bringt die Kokosschalen zum Olofi und stellt sie davor ab. - Dann wird ein grosses Essen gegeben. - Die Reste werden auf einem Teller zu einem grossen Haufen gesammelt und den Göttern geopfert. - Eine Iaworicha, eine einfache Priesterin der Santeria, geht mit einer Schüssel herum, in die wird Geld, Pesos, Dollarscheine ge­ worfen. 235

- Dann ist es zuende. - Der neue Babalawo nimmt seine Sachen und geht nach Hause. - Während des Essens werden Wettgesänge der Babalawos ver­ anstaltet.

Heisser Sturm. Wir fahren zu den Indianern in die Sümpfe. Aber der Krokodilskämpfer liegt im Krankenhaus. Er ist von einem Auto angefahren worden und hat einen gebro­ chenen Kiefer.

Montag, den 21. November: Newsreel: Ein wohlhabender, alleinstehender Anwalt ist in Todesgefahr, nachdem er am Sonntag gefesselt, ausgeraubt und von einem Un­ bekannten, den er auf der Strasse eingeladen hatte und mit nach Hause genommen, mit dem Messer niedergestochen wurde.

Wenn man einen Namen nennt, sagen die Kubaner: — Wie war der Name? - Ich werde mich über ihn erkundigen. Lydia tut es. Rene. Manolo. Wilfredo.

Sonnabend, den 26. November: Newsreel: Nebel färbt die Landschaft braun. Herkunft unbekannt.

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Zu Mota, in die Devotionalienhandlung El Cacerilo. Drei muffige Damen zwischen einem Labyrinth von Kräutern, Wurzel, Hölzern. Mota kommt. Charmant, sexy. Auch ist sein drilter Satz keine Verdammung der Schwulen. - Ich bin der einzige Mavombero, der hier in Miami, im Exil eine Wildkatze geopfert hat. - Ich glaube auch an die Götler der Lucumi, der Yoruba. - Ich mache das Milchbad im Namen von Olofi. und im Namen von Obatala. - Ich tu viele erfrischende Blätter hinein. - Für mich ist die Religion kein Geschäft. - Ich liebe die Religion. - In Afrika werden auch Tiger geopfert. Bengaltiger. - Der Tiger ist das einzige Tier gewesen, das sich vor unserem Herrn Jesus Christus verneigt hat und sich hingelegt, damit der Herr darüber hinwegschreitet. - Ich spreche sieben Dialekte der Kongo. - Ich kann das Vater Unser auf Kongolesisch. - Meine Botanica ist einmalig. Soviele Kräuter findet man nir­ gends. Ich liefere bis nach New York. Alltags bin ich immer un­ terwegs, um Blätter im Wald zu suchen.

Mittwoch, den 50. November: Newsreel: James Eric Kid gesteht Raubmord an Homosexuellem in Garage. In der Nacht des 20. November wurde John Henry Sime, Post­ beamter und Pfadfinderführer, in einer Garage von zwei Teen­ agern mit einer Elektrizitätsschnur gewürgt und mit Latten zu Tode geprügelt. - Er sagte, er tat es, weil der Mann nicht bezahlte. Nach Erics Aussage schrie das spanische Kid: Kill die Tunte! Das Spanische Kid ist Ricky Fernandez, 16.

Die internationalen Waffenhändler planen vom 18. bis 21. Mai 1978 eine Ausstellung in Miami Beach. 96 Länder von Afghanistan bis Zambia sind eingeladen wor­ den.

Der alte Mann in dem Geschäft mit hebräischen Büchern sagt: - Ich lebe seit 1950 hier. - 27 Jahre?! Und wo haben Sie vorher gelebt? - Das will ich vergessen. Aber ich kann es nicht vergessen.

Sonntag, den 4. Dezember: Das Fest der Heiligen Barbara. Das Fest des Gottes Chango. Ramon Sanchez, Bepos Sohn, sagt am Telefon: - Ich bin den ganzen Tag da. Noch benommen von der Nacht bei Ernestos Bluttöpfen, fahre ich gegen eins zu Ramon. Ramon sitzt in der guten Stube mit einem Ehepaar. Der Mann sagt: - In Kuba darf die Religion nur noch ganz versteckt abgehalten werden. Die Feste für die afrikanischen Götter werden ohne Trommeln begangen, damit man es nicht hört. Ramon führt mich zu den Altären. Er hat drei Porzellanleoparden für Chango aufgestellt. Auf dem Boden liegen noch Papier und Bleistift von einer Orakel­ befragung. Die Tür zum Spiritistenzimmer steht offen. Dort hängt eine Fotografie seines Vaters Bepo. Rote und weisse Nelken stehen davor. - Gelbe Blumen verwelken sofort in dem Spiritistenzimmer. Die Geister der Spiritisten sind stärker als die Götter aus Afrika. - Und Nana Buluku? - Es gibt nur wenige, die Nana Buluku geweiht sind. Die Einwei­ hung ist zu teuer. Ramon ruft das Ehepaar ins Heiligenzimmer. Er wirft die Kauris für den Mann. 238

Er holt sie aus einem schwarz-roten Beutel. Der Mann muss drei Dollar und einen Cent bezahlen. Ramon malt sich die Innenfläche der Hände mit Kreide weiss. Er teilt die Kauris in sechs und 16. Er nimmt ein Knöchelchen zur Seite und eine grössere Muschel. Er schüttelt die Kauris. Lässt sie fallen. Er nimmt das Knöchelchen in die Hand. Er schlägt mit der Hand auf die Kauris. Er gibt dem Mann das Knöchelchen und die grössere Muschel. Er gibt dem Mann die Kreide und die Muschel. Ja. Nein. Nach jedem Zeichen der Kauri vollführt er bestimmte Gesten: Schlägt auf die Erde. An seinen Körper. Er sagt: — Arbeit. — Schwierigkeiten. — Reise. — Vielleicht. — Kinderlos. — Kind. — Vielleicht. Er fragt und baut die Weissagungen auf die Antworten. — Ihr solltet euch die Krieger geben lassen. — Ich weiss es nicht. — Der Gott meint. — Die Figur Edionle. — Ein Milchbad für Obatala. — Milch mit Eierschalen. — Am besten Ziegenmilch. — Am besten frische, aber es gibt sie auch in Dosen, glaube ich. — Ein Sohn. — Vielleicht. — Keine Medikamentei — Habt ihr noch Fragen? Ramon wirft noch einmal die Kauris, liest sie nicht, küsst die Erde und steckt die Kauris in den Beutel zurück. Das Telefon. 239

Ein Mann bringt ein rotes Rosenangebinde vorbei. Ramon sagt: - Viele Priester und Gläubige werden heute nicht zu mir kom­ men, denn sie haben Angst vor meinem toten Vater. - Bleibst du noch? Ich weiss nicht, ob es unhöflich ist, auf diese Aufforderung hin zu bleiben, oder unhöflich zu gehen. Das Wort schwul — maricon taucht auf. Ramon fährt einkaufen. Das Ehepaar blättert Leonores Buch durch. Der Mann liest die englischen Zitate nach Herskovits über die Homosexualität. Er spricht vorsichtig davon. Ramon kommt zurück. Er stellt eine Dose Millerbier aufs Klo für die Toten. Er bereitet mit der Frau Sandwiches vor. Ein elektrischer Dosenöffner. Thunfisch, Leberpastete, Schmelzkäse, Creme in den elektrischen Mixer. -Für Chango? - Nein, für die Gäste. Ramon bereitet Sangria in einem Zinkeimer zu. Als die Brote und der Sangria fertig sind, gehen Mann und Frau, ohne zu essen. Ein junger Mann kommt. Ramon: - Er hat eine Hand von Orula, aber sie können ihn nicht zum Babalawo machen, denn ein Schwuler kann kein Babalawo wer­ den. Der andre, sanft: - Hast du keinen Respekt vor mir? Nach einer Weile geht er wieder. - Ist der wirklich schwul? - Ach wo! Das war doch nur ein Spass, das ist ein wahnsinniger Schürzenjäger. Ich weiss nicht, was ich machen soll. Ich verabschiede mich. Ramon guckt entsetzt. Er sagt: - La casa es suya. - Dies ist Ihr Haus. 240

Ich bleibe. Milagro kommt. Die schwarze Steinzeitvenus. - Ich bin Chango. Ramon hat mich eingeweiht, weil sein Vater Bepo es nicht wollte. Ich frage sie, ob man ihr schon die Tränen des Toten abgenommen hätte. Sie versteht nicht, dass ich sie nach der Zeremonie frage. Sie versteht nur das Wort Tränen und fängt an zu weinen. Nach einer Minute hören die Tränen wieder auf und ich erkläre ihr, was ich meinte. - Nein, sagt sie. Das brauchen die Tränen auch nicht, denn ich wurde ja nicht von dem Toten eingeweiht, sondern von seinem Sohn. Ramon haut im Hof Kokosnüsse in Stücke. Der Rehpinscher kriegt ein Stück. Ich präge mir die Einrichtung der Guten Stube ein. Zwei rote Chinoiseriechinesen rechts und links von der Musik­ truhe. Ein kubanisches Bild ä la Vermeer. Porzellantiger auch hier. Plastiküberzogene Stühle. Devotionalien für die afrikanischen Götter. Ramon hat sich umgezogen. Er trägt jetzt die rotweisse Bäckermütze für seinen Gott Chango, ein rotweisses Hemd, eine weisse Hose und rote Lederschuhe. Ein Göttergigolo .. Milagro und ich sollen aufs Klo gehen. Wir brauchen die Schuhe nicht auszuziehen. Er malt uns Kreidekreuze auf die Stirn. Kreidekreuze, wie in Brasilien, Bahia, bei dem Totenfest für Joaözinho da Gomeia. Ramon hat neben dem Sitz Teller mit Essen, einen kleinen Pa­ pierbecher mit kubanischem Kaffee und ein Glas mit Bier abge­ stellt. Er malt den rolweissen Spazierstock längs eine Kreidelinie. Er sagt eine Litanei auf afrikanisch. Er hat einen Teller mit gefülltem Wasserglas und vier Kokosstücke hereingebracht. Er beisst von jedem Kokosstück ein Stückchen ab, spuckt es auf den Teller, nimmt die vier Kokosstücke in die Hand, lässt sie auf den Boden prallen.

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Alle vier Teile der Nuss mit dem weissen Inneren nach oben. Er deutet das als günstig. Kann man den Fall manipulieren? Er lässt die Kokosstücke ein zweites Mal fallen. Das gleiche Ergebnis. Ramon wirkt erleichtert. Er lässt die vier Stücke so liegen und wir gehen alle aus dem Klo. Den Teller und das Glas Wasser nimmt Ramon mit. Er holt neue Kokosstücke und wirft sie dreimal hintereinander vor einem Schränkchen, in dem die göttlichen Zwillinge, die Krie­ ger und ein Spielzeughirsch für den Gott Ochossi untergebracht sind. Wir sollen uns die Kreidekreuze von der Stirn wischen. Ramon sagt, als wir das Klo verlassen haben: - Der Tote will nicht, dass wir um ihn trauern. Ramon lässt die vier Kokosstücke, zwei nach oben gewendet, zwei nach unten, vor dem Schränkchen liegen. Wir gehen in das Heiligenzimmer. Ramon wirft sich lang hin vor dem Altar. Milagro rasselt mit der Rassel. Ramon lässt zweimal vier neue Kokosstücke fallen. Beide Male liegen sie drei nach oben, eins nach unten. So lässt Ramon sie. Er ist zufrieden. Milagro legt kubanische Platten auf. Ramon tanzt in seinen roten Lederschuhen. Er, der weiss ist, der die Neger verachtet, tanzt wie ein Neger. Er, der vielleicht schwul ist, tanzt vor uns mit dem Ausdruck: Ich zeige euch jetzt mal, wie ein Schwuler tanzen würde. Wieder das Wort maricon im Zusammenhang mit den Göttern Chango und Odium. Ochum reibt sich an der Fotze. Ramon tanzt, wie sich die Göttin Ochum an der Fotze reibt. Ramon tanzt mit seinem Hündchen. Schrecken. Auf der Platte der Gesang Yemayas, der Gesang für seinen toten Vater. - Drei Monate lang mache ich keine Opfer, keine Trommelei we­ gen des Toten. Jetzt gibt es Sangria. 242

Ramon tanzt weiter. Er tanzt: Ich bin im Exil. Er tanzt: Die Götter sind mächtig. Er tanzt: Die Götter sind Säue. Er tanzt: O, wenn ich schwul wäre. Ich fahre weg. Ich verspreche, später wiederzukommen. Aber ich will Ernesto anrufen. Ich möchte nicht, ohne mich zu entschuldigen, einer Zeremonie von Ernesto fernbleiben. Bei Ernesto geht es schon wieder rund. Geistliche Reinigung und La Luz y La Claridad. Opfer und Schneiden. Aber sie sind nicht verstimmt, dass ich noch nicht gekommen bin. Ich denke mir: Vielleicht sind sie froh, wenn wir mal nicht her­ umblitzen. Gegen fünf bin ich wieder bei Ramon. Ich habe ihm eine perlenrasselnde Kalebasse aus Kenia mitge­ bracht. Ramon zeigt seine Freude. Ich soll sie selbst auf den Altar des nigerianischen Gottes Chango legen. Jetzt werden die Sandwiches gegessen. Eine siebenjährige Dicke mit Brüsten kommt, dazu eine zarte Fünfjährige, mit einem allesverschlingenden Mund und einem Auswuchs links am Kinn. Beide Mädchen haben einen Fünfjährigen in der Mille. Mehr Sandwiches, mehr Sangria. Tangos. Ramon sagt, angeschäkert, er liesse Schwule in sein Haus kommen. Alle stimmen ihm zu.

In der guten Stube wird getanzt. Die Siebenjährige rast mit ihren frühen Brüsten. Ramon tanzt in seinen roten Schuhen. Die Siebenjährige hat ihm gegenüber alle die Reaktionen der nor­ malen Erdrückerin dem schwulen Ausgestossenen gegenüber. Die Fünfjährige schlängelt sich tanzend dazu. Der Fünfjährige flieht zu mir auf den Schoss. Ramon legt wieder die Platte mit den heiligen kubanischen Ge­ sängen auf. Wieder der Gesang für seinen Vater. 243

Ramon stürzt ins Freie. Der Gesang für den Gott Chango. Ramon verkrampft sich. Sein Gesicht erstarrt. Er atmet heftig. Ei' geht in die Küche und trinkt das kalte stinkende Wasser von Miami. Er giessL sich kaltes Wasser in den Nacken und an die Stirn. Milagro sagt zu ihm: - Du wolltest es nicht. Wieder der Gesang des Gottes Chango auf der Platte. Milagro holt die Rassel. Milagro rasselt auf Ramon ein. .Aber ehe Ramon 1011 Chango besessen wird, ist der Gesang zu­ ende. Milagro sagt: - Ramon hat Angst wegen seines loten Vaters. Audi strengt es sehr an. wenn Chango wirklich kommt, dann kann Ramon nicht arbeiten den nädisten Tag. Als der Gesang für Chango das näclisle Mal kommt, telefoniert Ramon mit seiner Arbeitsstelle am Flughafen. - Ich kann morgen nicht zur Arbeit kommen. Ich nehme den Plattenarm hodi und setze ihn zurück. Ich lasse den Gesang für den Golt Chango immer wieder ablaufen. Ramon schreit laut auf. Er stampft mit dem Fuss auf. Der Gott, der Heilige ist da. Er spricht. Er spricht wie Ramon. Milagros Schwester fragt: - Chango spricht spanisch? Chango geht durdi das ganze Haus. Er sudit Bepo, Bepo Sanchez. den Toten. Zitternd, fragend, hin und her guckend. Wo ist der alte Priester? Er schüttelt den Kopf. Er kann es nicht fassen. Eine mir unbekannte Kategorie der Geste: Nicht stilisiert, nicht übertrieben, nicht ritualisiert. Ein naturalistisches Zitat. Chango geht ins Heiligenzinuner zurück. 244

Er gibt Ratschläge: Bananen essen! Ich sollte mich einweihen lassen. Alle sollen jetzt nach Hause gehen. Das Licht ausmachen. Den Plattenspieler ntil der Musik aus Kuba abslellen. Changö läuft in den dunklen Garten. Er setzt sich auf einen Stuhl. Ramon Sanchez ist erschöpft. Die anderen gehen still, fahren in den grossen amerikanischen Wagen weg. Ich verabschiede mich. — Bleib noch einen Augenblick, sagt Ramon. Ich setze mich, bleibe aber nicht mehr lange. Ramon verschliesst die Gartentür und geht mit seinem Hündchen ins leere Haus zurück. Ich fahre in den Club Miami. Jim, ein Krankenpfleger, der 16 Stunden arbeitet.

Dienstag, den 6. Dezember: Newsreel: Das Immokala-Gefängnis ist noch immer das Heim für 65 hai­ tianische Flüchtlinge. Die Leserinnen des Good House Keeping Magazine stimmen ab: Anita Bryant, die meistbewunderte Frau der Welt! 65 haitianische Flüchtlinge suchten die Freiheit und fanden die Gitterstäbe des Schlafsaals D im Collier-County-Lager. Zwar haben das höchste Bundesgericht und die Einwanderungs­ behörde sie für frei erklärt, doch wenn man sie in ihren Zellen sieht, sind sie kaum von Gefangenen zu unterscheiden.

P: — Ich verliess Haiti, weil meine Familie arm ist. Die Tontons Macoule verprügelten mich und meinen Bruder. H: - Die Tontons Macoute verprügelten mich. Sie wollten meinen Wagen und mein Baby. J 1-5

E: - Die Tontons Macoute fragten mich nach Wasser. Ich hatte kein Wasser. Sie verprügclen mich. Wenn ich nach Haiti zurückkehre, töten mich die Tontons Macoute am Flughafen.

El Gavilan: - Das Landwirtsehaftsministeriuin hat alle Julias beschlagnahmen lassen. - Grosse Aufregung in den Tempeln der Kubaner. - Opferfeste und Einweihungen stocken. - Die Preise für die Tiere klettern in die Höhe. In keiner Devo­ tionalienhandlung von Miami sind Julias zu haben. El Gavilan denkt nicht daran, die paar Jutias, die lebenden und die geräucherten, die ihm noch bleiben, an die beunruhigten Gläubigen, die sich in seinem Laden drängen, zu verkaufen. Er sagt mir im Hinterzimmer: - Ich muss die Preisentwicklung abwarten.

Donnerstag, den 15. Dezember: Newsreel: Schlechte Gesundheit bringt Mobster zusammen. Zweimal in der Woche begegnen sich Sam (Der Klempner) DeCavalcante, der berühmte Chef einer Mafiafamilie aus New Jer­ sey und Sebastian (Buster) Aloi, 70, ein Mitglied der Verbrecher­ familie und Joseph Colombo, der in Hollywood lebt, in dem be­ rühmten Miami-Herz-Institut in Miami Beach, um sich behandeln zu lassen.

Zu Renö in die Wohnung. Viel steifes Porzellan - wie in allen kubanischen Wohnungen hier, aber kein Gewehr an der Wand. Eine Nische mit roter Zcltdekoration l'iir den Donnergott Chango. Über der Tür Kuhhörner und etwas Spitzes, Phallisches. Ein Schrank voller heiliger Suppenterrinen.

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Eine rote und eine weisse Fahne. Renes Schutzengel ist ein alter, weiblicher Obatala. Für den hat er einen Spazierstock von oben bis unten mit feinen weissen Perlenketten umwunden. Weisse Perlenbüschel am Griff. Im Schrank steht ein weisser Schellenstock. Rene betet auch zu den heiligen Zwillingen. - Doch. In Kuba wurden viele Schwule eingeweiht. - Aber in Kuba war der effeminierte Schwule das Verachtetste von der Welt. Der Mann, der Männer fickte, nicht. - Tunten galten als Halbverbrecher. - Hier in Miami sind viele Santeros schwul. Auch Babalawos, auch Mayomberos. Ich kenne sie alle. - Ich treffe sie auf dem Virginia Key. - Sie rasen nach Geschäftsschluß hin, treiben es mit so vielen, wie nur möglich im Halbdunkeln in einer Viertelstunde und rasen dann zurück zur kinderreichen Familie. - Wenn sie gefickt werden auf dem Virginia Key, sagen sie: Es ist das erste Mal! Es ist das erste Mal! Es tut so weh! - Gelegentlich weigern sich die Götter, einen Gläubigen zu ak­ zeptieren, weil er schwul ist. - Yemaya gilt als Mutter der Welt. Sie akzeptiert jeden. - Chango ist kein Hermaphrodit. Yamsa ist Oya auf Kuba. Sie ist die Herrin der Friedhöfe. Ich erinnere mich, in Brasilien ist Yansa die einzige Göttin, die beim Axexe, bei den Totenfeiern erscheint. - Aber man sagt auch, dass die Schwulen den Göttern besser die­ nen, weil sie sensibler sind. - Von Lesbierinnen wusste man auf Kuba nicht sehr viel. Sie waren sehr arrogant. - Vor der Einweihung registriert man einen Menschen. - Dazu wirft man die Kauris. - Da kommt dann eine Letra, ein Buchstabe, eine Orakelformel heraus. - An dieser Formel hängt eine Geschichte. - Handelt es sich um einen Schwulen, zeigen die Kauris das na­ türlich an. - Aber die Geschichte sagt nicht direkt, dass der Mann schwul ist. Sie sagt zinn Beispiel: Er folgt.zwei Wegen. - Dann gibt es aber Santeros und Babalawos, die wollen den nicht einweihen. 247

- Ich gehöre einer Gruppe von Santeros an, die den Babalawo nicht als höchste religiöse Autorität respektieren. Als wir zu scherzen beginnen, lässt Rene den Tüllvorhang vor Ghangös rotem Zelt herunter und schliesst die Schranktüren vor den heiligen Suppenterrinen. - Ich bin seit zwei Jahren eingeweiht. - Ich habt' das Ebo nach drei Monaten empfangen. - Ich habe das Ebo des Jahres empfangen. - Ich könnte jetzt selbst Einweihungen vornehmen, aber ich habe in dieser Eigentumswohnung nicht genug Platz dafür. Ich will sie verkaufen und mir ein Haus für einen Tempel kaufen. - Ich bin 36. - Ich lebte 14 Jahre mit einem Freund zusammen. - Mein Padrino, mein geistlicher Vater, wollte meinen Freund geistlich reinigen. Er schlachtete Opfertiere, fuhr miL ihnen am Körper meines Freundes entlang, er wusch ihn mit dem Blut. Er hatte Fleischstücke zubereilet und als mein Freund nackt vor ihm stand, hielt er Stück für Stück das Fleisch an seinen Körper und streichelte ihn damit und streichelte ihn und regte ihn auf und machte ihn geil und fasste ihm mit den blossen Händen an den Körper, leckte ihn. mein Padrino zog sich selbst aus und hörte nicht auf, bis er meinen Freund so weit hatte, dass er ihn vor dem Altar fickte. - Mein Freund hat mir alles erzählt. Ich sagte: Du bist mein Freund. - Aber zwischen dir und mir steht mein Padrino. Ich kann dir nicht glauben. - Ich muss ihm glauben. - Bei einem Fest für die Götler sagte ein Gott: Rene, sag dei­ nem Padrino, was du weisst. Das tat ich. Der Padrino schmiss mich aus dem Tempel. - Aber als ich das Jahresfest für meinen Gott begehen wollte, ging ich wieder zu meinem Vater und sagte: Ich komme nicht privat. Ich komme wegen der Götter. Ich muss meinen Pflichten nachkommen. - Mein geistlicher Vater antwortete: Ich habe Yemaya gefragt und Yemaya hat Nein! gesagt. - Der Padrino hat immer noch mein Einweihungskleid und die silberweisse Krone mit den acht roten Federn. Als der Padrino mich aus dem Tempel schmiss, schrie er: Nimm alles mit! - Ich

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antwortete: Ich bin nicht gekommen, um meine Sachen zu holen. - Aber jetzt fürchte ich, dass der Vater damit Zaubereien gegen mich anstellen kann. - Aber diese Kleider zieht man sowieso crsL wieder au. wenn man tot ist. Ich weiss nicht mal, ob sie mir dann passen werden. Viel­ leicht bin ich ganz dick, vielleicht bin ich ganz dünn, wenn ich sterbe. - Die Götter haben mir versichert, dass Chango mich vor allem bösen Zauber bewahren wird. - Ich arbeite in einer Fabrik für Zahnprothesen und Ersatzorgane und Gelenke.

Donnerstag, den 2g. Dezember: Newsreel: 28. Gallup-Umfrage. Die meist bewunderten Frauen. 1. Rosalynn Carter. 2. Golda Meir. 3. Anita Bryant. 4. Betty Ford. 5. Barbara Jordan. 6. Pat Nixon. 7. Barbara Walters. 8. Rose Kennedy. 9. Queen Elizabeth. 10. Jacqueline Kennedy Onassis.

Ende des Jahres sitzen die Babalawos, die Orakelpriester, die Mayomberos, die Santeros auf Kuba und in Miami — sie lesen den Spruch des Gottes Ifa fürs nächste Jahr. Sie telefonieren sich den Orakelspruch von Kuba nach Miami, von Miami nach Kuba zu. Wie ist es um die Hellsichtigkeit der Babalawos, der Mayomberos, der Santeros bestellt, wenn die Orakelzeichen nicht übereinstim­ men? (Es ist so, als reiche man, unter falchscm Namen, einen Text von Robert Musil an die grossen Verlage der Bundesrepu­ blik und vergleiche dann die Voten der Lektoren.) 249

Was ist, wenn die Götter sich widersprechen? Wie erklärt man die Widersprüche den Gläubigen? Dies Jahr kommt bei den einen in Miami Orula und Ochun her­ aus, bei anderen Obatala und Yemaya, in Kuba Yemava und Obatala oder Yemaya und Agayu. Die Babalawos verfertigen kleine Stoffahnen aus Satin, auf welche die Zeichen des Jahres appliziert werden. Frau Fernandez schenkt mir das Fähnchen des letzten Jahres. Blauer Satin, darauf ein kalkiger Halbmond; sie appliziert, wie die Prinzessinnen am Hof von Abomey in Daliomey die Zeichen der Könige applizieren.

Freitag, den 30. Dezember: Newsreel: Weil sie Nahrungsmittel stahlen, wurden in Haiti 40 Aufstän­ dische verhaftet. Im Wasser von Miami wurden 15 Gifte gefunden. Drei davon sind krebserregend.

Im Käse Käsearoma.

Sonnabend, den 31. Dezember: Nevvsreel: Die Leser wählen die Top-Stories des Jahres aus: 1. Anita Bryant. 2. Schnee in Miami. 3. Autoversicherungsraten. Bob Vorhies stirbt nach Fussball-Strafdrill in Virginia Tech.

Ramon Sanchez, der Sohn des toten Priesters Bepo, ruft uns an. Er will uns zum Neujahrsfest einladen. Bei ihm ist die Steinzeitvenus, schwarz. Milagro und die Sieben­ 250

jährige, die tanzend wieder mit ihren Brüsten wackelt, und ein hübscher Kubaner, den Ramon als seinen Bruder vorstellt. Um zwölf Uhr nachts wirft sich Ramon über die Schwelle zum Spiritistenzimmer vor das Bild seines Vaters. Ramon wirft sich vor die Suppenschüssel des Gottes Chango, ras­ selt liegend mit der Rassel. Ramon wirft sich vor die Suppenschüssel der Göttin Yemaya, ras­ selt liegend mit der Rassel. Wir reinigen uns alle die Hände in einer Kalebasse mit milchi­ gem Wasser. Ramon weint heftig und kurz in den Armen von Milagro. Dann wünschen wir uns alle ein Frohes Neues Jahr. Es gibt Apfelchampagner und jeder kriegt ein Tellerchen mit 12 Weintrauben, eine für jeden Monat. Roman tanzt Tango zu kubanischen Platten.

Sonntag, den 1. Januar 1978: Newsreel: Gebunden, geknebelt und zu Tode geprügelt. Der Sportredakteur Milt Ellis. 69, wurde am Altjahrsabend das 246. Mordopfer des Jahres in Dade County. Thomas Hollings des Raubmords angeklagt. Zwei andre Männer gesucht. Sergeant Gonzalez sagte, dass der Sporlredakleur Ellis, ein Jung­ geselle, mit seinen Mördern den letzten Monat über gesellschaft­ lich verkehrte. Alle drei hatten das Appartment vorher besucht. Gonzalez weigerte sich, die Art der Beziehungen zwischen Ellis und seinen Mördern näher zu beschreiben. Rosalynn Carter besucht die Slums in New Delhi mit Schuh­ schützern.

Das Kind des Waffenhändlers fasst seinem Vater an die Hose und sagt: - Geld.

Der Zoowärter kommandiert den Scharen rosa Flamingos mit der Trillerpfeife. Das zweijährige Kind des Waffenhändlers reisst sich in einer Bou­ tique von Dadeland die Kleider vom Leib und ruft: - Neues Kleid!

Im Zeppelin von Goodyear. Von oben brütende Adler. Die bunten Vierecke der Badetücher am Strand. Vor der Küste, wie U-Boote gross, acht Haie quer zur Strömung.

Grenada 1979

Dienstag, den 13. März, halb acht morgens: Radio Barbados: Revolution auf Grenada.

Ich sage zu Leonore: — Jetzt kommen wir zu spät, um den Shangokult auf Grenada zu erforschen.

Grenada. Vulkanisch. 12 Meilen breit, 21 Meilen lang. Um 165 nach Christi Geburt Ackerbauer aus Venezuela oder von Trinidad. Um 700 die Arawak. Kurz vor Kolumbus die Kariben. Sie töten die Männer der Ara­ wak und nehmen die Frauen als Konkubinen oder als zweite Frauen. Am 15. August 1498 Kolumbus. Er nennt die Insel: Concepcion. 1609 eine Gruppe von 208 englischen Kaufleuten. Die Kariben vertreiben sie. 1626 Grenada zu Richelieus Gesellschaft der Amerikanischen Inseln. 1627 Charles I. gibt die Insel dem Earl of Carlisle. 1638 der Franzose Poincy versucht zu landen. 1650 200 französische Abenteurer unter Dubarquet. Er erwirbt Grenada für ein paar Messer, Äxte, Glasperlen, Brandy von einem Chef der Kariben. Die Kariben werden ausgerottet. 1657 Dubarquet verkauft Grenada an den Comte de Cervillac. Aufstand gegen den Gouverneur. Der Gouverneur hingerichtet. 1664 Grenada zur Französisch-Westindischen Kompanie. 1674 zur französischen Krone. Baumwolle, Tabak, Indigo. 1700 257 sogenannte Weisse. 53 sogenannte Farbige. 525 Sklaven. 255

i "02 Zuckerrohr aus Südamerika. 1755 1265 sogenannte Weisse. 155 sogenannte freie Farbige. 11 991 Sklaven. 1762 Eroberung durch Swanson. 1765 Grenada durch Vertrag von Paris an England. 1776 englische Kolonie. 1779 französisch. 1783 englisch durch Vertrag von Versailles. Kirchenbesitz an Protestanten. Franzosen ohne politische Rechte. 1787 Freihafen. Kakao aus Ekuador und vom Amazonas. 1795 drei Kompanien von Kings Negroes aus Nordamerika. Am 2. März 1795, mitternachts, Rebellion der Franzosen unter dem afroamerikanischen Pflanzer Julien Födon. Die Sklaven folgen ihm. Attacke von Grenville. Fast alle Engländer der Stadt ermordet. Fedon nimmt den Gouverneur und 51 andre Engländer als Gei­ seln. Englische Truppen greifen Lager an, Fedon tötet die Geiseln. April 1796 ein neuer Gouverneur kämpft die Rebellen nieder. 1808 Jacques Chadeau, Hauptmann unter Fedon, gefangen und gehenkt. Der Legende nach wurde er auf Mount Eloi in einen Käfig ge­ sperrt. Jeden Tag stellte man Essen äusser Reichweite vor seinen Käfig. So verhungerte er. 1838 Befreiung der Sklaven. Niedergang des Rohrzuckeranbaus. Arbeiterknappheit. Kakao. 1839 164 Arbeiter aus Malta. 1843 die Muskatnuss. 1846 438 Arbeiter aus Madeira. Rohrzuckerproduktion 4000 Tonnen. 1849 1055 freigelassene Sklaven aus Afrika, vor allem aus Ishesha in Nigeria. 1856 bis 1878 3033 Inder. 1881 Rohrzuckerproduktion 1000 Tonnen. 256

1885 Aufruhr am Guy Fawkes Day wegen des Verbots, offene Feuer zu machen. 1895 der Sendall Tunnel. 1914 4742 Grenader auf englischer Seite in den Ersten Weltkrieg. 1922 Eric Matthew Gairy in Grenville geboren. Er wird katholisch erzogen. Das französische Kreolisch nicht mehr die Sprache aller Klassen. 1942 Gairy nach Trinidad. Er arbeitet am Bau einer amerikani­ schen Militärbasis. Gairy auf Aruba in den Ölraffinerien; Gewerkschaftsarbeit. 29. Mai 1944 Maurice Bishop geboren. Kinderjahre auf Aruba. 5. August 1944 der Schoner Island Queen verschwindet zwischen Grenada und St. Vincent. 1946 die erste Gewerkschaft. The Grenada Workers Union. 1949 Gairy zurück. 1950 gründet er die Manual and Metal Workers Union. 1951 Arbeiterinnen verdienen täglich 1,20 Dollar, Arbeiter 1,50 Dollar. Gairy gründet die Grenada Peoples Party. 18. Februar 1951 Gairy ruft zum Generalstreik auf. 21. Februar Massenmeeting. Gairy will den Gouverneur sprechen. Um Mitternacht wird er auf die Nachbarinsel Carriacou depor­ tiert. Brandstiftungen auf Plantagen und in den Städten. 2. März Gairy zurück. Verhandlungen mit dem Gouverneur und den Landbesitzern. 8. März Gairy versucht vergeblich, Brandstiftungen und Plünde­ rungen zu verhindern. 11. März Radioansprache Gairys: Wir sagen jetzt drei Mal: Keine Gewalttaten mehr. 10. Oktober Wahlen. Gairys Partei gewinnt 6 von 8 Sitzen im Legislative Council. November 1953 bis zum 4. April 1954 Streiks. Lohnerhöhung für Landarbeiter. 1954 Gairy Chief Minister. 22. September 1956 Hurrikan Janet. 120 Menschen getötet. Zwei Drittel der Muskatbäume zerstört. Wasserreservoirs verseucht. 257

1957 Wahlen. Gaiiy zieht mit einer Steelband durch eine Wahlversammlung der Opposition. Er verliert das Wahlrecht. Gairys Partei gewinnt nur zwei Sitze. 1958 Pro-Kopf-Einkommen 258 Dollar. 3959 °>7 Prozent der Ackerbaubetriebe machen die Hälfte der Anbaufläche auf der Insel aus. 97 Prozent der Ackerbaubetriebe sind unter 5 acres. 1960 88 700 Einwohner. 95 Prozent Afroamerikaner. 4 Prozent Inder. 1 Prozent sogenannte Weisse. 5 Indianer. 80 Prozent der Bevölkerung leben auf dem Lande. 3 Prozent ohne Schulbildung. 3,5 Prozent Bevölkerungszuwachs im Jahr. 1. Januar 1960 Neue Verfassung. Gairy: Neue Verfassung heisst neue Wahlen. 28. Januar Gairy wieder Chief Minister. Korruptionsbezichtigungen. Untersuchungskommission. 1962 Arbeiterinnen verdienen 1,50 Dollar am Tag, Arbeiter 1,80 Dollar. Wahlen. Gairys Anhänger säumen weissgekleidet die Hauptstrasse am Ha­ fen von St. George’s. Sie tragen brennende Kerzen und singen Choräle. Gairy weissgekleidet in einem Boot: Ich bin der Märtyrer, der von den Judassen von St. George’s betrogen wird. 1963 Maurice Bishop Studium in Grey’s Inn, London. 1967 Grenada erhält Associated Statehood. Völlige Kontrolle der Inneren Angelegenheiten. Maurice Bishop Barrister in Lincolns Inn. 1970 Miss Grenada Miss World. 3. Mai nach der Revolte auf Trinidad sagt Gairy in einer Radioanspraclie, dass er die Polizeikräfte verdoppeln will. Von Mai 1970 bis 1973 wirbt er auf Mount Royal, der Residenz des Chief Ministers, 800 Hilfspolizisten an. 64 davon vorbestraft - Überfall, Körperverletzung, Diebstahl, Einbruch, Raub, Causing Public Terror.

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Raynold Noel, alias Zabb - io Jahre Zwangsarbeit wegen Tolschlags und Unehrlichkeit. Polizeiinspektor Belmar erschiesst Edgar Joseph St. Louis. 1972 Importe: 42,8 Millionen ECdollar. Wahlen. Gairys Partei gewinnt 15 von 15 Sitzen. Die National Party von Herbert Blaize gewinnt 2 Sitze. Jewel Movement in St. Davids gegründet. Joint Endeavor for Welfarc, Educalion and Liberation Gemeinsames Bemühen um Wohlstand, Erziehung und Befreiung. Maurice Bishop gründet die Master Asseniblv of the People MAP. 20. April 1975 Jerry Richardson in Grenville von der Royal Grenade Police Force ermordet. Radioaufruf Gairys: Mehr Hilfspolizisten einstellen. Leonard Greenidge in der Residenz des Primeministers von Gairy am Kragen festgehalten und von Moslvn Bishop, einem Hilfs­ polizisten, aufs Ohr geschlagen. 27. Mai Leibwächter Gairys schlagen den Journalisten Alister Hughes am Flugplatz zusammen. Juli 1973 Gairy ruft alle Shangopriester und alle Geistlichen der Spiritual Baptists zu Zeremonien in den Queenspark. Misshandlungen, Auspeitschungen, Folter aut' Polizeiwachen. MAP und Jewel Movement verbinden sich zum New Jewel Movement. 4. November 1973 der Sekretär des NJM schreibt an die Re­ gierung, dass sie zurückzutreten habe. Auf dem Marktplatz von Grenville ruft Gairy dem Hotelier Kenrick Milne in einer Menschenmenge zu: Hier ist der Mann, der sich als Millionär bezeichnet. Er ist ein verdammtes Arschloch. So ein Mann muss getötet werden! Schüsse. Eine Frau verwundet. Simon Charles von Inspektor Belmar auf einer Polizeiwache in den Fuss geschossen und geschlagen. 9. Nevember New Jewel Movement ruft zum Generalstreik auf. 18. November Maurice Bishop und die anderen Führer der Op­ position in Grenville bewußtlos geschlagen, verhaftet und mit Scherben von Bierflaschen rasiert und geschoren. Um 13 Uhr 30 besucht Gairy das Richmond Hill Gefängnis in St. George’s. 259

Ein Gefangener: Es waren etwa 132 Gefangene in Richmond Hill. Der Prime Minister fragte, was sie sich zu Weihnachten wünschten. Einige sagten, sie wollten Zigaretten, Toilelteartikel und so weiter. Gairy sagte ihnen, dass sie zu den unglücklichen Leuten in unserer Gesellschaft gehörten. Aber dass draussen einige wären, die mehr Glück gehabt hätten, Doktoren, Rechtsanwälte, Lehrer, die das Ansehen dieser Regierung schädigen wollen und dass in ein paar Tagen einige dieser Leute ins Gefängnis kommen würden: Sie sprechen von den Insassen als Rauhnacken und Kriminellen. Ich würde es gerne sehen, dass diese Leute die gleiche Behand­ lung erführen, ich meine, die Art, wie die Rauhnacken von den Rechtsanwälten, Doktoren und so weiter geschnitten würden .. Wenn einer von uns um den 10. Januar aus dem Gefängnis käme, sollte er zu Mordred Roberts ins Ministerium gehen, damit er als Hilfspolizist eingestellt würde. Am folgenden Montag sah Norris Stephen sechs elendige Leute im Richmond Hill Gefängnis eintreffen. Es waren Maurice Bishop, Kenrick Radix, Unison Whitcman, Selwvn Strachan, Simon Da­ niel, Hudson Austin. (i. Dezember 1973 der englische Gouverneur setzt die Duffus Commission of Inquiry into the Breakdown of Law and Order and Police Brutality in Grenada ein. Gairy sagt aus: Ich war der Meinung, es sei im Interesse Grenadas, die Gefange­ nen darauf vorzubereiten, dass, wenn diese Leute da reingebracht würden, sie von den Jewel-Mitgliedern wegblieben.

