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German Pages 167 Year 2015
Schriften zum Öffentlichen Recht Band 1303
Personalismus Individualethik im Staatsrecht
Von
Walter Leisner
Duncker & Humblot · Berlin
WALTER LEISNER
Personalismus
Schriften zum Öffentlichen Recht Band 1303
Personalismus Individualethik im Staatsrecht
Von
Walter Leisner
Duncker & Humblot · Berlin
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Vorwort Ethik ist kein „geläufiger“ Begriff des Rechts, auch nicht des Staatsrechts. Als solche ist sie in Definition(sversuch)en, Umschreibungen, nach ihren Wirkung(sweis)en Gegenstand anderer Disziplinen, vor allem von Philosophie, Theologie, Psychologie. Dies gilt auch für den Begriff der „Überzeugung(en)“. Dass es eine solche Ethik überhaupt, an sich, tatsächlich, gibt, dass sie ins Recht aufgenommen, dort regelnd wirkt – dies alles kann im Folgenden nicht näher behandelt, darf aber grundsätzlich unterstellt werden: Nicht nur weil „moralische Begriffe“ in die Verfassung rezipiert worden sind, drängt es sich allgemein auf, sondern gerade für die demokratische Staatsform: Sie ruht auf den Wählern, auf menschlichen Willensentscheidungen, allein also auf diesen „Personen“. Sie sind „undurchdringlich“ in ihrem Innersten, für jede äußere Gewalt, auch und vor allem für die der staatlichen Gemeinschaft. Diesen individualethischen Bereich meint das Folgende, seine Moralvorstellungen. Wenn es solche Ethik nicht gäbe – in demokratischem Recht müsste sie erfunden werden. Insbesondere im Staatsrecht begegnen „Ethik“ wie die im Folgenden synonym gebrauchte „Moral“ immer wieder, in Wort(verbindung)en wie „Verhaltensethik“, „Sozialethik“ – und eben auch „Staatsethik“. Mit ihnen werden menschliche Verpflichtungen angesprochen, eine Art von „(innerem) Befehlsrecht ohne (äußere) Befehlende“, auf welches das positive Recht hin- oder gar verweist. Verfassungsbegriffe wie „Gewissen“ oder „Sittengesetz“ legen Deutungen in die gleiche Richtung nahe. Dies spricht für ihre staatsrechtliche Bedeutung, in Inhalts- oder Grenzbestimmungen, ja als Grundlagen einer Verfassungsordnung, welche prinzipiell-normativ „alles Recht hält“. Nähere Bedeutung oder gar Klärung steht jedoch aus; hier können dafür auch nur Ansätze geboten werden. Unbestritten, ja geradezu eine Vorgabe des gegenwärtigen Staats-Denkens ist jedoch eine Vorstellung: Diese Ethik kommt aus dem Innersten des Menschen, aus seiner „Persönlichkeit“, in Unterworfenheit unter eine höhere Ordnung als die des geltenden Rechts, oder als Selbst-Beschränkung der Rechtsträger – der „Personen“. Diese rechtlichen Wirkungen der Moral – vorsichtiger: ihre Bedeutung, ihr Gewicht – sind Gegenstand der folgenden Untersuchungen. Dabei steht eine Erscheinung von vorneherein im Mittelpunkt: Die wesentliche Beziehung von „Ethik und Person“ tritt deutlich beim Einzelmenschen, also in Individualethik hervor. Angesprochen wird sie aber auch als „Staatsethik“, hier ebenfalls in Verbindung mit dem Staat als (ordnender, befehlender) Persönlichkeit. Er erscheint darin, in vielen Zusammenhängen, geradezu als eine „Person im Recht“, vielleicht gar als eine „höhere“ gegenüber dem Individuum.
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Vorwort
Solchen Vor- und Fragestellungen wird hier nachgegangen. Zentral ist dabei der Begriff eines „Personalismus“: Gibt es in seinem Namen „Moral“ im Staats-, im Verfassungsrecht? Welches sind darin ihre Ursprünge, Kräfte, Wirkungen? Ist etwas wie „Staatsethik“ vorstellbar, welches sind ihre Beziehungen zu einer „Individualethik“, die das Verhalten des Einzelnen bestimmt, des Bürgers? Erwächst Staatsethik vielleicht gar wesentlich aus Individualethik? Dies alles können hier nur Ausgangs-Überlegungen sein. Auf normativ eindeutige Ergebnisse für eine Rechtsdogmatik müssen sie weithin verzichten. Wegweisungen aber mögen sie darstellen auf Rück-Wege von der „Staats-Macht“ eines lange herrschenden „Transpersonalimus“ zu einem ethischen Personalismus im Staatsrecht. In ihm könnte vielleicht eine „Wiedervereinigung“ stattfinden: des Staates in seinem Wesen und des Menschen in seinem Innersten. Sicher ist dies die große Hoffnung der Demokratie – ihr „wahres Ideal“. Es mögen hier Staats-Gedanken eines Individualismus geboten werden; gerade sie sind – „zollfrei“… München, im Juli 2015
Walter Leisner
Inhaltsverzeichnis Einleitung: Staatsethik und Personalismus: Eine lange, schwierige Beziehung . . . . . 13 A. Transpersonalismus: gegen Individual-Ethik im Staatsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 I. „Personales“ und „Transpersonales“ im Staatsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 1. Personales im Vordringen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 2. Fortwirkender Transpersonalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 II. Formen des Transpersonalismus und ihr Niedergang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 1. Religiöse Wandlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 2. Familie: Gesellschaftlicher Transpersonalismus in Auflösung . . . . . . . . . . . . . . . 24 3. Ökonomischer Transpersonalismus? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 4. Transpersonalismus der Machtstaatlichkeit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 III. Transpersonalismus und Verfassungsdogmatik im 20./21. Jahrhundert . . . . . . . . . . 33 1. Transpersonalismus in der Demokratie und ihrer Staatslehre . . . . . . . . . . . . . . . . 33 a) 1945: Ende des transpersonalen Staates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 b) Rückgriff auf Staatslehren der Weimarer Zeit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 2. Transpersonalismus aus Tradition? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 3. Transpersonalismus in verfassungsrechtlichem Systemdenken . . . . . . . . . . . . . . 39 4. Schwächung des Transpersonalismus – aber keine neue Staatsethik . . . . . . . . . . 41 B. Neue Staatsethik im Personalismus der freiheitlichen Demokratie . . . . . . . . . . . . 43 I. Notwendigkeit eines „Personalismus“ – nicht „neuer Transpersonalismen“ . . . . . . 43 II. Freiheit als ethische Staatsgrundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 1. Staatsrechtliche Freiheit in Individualethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 2. Grundrechte als Ethisierung des Staatsrechts – von der Individual- zur Gemeinschaftsethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 3. Sozialethik als neuer Transpersonalismus? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 4. „Der Freiheitsfeind“ als Staatsfeind – Neuauflage eines Transpersonalismus? . . 48 5. „Freiheit“ in „Ideologisierungsangst“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 III. Personalismus in der Historie des Staatsrechts: Kreisläufe und Evolutionen – nicht „Fortschritt“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 1. Ethischer Personalismus als Überzeugung des Augenblicks, nicht „in Entwicklung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52
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Inhaltsverzeichnis 2. Staatsethik aus Individualethik: Absage an Evolutionismus und Fortschrittsideologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 3. Exkurs: Staatsrechtlicher Personalismus und antike Staatsethik . . . . . . . . . . . . . 55 IV. Freiheitlicher Staat in Individualismus – Individualethik als Staatsethik . . . . . . . . . 57 1. „Staat aus Menschen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 2. Egalität: Die Gleichheit der Einzelnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 3. „Staat wie Mensch“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 4. Individualethik für Staatsorgane . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 5. Personalismus gegen Führermoral . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 V. Demokratie: Konkretisierung einer Individualethik als Staatsfundament . . . . . . . . . 65 1. Demokratischer Staatswille als Menschenwille – staatsrechtliche Ausprägungen 65 a) Staat aus Mehrheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 b) Demokratie: Menschenwille als Staatswille . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 c) Staatsrechtfertigung in ethischem Bekenntnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 d) Staatsbegeisterung, Staatspatriotismus aus Individualethik . . . . . . . . . . . . . . . 67 e) Staatspersonalismus als Grundlage des rechtlichen Vertrauens . . . . . . . . . . . . 68 2. Individualethische Grundzüge demokratischer Staatlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . 70 3. Politische Kräfte des individualistischen Personalismus in der Demokratie . . . . 72 a) Politische Kräfte und Staatsethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 b) Christentum, Sozialismus, Liberalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73
C. Personalismus in der grundgesetzlichen Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 I. Die sittliche Bindung des Staates nach dem Grundgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 1. Der individualethische Kategorische Imperativ: Für alle Rechtssubjekte geltend 76 2. Das „Sittengesetz“ (Art. 2 Abs. 1 GG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 3. Das Sittengesetz des Art. 2 Abs. 1 GG als Staatsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 4. Das „Sittengesetz“ als „Sozialethik“, mit staatlichem Regelungsmonopol: Redundanz oder Zirkelschluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 II. Die „guten Sitten“: Privatrecht und Verfassungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 1. Die „guten Sitten“ (§ 138 BGB) und das „Sittengesetz“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 2. Die Grundrechte als „das Sittengesetz“ – Drittwirkung: Staatsgewalt als Ethikinstanz? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 III. Das Gewissen im Grundgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 1. Gewissensentscheidung nach Art. 4 Abs. 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 2. Das „Abgeordneten-Gewissen“ (Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 3. Toleranzgebot und Gewissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 4. Verfassungspolitisches Grundproblem „Ideologieangst“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 5. Widerstandsrecht (Art. 20 Abs. 5 GG) und „Gewissen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96
Inhaltsverzeichnis
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IV. Die geistige und gesellschaftliche Entwicklung in der Gemeinschaft: Versiegen individualethischer Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 1. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 2. Der Rückgang religiös-ethischer Ordnungsvorstellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 3. „Ethikverluste“ in Familie und Erziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 V. Privatrechtsähnliche Rechtsvorstellungen: Vorbilder einer Individualethik im Staatsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 1. Einheit der Ethik – Einheit der Rechtsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 2. Individualethik vor allem in „privatrechtsähnlichen“ Rechtsbeziehungen . . . . . . 101 3. Individualethik und staatliche Sanktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 4. Gleichheit: Staatsrechtliche Brücke zur Individualethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 VI. Die Grundentscheidungen der Staatsform im Grundgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 1. Rechtsstaatlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 a) Die Legalität als ethische Rechtsbindung des „Staats als Person“ . . . . . . . . . . 105 b) Individualethische Inhaltselemente der Rechtsstaatlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . 107 c) Rechtsstaatlichkeit: Wirkungen in foro interno wie in foro externo . . . . . . . . 111 2. Sozialstaatlichkeit und Individualethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 a) Sozialstaat: Individual-, nicht nur Sozialethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 b) „Sozialstaat als Verteilungsstaat“ und Individualethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 c) Bedürfnis als Grundlage der Sozialstaatlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 d) Existenzsicherung als Individualethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 e) (Christliche) Barmherzigkeit: Erst recht in Individualethik . . . . . . . . . . . . . . . 116 3. Föderalismus und Individualethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 a) Föderalismus: reines Staatsorganisationsprinzip ohne Ethikgehalt? . . . . . . . . 117 b) Föderalismus: „Staat von unten nach oben“, „Nah bei den Menschen“ . . . . . 117 c) Staatlichkeit in Individualnähe: ethische Mehrheitsbeschränkung . . . . . . . . . . 118 d) Föderalismus als Feld der individuellen Vertragsethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 e) Bundestreue und Individualethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 f) Der Föderalismus als „Führungsschule der Demokratie“ . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 VII. Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 D. Verfassungsrechtliche Bestimmungen mit individualethischem Entscheidungsgehalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 I. Menschenwürde (Art. 1 GG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 1. Begriff der „Würde“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 2. „Würde(n)-Träger“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 II. Persönlichkeitsschutz – Privatheit (Art. 2 Abs. 1 GG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 1. Entfaltung der Persönlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126
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Inhaltsverzeichnis 2. „Allgemeine Handlungsfreiheit“ als Regelungsgegenstand des Art. 2 GG . . . . . 127 3. Allgemeines Persönlichkeitsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127
III. Gleichheit (Art. 3 GG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 1. Kein allgemeines Gleichheitsgebot nach Verfassungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 2. Individualethische Differenzierungsgründe innerhalb des verfassungsrechtlichen Gleichbehandlungsrahmens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 3. Achtung der gleichen Individualität(süberzeugung) Anderer . . . . . . . . . . . . . . . . 130 IV. Glaubens-, Weltanschauungs-, Gewissens- und Religionsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . 130 1. Schutz des individualethischen forum internum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 2. Individualethischer Öffentlichkeitsanspruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 3. Gleichheitsschranke individualethischen Verhaltens: Toleranz . . . . . . . . . . . . . . 131 V. Meinungs-, Informations-, Medien-, Kunst- und Wissenschaftsfreiheit (Art. 5 GG) 132 1. „Meinung“: „Individualethik in fieri“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 2. Informations- und Medienfreiheit als Voraussetzung individualethischen Verhaltens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 3. Art. 5 Abs. 1 und 2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 4. Kunstfreiheit in Individualethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 5. Wissenschaftlichkeit: ein individualethisches Verhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 VI. Ehe und Familie: Intensivierung der Individualethik (Art. 6 GG) . . . . . . . . . . . . . . 135 1. Ehe als Gegenstand individualethischer Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 2. Familie als individualethisch geprägte Gemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 3. (Kinder-)Erziehung als individualethische Aufgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 VII. Beruf (Art. 12 GG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 1. Beruf – Berufung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 2. Berufswahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 3. Berufsausübung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 4. Berufsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 VIII. Eigentum Privater . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 1. Grundrecht der Einzelpersönlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 2. Nachrangigkeit des „Gemeinschaftsbezugs“ des Eigentums . . . . . . . . . . . . . . . . 142 3. Die Wesensbestimmungen des Verfassungseigentums (Leistung, Sicherung, Vertrauen) – in Individualethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 IX. Individualethische Gehalte in weiteren Grundrechten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 1. Schulwesen (Art. 7 GG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 2. Versammlungsrecht (Art. 8 GG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 3. Vereinsfreiheit, Koalitionsfreiheit (Art. 9 GG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 4. Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis (Art. 10 GG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144
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5. Freizügigkeit (Art. 11 GG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 6. Wohnungsfreiheit (Art. 13 GG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 7. Justizielle Grundrechte (Art. 101 bis 104 GG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 X. Individualethik und „grundrechtsnahe“ Regelungsbereiche des Staatsorganisationsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 1. Gesetzgebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 2. Verwaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 3. Insbesondere das Berufsbeamtentum und die Individualethik . . . . . . . . . . . . . . . 151 4. Die Richter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 E. Ausblick: Personalismus als staatsrechtlicher Auftrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 I. Herrschaft des Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 II. Mehr Individualismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 III. Mehr Bildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 F. Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164
Einleitung: Staatsethik und Personalismus: Eine lange, schwierige Beziehung Dies ist Ausgangspunkt der folgenden Betrachtungen: Eine „Staatsethik“, konzipiert und aufgebaut nach Kategorien und Kriterien einer wie immer näher bestimmten Individualethik, gibt es gegenwärtig, und letztlich schon seit langem, im Staatsrecht nicht, soweit dieses Ausdruck „öffentlicher Gewalt“ ist, öffentliches Befehlsrecht. „Ethisch gedacht“ wird allgemein-grundsätzlich in eine ganz andere Richtung, mit Bezug auf die Wirkungen einer mit „Ethik“ oder „Moral“ bezeichneten menschlichen Verhaltensweise. Sie werden aufgefasst als innerer Appell an den Menschen, in seinem ganzen Verhalten, damit auch in seinen Gemeinschaftsbeziehungen. Immer aber ist es der Einzelne, das Individuum, welches hier angesprochen wird und, was wesentlich wichtiger ist, nicht „von außen“ durch einen Befehl des Staates oder einer wie immer konstituierten, den Einzelnen beherrschenden, ordnenden Gemeinschaft. Vielmehr ist das ethische Verhalten grundsätzlich und letztlich ausschließlich definiert aus dem Inhalt von Imperativen, die sich an den einzelnen Menschen richten in seinem Inneren und aus diesem heraus. Letztlich gibt er sie sich damit selbst, in seinem individuellen Menschsein. Sie werden ihm nicht auferlegt, aufgezwungen „von außen“, durch eine wie immer bestimmte rechtliche, juristische Imperative (durch)setzende Autorität. Im Grunde setzt sich hier, ungebrochen, das traditionelle kantische Denken in den Kategorien des kategorischen Imperativs1 fort, auch „im Recht“. Es hat die Rechtsphilosophie geprägt, im Neo-Kantianismus2 eine Rechtslehre hervorgebracht, welche ethische Standards auf juristische Ansprüchlichkeit zu übertragen sich bemühte. Das Staatsrecht als solches hat kantische Ethik zwar inhaltlich befruchtet, in Rechtfertigungsversuchen vielleicht erreicht, in konstruktiver Rechtsgestaltung aber nie vertiefend geprägt.
1 Der „Kategorische Imperativ“ Immanuel Kants ist eine der Grundlagen herrschender ethischer Vorstellungen, bis hin zur Rechtsphilosophie, vgl. neuerdings Horn, N., Einführung in die Rechtswissenschaft und Rechtsphilosophie, 5. Aufl. 2011, § 16; Mahlmann, M., Rechtsphilosophie und Rechtstheorie, 2. Aufl. 2012, § 5; Kirste, St., Einführung in die Rechtsphilosophie, 2010, S. 116 ff. 2 Zum Neukantianismus vgl. bereits Staatslexikon der Görres-Gesellschaft, 6. Aufl. 1960, Spalte 1005.
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Denn alle derartigen Hinweise auf sittliche Standards, wie in § 138 BGB auf die „guten Sitten“, auf ein, vor allem vertragstreues, Verhalten nach „Treu und Glauben“ (§ 242 BGB), oder auch auf den „ehrbaren Kaufmann“, gesteigert zu Kategorien und Normen des Verhaltens eines „gerecht und billig Denkenden“3, blieben stehen bei, letztlich stecken in etwas wie einer verallgemeinerten, als solcher gemeinmenschlich festzustellenden Durchschnittsmoral, besser: einem von einer solchen geprägten höchst allgemeinen Verhalten von Einzelmenschen. Das Staatsrecht haben all diese, an sich schon nur ansatzweisen, Versuche einer „Rechtsethisierung“ lediglich nur in einer wiederum noch allgemeineren, noch weitergehend relativierten, wenn nicht verdämmernden Form erreichen können. Die Übertragung ethischer Grundsätze des Privatrechts auf den staatsrechtlichen Bereich blieb beschränkt: Der Staat dürfe eben auch „letztlich“, in den engen Grenzen des BGB, nicht anders handeln als ein selbst sich bindender, in sich gebundener Bürger4. Dass aber Staatsorgane als solche geradezu gebunden seien an eine derartige Ethik, welche letztlich doch vor allem Individualmoral ist, dass sie handelten auf deren Rechtsgrundlage – diesen, größeren Schritt hat das Staatsrecht nie systematisch, in grundsätzlichem Blick auf alle seine Ordnungen vollzogen. Im Staatsrecht stand eben „die Ordnung als Gegenstand des Rechts“ im Vordergrund, nicht ein individualmenschliches, familiäres, geschäftliches, ein Besitz- oder Erbverhalten. Für das Staatsrecht war primär Objekt, Bezugspunkt immer und letztlich weithin nur „das Ordnen als solches“. Rückbezogen wurde dies zwar auf jene „Körperschaft“ Staat, in deren Namen sich ein letztes individualmenschliches Denken halten mochte – aber eben nur in einer weitgehend rein verbalen Form. Vom Monarchen, von einer herrschenden aristokratischen Schicht konnte noch erwartet werden, dass sie sich ihres individuellen Menschseins bewusst seien, sich dementsprechend verhielten, als Patres patriae in Fürsorge für Gewaltunterworfene. Ihr familiäres Denken mochten sie, mehr oder weniger, auf die „ganz große Familie“ übertragen, es in deren Ordnung persönlich befehlend leben, welche dann als staatliche Gemeinschaft erschien. Darin waren menschliche Bezüge, war humanes Denken im vollen Sinn des Wortes noch immer staatsrechtliche Wirklichkeit. Im Staatsrecht wurde von den großen philosophischen Königsberatern und Prinzenerziehern, von Aristoteles bis hin zu Versuchen Fénélons5, „pädagogisiertes Staatsrecht“ in Individualmoral gelehrt und dann auch, mehr oder weniger in solchem Sinne – Josephinismus6 als Beispiel – praktiziert, bis hin zu staatsrechtlichen Umwälzungen. 3
Vgl. dazu näher unten C. II. 1. Zur Bedeutung der Vertraglichkeit im Öffentlichen Recht grds. Leisner, W., Vertragsstaatlichkeit. Die Vereinbarung – eine Grundform des Öffentlichen Rechts, 2009, S. 14 ff. u. passim. 5 Fénélon (1651 – 1715), insb. in seiner pädagogischen Erzählung Télémaque (1699). 6 Zum Josephinismus vgl. Brauneder, W., Österreichische Verfassungsgeschichte, 4. Aufl. 1987, S. 88 ff.; Reinalter, H., Der Josephinismus: Bedeutungen, Einflüsse und Wirkungen, 1993; ders.: Josephinismus als aufgeklärter Absolutismus, 2008. 4
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Die heraufkommende Demokratie war in ihren Wurzeln immerhin noch streng pädagogisiert in diesem Sinn, trat mit ethischen Ansprüchen auf, selbst bei Robespierre7, mitten im Blutrausch der Französischen Terreur. Eine ganze Grande Nation wurde vom ethischen Imperativ erfasst und getrieben bis auf die Schlachtfelder Napoleons, der Befreiungskriege – in Deutschland in Idealismus. Die großen Kodifikationen, getragen vom Sieg aufklärerischen Denkens, seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, versuchten eine Systematisierung der Individualethik in den privatrechtlichen Bürgerbeziehungen – und wollten diese zugleich hinauftragen in eine Staatsethik. Friderizianismus und Napoleonismus8, das preußische allgemeine Landrecht wie der Code civil, waren großangelegte Versuche zunächst einer Neu-Ethisierung der bürgerlichen Gemeinschaft, ausgehend dann vor allem von deren Familien-, Eigentums- und Bildungsdenken auch einer entsprechenden Moralisierung der Staatsgewalt. Da die Monarchien des 19. Jahrhunderts, allenthalben in Europa, wenn auch in verschiedener Form, in den „fürstlichen Familien“9 normativierte Anknüpfungspunkte für eine solche „Staatsethisierung an der Spitze“ des Staates boten, konnte sich diese „Gesellschaftsethisierung“ fortsetzen, bis hinein in eine Staatsethisierung, den Konstitutionalismus in seinen beiden Säulen verfestigen: - Da war jenes in seinen Bürgerbeziehungen, in Gehorsam gegenüber seinen neuen Rechtsordnungen wahrhaft „zivilisierte“ Volk, pädagogisiert in den spätaufklärerischen Erziehungssystemen10 und in der neuen allgemeinen Schulpflicht, gemäßigt in der christlichen Ethik einer Kirche, welche auf Staatskirchen-Gewaltsamkeiten der Vergangenheit verzichten musste11. - Da war, noch immer, auf der anderen Seite der König, der Depositar des Rousseauschen Sozialvertrags, im weiter wirkenden Sinne der Tradition eines Macchiavelli12. Diese Monarchen waren wirkliche „Bürger-Könige“; in den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts erreichte diese Symbiose ihren ausgleichenden staatsrechtlichen Höhepunkt. Sodann wurde sie durch immer neue Stöße eines 7 Zu Robespierre als Vertreter einer neuen revolutionären Ethik vgl. Labica, G., Robespierre: eine Politik der Philosophie, 1994; Gebhard, H., Liberté, egalité, brutalité: Gewaltgeschichte der Französischen Revolution, 2011, S. 126 ff.; Schultz, U., Der König und sein Richter: Ludwig XVI und Robespierre: eine Doppelbiographie, 2012. 8 Napoleon haben diese Moralvorstellungen noch bis nach St. Helena begleitet, vgl. Leisner, W., Napoleons Staatsgedanken auf St. Helena, 2006, S. 45 ff.; zum Code civil S. 52 f., 68 f. 9 Vor allem in ihren Hausgesetzen, vgl. Leisner, W., Monarchisches Hausrecht in demokratischer Gleichheitsordnung, Erlanger Forschungen, 1968. 10 Spätaufklärerische Erziehungssysteme, etwa bei Pestalozzi, sind bereits auf eine gewisse Breitenwirkung einer Volkspädagogik angelegt. 11 In der neuen staatskirchenrechtlichen Toleranz, vgl. dazu v. Campenhausen, A., in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG 6. Aufl. 2010, Art. 137 WRV, Rn. 17. 12 Bei Macchiavelli erscheint „Il Principe“ gewissermaßen als Depositar des späteren Sozialvertrages.
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radikalen, sozialisierenden Kollektivismus erschüttert, am Ende gebrochen, jedenfalls tiefgreifend umgestaltet im Französischen Republikanismus, in Deutschland spätestens in der Weimarer Zeit. Nun war es wirklich „der Staat“ als solcher, welcher voll und ganz an die Stelle der großen Staats- und Bürgerfamilie trat, wie sie die Aufklärung hatte schaffen wollen, in ihren Vergangenheits-Fortschreibungen im Konstitutionalismus hatte realisieren können. Dann aber kam es zu einem tiefen Einbruch in diese Ansätze einer „Staatsethik“: Es brachen die monarchischen Stützen im Grundsatz weg, damit wurde letztlich der Individualkanal der Herrschaft in all seinen ethischen Disziplinierungen und Implikationen verschlossen. Mehr noch: Das Recht wurde weithin verstanden als Ausdruck eines „schlechten bourgeoisen Gewissens“, dieses noch aufgebaut auf jener familien- und eigentumsgestützten Konzeption des Bürgertums, eben als ein „bürgerliches Recht“ in einem nunmehr kritisch zu sehenden Sinn. Nun konnte sich, ausgehend von dieser bürgerlichen Ordnung, die als eine neue Befehlsordnung der Gesellschaft erschien, eine Entwicklung anbahnen zu einer Staatlichkeit als sozialer Schieds- und Verteilungsordnung. Darin war der „Staat“ als ein König in ganz neuen Kleidern aufgetreten. Es ging13 nun nicht um eine Staatsethik, ausgehend von einem wie immer gelebtem Individualismus. Vielmehr trat die neue Staatlichkeit hervor, die rechtlich geordnete Gemeinschaft. Staatsethik war von da an nur mehr denkbar als eine Gemeinschaftsethik. Der Kommunismus führte dies sogleich bis an die Grenzen des menschlich auch nur Denkbaren. Sein Hegelianischer Überstaat14 wurde, in totaler Verteilung, in Egalität nicht nur konzipiert, sondern radikal realisiert. Damit war Individualethik tot. Weiterleben konnte sie nur als Gehorsam gegenüber dem Staat, allenfalls noch in einer Gemeinschafts-, einer Gesellschaftsethik. Die alte Kirche, die stets das Große Neue vor allen anderen Mächten erkannt und aufgenommen hat, war auch hier sogleich zur Stelle. In ihrer Gesellschaftsethik, ihrer kirchlichen Sozialmoral15 suchte sie jene rührende, post-nazarenische Kinderglauben-Religion, auf die noch Pius X. gehofft hatte, überzuleiten in eine Standesethik, eine Moral in kleineren Berufsgruppen bestimmter Gemeinschaften. Katholische
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Gipfelnd in dem Gegensatz „Bürger und Bourgeois“. In Hegels Staatslehre (vgl. dazu Weisser-Lohmann, E., Rechtsphilosophie als praktische Philosophie: Hegels „Grundlinien der Philosophie des Rechts“ und die Grundlegung der praktischen Philosophie, 2011; Mahlmann, M., FN 1, § 7) wird dabei übrigens das moralische Grundanliegen verkannt. 15 Überblicke über die Katholische Soziallehre in der Weimarer Zeit s. bei Meßner, Johannes, Staatslexikon der Görres-Gesellschaft, 5. Aufl. 1931, Bd. 4, Artikel Soziale Frage, Soziale Gerechtigkeit, Soziale Ordnung, Sozialethik. 14
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Ständestaatlichkeit16, bis hin zum Faschismus, wurde der kollektiven Staatsmoral der Sozialisten und Kommunisten entgegengesetzt. Dies alles sollte gelingen im Namen einer neuen Staatslehre, wie sie in Deutschland zur Weimarer Zeit entfaltet wurde. In ihr war aber Ethisierung, Staatsmoralisierung kein Zentralthema. Es ging um Staatsorganisation, um Rechtstechnik im weiteren Sinne. Sie sollte all das leisten, was nun der neue Bezugspunkt des Staatsrechts, die demokratische Staatsform, an grundsätzlicher Grundlegung verlangte. Es war dies Allgemeine Staatslehre, nicht Staatsethik; diese kam in der Allgemeinen Staatslehre der Zeit als solche kaum vor17. Und so sollte es bleiben in der Zweiten Nachkriegszeit: „Die Freiheit“ war ja gekommen, mit ihr Beliebigkeit, nicht regelnde ethische Imperative. Aufbau war gefordert, gebieterisch, nicht Anstand, Anständigkeit als seine Triebkräfte. Das biblische „Suchet zuerst (wenn nicht) das Reich Gottes (, so doch Ethik), Alles andere wird euch dazugegeben werden“ – es wurde buchstäblich in der Marktwirtschaft praktiziert, aber ganz anders: Suchet zuerst den Gewinn, den Fortschritt, den Wohlstand, für Alle, für möglichst Viele. Hatte sich nicht in der Neuen Welt gezeigt, dass damit, ganz selbstverständlich, eine Individualethisierung zugleich wächst? Ohne sie, ihre Imperative, jedenfalls Verhaltensregeln, lässt sich ja dieser „breite Weg zum Gold“ auf Dauer gar nicht beschreiten; er würde nur in einem Blut enden, von dem doch wahrlich übergenug vergossen worden war. In dieser Art einer geradezu „historischen ökonomischen Sozialmoral“ bedurfte es einer Staatsethik als solcher kaum mehr. Was an Individualmoral sich entfalten – oder auch nur „halten“ – konnte, reichte allenthalben aus in einer Gesellschaft, welche Gutes tun wollte, in der Gutmenschlichkeit amerikanischer Kirchlichkeit und Stiftungstätigkeit vorgelebt wurde, und auch in Europa einen Zustand gesellschaftlicher Balance doch ohne weiteres zu halten schien. Was sollte in dieser Lage Individualmoral bringen, noch hinzufügen? Sie erschien ja belastet aus einer Vergangenheit, in welcher sie die Staatsgewalt in ihren Befehlsstrukturen hatte befestigen können, als „Opium für das Volk“, in Religion vor allem. Über diese wahrhaft vernichtende marxistische Analyse konnte keine Staatsmoral, ja nicht einmal eine neue Individualmoral mehr hinweg tragen. Selbstverständlich war es daher, dass sich das Staatsrecht der neuesten Zeit ganz neuen Ufern immer mehr zuwenden musste: Der Ordnung des wahrhaft gewaltigen technologisch-ökonomischen Fortschritts. Ihn zu halten, auch nur einigermaßen zu bändigen, in schiedsrichterlicher Balance – das war und ist noch heute primäre staatsrechtliche Aufgabe, Gegenstand und Inhalt staatsrechtlichen Denkens. Hier 16
1921.
Zur Katholischen Ständestaatlichkeit s. insbesondere Spann, Othmar, Der wahre Staat,
17 „Staatsethik“ findet sich in der Verfassungslehre Carl Schmitts nur in wenigen Ansätzen, in seinem ganzen Werk stellt dies keinen Schwerpunkt dar, vgl. Schmitt, Carl, Verfassungsrechtliche Aufsätze, 1924 bis 1954. Materialien zu einer Verfassungslehre. Dies gilt sogar für den Begriff der Legitimität (S. 263 ff.: „Legalität und Legitimität“).
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tiefer nach Kräften zu suchen, die dies aus menschlichen Überzeugungen, Grundeinstellungen, aus einer individuellen Ethik heraus fördern könnten – was soll das alles in einer Staatlichkeit, die in ihrer Rechtstechnik gefragt ist, jede Gesinnungsordnung als Relikt einer Gewalt in überholter Staatsmoral kritisieren kann, verwerfen? Auf diesem Hintergrund sollen nun die folgenden Betrachtungen, in wenigen Schlaglichtern, gewisse Entwicklungen aus letzter Zeit beleuchten, vielleicht hinausleuchten auf Wege, die doch in einer Staatsmoral beschritten werden können, welche aus Individualethik erwächst. Gegenstand der Betrachtungen sind Ansätze zu einer neuen Staatsethik, in einer Rückkehr zur Individualethik als einer wesentlichen Staatsgrundlage, gerade in der Demokratie. Dies sollte im Staatsrecht einen Transpersonalismus, wenn nicht ablösen, so doch entscheidend ergänzen, der bisher, lange schon, staatsrechtliches Denken geprägt, ja getragen hat. So wird denn im Folgenden in einem Teil A die geistige Ausgangslage des Staatsrechts beschrieben, der juristische „Transpersonalismus“ seine Kräfte und sein beginnender Niedergang. In einem zweiten Teil (Teil B) folgen Überlegungen zu einer grundsätzlichen, staatstheoretischen Annäherung des Staatsrechts an eine Individual-Ethisierung des Staates und in ihm. In Teil C wird schließlich dargestellt, wie eine solche Ethisierungsentwicklung, vor allem in der Staatsform der Demokratie, bereits konkrete verfassungsrechtliche Anhaltspunkte, Öffnungen findet.
A. Transpersonalismus: gegen Individual-Ethik im Staatsrecht I. „Personales“ und „Transpersonales“ im Staatsrecht 1. Personales im Vordringen Transpersonalismus18 ist als solcher kein Topos geltenden Staatsrechts und auch alles andere als eine gegenwärtige staatsrechtliche Mode. Das „Personale“ dagegen ist, in der allgemeinen Bewusstseinslage der Bevölkerung wie auch in rechtlichen Ausprägungen von Ansprüchlichkeit und deren juristischer Sicherung, ein wirkmächtiger Zentralbegriff des gegenwärtigen Staatsdenkens. Er aber deutet nicht auf irgendeine individualübergreifende Begrifflichkeit hin, in welcher das Verhalten der staatlichen Gewaltträger wie der Gewaltunterworfenen geordnet würde. Vielmehr weist alles Personale, sein immer weiter verstärkter Schutz19, eindeutig hin auf eine individuelle Menschenbezogenheit des Rechts, zu allererst des Staatsrecht. „Persönlichkeit“, alles „Personale“ – das sind im gegenwärtigen Recht nicht Begriffe, die als solche einen wie immer gearteten Gemeinschaftsbezug aufwiesen, auch nicht darin, dass die Worte bereits als solche begrifflich-rechtliche Schrankenziehungen menschlichen Verhaltens von außen beinhalteten. Vielmehr wird hier ein wirkmächtiges Ordnungszentrum angesprochen20, als solches in einem dynamischen Wesen, in einer Erweiterungsfähigkeit, die von einer Kernvorstellung ausgeht, von deren aktuellen und virtuellen Kräften getragen wird. Hier wirken nicht formale juristische Begrenzungen, sondern rechtsgestaltende Kräfte. Dieses heute so wirkmächtige „Persönliche“, „Personale“ wird auch, wie sich im Folgenden zeigen wird, zunehmend verstanden als eine rechtliche Basis, ja eine wahre Rechts-Grundlage der staatlichen Ordnung. 18 „Transpersonalismus“ wird hier im Folgenden verstanden als eine geistige Grundlage der Staatlichkeit und Legitimation ihres Handelns, welche außerhalb von individuell-personalen Kräften liegt, jenseits daher auch von Individualethik, so wie diese in der Einleitung angesprochen wurde. 19 Insbesondere im „Allgemeinen Persönlichkeitsrecht“. Systematischer Ausgangspunkt war Hubmann, H., Das Persönlichkeitsrecht, 2. Aufl. 1967. Nachw. bei Starck, Chr., in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG 6. Aufl. 2010, Art. 2 Rn. 86 ff. Das BVerfG leitet dies in st. Rspr. aus Art. 2 Abs. 1 und Art. 1 Abs. 1 GG ab, vgl. schon E 16, 194 (201), später etwa 95, 220 (241). 20 Deutlich insbesondere im Schutz der Intimsphäre, welchen das Bundesverfassungsgericht neuerdings immer weiter verschärft, vgl. etwa BVerfG E 117, 202 (233) – Datenschutz allgemein; aber auch bereits E 115, 166 (189) – Telekommunikation.
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A. Transpersonalismus: gegen Individual-Ethik im Staatsrecht
In juristischer Praxis der Gegenwart begegnet dieses „Personale“ in einer ständigen staatsrechtlichen Schranken-Vorverlegung, vor allem in der Verfassungsrechtsprechung. Hier gilt es doch Gefährdungen entgegen zu treten, welche sich aus dem technologischen Fortschritt für alle Formen von Privacy ergeben. So mag denn auch bereits von einer Tendenz gesprochen werden, einen derartigen „Personalismus“, wie immer man ihn im Einzelnen definiert, als eine Erscheinungsform des Rechts zu sehen, welche sich, früher oder später, geradezu in dessen Mittelpunkt drängen wird.
2. Fortwirkender Transpersonalismus Noch aber ist es längst nicht so weit. Das grundsätzliche Staatsverständnis, in seinen Ausprägungen in der staatsrechtlichen Dogmatik, ist noch immer von Denkformen geprägt, welche es seit Jahrhunderten mit wahrer Macht, eben der „Staats-Macht“, beherrschen. Sie sind auch heute noch weithin eine unausgesprochene und gerade darin besonders wirkmächtige Grundlage eines „stillschweigenden staatsrechtlichen Verständnisses“: in Transpersonalismus. Dieser wurde sogar erst voll bewusst, gelangte also gewissermaßen an die Oberfläche des staatsrechtlichen Ordnens in jener Periode, in welcher auch, aus den gleichen Gründen, erstmals systematisch-grundsätzlich über „die Staatlichkeit als solche“ nachgedacht werden musste, mit dem Zerfall, ja dem Zusammenbruch der sie bislang haltenden Kräfte. Es war dies jene gerade in ihrer Kürze, ihrem Vorübergehen so erstaunlich produktive, in diesem Sinn einmalige Weimarer Zeit21, in welcher auch der Transpersonalismus, diese grundlegende Verständnisform aller Staatlichkeit, als solcher neu artikuliert werden konnte. Sie beschränkte sich aber schon damals keineswegs auf Versuche, „ihren Staat“ als etwas „ganz Anderes“ zu erfassen; in ihr lief all jenes Denken weiter, in neuformulierten „Gemeinschaftsvorstellungen“22, welches schon bisher den Staat als solchen abgehoben hatte von den ihn zwar tragenden, ihm aber doch wesentlich untergeordneten Menschen, ihrem Verhalten, ihrer individuellen Ethik. Dieser dergestalt bewusst gewordene Transpersonalismus war nichts anderes als ein Versuch der Zusammenfassung, der Bündelung von jahrhundertelang bereits wirksamen transpersonalen staatshaltenden Kräften, die sich in jener Weimarer Zeit erstmals vom Niedergang bedroht fühlten, eine neue systematische Basis suchten – die sie letztlich nicht haben finden können, war doch die „Vermenschlichung“ des demokratischen Denkens rascher und
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Zum Transpersonalismus finden sich Ansätze in der Weimarer Zeit, vgl. auch FNen 15 und 16, obwohl dies schon damals kein Begriff des geltenden Staatsrechts mehr war: Radbruch, G., Rechtsphilosophie, 4. Aufl., nach dem Tode des Verf. besorgt und biographisch eingel. von Erik Wolf, S. 107 ff.; Wiegand, M. A., Unrichtiges Recht: Gustav Radbruchs rechtsphilosophische Parteienlehre, 2004, S. 165 ff. 22 Zur Sozialethik in der Weimarer Zeit vgl. Meßner (FN 15), Sp. 1680.
II. Formen des Transpersonalismus und ihr Niedergang
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mächtiger zur Stelle im Zentrum bewusster und gewollter demokratischer Staatsgewalt. Immerhin lässt sich aber staatliche Gewalt, wie sie heute das Staatsdenken beherrscht, nicht vertiefend verstehen ohne eine nähere Betrachtung jener Kräfte, welche früheren Transpersonalismus trugen, ihn noch heute stützen als geistige Grundlagen der demokratischen Staatsform. Die Wirkung dieser fortwirkenden Transpersonalismen mag sich laufend abschwächen, neue geistige Kräfte suchen müssen, welche ihre Defizite ausgleichen. Damit werden dann die Räume sichtbar, welche von früherem transpersonalen Staatsdenken gewissermaßen freigegeben werden, in welche ein neues staatsrechtliches, ein wesentlich demokratisches Denken eindringen, sie gestalten und halten kann. Eine rechtliche Bewusstwerdung des Niedergangs der transpersonalen Kräfte, wie sie im Folgenden nun zunächst dargestellt werden soll, ist also Voraussetzung für die Erkenntnis von Kräften und deren Wirkungsräumen, welche ein neuer Personalismus sich erschließen, die er besetzen muss – und dies mit Kräften, wie sie eben doch letztlich nur kommen können aus einer individualmenschlichen Ethisierung. Dies mag nicht nur als Programm, sondern auch als Rechtfertigung der folgenden Überlegungen zu verstehen sein. Ein ethischer Individual-Personalismus, wie er hier in seiner Entwicklung, in seinen Kräften untersucht werden soll, wird nicht in revolutionären Schlägen das Staatsrecht erreichen und besetzen. In punktuellen Entwicklungen allenfalls kann der unterschwellig weiterwirkende große traditionelle Transpersonalismus aufgelöst und immer mehr ersetzt werden durch ein personales ethisches Denken im Staat. Die ständige „Beschwörung des Menschen“, als Partner in wahrer ethischer Güte23, wie als Vorwand geschäftiger „Gutmenschlichkeit“, wird weiter in einem „Denken in Hilfen“ sich fortsetzen, nicht immer verstehen, dass praktische Hilfe und staatsrechtliches Denken zwar zusammengehören sollten, so häufig aber weit voneinander entfernt sind.
II. Formen des Transpersonalismus und ihr Niedergang 1. Religiöse Wandlungen Religiosität war immer eine Stütze, lange Zeit schlechthin die Säule des staatsrechtlichen Transpersonalismus. Der Glaube an den Schöpfergott, an den Einen, Unendlichen beinhaltete zugleich die Anerkennung seiner Macht, damit ein Denken in Kategorien der Macht schlechthin. Ob sich hier ägyptische und römische Reichsvorstellungen fortsetzten, bis an die Schwelle des 1. Weltkriegs, ob die Kirche 23
Leisner, W., Der gütige Staat. Die Macht der Geschenke, 2000.
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A. Transpersonalismus: gegen Individual-Ethik im Staatsrecht
dies in ihrer Augustinischen Civitas Dei24 bis hin zum Cäsaropapismus für sich in Anspruch nahm, monopolisierte für ihren Gott – die herkömmliche Denkkategorie Staat ist unvorstellbar ohne die Idee einer göttlichen Macht, die sich auf Erden ausbreitet, eines Staates als Gott auf Erden, der wie sein Schöpfer Allmacht für sich beansprucht und in all seinen Verhaltensformen durchzusetzen sucht. Von der Identifikation dieser staatlichen Mächtigkeit mit der des Schöpfergottes, ihrer Rechtfertigung aus dieser letzteren, führte nun ein jahrhundertelanger Weg der „Identifikationsabschwächung der Macht“ über das Staatskirchentum des Absolutismus bis zu den konkordatären Rezeptionsformen des gegenwärtigen ReligionsVerfassungsrechts. Die Staatsrechtfertigungskräfte mochten sich darin immer weiter abschwächen; die Geschichte der staatsrechtlichen Bedeutung des Gottesgnadentum (Dei Gratia)25 ist die eines zunehmenden Zurückfallens staatslegitimierender Kraft der Religion. Immerhin konnte diese, wiederum in jener staatstheoretisch kreativen Weimarer Zeit, ihre Legitimationswirkungen sogar hinüberzuretten versuchen in die neue Volksherrschaft: Vox Populi, Vox Dei konnte Wahlspruch eines fürstlich-aristokratischen Kardinals bleiben in deutscher Politik26, in kirchlichem Selbstverständnis wirken. Es galt ja auch (noch) nicht den Menschen zu „rechtfertigen“, den Einzelnen als Träger der Staatsgewalt, sondern einen wiederum und trotz aller Volksbasis transpersonalen rechtlichen Gewaltträger: „Das Volk“. Dass damit aber ein Niedergang transpersonalen Denkens, transpersonaler Staatsrechtfertigung verbunden sein musste, liegt, jedenfalls aus heutiger Sicht, auf der Hand: Immerhin hatte doch die Römische Kirche eine übergreifende ethische Einheit immer herzustellen sich bemüht, war darin auch stets von neuem erfolgreich gewesen: in einer gewissen Ethisierung des Staatsrechts, des Öffentlichen, damit auch des Kirchenrechts überhaupt. Diese Religion war als ein transpersonaler Halt des Staatsrechts, in diesem und seiner Verfassung im weiteren Sinn zwar nie voll „bewältigt“ worden; stets hatte sie zugleich einen Antagonismus in die diesseitige Ordnung getragen27. In der staatszentralen Institution des Monarchen war jedoch dieser Transpersonalismus zum staatsrechtlichen Personalismus geworden. In seinen institutionellen Machtausprägungen, wie insbesondere durch sein zugleich doch auch individualethisches Vorbild, durchwirkte dieser „personalisierte Transpersonalismus“ das gesamte Staatsrecht. 24 Zur Civitas Dei vgl. Leisner, W., Gott und Volk. Religion und Kirche in der Demokratie, Vox Populi – Vox Dei?, 2008, S. 77 ff. 25 Dieses „Gottesgnadentum“ war noch im 19. Jahrhundert ein Kernstück des monarchischkonstitutionellen Staatsrechts, vgl. Brunner, O., Vom Gottesgnadentum zum monarchischen Prinzip, in: Brunner, O., Neue Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte, 3. Aufl. 1980, S. 160 ff.; Häberle, P., „Gott“ im Verfassungsstaat, in: Fürst, W. (Hrsg.): Festschrift für Wolfgang Zeidler, Bd. 1. 1987, S. 3 ff. 26 Wahlspruch von Michael Kardinal Faulhaber; s. Leisner, W. (FN 24). 27 Am deutlichsten im Gallikanismus in Frankreich, aufbrechend auch im Josephinismus (vgl. FN 6).
II. Formen des Transpersonalismus und ihr Niedergang
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Vor einem Jahrhundert ist dieser eigentümliche staatsrechtliche Global-Halt zusammengebrochen. Seine religiösen Relikte wurden in Konkordate und ins Staatskirchenrecht übernommen, dort eingebaut, aber nie wirklich bewältigt, im Sinne einer vollen Integration in die neue, demokratisch-gesinnungsneutrale Ordnung. Eine geistige Grundlage für eine Staatsethik findet sich weder mehr in einem „echten“, ursprünglichen, dem transzendenten religiösen Transpersonalismus, noch in der früheren monarchischen Vorbildlichkeit, welche Reichs- und Staatspräsidenten nie auch nur entfernt haben erreichen können28. Ihre monarchischen Vorgänger mochten Individualethik in all ihren Formen verletzen, ja ignorieren; sie nahmen sie dennoch als Rechtfertigung ihrer Staatsform, ihrer Staatlichkeit ständig in Anspruch, ließen sich ihre Sünden von der Heiligen Kirche vergeben. Für demokratische Staatsführer stellt sich all dies nicht einmal mehr als eine ethische Frage, in welchem Sinne auch immer. Geblieben ist, als etwas wie eine ethische Fernwirkung des Religiösen in die Staatlichkeit hinein, ein „Gutmenschentum“ des Durchschnittsbürgers, des „Kleinen Mannes“ – und ein „soziales Stiftungsverhalten“ der Begüterten, sei es das einer staatstragenden Oberschicht im vollen Sinn oder nur eines Neureichtums in schlechtem Gewissen. Wie Ethik überhaupt überleben kann jenseits von Religion – um diese Frage bemüht sich Individualethik nun seit Jahrzehnten, doch ohne staatsrechtlichen Anspruch. Den Versuch, daraus etwa gar eine Staatsethik zu gewinnen, haben solche Bemühungen kaum je vertieft unternommen. Der Verlust der religiösen Grundlagen des Staatsrechts ist bisher in all seinen globalen wie kapillaren Auswirkungen weder als solcher noch in seiner ethischen Wirkungsmächtigkeit voll erkannt. Was es etwa bedeutet, dass damit das individualethische periodische Rechtfertigungsbemühen des Einzelnen vor sich selbst und seinem unsichtbaren Schöpfer aus dem praktischen Leben verschwunden ist, mit Beichte und Sündengefühl – all dies wird schon deshalb nicht vertiefend thematisiert, weil dahinter etwas steht wie eine geradezu sakrale Angst, es könnten damit Grundlagen menschlichen Zusammenlebens überhaupt verloren gehen, bereits verloren sein. Auf etwas wie eine wohlwollende Schonung wenigstens individualethischer Ordnungsmächtigkeit der Religion können also die „Religionsgesellschaften“ noch immer weiter vertrauen, weit weniger aber in ihren Ewigkeitsvorstellungen, die nun für Viele diesseitige geworden sind.
28 Zu „Staatspräsidenten als Vorbildern“ findet sich nur wenig im Schrifttum des Staatsrechts in neuerer Zeit; allenfalls wird auf die „Integrationsaufgabe des Bundespräsidenten“ hingewiesen, vgl. Fink, U., in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG 6. Aufl. 2010, Art. 54 Rn. 14. Als ein „demokratischer Führer“ (vgl. dazu Leisner, W., Der Staatspräsident als „demokratischer Führer“, in: FS f. Johannes Broermann, 1982, S. 81 ff.) wird er schon, aus Gründen der Vergangenheitsbewältigung, kaum gesehen; dies ist bedauerlich, bedarf doch gerade die Volksherrschaft der Führergestalten, wenn auch ihrer Art, nicht der einer näheren Vergangenheit.