Ich bin bestrebt, das New Jewel Movement gänzlich auszurotten. 9. Januar 1974 Protestdemonstrationen. 21. Januar 1974300 Hilfspolizisten in der Residenz des Prime Ministers. Tn der Stadt Gewerkschaftsdemonstrationen gegen die Unabhän­ gigkeitsbestrebungen der Regierung Gairy. Anti-Gairy-Songs. Gairy schickt die Hilfspolizisten in der Stadt zum Essen. Die Polizisten singen vor Gairy: Jewel behave yourself, tliey go Charge us for murder. Juwel, benimm dich, sie werden uns wegen Mordes anklagen. 260

Rupert Bisliop, der Vater des Oppositionsleaders, wird von einem Hilfspolizisten, wahrscheinlich Willie Bishop, seinem Neffen, an­ geschossen. Er stirbt an dem Schuss oder an Schlägen. Der Obduktionsbefund ist doppeldeutig. Kurz vor der Unabhängigkeit plant die Opposition einen Coup. Abgesagt. Angeblich verlassen ausländische Berater der Revolutionäre die Insel. 7. Februar 1974 Unabhängigkeit von Grenada. Gairy erster Prime Minister. 4 Millionen EC-Dollar Wirtschaftshilfe von Grossbritannien seit der Unabhängigkeit. 1975 Ausgaben für Imporle: 52,8 Millionen EC-Dollar. Gairy erklärt die Zeitung Jewel News für illegal. 1976 Wahlen. Koalition der beiden Oppositionsparteien New Jewel Moveincnt und Grenada National Party. Gairy verbietet der Opposition Lautsprecher und Megaphone. Das von der Bundesrepublik finanzierte Radio Anlillese weigert sich, die Erklärungen der Opposition auf Grenada zu senden. Fälschung der Wahllisten durch Anhänger Gairys. Die Opposition gewinnt 6 von 15 Sitzen. ig79 verschiedene Angaben zur Bevölkerung Grenadas. 110 bis 120 000 Menschen. Sonnabend, den 10. März 1979. Die Führer des NJM kommen in St. George’s zusammen. Sie erfahren, dass Gairy Haussuchungen durchführen lassen und die Führer des NJM verhaften will. Sie gehen Underground. Vincent Noel verhaftet. Winston Masanto, der Befehlshaber der Truppen von Grenada, zu dem »Torchlight«-Korrespondenten Nick Joseph: - Sie brauchen nicht erstaunt zu sein, wenn Sie eines Morgens aufwachen und sehen: Die Jungen haben die Insel erobert. Sonntag, den 11. März. Sicherheitsbeamle brechen in Bernard Coards Haus ein. Sie wer­ den von Coards Frau Phyllis überrascht. Sie droht mit Anzeige. Die Beamten gehen. Montag, den 12. März. 261

Die Führer des NJM erfahren, daß Gairy Anweisung erteilte, sie umzubringen. Gairy verlässt gegen 14 Uhr 15 Grenada. Gairy zwei Stunden in der VIP-Lounge des Flughafens von Bar­ bados. Begleitet von Erziehungsminister Dr. Wellington Friday und von der Sekretärin Gloria Payne. US-Botschafter Frank Ortiz bespricht mit Gairy Sicherheitsfra­ gen. Gairy trifft zwei Beamte aus Washington, die über illegale Waf­ fenlieferungen in Grenada ermitteln, die das NJM aus den USA erhalten hat. In Grenada entscheiden sich die Führer des NJM zur Revolution unter dem Codewort APPLE. Der Hotelbesitzer in Long Beach: - Gairy reiste schon früher immer mit vielen Säcken voller Geld. Wenn er die Ilotelrechnung bezahlte, griff er in die Säcke. Dienstag, den 13. März. Vor Morgengrauen Einheiten des NJM in der Nähe der Militär­ baracken von True Blue. 4 Uhr 15. Einheiten des NJM bombardieren die True Blue Baracken mit Petroleumbomben und werfen Handgranaten. Alister Hughes: 54. Männer der Peoples Revolutionary Army - PRA - unter Hudson Austin, mit Gewehren und Maschinengewehren bewaff­ net. Keine kubanischen Berater. Keine kubanische Beteiligung und Planung, soviel ich weiss. Dabei war ich nicht. Ganze Aktion in True Blue dauert 35 Minuten. Waffen und Munitionen der Defence Force erbeutet. Keine Toten. Defence Force ist 320 Mann stark, davon 280 in den Baracken. Sie ergeben sich oder fliehen. Die Baracken werden niederge­ brannt. Hyacinth Brizan, Offizier der Defence Force, 40, hörte, wahr­ scheinlich telefonisch, von dem Feuer. Fuhr von zuhause nach True Blue und wurde von der PRA eine Meile vor den Beracken ange­ halten. Hyacinth Brizan, noch im Wagen sitzend, versuchte zu schiessen und wurde erschossen. 262

Es scheint so, als wäre dann ein Feuerwehrwagen in Truc Blue eingelroffen. Die Feuerwehrmänner wurden verhaftet. Dann ka­ men zwei Wagen mit Polizisten. Superintendent Raymond Bogo de Souza lcislele Widerstand. Korporal Godwin Pysadee, 34, wurde im Kreuzfeuer erschossen. Es ist ungewiss, ob er von einer Kugel der PRA oder von der Polizei getroffen wurde. Mister de Souza entkam. Der Polizist Barry Alexis wurde am Arm verwundet. Ted: Ein Kumpel von mir, Medizinstudent, wohnt in der Nähe von True Blue. Er macht seinen Morgenlauf und sieht plötzlich drei blutüberströmte Leute oder Leichen liegen. Alister Hughes: 54 Männer der PRA marschieren in Richtung Radio Grenada. Die Armee gibt vor, daß die Radiostation ohne einen Schuss ein­ genommen wurde. Ted: Ich wachte auf und hörte die Knallerei an der Radiostation. Ich denke, es ist ein Feuerwerk. Gegen sieben gehe ich zur Hauptstrasse. Die Wächterhäuschen an der Radiostation sind umgekippt. Viel Blut auf dem Asphalt. 6 Uhr 15. Bekanntmachung in Radio Grenada. Alister Hughes: Die Stimme von Mister George Louison: Die Regierung des kriminellen Diktators Eric Matthew Gairy ist gestürzt worden. Eine Revolutionsregierung ist gebildet. Alle religiösen Rechte und Freiheiten sind wieder eingesetzt. Die neue Revolulionsregierung befiehlt, dass alle Polizisten in ihren Unterkünften und Polizeiwachen bleiben und weitere An­ ordnungen abwarten. Leben und Besitz aller ausländischen Einwohner sind sicher. Die neue Regierung will weiterhin freundliche Beziehungen zu allen Ländern unterhalten. Alister Hughes: Die Polizeiwachen sind noch nicht erobert. Etwa tausend junge Leute treffen in der Radiostation ein. Gewehre werden verteilt. — Ich kann nicht mit einem Gewehr umgehen. Ich will eine Pistole. 263

- Stell dich da rüber. Die nicht schiessen konnten, erhielten eine anderthalbstündige Ausbildung. Radio Grenada, jetzt Radio Free Grenada: Adonis Francis, Superintendent der Polizei: Ich befehle hiermit, dass alle Polizeioffiziere in ihren Unterkünf­ ten bleiben und weitere Instruktionen von der neuen Regierung abwarten. Die Führer der neuen Regierung sind in voller und wirksamer Kontrolle des Landes. Niemandem von uns in Schutzhaft geschieht irgendein Leid. Radio Free Grenada: Hudson Austin: Als Befehlshaber der Revolutionsarmee teile ich mit, dass wir bis jetzt auf keinen Widerstand gestossen sind. Wenn das Volk irgendwelchen Widerstand erfährt, wo immer in Grenada, rufen Sie sofort Radio Free Grenada an. Allen Polizeiwachen wird befohlen, weisse Flaggen zum Zeichen der Übergabe herauszuhängen. Kurz vor zehn Uhr morgens: Radio Free Grenada: Bernard Coard, Abgeordneter von St. George’s: Caidwell Taylor, Kennedy Budhall, Kenneth Budhall, Kamera­ den in Grenville, bitte sofort Radio Grenada anrufen. Wer diesen Aufruf hört, soll den Brüdern sofort mitteilen, dass sie Radio Grenada sofort anrufen. Die Polizeiwache von Grenville hat sich den revolutionären Streitkräften ergeben. Mongoose Gang fährt an der Westküste auf die Stadt Gouyave zu. Die Kräfte der Revolution müssen sich in der Gegend darauf vor­ bereiten, sich mit der Mongoose Gang auseinanderzusetzen. Sie müssen, koste es, was es wolle, gestoppt werden. Strassenblockaden und alles weitere. Alister Hughes: Im Hafen von St. George’s liegt das russische Kreuzschiff Ivan Franco. Morgens verlassen die Passagiere das Schiff und streunen durch die Strassen. Die Geschäfte sind geschlossen. Aber Gewürz- und Andenkenverkäufer stellen sich am Eingang zu den Docks auf und machen gute Geschäfte.

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io Uhr 45: Radio Free Grenada: Prime Minister Maurice Bishop: Heule morgen um 4 Uhr 15 eroberten die Revolutionären Streit­ kräfte die Armeebaracken in True Blue .. Kurz danach wurden mehrere Minister von Einheiten der Revo­ lutionsarmee in ihren Betten verhaftet.. Ich rufe jetzt alle arbeitenden Menschen auf, die Jugendlichen, die Arbeiter, die Bauern, die Fischer, die Mittelklasse und die Frauen, sich unseren bewaffneten Streitkräften in ihrer Gemeinde anzuschliessen .. Der kriminelle Diktator, der wohl begriff, dass das Ende nahte, floh gestern aus dem Land ,, Die Volksregierung wird um Gairys Auslieferung ersuchen, dass so schwere, so ernste Anklage gegen ihn erhoben werden kann, wie Mord, Betrug und Niedertrampeln der demokratischen Rechte unseres Volkes .. Lassen Sie mich den Anhängern der Gairy-Regierung versichern, dass sie in keiner Weise geschädigt werden sollen. Ihre Häuser, ihre Familien und ihre Arbeitsplätze sind völlig sicher, solange sie nicht Gewalt gegen unsere Regierung anwenden . . Es soll keine Opfer der Revolution geben, das versichern wir Ihnen. Volk von Grenada, diese Revolution geschieht für Arbeit, für Essen, für anständiges Wohnen und für die strahlende Zu­ kunft unserer Kinder und Enkel. Die Früchte der Revolution wer­ den jedem zugute kommen, ohne Ansehen der politischen Mei­ nung. Lasst uns alle zusammenkommen zu einem Ganzen. Wir wissen, Gairy wird versuchen, internationale Hilfe zu orga­ nisieren, aber wir wollen deutlich machen, dass es nach internatio­ nalem Recht ein kriminelles Vergehen ist, dem Diktator Gairy zu helfen. Es würde eine unerträgliche Einmischung in die inneren Angele­ genheiten unseres Landes bedeuten und den Widerstand aller Patrioten von Grenada und jeder Unze unserer Kräfte hervor rufen.. Lang lebe das Volk von Grenada! Lang lebe Freiheit und Demokratie! Lassen Sie uns zusammen ein gerechtes Grenada aufbauen! BBC: Interview mit Gairy in New York: 265

- Ich glaube, sie haben mehr Ausrüstung als wir. Sie haben Mu­ nition aus Washington bekommen, in Fässern, die als Petroleum­ gelee deklariert wurden. Gairy schätzt die Revolutionsarmee auf 70 Mann. Gairy verlangt von den USA und von Grossbritannien Solda­ ten und Waffen. Gairy erscheint nicht auf der Pressekonferenz im New York Hilton. Alister Hughes interviewt für Newsletter Mister Masanto, den ehemaligen Befehlshaber der Defence Force, im Gefängnis von Richmond Hill: - In Fort George war der Plan entwickelt worden, eine weisse Fahne herauszuhängen und die Revolutionsarmee aus dem Hin­ terhalt zu überfallen. Masanto: - Ich glaube, ich vermied eine Menge Blutvergiessen, als ich sie überzeugte, diesen Plan aufzugeben. Um 11 Uhr hatten Derek Knight, Minister ohne Portefeuille und die anderen, die in Fort George beraten hatten, die Festung ver­ lassen. 12 Uhr 55: Radio Free Grenada. Herbert Preudhomme, ehemaliger Deputy Prime Minister: Vor einer Stunde wurde ich mit George Hosten und anderen Mit­ gliedern der vorigen Regierung verhaftet. Ich habe mich der neuen Regierung ergeben. Sie sind in voller Kontrolle des Staates. Ich wende mich an die Mongoose Gang und an andre Geheim­ polizisten, die jetzt in Gouyave sind: Übergeben Sie die Polizei­ wache jetzt. Grenville, St. Davids und fast alle sonst haben sich ergeben .. Wenn Sie Widerstand leisten, werden Sie ausgemerzt.. Lasst uns Blutvergiessen vermeiden! Als Deputy Prime Minister rufe ich alle Polizisten im Lande auf, sich der neuen Regierung zu ergeben. Ich fordere besonders die­ jenigen in Fort George auf und die CID. Denken Sie an Ihr Leben. Denken Sie an Ihre Familien. Denken Sie an die Kranken in unserem Krankenhaus. Widerstand ist nutzlos. Hängen Sie die weisse Flagge heraus und kommen Sie unbe­ waffnet heraus.

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Ergeben Sie sich jetzt. (Preudhommc spricht mit einer fast fraulichen Stimme. Er stilisiert seine Aussagen durch verlangsamende Schwäche und Klage. Surrender now! ist wie hinsterbend gcsagl. Es drückt aus: Die Kräfte des Widerstandes fliehen dahin. - Aber auch: Ich bin selbst in einer Situation, wo meine eigenen Kräfte zum Versiegen gebracht werden.) 13 Uhr 10: Radio Barbados: Fort George hat sich ergeben. Alister Hughes: Derek Knight, Minister ohne Portefeuille, flieht in einem Segel­ boot nach St. Vincent oder St. Lucia. Radio Barbados: St. Andrews und St. Patricks in der Gewalt der Revolutionäre. 14 Uhr. Der Flughafen von Grenada, der nur tagsüber angeflogen werden kann, geschlossen. Alister Hughes: 14 Uhr 35: Eine Einheit der PRA langt bei der Feuerwache von St. George’s an. 15 Männer nehmen am Angriff teil. Wenig oder kein Kampf. Fünf Schüsse. Die Feuerwehrmänner kommen heraus und ergeben sich. 15 Uhr 01: Radio Barbados: Die Regierung von Jamaica will der Revolution von Grenada zu Hilfe kommen. 15 Uhr 17: Das Peoples Revolutionary Government - PRG - von Grenada sucht diplomatische Beziehungen zu den USA, dem United Kingdom und zu Jamaica. Alister Hughes: Albert Forythe, der Abgeordnete von St. Marks, nimmt Waffen von der Victoria Police Station und trägt sie zu seinem Haus in der Nähe. Es wird vermutet, dass er von dort aus allein Wider­ stand leisten will. 18 Uhr 30: Die PRA verhaftet ihn und bringt ihn in Schutzhaft ins Radio 267

Free Grenada, r.o auch die anderen Gefangenen inhaftiert wer­ den. Radio Barbados: Erziehungsminister Dr. Wellington Friday in New York: Ich weiss nicht, ob ich noch im Amt bin oder nicht. Radio Barbados: Kommentar aus Guyana: Drei Schritte zum Sozialismus in der Karibik: Die Revolution von Haiti 1804. Die Revolution von Kuba 1957. Die Revolution von Grenada 1979.

Zu British Airways. - Wie komme ich rein nach Grenada? Der Manager bringt mich zu Fräulein Ishmael. - Kennen Sie Moby Dick von Melville? - Ja. Warum? - Call me Ishmael, fängt es an. Sie stammt aus Trinidad. - Journalisten aus Trinidad sind am Flughafen von Grenada wie­ der zurückgeschickt worden. Ishmael ruft den Chefredakteur von der »Nation« an, Harold Hoyte: - Der Flughafen von Grenada ist zu. - Ein Flugzeug von der »Nalion« ist auf eigenes Risiko hin. - Liat fliegt nicht. - Vielleicht am Freitag. Ich buche für Freitag.

New Jewel. Neues Juwel. Joint endeavor for Well'are, Education and Liberation. Der Begriff Juwel hat für mich etwas Freimaurerisches. Mozarts Funkeln. »Die Zauberflöte«. In diesen heiligen Hallen kennt man die Rache nicht und ist ein 268

Mensch gefallen, führt Liebe ihn zum Licht. Ich denke an die nordamerikanischc Revolution und die venezo­ lanische. Ich denke an die Ein-Dollar-Note: Novus ordo seculorum. Die Pyramide, mit der schwebenden, juwelenartigen Spitze.

Nacht. Romantischer wilder Mond. Romantische brüllende See am Long Beach. Die Füsse kleben vom Teer, den die Flughafendirektion von Bar­ bados in die See abstösst. Voyeure. Liebespaare. Ich denke, jetzt wird auch auf Grenada durch Büsche geschlichen, um Häuser herum, Sandpfade, Strände entlang, unter dem Mond, an der See entlang. Ducken. Es geht um Qual, Drohung. Verhaftung, Elend, Sterben.

Ich denke an das letzte Jahr zurück.

Mistress Evans, die Directrice des Hotels, sagt: - Eric Matthew Gairy ist nie von der Bourgeoisie akzeptiert worden. - Er blieb immer der kleine schwarze Mann aus Grenville, der sich empörte, dass die Plantagenbesitzer den Arbeitern nur einen Shilling am Tag bezahlten. - Gairy will nur eins. Er will geliebt werden. - Er lädt die Bourgeoisie in den Evening Palace ein, aber sic laden ihn nicht zu sich. - Wenn sie es täten, würde niemand anders mehr kommen. - Deshalb hat er seine Nachtbars. - Er will mit den Leuten reden. - Aber wehe, kränkt ihn einer. - Er ist so rachsüchtig. 269

Mistress Evans besorgt uns eine Einladung zum Empfang anläss­ lich des Vierten Jahrestages der Unabhängigkeit von Grenada. Wir gehen früh, denn wir wollen noch einen Platz im Schatten. Zuerst treten die dicken Polizisten auf mit ihren Ehrenstöckchen. Wenig Weisse. Etwa 2000 Leute, eher weniger. Man wird am Eingang nach dem Namen gefragt und, wenn man ihn genannt hat, reingelassen. Auch Leute in abgerissener Kleidung. Nach anderthalb Stunden frage ich einen dicken Polizisten: - Ist der Prime Minister schon da? - Gairy? Ja, hier stand er doch eben. Zwei betrunkene Männer tanzen zusammen. Ein Junge pinkelt in das Eis für die Cola. Ein Bariton singt: - Grenada. Grenada. Als wir gehen, fangen die Festredner an, die Leute im Ton vater­ ländischer Veranstaltungen auszuschimpfen.

Michael: - Da oben auf dem Berg ist das Gefängnis Richmond Hill. - Vielleicht 200 Insassen. - Kloppen und Klauen.

Edgar, der Bischof der Spiritual Baptists, trägt einen roten Turban. Er sieht aus wie der Skribe aus Uruk. Er zuckt stöhnend zwischen den Besessenen umher, aber sein Ge­ sicht bleibt unbewegt und seine Augen beobachten die Besessenen und uns. Während die anderen beten und stöhnen, führt er das Kontobuch. Edgar sagt: — Ich habe sieben Kinder aus zwei Ehen. -Das jüngste 10 Monate, der älteste 14 Jahre. — Mein Vater ist an der Prostata operiert worden. — Meine Mutter haben sie amputiert. 270

— Deshalb bleibe ich auf cler Insel und gehe nicht in die Staaten zurück oder nach Venezuela. — Ich habe 11 Monate in New York gearbeitet. Ich war nur ein­ mal im Kino. — Ich bin übrigens zum Geburtstag bei Gairy eingeladen.

Edgar geht mit den Gläubigen seiner Baptist Church in das Ge­ fängnis von Richmond Hill und predigt, singt für die Gefangenen, bis der Geist über alle kommt.

Georgie am Strand: — Alle machen es. — Aber geheim. — Mir ist die Reaktion der Leute egal. — Mir ist nur meine Multer wichtig und die weiss es und hat sich damit abgefunden. — Ich nehme nie Geld dafür. Ich mache es aus Liebe oder gar nicht. — Ich bin Zuhälter. — Ich will, dass alle glücklich sind. — Ich vermittle. — Ich vermittle auch Gras. — Ich baue mein eigenes Gras. — Die wollten, dass ich in New York Zuhälter bin. Aber ich sehe genau die Gefahren. — Ich habe mal mit einer Frau. Da musste ich kotzen und war drei Tage krank. — Mein Halbbruder hat mich verführt. — Gairy hat einen schwulen Fahrer und einen schwulen Botschaf­ ter in New York. — Ich war viel mit Gairy zusammen. — Gairy nicht. Hinter Gairy sind die Frauen her. — Zu mir sind alle nett. Wenn ich auf den Markt gehe, muss ich alle Marktfrauen küssen. Jeder sagt mir Guten Tag. — Ich habe sehr gute Beziehungen zur Polizei. — Ich ziehe mich immer sehr elegant an. Das ist sehr wichtig. Ich

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gehe auch immer sehr elegant angezogen auf die Polizeiwachen. Dann achten sie nämlich auf meine Kleidung und nicht auf mein Gras. - Ich habe es all den anderen Pushern erzählt, wie wichtig es ist, elegant angezogen zu sein. - Auf einem Touristenschiff wollte mich einer als Heroinpusher anmachen. - Das habe ich abgelehnt. - Die haben mir was gegeben - da konnte ich durch das Meer sehen. - Das wollte ich nicht. - Bischof Edgar kenne ich gut. Er leitete einen Jugendchor. Er hatte einmal eine Krankheit: Sein Dings ging nicht wieder runter. Er lag im Krankenhaus und wir besuchten ihn alle. Mitten im Bett hatte er was wie ein Zirkuszelt. Am überwucherten Rain Fischerboote und Ziegen. Ein Mann wäscht sich, nackt, er gibt mir Zeichen, geht ins Busch­ werk, lugt. Georgie kommt: - Der da ist durchgedreht. - Seine Freundin ist mit all seinem Geld weggelaufen. Da ist er durchgedreht. Jetzt lebt er wie ein wildes Tier. - Keiner kümmert sich mehr um ihn. - Ich tanze übrigens Limbo und mache Vorführungen in den Hotels. - Ich baue mir eine eigene Tanzgruppe auf. - Ich suche einen Mann ohne Knochen, der alle Buchstaben des Alphabets vorführen kann.

Jack Nightwood lebt auf einer Plantage, die über Nacht von Gairys Sondereinheiten besetzt worden ist und enteignet: - Es stimmt, das chilenische Folterschiff Esmeralda lag wochen­ lang im Hafen. - Gairy erhielt Waffenlieferungen aus Chile für seine Mongoose Gang. - Die Südkoreaner haben ihm Autos geschenkt. - Der ermordete Landwirtschaftsminister Belmar war ein Sadist. - Erst war er Polizeiinspektor. Er wurde gezwungen, seinen Po­ 272

sten aufzugeben. Da machte Gairy ihn zum Landwirtschaftsmi­ nister. Es wird vermutet, dass Gairy selbst den Auftrag zur Er­ mordung gegeben hat. - Tatsächlich ist Gairy der einzig fähige und einzig denkbare Staatschef für Grenada. - Er glaubt, wie Carter, an UFOs und will in der UNO das Stu­ dium der UFOs fördern. - Gairy tut so. als sei er ein Schürzenjäger. In Wirklichkeit hat er Potenzschwierigkeiten. Eine stadtbekannte Lesbierin soll ihm ih­ ren Godmiche geliehen haben. - Er redet oft nur flüsternd oder französisch - also Patois! - Keine Folter. Gewöhnlich keine Prügeleien. - Es ist sehr gefährlich, den Duffusreport zu besitzen. - Keine Briefkontrolle. - Die Freundschaft mit Gairy ist vielen zum Unheil geraten.

Giens Garage. Dankesfest. Lehrer Castor, schwarzgekleidet. Er trägt einen vorne geschlitzten Nylonrock und eine mit roten Kräuseln verzierte Bluse. Im Holzhaus schreit eine Frau. - Jesus, my God. - Jesus, thy Blood. - Thy Blood. Sie schlägt mit den Fäusten auf den Fussboden. Lehrer Castor wirft ihr ein weisses Tuch übers Gesicht. Er fesselt sie mit einer Schnur. Er setzt ihr eine Blätterkrone auf. Um sie herum wedelt die Gemeinde mit Zweigeti. Sie nehmen ihr die Krone und das Tuch wieder ab. - Sie liegt auf dem Fussboden, zusammengeklappt wie ein Frosch, sagt Leonore. Auf ein tischgrosses Stück Wellblech Blätter, Rum. Ein brennender Lappen wird durchs Fenster geschmissen. Die Rasende, Gefesselte wird an Schultern und Füssen gepackt und hochgehoben. Der Rüschenmann entzündet den Rum auf dem Wellblech.

Die Gefesselte strampelt. Schreit. Sie wird über die Flammen geschwenkt. Immer tiefer. Als der Alkohol verbrannt ist, schieben sie das Wellblech durchs Fenster. Die Gefesselte wird von Kopf bis Fuss mit Zitrone abgerieben. Die Frauen waschen ihr die Haare. Gesänge. Die Tür wird geschlossen. Gesänge drinnen. Gesänge draussen. — Jesus, if I see your Blood. Einer läuft ums Haus und besprengt es mit Wasser. Die Kräuter werden auf dem Hof in einem grossen Feuer ver­ brannt. Gemeinsames Essen im Holzhaus.

Evening Palace. Bar. Restaurant. Besitzer: Prime Minister Sir Eric Matthew Gairy. Billiger und süsser Rumpunsch. Für vier Dollar hat man Anrecht auf das Buffet. Kreolische Gerichte: Gürteltier. Geflügel. Wild. Calulu. Krebse. Aber man muss früh kommen, gegen sieben, sonst ist alles abge­ gessen. Geheimdienst. Diplomaten, Decadents, Schmarotzer. Leonore und ich sitzen mit einem der grossen Journalisten der Bundesrepublik. Er ist müde. Als wir gehen, kommt uns ein gutgewachsener Mann in weissem Anzug entgegen. Er lässt uns vorbei:

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- There are people cnming out. Ohne Akzent. Der Prime Minister. Und wer steht draussen, in offenem weissem Hemd, zwischen den Chauffeuren und der Mongoose Gang, ohne Turban? Der Skribe aus Uruk. Bischof Edgar. Er lächelt zur Seite hin.

Alexander Liberman, der Chef von Vogue, sagt: Die Lehrer der britischen Boardingsschool schlugen uns für ge­ wöhnlich solange, bis wir zu weinen aufhörten und lächelten. Es war eine wertvolle Erziehung für diejenigen, die überlebten.

Mittwoch, den 14. März 1979: Heute beginnt in Port-au-Prince die Public Relation Tour für europäische Journalisten, die von der haitianischen Regierung be­ zahlt wird. Mit Besuch bei Jean-Claude Duvalier.

Newsletter von Alister Hughes: Meeting der CARICOM auf Einladung von Tom Adams, Prime Minister von Barbados. Vertreten sind: Guyana, Jamaica, Dominica, St. Lucia. Trinidad kam der Einladung nicht nach. The Nation: Die Grenader in New York haben das Büro der UNO besetzt. Sie beantworten Telefonanrufe, geben aber keine Auskünfte über die Revolution.

The Nation: Die Arbeit auf der Insel Grenada läuft wie gewöhnlich. Sogar im Büro des Prime Ministers im Botanischen Garten. Ein Zwischenfall: Im Finanzministerium wurden einige Unterlagen verbrannt.

The Nation: Chinesische Truppen, welche die vietnamesische Provinzbauptstadt Lang Son eroberten, werden in China als Helden gefeiert. Elf weitere Mitarbeiter des Schahs in Teheran hingerichtet, dar­ unter fünf Offiziere und zwei Männer, die als Folterer der gehei­ men Polizei des Schahs, SAVAK, bezeichnet wurden.

Donnerstag, den 15. März: Harold Hoyte sieht sich Leonores Buch an. Auch hier zur Revolution der Pass. Er schreibt einen Brief an Maurice Bishop und gibt ihn mir. - Die Regierung von Barbados hat alle Flüge nach Grenada ge­ stoppt. - Warum, weiss ich nicht. Hoyte setzt uns auf die Liste für das erste Presseflugzeug, das starten darf. Telefon. Ich höre Hoyte: - Ich möchte ihn nicht in der Redaktion empfangen. - Ich komme schnell an der Ecke vorbei und er soll mir das Paket geben.

The Nation: Derek Knight, Minister ohne Portefeuille der Regierung Gairy, ist in St. Vincent. Er versuchte nach Union Island zu fliegen. Ein IAS-Pilot weigerte sich, ihn an Bord zu lassen. IAS stellt alle Flüge von und nach St. Vincent ein. Knight kommt in letzter Minute an Bord des LIAT-Fluges von Antigua nach Barbados. Er wird auf Barbados in der VIP-Lounge des Flughafens von Sicherheitspolizisten eingeschlossen. Alister Hughes: Miste)' George Louison von der grenadischen Revolutionsregii rung wird nach Barbados gerufen. 276

Jamaica und Guyana sind fiir Anerkennung der neuen Regie­ rung. Dominica und St. Lucia dagegen. Unentschieden Barbados. Telefongespräch mit Maurice Bishop. Maurice Bishop trifft sich mit Herbert Preudhomme, dem Acling Prime Minister der Regierung Gairy, der sich in Schutzhaft be­ findet. Preudhomme soll Knight als Minister ohne Portefeuille entlas­ sen und stattdessen Maurice Bishop ernennen. Darauf soll Preudhomme als Acling Prime Minister zuriiektreten und der Governor General soll Maurice Bishop, gemäss der Ver­ fassung von Grenada, als Acling Prime Minisler ernennen. Maurice Bishop: - Da waren viele Fallen in einer solchen Lösung. Jedoch unser Interesse war, so schnell wie möglich die Einheit der Nation zu gewährleisten und eine Lösung zu finden, die eine friedliche Situation in unserem Lande sichert. Mister Preudhomme wollte nicht als Judas erscheinen. Er wollte den Ex-Finanzministcr in Schutzhaft konsultieren. - Nach einer Stunde Gespräch fühlten sich die beiden Ex-Mi­ nister immer noch als Judasse und sie wollten alle anderen Mi­ nister der Gairy-Regierung in Schutzhaft konsultieren. Das wurde zugestanden. Und ein Gespräch mit drei unabhängigen Rechtsanwälten. - Ausserdem, fuhr Prime Minister Bishop fort, als mitten in der Barbados-Konferenz die CARICOM-Minister anriefen, liessen wir Preudhomme und Hosten 45 Minuten mit Prime Minister Compton von St. Lucia, Aussenminister Jackson von Guyana, Minister Dunkley von Jamaica, Minister Leo Austin von Domi­ nica und Aussenminister Henry Forde von Barbados sprechen. Die Aussenminister sagten Bishop, dass sie die Herren Preud­ homme und Hosten dringlich aufgefordert hätten, »das Licht des Tages zu erkennen« . . Die Ex-Minister verlangten weitere Zuge­ ständnisse von der Revolutionsregierung. Barbados setzte eine Deadline um 17.30 Uhr. Prime Minister Maurice Bishop: Alle Versuche, die Angelegenheit auf diese Weise zu lösen, waren jetzt gescheitert. Und ich kann Ihnen versichern, dass ein solcher Versuch nicht wieder unternommen wird.

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The Nation: Paket mit einem Statement Gairys: Gott hat uns mit Glauben und Mut gesegnet.. Die Absicht des Jewcl Movements war es immer, unser Land mit Waffen einzunehmen und cs von einem gottesfürchtigen, demo­ kratischen, religiösen - glückliche Leute, die alle möglichen Frei­ heiten geniessen - ja, und es in ein von Terroristenregimentern besetztes, gewehrrasselndes Land zu verwandeln, das leer von Freiheit ist.. Die Terroristen haben über die Media nur Lügen verbreitet. Unsere Reise nach New York war seit ungefähr einem Monat geplant. Wir hallen in New York ein Meeting mit dem General­ sekretär der UNO für Dienstag, den 15. März abgemacht, um elf Uhr. Ich rate Ihnen, gutes Volk von Grenada, halten Sie fest aus. Erliegen Sie nicht dein, was Sie in Radio Grenada hören. Denn das sind nur die Hirngespinste und die Ambitionen der Jewel-Revolutionäre. die unsere Männer mit dem Gewehr be­ drohen. Grenada wird nie, idi wiederhole, nie ruhig sein unter einer ge­ wehrdrohenden, selbst eingesetzten Jewel-Regierung . .

Freitag, den 16. März: Reinfliegen. Das grüne Eiland. Umgestülpt.

Am Flughafen Rastafaris mit gewaltigen Haarbergen und Ma­ schinenpistolen. Gelbe Schilder mit Sicherheitsnadeln am Ärmel: Peoples Revolutionary Army - PRA. Audi weisse Stücke Stoff. In der Mitte ein roter Punkt. Sie kontrollieren aufmerksamer als die Zöllner Gairys vor einem Jahr. Eine Frau muss alles aus ihrem Pappkarton vorzeigen. Wir haben den Brief von Harold Hoyte an den Prime Minister: - Entsdiuldigen Sie, aber wir müssen einen Koffer kontrollieren. 278

Ein Soldat sagt: - Deutschland? Ich komme in diesem Herbst in die Bundesrepu­ blik. Die neue Regierung hat mir ein Stipendium an eine Inge­ nieurschule versprochen. Zwei kleine Inderinnen schleppen zwei Schaumgummidoppelmatratzen an die Zollbarriere. Draussen warten zwei Rastafaris auf sie, kräftig gelockt. Sie winken zu den beiden Inderinnen herein, froh über die beiden Schaumgummidoppelmatratzen. Die Zöllner-Rastafaris öffnen die Umschnürungen, öffnen die Nylonumhüllungen, tasten die Schaumgummidoppelmatratzen ab, in jede Ecke hinein. Zweimal, zärtlich und energisch jede der beiden Schaumgummi­ doppelmatratzen. Die kleinen Inderinnen wollen sie wieder zu­ sammenschnüren, aber sie sind zu leicht und zu schwach, so dass die zusammengepressten Schaumgummidoppelmatratzen sie wie­ der in die Höhe schieben. Zu zweit auf einer schaffen sie es. Die beiden Inderinnen tragen die beiden Schaumgummidoppel­ matratzen den lockigen Rastas entgegen. Wir durchqueren die Insel. Die Leute lachen. Winken. Ja. Sie wirken fröhlicher, erleichtert. Einige tanzen auf der Strasse. Nur wenige haben am Ärmel das weisse Stück Stoff mit dem ro­ ten Punkt. Die Brücken heftig bewacht. An einigen Polizeiwachen hängt noch das weisse Stück Stoff der Kapitulation - oder eine weisse Hose. Ein Jeep in wilder Fahrt: Bärte, Maschinenpistolen, gelbe Schil­ der PRA, Sicherheitsnadeln, weisse Stücke Stoff, rote Punkte. Wir überholen den Wagen mit den Rastas und den beiden klei­ nen Inderinnen. Der Jeep mit den Revolutionären hat sie ge­ stoppt. Sie tasten gemeinsam die Schaumgummidoppelmatratzen ab.

Holiday Inn - voll mit besoffenen amerikanischen Journalisten, die durch den Essaal ihre Kommentare brüllen. 279

Junge Männer am Strand zerstampfen die Blätter eines Kaktus in einer Blechdose; sie schmieren sich mit dem schaumigen Schleim die Haare voll, spülen sie tauchend wieder aus. - Wie heisst der Kaktus? — Cochonil.

Ich rufe Radio Free Grenada an. Das Hauptquartier der Revolutionsregierung. Maurice Bishop ist nicht da. Ich soll bei ihm zuhause anrufen. Da ist er auch nicht. Ich soll meine Telefonnummer hinterlassen; sie rufen zurück.

Ein Mann taucht. Er kommt mit violetten Seeigeln wieder hoch. Nahe am Strand schlägt er sie mit einem Stein auf und lutscht sie aus.

Freiag, den 16. März: Alister Hughes: Derek Knight, Minister ohne Portefeuille, fliegt von Barbados nach New York.

Erste Pressekonferenz nach der Revolution. Maurice Bishop lädt die Presse ein, die Gefängnisse zu besuchen und zu konstatieren, dass die Inhaftierten keine einzige Schramme hätten und jederzeit ihre Hausärzte konsultieren könnten.

Sonnabend, den 17. März: Niemand ruft zurück. 280

Ich rufe noch mal an. Die Mitarbeiterin des Prime Ministers sagt, icli soll den Brief von Harold Hoyte vorbeibringen. - Wohin? - Ins Haus des Prime Ministers. - Wohin? - Parade. Jeder Taxifahrer weiss das. - Nach wem soll ich fragen? - Nach Louise. Der Taxifahrer sagt: - Ich kenne das Haus. Die Revolutionäre mit Maschinengewehren wollen mich nicht reinlassen. - Ich muss aber rein. - Die Mitarbeiterin des Prime Ministers erwartet mich. -Wer? - Louise. - Hier gibt es keine Louise. Ein Wagen - weisse Flagge, roter Punkt - fährt raus. - Wo wollen sie hin? - Zu Maurice Bishop. - Da sind Sie hier falsch. Das hier ist die Residenz des gestürzten Prime Ministers Sir Eric Gairy. Fahren Sie hinter mir her. Ich bringe Sie zum Prime Minister. Vor dem Haus des Prime Ministers Brother Maurice Bishop hält mir der Revolutionär stumm die Maschinenpistole vor die Brust. Eine junge Frau springt auf mich zu. - Ich bin Louise, geben Sie mir den Brief. Während ich ihr alles erkläre, denkt sie an etwas andres und idt sehe, dass sie im Gesicht schwitzt.

Eine Botschaft von Gairy: Wir werden nie aufgeben. Ich wiederhole: Wir werden nie auf­ geben. Meine lieben Grenader Bürger und Einwohner, geraten Sie nicht in Panik, werden Sic nicht weich, geben Sie nie auf. Möge Goll Sie segnen, bis wir uns wiedersehen, bald, sehr bald, sehr bald, wirklich sehr bald.

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The Nation interviewt Gairy im New York Hilton, Zimmer Nr. 4205: - Es gibt Gerüchte, dass Sie über diese Männer Bescheid wussten, die Sic in Barbados trafen und die Hit Men sind, wie man an­ nimmt .. und dass Sie wussten .. Gairy: Was sind Hit Men? - Männer, die Leute ermorden .. Gairy: My Gosh! No. No. No .. - Es ist schade, dass Sie sich nicht an die Namen der beiden er­ innern .. Gairy: O my Gosh! Die amerikanische Regierung würde sich nie auf so etwas einlassen .. - Mit anderen Worten, es war wichtiger, diese Leute zu treffen, als zu diesem Zeitpunkt auf Grenada zu bleiben? Gairy: 0 my Gosh, no. No. No. No. No. No. - Es ist auch festgestellt worden, dass das New Jewel Movement nicht plante .. augenscheinlich hatten Sie erfahren, dass diese Leute nach Grenada kamen, um Sie zu töten und deshalb musste sich das New Jewel Movement beeilen und den Job erledigen. Gairy: Well, well, well!

Alister Hughes: 30 Personen in Schutzhaft.

Sonntag, den 18. März: Die erste Nummer von Torchlight nach der Revolution: Schlagzeile: Gairy gestürzt! (Das wussten wir schon.) Provisorische Regierung von 14 Mann. Die Regierung Gairys wurde gestürzt, aber keine kubanischen Truppen sind gelandet.

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Columbus macht sich am Strand an Leonore ran: Er will ihr schwarze Korallen verkaufen. Columbus: Don’t you like nice things? Leonore: I do. Columbus: I’m nice!

Krabbenwettrennen, Holiday Inn. Ein eleganter, schmaler Grenader, leicht tuntig, sagt die Krabben an: - Und Nummer 14, eine richtige revolutionäre Krabbe.

Ich rufe beim Prime Minister an. — Ich habe gestern einen Brief für Maurice Bishop abgegeben. — Hier ist kein Brief. Die Schwester des Prime Ministers lässt mich nicht ausreden. — Geben Sie mir Ihre Telefonnummer. Wir rufen zurück. — Ich habe Fräulein Louise den Brief ausgehändigt. — Hier gibt es kein Fräulein Louise.

Jack Nightwood wieder - milde und blutrünstig. - Wie angenehm, über Gairy zu reden, ohne Angst zu haben. - Noch ein paar Tage vor seiner Amerikareise hat er eine Plan­ tage besetzen lassen. - Die Plantokratie hat ihn nie akzeptiert, deshalb wollte er sie vernichten. - Offiziell liess er verlauten: Ich will das Land verteilen - tat­ sächlich Hess er es brach Hegen. - Auch das Horse-Shoe-Bay-Hotel hat er enteignet. - Man hat in Gairys Residenz Mount Royal einen Obeah-Raum entdeckt und die Revolutionsregierung wird alles tun, um Gairy damit weltweit zu diskreditieren. - Als ob seine Bluttaten nicht genügten. - Alles in allem hat er wohl 6 Leute ermorden lassen. - 1974 einen jungen Mann, der in der Nähe eines Priesterehe­ 283

paares wohnte, die Obeah machten. Die Frau rief den jungen Mann nachts zu sich. Der Mann schlug ihm mit dem Hammer auf den Kopf und die Frau drehte ihm die Hoden ab. Zur gleichen Zeit lag ein schedderiges Schiff aus Haiti im Hafen von St. Geor­ ge’s und man nimmt an, dass Gairy einen Vaudoupriester hatte rufen lassen, damit der ihm in der schwierigen Zeit vor der Unab­ hängigkeit von Grenada half. - Vielleicht hat Gairy das Herz des jungen Mannes für eine Obeahzeremonie herausgeschnitten? Das Ehepaar ist nie für die Mordtat bestraft worden. - In letzter Zeit ist ein junger Polizeioffizier verschwunden. Er wurde zuletzt mit einer Frau im Morgengrauen gesehen. Man nimmt an, dass er auf dem Boot der Küstenwache in Stücke geschnitten worden ist. Das Boot ist versenkt. - Gairy hat die Todesstrafe wieder auf Grenada cingeführt. Zu­ letzt wurden im Gefängnis von Riclunond Hill vier Männer ge­ henkt, die ein Mädchen vergewaltigt und getötet hatten. - Die Shangopriester machen jetzt alle magische Arbeiten für die Rückkehr Gairys. Gairy hat für heule, Montag, seine Rückkehr vorausgesagt: Ich komme durch die Luft, über die See und zu Lande! - Er Hess seine Soldaten in Chile ausbilden. - Im Augenblick dingt er Söldner in New York. - Grossbritannien, Kanada und die USA haben abgelehnt, ihm zu helfen. - Er hat Verbindungen zur Mafia. - Ob Maurice Bishop ein Kommunist ist, das weiss keiner. - Er antwortete immer ausweichend: Was verstehen Sie unter Kommunismus etc. ? - Die Deutschen wurden auf Grenada von einem Herrn Kapelle vertreten, der sich als Pressesekretär von Franz Joseph Strauss ausgab. Er war sehr arrogant. Aber er brachte die deutschen Tou­ risten nach Grenada. - Die Revolutionäre hatten vor dem Angriff auf True Blue Ver­ bündete in den Militärbaracken. - Es gibt Dörfer auf Grenada, die sind voll von Gairy-Anhängem. Die warten nur darauf, loszuschlagen. - Wenn es einen Bürgerkrieg gibt, -wird alles verwüstet.

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Dienstag, den 20. März: Torchlight: Gairy verlässt New York und fährt nach Californien zu seinem Freund Dumally, der ihn damals mit Jim Jones aus Guyana be­ kannt machte. Gairy soll um politisches Asyl in Venezuela ersucht haben.

Die erste Massenversammlung der Revolution. Im Queens Park - im Park der Königin Victoria. Es sollte auf dem Zentralmarkt stattfinden - im letzten Augen­ blick wird der Ort geändert. Am Zentralmarkt sind zuviele Einschussmöglichkeiten. - Gairy was a charming man, sagt der Taxifahrer, but wicked. Als wir kommen, sind die Tribünen noch leer. Schliesslich auf drei Tribünen und unten, vor dem breiten Holz­ pavillon, etwa 5000 Menschen. Um halb vier kommt ein Zug von Lastwagen, Bussen, Privatwa­ gen am Horizont, vor dem Meer entlang. Eine Ekstatikerin schreit: - Unsere Heroen 1 Sonst alles sehr gemessen. Gegen vier trifft Maurice Bishop ein. Bleich sein Gesicht. Wenig Presse. Die Mikrophone stehen gesichert in einer Nische, weit hinten unter dem Holzdach. Jeeps mit Rastafaris, die Maschinengewehre hochlinllen. Das Bild der Revolution: Revolutionäre, welche die Bilder aus Revolutionsfilmen nach­ stellen. Zuerst spricht ein Soldat. Nicht sehr gebläht. Dennoch: - Aber Sie sind nicht gekommen, um meine Wenigkeit zu hören. Es gibt einen Chairman of the Revolution. Dann spricht Bernard Coard, der Finanzminisler, der Professor der University of the West Indies: - Die Revolutionäre haben sich bei ihrer Planung nicht getäuscht. 285

- Das Volk war auf unsrer Seite. - Die Polizei kämpfte nicht gegen uns. - Die Arbeiter streiken nicht und sabotieren nichts. - Wir wollen unsere Gegner, die Gairyanhänger überzeugen und gewinnen. Bernhard Coard sagt: - We will try to win over our ennemies. Eine Frau betet neben den Revolutionären das Vater Unser. Die 5000 beten gemeinsam das Vater Unser. Der Chefkommandant der Truppen. Ein Abgesandter der Regierung Manleys von Jamaica, flach und doktrinär. Er endet: - Der einzige Weg ist der Sozialismus. Maurice Bishop jetzt. Aber erst noch eine Frau, die Maurice Bishop ein gesticktes Herz überreicht und ein Gebet spricht, in das die 5000 einfallen. Bishop spricht klar, nicht hart, aber entschlossen. Er endet: Gairy hat mitgeteilt, dass er seinen Posten als Prime Minister niederlegt. Dennoch würde er in Miami mit den Exilkubanern von El Con­ dor verhandeln. Die neue Regierung verlangt die Auslieferung Gairys. - Gairy kommt in Ketten zurück. - Wenn er landet, wird er auf Sicht erschossen. - So simple as that, sagt Maurice Bishop. Ein bisschen St. Just muss sich wohl jeder vorspielen. Zwischendurch immer ein Spassmacher, dessen Bemerkungen ich nicht verstehe. Auch Anfragen wegen im Gedränge verlorener Kinder, wegen ge­ fundener Dollarnoten. Einer spricht davon, dass jetzt harte Zeiten anfangen. - Die Arbeiter müssen den Gürtel enger schnallen und 100 mal soviel arbeiten als vorher, schimpft er ins Mikrophon. Bei einer Revolution gehören die Arbeiter ja erst mal richtig aus­ geschimpft. Die Reaktionen der 5000 Menschen: Kein Schaum. Kein Schupsen. Maurice Bishop fährt an mir vorbei. Er hat eine elegante Frau.

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Guyana und Jamaica erkennen die neue Regierung auf Grenada an.

Mittwoch, den 21. März: Torchlight. Obeah Room. Hexerei. Teufelsbücher. Falltür. Stickiges Zimmer in Mount Royal, der Residenz von Gairy.

Der Taxifahrer, Anglikaner: - Gairy predigte das eine und lat das Entgegengesetzte.

Torchlight: Coup-Opfer Godwyn Pysadee erhält militärisches Ehrenbegräb­ nis. Barbados erkennt die neue Regierung auf Grenada an. Advocate News: Die Regierungen der kleineren karibischen Staaten haben sich entschieden, die neue Regierung auf Grenada noch nicht anzuer­ kennen.

Wiedersehen mit Barbara: - Ich habe unter Gairy meine Pflicht getan, ich hoffe, ich werde weiterhin meine Pflicht tun. - Ich habe mich bei Maurice Bisliop angemeldet, für zwei Mi­ nuten. Ich will ihn nur beglückwünschen. - Die Revolutionäre haben wenig Zeit. Ich glaube, es ist unmög­ lich, Bishop für eine Stunde Interview zu gewinnen. - Es herrscht Religionsfreiheit auf Grenada. Das Obeahzimmer von Gairy hat nichts mit Shango zu tun. Niemand im ganzen Land heisst Obeah gut. - Die Söldner haben sich geweigert, fiir Gairy zu arbeiten. Söld­ ner wollen sich nach ihrem Einsatz mit der Bevölkerung des Lan­ des vermischen können. Die Bevölkerung hier ist zu klein und schwarz und spricht eine besondere Sprache. 287

- Kein Kubaner kann hier untertauchen. - Man fürchtet, dass Gairy einen Killer engagiert, der Maurice Bishop erschiesst, einen Killer, der als Tourist oder Journalist ins Land kommt. - Die Revolutionäre lassen nur Leute an sich heran, die sie per­ sönlich gut kennen. - Ist es nicht bewundernswert, wie alles klappt? - Die Polizei muss aufgebaut werden, die Armee. Die Jungen sind alle ungeschult. Jetzt wird täglich trainiert. - Die Wahlen müssen vorbereitet werden. - Die Finanzen müssen geregelt werden. - Auf dem Rcvolulionsmecting - das war die grösste Menschen­ menge, die je auf Grenada zusammengekommen ist. - Und das war nur der harte Kern der Anhänger der Revolution. Der sympathisierende Mittelstand von St. George’s geht nicht zu so einem Meeting und die Landbevölkerung hat Transportpro­ bleme. - Die Leute hier sind sehr religiös. - 64 Prozent sind Katholiken. - Maurice Bishops Familie ist katholisch. - In ein paar Jahren ist unsere Insel ein Paradies.

Rastafaris am Strand, lange Locken, an den Enden blond vom Salz des Meeres und von der Sonne, das gelbe Stoffstück PRA mit einer Sicherheitsnadel am Ärmel befestigt, sorglos spielen sie mit dem Lauf des Maschinengewehres unter der Nase der Tou­ risten herum, beginnen mit mir einen Lächel-Small-Talk. Halb-englisch, halb-afrikanisch. Der Sinn ist die Form. Die Form ist der Sinn. - Hast du nicht ein bisschen Gras? - Früher hallet Ihr doch immer Gras. Ich habe keines. - Schade. - Seid Ihr Rastas? - Ja. Abei’ wir sind Rastas von Grenada. Wir wollen keine Weis­ sen unibringen. Wir haben nichts gegen die Weissen.

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Donnerstag, den 22. März: Grossbritannien erkennt die neue Regierung auf Grenada an. Der britische Hohe Kommissar trifft auf Grenada ein. Die USA erkennen die neue Regierung auf Grenada an.

Freitag, den 23. März: US-Bolschafter Frank Ortiz trifft auf Grenada ein.

Norman Paul schreibt in seinen Erinnerungen, dass ein Afroame­ rikaner auf Grenada an seine Schwiegereltern einen Brief schrei­ ben musste, ehe er sie besuchen konnte.

Tiny Grenada. Internationale Verpflechtungen: Gairy: Südkorea. Chile. Fleisch aus Neuseeland. Touristenschiffe aus Italien und der Sowjetunion. Touristen aus der Bundesrepublik. Geld von Grossbritannien. Maurice Bishop: Jamaica. Guyana - Guyana mit Libyen. Ein Nordkoreaner unter den Touristen. Wie werden sich Japan und Südafrika verhalten? Filibuster!

Freitag, den 23. März: Barbados. In die Nation, zu Harold Hoyte. Er ist nicht erstaunt. - Ich schreibe dir den Empfehlungsbrief noch einmal. - Die Revolutionäre haben furchtbare Angst erschossen zu wer­ den. - Ich weiss, dass zwei Hit Men — er sagt: White Men — auf 289

Grenada sind, um Maurice Bishop zu erschiessen. Gairy ist so. Sein Appell an die neue Regierung, die Mitarbeiter der alten zu schonen, soll nur vorspiegeln, dass Gairy menschlich und staats­ männisch ist. - Die neue Regierung von Grenada hat überhaupt kein Geld. Sie weiss auch nicht, wo sie welches herbekommen soll. Ich frage Harold: -Was soll ich tun, wegen des Interviews? - Freundlich insistieren.

Polizeistunde ab 22 Uhr 30. Nach Sonnenuntergang wenig Leute auf der Strasse. Fast keine Autos. Rudis Restaurant leer. Abwarten. Alle warten ab.

Ernährung. Westliche Zivilisation. Karibik. Ehemalige Britische Kolonie. Nach dreissig Jahren Gairy-Politik gibt es auf Grenada keinen frischen Fruchtsaft. In den Supermärkten zu grauen Brettern gefrorenes Fleisch. Gefrierfisch. Nach frischem Fisch wird auf der Insel angestanden. Fruchtpunsch aus vier Dosen gemischt. In den Supermärkten keine Früchte, kein frisches Gemüse. Kekse. Pralinen. Kein frisch gebackenes Brot. Toaslbrot von der Konsistenz der Schaumgummisohlen. Importierte Cracker. Importierte Nüsse. Importierte öle.

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Das Schnitzel sieht so komisch aus. Wir legen es draussen für die Hunde hin. Die Hunde weigern sich, das Schnitzel zu fressen.

Barhara: - In Mount Royal haben die Revolutionäre ein ganzes Zimmer voller Essen gefunden. Gairy hortete Champagner, Kekse, Säcke voller Yam, Hummer - Ist es nicht schamlos! Das Volk darbt.

Sonnabend, den 24. März: Jack Nightwood: - Nächste Woche wird das Obeahzimmer von Gairy zur Besich­ tigung freigegeben. - Da ist immei- noch ein Zimmer in der Residenz Gairys, das können sie nicht öffnen, das heisst, sie wollen es nicht öffnen. - Aus einem Bunker in der Residenz des gestürzten Prime Mini­ sters riecht es nach Leichen!

Sonntag, den 25. März: Torchlight. In der Residenz von Gairy wurde eine Liste seiner Feinde gefun­ den, die der gestürzte Prime Minister selbst aufgesetzt hat. Zwei davon sind ermordet worden. Als erster auf der Liste steht Derek Knight, Minister ohne Porte­ feuille, der Gairys Rücktritt übermittelte. Und: Wellington Friday, der Erziehungsminister, der Gairy nach New York begleitete.

Georgie am Strand. Er spielt Ball. 291

Er grüssl mich auf die Ferne, wie man einen Touristen flüchtig grüsst. Ich rufe ihn. Er kommt zögernd. - Wie geht es Bischof Edgar? - Ich kenne keinen Bischof Edgar. - Doch. Du hast mir erzählt von ihm, wie er im Krankenhaus lag und ihr ihn alle besucht habt, vom Jugendchor, um das Zelt zu sehen. - Ach, ich weiss schon. Ich habe davon gehört. Es geht ihm gut. - Er ist nicht eingelocht? - Nicht dass ich wüsste. -Was machst du so? - Ich sitze und warte ab. -Was machen die Schwulen? - Es gibt viel mehr seit letztem Jahr. Alle die kleinen Jungen, die du siehst am Strand. - Wo gehen sie hin? - In die Büsche. - Wirklich? Und was sagen die Revolutionäre dazu? - Die werden sich da nicht reinmischen. Ich glaube nicht. Dazu gibt es zu viele Schwule. Ich warte ab. Wir müssen uns noch mal sehen, bevor du fährst. -Ja, sicher.

Columbus jogged am Strand. -Hallo! - HalloI Wie geht’s? - Gut. Er jogged vorbei. - Hast du Georgie gesehen? - Was hab ich mit Georgie zu tun?!

Newsweek: .. Bishop, 35, ein in gewisser Hinsicht aloofer Intellektueller, könnte von militanteren Ideologen in den eigenen Reihen her­ 292

ausgefordert werden - eine Bedrohung, die doch Blutvergiessen für die schläfrige Insel bedeuten könnte. Aloof heisst: reserviert, unsympathisch.

Nachts Schüsse. Wie von Pelotons. Oder zu einer Attacke. Da es keine Hinrichtungen und keine Attacke gibt, sind es wohl Übungen. Aber unregelmässig. Einzeln.

Nachts schriller Gesang. Ist es Gairy, der sich, als Bettelsänger verkleidet, an die Macht zurücksingt?

Mittwoch, den 28. März: Leonore geht zur Revival-Zeremonie der Einhorn-Kirche in Springs. - Ich traf die Lange schon vorher auf der Strasse. - Sie lächelte mich an. - Mir fuhr es raus: Wo ist Bischof Edgar? Ich hätte ja auch sagen können: Wie geht es Ihnen? Oder: Wie geht es Bischof Edgar? Und sie sagte mit einer Stimme, mit einem Ausdruck, den ich nicht nachmachen kann: Edgar ist im Gefängnis. - Er ist jetzt in dem Gefängnis Richmond Hill, wo er mich im letzten Jahr mit reingenommen hat, als er die Gefangenen be­ treute und für sie einen Gottesdienst machte. - Die Zeremonie wie immer. Ich habe mehr auf das Bildliche geachtet und nicht so sehr hingehört, was sie gesagt haben. Übri­ gens, Lehrer Castor ist jetzt der grosse Maker. Er hat sich raus­ gemacht, seit Edgar weg ist. - Ich glaube schon, er hat so Bibelstellen rausgesucht, die sich auf die politische Situation beziehen sollen. - Zwei Frauen waren dann ganz äusser sich. Sie schrien: Edgar! Edgar! ^95

- Dann fing eine Massenheulerei an. - Die Frauen waren gar nicht wieder zu beruhigen. - Freitag will uns Lehrer Castor hier besuchen. - Eine tolle Trance: - Ein junger Mann trat zum Beten nach vorn und erstarrte mit­ ten in einer Geste. - Seine eine Hand blieb in der Luft hängen. - Lehrer Castor lief mit einer Kalebasse um ihn herum und sprühte Wasser auf den Boden. - Da belebte sich der Junge wieder.

Ich fahre noch einmal zum Haus des Prime Minsters. - Aber nicht nach Mount Royal, dem Haus von Gairy, sage ich dem Taxifahrer. - Zu Maurice Bishop. Die Wache schweigt grimmig. Miss Copeland, die neue Mitarbeiterin des Prime Ministers, sagt nicht Guten Tag. Nur drei Wörter: - You call us. - Sie rufen uns an. Rassismus oder Verachtung einem arbeitenden Journalisten ge­ genüber? Wahrscheinlich beides. Als der Taxifahrer wieder startet, lächelt ihn der grimmige Wäch­ ter an. - Kennen Sie ihn? - Ja. Wir sind Nachbarn. Sehr spät wird die Ritualisierung: Ich bin der unbestechliche Wächter des bedrohten sozialistischen Revolutionärs! durch­ brochen. Hi! Mensch, wie geht’s denn?! Durchbrochen aber.

Regentag. Die Frösche singen in den Bäumen.

^94

Abends ziehen die Arbeiter mit ihren Familien an den Strand. Sie waschen sich im Meer und lassen sich, umgeben von den Kin­ dern, in den Wellen treiben.

Barbara: - Ich habe den Obeahraum von Gairy gesehen. Ich begleitete einen Gast der neuen Regierung. Für eine wissenschaftliche Notiz: Afroamerikanische Riten des Prime Ministers von Grenada ist es bereits zu spät. Die Wachsoldaten haben alles durcheinanderge­ worfen. Zum Teil ist richtig durchsucht worden, miL aufgesclilitzten Kopfkissen etc. Es ist sowieso alles im Fernsehen und in der Presse übertrieben worden. Eines der satanistischen Gewänder ist das eines Maltheserritters, das zweite ist der Thalar eines Pro­ fessors, das dritte ist das Kultgewand eines Bischofs der Spiri­ tual Baptists. Ich frage Barbara nach Bischof Edgar. Sie notiert sich den Namen auf ihre Schreibunterlage. — Ich habe den Namen gehört. Als sie merkt, dass ich ihn gut gekannt habe, redet sie nur noch sparsam. — Wenn er immer noch da oben sitzt, hat er schlimme Dinge ge­ tan. Die neue Regierung verhaftet so wenig Leute wie nur mög­ lich. Sie hat gar keine Zellen. Nicht einmal der Beamte im Fi­ nanzministerium, der die Belege verbrennen wollte, und der auch schon einige verbrannt hat, ist verhaftet worden. Die Botschafter sind auf ihrem Posten geblieben. Und das Komitee der Bewunderinnen von Gairy ist nicht aufgelöst worden. In jeder an­ deren Revolution hätte man sie erschossen. Sie haben Spitzel­ dienste für Gairy geleistet - gestern trafen sie sich bei Tee und Keksen. Die meisten Minister sind wieder aus der Schutzhaft ent­ lassen worden. Gairys Frau ist gar nicht erst verhaftet worden. Wenn der Bischof Edgar da oben sitzt, immer noch, dann hat er schlimme Sachen gemacht. - Das einzig Interessante im Obeahraum von Gairy waren zwei Käfige mit Christusbildern, die in zwei Ecken dicht unter der Decke hingen. Da herum war die Ölfarbe russig und abgewellt, als hätte er etwas in den Käfigen verbrannt. Barbara telefoniert eine halbe Stunde von Amt zu Amt, um für 295

Leonore die Erlaubnis zu erwirken, den Obeahraum von Sir Eric Gairy zu fotographieren. - Aus Sicherheitsgründen wird es nicht erlaubt. - Gairy hatte in Mount Royal eine Falltür. Ich kenne ein Mäd­ chen, das wollte bei Gairy arbeiten. Er zeigte ihr das ganze Haus. Vor einer einzigen Tür sagte er: Die dürfen Sie nie öffnen. Er verliess das Haus. Sie sah ihn über den Hof gehen. Sie öffnete die Tür. Da stand Gairy, nackt. In Trance. Sie ist verrückt geworden und bis heute nicht geheilt.

Mister Albert Xavier, der Chefredakteur von »Torchlight«. Eine Hinlerslube in einem Hinterhof der schottischen Architek­ tur von St. George’s. So stelle ich mir einen Chefredakteur aus der Zeit Chattertons vor. Geschlagen, verschlagen, der schwarze Chefredakteur Albert Xavier, der Mann, der den Bericht der Duffus Commission of Inquiry into the Breakdown of Law and Order and Police Brutalily in Grenada unlcr Gairys Regierung zu drucken wagte. Er ist sehr hilfsbereit, und obwohl seine Zeitung gegen den afri­ kanischen Aberglauben donnert, will er uns mit Shangopriestern im Norden bekannt machen.

Der Mechaniker des Silversands-Holels, der sich, voller Verach­ tung, an mich heranmacht, verdient 180 ECdollar, also rund 180 Mark im Monat mit drei Stunden Arbeit am Tag, ohne Essen.

Morgens vor acht soll ich den Prime Minister anrufen. Mister Brauclischinken sitzt bereits am Telefon und flüstert etwas durch. Er bricht sofort ab, als ich eintrete.

Jeden zweiten Tag schaffen alle Taxis der Insel die Insassen eines weissen Touristenschiffes an den Strand. Brauchschinkens lassen Punsch aus Dosen servieren. Heute sind es tausend Schweizer. 296

Mädchen in wallenden Kleidern rufen durchs Megaphon: — Dies ist eine freie Bar. Sie können trinken, was Sie wollen. — Auch Rumpunsch. — Lassen Sie ihre Sachen hinter dem Zaun. — Der Strand ist unbewacht. Sie könnten bestohlen werden. Die meisten Schweizer bleiben weiss und erschöpft auf dem Golf­ rasen von Brauchschinkens sitzen. Einer rot, starr, schweisstropfend, sieht mit unsäglicher Anstren­ gung auf das ganz blaue Meer.

Freitag, den 30. März: Lehrer Castor kommt. Nicht allein. Die Lange und noch zwei andre fromme SpiritualBaptist-Damen steigen den Berg hoch zu unserem Häuschen. Castor hat sich in Bischof Edgars Rolle ausgebreitet. Was wird geschehen, wenn die Revolutionäre Bischof Edgar plötz­ lich aus der Schutzhaft entlassen? Castor ist nicht mehr so jiggelig. Er wirkt dicker. Er hat mehr Muskeln. Er ist athletisch. Das fiel mir früher nicht auf. - Ich habe im Moment keine Arbeit. - Ich bin nicht verheiratet. Ob er schwul ist? Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass der Priester einer so frommen Gemeinde einen jungen Mann anmacht. - Wir gehen Sonntagniorgen um halb acht ins Gefängnis und halten unseren Gottesdienst. Kommen Sie mit? - Vielleicht würde es Bischof Edgar nicht gerne sehen, dass ich ihn da besuche, wo er sonst selbst den Gottesdienst anführte. Lehrer Castor lächelt fein. Er ist sicher enttäuscht, denn da hoch zu dem verhafteten Kirchenfürslen mit uns beiden weissen Tro­ phäen zu kommen, hätte für Lehrer Castor einen seraphischen Triumph bedeutet. Es hätte ihn unverwundbar gemacht, wenn der geschlagene Bi­ schof Edgar in seine Gemeinde zurückkehrt. - Nachmittags haben wir Gottesdienst in der Einhorn-Kirche, aber schon um halb drei, weil wir wegen der Polizeistunde früh fertig sein müssen. Manche haben einen langen Heimweg - zu Fuss. 297

- Bischof Edgar wurde am Donnerstag früh verhaftet. Zwei Tage nach der Revolution. Sie vermeiden alle vier den Namen Gairy. Sie haben das Taxi warten lassen und gehen züchtig nach einem Glas Punsch und ein paar Keksen.

Agatha Christie. Lord Eldridge dies. Nacht. Schüsse. Rascheln im Gras. Das Belfern der Hunde abgewürgt.

Sonnabend, den 51. März: Pressekonferenz Mister Bernard Coard, Finanzminister: - Anfang des Monats hatte die Regierung Gairy bei der East Caribbean Currency Aulhorily drei Millionen ECDollar-Noten geordert, um abgenützte Noten aus dem Verkehr ziehen zu können. Alister Hughes: - Diese Noten sind bisher nicht eingetroffen. - ECCA-Chairman Mister Cecil Jacobs gab eine Reihe dünner Entschuldigungen. Bernard Coard: - Ich sprach mit Jacobs heute morgen und er gab mir gegenüber zu, dass er auf Anraten oder auf Anweisung der anderen Inseln so handelte. - Grenada hat jetzt 2,5 Millionen abgenützter Dollarnoten, die ersetzt werden müssten, aber, angesichts der Krise, werden sie durchgecbeckt, um zu sehen, welche man wieder in Umlauf set­ zen kann. - Angesichts dieser Krise wird Grenada vielleicht seine eigene Währung einführen müssen.

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Wir fahren zu Augustin Williams nach Latente. Es regnet so sehr, dass sich die revolutionären Wachen in Holz­ häuschen untergestellt haben. Wir finden das Haus leicht. Augustin Williams untersteht dem Hohen Priester Antoine aus Munich, München. Der Hof vor dem Holzhaus ist matschig, dass meine Sandalen steckenbleiben. Augustin Williams erkennt mich vorsichtig wieder. Er scheint sich zu freuen. Den Brief aus Deutschland hat er nicht bekommen. - Ich habe einige Zeremonien zu machen. - Die Leute kommen zu mir und wollen, dass ich geistlich ar­ beite. - Aber ich weiss nicht einmal, ob es erlaubt ist, dass ich den Re­ gen öffne, nach Ostern. - Die Revolutionäre haben religiöse Freiheit versprochen. - Aber in Wirklichkeit handeln sie anders. - Sie behaupten, wir würden für Gairys Rückkehr beten und Opfer und Zauber für Gairy anfertigen. - Das stimmt gar nicht. Er arbeitet drei Tage in der Woche in St. George's und will uns dort besuchen und genauer mit uns reden. Er bringt mich durch den Matsch zum Wagen. Er begrüsst Leonore und geht in sein Haus zurück. Wir fahren rückwärts zur Hauptstrasse hoch. Der Regen hört auf. An der Kreuzung haben sich 20 Leute versammelt. Fünf Revolutionäre. Zwei springen vor. Stoppen uns. Der eine zieht seine Pistole. Er hat den Finger am Abzug. Das System: Afrikanische Höflichkeit, Periphrase, Indirekt, Un­ derstatement, Diskretion, wird vermengt mit dem System: Wach­ samkeit, Nachforschen, Auskundschaflen, Genau - und dahinter lauert das nächste System: Jetzt ist alles egal. Tot, Hund, Feind, Stück, Opfer, Kadaver. Herauskommt ein endloses, widersinniges Belästigen. Ich spiele: Wut: - Der Prime Minister weiss Bescheid. - Er hat einen Brief von mir bekommen. 299

- Soll ich meinen Pass herausholen, sage ich drohend. Der junge Soldat nimmt den Finger vom Abzug und steckt die Pistole wieder ein. - Nein, sagt er. Wir können weiterfahren. Der schöne Taxifahrer mit den breiten Schultern und dem mäch­ tigen Bart ist Katholik und liebt den Sliango nicht. - Was wissen Sie von Augustin Williams, sagt er mit lauter Stimme und das ist ziemlich unhöflich und bedeutet, dass er Angst hat und mit uns brechen will. - Zu Ihnen ist er freundlich. Aber wie benimmt er sich in seinem Dorf? Als wir in St. George's zurück sind, fühle ich. dass er zur nächsten Verabredung nicht kommen wird und wir Büchten uns gegen­ seitig aus.

Ted, der Medizinstudent, kommt zum Tee. - Ich bin sehr konservativ. - Wir Amerikaner haben seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs nur eingesteckt, nur eingesteckt. - Countercoup in Grenada. Das mach ich Ihnen mit 50 Mann. - Die ganze strategische Macht ist hier, bei Brauchschinkens, um die Radiostation und in Fort George konzentriert. - Fort George ist uneinnehmbar, aber deshalb auch leicht abzu­ riegeln und auszuhungern. - Die Besetzung der Radiostation und der Polizeibaracken wird mit Bazookas ausgerottet. - Die Revolutionäre haben Gewehre, aber sie können nicht schiessen. - Zwei haben sich bei der Revolution selbst erschossen - aus Un­ geschick. - Die Medical School - einige sagen, sie wird vom CIA bezahlt, andre sagen, von der Mafia. Mir ist das egal. Ich habe in den Staaten keinen Studienplatz gefunden und bin froh, dass ich hier Arzt werden kann. - In zwei Jahren haben wir die ersten Mediziner fertig ausgebil­ det, 500! Wir mussten uns verpBichten, nach unserem Studium ein Jahr Sanitätsdienst auf der Insel abzuleisten. Grenada wird

500

also bald jedes Jahr ein paar Hunderi Mediziner für Impfungen. Notdienst etc. haben. - Neulich brachten sie uns einen von der Mongoose Gang aus dem Richmond Hill Gefängnis. Er war bis zum Bett im Kranken­ haus gefesselt und wurde dann mit den Handschellen an den Traljen des Beltes festgemachl. Er sah sehr unruhig aus. Er dachte wohl: Jetzt werde ich vergiftet! - Wir haben ihn am Blinddarm operiert.

Wir essen in Johnny’s Restaurant. Johnny ist freundlich - fahrig. — Morgen lade ich eine Shangopriesterin ein, um euch bekannt zu machen. Die Bilder von Gairy an der Wand fehlen. Helle Rechtecke auf der Tapete.

Jack Nightwood besucht uns mit einer Tuberose. - Sie werden auf Grenada seit dem 18. Jahrhundert gezüchtet. - Gairy erklärt, er sei gar nicht zurückgetreten. - Die Revolutionsregierung lässt »The Bomb« von Trinidad ein­ stampfen. Die »Bombe« hat das geschrieben von den Kubanern bei der Revolution auf Grenada. Die »Bomb« schreibt auch: Die neue Buusch-Regierung! Ich frage: Was ist Buusch? - Bourgeois!

Das weisse Touristenschiff verspätet sich. Die versammelten Taxifahrer werden unruhig. Die Gewürzverkäufer. Die Andenkenhändler. Die Touristenführer. Es wird später und später. Spät. Endlich trifft das Touristenschiff ein. Die Touristen wollen eilig an Land.

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Die Taxifahrer, clie Gewürzverkiiufer, die Andenkenhändler, die Touristenfübrer stürzen ihnen entgegen, auf das Gitter zu, hinter dem die Touristen hervorspazieren wollen. Sie packen die Touristen. Die Touristen fliehen in die Kabinen zurück.

Ich warte auf Johnny. Er kommt spät. Er hat einen grossen Fisch gekauft für seine Gäste. Er setzt sich nicht, während er mit mir spricht. Er geht den Fisch schuppen. Die Shangopriesterin, die er mir vorstellen will, kommt nicht. Das Hausmädchen unterhält sich mit mir. - Da oben geht die Shangospriesterin vorbei. Soll ich sie rufen? - Vielleicht will sie gar nicht. - Doch, ich rufe sie. Die Shangopriesterin biegt schnell von der Hauptstrasse ab: - Ich habe Zahnschmerzen. Ich kann nicht kommen, ruft sie.

- Sagen Sie mal, sage ich zu dem Taxifahrer. - Was würde es denn kosten, wenn ich mit Ihnen öfter mal durch die Insel fahre? Haben Sie da einen Stundentarif oder eine Pau­ schale? - Ne, das müssen Sie extra bezahlen. - Extra billig? - Ne, extra teuer. Pause. - Müssen Sie denn öfter mal durch die Insel fahren, fragt der Taxifahrer. -Ja. - Brauchen Sie ein Taxi? -Ja. - Wollen Sie mit mir fahren? -Ne. Pause. Ich empfinde mich als sehr grob, aber ich habe keine Lust zu der 302

endlosen Feilscherei aus der Position des verachteten Touristen heraus. — Ich heisse Leroy, sagt der Taxifahrer. — Wenn Sie wollen, mache ich Ihnen ein billiges Angebot: 20 ECdollar nach Sauteurs, durch die ganze Insel und 10 Dollar für jede Stunde, die ich warten muss. Ich bin über seine Reaktion erstaunt. Es ist weniger, als ich in Hamburg bezahlen müsste und weniger, als jeder andre Taxifahrer auf Grenada nähme; ein Hungerlohn ist es nicht und ich akzeptiere.

Leroy ist nicht verheiratet. Er hat drei Kinder von verschiedenen Frauen. Eine seiner Freundinnen lebt auf Aruba. — Ich mache alle Religionen mit: Shango, Baptismus, bei den Katholiken, ich gucke überall zu und kenne die meisten Ge­ meinden.

Sonnabend, den 31. März: Torchlight: Carlyle Calliste und Peter Watts geraten in Streit, weil Callistc behauptet, Gairy würde nicht nach Grenada zurückkehren.

Bertolt Brecht: Die Griechen weiter liegend fischend auf den Segeln, Den herabgelassenen, bis in einer Ale-Kneipe Im Hafenviertel einer einem Die Nase blutig haut, ausredend sich, Dies sei um Helena. Vor jemand sichs versah in folgenden Tagen, Griffen vieler Hände nach vieler Hälsen. Am Sonntagmorgen v,ird Calliste mit dem Gesicht in einer Blut­ lache aufgefunden.

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Torchlight: Bilderbuch mit Nacktfotos der Besucherinnen von Mount Royal, der Residenz von Eric Gairy, gefunden. Torchlight: Jim Jones, der Führer von Peoples Temple, war mit Gairy in Californien zusammengetroffen. Er erwog, sich mit seiner Sekte auf Grenada niederzulassen, ehe er sich bei Forbes Burnham in Guyana ansiedelte. Jim Jones hatte auf der Grenada National Bank 60 ooo USdollar deponiert. Lady Cynthia Gairy, die Frau des gestürzten Prime Ministers: - Mir geht es gut. - Es stimmt nicht, dass ich unter Hausarrest stehe. - Das Statement, das ich in Radio Free Grenada las, war von dem PRG entworfen worden. Aber sie fragten mich, ob ich mit dem Statement einverstanden sei. - Ich sah es durch und hatte keine Einwände.

Sonntag, den 1. April: Einhorn-Kirche. Sie haben vergrössert. Die kleine hellgelünchte Holzkirche mit den roten Adertapeten - ein Wald aus Blutgefässen - ist auseinandergerissen worden. Beton statt der Bretter vom Vorjahr. Aber ehe der Wohlstandsbau fertig war, fiel die Revolution ein und nun ist beides fragmentarisch in der Einhorn-Kirche: Abriss und Pracht. Neonstäbe. Auf dem Altar steht eine bettgrosse schwarze Schultafel, dicke Kreidezeichen, sichere breite Spuren. Ich denke an die togolesischen Opferzeichen Veves. An die haitianischen Wewes. An die Symbole der Freimaurer. An Bilder von Masson, Artaud, Brauner, Pollock. Und an Schnittmusterbögen. Lehrer Castor erklärt es mir: - Während der Einweihung, während des Mourning, zeichnet der

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Priester die Wege der Seele auf, die Eingebungen des Geistes, diese Zeichen besiegeln die Geistreise. Die Tafel ist ein Sigel. Der Gottesdienst ist wie sonst, wie früher, wie auf Trinidad, auf Barbados, ein Gottesdienst der Spiritual Baptists. Was mir im Vorjahr als spontan erschienen war, wiederholt sich in der gleichen Reihenfolge, in der gleichen Intensität, in der glei­ chen Beiläufigkeit: Das abgerissene Summen zu Beginn. Die Pointen: - Wir müssen heute short und spicy sein - kurz und pikant. Auch die Ergüsse wieder: - Jesus thy Blood. - Blood. , Die umwitterten Zwischenrufe aus der Gemeinde: - Yes. - O, yes, my Lord. Die Begrüssungsformeln. Und jedes Schnattern und Rülpsen, wenn der Geist über sie kommt. Auch die Kindersprache, die Sprache der Geistreise, das Abrakadabra - Chinesisch, Arabisch, Indisch, Afrikanisch - wie sie es nennen. Ein Kanon, fast so streng wie die Kanones der Yoruba in Nigeria oder der Yoruba in Brasilien, Miami oder auf Kuba. Nach der Exultatio, dem Frohlocken, geht eine Mutter mit ihrem verstopft aussehenden Jungen zum Altar. Die Lange sagt: Niederknien! Die Würdenträger und die Wür­ denträgerinnen im Kreis um ihn herum niederknien! Der Junge wird ekstatisch angesprochen. Choräle. Alle aus dem Kreis legen dem Jungen beide Hände auf den Kopf. - Was hat er? - Epilepsie. Zum Abschluss ölt Lehrer Castor ihm Stirn, Lider und Nase. Während der Predigt sinkt die Rote mit dem Bischofsstab auf den neuen Betonboden und schläft ein. Im Schlaf beginnt sie zu röcheln. Sie röchelt wie die Senegalesen unter dem Elektroschock. Lehrer Castor zeigt die Tätigkeiten in der nächsten Woche an. - Dienstag ist eine sehr wichtige Zusammenkunft für die Ge­ meindemitglieder - eine sehr wichtige Botschaft. 3°5

Castor zieht die Rote vom Betonfussboden hoch. Die Würdenträgerinnen laufen Ringelreihn um den Mittelpfeiler. Caslor zwingt die Rote, entgegengesetzt um den Mittelpfeiler zu laufen. Die Rote weint. Sie ruft: Bischof Edgar. Castor ruft zur Kollekte für Bischof Edgar. Die Würdenträgerinnen schnattern und rülpsen. - Ostern soll Eis und Sonne sein. - Wir brauchen Hilfe. - Thy Blood! - Wir müssen die Kirche wieder aufbauen. - Nächste Woche dürfen wir nur noch zweimal den Gefängnis­ gottesdienst abhalten. Die Rote fängt an zu grunzen. - Michael und der Drache! - Denkt an Michael und den Drachen. - Wo bist du? Wo du auch seist, du gehst dort vorbei, du ziehst vorüber, du kommst zurück! - Eric Matthew Gairy. - Du kommst zurück. - Thy Blood! - Daniel in der Löwengrube! - Bischof Edgar! - Thy Blood. Castor führt die Rote in eine Nische rechts neben dem Altar. Er stellt eine brennende Kerze vor ihr auf. Castor holt Holzkreuz, Holzspeere, IIolzschwerter und verteilt sie an die Ringelreihn tanzenden Würdenträgerinnen. Die Rote sinkt vor der Kerze auf die Knie. Sie heult, rülpst, schnattert, röchelt, grunzt, rotzt. Castor ist wieder hinter ihr. Er zieht sie hoch, dreht sie um sich selbst. Die Lange ergreift die Rote, tanzt mit ihr durch die Gemeinde, schlenkert sie herum. Ich denke, jetzt geht die Role kaputt, bricht auseinander, stirbt. Aber aus ihrem Gesicht wird die uralte Maske der Verbrecher­ aufstände in Afrika, der kotfressenden Geheimhünde, der ver­ wandtenmordenden Revolutionäre, der rasenden Manncdiinos. der Maumau, der Assassinen, der Löwenmänner: Feinde, bewusst­ los, mit Eisenkrallen zerfetzen.

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Nach und nach bildet sich bei den ringelreihn tanzenden Würden­ trägerinnen die Maske heraus, das geschwollene Gesicht, von kei­ nem Wort mehr zu erreichen, mit den Knopfaugen, die nur nach innen sehen und nur noch ein Rot, Blut. Der bezaubernde Lehrer Castor mit seinem Eidechsenkopf ein Basilisk, der seine Gemeinde zum Bürgerkrieg aufreizt, sie feit gegen die Verletzungen der Sozialisten Makandal in der haitianischen Revolution: Balles c’est d’l’Eau Kugeln sind Wasser zur gänzlichen Ausrottung - Chichirikü. Das weise Volk von Grenada. Doch dann wieder die süssliche Besinnung der Protestanten. Eine neue Kollekte. Castor heisst uns vor der Gemeinde willkommen: - Die beiden Deutschen, die im letzten Jahr von der Regierung durch die Insel geschickt wurden. Will er uns vor den Spitzeln der neuen Regierung ankreiden, dass wir nicht mehr zurückkönnen, ihm dienen müssen und sei es als Geiseln?

Montag, den 2. April: Die erste Nummer des hektografierten »The New Jewel«: Das PRG entschied sich, die Verfassung zu suspendieren. Gut, die Verfassung von Grenada sichert unseren Bürgern gewisse Menschenrechte zu. Zum Beispiel: Eine Person, die verhaftet wird, muss innerhalb von zwei Tagen eines Verbrechens angeklagt oder freigelassen werden. Natürlich hielt sich Gairy nie an die Verfassung. Aber was würde geschehen, wenn wir uns an die Verfassung hielten? Die Regierung müsste sofort die Mongoose Gang wieder freilas­ sen und alle die Typen von der Geheimpolizei. Das Volk kann sicher sein, dass alle verhafteten Personen mit der­ selben Menschlichkeit behandelt werden, mit der die ganze Revo­ lution durchgeführt wurde. Aber wir wollen nicht unsere Revolution, unsre Freiheit, unser ganzes Volk in Gefahr bringen, indem wir diejenigen freilassen, die unser Volk bedrohen. 307

Das ist der Grund, warum wir die Verfassung für einige, wenige Monate äusser Kraft gesetzt haben.

Finanzminister Coard vor der Handelskammer: Es wird für dieses Land unmöglich sein, sich ohne die Privatwirt­ schaft zu entwickeln.

Dienstag, den 5. April: Newsletter: Die 5 Millionen Dollarnoten, die auf Grenada benötigt werden, um abgenützte Scheine zu ersetzen, werden eingeflogcn.

Leroy: Gairy soll auf St. Lucia sein. Er will von da Grenada zurück­ erobern.

Leroy: Gairy soll auf Antigua sein.

Der Vulkansee Grand Etang - im letzten Jahr das Regenopfer für Maman d’l’Eau - bewacht von einem Rastafari mit Maschi­ nenpistole.

Thanksgiving — Denkzeremonie — in Belmont. Ein bürgerliches Haus. Eine Zeremonie der Spiritual Baptists. Essen für die Kinder auf Bananenblättern am Boden. Aber die Nachbarn nehmen die Choräle, die Gebete, das gemein­ 308

same Opferessen der Familie, die es unter Gairy zum schmalen Wohlstand gebracht hat - für einen Beobachter aus der Bundes­ republik zu horrendem Wohlstand für einen Arbeiter auf Gre­ nada, die Nachbarn nehmen das Geschnattere und Gerülpse nicht mehr hin Die Jugendlichen sammeln sich, als es dämmert, unten auf der Strasse und machen die Choräle und die Gebete und das Schnat­ tern nach, sie rufen Neckrufe, sie lachen die protestantischen Gläu­ bigen der abgefallenen Unterdrückung aus. Sie lachen uns aus, die Weissen, die daran teilnehmen. Mir ist das egal. Aber die ehemals Mächtigen, mit den Sonnenbrillen, schicken ihre Wächter, nm die Jugendlichen zu vertreiben. Die Jungen gehen verächtlich weg. Und als die Wächter weg sind, kommen die Jungen zurück und lachen wieder und spotten. O, wie wird es den gestern noch Gewaltigen sauer, den Spott im Elend zu ertragen!

Leonore und ich gehen die Hauptstrasse entlang. Nacht. Wenig Autos. Von oben sehen wir einen Steilhang hinunter. Steine. Gischt. Eine Fackel. Landen Gairys Söldner? Feuerzeichen für den Gegenschlag? Oder einer, der sammelt Krebse.

Freitag, den 6. April: Barbara: — Angeblich hat Gairy bundesdeutsche Söldner angeworben. Die sind schon im Lande. — Sie müssen damit rechnen, von den Leuten sehr unfreundlich begrüßt zu werden. — Deutsche Söldner, das ist natürlich geschickt, bei den vielen deutschen Touristen im Lande.

- Es hal übrigens einen Shangopriester gegeben, der Gairy mit Opferblut gewaschen hat. - Ich habe seinen Namen vergessen.

Radio Free Grenada: You are listening to the voice of the Revolution. Etwas später: Jesus thy blood.

Sonnabend, den 7. April: Der ehemals von Gairy kontrollierte »West Indian« erscheint wieder unter dem Namen »The Free West Indian«. Newsletter von Alister Hughes: 83 Personen in Schutzhaft. Torchlight: Es war ein klassisches militärisches Manöver und die Jungen zeig­ ten, dass sie ihr Geschäft verstanden. Der Pilot einer kubanischen Maschine funkte, dass sein Flugzeug einen Schaden hätte und auf Pearls Airport, Grenada, landen müss te. Als das Flugzeug eingetroffen war, wurden die vier Passagiere sofort nach St. George’s gebracht. Das Flugzeug konnte nach einer gründlichen Untersuchung wie­ der starten.