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A. Transpersonalismus: gegen Individual-Ethik im Staatsrecht
2. Familie: Gesellschaftlicher Transpersonalismus in Auflösung Eine andere, ebenso breite, gleichermaßen wohl unaufhaltsam wirkmächtige Entwicklung ist dabei, den zweiten großen Säulen-Halt des Transpersonalismus im Staatsrecht zu schwächen, am Ende einzureißen: Der Niedergang der Familie. a) Dass diese Lebensform, wie immer institutionalisiert, nicht nur die zentrale Erscheinungsform jeglicher menschlicher Gemeinschaft darstellt, sondern als Ordnungsform die „Wiege“, ja den Prototyp jeder staatlichen Gemeinschaft – all dies sind Erkenntnisse von einer historischen Selbstverständlichkeit, die als solche keines Beleges bedürfen. Noch für die Aufklärung war dies, bereits in ihrem Bemühen, religiöse Grundlagen des Staates zu ersetzen, der unbestreitbare Ausgangspunkt ihres Denkens29. So wie die Patria Potestas am Anfang der gewaltigen Römischen Staatlichkeit gestanden, immer wieder als ihr Halt beschworen worden war, so versuchte sogar ein Napoleon in seinem neuen Zivilrecht diese Familie als Keimzelle seines Empire wieder zu beleben, nachdem die lüsternen monarchisch-aristokratischen Ausschweifungen der Vorrevolutionszeit, bis hinein in einen wahren venezianischen Karnevalstaumel, Individual- wie Staatsmoral an den Rand der allgemeinen Unglaubwürdigkeit geführt hatten – gerade im „schlechten Beispiel“ der „höheren Schichten“. Die strengen Familienbilder-Galerien des Patriarchalismus im 19. Jahrhundert konnten diese Restaurationsversuche der Familie noch generationenlang vergegenwärtigen; aus ihnen blickt bereits eine gewisse Distanz auf jene späteren Generationen herab, welche dort, in einer traurigen, oft moralisch heuchlerischen Disziplin, ihre Zukunft bald nicht mehr sehen wollten. Die Weimarer Zeit fühlte – soweit eine ganze Periode eines solchen Gefühls mächtig sein kann – dass ihr großer transpersonaler Verlust der Monarchie nach neuen Stützen verlangte. Katholisch-kirchlicher Zentrums-Politik gelang es immerhin, jener Familie nun Verfassungsgrundlagen zu bieten30, so wie die Weimarer Reichsverfassung ja auch versucht hatte, im Reichspräsidenten sich den Monarchen zu erhalten. Im Grunde waren dies aber bereits rechtliche Erscheinungen eines weiteren, entscheidenden transpersonalen Niedergangs, der sich auch durch solche und andere, geradezu ständestaatlich gestaltete Konstruktionen nicht mehr aufhalten ließ. Man mag daraus die allgemeinere staatsrechtliche Einsicht gewinnen, dass alles, was in besonderer Weise „neuen Verfassungsschutz“ erlangt, ihn in juristischen Formen fordert, bereits ein erstes Anzeichen von Niedergang, von absehbarem Ende darstellt: „Das rechtlich Schützenswerte liegt schon im Sterben, ist bereits tot“ – Denkmalpflege als Beispiel…
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Die Familie ist sogar ein ganz natürlicher Ausgangspunkt der staatstheoretischen Grundlegung der Demokratie bei Rousseau, vgl. Contrat social, L. I. ch. 2. 30 In dem noch sehr grundsätzlich-ausführlichen Art. 119 WRV, Abs. 1: „Ehe als Grundlage des Familienlebens und der Erhaltung und Vermehrung der Nation“.
II. Formen des Transpersonalismus und ihr Niedergang
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So sind denn die laut- und hochgepriesenen Bemühungen um „die Familie“ im Grundgesetz in den letzten Jahren zum rechtlichen Raum geworden, in dem Abgesänge auf diese Institution in ihren vergangenen Formen immer lauter werden. Institutionalisierungsbemühungen der Homosexualität31 mögen hier noch gar nicht die eigentlichen Gefahren für die Familie ankündigen oder gar anzeigen: in ihnen zeigt sich zunächst ja sogar ein Versuch, den Schutz der Familie auf alternative Lebensformen auszudehnen, ihn in gewisser Hinsicht damit zu erweitern. Weit bedeutsamer sind demgegenüber Auflösungserscheinungen der Familie in Scheidungen32, aus ihrer wahren Keimzelle heraus, der un- oder schwerauflöslichen Familienbindung. Hier wird sogar die Kleinfamilie geradezu in ihrem Kern getroffen, in ihrer Ordnungskraft, ihrem Ordnungszwang im Staat geschwächt. Was damit verfällt, ist weit mehr als ein sozialrechtliches Verantwortungsgefühl, eine entscheidende Stütze staatlicher Sozialrechtlichkeit. Was sich darin abschwächt, sind uralte individualethische Bindungen, welche in der Ehe immerhin über das isolierte Individuum hinaus in eine gewisse, wenn auch kleinste Gemeinschaft hinein ausstrahlen konnten. Familienethik als Klein-Gemeinschaftsethik gerät hier mehr und mehr in Auflösungsgefahr. Der Bürger, Vertreter des Volkssouveräns, braucht nicht mehr das ethisch untadelige Familienleben zu führen – ganz abgesehen von Sünden und „Seitensprüngen“. Ganz neu kann er sich bewegen in einer nunmehr radikalisierten Individualethik, die ihn zum Herren über seine Entschlüsse in einsamer Personalität werden lässt, nicht nur in Sexualität; für jene hat er allein sich zu rechtfertigen – einem Gott, einer Gemeinschaft, irgendeinem anderen Menschen gegenüber ist er nicht mehr rechtfertigungspflichtig. Wie könnte er als Bürger, als Mensch, als solcher eine wahre „Inkarnation der Volkssouveränität“33, dieser noch irgendwelche ethische Maximen einer weiterreichende Ordnung rechtfertigenden Staatsethik bieten? Führende Politiker aller parteilichen Färbungen dürfen sich nun ein Verhalten, ein Leben erlauben, wie es sich früher vor ethischen Urteilen immerhin noch verstecken musste. Ob hier nun eine neue „Politische Ethik“, als staatsleitend praktizierte Individualethik in Vorbildlichkeit, entstanden ist, laufend vor-gelebt wird, mag offen bleiben. Jedenfalls darf sie bisherige, weithin unbestrittene Kriterien der Individualethik weit hinter sich lassen. Damit ist die gesamte Vorbild-Mächtigkeit des früheren, aristokratisch-monarchischen Feudalismus, selbst in ihren individualethischen Fernwirkungen in die Bürgerschaft hinein, weitestgehend nicht nur erschüttert, sondern aufgehoben, einer achselzuckenden Gleichgültigkeit überantwortet. Allenfalls behält es sich der Bürger 31 Neuere Nachweise zur Problematik bei Robbers, G., in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG 6. Aufl. 2010, Art. 6 Rn. 47. 32 Nachw. bei Robbers (FN 31), Art. 6 Rn. 62 ff. 33 Zum „Volk“ ohne Bezug auf den Einzelmenschen, vgl. Leisner, W., Das Volk – Realer oder fiktiver Volkssouverän, 2005, zu seiner Auflösung S. 53 ff., zur Individualität „in Freiheit“ S. 69 ff.
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A. Transpersonalismus: gegen Individual-Ethik im Staatsrecht
noch vor, immerhin anders zu leben als seine politischen Vertreter, die er längst nicht mehr als Vorbilder sieht oder gar anerkennt. Politikverdrossenheit ist die selbstverständliche, auf diese Gründe aber wohlweislich nie wirklich zurückgeführte Folge. Wie auch? Gilt nicht auch hier die tägliche Erfahrung: „ Es beginnt vom Kopf her….“. Die Demokratie mag sich aufbauen von unten nach oben; der Abbau erfolgt in der umgekehrten Richtung, so ist das Wort Dekadenz von jeher behandelt worden. b) Dies alles sind Entwicklungen, welche bereits den engsten Familienverband, die herkömmlich sogenannte „Kleinfamilie“ betreffen. Hier sind Alarmzeichen sichtbar nicht nur für eine Staatsethik, welcher der einer Kleinfamilie ohnehin in keiner Weise mehr entspricht, sondern sogar allgemein für individualethische Inhalte, wie sie von diesen engsten Gemeinschaften ausgehen: Letztlich verlieren sich diese bereits in Überlegungen zu einer Privatheit34, welche sich langsam aber sicher in den Mittelpunkt schiebt, Vieles aufnimmt und nach ihren Kategorien entscheiden will, was im Grunde einer besonderen Familienethik vorzubehalten wäre; von hier aus ist dann ja „hinüber“ in den größeren Staatsverband weit leichter zu denken. Es war aber nicht diese Klein- oder gar Kleinstfamilie, welche noch in der Aufklärung im Mittelpunkt des staatsrechtlichen Interesses stand. Vielmehr verstand man unter „Familie“, unausgesprochen, jedenfalls unterschwellig, immer auch den größeren Familienverband, eine „Großfamilie“, welche sodann eben auch, und gerade als eine solche, zum Machtträger, zur Machtpotenz im Staat werden konnte. Familie als Prototyp der Staatlichkeit – das war letztlich nie jene Kleinfamilie, welche auch gegenwärtig der Schutz des Personalen noch immer umgeben soll: es war die Großfamilie. Nicht erstaunlich, sondern folgerichtig ist es, dass diese Großfamilie heute so gut wie kein Gegenstand des Verfassungsrechts als solchen mehr ist. Ihre Bedeutung erschöpft sich praktisch in einem Familienerbrecht, welches immer mehr durch das individuelle Recht der Letztwilligen Verfügung verdrängt wird35. In diesem lebt der Individualismus, hier findet Individualethik ihren eigentlichen Ausdruck, in Entscheidungen, welche über die „vorgegebene Familiennatürlichkeit“ hinausreichen. Diese letztere erscheint dann nur noch wie eine Lösung in einem Restbestand von „Subsidiarität der kleineren Einheit“, soweit eben nicht persönliche und in aller Regel individualethische Gründe eine andere Nachlassgestaltung begründen oder doch nahelegen. Individualethische Entscheidungen in bewusster, überlegter Form wandern ab ins Testamentsrecht. Ein „Großfamilien-Recht“, welches früher über den
34 „Privatheit“ wird damit geradezu zur Staatsferne, wie bereits in der Antike, zu Beginn ihres auch ethischen Niedergangs. Dies ist das Thema von Leisner, W., Staatsferne Privatheit in der Antike. Horaz: In Machtdistanz das Leben genießen, 2012. 35 Zum Verhältnis von Familien/Verwandtenerbrecht zum Testamentserbrecht vgl. Leisner, W., Erbrecht, HStR3 2010, Bd. VIII., § 174 Rn. 18 ff.
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Aristokratismus eine der Grundformen staatlicher Ordnung überhaupt war, stellt heute kaum mehr dar als einen Gegenstand gelegentlicher Kommentar-Erwähnung36. Diese Großfamilie, als eine vorgegebene natürliche Gemeinschaft in der Gesellschaft, war aber nicht etwas Staatsfernes, sondern Trägerin der Staatlichkeit über Jahrhunderte hinweg in einem Aristokratismus, welcher Monarchismus aus sich entwickelte, ihn stützte und stürzte. Mit ihm erst ist wirklich, und dies bereits mit der Französischen Revolution, der staatsrechtliche feudale Transpersonalismus untergegangen. Abwanderungserscheinungen dogmatischer Art aus diesem Feudalismus in berufsständisches Denken, in Ständestaatlichkeit, konnten sich im 19. Jahrhundert nochmals im Neuaufbau etwa eines Handwerksrechts, eines Familien-Gesellschaftsrechts37 zeigen; in diesen Formen überleben sie noch heute in der Gesellschaft, längst aber nicht mehr mit staatsrechtlicher Wirksamkeit in der größeren demokratischen Gemeinschaft. Was in diesen Großfamilien, in diesem aristokratischen Transpersonalismus an Gemeinschaftsethik, in natürlichem Gemeinschaftsgefühl lebendig war, konnte sich zunächst in ständestaatlichem Denken und punktuell überdies in enger Kommunalrechtlichkeit noch in juristischen Formen erhalten, selbst über Verwandtschaftsbindungen hinaus. Ein staatsrechtlicher Aufbau aus der „Gemeinde als dem Staat en miniature“ ist aber darin, wie allgemein in der Staatsrechtsdogmatik, nicht gelungen. Vor allem sind auf diesen, bereits öffentlichrechtlich-organisatorischen Wegen individualethische Kräfte nicht mehr in gemeinschaftsethischer Wirksamkeit festzustellen. Von einer „Kommunalethik“ werden wohl nicht einmal überzeugte Vertreter eines Kommunalismus sprechen. Hier hat eben nicht etwa eine neue Staatsethik früher wirksame Individualethik, Staatsorganisation hat vielmehr Individualethik wie Gemeinschaftsethik rechtstechnisierend verdrängt. Im Kommunalismus lebt allenfalls ökonomisch-kultureller Schutz personaler Interessen fort. Eine Verbindung zu einer wie immer konzipierten „Kleingemeinschaftsethik“ ist daher nicht mehr nötig.
3. Ökonomischer Transpersonalismus? a) Transpersonalen Halt fand frühere Staatlichkeit immer wieder, wenn auch in vielfachen Abschwächungen, im Wirken übergreifender ökonomischer Zusammenhänge. Sie hielten als solche die Staatsorganisation, das gesamte Öffentliche Recht in seinen inhaltlich-materiellen Ausprägungen, wie auch das von diesem wiederum getragene Zivilrecht. Es war dies jene ökonomische Imperialität, in welcher sich die 36 Er tritt in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in den Hintergrund (vgl. BVerfGE 10, 59 (66); 48, 327 (339). Im Schrifttum ist der Begriff insoweit auch umstritten, vgl. Nachw. bei Robbers, U., in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG 6. Aufl. 2010, Art. 6 Rn. 88. 37 Im „Idealvorbild des handwerklichen Familienbetriebs“ ist das ja vor allem ein Ordnungsrahmen.
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A. Transpersonalismus: gegen Individual-Ethik im Staatsrecht
Imperien des Altertums, von Ägypten bis zum späten Rom, aufbauen konnten und überleben. Alles imperiale Rechtsdenken hat sich stets auf derartige Zusammenhänge gestützt, aus Wirtschaftlichem heraus seine befehlende Staatlichkeit befestigt. Es war dies etwas wie die „Ökonomische Staatsethik der Kolonialreiche“, bis hinein ins 20. Jahrhundert. Ab dem 18. Jahrhundert fand sie in der englischen Nationalökonomie, im allgemeinen wohlfahrtsstaatlichen Denken, auch ethische Stützen; ihnen war eine deutliche Mischung von Staats- und Individualmoral immanent, von Heuchelei („sie sprechen von Gott und meinen Kattun“) und echter altruistischer Wohltätigkeitsüberzeugung. Dieser Wirtschaftsimperialismus mag heute Gegenstand berechtigter, oft auch nur billiger Kritik sein; er trägt bis in die Gegenwart, bis zu einem (oft schlechten) politischen Gewissen, welches staatliche Anstrengungen aus internationalen Hilfsverpflichtungen heraus zu legitimieren sucht. Eine „Staatsethisierung der helfenden Staaten“, Entwicklungshilfe als Staatsethik mag noch immer tragen, überzeugen, wenigstens beruhigen. Zukunft kann einem solchen Denken kaum gehören, vor allem keine Staatsethik auf Dauer sich aus ihm aufbauen38. Dem stehen bereits Entwicklungen entgegen, die sich nur allzu deutlich zeigen: Neue Machtstaatlichkeiten aus Hilfsbedürftigkeit anderer heraus. Sie werden ökonomischen Kolonialismus weitertragen, ihn in ökonomischen Imperialismus verwandeln. Ihre Staatsethik wird kaum wesentlich weiter reichen als die einer Weltpolizei, wenn nicht gar einer englischen Kanonenboot-Politik der Vergangenheit. b) Die Marktwirtschaft als solche ist Raum und zugleich treibende Kraft dieser Groß-Entwicklung. Sollte es gelingen, in ihrem Namen, aus ihr heraus etwas zu entfalten wie eine übergreifende Gemeinschaftsethik, so fände darin der niedergehende Transpersonalismus von Religion und Familie einen wahrhaft gewaltigen Ersatz. In diese Richtung laufen gegenwärtig zahlreiche, sich ständig verstärkende Bemühungen um eine „Wirtschaftsethisierung“39. Hervorgebracht und getragen werden sie durch wirtschaftliche Krisenerscheinungen, welche der leidtragende Mensch in der Selbstverständlichkeit seines personalen Denkens in die größere Ökonomie projiziert. Was wäre natürlicher als dass er versuchte, persönliche, letztlich typisch einzel-persönliche Interessen, Überzeugungen und Erfahrungen auf die größeren Entwicklungen zu übertragen, damit auch Wirtschaftsethisierung als eine neue Form des marktwirtschaftlichen Transpersonalismus zu fordern. Eine Ethisierung des Staates über eine Moralisierung der Wirtschaft im Staat mag daher heute als ein nicht nur gangbarer, sondern notwendiger Weg erscheinen. Für sie spricht die große und rasch zunehmende Bedeutung von Staatsaufgaben, welche immer deutlicher und 38 Zur Entmoralisierung des Staates vgl. Leisner, W., Der gütige Staat, FN 23, S. 181 ff.; zur Entwicklungshilfe S. 159. 39 Zur Wirtschaftsethik aus (rechts-)philosophischer Sicht vgl. Ulrich, P./Breuer, M., Wirtschaftsethik im philosophischen Diskurs, 2004; Neschen, A., Ethik und Ökonomie in Hegels Philosophie und in modernen wirtschaftsethischen Entwürfen, 2008.
II. Formen des Transpersonalismus und ihr Niedergang
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ausschließlicher von wirtschaftlichen Interessen geprägt sind. Die Marktwirtschaft hat auf breiter Front das Bürgerleben erreicht; sie prägt, ja gestaltet fast alle Individualkontakte jener Einzelpersonen, von denen doch nach demokratischem Credo die Staatsgewalt ausgeht; sie soll ja sogar deren Willen nicht nur entsprechen, sondern ihn darstellen. Gelänge es also, marktwirtschaftliches Verhalten zu „ethisieren“, so könnte darin eine doppelte Entwicklung sich anbahnen: Es begänne mit einer Moralisierung des Verhaltens größerer Gemeinschaften, und seien es so lockere Interessenbündelungen wie sie sich in den Banken präsentieren, in der Betreuung Vieler. Dies könnte dann als ein Weg zu einer Ethisierung des Gesellschaftsrechts als solchen sich öffnen. In seinen rechtlichen Organisationsformen müsste dieses ja die Vielfalt und Vielzahl der rechtlichen Einzelbeziehungen zu erfassen und zu ordnen versuchen. In Vorständen und Aufsichtsräten der Banken, der großen Unternehmen würde sich jene Moralisierung des persönlichen Kontaktverhaltens fortsetzen. Ethische Standards hätten die Vertreter, ja die Führer der Marktwirtschaft zu beachten, nicht nur aus ihrer jeweiligen Einzelpersönlichkeit heraus, sondern gerade in von unten, aus ihrer Kundschaft heraus geforderten und auf sie wirkenden Verhaltenscodices. Eine solche Moralisierung der gesamten Marktwirtschaft von unten könnte sich dann, zumindestens liegt diese Hoffnung nicht allzu fern, fortsetzen in einer ethisierenden „Verhaltensentwicklung in die Staatlichkeit hinein“. Überspitzt ausgedrückt: Kategorische Imperative marktwirtschaftlicher Geschäftsethik könnten immerhin emporwachsen, in langsamer Entfaltung, zu staatsethischen Verhaltensregeln. Zuerst würden solche über eine (Geschäfts-)Ethik von Staatsführern die Staatsmacht erreichen40, sodann sich in dieser verbreiten, bis in Bereiche hinein, welche durch „Markt und Geschäfte“ zwar in Grenzen räumlich bestimmt, wenn auch nicht inhaltlich bestimmend geprägt sind, von der Kultur- bis hin zur Aussenpolitik als Machtpolitik. Eine solche Entwicklung über die Markwirtschaft zum Staatskonzept, über ihre moralisierenden Wirkungen zu einer neuartigen Staatsethik, mag heute manchen im Staatsrecht vorschweben, sich bei einigen zu einer Leitidee verdichten. Könnte hier vielleicht gar ein neuer ökonomischer Transpersonlismus „aus den Geschäften die Staatsgeschäfte erreichen“? c) Skeptiker mögen hier auf so manchen Rückschlag verweisen, welchen ein solches Denken gerade in letzter Zeit, teilweise spektakulär, hat hinnehmen müssen. Seine Degenerationen bis zu „Occupy-Bewegungen“ in Gewaltsamkeit, nicht in neue Moral, sondern in marktfeindliche Enteignungsschübe, ermutigen nicht. Die Marktwirtschaft hat auch bisher nicht als solche Gemeinschaften zu konstituieren vermocht, in denen sich ihre Ursprünge aus Individualethik bereits zu einer wie immer gearteten Gesellschaftsethik hätten verdichten können. Und selbst wenn Derartiges gelungen wäre, so bliebe doch auf dem Wege zu einem neuen Trans40 Wie sie in Ansatzpunkten immerhin bereits in den Inkompatibilitäten des Verfassungsrechts vorgesehen sind, vgl. etwa für den Bundespräsidenten Art. 55, für die Bundesregierung Art. 66 GG.
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A. Transpersonalismus: gegen Individual-Ethik im Staatsrecht
personalismus, welcher auch rechtlich in den Staat hineinwirken, diesen tragen, legitimieren könnte, ein hohes Hindernis: Gerade dieser Staat ist es ja, dem die Disziplinierung der Marktwirtschaft anvertraut ist; er soll eingreifen, mit seiner Gewalt das korrigieren, was Marktwirtschaft an Ethikdefiziten aufweist. Vertreter der Marktwirtschaft müssen also geradezu vom Gegenteil dessen ausgehen, was hier Gegenstand der Betrachtung ist: Der Staat sollte die Marktwirtschaft ethisieren, nicht seinerseits Kräfte oder gar Inhalte, Ergebnisse aus dieser gewinnen. Die Marktwirtschaft selbst ist ja auch als solche (noch) keineswegs überwiegend oder gar überzeugend ethisiert. Sie ist aus einem Nützlichkeitsdenken erwachsen, wird von ihm getragen und ständig bestätigt, das angebliche oder wirkliche moralische Defizite stillschweigend oder gar ausdrücklich in Kauf nimmt, in der Erwartung, sie allenfalls von der Staatsgewalt sodann korrigiert zu sehen. Wie könnten dieser letzteren also gerade hilfreiche Kräfte, Instrumente, Organisationen aus dieser ökonomischen Welt erwachsen, welche immer mehr Gestalt, ja Dimensionen einer geradezu gewaltsamen Imperialität anzunehmen droht? Nicht zuletzt macht sich hier ein Defizit bemerkbar, welches die grundsätzlichen Beziehungen zwischen marktwirtschaftlichem Denken und Staatsrecht wesentlich bestimmt: Die Marktwirtschaft ist und bleibt getragen von der Ideologie eines wie immer näher definierten Liberalismus. Dieser aber hat vollen Frieden weder machen können mit dem Sozialismus des staatsrechtlichen Schutzes noch mit religiös geprägten Überzeugungen, damit einem wesentlichen Teil konservativer Politik. So fehlt denn, nach wie vor, der tragenden Kraft der Marktwirtschaft, dem Liberalismus, jener ethische Tiefgang, aus dem heraus eine gesamte Staatlichkeit in neuer Staatsethik erreicht und umgeformt werden könnte. Liberale Kräfte dieser Färbung fallen vielmehr hier immer weiter zurück. Ihre staatsethische Legitimationsbasis, eigene Leistung und Eigentum, sehen sich zurückgedrängt, ja von Auflösung bedroht im Namen von Sozialismen, von Grundhaltungen, welche an sich, aus einem „Staatshilfe-Denken“41 heraus, gerade einen Weg zu einer neuen Staatsethik eröffnen könnten. Dies alles lässt wenig Hoffnung aufkommen, es könne aus marktwirtschaftlichem Systemdenken in Ökonomie eine größere staatsethische Bewegung entstehen. Und selbst wenn eine solche, irgendwie, irgendwo, wachsen sollte – rechtlich fassbare, formierende Kräfte könnten sich aus ihr wohl schwerlich entbinden. Denn Geschäft und Markt bleiben Reiche des Kalküls. Im Recht gilt die Entscheidung des Richters, aber: „Iudex non calculat“. d) Systematische ökonomische Hoffnungen sind also für eine Staatsethik kaum in Sicht; damit drohen die Großbewegungen und Kräfte an dieser Problematik nach wie vor vorbeizulaufen. Das nüchterne Staatsrecht, hinreichend beschäftigt mit säkularen Abwehrkämpfen gegen die Macht, wird dies mit einer gewissen Selbstverständ41 Zum Schwächerenschutz vgl. Leisner, W., Der Förderstaat. Grundlagen eines marktgerechten Subventionsrechts, 2010, S. 18 m. Nachw.
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lichkeit auch weiterhin zur Kenntnis nehmen. Eine nun nicht geistig grundsätzliche, sondern real-faktische Entwicklung allerdings mag hier Hoffnungen nähren, es könnten sich „aus Geschäften die Staatsgeschäfte moralisieren“ lassen: Ständig rasch zunehmende interne wie internationale ökonomische Verflechtungen generieren heute bereits vielfache Formen einer vertraglichen oder doch vereinbarungsähnlichen Rücksichtnahme. Rücksicht hat stets eines hervorgebracht, vom Vertrag bis zum Thron: Respekt unter den Herrschenden und zu ihnen hinauf. Dieser Begriff des Respekts, der Hoheit beinhaltet und damit Unterworfenheit, wird jedoch aus dem Staatsrecht eher verdrängt. Die „Würde des Staates“, Verbeugungen vor Hoheitszeichen werden in die Übergangszeiten postfeudaler Vergangenheit verbannt bleiben. An ihre Stelle tritt ein neuer, ein demokratischer Zentralbegriff, welcher demokratische Staatlichkeit letztlich allein konstituiert: Vertrauen, auf allen Ebenen, in allen Bezügen, vom täglichen Bürgerleben bis zur höchsten Politik. „L’autorité vient d’en haut et la confiance d’en bas“: Diese letztere allein bleibt als tragfähige Grundlage der demokratischen Staatsform. Ob sie Ethisierung beinhaltet, mit solcher Kraft eine politische Gemeinschaft tragen kann, ob dies nicht doch nur Ergebnis einer misstrauischen Augenblicksprüfung ist, nicht einer dauerhaften Überzeugung – dies alles steht heute in staatsrechtlichen Sternen. Der Gestirnte Himmel hat allerdings einst schon einen Größeren erheben können als viele Staatsdenker… In der Marktwirtschaft, in der Ökonomie als solcher geht täglich von neuem die Sonne auf über Gerechten und Ungerechten; ob sie eines Tages nur mehr die Ersteren wird wachsen lassen und deren Staat – wer wollte es voraussagen. Ökonomie ist eine Kraft, alle Demokraten fühlen sie, und der Volkssouverän als solcher will sie. Doch der Staat braucht mehr als Kraft – Macht.
4. Transpersonalismus der Machtstaatlichkeit? Religiös/kirchliche, familiäre, ökonomische Kräfte, in diesen ihren jeweiligen im Wesentlichen doch extrastaatlichen Organisationsformen, haben „Staatlichkeit“ im heutigen Sinn bis in die Gegenwart getragen, in vielfachen, nicht immer klar bestimmbaren Kombinationen. Etwas Weiteres, ganz anderes als diese immerhin noch in geistigen und gesellschaftlichen Realitäten verwurzelten Potenzen hat sie jedoch in ihrer Staatsmächtigkeit stets begleitet: ein Machtdenken als solches, der „Wille zur Macht“. Machtstaatliches Denken als Konstitutivkraft der Staatlichkeit ist als solches, anders als Religion oder Familie, in seinem transpersonalen Gewicht nie in vergleichbarer Weise als Staatsgrundlage voll erkannt oder gar rechtlich systematisiert worden. Gegen einen derartigen „Machtstaat“ wendeten sich nicht nur jene bereits betrachteten anderen staatsbildenden, staatstragenden Kräfte, welche aus ihren religiösen und gesellschaftlichen, immerhin aber machtmäßig begrenzten Bereichen heraus „den Staat“ als solchen stützten. In Ausdrucksformen einer Gewaltsamkeit,
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von der sie sich rechtlich nicht überzeugend abschichten ließ, konnte Machtstaatlichkeit immer wieder Entscheidendes an tatsächlicher Durchsetzungskraft wie an personaler Überzeugungskraft dem komplexen und geheimnisvollen Wesen „Staat“ verleihen; es darin „tragen“, legitimieren in einem durchgehenden Transpersonalismus. Dies überstieg allerdings die geistigen, die überzeugungsschaffenden Kräfte der reinen Macht. Hier mochten große Worte wie die einer „ganz anderen Politik“ gesprochen und in Gewaltsamkeit gelebt werden; sie waren aber jener geistigen Systematisierung auch nicht in Annäherung zugänglich, ohne welche die große „Organisation Staat“ eben nicht denkbar, nicht legitimationsfähig, erst recht nicht einer wie immer gearteten Ethisierung zugänglich war. In dieser Gewaltsamkeit lag immer noch zu Vieles, gerade in den entscheidenden Augenblicken Wichtiges, von einer „reinen Gewaltsamkeit“. Sie mochte faszinieren, Urinstinkte eines selbst bereits disziplinierten Zivilisationsbürgers noch immer ansprechen, wenn alles Geistige zu versagen drohte. Im Begriff einer letztlich blinden, ja brutalen Schöpfermacht erreichten solche Mentalitäten der Macht, mehr: Aufschwünge zu ihr, sogar religiöse Dimensionen. Letztlich aber konnte ein wie immer, und auch nur entfernt als solcher, „rein“ vorgestellter „Wille zur Macht“ einen staatstragenden Transpersonalismus nicht hervorbringen, noch weniger rechtfertigen. Rechtlich war – und ist – diese „Gewalt als solche“ ja nicht rechtlich definierbar, sondern allenfalls begrenzbar. Ihre Begeisterungsfähigkeit kommt aus Grenzüberschreitungen, über große rechtliche Konstruktionen hinaus in die Unendlichkeit nicht eines Dürfens, sondern eines (irgendwie doch noch) Könnens. Aus ihnen mag sogar ein wahres imperiales Denken historisch immer wieder Kräfte gewonnen haben, gewissermaßen vom „Code civil“, von den Lehrsälen napoleonischer Bildung hinaus in den russischen Winter – doch eben auch in das Scheitern der Großen Armee in ihm. Immer wieder hat ein kollektiviertes, militarisiertes Machtdenken zu faszinieren vermocht. Fast schon zur Staatsgrundlage verstärkte es sich in der Staatsromantik des 19. Jahrhunderts, in den Begeisterungen ihres gesellschaftlichen Militarismus. Die doch im Grunde durchaus zivile Gutsherrngestalt Bismarcks wurde in KürassierEisen gekleidet, zeitübergreifende Imperialität auf den Schlachtfeldern preußischer Siege neu gedacht. In einem ganz anderen, durchaus nicht staatsmacht-trunkenen Sinn, ja aus der Kritik an solcher Staatsromantik heraus, wurde zur selben Zeit das Denken in einem „Willen zur Macht“ durch Friedrich Nietzsche weniger begründet und systematisiert als „hoch-gedacht“. Dies geschah mit einer durchaus individuellen Schubkraft – doch gerade darin wendete man sich weithin ab von allen Ethisierungen der Vergangenheit, auch von deren bisher moralisch individualisierenden, vor allem von ihren religiösen Wirkungen. Es mochte dies eine neue Gewalt-Ethik sein, sie war aber nicht staatsmoralisch gedacht. In eine völlig neue Welt sollte sie denn auch hinüberführen, welche von Nietzsche nicht einmal in Ansätzen staatsorganisatorisch gedacht worden war. Von all solchem Machtdenken gingen dann undefinierte, ja unbestimmbare Begeisterungen aus, verbanden sich mit staatsromantischem Denken des 19. Jahrhunderts und suchten sich in Konzeptionen der Ständestaatlichkeit wie in einer nun geradezu reinen Gewaltsamkeit zu verwirkli-
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chen. In Ausprägungen des Nationalsozialismus zeigt diese ganze Entwicklung transpersonale Züge. Hier ist der Staat als „der“ Übermensch gewollt, die ihn tragende Macht als Staatsmoral. Doch bald, in Siegestrunkenheit wie in den SchlussDepressionen des Zweiten Weltkrieges, verlor sich hier jedes Denken in einer auch nur irgendwie systematisierten Staatsethik vollständig. Was blieb war allenfalls ein Schauder vor, eine vage Hoffnung auf eine weniger furchterregende Staatsgewalt. Von den transpersonalistischen Begeisterungen des gestürzten Regimes wie einer romantischen Staatsvergangenheit war in diesem neuen nüchternen, in diesem nunmehr „(nur) Rechts-Staat“ kaum etwas erhalten42.
III. Transpersonalismus und Verfassungsdogmatik im 20./21. Jahrhundert 1. Transpersonalismus in der Demokratie und ihrer Staatslehre a) 1945: Ende des transpersonalen Staates Das Staatsrecht konnte in seiner juristischen Dogmatik, wie sie sich immerhin seit der Aufklärung entwickelt hatte, auf eine „Staatsethisierung“ weitestgehend verzichten, dies wurde schon in der Einleitung dargestellt. Der tiefere Grund lag darin, dass das Staatsrecht früher immerhin noch auf jenen Grundlagen wirkte, welche den staatlichen Transpersonalismus bis zum Zweiten Weltkrieg getragen hatten, wenn auch undefiniert, ja im Grunde in ihrem Zusammenwirken völlig unbestimmbar. Doch teilweise schon 1918, vollständig 1945 brachen alle diese Grundlagen zusammen: Monarchie und Aristokratie, religiöse Bindungen, gesellschaftliche Familienstrukturen, politisch-militärische Mächtigkeiten. Das Staatsrecht mochte sich zur Erlasszeit des Grundgesetzes dieser geistigen Umwälzungen – im Grunde war es eine Katastrophe für sein ganzes bisheriges Denken – nicht sogleich und klar bewusst sein. Allzu viel gab es ja praktisch zu tun, aufzubauen, geradezu aus einem nicht nur faktisch-ökonomischen sondern auch einem geistigen Nichts heraus, welches alle Begeisterung, jede transzendente wie transzendentale Sicherheit verloren hatte. Staatlichkeit aus dem Willen, als ein Geschenk fremder Macht – das war in Deutschland so noch nie erlebt worden. Das Staatsrecht floh in die Organisation einer Geschäftigkeit des Wiederaufbaus, von dort in einige bescheidene „Staatsgeschäfte“ im früheren Sinn, deren Raum ihm das Vertrauen Anderer, Stärkerer geöffnet hatte, nicht ohne Bewunderung für deutsche, teilweise sogar europäische Effektivität. 42
Immerhin konnte, bei allen politischen Frontstellungen gegen Formen der „Gewalt (samkeit)“ (vgl. „friedlich“ in Art. 8 GG) der Begriff der „Staatsgewalt“ auch im Sinne einer – letztlich unbedingten – eben auch „Gewaltsamkeit“ aus dem Staatsrecht nicht eliminiert werden; die „Gewalt“ erhält sich dort weiter im „Gewaltmonopol des Staates“ (vgl. dazu Isensee, J., „Staat und Verfassung“, HStR3 2004, Bd. II Rn. 83 ff.).
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A. Transpersonalismus: gegen Individual-Ethik im Staatsrecht
Von dort aber hinauf in einen Transpersonalismus der Staatlichkeit, gar noch mit kollektivethischen Grundlagen – so führte kein Weg weiter. In Deutschland wurde, weit bescheidener, in und an geltendem Verfassungsrecht gebaut, über immer neue Gerüste, hinter denen kaum je die bisherigen majestätischen Staatsfassaden sichtbar wurden, soweit sie nicht bereits abgerissen waren. Frühere Architekturen dieser Art waren ja weithin verloren, bis in ihre geistigen Vorlagen hinein, die sie hatten nachzeichnen wollen. Ein Humanismus – letztlich vielleicht doch eine Denkform niedergehender Staatlichkeit, von Platon bis Seneca – war hier gewiss keine Kraft des Aufbaus, des Aufstiegs; er zog sich immer weiter zurück aus einem Bildungssystem, welches von den ganz anderen Begeisterungen für Naturwissenschaft und Ökonomie erfüllt war. Das deutsche ideale Staatsdenken, mit seinen eigenständigen, sich selbsttätig weiter entwickelnden Kräften „im System“, konnte sich in einem Hegelschen Staatsdenken nicht restaurieren. Das einzige, was noch in Bibliotheken und rechtspolitischen Erinnerungen greifbar war, bot sich einer Allgemeinen Staatslehre der Weimarer Zeit, von der bereits einleitend die Rede war. In ihr konnte sich nur, musste sich mit Notwendigkeit alles entfalten, was überhaupt noch den Namen von Staatstheorie, Staatsdenken verdiente. So wurde denn an einer Verfassungsordnung gebaut, welche nicht mehr die architektonischen Züge einer Akropolis trug oder eines Pantheons, eher die einer immer perfekter ausgestatteten und aufgeräumten staatsrechtlichen Fabrikhalle, in welcher Staatsmechanismen von Wenigen maschinell gesteuert, von Zahllosen betrieben und von Allen genutzt werden konnten. Deutscher Staat, Deutsche Staatlichkeit wurden nach 1945 fast schon zu Un(bekannten-)Worten in dieser funktionierenden und daher immer rascher zu reparierenden Welt. Wo sollte sich in diesen staatsrechtlichen Maschinenhallen Staatsethik entfalten, überhaupt etwas anderes als Verfassungstechnik? Warum sollten die Diener, die Diensthabenden dieser Mechanik auf ihre eigene Persönlichkeit achten, warum sollte überhaupt auf ihre „Person als solche“ näher, geordnet, ja vielleicht gar systematisch prüfend gesehen werden43? Hier herrschte doch ein schwer überschaubares Zusammenspiel von Spielregeln, nur zu oft Spielen, für das, was sich nun Demokratie nennen sollte. Jene Volksherrschaft, welche so ihr Verfassungsrecht, nicht mehr „den Staat“ zu ordnen unternimmt, sie war „der Staat als solcher“, der einzige mögliche Lebensraum der Menschen in staatlichen Gestaltungen. Staatlichkeit eines Transpersonalismus war und ist hier nur noch gegenwärtig in der Über-Persönlichkeit der Staatsgewalt, allüberall, nur allzu lebendig. Es ist dies aber nur mehr etwas wie eine Dimension „durchsetzungstechnischer Macht“, ohne grundsätzlichen Anspruch aus moralischen oder gar individuelethischen Quellen, nicht ein Reich in Gesetzen, wie es der Idealstaatlichkeit eines Platon vorschwebte. Hier sind nun Menschen, welche ihre Bedürfnisse feststellen in täglicher Prüfung und 43 Bei demokratischen Wahlentscheidungen wird ja nun gewiss kein prognostischer Test, etwa gar moralischer Art, von den Kandidaten absolviert, etwa im Sinne von Art. 33 Abs. 2 GG (Eignung).
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Entscheidung. Es ist das Staat gewordene tägliche Plebiszit, in welchem das rechtlich organisierte Gemeinwesen ständig neu entsteht, sich jeden Tag wieder auflöst, beides rechtlich in kaum mehr definierbarer Virtualität vorbereitet. Staat als höheres geistiges Sein, als ein Ideal, in staatlichem Transpersonalismus – sind davon auch nur noch Spuren vorhanden? Muss hier nicht völlig neu gedacht werden, von welchen Ausgangspunkten her wäre dies möglich, wo findet sich hier überhaupt noch etwas wie Ethik, und wenn: auch von Individualethik? b) Rückgriff auf Staatslehren der Weimarer Zeit? Transpersonalismus als mögliche Staatstheorie war gerade in jener Periode der Staatsrechtslehre bewusst geworden, in welcher die demokratische Neubegründung aller Staatlichkeit in Deutschland ihre ersten und bislang einzigen systematischen Ausdrucksformen gefunden hat – in einem: im Systemdenken der Vertreter der Allgemeinen Staatslehre in der Weimarer Zeit. Bemerkenswert ist nun aber, dass keiner dieser „Drei Großen“, welche mit Recht als Klassiker auch im gegenwärtigen Staatsdenken gelten, etwas wie einen Transpersonalismus im früheren Sinn systematisieren und in solchen Formen grundsätzlich weitertragen wollte. - In der „Reinen Rechtslehre“ Hans Kelsens44 kann es einen staatsrechtlichen Transpersonalismus insoweit nicht geben, als dort alles Recht als solches „unpersonal“ systematisiert, legitimiert wird. Man mag dieses sich selbst fortpflanzende, in einer letzten Grundnorm sich haltende große Rechtssystem als solches transpersonal nennen – mehr als eine Begriffsbezeichnung ist dies nicht. Eine wie immer geartete Beziehung zu etwas Personalem, über dem sich dann ein transpersonaler Gewölbe- oder gar Kuppelbau der Staatlichkeit erheben könnte, ist hier überhaupt nicht in staatsrechtlicher Sicht. Die Selbstzeugung des Rechts in dessen Stufenordnungen vollzieht sich in Kategorien, allenfalls noch nach gewissen Kriterien, welche den letzteren eigen sind, sie geradezu konstituieren: in Delegationen. Die Realität ist und bleibt ausgesperrt aus dieser „Welt des Rechts“, mehr noch: Sie existiert für dieses überhaupt nicht. Daher kann es auch keine „Rechts(produktions)quelle in irgendetwas Personalem“ geben, welches hier dem Recht seine Verbindlichkeitskräfte liehe, seine Entwicklung prägte oder gar bestimmte. Dieser geistige Mechanismus hat die Demokratie zu erfassen, er hat sie zu erklären, zu systematisieren vermocht – legitimieren konnte er sie nicht, da er seine Begründungen ja ausschließlich in sich selbst fand, in einer „ganz anderen Rechtswelt“. An sie muss man letztlich glauben, will man sie gemeinschaftsordnend als solche einsetzen; sie ist dann „da“, nicht etwa „gekommen, geboren
44 Aus dem umfangreichen Schrifttum vgl. neuerdings etwa Adomeit, K., Der Rechtspositivismus im Denken von Hans Kelsen und von Gustav Radbruch, JZ 2003, S. 161 ff.; LeisnerEgensperger, A., Hans Kelsens Reine Rechtslehre, JA 2005, 555 ff.; Nogueira, G., Rechtspositivismus und Rechtstheorie. Das Verhältnis beider im Werk Hans Kelsens, 2005.
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aus“. Sie steht unter keiner anderen Ordnung als ihrer eigenen. Und nicht transpersonal ist diese, sondern apersonal. - Die Integrationslehre Rudolf Smends45 ist weniger ein rechtlich-geistiges Denkgebäude, als vielmehr eine Ordnung von Denkategorien jener Weimarer Zeit des großen Umbruchs aus dem Feudalismus in die Demokratie. Hier werden all deren bisherige „Ansatz-Formen“ zusammengesetzt, zusammengefasst, immerhin aber mit einem neuen Leben erfüllt, eben mit dem Einigkeits-, dem Integrationsstreben, dem Willen einer von Menschen gestalteten und hervorgebrachten Politik zur Schaffung neuer, demokratischer Staatsgrundlagen. Personales wird daher, ausgehend von der menschlichen Basis, mehr vorausgesetzt als gesehen, in der Kategorie der gemeinsamen Überzeugung erwächst es aber immerhin zur Grundlage einer neuen Staatlichkeit. Transpersonal mochte und mag man dies noch immer nennen in dem Sinn, dass hier gemeinsames, eben in Integration zur Einheit sich schließendes Denken den demokratischen Staat konstituiert und hält. Es ist dies gewissermaßen eine staatsrechtliche „Allgemeine Gemeinschaftslehre“; ihr Sinn ist es, nicht so sehr Quellen und Kräfte im Einzelnen aufzuzeigen, aus denen diese Kraft kommt, als vielmehr sie einzuleiten in die Staatsform der Demokratie, sie dorthin systematisch zu kanalisieren. In der Staatslehre von Konrad Hesse ist dies, für das Staatsrecht des Grundgesetzes, in einer klassischen Einfachheit und Kürze wenn nicht gelungen, so doch über viele Jahre hinweg wirksam geworden. Eine Spitze fand dieses Denken in seiner praktisch greifbaren Formel von der praktischen Konkordanz, in welcher sich Widersprüche auflösen lassen in einender, zu Verfassungsrecht gewordener Überzeugung46. - Transpersonal mögen hier Mechanismen der Einung gedacht sein, immer aber aus Gemeinschaften heraus, letztlich nur aus einer „Bürgerschaft“, welche zu etwas wie einer „transpersonalen Person“ der Integrationslehre wird. Wege zum Einzelnen, hinab oder hinauf in Stufen der Staatlichkeit – sie werden hier nicht beschritten, ja nicht einmal aufgezeigt. Da „ist“ eben das Gemeinsame – oder es ist nicht. Nicht „der Staat“, eine neue Staatlichkeit soll dies sein, nach dem Zerfall alter Transpersonalismen. Der Staat des „Als ob“, die Bürgergemeinschaft ist real, nicht transpersonal gedacht; aber sie kann nicht real, staatspsychologisch, individualisierend oder kollektivierend näher ausgeformt, ja nicht einmal angedacht werden. Ethisches findet sich hier allenfalls in der Sozialethik evangelischer Gemeindlichkeit, jedenfalls nicht primär im „Industriellen Staat“. - Carl Schmitts Dezisionismus war eine ausgebaute Staatslehre und wirkt noch immer als eine solche; erst Jahrzehnte nach seinen „wahrhaft entscheidenden“ 45 Smend, R., Verfassung und Verfassungsrecht, 1923; vgl. neuerdings vor allem Obermeyer, S., Integrationsfunktion der Verfassung und Verfassungsnormativität. Die Verfassungstheorie Rudolf Smends, Sinngehalte einer transdisziplinären Rechtstheorie, 2008; Lhotta, R., Die Integration des modernen Staates. Zur Aktualität der Integrationslehre von Rudolf Smend, 2005. 46 Hesse, K., Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995/99, S. 317 ff.
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Schriften47 ist er im Staatsrecht wieder als System gesucht, in größeren Ansätzen auch gefunden worden. Dieses Denken in Imperativen rief, seinem Wesen nach, geradezu nach einem personalen Ausgangspunkt, in der Gestalt des Reichspräsidenten, des Führers, welcher die großen Entscheidungen trifft, in denen allein eine Staatlichkeit sich zeigt, bis hinein in ein tagtägliches politisches Plebiszit. Zu Unrecht hat man diese Staatslehre als eine antidemokratische kritisiert, nur weil sein Schöpfer in seiner Zeit Volksmacht nirgends anders erkennen zu glaubte und in der Tat erkennen konnte, als in Persönlichkeiten, welche sie, im wahren Sinne des Wortes, repräsentierten. Dass jene Akklamation, welche die Führenden trug, durchaus nicht Ausdruck einer stumpfen Herdenmoral war, sondern tieferer personaler Aufbrüche in einen wieder zu schaffenden staatlichen Transpersonalismus, wie ihn die Faschismen anstrebten – all dies ist lange in antidezisionistischer politischer Polemik verschüttet geblieben. In Wahrheit war dies damals der Versuch eines neuen Transpersonalismus aus der Entscheidungskraft des Übermenschen, in einem nun ins Staatsrechtliche gewendeten Denken Nietzsches. Auch dieser dezisionistische Staats-Aufschwung aus der Weimarer Zeit konnte jedoch weder zu einer Staats- noch zu einer Individualethisierung der ganzen Gemeinschaftsordnung tragen. Er wurde weithin (miss-)verstanden als eine Rückkehr zur „Gewalt“, zur Staatsgewalt in einer reinen, geradezu brutalen Form. Deren einzige Legitimation war im eigenen, im stärkeren Willen gesehen worden – bis er zum schwächeren wurde, anderen, um im Vokabular des Ersten Weltkriegs zu bleiben, nicht mehr „aufgezwungen“ werden konnte. Und damit verschwand dieser Dezisionismus 1945, seine voluntative Transpersonalität – wenn man schon dieses Wort hier gebrauchen will – mit ihm. An personalem Denken, persönlichen Wertigkeiten hat er nichts hinterlassen können als Trauer bei Allen, Scham bei Vielen. Letztlich ist dies nach 1945 zu etwas geworden wie einer quasi-endgültigen Delegitimation des Transpersonalismus im Staat als solchem, bis hin zu seiner Reichsidee48, zu seinem größeren Ordnen. Bis heute konnten sich hier noch nicht einmal große, breite Heerstraßen öffnen in größere Horizonte hinein, in Europäische Einungen mit neuem Staatlichkeitscharakter oder gar zu einer Weltgemeinschaft jenseits von polizeiähnlichen Katastrophenhilfen. Und hier ist zwar etwas wie (Einzel-)staatlicher Dezisionismus ständig im Lauf; bis heute ist er der einzige, welcher all diese politische Vielfalt in irgendeiner staatsähnlichen Bewegung hält. „Überstaatlichkeit“ ist aber weithin zu einer Zielscheibe von Grundsatzkritik geworden – in wessen Namen? Gewiss nicht in dem eines Transpersonalismus, dem die Zukunft gehören sollte. Gegen ihn wirken, erheben sich immer neue partikulare Staatskräfte, Föderalismen, Partikularismen; ihnen ist nicht eines gemeinsam oder auch nur teilweise eigen: Bezug zu einem weiteren Transpersonalismus, welcher Staatlichkeit als solche wieder befestigen könnte. Dies wäre ja nur vorstellbar in eben 47
Der Begriff des Politischen 1927; Verfassungslehre 1928; Verfassungsrechtliche Aufsätze aus dem Jahren 1924 bis 1954, Materialien zu einer Verfassungslehre, 2. Aufl. 1973. 48 Leisner, W., Das demokratische Reich. Reichsidee und Volksherrschaft in Geschichte und Recht, 2004.
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doch größeren, übergreifenden Strukturen, eben in dem, was im Namen europarechtlicher Bürokratisierung, letztlich im Namen der Demokratie, immer entschiedener und damit wirksamer abgelehnt wird. So ist denn in all diesen Staatslehren der Gegenwart, wie auch in praktischen Ansätzen zur Entwicklung von solchen im überstaatlichen Recht, kaum etwas festzustellen, was irgendeine Form der Rückkehr zu einem Transpersonalismus zeigen könnte. Ebenso wenig, ja noch weniger aber erscheinen hier Anzeichen für eine Individualethisierung, wie sie immerhin so manches frühere Staatsdenken, wie dargelegt, wenn auch verdeckt und nur in Ausgangspunkten, in sich getragen hatte. Ist also Transpersonalismus staatsrechtlich doch am Ende?