Die hektographierte »New Jewel«-Zeitung erscheint am Sonntag, vordatiert auf Montag, den 9. April: Warnung. Achtet auf Söldner! Zeigen Sie sofort jeden, besonders jeden Fremden bei der PRA an, der Fragen stellt, die Ihnen verdächtig vorkommen, jeden, der sich verdächtig benimmt. Das ist unsere beste Waffe gegen importierte Killer.

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Sonntag, den 8. April: Das Revolutionsmeeting? Das Revolutionsmeeting findet heute um zwei in Sauteurs statt. Zwei Schritte von der grauen Kirche entfernt, wo die Spiritual Baptists von 9 bis 2 ihren Gottesdienst abhalten. Wir sind herzlich eingeladen. - Wir müssen short and spicy sein, sagt der Priester, denn viel­ leicht will der eine oder der andre da drüben teilnehmen. Wir drücken uns durch die anslrömenden Massen des Revolu­ tionsmeetings. Wir fahren an der Westküste zurück. Als einzige zurück, durch den Schwarm von Bussen, Lastwagen, Privatwagen. Als einzige Weisse. Kilometer um Kilometer ein Soldat der PRA mit Maschinen­ pistole. Alle winken Leroy, Leonore, mir freundlich zu. Keiner hält uns an. Sie erwarten Maurice Bishop auf seiner Fahrt nach Sauteurs. St. George’s leer. Gerade donnert das Boot der Küstenwache los. Auf dem Dach des Kanonenbootes stehen die Soldaten mit ge­ spreizten Beinen. Es ist die Geste: - Wir haben gesiegt. - Wir ziehen aus, das Volk zu verteidigen.

- Ich habe eine Freundin gehabt, die war vorher mit Gairy zu­ sammengewesen. — Er konnte wirklich nicht.

Dienstag, den 10. April: Ein Flugzeug über der Radiostation. Über unserem Haus. Den Strand entlang. Vier Runden. Schüsse.

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Ein einmotoriges Flugzeug. Es fliegt in Richtung Norden davon.

Mother Maudge. Sie fängt an zu zucken, als ich den Namen der afrikanischen Göttin Oshun ausspreche. Sie sieht Leonores Buch »Xango« an. Sie lädt uns am Freitag zum öffnen des Regens ein. Ob sie die Zeremonie ausführen dürfen?

Leroy: - Der Reispreis ist seit der Revolution runtergegangen. - Das macht für die Ärmeren schon etwas aus. - Nicht für mich. Aber für jemanden, der 150 ECdollar im Monat verdient - 150 Mark - und sechs Kinder zu ernähren hat schon! Leroy: - Gairy ist auf Union Island gesichtet worden. Leroy: - Iri Bisliop wurde von Gairys Mongoose Gang in Stücke ge­ schnitten, weil er wegen Einbrüchen gegen die Mongoose Gang ermittelte.

Ein junger Mann kauft Bananen von dem Mädchen am Strand. Er holt das Geld vorne aus seiner Badehose. Sie sieht ihm schräg von oben hinein.

Dienstag, den 10. April: Torchlight: Prime Minister Cato von St. Vincent behauptet, dass 16 Männer in Uniformen der PRA von Genada auf Union Island gelandet wären, um Gairy zu fangen. 312

Sperrstunde wieder um 20 Uhr 30. Ein verdächtiges Schiff gesichtet.

Ins Bergdorf Munich, München. Der Zauberer und Regenmacher Antoine fürchtet sich nicht. Er steht neben den Revolutionären an der Kreuzung und kommt auf uns zu. Aber ich fürchte seinen Geschäftssinn. Mister Henry erweitert sein Haus. Er ist sehr beschäftigt. Er lobt die Revolution. Er sagt nicht: Setzen Sie sich doch. Sein Sohn ist jetzt beim Zoll. Jephet? Jephet, der greise Yorubapriester, der an der höchsten Stelle des Dorfes wohnt, dort, wo früher der grosse Shangotempel stand, Jephet hat sich an dem Tag, als Gairy gestürzt wurde, ins Bett gelegt, er ist nicht wieder aufgestanden. Ich hatte mich darauf gefreut, Jephet zu besuchen. Aber ich teile seinen Kummer nicht, und ausserdem, wenn er so unglücklich ist, dass er lieber in seiner Kammer hegt, als auf der Schwelle seines ärmlichen, sauberen Holzhauses sitzt, empfindet er es sicher als aufdringlich, wenn wir ihn besuchen.

Torchlight: Prime Minister Maurice Bishop sagt vor den Studenten der Me­ dical School: — Glauben Sie nicht alles, was in Torchlight steht.

Medizinstudent John: — Als Bishop vor uns sprach — er hat alle Karten in der Hand. Gairy hatte nur eine Karte. Bishop hat alle, das fühlt man.

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Die Sunitcn, die sich auf Grenada »Suny «-Moslems nennen, laden Leonore zum Gebet am Karfreitag ein. Über der Feuerwehrgarage, in dem orangegetündlten Haus. 19 sind gekommen. Sie beten auf arabisch. - Photographieren hat der Prophet nicht erlaubt. - Als der Prophet lebte, gab es noch keine Kameras, sagt Leo­ nore.

Freitag, den 15. April: Radio Free Grenada. Maurice Bishop über den Besuch des US-Botschafters Frank Ortiz. - Ortiz sagte: Die USA sind das reichste, freieste und grosszügig­ ste Land der Welt. Aber die USA haben auch eine andre Seite. - Die USA würden jede Verbindung zwischen Grenada und Kuba mit grossem Missfallen sehen. - Der Tourismus könnte leicht geschockt werden. - Ortiz sprach von der »panischen« Reaktion auf das Flugzeug eines Fotographen, das angeschossen worden ist. - Ortiz riet, nicht weiter von »Invasionen durch Phantom-Söld­ ner« zu sprechen. Sonst würde Grenada alle seine Touristen ver­ lieren. Maurice Bishop erklärt, dass der Tourismus auf Jamaica durch Falschmeldungen geschädigt worden ist. Maurice Bishop: - Wir werden uns nicht erpressen lassen. - Ortiz will die Wirtschaftshilfe für Grenada weiter über die ka­ ribische Entwicklungsbank laufen lassen, trotz der Verzögerun­ gen bis zu einem Jahr, die sich dabei ergeben. Ortiz bot Sofortkredite in Höhe von 5000 Dollar an. Maurice Bishop: - Wir müssen fragen, ob die kleine Summe von 5000 Dollar alles ist, was die wohlhabendste Nation der Welt einem armen, aber stolzen Volk anbieten kann. Bishop sagt, seine Regierung verwarf den Vorschlag von Ortiz, dass Grenada militärische Hilfe von Kuba erst in dem Augen­ blick annehmen solle, wenn Söldner bereits auf Grenada lande­ ten. 3M

- Wir haben die Absicht, uns einen Feuerlöscher zu besorgen, be­ vor das Feuer beginnt. — Wenn Kuba uns diese Hilfe geben will, werden wir mehr als glücklich sein und sie annehmen. Ortiz versicherte, dass Grenada weiterhin Geheimdienslinformationen der USA zu seiner Sicherheit erhielte.

Zum Geysir. Zur kochenden Quelle. Boiling Spring. Drei Jungen führen uns hin. Sie gehen ganz in Lumpen. Der eine hat das vom Greinen geprägte Gesicht des täglich Ge­ prügelten. Die kochende Quelle kocht nicht.

Leroy fährt auf den Zentimeter genau. Bremst auf den Zentimeter genau. Schneidet die Kurven, weil er weiss, dass jeder auf Grenada die Kurven schneidet, auf den Zentimeter genau. So zischen die Afroamerikaner aneinander vorbei. Wir sehen den Wagen ganz langsam auf uns zukommen. Leroy bremst. Der andre bremst zu spät. Ganz langsam fallen wir nach vorn. Allmählich schmerzt das Knie. Spät erst hören wir den dumpfen Blechknall. Ein Inder. Ohne ein Wort und ohne veränderte Miene wartet Leroy auf die Polizei. Der Inder ist aufgeregt. Leroy schildert den Unfall in der Garage. Er sagt von dem Inder: The coolie. - Bist du versichert? - Das hat gar keinen Zweck. Aber ich will mir sowieso in vierzehn Tagen für 1500 Dollar ein neues Chassis bauen lassen.

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Sonnabend, den 14. April: Grenada und Kuba eröffnen diplomatische Beziehungen auf Bot­ schafterebene.

Alister Hughes: Der kubanische Frachter Matanzas legt im Hafen von St. Geor­ ge’s an. Man vermutet, dass er Waffen und Munition für die Revolutionsregierung geladen hat.

Sonntag, den 15. April: Torchlight: Wo versteckt sich Gairy? Eine Gruppe von Bewohnern der Insel St. Lucia jagt Prime Mi­ nister Eric Gairy, der sich angeblich in Vieux Fort im Süden der Insel verbirgt. Alister Hughes: Die Strasse von St. George’s zum Kratersee Grand Etang gesperrt. Torchlight: Maurice Bishop: Kein Soldat der PRA war Dienstag auf Union Island, um Gairy zu fangen. Torchlight: Mister Atkinsons für die amerikanischen Staatsangehörigen auf Grenada: Unzufrieden mit Ortiz’ erpresserischer Haltung. Unwahrscheinlich, dass Ortiz die Einstellung der amerikanischen Regierung richtig wiedergibt. Persönlicher Eindruck: Kalter Fisch. Alister Hughes: Tribunal für Schutzhaft ernannt. Es besteht aus drei Personen. Die Sitzungen werden nicht öffentlich sein. Die Inhaftierten können nicht durch Rechtsanwälte vertreten werden. Das Tribunal gibt eine Empfehlung an den Minister für Staats­ sicherheit, der über Entlassungen entscheidet. 316

Mittwoch, den 18. April: Barbara: - Militärberater? Um die Soldaten auszubilden. Nicht um unsere Revolution zu gängeln. - Drei Killer sind am Flughafen festgenommen worden. - Zwei andre halten sich im St. James Hotel unter falschem Na­ men eingeschrieben. In Gouyave wurden sie angehalten. Sie hat­ ten die modernste Ausrüstung. - Ein weiterer ist am Strand gelandet. - Die Revolution wird sicher nicht gegen Homosexuelle vor­ gehen. Dazu gibt es zu viele hier. Sie sind bekannt und in die Gesellschaft integriert. - Eine stadtbekannte Lesbierin schenkte am Morgen der Revo­ lution der neuen Regierung drei schwarze Volkswagen. - Ein katholischer Priester hat Gaiiys Obealizimmer exorziert. Er selbst fand das übertrieben, aber da die Revolution ihn darum gebeten hat, tat er es. - Er lebt auf Trinidad und arbeitet dort als Psychologe. Er be­ richtet, dass viele Spiritual Baptists verrückt werden. Sie können sich vom Schnattern und Rülpsen nicht mehr lösen und laufen mit schweren Störungen in der Stadt herum. - Maurice Bishop ist, glaube ich, sehr von Nyerere beeinflußt und von dem brasilianischen Pädagogen Paulo Freire.

Donnerstag, den 19. April: Wieder den zerklüfteten Weg zum Bergdorf Munich, München. Leroy hat uns bei der Shangopriesterin Mother Joseph angemel­ det. Eine Frau mit riesigen Brüsten, die unregelmässig hängen, knotig, wie Taschen voller Steine. - Ja, wenn sich die Lage wieder beruhigt hat, werde ich die nö­ tigen Shangozeremonien durchführen. - Das mächtige Afrikanisch! Sie holt zu einer langen Strophe aus. Sie singt das Abrakadabra ab. Mit deutlichem Anfang und deut­ lichem Ende. Die Steine auf ihrer Brust stossen hoch und rollen hin und her. An den Wänden ihrer Baptistenkirche bunte Kreide­ zeichen - biblische Ahnenbäume. Korallenfächer auf dem Boden, Blumen dazu und Kräuter.

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Sie sieht sich Leonores Xangobuch an und bei dem Namen der afrikanischen Göttin Oshun fängt sie an zu zucken.

Bei Mollier Maudge vorbeifahren und fragen, ob sie morgen den Regen öffnet. — Sicher! Sie sitzt mit Mother Veronika. Die Kulthelferinnen flechten ihr die Haare. Auf der Stirn ein Indigokreuz. Sie bindet es mit einer roten Schärpe zu.

Leonore sagt: - Hier erschlagen sie sich gegenseitig mit der Bibel. - Die einen röcheln: Jesus thy Blood. - Die anderen schimpfen mit Hesekiel: Verunreinigt euch an euren Götzen. Israel und Juda buhlen mit den Heiden. - Aber wen meinen sie damit? Meinen die frommen Revolutio­ näre Gairy damit und den Obeah oder meinen die frommen Gairyanhänger die Sozialisten?

Radio Free Grenada: Polizeistunde ab Mitternacht. Die PRA und die Sicherheitsorgane haben jetzt genügend Kon­ trolle über die Insel. Die Volksrevolution dankt dem Volk von Grenada für die Diszi­ plin und dafür, dass es ohne Murren die Belästigung der frühen Sperrstunde hingenommen hat.

Freitag, den 20. April: Als wir aufstehen, ist es noch dunkel und noch Sperrstunde. Leroy kommt in geliehenem Wagen um halb sechs. Rennfahrt. 318

Leonore klammert sich an mich wie die Japanerin in »Foul Play« bei der Verhinderung des Mordes am Papst. Leroy langt mir ein Flugblatt nach hinten: Jeremiah Richardson The First Martyr of the peoples Murdered April 20th 1975 Struggle Against Gairyism 6 years today april 2oth 1979 His Blood Fed our People’s Struggle A true Hero of the revolution Long live Jeremiah Long live the Revolution. Dazu die Reproduktion eines Fotos aus dem Familienalbuin. Ein kräftiger, traurig blickender junger Mann, Armbanduhr, Auto, Palmen im Hintergrund. His Blood Fed our People’s Sruggle weniger unüberlegt als His Blood Fertilized our Revolution - Fertilizer, der Kunstdünger aber wie gewalttätig: Der Kampf des Volkes, den das BluL der eigenen Männer füttert. Wir kommen bei Mother Maudge an. Alles leer. Ein Mädchen sagt: - Sie sind vor zehn Minuten weg. Rennfahrt zum Flusslauf unter den aufsprühenden Bambus­ büschen. Dort wächst auch Papyrus. Ein paar Minuten später kommt der kleine Bus mit der Shangogemeinde. Vollgestopft. 20 Gläubige, Trommeln, Opfer, Fahnen. Mother Maudge in Rot. Mother Veronika in Rot. Drei Trommler, die drei kleine Umhänge trommeln mit krum­ men Stöckchen schlagen. Sie ziehen durch die Bananenwälder zuin Fluss hinunter. Die Fahnen werden ausgewickelt. Weisse Fahnen mit roten und gelben Stoffapplikationen. 319

Rote und gelbe Punkte, so dass die Fahnen des Shangotempels von ferne aussehen wie die weissen Fahnen der Revolution mit dem gemalten roten Punkt. Die Mädchen mit dem weissverhüllten Tablett auf dem Kopf hal­ ten ein, wo zwei Flussläufe über grauen Steinen Zusammenstös­ sen; seitlich eine mangoüberwachsene Grotte, innen drinnen ein Wasserfall. Die Opfernden singen afrikanische Lieder. Ich verstehe die Götlernamen Shango, Oshun. Agouc. Die Mädchen nehmen die Tabletts vom Kopf, decken sie auf. Unter Gesängen und Trommelei werden Reis und Mais, öl, gel­ bes Sweet Oil, Milch und Honig, Früchte, Brot, Kuchen in den Fluss gestreut. Alles schwemmt hinab. Em riesiger Mann, von der Scliroffheit des Androgynen, bricht in eine Zappeltrance aus, nimmt ein Toaslbrot, bricht es entzwei und watet damit bis zur Grotte. Er wirft die Stücke Brot gegen den Wasserfall. Er watet zurück und holt eine bunte Torte und wirft sie gegen den Wasserfall. Er watet nach links und pflückt Bambus von den Hängen, er tanzt grün behangen über die grauen Steine, zwischen der Gischt der sich vereinigenden Flussläufe. Ein Mädchen fällt in Trance ins Wasser. Ein Mann auch. Der Androgyn watet herbei, stösst ihn in die Grotte, ringt mit ihm im Schatten. Mother Veronika beginnt im roten Kleid gegen den Flusslauf an­ zuschwimmen. Das Kleid bläht sich nass. Sie watet ausholend. Ich sehe ihre Entenfüsse unter Wasser. Sie versucht, sich an den algigen Steinen zu halten. Mother Maudge klatscht den Besessenen Wasser an die Stirn, auf den Nacken, an die Arme. Wie meine Grossmutter tat, im Sommer, wenn mir zu heiss war. Die Opferkalebassen, die Opfertabletts sind leer. Zurück zum Bus. Leonore und ich kriegen den Ehrenplatz vorn. Wir sind die weissen Gallionsfiguren. 320

Die drei Trommeln lassen die Scheiben scheppern und rein nach Grenville. Ganz langsam durch die Stadt mit Shangogesängen. Die shangogläubigen Revolutionäre lachen. Die shangogläubigen Anhänger Gairys lachen. Das erste Mal Shango nach der Revolution. Rund durch die Stadt. An der Wache der Revolutionäre vorbei. Mir wird heiss auf dem Sitz vom. Dann zum Flughafen. Ein Rastafari mit Maschinenpistole öffnet den Schlagbaum. Der Flughafenverkehr stockt. Unser Bus fährt im Schrittempo zum Rollfeld. Da dann rasend, als sollte es in die Luft gehen. Ob sie hinter uns herfeuem? Feierlicher Einzug in den Tempel. Über Baumstämmen ist aus gelbem ültuch ein Vordach aufge­ schlagen. Ein Trommler hat sich besoffen. Beim Tanzen, beim Schmücken des Vordachs, beim Errichten des Mittelaltars hat er nur Faxen im Kopf. Mother Maudge schlägt in der Mitte mit der Machete einen Kreis über den Rasen. Milch, öl, Honig, Blumen, Kerzen, die Machete Oshuns. Streit unter den Trommlern. Wie immer. Aber einer sagt: - You make me sick! Der schmeisst die Trommel unter das auf Pfählen stehende Haus. Die verletzliche Trommel. Die Jeeps der Revolutionäre quietschen draussen vorbei. Die Trommler sind nicht bei der Sache. Denken sie an die Maschinengewehre? An die Landarbeiterräte? An Gairy? An die Kubaner und die Sowjetunion? An die Möglichkeit einer geregelten und anständig bezahlten Arbeit? An Schule für ihre Kinder? Die Trommler tun noch, was der afrikanische Ritus ihnen abver­ langt. 321

Was Mother Maudge ihnen abverlangt. Aber mit den Gedanken sind sie woanders? Zum Frühstück bringt uns Mother Maudge Kakao, Stockfisch, Weissbrot. Sie häufen am Mittelaltar die Bestandteile für das grosse gemeinschaftliche Essen: Bananen, Yams, Platanos, Reis, Calulu. Der Hammel soll seinen Kopf an jedem der vier Pfeiler reiben. Mother Maudge spricht einen Segen und singt einen Choral. Der Hammel wird mit Kräuterwasser abgewaschen und mit einem frischen Frottierhandtuch abgetrocknet. Mother Maudge schneidet ein paar Haare vom Schwanz des Hammels ab. Sie bindet ihm ein rotes Band um den Hals. Wieder grosse Aufregung bei den Trommlern. Der eine brüllt: - Gut. Dann spiel du und ich schlachte! - Aber mit einem Schlag, neckt ihn mild der Besoffene. Der Trommler haut dem Hammel mit einem Schlag der Machete den Kopf ab. Als er umgefallen ist, schneidet der Trommler dem Hammel die Hoden ab. Den Opferhühnern werden Körner und Wasser eingetrichtert. Kopf abgerissen. Sie fliegen durch die Luft und zucken sich im Garten aus. Jetzt gibt es Kuchen und Mauby, ein Getränk aus einer Baum­ rinde. Chester Aberdeen kommt. Er macht Zwischenbemerkungen: - Diese Zeremonie ist nicht authentisch! - Gloria Payne schickte die ausländischen Gäste immer zu mir, wegen der Riten 1 - Mister Eider aus Trinidad bezahlte mir die Kleinigkeit von 400 Dollar für einen Ritus. Ich sage: - Mother Maudge hat uns freundlich eingeladen und gar nicht von Money geredet. Chester Aberdeen trommelt. Er sagt: - Meine Fingerringe sind zu dick. Das stört mich beim Trommeln. - Ich bin Steuereintreiber. Deshalb komme ich viel rum im Land. Sie waren eben bei Mother Joseph weg, da kam ich rein. Sie 322

sagte, sie hielt Sie für Söldner. Als Chester Aberdeen gehen will, zwingt ihn niemand zum Bleiben. Kaum ist der Berater von Gairy weg, kommt der Revolutionär vom Flughafen, um seine Freundin bei Mother Maudge zu be­ suchen. Er umarmt uns. Hier ist er weniger düster als bei der Gepäckkontrolle. Um fünf nachmittags fährt der kleine Bus wieder vor. Die Gemeinde stellt sich in Dreierreihen davor auf. Der Trommler ist jetzt so besoffen, dass der Busfahrer ihm die Trommel wegnimmt. In Tivoli trommelt der Busfahrer und begleitet die Gemeinde zum Fluss hinunter. Wieder werden die Gaben in den Strom geworfen. Jetzt taucht Mother Maudge im roten Kleid unter. Sie steigt gegen den Flusslauf an mit zwei Torten in der Hand. Sie dreht sich im Wasser, von roten Blasen umgeben. Sie reisst ihr Kopftuch ab und wirft es Mother Veronika zu. Auf der Rückfahrt singen alle immer die gleiche Strophe wieder, wieder, wieder, immer wieder. Die Landarbeiter in der Gelassenheit des Abends sehen lächelnd auf, als der Bus voller afrikanischer Gesänge vorbeifährt. Ist es schon wie ein Bilderschleier aus dem goldenen Zeitalter? Im Tempel, neben dem Bambushüttchen »St. Philomena Baptistchurch«, wird das gemeinsame Essen vorbereitet. Der Kopf des Hammels liegt in einer heiligen Kiste neben dem Eingang. Die Kinder holen ihn. Er wird auf offenem Feuer geröstet. Die Kinder halten einen Pappkarton unter den hochgebundenen Hammel, als er ausgeweidet werden soll. Grüne Innereien fallen in den Karton. Die Kinder nehmen den Karton hoch. Die Eingeweide sacken durch den aufgeweichten Pappboden. -O! Die Kinder sammeln die Organe vom Rasen auf. Die Gäste kommen zur Abendfeierlichkeit. Aber es klappt nicht mehr mit dem Trommeln und dem Tanzen. Der Androgyn regt sich furchtbar auf und sitzt dann schmollend auf der Treppe.

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Aber die Kinder stört das nicht. Zum bisschen Trommelei imitieren sie die Tänze der Eingeweih­ ten und imitieren vollkommen die Trancen. Sie imitieren sie besser, als ich sie je gesehen habe. Sie singen »Ogum« und »Eshu«. Mother Maudge scheucht sie auseinander. Händewaschen. Aufstellen. Zwei Reihen von Bananenblättern werden auf den Boden gelegt. Darauf Reis, Yams, grünliche Süsskartoffeln, Bananen, Platanos. Kürbismus, Fleisch vom Hammel, Sossen, Fisch, Auberginen, Calulu und dies grüne tomatenähnliche Gemüse, das ich in Senegal gegessen habe, an der Casamance, bei den Mandinka. Dreissig Häufchen, für jedes Kind eins. Die Kinder beten mit geschlossenen Augen ein Vater Unser. Sie hocken sich auf die Erde, essen mit den Händen die Mahlzeit von den Blättern. Mother Maudge bringt uns auf Tellern, mit Messer und Gabel, unser Teil. Sie sagt: - Die richtigen Trommler konnten nicht kommen. - Vielleicht mussten sie zu einer Sitzung. Ein besoffener Inder tanzt zu den Trommeln, als sollte es ein Boogie Woogie sein. Die Mädchen sehen ihn ganz äusser Fassung an. Er flieht. Leroy holt uns ab. - Am Flughafen sind wieder zwei Killer festgenommen worden. Die PRA in Grenville stoppt uns. - Hallo, Mister Tight Pants, sagen sie zu Leroy. Sie lassen uns durch. Oben am Vulkansee auch. - Mother Maudge ist für die Revolution, sagt Leroy. - Sie ist keine Revolutionärin. Aber sie ist für die Revolution.

Sonntag, den 22. April: Torchlight: Obea-Zauber im Bergdorf Munich. München.

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Ted, der Medizinstudent: - Die Medical School erstellt ein Achtel des Nationaleinkommens der Insel. - Ich bringe ungefähr 500 US-Dollar monatlich herein. - Wir sind 650 Schüler. Das macht rund 200 000 Dollar, mal acht, mal zwölf, also mal hundert macht 20 Millionen US-Dollar. — Die Medical School kriegt ihre Leichen meist ohne Gehirn aus New Jersey. - Sie kommen chemisch konserviert in Nylonsäcken, in Kisten. - Ein Zöllner zwang uns, eine IfisLe aufzumachen. Als er sah, was drin war, wurde er blass und sagte: Abends entladen. Dass es niemand sieht. - Wir rudern die Kisten vom Hafen hier an den Strand und ent­ laden dann schnell und tragen die Kisten in die Medical School rüber. — Manchmal fällt eine Kiste hin und der Deckel zerschlägt und die Leiche rollt heraus. - Die Grenader laufen dann weg. — Manche empören sich: Das macht ihr hier! Ihr raubt unsre Grä­ ber aus! Ich antworte: Es sind doch weisse Leichen! - Die häufigsten Erkrankungen: Hoher Blutdruck. Vida, das Zim­ mermädchen, hatte neulich 160 auf 248. Sic arbeitet damit. Sie hat ein Kraut, damit bringt sic in einer Woche den Blutdruck wieder runter bis 140. — Ausserdem Diabetes. - Drittens Leberzirrhose. Alkoholismus. Sie trinken morgens schon zwei Pints Schnaps mit den Boys. — Viele Parasiten. — Hakenwürmer. — Malaria. Wenig. — Denguefieber. — Keine Bilharziose. - Im Wasser Shigella. — Ausserdem haben viele Sichelzellenanämie.

Vida, die Hausangestellte bei Brauchschinkens, erhält 175 ECDollar im Monat - rund 175 Mark. 8 Stunden Arbeit täglich. 325

6 Tage in der Woche. Keine Krankenversicherung. Seit der Revolution keine Gehaltserhöhung.

Barbara: - Albert Xavier, der Chefredakteur von »Torchlight«, möchte wohl am liebsten die afroamerikanischen Riten mit Stumpf und Stiel ausrotten. - Auf dem letzten Revolutionsmeeting in St. Davids las Finanz­ minister Coard eine Liste mit 59 Personen vor, die aus der Schutzhaft entlassen werden sollten. Die Leute schrien: Nein! Nein! Behaltet Sie! - Coard lachte: Wir wollen euch eure Leute wiedergeben und ihr wollt sie nicht. - Die Hit Men werden in ihre Ursprungsländer zurückgeschickt. - Gairy sollte nicht hängen. Aber er sollte an einem Ort ver­ wahrt werden, wo er keinen Schaden mehr tun kann und gele­ gentlich mal die öffentlichen Toiletten am Markt saubermachen.

Dienstag, den 24. April: Alister Hughes: 14 Häftlinge aus der Schutzhaft entlassen.

Leroy bringt uns zu Mother David: - Sie ist eine von den ganz alten Shangopriesterinnen. - Sie ist wohl Hohe Priesterin, Queen, Keeper of the Drums. Er geht in die Wache der PRA hinein und zwei Revolutionäre begleiten uns. Sie gehen halbnackt neben uns her. Sie brechen uns Früchte zur Erfrischung von den Bäumen. Als wir oben am Steinhaus der Priesterin anlangen, husten die Revolutionäre, sie gehen etwas zurück, sie rufen. Niemand zu sehen. Aus dem Haus: - Ihr seid halbnackt. Verlasst den Tempel. Die Weissen sollen reinkommen. 326

Eine Kinderstimme? Ein Inder? Die Queen? Die Revolutionäre gehen aus dem Garten. Wir öffnen die Tür halb, bis sie an Beine stösst. Wir steigen über die ausges treckten unbeweglichen Beine. Mistress David hat einen grauen Kräuselbart. Ein zwölfjähriges Mädchen flicht ihr Haar. Mistress David spricht lange afrikanisch. — Ich bin Ägypterin. Wieder beginnt alles mit Leonores Buch. Das ist unser Pass. Mistress David weist auf ihre Trommeln, da drüben an der Wand, auf die Kalebassenrasseln, die statt der afrikanischen Kauris mit Knöpfen besetzt sind. — Holen Sie den Teller von der Wand. Es ist ein englischer Fayenceteller, wie man ihn in Kaufhäusern erwirbt, rauh, braun, Reliefs, eine holländische Landschaft, Wind­ mühle, Kornfeld, Erntewagen. Mistress David nimmt mir den Teller ab und tastet über das Relief. — Das ist Ägypten. — Das sind die Wassermühlen an dem grossen Fluss, von dem mir mein Vater erzählt hat. — Das ist die Reisemte des Königs. — Es ist Halmreis. — Mein Vater war Ägypter, sagt sie und lächelt die Windmühlen­ landschaft an. — Meine Mutter kam aus Guadeloupe. — Mein Vater kam aus dem Land Watipang, wo alle herkommen, die Schwarzen und die Weissen. Ich bete zu den afrikanischen Göttern auf afrikanisch und auf französisch. — Wenn das Elend jetzt nicht über Grenada hereingebrochen wäre, hätte ich ein Sieben-Tage-Werk unternommen. — Ich hätte zwei Hammel geopfert und zwei Ziegenböcke und Hühner. — Ich wäre zum Vulkansee gepilgert und bis hin zum Ozean. — Kannst du neun Tage fasten? Hinten im Haus rührt sich jemand. Das zwölfjährige Mädchen hört mit Flechten auf und sieht nach hinten. Mistress David sagt:

- Ich lebe jetzt in Unschuld und Reinheit. - Da hinten der ist blind. - Er war Lastwagenfahrer und hat seine Augen zu sehr dem Fahrtwind ausgesetzt. Der Laslwagenfahrer kommt und gibt mir vorsichtig eine Brot­ frucht. Ich sehe ihm in die Augen, die ganz wach wirken. - Ich kann nicht sehen, ob die Brotfrucht gut ist, sagt er.

Mittwoch, den 25. April: Torchlight: Kuba wird Jugendprogramm bezahlen. Das Programm soll 15000 Grenader von 16 bis 25 in Ackerbau, Pädagogik, Gesundheitswesen, Strassen- und Hausbau schulen. Erziehungsminister George Louison konnte gestern nicht erreicht werden.

Donnerstag, den 26. April: Ich wache morgens auf. Die Soldaten laufen unten vorbei. Ein Vorrufer. Sie brüllen die Parolen nach.

Wie sich das entwickelt hat. Erst waren es Rastafaris mit zerrissenen Hemden. Dann liefen einige mit hochgehal Lenem Gewehr morgens vorbei. Dann die frischen Gewehre. Die ordentlichen Uniformen. Die geschnittenen Haare.

Ich höre aus den Baracken das Gebrüll. Wohl Woh! Woh! Ich habe das schon gehört. Wo? In Jamaica. Wo in Jamaica?

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Auch auf Grenada. In Jamaica bei den Revivals. Hier bei den Spiritual Baptists. Wenn das Schnattern und Rülpsen übergeht in tiefes brüllendes Atmen. Wohl Wohl Wohl Auf dem Kasernenhof wird der preussische Drill in eine afrika­ nische Einweihungsprobe verwandelt.

Die Revolutionäre verteilen Milch an Kinder bis zu fünf Jahren.

Nick Joseph sitzt am Platz von Albert Xavier in der Redaktion von »Torchlight«. — Ich wollte Mister Xavier sprechen. — Mister Xavier ist nicht da. — Wann kommt er wieder. — Das weiss ich nicht. Mister Xavier ist äusser Landes.

Freitag, den 27. April: Alister Hughes: Der Leiter der Grenada National Party, Mister Herbert Blaize, äusserte: Die Personen, welche das PRG berufen hat, um als Tri­ bunal über die in Schutzhaft Befindlichen zu richten, sind alle auf ihrem Gebiet ausgezeichnet, aber keiner ist juristisch ausgebil­ det oder hat auf diesem Gebiet Erfahrung. Torchlight: Telegramm von der US-Botschaft in Barbados: Maurice Bishops Aussagen über die Begegnung mit US-Bolschafter Frank Ortiz sind unbelegt und unwahr.

Leroy hat erfahren, dass Mother Annie, eine der Vertrauten Gai­ rys, aus der Schutzhaft entlassen worden ist. 329

Er meldet uns bei ihr an. Eine dorf ähnliche Ansammlung von Holzhäusern bei Tivoli. Wohnhäuser. Kirche. Garage. Heiligenhäuschen. Zehn Leute sitzen auf Bambusbänken im Freien und warten auf die Konsultation bei Mother Annie. Mother Annie lässt uns ein. Sie sitzt vor einem Spiegel. Sie hat eine Sonnenbrille auf. Weisse Flattertücher, auf denen die Haare lose liegen. Der Spiegel voller Kreidezeichen — Wollen Sie nächste Woche wiederkommen?

Freitag, den 27. April: Radio Free Grenada: Sieges-Rallye auf der Insel Carriacou am Sonntag. Boote von den anderen Inseln.

Angela Bishop, die Frau des Prime Ministers, fährt für zwei Wochen nach England und in die Bundesrepublik, um den Touris­ mus auf Grenada anzukurbeln.

Ich komme mit Nick Joseph ins Gespräch. Ich sage, dass ich den Artikel über die Schwarze Magie in Munich, München, empörend finde. Nick nickt. -Was mache ich bloss, um aus dem Kreis der ewig unfähigen Hausangestellten des Prime Ministers rauszukommen. Gibt es denn niemand, der für die Presse verantwortlich ist? sage ich. - Rufen Sie Miss Cruishank an. Ich werde auch mit ihr sprechen, sagt Nick. Miss Cruishank hört zu. Nach einer halben Stunde ruft sie zurück. — Der Prime Minister ist in den nächsten zwei Wochen voll be­

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setzt. Aber sprechen Sie doch bitte mit der Informationssekre­ tärin Phyllis Coard, am nächsten Mittwoch, um 14 Uhr im Office des Prime Ministers. Ich schlage in »Torchlight« nach - Nick Joseph hat den Aufsatz über die Schwarze Magie in Munich, München, geschrieben.

Sonnabend, den 28. April: Alister Hughes: Sandpapier-Bananen auf St. Vincent durch Asche des Vulkans Soufriire. Radio Free Grenada: Surinam und Grenada nehmen diplomatische Beziehen auf. Torchlight: Wir brauchen mehr als sozialistische Rhetorik!

Sonntag, den 29. April: Einhorn-Kirche. Das Herauskommen des Neophyten, des Mourners, des Trauern­ den. Jocelyn, die im Shango gross wurde, beginnt zu schnattern, zu rülpsen. Sie beruhigt sich nicht wieder. Sie schnattert die Choräle, den Heiligen Geist, die Jungfrau Ma­ ria, den Protestantismus, den Puritanismus, Gairy, die Revolu­ tion heraus, rülpst; sie wird von der Langen mit Wasser bespült, mit Mais beworfen, mit Reis, in Decken gehüllt, mit Schärpen benudelt; die Lange fasst ihr mit beiden Händen in die Mundwin­ kel, reisst die auseinander, dass Jocelyn nicht mehr schnattere, rülpse; als Jocelyn alles abgeworfen hat, bildet sich in ihrem Ge­ sicht das arrogante Lächeln der Erzulie Freda, Yemanjas, Oshuns, Oyas, sie gleitet schlängelig über den Beton der Einhorn-Kirche und tanzt den alten Tanz. Aber Baptist, Baptist ist sie und reden darf sie nicht mehr wie die heidnische unzüchtige Meerjungfrau, die Göttin der Schwulen und der Nutten. Jocelyn schnattert sich leise in den Heiligen Geist zurück.

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Montag, den 50. April: Die nackten Revolutionäre winken mir aus dem Wachhäuschen zu, als ich zu Mistress David hoch gehe. Die Hohe Priesterin sitzt an derselben Stelle. Sie trägt heute ein blaues Kleid, rotgepaspelt. In der Hand hält sie den heiligen Besen des Gottes Shango - den Besen Obaluayes, des Alten Herrn der Welt, Gebieters über Pocken, Lepra, Lues. - Mir geht es schlecht, sagt die Queen. - Ich habe Gas im Kopf. - Sie stirbt, sagt ein Inder, der vorbeikommt. - So ist das Leben. Einer geht. Andre kommen. - Wovon hat sie gelebt, frage ich Leroy. - Sie hat früher viel mit Obeah und Shango verdient. Die klein­ ste Arbeit kostet 20 EC-Dollar. Sie hat wohl gespart. - Sie sagt, sie ist mit 16 auf Trinidad eingeweiht worden. - Sie gehört vier Kirchen an, den Protestanten, den Katholiken, dem Shango und vielleicht noch sowas wie Vaudou, aus den fran­ zösischen Kolonien. - Wenn sie heute 80 ist, dann war sie 50, als Gairy an die Macht kam. - Er hat den kleinen Landarbeitern geholfen und den Shangopriestem. Das vergessen die ihm nicht. - Natürlich nennt sie die Revolution »das Elend« - the distress.

- Gehen Sie zur Kapelle hoch. Ich habe sie für Sie richten lassen, sagt Mistress David. Ein fast leerer, grauer, betonierter Raum. Ein Altartisch mit Heiligenfiguren, wie in den Kapellen der Spi­ ritual Baptists - aber strenger, schottischer. Unter dem Tisch stehen irdene Kruken. Sind darin die Seelen der im Tempel Eingeweihten festgebunden, durch Nagelreste, Ausgekämmtes? Diese Einweihungskruken, auch Totenkruken, die es auf Haiti überall gibt, habe ich sonst auf Grenada nirgends gefunden. Draussen zwei Flaggen an langen Bambusstangen — eine rote Flagge und eine blaue. - Die Blaue ist für das Wasser - the mother. Für Yemaja, Oshun, Oya. 532

- Und für Oshala. Die Jungfrau Maria. Meerstern, ich dich grüsse! - Die Rote ist für Maria, sagt Mistress David. Sie seufzt: - Für Maria Magdalena. - Die weisse Flagge ist wieder fürs Wasser. - Und die malvenfarbene Flagge bindet man sich um den Kopf. Der Lastwagenfahrer kommt wieder und bringt uns eine Brot­ frucht. Er sagt wieder: - Ich kann nicht sehen, ob sie gut ist. Ich gebe wieder dem 12jährigen Mädchen etwas Geld für »Bü­ cher«. Einer sterbenden Hohenpriesterin bleiben die Kunden weg.

Leroy: — Man hat Gairy in New York gesehen. - Er geht unruhig mit einem Diplomatenköfferchen die Strassen rauf und runter.

Mittwoch, den 2. April: Ich gehe durch den Botanischen Garten, am Tierpark vorbei, zum Office des Prime Ministers, um mit der Sekretärin für Information und Kultur zu sprechen. Das habe ich vor einem Jahr schon einmal getan. Vor einem Jahr hiess sie Gloria Payne. Heute heisst sie Phyllis Coard. Gloria Payne begleitete Sir Eric Matthew Gairy nach New York. Sie kam zurück. Wurde am Flughafen verhört und wieder freigelassen. »Torchlight« nannte sie Schmarotzer. Sie wurde vom Staatsdienst suspendiert. Dieselbe Telefonistin meldet mich an. Ich warte wieder eine halbe Stunde. An jedem Tisch sitzt derselbe Beamte.

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Mittwoch, den 2. Mai: Godwyn Boney, 25, wurde bei Manövern am Grand Etang ver­ letzt. Er starb auf dem Weg ins Krankenhaus.

Leroy: - Sie übten Scharfschiessen. - Die Soldaten mussten unter den Kugeln durchrobben. - Sie durften nicht den Kopf heben. - Godwyn Boney kriegte eine Kugel in den Kopf.

In Tivoli an der Kreuzung Busse, Taxis, Privatwagen. Etwa dreihundert Menschen stehen zu einem kleinen Holzhaus hoch. Aus dem Fenster des Hauses werden ülflaschen gereicht, Blumen­ sträucher und Kräuter. Davor knien Mädchen. Ich nähere mich der Treppe, die zum Holzhaus hochführt. Auf einem Sockel steht eine Wächterin. - Wohin? Ihr ist die Stimme weggeblieben. Ihre Wörter hören sich an wie Husten. Ich erkläre ihr meine Arbeit. Sie hustet mich weg. Sie hustet voller Triumph ihr Nein. Endlich einem Weissen Nein sagen können. Ein Weisser zu der afrikanischen Zeremonie?! Es ist doch ein Söldner! So kann sich die Revolution auf den Rassismus berufen. Leroy erklärt: - Das ist eine Teufelsaustreibung. - Seit Wochen sind die Mädchen in diesem Haus vom Teufel be­ sessen. Sie essen nicht. Sie reden in fremden Zungen. Sie rasen herum. - Jetzt haben sie einen Shangopriester gerufen und der ölt sie ein

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und spricht afrikanische Zauberfonnein und Gebete. Es wird ge­ trommelt. — Manchmal wird auch ein Opfertier über dem Kopf der Beses­ senen geschlachtet. — Viel verpasst hast du nicht.

Mother Annie, die Shangopriesterin des gestürzten Prime Mini­ sters Sir Eric Matthew Gairy, gibt sich sehr matronizing. Sie spielt uns die deftig lachende Negermammic vor, die wir, wie sie glaubt, von ihr erwarten. Sie ist vorsichtig, vermeidet aufs Bild zu kommen, will aber, dass ihr Adoptivkind photografiert wird, mit den dicken Beinen, der Elephantiasis. — Das behandel ich mit Kräutern. — Irre heile ich mit Kräutertees und Blutbädern. Als wir uns verabschieden, kommen zwei Männer mit riesigen Packen Kräutern über dem Kopf. Mitglieder einer Geheimgesellschaft? Kräutergeister ? Geheimpflanzen zur Einweihung? — Karnickelfutter.

Jack Nightwoods Abschiedsbesuch: - Raketenbasen haben sie auf Grenada eingerichtet. — Raketen mit einer Reichweite von 500 km. - Oder 50 km Reichweite. Kann auch sein. — 500 kubanische Berater werden erwartet, oder so. Schattenmund voller Klatsch.