2. Transpersonalismus aus Tradition? Staatsrecht ist stets weithin historisches Recht gewesen, Fortdenken früherer Ordnungskategorien in neuen Ausprägungen, in Kontinuität49. Doch diese Kräfte der Tradition waren politisch getragen, jedenfalls in den ersten Jahrhunderten ihrer transpersonalen Wirksamkeit, von eben jenen Mächten der Religion und des Feudalismus, welche sie heute nicht oder kaum mehr zu stützen vermögen. Übergreifender Ökonomismus bewegt sich auf neuen Wegen, auf neuen Gleisen; die holprigen oft schmutzigen Pfade des Militärischen und Kolonialen will er vermeiden. Seine Kräfte kommen aus der jeweiligen Gegenwart, aus der Hoffnung in deren Zukünfte. Und hier ist staatsrechtlich, gemeinschaftsordnend Größeres, Übergreifendes an Kategorien und Kriterien nun wirklich nicht aus einer Tradition zu erwarten. Von ihr wendet sich denn auch das gelehrte und gelebte Staatsrecht weithin ab50. Vergangenes mag es forttragen, aber dies geschieht in Einzelheiten, unter „ganz anderen Gewölben“, Grundsätzen, Prinzipialitäten als früher. Eines vor allem wirkt, hier jedenfalls, kaum weiter: Die rechtliche Macht der zeitlichen Komponente, die einer Kontinuität, aus welcher, mehr als aus fast allen übrigen Kräften, der Transpersonalismus sich hatte zu legitimieren vermocht. Hier war es allenfalls die Katholische Kirche, welche einen wahren Prototyp transpersonaler Staats- und Machtlegitimation bot, dies allen anderen, schwächeren oder schwächelnden transpersonalen Ordnungsstützen lange Zeit noch immer anbot, in Vatikanbesuchen und Konkordaten, letztlich auch in einer staatsrechtlichen Ausrichtung an ihrem „Einen, Großen, Transpersonalen“ – an Gott, der „transpersonalen Person“… Ob diese kirchliche Tradition sich, mit all ihren staatsrechtlichen Kräften, in einer Periode des ordnungsrechtlichen Zusammenbrechens befindet, oder nur in der eines 49
Vgl. dazu grdl. Leisner, A., Kontinuität als Verfassungsprinzip, 2002. Vgl. aber immerhin Leisner, W., Tradition und Verfassungsrecht zwischen Fortschrittshemmung und Überzeugungskraft. Vergangenheit als Zukunft?, 2013. 50
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„Tramonto Romano“, eines Hinübergebens in einen neuen Tag, in einem der berühmten „(Römischen) Sonnenuntergänge“ – das ist heute noch schwer abzusehen. Dass sie gegenwärtig als solche transpersonale Kräfte kaum mehr ab- und ausstrahlt in säkulare Staatsrechtlichkeit hinein, das lässt sich wohl zweifelsfrei feststellen. Verfassungsgeschichte ist, jedenfalls an deutschen Universitäten, nicht mehr eine Disziplin wie die „Römische Rechtsgeschichte“, in jenem Ersten Teil des ordnungsschaffenden Römischen Rechts – mit Wirkung auch für das Öffentliche Recht – welches die Historia Magistra51 bis vor wenigen Jahrzehnten staatstragend weitergeführt hatte. Gerade diese Rechts- und Verfassungsgeschichte ist zum Raum einer großen Reparaturwerkstätte geworden, oder verkommen, in welcher Oldtimer ausgeschlachtet, allenfalls mit neuen Ersatzteilen verbessert, aufgeputzt werden. Mahnungen einer staatsrechtlichen Vergangenheit – wo wären sie überhaupt noch zu hören, anders als in ermüdend warnendem Ton? Staatsgewalt ist etwas geworden wie ein nicht nur moralin-, sondern moralfreier Erbe von Vergangenheiten. Sie werden nicht etwa systematisch in Staatsethik repariert, oder in neuer Individualethik chauffiert; sie sind nun jenes alte Eisen, welches kaum noch als recyclabel erscheint. Hoffnungen, dass sich aus einer staatsrechtlichen Vergangenheit Zukunft könne entwickeln lassen – sie trägt kaum noch eine der europäischen Staatlichkeiten in sich; auf sie schaut Europäisches Staatsrecht fast nur mehr mit einer eigenartigen Mischung von Unsicherheit und Misstrauen. Wirkung eines staatsrechtlichen Amerikanismus mag dies weithin sein, welcher in geistigen Wallfahrten in die Neue Welt Reliquien in die Alte zurückbringt. Ihre Verehrung erscheint aber als eine immer kürzerfristige, immer mehr gleicht sie geistig einem vielfältigen Ersatzteil-Re-Import, vor allem in das deutsche Staatsrecht. Tradition im Staatsrecht in Deutschland? Hat dies nicht ausgedient, nach so viel Feudalismus, Wilhelminismus, Nationalsozialismus? Dort aber, wo sich Tradition lebendig fortsetzt, jenseits des Atlantiks, wirkt sie weithin noch immer in gegenwärtig gelebtem Blutkreislauf. Ob sich daraus etwas in das ältere, noch immer in so vielem tiefere, Europäische Staatsrechtsdenken überhaupt in Transfusionen übertragen lässt?
3. Transpersonalismus in verfassungsrechtlichem Systemdenken Zurück nun in das geltende Staatsrecht Deutschlands, ins Verfassungsrecht des Grundgesetzes. Geistig-systematische Bescheidenheit – eine bedeutsame Neuheit im deutschen Staatsdenken – hat Lehren aus jenen wahren Ruinenlandschaften des vor allem deutschen Transpersonalismus gezogen, dessen Straßen die bisherigen Betrachtungen durchschreiten mussten. Im deutschen Staatsrecht soll nun nicht „groß“ staatstheoretisch oder auch staatsrechtlich, es soll verfassungsrechtlich gedacht werden, in einer Verfassungstheorie, welche einzelne Institutionen und Entwick51
Vgl. dazu Leisner-Egensperger, A., Historia Magistra des Staatsrechts, 2004.
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lungen sich als Stützen sucht und sie vielleicht auch findet. Wenn es etwas gibt wie ein eingeborenes deutsches Systemdenken – hier tritt es in neuer Wirksamkeit hervor. Zu Beginn der neuen, der „staatsrechtlichen Welt“, wurde in der ersten großen Kommentierung des Grundgesetzes bei Dürig bereits wieder in einem „Wert- und Anspruchssystem der Grundrechte“52 gedacht, neue Systematisierungen waren damit versucht, angestoßen. Sie haben die Entwicklung des Öffentlichen Rechts nachhaltig beeinflusst, dem neue Inhalte hinzugefügt, was in einer Weimarer Vergangenheit (vgl. oben 1. b)) in noch weiterwirkendem Transpersonalismus mehr ignoriert als verloren worden war. Nun sollte immerhin aus den Grundrechten ein Verfassungs-Systemdenken erwachsen. Hier wurde jedenfalls in neuer Grundsätzlichkeit gefragt, sie hat sich so auch entwickelt, Anschluss an die Demokratie gewinnen können, geradezu als eine neue Grundlage derselben. Doch gerade jene institutionalisierten Staatskräfte, welche die neue Ordnung erfolgreich tragen konnten, sind ihr zugleich auch zur Begrenzung geworden. Immerhin musste ja nun dieses in ein geltendes Verfassungssystem zu bringende neue Staatsrecht entwickelt werden in Techniken, Institutionalisierungen, Normierungen, welche als solche in einer für Deutschland „neuen politischen Endlichkeit“ zu denken waren, nicht mehr in den übergreifenden Grundsätzlichkeiten eines Transpersonalismus sich aufhängen ließen, in Monarchien, Religionen, in der Familie, in der Macht als solcher. Dieses neue, praktizierte deutsche Verfassungsrecht, geradezu ein Vorbild internationaler, jedenfalls europäischer Verfassungsentwicklung, in Italien etwa und in Spanien, konnte sich nicht mehr auf etwas stützen wie einen „Hüter der Verfassung“53, welcher „die“ staatsrechtliche Figur noch in der Weimarer Zeit gewesen war, in welcher sich etwas wie kaiserlicher Transpersonalismus hatte fortsetzen sollen. Nun waren es nicht mehr überpersönliche Mächte, welche die Staatlichkeit als solche halten sollten. Hier war Staatstechnik auf höchstem Niveau, in der Hoffnung, in einer „verfassungs-gerichteten Ordnung“, über eine Verfassungsrechtsprechung, werde die Staatlichkeit Grundlagen und Rechtfertigung in neuen Formen finden, allein in denen des judizierbaren Rechts. Denn dies war ja allem vergangenen Transpersonalismus gemeinsam: Letztlich hatte er sich nicht judizieren lassen, nicht gegenüber einer Kirche und ihren Priestern, nicht vor einer Majestät und adligen Hoheiten, erst recht nicht mit Wirkung auf Parteimilizen und Armeen totaler Staatlichkeit. Alles sollte ja nun, musste geradezu „ganz anders werden“, in jenem „wahren Rechtsstaat“, in welchem das Rechtssystem Kelsens, die Einung Smends und die Entscheidungen Carl Schmitts ihr Verfassungssystem, ihre Ordnung endgültig, unaufhebbar (Art. 79 Abs. 3 GG) fanden. War das nun nicht wirklich Staatsethik, eine neue, systematisierte, wenn auch technisierte Form einer solchen, mit übergreifendem Anspruch? Kam hier nicht, auf den leisen 52 Ein „Wert- und Anspruchssystem der Grundrechte“ wurde schon von Günter Dürig im Kommentar von Maunz/Dürig zum Grundgesetz entworfen, vgl. Erstkommentierung 1958, Art. 1 Rn. 11 ff.; vgl. dazu Jestaedt, M., Grundrechtsentfaltung im Gesetz, 1999, S. 44 ff., Rensmann, Th., Wertordnung und Verfassung, 2007, S. 114 ff. 53 Angelegt bei Carl Schmitt, Der Hüter der Verfassung, 1931.
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Sohlen der Richter, eine neue Form von Staatsmoral54 herauf, bis hin zu einer Ethisierung aller öffentlichen Gewalt? Und konnte darin dann nicht etwa gar noch Individualethik sich entbinden, Auferstehung feiern aus vielen, politischen Verschüttungen der religiösen, feudalen, machtpolitischen Vergangenheit? Führt so eine staatsrechtliche Verfassungssystematik zu neuen Formen, bringt sie wenigstens neue Ansätze zu einer Ethisierung der Staatsgewalt als solcher in einer Zeit, in welcher unter allen Gewaltunterworfenen nur mehr ganz wenige, wahrhaft Erwählte, an eines glauben: an den Moralischen Staat?
4. Schwächung des Transpersonalismus – aber keine neue Staatsethik Die herkömmlichen historischen, zugleich die grundsätzlichen Stützen eines Transpersonalismus, Religion, Familie, Machtstaatlichkeit – sie sind seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts in Deutschland entscheidend geschwächt. Ob sie je eine Staatsethik im eigentlichen Sinn tragen konnten, mag dahingestellt bleiben; einen grundsätzlichen Halt einer Staatlichkeit als geistiger Ordnungsmacht bieten sie nicht mehr. Verdrängt wurde der Transpersonalismus geistig auch gar nicht durch ein Emporkommen neuer, transpersonaler Ideen, politischer Kräfte, die sich gerade auf einen solchen Transpersonalismus ausdrücklich berufen hätten. Demokratische Staatsform als solche ist an seine Stelle gerückt, nicht aber, wie noch näher zu zeigen sein wird, im Namen einer neuen transpersonalen Idee, sondern als eine rechtstechnische Ordnungsform, die sich als solche anbot, nach dem Ende der traditionellen Transpersonalismen. Transpersonales als Wesen einer übergeordneten Staatlichkeit – gerade diese Frage stellte sich, wie nun noch näher zu zeigen sein wird, in der neuen Demokratie als solche gar nicht. Deshalb kann die Demokratie, schon von vorne herein, aus Relikten eines früheren Transpersonalismus als solchen keine staatslegitimierenden, staatsgrundsätzlichen Kräfte ziehen. Gerade aus diesem Grunde wurde hier auf Versuche systematischer staatsethisierender Staatsrechtfertigung nicht zurückgegriffen. Ob sich in jenen rechtstechnischen Formen des demokratischen Verfassungsrechts neue Inhalte einer Ethik entwickeln – das ist eine ganz andere Frage; keinesfalls sind es die einer (etwaigen) früheren, (transpersonalen), einer „besonderen Staatsethik“. Sie erwachsen nun vielmehr allenfalls aus „Ethik als solcher“, insbesondere auch aus Individualmoral. Nach diesem Niedergang des Transpersonalismus steht zwar etwas an wie eine (unausgesprochene) Notwendigkeit grundsätzlicher Staatsrechtfertigung; und darin mag man dann bereits Ansätze zu einem insoweit neuen staatsgrundlegenden Denken auch in Ethik sehen. Eine systematische Ausformung oder auch nur Grundlegung eines solchen ist aber noch nicht sichtbar. Ansätzen zu seiner Entfal54 Zu „Moralisierungen von der Richterbank aus“ vgl. Leisner, W., Das letzte Wort. Der Richter späte Gewalt, 2003, insb. S. 199 ff.
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A. Transpersonalismus: gegen Individual-Ethik im Staatsrecht
tung soll nun in einem zweiten Hauptteil nachgegangen werden, um sodann in einem Dritten Anknüpfungspunkte dafür in geltendem Staatsrecht aufzusuchen.
B. Neue Staatsethik im Personalismus der freiheitlichen Demokratie I. Notwendigkeit eines „Personalismus“ – nicht „neuer Transpersonalismen“ Eine Überlegung, zugleich eine Grundthese für das Folgende, muss hier am Anfang stehen: Ziel der Untersuchung kann es nicht sein, neue Transpersonalismen aufzufinden, Gedanken, deren geistige Kräfte als solche Staatlichkeit zu konstituieren vermöchten, diese rechtfertigen, aber auch nur für sie gelten könnten. Nie in ihrer langen Geschichte ist die Demokratie angetreten im Namen eines Aufstiegs zu einem neuen Olymp, auf welchem Menschen in Demokratie leben könnten wie jene Götter, denen Rousseau im Contrat social diese Lebensform vorbehalten wollte55. Alle Vorstellungen von jenen „Menschen“ – welche die Demokratie ständig im Munde führt – als etwas wie „neuen Göttern“, welche diesen ihren Personalismus, nun wirklich kurzerhand, zum Transpersonalismus umtaufen wollten – sie sind nicht nur philosophisch kaum vollziehbar; sie würden auch die Kategorien und Kriterien nicht bieten, in denen dann dieser „transpersonale Demokratismus“ gerade über jene sollte herrschen dürfen, aus deren Personen er doch entstanden sein soll, sich legitimieren will. Diese „Menschen als solche“ blieben in ihrer individualistischen Vereinzelung politisch kraftlose Individuen; keine staatsgrundsätzliche Idee könnte ihnen Kräfte vermitteln und Legitimationen, in deren Namen sie ordnende Macht über Andere ausüben dürften. Wenn der Transpersonalismus denn historisch hinübergeht in eine neue Zeit, so kann diese also nicht wieder in ihren Ordnungen getragen sein von Mächten, die sich gewissermaßen von „oben herab senken“ auf die zu ordnenden Vielen, Einzelnen. Die Ordnungskräfte müssen vielmehr von diesen selbst kommen, sich jedenfalls aus ihnen entbinden. Und sie müssen mehr sein als einfach nur ein individuelles Streben mehr zu gelten, zu besitzen, zu vermögen als das Neben-Individuum. Aus diesen unendlich vielen Menschen muss etwas im Staat entstehen, sich aus ihnen allen entbinden, was nicht stärker, mächtiger sein will als ihr „Ausgangspunkt, ihre Quelle in jedem Einzelnen“ – und was doch Ordnungskräfte ausstrahlt in diese Alle hinein. Ohne dass hier bereits vertiefende Philosophie angesagt wäre: Eine solche Kraft ist in der bisherigen Geistesgeschichte immer nur mit dem Begriff einer Ethik verbunden worden. Eine Kraft muss aufgefunden werden, bestimmbar sein, welche 55
Rousseau, Contrat social, L. III., ch. 4 a.E.
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B. Neue Staatsethik im Personalismus der freiheitlichen Demokratie
aus jedem Einzelnen kommt, aus Individualethik, zu jedem Einzelnen ordnend zurückkommt in Staatsethik. Das Staatsrecht war viele Jahrhunderte lang transpersonales Recht, darin einfach nur Staatsorganisationsrecht der Macht in einem weiteren Sinn56. Es hat nichts aus sich, in sich selbst, entwickeln können, was einer solchen „Individualethik als Staatsethik“ etwas wie staatspolitische Souveränität, ein Letztentscheidungsrecht, eine höchste Macht geboten hätte. Nun kann dies nicht in jener einfachen Divinisierung „nachgeholt“ werden, in welcher das neu in seiner unendlichen Wertigkeit erkannte Einzelwesen, der „Bürger“, zum „Bürger-Gott“ würde. Eine „Um-Taufe“ früherer Gewaltsamkeit in Moral darf auch nicht darin stattfinden, dass das Volk insgesamt nun in brutaler, unendlicher Organisationsgewalt zum Gott auf Erden wird. Innere, personale Kräfte, entbunden aus den neuen Souveränitätsträgern, können allein eine Staatsrechtfertigung tragen, nicht eine Vergöttlichung von neuen Caesaren, wie sie im Spätrömischen Reich vergeblich versucht worden ist. Damals ist sie gescheitert an den inneren, den ethischen Kräften von Märtyrern, in neuen Religionen; heute würde sie wieder zerbrechen an gewaltsamer Straßendemokratie57. Die Demokratie bietet nun aber, in ihrer Freiheit als höchstem Wert, ihrem Streben zu seiner Verwirklichung, den Ausgangspunkt gerade für jenen Personalismus, der sich in Staatsethik umsetzen lässt aus Individualethik heraus.
II. Freiheit als ethische Staatsgrundlage 1. Staatsrechtliche Freiheit in Individualethik „Die Freiheit“ mag in philosophischer Ethik nicht nur umschrieben, beschrieben, sondern auch näher in ihrer Ordnungskraft definiert worden sein, ist doch diese philosophische Moral gerade jene Disziplin, welche in ihren Befehlsformen dem Recht am nächsten steht. Doch in diesem, in seiner Spitze, dem Staatsrecht, ist sie, seit ihren Systematisierungsversuchen in der Aufklärung, stets als solche unfassbar geblieben, ein wahres Nullum rechtlicher Unbestimmbarkeit, daher ein Wort, nicht ein Begriff, ein Topos. „Sich verhalten wie man will“, „sich einfach entfalten dürfen“ – sollte darin irgendetwas juristisch als solches individualethisch Fassbares liegen? Stellt sich damit aber nicht sogleich die Frage, wie sich eine Ordnungsmacht wie die Jurisprudenz mit etwas befassen kann, darf, was sie inhaltlich ansprechen, 56 Es war dies jenes „Recht als Herrschaftsform“, das Karl Marx in seiner insgesamt kaum angreifbaren Analyse sich über „Gesellschaftsstufen“ realisieren sah: von der Sklavenhaltergesellschaft über die Feudal- bis zur Industriegesellschaft. Ihm wollte er eine neue „Gemeinschaft der Gleichen“ entgegensetzen, welche „ethisch in Gleichheit, darin in Staatsethik“ wirken sollte – sie hat sich sogleich in einer neuen, transpersonalen Herrschaftsform aufgerichtet, denn es fehlte ihr jede individualethische Rück-Anbindung an den einzelnen Menschen. 57 Wie sie schon auf dem Marsch ist, vgl. Leisner, W., Die Straßendemokratie, NVwZ 2015, S. 31 ff.
II. Freiheit als ethische Staatsgrundlage
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bezeichnen, benennen, nicht aber bestimmen kann? Diese Freiheit ist für das Recht eine formlose Materie, aus welcher es nur in seinen Begrenzungen etwas zu formen vermag. Diese müssen die Freiheit aber final auf ein Ziel richten, in einer Inhaltsbestimmenden Schöpfung, nach dem Vorbild der Genesis, es darf Freiheit nicht nur erkennbar, regelbar sein in ihren Begrenzungen. Das Recht mag die Form bieten – aber was sagt das Staatsrecht aus über den Inhalt der Freiheit? Nichts anderes, als dass in der Verfassung das Staatsrecht diese beschränkt58, dass sie nicht aber auf irgendetwas hin ausgerichtet werden darf. Dann aber ist diese Freiheit als solche kein „Verfassungswert“, wenn sie als ein derartiger Begriff nicht wiederum aus anderen Quellen gewonnen, angereichert werden kann, aus solchen, in denen ihrem Entfalten, Sich-Verströmen Richtungen gewiesen werden. Die staatsrechtliche Freiheit als solche ist also bisher, rechtlich-inhaltlich betrachtet, ein Leerbegriff. Inhaltlich ordnende Kräfte in einem wie immer zu verstehenden Transpersonalismus kann sie nicht entfalten. In einem Personalismus lässt sie sich lediglich rückbeziehen auf jenen Einzelnen, der in einer unendlichen Vielzahl von Trägern einen Staat hält, welcher in der Demokratie gerade darin existent ist. Bedeutet dann aber Freiheit nicht, im üblichen und selbstverständlichen staatsrechtlichen Verständnis, nur einen Zustand ohne Ordnungskraft, eben reine Abwehr im Sinn der Grundrechtsdogmatik – ein Negativum? Und darauf soll sich das Leben des unendlich wertvollen Menschen und die beste der so zu schaffenden Staatsformen gründen lassen? Den Transpersonalismus sollte Demokratie mit dieser ihrer Freiheit ersetzen; was aber hat sie an die Stelle der so deutlich fassbaren früheren Mächte und Ziele der Staatlichkeit gesetzt? Den freien Willen des Einzelnen. Kann sie wirklich in diesem letzten dogmatischen Negativum stehen bleiben? Darf sie hier die alte aristotelischthomistische Weisheit ausblenden, nach welcher „Sein“ immer besser ist als „NichtSein“? Ist dieser demokratische Voluntarismus des „einfach frei sein Wollens“ nicht nur ein Mantel für das staatsrechtliche Monstrum eines Nihilismus, in dessen Namen vor einem Jahrhundert alle Staatlichkeit zerstört werden sollte – vielleicht also doch folgerichtig?
2. Grundrechte als Ethisierung des Staatsrechts – von der Individual- zur Gemeinschaftsethik a) „Nach seinem Sinne leben ist gemein. Der Edle strebt nach Ordnung und Gesetz“. Diese große Maxime des deutschen (Staats-)Idealismus ist bereits Ausdruck einer höheren Stufe von Ethisierungsbewegung im Recht der Neuzeit, welche ein58 Dies ist denn auch das verfassungsrechtliche Schicksal „der großen Freiheit“, der „Freiheit als solcher“, der Entfaltungsfreiheit in Art. 2 Abs. 1 GG gewesen: Sie wurde alsbald „nur aus Beschränkungen definiert“ – auch aus dem Sittengesetz als einer solchen. Also kann sie, diese „Freiheit“, kaum wiederum als solche „aus Ethik sinnerfüllt werden“.
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B. Neue Staatsethik im Personalismus der freiheitlichen Demokratie
setzte mit dem staatsrechtlichen Grundrechtsschutz der Freiheit des Individuums. Zu Zeiten der Magna Charta sollte diese Freiheit noch das Individuum als solches schützen, den Einzelmenschen, vor allem in seiner ethischen Persönlichkeit, in welcher er ganz allein und ohne jede Staatsmacht der brutalen transpersonalen Militär/Polizeigewalt der Herrschenden gegenüberstand. Und hier war wirklich „Man versus State“, Individuum gegen Gewalt und Macht. Schritt auf Schritt wurde in Jahrhunderten erkannt, dass dieses Individuum nur geschützt werden konnte in einer systematisierenden Erweiterung jener allerengsten persönlichen Freiheit, welche Kettenfreiheit vor Richtern verlangte. Über die Bill of Rights und die Menschenrechtserklärungen der Französischen Revolution wurde dann aber immer mehr diese schutzbedürftige ethische Einzelpersönlichkeit zum sicherungsbedürftigen Gemeinschaftswesen. Darin allein entfaltete sich nun die moderne, alsbald die demokratische Staatlichkeit. b) Die Erweiterung der grundrechtlichen Schutzbereiche, vom 17. Jahrhundert bis in die globale Grundrechtsordnung der Weimarer Zeit zeigt, auf all ihren Stufen, stets vor allem eines: Die volle Bewusstwerdung ursprünglich individueller ethischer Werte und deren Schutzbedürftigkeit in den Beziehungen mit anderen Rechtsträgern, damit als Ordnungsformen der Staatlichkeit als solcher. Der enge, innere Individualismus, der in der Philosophie den Menschen noch immer zunächst und zu allererst ganz allein sah, unter dem gestirnten Himmel, vor seinem Gewissen, angesichts seines kategorischen Imperativs – all diese Ethik wurde nun erweitert in den Staat hinein, aus ihr wurde dieser Staat geradezu „freiheitlich geboren“; er entfaltete sich unter Zurückdrängung jener Staatsgewalt, welche auf alten Transpersonalismen aufgeruht, aus ihnen heraus seine Ordnungen durchgesetzt hatte. Die Grundrechte sind eine mächtige geistige Bewegung der Erweiterung der Individualethik als Rechtsgrundlage in eine Sozialethik hinein, in welcher der Mensch als das animal sociale in all seinen Bezügen erkannt wird. Diese Beziehungen werden immer mehr verbreitert, auf Gruppen und Gemeinschaften in rechtlicher Bindung erstreckt, damit aber auch in immer neuen Distanzen zum individuellen, individualethischen Ursprung der Freiheit erweitert. So entsteht dann das Grundrechtssystem als staatsrechtliches, staatsmoralisches Anspruchssystem im Namen der Freiheiten und eben nun sogar als System „der Freiheiten als solcher“. Hier möchte man eine ganz große Ethisierungsbewegung im Staatsrecht zu erkennen glauben; und als eine solche hat dies ja, in der Französischen Revolution, die geistige Welt der Neuzeit befruchtet – in Strömen von Blut und Gewalt. Dies letztere mochte ihr vergeben werden in der Hoffnung auf einen neuen Ordre moral, wie ihn noch der Neffe des größten feldherrlichen Gewaltträgers59 verkünden konnte. Gerade in dieser Zeit des II. Empire, welche eine geistige Vollendung des I. sein wollte, dann 59 Vgl. dazu bereits die früheren vorbereitenden Schriften von Napoleon III., in: Œuvres de Napoleon III, 4 Bde, 1854, vor allem in Bd. II: „Amélioration à introduire dans nos moeurs, Bd. IV, 519 ff.; Des gouvernements et de leurs soutiens, S. 57 ff.; A quoi tiennent les destineés des empires!, S. 101 ff.
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aber im Zusammenbruch des letzten großen Versuches einer bürgerlich-individualistischen Staatsethisierung und in Sozialisierung enden sollte – eben in Frankreich – kam etwas wahrhaft Neues herauf; in den noch immer weithin leeren Raum der „Freiheiten als solcher“ drang es gewaltsam ein: eine Gemeinschaftsmoral, welche in Sozialismus und Kommunismus die Welt des Individualismus weithin unterwandert, verändert und verwandelt hat.
3. Sozialethik als neuer Transpersonalismus? Eine Ethisierung des Rechts, welche zweifelsfrei darin liegt, dass die Freiheit, der Hauptordnungsgegenstand jeder Ethik, in den Mittelpunkt des Staatsrechts rückt, geht zwar in Grundrechtlichkeit von der Rechtstellung des Einzelnen aus, ist daher im Ausgangspunkt wesentlich Individualethik. In ihr liegt jedoch von vorne herein ein grundsätzlicher Anspruch, aus dieser Individualethisierung heraus auch eine Staatsethisierung grundzulegen. In ihrer Form einer Sozial-, einer Gemeinschaftsethik vollzieht sich dieser Schritt zwar; er führt aber eben nicht zu einer bewussten, einer wesentlichen Rückbeziehung der Staatlichkeit auf das Individuum. Vielmehr tritt nun sogleich, auf dem Weg über die juristische Begrenzung individueller Freiheit, ein neuer Ordnungsgedanke in den Mittelpunkt: die Interessen eben jener Gemeinschaft als solcher, im Gegensatz zu denen des Individuums. Diese letzteren werden mit jenen zwar nicht von vorne herein gleichgesetzt; sie bleiben in einem gewissen Gegensatz stehen, der dann eben in staatsrechtlicher Grundrechtlichkeit aufgelöst werden muss60. Als solche sind aber jene Gemeinschaftsinteressen, mit deren Achtung sich die Sozialethik wesentlich beschäftigt, letztlich nichts anderes als neue Formen transpersonaler Belange61, aus denen sich Beschränkungsmächtigkeiten gegenüber dem Individuum ergeben sollen. Damit setzt sich aber transpersonales Denken in diesen „öffentlichen Interessen“, eben in einem Ordnungsdenken in Gemeinschaftsbelangen, doch staatsrechtlich fort. Das Einzige was dann im Namen der Freiheit sich ändern soll, ist das Postulat – mehr als der Grundsatz – dass diese „neo-transpersonalen Gemeinschaftsbelange“ nicht in einer grundsätzlich unbegrenzten überindividuellen Mächtigkeit verfolgt werden dürfen. Was dies nun aber für das Wesen eines Transpersonalismus bedeuten soll, der sich in den „Gemeinschaftswerten“ noch immer als Grundlage des Staatsrechts darstellen will – dieses Entscheidende wird in Abgrenzung damit weder klar noch auch juristisch als solches überhaupt fassbar. Solche Staatlichkeit bleibt dann eben doch bei der ebenso klaren wie banalen Banalität stehen, dass „Staat Befehl be60 Deutlichstes Beispiel ist Art. 14 Abs. 1 S. 2 GG: Gemeinschaftsbelange als Grenzen des „höchst individuellen“ Privateigentums. 61 Nicht umsonst war ja die „große (Entdeckungs)Zeit dieser Sozialethik gerade jene staatsrechtliche Periode von Weimar“ (vgl. FN 15), in welcher wichtige transpersonale Stützen des Staates, in Monarchie und Aristokratie, zusammengebrochen waren.
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B. Neue Staatsethik im Personalismus der freiheitlichen Demokratie
deutet“, dieser Befehlende die Befehlsempfänger allenfalls in ihren Interessen zu achten habe. In den „Gemeinschaftsbelangen“, in der Gemeinschaftsbezogenheit des Individuums im Staat zeigt sich also zwar erstmals in großer Systematik Individualismus als ein Ausgangspunkt des Staatsrechts; wo aber die Grenzen dieser neuen personalen Mächtigkeit gegenüber der neuen Transpersonalität der Gemeinschaft verlaufen, das wird damit nicht klar. Aus dem Freiheitsdenken des gegenwärtigen Staatsrechts als solchem kann also eine neue Staatsethik, deren Wesen entsprechend, nicht gewonnen werden. Deshalb haben Staatslehre und geltendes Staatsrecht hier auch auf nähere Kollektivierungsversuche aus Ethik verständlicherweise verzichtet. Dies erwies sich schon deshalb für ein freiheitliches Staatsrecht als unumgänglich, weil nun das Vordringen des neuen „Gemeinschafts-Transpersonalismus“ in Marxismus und Kommunismus in letzter Konsequenz zum Versuch von Staatsethisierungen geführt hatte, welche gerade die Freiheit nicht nur zurückdrängten, sondern vernichteten; diese aber hatte doch, nach dem Ende des früheren „feudalen“ Staatstranspersonalismus, etwas ganz Neues schaffen wollen in Ethik. Gelungen ist mit den Radikalsozialismen aber lediglich eine neue Begründung eines feudalen Transpersonalismus, in welchem nun, ganz einfach die (imaginäre) Person des Staates an Stelle von Priestern und Fürsten trat. In dieser Gefahr einer „Umschaltung“ auf eine Sozialethik, welche dann ganz einfach den Platz des früheren Transpersonalismus einnimmt, stehen aber letztlich alle sozialethischen Versuche: Wo sollen sie die Grenzen der Staatsmacht ziehen, getragen von welchen staatspolitischen Kräften? Ist also doch eine (versteckte) Rückkehr des Transpersonalismus in Formen kollektiver Gemeinschaftsethik unausweichlich, damit jede Form von individualethischem Personalismus gegenüber „dem Staat“ so schwach wie eh und je?
4. „Der Freiheitsfeind“ als Staatsfeind – Neuauflage eines Transpersonalismus? Der freiheitliche Staat, wie ihn das Grundgesetz proklamiert, will Staat bleiben. Wie dargestellt, stößt eine solche Konzeption aber, aus ihrem Wesen heraus, auf das rechtlich kaum lösbare Problem der Abgrenzung zwischen dem – nun eingeschränkten – Transpersonalismus und einer nicht näher definierten individuellen Freiheitlichkeit. So wie ein Staat, schon nach der traditionellen Drei-ElementenLehre des Völkerrechts62, der Abgrenzung gegenüber denjenigen bedarf, sich aus ihr geradezu definiert, welche außerhalb von ihm stehen, damit, virtuell wenigstens, sogar seine Gegner sein können, so bedarf auch diese freiheitliche demokratische Staatsordnung ihrer „Feindbilder“. Der Staatsfeind gehört zum Staat, solange es 62 Vor allem „das Volk“ entsprechend den internationalrechtlichen Abgrenzungen des Begriffes.
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diesen gibt, muss dieser sich seine Gegner suchen, sich aus ihnen definieren. Für feudalen und religiösen Transpersonalismus war dies kein Grundsatzproblem. Es wurde im Krieg gelöst, in der Vorstellung vom Duell mit dem „Gegner“, der hier zugleich der persönliche Feind war. Er war rechtlich definierbar durch feste Abgrenzungen, von den Mauern der Burgen bis zu den nicht leicht überschreitbaren Staatsgrenzen, bis ins 20. Jahrhundert. Die Demokratie der Freiheit dagegen will im Namen dieser letzteren über ihre Grenzen ausgreifen, in Auslandsförderung, bis zur Weltbeglückung in fremde Länder hinein vordringen; und es gelingt ihr dies ganz natürlich über die neuen transnational wirkenden Kommunikationssysteme, selbst ohne spezielle staatsgelenkte Anstrengungen. Die „äußere Feindabgrenzung“ ist also brüchig geworden, wenn nicht aufgehoben. Und so liegt es nahe, dass der „notwendige Feind“, als ein virtuell immer und überall gegenwärtiger, welcher Staatlichkeit konstituiert und in ihrer Aufrechterhaltung rechtfertigt, denn auch allenthalben gesucht werde, grenzenlos. Er wird ja in gleicher Weise vorgehen, wie dies der Staat notwendig und selbstverständlich im internationalen Konzert täglich vorführt: in Durchsetzung(sversuchen) von – nun allerdings neuen – „Gemeinschaftsbelangen“. Im völlig zerfließenden Begriff des „Terrorismus“63 wird dies politisch großflächig praktiziert. Damit ist der Staatsfeind geboren, in der neuen Figur des Freiheitsfeindes in der Demokratie. Die Demokratie sieht sich damit jedoch einer geradezu staatspsychologischen Gefahr ausgesetzt. Überall kann ja dieser Feind lauern, in allen auch nur denkbaren juristischen wie faktischen Formen sich präsentieren. In Renaissancen der Vergangenheit und deren „Bewältigung“ mag er sich plötzlich aus Gräbern in einem Traditionsdenken erheben, obwohl jene doch endgültig in Siegen und Niederlagen verschlossen erschienen. Proteushaft kann er sich dann in immer neuen Formen präsentieren, ein Staatsgespenst nicht der Vergangenheit, sondern der jeweiligen Gegenwart. Gerade in deren unbegrenztem Neuerungsstreben findet dieser Freiheitsfeind als Staatsfeind unerschöpfliches politisches Formenrepertoire, ebenso seine Bekämpfung eine immer neue, immer noch angestrengter zu widerlegende Rechtfertigung. Am Ende wirkt für ihn dann das Allermenschlichste, die Ermüdung in dem angeblich oder wirklich endgültig Erreichten: in der bis zur Untätigkeit narkotisierenden Freiheit. Sie fasziniert und wirkt zwar vor allem mit der Kraft ihrer rechtlichen Unerschöpflichkeit; doch auch sie sieht sich eben dem grundsätzlichen, allgemeinen Einwand der notwendigen Erschöpfung aller Formen ausgesetzt. „Jung“ aber bleibt die Demokratie als Staatlichkeit in Freiheit darin, dass ihr nicht
63 Zum Begriff des „Terrorismus“ im Völkerrecht wie im Staatsrecht vgl. neuerdings die Bestimmungsversuche in Keber, T., Der Begriff des Terrorismus im Völkerrecht, 2009; Zöller, M. A., Terrorismusstrafrecht: Ein Handbuch, 2009, S. 99 ff.; Waldmann, P., Terrorismus: Provokation der Macht, 3. Aufl. 2011, S. 13 ff.
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nur immer neue Lösungen gelingen, sondern dass sie auch immer, in ihrem „Staatsrecht“, neue Staatsfeinde entdeckt, Feinde ihrer Freiheit64. Diese Gegner handeln zwar nicht selten aus individualethischen Motiven; meist ist ihnen jedoch eine gewisse Organisationsstruktur eigen. Kaum je wenden sie sich als Einzelne gegen die Volksherrschaft, weniger noch als ihre Vorgänger gegen Träger früherer transpersonaler Gewalt. Nicht in ihren Einzelaktionen, sondern in Normen und Grundsätzen, in sich allgemeiner ausprägenden Zielsetzungen findet dann die freiheitliche Staatsgewalt immer wieder Gegenbilder, in deren Ablehnung sie sich selbst auf transpersonale frühere Grundstrukturen ihrer Macht besinnen kann. Da die Staatsgewalt hier, wie schon so oft in der Vergangenheit, mehr oder weniger doch in Formen von Polizeitruppen, grundsätzlich stets „hinter ihren Gegner herlaufen“ muss, gerät die freiheitliche Staatlichkeit in ihrer Phobie der Staatsfeinde gelegentlich sogar in die Gefahr eines politischen Verfolgungswahns, der überall den Feind sieht, in dem weiten Innenraum der Staatsgewalt – oder sie zieht sich zurück in immer noch mehr Freiheitlichkeit, bis mit dieser dann auch der Staat als solcher verdämmert. Transpersonalismus ist und bleibt also auch in dieser neuen „Freund-FeindKonstellation“ durchaus politische Realität, als eine solche auch lebendig im Inneren des freiheitlichen Staates, wenn dieser nicht sogar dazu übergeht, Transpersonales in seinem ihm wesentlichen „Geschehen-lassen“ zu konstituieren.
5. „Freiheit“ in „Ideologisierungsangst“ Freiheitlichkeit bedeutet, wie dargelegt, an sich einen grundsätzlich individualrechtlichen Ansatz auch für eine Staatsethisierung. In ihr wirken aber eben auch Elemente, nur zu oft Relikte eines vergangenen Transpersonalismus fort, in neuen, erweiterten, oft geradezu systematisierten Formen. Die Grenzenlosigkeit der Freiheit, in welcher sich diese einer, jedenfalls rechtlich gesehen, Inhaltslosigkeit nähert (vgl. oben 1.), drängt dieses freiheitliche Staatsrecht nicht nur in Systematisierungsversuche der Grundrechte (vgl. oben 2.), die dann zu einer Flucht in Gemeinschaftsethik führen (vgl. vorst. 3.), sich ihre Ordnung(en) in Gegnerschaften suchen (vgl. vorst. 4.). Gerade „die Freiheit“ als ein Staatsprinzip, wie es das Grundgesetz auf seine Fahnen schreibt, muss tiefere Gedanken suchen, hervorbringen, auf und um die sich „ein Staat bauen lässt“, in einer gewissen Festigkeit. Darin gerät aber die freiheitliche Demokratie wiederum in etwas, was man als „staatsrechtliche Ideologisierungsgefahr“ bezeichnen kann. Den Einzelverbürgungen der Grundrechte war, und ist noch heute, eine Aufspaltung des Schutzes nach Bereichen eigen, der einer vollen Systematisierung, wie 64 Zum gegenwärtigen Staatsschutzrecht vgl. Middel, St., Innere Sicherheit und präventive Terrorismusbekämpfung, 2007; Miebach, K./Joecks, W., Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch §§ 80 ff. StGB, 2. Aufl. 2012.
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bereits dargestellt, stets entgegenstand. Nahe läge es, hier juristisch übergreifend zusammenzufassen in Staatsgrundsätzen. Soweit dies nun aber nicht gelingt, in der Systematisierung einer großen übergreifenden Freiheit, wenn es allenfalls seinen Ausdruck wiederum nur finden kann in Organisationsprinzipien, wie sie im Folgenden zur „Demokratie“ noch darzustellen sein werden65, so liegt eines doch stets nahe: dass diese freiheitliche Staatsform, dieser „Staat der Freiheit“, dieses „Règne de la Liberté“, wie es die französischen Revolutionäre auf den Rheinbrücken 1789 proklamierten, auch in einer neuen Ideologie gehalten werde, sich immer weiter in ihr entfalten soll. Auch der Demokratie ist es ja, auch jenseits ihrer religiösen transpersonalen Grundlagen, vorgegeben, sich zu entwickeln wie einst der jugendliche Erlöser der Christen: Sie muss zunehmen an Alter, in Rationalismus und, an „Gnade“ (Akzeptanz) bei den Menschen. Bisher ist ihr dies wohl in einem gewissen Freiheitsbewusstsein der Bürger gelungen. Doch etwas wie eine allgemeinere gemeinsame Idee sollte, müsste sich doch eigentlich aus dieser Freiheit heraus entfalten, das ganze menschliche Leben ihrer Bürger erfassen, organisieren, durchwirken. Nach dem Ende der großen Staatskirche ist dies in neuester Zeit letztlich nur mehr vorstellbar in der Form jener Ideologien, welche, bisher weithin erfolglos, an deren Stelle treten wollten66. Die Staatsideologie des Kommunismus ist als eine solche geradezu im Verdämmern, nicht nur, wie Staats-Religiosität, im Niedergang. Der liberalen Ideologie der Märkte – denn eine solche hat es, vor allem in Deutschland, durchaus in vergangenen Jahrzehnten wirksam gegeben67 – könnte ein ähnliches, wenn auch friedlicheres Auslaufen bevorstehen, jedenfalls in der allgemeinen Überzeugung. Derartige „Entideologisierungen“ mag man nun zwar, ganz allgemein, begrüßen im Namen der Freiheit als neuem Ausgangspunkt der Staatlichkeit. Deutlich muss aber bleiben, dass damit grundsätzliche Ideologieängste in allen Formen gegenwärtiger Staatlichkeit einhergehen. Verständlich sind sie angesichts eines nationalen und internationalen Marktgeschehens, das zwar bis zu wirklicher Ideologisierung in dem erwähnten positiven Sinn noch immer nicht hat vordringen können – damit allerdings auch nicht, wie ebenfalls bereits festgestellt68, zu einem neuen transpersonalen Halt der Staatlichkeit. So sind Formen der Ideologieängste durchaus positiv zu sehen im Sinne von Notwendigkeiten neuer Befestigungsformen, Legitimationsgrundlagen der Staatlichkeit, welche diese in Demokratie zu durchwirken, eine solche geradezu zu konstituieren vermögen. Gegenwärtig aber wirken diese Sorgen noch immer als ein staatsrechtliches Menetekel gegen jede Art von Systematisierungsversuch einer Staatlichkeit, welche sich darin durchaus als eine neue Form von Transpersonalismus zeigen könnte. Dass dieser immer wieder Überlebenskräfte 65
Vgl. i. Folg. III. Kritische Bemerkungen zu den „Ideologien“ bei Leisner, W. , Institutionelle Evolution, Grundlinien einer Allgemeinen Staatslehre, 2012, S. 64. 67 Zu marktwirtschaftlichen Ansätzen in diesem Sinn vgl. Leisner, W., Der Förderstaat (FN 41), S. 18 ff. 68 S. oben A. II. 3. 66
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hervorbringt, dass Staatsideologie die Form einer solchen annehmen kann, ist ja unbestreitbar. Ideologisierungssorgen stehen allerdings auch, und hier liegt ihre negative Wirksamkeit, jeder Art von übergreifendem Staatsdenken im Wege. Ein solches muss aber jedenfalls versucht werden, angesichts der drohenden oder bereits realen Eklipse des Transpersonalismus im Staatsrecht. Es darf nicht dahin kommen, dass jeder derartige Versuch, auch ein solcher in einem Personalismus der Freiheit, von vorne herein dem grundsätzlichen Misstrauen ausgesetzt wird, es solle sich in ihm ein neuer Transpersonalismus entfalten. Solche Sorgen sind gewiss berechtigt, blickt man nur auf die Entwicklung, welche Gegenstand des vorliegenden Kapitels war: dass nämlich die grundsätzlich doch individuelle, persönliche Freiheit sich sogleich, über Gemeinschaftsethik, in einen neuen staatlichen „Gemeinschaftspersonalismus“ verwandeln könnte. Am Ende einer solchen Entwicklung stünde dann nichts anderes als doch wieder ein neuer Transpersonalismus, noch weniger rechtlich fassbar, für den Einzelnen weit gefährlicher als alle überwundenen Formen dieser staatsrechtlichen Gestaltungen. Die Freiheit hat im Staat Tore geöffnet für die Sicht auf Horizonte einer Individualrechtlichkeit im Großen. Sie dürfen nicht durch neue Tore der Staatsorganisation verschlossen werden; diese muss sich ebenfalls aus einem auf den Einzelmenschen konzentrierten Denken entfalten. Nur dann wird die Freiheit als solche zu jener allgemeinen Kraft, aus der heraus sich auch individualmenschliche Organisationsund Machtstrukturen freiheitlich gestalten lassen. Dies ist Aufruf der Freiheit, ihr Sinn und ihre Kraft für einen neuen Personalismus, wie er nun in seinen Grundzügen skizziert werden soll. Selbst und gerade wenn er aus (Individual-)Ethik kommt, kann und darf er nicht zu einer neuen politischen oder gar staatsrechtlichen „Ideologie“ werden. Er wächst aus Freiheit, diese bleibt hier aber stets etwas Persönliches – Personales.
III. Personalismus in der Historie des Staatsrechts: Kreisläufe und Evolutionen – nicht „Fortschritt“ 1. Ethischer Personalismus als Überzeugung des Augenblicks, nicht „in Entwicklung“ Ethik ist, in all ihren Formen, eine ins individuelle Menschsein eingebundene Erscheinung. Aus diesem strahlt sie aus, wie es in staatsrechtlicher Menschenwürde vorgestellt ist69, notwendig in Entwicklungen, die dem Einzelmenschen in seinem 69 Diese entfaltet sich jeweils über jene „Ausstrahlungswirkungen“, welche sich bereits nach allgemeiner Grundrechtsdogmatik gerade aus der grundrechtlichen Normqualität des Inhalts von Art. 1 Abs. 1 GG ergeben (dazu Starck, Chr., in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG 6. Aufl. 2010, Art. 1 Rn. 14, 27). Dies ist auch der Sinn der st. Rspr. des BVerfG zu dieser
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Menschsein als solchem vorgegeben sind. Dies bedeutet aber, dass sich ethische Überzeugungen jeweils in geschichtlichen Ausprägungen zeigen, unter ganz verschiedenen, wechselnden Einflüssen auch unterschiedliche Inhalte annehmen – eben ganz „natürlich“. Es sind dies jene Reaktionen des Menschen in einem bestimmten geschichtlichen Augenblick seines Lebens, oder in dem seiner Gemeinschaft(en), welche darin den „kategorischen Imperativ der Individualethik“ mit Inhalt erfüllen, ihn in Bindungskraft umsetzen. Eine solche als Personalismus hier bezeichnete individualethische Überzeugung, im Staatsbereich zum Ausdruck gebracht, kann schon begrifflich nicht einer historischen Relativierung als solcher unterworfen sein. Sie ist in jedem Augenblick neu und ganz, eben als Ausdruck einer nicht über-, sondern un-zeitlichen Überzeugung. Dies ist ja auch das Wesen jedes öffentlichen, jedes staatlichen Befehls: Er bricht in die Zeit ein, gestaltet diese, geht unter wenn seine Überzeugungskräfte erschöpft sind, nicht einfach nur mit irgendeinem Zeitablauf. Der einzige, bedeutsame Unterschied zum reinen individualistischen Vorgang des Wollens liegt darin, dass ein aus individualethischen Müssen/Wollen in den Staat hineinwirkender „öffentlicher Wille“ nicht mit dem Tod, dem Verschwinden des einzelnen Trägers aufhört; mit ihm verliert er lediglich ihm gegenüber seine Bindungswirkung. Erhalten bleibt er in den Kräften des Bindungswillens anderer Individuen, eben für diese, für sie nunmehr allein. Ein solcher staatsethischer Individualismus schafft also gewissermaßen einen unzeitlichen Staat, den Staat des jeweiligen Augenblicks. In der Idealvorstellung der Demokratie vom täglichen Plebiszit findet dies einen natürlichen, grundsätzlichen, keineswegs einen staatsutopischen Ausdruck. Es ist dies eine Demokratie, welche immer da ist, nicht weil sie eine besonders „gute Staatsform“ wäre, sondern weil sie in jedem Augenblick ganz gegenwärtig ist, in diesem sich erschöpft, im nächsten nur weiterlebt, soweit dieser für sie bereits Gegenwart bedeutet. Dieses MenschlichStaatstragende ist als solches, in dieser „Vergegenwärtigung“70 unveränderlich, wie es in Art. 79 Abs. 3 Grundgesetz heißt. Es war und es ist immer da, stets gleich, in dieser menschlichen Individualethik, in ihren jeweiligen geschichtsgeprägten Ausdrucksformen.
2. Staatsethik aus Individualethik: Absage an Evolutionismus und Fortschrittsideologie Dieser „Personalismus als individuelle Staatsethik“ kann nur in seinen jeweiligen geschichtlichen Ausprägungen erfasst, als solcher und in seinem Wesen aber muss er überzeitlich-philosophisch aufgefasst werden. Hier muss unhistorisch gedacht werden in Kantianismus, Immanuel Kant aber war eben kein Historiker. Die große Vorschrift als einem „tragenden Grundprinzip der Staatlichkeit“ als solcher, vgl. für Viele BVerfGE 6, 32 (36); 109, 133 (149); 117, 71 (89). 70 Dies ist die Wirkung jener rechtlichen „Prognose“, wie sie verdeutlicht wird in Leisner, W., Prognose im Staatsrecht. Zukunft in Vergegenwärtigung, 2015.