Alister Hughes: Gairy hat zwei Soldaten nach Chile zur Anti-Guerilla-Ausbil­ dung geschickt. The New Jewel: Die Revolutionsregierung hat schon 300 000 Dollar zurückge­ zahlt, die das Gairyregime der University of the West Indies schuldete.

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Vergessen Sie nicht: Der Calypsokönig Mighty Sparrow ist an diesem Wochenende in Grenada. Carifesta, das grosse karibische Kuliurfestival, wird dieses Jahr vom 16. bis 22. Juni in Havanna stattfinden.

Sonnabend, den 5. Mai: Zu Prime Minister Maurice Bishop. Der Wächter mit der Maschinenpistole wieder stumm und wütig. Er schickt einen anderen rein. Ich höre Bishops Stimme, Coards Stimme in einer Konferenz. Behendes, witziges Reden. Leichtes Lachen. Ein junger Mann kommt. Er macht eine entsetzte Geste, als ich in den Hof treten will. Er sieht auf mein weisses Gesicht und auf die buckelige Tasche mit dem Casettenrecorder. Er geht in das Haus zurück. Dann führt er mich auf die Veranda des Hauses der Mutter. Unten kommt die Mutter mit Bishops Schwester, wie ich aus der Ähnlichkeit schliesse. Die mürrische afrikanische Maske. Sie begrüssen mich sehr freundlich und elegant. Die Mutter setzt sich zu mir und erzählt von einer organisierten Pilgerreise nach Europa. Rom. Der Papst. Portugal. Fatima. Aber der schnelle Wechsel gefiel ihr nicht. - Und das Wasser konnte man nicht trinken, ohne krank zu werden. - Mein Mann, Rupert Bishop, ist von Gairys Polizisten bei einer Demonstration erschossen worden. - Gairy liess hier gegenüber, oben auf Richmond Hill, Verliese ausschachten: Dies ist für Maurice Bishop. Dies ist für Unison Whiteman und so weiter. - Mein Sohn ist so geschlagen worden, dass er in Barbados am Auge operiert werden musste. - Es ist immer noch nicht in Ordnung. Wenn man genau hinsieht, kann man feststellen, dass das Auge nicht richtig funktioniert. Sie bringt mir die neue Ausgabe von The New Jewel. 336

Ein sehr heller Afroamerikaner mit weissen Haaren kommt. — Ich bin der Onkel von Maurice. Ausführliches Gespräch über Sprachen, über Latein und Griechisch in der sogenannten Dritten Welt. — Meine Tochter ist die letzte, die auf Grenada eine gründliche Kenntnis des Lateins erworben hat. Ich berichte von Senghor und seiner Einstellung. Ich sage: Ich halte es für diskriminierend, wenn man den begab­ ten Schülern in Afrika oder in der Karibik eine klassische Bildung vorenthält. Die Mutter kommt noch einmal und sagt: — Ich muss jetzt Essen kochen. Phyllis Coard fährt im kleinen Wagen vor. Sie wünscht mir ein gutes Interview. Der Wächter oben an der Strasse hat den schönsten Arsch der Neuen Welt, einen materialistischen Arsch, einen sozialistischen Arsch, einen Räte-Arsch. Ich kann mich anderthalb Stunden bildlich in ihn versenken. Er tanzt mit diesem Arsch seine Wachschritte ab. Von dem Soldaten und den gedrängt stehenden Autos abgesehen, ist es der Hof eines Rechtsanwaltes in der Karibik mit dem alten Gärtner, der die verwelkten Blüten abzupft und die Orchideen giesst, und mit der Hausangestellten im fünften Monat. Gegen zehn kommt Maurice Bishop aus der Konferenz. Er winkt hoch: — I’m with you in a minute. Trikothemd, braune Hose, eher nachlässig gekleidet. Ein Bauer hält ihn fest - zwanzig Minuten lang. Durch die Blüten sehe ich, wie sich Bishop zweimal am Hemd zupft. Er wirkt nicht neurotisch. Aber eine solche Übersprungshandlung entsteht, weil er immer zu spät sein muss, weil immer schon der nächste, wenn nicht gar der übernächste Besucher wartet, alles also zuviel ist, immer zu wenig und wichtig. Immer, wenn er mit jemandem spricht, denkt er zwei weitere Gespräche mit. Er kommt rauf. Männlich, nicht machistisch. Herzlich. Von einer Autorität, die er nicht durch die kleinen Tricks der Topmanager unterstützen muss.

Die Augen. Die Augen fassen alles zusammen. Ich sehe immer seine Augen an, so dass ich fast nichts andres aus seinem Gesicht erinnere. Ihre Beweglichkeit und Heftigkeit ist so gross, dass sie den Fehler an der linken Seite überwinden. Er wirkt ehrlich und sehr geschickt. Er weiss, was er tut, wenn er ein Interview auf Band spricht. Er redet ohne Dialekt. Nur bei den ideologischen Erklärungen fällt er in den Jargon von Grenada. So wichtig sind sie ihm also. Oder so genau beherrscht er politische Wirkungen. - Are we already on tape? -Yes. Er will erst wissen, wie mein Interview aufgebaut ist. Jemand also, der weiss, dass man Interviews bauen kann. Ich sage, dass ich auch unangenehme Fragen stellen will. - Gut, um elf muss ich zum französischen Botschafter.

- Brother Prime Minister, die Revolution auf Grenada vom 13. März 1979 ist die dritte erfolgreiche Revolution in der Kari­ bik seit 1804, grob gesprochen. Die Welt kann einiges von der Gemessenheit lernen, mit der sie durchgeführt worden ist. Wie erklären Sie die fast gänzliche Gewaltlosigkeit dieser Verände­ rung? - Ich glaube, diese Gewaltlosigkeit spiegelt mehrere Gegeben­ heiten wider: Erst einmal — die Disziplin der Revolutionstruppen. Und unser Konzept von Humanität und Zivilisation. Es war nicht unsere Aufgabe, uns auf unnötiges Töten einzulassen. Unsere Truppen hatten strikte Anweisungen dahingehend erhalten. Als es deutlich wurde, dass die Regierungssoldaten aus den Baracken wegliefen, wurde Befehl gegeben, dass niemand hinter ihnen her­ schoss. Unsere Truppen waren imstande zu schiessen, wenn die Soldaten aktiven Widerstand geleistet hätten. Es gab nur zwei solcher Fälle, einen solchen Fall. Der andere Soldat wurde durch einen Unfall getötet. Das sind die beiden wesentlichen Gründe: Die Disziplin unserer

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Truppen und unser Konzept von Humanität, das wir in unserem Lande durchsetzen wollen. - Es hat keinerlei Sabotage gegeben, Wasser und Elektrizität funktionieren, die Beamten erschienen weiter in ihren Ämtern drückt das nicht auch eine Entscheidung des Volkes aus, nicht nur der Revolutionstruppen und der entlaufenen Soldaten? - Sicher. Es zeigt das Ausmass der Empörung des Volkes und des Hasses auf den Diktator Gairy - und, komplementär dazu, fast das ganze Volk war froh, als der Umsturz kam. Das ganze Volk hat keinen Widerstand geleistet. Es hat keine Sabotage gegeben, wie Sie ganz richtig sagen — am ersten Tag der Revolution gab es mehrere spontane Unterstützungsaktionen, Telefonangestellte, die bestimmte Telefonanrufe überwachten und unterbrachen, so dass keine falschen und verleumderischen Nachrichten im Ausland ver­ breitet werden konnten. Sie waren von uns nicht dazu aufgefor­ dert worden. Bankangestellte überwachten sehr genau die De­ visentransaktionen und verhinderten so die Kapitalflucht. Das alles drückt eine grosse Bereitwilligkeit aus, einen Teil an der Revolution zu haben. - Auf Ihrer ersten Massenveranstaltung im Queens Park wurde ein ziemlich neuer Gedanke vorgetragen. Sie wollen Ihre Feinde, die Gairyaner, auf Ihre Seite bringen. Welchen Erfolg haben Sie praktisch damit? - Ich glaube, in einem so kleinen Land wie dem unseren ist das eine Notwendigkeit. Wir können das geringe Potential unserer Bevölkerung nicht entzweien, wenn wir die Agrarproduktion er­ höhen wollen und die Wirtschaft in Gang bringen. Es muss eine Priorität für uns bedeuten, die Gairyaner auf unsere Seite zu bringen. Das hat auch historische Gründe: Die meisten Anhänger Gairys kamen von den Plantageu, es waren Landarbeiter. Acker­ bau ist die Hauptstütze unserer Wirtschaft. Wir haben zuerst einmal das Ausmass der Korruption offengelegt, das in Gairys Gewerkschaft existierte. Durch seine Gewerkschaft erhielt Gairy im Monat etwa 35 000 Dollar. 9000 Dollar zahlte er davon an Löhnen - 1000 an sich selbst, als Präsident auf Le­ benszeit und einige Tausend Dollar an andere Leute in der Hierar­ chie dieser Arbeitergenossenschaft. Die restlichen 26 000 Dollar verschwanden. Sie gingen an Mister Gairy. Wir haben einen seiner Bankauszüge gefunden - 105000 Dollar von unserem Geld. Die Statuten dieser Gewerkschaft sahen Krankengeld für die Mitglie­ 339

der vor. Sterbegeld, Invalidengeld. Wir sind nie einem Arbeiter begegnet, der etwas von dem Geld bekommen hätte. Sie bezahl­ ten 15 Cents am Tag in einen Fonds, der wieder an sie ausgeschültet werden sollte, kein Arbeiter hat je etwas aus diesem Fonds erhalten. Die Gewerkschaft bezahlte jeden Monat insge­ samt 500 Dollar Wohlfahrt an ausgewälilte Arbeiter. Zwanzig oder zehn Dollar oder vierzig Arbeiter erhielten einen Umschlag mit fünf oder zwei oder zehn Dollar. Wir versuchen, die Arbeiter an einer echten demokratischen Ent­ wicklung und am Decision Making teilnehmen zu lassen — durch Landarbeiterräte zum Beispiel. Die Landarbeiter wählen selbst ihre Repräsentanten, diese treten dann auf nationaler Ebene zu­ sammen und bestimmen die Landwirtschaftspolitik. - Wie viele solcher Arbeiterräte gibt es bereits? - Fünfzehn, zu diesem Zeitpunkt. - Wie viele Arbeiter werden durch diese fünfzehn repräsentiert? - Ich kann Ihnen die genaue Zahl nicht sagen. Ich weiss es nicht. Aber die meisten Plantagenarbeiter haben an den Wahlen teil­ genommen. - Der Widerhall ist also gross? - Überwältigend. Sie sollen sich um Arbeitsbedingungen, Löhne, höhere Rentabilität kümmern und um die Beteiligung an der Ren­ dite. Es soll erst Mitbestimmung geben und dann die gänzliche Kontrolle durch die Arbeiter. Sie werden anfangs dem Landwirt­ schaftsministerium unterstellt sein. Aber ich meine, wenn die ver­ fassunggebende Versammlung ihre Beratungen abgeschlossen hat und eine neue Verfassung geschaffen ist - ein neues Kapitel un­ serer Verfassung wird die Frage der direkten Beteiligung der Arbeiter behandeln, welche Versammlung immer bestimmt wer­ den wird, das Land zu regieren. - Die Hälfte der aktiven männlichen Bevölkerung von Grenada ist ohne regelmässige Arbeit. - Das ist ein schreckliches Problem. Nicht nur die Hälfte der aktiven männlichen Bevölkerung ist ohne Arbeit, wie Sie ganz richtig sagen, vier von fünf Frauen sind ohne Arbeit. 70 Prozent der Jugendlichen sind ohne Arbeit. 60 Prozent der Bevölkerung sind Jugendliche. Wir müssen das Land wirtschaftlich auf drei Stützen stellen. Er­ stens: Zunehmende Landwirtschaftsproduktion, verbunden damit Agroindustrien, wo die Rohprodukte unserer Landwirtschaft 340

verarbeitet werden - Kokos, Muskat, Bananen - und so Mehr­ wert erstellen. Wir wollen sogenannte Foodfarms errichten. Der Staat besitzt etwa ein Drittel des bewässerten Ackerlandes aut Grenada. 40 Prozent der über hundert acres großen Plantagen gehören dem Staat. Das meiste davon liegt jetzt brach. Wir haben eine entsetzlich hohe Importrechnung für Nahrungsmittel. Diese Importe sollen substituiert werden. Wir wollen unsere Ernährung im eigenen Land sicherstellen und die Devisen statt dessen in Ma­ schinen und Ausrüstungsgegenständen anlegen. Als zweites: Die Fischerei. Unsere Fischerei ist lächerlich im Au­ genblick. Die Fischer fischen wie zur Zeit von Jesus Christus. Sie werfen die Angel aus und das ist es . . Wir wollen moderne Fi­ schereitechnik einführen, bessere Boote etc. und zu einer fischver­ arbeitenden Industrie kommen, wir wollen die Fische, die hier ge­ fangen werden, selbst eindosen. Drittens: Der Tourismus muss ausgebaut werden. Wir möchten eine vertikale und horizontale Verflechtung des Tourismus mit der übrigen Wirtschaft. Die Touristen können unsere eigenen Nah­ rungsmittel essen und unser Kunsthandwerk kaufen. Jetzt kau­ fen sie Andenken, die in Hongkong und Taiwan angefertigt werden . . —. . und Gefrierfleisch, das aus Neuseeland kommt. - Genau. Wir haben begabte Kunsthandwerker hier und Hun­ derte von Bauern, die für die Touristen Nahrungsmittel erzeugen können. Audi arbeiten wir im Augenblick an einem Noternäh­ rungsplan. Das sind die drei Schlüsselfaktoren. In zweiter Linie versuchen wir, Wohnbauprojekte in Gang zu bringen und den Strassenbau. Das wird noch weitere Arbeitsinöglichkeiten eröffnen. - Im Augenblick arbeiten sdion sehr viel mehr Leute an den Stras­ sen als unter Gairy. Was verdienen die Slrassenarbeiter? Unter Gairy waren es 4,50 ECdollar täglich für die Frauen, und 5,25 ECdollar für die Männer? - 6,50 und 6,00 Dollar. - Also noch keine Lohngleichheit? - Nein. Die Arbeiter selbst fanden das problematisch und witwollen ihnen keine Entsdieidungen aufzwängen. Wir möchten die Frage demokratisch diskutieren. Die Frauen selbst haben Schwie­ rigkeiten gemacht. Es ist wohl ein tiefergehendes kulturelles Pro­ blem. Ich war gestern auf einer Plantage in St. Johns an der

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Westküste. Ich hatte ein Meeting mit 25 Arbeitern. Ich kam vor­ bei und begann spontan mit ihnen zu sprechen. Eine Frau sagte mir: Ich kann nicht mit einer Mistgabel umgehen. Ich kann keine schweren Lasten tragen. Wenn ich schwere Lasten trage, kann ich keine Kinder mehr haben. Wenn Sie mir das gleiche Geld geben, dann wollen Sie auch, dass ich die gleiche Arbeit leiste wie die Männer. Denn das haben wir ausgedrückt: Gleiche Bezahlung für gleiche Arbeit. Die Tatsache, dass jemand eine Frau ist, darf sie bei der Bezahlung nicht dis­ kriminieren. Wir wollen nun durch die Landarbeiterräte einen Minimallohn festsetzen. Ich weiss nicht, wie hoch der sein wird. Ich hoffe, dass wir ihn in vier Wochen festsetzen können. Es wird wahrschein­ lich verschiedene Plafonds für verschiedene Typen von Arbeitge­ bern geben. Die kleinen Unternehmer können wirklich nicht so viel bezahlen wie die grossen, wenn sie nicht kaputtgehen sollen. - Sie hatten eine neuartige Idee, die Banken anzugehen. Sie woll­ ten kleinere Kredite für Bauern und Fischer erwirken. - Wir sind an die Banken herangetreten und haben sie gefragt, ob sie x Prozent ihres Kapitals im Jahr in Krediten für die ärmere Bevölkerung anlegen wollten, darunter verstehen wir hier auch Leute der mittleren Strata, die Arbeiterklasse also, Bauern, Fi­ scher, junge Leute, die sonst keine Kredite bekommen würden. Die Antwort war bis jetzt redtapish, bürokratisch. Die gewöhn­ lichen Schwierigkeiten wurden gemacht. Wir möchten mit den Banken zu einer Übereinkunft gelangen; wenn das nicht möglich ist, werden wir ein Gesetz durchbringen, dass die Banken x Pro­ zent ihres Kapitals im Jahr zu solchen Zwecken ausschütten müssen. - Sie haben nicht die Absicht, zu nationalisieren? Auf diese Frage hin begrüsst er unten im Hof einen Besucher. - Ich komme gleich. Ich will nur das Interview beenden. Zu mir: - Ich möchte noch einmal hören, was ich gesagt habe. Dann spricht er über die Aufnahme drüber: - Nein, wir glauben nicht, dass es an diesem Punkt notwendig ist, bis zur Nationalisierung zu schreiten. Wir glauben, dass es genügt, wenn die Banken ihre Kreditdispositionen ändern und wenn die Profite, die sie im Land machen, auch im Land bleiben. - 400 000 Grenader sollen im Ausland leben - das ist fast das 342

Vierfache der aktualen Bevölkerung der Insel. Sie hoffen, dass ein Teil davon, nach dem Sturz des Regimes von Gairy, zurück­ kehrt. Sehen Sie nicht eine Gefahr der Überbevölkerung? Haben Sie die Absicht, intensives family planning durchzuführen? - Die Gefahr der Überbevölkerung besteht. Wir sind ein kleines armes Land. Aber die Grenader im Ausland sind oft auch die Begabtesten. Wenn einige zurückkämen und mithelfen würden, das Land aufzubauen, würde dadurch die Geschwindigkeit des Fortschritts beschleunigt und die Produktion würde schneller stei­ gen. In dieser Hinsicht wäre also das Problem des Bevölkerungs­ zuwachses weniger relevant. Aber wir glauben, dass family plan­ ning ein wichtiger Faktor ist. - Gairy hatte vierzig Dollar in der Staatskasse gelassen, konnte man hören. Sie mussten andere Nationen um Entwicklungshilfe angehen. Wen haben Sie gefragt? - Glücklicherweise waren etwas mehr als vierzig Dollar in der Staatskasse. Was nun eine Hilfe anlangt, so haben wir erst die Länder gefragt, die uns über die Jahre geholfen haben: Britan­ nien, Amerika, Kanada. Aber wir haben darüber hinaus zwei an­ dere Länder um technische und wirtschaftliche Hilfe gebeten, Venezuela und Kuba. Wir werden den blockfreien Ländern bei­ treten und auch bei diesen Hilfe suchen. Wir möchten Beziehun­ gen zu einer breiten Schicht von Ländern und Organisationen haben, um den grössten Nutzen für unser Land daraus zu ziehen. - Wer gewährte Ihnen Entwicklungshilfe in diesen ersten zwei schwierigen Monaten? - Einige Länder in der Karibik, die ich nicht nennen möchte, so­ lange sie noch nicht selbst ihre Entscheidungen publik gemacht haben. Drei karibische Länder haben uns bisher Hilfe gewährt. Es waren bis jetzt die einzigen, von denen wir konkrete Hilfe erfahren haben. - Man konnte lesen, dass Kuba übernommen hat, 15 000 Jugend­ liche auf Grenada auszubilden. Was für eine Form von Hilfe bedeutet das? Geld? Berater? - Das, was Sie wahrscheinlich in einer hiesigen Zeitung gelesen haben, ist nicht wahr. Wir haben noch keinerlei feste Abmachun­ gen mit der kubanischen Regierung getroffen, Leute auszubilden oder uns Geld zu diesem Zweck zu geben oder Centers of Public Education zu errichten, wie wir sie planen. Wir und die Kubaner haben über ein solches Programm diskutiert

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und sie haben versprochen, die Angelegenheit zu prüfen. Wir hof­ fen, dass wir auf diesem Gebiet und auch auf anderen von Kuba Hilfe bekommen - aber es ist nicht wahr, dass eine Abmachung bereits getroffen worden ist. - Haben Sie andere Länder um die Erstellung eines solchen Er­ ziehungsprogramms zuvor gebeten, die USA, Großbritannien zum Beispiel? - Wir haben in den Gesprächen mit jedem Land die gleichen Punkte berührt. Es waren immer die Grundnotwendigkeiten im Hinblick auf die Prioritäten, die wir uns gesetzt haben. Sie wur­ den mit jeder Nation sondiert, ohne Ausnahme. Wir haben die Amerikaner gefragt, die Kanadier, die Briten, die Venezolaner, die Kubaner. Die Gespräche waren immer die glei­ chen: Das sind unsere Hauptprobleme, das sind unsere Haupt­ lösungsvorschläge - die Gespräche waren immer die gleichen. - Wir brauchen uns nichts vorzumachen .. Wenn also Kuba in die Lücke springt, hat sich das Ortiz, der Botschafter der Vereinig­ ten Staaten von Amerika, selbst zuzuschreiben?! - Genau. Das ist die Konsequenz, die ich in meiner Karfreitags­ ansprache klarlegen wollte. - Sie sind dabei, eine neue Verfassung zu erarbeiten. Wird diese Verfassung strikte Garantien aufweisen gegen die Verletzung der Privatsphäre, gegen die Brutalität von Geheimpolizei, wie Sie sie selbst erfahren haben, gegen die Einschränkung der freien Mei­ nungsäusserung und gegen die Verletzung der Pressefreiheit? - Mit Sicherheit. Wir wollen auch den Papierrechten, die unsere Verfassung bisher darslellte, echte Zähne einsetzen. Die Verfas­ sung sprach bisher in sehr vager Form von den Grundrechten und den Grundfreiheiten. Die grosse Mehrheit war nie in der Lage, diese Rechte und Freiheiten zu geniessen. Wir wollen die Menschenrechte und die demokratischen Rechte nicht nur wieder herstellen, wir wollen sie erweitern. Es gibt sozioökonomische Rechte, welche die Verfassung bisher ignoriert hat, und diese Rechte sind gleich wichtig wie die zivilen Rechte. Es ist nicht genug, dass ein Mann das Recht der freien Meinungsäusserung hat, wenn er arbeitslos ist, wenn er Tag und Nacht darüber nachdenken muss, wie er sich fünf Dollar verschafft, um ein Paar Schuhe für sein Kind zu kaufen, das morgen in die Schule kommt. Wir glauben, dass jeder, der die Menschenrechte besitzt, sie auch geniessen soll, weiss, was es heisst, ein Auto zu

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besitzen, ein Haus, anständig angezogen zu sein und ärztliche Fürsorge in Anspruch zu nehmen. Ein Recht wollen wir zertrümmern - das Recht, auszubeuten! - Werden Sie den Habeas Corpus wieder einsetzen? - Selbstverständlich ja! Die Situation des Habeas Corpus spiegelt im Augenblick unsere Gesamtsiluation. Wir haben gerade eine Revolution hinter uns. Der revolutionäre Prozess ist dabei, kon­ solidiert zu werden. Solange wir keine normalen Zustände haben, kann es keinen Habeas Corpus geben. Sobald die Revolution hin­ reichend konsolidiert ist, wird der Habeas Corpus wieder einge­ setzt. - Bedränge ich Sie mit meinen Fragen? - Überhaupt nicht. - Juristen zu interviewen ist immer ein besonderes Vergnügen. Sie sind so eloquent. Wird es die Todesstrafe auf Grenada geben? - Ich kann Ihnen auf diese Frage nur meine persönliche Ansicht mitteilen. Ich kann Ihnen noch nicht die Stellung meiner Regie­ rung sagen. Ich persönlich bin gegen die Todesstrafe. - Wird Zwangsarbeit und Auspeitschung beibehalten werden? - Nein. Wir wollen zu Formen der Resozialisierung übergehen. Wir wollen weniger abschrecken als resozialisieren. - Das Auspeitschen erscheint mir auch als das typische Strafmass des Kolonialismus. -Ja. - Ich habe einmal mit Nyerere darüber gesprochen. Er hatte das Auspeitschen vorübergehend wieder eingeführt (und auch auf Trinidad und Tobago wird es noch verhängt). Sie haben Reli­ gionsfreiheit erklärt. Schliesst das die afro-amerikanischen Riten ein? Sie sind auf Grenada besonders vielfältig und kaum er­ forscht. - Alle Formen von Religion können ausgeübt werden. Wir sehen die Religion als eine Angelegenheit, die das Individuum alleine betrifft. Es ist eines jeden Recht, zu glauben, was er will. Wir haben nicht die Absicht, das in irgendeiner Weise einzuschrän­ ken. Und das trifft ganz sicher auch auf die traditionellen Reli­ gionen von Grenada zu. - Man kann wohl sagen, dass die vorherrschende Familienstruktur die der GrossfamiLie ist. Hat Ihre Regierung in irgendeiner Weise die Absicht, die Familienstrukturen umzugestalten? 345

- Nein. Wir haben nicht daran gedacht, das in irgendeiner Weise zu verändern. In unserer Gesellschaft hat die Grossfamilie viele Menschen vorm Verhungern bewahrt. Wir haben nicht die Ab­ sicht, die Familienstrukturen zu verändern. - Am 24. April diskutierten Sie mit den Vertretern von fünfzehn Rastafari-Gruppen über deren Kunsthandwerk und Kommunen. Kann ich das als Anzeichen werten dafür, dass Ihre Regierung sich nicht in den Lebensstil, die Haartrachten und das Sexlife von Minoritäten einmischen will? - Ich glaube, das ist ein angemessenes Statement; was die Rastas anlangt..

Was meint er? Ich kann es nicht heraushören. . . dass Ihre Regierung sich nicht in den Lebensstil, die Haar­ trachten und das Sexlife von Minoritäten einmischen will? - Ich glaube, das ist ein angemessenes Statement. Also: Keine Verfolgung von Homosexuellen. Oder: - Ich glaube, das ist ein angemessenes Statement, was die Rastas anlangt. Also: Wir werden keine sexuellen Abweichungen von der Norm dulden. Wie steht es bei Brecht: Mortimer: »Eduardum occidere nolite timere bonum est« Ich lass den Beistrich weg. Mögen sie lesen: »Eduard zu töten scheut Euch, nicht gut ist es« Oder je nach dem Stande ihrer Unschuld, Ob sie gegessen haben oder gefastet: »Eduard zu töten scheut Euch nicht, gut ist es. Der schwule König Eduard der Zweite wird durch eine glühende Eisenstange getötet, die man ihm in den Arsch stösst. Was die englische Zensur in Marlowes Tragödie abschwächte. Eduard wurde zur Zeit der jungfräulichen Elisabeth auf der Bühne zwischen zwei Tischen zerquetscht. Brecht, der unjungfräuliche, verfremdet das zu: Erstickt ihn! Wäre cs nicht möglich, dass Maurice Bishop, englisch erzogen, die grosse Zilalkraft der Engländer aufnahm und als Rechtsanwalt 346

die klassischen Zitate des englischen Rechtswesens beherrscht und dass er mit dem flackernden Punkt den Todesspruch für Eduard mitspricht, durch einen Gestus aus der Geschichte der Homo­ sexualität auf die schwule Frage antworten will. - Nehmen Sie es wie Sie wollen. - Ich werde mich nicht eindeutig dazu äussem. - Ich weiss wohl, dass Leben oder Tod von einem solchen Aus­ spruch abhinge. - Ich überlasse die Entscheidung dem Volk. Vielschichtig. Gebildet. Und nicht: - Arbeitslager! Acht Monate Gefängnis. - Ich glaube, das ist ein angemessenes Statement; was die Rastas anlangt, so sehen wir einige von ihnen in einer Position, die auf religiöser Überzeugung beruht. Andere haben eher einen Lebens­ stil übernommen. Diejenigen, die es als Lebensstil auffassen, hat­ ten bereits Widerstand geleistet, gegen das System, unter dem sie existierten. Auch wir haben Widerstand geleistet. Wir haben zu diesen Brüdern und Schwestern folgendes gesagt: Euer Widerstand sind die langen Haare. Unser Widerstand liegt in politischer Organisation, um das Bestehende zu verändern. Lasst eure Haare so lang wachsen, wie ihr wollt, lebt euer Leben, aber zieht euch nicht aus dem politischen Kampf zurück, löst euch nicht von der Gesellschaft, isoliert euch nicht. Lasst uns Zu­ sammenarbeiten. - Ich halte das für sehr wichtig; die archaische Schönheit dieser Haartrachten wie auch die Schönheit der afro-amerikanischen Riten sind doch ein wichtiger Bestandteil des gesellschaftlichen Lebens der Insel. Solche Lebensformen vermitteln auch eine Iden­ tität. -Ja. - Sie scheinen sogar eine Art Wall zu bilden gegen den Persönlich­ keitsverfall in der technischen Gesellschaft, wie man in Afrika se­ hen kann. - Sicher. - Jetzt kommen unangenehmere Fragen. Während meines Aufenthaltes auf Grenada habe ich die Pünkt-

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liclikeit und die Arbeitsdisziplin der Landarbeiter, überhaupt der Arbeiter kennengelernt. Auf Ihrer ersten Massenveranstaltung im Queens Park hörte ich nun, dass die Arbeiter ihren Gürtel enger schnallen sollten und dass sie hundert Mal soviel arbeiten sollten wie vorher. Ist ein solcher Salz nicht etwas paternalistisch? Schliesslich haben auf Grenada nicht die Arbeiter versagt, sondern ein Teil der Kader. - Ich weiss nicht genau, wie Sie einen solchen Salz verstanden haben. Wir wollen dem Glauben an eine magische Lösung zuvor­ kommen. Die Tatsache allein, dass Gairy weg ist, bedeutet noch nicht mehr angepflanzte Kokospalmen, mehr Bananen, mehr Mus­ kat, mehr Fisch und mehr Tourismus. Was wir meinen: Babylon ist gefallen, aber der Himmel ist noch nicht auf Erden, nur weil neue Gesichter aufgetaucht sind. Es gab die Haltung: Wenn Gairy jeden Cent stiehlt, warum soll ich mich totarbeiten, warum soll ich Steuern bezahlen? - Aber ist das nicht eher ein Problem der Bourgeoisie und nicht des Proletariats? Die Familien auf dem Lande in Grenada arbei­ ten sehr hart. - Missverstehen Sie mich nicht. Wir leugnen nicht die erschreckend harte Arbeit der Arbeiterklasse über die Jahre hinweg. Aber selbst dort, auf den Plantagen zum Beispiel; der Arbeiter sah keinen Grund, warum er sich anstrengen sollte. Wir sagen: Ihr seid die Schöpfer der Revolution - ihr müsst jetzt ihre Hüter sein, denn ihr und eure Kinder werdet die Nutzniesser der Früchte der Revolution sein. Je mehr ihr produziert, desto mehr wird für euch zurückfliessen, denn es wird nichts an der Spitze von korrupten Ministern abgeschöpft oder in der Mitte von Beamten oder von Profiteuren im Privatsektor. Unabhängig davon, was die Arbeiter früher leisteten, sie hatten keinen Teil am Gewinn. - Mir gefallen Ihre Erklärungen besser als der kurze Satz im Queens Park. Am 13. März sagten Sie: Wir haben eine Revolution gemacht für Ernährung, Arbeit, Wohnung, Ausbildung und Gesundheitswesen. Das war eine neue Idee und ein eindrucksvoll gefasster Satz. In letzter Zeit höre ich immer mehr vom neuen Menschen und vom revolutionären Bewusstsein. Was wollen Sie nun wirklich? - Wir sehen das nicht getrennt. Wir glauben nicht, dass unsere Revolution ohne revolutionäres Bewusstsein gelingen kann. Wir 348

haben nicht nur gekämpft, um die Diktatur Gairvs zu beenden, wir haben gekämpft, um unsere Wirtschaft und unsere Gesell­ schaft von Grund auf umzustrukturieren. Wir wollen der grossen Mehrheit unseres Volkes die Möglichkeiten unseres Landes er­ öffnen, im Gegensatz zu dem, was früher geschah, wo eine Min­ derheit die Erträge wegraubte. Die Leute müssen das verstehen. Wenn sie das verstanden haben, werden sie sich selbst verstehen und begreifen, warum sie arbeiten müssen. Wenn sie kein Be­ wusstsein von dem historischen Prozess haben, der stattgefunden hat, werden sie nicht weiterkommen. - Der Unterschied für mich liegt in der verbalen Annäherung. Ich finde es konkreter, wenn man (als Materialist) eine Revolution macht, um Essen und Arbeitsmöglichkeiten zu erstellen, als für ein revolutionäres Bewusstsein. Das kann alles heissen und heisst gar nichts. - Nur wenn wir ein revolutionäres Bewusstsein entwickelt haben, werden wir in der Lage sein, Essen und Brot und Gerechtigkeit, Häuser zu geben. - Es wird viel von Beratern gesprochen. Die Bevölkerung von Grenada hat sich als weise und arbeitsam erwiesen. Es gibt Was­ ser, die Insel hat fruchtbaren Boden und verfügt über eine diver­ sifizierte Landwirtschaft. Wer könnte in der Karibik das gleiche vorweisen? Wer ist eigentlich in der Lage, Grenada in landwirt­ schaftlicher Beziehung oder in moralischer Hinsicht zu beraten? - Ich glaube, man muss beides haben. Klar, Selbständigkeit ist das Beste und je mehr wir uns selbst raten, desto besser. Ich glaube aber nicht, dass wir diese Idee zum Dogma erheben sollten. Wis­ senschaft ist etwas Universelles, Technologie ist universell. Es gibt Modelle, von denen wir lernen können und indem wir lernen, können wir vielleicht Fehler und Niederlagen vermeiden, die an­ dere durchmachen mussten. Wir sollten nicht die Bedeutung von Ratschlägen unterschätzen. Diese Ratschläge müssen unserer Si­ tuation angepasst sein. Es liegt bei uns, welchen Rat wir akzep­ tieren und welchen wir zurückweisen. Indem wir technische Be­ ratung akzeptieren, können wir vielleicht unsere revolutionären Ziele besser vorantreiben. - Sie legen also keinen besonderen Wert auf ideologischen Rat? - Sicher nicht. Ich dachte, Sie sprächen von technischer Hilfe. - Aus technischer Beeinflussung von psychischen und ökonomi­ schen Gegebenheiten kann man doch sehr wohl Ideologie erstellen. 349

- Natürlich. Wir haben einen unabhängigen politischen Prozess eingeleilet. Wir betrachten uns, wie Sie wissen, als Sozialisten. Wie wir diesen Terminus definieren, wird sich in unserem Pro­ gramm und unserer Politik über die Jahre erweisen. Wir defi­ nieren unsere Ideologie durch unsere soziale Praxis. Niemand wird uns dabei helfen, das herauszubilden. - Ist noch Zeit für zwei historische Fragen? -Ja. - Wie beurteilen Sie die Unruhen auf Grenada von 1951? - Wir glauben, 1951 geschah eine Revolution. Eine neue Klasse ergriff die Macht. Die Macht der Plantokratie war zerbrochen. Es gab eine echte Volkserhebung. Das Volk war aus gutem Grund unzufrieden. Es war vom System alieniert worden. Wir glauben, dass Gairy diesen revolutionären Prozess verraten hat. Er hatte ihn nur als Opportunist angeführt. Schon bald begann er mit dem Ausverkauf der Interessen der Leute, die er angeführt hatte. Die Arbeiter hatten nicht nur für höhere Löhne und bessere Arbeits­ bedingungen gestreikt, sondern für eine neue Verteilung des Lan­ des, für eine Landreform. Viele Landarbeiter hatten das Land von Plantagenbesitzern besetzt. Dieser Versuch wurde von Gairy sabotiert. Die Arbeiter glaubten, sie hätten eine Klasse zerbrochen und dass sie jetzt die Klasse an der Macht sein würden. Sie wur­ den schnell verraten. Gairy zerschlug die eigenen Reihen. Gairy schuf eine neue Bourgeoisie, die ihre Basis im Kapital und im Kommerz hatte. Aber wir erkennen an, dass 1951 eine wichtige Periode war. Wir glauben, dass ein wichtiger Prozess stattfand. Wir betrachten uns als die Erben und die Fortsetzer dieses poli­ tischen Prozesses. Wir betrachten die Revolution vom 15. März 1979 als eine Folge der Ereignisse von 1951. Wir lassen Gairy beiseite als eine unwichtige Figur. Nein, er war nicht unwichtig. Er war eine Figur in diesem Geschehen. - 1975 und 1974 widersetzten Sie sich der Unabhängigkeitsbe­ strebung Gairys. - Wir waren nicht gegen die Unabhängigkeit von Grenada. Un­ ser Argument war: Die Unabhängigkeit ist ein wichtiger Schritt. England oder welche koloniale Macht immer, ist unwichtig da­ bei. Die Menschen im Lande selbst müssen daran beteiligt werden, an allen Prozessen, die zur Unabhängigkeit führen, am ganzen poli­ tischen Prozess, am Decision Making, an der Entscheidung, was

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kommt in die Verfassung der Unabhängigkeit, welche Regierung und welches ökonomische System werden auf die Unabhängig­ keit folgen. - Ich möchle mich als ein Schriftsteller der Bundesrepublik bei Ihnen wegen der Vorkommnisse bei Radio Antilleese entschuldi­ gen. Diese Radiostation weigerte sich bei den letzten Wahlen - im Jahre 1976, soviel ich weiß - die Erklärungen der Opposition von Grenada zu senden, nachdem Gairy Ihnen den Gebrauch von Lautsprechern bei Wahlversammlungen verboten hatte. - Radio Antilleese war immer negativ und stand immer gegen uns und gegen jede fortschrittliche Bewegung in der Region. - Glauben Sie, dass es die Möglichkeit einer fruchtbaren Zusam­ menarbeit zwischen Ihrer Regierung und der Bundesrepublik ge­ ben kann? - Ich möchte sehr gerne gute Beziehungen zur Bundesrepublik unterhalten. Ich möchte, dass die bereits bestehenden Beziehun­ gen verstärkt werden. Wir möchten, dass noch sehr viel mehr deutsche Touristen an unsere Küsten kommen. Wir würden gerne mit der Bundesrepublik die Möglichkeit von Entwicklungshilfe diskutieren. - Haben Gespräche zwischen Ihnen und der zuständigen Bot­ schaft in Trinidad und Tobago stattgefunden? - Ich fürchte, nein. Wir hatten noch keinen Kontakt. Botschafter aus aller Welt sind in unser Land gekommen nach der Revolu­ tion. Der Botschafter der Bundesrepublik nicht. Wir haben aber die Absicht, die Beziehung zu suchen, wenn ein solcher erster Schritt nicht vom Botschafter der Bundesrepublik gemacht wer­ den sollte. Unser Botschafter bei den Vereinten Nationen hat bereits mit dem dortigen Vertreter der Bundesrepublik Kontakt aufgenommen. Wir verabschieden uns wie Freunde. - Bis zum nächsten Jahr. - Bis zum nächsten Jahr. Es ist fast zwölf geworden. Wo ist der französische Botschafter?

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Sonntag, den 6. Mai: Torchlight: Wurde die Lehrerin Kathleen Carberry vom Erziehungsminister entlassen, weil sie über die Pläne eines kubanischen Jugendpro­ gramms auf Grenada zu »Torchlight« sprach?

Leroy ist wohl mit seiner Freundin zum Baden. Er schickt den Besitzer des Wagens, dass er uns zu Leader G. bringt. Auf dem Friedhof von St. George’s stehen Soldaten der PRA am frisch ausgeschachteten Grab für den Jungen, der beim Manöver erschossen wurde. Auch in Gouyave Trauergesellschaften wartend vor der Kirche. Sonntags scheint auf Grenada beerdigt zu werden. Der Bus des Leaders G. am Wohnhaus wie ein weiteres Zimmer oder wie ein grosses Haustier. Leader Gabriel ist ein zarter Mann. In seinem Gesicht eine kugel­ förmige Wucherung. Er riecht nach einem mondänen Parfum, aber darunter hervor wittere ich einen ungewöhnlichen Körpergeruch. Er führt uns in seine kleine Kirche. Bunt, ein angemalter Mittelpfeiler, afrikanisch könnte man leicht­ hin sagen, doch fedlen die Farbtöne auseinander. - Nein, afrikanische Einweihungen gibt es auf Grenada nicht mehr. Die Shangopriester lassen die Gläubigen bei den Spiritual Baptists einweihen. Wir wollen schon wieder wegfahren. Er ruft uns zurück. - Wollen Sie den Raum sehen, wo ich die Spiritual Baptists einschliesse ? Das Häuschen besteht aus einem Zweiggerüst, das mit Lehm aus­ gefüllt wurde. Drinnen drei rote Särge, mit Palmenblättern verziert. - Da lege ich die Trauernden rein - von Sonntag bis Mittwoch. Daneben steht ein Autokühler. Zwei Gerüste, auf die grosse Muscheln montiert sind und grün angemalte Korallenfächer - magische Lautsprecher. Auf der Rückfahrt werden wir in einen Trauerzug von tausend Menschen am Meer längs eingefangen. 352

Ein Mann in grünkariertem Anzug geht gegen den Trauerzug an, kommt uns entgegen. Er wedelt mit der grünkarierten Jacke über der grünkarierten Weste und sagt entschuldigend in jedes Auto hinein: — That is too much sun! In St. Georg’s viele Soldaten auf dem Friedhof, belagerungsartig. Die Stadt wie nach der Pest leer. Am Markt die steilste Strasse hinunter steht starr der Trauerzug zum Staatsbegräbnis für den beim Manöver erschossenen Sol­ daten. Oben rechts wird etwas Weisses, Riesiges in die Menge geschoben. Ich will das nicht sehen. Der Fahrer soll schnell abbiegen und wegfahren.

Ein honigfarbener Abend. Ich gehe zu dem einsamen, strategisch wichtigen Haus. Richard ist nicht da. Ein Liebespaar in einem Volkswagenbus. Drüben, jenseits der Bucht St. George’s. Zweimal »paff«! Paff. Paff. Die Salutschüsse über dem Grab des beim Manöver erschossenen Soldaten. Richard kommt, vom Baden. Er hat ein böses zweites Gesicht. Ob er doch in der Geschichte mit dem Einbruch drinhängt? Im Dunkeln plötzlich Rotlicht der Polizei. Aufstand? Rechts in den Cariftabaracken Feuer. Ein Haus brennt. Schnell ist es heruntergebrannt. Drüben auf der anderen Seite in St. George’s wieder ein Brand. Hoch der! Ein dritter Brand weiter rechts. Der schlägt nicht so hoch. Nero fällt mir ein und Jünger, in Paris. Ich kann mir nicht vorstellen, dass man so etwas geniesst. Eine Radioansage nach der anderen.