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Philosophie kennt die „Historische Krankheit“; aber sie sieht sie mit Nietzsche als eine professorale deutsche Gefahr, nicht als einen Weg der Erkenntnis, auch und vor allem nicht der des Staates, seiner Entwicklungen und Zukünfte. Hier muss einem naheliegenden, eben auch einem demokratischen Missverständnis von vorne herein eine entschiedene Absage erteilt werden: Eine personale Staatsethik wie sie hier aus Individualismus entwickelt werden soll, kann nur gedacht werden jenseits von allem „ideologischen Evolutionismus“, wie auch all seinen Fortsetzungsversuchen in einer heute im Staatsrecht gängigen Fortschrittsideologie. Ethik ist zwar, in all ihren Formen, stets auch Betrachtungsgegenstand eines Evolutionismus gewesen, nicht nur in dessen darwinistischen historischen Ausprägungen. Mit naturwissenschaftlichen Problemen haben sich die vorliegenden Betrachtungen jedoch nicht auseinanderzusetzen, sie weder zu veri- noch zu falisifizieren. Sie sehen Individualethik wie Staatsmoral als Erscheinungen in historischen Kreisläufen. Dieser ihr „reiner“ Historismus, weder biologisch noch technisch-naturwissenschaftlich zielgerichtet in Fortschrittlichkeit, findet ethische Überzeugungen, beginnend mit den Anfängen menschlicher Selbstbewusstwerdung im heutigen Sinn, letztlich in prinzipiellen Inhalten. Diese entwickeln sich, ganz selbstverständlich, mit den historischen Umständen, mit „Umwelt(en)“. In individualmenschlichen Überzeugungen kehren sie aber immer wieder, in ihren wesentlichen Kernvorstellungen, zurück in das Leben der Einzelnen wie in das ihrer Staaten. Und diese Wirkung einer personalen Staatsethik vollzieht sich eben, wie die staatsrechtliche Historie71, in Kreisläufen, nicht in „Errungenschaften“, Paradieshoffnungen, in „Wegen immer weiter nach Vorne“. In dieser Erkenntnis mag etwas zu sehen sein wie eine tiefere Bescheidenheit, als Vorgabe für den Einzelmenschen, und auch als eine solche des Staatsrechts. Ebenso wenig wie seine Bürger kennt dieses „die Wahrheit“72; in Kreisen bewegt es sich um sie herum, mag ihr näher kommen, sich von ihr wieder entfernen – Schiedsrichter darüber ist immer die Einzelüberzeugung des Menschen in seiner jeweiligen Zeit. Evolutionismus als Wesen des Staatsrechts, als sein Ausgangspunkt in Allgemeiner Staatslehre, darf daher nicht etwa primitivierend gleichgesetzt werden mit einem Entwicklungsverständnis, welches sich in Frontstellung gegen Religion, in Spannung zu einer Schöpfungsideologie verstehen müsste. Von all dem kann in einem Personalismus, wie er hier vertreten wird, nicht die Rede sein. Wie dieses Ethische zum Lebewesen Mensch gekommen ist in seine Welt, ob es in diese schöpferisch hineingelegt, sich aus sich selbst oder aus einem göttlichen Willen entfaltet hat – all dies sind keine staatsrechtlichen Probleme, es sind dies eben persönliche Überzeugungsfragen. Kein Staatsrecht kann und darf hierzu irgendeine Aussage treffen. Staatsrecht wie Staatslehre haben derartiges ja auch nie, auch nicht 71
Näher dazu Leisner, W., Zyklustheorie der Demokratie, in: FS f. Peter Badura, 2004, S. 289 ff. 72 Dazu Leisner, W., Die Staatswahrheit. Macht zwischen Willen und Erkenntnis, 1999, insb. S. 36 ff., 61 ff.
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in ihren historischen Vertiefungen, versucht. Darin waren sie immer letztlich einem historischen Relativismus treu: nie sollte derart übergegriffen werden in Philosophismus und Theologismus im Staatsrecht. Die Staatsform der Demokratie muss hier allerdings in besonderem Maße kritisches Bewusstsein in ihrem Staatsrecht entwickeln, verbreiten: Aus der langen Geschichte ihrer gerade ethisch überzeugenden Entfaltung heraus steht sie in der naheliegenden Gefahr, sich moralisch verabsolutieren zu wollen. Staatsethisch findet dies dann in den gängigen Primitivismen der Volksherrschaft als der besten aller Staatsformen ihren Ausdruck, ohne dass auch nur näher geprüft würde, welche dieser zahllosen Formen von Demokratie, in welcher Gestalt diese Regierungsform auf den Thron eines überzeitlichen ethischen Personalismus erhoben werden soll. Entthronen konnte diese (sogenannte) Staatsform allerdings die staatsethische Überzeugung ihrer Vorgänger eindeutig: den bisherigen Transpersonalismus, wie dies vorstehend dargelegt wurde. Aufgegeben ist ihr damit aber nicht ein Evolutionismus, der ganz Neues in die staatsrechtliche Welt zu bringen vermöchte. Allenfalls beginnt etwas wie ein neuer staatsrechtlicher Kreislauf in Staatsformen, und eben auch wiederum von Individualethik zu Staatsethik und zurück. Einen solchen hat die Verfassungsgeschichte in ihren Betrachtungen des Humanismus bereits im großen Stil und wahrem Tiefgang vollzogen. Aus solchen Grundlagen heraus muss er stets erneut erkannt und verfolgt werden. Dies bedeutet Grundsatzkritik an einem „demokratischen Fortschrittsglauben“. Im Ethischen wird er, das lässt sich schon heute absehen, im Kommen und Gehen Veränderungen unterworfen sein, wie stets in der bekannten Geschichte. Jede Vorzüglichkeitsüberzeugung pervertiert den Sinn von Historismus und Humanismus – als ob in immer neuen Hilfs-Mitteln menschlichen Verhaltens, menschlicher Lebensgestaltung bereits als solchen Ethik läge, individuell oder staatsrechtlich verstanden. Nochmals also und grundsätzlich: Staatsrechtlicher Personalismus aus Individualethik ist eine entschiedene Gegenposition zu allem biologistischen Evolutionismus, wie auch zu aller geistiger Fortschrittsideologie73.
3. Exkurs: Staatsrechtlicher Personalismus und antike Staatsethik Hier gewinnt ein solcher staatsrechtlicher Personalismus ganz natürlich den Anschluss an Gedanken, Überlegungen, ja Systeme, welche noch immer, oft mit erstaunlicher Selbstverständlichkeit, aus Staatslehre und Verfassungsgeschichte
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Leisner, W., Institutionelle Evolution (FN 66), S. 46 ff.
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B. Neue Staatsethik im Personalismus der freiheitlichen Demokratie
heraus, das Staatsrecht befruchten, wenn auch meist mit einer gewissen unkritischen Selbstverständlichkeit: zur Staatslehre der klassischen Antike74. Diese war, in ihrem historischen Ausgangspunkt und allen ihren bekannten Ausprägungen, stets Ergebnis einer zentral, ja schwerpunktmäßig individualethisch ausgerichteten Staatsphilosophie. In der historischen griechischen Staaten-Symbiose konnte nicht transpersonal-machtpolitisch gedacht werden wie in ägyptischer und persischer Imperialität. Vielleicht war es aber auch jene handelsmäßig orientierte menschliche Kontaktsituation, welche hier zu einer Staatslehre aus ethischer Einzelmenschlichkeit geführt hat. Wie immer – antike Staatslehre muss, weit mehr als ihre späteren staatsmachtanalytischen Nachfolgeversuche, vom Individualethischen her begriffen werden, von der platonischen Akademie bis in die Spätstadien der Stoa und des Epikureismus. Nur so erklärt sich platonische Idealstaatlichkeit, aus Paideia heraus, als Bildungsstaatlichkeit75. Das gesamte Staatsorganisationsrecht wird in eine ethische Anstalt verwandelt; und dieser Ausdruck hat ja im deutschen Idealismus eine weit über allen Humanismus hinausgehende Wiedergeburt erlebt. Aristotelische Staatsgeometrie konnte in dogmatischer Jurifizierung die Ethik zur Spezialdisziplin erklären, den großen frühantiken Individualismus in sie hinein, zugleich eingrenzend, legen. In den spätantiken, allein wahrhaft dann staatstragenden Philosophien, insbesondere in der Stoa, kam die platonische Staatethik wieder zum Vorschein. Nun sollte kein Idealstaat mehr gebaut werden im Denken der großen Staatslenker als Staatstheoretiker, eines Seneca76, eines Marc Aurel77. Jetzt sollte endlich die Macht aus dem Menschen heraus gesehen werden, der Staat leben in stoischer Ruhe wie der Einzelne in seiner Unerschütterlichkeit. Dies sind die staatsethischen, die staatsrechtlichen Lehrbücher von Generationen geworden, gerade nachdem die aristotelische staatsorganisatorische Geometrie mit dem kirchlichen Machtanspruch immer mehr vor der Aufklärung zurückweichen musste. Dies ist eine antike Staatsphilosophie, die es in der Gegenwart vor allem zu entdecken gilt. Deren progressistische Unruhe muss ihre Antithese finden in einer Ruhe in Mensch und Staat, wie sie nur in der unzeitlichen Überzeugung der Ethik vorstellbar ist. So kann dann antike Staatslehre, mehr denn je und endlich wieder, vor allem als Staatsethik verstanden, auch zur Anreicherung eines staatsethisch konzipierten, in Bildung vorbereiteten Organisationsrecht der Gemeinschaft werden. Von der Einzelmenschlichkeit der platonischen Sokratik bis zur ruhigen Untergangsbereitschaft 74 Leisner, W., Institutionelle Evolution (FN 73), S. 16 ff; vgl. auch ders., Platons Idealstaat und das Staatsrecht der Gegenwart. Vgl. – Anregungen – Mahnungen in den „Gesetzen“: Zu einem „Bildungsstaat“, 2014, S. 16 ff. 75 Dies ist die Grundidee der klassischen Analyse von Werner Jaeger, Paideia. Die Formung des griechischen Menschen, Bd. 1, 1934; Bd. 2, 1944; Bd. 3, 1947. 76 Vor allem in seinen Epistulae, aber auch in seinen „Moralia“, insbesondere „De ira“, „De vita beata“, „De beneficiis“. 77 Mark Aurel, „Selbstgespräche“.
IV. Freiheitlicher Staat in Individualismus
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der Stoiker ist dies dann eine Individualmoral, welche in den Staat hineinwirkt. Sie akzeptiert, ja sie sucht den eigenen Tod, so wie sie Wandlungen der Staatlichkeit im Auslaufen immer neuer staatsrechtlicher Gesamtüberzeugungen erkennt, wenn möglich vorausnehmen will in ihrem Leben. Darin ist sie auch entwicklungsoffen, nicht zu immer weiterem Fortschritt, sondern zu immer neuen Kreisläufen.
IV. Freiheitlicher Staat in Individualismus – Individualethik als Staatsethik 1. „Staat aus Menschen“ Individuelles Freiheitsstreben gegen transpersonale Herrschaftsbegründung – darin hat sich seit der Aufklärung immer deutlicher und in zunehmender Systematisierung das Staatsrecht im Sinne eines Individualismus entwickelt. Mit einer, eben mit seiner Freiheit kann nur der Einzelmensch in den Mittelpunkt staatlicher Ordnungsanstrengungen rücken. Die demokratisierte Staatsform hat, in dieser Inhaltsverschiebung der Macht von der Gewalt des Willens zum menschlichen Verhalten als Ordnungsgegenstand, zugleich auch die Grundlagen für eine Umsetzung der Freiheit in Staatsorganisation geschaffen. Der Staat ist nun getragen von diesen Individuen, er ist, nicht nur letztlich, sondern überhaupt und von Anfang an, nichts anderes als Ordnungskraft von Menschen über Menschen. Der Staat steht den Menschen nicht mehr grundsätzlich gegenüber; überwunden ist der angelsächsische Grundsatz einer Freiheit im Sinne des Antagonismus von „State versus Man“78. Eine entscheidende Gewaltmäßigung, wie sie Ausgangspunkt und Ziel zugleich der freiheitlichen Demokratie darstellt, ist nie vorstellbar, solange noch etwas von der Hobbes’schen Leviathan-Vorstellung übrigbleibt in jener Staatlichkeit, welche einst darin ihre eindeutige, zu Recht als un-menschliche bekämpfte Verkörperung finden sollte. Die vordemokratische Vergangenheit stand ja insgesamt unter dem Dogma, dass Menschen nur in einer letztlich un-menschlichen, über-menschlichen Ordnung „staatlich gehalten“ werden könnten; sie würden andernfalls zu ebenso unmenschlichen Gewaltträgern, zu Raubtieren werden wie eben jene Staatlichkeit, die eingesetzt werden sollte um ein „homo homini lupus“ zu verhindern. Eine solche Vorstellung war nichts als letzte Konsequenz eines Transpersonalismus, der bereits zu Zeiten dieser englischen Aufklärung geistig am Ende war, sich daher in derartige Extremfolgerungen flüchten musste, um noch wahrgenommen – um dann aber auch bekämpft, überwunden werden zu können. Aus dem Denken der freiheitlichen Demokratie sind solche Schreckensbilder verschwunden, nur als mahnende Menetekel werden sie immer wieder beschworen: 78 In der Zweigleisigkeit von „State versus Man“ ist bereits der Transpersonalismus grundsätzlich von einem Ein- zu einem Zweipoligen Staatsbegriff gewandelt. Nun gilt es, den Individual-Pol (auch) in den Kollektivpol hineinwirken zu lassen.
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B. Neue Staatsethik im Personalismus der freiheitlichen Demokratie
Wie aber konnte neuerdings gerade diese ebenso allgemein verbreitete wie wenig im Einzelnen rechtlich definierte Freiheit wieder umschlagen in ihr staatstotales Gegenbild? Der Kommunismus hat es ja, in seiner Setzung des Kollektivs als Hüter und Herrn der Freiheit, in großer staatsgrundsätzlicher Gestik und in flächendeckender Praxis gezeigt. Ernst zu nehmen gilt es demgegenüber jene Grundposition gegenwärtiger, aus Freiheitsstreben entstandener, daher „freiheitlicher“ Demokratie: Sie kommt „aus dem Menschen“, ihr Ordnungsstreben kann nichts anderes sein als eine, wie immer zu verstehende, Potenzierung menschlichen, d. h. aber im letzten Ursprung: einzelmenschlichen Willens. Dass dieser sogleich ein „anderer werde“, wenn sich zwei oder drei in einer Willens-Gemeinsamkeit zusammenfinden, ist allenfalls Übertragung eines biblischen Bildes, welches aber mit demokratischer Staatlichkeit wenig gemein hat: Der Erlöser mochte seinen Jüngern versprechen, wenn sie sich in seinem Namen versammelten, sei er mitten unter ihnen. Damit sollte aber nicht ihr gemeinsamer Wille zum göttlichen Willen werden, in einer neuen, gewandelten Transpersonalität. Angekündigt wurde, er selbst, der Gott, werde dann unter ihnen sein, aus jenseitigem Transpersonalismus des Reiches Gottes ihr Erdendasein ordnen, damit wahr werde: „Zu uns komme Dein Reich!“. In der Demokratie gelten keine derartigen transzendenten Hoffnungen. Hier ist, ganz einfach, „Menschliches unterwegs“, getragen vom jeweiligen Individuum, sei dieses im Leben zusammen mit vielen anderen, sei es im Tode79 nur allein mit sich selbst. Übergreifende Idee ist hier ein späterer antiker Humanismus, der in der römischen Commedia umana von sich sagen konnte: „Homo sum humani nihil a me alienum puto“. Das Menschliche als solches „zieht ihn dann hinauf“ in eine Staatlichkeit, welche gedacht werden, welche sein soll wie er in seinem Menschsein. In jedem Einzelmenschen ist diese Demokratie als solche ganz, in jedem Einzelnen wird sie gefährdet, geschlagen, vernichtet. Dies nur kann letzter Sinn einer Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) sein, nicht nur ein Verbot von Schmerzen einer Folter, welche auch den letzten Willenswiderstand des Menschen noch brechen könnte. Staatlichkeit in jedem Bürger, weil aus jedem Bürger heraus wachsend – dies allein kann den Staat, die „Mauern des Hohen Rom“80 halten, sie rechtfertigen auch in der Volksherrschaft, nicht irgendeine Masse, die irgendwie irgendwo zusammenläuft, irgendetwas irgendwann will. Dies ist die freiheitliche Demokratie: Der Staat aus dem Menschen geboren.
79 Jenem Tod, den das Staatsrecht als solchen nicht regeln kann, sondern allenfalls seine Gründe, seine Begleitumstände und seine Folgen. 80 Altae moenia Romae, Vergil, Aeneis I, 7.
IV. Freiheitlicher Staat in Individualismus
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2. Egalität: Die Gleichheit der Einzelnen Dieser grundsätzliche staatsrechtliche Individualismus hat vom Anfang der demokratischen Entwicklung an gebieterisch die Gleichheit gefordert, ausgeformt und legitimiert81. Sie darf nicht sogleich wieder, schon in ihrem freiheitlichen Ausgangspunkt, miss-verstanden werden nur als ein Instrument zur Beschränkung der Freiheit, indem eine egalisierte Masse, als Trägerin eines neuen Transpersonalismus, ihr Grenzen setzen, sie in nationalem Kommunismus auslöschen darf. Diese Gleichheit ist nicht zu verstehen als eine allgemeine Ordnung, die gerade noch einige kleinere oder größere Freiräume bereithält für solche, welche „von Natur aus“ nicht ganz so sind wie die anderen Staats-Träger, die übrigen Menschen. In einer derartigen Vorstellung geschähe nichts anderes, als Restauration eines nun wahrhaft allmächtigen Transpersonalismus, „gewalt-ig“ nicht nur in den Formen seines Zugriffs, sondern geradezu unendlich in den inhaltlichen Zielsetzungen, die er verfolgen darf – bis zur totalen Nivellierung. Aus einem Personalismus heraus muss vielmehr dem Schutz des Individuellen stets Priorität zukommen. Nicht die „natürlichen“ Unterschiede sind rechtfertigungsbedürftig82 als Schranken einer allmächtigen Gleichheit; vielmehr ist es die Egalität selbst, welche sich vor jedem Individualismus stets zu legitimieren hat. Hier wirkt die vielberufene Abbildlichkeit der Wirklichkeit ins Staatsrecht hinein. Sie blickt zuerst auf das Individuum, das in seiner unauswechselbaren Einmaligkeit zu erhalten, zu fördern, zu stärken ist – und zwar jedes einzelne Individuum, in jeder seiner Entscheidungen. In diesem Letzteren liegt das wahrhaft fundamentale Gebot der Gleichheit: Gleicher staatsrechtlicher Schutz für alles Einzelmenschliche, Individuelle, soweit nicht gerade dieser Wert, diese Position gleichwertige Positionen Anderer beeinträchtigt; diese definieren sich aber, gerade in dieser ihrer Wertigkeit, letztlich wiederum nur aus Individualismus. Dies ist keine Banalität, keine einfache Fortsetzung bisheriger Gleichheitsverständnisse. Vielmehr liegt darin eine staatsrechtliche Vorrangentscheidung für den Schutz des jeweiligen Individuellen, der eben nur dann versagt, beschränkt werden darf, wenn er eine ebenso wertvolle Individualität anderer bedroht. Damit muss aber hinter einer egalitären Ordnung stets ein Wertesystem83 gedacht werden, wirksam 81 Selbst in der egalitären Jakobinerverfassung des Jahres 1793 heißt es in Art. 1, 3 „Alle Menschen sind gleich von Natur aus und vor dem Gesetz“ nicht „durch das Gesetz“. Die Dogmatik des Staatsrechts hat, seit der Französischen Revolution, allzu rasch „übergeschaltet“ von jener „natürlichen“, „faktischen“ Gleichheit auf die Rechtsgleichheit, jene ist damit geradezu in dieser letzteren aufgegangen, vgl. Nachw. b. Starck, Chr., in: v. Mangoldt/Klein/ Starck, GG 6. Aufl. 2010, Art. 3 Rn. 1,3. Art. 3 beinhaltet wesentlich und zu allererst ein individuelles, subjektives Grundrecht der Einzelperson (so schon BVerwGE 55, 349 (351)). 82 Gerade so wird aber weithin im Staatsrecht verfahren, vgl. Heun, W., in: Dreier, GG 2. Aufl. 2004, Art. 3 Rn. 24. 83 Überblick bei Leisner, W., „Werteverlust“, „Wertewandel“ und Verfassungsrecht, JZ 2001, S. 313 m. w. Nachw.; Antal, A., Verfassungswerte im konstitutionellen Rechtsstaat, 2001.
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B. Neue Staatsethik im Personalismus der freiheitlichen Demokratie
bleiben; wertfreier Egalitarismus würde zum unüberbrückbaren Gegensatz zu einer Demokratie, die ihre Staatlichkeit aus dem Menschen, dem Einzelnen als Wert gewinnt und entfaltet. Der lange, ja ewige Streit um die angeblichen Gegensätze zwischen Gleichheit und Freiheit kann also im demokratischen Staat nur aufgelöst, letztlich umgangen werden, jedenfalls aufgehoben sein, wenn diese Volksherrschaft von einem Wertesystem getragen ist, welches aus dem kommt, dessen Kräfte anspricht und aktiviert, welcher diese Staatsform prägt: Der Einzelmensch. Dieser aber steht unter keinem anderen letzten, kategorischen Imperativ als dem einer Individualethik, mit all ihren Toleranzen und Rigorismen. Nur dieser Moral fühlt sich der Einzelne noch immer verpflichtet, mag ihn auch gegenwärtiger besitzgieriger Leviathanismus immer wieder zum räuberischen Wolf degradieren. Und nur aus einer solchen Individualethik heraus kann dann eben, gerade in Gleichheit auch der Staat dieses Menschen wachsen, indem dieser als solcher erweiternd wirkt in seinem ethischen Sein auf die vielen Gleichen. Egalität findet nur darin ihre Legitimation, ihre Kraft, ja geradezu ihren rechtlichen Regelungsgegenstand.
3. „Staat wie Mensch“ Notwendige, wenn nicht selbstverständliche Konsequenz aus diesem demokratisch-egalitären Grundverständnis der Gleichheit kann nur eines sein: „Staat wie Mensch“. Staatlichkeit soll sich selbst ebenso ordnen, in ihren Kräften und Aktionen, wie dies dem Einzelmenschen als solchem in seinem individuellen Leben aufgegeben ist. Der Staat ist nicht ein Polizeikommissariat inmitten von gleichen Sozialwohnungen. Schon deshalb kann er nie in reiner Abstraktion84 gedacht werden, weil in ihm ja doch nur wieder Einzelmenschen handeln – „leben“. Spätliberales Staatsverständnis eines hoheitlichen „Nachtwächterstaates“ musste sich demgegenüber letztlich in einem erstaunlichen, ja bizarren Synkretismus verlieren in seiner Idealvorstellung von Herrschenden – Ordnenden: Ein fehlverstandener platonischer Philosophen-König, allein in der hohen Position eines wahren Regenten, ergeht sich in der Rolle des Polizisten, der in minimalistischem Ordnungsstreben gerade noch Mord und Totschlag verhindert in der Gemeinschaft. In solchen Spannungen kann weder ein Idealbild der Staatlichkeit entstehen, noch kann aus ihnen deren tägliche Praxis gestaltet werden. „Der Staat“ kann nur so in seinen Zielsetzungen wie im Einsatz seiner Ordnungsformen gedacht und rechtlich Zum „Naturrecht“ nach 1945 Diekmann, W. E., Positives Recht als Prüfungsmaßstab im Geltungsbereich des GG, 2006. 84 Darin läge ein tiefes, allerdings verbreitetes Missverständnis der Ideen Hegels: In seinem wirkungsmächtigsten Werk „Grundlinien der Philososphie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft ,im Grundrisse‘“, 1821, entfaltet er in frühliberalem Individualismus den „Staat“ gerade nicht als transpersonales, „überhumanes“ Wesen, nicht als Übermenschen, sondern als Erhöhung des Einzelmenschlichen.
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geordnet werden, wie dies auch der Einzelmensch in seinem täglichen moralischen Verhalten übt. Auch in ihm kommt es ja ständig zu Konflikten zwischen Zielvorstellungen, welche in seinem Inneren wie in seinem Äußeren jeden Augenblick bewältigt, beigelegt, entschieden werden müssen. Es geht für den einzelnen Bürger der Demokratie ja keineswegs immer nur um die Verfolgung des einen oder anderen Belangs, einer bestimmten Interessenposition. Vielmehr wird er stets versuchen, sein Verhalten einzuordnen in einen größeren Zusammenhang seiner Lebensführung, wie immer diese als solche zu beurteilen sein mag. Dass darin ein gewisses Konzept liegen soll(te), ist ebenso praktisch selbstverständlich wie dessen ständige Änderbarkeit, ja die Notwendigkeit von Korrekturen. Nicht einzusehen und schon gar nicht überzeugend zu begründen ist, warum und wieweit sich darin das Verhalten einer größeren, einer staatlichen Körperschaft von der Person eines Einzelnen wesentlich unterscheiden sollte85. Dies gilt umso mehr, als der Staat ja in zunehmendem Maße als solcher in einer nahezu schon bruchlosen Stufenform von Organisationsmodellen mit dem Leben des Einzelnen, also mit dessen „Individualismus“ verbunden ist. Das moderne private Gesellschaftsrecht ist in seinem Wesen, als eine große Analogia Entis zwischen dem Einzelnen und seinem Staat, bisher noch kaum erkannt, juristisch so gut wie gar nicht fruchtbar gemacht worden. Hier entfaltet sich ja der Staat in Formen einer Privatrechtlichkeit, welche ihm als einer „Demokratie aus den Bürgern“ eben grundsätzlich wesentlich sein und bleiben muss86. Staat aus Bürgern – daher Staat wie Bürger, das ist notwendige Erkenntnis aus der demokratischen Überzeugung vom Bürger-Staat. Dies aber kann wiederum nur eines bedeuten: Staatsethik muss aus Individualethik heraus begriffen, aufgebaut, befolgt werden. Andernfalls gibt es nichts Moralisches im Staat, nur neue, transpersonale Gewaltstaatlichkeit. Dies kann allein ausgeschlossen werden auf der Grundlage eines Personalismus, der vom Einzelmenschen her den Staat erfasst und durchwirkt.
4. Individualethik für Staatsorgane In all dem mochten bisher vor allem mehr oder weniger abstrakte, jedenfalls grundsätzliche juristische Konstruktionsüberlegungen gesehen werden. Wie aber soll eine solche Über-Setzung von Individualethik in Staatsethik sich praktisch vollziehen? Die Antwort ist ebenso einfach wie in ihrer Ausdeutung vielschichtig: Politologisch-parteipolitisch könnte sie so ausgedrückt werden: „Einer von uns soll herrschen“ – „einer wie wir“. Staatsorgane, welchen die Bürger ihre Ordnungsmacht anvertrauen, werden notwendig in dieser Position handeln wie individuelle Bürger. Sie werden ihre Kompetenzen nicht als etwas „ganz anderes“ sehen als Stellungen, 85 Immerhin ist ja auch hier entscheidend ein „Volks-Wille“, in all seinen Ausprägungen, vgl. dazu Leisner, W., Das Volk (FN 33), insb. S. 106 ff. 86 Dies ist – jedenfalls – die gültige Grundidee eines „Privaten Staates“, vgl. Leisner, W., „Privatisierung“ des Öffentlichen Rechts. Von der „Hoheitsgewalt“ zum gleichordnenden Privatrecht, 2007, S. 146 ff.
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B. Neue Staatsethik im Personalismus der freiheitlichen Demokratie
Aufgabenbereiche in ihrem privaten Leben. Sie werden sich nicht eine Uniform überziehen, in welcher eine andere Macht, in unpersönlicher Majestät, auf den Bürger einwirkt, eben nicht mehr „Einer von uns“ sichtbar bleibt. Hier hat die Demokratie bereits weithin in der Praxis eine Ent-Förmlichung ihrer hoheitlichen Formen in einer zwar nicht immer überzeugenden, insgesamt aber doch legitimen, ja notwendigen Weise vollzogen: Sie hat sich von den Transpersonalismen verabschiedet, in welchen über äußere Formen der kleinste Ordnungshüter den großen, entfernten Monarchen „repräsentieren“ sollte. Faktisch-politisch hat die Demokratie hier längst vorweggenommen, was sie nun grundsätzlich-ethisch bewusst nachvollziehen, mit Geist und Überzeugung füllen muss: dass jedes Staatsorgan als Bürger zum Bürger spricht, nur jeweils in ganz bestimmten öffentlichen Funktionen, die ihrem Wesen nach aber nichts anderes sind als solche, welche der jeweils handelnde Mensch auch als Privater, auch darin „Herrschender“, anderen Menschen gegenüber ausüben könnte. Diese große „Privatisierung des Öffentlichen Rechts“, in Grundsätzen seines Staatsorganisationsrechts, nicht mehr nur im bereichsweisen Respekt der Bürgerfreiheiten, ist aber eben nicht nur eine organisationstechnische Frage und Aufgabe gegenwärtiger Staatlichkeit. Sie muss nun auch gesehen, mit tieferem Sinn erfüllt werden in einer Staatsethik, welche die Staatsorgane in ihrem Verhalten, zuallererst denselben Maßstäben verpflichtet, die sie auch in ihrem privaten Leben zu beachten haben. Hier aber steht der Demokratie noch ein weiter, vielleicht schicksalhafter Weg bevor. Was ihr bisher gelungen ist, beschränkt sich im Wesentlichen darauf, „Einen von uns über uns zu stellen“ – irgendeinen, wenn es ihm nur gelingt, irgendwelche drängende, auch unterschwellige, ja geheime Wünsche und „Wollungen“ publizitätswirksam zu formulieren und, wenn möglich, zu befriedigen. Dies aber ist keine Individualethik als Staatsethik. Damit werden viele, immer wieder wechselnde menschlichen Begierden, häufig zu systematischer Gier gesteigert, in einem Personalismus zwar an die Spitze des Staates befördert. Doch es ist dies nicht personifizierte Individualethik, es sind personifizierte politische Wünsche, die in aller Regel etwas wie einen „moralischen Test“ noch längst nicht bestanden haben, vielleicht nie bestehen können. Hier wird häufig in den Entscheidungen der Demokratie etwas versucht, oft in einer wahren Experimentierstaatlichkeit87, was der Einzelne in dieser Form weder unternehmen würde, noch auch nur letztlich billigen könnte. Ein Versuch wird eben demokratisch gestartet, politisch, den andere ja mit einem Gegenversuch beantworten mögen. So wird, was moralische Staatlichkeit sein sollte, zu einem politischen Spiel von Durchsetzungsversuchen. Rechtstechnisch mag dies in vielen Bereichen weithin sinnvoll sein, ja die einzige Form der Suche nach einer ausgewogenen Lösung. Wenn dahinter aber nicht eine letzte „individualethische Reserve“ steht, aus der heraus manches „eben nicht versucht wird im Staat“, weil es auch im individuellen menschlichen Leben dem Versuch weder 87 Vgl. dazu in der Sicht der Allgemeinen Staatslehre, Leisner, W., Institutionelle Evolution (FN 66), S. 99 f. Zu dem Experimentiergesetz s. denselben, Krise des Gesetzes. Die Auflösung des Normenstaates, 2011, S. 148 ff.
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überhaupt zugänglich noch als ein solcher auch nur entfernt zu rechtfertigen wäre, dann verliert sich jede menschliche Mäßigung „in Politik“. Hier wäre ein Schritt entscheidend, der gerade in der Volksherrschaft immer seltener in Überzeugung getan wird: dass aus dem menschlichen Lebensbild der durch Wahl zu bestimmenden Staatsorgane Folgerungen für deren staatsrechtliche Eignung als „Herrschende“ gezogen werden. Das Grundgesetz verlangt zwar in Art. 33 Abs. 2 für die Wahrnehmung öffentlicher Funktionen „Eignung“. In Namen dieses Wortes wurde im herkömmlichen Beamtenrecht die Gesamtpersönlichkeit des jeweiligen Staatsorgans als Auswahlkriterium nicht nur eingesetzt, sie war als eine moralische Eignung geradezu entscheidend88. Frühere Staatlichkeit wollte den „untadeligen“ Beamten an den Schalthebeln der Macht sehen, an deren Steuer, wenn schon der Kapitän, der Fürst, als Vertreter der transpersonalen Ordnung als solcher, sich einem solchen Kriterium nicht unterwerfen musste. Die Volksherrschaft darf einen solchen Feudalismus der „Eignung unten, Beliebigkeit oben“ nicht in ihrer Staatsethik fortsetzen, mag sich auch im öffentlichen Dienstrecht das Kriterium „Eignung“ immer mehr in dem der „Leistung“ verlieren89. Was Demokratie von ihren Beamten ganz selbstverständlich noch immer verlangt, in deren auch „außerdienstlichem“ Verhalten, eben dies müsste sie – erst recht – von ihren Kapitänen erwarten dürfen: ein Mehr an beamtlicher, an menschlicher Integrität, nicht ein Defizit, gerechtfertigt in Bürgernähe. Monarchen und Aristokraten haben im Konstitutionalismus des 19. Jahrhundert diese staatsrechtliche Lektion der heraufkommenden Demokratie noch, nicht immer, aber doch im Grundsatz verstanden; vom prunkvollen Himmelbett ins einfache Feldbett haben immerhin einige Fürsten einen durchaus „vordemokratischen“ Weg gefunden. Hier beginnt das Kapitel „Demagogie“, als Gefährdung der Demokratie. Es muss in diesem Zusammenhang nicht in seinen oft bedrückenden Einzelheiten geschrieben werden90. Entweder es gelingt der Volksherrschaft, in einer neuen Individualethik als Staatsethik, dieser Versuchung zu widerstehen – oder sie wird sich wandeln in neue Transpersonalismen mit noch unbekannten und staatsrechtlich immer ethikferneren Führergestalten.
5. Personalismus gegen Führermoral Eine Feststellung muss diese Betrachtungen begleiten: Personalismus in dem hier dargelegten Sinn darf nicht verwechselt werden mit etwas, das geradezu seinen geistigen Gegenpol darstellt: Persönliche Gewalt, und sei es auch Ausübung von 88
S. dazu allg. Hattenhauer, H., Geschichte des Deutschen Berufsbeamtentums, 2. Aufl. 1993, S. 105 f. 89 Vgl. in diesem Sinn die Darstellung von Jachmann, M., in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG 6. Aufl. 2010, Art. 33 Rn. 11 ff., 17 ff. 90 Dazu näher Leisner, W., Das Volk (FN 33), S. 195 ff.
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Macht im Namen einer bestimmten einzelpersönlichen Vorstellung von Individualethik. Ethisches Verhalten ist ja immer, in seinem tiefsten Wesen, verstanden worden als etwas, das „den Menschen“, jeden einzelnen, als solchen anspricht, nicht nur irgendwelche Führungsgestalten, welche ihren ethischen Personalismus in Formen einer persönlichen Gewalt anderen aufzwingen wollten. Persönliche Gewalt bedarf der ethischen Rechtfertigung, eine individualethische Form derselben stellt sie als solche in keiner Weise dar. In ihr soll vielmehr lediglich der Transpersonalismus der Macht als solcher eine ethische Stütze erhalten91; diese ist aber von vorne herein nicht aus Individualismus, sondern aus Kollektivismus gewonnen. Unterstellt wird eine machtpolitische Mutation: Der „Führer“ als „Einer von Uns“ repräsentiert – angeblich – die individualethischen Überzeugungen aller oder doch der entscheidenden Gruppe(n) der Geführten. In dieser ethischen Transformation liegt aber nichts als ein grundsätzlicher Übergang, meist ein historischer Rückweg, in machtmäßigen Transpersonalismus. Selbst das „Beispiel der Führungsgestalt“, verstanden als eine ethische Staatsvorgabe, ist nicht staatsethisch aus einem Personalismus heraus gedacht und mit Sinn erfüllt. In der hier entscheidenden „Kraft des Beispiels“ liegt bereits wesentliche Transpersonalität; und sie hält dann meist den so begründeten Staat, nicht eine auf persönlichen Qualitäten oder Entscheidungen des Führenden beruhende Wirkung. Führung und deren Annahme durch die Geführten – das ist meist eben doch ein transpersonaler Vorgang, ethisch gewendet in dem Postulat, dass dann „alle, alle kamen“ – weil ihnen ein Denken unterstellt, meist aufgezwungen wurde, wie es der Überzeugung der Führerpersönlichkeit(en) und nur ihr entsprach. Persönliche Gewalt ist also nicht Staatsethik aus Individualethik, sondern, in ihrem Ganzheitsanspruch, das gerade Gegenteil: Aufzwingen eines Machtanspruchs Einzelner, eingekleidet in Formen angeblicher Staatsethik, gegenüber Geführten, die so zum Staat zusammengeschlossen werden sollen. Persönliche Gewalt ist darin eine Neuauflage von Transpersonalismen, auf welcher Art von solchen, religiösen oder rein machtpolitischen, sie letztlich auch beruhen mag. Individualethische Integrität einer Führungsgestalt mag persönliche Gewalt stützen – meist nur marginal. In ihrem Zentrum ruht sie wesentlich auf einem Machtwillen, der als solcher aber keine individualethischen Grundlagen hat. Damit fällt über die persönliche Gewalt etwas wie ein staatsethisches Unwerturteil aus der Sicht dessen, worum es hier geht: um Staatsethik aus Individualethik – es muss dies auch stets die der Geführten sein.
91 Vgl. dazu Leisner, W., Der Führer – Staatsrettung oder Staatsdämmerung?, 2. Aufl. in: Demokratie. „Betrachtungen zu Entwicklungen einer gefährdeten Staatsform, 1998, S. 789, insb. zu „Führertum – Macht durch Ideologie“, S. 916, Transzendente Führung, S. 928 ff.
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V. Demokratie: Konkretisierung einer Individualethik als Staatsfundament 1. Demokratischer Staatswille als Menschenwille – staatsrechtliche Ausprägungen a) Staat aus Mehrheit Alle Versuche einer „Vermenschlichung der Staatlichkeit“ die gegenwärtig im Öffentlichen Recht auf breiter Front in rechtlichen Formen ablaufen, sind von einem Streben getragen, von einer Kraft: dass hinter allem Staatswillen stets Menschenwille erkennbar werde und bleibe. Darin liegt auch der tiefere Sinn eines Mehrheitsprinzips92, als eine Wahl-Mathematik wäre sie nichts als Mechanismus. Allein aus Einzel-Menschlichkeit heraus, in der folgenden Summierung individueller, ethischer Größen, ihrer Kräfte, die global hier gewichtet werden sollen, gelingt die Wandlung von brutaler faktischer Macht in die Be-Rechtigung des Rechts. Der große Übergang der rousseauschen Demokratielehre von der Volonté générale in die Volonté de Tous ist immer wieder als ein Vorgang der Wahrheitsfindung gesehen worden – weil es eben einen anderen Erkenntnisweg nicht geben könne. Daraus aber rechtfertigt sich ethisch nie das Geringste, ist doch eine so erkannte Staatswahrheit als solche ihrerseits allenfalls ein Postulat im kantianischen Sinne. Legitimation aber gewinnt der Übergang des Mehrheitswillens in den einer „Gesamtheit“ allein aus der ethischen Vorstellung von der Überzeugungskraft des Einzelnen, die sich zu der der Mehrheit integrieren lässt. Hier bleibt allerdings ein letztes Dilemma, gerade ein solches des Individualismus: dass so „Vernunft, stets bei Wenigen nur zu finden“, zum allerhöchsten Befehl werden soll. Dies ist die gnoseologische Aporie, welche sich auch ethisch nicht lösen lässt. Allein in der Vorstellung von der immerhin jederzeitigen Offenheit eines Weges von Minderheiten- zu Mehrheitsüberzeugung, damit im Minderheitenschutz, findet dieses Problem wenigstens zu etwas wie einer Lösung, in einer praktischen Konkordanz93. Grundsätzlich lässt sich dieses Dilemma so wenig auflösen, wie die unüberschreitbaren Schwierigkeiten erkenntnismäßiger Wahrheitsfeststellung anders überwindbar sind als in – eben rein individueller „erlebender“ Überzeugung mit Blick auf den Gestirnten Himmel Kants… Entscheidend bleibt aber: Nur Menschen sind es, von denen überhaupt ein juristisch bindender Wille ausgehen kann, nur Einzelne. Darin kann auch der Staat im Letzten immer nur individualethisch gedacht werden. 92
Zur Bedeutung der Mehrheit für die Demokratie: Böckenförde, E.-W., HStR3, § 24 Rn. 52 ff. Grdl. noch immer Scheuner, U., Das Mehrheitsprinzip in der Demokratie, 1973. 93 Im Sinn von Konrad Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 1995, S. 317 ff.
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b) Demokratie: Menschenwille als Staatswille Demokratie übersetzt diesen Menschenwillen in Staatswillen. In ihr muss entschieden werden, ihr Staat muss also „wollen“ und diese Formierung des menschlichen Willens zum Staatswillen ist alles, aber auch unendlich viel, was sich die Demokratie in ihrer Staatsorganisation vornimmt, immer punktuell, nie im Ganzen erreichen kann. Dies ist das große Problem der Volksherrschaft in ihren juristischen Ausdrucksformen des Volks-Willens94. In ihm sollen zu allererst einmal die Vielen, zusammengefasst „zum Volk“, einen „menschlichem Übergang vom Individuum in den Staat“ ermöglichen – eben organisieren. So wie der Mensch seinen ureigenen, allein von ihm gebildeten Willen übersetzen muss, in zahllosen psychologischen Operationen, in sein äußeres Verhalten, so muss es auch dem Staat in seiner Organisation gelingen, das individualethische Verhalten so Vieler zu transformieren in überzeugende, bindende staatsethische Befehle. Entscheidend ist hier, dass sich dieser Übergang immer noch in „personaler Fassbarkeit“ vollziehe. Hier beginnen all jene Versuche moderner Verwaltungslehre, dem Staat ein „menschliches Gesicht“ zu bewahren, ihn zu retten vor dem „bürokratischen Monstrum der Bürokratie“, um es dramatisch-pathetisch auszudrücken. Nichts anderes aber steht hinter den ständigen, immer von neuem emotional aufgeladenen kritischen Ausbrüchen gegen „Organisation als solche“. Hier wird gewissermaßen das Letzte angegriffen, und zwar prinzipiell, was an Grundsätzlichkeit vom alten Transpersonalismus noch erhalten ist, von dessen Vertretern sorgfältig behütet, in der Sorge, andernfalls könnte „der Staat“, „ihr Staat“ vollends zerbrechen: die Organisation als solche. Es vollzieht sich hier geistig im Staatsrecht derselbe Vorgang wie in Naturwissenschaft und Technik: Von der Apparate-Euphorie zur Apparate-Phobie, und (immer wieder) zurück. Die Mittel, die technischen Gestaltungsinstrumente werden perfekter, auch im machtgestaltenden Staatsrecht; gerade darin aber drohen sie auszuufern in eine Selbstgewichtigkeit, in welcher ethische Kräfte, die allein sie halten und bewegen können, nicht mehr wirksam, nicht mehr erkennbar sind. Deshalb sind all die zahllosen Vermenschlichungs-, Mitbestimmungs-, Entbürokratisierungsanstrengungen95, welche sich in der Gegenwart verstärken, mehr Ausdruck eines Gefühls, allenfalls einer „rechtlichen Stimmung“, als einer klar ordnenden Dogmatik: Individualmenschlichkeit soll in menschlichem, demokratisch verfasstem Willen alle Ordnung tragen, alle Befehle, alle Bindungen rechtfertigen. Der Staatswille als Wille jedes Einzelnen – das mag ein utopistisches Mitbestimmungsideal sein. In ihm aber liegt staatsethische Kraft. Wenn das Staatsrecht sie nicht aufnehmen, in seinen ordnenden Formen und Kräften zur
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S. dazu bereits vorsteh. IV. 3. und FN 85. Laux, E., Bürokratiekritik und Verwaltungsvereinfachung, DÖV 1988, 657 ff.; Seibel, W., Entbürokratisierung in der BRD, VerwArch 1986, 137 ff. 95
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Wirkung bringen kann, werden diese alsbald erlahmen; denn ein Transpersonalismus hält heute den Staat nicht mehr. Ethik ist gefordert, in deren Kern Individualethik. c) Staatsrechtfertigung in ethischem Bekenntnis Staatlichkeit bedarf einer Rechtfertigung, wenn es in ihr wesentlich um den „Wahren Staat“ (Spann) gehen soll96, um das „Richtige Recht“ (Stammler) als Gegenstand einer intellektuellen Wahrheitserkenntnis. Doch die Historia Magistra97 zeigt in Verfassungsgeschichte immer wieder Vorgänge eines Zerfallens der Staatlichkeit als solcher; dies ist nicht intellektuell zu begründen, sondern nur aus einer Ethik heraus, welche dann dem Staat eben jene Kräfte entzieht, welche allein ihn halten. Aus Intellektualismen einer gefundenen Staats-Wahrheit ist noch nie eine Ordnung entstanden, gehalten worden; der Wille des Befehls bedarf des Willens des Gehorchens, einer Ethik, welche jeden unter die Ordnung führt. Dies aber kann nicht geschehen in einem wertneutralen Verhalten, sondern nur in einem wertenden Bekennen. Daher ist jeder Staat, jede Verfassung als seine Grundlage immer Gegenstand eines Bekennens; dieses wiederum kann nur aus einer Ethik erwachsen, in welcher der Einzelne „steht und kann nicht anders“ im Sinne Martin Luthers. Das Grundgesetz als Ausdruck eines Bekenntnisses (Präambel; Art. 1 Abs. 2) ist daher demokratischer Ausdruck einer Individualethik als Staatsethik. Im Letzten ist dann eine Staatsrechtfertigung gar nicht mehr erforderlich, trägt doch das Bekennen seine Rechtfertigungskräfte begrifflich in sich, ohne dass es ihrer intellektuellen Nachzeichnung, Systematisierung, Vertiefung wesentlich noch bedürfte. Etwas Bekennen – das vermag nur der Einzelmensch, nicht eine Masse; der Fahneneid ist nicht Versprechen eines Kollektivs, sondern jedes einzelnen Soldaten. Denn es ist dies ein Sakrament im tiefen kirchlich-katholischen Sinn, und ein solches bindet immer nur ein Einzelwesen, den Menschen, an ein anderes, an seinen Gott. Staatsethik drückt sich in Bekenntnis aus; der so getragene Staat bedarf keiner weiteren Staatsrechtfertigung; darin ist gegenwärtige Demokratie nicht nüchtern, sondern grundsätzlich folgerichtig. d) Staatsbegeisterung, Staatspatriotismus aus Individualethik Ein Staat, wie ihn die Demokratie in ihren großen Stunden der Verfassunggebung, der wahren Pro-Klamation entworfen hat, bedarf der Kraft, die er allein aus Macht nicht gewinnen kann. Sie kommt aus einer menschlichen Aufschwung-Haltung, 96 Nicht einer „Staatswahrheit“ i. S. von staatlich anerkannten oder gesetzten Wahrheiten, vgl. grds. Leisner, W., Die Staatswahrheit (FN 72), S. 33 ff. 97 Zu ihr vgl. Leisner, A. (FN 51).
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B. Neue Staatsethik im Personalismus der freiheitlichen Demokratie
welche geläufige Psychologie als Emotionalisierung bezeichnet, darin nicht selten auch abzuwerten versucht. Im Verhältnis Bürger-Staat muss etwas lebendig sein, was nur aus ethischen Kräften eines überzeugten, sich selbst darin überzeugenden Bekennens erwachsen kann. Staatsbegeisterung ist nicht als Event vorstellbar oder gar dogmatisierbar, sondern lediglich als Ausdruck einer besonderen ethischen Festigkeit, in welcher eine persönliche Überzeugung als so stark erscheint, dass sie weit mehr tragen kann als nur ein Individualleben: eine ganze, große Ordnung. Diese Staatsbegeisterung darf in der Demokratie nicht reduziert werden auf Massenversammlungen, Quotenwirkungen, Erscheinungen in mathematischer Zählbarkeit. Eine „Spiel(e)begeisterung“ allein kann nicht jene Force tranquille ausstrahlen, welche einst ein französischer Präsident verkörpern wollte. In der ruhig überzeugten Bürgerschaft, ihrer ernsten Einsatzbereitschaft muss sie ihren Ausdruck finden, dies sind Staats-Momente, nicht solche einer überschäumend mitreißenden Begeisterung, in welcher nur einer den anderen stützen will, der Blinde den Lahmen. Dies ist es, was immer wieder und zu Recht als Staatspatriotismus erhofft, gefordert wird; nur eines darf mit ihm nie geschehen: Er lässt sich nicht proklamieren „herausschreien“. In der stillen Bereitschaft zahlloser Vaterlandsverteidiger, in die Morgenröte ihres Todes hineinzureiten, ist dies in der Vergangenheit, ethisch im höchsten Sinne immer wieder wahr geworden. Etwas von einem Staats-Märtyrertum lag darin. Ncht in Überheblichkeit, eher in Trauer sollte sich eine Demokratie daran erinnern, an etwas, was auch sie hervorbringen könnte, wenn sie es nicht in Pazifismus zu umgehen versuchte. Nach wie vor besteht auch ihr Staat im Letzten in der Bereitschaft von Menschen, für ihn, damit für andere, zu sterben, in jenem höchsten Altruismus, der zugleich eine Spitzenform jeder Ethik darstellt. Allgemeine Wehrpflicht – dass ist ein viel weiteres, tieferes, ein staats- und ein individualethisches Problemfeld als es heute den meisten bewusst ist, und der Staatsrechtsdogmatik als solcher. Staatspatriotismus sollte nicht nur dort beginnen, wo Fahnen hinter Rednern stehen; sie müssen diese tragen, in ihren Worten, in ihren Herzen. Und hier ist Pathos gleich Ethos – stets beim Einzelnen, in und aus ihm. Personalismus aus Individualethik – dass ist ein Staatspatriotismus, der auf tiefste menschliche, ethische Bezüge zurückführt: Auf den „Vater(-)Staat“. e) Staatspersonalismus als Grundlage des rechtlichen Vertrauens Wer im Staat Gegenstand und Ausdruck staatsethischer Individualüberzeugung sieht, findet auch einen neuen, überzeugenden Zugang zu einer Kategorie, deren Bedeutung heute das juristische Bewusstsein in voller Breitenwirkung erreicht hat:
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Zu einem Vertrauen98, welches den Einzelnen mit dem Staat verbindet, einer Haltung, in der er allein, aber sicher, „im Staat stehen kann“. Dieses Vertrauen in den Staat, als Grundlage der Staatlichkeit überhaupt, ist nicht nur irgendeine positivrechtliche Ausprägung der Rechtsstaatlichkeit99, noch erschöpft es sich in ihren Erscheinungsformen; es ist Individualethik als Staatsethik. Nicht umsonst ist es gewachsen aus, ja geradezu entdeckt worden in Verhaltensweisen öffentlicher Träger, welche Bürgern in der Weise gegenüberstanden, in welcher solche Ihresgleichen täglich begegnen. Das Vertrauen ist eine wesentlich interbürgerliche, eine zivilrechtliche, intermenschliche Rechtskategorie. Der traditionelle transpersonale Machtstaat ersetzte es zunehmend durch seine faktische Gewalt, die er zur rechtlichen umtaufte. Wenn dies, am Ende des staatsrechtlichen Transpersonalismus, nicht mehr möglich ist, die Staatlichkeit nicht mehr zu halten vermag, so kann nur eines ihre Grundlage wenn nicht bereits sein, jedenfalls immer mehr werden: ein „zwischenmenschliches“ Vertrauensverhältnis auch zu dem (früher vernichtenden) Leviathan, in welchem dieser eine wahre Menschwerdung seiner allmächtigen Gewalt vollzieht, herabsteigt zum Bürger, einer wird wie sie alle es sind. Wer Vertrauen im Staatsrecht anspricht, hat damit bereits Saiten berührt, welche nur in Individualethik klingen können: Es ist dies dann jener Staat, der schon darin niemals enttäuscht, dass er immer ist und bleibt, über-, unzeitlich in seinem innersten Wesen. Nun kann nicht mehr gelten, dass „die Autorität von oben kommt, das Vertrauen von unten“; dies waren transpersonale Vorstellungen. Leiten kann in der Demokratie nur das Vertrauen von unten als staatskonstituierende Kraft, so wie das zwischenbürgerliche Vertrauen allein große Privatrechtsordnungen100 hält, welche schon früher als Prototyp der neuen Staatlichkeit gewachsen sind, nun sich weiter entfalten im „Privaten Staat“. Vertrauen ist gerade nicht getragen von Gewalt, nicht durch die Kraft von Drohungen – eben deshalb vermag es allein diese Staatsgewalt zu ersetzen, in eine neue ethische Gewalt des Personalismus zu verwandeln. Staatszusammenbruch, Staatsdämmerung, Staats-Konkurs – das ist das Furchtbarste, was dem Staatsrecht überhaupt widerfahren kann; dann enttäuscht dieses überpersonale Wesen jene Menschen, die ihm vertraut haben, als einer Person wie sie selbst es sind. Deutschland hat dies erlebt und in einer wahrhaft gewaltigen nationalen Kraftanstrengung überleben können nach 1945. Daran, an einem neuen Ver98 Mag es auch in besonderer Weise dogmatisch bereits ausgeformt sein, als Ausprägung der Rechtssicherheit, als Rückwirkungsverbot der Gesetze, vgl. Sommermann, K.-P., in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG 6. Aufl. 2010, Art. 20 Rn. 292 ff. m. Nachw. 99 Angesprochen ist damit der Vorgang der „Staatswerdung“ in der Neuzeit, in den großen Kodifikationen des 18. und 19. Jahrhunderts. 100 Zum „Privaten Staat“ s. Leisner, W., „Privatisierung“ des Öffentlichen Rechts (FN 86), S. 146 ff.