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Curfew sofort. Kein Grund zur Beunruhigung. Sabotage. Brandstiftung. Ein verdächtiges Boot vor der Küste. PRA wachsam. Kein Weiss tragen. Nicht rauchen.

Lynn: Rupert Bishop, der Vater von Maurice Bishop, hat Gairy seit Aruba finanziert. Rupert Bishop warnte Gairy. Später entzog Bishop Gairy seine Unterstützung. Willie Bishop war der Neffe von Rupert Bishop. Wahrscheinlich hat der Neffe seinen Onkel ermordet.

Lynn bezeichnet das Anwesen von Gairy, wo die Auseinander­ setzung mit Rupert Bishop stattfand, mit »Caliste«. Der Orakelpriester G. hat uns zu einer Zeremonie nach Caliste eingeladen. Am 16. Mai. - Da sind wir nicht mehr auf der Insel. Eine Zeremonie im Landhaus von Sir Eric Matthew Gairy.

Leroy verabschiedet sich. Seine Augen sind kurz nass.

Freitag, den 25. Mai 1979: The Nation: Wie südafrikanisches Geld benützt werden sollte, um Barbados zu erobern! Die Regierung der Nachbarinsel Dominica verhandelte mit Süd­ afrika. 354

Der Führer der Invasionstruppe, Major John Banks, verhandelte in London mit Prime Minister Patrick John von Dominica. Mistress Killy, die Idi Amins Truppen mit Whisky versorgt hatte, erhielt eine Einkaufsliste. Maschinengewehre, automatische Waffen, Handgranaten. Auf einem Meeting, das zur Hälfte von Geheimdienstagenten unterwandert war. begann Mistress Killy von ihrer Einkaufsliste zu sprechen. Der Plan war geplatzt.

Zu Harold Hoyte. - Was ist das, Dominica will mit Südafrika zusammen Barbados erobern und Prime Minister Adams stürzen? - Ich weiss es nicht. - Hat es mit den Ölreserven zu tun, die vor den Inseln gefunden worden sind? - Ich weiss es nicht. Ehrlich, ich weiss es nicht. Ehrlich hat die Kuh gestohlen! - Heute gab es auf Dominica zwei ToLe. Die Beamten streiken. Die Polizei hat sich geweigert einzugreifen. Das Heer ist auf den Strassen losgelassen. - Harold, gib mir ein Interview. - Das wage ich nicht mehr. Du siehst, wie ich hier in der Redak­ tion sitze! Harold greift in die Briefablage und holt einen Trommelrevolver hervor.

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Appendix

Ketzerische Bemerkungen für eine neue Wissenschaft vom Menschen 1976

1. Anthropologie, Ethnologie, Ethologie und die ihnen verwandten Wis­ senschaften behandeln, unterschiedlich, Verhaltensweisen des Menschen. Unter »Logos« versteht man vor allem »Das Wort«. Worte sind Verhaltensweisen. Schon hier ergibt sidt eine Antinomie: Der Typus der Beschreibung und der Typus des Beschriebenen gehen unkritisch ineinander auf. Antinomien können nur poetisch ausgedrückt werden. Wittgenstein versucht: »Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.« Das ist keine mathematische Logik mehr und noch keine Poesie. Shakespeare sagt: »Bleischwinge.« Rimbaud: »Bateau Ivre.« Der Haitianer kennzeichnet die spätkoloniale Situation: »Blanc vini vert!« - »Der Weisse wurde grün!« Oder: »Wie auch Kratylos, der zischte und mit den Händen zuckte, um aus­ zudrücken, dass er wusste, dass er nicht wusste ...« (Ich zitiere Aristoteles.)

2.

Wir brauchen eine vergleichende Studie zu Sprachverhalten, zu Aus­ sageweisen, und zwar sollte man dabei umgekehrt vorgehen wie im Reineke Fuchs: Äussem sich nicht Marabous zur Funktionentheorie? Eichhörnchen zur Psychoanalyse? Klapperschlangen beraten zum Atommüll? Pavian, Puter und Floh geben eine neue Zeitschrift heraus. Ich stecke den Vorwurf des gefährlichen Biologismus, des ungehörigen Darwinismus ein - er setzt ein ptolomäisches Bild des Menschen voraus. * Vortrag gehalten in der Frobenius-Gesellschaft, Frankfurt/Main, am 12. Januar 1977.

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Wenn man das Verhallen des Zivilisierten mit dem Wolf vergleicht, wird, für den, der die Gesellschaften der Tiere kennt, nicht der Zivili­ sierte beleidigt, sondern der Wolf.

3-

Die Unmenschlichkeit, die Verachtung des Sprachlichen gehen in den Wissenschaften vom Menschen so weit, dass es Forscher gibt, die, ohne auch nur Portugiesisch zu sprechen, über den brasilianischen Synkretis­ mus arbeiten, die von afrikanischen Geisteskranken publizieren, ohne eine afrikanische Sprache zu beherrschen - oder gar zu verstehen. Da wird der wissenschaftliche Jargon zur Ausdrucksweise des blanken Neokolonialismus. Er verhüllt Zusammenhänge, anstatt sie aufzudekken, er verdrängt seine ideologischen Reflexe, anstatt sie zu reflek­ tieren. Eine solche Sprache povert aus, quält, und es ist Qual, sie aus sich herauszudrücken - so dass endlich die Verursacher der sprachlichen Um­ weltkatastrophe in ihr mithusten. In der Nachfolge des Existentialismus und des Strukturalismus entstehen Abhandlungen, denen eine gewisse surreale Komponente nicht abge­ sprochen werden kann. Da wird der »lächerliche Penis« der Männer gegen den »glorreichen Phallos« der Frauen - ich zitiere wörtlich - in der Ndoep-Zeremonie ausgespielt. Es ist ein unfreiwilliger Surrealismus, der nicht der Befreiung des Psy­ chischen dient, sondern einer heftigeren Klausulierung, einer Ausliefe­ rung des »Krankenguts«, der »Versuchsperson« an den Wissenschaftler. Hält man dagegen die Sprache der frühen Theoretiker, Verhaltensfor­ scher und Ethnographen - Hesiods, der Vorsokratiker, Herodots - ihren Zauber, ihre Disziplin, ihre Leichtigkeit, ihre Fantasie, ihre Freiheit, ihre Knäppe, kurz: ihre Schönheit, dann begreift man, wie herunterge­ kommen unsere Auseinandersetzung mit der Welt ist, wie herunterge­ kommen das fade Paukerrokoko unserer Hochschulen und Magazine. Sie werden einwenden, unsere Welt habe sich differenziert, die Zusam­ menhänge seien komplizierter geworden, Zeit weniger und teurer Fachsprachen, Sonderzeichen nur vermöchten noch unsere Realität auszudrücken. Schon die Keilschrift und die Tantrik überliefern Sonder­ zeichen, Formeln. Hier geht es um die Metasprache, mit der die For­ meln eingeführt werden, jene Sprache der Wissenschaft, die uns an jeder Ecke die Realität und die Wirklichkeit verstellt, redundant, pompös, feige, feinsinnig. Wer redet uns da ein, nur durch Fachsprachen sei die Welt noch zu erfassen? Was wird damit bezweckt? Die Entmündigung. Die Entmündigung durch eine Sprache der Wissenschaft.

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4Nach 2500 Jahren menschlicher Wissenschaft und Wissenschaft vom Menschen haben sich die Verhaltensweisen nicht geadelt. Sind wir duldsamer geworden? Achten wir die Lebensformen anderer Völker? Genügsamer? Beuten wir den technologisch Unterlegenen weniger aus? Sprechen wir nur mehr Dialekte? Lernen wir von den Erkenntnissen der Indianer, der Afrikaner, der Araber? Von ihren Ernährungsweisen? Ihrer Architektur? Ihrem Städtebau? Ihrem Gesundheitswesen? Verachtung, Sklaverei, Hunger, Hässlichkeit, Zerstörungslust sind seit den Vorsokratikern nicht weniger geworden - nur dass unsere Zivilisation jeden in die Vernichtung mit hineinzieht und nicht nur die Menschen, sondern die Welt auch, Tiere, Pflanzen, Wasser und Luft. Die Sprache des wissenschaftlichen Weltbilds hat sich die Welt ähnlich gemacht, und die Verkrüppelungen in dieser Sprache sind mit verant­ wortlich für die Verkrüppelungen in unserer Welt. Regressionen der Sprache sind nicht nur Ausdruck von Verhaltensstö­ rungen - sie rufen neue Verhaltensstörungen hervor.

5Ich weiss: Wissenschaft muss zwei Postulate erfüllen, soll sie nicht zu verheerender Sektiererei verfallen - das der ungetrübten, genau deter­ minierten Beobachtung und das der logischen Ableitung - im strengen Sinne: das der mathematisch-logischen Ableitung. Doch heisst dies, wissenschaftliche Sprache dürfe sich auf aseptische Ri­ ten zurückziehen, auf quasisyntaktische Litaneien, mit denen sie Unter­ drückung bemäntelt? Ich möchte Sie an die Indianerstämme erinnern, die, guten Glaubens, von Ethnologen befriedet zu werden, ehe man sie ausrottet, und an das Leid der Strafgefangenen und Geisteskranken, die - freiwillig - neuen Psychopharmaka ausgesetzt werden. Wissenschaftliche Stringenz oder pekuniäre? Gäbe es - erkenntnistheoretisch reduziert - nicht vor allem ein Feld, das den Ethnologen zustünde - der Universitätsbetrieb und die wissenschaftliche Tagung? Wie sicher manchem Psychologen geholfen wäre, wenn er nicht seine Kunden als Karnickel betrachtete, sondern sich selbst.

6. Die Grundlagen wissenschaftlicher Ausdrucksweise sind durch die In­ formationstheorie kodifiziert worden; es geschieht ein Blinde-Kuh-Spielen mit dem Unbewussten, dem Unterbewussten, dem Vorbewussten.

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Terror und Hass, Heuchelei und Lüge, Übertreibung und Understate­ ment, Andeutung und Ironie, Bildhaftigkeit und Metaphern finden in der Informationstheorie nicht statt - menschliche Information setzt sich allerdings fast nur aus ihnen zusammen. Wären Wissenschaftler Pennyautomalen für Wahrheit, Ehrlichkeit und Integrität? Warum beichten in den Wissenschaften vom Menschen immer nur die anderen, wie beim Pfaffen? Warum schreitet man nicht von einer statischen Auffassung der Wissen­ schaftlichkeit zu einer dynamischeren fort, zu einer ambivalenten? Also nicht der Schild des Achilles, sondern die Erarbeitung des Schildes des Achilles und die Entwicklung des Darstellenden? Ist es nicht wissenschaftliche Forderung, die Voraussetzungen aufzudekken? Werum gibt dieser Institutsleiter jener Assistentin die Arbeit über den Zeitbegriff? Wer arbeitet warum über Nekrophilie? Ist es eine Schande, einzugestehen, dass man über die Woloff forscht, weil man schwul ist? Doch wohl nicht mehr! Auch das bedeutet ein ethnologisches Faktum, und es wäre Irreführung, es zu verschweigen. Der Forscher, der sich von einer Militärdiktatur drei Monate lang die Studien bezahlen lässt und dafür eine public-relation-Aufgabe über­ nimmt - wer wollte ihn verdammen? Aber man muss es offen darlegen, auch das heisst Völkerbeschreibung. Wenn man es unterlässt, bleibt die Lüge und die bare Käuflichkeit.

Käuflichkeit! Die modernen Abhandlungen vom Menschen erscheinen im milden Licht des interkulturalen Einverständnisses. Jedoch immer rarer werden die Abhandlungen, die auf vieljährigem, diskretem Zusammenleben beruhen; die meisten beruhen auf Blut und Penunse. Carepakete werden vorgeschoben, Fortschritt und gebrauchte Hemden, Menschlichkeit und billige Glasperlenbeutelchen. Das wäre einer Ethnologie wert und würde mehr zur Erkenntnis menschlichen Handelns beitragen. Es ist die Geschichte der Vivisektion, des Strafvollzuges, der Ausrottung der Primaten, die Geschichte von Verteidigungsbudgets und die Ge­ schichte der chemischen Industrie. Käuflichkeit von Wissenschaftlern. Erkaufung von Material und Informationen. Ein weltweites »Palais d’Amour«. Wer forscht es aus? Ein praktisches Beispiel: Ich läse gern an den Schaustücken der Sammlungen, wie sie erworben

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wurden, ob geraubt, ob bei einer Strafexpedition einkassiert, ob zu be­ trügerischem Preis erhandelt, ob von Geistlichen unter dem Vorwand der Teufelei beschlagnahmt und dann im heimischen Museum von Geistlichen als Prachtstück ausgestellt. Und endlich wäre es fruchtbar, wenn alle Forscher, die einen Flirt mit totalitären Gedanken unterhielten oder unterhalten, diesen Flirt im Laufe ihrer Entwicklung nicht eskamotierten - und damit aus dem wis­ senschaftlichen Apparat Veränderung, Entwicklung, Trauer, Reue, Irr­ tum eskamotieren - sondern ihre Kraft auf eine minutiöse Analyse ihres Flirts verwendeten.

7Form. Formale Information. Homer überlegte sich, wie er das entstürzende Gedärm des Schlachtens um Ilion in Sprache übertrug - Euclides da Cunha, wie die Niedermetzelung der brasilianischen Schwärmer. Warum dürfen die Wissenschaften vom Menschen gerade das vernach­ lässigen, was den Menschen - wenn man vom Feuermachen absieht vom Tier unterscheidet: die poetisch komponierte Aussage. Auch Sprachform ist positive Information, und wovon informiert mich die Sprache der positiven Wissenschaften in vielen Fällen? Von Mief, Spiessertum, Blähung und Schnurren! Poetisch freilegen, meine ich - nicht zupoetisieren. Nicht den Wirt wundermild - sondern Lohenstein. Fantasie: Bei den Einweihungsriten der Leopardenmänner müssen einem The Leatherman’s Handbook aus New York und zu Jean Genets Enfant Criminel das Verhalten der Oasis Gabes einfallen dürfen. Redefiguren. Periphrasen. Spielformen. Concetti. Ist es nicht aufschlussreich, neben jedem Hüpfschritt der Shia, die Schwierigkeiten des Ethnologen in Bahrain aufzuzeichnen, der an den selbstzerstörerischen Riten des Mouharram leilnehmen will? Raffung: Haikus drücken oft mehr über eine Gesellschaft aus, als drei Folianten umgestülpter Zettelkästen. Rhythmus. Timbre. Schärfe. Das heisst: Keine Redundanz - aber Verständlichkeit genug. Jede menschliche Tatsache lässt sich so formulieren, dass sie der gut­ willig Interessierte nachvollziehen kann.

3^3

Widersprüche, Lügen, das Unechte, die Übertreibung, das Inkohärente stehen lassen, nicht wegkitten - Zweifel, Niederlagen. Achtung - kein Schulterklopfen: Sich den Königshäusern des Kongo in der gleichen Haltung nähern wie Schiller Philipp dem Zweiten. Jene Tragische Umkehr, von der Hölderlin spricht, als kalkulables Ge­ setz, wo die Tragödie zu sich selber kommt. Das Fragment: Warum müssen wissenschaftliche Erzeugnisse vollständiger sein als ihr Vorwurf? Freiräume, Fehler, Lücken stellen die Frage nach Freiheit und Verän­ derung auf formale Art neu. Die Collage: Die moderne Litanei! Von Litaneien berichtet der Ethnologe, und er benützt das Prinzip der Collage. Spätestens seit Lars Görlings »491« und seit den Newsreels von Dos Passos werden zwei Gattungen aus Technik und News Media poetisch verarbeitet: Das Interview und das Feature. Mit Interviews umgibt sich auch der Ethnologe, und das formal ganz ungeklärte Gebilde der ethnologischen Abhandlung - Statistik, Essay, Erlebnisbericht, Aphorismus, Studentenwitz - lässt sich wohl am ehesten als Feature bezeichnen. Warum verleugnet der Ethnologe seine ästhetischen Möglichkeiten?

Die Wissenschaft vom Menschen könnte ihre Haltung von »Die Stuyvesant-Generation geht ihren Weg« aufgeben. Sie würde deutlich als ein vieldimensionales Gebilde - ein poetisches. Dichterische Sprache - im Gegensatz zur taktischen in Werbung und Politik - entsteht im Augenblick der Aussage neu, zusammen mit dem Gegenstand der Aussage selbst. Die Welt würde nicht länger aufgefasst als ein Supermarket, aus dem man in Halbpfundspaketen einsammelt, sie teilte sich nicht länger in Beschreiber und Beschriebene, Gebrandmarkte. Ethnologische Forschung würde ein dialektischer Vorgang, eine sprach­ liche Correspondance. Zerrütete Persönlichkeiten laborieren in einer kaputten Welt. Das ist die Situation. Hangelnd. Sagen Sie es aus! Erbrechen Sie sich!

8.

Nicht jede wehleidige Anhäufung von Adjektiven bedeutet Neue Sensi­ bilität, nicht jeder geschwätzige Nachexpressionismus Ethnopoetik. Die Schmunzelecken der Verhaltensforscher, die Sommerfrischen der Strukturalisten stehen Jerry Cotton oft näher als Montaigne. 364

Poetische Anthropologie? Petronius. Defoe. Casanova. Chamisso. Stendhal. Thackeray. Prazer. Vor allem Proust und Artaud. Aber auch Dos Passos, Döblin, Genet, Burroughs. Erscheint cs nicht als naiv, ohne lesen und schreiben zu können, über menschliches Verhalten zu publizieren?

9Es gibt nicht nur eine mögliche Erweiterung der Wissenschaft durch poetische Kategorien - cs gibt eine Fundierung des Poetischen durch empirisches und logisches Vorgehen verschiedenen Typus’. Vielleicht wären Literatur und Literaturkritik besser, wenn man Dich­ ter und Kritiker nach der Stichhaltigkeit ihrer Aussagen befragte, wie den Ethnobotanikcr nach der Stimmigkeit seiner Pflanzcnfamilicn. Wenn’s nur klingelt und knattert und in die Friihjahrsauslicferung passt oder in die Kalkulation zur Herbstmesse. Da bringt es einer schnell zum Genie, wenn er vom Glück der Esel in Marrakech dichtet - eine Notiz zur Tierhaltung in marokkanischen Städten transportierte Wahrheit mehr.

Was habe ich von der Ethnologie gelernt? Das unbequeme Nachprüfen. Wo ist die unbekannte Geste, die unbeobachtete Empfindlichkeit, der schädliche Prozentsatz? Auch News Value ist ein ästhetisches Kriterium. Der Gang zum Kopiergerät, die Kompilation der Wochenendausgaben genügt nicht, um den Essay zur Gewalt zu fabrizieren. Pappmache. Und auch ein Klopstock-’Zitat macht noch keinen neuen Brecht. Zur Überprüfung einer einzigen Pflanze vergehen oft Jahre. Zur Beschreibung eines Ritus vielleicht Jahrzehnte. Wie lange arbeitete Proust über Monsieur de Gharlus? Noch immer ist die Obriga^äö da Concicnca der Yoruba in Bahia un­ bekannt. Das unbequeme Nachprüfen und eine seltene, unerhörte Sprödigkcil der ethnographischen Ausdruckswcisc habe ich versucht, in der Völ­ kerkunde zu lernen.

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Tränen zum Tee * Anmerkungen zu »Roots« von Alex Haley 1977

1. Sentimentalität und Unerbittlichkeit sind Teile ein und desselben Ver­ haltensmusters : Vor zwei Jahren weinten Millionen von US-Biirgem an den Femsehschirmen ihre Creamcracker nass, als man Kunta Kinte aus Afrika ver­ schleppte und ihm nach einem Fluchtversuch den halben Fuss abhackte - heute werden die schwarzen Haitianer, nach ihrer Flucht aus dem Re­ gime der Duvalier, von US-Bürgem erst ins Gefängnis gesteckt und dann im Flugzeug zurückgeschafft - in Hunger, Unfreiheit, Seuchen.

2.

Fast 50 Wochen hält sich Haleys »Roots« auf der Bestenliste der New York Times unter der Rubrik »Nonfiction«. Haley ist Journalist. Er kreierte mit Miles Davies das »Playboyinterview« und schrieb, mit Malcolm X gemeinsam, die Autobiographie des Negerführers. Das Nachwort dazu zeichnete Haley allein - eine Analyse des Journalismus, des Rassenhass’ und der Menschenj agd von solcher literarischer Bril­ lanz, dass man sich fragt: Was ist daran eigentlich weniger »poetisch« als an einem Gedicht von Mallarm^ (der für Modejoumale arbeitete) oder an einem Kapitel Proust (der über den Muttermord für eine Ta­ geszeitung berichtete)? Sicher, »Roots« hat die Eigenschaften eines Sachbuchs: Die intellek­ tuelle Entwicklung eines Kindes in Gambien wird geschildert, man lernt Details des afrikanischen Sexuallebens kennen, bis zur Onanie und zur Regelung des Witwenstandes, man erfährt Genaueres über die Einwei­ hungsriten der Mandinka, über Trommelsprache, Tintenzubereitung und das Sauberhalten der Brunnen mit Hilfe von Schildkröten und Fischlein; Haley brennt dem Leser das KZ-Universum des Sklavenhan­ dels ins Gewissen; der blanke kapitalistische Hintergrund wird deutlich - Geburtenziffern schlagen um in die Summen des Cassa-Buches; und deutlich werden die Filter, durch die verschiedene Klassen die Welt wahmehmen. »Herrenhaus und Sklavenhütte« also - aber umgekehrt, richtig her­ * Erstveröffentlichung in DER SPIEGEL, 21. November 1977.

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um, nicht vom Standpunkt eines paternalistischen, sklavcnausbeutenden Anthropologen aus, sondern aus dem Blickwinkel des Unter­ drückten. Ein Sachbuch unter anderen? Wer haute heute nicht sein Sachbuch zusammen, als werde die Fähig­ keit konzise Prosa zu verfassen mit dem Professorengehalt und der Spesenpauschale dazugeliefert. Schmunzelige Apercus über Mao flies­ sen zu den Süsswasserfischen, Noten aus dem Familicnalbum begleiten die Indianerstämme, der Ödipuskomplex kursiert ein letztes Mal in epi­ gonalem, expressionistischem Gestammle. Nein. Der Sachbuchautor Haley verfügt über ein geradezu beschämendes lite­ rarisches Handwerk. Will man durchaus an der altmodischen Einteilung »Schöne Literatur« - »Gebrauchsschriftstellerei« feslhalten, muss man zugestchen, dass es in »Roots« noch andres mehr gibt, dass die Klassifizierung »Sachbuch« hier understated wirkt oder gar ein Gran rassistisch. (In der feinen, schönen Literalur haben sich die Neger gefälligst in »Gio­ vannis Room« einzurichten - was unter die Haut geht, sei ephemer, Völkerkunde, Diskussionsbeitrag - auch heute noch ist das System des Literaturbetriebes ein ausschliesslich weisses.) Haley gelingt, was Capote versagt blieb: Kühles Blut als Mittel der Kunst, eine fast sonntagsschulhafte Mässigung, die neben dem unge­ heuerlichen Vorwurf als List erscheint - poetisch kalkulierte List. Haley lässt die Sklaven selbst ihre Geschichte erzählen, die Unabhängig­ keitswirren der USA, die Revolutionen in Haiti, die Ermordung Lin­ colns - viele und lange Passagen sind in schwarzem Amerikanisch geschrieben; hier, im unverbrauchten Slang zeichnet sich ein neues geschichtliches Bewußtsein für 25 Millionen schwarzer Amerikaner ab sprachliche Unabhängigkeit. Haley setzt wenige, grosse Metaphern: Der Schmied, der Sklave, schmiedet seiner Geliebten, einer Sklavin, eine Rose aus Eisen. In Afrika heissen die Monate Monde, die Jahre, rains, Regen; in der Neuen Welt verwandeln sich die Regen der Fruchtbarkeit in Kiesel, die der verschleppte Kunta in ein Gefäss sammelt, um sein Leben auszu­ zählen - auch eine Suche nach der verlorenen Zeit. Eine kompositorische Eigentümlichkeit Haleys sind sehr kurze Szenen, Verhaltensknoten, wo mehrere Motivierungen durcheinandergezogen werden: Ein verhungerter weisser Stromer wird als Aufseher über die wohlge­ nährten Sklaven gestellt; sie weisen ihn an, wie er sie hart behandeln muss, nm seinen Job zu behalten. Im Gegensatz zu den Kulturen des Viervierteltaktes ist die Kultur der Afroamerikaner synkopisch: Auf eine akzentuierte Überdehnung folgt eine akzentuierte Beschleunigung. 150 Seiten für 16 Kinderjahre in Gambien, 35 Seiten am Ende für die Zeit von 1883 bis 1974. - Unbeirrbarkeit im Ausbreiten, Unbeirrbarkeit im Verkürzen; für jede Genera­ tion wieder die Geschichte von Kunta Kinte: Er ging in den Wald, um

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eine Trommel zu schnitzen, er wurde gefangen, ihm wurde der Fuss abgehackt - abgeschliffen jedesmal durch Zeit und Überlieferung - bis sich schliesslich die Geschichte selbst einholt, wenn der Sagenerzähler in Gambien sie dem Autor von »Roots« erzählt - die Geschichte in der Geschichte in der Geschichte, ein altes manieristisches Prinzip, hier aber nicht x-beliebig weiterzudrehen, sondern notwendig: Das Zusammenfal­ len der oralen Traditionen Afrikas mit den literarischen Traditionen der Neuen Welt.

Ist dem Buch zu wenig vorzuwerfen? Nein. Für eine lebhafte Lektüre bleibt genug zu bemäkeln - und es wäre eine schlimme Milde, wollte man bei Haley, dem Afroamerika­ ner, Fünfe gerade sein lassen: Der Titel erscheint uns als abgeschmackt, der Untertitel ist falsch. Was wurde nicht schon alles an Scholle und Wurzeln ausgedruckt und wieviel Elend damit angerichtet; aber kann Haley etwas dafür, dass wir bei »Wurzeln« an Hans Friedrich Blunck denken und bei »Saga« schon der »Mythos des 20. Jahrhunderts« mitklingt? Das erste Kapitel bestätigt die schlimmsten Befürchtungen: Die afrikanische Mutter hat einen »jungen starken Körper«; viel »hot« und »lush« und »juicy«, »deep musky fragrance« - doch dieser Hauch von Estee Lauder verfliegt schnell. Immer wieder proud, proud, pride. (Was sagte Jimmy Carter? Bert, I’m proud of you. - Was sagte Mrs. Bert Lance, als ihr Mann das Weisse Haus verliess? I’m proud of you all!) Auch ist Black beautiful - ganz gewiss; aber muss der Autor dreimal behaupten, dass die Neugeborenen schwarz, schwarz, schwarz seien, wie ihre Mütter? - Jeder, der an der Geburt eines Afroamerikaners teilge­ nommen hat, weiss, dass Neger hell zur Welt kommen. Es wimmelt von »secret ritual«, »symbolizing«, »tribal taboo« - die unschönen Wörter sind gelegentlich auch sachlich falsch - ein Beweis dafür, dass das Ästhetische moralische Kategorien einbezieht. (Der Trommelbeat ist nicht »hypnotisch« - es sei denn in einem Reise­ prospekt über Haiti!) Gibt es auch in den USA keine Lektoren mehr? Oder hat sich der aus­ gepichte Haley mit den doch wohl ausgepichten Lektoren von Reader’s Digest und Doubleday zu flink geeinigt? Ein Mann, der die Empfindlichkeit besitzt, Wörter als »physical objects« zu bezeichnen, braucht nicht vorzugeben, er habe 7 Generationen in sein Buch »verwoben«; ein Journalist sitzt nicht am Webstuhl. Als Haley bei seiner Rückkehr nach Afrika weint, stellt er die Schutz­ behauptung auf: Let me teil you: I’m a man. Haley entgeht der Idealisierung afrikanischer Zustände oft - nicht im­ mer. Die Überwindung der Stammesschranken sieht er zu rosig; auch glaube ich, dass er sich über den Status der Sklaven in Afrika selbst täuscht: Schwarze wurden auch von Schwarzen gebrannt, gefoltert, ge­

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mordet, eine Königinmutter von ihrem Sohn verscheuert, es gab - und gibt - Stämme, die ganze Stämme ausrotteten oder verschleppten. Haley vermeidet nicht den Rassismus der Neger den Weissen gegenüber. Wie verständlich und wie entmutigend. Ich habe Rassismus kennengelernt und kann keine Begründung finden, warum dreimal der Geruch der Weissen angeprangert wild — von einem Neger, der das blödsinnige Geruchsargument der Weissen gegen die Neger kennt, warum Weisse mit Affen verglichen werden, von einem Mann, dessen Brüder von Weissen mit Affen verglichen wurden, war­ um er sprachliche Eigentümlichkeiten zur Diskriminierung beniitzl. (Als Trujillo in den 3Oger Jahren zigtausend schwarze Haitianer köpfen liess, benützte er als Auslesekriterium einen - vorgeblichen - Sprach­ fehler; doch das lehrt uns schon die Bibel: Schiboleih - Siboleth!) Haley spart die Lynchjustiz in den USA aus, die Kastrationen in unserer Zeit. Gehörten die Negerghettos nicht in den Rahmen der »Saga« für den Reader’s Digest? »Roots« ist ein Buch über Aggression und Bewusstsein. Haley zeichnet die absurden Prügeleien der Pubertätsriten, die weder die Verteidigungsmechanismen der Leute von Gambien wecken, dass sie das Eindringen der Sklavenhändler verhindern, noch Kunta Kintes Aufmerksamkeit so schärfen, dass er nicht achtlos den Häschern in die Arme liefe; Haley zeichnet die Freude der Weissen am Quälen; und schliesslich, nach der Befreiung aus der Sklaverei, die neue Untcrdrükkung in der kleinbürgerlichen Familie: Der eben befreite Neger Tom, der eine Mulattin heiratete, verbietet seiner Tochter, und wenn auch ihr Leben darüber kaputt geht, einen Mulatten zu heiraten. Durchreflektiert, zuendegeführt wird das Thema der Aggression nicht.

4. 12, wenn nicht 20 Millionen Afrikaner sind im Laufe der Jahrhunderte von Deutschen, Franzosen, Engländern, Holländern, Spaniern, Portu­ giesen, Dänen, Nordamerikanern verschleppt worden, schlechter behan­ delt als Tiere, ein Drittel starb auf der Überfahrt in die Neue Welt. Noch heute werden Negern in der ganzen Welt fast ausnahmslos die gleichen Chancen verweigert. Hass und Verachtung bestimmen noch immer die Beziehungen zwischen Schwarz und Weiss. Das rassische Ressentiment ist dem verdrängten Schuldgefühl propor­ tional. Wer kann ein solches Thema behandeln? Man denkt an die Bibel, an Homer, an Tacitus, an Defoe, Melville klar! Wer von den grossen lebenden Autoren? Borges? Genet? Burroughs? Peter Weiss? Ousmane Scmbenc? Sind sie es angegangen? Haley hat es unternommen. Mit zwei grossen Metaphern klammert er seine Arbeit quasi zusammen; Am Anfang die Krokodilsfabel, gegen Ende der Bericht von den Zucht­

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experimentell mit Kampfhähnen: Die Freiheit des Chicken George hängt von den Gewinnen des einen Hahnenkampfes ab. Hier setzt Haley alles ein, was ihm zur Verfügung steht und mit jedem Satz zittre ich für den Autor ebenso wie für seine Figur. Der Kampf misslingt; die Metapher trägt. Im landläufigen Sinne symbolische Darstellungen sind meistens deshalb so schlecht, weil die artistische Schärfe des Symbols hinter der Grösse des Bedeuteten zurückbleibt. Wie kann ein Schriftsteller gleichzeitig den 2. Weltkrieg äussem wollen und die Pest in Oran beschreiben? Haley geht unauffälliger vor als Camus. Die Welt des Hahnenkampfes ist in der Literatur selten dokumentiert worden und indem er sich auf sie beschränkt, gelingt ihm eine so dichte Szene wie die mit dem todkranken Swann vor den Ballschuhen der Oriane de Guermantes. Diese schielt auch nicht nach Höherem und drückt vielleicht gerade deshalb die Lieblosigkeit einer ganzen Epoche aus. Es sind parallele Strukturen im Kleinen und wenn der Leser sie auf die Welt projiziert, ergeben sich deutlich die Beziehungen. (Und eben das ist ein Symbol im wörtlichen Sinn: Zwei Teile, die zu­ sammengefügt eine neue Bedeutung ergeben.) Nie wird die Brutalität des Systems so deutlich wie am Geschehen um Chicken George: Die Kapitalmärkte Europas und Amerikas, mit ihren Puppenherrschern, dem Adeligen und dem Selfmademan und deren gequälten Kreaturen, die, ihrerseits, indem sie Kreaturen quälen, hoffen, sich die Freiheit zu erkaufen und dabei nur tiefer zerrüttet werden. Hat sich etwas geändert? Gesteuerter Irrsinn, gesteuerte Kriege, Vertreter von Psychopharmaka, Waffenhändler? In Somalia? In Äthiopien? Auf Haiti?

5-

Es kann uns nicht erspart bleiben, die Fehler und die Höhepunkte des Buches dialektisch zu betrachten. Die Widersprüchlichkeit der angewen­ deten Kunstformen drückt - und das fast immer bewusst - die Bikontinentalität des Textes noch einmal aus. Haley hat nicht die Saga einer Familie geschrieben; er hat die Entwick­ lung von Bewusstsein dargestellt und die Zerstörung von Bewusstsein schonungslos gegen sich selbst. »Was ein Weisser - touboub - weiss, das wissen sie bald alle«, kenn­ zeichnet der Afrikaner bei Haley das Wesen westlicher Wissenschaft; doch hätte sich der Autor nicht auf die weissen Formen der Literatur eingelassen, hätte er das Schweigen der Afrikaner weiterverfolgt, wäre dies Buch über die tiefste Wunde in der Erinnerung der Menschen end­ lich nicht geschrieben worden. 370

So erhalten die ungeschickten, oder allzu geschickten Wörter »Roots«, »Saga«, »secret ritual«, »Symbolizing«, »tribal taboo« ein neues Ge­ wicht: Sie drücken genau die Situation des Verschleppten aus, der seiner Her­ kunft entfremdet wurde. Ich hoffe, dass die deutschsprachige Ausgabe von »Roots« mehr auslöst als Tränen zum Tee - Reflexion über die aktuellen Formen von Skla­ verei: Es waren deutsche Kaufleute, die zu den ersten Konzessionären des afrikanischen Menschenhandels gehörten, es sind Firmen aus dem deutschen Sprachraum und unterschiedlicher Ideologie, die an den Waf­ fenlieferungen nach Afrika beteiligt sind. »Roots« ist auch der Bericht von der Rückkehr ins Gelobte Land, der Hinkefuss kehrt zu seiner Mutter zurück - eine Reise, von der jeder schwarze Brasilianer, jeder Haitianer, jeder Schwarze in den USA träumt. Nur wenige können diese Reise realisieren - die Erzählungen darüber fallen sehr widersprüchlich aus. Haley bietet seine Variante, journalistisch und voller Enthusiasmus. Die Evangelisten heutzutage sind die Reporter. Es hat inzwischen einige Aufregung um »Roots« gegeben, weil Haley angeblich andre Romane, von Courlander etc., plagiiert hat. Ich schätze Courlander sehr und wünschte seinem Werk eine viel brei­ tere Wirkung. Dennoch kann ich in dem Versuch, Haley wegen des Plagiats den Pu­ litzer-Preis abzuerkennen, nichts anderes entdecken als puren Rassis­ mus. Es ist langweilig, die allen bekannten grossen Plagiate der Weltliteratur aufzuzählen. Wird Brecht angezweifelt wegen »König Eduards des Zweiten«? Norman Mailer wegen seiner zusammengeklauten »Marilyn Monroe«? Den schwarzen Alex Haley, der ein Epochcn-Buch geschrieben hat, ein zum Teil kitschiges Kontinente-Buch, trifft jetzt der Zorn der Gerechten. Ein solcher Zorn der Pulitzer-Juroren doch wohl vor allem, weil ihre literarische Weisheit angezweifelt werden muss. Nicht Haley gehört der Pulitzer-Preis aberkannt, weil er ein wichtiges Buch von Courlander plagiierte, die Juroren des Pulitzer-Preises gehö­ ren gefeuert, weil sie Literatur krönten, die sie nicht kannten.

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Über die afrokubanischen Religionen in Miami * Mai 1978

I.

Die afroamerikanische Kultur gleicht einer barocken Fuge. Themen, Riten umschlingen sich, verschlingen - synkopisch - sich, ver­ kehren sich, werden umgekehrt, besclileunigt, verlangsamt, scheinen sich zusammenhanglos zu überlagern, zu widersprechen - Teile ganz fremd zueinander. Man verliert sie aus den Augen, vergisst sie, bekommt sie nicht in den Blick. Und doch ein Grosses, Ganzes, dass man nur versteht, wenn man mit Pein jedes Teil erfahren hat und den Überblick über Gesellschaften, Kontinente, Epochen zurückgewinnt.

II. Es ist nicht unpraktisch, ein Studium des afroamerikanischen Synkretis­ mus in Miami mit dem Studium der kubanischen Riten zu beginnen, denn Synkretismus heisst in den Schwarzen Amerika ja nicht nur die Vermischung der religiösen Gebräuche der Yoruba, Fon, des Kongo, der Ewe, Woloff, der Abakua, der Kromanti, der Mandinka mit denen der Katholiken, Protestanten und Anglikaner, mit Hinduismus, Buddhis­ mus, Spiritismus und den Riten der Indianer und der Athiopen - Syn­ kretismus heisst immer auch Vermischung von Lebenskategorien und Lebensformen: Herrenhaus und Sklavenhiittc, Menschenfresserei und Duldsamkeit, Machismo und Schwulität, Innigkeit und Kommerz; Syn­ kretismus heisst hier aber vor allem Exil. Das Exil der Afrikaner in der fürchterlichen Neuen Welt, das aberma­ lige Exil der Afrokubaner. Miami — das Exil der Exilierten.

* Erstveröffentlichung in DIE ZEIT, 9. März 1979.

372

Aber man kann den miamiensiseben Synkretismus nicht nur als äusserste Vermischung aller Kategorien ansehen und deshalb zum Ausgangspunkl nehmen. Die afroamerikanischen Religionen auf Kuba waren und sind noch wohl das dichteste Geflecht religiöser Zeremonien in den Schwarzen Amerika, an Häufigkeit dem haitianischen Vaudou, an formaler Vielfalt den Riten von Brasilien überlegen.

Vergleicht man die Liste der afrikanischen Völker auf Kuba mit einer haitianischen, so stehen die Yoruba und ihre Stämme, die Ibo, Efik, die Fanti-Aschanti, die Ewe, Mina, Fon, die Kongo, Mayombe, die Angola, die Bambara, die Mandinka, die Diola, die VVoloff - etwa 50 insgesamt gegen fast gcnausoviclc im Vaudou und oft dieselben. Der aussergewöhnliche Formenreichtum der kubanischen Religionen kann also nicht allein auf ethnische Vielfalt zurückgeführt werden. Duldsamkeit der weissen Herrscherklasse und des Kolonialkatholizis­ mus? Wohl auch nicht nur! (Noch heute sind die Gefässe für das Allerheiligste der Eingeweihten Töpfe, Suppenterrinen und Zuckerdosen. Das kann ich nur so deuten: Die Hütten der Sklaven waren, besonders nach Aufständen und Straf­ taten, vor gründlicher Durchsuchung nicht sicher. Um das Geschirr in der eigenen Küche kümmerten sich die Herrschaf­ ten weniger und so waren vielleicht dort heilige Steine, Nüsse, Toten­ köpfe besser verborgen.) Seit der Verschleppung von Afrikanern nach Kuba - und das vor allem seil der Mitte des 18. Jahrhunderts - ist der Einfluss der Yoruba, der Lucumi, wie sie sich auf Kuba selbst nennen, der vordringlichste. Sic teilen ihre Geistlichen in die Trancepriester, die Santeros, und die Orakelpriester, die Babalawos. (Zur Zeit der Revolution Fidel Castros soll es auf eine Bevölkerung von fast sieben Millionen 4 bis 5000 Babalawos gegeben haben, die zum grossen Teil Castro begeistert gefolgt sind und sich erst 1961, nach der sogenannten Hinwendung Castros zum Kommunismus, von der kuba­ nischen Revolution lossagten.) Auch die Sekten der Arara waren im 18. und 19. Jahrhundert sehr mächtig. Es sind Fon, die sich nach der Stadt Allada in Dahomey be­ nennen. (Auf Haiti entstand die Sekte der Rada.) Es gab drei berühmte Cabildos Arara: Dajome, Maguino, Sabalou (nach Willito Fernandez). Der Präsident Menocal zerstörte sie im Jahre 1916. Seit 1920 gibt es auf Kuba keine Verfolgung der afroamerikanischen Kulte mehr. Viele Babalawos rekrutierten sich aus den Cabildos der Arara. Überhaupt: Vermischung der Rassen, der Stalussymbole, der ethni­ schen Eigentümlichkeiten scheint für Kuba bezeichnend, was auf der

anderen Seile Chauvinismus, Spiessertum, Prüderie nicht ausschliesst. Im 18. Jahrhundert halten die Neger keinen Zutritt zu den Freimaurer­ logen; später gab es Logen der Schwarzen. Die Reformen des Priesters Andres Facundo Cristo de los Dolores Pelit, eines Mitglieds der Geheimgesellschaft der Abakua, der eine neue Geheimgesellschaft, die Kimbisa oder Kimbinsa 1863 (Lydia Cabrera) gründete, sollten wohl eine doppelte Funktion erfüllen: Sie ermöglich­ ten, das ist bekannt, den Weissen den Zugang zu den Riten der Neger von Calabar - brachten sie nicht aber auch die Neger in engeren Kon­ takt mit Riten, die der Freimaurerei ähnelten? Ich möchte die Hypothese weilertreiben: Waren die Freimaurerlogen auf Kuba marlinistische? Der Logengründer Martinez de Pasqually starb 1779 im nahen Portau-Prince. Die Zauberzeichen des Vaudou, die Wewes, für die es bisher nur eine zögernde und undeutliche Ikonographie gibt, gehen vielleicht auf martinistische Geheimsymbole zurück. (Diese Symbole stammen ihrerseits aus der Virga Aurea - Frazers »Gol­ denem Zweig« - aus der Vatikansbibliothek!) Seil 1900 nimmt der Einfluss der Weissen in der Santeria zu. Zu gleicher Zeit reformieren Negerpriester, wie die berühmte Latoa und der homosexuelle Oba de Meye, die schwarzen Religionen. Sic glätten, wie Lydia Cabrera annimml, das als allzu barbarisch Emp­ fundene, die Kleidung der Gläubigen wird das Weiss, das Blutbad wird vielleicht zurückgedrängt. Seit etwa 30 Jahren nimmt der Einfluss des Spiritismus zu (Cabrera). Die Riten der Kongo, des Mayombe, des Palo Monte, der Mayombe Cristiano - Weisse Magie -, der Mayombe Judio - Schwarze Magie, der Kull des Endokc waren fast genauso verbreitet wie die Riten der Yoruba. Die Mitglieder des einen konnten auch ans andre glauben. Andres Petit versuchte in der Regia Kimbisa des Santo Cristo de Buen Viaje einen Synkretismus aus Christentum, Kongo und Geheimsekten der Abakua, der Nanigos. Heute kommen Gesten der Yoruba auch bei den Kongo vor: Das öffnen der Augen zum Beispiel mit Hilfe des Ala, des Mcnsu, des Bauchfells des Widders. Gelegentlich wird eine Sekte der Felix Guzmän erwähnt (Manolo Galcras), wo man Blulpakte schliesst, wie in den anderen Geheimgesell­ schaften auch. So differenziert und vielschichtig die afrokubanischen Riten immer wa­ ren, es soll schwarze, gläubige Kubaner gegeben haben, die nicht wuss­ ten, dass sic aus Afrika stammten, andre, die nicht wussten, wo Afrika lag, und viele, die ihren Volksstamm nicht nennen konnten. Das neue Exil in Miami, die bequemere Anreisemöglichkeit für jüngere Anthropologen, hat bei vielen der zwiefach Exilierten, auch vor Haley, die Erkundung ihrer Herkunft ausgelöst.