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trauen in den Staat muss immer weiter gebaut werden. Nur Menschen, Einzelne vermögen dies, welche, von Generation zu Generation, ihre Individualethik dem Staat anvertrauen, leihen, ihn daraus aufbauen als ein Gegenüber in Vertrauen. Und: Wem sonst vertraut denn der Mensch im Letzten als sich selbst? Die Wiedergeburt von Vertrauen in den Staat – das ist eine Großtat der gegenwärtigen, der grundgesetzlichen Demokratie gewesen. In ihr hat sie ohne Pathos, – was manche kritisieren mögen – eben doch ein neues Staats-, ein Gemeinschaftsethos aus Individualethik aufbauen können. Sie hat es, bescheiden, Marktwirtschaft genannt und Sozialstaatlichkeit des Helfens. Es ist Zeit, dass sie sich nun noch mehr auf ihre Einzelnen besinnt, aus deren persönlicher Ethik, in deren Personalismus allein all dies gelingen konnte, gelungen ist.
2. Individualethische Grundzüge demokratischer Staatlichkeit Bevor nun übergegangen wird in die Betrachtung von Einzelausprägungen dieses Personalismus bereits im geltenden Staatsrecht, in welchem diese Form von Vermenschlichung schon im Lauf ist, sei noch einmal zusammengefasst, was sich aus den bisherigen Betrachtungen zum Wesen heutiger demokratischer Staatlichkeit in einem personalistischen Verständnis ergibt: a) Menschlicher Staat ist in aller Munde und wahrhaft gefordert, nicht bürokratische Staatskonstruktionen101, Strukturen und Superstrukturen „hinter denen der Mensch im Namen des Rechts verschwindet“; derartiges darf es in einer Demokratie nicht geben. Überall müssen Menschen stehen und handeln, andere „ansehen“, menschlich von Aug‘ zu Aug‘. Wo immer dies aufhört, zu verschwinden droht in Anonymität, ist Demokratie in Gefahr, als jene Staatsform, welche vom Einzelnen kommt und mit ihm, mit seinen Überzeugungen untergehen würde. Der menschliche, nicht der anonyme Staat ist gefordert. Diese menschliche Staatlichkeit muss, als Ausdruck einer durch das Christentum säkular geprägten Kultur, etwas zeigen wie eine Staats-Güte102. Hier öffnet sich ein großes, in seiner Bedeutung noch längst nicht voll erkanntes Einfallstor für Individualethik in Inhalte des staatlichen Verhaltens, ja in die Organisation desselben. Vom Staat insgesamt wird erwartet, und rechtlich gefordert, dass er sich so verhält, wie es Individualethik vom einzelnen Bürger verlangt. Tiefere Unterschiede, gänzlich andere Kriterien der Beurteilung von Äußerungen oder Untätigkeiten dieser öffentlichen Träger gegenüber denjenigen, welche den Einzelnen als ethische Verpflichtungen treffen, lassen sich dann nicht mehr ausmachen. Allenfalls wird vom Staat Gleichheit in Gleichmäßigkeit verlangt; sie aber ändert nichts an Verhaltens101 102
Vgl. FN 95. Grds. Leisner, W., Der gütige Staat (FN 23).
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inhalten, bedeutet vielmehr lediglich eine Erweiterung von deren Wirkungsräumen und Anwendungsformen. b) Hier kommt jenen „Intermediären Gewalten“103, wie sie seit der Französischen Revolution zum Verfassungsproblem der Demokratie geworden sind, entscheidende Bedeutung zu. Diese liegt nun aber nicht mehr, wie einst darin, dass sie als Rivalen einer allmächtigen Staatsmacht von dieser zu bekämpfen sind; vielmehr stellen sie nun Übergangserscheinungen vom Einzelnen in den Staat dar, Organisationsformen in denen der erstere den letzteren trägt und legitimiert. Damit übernehmen diese „Zwischengewalten“ dann auch in einem neuen Sinn eine Übertragungs-, eine Transportfunktion vom individual-menschlichen in den staatlichen personalen Lebensraum hinein: Von ihnen wird vor allem erwartet, dass sie individualmenschlichgütiges, hilfsbereites Verhalten in den Staat hineintragen, aus seinen Organisationen dezentralisierend wieder heraus, in die Lebensräume der einzelnen Bürger zurück. Hier finden sich die ethischen Grundlagen politischer Forderungen vor allem an die öffentliche Wirtschaftstätigkeit, aber auch gegenüber den Aktivitäten vor allem des privaten Finanz- und Versicherungssektors104. Von ihnen allen wird wirtschaftliches Maßhalten, nach eben solchen individualethischen Kriterien, gefordert, wie sie Einzelunternehmern, Einzelinvestoren in ihrem Betrieb, aber eben auch die Eltern in ihrem bereits gänzlich individualrechtlichen Umfeld (zu) beobachten (haben). Offen wird es in der Politik kaum je heißen, Bankbedienstete, Kreditgeber sollten sich ihren Geschäftspartner gegenüber verhalten wie Familienmitglieder – und doch ist die Vorstellung von Unternehmen, ihrer Geschäftsbeziehungen als solchen zwischen Privaten, als die einer großen Familie weit verbreitet und tief verankert in der Gesellschaft. Vor allem nach dem Ende der Großfamilie als Machtträger wird nun die Forderung nach einer menschlich-gütigen „Geschäftsfamilie“ lauter, jedenfalls immer allgemeiner. In Mahnungen zu geschäftlicher Risikobereitschaft, geschäftlichem Verständnis, Vertrauen zwischen Partnern erreicht Individualethik auf der breiten Front der wirtschaftlichen Beziehungen Vorstellungen von Wesen, Kriterien, Direktiven auch der Staatlichkeit. Es sind dies eben solche, die, in irgendeiner Weise, zusammenhängen mit Begriffen wie Verständnis, Vertrauen, Hilfsbereitschaft – letztlich alles verbale Topoi, die aber immer nur auf eines hinführen: Mehr menschliche Nähe in Hilfsbereitschaft insgesamt, in all deren kollektiven Ausprägungen, vor allem eben auch in gütiger Staatlichkeit. c) Mit „Menschlichkeit“ und „Güte“ werden Inhalte des staatlichen Verhaltens angesprochen. Das aber führt sogleich weiter zu Formen, in denen sich dies alles ausdrücken kann, ja bewähren muss. Hier wird die große Mitbestimmungsdiskus-
103 Behandelt im Staatsrecht heute meist unter dem Begriff der „Sozialen Gewalten“. Das Folgende gilt trotz der noch immer von der h. L. angenommenen Unübertragbarkeit von Verbandsstrukturen zwischen privater und öffentlich-rechtlicher Verbandlichkeit, vgl. dazu m. Nachw. Kemper, M., in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG 6. Aufl. 2010, Art. 9 Rn. 56. 104 Wirtschaftsethik vgl. FN 39, vor allem im Zusammenhang mit der Finanzkrise.
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sion105 der vergangenen Jahrzehnte erreicht, welche die Entwicklung der demokratischen Staatsform entscheidend geprägt hat. Zwar ist inzwischen erkannt, wie viele Hürden einer solchen Entwicklung von Bürgerverhalten als Staatsverhalten im Wege stehen. Daher wird eben doch, und immer mehr, wieder das korrigierende Eingreifen des Staates als solchen verlangt, auch wenn ihn derartige Mitbestimmungsforderungen jeweils Betroffener, oder gar allgemein seiner Bürger, darin nicht in allen Einzelheiten prägen können. Das Problem, welches hinter allen Formen der Mitbestimmung steht, ist aber stets: Bürger wollen vor allem ihre Individualethik in die Staatlichkeit hineintragen, sie auch dort verwirklicht sehen. Bisher ist aber, in dieser ganzen Diskussion, soweit ersichtlich, ein Aspekt nicht hinreichend vertieft worden: Diese Mitbestimmung bedeutet auch individualmenschliches, individualer Ethik verpflichtetes Verhalten des mitbestimmenden Bürgers. Es wird dies nicht etwa dadurch zu etwas völlig „anderem, staatsethisch zu Beurteilendem“, dass es nun in einem öffentlichen, öffentlich organisiertem Raum wirkt. Es kann doch nicht als infiziert vorgestellt werden von einem dort nun völlig anderen „Machtstreben“, als es der Einzelne in seinem privaten Bereich, in seinen tagtäglichen Wettbewerbsbeziehungen ausleben darf, in den Grenzen einer Individualethik. Also ist Mitbestimmung als solche eine Übergangsform von Individual- in Staatsethik, mehr noch: Es zeigt sich hier deren letzte, grundsätzliche Einheit. Aus diesen Grundzügen demokratischer Staatlichkeit heraus ist im Folgenden das Bild einer Demokratie in einem Personalismus der Geltung von Individualethik näher nach positivem Verfassungsrecht zu verdeutlichen.
3. Politische Kräfte des individualistischen Personalismus in der Demokratie a) Politische Kräfte und Staatsethik Das gegenwärtig geltende Staatsrecht der Demokratie in Deutschland ist – noch immer – geprägt von den Drei Kräfte-Strömen, die es seit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland tragen: Christliches, Sozialistisches und Liberales Staatsdenken. Wirkungsmacht und politische Bedeutung dieser Überzeugungen sind (längst) nicht (mehr) monopolisiert in einzelnen parteipolitischen Gruppierungen; es gibt solche in ihnen allen, sie verschieben sich innerhalb von ihnen, gehen immer wieder offene oder verdeckte parteipolitische Kombinationen untereinander ein, bis hin zu Koalitionen in einem staatsorganisatorischen Sinn. Müßig ist es also, eine jeweilige Situation des Miteinander dieser politischen Kräfte in demokratischer 105 Darüber wurde die „Mitbestimmungsdiskussion“ in den vergangenen Jahrzehnten geführt, Fitting, K./Wlotzke, O,/Wissmann, H./Freis, G., Mitbestimmungsrecht, 4. Aufl. 2011; Habersack, M., Mitbestimmungsrecht, 3. Aufl. 2013; Edenfeld, St., Betriebsverfassungsrecht: Mitbestimmung in Betrieb, Unternehmen und Behörde, 4. Aufl. 2014.
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Staatlichkeit für einen bestimmten Gegenwartszeitpunkt nachzuzeichnen, wenn es um staatsgrundsätzliche oder gar staatsethische Probleme geht. Wichtig ist lediglich, bewusst muss im Folgenden immer bleiben, dass die nun anzusprechenden individualethischen Wirkungselemente und ihre Ergebnisse im Verhalten der Staatlichkeit als solcher auf gewisse moralische Grundmuster zurückzuführen sind. Man mag sie Überzeugungen nennen106, sie darin bestimmten organisatorisch erfassbaren Quellen zuordnen; doch sie gehen in ihrer staatsethischen Bedeutung ständig ineinander über, verändern sich in ihrer Dominanz im Staat. Bedeutsam ist übrigens im vorliegenden Zusammenhang vor allem noch eines: Diese politischen Kräfte dürfen in staatsrechtlicher Betrachtung nicht von vorne herein abgewertet werden zu „Ideologien“107, welche etwa in einer Demokratie als einer „toleranten Staatsform“ keinen Platz haben sollten. Aus ihnen speist sich vielmehr das, was heute die Bürger der Demokratie als Menschen weithin noch immer, vielleicht mehr als früher, in dem hält, was Ethik genannt wird oder Moral. „Gut“ und „Böse – das versucht jedenfalls eine Medienmacht, auf kaum mehr zu übersehenden Feldern, den Bürgern täglich nahezubringen, auf ihre eigene, eben eine wesentlich werb(ewirtschaft)liche Art. Was von all dem auf unzähligen, privaten, persönlichen, intimen Kanälen übergeht in eine Individualethik des Einzelnen als solche, welche Inhalte es dort trägt oder hervorbringt, in welchen Formen es nach außen drängt – all dies sind Probleme von Medienwirtschaft und Medienrecht, Psychologie und Religion. Nur eines ist ein Faktum und muss als solches vom Staatsrecht nicht nur berücksichtigt, sondern beachtet werden: Es gibt dieses „Gut“ und „Böse“ eben für die Menschen noch immer, in welchen Inhalten im Einzelnen und in welchen Formen es sich im Einzelnen entwickeln, verlieren oder auch wiederkehren mag. Ob dem Zukunft beschieden ist und wie lange, kann nicht eine Frage des Staatsrechts sein. Dieses hat seine Staatsform als unabänderlich erklärt (Art. 79 Abs. 3 GG). Eine Staatsmoral, die vielleicht nun wirklich ewig dauern könnte, in welchen Formen immer, wird in derartiger „Unendlichkeit“ als solche in der Verfassung nur „von ferne angesprochen“, in Präambel-Wendungen vor allem und in Art. 1 des Grundgesetzes. b) Christentum, Sozialismus, Liberalismus - Das Christentum ist hier zuerst zu nennen. Länger und tiefer hat es alle Staatlichkeit im europäisch-amerikanischen Raum geprägt als jede andere Grundhaltung der Menschen im Staat und zu ihm. Seine großen und tiefgreifenden Entwicklungen, deren unterschiedliche Ergebnisse spielen als solche bei der vorliegenden staatsrechtlichen Grundsatzbetrachtung nur am Rande eine Rolle. Entscheidend ist aus der Sicht dieser Untersuchung, dass Christentum immer eines bedeutet, über allen Ökumenismus hinaus, in einer wahren christlichen Una 106 107
Zu diesen vgl. vorsteh. 1. c), d). Vgl. oben II. 5.
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Sancta: Der Einzelmensch wird angesprochen von höheren Mächten. Ihr Gesicht bleibt im Dunkeln, doch ihr Finger sucht, so wie Caravaggio es in der Berufung des Apostels und Evangelisten in der Französischen Staatskirche des Heiligen Ludwig verewigt hat. „Viele sind berufen, Wenige aber auserwählt“ – immer Einzelne, sie sind, sie werden sein das große, unendliche Himmel-Reich. Erwählt werden sie in einem letzten Gericht, in welchem ihnen vorgehalten wird, was sie in Ethik in ihrem menschlichen Leben verwirklicht haben, nicht im Kollektiv, sondern in der Einzelbegegnung des Samariters – dessen vor allem, der in der größten Liebe sein Leben hingibt für seine Freunde. Dieses Christentum ist eine Religion der reinen personalen Ethik, mag sie sich auch zeigen, bewähren in Gemeinschaft. Doch diese ist nur das Feld, nicht die Kraft, welche es bestellt, die hervorbringt, was in christliche Himmel tragen wird. Dieses Christentum mag noch so viel reden über Gemeinden und Gemeinschaften – im letzten ist es der Einzelmensch, der hier von seinem Gott „erkannt“, berufen, beglückt wird und verurteilt, nach dem, was noch immer Ethik genannt wird. Es gibt christliche Gemeinden, von einer Civitas Dei durfte gesprochen werden; dies alles aber waren und sind stets für das Christentum nur Wege eines Wanderers zu seinem Ziel. Er muss sie in seiner Individualethik beschreiten, nach christlicher Ethik, im Sinne jenes Personalismus, von dem hier die Rede ist. - Der Sozialismus ist eine eminent individualethische Kraft, kein kollektivethischer Leviathan. Geboren wurde er stets und zu allen Zeiten aus einer Hilfsbedürftigkeit und Hilfsbereitschaft von Einzelmenschen, nach Kriterien, welche sodann eine geistig höher entwickelnde Ethik aufnahm, in den Staat hineinzutragen sich bemühte. Die große, unzerstörbare Kraft des Sozialismus liegt in dieser seiner Individualethik. Sie kommt aus der Begegnung des Arbeitnehmers, des Arbeiters mit dem Arbeitgeber, aus einem Ausbeutungsgedanken ist sie erwachsen, welcher nie als solcher kollektive Wurzeln hatte, stets in einzelmenschlichem Verhalten sich zeigte, im Abfall von einer Verpflichtung, die letztlich stets als eine moralische gesehen wurde. Diesen seinen ethischen Ausgangspunkt hat der Sozialismus, in seiner Erkenntnis der gewaltigen Kräfte, welche in diesem Ethischen lagen, zu erweitern, grundlegend zu verändern versucht in einem Kollektivismus der Staatlichkeit. Im Kommunismus hat sich diese große Metabasis eis allo genos vollzogen, welcher Individualethik in Machtbewusstsein zu Staatsethik verwandeln, sie in diesem aufgehen lassen wollte. Darin ist diese Form des Sozialismus aber auch zerbrochen: Es war der große Durchbruch zum Individualismus und seiner Ethik, in welcher der Kommunismus überall geistig, letztlich ethisch überwunden, jedenfalls entscheidend geschwächt worden ist, in einer Rückkehr ad fontes der Individualethik. Aus dieser kommen dem Sozialismus, auf seinem traditionellen, ureigenen Feld des Arbeitsrechts, immer wieder politische Kräfte, welche sich über Begriffe von Bedürfnis und Hilfe entfalten. Hier wird Sozialismus zum wahrhaft ewigen Staats-Anliegen, zur Staatsaufgabe. Verteilung als Mittel, nicht als Ziel – so trägt nicht ein „gemäßigter“, sondern ein moralisierter Sozialismus Individualethik täglich in die gegenwärtige Staatlichkeit hinein.
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- Liberalismus bedeutet heute, und stand stets nur für eines: Eindeutige, ausschließliche Betonung des ethischen Individualismus. Alles andere an ihm ist Besitzstreben, sind Wege zu einem Ziel: An diesem steht der ethische Leuchtturm, die individualmenschliche Leistungskraft, Grenze und Rechtsfertigung, alles Menschlichen, damit eben auch – der Staatlichkeit. Die klassische Staatslehre der Demokratie in Deutschland war stets zutiefst vom Liberalismus geprägt, in dieser seiner individualethischen Kernbedeutung. Hier trat der Staat bereits voll in seine Rechte, welche der Radikalsozialismus erst dahin bringen wollte, unter Zerstörung seiner individuellen Wurzeln. Der Liberalismus sah seine Staatlichkeit schon aus dem Individualmenschlichen heraus aufwachsen, ganz natürlich darin begrenzt, aber auch immer von Neuem angereichert in Leistungsbereitschaft. Deren Belohnung ist letztlich allein dem Staat möglich, ihm anvertraut, soweit Einzelne dies nicht untereinander in Marktwirtschaftlichkeit zu bewirken vermögen. Dieser Liberalismus ist ein im Ansatz individualistischer Personalismus, verstanden in dem Sinn, in welchem dieser hier auch betrachtet wird. Doch er wirkt eben nicht in parteipolitischer Identifikation, letztlich war dies schon aus historischen Gründen nie der Fall. Das Christentum mit seiner letzten Instanz des Gewissens, der Sozialismus mit seiner tiefen Erfassung der Leistungsbedürftigkeit, der Leistungsbereitschaft in Güte – sie alle haben von ihren Anfängen an, in ihren geistigen Wurzeln Liberalismus in sich aufgenommen, weitergetragen, ihn in Schwerpunkt(bildung)en verdeutlicht. So wirken denn diese drei Grundkräfte gegenwärtiger Staatlichkeit in den Formen des grundgesetzlichen Staatsrechts zusammen, in zahllosen und als solchen meist unbewussten Verbindungen, immer aber in einem: in einem letzten ethischen Personalismus. Er kommt vom Einzelmenschen, in ihm wird er zum Bürger, in diesem Wort ist er in der Demokratie bereits der Staat. In diesem Staat gibt er sich dann selbst Regeln, welche in Staatsethik wieder auf sein individualethisches Verhalten zurückwirken – aus dem sie aber letztlich ja kommen. Diese geheime und wahrhaft geheimnisvolle Wirkung ist mit einem staatsrechtlichen Wort zu beschreiben: „Wechselwirkung“. Entwickelt worden ist diese Begrifflichkeit gerade im Bereich jener Entscheidungs-, im Grunde Verhaltensfreiheit des Art. 5 GG, in welcher individuelles menschliches Verhalten in den Staat hineinwirkt, ihn gestaltet – umgekehrt aber auch wieder von dort aus der Begrenzung bedarf. Und dass in dieser dann, in den staatlichen Normen, noch etwas lebendig bleibe von dem, vielleicht sogar der Kern dessen, was der Mensch in Individualethik in den Staat hineingetragen hat – das ist die Fragestellung und der Suchauftrag eines Personalismus im Staatsrecht.
C. Personalismus in der grundgesetzlichen Ordnung I. Die sittliche Bindung des Staates nach dem Grundgesetz 1. Der individualethische Kategorische Imperativ: Für alle Rechtssubjekte geltend Der Kategorische Imperativ der Individualethik verlangt vom Einzelnen ein Verhalten, das jederzeit und vollinhaltlich in der Form einer allgemeinen Normbindung von „Jedermann“ zu fordern ist. Verlangen kann dies der Staat als Gesetzgeber. Er ist aber zugleich selbst, und in all seinen Gliederungen, in der Form von Rechtspersönlichkeit(en), ein solcher Jedermann, ein Rechtssubjekt. Als solches befindet er sich, juristisch, in der gleichen Lage wie jede andere juristische Person, die er schafft – und wie jede „natürliche Person“, an welche er, in dieser ebenfalls von ihm geschaffenen Rechtsform, seine Anordnungen richtet. Diese grundlegende rechtliche Gleichstellung aller „Rechtssubjekte“ liegt der grundgesetzlichen Ordnung eindeutig zugrunde: Die Grundrechte „binden alle staatliche Gewalt“ (Art. 1 Abs. 3 GG) ebenso wie den Bürger in dessen Grundpflichten108 und in den Begrenzungen seiner Freiheitsrechte. Das Staatsorganisationsrecht bindet und berechtigt jedenfalls grundsätzlich völlig gleichermaßen – daher in verfassungsgerichtlich durchsetzbarer Form109 – sowohl „den Staat“ als auch die ihm „unterworfenen“ Menschen. All dies gilt allerdings – und juristisch selbstverständlich – entsprechend den jeweiligen Inhalten der Verfassungsnormen: Sie berechtigen den Bürger wo sie den Staat binden – und umgekehrt. Dies ist das inhaltliche Wesen jeder Rechtsnorm. Die Bindungswirkungen als solche gelten aber jeweils völlig gleichartig: Es gibt keinen Verfassungssatz des Grundgesetzes, nach dem die Gesetzesbindung des Verhaltens von Rechtssubjekten grundsätzlich unter anderen Voraussetzungen stünde je nachdem, ob es um natürliche oder juristische Personen, dabei wieder um solche des Öffentlichen oder des Privaten Rechts geht. Rechtsbindung 108 Grundpflichten nach Grundgesetz stehen nur selten mehr auf der verfassungsrechtlichen Tagesordnung, vgl. etwa BVerfGE 109, 279 (313); aus früherer Zeit vgl. Luchterhandt, O., Grundpflichten als Verfassungsproblem in Deutschland, 1988; Schmidt, Th. I., Grundpflichten, 1999; Grill, B., Grundrechte – Grundpflichten: Eine untrennbare Verbindung, 2001. 109 Verfahrensprozessual sind die Wege der Durchsetzung der Begrenzung der Staatsgewalt durch Bürgerfreiheit dieselben wie – umgekehrt – die der rechtlichen Durchsetzung der Bürgerpflichten (etwa der Wehrpflicht).
I. Die sittliche Bindung des Staates nach dem Grundgesetz
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folgt allein als solche aus Rechtssubjektivität, im Einzelnen aus den jeweiligen Inhalten der Rechtsbefehle. Bestätigt wird dies positivrechtlich durch Art. 19 Abs. 3 GG, nach dem das Wesen der Verfassungsbindung dem jeweiligen Norminhalt folgt – eine Folgerung, die in ihrer Bedeutung noch nicht voll erkannt ist110. Der Kategorische Imperativ, mit ihm, über ihn die Individualethik, ist also keine Regel, die als solche, weil menschen- oder bürgerbezogen, für den Staat nicht gelten könnte. Nach den Prämissen der grundgesetzlichen Ordnung, bereits aus der Rechtssubjekts-Vorstellung heraus wie sie das Verfassungsrecht beherrscht, gilt dieser Kategorische Imperativ für alle öffentlich-rechtlichen Träger, damit auch für den Staat als solchen, ebenso, ja bindungsmäßig genauso wie für Individuen. Eine „spezielle Staatsethik“ kann es also jedenfalls in dieser, durchaus rechtsdogmatischen, ja rechtstechnischen Sicht, nicht geben. Damit steht verfassungsrechtlich bindend fest: Wenn der Kategorische Imperativ im Sinne der kantianischen Ethik, wenn irgendein anderer, individualethischer Imperativ überhaupt von rechtlicher Bedeutung ist unter der Rechtsordnung des Grundgesetzes, so müssen individualethische Inhalte vom Staat in seinem Verhalten ebenso beachtet werden wie sie der Bürger, der Gewaltunterworfene, seinem Verhalten zugrunde zu legen hat – und zwar „von Verfassungs wegen“, in einer Rechtsordnung, welche eben grundsätzlich gleichermaßen für alle Rechtssubjekte bindend gilt. Für eine Unterscheidung zwischen Personen des Privaten und des Öffentlichen Rechts ergeben sich insoweit, aus dem Grundgesetz, jedenfalls, keine prinzipiellen Unterschiede. Dies bedeutet: nach dem Grundgesetz gibt es nur „Ethik“, nicht eine fundamentale Unterscheidung von „Individual- und Staatsethik“. Eine solche kann der Verfassung jedenfalls nicht entnommen werden. Die Folgerung ist unausweichlich: Entweder die grundgesetzliche Ordnung kennt einen Begriff der Ethik als solchen gar nicht – wofür das Fehlen eines solchen Begriffs als Verfassungstopos sogar sprechen mag111 – oder nach dem Grundgesetz ist „Individualethik wie Staatsethik“ Inhalt der einen Moral. Dann aber muss gerade deren möglichen Inhalten und Bindungswirkungen als solchen verfassungsrechtlich nachgegangenen werden, und zwar auf den hier bereits vorstehend dargelegten Wegen; denn diese fundamentale staatsrechtliche Gegebenheit, diese Erkenntnis ist 110
Die Grundrechte stehen nach Art. 19 Abs. 3 GG auch inländischen juristischen Personen zu, aber auch öffentlich-rechtlichen Vereinigungen, jedoch nur insoweit, als diese Rechte vertreten, welche „gegen die Hoheitsgewalt“ geltend gemacht werden können (BVerfGE 75, 192 (196 f.)). Dies gilt etwa für Berufsverbände, Rundfunkanstalten und Universitäten, also immer dann, wenn sie in ihrem Verhalten gegen die Staatsgewalt als solche des Schutzes bedürftig sind. Die Grundrechtsgeltung folgt insoweit dem Inhalt der Grundrechte, den Staat berechtigt sie als solchen insoweit naturgemäß nicht, als er eben Gegner der Grundrechtsträger ist. Justizielle Grundrechte gelten übrigens, da er sich hier in einer Parteisituation befindet, auch für Träger der Staatsgewalt (BVerfGE 61, 82 (104 f.)). 111 In den gängigen Erläuterungswerken zum Grundgesetz findet sich das Stichwort „Ethik“ denn auch nicht, ebenso wenig das einer „Moral“ als solcher.
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C. Personalismus in der grundgesetzlichen Ordnung
dann ja durch den staatsrechtlichen Transpersonalismus seit langem, bis hin zu neuester „Staatsrechtstechnik“, verschüttet worden.
2. Das „Sittengesetz“ (Art. 2 Abs. 1 GG) a) Die Untersuchung eines „ethischen Personalismus“ nach Vorgaben des Grundgesetzes begegnet in der geltenden Verfassung sogleich einem elementaren Befund: Das „Sittengesetz“ wird in Art. 2 Abs. 1 GG an herausgehobener Stelle, in der ersten Bestimmung nach der Spitzennorm des Art. 1 Abs. 1 GG, ausdrücklich erwähnt. Dieses, „das“ Sittengesetz ist dabei nicht etwa, weil dort an dritter Stelle genannt, nach den „Rechten anderer“ und der „verfassungsmäßigen Ordnung“, im Sinne einer normativen Abwertung, als normativ nachrangig zu verstehen112; vielmehr liegt der redaktionellen Fassung des Grundgesetzes hier ersichtlich eine erweiternde Steigerung schon in der Formulierung zugrunde: bei den „Rechten anderer“, beginnt dies, soll es sich doch dabei vor allem um Grundrechte handeln. Als solche werden sie zunächst genannt, im Anschluss an Art. 1 GG. Sodann werden die Schranken der Entfaltungsfreiheit der Persönlichkeit verdichtet durch den Hinweis auf die (gesamte) verfassungsmäßige Ordnung (des Grundgesetzes). Schließlich wird „das Sittengesetz“ genannt, als eine noch weitergehende, über das ausdrücklich in der Verfassung Normierte hinausreichende Ordnung. Und auch dieser wird ausdrücklich und verfassungskräftig rechtliche, normative Bedeutung zuerkannt („verstößt“). b) Zu diesem „Sittengesetz“ bietet nun die deutsche Staatsrechtswissenschaft ein Aussagenbild, das überrascht: Im Lande Immanuel Kants und Nicolai Hartmanns, der bedeutendsten Philosophie der neueren Geschichte, ist der doch im Grundgesetz ausdrücklich und in einer Spitzennorm erwähnte Begriff des „Sittengesetzes“ schlechthin in letzter Zeit kein Gegenstand ernsthafter staatsrechtlicher Betrachtungen oder gar inhaltlicher Bestimmungsversuche. In großen Erläuterungswerken zum Grundgesetz findet sich der Begriff nicht einmal im Sachverzeichnis. In einem von ihnen heißt es kurz113, das Sittengesetz sei „positiviert worden“, in einem anderen114 ist von seiner „Verdrängung“ die Rede; nähere Begründungen dafür und Ausführungen über Folgen dieser Rechtslage fehlen. Seit vielen Jahrzehnten ist keine systematische staatsrechtliche Behandlung des Begriffs mehr erschienen115. Zitiert werden durchwegs dazu lediglich meist eher beiläufige Bemerkungen aus (sehr) weit
112
So aber ohne nähere Begründung Starck, Chr., in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG 6. Aufl. 2010, Art. 2 Abs. 1 Rn. 38. 113 Epping/Hillgruber, GG 2009, Art. 2 Rn. 24. 114 Starck, Chr., in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG 6. Aufl. 2010, Art. 2 Abs. 1 Rn. 36. 115 Hier wird insbesondere zitiert Erbel, G., Das Sittengesetz als Schranke der Grundrechte, aus dem Jahr 1971 (!).
I. Die sittliche Bindung des Staates nach dem Grundgesetz
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zurückliegender Zeit116. Das Bundesverfassungsgericht hat sich, schon vor vielen Jahrzehnten, ebenfalls nicht vertiefend geäußert117. Wie dieser Befund für das Deutsche Staatsrecht zu beurteilen ist, das doch eine Geisteswissenschaft darstellen118, sich mit „Kultur im Verfassungsstaat“ beschäftigen will119, mag hier offen bleiben. Immerhin war ja im Parlamentarischen Rat vom Abgeordneten von Mangoldt betont worden: Ohne Hinweis auf das „ethische Grundgesetz“ sei nicht auszukommen119a. c) Das Erstaunen über diese wissenschaftliche Lage wird größer angesichts eher sporadisch-beiläufiger Äußerungen, was denn nun – doch noch – „Sittengesetz“ im Grundgesetz bedeuten soll. Um nur das Wichtigste hier zu nennen: aa) Eine Bestimmung der Bedeutung des Sittengesetzes unter Hinweis auf seine Nähe zu Menschenrechtsvorstellungen120 scheidet schon deshalb aus, weil dann nicht verständlich wäre, weshalb diese letzteren in Art. 1 Abs. 2 GG bereits erwähnt sind, darauf aber nicht in Art. 2 Abs. 1 GG verwiesen worden ist. Beide Begriffe können schon deshalb nicht einfach gleichgesetzt werden. Überdies haben „Menschenrechte“ historisch einen ganz anderen Hintergrund als „das Sittengesetz“; sie sind auch in besonderer Berücksichtigung des Völkerrechts zu bestimmen, stehen dort aber, wie überhaupt, inhaltlich in ständiger politisch akzentuierter Diskussion. bb) Einer Orientierung an der Menschenwürde121 stehen die gleichen Bedenken entgegen; dann wäre ja die Erwähnung des Sittengesetzes als solchen überflüssig gewesen. Überdies lässt sich doch „sittliches Verhalten“, schon nach ganz allgemeinem Sprachgebrauch, nicht etwa gleichsetzen mit einer Achtung der Menschenwürde. Dem steht überdies entgegen, dass der Schutz des Art. 1 Abs. 1 GG nur einem innersten menschlichen Bereich zuteil wird122, während „das Sittengesetz“ sich doch – jedenfalls – auf ein viel weiterreichendes menschliches Verhalten bezieht. cc) Das Sittengesetz wird als Ausdruck einer „Sozialmoral“ gesehen123. Damit würde jedoch Individualmoral aus dem Begriff ausgegrenzt. Dies widerspricht dem philosophisch-ethischen, religiösen oder auch einem wie immer bestimmten ideo116
Vgl. die Nachw. bei Starck (FN 114). BVerfGE 6, 389 (434 f.); Erwähnung lediglich in BVerfGE 49, 286 (299). 118 VVdStRL Bd. 67, 2008. 119 VVdStRL Bd. 65, 2006, mit Referaten von Sommermann, K.-P., und Huster, St., S. 7 ff. bzw. S. 51 ff. 119a JöR Bd. 1, 1951, S. 57; späteres Staatsrecht sieht dies offenbar anders. 120 Vgl. Di Fabio, U. in: Maunz/Dürig, GG Art. 2 Abs. 1 Rn. 46. 121 Kunig, Ph., in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 2 Abs. 1 Rn. 37 f. 122 „Menschenwürde“ und (Inhalt des) „Sittengesetz“ sind eben schon deshalb nicht identisch, weil die Menschenwürde nur den innersten Verhaltensbereich, einen Kernbereich schützt, BVerfGE 109, 279 (313). 123 So Starck, Chr., in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG 6. Aufl. 2010, Art. 2 Rn. 39. Vgl. auch Kahl, W., FS Merten, 2007, S. 64 – Näher unten 4. 117
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C. Personalismus in der grundgesetzlichen Ordnung
logischen Verständnis von „Sittengesetz“ und stellt eine kollektivierende Verengung des Begriffs der Ethik als solcher dar. dd) Radikal suchen Vorstellungen das Problem zu lösen, welche „das Sittengesetz“ einfach mit den Grundsätzen demokratischer Staatlichkeit gleichsetzen124. Damit wird nicht nur Sittlichkeit als solche kurzerhand politisiert, sondern es liegt darin ein höchst bedenklicher Versuch, einer bestimmten Verfassungsordnung als solcher ethische Qualität zuzusprechen. Eine derartige normative Beurteilung in verfassungsrechtlichem Selbstlob erklärt weder die spezielle Erwähnung in Art. 2 Abs. 1 GG, noch entspricht sie dem Inhalt dieser Verfassungsnorm. ee) Die Auffassung, Moralvorstellungen änderten sich ja ständig, schon deshalb könne der Verfassungserwähnung inhaltlich keine Bedeutung zukommen, würde den Grundgesetzgebern einen massiven Verstoß gegen die von ihnen ins Zentrum der Verfassung gerückte Rechtsstaatlichkeit unterstellen: Es sei damit ein Begriff inhaltlich in seine Normwirkungen aufgenommen, dem eine bestimmbare Rechtsbedeutung gar nicht zukommen könne125 – ein nicht vollziehbares Ergebnis. d) Alle diese und ähnliche Formen der „Auseinandersetzung mit dem Sittengesetz“ – welche eine solche Bezeichnung kaum verdienen – verdecken also nur ein höchst erstaunliches, bedenkliches, nach juristischer Dogmatik jedenfalls nicht hinnehmbares Ergebnis: Dem „Sittengesetz“ komme, trotz seiner ausdrücklichen Erwähnung im Text der Verfassung, keinerlei eigenständige rechtliche Bedeutung in der grundgesetzlichen Ordnung zu126. „Moralia non leguntur“ im Staatsrecht! Das muss nun allerdings nicht bedeuten, in dieser Verfassungsordnung werde eine Ethik als solche völlig ignoriert; es wird ihr damit allenfalls verfassungsnormative Bedeutung aberkannt. Selbst dies aber bräuchte sich die Staatsrechtsdogmatik allerdings dann nicht vorhalten zu lassen, wenn sie eine dogmatische Position (vgl. oben c) dd)) bezöge: das Sittengesetz sei gleichzusetzen mit dem, was im demokratischen und sozialen Rechtsstaat verfassungsrechtlich vorgeschrieben und in dieser Ordnung ständig rechtlich realisiert werde127. Dann müsste gelten: „Die demokratische Ordnung ist das Sittengesetz“. Damit würde allerdings, ohne jede nähere Begründung, eine rechtlich verfestigte Form der staatlichen Machtausübung zum alleinigen Ausdruck der Moral erklärt. Dann würde es nicht mehr nur heißen: „Macht geht vor Recht“, sondern „(demokratische) Macht bestimmt (allein) die Moral“. Der Staatsfeind handelt dann unsittlich. Er ist nicht (nur) zu bekämpfen, er ist in seiner Unsittlichkeit zu verachten, wenn nicht gar „als Ketzer zu verbrennen…“. An dieser Stelle dürfte nach dem Grundgesetz eine (auch rechts-)wissenschaftliche
124
Vgl. Kunig (FN 121), referiert auch bei Starck (FN 123). Vgl. Sommermann, K.-P., in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG 6. Aufl. 2010, Art. 20 Rn. 294 ff. 126 So Murswiek, D., in: Sachs, GG, 6. Aufl. 2011, Art. 2 Rn. 95. 127 Vgl. Starck, Chr., in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG 6. Aufl. 2010, Art. 2 Rn. 36. 125
I. Die sittliche Bindung des Staates nach dem Grundgesetz
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Diskussion nicht einmal mehr fortgesetzt werden: Sie wäre schon mit Blick auf Art. 5 Abs. 3 S. 2 GG zu beenden.
3. Das Sittengesetz des Art. 2 Abs. 1 GG als Staatsrecht a) Dennoch muss und darf die Untersuchung hier fortgeführt werden128 : Die vorstehend kritisierte Lehre ist eindeutig und nach allen rechtlichen Kategorien und Kriterien unhaltbar. „Das Sittengesetz“ wird in der Verfassung ausdrücklich erwähnt. Wortlautauslegung129 gebietet, dem solange diejenige Bedeutung zuzuerkennen, welche ihm nach allgemeinem Sprachgebrauch zukommt – und auch nach allgemeiner Rechts- und Verfassungslehre. In der Rechtsphilosophie wird immerhin seit langem das Verhältnis von Recht und Moral vertiefend behandelt130. Welche Positionen aber auch dazu eingenommen werden – zu der verfassungsdogmatischen Frage, was die ausdrückliche Erwähnung des „Sittengesetzes“ in der Verfassung bedeutet, ergibt sich daraus nichts. Konsens besteht ganz offensichtlich darüber, dass es eine „ethische Ordnung als solche auch in einem Selbststand derselben“ gibt, und dass sich ihr gegenüber das geltende, auch das Verfassungsrecht eben rechtfertigen muss. Damit mündet die Diskussion allenfalls in die Argumentationsfelder „Legalität und Legitimität“ und „Staatsrechtfertigung“. Nichts ist auf diese Weise aber darüber ausgesagt, was denn nun die verbal eindeutige Rezeption des Sittengesetzes ins Verfassungsrecht rechtsdogmatisch bedeuten soll, bedeuten könnte. Hier wird nun die Frage gestellt nach „Sittengesetz als Verfassungsrecht“. Es ist dies die nach „Staatsrecht in den Grenzen einer anderen Ordnung, der des Sittengesetzes“, also eben doch nach dem „Sittengesetz als Bestandteil, weil als Maßstab des Staatsrechts“. b) In rechtsgrundsätzlicher Sicht dürfen übrigens diese beiden Fragestellungen – Sittengesetz als Bestandteil und als Grenze des Staatsrechts – nicht getrennt werden: Wenn das (Staats-)Recht am Maßstab des Sittengesetzes rechtlich zu messen ist, sich vor diesem zu legitimieren hat, dann wirkt Ethik ebensowohl als Bestandteil als auch als Grenze des Rechts schlechthin. Rechtsgrenzen sind eben gerade darin Recht, sie beinhalten juristische Kriterien; und das Staatsrecht steht insoweit in einer „verwiesenen“ rechtlichen Ordnung. Dieses Sittengesetz muss dann aber, ebenso wie jede Norm des Staatsrechts, von der Staatsrechtswissenschaft formal und inhaltlich 128
Dies verlangt gerade der sittliche Gehalt der Wissenschaftsfreiheit, vgl. unten D. V. 5. Zum Vorrang der Auslegung s. Walz, Chr., Ziel der Auslegung und die Rangfolge der Auslegungskriterien, 2010, S. 482 (487 f.); Zippelius, R., Juristische Methodenlehre, 11. Aufl. 2011, § 9. 130 Zum Verhältnis von Recht und Moral im Sinne der Rechtsphilosophie s. f. Viele: Schapp, J., Freiheit, Moral und Recht: Grundzüge der Philosophie eines Rechts, Nachdruck 2005, S. 239 ff.; Vöneky, S., Recht, Moral und Ethik, 2010, S. 94 ff. 129
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C. Personalismus in der grundgesetzlichen Ordnung
überprüft, näher in seiner Wirksamkeit bestimmt werden. Denn diese ist eben Teil der Rechtsordnung, und die Rechtsstaatlichkeit verlangt zwingend und verfassungsgrundsätzlich eine solche Prüfung im Namen der Bestimmtheit des Rechts131. „Ethische Ordnung“ ist zwar nicht notwendig als eine „höhere“ i. S. Kelsens anzusehen, jedenfalls aber rechtlich als eine „andere“, von der Verfassung als solche aber „rezipierte“ Normschicht. Für rezipiertes, „verwiesenes“ Recht gilt das Gleiche wie für die Verfassungsordnung eingrenzende Normen. Das Sittengesetz ist also jedenfalls Ausdruck verfassungsrechtlicher Selbstbegrenzung, gefordert ist daher eine nähere verfassungsrechtliche Untersuchung dieses rezipierten Rechts. Ein Einstieg verfassungsdogmatischer Prüfung in die „Ethik“ und ihre Regelungswelt ist insoweit vom Grundgesetz vorgeschrieben, als dieses allgemein oder im Einzelnen Anknüpfungen für deren staatsrechtliche Beachtlichkeit bietet.
4. Das „Sittengesetz“ als „Sozialethik“, mit staatlichem Regelungsmonopol: Redundanz oder Zirkelschluss a) Nun liegt ein Verständnis der Verweisung auf das „Sittengesetz“ im Grundgesetz nahe, welches auch, allerdings ohne die erforderliche Vertiefung, im Staatsrecht bereits angesprochen worden (vgl. oben 2. b) cc)) ist: „Sittengesetz“ bedeute hier nur einen Hinweis auf Regeln einer „Sozialmoral“, also zwischenmenschlicher Beziehungen in einer übergeordneten staatlichen Ordnung, in rechtlichen Bezügen zu dieser. Diese seien aber eben im Grundgesetz abschließend geregelt, „über sie hinaus“, in einen weiteren, insbesondere einen individualethischen Bereich greife das Verfassungsrecht in keiner Weise aus. Ein derartiges „rechtliches Umschalten aller Ethik auf Sozialethik“132, damit, und von vorne herein, eine Ausschaltung jeglichen individualethischen Ordnungsinhalts aus Art. 2 Abs. 1 GG, ist jedoch unzulässig. b) Der normsetzenden Staatsgewalt steht es zwar frei, ihre Anordnungsinhalte auf Gegenstände von „gemeinschaftsordnender“ Bedeutung zu konzentrieren, ja zu beschränken; darin würde sie eine rechtliche „Selbstbeschränkung“ der Staatlichkeit üben, wie sie einer Demokratie als einer Staatsform der Freiheit wohl anstehen mag. Dann aber darf sie nicht Formulierungen wie die des Art. 2 Abs. 1 GG, insbesondere hinsichtlich des „Sittengesetzes“, in ihr Grund-Gesetz aufnehmen – und zwar, dies ist nun hier entscheidend, mit staatlichem Monopolanspruch der Bestimmung dessen, 131
Die Bestimmtheit des Rechts verlangt insbesondere Klarheit der Grenzziehungen, daher auch der Ethik als einer solchen, vgl. Sommermann, K.-P., in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG 6. Aufl. 2010, Art. 20 Rn. 289. 132 Hier käme es von vorne herein zu einer fatalen Verengung der Ethik im Sinne ihrer Beschränkung auf Gemeinschaftsbezüge; das Individuum als solches würde vollständig ausgeblendet.
I. Die sittliche Bindung des Staates nach dem Grundgesetz
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was die Trias des Art. 2 Abs. 1 GG inhaltlich überhaupt regelt. Der Staat darf hier normativ beschränken, nicht aber verwiesenes Recht wie das „Sittengesetz“ grundsätzlich, ja beliebig beschränken oder gar „einfach wegdefinieren“. Das Grundgesetz bezieht sich ja mit dem Hinweis auf die „Rechte anderer“ ersichtlich auch, ja in erster Linie, auf das, was in der Verfassung eingehend geregelt ist: auf die Grundrechte. Diese aber sind in ihrem Ursprung, damit in ihrem rechtsdogmatischen Wesen, eindeutig nicht staatlich verliehen, von der Staatsgewalt dürfen sie nur als Freiheitsräume anerkannt und sodann beschränkt werden. Dies ist der eindeutige Sinn des Art. 1 Abs. 2 und 3 GG nach ganz h. L. Eben dies muss dann aber auch für „das Sittengesetz“ gelten. Es ist ausgeschlossen, nach allen Vorstellungen, von einer Moral, diese von vorne herein und ausschließlich auf eine „Sozialmoral“ zu beschränken, welche aber der Staat in seiner Verfassungsordnung, also im ersten Begriff der Trias, abschließend bestimmen dürfe. Dies wäre dann sogar bereits geschehen. Der dritte Begriff der Trias wäre damit entweder reine Redundanz gegenüber dem ersten, oder ein Zirkelschluss: weil eben das „Sittengesetz“ nur Sozialmoral beinhalte, ethisches Verhalten von Menschen im Staat, dürfe deshalb auch sein Inhalt allein vom Staat geregelt werden – also Beschränkung von „Sittengesetz“ auf Sozialmoral. Derartige Begründungsversuche sind schlechthin abwegig. Sie würden den Normgebern des Grundgesetzes, der „besten deutschen Verfassung, die es je gab“, ein wahrhaft unerträgliches, ja beleidigendes, das Andenken der Verfassunggeber geradezu verunglimpfendes Maß an intellektueller Ignoranz, insbesondere philosophischer Unbildung und juristischer Kenntnislosigkeit bescheinigen. Dagegen müssen sie, jedenfalls wissenschaftlich, in Schutz genommen werden. „Sittengesetz“ haben sie formuliert, Sittengesetz muss es im Recht heißen. Und dieses Wort wird weder in einem allgemeinen, noch im philosophischen Sprachgebrauch der Deutschen, des Volkes der „Dichter und Denker“, im Sinne allein der Sozialethik gebraucht. Also verlangt Rechtsstaatlichkeit zwingend, Sittengesetz im deutschen Staatsrecht auch im Sinne der Individualethik zu verstehen. c) Diese zwingende Verständnis verbietet es dem Staat als Normgeber keineswegs, individualethische Inhalte, welche dieser selbe staatliche Gesetzgeber, in diesem selben Grundgesetz ausdrücklich erwähnt, mit verfassungsrechtlicher Bindungswirkung ausgestattet hat, im Rahmen seiner sozialethischen Ordnungsgewalt zu definieren, auszugestalten, zu beschränken – solange er sich damit in seinen von ihm selbst gezogenen Grenzen hält, wie sie etwa in Art. 19 Abs. 2 GG angesprochen werden. Er muss sich dabei allerdings einer fundamentalen selbstgesetzten Vorgabe ebenfalls bewusst bleiben: Als Rechtspersönlichkeit, als Rechtssubjekt ist er133 ebenfalls an ethische Grundsätze gebunden. Diese mag man dann sogar als Staatsethik in besonderer Weise akzentuieren, sie auch als solche einer Sozialethik zuordnen. Dass dann diese letztere aber allein, kraft Verfassungs(an)ordnung, formal 133 Wie oben unter I. 1. näher ausgeführt, nach den grundgesetzlichen Begriffsbestimmungen.
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C. Personalismus in der grundgesetzlichen Ordnung
wie inhaltlich, als „das Sittengesetz“ zu verstehen wäre – dafür gibt es nicht den geringsten „ethischen“ Anhaltspunkt. Derartiges könnte nur als außerethischer, ethik-blinder politischer Befehl der Staatsgewalt erscheinen, damit rechtlich wiederum als Zirkel: Weil der Staat allein Staatsethik bestimme, könne er Ethik als solche als „Sittengesetz“ dekretieren. Insoweit träte dann der Staat als Herr der Moral überhaupt auf: Der Staat definierte dann mit Macht, mit Gewalt die Ethik als solche. Moralisch wäre einfach was die Macht bestimmte. Und all dies soll mit der Präambel, mit Art. 1 GG und mit den Grundrechten vereinbar sein. Befiehlt das Grundgesetz „Moral nach Macht“?