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IV. Miami, 1978, ist endgültig in. Nachdem schon die Marx Brothers mit The Coconuls, 192g, und Hitchcock mit Notorious, 1946, unternommen hatten, es den Happy Fcw nahezubringen. Eine Stadl, die in den Winlermonalen ihre Einwohner um Hunderttausende von Greisen vermehrt, der Ruhesitz der Silent Majority - und der Mafia - der Sommeraufenlhalt von Nixon und Hef­ ner, Miami zieht nun, wo Rom, New York, Caracas so unsicher, das internationale Spitzenmanagement an, und zwar weniger als eine prikkelnde Megapolis, sondern mehr, weil es Law and Order der nord­ amerikanischen Südstaaten verspricht. Anita Bryant schaffte es 1977 durch eine Anti-Schwulcn-Kampagnc, dass man Homosexuellen Anstellung und Wohnung verweigern darf. Hier kaufte sich Axel Springer in ein Condominium ein; hier bringen venezolanische Wirtschaftsbosse ihr Geld in Sicherheit; hier macht die Familie des haitianischen Präsidenten ihre Wochenend­ besorgungen; hier lässt sich der gestürzte haitianische Innenminister Cambronnc - Le mot de Cambronne - nieder, mit einigen zig aus dem hungernden Volk gepressten Millionen. Doch Miami ist nicht nur der Wohnsitz von Millionen Kassenpatienten, von millionenschweren Mördern, Waffenhändlem, Erpressern, Zeilungsverlegcrn und Industriellen - es ist die Zufluchtsstätte von Juden, Nazis, Ugandesen, Haitianern (die verhungert und verdurstet aufgefischt werden und als illegale Einwanderer ins Gefängnis gesteckt und oft zu Hunger, Folter, Hinrichtung nach Haiti zuriickgeflogcn), von Ku­ banern, die der Staat mit Geld, Wohnung, Freiticketts versieht; die un­ zähligen Konterrevolutionäre, das Luis Boitcl Commando, die Brigade 2056 beziehen ihr Geld von den amerikanischen Geheimdiensten - oder von den chilenischen, wenn es nicht vom amerikanischen Präsidenten persönlich kommt, ob der nun Eisenhower, Kennedy oder Nixon heisst. Halb Miami spricht spanisch; Führerscheine können auf spanisch ge­ macht werden. Fidel Castro, so der letzte Schwank, soll über eine Bank in Miami den karibischen Rauschgifthandel stimulieren. Ghettos der nordamerikanischen Schwarzen gibt es hier ebenso wie Ghettos der Haitianer und der Schwulen. Bewachte Ghettos. Vor Anita Bryants Rolls Royce steht ein Polizist wie vor dem Orgien­ wald auf Virginia Key.

V. Ausfransung und Neu-Konsolidierung der kubanischen Ri len in Miami haben noch keine sorgfältige anthropologische Untersuchung erfahren.

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Dies hängt wohl mit einer altmodischen Auffassung von der Wissen­ schaft vom Menschen zusammen. Das Echte, das Alle, das Ursprüngliche werden höher bewertet als das Gemischte, das Ephemere, das Verfälschte - so als ob nicht auch die Mysterien von Delphi, das Christentum und der Buddhismus unreine und unursprüngliche seien. Die Teilung in echte Vodoun zum Beispiel und Touristen-Vaudou geht an afroamerikanischer Kultur ebenso vorbei wie an rituellen Vorgängen des Alltagslebens. Die afrokubanischen Religionen üben schon seit einem halben Jahrhun­ dert wenigstens einen Einfluss in der Karibik aus; wir finden ihre Riten in dem Maria-Lionza-Kult von Venezuela, in Key West soll es schon vor Fidel Castros Revolution und Castros Exilierten Santeria gegeben haben, zwischen Haiti und Kuba hat lange, vielleicht seit Beginn der Sklavcnzeit ein kultureller und kultueller Austausch stattgefunden. Gepuscht wurde der afrokubanische Einfluss 1959, durch die Revolution Fidel Castros. Die ersten kubanischen Exilierten brachten ihre Riten in die USA, nach Mexiko, Venezuela, Puerto Rico etc. Eine Verstärkung erfuhr dieser neue Einfluss 1961, durch die Hinwen­ dung Fidel Castros zum Kommunismus - wie die Exilkubancr es nen­ nen; eine zweite Klasse von Kubanern, darunter Freunde und hohe Beamte des Maximo Leader, flohen in die benachbarten Länder. Die Hauptzenlren der afrokubanischen Religionen im Exil sind heute: Miami, New York, Tampa, New Jersey, Kalifornien, Mexiko, Puerto Rico, Caracas. (Die Santeria soll sich erst in New York neubegründet haben und nach Miami zurückgewandert sein und von dort nach New Jersey ausge­ strahlt haben.) Etwa eine Million Kubaner leben im Exil, davon kann ein Drittel als santeria-gläubig bezeichnet werden. Es gibt an die tausend Priester der afrokubanischen Religionen im Ausland, einige Hundert in Miami (Lydia Cabrera).

VI. Alle Sekten, Riten der afrokubanischen Religionen haben im Exil ihre Vertreter. Die neuen Lebensumstände bringen Schwierigkeiten und Möglichkeiten, die Akzente verschieben und neue Formulierungen schaffen. Die Schwierigkeiten: Die revolutionäre kubanische Regierung erlaubte den Regimeflüchtigen nicht, alle ihre religiösen Utensilien mitzunehmen. Einzelne heilige Ketten, Muscheln, Steine konnten durch die Kontrollen geschmuggelt werden, grössere Devotionalien und Paramente, Einwei­ hungsroben, üppige Perlcngehängc, heilige Suppenterrinen und Zucker­ dosen, Bluttöpfe, vor allem aber das Olofi mussten Zurückbleiben. Das Olofi verkörpert die geistliche Kraft des Schöpfers aller Dinge. Es

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ist die höchste Reliquie der afrokubanischen Religionen, Herstellung und Ingredienzien wurden angeblich aus Afrika tradiert, insgesamt gab es etwa 20 Olofis in Kuba, die an 20 der höchsten Orakelpricster ver­ erbt wurden. Das Wissen um die Herstellung der Olofis halte sich verloren; einige Exilkubaner behaupten, dass es einen einzigen Neger auf Kuba gebe, der ein Olofi herstellen könne. Es handelte sich um eine Metalldose, etwa in der Art eines Farbtopfes, mit geheimem Inhalt, darunter einem Stück Knochen vom Hinter­ kopf eines Elefanten. Das Olofi darf nicht in Berührung mit Frauen kommen. Es darf nicht in einem Raum aufbewahrt werden, den Frauen betreten. Jeder Versuch, ein Olofi aus Kuba im Diplomatengepäck oder durch Stewards herauszubringen, ist bisher gescheitert. Ohne Olofi aber kann kein wirklicher Orakelpriester, Babalawo ge­ weiht werden. Die Weihen zum Babalawo finden in Miami nur halb statt, die alten Babalawos sterben dahin. In Miami geweihte Babalawos gelten nichts, stellen ein schweres religiö­ ses Problem für die Gläubigen dar. Eine neue Variante des Synkretismus entsteht. Weiter: Die Kubanischen Kultpflanzen und Opfertiere sind in Miami rar oder unauffindbar. Man hilft sich - wie sich die Afrikaner ehemals auf Kuba halfen - durch Ersatz oder Neuzüchtungen. Papageienzucht, Jutiazucht. Der Staat und die Tierschutzvereine gehen gegen die Hundeopfer für Ogum vor. Es gibt Geld- und Gefängnisstrafen. Der Verkauf von heiligen Tieren wird plötzlich polizeilich verboten. Lärmgesetze untersagen das Trommeln zur Nacht. Arbeitsdisziplin und Modekodex der USA erschweren das Scheren zur Einweihung und das wochenlange Einschliessen. Die Einweihungsschnitte in die Kopfhaut sollen in einem Fall zu schwe­ ren Infektionen geführt haben, die wurden öffentlich, seither vermeiden die Priester solche Schnitte.

Einer »Verbürgerlichung« der ohnehin nicht sehr umstürzlerisch ge­ stimmten afroamerikanischen Religionsgruppe kommt die Tendenz zur Eingemeindung von Sekten in den USA entgegen. Reformbewegungen, die es auch in Kuba, durch Andres Petit, Oba de Meye, Latoa schon gab, die primitive Riten veredeln, grausame Zere­ monien vermenschlichen wollen, sind auch in Miami häufig. Viele Exilkubaner streben danach, eine »Kirche« der Lucumi zu grün­ den — mit US-Status, Law Office, Stempel und Zulassungsschein. Am Rande der Stadt, in den Sümpfen stellt man Wohnwagen als Kapel­ len auf. Der Alligator, auf Kuba eine Art Totemtier, auch Opfergabe, wird in Miami gefüttert, in den Kult wird er nicht mehr einbezogen.

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Auch keine Schlangen, Kröten oder Wildkatzen. Man spricht von einem »Löwenopfer« als Skandal. Die Dcvolionalienhandlungen mit den Schildern der grossen Kredit­ karten im Schaufenster und Sonderangeboten in heiligen Steinen sind das deutlichste Zeichen für eine unerbittliche Kommerzialisierung. Ich kenne 14 solcher Bolanicas, sicher sind es 20, wenn nicht mehr. Es gibt zwei Grosshandlungen für Opfertiere. Einweihungen kosten bis zu 15 000 Dollar. Der Priester fährt Mercury, er telefoniert mehr als er betet. Der Blutlopf eines Mayombcro in New York wurde ans Elektrizitäts­ netz angeschlossen, nähert sich ein Gläubiger, um zmn Gott Siete Rayos zu beten, betätigt der Palero einen unsichtbaren Fusshebel und der Topf fängt an zu knattern und zu dampfen. Misstrauen und Spitzelwcsen kennzeichnen die afrokubanische Reli­ gionsgruppe in Miami. Da verdächtigt jeder jeden der Spionage, des Rauschgifthandels, der Zugehörigkeit zur Mafia oder zum CIA, der Scharlatanerie, der Homo­ sexualität. Kein Priester, der nicht schlecht von jedem anderen spräche, kein Homosexueller, der nicht jeden anderen als unmännlich verschriee.

VII. Was wäre wichtiger für afroamerikanische Kultur als die Trommel und das Trommeln. Die Trommel ist ein Gott. Sie isst. Sie schläft. Sie singt. Sie spricht. Es gibL Trommelsprachen, welche die Geschichte des Stammes erzählen. Es gibt Trommclsprachen, die, morscartig, vor Feinden warnen und Freunde ankündigen. Das Trommeln verändert den Herzschlag. Das Trommeln ruft innersekretorische Ausschüttungen hervor, beein­ flusst Verhalten und Bewusstsein. Die Trommeln sind vor Miami durch politische Polizei, Zoll, Heallhinspection etc. weggekämmt worden. Schallplaltenmusik ersetzt in vielen Festen der Exilkubaner die Trom­ melei. Aus zwei Gründen: Pekuniären und geistlichen. Man kennt zwei Arten von Trommeln und Trommlern - die Tambores de Fundamento, den Toquc de Fundamento, zu dessen Rhythmus nur die Eingeweihten tanzen dürfen und den Guiro sin Fundamento, zu dem jeder tanzen darf. In Miami existieren drei Gruppen von Trommlern. Ein alter Babalawo mit seinem Sohn soll nur Tamborcs de Fundamento besitzen.

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Die zweite Gruppe gibt vor, einen Salz von Tambores de Fundamente zu besitzen. Eine dritte trommelt nur sin Fundamento. Ausserdem ruft man eine Gruppe aus New York, mit zwei schwarzen, eingeweihten Nordamerikanern in den Süden. Die geistlichen Trommelcicn sind fiir viele unbezahlbar teuer geworden. Tn Kuba kosteten die Toques 7 Pesos, 7 Dollar, später bis 70 Pesos. Heute in Miami kostet ein einfacher Guiro 500 Dollar, das Trommeln für einen Toten mehrere Tausend Dollar. Es unterbleibt meistens.

VIII. - In Miami gibt es mehr Yorubagläubige als in Nigeria, sagen die einen. - In Miami gibt es mehr Götter als im Himmel, die anderen. Die psychischen Bedrängnisse der exilierten Exilierten mögen die Em­ sigkeit erklären, mit der geweiht und entrichtet wird. Die alten Santeros und Babalawos sterben hinweg und mit ihnen die alten Götter und Riten, aber täglich wird zehnfach nachgewciht. Die afrokubanische Religion der Lucumi, wie sich hier die Nachfahren der Yoruba aus Dahomey und Nigeria bezeichnen, greift früh nach dem Einzelnen. Bereits im Leib der Mutier kann das Neugeborene ange­ bunden - amarrado - werden. Der Babalawo knotet ein Palmblatt, weiht cs mit Kakaobutter und Ho­ nig. Eine Kerze brennt. Andre stellen die Suppenterrine für Ochun auf den Bauch der Schwan­ geren. Vier Kokosstücke - die Kokosstücke Ochuns - werden geworfen und die Zukunft des Embryos gelesen. Es gibt eine Taufe der Lucumi - entweder mit dem heilgen Kräuter­ absud Omiero (Ramon Sanchez) oder mit Meereswasser am Strand (Manolo Galeras). Eine Rogacion de Cabetja findet statt, eine Masse aus Kakaobutter, gekauter Kokosnuss, Honig, Räucherfisch wird auf den Kopf des Neu­ geborenen gebracht. Afrikanische Gebete. Der Babalawo sagt die Zukunft des Neugeborenen aus den Figuren der Wahrsagekette Ekuele. Als nächstes kann man das Kleine »registrieren«. Der Santero wirft das Los aus den 16 Kauris. Danach erhält es die Perlenketten. Verlangt ein Gott das Kind als sein Pferd, gibt man ihm eine besondere, bunte Kette, die Collares de Mazu. Für die Übergabe der Ketten braucht man einen Paten und eine Patin. Es ist eine kurze Zeremonie, ohne Trommeln. Gelegentlich wird der Novize in weisse Laken gehüllt. Einige Monate später kann das Kind die Krieger, die Guereros bekom­ men, zum Schutz, zur Stärkung, geistliche Objekte, welche die Kraft der Götter enthalten.

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Unter dein Namen Guereros fasst man die Götter Elegba, Ogun, Ochossi, Ossun zusammen. Man gibl auch Elegba gesondert. Von dem phallischen Golt der Nigeria­ ner, als Muddhaufen dargestellt, ist in Miami ein kleiner Betonkopf nach, Augen, Ohren, Mund und Nase aus einzemenlierten Kauris. Einige erhalten den geheimnisvollen Gott - oder die geheimnisvolle Göttin - Olokun, der uns bei den Babalawos wiederbegegnen wird. Die Paten der frühen Zeremonien können später auch als Paten der Initiation auftreten, sie müssen es nicht. Die Einweihungsriten der Santeria ähneln den Zeremonien des Candomblö in Brasilien, des Shango auf Trinidad. leit brauche hier meine Beschreibungen aus »Xango« und die Berichte von Lydia Cabrera nicht zu wiederholen. (In Kuba soll, so berichtet Lydia Cabrera, der dem Gott Babaluaye Geweihte zur Einweihung begraben worden sein, oder wenigstens unter ein Tuch gelegt oder auf den Müllhalden ausgesetzt - dieser Ritus könnte als Vorläufer gelten für den sonst unerklärlichen Ritus der Velacidn, des Vclalorio in Venezuela, wo schon früh ein Einfluss der Santeria aufgetreten ist.) In Miami schwimmen, nach der Presentacion al Rio. die alten Kleider der Novizen die Flüsse hinunter und lösen bei der Polizei des Staates Florida Fahndungen nach Ermordeten aus. Die letzten, noch über den Tod hinausreichenden Riten der Lucumi. das Itutu, wird am Sarg erledigt. Ein Blulopfcr entsühnt Echu, den Totenbegleiter, im Ödland, auf dem Berg, im Wald. Alle von dem Verstorbenen Eingeweihten müssen sich von seinem Nach­ folger die Hand des Toten oder die Träne des Toten entfernen lassen: Quitar la mano del muerto. Quitar la lagrima del muerto. Der Eingeweihte kann bereits nach einem Jahr, als Santero, in Miami Einweihungen vornehmen. Und das tut er auch ausgiebig. Von dieser geistlichen Entwicklung des Santero zweigt sich der Weg zum Babalawo, zum Orakelpriester ab. Frauen sind hier nicht gänzlich ausgeschlossen. Sie können einen Grad der Einweihung erhalten und als Gehilfinnen an den Arbeiten des Babalawos teilnehmen. Der Weg des Babalawos zeichnet sich schon früh durch das Los der Kauris ab. Ein Babalawo selbst benützt nie die Kauris, er benützt das Ekuele und die Palmkeme zum Weissagen. Eine Frau erhält nur einen einzigen Palmkem. Dies Kofa zu übergeben ist eine kleine Zeremonie. Die Frau betritt am Freitag den Tempel. Der Babalawo greift aus seinen Palmkemen ihr Los. Es wird auf ein kleines Holztäfelchen mit Namen und Datum geschrie­ ben. Ist bei der Befragung der Palmkerne ein höheres Zeichen heraus­

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gekommen, erhall sie zwei Kerne, handelt es sich um ein niederes Zei­ chen, nur einen Palmkem. Täfelchen, Palmkeme, ein Kieselstein, Ola, und die beiden Schädel der Opferhühner werden in einer Zuckerdose aufbewahrt. Am Sonnabend ruht die Eingeweihte sich aus. Am Sonntag verlässt sie den Tempel wieder mit ihrer heiligen Zucker­ dose und mit einer grüngelben Perlenkette des Gottes Orunmila. Sie heisst jetzt Apertevi des Gottes Orunmila. Ein oder zwei Palmkerne werden in Afrika nicht den Frauen gegeben diese stellen den ersten Grad der Einweihung der Männer dar. Ein Babalawo darf nie eine Trance gehabt haben. Er kann Santero gewesen sein, Ararapliestcr oder Mayombero - aber er darf nie einen Gott erhalten haben - in der Trance - und darf nie einen Gott weitergegeben haben - durch die Einweihung eines No­ vizen. Olofi, Orunmila, Olokun, die wichtigen Götter der Babalawos steigen nicht in die Köpfe ihrer Pferde hinunter. Ein zukünftiger Babalawo wird besonders der Presentacion de los Tambores ausgesetzt, denn kein Gott kann den Trommeln widerstehen äusser Olofi, Orunmila und Olokun. Wird der Novize ergriffen, kann er nie Babalawo sein. Wenn nicht, muss er sich den alten Babalawos vorstellen, die bei seiner Einweihung teil­ nehmen sollen. Nicht weniger als 17. Bei meinem Informanten waren es 42. Man kundschaftet seine Lebensführung aus.

Ob er Manns genug ist. Kein Homosexueller wird zugelassen. Zur Einweihung lädt man vier oder fünf Häuser ein, die ein Olofi be­ sitzen. Kinder sollen nur zum Babalawo geweiht werden, wenn sie in Schwie­ rigkeiten sind, wie die vom Tode bedrohten Abikuno. Oft gibt man »beide Hände« auf einmal. Gelegentlich gibt man nur »eine Hand« - Aguo Fae, ig Palmkeme in einer Suppenterrine. Diese 19 Ikini sprechen nur zweimal im Leben eines Babalawo - zur Einweihung und wenn er gestorben ist. Die wichtigere Zeremonie wird bei der Übergabe der zweiten Hand vollzogen. Am Donnerstag kommt der Novize in den Tempel und schläft dort. Opfer - Ebo. (Mit Ebo wird man geboren, mit Ebo stirbt man.) Jeden Morgen badet man ihn in Omiero, auch muss er wm Omiero trinken. Am Freitag liest man ihm das Zeichen Ita. Ihm werden die Augen verbunden, man führt ihn in der Wohnung des Babalawos herum, sagt: - Vorsicht, der Steint

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- Vorsicht, das Möbel! - Vorsicht, das Loch! Er betritt die Einweihungszelle Bordu. Man selzl ihn auf eine kleine Bank in einer Balje und schert ihn. Wäscht ihn. Opfer von vierbeinigen Tieren. Der Babalawo schneidet ihm kreuzweise in die Kopfhaut. Waschen. Die schwarze Tafel des Gottes Orunmila, die Tafel Atena wird mit den sechzehn Zeichen des Gottes bemalt. Die Babalawos nehmen den Novizen etwas zur Seite und bemalen sei­ nen Kopf bis zu einer bestimmten Linie mit weissen Zeichen. An die Grenzlinie bindet der oberste der Babalawos - Oba - einen Fa­ den mit einer roten Feder. Inzwischen sind auf die 16 Zeichen der Tafel Atena sechzehn Häuflein aus geräucherter Jutia, geräuchertem Fisch, Kokos, Vogelblut, Pfeffer, Federn angerichtet worden. Er muss diese sechzehn Häuflein essen. Am Sonnabend ruht er sich aus. Am Sonntag zieht er aus den 20 Palmkernen der zweiten Hand (16 für ihn, vier für Ifa) sein Lebenslos, drei Zeichen im ganzen. Am siebten Tag - Yoye - eine Art Sä- oder Ackerbauzeremonie. Es ist das letzte Mal, dass er den Acker bebaut. Mit einer Haue schlägt er in Kräuterhaufen und findet darin Kokosschalen mit Geld, die er versucht, schnell ins Einweihungszimmer zu bringen. Dabei muss er Rutenlaufen. Die Babalawos haben sich aufgestellt und schlagen ihn oft hart mit der Sklavengerte Rasca Barriga. Dann ein grosses Festessen. Wettgesänge der Babalawos. In einer Schüssel werden Essensreste und Geld gesammelt und an die Tür gelegt. Für die Toten, für Echu. Der neue Babalawo hebt nun die Palmkerne seiner beiden Hände in der Suppenterrine auf. Das Los der ersten Hand wird zerbrochen, das Los der zweiten Hand hinzugefügt. Aber der intelligente Babalawo behält den Sinn des ersten Loses im Kopf und richtet sich auch danach. Den nächsten, den höchsten Grad erreicht ein Babalawo durch die Über­ gabe des Olofi. Auf Kuba gab.es etwa 20 Babalawos, die ein Olofi hatten. Drei dieser Babalawos sind im Exil, darunter der einzige Weisse. Aber der magische Gegenstand selbst ist auf Kuba. Die Übergabe des Olofi dauert eine Woche. Es ist eine einfache, wenig spektakuläre Zeremonie. Diese Adjudicacidn beginnt mit einem Essen für die Ahnen - alle toten Babalawos der geistlichen Familie.

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Es wird ein Hammel geopfert. Der Hammel stellt den Menschen dar. Das Opfer wird in ein Loch in der Erde getan. Der Babalawo gebietet nun über alle Götter der Yoruba und die der Kongo.

Selten wird eine Opferzeremonie für Olokun veranstaltet, zu der man einen Hirsch opfert. Die Novizen des Gottes Olokun weiht ein Babalawo ein - nicht ein Santero. Dazu braucht man besondere Gewänder. Und die Masken - Tin - Olokuns sieben Masken. Es gab auf Kuba einen besonderen Priester, der diese Masken Olokuns verwahrte.

Der Babalawo heilt Geisteskrankheiten. Er liest die Zukunft. Assistiert bei der Barbaria der Einweihung, wenn die Novizen gescho­ ren werden (majubar). Schlachtet die Opfertiere bei der Matanza. Liest das Schicksal der Iawo. Der Babalawo liest am Ende des Jahres die Letra de l’Ano. Am 26. Dezember wird Orunmila gefragt, was man machen soll. An 16 Orten wird geopfert: Mar, rio, pozo, monte, lina, luna, carcel, cementerio, hospital, 4 esquinas, canjo, muerto, carretera, iglesia, manigua, tejado (techo). Am 50. Dezember liest er für alle verstorbenen Babalawos eine Missa Espiritual. Am 31. Dezember stellt er eine Kerze für Olofi auf. Am 1. Januar liest er die Letra del Ano. Drei Zeichen: Das erste: Formar la letra. Das zweite: Gut oder schlimm. Das dritte: Das zweite bestätigen. Die Zeichen werden von rechts nach links geschrieben. Für das Zeichen des Jahres näht man - in der Art der Applikations­ arbeiten am Hof von Abomey - kleine, bunte Fahnen. Die Babalawos aus Miami telefonieren nach Kuba, um die Zeichen des Exils mit denen der Heimat abzustimmen. Wenn ein Babalawo stirbt, fährt er direkt in den Himmel. Er steigt nie wieder herunter. Ifä, der Gott des Orakels der Babalawos, steigt in kleinen Menschen herab. Deshalb dürfen die Babalawos keine Trancen haben. Ein toter Santero dagegen kann wieder herunlersteigen.

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Willito Fernandez spricht vom Dualismus Lucumi - Kongo auf Kuba. Dieser Dualismus hat sich nach Miami tradiert. Er beginnt sich abzu­ schleifen. Es gibt den Mayombe Cristiano, weisse Magie und den Kongo Judio, Schwarze Magie, den Kult Endoke, wo bei den Einweihungsriten Menschenblut auf die Prenda, die Eisentöpfe, fliesst. In Miami scheint mir ein Synkretismus vorzuherrschen von Mayombe Cristiano, Mayombe Judio - die Ganga, der blutige Topf aus Eisen ver­ wandelt sich sehr schnell von einer Prenda Cristiana in eine Prenda Judia durch das blosse Opfern weiblicher Tiere an Stelle männlicher Synkretismus von Endoke, Kimbisa, Lucumi, Arara etc. Doch auch in Miami geben sich die Kongo noch exklusiv genug: Ein Gläubiger kann nicht mehr die Einweihungsschnitte der Kongo erhalten, wenn er bereits in die Religion der Yoruba oder der Arara eingeweiht wurde, nach dem Schneiden allerdings kann er noch Santcro oder auch Babalawo werden. Auch haben alle Lucumi in ihren Tempeln kleine Eisentöpfe, welche die Macht der Kongoaltäre vertreten. Die Kongo wieder nennen ihre Götter in Miami leichthin auch mit den Namen der Yoruba. Einen wichtigen Ritus der Lucumi haben die Kongo in Miami über­ nommen. Bei der Yoruba-Einweihung hält man den Novizen unter Singen von Ala, ala chirere, das Bauchfell eines Opfertiercs vor die Augen, zur Ver­ besserung der geistigen Sicht - diese Handreichung vollziehen nun auch die Kongo bei den Initiationen. Kimbisa und Mayombe unterschieden sich in Kuba dadurch, dass die ersteren Erde von protestantischen Friedhöfen benützten, die anderen Erde von katholischen, auch schnitten die Kimbisa nur in die Brust und in die Armbeugen. Strafriten, die an die Regel der Kimbisa erinnern, werden in Miami auch von den Mayomberos geübt - das Schlagen mit der Machete auf einen Geschwätzigen. Auch werden von den Kongo in besonderen Roben am 1. oder 2. No­ vember Mittemachtsmahlzeiten für die Toten gegeben. Viele Kongopriester haben in Miami die kubanische Rigueur der Riten aufgegeben. Man beachtet nicht mehr die langen Zeiträume, die nötig sind, um einen Bluttopf einzurichten. Daten, Sonnen- und Mondstellungen werden bei den Einweihungen äusser Acht gelassen. Auch schlafen die Novizen nicht mehrere Nächte neben dem Bluttopf. Die Riten der Kongo sind also weniger zeitraubend, billiger, nicht so umständlich wie die Einweihungen der Lucumi. Es gibt mehrere Grade der Einweihung: Engello: Schneiden in Arme, Brust, Rücken, Fesseln. Auf die mit Rasierklingen geschnittenen Male wird mit der Machele, Embcle, geklopft, die Wunden mit schwarzer Tinte oder roter Farbe betupft, Asche draufgedrückt.

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Der Novize trinkt Saures und Honig. Er nimmt das Geheimnis von Tod und Leben in die Hand - ein mit magischen Ingredienzien gefülltes und mit einem runden Spiegel ver­ schlossenes Kuhhorn. Er sieht durch das Ala, den Mensu. Er erhält einen geistlichen Namen. Die Gemeinde begrüsst ihn als Samen für einen neuen Baum der Kongo. Der zweite Grad: Padre oder Madre - Tata Inkisa. Ähnliche - kompliziertere Schnitte. Jetzt kann der Eingeweihte selbst Töpfe aufstellen und schneiden. Eine Madre darf das erst, wenn sic verheiratet ist und mit ihrem Mann zusammen. Dem Tata Inkisa wird das Embelc verliehen, mit dem er straft. Der Kongopriester liest die Zukunft mit vier grossen Kauris. Er reinigt die Gläubigen von geistlichem Übel. Bereitet sie auf einen Krankenhausaufenthalt vor. Heilt geistliche Krankheiten - aber auch Unruhe, Trunksucht, Irrsinn. Verfertigt Talismane - Recados, magische Pakete, welche die Hand­ lungen von Verwandten oder Feinden des Auftraggebers beeinflussen sollen. Schlachtet Dankesopfer. Feiert Thanksgiving mit bunten Torten. Begeht den Jahrestag seiner Einweihung. Bestimmt die Strafen mit dem Embele und lässt sie ausführen. Versammelt seine geistlichen Kinder am Jahresende. Gibt ein Essen für den Toten im Bluttopf. Richtet die Töpfe an, mit 21 Hölzern und anderen magischen Präpara­ ten - darunter Schädel-, Hand-, Fussknochen eines Menschen, dessen Namen und Geburtsdatum der Tata kennt, damit der Tote für ihn ar­ beiten kann. (Die Prendas Judias benötigen Knochen von Verbrechern.) Auf Kuba zogen die Mayomberos Schlangen, Frösche, Krokodile auf. Sie sprachen mit den Krokodilen kongolesisch und die Krokodile ant­ worteten ihnen. Für die Kongo gibt es einen Perro de Prenda - einen Hund der Blut­ töpfe, der in einer fürchterlichen Trance über die Gläubigen kommt. Meistens vermeidet man das, aber gelegentlich reizt man ihn auch herbei, indem man ihn manganoni - Schwuler - schimpft. Hat der Perro de Prenda einen Gläubigen besessen, dürfen nur die Tata Inkisa im Tempel bleiben. Sie unterwerfen den Besessenen harten Pro­ ben, um festzustellen, ob es wirklich der Perro de Prenda ist. Sie brennen ihn, schneiden ihn, schlagen ihn, lassen Pulver in seiner Hand explodieren. Der Perro spricht zu dem Tata Inkisa aus der Trance heraus. Aber der Tote der Prenda lässt sich aus dem Bluttopf vernehmen, ohne dass der Priester besessen sein muss.

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Gilberto Milian nennt 4 bis 5 gute Mayomberos in Miami - Scharla­ tane gäbe es Hunderte.

Die Kongo haben einen Pakt mit dem Löwen. In Miami soll ein Löwe geopfert worden sein - wohl eine Wildkatze. Das empört die Gläubigen. - Wir haben doch einen Pakt mit dem Löwen. Hier findet sich jene anrührende Widersprüchlichkeit, die so alt ist wie alles religiöse Empfinden, so alt wie menschliches Empfinden über­ haupt: Das gejagte Tier, das Opfertier, ist das göttliche Ahnentier, der Gott. Die Kongo in Miami nennen den Opferhammel El Rey Memi - den König Memi.

Es werden noch andre afrikanische Völker und ihre Riten durch die vielfachen Filter der Verschleppungen erinnert: Die Abakua, die Geheimgesellschaft der Nanigos, liefen gelegentlich in Miami am 6. Januar und am 20. Mai, dem Nationalfeiertag der Kuba­ ner herum. Das findet heute nicht mehr statt. Juegos, Vereinigungen der Abakua sollen sich nicht im Exil gebildet haben - es werden keine neuen Mitglieder geweiht. Aber in Hialeah wohnt ein Priester der Abakua, der die anderen exilier­ ten Nanigos zu einer 24 Stunden dauernden Zeremonie in die Sümpfe vor Miami ruft. Das Wissen um die Verfertigung der rituellen Gewänder der Geheim­ gesellschaft hat sich erhalten. Die Geheimsekte der Kimbisa trifft sich in New Jersey. Und einige Kongo erinnern die Chichiriku der Mandinka - Mannequinos, die mit Knabenfleisch geweiht wurden und die zu furchtbaren Mordzügen ausgingen.

IX. Die Götter sterben. Viele haben die Versklavung nicht überlebt. Wieviele weigern sich ins Exil zu folgen?! Von den Hunderten von Göttern, die Lydia Cabrera noch auf Kuba beschreiben oder aufführen konnte, sind nur noch wenige nach. Am lebendigsten erscheint fast der gefürchtete Babaluaye, San Lazaro, der zu religiösen Kollekten auf einem Karren in Little Havanna herum­ gefahren wird, der in jeder Botanica, mit seinen Hündchen, leprös auf den Krücken steht und sich sogar im Sündenwäldchen auf Virginia Key mit Kerzen und Opfergaben findet. Und die Heilige Barbara, Chango.

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Auch er am Strand vertreten und mit Opfergaben versehen. Eleggua, Elegba, der Muddkopf, der Betonkopf, als Maskottchen für die Strassenkreuzer, der Götterbote, der Teufel, die irrende Seele, der Nino de Antocha, Gott der Kreuzwege, wie Hekate, und der Türen, der Wege, wie Hermes; in Trinidad, Haiti, Brasilien gemeinhin ohne die Funktion des Totengeleiters, des Psychopompen - in Haiti allerdings unterstehen ihm als Grand Chemin die Totengötter. In Miami nun gibt es noch eine Variante des phallischen Muddkopfes Echu, der im Ödland herumstreicht und die Toten empfängt und sich von ihren Opfern, den Äsern nährt. Orula, Orunmila verkürzt, auch Ifa, der Gott der Babalawos, San Fran­ cisco. Olofi, der allmächtige Vater, der Heilige Geist. Ogun, San Pedro, ist nicht so allgegenwärtig, wie in Haiti zum Beispiel, wo er sich viele andre Götter einverleibt hat. Agayu, eine Variante Changos, ist häufig, der Heilige Christophorus. Und Obatala, Gottvater. Yemaya, Nuestra Senora de Regia. Ochun, La Caridad del Cobre. Ossun, Bruder Elegbas. Olokun, Gott oder Göttin. Ochossi, Gott der Jagd. Oricha Oko, der Ackergott, San Isidro Labrador. Ibeji, Las Jimaguas, die göttlichen Zwillinge. Nana Buluku, die alte Allmutter des Schlamms sinkt hinweg und mit ihr Inle, Ordua, Oba, Yegua, Yansa, Oya.

Die Kongo haben blutverkrustete Töpfe und blutverkrustete Betonköpfe am Eingang. Ihre Götter heissen: Tierra Tiembla, Obatala. Sarabanda, Ogun, San Juan Bautista. Kisimalongo. Kuyomalongo, Elegba. Mariwinga, Siete Sayas, Yemaya. Siete Rayos, Changö. Pata Yaga, Viejo Panzo, San Lazaro. Mamakalungo, Oya, Virgen de la Candelaria. Mama Santeya. Ochossi. Mangbe, Olofi. Mama Chola, Ochun, La Virgen del Cobre. Belebekan, San Miguel de Acaje und eben der fürchterliche und unerklärliche Perro de Prenda. Mehr als in den anderen afroamerikanischen Religionen drängen die kubanischen Götter in den Alltag hinein. Sie sitzen am Zaun, an der Tür, in Schränken, am Swimming Pool, auf der Toilette. Eine besondere Verbindung von Abgrube, Thanatos und Anal, wie sie mir sonst nur aus Hitchcocks Psycho bekannt ist: auf den Toiletten der

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Babalawos, der Santeros, der Mayomberos stehen Becher mit Trinken und Teller mit Essen, Spazierstöcke, Ziegel voller Orakelzeichen, Blut und Federn - alles für den Toten der geistlichen Familie, für die Ah­ nenreihe.

X. Das Jahr endet und beginnt mit dem Lesen der Letra del Afio, des Loses für das Neue Jahr. Die Kongo geben zu Sylvester dem Toten ihres Bluttopfes eine Mahlzeit. Den 6. Januar feiern auch die Gläubigen der afrokubanischen Religio­ nen. Gelegentlich promenieren die Nafiigos in ihren Palmenkostümen. Am 2. Februar Mama Sanleya, Oya, La Virgen de la Candelaria. Am 20. Mai der Nationalfeiertag der Kubaner. Umzüge der Nafiigos. Am 24. Juni, San Juan Bautista, die Kongo feiern Sarabanda, Ogun. Andre den Gott Inle der Lucumi. Am 2O. Juli der Dia de Sant’Ana, Odianla, ein weiblicher Obatala, Gottvater. Am 5. August Olokun, draussen auf dem tiefen Meer. Am 24. August San Bartholomö, Ecbu. Am 5. September Cristo de Buen Viaje - ein Feiertag der Kimbisa. Am 7. September La Virgen de Regia, Yemaya, Mariwinga. Am 8. September La Virgen del Cobre, Ochun, Mamachola. Einige feiern im September Orunmila und Obatala. Am 29. September Belebecan, San Miguel. Am 4. Oktober Orunmila, Ifa. Am 24. Oktober Inle, San Rafael. Am 2. November Totenmahl der Kimbisa und einiger Mayomberos. A111 4. Dezember Changö, Santa Barbara, Siete Rayos, auch Agayu, der Heilige Christophorus. Am 17. Dezember San Lazaro, Babaluaye, Patayaga, Viejo Panzua. Am 26. Dezember beginnen die Vorbereitungen für die Neujahrszeremonien.

In Miami erinnert man sich nicht mehr genau, warm Inle, der Patron der Lesbierinnen und der Schwulen, gefeiert wurde. Das Eingefangensein des gläubigen Kubaners ist in Miami kaum gerin­ ger als es auf Kuba war. Zu den alljährlichen Festen, den Jahrestagen der Einweihung etc. kom­ men die Geburten, Todesfälle, so dass jedes Wochenende durch Tote, Lucumi oder Kongo besetzt ist und auch oft im Laufe der Woche regel­ mässige oder individuelle Zeremonien begangen werden müssen.

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XI. Ein Babalawo sagt von den Trancen in Miami: - Die Götter (der Santeria) sollten kommen - es kommen aber nur die Geister (der Spiritisten). Die Trancen in den afrokubanischen Religionen sind also seltener als in Haiti oder Brasilien - sie verflachen, werden zugedeckt von der religiö­ sen Geschäftigkeit der Südstaaten der USA. Zu Beginn auch hier Unordnung, geistliche Krankheit, plötzliche Be­ sessenheit - was alles gedeutet wird als der Wunsch eines Gottes, sein »Pferd«, seine Tochter, Iawo, geweiht zu erhalten. Doch sind die Kontakte mit dem Göttlichen früher gegängelt durch die Riten der Jugendzeit - als in Brasilien zum Beispiel. - Ich hatte Angst. - Ich weinte. - Ich wurde krank. - Ich ass nichts. - Ich hatte hohen Blutdruck, schildert ein junger Mann solche Zustände. Und das Erlebnis einer Trance nach der Einweihung: - Ich hatte Angst. - Mir wurde heiss und kalt. - Ich sah Nebel. - Ich fühlte mich verlassen und klein in einem nebligen Nachthimmel ohne Sterne. - Nachher war ich wie erleichtert. Lydia Cabrera fasst ihre Beobachtungen zusammen: - Die Wahl eines neuen Adepten wird nicht nur durch eine wilde Be­ sessenheit gekennzeichnet. - Das Dilogun, die Kauris zeigen die Wahl des Gottes an. - Es gibt Leute, die fallen nie in Trance und sind doch eingeweiht. - Andre fallen in Trance und werden nicht eingeweiht, weil das Dilo­ gun dagegen spricht. - Wenn bei der Einweihung die Suppenschüsseln mit dem Geheimnis der Götter auf den Kopf des Novizen gehalten werden, macht man alles, dass er die Trance dominiert. - Die Zeremonie, den Heiligen, den Gott zum Sprechen zu bringen, wird nach der Presentaciön de los Tambores vollzogen. - Bei der Presentacidn de los Tambores wird alles getan, dass der No­ vize in Trance fällt, aber der Gott spricht noch nicht. - In Matanzas bei der Einweihung der Lucumi musste man während der Trance seinen geistlichen Namen finden und aussprechen. - In den Kongoriten gibt es entsetzliche Trancen. Die Kongo nehmen dann glühende Kohlen in den Mund und träufehi sich heisses Wachs auf die Augen. Die Tranceerlebnisse erscheinen diffiziler gegliedert als sonst in den Religionen der Schwarzen Amerika: Nicht jede Trance führt zur Einweihung.