II. Die „guten Sitten“: Privatrecht und Verfassungsrecht 1. Die „guten Sitten“ (§ 138 BGB) und das „Sittengesetz“ a) Wenn das Wort „Sittengesetz“ in Art. 2 Abs. 1 GG nicht nur „Verfassungslyrik“ sein soll, wovon bei einer Redaktion durch seine (teilweise jedenfalls) juristisch ausgewiesenen Verfassunggeber134 nicht ausgegangen werden darf, so kann nur auf die juristische Vorstellungs- und Begriffswelt von Juristen in der Erlasszeit des Grundgesetzes zurückgegriffen werden. Diese aber war zweifelsfrei bestimmt von deren damaliger Ausbildung in einer wesentlich „BGB-geprägten Zeit“, etwa zwischen 1890 und 1932. Naheliegt es also, auf Begriffsverständnisse zurückzugreifen, welche in dieser Zeit die deutsche Jurisprudenz getragen haben – also auf solche des Bürgerlichen Gesetzbuchs. Andere verfassungsrechtliche reichsgesetzliche Verfassungsbestimmungen mit gleichbedeutsam verbalem Bezug auf Sittlichkeit, Sittengesetz, Ethik oder Moral im Allgemeinen, sind jedenfalls für die konkrete Wortwahl im Grundgesetz nicht ersichtlich. Der Blick richtet sich dabei primär auf § 138 BGB und dann aber auch auf § 242 BGB. b) Ob die boni mores, welche die deutsche Jurisprudenz seit der Zeit der Pandektistik geprägt haben, in der Version der „guten Sitten“ schlechthin deckungsgleich sind mit dem „Sittengesetz“ des Art. 2 Abs. 1 GG, mag offen bleiben. Immerhin muss mit einer allgemeinen Bewusstseinslage der Zeit vor 1949 bei den Verfassunggebern gerechnet werden, in der bei „Sittengesetz“ wenigstens zugleich an „gute Sitten“ gedacht wurde. Auffassungen zum „Sittengesetz“ waren zwar möglicherweise auch damals sozialideologisch oder, und insbesondere, religiös beeinflusst135. Vorstellungen von einer Identität von grundrechtlichen Verfassungsgeboten und Sittengesetz (vgl. dazu i. Folg. 2.) mögen bereits eine Rolle gespielt 134 Immerhin war vor allem Hermann von Mangoldt Ordinarius in der juristischen Fakultät der Universität Kiel. 135 Vgl. dazu i. Folg. III.
II. Die „guten Sitten“: Privatrecht und Verfassungsrecht
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haben. Dennoch liegt es nahe, gängige zivilrechtliche, möglicherweise, wenn auch keineswegs eindeutig moralträchtige Begriffe in erster Linie bei einer Prüfung der Bedeutung des „Sittengesetzes“ heranzuziehen. c) Bemerkenswert ist hier nun zunächst ein Befund: In dem eindeutig führenden, vor allem die Praxis bestimmenden Kommentar von Palandt zum BGB haben sich bisher nie Sachregister-Stichworte wie „Ethik“, „Moral“ als solche gefunden, auch nicht in Verbindungen wie „Individualmoral“ oder „Sozialethik“. Daraus mag abzuleiten sein, dass man sich bei und seit dem Erlass des Bürgerlichen Gesetzbuchs mit einem Problem „Ethik als Ordnung“ und „Recht“ als solchem gesetzgeberisch und judikativ in der gesamten Rechtspraxis nicht grundsätzlich befassen wollte. Jedenfalls sollte auf eine solche, als eine „in sich“, wesentlich, normativ relevante Moral wohl kaum Bezug genommen werden. Anders ist jedenfalls zu verstehen der Wortgehalt, man könnte es auch „die WortStimmung“ nennen, welche sich aus „dem Sittengesetz“ ergibt. Dieses wird eindeutig als eine, mehr oder minder formierte oder „feste“ Ordnung angesprochen, aus der sich dann (irgendwelche) einzelne rechtlich relevante Inhalte ergeben sollen. Hier wird doch auf etwas wie einen „systematischen Zusammenhang“ hingewiesen: hergestellt eben in der typischen juristischen Form des „Gesetzes“. Darin aber könnte nun bereits ein wesentlicher Unterschied gesehen werden zu „den“ Sitten, wie sie das Bürgerliche Gesetzbuch in § 138 anspricht. d) „Sitten“ und „Sittengesetz“ – das ist nicht begriffsinhaltlich identisch, weder ganz noch auch nur teilweise. „Sitten“ beschreibt ein „Verhalten“, eine dauernd geübte Praxis; das „Sittengesetz“ ist dagegen, in welchem Verständnis immer es erscheint, ein Regelungsinhalt, der sich aus dem Verhalten ergibt, nicht ein Verhalten als solches. Dieses Verhalten als solches ist nie „bereits Gesetz“ – sondern, allenfalls, Regelungsgegenstand eines solchen, oder gar Rechtsquelle. Es kann allerdings zum „Gesetz“ erhoben werden, das Gewohnheitsrecht136 beweist es. Eben dies ist auch der Weg, auf dem die Zivilrechtsprechung – hier wie auch sonst eher (noch) strenger dogmatisch denkend als manche Vertreter des Öffentlichen Rechts – den Begriff der „guten Sitten“ in § 138 BGB herkömmlich mit rechtlich bindendem Sinn zu erfüllen bestrebt war. Sie hatte ja „gute“ Sitten zugrunde zu legen. Es waren dies, nach der Rechtsprechung, Verhaltensregeln „aller billig und gerecht Denkenden“, die in deren „Anstandsgefühl“ ihren Ausdruck fanden137. Damit wird die Instanz festgelegt, welche die „guten Sitten“ bestimmt: „Alle“ – in einer rechtsstaatlich allerdings sehr bedenklichen Art und Weise. Denn wer soll denn diese „Gesamtheit“ – nicht etwa Mehrheit – rechtlich auffinden können? Überdies müsste in deren „Gefühlswelt“ eingedrungen werden, in ihre innerste Privatsphäre. Es wird also in der gängigen Rechtsprechungsformel doch auf nichts anderes verwiesen – als 136
Zum Gewohnheitsrecht vgl. neuerdings Tiefenthaler, V., Gewohnheit und Verfassung, 2012.; Krebs, P./Becker, M., Entstehung und Abänderbarkeit von Gewohnheitsrecht, JuS 2013, S. 97 ff. 137 Vgl. bereits RGZ 80, 221; BGH 10, 232, 69 (297).
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Inhalte der „guten Sitten“ – als auf Gerechtigkeits- und Billigkeitsvorstellungen von natürlichen Personen. Solange aber überhaupt von Ethik oder Moral die Rede war, konnten doch Gerechtigkeit und Billigkeit stets nur als ihre maßgeblichen Kriterien und Ergebnisse erscheinen, und zwar auch und vornehmlich als solche der Individualethik. Die „guten Sitten“ verweisen also inhaltlich letztlich nur auf ethische Inhalte, die zu rechtlichen Maßstäben werden (sollen). Zwar muss die an sich, wie schon erwähnt, problematische Voraussetzung, nur von „allen“ so Denkenden gehe diese Inhaltsbestimmung der „guten Sitten“ aus, ernst genommen werden. Dies kann aber eben lediglich über eine Feststellung des Inhalts dieser Sitten erfolgen. Wer sich ihnen entsprechend verhält, gehört zu ihren Trägern, damit zur entsprechenden „Normsetzungsinstanz“ – zu allen gerecht Denkenden. e) Daraus ergibt sich nun aber: Nicht „das Verhalten nach, in Form von guten Sitten“, sondern deren Inhalt, und er allein, bestimmt den rechtlich bindenden Inhalt dieses zivilrechtlichen Zentralbegriffes: also die ethische Überzeugung von Vielen, seien sie nun Mehrheit oder nicht. Und deren Inhalt ist eindeutig, jedenfalls auch, ein individualethischer; denn nur dann kann dies einem „Anstandsgefühl“ entsprechen. Oder will man einen Begriff des „Kollektivgefühls“ hier einführen? f) Die rechtliche Konsequenz ist zwingend: „Gute Sitten“ beinhaltet rechtlich keinen Regelungsgehalt, der sich aus (irgend)einem tatsächlichen Verhalten einer Zahl von Menschen ergäbe, wie groß diese auch immer sein mag. Der Begriff verweist auf moralische und darin (auch) auf individualethische Norminhalte. Das Reichsgericht hat eben das Deutsche Recht seinerzeit, unter der Herrschaft von Verfassungsvorstellungen des Konstitutionalismus, nicht ausrichten wollen an dem (Macht-) Willen einer demokratischen Mehrheit, sondern an ethischen Überzeugungen, woher immer diese kamen, wie immer sie festgestellt werden mochten. Es hat daher dem Richter aufgegeben, diese Ethik im Einzelfall zu ermitteln. Und dies ist ja auch geschehen: Es war – und ist – die Ethik der Richter, die „judikative Moral“, machtmäßig sodann durchgesetzt in „der Richter letztem Wort“138. Die Inhalte dieser Moral aber kommen aus ethischen Überzeugungen der Richter und der durch sie repräsentierten Bürger.
2. Die Grundrechte als „das Sittengesetz“ – Drittwirkung: Staatsgewalt als Ethikinstanz? a) In der durch diese BGB-Bewusstseinslage geprägten Situation ist nun, unter der „neuen Verfassung“ des Grundgesetzes, alsbald das Lüth-Urteil des Bundesverfas138
S. Leisner, W., Das letzte Wort (FN 54), S. 199 ff.
II. Die „guten Sitten“: Privatrecht und Verfassungsrecht
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sungsgerichts ergangen139 : Grundrechtsinhalte zugleich als Inhalte der zivilrechtlichen Generalformeln, ihre Inhalte sollen die „guten Sitten“ bestimmen, daher auch zwischen Privaten wirken. Die Entwicklung der Drittwirkungs-Diskussion140 ist bekannt, sie muss hier nicht nachgezeichnet werden. Ihre erwähnte Grundthese könnte eine Lösung auch für die Inhaltsbestimmung des Begriffs des „Sittengesetzes“ in Art. 2 Abs. 1 GG bringen – vielleicht gar dessen normative Verdrängung, damit die der gesamten Ethik, aus der demokratischen Ordnung des Grundgesetzes rechtfertigen. Die These könnte lauten: Wenn der Staat in seiner grundgesetzlichen Ordnung bestimmen kann, was „gute Sitten“ sind, dann ist er auch der Gesetzgeber des Sittengesetzes. Zutreffend hätten sich dann diejenigen geäußert, welche die demokratische Ordnung mit dem Sittengesetz gleichsetzen wollen (vgl. oben 1. d)), in einer Neuauflage des römischkirchlichen, des staatskirchenrechtlichen Denkens. Ethik, Moral, „Anstandsgefühle“ extra muros wären nicht mehr anzuerkennen. Das Grundgesetz verdeutlichte dann abschließend „das Sittengesetz“: Dies entspräche auch, verfassungssystematisch folgerichtig, dem Verbot wissenschaftlichen Denkens außerhalb der grundgesetzlichen Geleise (Art. 5 Abs. 3 S. 2 GG); einen Martin Luther vor der höchsten Staatsinstanz in Worms – das dürfte es dann nicht mehr geben: Der Staat als Großinquisitor. b) Derartige Vorstellungen sind politisch abstrus, verfassungsrechtlich schlechthin unzutreffend. Art. 5 GG verbietet bestimmte Verhaltensweisen, nicht Forschen, Denken, Überzeugung. Und das Bundesverfassungsgericht hat im Lüthurteil auch nicht ausgesprochen, die staatliche (Grund-) Rechtsordnung sei der einzige rechtlich relevante Ausdruck jenes „Sittengesetzes“; dieses ist ja gerade als solches in die Verfassung als Maßstab übernommen worden. Das Oberste Gericht hat lediglich die Grundrechtsordnung auch als einen möglichen Ausdruck eines ethischen Maßstabes des privatrechtlichen Verhaltens von Individuen gebilligt, damit einer „Sozialmoral als Individualmoral“. Entscheidend ist aber: In keiner Weise ist damit damals oder je später mit letztem, verfassungsrechtlichem Geltungsanspruch ausgesprochen worden, Ethik als rechtsrelevanten Bereich, moralische Regeln als Inhalt des Rechts gebe es gar nicht, oder gar: der Staat sei letzte Definitionsinstanz aller Moral, der Gemeinschaft- wie der Individualethik. Selbstverständlich kommt den Grundrechten Bedeutung zwischen Privaten zu, auch in Inhalten, welche individual- oder sozialethische Gehalte aufweisen. Ob, wo und inwieweit außerhalb ihres Geltungsbereiches ethische Regeln mit Verfassungsrelevanz wirken (können) oder, und vor allem: ob solche ethischen Maßstäbe 139
Das Lüth-Urteil war der Ausgangspunkt, BVerfGE 7, 198 (205 ff.). Leisner, W., Grundrechte und Privatrecht, 1960; Schwabe, J., Die sogenannte Drittwirkung der Grundrechte, 1971, Canaris, C. W., Grundrechte und Privatrecht, ACP 184 (1984), S. 201; Oeter, St., Drittwirkung der Grundrechte und Autonomie des Privatrechts, AöR, 119 (1994), S. 529 ff.; Classen, C. D., Die Drittwirkung der Grundrecht in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, AöR 122 (1997), S. 65 ff. 140
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gerade die Grundrechtsinhalte bestimmen, entsprechend Art. 2 Abs. 1 GG – das bleibt aber eben zu ermitteln. Erforderlich sind hierbei eine entsprechende Grundrechtsinterpretation, aber auch moralische Feststellungen als solche; sie sind dem Richter aufgegeben, wie seinerzeit schon dem Reichsgericht. c) Ethik als Ergänzung der Grundrechte, als ihr Inhalt, damit auch als einer ihrer Maßstäbe, neben den Staatsgrundsatznormen von Rechts- und Sozialstaatlichkeit, Demokratie und Föderalismus: das zu ermitteln ist eine staatsrechtliche Aufgabe. Der Wortlaut des Grundgesetzes stellt sie eindeutig, und die folgenden Ausführungen wollen einen ausgangspunktorientierten Beitrag dazu leisten. Hier sind aber noch weite Wege zu gehen: Ermittlung und Respektierung ethischer Überzeugungen ist Verfassungsgebot. Eine „Verdrängungslehre des Sittengesetzes durch die Grundrechte“ ist (staats-)rechtlich unhaltbar und politisch auch gar nicht durchzuhalten: Sie würde zu einem hemmungslosen Mehrheitsdiktat führen, wie es gerade der grundgesetzlichen Ordnung diametral widerspricht. Auch sie muss sich ja messen lassen an den moralischen Überzeugungen der Menschen, deren Zusammenleben sie ordnen will. Berufen könnte man sich andernfalls nur noch auf die „Mehrheitsentscheidung als Staatswahrheit“141 eines allwissenden Volkssouveräns, in einem radikalen Denken nach Rousseau. Worin sich dies von brutaler Machtstaatlichkeit unterschiede, müsste dann das Staatsrecht nachweisen – eine probatio diabolica. Das Grundgesetz ignoriert „das Sittengesetz“ – diese Aussage wird weder ein Vertreter des Staatsrechts wagen noch ein Politiker – solange es eben diesen Begriff überhaupt noch gibt. Allerdings mag mancher fragen: Ist „Ethik“ vielleicht, als solche bereits staatsrechtlich überholt? Was soll „Moral heute“, die ewig wechselnde, rechtsstaatlich nicht nachvollziehbare? Soll mit dem Reizwort der „Gesinnungsethik“ vielleicht gar nur früherer Transpersonalismus wiederbelebt werden – in der neuen demokratischen Welt eines „Menschen ohne Gewalt“, der auch den Zwang der Moral nicht mehr kennen muss – nicht mehr braucht? Dies sind Fragen an das Staatsrecht der Gegenwart. Kann es sie aufnehmen? Einige Antworten darauf geben jedenfalls das Grundgesetz und die neuesten Entwicklungen seiner Ordnungswelt; das Folgende spricht sie an.
III. Das Gewissen im Grundgesetz 1. Gewissensentscheidung nach Art. 4 Abs. 1 GG a) Das „Gewissen“ ist nach ganz h., wenn nicht allgemeinem Verständnis eine Instanz ethischer Beurteilung. Welchen Gegenstand immer Gewissensentscheidungen betreffen, sie sind, ebenso eindeutig, Ausdruck einer Überzeugungsposition des Einzelnen, nicht irgendeiner Gemeinschaft oder gar des Staates. Ein „allge141
Leisner, W., Die Staatswahrheit (FN 72), S. 41 ff.
III. Das Gewissen im Grundgesetz
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meines“, ein „Volks- oder Mehrheitsgewissen“ mag als politische Floskel gebraucht werden, als verfassungsrechtlichen Topos gibt es derartiges nicht, jedenfalls mit einem Ausschließlichkeitsanspruch der Definition des Gewissens. Wo immer also der Begriff des „Gewissens“ in Rechtsnormen begegnet, ist dies stets Ausdruck juristischer Bedeutung einer Individualmoral, die über dieses Gewissen rechtliche Entscheidungsbedeutung, formal wie inhaltlich, beansprucht. Im Grundgesetz ist dieses Gewissen in Art. 4 Abs. 1 und 3 und in Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG erwähnt und daher eindeutig als Verfassungsbegriff anzusehen. Allein daraus ergibt sich bereits, dass der Individualethik, in welcher Form und mit welchem Inhalt immer, jedenfalls verfassungsrechtliche Normbedeutung zukommt. b) Die Gewissensentscheidung ist für Jedermann frei nach Art. 4 Abs. 1 GG. Diese Freiheit kann (vgl. a)) nur natürlichen Personen zukommen (vgl. Art. 19 Abs. 3 GG). In diesem Zusammenhang hat der Begriff des Gewissens bereits eine verfassungsrechtliche Klärung gefunden, insbesondere in der Rechtsprechung: Gewissensentscheidung ist „jede ernste sittliche, d. h. an den Kategorien von „Gut“ und „Böse“ orientierte Entscheidung … die der Einzelne in einer bestimmten Lage als für sich bindend und unbedingt verpflichtend innerlich erfährt, so dass er gegen sie nicht ohne ernste Gewissensnot handeln könnte“142. Nach dem Bundesverwaltungsgericht beinhaltet die Gewissensentscheidung die eigene Erkenntnis des Erlaubten und Verbotenen und die Ansicht, verpflichtet zu sein, dieser Erkenntnis gemäß zu handeln, somit eine im Inneren ursprünglich vorhandene Überzeugung von Recht und Unrecht und die sich daraus ergebende Verpflichtung des Betroffenen zu einem bestimmten Handeln oder Unterlassen143. c) Diese Ausführungen geben, in umständlicher Rechtsprache, im Wesentlichen deutlich wieder, was in der allgemeinen Anschauung wie in der philosophischen Ethik als bindende Individualmoral angesehen wird. Hier wird allerdings versucht, dies mit Einschränkungen zu versehen, welche die Gewissensentscheidung geradezu als eine „Positionierung in extremis“ erscheinen lassen. Dazu aber bietet das Grundgesetz keinerlei Handhabe144 : - Der Hinweis auf den erforderlichen „Ernst der Entscheidung“145 drückt rechtlich Selbstverständliches aus. Eine nicht ernst gemeinte Äußerung ist schon nach Zivilrecht146 rechtlich irrrelevant. - Ebenso wenig lässt es die Verfassung zu, die Gewissensentscheidung auf ein Verhalten zu beschränken, das als bindend und (!) „unbedingt verpflichtend erfahren werden“ muss147. „Unbedingt verpflichtend“ ist ein Zusatz, den das Recht 142 143 144 145 146 147
BVerfGE 12, 45 (55); 58, 127 (173). BVerwGE 127, 302 (325 f.). Vgl. zum Folgenden auch Kluth, W., FS f. Listl, 1999, S. 221 ff. Starck, Chr., in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG 6. Aufl. 2010, Art. 4 Rn. 67. Im Sinne der „ernsthaften Willenserklärung“, entsprechend § 118 BGB. BVerfGE 12, 45 (55).
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nicht kennt. Etwas bindet rechtlich – oder nicht; Bedingungen sind ein davon zu unterscheidender, spezieller Sachverhalt, auf den das Grundgesetz hier in keiner Weise hinweist. Eine eigene Entscheidung wird auch nicht etwa „erfahren“, sondern eben „getroffen“. Der erstere Ausdruck will aber offenbar auf eine übergeordnete Instanz oder Norm(schicht) hinweisen. Folgt man dem, so kann dies allenfalls bedeuten, dass der Entscheidende dabei unter dem rechtlichen Gebot oder gar „Zwang“ eines Sittengesetzes steht. Dies würde dann erst recht dessen normatives Verständnis bestätigen (vorst. 2.). - Warum das Nichttreffen oder die Nichtbefolgung einer Gewissensentscheidung den Betreffenden – nicht den „Betroffenen“ – in „ernste Gewissensnot“ bringen muss148, ist nicht erklärlich. Erst recht kann eine solche Notlage nicht dahin gesteigert verlangt werden, „dass eine Zuwiderhandlung gegen diesen Zwang die sittliche Persönlichkeit schädigen oder zerbrechen würde“149. Derartige „judikative Schärfungen“ entbehren jeder verfassungsrechtlichen Grundlage, ganz abgesehen davon, dass diese „sittliche Persönlichkeit“ dann erst einmal verfassungsrechtlich näher bestimmt werden müsste; sie weist schon als solche wiederum auf eine spezielle Grundlage, eine Legitimation in der Ethik hin. - Völlig rechtlicht grundlagenlos sind schließlich gerichtliche Aussagen, nach denen eine Gewissensentscheidung nur insoweit anzunehmen sein soll, als „ein Abweichen von ihr die Identität und Integrität des Grundrechtsträgers gefährden muss“150. Diese Begriffe sind keine verfassungsrechtlichen Topoi; sie sind ungeklärt und unklärbar. - Ebenso unbehilflich sind staatsrechtliche Versuche, die „Gewissensentscheidung“ in ihren Wirkungen auf ein „forum internum“ beschränken zu wollen151. Hier werden deren Verfahren und ihr Ergebnis verwechselt. Die Gewissensentscheidung muss ebenso auch nach außen wirken (können), wie die aus dem Glauben. d) Alle diese unbehilflichen Versuche, eine „Gewissensentscheidung“, damit die Gewissensfreiheit im Sinn von Art. 4 Abs. 1 GG näher zu verdeutlichen, laufen nicht nur auf eine unzulässige Marginalisierung von deren Begriffsinhalten hinaus, damit auf eine schwerstwiegende Gefährdung der rechtlichen Sicherheit auf einem der wichtigsten verfassungsrechtlichen Schutzbereiche. Sie zielen deutlich darauf ab, Ethik als solche, Individualethik im Besonderen, in den Verfassungswinkel eine „persönlichen Spezifikum“, eines „Sonderfalles“ zu stellen, in der man den Menschen eben in der Not seiner diesbezüglichen „Zwangsvorstellungen“ schonen, achten, jedenfalls nicht quälen oder gar – geistig – foltern dürfe. Mit dem erkennbaren, zentralen Sinn des „Gewissens“ und seines Schutzes in Art. 4 Abs. 1 GG ist 148
BVerfGE 12, 45 (55). BVerfGE 7, 242 (247). 150 BVerwGE 127, 302 (328). 151 Vgl. zu diesem Problem (ablehend) Starck (FN 145) (kritisch), ablehnend auch Germann, M., in: Epping/Hillgruber, GG 2009, Art. 4 Rn. 89. 149
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dies unvereinbar. Immerhin wird dieses mit religiösem Glauben gleichgestellt, der als solcher derartigen restriktiven Voraussetzungen in keiner Weise unterliegt: Zu ihm gehört auch ein nur „Für-möglich-Halten“, wie es wohl im weiten Umfang heutigen Jenseitsvorstellungen zugrunde liegt. Diese Einschränkungsversuche der Gewissensfreiheit, damit der Bedeutung der Individualethik, laufen nur auf eines hinaus, was bereits gleichen Versuchen zu „Verfassungsrecht und Privatrecht“ zugrunde lag: Die Staatsgewalt versucht, sich zum Herren der Moral, zur Bestimmungsinstanz insbesondere der Individualethik und ihrer Bedeutung im Staatsrecht aufzuwerfen. „Wo Staatsrecht beginnt, endet Moralbindung“, oder sie führt nur ein Schattendasein als „rein persönliche Überzeugung“, im „stillen Kämmerlein“. Diese herkömmliche Auffassung ist jedoch, wie dargelegt, unhaltbar. Mit ihr würde ein Verfassungsbegriff von zentraler Bedeutung „weginterpretiert“ aus dem Grundgesetz. e) In Art. 4 Abs. 3 GG hat der Verfassunggeber den höchst problematischen Versuch unternommen, den Vorrang der Gewissensentscheidung vor der höchstrangigen Verfassungsverpflichtung zur Ableistung des Wehrdienstes, zum Schutz des Staates, näher rechtlich zu bestimmen. Im Rahmen dieser Untersuchung kann nicht im Einzelnen überprüft werden, ob und wie die zahlreichen Entscheidungen der Verwaltungsgerichte und des Bundesverfassungsgerichts dabei den Begriff des „Gewissens“ näher bestimmen wollten. Seit der „Aussetzung“ der Allgemeinen Wehrpflicht ist dies kein aktuelles Thema mehr. In der umfangreichen Debatte um Zulässigkeit und Grenzen einer solchen „Staatsprüfung des Gewissens“152 ist früher stets anerkannt worden, dass es dabei nur darum gehen kann, an „äußeren, objektivierbaren Indizien nachzuweisen“, ob eine „echte“ Gewissensentscheidung vorliegt. Dies wurde stets als überaus schwierig angesehen, da eine solche Entscheidung „im hohen Grad subjektiv“ sei153. Es konnte also nicht nur letztlich, sondern überhaupt nur darum gehen, Missbrauch zu vermeiden, damit die Pflichtengleichheit (Art. 3 Abs. 1 GG) durchzusetzen, indem etwas wie eine „wirkliche“ Gewissensentscheidung festgestellt wurde. Dass hier Vorwände ausscheiden mussten, ist, wie bei jeder ethischen Regel und einem ihr folgenden Verhalten, schon begrifflich selbstverständlich. Also konnte und kann nur eine „wahre“, d. h. eine ethisch-ernste Kriegsdienstverweigerung sich auf Art. 4 Abs. 3 S. 1 GG berufen. Dies allein wollte – und musste – Art. 4 GG sicherstellen. Im Großen und Ganzen ist die staatliche Prüfung dem auch in der Vergangenheit wohl gerecht geworden; sie hat sich nicht auf die vorstehend b) bis d) genannten und abzulehnenden, weil allzu allgemeinen, überzogenen Einschränkungen des Begriffs der Gewissensfreiheit eingelassen. Dass allerdings die vorstehende Kritik zu diesen 152 Näher dazu mit zahlr. Nachw. Starck, Chr., in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG 6. Aufl. 2010, Art. 4 Rn. 177 ff. 153 Starck (FN 152).
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Übersteigerungen auch für nicht wenige Verweigerungsentscheidungen in der Vergangenheit gelten muss, wird sich kaum bestreiten lassen. Immerhin stellt aber, umgekehrt (gerade diese Praxis zu) Art. 4 Abs. 3 GG klar: Das Gewissen ist letzte, höchste Instanz nach Verfassungsrecht. Seine Entscheidung geht selbst einem Notwehrrecht des in seiner Existenz bedrohten Staates vor. In Art. 4 Abs. 3 S. 1 GG wird eindeutig einer individualethischen Entscheidung diese allerhöchste rechtliche Verbindlichkeit zuerkannt. Wer den Kriegsdienst verweigert, lässt also irgendwelchen Sozial/Gemeinschaftsbelangen dabei keinerlei Raum. Er verhält sich so wie ein Einzelwesen, das lediglich „nicht töten will“. Dieser Mensch aber hat keinerlei „Gemeinschaft“ zum Aktionsraum oder zum Anknüpfungspunkt – der Kriegsgegner steht ja insoweit in keiner solchen Gemeinschaft mit „Tötungsbereiten“. Es darf hier vielmehr sogar allein aus dem Taliationsprinzip heraus gehandelt werden: „Töte nicht, damit Du nicht getötest werdest“ – also aus reiner Selbsterhaltung. Damit ist Art. 4 Abs. 3 S. 1 GG eine eindeutige verfassungsrechtliche Aussage auf Grundrechtsniveau über die allerhöchste rechtliche Bindungswirkung individualethischer Normen: Sie stehen über dem Verfassungsrecht, nicht nur als „Regeln einer Sozialethik“. Und sie stehen sogar höher im Normenrang als alle derartigen Gebote: Diese könnten es ja nahelegen, sein „Leben hinzugeben für seine Freunde“. Ein „Recht, sich zu opfern“, mag von hoher ethischer Qualität sein – aber es ist dann eben gleichfalls, im Letzten, Ausdruck einer Individiualtethik, welche sich nicht „zu höherer Sozialethik erhebt“, sondern aus ihrer einzelmenschlichen Höhe herab diese mit Inhalt erfüllt. f) Dieses (bisherige) Verständnis des „Gewissens“ steht jedenfalls den nachfolgenden Bemühungen um Feststellung von „individualethischen Anknüpfungen“ in Bestimmungen des folgenden Teiles D nicht entgegen. Eines muss dazu allerdings klargestellt werden: Es geht hier zunächst nicht darum, welchen Inhalt eine in Gewissensentscheidung konkretisierte Individualethik im Einzelnen hat. Gerade mit den letzten Feststellungen zum Gewissen ist aber immerhin doch schon einiges darüber ausgesagt, in welchem Verhältnis diese staatsrechtlich relevante Individualmoral zu staatlichen verfassungsrechtlichen Normen steht, ob und inwieweit sie durch diese eingeschränkt, ausgestaltet oder verdrängt werden kann. Feststeht jedenfalls eindeutig und schon mit juristischer Grundrechtsqualität, dass es individualethische Norminhalte geben kann, welche die Verfassung anerkennt. Als solche sind sie nicht allein Ausdruck einer staatsrechtlichen Normsetzung, welche sie frei ausgestalten dürfte: Das Grundgesetz ist in seinen Grundrechten nicht „die Moralcharta“ schlechthin für alle der deutschen Rechtsordnung Unterworfenen.
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2. Das „Abgeordneten-Gewissen“ (Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG) „Das Gewissen“ wird als Verfassungsbegriff in gleicher Weise wie in Art. 4 Abs. 1 GG auch in Art. 38 Abs. 1 GG erwähnt. Es gibt keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass hier der Begriff inhaltlich oder bedeutungsmäßig anders zu verstehen wäre als in Art. 4 GG154. Dieser zentrale Ethikvorbehalt155 gilt ebenfalls nicht in Einschränkung nur auf „echte Gewissensfälle“, ein Begriff, der sich auch gar nicht überzeugend abgrenzen ließe. Dass „Gewissen(sentscheidung)“ nur mit dem Inhalt der „politischen Überzeugung“ des Abgeordneten geschützt wäre156, dass es also nach dem Grundgesetz etwas wie ein „politisches Gewissen“ gäbe, ist nicht zu begründen. Es entspricht dies ähnlichen – abzulehnenden – Bestrebungen (vgl. vorst. 1.) wie im Fall des Art. 4 GG, den Staat zum „Herrn den Gewissens“ zu erklären, da dieses ja nur auf seinen Aufgabenfeldern wirken könne. Damit würde gerade die entscheidende Frage umgangen: ob in diesem „politischen Bereich“ Individualethik überhaupt binde. Dies ist aber hier, wie nach dem zu Art. 2 Abs. 1 und Art. 4 GG Dargelegten, eindeutig zu bejahen. Dass der Abgeordnete bei seinen Gewissensentscheidungen gewissen (verfassungs)rechtlichen Bindungen unterworfen ist157, schließt eine rechtliche Bedeutung der Individualethik grundsätzlich keineswegs aus. Insgesamt muss also die Staatsrechtslehre in ihrem Verständnis des Begriffs des Gewissens nach Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG bereit sein, Individualethik als eigenständigen Verfassungsbegriff anzuerkennen und in ihm eine Bestätigung dafür zu sehen, dass „das Sittengesetz“ (Art. 2 Abs. 1 GG) eben doch als Teil der Verfassungsordnung individualethisch zu verstehen ist. Fazit: Der Gewissensbegriff im Grundgesetz bestätigt das Ergebnis, dass Individualethik als normativer Bestandteil des Grundgesetzes, als „Verfassungsquelle“ zu verstehen und zu untersuchen ist. Dies ist bisher nicht in hinreichender Vertiefung, ja kaum in Ansätzen geschehen.
3. Toleranzgebot und Gewissen Kausal für die offensichtlichen Versuche von Lehre und Rechtsprechung, der „Moral als solcher“, insbesondere der Individualethik, staatsrechtliche Bedeutung abzusprechen, oder sie doch unter den Vorbehalt staatlicher Normierung zu stellen, ist allerdings gerade eine grundgesetzliche Entscheidung, welche individualethi154
So auch Jarass/Pierodt, GG 11. Aufl. 2011, Art. 38 Rn. 26. Butzer, H., in: Epping/Hillgruber, GG 2009, Art. 38 Rn. 86; Klein, H. H., in: Maunz/ Dürig, GG, Art. 38 Rn. 195. 156 So aber Magiera, S., in: Sachs, GG, Art. 38 Rn. 47, unter Hinweis auf Demmler, W., Der Abgeordnete, 1994, S. 123. 157 Achterberg/Schulte in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG 6. Aufl. 2010, Art. 38 Rn. 39. 155
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sches Verhalten schützen soll: Das „Toleranzgebot“158 fordert im Schutzbereich des Art. 4 GG, aber auch darüber hinaus, vor allem im Gesamtbereich der Meinungsäußerung i. w. S., eine Zurückhaltung gegenüber Auffassungen, die mit einem (gewissen) Absolutheitsanspruch erhoben und verfolgt werden: Gerade sie verlangen Beschränkungen durch die staatliche Ordnungsmacht. Gewissensentscheidungen beinhalten ja eine derartige Intensität wesentlich, ebenso wie die meisten der in Art 4 GG genannten Glaubensäußerungen; sie alle erfolgen ja in Form eines „Bekennens“. Dieses weist allerdings nicht nur auf eine Motivationsquelle aus dem Persönlichkeitskern hin, in ihm liegt oft auch ein gewisser absoluter Durchsetzungsanspruch, der dann eine Verdrängung anderer Überzeugungen zur Folge haben kann oder gar muss. Nicht nur im Namen der religiösen Duldsamkeit, mit säkularer Tradition gerade in Deutschland, sondern aus dem Wesen der demokratischen Staatsform in deren „Vielfalt als Verfassungsprinzip“159, müssen also auch der Gewissensentscheidung des Einzelnen im Grundgesetz letzte Grenzen gewiesen werden in ihrer rechtlichen Wirksamkeit; insbesondere muss ein „Gewissensdiktat als Meinungsdiktat“ verhindert werden. Angesichts des überaus weiten Feldes, auf dem Gewissensentscheidungen wirksam werden können, ist gerade hier das Toleranzgebot besonders ernst zu nehmen. Wenn keinem Dritten, wenn insbesondere der Staatsgewalt nicht erlaubt ist, einzugreifen in das Gewissen und seine Entscheidungen, so darf doch von diesem letzteren ebenfalls kein Eingriff in entsprechende Rechtspositionen anderer oder gar ein „Gewissenszwang“ auf diese ausgehen. Die Triasformulierung in Art. 2 Abs. 1 GG bringt eben dies eindeutig zum Ausdruck, und zwar gerade zum Schutz der Individualethik, gegen deren Ausgriffsversuche auf individualethische Entscheidungen anderer, die etwa im Namen einer Sozialethik erfolgen. Diese, nicht die gegen sie schützende Individualethik, ist also der eigentliche Regelungsgegenstand der Toleranz – ihr Schutzgegenstand dagegen ist die Individualethik. Daraus lässt sich die Zulässigkeit von staatlich-gesetzlichen Schranken für die rechtliche Wirksamkeit sozialethischer Gewissensentscheidungen ableiten; und eben dies ist auch Sinn und Inhalt von Art. 2 Abs. 1 GG. Nicht folgt daraus aber allgemein ein Recht oder gar eine Pflicht der Staatsgewalt, sich zur Definitionsinstanz des Gewissens als solchen, damit einer verfassungsrechtlichen Wirksamkeit auch der individualethischen Gewissensinstanz aufzuwerfen, oder dieser gar jede Wirksamkeit zu versagen. Aus dem Toleranzgebot lässt sich also eine „Verdrängung des Sittengesetzes“ aus (je)der Verfassungsrelevanz nicht begründen. Gegenüberstehen sich hier jeweils „Zwei Gewissen“, zwei Menschen in ihrem Innersten. Das Recht hat das Tötungsproblem gelöst – es wird auch die Gewissensfrage lösen 158 Zur Toleranz vgl. allg. Püttner, G., Toleranz als Verfassungsprinzip, 1977; Debus, A., Das Verfassungsprinzip der Toleranz unter besonderer Berücksichtigung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, 1999; Rauscher, A., Toleranz und Menschenwürde, 2011. 159 S. zur Vielfalt allgemein-grundsätzlich Leisner-Egensperger, A., Vielfalt – Ein Begriff des Öffentlichen Rechts, 2004.
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müssen: in extrem liberaler Toleranz, in äußerlichem Frieden zwischen tiefen inneren Überzeugungen.
4. Verfassungspolitisches Grundproblem „Ideologieangst“ Ein weiterer, mit dem vorstehend Dargelegten zusammenhängender, aber historisch deutlicher konkretisierter Grund für die „Verdrängungsentwicklung“ der Individualethik aus dem Grundgesetz bleibt noch anzusprechen: Wie immer man den „Mollusken-Begriff“ der „Ideologie“ definieren mag160 - etwas von einer religionsähnlichen Intensität ist einer solchen Überzeugung stets eigen. Diese mag sich schwerpunktmäßig auf den Feldern der „Politik“ zeigen – nicht nur in „politischer Theologie“, sondern auch als „politische Ethik“ hier wirken. „Das Ideologische“ kommt dabei aus dem, aus jedem einzelnen Menschen/Bürger, über jeden von ihnen beansprucht es eine Herrschaftsgewalt in einer zum Prinzip sich entwickelnden Bedeutung, auch mit individualethischem Anspruch. Nationalsozialismus wie Kommunismus legten daher ihrem Herrschaftsanspruch nicht nur etwas wie eine Sozialethik zugrunde; sie verbanden mit dieser zugleich individualethische Geltungsforderungen ihrer Ideologie, bis in tiefste menschliche Gewissensbereiche hinein, an eine Staats- und Regimetreu bis zum Tode, bis zum höchsten Akt der Selbstaufopferung, nicht allein in Sozial-, sondern in Individualethik. (Selbst)verständlich war also das politische Misstrauen in Deutschland nach 1945161 gegen alles, was an derartige politische Grundeinstellungen auch nur entfernt erinnern mochte, in welchen ein Regime seinen Monopolanspruch sogar aufgrund von Individualmoral zum Begriff eines wahrhaft „totalen Staates“162 entwickeln wollte: Ein Zurück zu einer solchen „politischen Gesinnungsethik“ sollte es in keiner Erscheinungsform der neuen freiheitlichen Demokratie geben. Damit wurde zugleich eine „Staatslegitimation“ derselben verbunden: Gerade weil sie auf Freiheit gegründet sich zeigen wollte, durfte, musste sie versuchen, ihre Staatsgewalt zur Verhinderung jeden, auch eines individualethischen, Gesinnungszwanges einzusetzen. Dass dies dann aber bis zur Negation jeder Individualethik, i. S. einer ausschließlich durch Mehrheit bestimmten Verfassungslage führen sollte, lässt sich daraus nicht ableiten. Denn insbesondere der kommunistische Herrschaftsanspruch war ja letztlich eben nur, wenn überhaupt, sozialethisch begründbar. Als solcher ist er 160
Zum Begriff „Ideologie“ s. grdl. Maihofer, W., Ideologie und Recht, 1967; Choe, H., Ideologie: Eine Geschichte der Entstehung des gesellschaftskritischen Begriffs, 1997. 161 Zur Frontstellung des deutschen Staatsrechts gegen „Ideologien“, bereits aus der Ablehnung des Nationalsozialismus, s. Leisner, W., Tradition (FN 50), S. 69 ff. 162 Forsthoff, E., Der totale Staat, 1938.
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aber unter dem Grundgesetz verfassungsrechtlich in seiner Totalität ebenfalls nicht zu rechtfertigen.
5. Widerstandsrecht (Art. 20 Abs. 5 GG) und „Gewissen“ Im Grundgesetz ist das Widerstandsrecht für Jedermann gegen jeden, der die Verfassungsordnung beseitigen will, verfassungsrechtlich gewährleistet. Darin liegt jedenfalls auch ein deutlicher Rückgriff auf Individualethik. Denn sie ist ja das festeste, letztlich unzerstörbare, auch politisch wirksame Bollwerk gegen jeden staatstotalitären Herrschaftsanspruch. Im Widerstand hat sich dies gerade vor 1945 gezeigt. Das Widerstandsrecht des Grundgesetzes163 hat nun allerdings als Schutzgegenstand nicht die Gewissensentscheidung des Einzelnen, sondern die grundgesetzliche Ordnung. Sollte sich jemand gegen diese Staatsform wenden, und sei es auch in Gewissenentscheidung, so will sich dieser grundgesetzliche Staat gegen ihn zur Wehr setzen dürfen; und er ruft dazu seine Bürger auf, gleich ob sie ihm nun aus individual- oder sozialethischen, oder aus keinerlei moralischen Gründen zu Hilfe kommen (wollen). Umgekehrt befreit er sie von individualrechtlichen Gewissensbedenken, wenn sie sich dabei gegen staatsrechtliche (schein)legitimierte Macht wenden. Insoweit anerkennt er mit dem Widerstandsrecht ihre Entscheidung, sei sie ethisch oder nicht moralisch motiviert. Art. 20 Abs. 4 GG läuft also gewissermaßen an der Problematik „Gewissen im Grundgesetz“ insoweit vorbei: Er verlangt zur Rechtfertigung des Widerstands keine Gewissensentscheidung – schützt aber auch nicht den „Tyrannen aus Gewissensentscheidung“, stellt also insoweit den rein interessenmotivierten Widerstand zur Rettung der Verfassung über eine (etwaige) Gewissensentscheidung des Verfassungsverletzers. Im Ergebnis könnte dies den Anspruch des Staates als Verfassunggeber bestätigen, mit seiner politischen Macht auch eindeutig individual- oder auch sozialethisch begründete Entscheidungen zu bekämpfen. Damit erhöbe der Staat letztlich eben doch diese Verfassungsordnung zum Ausdruck einer allerhöchstrangigen Rechtsordnung, welche sich über jede Ethik stellt, die nicht von ihr ausdrücklich in der Verfassung akzeptiert wird. Dies steht in einem schwer aufzulösenden Widerspruch zu Anlass und geistigem Ausgangspunkt für das Widerstandsrecht des Grundgesetzes: Dieses sollte ja den deutschen Widerstand von vor 1945 legitimierend wieder aufnehmen, verbreiternd garantieren. Er aber kam gerade aus wesentlich individualethischen Triebkräften. Ob dieses Problem den Verfassunggebern voll bewusst war, darf bezweifelt werden. Hier liegt eine gewisse dogmatisch noch kaum bewusste Spannung innerhalb des 163 Isensee, J., Das legalisierte Widerstandsrecht, 1969; Kaufmann, A., Vom Ungehorsam gegen die Obrigkeit, 1991.
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Grundgesetzes. Sie kann nur in der Weise aufgelöst werden, dass ein Widerstandsrecht auf individualethische Motivationen beschränkt wird. In deren Namen darf dann Widerstand auch gegenüber ebenso begründeten staatlichen Aktionen geleistet werden. Damit wird lediglich dem Toleranzgebot in seiner individualethischen Dimension (vgl. vorsteh. 3.) Rechnung getragen, und es wird in Friedensschlichtung gefordert. Fazit: Staatsrechtliche, insbesondere verfassungsgrundsätzliche oder verfassungshistorische Begründungen können, gerade für die grundgesetzliche Ordnung, jedenfalls nicht dafür angeführt werden, dass das Sittengesetz, mit ihm alle Individualethik, aus jeder verfassungsrechtlichen Wirksamkeit verdrängt werden darf.
IV. Die geistige und gesellschaftliche Entwicklung in der Gemeinschaft: Versiegen individualethischer Quellen 1. Allgemeines Der erstaunliche Befund einer „Verdrängung“ eines der gerade in Deutschland zentralen Begriffe der geistesgeschichtlichen Entwicklung des „Sittengesetzes“ aus dem Staatsrecht ist aber letztlich wohl doch vor allem das Ergebnis einer geistigen und soziologischen Entwicklung. Auf sie deutet bereits die Begrifflichkeit der erwähnten „Verdrängung“ hin: Aus dem allgemeinen Bewusstsein werden eben individualethische Ordnungselemente der Gemeinschaft „verdrängt“, damit das Gewissen als deren – sagen wir es heraus – in das Verfassungsrecht rezipierte Rechtsgrundlage. Im vorliegenden Zusammenhang werden dazu nur die beiden wohl wichtigsten Entwicklungen gleich im Folgenden angesprochen: der Bedeutungsrückgang der religiösen Überzeugungen und der herkömmlichen familiären Lebensformen in der deutschen „Gesellschaft“ nach 1945, was immer dieses Wort im Einzelnen staatsrechtlich aussagen mag. Dass gerade diese Ordnungselemente wesentliche Stützen einer transpersonalen Ordnung waren, dass diese letztere in eben deren Wirksamkeitsverlusten niedergehen musste, das hat sich bereits gezeigt164. Der damit unbestreitbar verbundene Sozialethikverlust, jedenfalls eine Veränderung der gemeinschaftsordnenden moralischen Kräfte, hat sich nun aber auch in Form einer Verdrängung von individualethischen Gehalten bereits früher ausgewirkt, und diese Entwicklung hält an, verstärkt sich in letzter Zeit: Im Bedeutungsverlust religiöser Überzeugungen und familiärer Lebensformen liegt stets zugleich, unausscheidbar, eben auch eine Verdrängungsbewegung individualethischer Überzeugungen und Werte. Das folgt be164
Oben A. II. 1. und 2.
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reits aus der grundlegenden Einheit ethischer Wirkungen, über das Individuum auf die Gemeinschaft; sie bedarf hier keiner vertiefenden Darlegung. Es ist also gegenwärtig eine geistige und soziologische Evolution im Gange, welche im Folgenden allerdings zunächst nur in ihren individualethischen Auswirkungen angesprochen werden soll.
2. Der Rückgang religiös-ethischer Ordnungsvorstellungen a) Ethische Ordnungsgehalte religiöser Überzeugungen sind in der Geistesgeschichte stets erkennbar gewesen. Eine gewisse Abschichtung von theologischer Dogmatik hat sich zwar bei ihnen vor allem in der Entwicklung des Katholizismus deutlich erkennbar vollzogen: Sowohl im Inhalt des kirchlichen Lehramts („Glaubens- und Sittenlehre“) wie auch in der wissenschaftlichen Unterscheidung von Dogmatik und Moralphilosophie. Doch dass hier individualethische Bereiche noch immer in die theologische Ethik einzubeziehen sind, in ihr einen zentralen Platz einnehmen, bedarf keines Beleges. „Religiöses“ ist in dieser theologischen Ausprägung als Ordnungselement ins Staatskirchenrecht des Grundgesetzes“ und damit in dessen verfassungsrechtliche Inhalte übernommen worden165. Damit ist vor allem nicht nur die vielbeschworene katholische Soziallehre, sondern auch die Individualethik der Katholischen Kirche ein wichtiges Ordnungselement nach dem Grundgesetz; nichts anderes gilt für den evangelischen Bereich. „Das Sittengesetz“ in dieser deutschen Verfassung verweist daher insoweit auch auf inhaltliche Vorstellungen dieser kirchlich fundierten Individualethik in der grundgesetzlichen Ordnung. Es sind dies jene „religiösen Werte“, welche unter dem Grundgesetz zu achten sind166. Eine „Verdrängung des Sittengesetzes“ aus der verfassungsrechtlichen Ordnung ist also, auch unter diesem Gesichtspunkt, bereits nach verfassungsrechtlicher Dogmatik höchst bedenklich167. b) Hier wirkt nun aber eine gesellschaftliche Entwicklung mit einer bedeutsamen „normativen Kraft des Faktischen“: Derartige religiöse Überzeugungen schwächen sich als solche ersichtlich, seit langem und kontinuierlich ab in der Gemeinschaft der Deutschen. Wie immer sich dies in einem Bedeutungsverlust der Kirche, ihres Lehramts, auswirkt in der Gemeinschaft – ein „Verlust religiöser Ethik“ ist damit unzweifelhaft verbunden. Dieser beschränkt sich aber ebenso wenig auf rein sozi165 Mit der Übernahme der „Religion“, in ihren inhaltlichen wie formalen Ausprägungen, wurde vor allem die Selbstbestimmung der Religionsgesellschaften im Sinne von Art. 137 WRV in die grundgesetzliche Ordnung inkorporiert. 166 Zu den „religiösen Werten“ s. BVerfGE 70, 138 (166): „nach den von der verfassten Kirche anerkannten Maßstäben“. 167 Rechtssystematisch ist dies bereits ein grundsätzlicher verfassungsdogmatischer Befund der im Zusammenhang von oben II. zu verorten ist.
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alethische Gehalte wie eben „Ethik als solche“ überzeugend und durchgehend auch nicht auf eine „Gemeinschaftsmoral“ reduziert werden darf. Die individualethische Verlustliste im Staatsrecht wird geradezu angeführt von einbruchshaften Entwicklungen im Bereich der religiösen Ethik. Dies zeigt sich gerade neuerdings, vor allem im Bereich der Familie, aber auch, weit darüber hinaus, in den Großräumen von Autorität, Gehorsam, Mitbestimmung in der Katholischen Kirche168. Umwertende wenn nicht umstürzende Wirkungen kann dies zeitigen für die Wirksamkeit einer Individualethik im Staatsrecht. Für eine überwältigende Mehrheit der Bürger war Individualethik bis ins 20. Jahrhundert weithin ein Definitions- und ein Disziplinbereich der christlichen Kirchen. Mit der Abschwächung religiöser Überzeugungen verliert daher Individualethik als solche auch entsprechend, laufend und tiefgreifend an staatsrechtlicher Bedeutung. Es drängt sich sogar die Frage auf, ob hinter der „Verdrängung des Sittengesetzes“ nicht das soziologische Groß-Phänomen eines „Rückzugs des Religiösen aus der Gemeinschaft“ steht, damit aber, ganz selbstverständlich, ja rechtsdogmatisch am Ende unausweichlich, auch aus der Ordnung des Grundgesetzes. „Individualethik im stillen Kämmerlein“ wird seit über zwei Jahrhunderten angesprochen. Sollte es nun Realität und (damit bald) verfassungsrechtliches Gebot werden, allem „Öffentlichkeitsanspruch der Kirchen“ zum Trotz? Unter diesem Vorbehalt stehen alle folgenden Versuche, etwas wie individualrechtliche Gehalte (noch immer) in den Verfassungsregelungen des Grundgesetzes aufzufinden. Ohne „religiöses Gespür“ ist derartiges unvollziehbar. Inhaltlich ergibt sich vielleicht in vielen Bereichen nur mehr das, was sich dort jeweils noch an Religiösem nachweisen lässt, wirksam ist. Dass derartiges nicht im vorgegebenen Rahmen dieser Untersuchung ausgelotet werden kann, ist selbstverständlich.
3. „Ethikverluste“ in Familie und Erziehung Ethik im Zusammenleben der Familie, aus seinen vielfachen Bezügen entfaltet, von hier aus in den Staat hineingetragen oder einfach übertragen – das war eine Hauptstütze des Transpersonalismus (vgl. oben II. 2.), dort hat dieser damalige Sozialethik getragen. Vor allem aber erwuchs diese Kraft schon früher aus einer Individualethik, die damit zugleich als Familienethik wirkte. „Die Familie“ steht jedoch gegenwärtig in einem wahrhaft tiefstgreifenden Wandel. Geburtenkontrolle, Homosexualität, „Ehe ohne Trauschein“ sind nur einige der staatsrechtlichen „Revolutionsbarrikaden“, auf denen um die grundgesetzlichen Fundamente in Art. 6 GG gekämpft wird. Rasch vordringende Gemeinschaftsbetreuung und Erziehung wirken über Art. 7 GG, Veränderung der allgemeinen Sexualmoral über den beherrschenden Einfluss der Medien und der anderen „neuen“ 168 Zur Demokratisierung in der (katholischen) Kirche mit Auswirkungen auf Gehorsam und Mitbestimmung vgl. Leisner, W., Gott und sein Volk (FN 24), insb. S. 331 ff.
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Kommunikationsmittel. Ob hier überhaupt noch „ein Stein auf dem anderen bleiben wird“, ist, allen Beschwichtigungsbemühungen zum Trotz, kaum absehbar. Verbunden damit sind Veränderungen im Gesamtbereich von Bildung und Erziehung von vergleichbarem Gewicht. Wo die Familie nicht mehr auf diesen Feldern Werte und Überzeugungen weitergeben kann, muss der Staat notwendig eingreifen, mit seinen eigenen, staatsbestimmten Erziehungsinhalten. Damit wird aber möglicherweise etwas wie eine „neue Sexualmoral“ entstehen, über sie auch im Kern eine ganz andere Individualmoral, neue sittliche Vorstellungen. Denen ist dann insoweit jedenfalls „Recht zu geben“, welche die Verdrängung des „Sittengesetzes“ in Art. 2 Abs. 1 GG mit „ständig wechselnden Moralvorstellungen“ begründen169. Es kommt vielleicht eine „neue Verfassungswelt“ herauf, ein wahres „Drittes Rom“: Auf das antike Rom der Herrschaft des platonisch-ethischen Bildungsmenschentums170 und das kirchliche Rom der göttlichen Ethik folgte dann eine Rechts-Welt, eine Herrschaft, wie sie noch niemand kennt. Ihre ersten Um-Risse sind sichtbar in einer Gemeinschafts-Ethik. Sie mag sich dann Demokratie-Ethik nennen, wenn sie ihre Mehrheiten als Bestimmungsinstanzen derselben faktisch und rechtlich halten kann. Gelingt dies nicht, so wird dennoch „Personalismus“ das Staatsrecht in einer ganz anderen Form prägen als in der hier mehr angedeuteten als grundgelegten: „Führer“171 werden ihren Willen als Staatsmoral proklamieren, der Machtstaat, das Hobbesche Raubtier Mensch kehrt zurück. Auch unter diesem Vorbehalt sind die nun im Folgenden anzustellenden Versuche zu sehen. Vielleicht laufen aber alle Bemühungen ins Leere, etwas wie individualethische Elemente im Staatsrecht noch zu entdecken, zu „retten“ – wenn eben bereits eine völlig neue Ethik heraufkommt…
V. Privatrechtsähnliche Rechtsvorstellungen: Vorbilder einer Individualethik im Staatsrecht 1. Einheit der Ethik – Einheit der Rechtsordnung a) Diese Betrachtungen gehen von der Annahme aus, dass es (jedenfalls) eine (letzte) Einheit einer wie immer näher bestimmten Ethik gibt, welche stets ihre („Produktions-“) Grundlage in der Überzeugung der Einzelpersönlichkeit findet. Diese kann sich dann in einem (nahezu, jedenfalls schwerpunktmäßig) individualwirksamen Verhalten äußern (Gewinnstreben als solches, Suizid), in Beziehungen gegenüber einem anderen Individuum oder mehreren solchen (Vertrag), oder schließlich in einer Rechte- und Pflichtenlage mehr oder weniger globaler Art (Gemeinschaftsethik). Diese Kategorien gehen in den konkreten Konstellationen oft ineinander über, weisen jedenfalls viele, oft notwendige Verknüpfungen auf. 169 170 171
Vgl. oben I. 2. c) dd). Leisner, Platons Idealstaat (FN 74). Zu dieser „Kreislauftheorie“ s. Leisner, W., Institutionelle Evolution (FN 66), S. 105 ff.
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Gerade daraus ergibt sich auch im Staatsrecht, dass es für dieses etwas wie eine „reine Sozialethik“ nicht geben kann. Deutlich zeigt sich dies in dem in besonderer Weise verfassungsorientierten und -gebundenen Strafrecht: Bei individuellen Straftaten wird von jeher unterschieden zwischen solchen gegen bestimmte Einzelpersonen und gegen die Gemeinschaft, in beidem aus individuellen und aus (i. w. S.) „sozialen Gründen“. In beiden Kategorien hat stets, bei Be- wie Verurteilung, Ethik als solche eine wesentliche Rolle gespielt, nicht etwas wie „Zwei Ethiken“ oder gar „doppelte Moral“… Nicht anders zeigt sich die Lage im Zivilrecht. Auch dort entfaltet sich die Ordnungsfunktion des Rechts vom „Schutz des Einzelnen vor sich selbst“, etwa vor den Folgen nachteiliger Entscheidungen im testamentarischen Bereich, über schuldund sachenrechtliche Regelungen mit Sicherungswirkungen grundsätzlich gegenüber einzelnen Anderen (Nachbar, Partner), bis hin zu einem Gesellschaftsrecht und kollektivem Arbeitsrecht, in denen derartige Rechtsbeziehungen auf eine größere Mehrheit von Partnern erweitert werden. b) Der herkömmlichen dogmatisch-redaktionellen Einteilung der Rechtsordnung entspricht denn auch die der ethischen Bereiche, insbesondere in Individual- und Sozialethik, wie auch in (weiteren) Untergliederungen dieser größeren Komplexe. Über diesen ist aber eine „Ethik als solche“ in übergreifender Einheit anzunehmen – und dies ist eben jenes „Sittengesetz“, welches in Art. 2 Abs. 1 GG angesprochen, im „Gewissen“ als seiner inhaltlich bestimmenden Instanz zum Verfassungsbegriff geworden ist, letzteres übrigens bereits in einer gewissen Tradition, jedenfalls seit der Paulskirchenverfassung172. Dieser Einheit der Ethik entspricht also die „Einheit der Rechtsordnung“173, in welcher individualrechtliche und kollektiv-sozialrechtliche Bezüge geregelt werden – einheitlich in der Verfassung. Daher ist eine individualrechtliche Wirksamkeit der Ethik auch in diesem Verfassungsbereich anzunehmen. Der redaktionelle Aufbau des Grundgesetzes spricht dafür, hier sogar von einem gewissen Primat der Individualethik auszugehen, wie er ja auch in den Grundrechten, dort wieder in Art. 1 und 2 GG mit ihren eindeutigen Individualbezügen, schon redaktionell deutliche Ausprägung gefunden hat.
2. Individualethik vor allem in „privatrechtsähnlichen“ Rechtsbeziehungen a) Dieser vorstehend herausgestellte Befund spricht dogmatisch dafür, die Bedeutung der hier untersuchten Individualethik im Rahmen eines staatsrechtlichen Personalismus methodisch zunächst bei rechtlichen Phänomenen des Verfassungs172
Art. 144 Abs. 1 Paulskirchenverfassung, wo „volle Gewissensfreiheit“ garantiert ist. S. dazu allgemein Felix, D., Einheit der Rechtsordnung. Zur verfassungsrechtlichen Relevanz einer juristischen Argumentationsfigur, 1998. 173
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rechts zu suchen, welche eine gewisse „Privatrechtsnähe“ aufweisen. Denn dort, im beispielhaften „Zweierbezug“ der Rechtsverhältnisse, wie er dem Schuldrecht eigen ist, geht es in besonderer und in rechtstypischer Weise um ein einzelmenschliches Verhalten, das von jeher eben auch unter Hinweis, ja unter letztem Rückgriff auf sittliche Vorstellungen rechtlich im Zivilrecht geordnet worden ist, wie dies bereits174 festzustellen war. Also bietet sich auch bei einer Suche nach ethischen Wirkungsbedeutungen der Individualethik eine Betrachtung an, welche eine solche insbesondere bei einer (auch) privatrecht(sähn)lichen Deutung von verfassungsrechtlicher Rechtsinhalte auffinden kann. Derartige Versuche sind bereits unternommen, auf sie darf verwiesen werden175. „Privatisierung des Öffentlichen Rechts“ bedeutet ja, dass in so beurteilten publizistischen, ja verfassungsrechtlichen Rechtsbeziehungen rechtliche Gestaltungen wirksam sind, wie sie auch das Privatrecht prägen – eben in der Individualethik, vor allem bei vertragsähnlicher Deutung verfassungsrechtlicher Norminhalte176. Soweit das Strafrecht auf dogmatischen Grundlagen des Zivilrechts aufbaut177, gilt dies auch für den gesamten Kriminalbereich, in welchem ohnehin Individualethik tagtäglich in der Praxis des Rechts eine entscheidende Rolle spielt. b) Das entscheidende Feld der Individualethik im Staatsrecht öffnet sich dort, wo vor allem individual-, nicht gemeinschaftsgeprägte Rechtsbeziehungen (auch) staatsrechtliche Regelungsgegenstände sind. Das gilt vor allem in den wesentlich einzelmenschlichen Beziehungen, wie sie dem zivilrechtlichen Vertragsrecht, dem eigentlichen „Mutterrecht“, allen Rechts, eigen sind. Überall dort tritt diese Individualethik im Staatsrecht am deutlichsten in Erscheinung, wo „Mehrheit“ keine Rolle spielt, keine, eine wie immer definierte „Gemeinschaft“ als Partner von Rechtsbeziehungen erscheint; das „Gesellschaftsrecht“ ist bereits eine „Erst-AbLeitung der Individualethik in die Sozialethik“. Individualethik rückt in den Mittelpunkt in Entscheidungssituationen, in denen das Individuum mit Blick auf sich selbst entscheidet, allenfalls auf ein gleichartiges anderes Individuum. Fazit: Individualethik wird also dort im Verfassungsrecht von besonderer Bedeutung sein, wo dieses Regelungen aufweist, welche auch im Zivil- oder Strafrecht wirksam sein können, insbesondere zumindest als „zivilrechtlich“, etwa vertraglich, deutbar erscheinen.
174
Oben II. 2. In Leisner, W., Privatisierung des „Öffentlichen Rechts“ (FN 86), wird dies allgemein dargestellt. 176 Zur vertraglichen Deutung der Verfassungsinhalte s. Leisner (FN 86), S. 72 ff. 177 Grdl. noch immer Bruns, H. J., Die Befreiung des Staatsrechts vom zivilistischen Denken, 1938. 175
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3. Individualethik und staatliche Sanktionen a) Eine Rechtswirkung aus Bindungen in individueller Moral zeichnet sich nun allerdings dadurch aus, dass sie nicht (nur) in individuellem Streben nach Vermeidung staatlicher Zwangswirkungen zum Ausdruck kommt, also eine faktische AngstAbwehrreaktion des Betroffenen gegen solche hervorruft. Dieser sieht sich vielmehr individualmoralisch nur seinem eigenen, eben dem Gewissenzwang unterworfen. Aus Überzeugung hat er diesem auch dann zu folgen, wenn ihm keine rechtlichen, durch Zwangsgewalt durchzusetzenden Nachteile drohen, soweit also die Verfassungsordnung staatliche Sanktionen nicht vorsieht oder erlaubt. Und selbst wenn dies der Fall ist, tritt die „ethische Sanktion“, das „schlechte Gewissen“ des Bruchs eigener Überzeugungen noch hinzu, verstärkt oder ergänzt staatlich-rechtliche Sanktionen. In diesen Ergänzungswirkungen liegt geradezu meist der entscheidende Effekt personalethischer und zugleich staatsrechtlicher Bindungen. b) Dies bedeutet nun nicht, dass die staatliche und die individualethische Bindungswirkung sich in ihren Wirkungen nicht überlagern, dass sie nicht kumuliert wirken können. Straf- wie Zivilrichter bemühen sich darum laufend, wenn sie Parteien oder Angeklagte zu Reue und Umdenken veranlassen wollen – zu typisch individualethischen Reaktionen. Inwieweit dies als solches im Einzelfall gesehen wird, wirken kann, ist eine ganz andere Frage. Ethisch verwerfliche Folgen einer Heuchelei, mit der dem entsprochen wird, sind bei den Adressaten, unmoralische Selbstgerechtigkeit ist auf der Richterbank nie ganz auszuschließen178. Jedenfalls finden sich solche „Anreize und Ermahnungen“ auch in gesetzgeberischer Form, von mildernden Umständen bis zur Selbstanzeige im Steuerrecht179 ; gerade in letzterer wirkt immerhin auch ein Appell an ethisches Verhalten. c) Eine Folgerung daraus mag naheliegen: Individualethik als personalrechtliches Rechtsgebot und deren Rechtswirksamkeit liegen auch als Verfassungsinhalt stets dort nahe, wo die Rechtsordnung formal auf staatliche Sanktionen verzichtet, ihren Normen aber dennoch Bindungswirkung zuerkennt; gerade dann könnte das Recht ja in besonderer Weise auf die ethischen, insbesondere auf eine individualethische „Bindungs-Ergänzungswirkung“ setzen. Dies mündet dann in die Problematik „sanktionsloser Imperative“ im Staatsrecht180. Der Begriff der „Sanktion“ muss eben – dies gerade ist ein zentrales Anliegen einer Staatslehre in Personalismus – erweitert werden auf die rechtlichen Wirkungen der Individualethik. Nicht nur dort ist 178
Zur „Richter-Moral“ vgl. FN 54. Zur Reue als mildernder Umstand im Strafrecht und bei der Selbstanzeige im Steuerrecht s. Kindhäuser, U., Strafrecht, Allgemeiner Teil, 6. Aufl. 2013, S. 255; Kröpil, K., Die Selbstanzeige im Steuerstrafrecht und vergleichbare Regelungen im allgemeinen Strafrecht, JR 2014, S. 382 ff. Krit. Wegner, C., Strafbefreiende Selbstanzeige – ein widersprüchliches System? HRRS 2014, S. 52 ff. 180 Zum Begriff der „Sanktion im Recht“ und „sanktionslosem Recht“ in der Allgemeinen Rechtslehre s. Kelsen, H., Reine Rechtslehre, 2. Aufl. 1960, S. 25 ff.; Rohl, K., Allgemeine Rechtslehre: Ein Lehrbuch, 3. Aufl. 2008, §§ 25, 26. 179
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eine solche aufzusuchen, wo sie bereits rechtlich deutlich oder gar ausdrücklich festzustellen ist, sondern auch in allen Regelungsräumen, welche das Staatsrecht gerade für sie darin offen lässt, dass es keine oder nur ansatzweise staatliche Sanktionen vorsieht. Zu untersuchen sind also nicht nur „sanktionierte individualethisch geprägte Bereiche“ des Staatsrechts, sondern auch solche, welche offen sind für derartige Bindungen oder ihrer geradezu mehr oder weniger dringend bedürfen. Auch in diesem Sinn ist nun nach „individualethischen Bindungen“ in grundgesetzlichen Norminhalten zu fragen.
4. Gleichheit: Staatsrechtliche Brücke zur Individualethik Die rechtlichen Sanktionen der Staatsgewalt bei Übertretung von Geboten der verfassungsmäßigen Ordnung, welche wie vorstehend dargelegt, in einem Ergänzungsverhältnis stehen zu individualethischen Wirkungen auf das Individuum, sind aber nicht die einzigen „Wirkungshilfen“, welche die organisierte Gemeinschaft individualethischen Imperativen gewährt. Im Mittelpunkt der Individualethik steht ja ein „Denken an sich selbst“, an die eigene Individualität des betreffenden Menschen. Er will an seiner menschlichen Identität nicht Schaden leiden durch sein Verhalten. Dieses Recht muss er aber, gerade als Individuum, auch (allen) anderen gleich(artig)en Rechtssubjekten zubilligen – ohne Rücksicht übrigens darauf, ob er bei anderem Handeln mit gerade deren negativen Reaktionen zu rechnen hat. Individualethik muss geradezu begrifflich, eben als eine Ordnungsform des Verhaltens von Menschen, davon ausgehen, dass das ethisch Verbindliche auch für alle anderen Menschen als Imperativ gilt. Dann aber ist es die Gleichheit, welche nicht nur eine Brücke darstellt innerhalb der „Sozialmoral“; sie begründet auch die individualrechtliche Verbindlichkeit ethischer Gebote. Der Staat, welcher diese Gleichheit zu einer höchsten Verfassungsnorm erhebt, schafft damit zugleich eine Grundlage für die, insoweit zugleich wesentlich staatsrechtliche, normativ höchstrangige Verbindlichkeit jenes Kategorischen Imperativs. Er befiehlt ja gerade ein Verhalten, das auch von jedem menschlichen Wesen erwartet werden darf, werden muss. Ein Gleichheitsstaat181 ist also (auch) eine Ordnung, welche durch seine staatsrechtliche Spitzennorm der Egalität eine Brücke baut zur Rezeption gerade individualethischer, nicht nur sozialethischer Wirksamkeit von Regeln in der Gemeinschaft. Gleichheit als Grundlage eines Individualismus – darüber müsste jedenfalls ganz neu und vertiefend nachgedacht werden.
181 Zum „Gleichheitsstaat“ Leisner, W., Der Gleichheitsstaat. Macht durch Nivellierung. 1980, 2. Aufl., in: Demokratie, Selbstzerstörung einer Staatsform, 1979, S. 197 ff.
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In diesen geistigen Bahnen sind nun Elemente individualrechtlicher Verbindlichkeiten in der grundgesetzlichen Ordnung aufzusuchen, soweit sie sich in einzelnen, nicht in allen, verfassungsrechtlichen Normen auffinden lassen. Einzelheiten der Wirksamkeiten aus ihnen sich ergebender normativer Verbindlichkeiten können allerdings im folgenden Zusammenhang nicht vertieft werden.
VI. Die Grundentscheidungen der Staatsform im Grundgesetz Wenn der Individualethik jene staatsprinzipielle Bedeutung in der grundgesetzlichen Ordnung zukommt, wie sie ein „Personalismus im Staatsrecht“ hier nachweisen soll, so muss diese „personelle Moral“ zu allererst ihre Ausprägungen finden in den geltenden verfassungsrechtlichen Grundentscheidungen, welche die Staatsform des Grundgesetzes prägen: in Art. 20, 28 und 79 Abs. 3 GG. „Ethik“ beansprucht, eben als eine zugleich allerallgemeinste und allerinnerste (Gewissens-) Ordnung des Verhaltens jedes Einzelmenschen, eine Geltung, wie sie schon in der absoluten Spitzennorm des Grundgesetzes, in Art. 1 Abs. 3 GG, angesprochen wird. Eigentlich müsste daher die Untersuchung einsetzen mit der Überprüfung der Dogmatik der Menschenwürde auf ihre individualethischen Gehalte. Dies wird aber nur deshalb einer Eingangsbetrachtung des Grundrechtsteiles vorbehalten (i. Folg. D. II. 1.), weil in den folgenden Kapiteln geltendes Verfassungsrecht im Einzelnen auf seine individualethischen Gehalte überprüft wird. Dann aber sollte auch die gängige rechtsdogmatische Betrachtungsfolge des Verfassungsrechts insgesamt zugrunde gelegt werden, wie sie auch Art. 79 Abs. 3 GG, entsprechend der „Normhöhen“ im Deutschen Staatsrecht, zugrunde liegt: Von den staatsformprägenden Grundsätzen über die Grundrechte fortschreitend zu den einzelnen staatsorganisatorischen Normkomplexen. Dass hier jeweils Grundlinien und Beispiele genügen müssen, folgt schon aus den Begrenzungszwängen der Darstellung.
1. Rechtsstaatlichkeit a) Die Legalität als ethische Rechtsbindung des „Staats als Person“ aa) Der „Kategorische Imperativ“ als Bindung von „Personen im Recht“: Zu Beginn der hier folgenden Untersuchung darf zurückverwiesen werden auf die Ergebnisse der bisherigen Kapitel I. bis V. von Teil C. Dort wurden die ausdrücklichen grundgesetzlichen Anknüpfungspunkte behandelt, welche für Ethik und insbesondere für Individualmoral im Text des Grundgesetzes begegnen, in der Erwähnung des
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Gewissens182 und in anderen dem nahen Prinzipien und Entwicklungen der grundgesetzlichen Ordnung (Kapitel IV., V.). Darin wurde gewissermaßen etwas behandelt wie ein „Allgemeiner Teil“, aus dem sich ein Verständnis der Grundentscheidungen des Grundgesetzes zu diesem Problemkreis ergeben muss, wie er nun näher untersucht werden soll. Dabei war bereits die Bedeutung des „Kategorischen Imperativs“ als Grundlage der Ethik angesprochen worden183, zugleich aber auch für den „Staat als Person (des Rechts)“. Daran ist nun anzuschließen: Es ist ja gerade der „Rechtsstaat“, wie er in Art. 20, 28 und 79 Abs. 3 GG in geltendem Verfassungsrecht ausgeformt ist, in welchem die Ethik, auch und zu allererst die Individualethik, den Staat durchgehend prägt, ja ihn, in kantischer Diktion, „geradezu erstmals konstituiert“. Und dies erfolgt in der „Legalität“ wesentlich in einer Art von „innerer Staatsethik“, in einer „Individualethik des Staates des Grundgesetzes als solchen“. Er entlehnt sie, eben als eine „Person des Rechts“, einerseits den innersten, den ethischen Werten, welche das einzelmenschliche Individuum tragen – zum anderen und zugleich wirken diese Werte aus ihm, in einer Art von „Wechselwirkung“184, wieder als Inhalte in den Verhaltensraum der Einzelpersonen zurück. bb) Dies alles ist allerdings zunächst verschüttet worden in der Vorstellung vom „Staat als Übermenschen“, der auch als „Rechtsperson über allem Menschlichen stehe“, dieses ordne, beherrsche. Es war letztlich ein bestimmtes Verständnis, vielleicht ein Missverständnis der Hegelschen Staatskonzeption185, welche auf diese Weise den menschenbezogenen Kategorischen Imperativ überhöhte in einem Postulat: dass der Staat als solcher, aus seinem Wesen heraus, bereits höchste Sittlichkeit verkörpere. Dann konnte es, an diesem Beginn des staatsrechtlichen Konstitutionalismus, das Problem eines individualethischen Personalismus im Staatsrecht begrifflich nicht mehr geben. Solche Vorstellungen sind allerdings im nicht-kommunistischen Staatsrecht alsbald niedergegangen mit dem Ende der Transpersonalismen. Bereits zur Zeit Hegels hat sich in Frankreich die Legalität als Konstitutivprinzip des Staates durchgesetzt, kurz nach dem Höhepunkt seines Schaffens wurde in Deutschland die Idee vom Rechtsstaat entwickelt186, eben als eine notwendige Folge des „Staats als Person“. Damit aber war auch für ihn Ethik nicht mehr „eine 182
Kap. I. bzw. Kap. IV., V. Kap. I. 1. 184 Die Wechselwirkungslehre, welche vom Bundesverfassungsgericht zu Art. 5 entwickelt worden ist (E 59, 231 (265); 66, 116 (150); 71, 206 (214)), erscheint insoweit als eine allgemeine Grundkategorie der verfassungsrechtlichen Ordnung des Grundgesetzes. 185 Zur Staatslehre Hegels vgl. neuerdings Pauly, W., Hegel und die Frage nach dem Staat. Der Staat 39 (2000), S. 381 ff.; Rosenzweig, F., Hegel und der Staat, 2010. 186 So ist denn auch die Vorstellung vom „Rechtsstaat“ bereits in der Spätzeit Hegels im Staatsrecht gereift, mit Rudolf von Gneist, Der Rechtsstaat 1872, hat sie sich entscheidend durchgesetzt. 183
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andere Welt“; sie drang, gerade mit dieser Rechtsstaatlichkeit, in ihn ein, begründete geradezu seine Identität. cc) Die Bewahrung dieser „Personalidentität des Staates“ vollzieht sich nun gerade in dieser Legalität, in welcher bald bei Kelsen Recht, Gesetz (Norm) und Staat Eins werden sollten. Und darin wird die Verbindung von Ethik, insbesondere auch von Individualmoral und Staatlichkeit, es wird „Staat eben als moralische Person“ wieder deutlich. Sogar die oben erwähnte Ethikvorstellung der Gerichtsbarkeit187 wird doch noch erreicht: Auch der Staat findet in der Ethik seine „Identität“, bewahrt diese in der Rechtsstaatlichkeit in seinem „Wesen als Gesetz der Menschen“. Der Kreis schließt sich: Rechtsstaatlichkeit ist „Ausdruck des Kategorischen Imperativs, den sich der Staat selbst gibt“. Dieser konstituiert darin seine eigene Identität, ebenso wie seine Bürger in ihrer Individualethik zu ihrer menschlichen Identität finden. Also gilt: Rechtsstaatlichkeit ist etwas wie die Individualethik des Staates – sie ist Verhaltensethik einer darin in sich identischen Person.
b) Individualethische Inhaltselemente der Rechtsstaatlichkeit Ein Überblick über die einzelnen Rechtsfolgen188, welche aus der Rechtsstaatlichkeit von der h. L. für alles staatliche Verhalten abgeleitet werden, zeigt deutlich: Sämtliche normativen Gebote weisen hier einen klaren Bezug auf zu moralischen und insbesondere individualrechtlichen Verhaltensregeln, wie sie sich aus einem wie immer im Einzelnen bestimmten Sittengesetz ergeben und in individueller Gewissensentscheidung von den Einzelmenschen zu befolgen sind, mit Wirkungen eines (zugleich) ethischen Kategorischen Imperativs. Im Einzelnen lässt sich dies wie folgt näher konkretisieren: aa) Staat wie (Einzel-)Mensch stehen hier in allgemeinen Verhaltensordnungen von ethischer Verpflichtungsqualität. Diese Ordnungen bilden den Rahmen ihrer (Lebens-)Planung, all ihrer aus ihrer Existenz und ihren Kräften sich entbindender Aktionen und Unterlassungen. (Individual-)Ethik beansprucht also bereits aus dem ihr wesentlichen Begriff der Ordnung heraus gleichermaßen grundsätzliche Geltung für das Gesamtverhalten von Einzelmenschen wie für den aus diesen gebildeten, von ihnen getragenen Staat. Der Normbegriff189 zeigt über die Rechtsstaatlichkeit die Verbindlichkeit der Ethik an für die gesamte Existenz-, für die „Lebensplanung“ der Gemeinschaft wie für die der Bürger. Die notwendige „Normförmigkeit der Ord187 Letztlich handelt es sich dabei um Ethikvorstellungen von Einzelmenschen, wie sie in der Gerichtsbarkeit auf der Richterbank (vgl. oben 3. b)) wie auch zwischen den Parteien und in ihren Beziehungen zum Gericht zum Ausdruck kommen. 188 Sommermann, K.-P., in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG 6. Aufl. 2010, Art. 20 Rn. 287. 189 Zum Begriff der „Norm in der Allgemeinen Rechts- und Staatslehre“ s. aus neuerer Zeit, Rohl (FN 180); Rüthers, B./Fischer, Chr./Birk, A., Rechtstheorie mit juristischer Methodenlehre, 7. Aufl. 2013, § 4.
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nung“ begründet also gleichermaßen die Verbindlichkeit der gesamten Ethik, auch, ja vor allem der Individualethik, für den Staat – und, über seine Befehle an seine Bürger, wiederum als Rechtsverbindlichkeit im engeren Sinn für diese. Da eine solche ethische Verbindlichkeit der Ordnung letztlich aber weder für den Staat noch für den Bürger (allein) aus (Macht-)Wille erwächst, sondern aus ethischer Überzeugung, ist der Staat gerade durch die Rechtsstaatlichkeit an die Moral als solche grundsätzlich gebunden. Rechtsstaatlichkeit ist insoweit Ausdruck einer höheren, vom Staat rezipierten (Normen-) Ordnung, nicht (nur) Proklamation von Produkten staatlichen Machtswillens. Dies gilt, auf dieser allgemeinen Grundlage, für alle Einzelausprägungen der Rechtsstaatlichkeit als Rechtsregeln, gleichermaßen im individualbürgerlichen wie im staatlichen Bereich. bb) Formale Klarheit und inhaltliche Bestimmtheit allen Verhaltens des Staates wie des Einzelnen sind Rechtsgebote, die sich für alle diese Adressaten der Rechtsstaatlichkeit gleichermaßen aus diesem Prinzip ergeben. Sie können im vorliegenden Zusammenhang auch in begrifflicher und wirkungsmäßiger Verbindung gesehen werden190. Nur ein in Form und Inhalt klares und bestimmtes Verhalten lässt sich überhaupt einem Rechtsträger zuordnen, ethisch wie nach positivem Recht also existent werden. Dies gilt für jeden von ihnen, nach außen wie nach innen: - Kein „anderer“, außerhalb des Verpflichteten Stehender kann ein Verhalten, das von jemandem ausgeht, überhaupt in einigermaßen geordneten Formen (vgl. bb)) auch nur wahrnehmen als das einer „Rechtsperson“, wenn von dieser nicht ein bestimmbares, d. h. eben wahrnehmbares, daher klares und bestimmbares Signal ausgeht. Nur darin wird das Rechtssubjekt als solches überhaupt rechtlich erkennbar, damit juristisch existent. - Der Einzelne „(er)klärt“ sich selbst als Rechtssubjekt, in der Bestimmtheit und Klarheit seines Denkens, er wird darin „seiner selbst bewusst“. Dies ergibt sich nur aus seinen eigenen, klaren und bestimmten Verhaltensweisen; sie schaffen sein Selbst-Bewusstsein, so wie sie sich aus seinem Gewissen, seiner con-scientia, in Entscheidungen ergeben. cc) Damit wird erst die Identität des Rechtssubjekt begründet als ein Bezugspunkt von Normbefehlen, und eben vor allem auch von ethischen Imperativen. Klarheit und Bestimmtheit des Verhaltens stellen also ethische Gebote dar, aus denen sich überhaupt die Personenqualität des Rechtssubjekts ergibt, in seinem „Verhalten nach außen“, in Individual- und dann auch in Sozialethik. In ihm durchwirkt auch (Individual-)Ethik das gesamte rechtlich relevante Verhalten von Bürger und Staat – letztlich gleichartig, wenn auch nicht in allem gleich-mäßig. Gleiches gilt aber auch für die Innenbereiche der Einzelmenschen wie des Staates. „Auch für sie selbst allein“, für das ausschließlich von ihnen Wahrgenommene, sie allein Verpflichtende, muss gelten: Nur in einem klaren und bestimmten Verhalten 190 Klarheit und Bestimmtheit des Rechts bilden in der Rechtsstaatlichkeit eine begriffliche Einheit, vgl. dazu Sommermann (FN 188), Art. 20 Rn. 292.
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kann ihre Identität als die von (Rechts-)Subjekten überhaupt zum Ausdruck kommen, ihnen selbst und damit auch außerhalb von ihnen erkennbar und bewusst werden. Aus diesem Innenbereich wächst die Identität des Subjekts heraus, wie sie alle Ethik zugleich verlangt und konstituiert. Und dies gilt wiederum gleichartig für die Einzelmenschen wie für den Staat, dieses Gebot der Klarheit und Bestimmtheit im gesamten Verhalten: Vom Einzelmenschen verlangt dies klar bestimmbares, damit in erster Linie von ihm selbst innerlich wahrnehmbares Denken – dies ist der tiefere Sinn des cartesianischen Cogito ergo sum191. Im Innenbereich des Staates führt es, von vorne herein, zur Nichtigkeit, ja zur Inexistenz unklarer Gebote und Entscheidungen192, wenn diese dann eben auch nicht mehr auslegungsfähig sind. Dies entspricht der ständigen verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung wie der Verwaltungspraxis. Fazit: Die Rechtsstaatlichkeit ist, für Einzelmenschen wie für alle Staatlichkeit, im Gebot der Klarheit und Bestimmtheit Ausdruck (auch) der (Individual-)Ethik; sie ist aus deren Geboten heraus, also auch im Staatsrecht, jeweils näher zu konkretisieren, als Identitätsbegründung und allgemeines Verhaltensgebot der Staatsgewalt, wie der Einzelnen. dd) Gleiches gilt für die rechtsstaatlichen Gebote der Folgerichtigkeit und, als deren Konsequenz, der Widerspruchslosigkeit193 des Verhaltens des Einzelmenschen wie des Staates. Es sind dies Inhalte der Rechtsstaatlichkeit, welche die der Klarheit und Bestimmtheit des gesamten Verhaltens (vgl. cc)) in ihren Wirkungen in die Zukunft hinein fortsetzen. Andererseits erfolgt hier etwas wie eine Systematisierung in Klarheit/Bestimmtheit: Sie werden nicht nur in ihren einzelnen, mehr oder weniger punktuellen, Auswirkungen zu Leitlinien des Verhaltens; aus ihnen werden, in einer der Analogie194 vergleichbaren Wirkungsverbreiterung, Folgen abgeleitet auch für „andere“, insbesondere in der Zukunft liegende Situationen und Probleme. Letztlich verdeutlichen auch diese „Subprinzipien“ der Rechtsstaatlichkeit darin nur die volle normative Wirkungsweise der Ordnungs-Normen-Systeme der Ethik und der aus ihr heraus sinnerfüllten Rechtsstaatlichkeit. In Widerspruchslosigkeit erfährt das Individuum seine Identität, sie ist ein herausragendes Gebot der Individualethik („Deine Rede sei Ja, Ja – Nein, Nein“). In der Folgerichtigkeit wird das Individuum erst ethisch glaubwürdig vor sich selbst, damit und dann auch vor anderen.
191
Zur Bedeutung René Descartes’s in der Rechtsphilosophie s. Gerten, M., Wahrheit und Methode bei Descartes, 2001; Perler, D., René Descartes, 2. Aufl. 2006. 192 Als Folge jener offensichtliche Dürftigkeit der Begründung, bei der eine Anbindung an einen wie immer festzustellenden Willen eines Rechtssubjekts überhaupt nicht mehr vorgenommen werden kann. 193 Folgerichtigkeit (vgl. BVerfGE 121, 317 (374)) und Widerspruchsfreiheit (vgl. dazu BVerfGE 108, 169 (181), 119, 331 (366 m. w. Nachw.)) zeigen sich hier als systematische Fortsetzung von Klarheit und Bestimmtheit, wenn nicht geradezu als deren Konkretisierung. 194 Zur Analogie vgl. Leisner, W., Institutionelle Evolution (FN 66), S. 91 ff.
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ee) Weitere in konkreten Geboten im Staatsrecht bereits ausgeformte WirkungsFolgerungen der Rechtsstaatlichkeit, wie Verhältnismäßigkeit195, Verantwortlichkeit196 und Vertrauenswürdigkeit197, stellen ebenfalls konkretisierende Ausprägungen des notwendig normbestimmten Verhaltens von Einzelmenschen wie des Staates als solchen dar. Sie weisen daher, ebenso wie dieser Norminhalt als solcher, einen notwendigen Bezug zu (individual-)ethischen Verpflichtungsinhalten auf (vgl. vorsteh. bb): Der Einzelmensch „erfährt“ hier die innere Verpflichtung zu einem ausgewogenen Verhalten, einem abwägenden Urteil im individualethischen Gebot, Einseitigkeiten, Übertreibungen zu vermeiden. Darin mag geradezu eine Verpflichtung zu jener „Gerechtigkeit“ liegen, die dem Einzelnen in seinem gesamten Denken obliegt. Sie erscheint dann auch als moralisch verbindlich für den Staat, im Sinne einer „Gerechtigkeit als Abwägung“198. Das rechtsstaatliche Verhältnismäßigkeitsgebot wirkt darin in einer wesentlich ethischen, ja einer im Kern sogar individualethischen Dimension. Nicht anders ist die bindende Wirkung der Verantwortung zu beurteilen, bereits als notwendige Konsequenz einer Folgerichtigkeit (vgl. vorsteh. dd)), aus der eben diese Verpflichtung individualethisch erwächst. Ihr muss sich – und hier darf es heißen: „genau so“ – der Staat stellen, auf einer letztlich personen-individualethischen Grundlage199. Vertrauen schließlich findet seine individualethischen Wurzeln im „Selbstvertrauen“, welches wiederum aus Folgerichtigkeit und Widerspruchslosigkeit erwächst (vgl. vorsteh. dd)). Die gesamte öffentlich-rechtliche Dogmatik des Vertrauensschutzes200 ist nichts als eine rechtliche Übertragung der Grundsätze, die aus dem Selbstvertrauen bereits im Zivilrecht hinüberwirken in die Beziehungen zu anderen, zu den gerade eben darin „gleichen Menschen“; sie stellen etwas wie ein „Zweites Ich“ des „moralischen Rechtsträgers“ dar. Und eben dieses Vertrauen muss der Staat im Öffentlichen Recht sich verdienen, nur darin ist er glaubwürdig, als unsichtbarer Machtträger fassbar – überhaupt existent.
195
Zur Verhältnismäßigkeit, zu entwickeln aus der Rechtsstaatlichkeit, s. Sommermann, K.-P., in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG 6. Aufl. 2010, Art. 20 Rn. 308 ff. 196 Zur Verantwortung Sommermann (FN 195), Art. 20 Rn. 300. 197 Zu Vertrauen(swürdigkeit) Sommermann (FN 195), Art. 20 Rn. 292. 198 Zur Gerechtigkeit als (Folge der) Abwägung, Leisner, W., Der Abwägungsstaat, Verhältnismäßigkeit als Gerechtigkeit? 1997, insb. S. 39 ff. 199 Die „Verantwortung“ ist beim Staat eingeschränkt nach § 839 BGB, Art. 34 GG, entsprechend den Ausgestaltungen des Amtshaftungsrechts. Zugleich tritt dann aber der Einzelmensch, der „Beamte“ im amtshaftungsrechtlichen Sinn, an seine Stelle. 200 Zum Vertrauensschutz im Öffentlichen Recht, s. Leisner, A., Kontinuität als Verfassungsprinzip, 2002, S. 98 f. m. Nachw.
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c) Rechtsstaatlichkeit: Wirkungen in foro interno wie in foro externo Sämtliche Einzelausprägungen des Prinzips der Rechtsstaatlichkeit verpflichten also, als ethische Maximen, auch den Einzelnen in seinem Inneren; umgekehrt sind die Selbstbindungen des Staates in der Verfassung, in deren Rechtsstaatsprinzip, ihrerseits nichts als dazu analoge Regelungen, welche auch diese „Person Staat“ und die übrigen Personen des Öffentlichen Rechts verpflichten. Auch sie gründen also einerseits in Ethik, einschließlich, ja vor allem, in Individualethik. Diese konkretisiert in „Moral“ die rechtlichen, rechtsstaatlichen Verpflichtungen der Gemeinschaft. Aus der Allgemeinen Rechtslehre („Person“, „Rechtssubjekt“) über die Allgemeine Staatslehre (Selbstverpflichtung des Staats in der Verfassung als solcher) bis hin zu den konkret-institutionellen Ausformungen und Inhalten der entsprechenden Grundgesetzartikel ist ein großer Zug festzustellen, der die Ethik mit dem Verfassungsrecht des Grundgesetzes verbindet, zugleich dieses auch der (Individual-) Moral öffnet. Die Rechtsstaatlichkeit ist also als solche, als eine existenznotwendige Normenordnung, positivierter Ausdruck einer Überwirkung der Individualmoral auf das Staatsrecht; ihre einzelnen positivrechtlichen Ausprägungen wirken auf den Einzelmenschen in dessen foro interno wie auf das staatliche Forum (Romanum), das Forum (letztlich) des Letzten Wortes seiner Gerichtsbarkeit201. Beide Foren sind damit grundsätzlich Eines, wie die Akteure, die sich dort bewegen. Unterscheidungen, Abweichungen in den (individual-)ethischen Verpflichtungswirkungen mag es geben, aus dem Wesen der jeweils Verpflichteten, der Bürger wie des Staates und seiner Organe. Grundprinzip bleibt aber die Offenheit der grundgesetzlichen Verfassungsordnung für konkretisierende Ausformungen in Individualethik. Die Rechtsstaatlichkeit ist darin geradezu etwas wie eine Magna Charta des Grundgesetzes, des „Sittengesetzes“, wie es das Grundgesetz in Art. 2 Abs. 1 über seine Ordnung schreibt – und stellt.
2. Sozialstaatlichkeit und Individualethik a) Sozialstaat: Individual-, nicht nur Sozialethik aa) Eine schwerwiegende Fehlvorstellung liegt seit langem202, wenn nicht geradezu traditionell, weithin dem staatsrechtlichen Verständnis der Sozialstaatlichkeit, besser: dem „sozialen Staatsziel“203 im Grundgesetz zugrunde: Es sei dies (nur) eine Grundsatz- und Spitzennorm des „Sozialrechts“, letzteres wiederum verstanden als 201 202 203
Leisner (FN 54). Zur Geschichte des Sozialstaats vgl. Eichenhofer, E., Geschichte des Sozialstaats, 2007. So immer wieder zutreffend Zacher, H. F., vgl. neuerdings HbStR3, Bd. 2, § 28.
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Verankerung eines Vorrangs öffentlicher Belange vor individuellen Interessen, sowie eines „Schwächerenschutzes“204 in der Verfassung. Nahe liegt es, daraus abzuleiten, soweit hier ethische Gehalte von Bedeutung seien, gehe es wesentlich, ja allein um „Sozialethik“, eine Folgerung, die schon verbal naheliegt. Individualethik würde dann in diesem Regelungsbereich keine Rolle spielen, jedenfalls völlig in den Hintergrund treten. Diese Vorstellungen könnten sich darauf stützen, dass das Wort „sozial“ im gängigen und insbesondere im staatsrechtlichen Sprachgebrauch ebenso traditionell zwei Bedeutungen aufweist: einerseits steht es einfach für „Gemeinschaft“, zum anderen wird ihm eine Umverteilungstendenz entnommen, einebnend bis zur Nivellierung. Beides verbindet sich häufig in den unklar-schillernden Auffassungen, in welchen dann der „Abbau allzu großer Unterschiede in der Gemeinschaft“ als (allein) sozialverträglich erscheint – eben als ein „soziales Staatsziel“. Dessen Erreichung mag folgerichtig Gegenstand einer sozialistischen, ja kommunistischen Sozialethik sein; dort hat dann Individualethik als solche keinerlei Platz mehr, sie sieht sich durch solche Sozialethik, wenn überhaupt, allenfalls grundsätzlich (entscheidend) eingeengt, rechtlich beschränkt. bb) Von einem solchen einengenden Verständnis der Sozialstaatlichkeit, welches Individualethik allenfalls in einer nächstenliebenden Barmherzigkeit als Ausgangspunkt gelten lassen kann (vgl. dazu unten d)) – die aber ebenfalls sogleich als „Sozialethik“ erscheinen würde – darf jedoch nicht ausgegangen werden. Der in Sozialstaatlichkeit verfassungsrechtlich erfasste „Mensch als animal sociale“ ist zunächst eben „animal“ –„Mensch als Individuum“, auch und vor allem im Sozialverbund der Gemeinschaft. In ihr wird er als Person wahrgenommen, sie ist der Raum, in dem er sich bewegt, auch und gerade mit seiner individualethisch konstituierten Persönlichkeit, aus ihr kommen letztlich alle seine Entscheidungen, welche sodann gemeinschaftswirksam werden, daher auch gemeinschafts-sozialverträglich sein müssen. M. a. W.: Die individualethische Grundlage der Gemeinschaft darf nicht von vorne herein in Sozialstaatlichkeit „wegdefiniert“ werden, als ob diese „von Anfang an“ in der Gemeinschaft und ihren Bindungen aufginge. Das „Soziale als Gemeinschaftsbezogenheit“ verweist zuallererst zurück auf das Individuum und seine individualethischen Entscheidungen. Erkannt worden ist dies übrigens bereits dort, wo die Sozialstaatlichkeit wesentlich in ihren Bezügen zur Rechtsstaatlichkeit205 gesehen und damit auch ihre freiheitliche Komponente erkannt worden ist. Der „Gemeinschaftsbezug“ der Sozialstaatlichkeit verdrängt also nicht individualethische Bestimmungselemente aus deren Inhalt. Sie spricht Individualmoral vielmehr, gerade umgekehrt, an als allgemeinen Ausgangspunkt der Gemeinschaft 204
In der Rechtsprechung wurde der Schwächerenschutz vor allem entwickelt als Schutzrecht für Arbeitnehmer, vgl. f. Viele BVerfGE 51, 53 (55 f.), 77, 288 (329 ff.); 85, 226 (233). 205 Sommermann, K.-P., in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG 6. Aufl. 2010, Art. 20 Rn. 103 ff.
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und ihrer Sozialethik. Die Gemeinschaft ist gewissermaßen ein Aktionsraum des Individuums, in dem sich dieses „spiegelt“ als ethische Person, insbesondere auch in deren individualethischer Überzeugungswelt; sie gerade wird in der Gemeinschaft erkennbar, für den Einzelmenschen zuallererst. b) „Sozialstaat als Verteilungsstaat“ und Individualethik Auch das zweite herkömmliche Bestimmungselement der Sozialstaatlichkeit, seine verteilungsstaatliche Zielsetzung, eingekleidet im Staatsrecht in Rechtsformen einer Sozialprogrammatik206, begründet keine staatsrechtliche Verdrängung der Individualethik durch (staatsdiktierte) Sozialethik“, i. S. einer umverteilenden Sozialmoral. Dieses Element der Sozialstaatlichkeit verweist primär ebenfalls auf individualrechtliche Inhalte: Grundsätzlich geht es hier ja nur darum, dass keine allzu großen sozialen, d. h. insbesondere wirtschaftlichen Abstände zwischen Bevölkerungsgruppen entstehen oder aufrecht erhalten werden sollen, also etwa im Sinne einer „Zwei-Mehr- Klassengesellschaft“207. Dies aber ist nicht etwa Ziel einer Sozialethik; sie ist vielmehr ein Weg, auf dem dies erreicht werden soll. Er beginnt jedoch in Individualethik: Übergroßer Abstand zwischen Schichten gefährdet die Personenqualität der „unteren Klassen“ in der Gemeinschaft, damit das individualethische Grundprinzip der gleichen Personenqualität208 und ihrer moralischen Grundwertigkeit. Damit wird der Sozialstaat mit seinen „Personensichernden Sozialleistungen“ zur materiellen Fortsetzung und Durchsetzung der individualrechtlichen Rechtsstaatlichkeit. Sozialleistungen im eigentlichen, in ihrem auch historisch ursprünglichen Sinn führen letztlich zurück auf Individualethik, finden allerdings hier auch ihre Grenzen. Sie sind nicht zu verstehen als Formen einer Umverteilung, als erste Schritte, als „Errungenschaften“ auf dem Weg zu einer endgültigen, nivellierenden Gleichmachungsgleichheit, die als solche nie rückgängig gemacht werden dürfte auf dem Wege zum Endziel der völlig klassenlosen Gesellschaft des Kommunismus. Sozialleistungen sind vielmehr Hilfen, Sicherungen einer „Personalisierung“, wo nötig einer Person-Werdung, wie sie im Sozialstaat in seinen nicht gemäßigten, sondern „ganz anderen“ Formen einer „Austeilungs-, nicht einer Umverteilungs-
206 Zur (Sozial-)Programmatik vgl. demnächst nähere Ausführungen in Leisner, W., Die Prognose im Staatrecht, 2015. 207 Die Sozialstaatlichkeit ermächtigt den Staat dafür zu sorgen, dass kein allzu großer Abstand zwischen Mächten und Klassen in der Gesellschaft entstehe, vgl. zum Ausgleich sozialer Gegensätze BVerfGE 100, 271 (284); zum Begriff einer in diesem Sinne „gerechten Sozialordnung“ BVerfGE 110, 412 (445). 208 Damit würde die menschliche Gleichheit bereits verletzt als ein individualethisches Prinzip, vgl. dazu oben VI. 4.
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C. Personalismus in der grundgesetzlichen Ordnung
gerechtigkeit“209 gefordert wurden. Nicht als Umverteilung mit dem Endziel der Nivellierung, sondern als „Austeilung“ zur Sicherung der Personenqualität – so ist das zweite Grundelement der Sozialstaatlichkeit zu verstehen. Darin werden auch hier deren individualethische Grundlagen deutlich. c) Bedürfnis als Grundlage der Sozialstaatlichkeit „Jeder nach seiner Leistung(sfähigkeit) – Jedem nach seinem Bedürfnis!“. Dieses Verständnis der „Sozialen“ bestimmt noch immer weithin das gegenwärtige Staatsrecht. In den Begriff des „Bedürfnisses“ wird damit oft von vorne herein etwas gelegt, was es aber nicht beinhaltet: völlig gleiche Bedürfnisse jedes Einzelnen, in jeder, insbesondere aber in wirtschaftlicher Hinsicht. Aus den „Grundbedürfnissen“ der Person als Träger der Individualethik wird so eine totale Gleichheit, die aber im Begriff dieser Fundamentalbedürfnisse nicht liegt (vgl. vorsteh. b)); damit wird von vorne herein allein Sozialethik als Moral anerkannt, Individualmoral als Persönlichkeitsausprägung und Sicherungsziel weginterpretiert. Folge dieses wahren ethischen wie staatsrechtlichen Kunst-Griffs einer Vorverständnis-Interpretation ist: Beim Verständnis der Sozialstaatlichkeit und ihrer – durchaus auch – individualethisch zu begründenden staatlichen und einzelmenschlichen Rücksichts- und Leistungsverpflichtungen soll nun eigene Leistungsverpflichtung keinerlei Rolle mehr in dem Sinn spielen, dass sie eine individualethische Pflicht darstellt. Es müssen aber doch, eben auf Grund von Individualmoral, zu allererst stets individuelle Bedürfnisse in eigener Arbeit, als Ergebnisse eigener Leistung befriedigt werden. Dieses vorrangige individualethische Grundprinzip einer eigenen Leistung, in und zur Erfüllung der personen-konstituierenden Bedürfnisse, wird im Grundgesetz leider nur an einer Stelle erwähnt (Art. 33 Abs. 2 GG), auf den engen Zugang zu den öffentlichen Ämtern beschränkt; und dort begegnet es noch dazu in der nur auf diesen jeweiligen Bereich bezogenen Verengung auf das „Fachliche“210. Die staatsrechtliche Folge daraus ist, dass „Leistung“ nur zu oft als individualethisches Grundprinzip der Sozialstaatlichkeit nicht mehr wahrgenommen wird. Die mehr als bedenkliche Konsequenz daraus ist dann am Ende, dass die moralische Pflicht zur Arbeit, mit dem Ziel der individualethischen Befriedigung eigener Bedürfnisse, in einem wahrhaft grotesken Verweis auf die KZ-Formel „Arbeit macht frei“, nicht der Kritik, sondern der Lächerlichkeit preisgegeben wird. Dass früher einmal eine der schönsten individualethischen Maximen über einem Ort von Unfreiheit und Mord geschrieben stand, wird nach so vielen Jahrzehnten immer noch zu 209 Der entscheidende Unterschied zeigt sich gerade in der auch begrifflichen Spannung zwischen einer „Austeilungs-“ und einer „Umverteilungsgerechtigkeit“: In ersterer liegt, anders als in letzterer, keine Endziel-Vorstellung. 210 Zur „fachlichen Leistung“ vgl. Jachmann, M., in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG 6. Aufl. 2010, Art. 33 Rn. 17.