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Nicht jede Einweihung führt zur Trance. Es gibt Santos Montadores und Santos No-Montadores. Heilige, Götter, die in bestimmte Eingeweihte nicht heruntersteigen. Und Götter, wie Olofi, Orunmila etc., die nie heruntersteigen. Einige Götter (wie Agayü) können nicht durch die Vermittlung der Prie­ ster mit den Menschen verbunden werden (dar); man erhält sie so (recibir). Die Trance des Novizen bricht bei den Opferriten, spätestens aber bei der Presentacidn de los Tambores hervor. Erst stumm. In besonderen Riten bringt man den Gott zum Sprechen. Restimmen die Kauris einen Gläubigen zum Babalawo, versucht man ihn, vor allem bei der Presentacibn zur Trance zu bringen und nur, wenn er nie in Trance fällt, darf er den Weg zum Babalawo einschla­ gen. Die Trance der Lucumi wird als sehr anstrengend angesehen. Man kann den folgenden Tag möglicherweise nicht arbeiten. Ein Santero sagt: - Man fühlt Luftmangel. - Der Blick trübt sich. - Es ist, als würde man eine Droge injiziert bekommen. - Es ist selten, dass die Ochas, die Götter, vor der Einweihung kommen. - Das erste Mal werden sie zurückgejagt. - Das zweite Mal zum Sprechen gebracht. - Man gibt dem Novizen Kokosraspel in die Hand, Messer, Pfeffer, ein afrikanisches Perlhuhn. - Das Messer wird über die Lippen geführt. - Keine Tranceübungen. - Kein Zerbrechen des Bewusstseins. (In Brasilien: Quebrar a conciencia. - A Obrigagao da Conciencia.) Widersprüche über die Trancen der Kongo: Die Kongo haben keine Trancen. (Deshalb können sie auch Babalawos werden.) Die Kongo haben rasende Besessenheiten durch den Perro de Prenda. Zur Prüfung werden die in der Besessenheit Unempfindlichen ge­ schnitten, gebrannt, geschlagen. Ich habe in einer der für Miami typischen synkretistischen Kongozere­ monien zu Thanksgiving bei einem Mayombero eine leichte, eher an spiritistische Medien erinnernde Trance beobachtet.

Die Frauen, die als Eingeweihte auf Kuba fast alle Santos Montado­ res haben, also besessen werden, dürfen sogar, wenn sie mit den Baba­ lawos zu tun haben und Orunmila geweiht werden, besessen gewesen sein. Fast alle Gattinnen der Santeros, Mayomberos, Babalawos haben hier gut gehende spiritistische Veranstaltungen und da brabbelt es und schnattert es und stöhnt es und wahrsagt.

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Botschaften aus dem Jenseits und aus Kuba - ein geistliches Geschwitzc, das als religiöses Verhaken zunimmt und für die Analysis nicht weniger bedeutsam ist, als die geräucherte Pythia. Ob die Geheimgesellschaften der Abakua, der Kimbisa elc. die Trance kennen, habe ich nicht nachpriifcn können - in Miami führen die Aba­ kua ihre Riten nicht in Gänze durch und Kimbisa-Zeremonien scheint es vor allem in New Jersey zu geben. Ich habe den Eindruck, dass diese Sekten ihre religiöse Kraft eher aus der Geheimnishaftigkeit ihres Glaubens zogen und aus der Untergriindigkeit, aus Konspiration, Bestrafung, Schrecken, denn aus Trance.

Ich sah in Miami einen in South Florida geweihten, schwarzen Baba­ lawo - einen »Scharlatan« also - der fast in Trance fiel. Er begann zum Trommeln zu schwanken, rannte ins Freie und sagte: - Muy fuerte! Das Urteil Scharlatanerie ist schnell gesprochen. Die Regelwidrigkeit könnte im Exil den Versuch bedeuten, die aber­ malige Trennung zu überwinden. Der Scharlatan gäbe also in einer feindlichen Umgebung einer sinnlosen Orthodoxie einen neuen Sinn.

XII. Man kann einen Versuch über die afrokubanischcn Religionen in Miami nicht unternehmen ohne einige Bemerkungen zur Homosexualität. Das Kuba vor Castro gilt als ein Dorado für Homosexuelle, der schwule Puff der USA. In Miami gewann Anita Bryant 1977 mit Hilfe der Exilkubaner ein Plebiszit, das die Diskriminierung von Homosexuellen bei der Woh­ nungssuche und auf dem Arbeitsplatz wieder zulässt und sich vor allem gegen die Anstellung von homosexuellen Lehrern richtet. In Castros Kuba, so scheint es, werden Säuberungsaktionen in allen Schichten der Gesellschaft durchgeführt und Homosexuelle in Arbeits­ lager, die Konzentrationslagern ähnlich seien, gesperrt. Wirklichkeit wirkt umgekehrt: Den Aussagen von Exilkubanern nach war das Kuba Battistas keines­ wegs ein schwules Babel. Es gab einige homosexuelle Treffpunkte, versteckt, Razzien ausgesetzt. Am Arbeitsplatz waren Homosexuelle Sanktionen unterworfen, zur Karriere musste sich ein Homosexueller, wie wohl fast überall auf der Welt, tarnen. (In Kuba war die Corrida de Torros verboten. Die Dichotomie des Stier­ kampfs, magischer Machismo und Travestie der Effeminierten fiel hier weg.) Castro und die Sexualmoral des Sozialismus haben wohl nur den Akzent der Unterdrückung von Homosexualität auf Kuba geändert - vorrevo­ lutionäre Heuchelei damals, nachrevolutionäre Heuchelei heute.

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- Die Natur kann man nichl ändern, sagt ein junger Exilkubancr und berichtet, dass sich gerade in den Arbeitslagern die homosexuellen Ver­ haltensweisen herausbildcn, die sie helfen sollen zu unterdrücken. Auch Anita Bryants Kampagne haL nur die Zunahme der Heuchelei be­ wirkt - nicht die Ausrottung der Homosexuellen; zuerst einige Razzien, einige schärfere Urteile, einige Morde - jetzt schon wieder die gleichen Dunkelkammern, Sumpfwälder, Gummiorgane, das gleiche Büsche­ huschen. Was bedeutet das alles für die afrokubanischen Religionen in Miami? Homosexualität als soziales Agens war in den Gesellschaften der soge­ nannten Sklavenküste, woher die meisten afrokubanischen Riten stam­ men, unbekannt. Sicher existierte, wie überall auf der Welt, die Homosexualität als sexuelle Variante, als Übergangshandlung, als Horrormythc - eine ge­ sellschaftliche Institution stellte sie - auch am Rande - nicht dar; ge­ heim und verdrängt mag sic häufiger gewesen sein, als es uns die eifri­ gen und eifernden Berichte mancher Anthropologen einreden wollen. Audi nach dem von den Afrikanern pointierten Einfluss der »Apothe­ ker« und »Rechtsanwälte« bleibt die Einstellung den Homosexuellen gegenüber eher feindlich, das Gesetz diskriminiert sie ohne Aus­ nahme. Dieser patrifokalen, paternalistischen Lebensweise in Afrika, die sehr IcicltL zur Homosexualität oder Bisexualität überredet werden kann, steht in den Schwarzen Amerika eine matrifokale, ambivalente, bi­ sexuelle Lebensweise gegenüber. Eine Konstante der Conquista die Homosexualität - manche der Conquistadoren waren homosexuell, viele ihrer Mannschaften, viele der in­ dianischen Ureinwohner. An den afrikanischen Sekten auf Kuba nahmen Homosexuelle teil. Als Söhne der Göttinnen Ochun und Yemaya brachte man ihr Sexual­ verhalten mit dem besonders femininen Gebaren der Göttinnen in einen Zusammenhang. Einen homosexuellen Gott, wie auf Haiti den Guöde Nibo - gab es auf Kuba nicht, aber androgyne Götter schon, dop­ pelgeschlechtige, wie Obatala, und Götter, deren Geschlecht ungenau bestimmt wurde, wie Olokun. (Solche Götter sind auch in Brasilien bekannt - Logum Ede zum Bei­ spiel.) Eigentümlich die Gestalt des Donnergottes Chango, der in Nigeria einen leichten androgynen Schimmer hatte, auf Kuba streng männlich wirkt als christlichen Counterpart aber eine Dame erhält, die Heilige Barbara. Einen Paten der Lesbierinnen und männlichen Homosexuellen gab es auf Kuba, Inle, Sankt Raphael. Die Homosexuellen feierten seinen Namenstag. Man buk Tortillas bei dieser Gelegenheit und noch heute heissen in Miami unter den Exil­ kubanern die Lesbierinnen »Tortilleras«. Das Orakelzeichen Odi kennzeichnet den Homosexuellen beim Lesen des Lebensloses. Viele Geistliche verweigerten einem von Odi betroffenen die Einwei­ hung oder billigten ihm nur die Göttinnen Ochun oder Yemaya zu.

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Es galt als strikt unmöglich, einen Homosexuellen zum Babalawo, zum Orakelpriester zu weihen. Vor jeder Initiation zog man Erkundungen über den Gläubigen ein. Das Netz von religiösem Spitzelwesen bereitete auf Kuba das Netz des sozialistischen Spitzelwesens vor und hatten die Kauris es nicht verraten, so fanden die Spione es heraus, ob einer schwul war oder nicht. In die Gemeinschaften der Kongo, in die Geheimgesellschaften der Abakua wurden keine Homosexuellen eingelassen, ja, hatten das Orakel und das Spitzelwesen versagt und war ein Homosexueller als Kongo eingeweiht, musste, nach der Aufdeckung des Skandals, der Kongoprie­ ster, um die Religion rein zu erhalten, seine Bluttöpfe zerstören, eine sonst in den religiösen Systemen Kubas nicht vorhergesehene Kata­ strophe, keine, etwa der Hölle vergleichbare, religiöse Strafe, sondern die völlige Vernichtung alles Göttlichen und Seelischen für das Indi­ viduum. Die stupende und bisher noch wenig reflektierte Idee von Bikonlinentalität und Bisexualität der afroamerikanischen Kultur findet also auf Kuba eine unfreizügige Variante. In Miami unterliegen die exilkubanischen Homosexuellen der Befrei­ ung, der Anonymität, der Vermassung des american way of life. Die Menge der Sexualobjekte nimmt zu, zu den Komplexen und Neu­ rosen des Kubaners addieren sich die Komplexe und Neurosen des Exils und des nordamerikanischen Schwulen. Im Leben der Religion ist für den Homosexuellen aus Kuba kaum eine Liberalisierung eingetreten. Im Gegenteil: Die afroamerikanischen Religionen müssen sich in Miami gegen eine gleichgültige oder feindliche Umwelt durchsetzen. Die Exilkubaner er­ leben die Santeria etc. hier als das Letzle, das Wahre, das Echte, das Tiefste ihrer Kultur und so hört man von jedem Priester der Yoruba, der Kongo - ohne Übertreibung - als dritten Satz einer Konversation in South Florida: - Und stellen Sie sich vor, hier im Exil werden sogar Effeminierte eingeweiht! Natürlich heisst das auch Beides, Widersprücldiches, doch Widersprü­ che, Ventile gab es auch schon auf Kuba. Ein Homosexueller durfte die Tempel nicht betreten - es sei denn, er führte vorher eine Reinigungszeremonie durch. Ein Schwuler durfte nicht als Kongo eingeweiht werden - genau genom­ men nicht als Kongopriester, der erste Grad der Einweihung, Engello, mochte noch hingehen. Wie beschimpfen die Kongo den stärksten, wildesten Geist ihrer Blut­ töpfe, den Perro de Prenda? Manganoni - Schwuler. Urn ihn wiilend zu machen und zum llerniedersteigen zu zwingen. Schimpfwort, sicher! Aber nicht auch Anrufung? Ob sich die afrokubanischen Religionen in Miami verhärten oder libera­ lisieren, ob sie ausfransen oder wegsterben, das ist nicht abzusehen. Was die Homosexuellen anlangt, bleibt das Fazit: Fidel Castro vor den

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Kubanern auf Kuba, Anita Bryant vor den Exilkubanem in Miami können sich bei der Verfolgung von Homosexuellen auf ein jahrhun­ dertealtes und auf ein weltweites Vorurteil stützen.

XIII. Afrokubaner reisen von Miami nach Afrika zurück. Schon bevor Haley seinen Vorschuss von Reader’s Digest erhielt, Cour­ lander abschrieb und Gambien versaute. Es sind diskrete, unruhige, hoffnungsvolle, enttäuschungsvolle Fahrten. Diejenigen von Carlos Canet sind bekannter geworden; man hört auch von einem Babalawo Coriazo, der sich in Nigeria einweihen liess. Wider-Kolumbusse. Wer schriebe ihre Chronik?!

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Das haitianische Volk kann nicht mehr * Gespräch mit Leopold Joseph Oktober 1979

- Monsieur Joseph, wie ist heule die Situation der haitianischen Flücht­ linge in New York? Leopold Joseph: Die Situation ist nicht viel anders als vor einem Jahr. Aber die Haitianer selbst sind dabei zusammenzufinden. Das ist die Voraussetzung für einen Coup de Force auf Haiti. - Wieviele Haitianer gibt es hier? Der Zensus hat Schwierigkeiten eine genaue Zahl anzugeben. - 250 000 im Stadtgebiet von New York dürfte eine realistische Ein­ schätzung sein - in den Vereinigten Staaten insgesamt etwa eine halbe Million Haitianer. - Wieviele davon sind sogenannte »illegale« Einwanderer? - Etwa 60 Prozent. Seit 1972 sind immer mehr Haitianer heimlich gekommen. Sie werfen sich in kleine Segelboote und enden dann in Miami - also zwischen 300 000 und 500 000 »illegale« heute. Aber wenn Sie mich fragen, wieviele davon sind militant, wieviele sind poli­ tisch engagiert - so sind es nicht mehr als 10 bis 15 000. - Die haitianischen Flüchtlinge werden bei ihrer Ankunft in Florida in Gefängnisse und Lager gesteckt. Die Einwanderungsbehörden weigern sich, ihnen den Status politischer Flüchtlinge zuzuerkennen, man flog sie nach Haiti zurück, denn angeblich waren die haitianischen Flücht­ linge dort keinen Repressalien ausgesetzt. Stimmt es, dass man noch am 8. Juni dieses Jahres 127 Haitianer aus Florida nach Haiti zurückgeschickt hat? - Das ist wahr. - Was ist aus ihnen geworden? - Das wird man nie wissen. Viele sind sicher ins Gefängnis gekommen. Manche lässt man erst laufen und kassiert sie später. - Sie werden gefoltert? - Sicher. Die Foltern gehen weiter. Nur heute sind diese Leute klüger. Sie foltern nicht mehr öffentlich. Sie tun es im Verborgenen. Sie werden gefoltert und man sagt ihnen: Wenn Sie den Mund aufma­ chen, holen wir Sie wieder und dann kommen Sie hier nicht mehr le­ bend heraus. - Weiss man wieviele politische Häftlinge es auf Haiti gibt? - Man weiss es nicht. Franz V., der Sohn eines Tonlon Macoule, der verhaftet wurde und ausgewiesen, ist im Gefängnis politischen Häft­ * Erstveröffentlichung in DIE ZEIT, 9. November 1979.

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lingen begegnet und hat uns, von Haiti Observateur eine Liste mit Na­ men gegeben, die wir und Radio Kanada und kanadische Zeitungen veröffentlicht haben. - Man hat geschrieben, dass die Hälfte der politischen Häftlinge auf Haiti nicht die erste Woche Gefängnis überleben. Ist das noch immer so? - Die Gefängnisse auf Haiti sind noch immer so. Das Regime hat sich nicht verändert. Dieselben Leute leiten die Gefängnisse, dieselben Ge­ fängniswärter sind da, die daran gewöhnt sind, dieselben Foltern an den Gefangenen zu verüben. Die Regierung hat im September Verhaftungen vorgenommen, darun­ ter war Sylvio Claude, der Generalsekretär der Sozialdemokratischen Partei. Bis heute weiss man nicht, was aus ihm geworden ist. Andre Gefangene haben nur gesehen, dass er gefoltert wurde. Man behauptet, dass man ihn so misshandelt hat, dass man nicht weiss, ob er mit dem Leben davonkommt. - Die Politik des amerikanischen State Department den haitianischen Flüchtlingen gegenüber war schwankend. Ich glaube, zwischendurch hatte man die Ausweisungen gestoppt. Wie ist es im Augenblick? - Man weiss wirklich nicht, wer in Amerika die Politik den Einwande­ rern gegenüber beeinflusst. Seit zwei Wochen können die Haitianer, die in Florida landen, jeder Organisation, jeder Privatperson übergeben werden, die sich ihrer annehmeir will und ihnen Unterkunft bietet nachdem, was die Einwanderungsbehörden aussagen. - Hat man die Haitianer freigelassen, die sich in Florida in Lagern und Gefängnissen befanden? - Man hat sie freigelassen. - Welche Möglichkeiten hat ein sogenannter illegaler Einwanderer ohne Arbeitsp apiere ? - Er hat die Möglichkeit zu arbeiten, aber er wird selbstverständlich ausgebeutet. Ich kenne Haitianer, die arbeiten in der Zuckerrohrernte, in der Apfelemte. - Was bezahlt man ihnen? - Ihr Lohn ist geringer. Die amerikanischen Behörden wissen das. Sic sagen: Wir können es nicht ändern. - Man bezahlt ihnen den gleichen Lohn wie den legalen haiLianischen Einwanderern. Aber das ist weni­ ger, als ein Amerikaner erhält. - Was bezahlt man ihnen wenigstens in New York? - Die Leute hier sind sehr misstrauisch. Sie werden Ihnen nicht mittei­ len, wenn sie zuwenig verdienen .. - . . weil sie damit zugestehen, dass sie ohne Papiere arbeiten und bisher riskierten, ausgewiesen zu werden? -Ja. - Welches ist der gesetzliche Mindestlohn in New York? - Soviel ich weiss, 2,25 Dollar die Stunde. - Hat sich die Ernährungssituation auf Haiti gebessert? - Es herrscht Hunger. Es wird immer Hunger herrschen, solange das Regierungssystem nicht geändert wird. Wenn cs zu Hungersnöten kommt, wie vor einiger Zeit im Nordosten der Insel, dann macht man

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Propaganda damit und die Vertreter der internationalen Medien kom­ men angereist. Aber diese Zustände herrschen immer. Sie haben immer geherrscht. - Wieviele Menschen leben in diesem endemischen Hungerzusiand auf Haiti? - Endemisch, ja! 70 Prozent der Bevölkerung hungern. - Hungern - oder sie sind schlecht ernährt? (Das ist eine Unterscheidung, die schon Josue de Castro traf, der sagt, man kann sehr wohl satt sein und trotzdem an Ernährungsschäden lei­ den, wie zum Beispiel die englische Arbeiterbevölkerung.) - 70 Prozent der Haitianer hungern und haben Ernährungsschäden. - Wieviel Einwohner rechnet man auf Haiti? - Sechs Millionen. - Während der Hungersnot im Nordosten waren wieviele Menschen be­ troffen? - 8g Prozent der Bewohner. - Eine der Bedingungen, die Emährungssituation auf Haiti zu verbes­ sern, ist, dass die Erosion aufgehalten wird, dass man aufforstet. Wie­ weit kommt man damit? - Das Problem auf Haiti isL, dass die Haitianer immer von den Aus­ ländem erwarten, was sie selbst tun sollten. Es sind immer die Aus­ länder, die die Initiative ergreifen, die Regierung ist nicht daran inter­ essiert, dies Problem zu lösen. Die Regierung ist viel mehr daran interessiert, sich an der Macht zu halten. Man begnügt sich, ein Schild aufzustellen und zu schreiben: Das Aufforstungsprogramm des Präsiden­ ten auf Lebenszeit. Das sind Sachen, die man macht, um Touristen an­ zulocken und um die ausländischen Journalisten zu beeindrucken. Aber wenn Sie aufs Land gehen, wo die Aufforstung stattzufinden hätte, da ist sie fast inexistent. Bei dem Zustand, in dem sich das Land befindet, müssten sich alle zusammentun, um die Schlacht der Aufforstung zu gewinnen. Aber die Regierung ergreift nicht die nötigen Massnahmen. Wenn Sie aufforsten wollen, müssen Sie ein Altemativprogramm für Brennstoffe entwickeln, Gas billig importieren und den Leuten die Mög­ lichkeit geben, Gasherde zu kaufen. - Geschieht eine Wiederaufforstung mit Hilfe der Amerikaner, Deut­ schen, Franzosen, Kanadier, Japaner, Israelis? - Es gibt »Pilot«projekte. »Pilol«projekte können das Problem nicht lösen. Die Verkarstung ist so allgemein in Haiti, dass die gesamte haitia­ nische Bevölkerung mobilisiert werden müsste, um den Baumbewuchs wieder herzustellen. - Schlägt die Bevölkerung weiterhin Bäume, um Holzkohle zu machen? - Selbst, wenn sie es nicht dürfen, erlangen sie immer die Erlaubnis von einem Tonzon Macoute. Sie finden immer einen Cousin, einen boyfriend, der ihnen die Erlaubnis verschafft, einen Baum zu fällen. Es gibt immer eine Ausnahme von der Regel in Haiti, nur leider sind diese Ausnahmen so zahlreich. - Abholzen und Erosion auf Haiti gehen also weiter? - So ist es. - Angeblich versuchte der Präsident auf Lebenszeit, Jean-Claude Du-

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valier, die Tonlons Macoute aus ihrer Machtposition zu drängen. - Ich habe den Eindruck, das ist nicht wahr. Das war ein weiteres Mit­ tel, um der internationalen Presse etwas vorzumachen. Am 22. Septem­ ber nahmen die Tontons Macoute die Strassen ein. Mit Macheten und Maschinengewehren. Sie schossen in die Luft und hielten auch in die Menschenmenge. Wenigstens 20 Tote wurden registriert. Am 22. abends forderte man die Leute durchs Radio auf, ins Krankenhaus zu kommen, um Blut zu spenden. So viele Verletzte gab es. - Als der haitianische Innenminister Cambronne vor einigen Jahren nach Miami ins Exil floh, gab man an, dass er auf ausländischen Ban­ ken an die 65 Millionen Dollar deponiert hätte. Geht der Kapitalexport der Regierung in diesem Masse weiter? - Ja. Ich glaube in erhöhtem Masse. Sehr viel mehr ausländische Gesell­ schaften investieren in Haiti und ausserdem gibt es die Finte einer ge­ mischten Kommission aus Weltbank, Regierung der USA, der Bundes­ republik, Kanadas, Frankreichs etc., die sich zusammengetan haben, um Haiti zu helfen. Durch diese Programme findet die haitianische Regie­ rung genügend Geld. Sie überlässt den Ausländern die Mühe, das Land zu entwickeln und befasst sich selbst mit der Ausbeutung der öffent­ lichen Mittel, die im Land selbst erbracht werden. Wir haben herausfinden können, dass Präsident Jean-Claude Duvalier auf dem Konto 432/22/800 K der Union des Banques Suisses in Genf 190 Millionen Dollar stehen hatte. Monsieur Duvalier hat vor zwei Jahren eine Villa in Monaco erworben. Diese Villa in der Rue Araucarias wurde Abdullah Mohamed Al-Hamdi am 24. Oktober 1977 mit dem Scheck 127023 über 4,6 Millionen Schweizer Franken bezahlt. - Und Sie glauben, die 190 Millionen Dollar sind das einzige Bankgut­ haben Jean-Claude Duvaliers im Ausland? - Nein. Es ist nicht das einzige. - Im letzten Jahr wurde eine blendende Ausstellung haitianischer Ma­ lerei zusammengestellt und in New York und Berlin etc. gezeigt. Wie beurteilen Sie diese Ausstellung? - Ich habe sie nicht gesehen. Aber ich glaube, es ist naiv, wenn man weiterhin zwischen Politik und Kunst trennt. Wenn man von Kunst spricht, muss man erklären, wie die Kunst auf Haiti gefangen gehalten wird, wie sie monopolisiert wird und ausgebeutet. - Halten Sie diese Ausstellung direkt für eine Public-Relation-Kampagne der Regierung Duvalier? - Direkt oder indirekt, die Person, welche diese Ausstellung organisiert hat, war in Kontakt mit der Regierung. Solange Organisationen und Individuen derartige Ausstellungen auf die Beine stellen und sich nicht die Mühe machen, den politischen Einfluss auf die Kunst in Haiti deut­ lich zu machen - nun, es sind manipulierte Leute, die direkt oder indi­ rekt bezahlt werden, oder irgendeinen Vorteil für sich bei der haitiani­ schen Regierung herausschinden. - Etwas später wurden europäische Journalisten nach Haiti und sogar zu einem Empfang bei Duvalier eingeladen; auch begann die Regierung angeblich, Parteien zu tolerieren. Was ist daraus geworden?

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- Ich habe Ihnen bereits einen Fall geschildert. Monsieur Sylvio Claude, der Sekretär der Sozialdemokratischen Partei, wurde verhaftet. War­ um? Weil er ein Massenmeeting organisiert hatte und den Leuten erklärte, was solche Manifestationen der Tontons Macoute am 22. September zu bedeuten hätten. Die Regierung verschleuderte 2 Millionen Dollar für diese Manifestation der Tontons Macoute. Sylvio Claude sagte, dass man mit diesem Geld Schulen und Krankenhäuser hätte bauen sollen. Die Regierung hatte Spitzel eingeschleust und die fingen an zu schreien: Nieder mit Duvalier! - Man schoss auf Sylvio Claude. Er wurde an der Hand verletzt. Was Gregoire Eugene anlangt, den Sekretär einer anderen sozialdemo­ kratischen Partei, so wurde er, wegen Artikeln, die er in seiner Partei­ zeitung geschrieben hatte, von der Regierung gerufen und man teil Le ihm mit, dass er aufhören sollte, seine Nase in Regierungsangelegenhei­ ten zu stecken. Es ist eine wahrhafte Maskerade. Intelligente Leute dürften nicht auf so etwas hereinfallen. - Als wir letztes Jahr miteinander sprachen, schien es, als stünde ein Sturz der Regierung Duvalier unmittelbar bevor. Möchten Sie etwas über die haitianische Opposition sagen? - Ich kann nicht über die Projekte der Opposition spekulieren. Ich bin kein Militär. Ich bin einfacher Journalist. Aber, die Situation auf Haiti ist derart, dass alles jederzeit eintreffen kann. Das Volk ist wirklich bereit zu einer Revolution. Es wartet nur auf einen Leader. Wenn Sylvio Claude zwischen 3000 und 6000 Men­ schen bei der Niederknüppelung durch die Regierung in einem Winkel von Port-au-Prince zusammenbringen konnte, dann muss man wohl ein­ sehen, dass die Leute bereit sind. - Das haitianische Volk mag bereit sein, aber besteht nicht die Gefahr, dass sich die Leader der Opposition zersplittern? - Selbst wenn. Das Volk ist so traumatisiert. Es kann nicht mehr. Es klammert sich an alles, was eine Veränderung bringen kann, ob es ein Mann der Linken oder ein Mann der Rechten ist. - Die Regierung Carter hat militärische Verstärkung in die Karibik ent­ sendet. Hat das einen Einfluss auf die Menschenrechte auf Haiti? - Nun, ich glaube nicht, dass die militärische Präsenz der USA in der Karibik hilfreich auf die Regierung Duvalier einwirkt. Es handelt sich um zwei verschiedene Angelegenheiten. Übrigens gibt Carter vor, dass er die militärische Verstärkung entsendet hat, weil Castro die Menschen­ rechte nicht respektiert. Man muss anerkennen, dass die Regierung Car­ ter sehr wohl auf die Regierung Duvalier Pressionen ausgeübt hat, was die Menschenrechte anlangt. Deshalb hatte die haitianische Regierung die Daumenschrauben etwas gelockert. Aber sie hat gemerkt, dass Prä­ sident Carter politische Schwierigkeiten hatte und sie stellte sich vor, dass Carter unmöglich ein zweites Mandat erlangen würde. Und auf Grund dieser Tatsache hat die Regierung Duvalier gesagt: Wir werden hier alles organisieren. Wir werden mit Carter jonglieren, bis sein Man­ dat ausläuft.

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- In diesem Jahr gab es eine Revolution auf Grenada und eine Revolu­ tion in Nicaragua. Ausserdem haben sich St. Lucia, Dominica und Gre­ nada zu einem volksdemokratischen Bündnis zusammengeschlossen. Glauben Sie, dass von dieser Seite eine Hilfe für die Revolution auf Haiti kommen könnte? - Vielleicht. Aber ich habe den Eindruck, die Linke interessiert sich nicht für Haiti. Warum? Es ist soviel auf Haiti zu tun. Es wäre zu teuer, eine Revolution auf Haiti zu finanzieren. Die Linken auf Haiti wissen das sehr gut. Sie sagen: Die Stunde ist nicht da für die Linke, auf Haiti die Macht zu ergreifen. Wenn sie jetzt eine Revolution auslösen würden, fiele die Macht in die Hand der Rechten. Deshalb also arbeiten sie lieber mit dem, was sie das langzeitliche Ver­ faulen nennen und dies Verfaulen könnte sich sehr wohl über 25, 30 Jahre erstrecken. Die Linke will sich kein zweites Kuba auf den Hals laden. In Kuba gibt die Sowjetunion zwischen einer und zwei Millionen Dollar am Tag aus. Auf Haiti würde es g Millionen Dollar am Tag kosten, um die Revolution am Leben zu halten. - Auf welche Kräfte setzen Sie für eine Veränderung auf Haiti? - Ich setze auf niemanden. Wenn ich selbst nichts machen kann, habe ich nicht das Recht, auf andre zu setzen, das hiesse, dass ich Leute los­ schicke, die sich für mich umbringen lassen sollten. Ich begnüge mich damit, das Bewusstsein der Haitianer zu verändern. - Welche politischen Kräfte gibt es, die eine Veränderung herbeiführen könnten? - Es gibt nicht eine Kraft allein. Wenn die Haitianer sich nicht vertra­ gen und die Fetzen zusammenbringen, die übrig sind, wird es nie eine Revolution auf Haiti geben. - Sie glauben, dass eine Chance besteht? - Es könnte einen politischen Konsensus geben. - Und dieser Konsensus wäre anders als das, was augenblicklich auf Haiti geschieht. - Ja. Es gibt wirklich andre Kräfte. - Wie würden Sie Ihre Exilzeitung Haiti Observateur kennzeichnen? - Die Tendenz meiner Zeitung ist rein nationalistisch. Wir stehen weder rechts noch links. Kommen Sie von der Linken und wollen Sie unsere Zeitung als Tribüne benützen, sind Sie gerne eingeladen. Stehen Sie rechts und wollen Sie mitmachen, sind Sie gleichermassen eingeladen. Wir sind dazu da, die Ideen der Haitianer zu ventilieren. Das einzige, was wir verlangen: Sie müssen Antiduvalierist sein und Sie dürfen nicht den systematischen Ausverkauf unseres Landes verteidi­ gen. Wenn Sie rechts stehen, verlangen wir, dass Sie die Rettung des Landes in einer haitianischen Regierung sehen, die uns nicht vom Aus­ land aufgepflanzt wurde. - Sie geben die wichtigste haitianische Exilzeitung heraus. Wie hoch ist Ihre Auflage? - Ich habe den Eindruck, niemals hat eine haitianische Zeitung auf

400

Ilaiti oder im Ausland die Auflagenhöhe unserer Publikation erreicht. Wir drucken 40000 Exemplare. Und ich habe den Eindruck, alle Zei­ tungen auf Haiti müssten sich zusammentun, um diese Auflage zu er­ reichen. - Wie gross ist die Alphabetisation auf Haiti? -15 Prozent. 85 Prozent der Haitianer sind Analphabeten. - Ich bin am Ende meines Interviews. Möchten Sie noch etwas er­ gänzen? - Die Massen der Haitianer im Exil und unsere Kollegen auf Haiti fragen sich noch immer, warum legen Länder, die als vornehmste Re­ präsentanten der Demokratie gelten, wie Deutschland, Sie sind Deut­ scher, deshalb nenne ich die Bundesrepublik an erster Stelle, Frankreich, die Vereinigten Staaten von Amerika, Israel, Kanada und alle die ande­ ren, zusammen, um einer korrupten Regierung zu helfen, wo sie doch wissen, dass diese Regierung das Geld benützt, um es auf ausländischen Ranken anzulegen. Das ist uns unverständlich. Alle Haitianer fragen sich das. Aber die Haitianer sagen sich: Die Völker bleiben bestehen, die Regie­ rungen gehen vorüber.

4.01

Ein Kräutermittel gegen Sinusitis aus Haiti * 1975

Auf allen haitianischen Kräutermärkten wird in frischem Zustand das Kraut zerbe ä clous verkauft. Es wird zu Tees, Bädern, Vaudou-Zeremonien benützt. In »Les Plantes et les Legumcs d’Haiti« von Arsene V. Pierre-Noel ist die Pflanze als Heliotropum bestimmt (Vol. IT, 279). Ein an Medizinal­ pflanzen interessierter Kunstgeschichtler, Monsieur Monosiet, gab an, dass zerbe ä clous, auch herbe ä clous, Zimbaclot etc., ein sehr gutes Mittel gegen jede Form der Sinusitis sei. Mit dem französischen Botaniker Guy Robart zusammen wurde die Pflanze in der Landwirtschaftlichen Hochschule von Damien, Haiti, er­ neut und einwandfrei als zu den Menthaccae (Labiatac) gehörig be­ stimmt. Zerbe ä clous ist das Ocimum micranthum Willd.. Leonore Mau erkrankte 1972 an einer leichten Stimhöhlenvereiterung in Haiti und nahm dagegen sehr geringe Mengen der getrockneten und zer­ stossenen Blätter. Sie schnupfte das Mittel dreimal täglich, zwei aufein­ anderfolgende Tage. Es half sofort. Die Absonderungen wurden klar. Heilung trat schon nach dem ersten Tag ein. Peter Michel Ladiges, geboren 1953, leidet seit frühester Jugend an Mit­ telohrentzündungen. Die erste schwere Sinusitis trat bei ihm 19G7 auf. Seither erkrankt er nach jeder Erkältung daran. Manchmal besteht nur eine gewisse Druckempfindlichkeit, oft schweres Unwohlsein und starke Schmerzen. Antibiotika helfen nur mangelhaft. 1969 wurden mit einer Nadel die Siebbeine durchstochen und Spülungen der Höhlungen durch­ geführt. 1970 teilte ihm der behandelnde Arzt mit, nur eine größere Operation könnte Heilung bringen. Das Röntgenbild zeigt, dass alle Seitenkanäle chronisch vereitert sind. Es haben sich Narbengewebc und Einschlüsse gebildet. Im Juli 1973, nach einer gewöhnlichen Som­ mererkältung, brach die Erkrankung erneut aus. Ladiges nahm darauf­ hin dreimal täglich drei Tage hintereinander etwas von den pulverisier­ ten Blättern des zerbe ä clous. Zuerst traten starke Eiterabsonderun­ gen, Fieber, Unwohlsein auf. Am dritten Tag besserte sich das Befinden. Seither, auch nach Erkältungen, ist die Sinusitis nicht mehr ausgebrochen.

Erstveröffentlichung in Ethnomedizin III, 1974-75.

Inhalt.

Santo Domingo 7

Venezuela 65

Miami 151

Grenada 255

Appendix Ketzerische Bemerkungen für eine neue Wissenschaft vom Menschen

359 Tränen zum Tee Anmerkungen an »Roots« von Alex Haley

366 Über die afrokubanischen Religionen in Miami

372 Das haitianische Volk kann nicht mehr Gespräch mit Leopold Joseph

395 Ein Kräutermittel gegen Sinusitis aus Haiti 402

Hubert Fichte Romane und Interviews

Das Waisenhaus 1977, 172 Seiten

Die Palette 1978, 347 Seiten Wolli Indienfahrer 1978, 498 Seiten

Detlevs Imitationen >Grünspan< 1979, 242 Seiten

Versuch über die Pubertät 1979» 312 Seiten

S. Fischer Verlag

»Solcher Hinweis auf die sprachliche Vielfalt des For­ schungsbereichs und des Forschers hängt mit der Sache selbst zusammen, die in beiden XANGO-Büchem vi­ siert werden soll. Der deutsche Schriftsteller Hubert Fichte hatte sich seit Jahren vorgenommen, den Rand­ formen moderner Lebensweise erlebend und beschrei­ bend nachzuspüren........ « Hans Mayer

Hubert Fichte

Xango Bahia Haiti Trinidad Die afroamerikanischen Religionen II 355 Seiten, Englische Broschur

Leonore Mau Xango Bahia Haiti Trinidad Die afroamerikanischen Religionen I Texte Hubert Fichte mit 56 Farbfotos und 47 Schwarzweißfotos

S. Fischer Verlag

»Hubert Fichte hat mit XANGO einen poetischen, körperlichen und exzessiven Text geschrieben, der zu­ gleich Kulturanalyse inhaltlich und formal in einer Weise liefert, die nicht nur Anlaß für literatur-theo­ retische und -kritische, sondern auch für im weitesten Sinn sozial-wissenschaftliche und politische Diskus­ sionen sein kann.« Hans-Jürgen Heinrichs, Frankfurter Rundschau

»So gelesen, entfaltet sich das Mosaik aus erzähleri­ schen Einzelteilen, das Miteinander der religiösen Erlebnisse, der Teilnahme an fremden Riten, der pri­ vaten Begegnungen, der Aufnahme soziologischer Fakten, der Bilder, der Wortketten, der Sprünge und Ausbrüche wie von selbst. Nicht objektiv gegebene Topographie und Chronologie bestimmen den Bericht sondern die Neu- und Wiederentdeckung des Selbst.« Helmut Heißenbüttel, Die Zeit

»Fichtes Hinwendung zur Anthropologie, zur Ethno­ graphie konnte nur diejenigen überraschen, die nicht sehen wollten, daß Literatur für ihn von Anfang an die Erforschung von menschlichen Verhaltensweisen bedeutete. Fichte geht es nicht darum, Literatur und Wissenschaft gegeneinander auszuspielen, sondern sie jeweils um den anderen Bereich zu eiweitern, eine ge­ meinsame Methode zu finden. Diese Methode nannte Helmut Heißenbüttel einmal »Poetische Anthropolo­ gie«, während Fichte selbst sie lieber als »Ethnopoesie« bezeichnet.« Peter Laemmle, Deutsche Zeitung

Hubert Fichte

Versuch über die Pubertät Romern, 512 Seiten Band 1749

»Fichtes improvisierte Ästhetik ist - und das darf als ein stolzes Resultat gelten — durch die literarische Wirklichkeit seines Buches voll gedeckt.« Günter Blöcker, Frankfurter Allgemeine Zeitung

Hubert Fichte

Mein Lesebuch Band 1769, 517 Seiten

»Privatanthologien sind häufig reizvoll, selten zwin­ gend: Fichtes Lesebuch ist so originell wie überzeu­ gend. Die Texte von Johann Beer bis Heißenbüttel zeichnen literarische Entwicklungslinien abseits des Kanon - perspektivenreich und schlüssig.« Deutsche Zeitung

Fischer Taschenbuch Verlag

Am 2. Oktober 1937 zwang der Staatschef der Dominikanischen Republik, Trujillo, die Bevölkerung seines Landes, das spanische Wort für Petersilie - perejil - richtig auszu­ sprechen. Man behauptet, daß die haitiani­ schen Zuckerarbeiter das >R< nicht ausspre­ chen können. An diesem Tag wurden 20000 Neger ermordet, Bewohner der Dominikani­ schen Republik, die gelernt hatten, »Cata­ lina« für »Katharina« zu sagen. Fichtes Ethnopoesie, als deren erstes großes Werk 1976 der Band »Xango« erschien, ist einzigartig in der deutschsprachigen Gegen­ wartsliteratur. Sein Fasziniertsein von Grenz­ situationen führt ihn in die Welt des Syn­ kretismus, in den Bereich der verschiedenen afrikanischen und indianischen Religionen unter unterschiedlichsten politischen Ord­ nungen und Gesellschaftsformen. Fichtes Stärke liegt in der Fähigkeit, wissenschaft­ liche Sachverhalte mit poetischen Mitteln, als Collage aus Interviews (u. a. mit Juan Bosch und Maurice Bishop), Feature oder Litanei darzustellen. »Petersilie« gelingt es, Einblicke zu geben in ekstatische Einweihungsriten. Er macht vie­ les deutlich sichtbar: die Kommerzialisierung von Religion, den Zusammenhang zwischen Sexualität, Politik und Gewalt, die Psycho­ logie von Armut und Unterdrückung, die fast allmächtige Präsenz der USA in dieser Weltregion und die Versuche, Sozialismus und Religionsfreiheit miteinander zu ver­ binden. Und es zeigt uns die zum Teil geheimen Ri­ ten, die heute nicht nur bis New York, Lon­ don und Paris, sondern auch bis Berlin und Hamburg gedrungen sind. Hubert Fichte, geboren 1935 in Perleberg im Bezirk Schwerin. Lebt als Schriftsteller in Hamburg. Fichte war Stipendiat der Villa Massimo, er erhielt u. a. den HermannHesse-Preis und den Fontane-Preis. Lehr­ aufträge und Vorträge an den Universitäten Bremen, Klagenfurt, Princeton, Yale und Columbia.

Lieferbare Titel im S. Fischer Verlag: »Xan­ go. Die afroamerikanischen Religionen. Bahia-Haiti-Trinidacl« (Textband und Bild­ band zusammen mit Leonore Mau. 1976). »Das Waisenhaus. Roman« (1977). »Die Pa­ lette. Roman« (1978). »Wolli Indienfahrer« (1978). »Detlevs Imitationen »Grünspan«« (1979). »Versuch über die Pubertät« (1979 und Fischer Taschenbuch 1749). - »Mein Lesebuch« (Fischer Taschenbuch 1769).

PETERSILIE von Hubert Fichte hat ein Gegenstück in einem großformatigen Bild­ band, dessen Fotografien ebenso bedeutend als einzigartige dokumentarische Zeugnisse wie von hohem ästhetischen Reiz sind: Leonore Mau PETERSILIE Die afroamerikanischen Religionen III Santo Domingo Venezuela Miami Grenada Text von Hubert Fichte 199 Seiten, mit 79 Farbfotos und 32 Schwarzweißfotos. Leinen in Schuber.

»Petersilie« gibt Einblicke in ekstatische Einweihungsriten, in den Zusammenhang von Sexualität, Politik und Gewalt, in die Psychologie von Armut und Unterdrückung und in erste Versuche, Sozialismus und Religionsfreiheit zu verbinden.

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