VI. Die Grundentscheidungen der Staatsform im Grundgesetz
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einer unterschwelligen Diskreditierung der Individualmoral eingesetzt. Es führt dies dann vielleicht gar zu der abwegigen Folgerung, dass es eine individualethische Arbeits- und Leistungsverpflichtung gar nicht gebe, dass diese etwa dem Langzeitarbeitslosen in „Anreizleistungen“ von der Gemeinschaft geradezu abzukaufen wäre211, für die allein er ja letztlich tätig werden solle. Damit würde nicht nur Sozial-, sondern sogar Individualmoral dem Bürger vom Staat „honoriert“. Bezahlte Moral aber ist deren Ende. „Leistung“ mag und muss nicht durch die Staatsgewalt erzwingbar sein – eine sanktionslose individualethische, damit auch eine verfassungsrechtliche Verpflichtung stellt sie dar. Darin darf Sozialstaatlichkeit nicht enden: Arbeit, Leistung ist nicht nur Sozialpflicht, es ist dies eine hohe, eine der höchsten individualethischen Verpflichtungen. Sie trifft gerade auch den Kapitalisten. Sein kommunistisches Zerrbild muss endlich auch aus der Eigentumsdogmatik verschwinden. Sozialstaatlichkeit fordert gerade von dem Eigentümer und im Namen des Eigentums, insbesondere von den Erben: „Was Du ererbt von Deinen Vätern hast, erwirb es, um es zu besitzen!“. Und wenn dies nicht Individualethik im Staatsrecht ist, dann gibt es eine solche nicht mehr, dann ist nirgends mehr Moral. Dies ist nicht der tiefere, es ist der Grund-Sinn aller Sozialstaatlichkeit: zu allererst ein individualethischer. d) Existenzsicherung als Individualethik Besonders deutlich tritt Individualethik als Grundlage aller Sozialstaatlichkeit dort hervor, wo diese in Verbindung mit dem Persönlichkeitsschutz des Art. 2 Abs. 1 GG und vor allem der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) als Forderung unbedingten Existenzschutzes im Staat und durch ihn erscheint. Dies ist so allgemein anerkannt212, dass es keines Beleges im Grundsätzlichen, keiner beispielhaften Verdeutlichung aus Verfassungsrecht bedarf. Diese Existenzsicherung ist eben nichts als der rechtlich positivierte Ausdruck des personensichernden Charakters der Sozialstaatlichkeit (vorsteh. b) und jenes Minimums an Bedürfnisbefriedigung (vorsteh. c)), zu dem das Individuum nicht in der Lage ist, auch nicht bei Einsatz all seiner einzelmenschlichen Möglichkeiten und Kräfte. Auch in dieser Existenzsicherung liegt also, schon von Anfang an, grundsätzlich, nicht nur „Sozialethik“, und auch nicht allein gemeinschaftsordnende „Polizey“, welche Bettler von der Straße entfernt. Hier muss ein Minimum geboten werden, aus dem der Bedürftige (wieder) voll zur Person werden, daraus erst seinen individualethischen Arbeits- und Leistungsverpflichtungen gerecht werden kann, über sie dann auch seinen sozialethischen Pflichten in der Gemeinschaft zu genügen vermag.
211
„Arbeitsanreize“ in der neuesten Sozialgesetzgebung sollen zu einer Wirksamkeitsverstärkung der Individualmoral führen, sie sind nicht etwa als ein Kaufpreis für deren Entscheidungen gedacht. 212 S. dazu Leisner, W. G., Existenzsicherung im Öffentlichen Recht, 2007, S. 310 ff.
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C. Personalismus in der grundgesetzlichen Ordnung
Auch in der Existenzsicherung ist also der große, der entscheidende Zug feststellbar in einer Gesamtethik: Sie setzt sich, in voller staatsrechtlicher Leistungsverpflichtung, zu allererst das individualethische Ziel der Persönlichkeitsaktivierung, aus ihm wächst dann die Gemeinschaft. Sozialstaatlichkeit ist auch in Existenzsicherung zu allererst Individualethik. In dieser blickt sie voll und ausschließlich nicht auf Gruppen, Schichten und Klassen, sondern im Ausgangspunkt und immer nur auf einzelne Individuen, wie es eben Individualethik zentral und wesentlich verlangt. Sozialstaatlichkeit ist nicht „Gemeinschaft über alles in der Welt“, auch nicht „Gleichheit“, weder in Deutschland noch sonst irgendwo im Recht. Hier vor allem steht „der Mensch“, der „Einzelne“, vor und über allem. e) (Christliche) Barmherzigkeit: Erst recht in Individualethik Ein Letztes sei zu diesem individualrechtlichen Grundverständnis der Sozialstaatlichkeit bemerkt: Noch immer, wenn auch laufend sich abschwächend, wirken religiös-ethische Vorstellungen in Deutschland; das Grundgesetz hat sie in seinem Staatskirchenrecht zur Sinnerfüllung seiner Begriffe allgemein rezipiert, legitimiert213. Ihr Rückgang in den Überzeugungen der Bürgerschaft nimmt jedoch immer mehr eine Wende, die religionsgeschichtlich typisch sein mag, vielleicht gar das Verschwinden einer dogmatischen Glaubensrichtung anzeigt: Von ihr bleiben dann vor allem, letztlich allein, gewisse ethische Überzeugungen – zunächst, bis auch sie nur mehr zum Vorwand, zur Beruhigung eines noch immer, eben doch, unruhigen Gewissens werden: „Gutes tun“ als praktische, höchst irdische Religion. Gläubige mögen dies anders sehen, Historiker auf Fluktuationsbewegungen des Religiösen hinweisen; es geht hier auch gar nicht um Notwendigkeit oder Unumkehrbarkeit einer solchen Entwicklung. Wenn, wo und wieweit sie aber festzustellen ist – und insoweit dürfte für die deutsche Gegenwart kein Zweifel bestehen – da wirkt sie, soweit sie (noch) nicht zum Alibi für Unglauben geworden ist, eindeutig als (Rest-) Bestand einer religiösen Überzeugung, damit aber erst recht und immer noch in und aus Individualethik. Oder wäre Samaritertum zu allererst ein sozialethisches und nicht eindeutig ein individualethisch motiviertes Verhalten? Gerade christliche Barmherzigkeit, von so Vielen heute im Namen und unter dem Schutz des Staates und mit öffentlicher Förderung geübt, oft betrieben, ist eindeutig, geradezu staats(kirchen)rechtlich begründetes Handeln in und aus Individualethik. Wird so Staatskirchenrecht nicht mehr und mehr geradezu „ein’ feste Burg“ der Individualmoral im Staatsrecht?
213
Vgl. vorsteh. A II. 1.; C. IV. I. 2.
VI. Die Grundentscheidungen der Staatsform im Grundgesetz
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3. Föderalismus und Individualethik a) Föderalismus: reines Staatsorganisationsprinzip ohne Ethikgehalt? Föderalismus erscheint, in seiner gängigen Behandlung im Staatsrecht, als ein reines Organisationsprinzip ohne wesentlichen ethischen Gehalt. Von allen Staatsformbestimmungen des Grundgesetzes ist ihm daher wohl auch die geringste Grundsätzlichkeit eigen. Dies zeigt sich schon in Art. 79 Abs. 3 GG: Sein unveränderlicher Kern wird dort, wenig überzeugend, auf die „Existenz“ von „mindestens zwei Ländern“ beschränkt214; und dabei bleibt auch noch offen, welche Kompetenzen diesen, mindestens, zukommen müssen. Allgemein sind ohnehin kaum überzeugende Gründe dafür ersichtlich, dass eine Staatsordnung, oder auch nur eine bestimmte Regierungsform, grundsätzlich oder gar unbedingt föderal verfasst sein müsste. Der Einheitsstaat, wie ihn traditionell etwa Frankreich darstellte, weithin auch Italien und Spanien, kann doch nicht als Ausdruck eines „ethischen Defizits“ erscheinen. Der Föderalismus wird im Staatsrecht allenfalls behandelt als eine „besonders freiheitsgünstige“ organisatorische Staatsgestaltung, als „Staatsform unter Betrachtung nach Opportunität“, nicht nach jener kategorischen Unbedingtheit, wie sie aber der Rechtsstaatlichkeit seit langem, neuerdings auch der Sozialstaatlichkeit und der Demokratie, in historischer Stufenmäßigkeit, zunehmend zuerkannt wird. Bundesstaatlichkeit erscheint eher als eine deutsch-angelsächsische, von Amerika aus in der Welt verbreitete, verfassungstechnisch besonders freiheitsgünstige organisatorische Staatsgestaltung. Lässt sich dennoch auch im Föderalismus wenigstens etwas entdecken wie „ethische Grundzüge“, welche über allgemeine Formen einer erweiterten Gewährung von – auch individueller – Freiheitlichkeit hinausgehen? Und wäre dann auch dies mehr als eine Unterform demokratischer Freiheitsgarantie? Ansätze zu einer „ethischen Grundlegung des Föderalismus“ finden sich allenfalls verstreut im Schrifttum. Im Folgenden wird ein Zusammenhang derselben wenigstens angedeutet. b) Föderalismus: „Staat von unten nach oben“, „Nah bei den Menschen“ Etwas wie eine „gemeinschaftsgünstige Staatsdynamik“ wird allgemein einer Bundesstaatlichkeit darin zugeschrieben, dass sich die organisierte Gemeinschaft in ihren Formen „von unten nach oben“ entfaltet215. Dies mag dann geradezu als ein 214
Als unabänderlich garantierter Föderalismus (Art. 79 Abs. 3 GG), vgl. dazu krit. Hain, K.-E., in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG 6. Aufl. 2010, Art. 79 Rn. 311 m. Nachw. 215 Ganz allgemein wird der Föderalismus als legitimierende Grundlage der Demokratie ja darin gesehen, dass sich diese hier „von unten nach oben“ aufbaue.
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C. Personalismus in der grundgesetzlichen Ordnung
Grundprinzip des Staatsaufbaus, ja der Staats-, sogar der Staatenentwicklung zu höheren Zusammenschlüssen erscheinen. So hat der Föderalismus etwa in der Bewegung zu einer Europäischen Union neue und auch durchaus grundsätzliche Impulse gewonnen216. „Von unten“ – das weist ja nicht nur hin auf kleinere, bereits staat(sähn)lich verfasste Organisationseinheiten, es bedeutet auch: Der Föderalismus kann, er wird „den Staat näher zu den Menschen bringen“, zu seinen Bürgern, auf denen er in der Volksherrschaft ja aufruhen soll (vgl. i. Folg. 4.). Es sind dies aber wesentlich die Individuen. Damit gewinnt der Föderalismus etwas wie eine nicht nur menschliche, sondern einzelmenschliche Dimension. Dass dies dann sich nicht allein ethischen, sondern insbesondere auch individualethisch verpflichtenden Gehalten öffnet, ist keineswegs eine „allzu weit hergeholte“ staatsrechtliche Folgerung. „Staat (möglichst) nah bei den Menschen“ – das bedeutet doch weit mehr als nur „mehr Freiheit“ für diese; es führt sie in die Staatlichkeit (hin)ein in ihrer vollen Humanität, also auch in ihren individualethischen Rechte- und Pflichtenlagen. Dass dies „stufenförmig“, in einer gewissen föderalen Organisationsbeliebigkeit geschehen mag, nimmt dieser staatsgrundsätzlichen Lage nichts von ihrer Bedeutung als Öffnung zu einer Individualethik. Ihre rechtliche Konsequenz, ihr jeweiliges Gewicht hat dann eben diesen Möglichkeiten Rechnung zu tragen, sich jeweils in diesen Räumen fortschreitend zu entfalten: von der Kleingemeinde bis zur Europäischen Union, vielleicht bis zu einer Völkergemeinschaft. Stets gilt: Die „jeweils kleinste Gemeinschaft“ bedeutet, mit ihrem Vorrang in der „Staatlichkeit von unten nach oben“, immer auch, ja zu allererst und wahrhaft staatsgrundsätzlich: größere Nähe zum Einzelmenschen, zu seiner Freiheit, damit aber auch zu seiner „individualethischen Rechtswelt“.
c) Staatlichkeit in Individualnähe: ethische Mehrheitsbeschränkung Das Verhältnis des Föderalismus zu seinen jeweiligen Entscheidungsträgern, den (kleineren) Körperschaften seiner Bürger, in deren Landes-, Bundes-, EU-Verbandlichkeiten, ist ein geradezu klassischer Gegenstand der staatlichen Föderalismus-Doktrin217: Derselbe Einzelmensch ist Bürger, politischer Entscheidungsträger, zugleich auf mehreren Stufen der Staatlichkeit. Er mag sich auf jeder von ihnen anders entscheiden, auch in unterschiedlicher parteipolitischer Wählertreue. Darin liegt eine bedeutsame „freiheitliche Individualisierung“ als Folge des Föderalismus; zugleich kommen hier auch unterschiedliche politische „Verbundenheiten“ des einen Menschen zum Ausdruck. 216
Zum EU-Recht im Zusammenhang mit dem Föderalismus s. Sommermann, K.-P., in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG 6. Aufl. 2010, Art. 20 Rn. 58. 217 Derselbe Einzelmensch ist eben Bürger mehrerer gestufter Gemeinschaften, im „mehrstufigen“, „zweigliedrigen“, aber eben auch im vertikal gestuften Föderalismus.
VI. Die Grundentscheidungen der Staatsform im Grundgesetz
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Noch bedeutsamer ist aber eine damit zusammenhängende Konsequenz aus dieser staatsrechtlichen Lage: Das demokratische Mehrheitsprinzip wird hier flexibilisiert, damit zugleich beschränkt, und dies ist dann die Folge individualethischer Rechtswirkungen, aus der Einzelpersönlichkeit in die Staatsordnung hinein. Dem Einzelnen werden damit vielfältige Entscheidungsmöglichkeiten und Entscheidungsräume eröffnet, in jeweiligen individualethisch bestimmten Optionen; aus einem „Mehrheitsabstimmungswesen“, nach einer durchgehend festen Majoritätsschablone, wird er zur Persönlichkeit, „jeweils“, auf jeder Stufe, immer wieder zur individual-ethischen politischen Entscheidung (auf-, heraus-) gefordert, als solche dann in Gemeinschaftsträgerschaften tätig. Hier zeigt sich, dass die demokratische Fundamentalregel der Mehrheitsentscheidung im Föderalismus ihre Grenzen findet: In dessen gestuften Entscheidungsgremien bildet sich die Majorität immer neu aus den Individuen; diese entscheiden dann jeweils, auf jeder Stufe, aus unterschiedlicheigenständigen Situationen, Interessenlagen heraus. Dabei werden sie auch beeinflusst durch unterschiedliche individualethische Motive. Diese können auf Gemeindeebene ganz andere sein als auf dem Niveau der Länder oder einer übergeordneten Einheit wie der Europäischen Union. Jede einzelne Mehrheit bildet sich ja grundsätzlich anders, eigenständig, immer auch, ja vor allem nach den jeweils auf ihren staatlichen Stufen wirkenden individualethischen Überzeugungen der Menschen. In Individualethik greift also der Föderalismus jeweils durch auf die entscheidenden Personen. Hinter allen Mehrheitsentscheidungen bleibt so immer der Einzelmensch gegenwärtig und sichtbar, in seinen jeweils unterschiedlichen Überzeugungen. Allenthalben geht es letztlich stets um Mehrheiten als gebündelte Einzelwillen, nicht um einen „Gemeinschaftswillen der Mehrheit“, der hier als solcher zum Ausdruck käme. Der Föderalismus flexibilisiert, öffnet das Mehrheitsprinzip in menschlichem und staatsrechtlichem Individualismus. d) Föderalismus als Feld der individuellen Vertragsethik Föderalismus „kollektiviert“ das ursprünglich wesentlich individualrechtliche Vertragsprinzip, in dem sich zwei individuelle Persönlichkeiten binden. Im Bundesstaat begegnen sich nun Gemeinschaften vertraglich. Damit wird aber diese Bindung, die Vereinbarung, nicht zu einem aliud gegenüber dem Individualvertrag. Es erhält sich in ihr die wesentlich individualethische Bindung zwischen zwei Individuen, sie wird übertragen auf Gemeinschaftsebene; auf ihr wächst dann der Staat von unten nach oben (vgl. vorsteh. b)). Individualethik durchwirkt so den gesamten Staatsaufbau in einer eigentümlichen Weise, eben in der Individualethik der Vertraglichkeit. Im Föderalismus öffnet sich, über diese Vertraglichkeit, die Staatsorganisation der Ethik in einer eigenartigen Weise: Mit ihrer gesamten „Vertragsmoral“ erreicht diese den „Körperschaftsbereich“, eben die „Personen des Öffentlichen Rechts“. Nicht nur in ihren Gemeinschaften, sondern auch zwischen ihnen begegnet etwas „Personenrechtliches“ zu wirken: eben diese Vertragsethik. Sie entwickelt innerhalb der
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einzelnen Körperschaften ein Zusammengehörigkeitsgefühl: Vertraglich bereits individualisierte Sozialethik entfaltet sich in immer neuen Räumen öffentlicher Körperschaften. Zugleich dringt Individualethik über den Föderalismus vor in die Organisationsstruktur der Staatlichkeit. e) Bundestreue und Individualethik Eine auch dogmatisch fassbare rechtliche Erscheinung dieser letzten ethischen Wirksamkeit, und zwar gerade aus Individualethik, ist die Bundestreue218. In ihr wird, auch in der Staatsorganisation, ja im Staatsaufbau, eine Verbundenheit verdeutlicht, wie sie zwischen natürlichen Personen im Zivilrecht gilt, als „Treu und Glaube“ (§ 242 BGB)219, in einer deutlich individualethisch begründeten Wirksamkeit. Ohne eine – letzte – Sinnerfüllung aus einzelmenschlich-moralischen Vorstellungen lässt sich der Begriff der Bundestreue nicht fassbar bestimmen; denn es ist eben letztlich die ethisch begründete Vertragsbindung des pacta sunt servanda, die auch hier wirkt, im organisatorischen Zentrum der Staatlichkeit. Und in der Bundesstaatlichkeit erscheint diese „Treue“ in einer ganz besonderen „nahen Verbundenheit“: Sie bindet geradezu „staatliche Körperschaften aneinander“, so dass diese, wie es christlicher Ehevorstellung entsprechen mag, im Bundesstaat „zu einem Fleisch werden“. So wirken hier individualethische Vorstellungen bis hinein in innerste Staatlichkeit. f) Der Föderalismus als „Führungsschule der Demokratie“ Die politische Kraft des Föderalismus entbindet sich in den demokratischen Staat hinein auch, ja vor allem noch auf einer durchaus „einzelmenschlichen Ebene“: „Entfaltung der Staatlichkeit von unten nach oben“ (vgl. vorsteh. b)) wirkt vor allem über die Führungskader, die Leitungseliten der Volksherrschaft. Letztlich vollzieht sich dies über Einzelmenschen, die, gerade in politicis, in ihrer ganzen Persönlichkeit Entscheidungskräfte dem Staat vermitteln, auf allen Ebenen. Das alles erfolgt in aller Regel gerade in einem gestuften Entwicklungsprozess: zu allererst in den beschränkten Räumen der gemeindlichen Ortsverbände der Parteien, damit eben „unten“, werden neue Personalkräfte tätig, machen auf sich aufmerksam. Von dort aus steigen sie auf bis in die Spitzen der bundesstaatlichen Pyramide, von dort in die der überstaatlichen Körperschaften. Auf allen diesen, oft sehr langen, Wegen tragen sie aber eine geistige Kraft mit sich, nicht selten auch eine moralische Bürde: ihre individualethische Persönlichkeit in all deren Bindungen, aber auch motivierenden Gehalten, in ihrer ganzen Ordnungs-Kraft. Aus diesen Einzelpersönlichkeiten 218 Vgl. zur Bundestreue m. Nachw. Sommermann, K.-P., in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG 6. Aufl. 2010, Art. 20 Rn. 37. 219 Der Begriff der „Treue“ kann jedenfalls in seinem Gehalt „rechtlich sanktionierter Verbundenheit“, „gegenseitiger Rücksichtnahme“, von „Hilfsverpflichtungen“ nicht anders verfassungsrechtlich verstanden werden als in § 242 BGB.
VII. Demokratie
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„wird“ letztlich die Staatlichkeit in ihrer jeweiligen Gestalt. Dies geschieht nicht in einem martialischen „Männer machen Geschichte“, sondern in einer stillen, kaum bemerkbaren Entwicklung, in der die Führenden ihre höchst individuelle Ethik in den Staat tragen, diesen mit ihr prägen. In totaler Führung220 ist dies leidvoll erlebt worden, in der Unmoral brutaler Gewalt, die sich von aller Ethik entfernt. In umgekehrter Richtung bewährt sich, in wahrer Führung, eine „Individualmoralisierung der Staatlichkeit“ in den Formen des Föderalismus, meist unbemerkt. In der Demokratie begegnet dies über zahllose Kanäle, in den Persönlichkeiten aller die Staatlichkeit prägenden Politiker. Staatsrechtlich ist es – leider – nur in der verkümmerten Form einer Beispielhaftigkeit erfasst worden, welche das Staatsoberhaupt ausstrahlen soll221 – woraus denn, wenn nicht aus seiner individualethisch verfassten Persönlichkeit? So wirkt denn in Föderalismus Individualethik auf vielen und heterogenen Wegen in den Staat hinein, lässt auch diesen darin zur „individualethisch erfassten Person“ werden, in diesem Sinn, gerade in der Demokratie – zum Übermenschen in einem sehr menschlichen Sinn. Dies ist bisher noch kaum erkannt, jedenfalls nicht systematisch erfasst worden: eine staatsrechtlich-dogmatische Aufgabe für Vertreter des Föderalismus!
VII. Demokratie Der Vierte der übergreifenden Staatsgrundsätze der grundgesetzlichen Ordnung, die „Demokratie“222 (Art. 20 Abs. 1, 28 Abs. 1 GG, 79 Abs. 3 GG), ist in ihrer speziellen Nähe zur Moral als Staatsgrundlage, insbesondere zur Individualethik, bereits unter verschiedenen Blickpunkten behandelt worden223. Gerade hier tritt diese „Verfassungs-Form“ des „Bekenntnisses“, also eben eine Normierung aus ethischer Überzeugung, mit besonderer und auch politischer Intensität in Erscheinung. Um dies nochmals zusammenzufassen: - „Die Demokratie als solche“ ist gegründet auf dem Willen der einzelnen Menschen, nicht auf einem Mehrheitswillen; dieser ist als solcher nur eine demokratische Handlungsform, übrigens in verschiedenen Stufen dieser Majorität 220 S. dazu Leisner, W., „Der Führer“. Staatsrettung oder Staatsdämmerung?, 2. Aufl. in ders., Demokratie, FN 91, S. 387 ff. 221 In diesem Sinne sollte eigentlich der Bundespräsident als „Demokratische Führungsgestalt“ in beispielhaftem Verhalten wirken, was aber im Grundgesetz, in seiner traditionellen Regelung der Befugnisse des Staatspräsidenten, keinen Ausdruck gefunden hat. 222 Vgl. dazu Böckenförde, E.-W., Demokratie als Verfassungsprinzip, HbStR3, Bd. 3, § 24, S. 429 ff. 223 Vgl. oben B. III.: Freiheitlicher Staat: Individual- als Staatswille, IV.: Individualwille als demokratischer Staatswille; V: „Staatswille“ in der Demokratie (nur) als Menschenwille; C. III. 2.: Das „angeordnete Gewissen“.
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C. Personalismus in der grundgesetzlichen Ordnung
(qualifizierte Mehrheiten, in verschiedenen Staatsorganen). Entscheidungen aus Individualethik sind deren Basis und Legitimation in allen prinzipiellen Fragen. - Wahlen bilden in der Demokratie den Staats-Willen. Es sind dies aber Willensentscheidungen vieler einzelner Wahlbürger. Da ihr Gegenstand zahlreiche, wenn nicht alle ihre wichtigen Interessen(lagen) betrifft, handelt es sich für jeden Einzelnen bei seiner Wahlentscheidung um einen weitgehend (auch) ethisch motivierten Akt. Er betrifft zwar, sogar weithin, Beziehungen des Einzelnen in der demokratischen Gemeinschaft. Insoweit haben diese Wahlentscheidungen „sozialethischen Charakter“; dennoch erwachsen sie, auch als solche, aus Individualethik224, nicht aus einer, wie immer definierten, „Staatsethik als demokratischer Kollektivmoral“. - Die durch solche Wahlen bestimmten Repräsentanten, Abgeordneten als Vertreter der Wähler, haben sodann auch ihrerseits nicht etwa zu entscheiden in etwas wie einer solchen „Staatsethik als Kollektivethik“225. Gerade sie sind ja auch „ihrem Gewissen unterworfen“226. Auch insoweit bleibt also Individualethik Ursprung und Basis demokratischer Willensbildung. - Sämtliche Ausprägungen politischer Mitbestimmung lassen sich ebenfalls grundsätzlich zurückführen auf die demokratische Staatsorganisation, welche von diesem einzelmenschlichen Willen getragen ist227. - Soweit Demokratie, praktisch weitgehend, in Formen einer „Parteiendemokratie“ in Erscheinung tritt, ist auch die politische Partei als Organ der Mitwirkung bei der Willensbildung des Volkes228 in all ihren Akten rückverbunden zu menschlicher Individualethik: in der notwendigen „inneren Demokratizität“ dieser Zusammenschlüsse, welche insbesondere über Wahlen gewährleistet werden muss (Art. 21 Abs. 1 S. 3 GG)229. Damit ist die individualrechtliche Basis der „Demokratie“ als solche auch insoweit hier ausdrücklich gesichert. – Die Demokratische Ordnung des Grundgesetzes beruht in all ihren grundsätzlichen normativen Wesenszügen letztlich (auch) maßgeblich, im wahren Wortsinn, auf Individualethik. Sie mag dann in „rechtstechnischen“ Gestaltungen als Verfassungs- und Gesetzesordnung weiter und näher konkretisiert werden. Ihr individualistischer Grundcharakter bleibt aber stets erhalten. Er findet deutliche
224
Vgl. oben C. I. 3. Eine solche widerspräche letztlich der Parteienstaatlichkeit (Art. 21 GG). Auch im Verfassungswidrigkeitsurteil über eine Partei darf nicht staatliches Sittenrichtertum zum Ausdruck kommen (vgl. B. II. 4.; C. II. 2.). 226 Vgl. oben C. III. 2. 227 S. oben B. V. 2. 228 Vgl. BVerfGE 85, 264 (284); 91, 222 (268 f); 111, 382 (409). 229 Vgl. dazu Streinz, R., in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG 6. Aufl. 2010, Art. 21, Rn. 150 ff. 225
VII. Demokratie
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normative Anknüpfungen an eine Reihe von – weit mehr als „rechtstechnischen“ – Einzelregelungen.
D. Verfassungsrechtliche Bestimmungen mit individualethischem Entscheidungsgehalt Im Folgenden werden die freiheitsrechtlichen Einzelbestimmungen des Grundgesetzes daraufhin untersucht, inwieweit sie inhaltlich auf individualethische Entscheidung(smöglichkeit)en von Menschen, Bürgern oder Staatsorganen als Vertreter der „Person Staat“ hinweisen. Soweit sie ausdrücklich in Zusammenhang stehen mit dem „Gewissen“ in grundgesetzlichen Regelungen, wird auf das dazu bereits Ausgeführte230 verwiesen. Im Rahmen dieser Untersuchung können hier nur einzelne, besonders bedeutsame Beispiele angesprochen, es kann insbesondere keine systematische Behandlung aller individualethischen Gehalte der freiheitsrechtlichen Grundgesetzbestimmungen geboten werden. Auch insoweit muss sich das Folgende weithin auf allgemeinere Fragestellungen beschränken. Die zahlreichen zu diesen bereits aufgetretenen Einzelprobleme sind jeweils besonderen Untersuchungen vorzubehalten; diese sollten sich allerdings an den vorstehend A. bis C. gewonnenen allgemeinen normativen Ergebnissen orientieren. Die nachfolgenden Bemerkungen stellen also etwas dar wie ein Programm der Vertiefung des individualethischen Personalismus im geltenden Verfassungsrecht.
I. Menschenwürde (Art. 1 GG) 1. Begriff der „Würde“ Unabhängig von der Frage, ob die Menschenwürdegarantie (auch) einen grundrechtlichen Schutzbereich sichert, „als ein Grundrecht“231, oder ein übergreifendes, allgemeines staatliches Schutzpflichtprinzip darstellt – „Menschenwürde“ bezeichnet als solche den höchstrangigen Verfassungswert. Inhaltlich steht er bereits in seinem begrifflichen Gehalt in wesentlichen Beziehungen zum individualethischen innersten Entscheidungsbereich (je)des Menschen: „Würde“ ist nicht etwas, als Qualität mit Wertgehalt, was einer Sache eigen sein kann. Sie kommt auch nicht jedem Lebewesen an sich schon zu. Von einer „Würde des Tieres“ kann verfassungsrechtlich nicht als solcher, sondern nur im Zusam230
S. C. III. Zum Streitstand vgl. Starck, Chr., in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG 6. Aufl. 2010, Art. 1, Rn. 28 ff. 231
I. Menschenwürde
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menhang mit der Verantwortung des Menschen für seine Umwelt die Rede sein232. Von „Würde des Staates“ aber konnte im Staatsrecht gesprochen werden233. Der Begriff hat, noch im gegenwärtigen Verständnis, seinen Ursprung zwar deutlich im (vergangenen) Monarchismus und Aristokratismus. Er bezeichnet aber heute noch immer eine gewisse Persönlichkeitsausstrahlung als Grundlage achtungbietender Mächtigkeit. Ohne einen „eigenen Entscheidungs-Kernbereich“ des Würdenträgers ist sie nicht vorstellbar. Sie setzt daher Individualethik als einen solchen voraus.
2. „Würde(n)-Träger“ Träger der Menschenwürde ist das Lebewesen Mensch234. Ob es von einem individuellen moralischen Entscheidungsrecht bereits oder nicht (mehr) tatsächlich Gebrauch machen kann, ist allerdings gleichgültig (Embryo, Geisteskranker). Menschenwürde setzt auch nicht voraus, dass ihr Träger diese selbst, insbesondere durch individuelle Leistungsfähigkeit, hergestellt hat oder herstellen kann235. Dazu ist dann in einem solchen Fall, die Gemeinschaft verpflichtet236, zur Gewährleistung eines „menschenwürdigen Daseins“237: Dieses ist (nur) dann garantiert, wenn individualethische Entscheidungen in Freiheit dem Einzelmenschen möglich sind. Die gesamte Sozialhilfe ist also zielbestimmt durch Individualethik; nur insoweit ist „Staatshilfe“ Ausdruck einer „Staatsethik“ nach Art. 1 Grundgesetz. Diese erwächst aber eindeutig aus einem Sicherungsziel von Individualethik, hat eine solche zur Grundlage. Sämtliche Handlungspflichten des Staates zum Schutz der Menschenwürde238 finden hier ihre – rechtliche – Grundlage.
232
Vgl. Starck (FN 231), Rn. 26 m. Nachw.; BVerfG K. NJW 2001, 3091. Partsch, K.-J., Die Würde des Staates, 1967. 234 Weder ist hier an einen „idealen Menschen“ gedacht (vgl. BVerfGE 87, 209 (228), noch an eine „Würde der Menschheit“ als eines Kollektivs. 235 Dazu Starck (FN 231), Rn. 18 ff. Beim Embryo handelt es sich um eine „ausstrahlende Vorwirkung“, beim Toten um eine Nachwirkung, die übrigens auch in der rechtlich fortwirkenden Bedeutung seines Willens im Erbrecht (Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG) zum Ausdruck kommt. 236 Durch Gewährleistung des Existenzminimums, vgl. f. viele Leisner, W., Existenzschutz im Öffentlichen Recht, 2007, S. 98 ff. 237 BVerfGE 123, 267 (363). 238 Dazu Starck (FN 231), Rn. 43. 233
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D. Bestimmungen mit individualethischem Entscheidungsgehalt
II. Persönlichkeitsschutz – Privatheit (Art. 2 Abs. 1 GG) 1. Entfaltung der Persönlichkeit Das Grundgesetz geht aus von einem „Recht zur Entfaltung der Persönlichkeit“. Einer solchen ist von vorne herein, begrifflich, nur die (jeweilige) Einzelpersönlichkeit fähig. Eine „Kollektivpersönlichkeit“ kann es, jedenfalls nach allgemeinem Sprachgebrauch, schon begrifflich gar nicht geben. Juristisch muss dann von einer „Person“ gesprochen werden; einen Topos „juristische Persönlichkeit“ hat es jedenfalls zur Erlasszeit des Grundgesetzes nicht gegeben. Von einer „kollektiven Grundrechtsträgerschaft“ mag die Rede sein239; sie wird ja auch in Art. 9 GG ausdrücklich angesprochen. Aus dem Begriff „Jeder“, eingangs des Art. 2 Abs. 1 und 2 GG, lässt sich aber etwas wie eine „allgemeine Kollektivpersönlichkeit“ nicht ableiten. „Jeder“ bezeichnet, jedenfalls wörtlich an dieser Textstelle des Grundgesetzes, nicht etwa (auch) einen Verein, eine Gesellschaft; dies ergibt sich aus den Regelungsgegenständen des Art. 2 Abs. 2 GG: Vereine haben weder „Leben“ oder „körperliche Unversehrtheit“, noch eine „Freiheit“. Dass dasselbe Wort in Abs. 1 und 2 ein und derselben Bestimmung unterschiedliche Trägerkreise ansprechen solle, widerspricht doch wohl allgemeinen Auslegungsgrundsätzen240. Aus einem Schutz der „Allgemeinen Handlungsfreiheit“ in Art. 2 GG lässt sich dies ebenfalls sprachlich nicht ableiten241. Dies wäre ein Zirkelschluss; denn gerade jene bedarf ja der Begründung. Vielmehr hat eine insoweit h. L. sich hier lediglich der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts angeschlossen (vgl. i. Folg. 2.). Dieses hat, gegen den ursprünglichen textlichen Sinn des Art. 2 GG, eine wesentliche Erweiterung des Begriffs „Jeder“ vollzogen. Selbst wenn man diese nunmehr, nach so langer Zeit, hinzunehmen hat, so gilt dennoch: Eine Textanalyse des Art. 2 GG ergibt jedenfalls, es sollte hier von vorne herein eine („die“) „menschliche Persönlichkeit“ geschützt werden, allgemein in ihrer Entfaltung (Abs. 1), speziell auch gegen alles, was ihre Eigenständigkeit – deren Individualität – aufheben oder auch nur beeinträchtigen kann (Abs. 2). Damit bekräftigt Art. 2 GG jedenfalls den zumindest ursprünglich im Mittelpunkt stehenden „Individualgehalt“ der Grundrechte, mit ihm den „ethischen Selbststand des Einzelmenschen“ als zentralen Schutzgegenstand der Verfassung.
239 240 241
So Starck, Chr., in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG 6. Aufl. 2010, Art. 2, Rn. 47. A. A. Starck a.a.O., ohne nähere Begründung, übrigens abweichend von der h. L. Starck (FN 239).
II. Persönlichkeitsschutz – Privatheit
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2. „Allgemeine Handlungsfreiheit“ als Regelungsgegenstand des Art. 2 GG Diese textlich eindeutige Verankerung eines Individualismus in Art. 2 GG war zunächst auch in der sog. „Personenkerntheorie“242 angenommen worden, wurde jedoch bald auch von der Lehre erweitert, nachdem das Bundesverfassungsgericht sich dafür entschieden hatte, in Art. 2 Abs. 1 GG eine grundrechtliche Garantie der Allgemeinen Handlungsfreiheit zu sehen. Die Bestimmung wurde daher auch auf juristische Personen angewendet243. Grund dafür waren grundrechtssystematische Überlegungen244 : Es sollte so eine übergreifende „grundrechtliche Reservenorm“ anerkannt werden, um auf dieser Grundlage ein geschlossenes „grundrechtliches Anspruchssystem des Grundgesetzes“ zu errichten. Die „Banalität“ eines herausgehobenen Grundrechtsschutzes für ein Recht, „alles zu tun, was nicht verboten ist“, sollte in der „getragenen“ Formulierung des Persönlichkeitsentfaltungsschutzes ihren Ausdruck gefunden haben. Damit ist aber – was nach kurzer Zeit gar nicht mehr thematisiert worden ist – einfach „weginterpretiert“ worden, was aber doch der im Text eindeutig zum Ausdruck gekommene Wille der Verfassunggeber von 1949 war: der besondere Schutz der menschlichen, der individuellen Persönlichkeit. Diese Entwicklung, die sich in der Folgezeit weithin gedankenlos fortgesetzt hat, lässt sich nicht rückgängig machen im Staatsrecht. Sie schließt aber nicht aus, dass der ursprüngliche Sinn der Bestimmung, der besondere Schutz der menschlichen Individualität, vor allem über die Wesensgehaltsicherung, für jedes Grundrecht spezifisch zu bestimmen245, in besonderer Weise zu achten ist. Durch Art. 2 Abs. 1 GG wird damit ein unantastbarer Kernbereich privater Lebensgestaltung gesichert, als „Kern des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts“246. Dass damit vor allem, wenn nicht ausschließlich, der Raum individualethischer Entscheidungsfreiheit gemeint ist, liegt nahe, wenn nicht auf der Hand.
3. Allgemeines Persönlichkeitsrecht Das Allgemeine Persönlichkeitsrecht ist vom Bundesverfassungsgericht schon früh247 aus Art. 2 Abs. 1 GG abgeleitet und in einer reichen Einzelfalljudikatur, in Anlehnung an die Rechtsprechung des Bundesgerichtshof, als besondere Rechtsfigur entwickelt worden248. Sein Gegenstand ist eine Privatsphäre des Menschen, deren 242 243 244 245 246 247 248
Vgl. FN 240. F. viele BVerfGE 23, 12 (36); 113, 1 (45). Vgl. insb. Dürig, G., in: Maunz/Dürig, Art. 2 Erstbearb., Rn. 26 ff. BVerfGE 117, 71 (96). BVerfG i. st. Rspr. vgl. etwa E 6, 32 (41); 80, 367 (373); 108, 27 (313). BVerfGE 16, 194(201 f.); ausdrücklich in 27, 211 (218 f.). Näher dazu m. Nachw. Starck (FN 239), Rn. 86 ff.
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D. Bestimmungen mit individualethischem Entscheidungsgehalt
Kern wiederum dessen Intimsphäre249. Bei dieser wird ferner ein absolut geschützter, unantastbarer Bereich privater Lebensgestaltung250 von einem nur verhältnismäßig gesicherten unterschieden, bei welchem eine Abwägung gegenüber den Belangen der Allgemeinheit stattfinden darf/muss251. Diese mehrschichtige Stufenfolge von Wertigkeiten und der entsprechenden Schutzintensitäten für menschliche Verhaltensbereiche ist die Folge der vorstehend (2.) beschriebenen Erweiterung des Schutzbereiches des Art. 2 Abs. 1 GG zur Sicherung einer Allgemeinen Handlungsfreiheit. Gerade die Verfassungsrechtsprechung zum Allgemeinen Persönlichkeitsrecht bestätigt jedoch das bereits vorstehend gefundene Ergebnis: Trotz dieser – nicht unproblematischen – Erweiterungsentwicklung des Art. 2 Abs. 1 GG ist auch gegenwärtig noch immer rechtsdogmatisch eindeutig in Art. 2 Abs. 1 GG die Verfassungsrechtsfigur des „absolut geschützten Kernbereichs“ erkennbar, damit dieser als solcher „absolut“, als besonders schutzwürdig/bedürftig: Es ist dies jener „Innenraum“, in dem der Mensch mit seinem Verhalten, vor allem in seinen Entscheidungen, „sich selbst besitzt“, in „Einsamkeit“252. Besser lässt sich der Raum der Individualethik nicht beschreiben: Er wird speziell als solcher durch Art. 2 Abs. 1 GG als Höchstwert anerkannt und geschützt.
III. Gleichheit (Art. 3 GG) 1. Kein allgemeines Gleichheitsgebot nach Verfassungsrecht a) Ein individualethisches Gebot, jeden Menschen, alle Sachverhalte gleich zu behandeln, wäre absurd und unvollziehbar; es würde dies auch dem verfassungsrechtlichen Verbot widersprechen, über wesentlich Ungleiches inhaltlich gleiche Entscheidungen zu fällen253 – darin läge bereits ein widersprüchliches Verständnis der Gleichheit: Sie setzt eben den Gegenbegriff der Ungleichheit voraus. Hier spricht die Verfassung einen prinzipiell-allgemeinen Raum einer moralisch begründeten generellen Gleichbehandlung an. b) Alle seine Beziehungen zu sämtlichen anderen Individuen oder gar Rechtsträgern muss der Einzelne auch nicht aus rechtlich-bindenden Gründen „gleich regeln“, er muss sie also nicht „alle gleich behandeln“. Abgesehen davon, dass dies in der Abwegigkeit eines Zwangs zur Gleichbehandlung ungleicher Sachverhalte (vgl. 249 250 251 252 253
Vgl. f. Viele BVerfGE 120, 224 (238 f.). BVerfGE 120, 224 (339). So etwa BVerfGE 80, 367 (374); 96, 55 (61). BVerfGE 27, 1 (6). Vgl. f. viele BVerfGE 116, 164 (180).
III. Gleichheit
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vorsteh. a)) enden würde – ein derartiges Gleichheitsgebot ohne jede Differenzierungsmöglichkeit verstieße sogar gegen Art. 3 Abs. 2 und 3 GG, welche lediglich Unterscheidungen aus bestimmten Gründen, nach Einzelqualitäten gewisser Rechtsträger verbieten. c) Diese Differenzierungsverbote sind auch nach Verfassungsrecht nicht etwa grundsätzlich einer extensiven Auslegung bedürftig oder auch nur zugänglich, weder hinsichtlich des Umfangs der Differenzierungswirkungen254, noch nach der Person des jeweils „anderen“255. Allgemein lässt sich also dem Verfassungsrecht nichts entnehmen, was Anknüpfungspunkte für ein individualethisches Gleichheitsgebot mit rechtlicher Wirkung, über die verfassungsrechtliche Regelung hinaus, bieten könnte, etwa im Sinne undifferenzierter Gleichbehandlung. Die „Egalität als solche“, in ihrer allgemeinen Grundsätzlichkeit, ist also individualethischer Konkretisierung nicht bedürftig.
2. Individualethische Differenzierungsgründe innerhalb des verfassungsrechtlichen Gleichbehandlungsrahmens Damit ist jedoch noch nicht die Frage beantwortet, ob Art. 3 GG dem Einzelmenschen nicht (nach vorsteh. 1.) Verhaltensräume offen hält, innerhalb deren er Entscheidungen aus individualethischen Gründen treffen darf oder gar muss, als Folge einer ihm durch sie auferlegten Bindung. Der Einzelne muss hier zwar alle seine individualmoralischen Entscheidungen aus einem verfassungsrechtlichen Differenzierungsgrund rechtfertigen, für dessen Anerkennung dem Gesetzgeber (eine weite) Entscheidungsfreiheit zusteht256. Das Individuum muss in diesem Rahmen aber, nach seinen ethischen Überzeugungen handelnd, weder die zweckmäßigste noch die gerechteste Entscheidung treffen257; eine letztere gibt seiner individualethischen Entscheidung das Verfassungsrecht nicht vor. Umgekehrt wird durch Art. 3 GG von ihm innerhalb des Verfassungsrahmens der Gleichheit keine individualethische Entscheidung verlangt258. Ob und inwieweit spezielle Gleichheitsgebote vom Einzelnen aus individualethischen, etwa religiösen oder Gewissensgründen, für sich selbst noch als weiter konkretisiert, insbesondere verschärft empfunden werden, etwa in der Annahme einer Hilfsverpflichtung – das ist eine von 254
Der nicht etwa von einer „rechtlichen Benachteiligung“ auf eine „Interessenbeeinträchtigung“ ausgedehnt werden darf: Ein rechtlicher „Nachteil“ muss jedenfalls vorliegen (BVerfGE 67, 239 (244)). 255 So beinhaltet etwa keines der Kriterien des Art. 3 Abs. 3 GG eine Differenzierungsregelung nach Ausländereigenschaft (vgl. etwa BVerfGE 90, 27 (37)). „Herkunft“ bezieht sich allein auf „ständisch-soziale Abstammung und Verwurzelung“ (BVerfGE 48, 281 (287 ff.). 256 S. etwa BVerfGE 103, 242 (258 f.). 257 BVerfGE 84, 348 (359); 22, 151 (174). 258 Soweit nicht speziellere verfassungsrechtliche Konkretisierungen in Betracht kommen, etwa das Sozialstaatsgebot (vgl. vorsteh. D. II.).
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D. Bestimmungen mit individualethischem Entscheidungsgehalt
ihm allein zu entscheidende Frage. In solcher Überzeugung ist er gewissensmäßig auch verfassungsrechtlich geschützt. Das Individuum kann sich darauf gegenüber dem Staat in seinem Verhalten berufen, soweit dieser letztere seine individualethische Gewissensentscheidung, insbesondere seine religiöse Überzeugung zu achten hat259.
3. Achtung der gleichen Individualität(süberzeugung) Anderer Eines allerdings verlangt Art. 3 GG bindend von einer individualethischen Entscheidung im Rahmen der grundgesetzlichen Ordnung (vorsteh. 2.): Es darf durch sie nicht gerade diese selbe Überzeugung, das individualethisch konkretisierbare Verhaltensrecht anderer Einzelner verletzt werden. Dies ist bereits der Sinn des Art. 2 Abs. 1 GG; denn diese individualethischen Überzeugungen anderer haben die einzelnen Menschen ebenso zu achten wie der Staat, der sich aus ihnen aufbaut260. Die vom „antifeministischen“ Erblasser übergangene Erbin kann allerdings nicht verlangen, dass das Testament von der Staatsgewalt korrigiert wird. Der Erblasser ist hier nicht einmal individualethisch begründungspflichtig; er kann sogar ohne jeden Grund, aus freiem Belieben, in diesem Sinne sogar willkürlich handeln261. Die NichtBedachte mag zwar ethisch von ihrem Recht überzeugt sein; sie wird in dieser ihrer Überzeugung aber nicht verletzt, da ihr rechtlich keinerlei Verhalten rechtlich obliegt. (Politisch) demonstrieren darf sie dafür, dass das Erbrecht geändert werde. Erfolgt dies, so ist verfassungsgerichtlich zu klären, ob dadurch nicht individualethische Freiheitsüberzeugungen anderer verletzt werden.
IV. Glaubens-, Weltanschauungs-, Gewissensund Religionsfreiheit 1. Schutz des individualethischen forum internum In Art. 4 GG eröffnet die Verfassung individualethischem Verhalten des Einzelnen nicht nur einen weiten Raum der Entscheidung, sie verweist geradezu auf diese, wenn sie aus gewissensmäßig begründeter Überzeugung heraus getroffen wird262. Die tatsächliche Bedeutung der Bestimmung mag sich abschwächen im Rückgang religiös-ethischer Ordnungsvorstellungen263. Noch immer öffnet aber das 259
Zu ersterer vorsteh. C. III., zu letzterer i. Folg. IV. Vgl. vorsteh. B. III. 261 Dazu m. Nachw. Depenheuer, O., in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG 6. Aufl. 2010, Art. 14 Rn. 516. 262 Vgl. dazu bereits C. III. 1. und 3. 263 S. C. IV. 2. 260
IV. Glaubens-, Weltanschauungs-, Gewissens- und Religionsfreiheit
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Grundgesetz ausdrücklich einen weiten Überzeugungsraum in Art. 4 GG: Geschützt wird hier ausdrücklich jene „Gewissensfreiheit“, von der bereits die Rede war264, überdies eine Glaubensfreiheit, die mit dem Inhalt der Gewissensfreiheit nicht übereinstimmen muss, über diese noch erheblich hinausgehen kann, insbesondere als Weltanschauungsfreiheit. Als Grundlage haben alle diese Ausprägungen der Freiheit eine innere (Entscheidungs-)Freiheit, die auf dem forum internum des Einzelnen geschützt wird. Dies ist aber nichts anderes als der Bereich des individualethischen Verhaltens, welches insoweit durch Art. 4 GG in verfassungsrechtliche Bindungen transformiert wird: Individualethik als bindendes Verfassungsrecht. Es müssen deren Inhalte weder notwendig sittlichen Grundanschauungen entsprechen oder sich auf deren Boden entwickelt haben265, noch müssen sie den Überzeugungen einer Religionsgemeinschaft entsprechen266, oder von faktischer Bedeutung in der Gemeinschaft sein267. Geschützt wird – einfach – jede individualethisch fundierte Entscheidung, auch eine solche negativen Inhalts; sie hat als solche normativen Verfassungsrang – Verfassungswertigkeit.
2. Individualethischer Öffentlichkeitsanspruch Ausdrücklich anerkennt das Grundgesetz auch die Freiheit des Bekennens und des Verbreitens dieser Überzeugungen, also ein Verhalten, das über Wirkungen im forum internum hinausgeht, auf dem forum externum wirkt. Deutlich zeigt sich dies darin, dass auch Tätigkeiten kirchlicher Einrichtungen diesen Grundrechtsschutz genießen268. Ganz allgemein kommt es zum Ausdruck in der Achtung des „Öffentlichkeitsauftrags der Kirchen“269. Rechte, die sich daraus für die Kirchen ergeben, kann auch der Einzelne für sich in Anspruch nehmen. Es gibt also einen „verfassungsrechtlichen Öffentlichkeitsanspruch aus Individualethik“.
3. Gleichheitsschranke individualethischen Verhaltens: Toleranz Diese soweit ausdrücklich im Grundgesetz geschützte individualethisch begründete Verhaltensfreiheit findet ihre Grenzen im Schutz von (mindestens) gleichwertigen Verfassungswerten, insbesondere den gleichen Rechten anderer im
264 265 266 267 268 269
Vgl. vorsteh. C. III. BVerfGE 41, 29 (50). BVerfGE 24, 236 (246). BVerfGE 32, 98 (106). Vgl. zum Beispiel BVerfGE 70, 138 (160 f.). Klostermann, G., Der Öffentlichkeitsauftrag der Kirche, 2000.
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D. Bestimmungen mit individualethischem Entscheidungsgehalt
Gebot der Toleranz270. Der Bezug des Verhaltens zum forum internum des Einzelnen muss deutlich sein. Primär wirtschaftliche Zwecksetzungen dürfen nicht als solche die Entscheidungen motivieren271. Individualethische Überzeugungen über eine Verpflichtung zur „menschlichen“ Hilfe für Andere genießen jedoch vollen Verfassungsschutz. In Art. 4 GG ist also der „Gewissensschutz“ über die Glaubens-, Religions- und Weltanschauungsfreiheit, i. V. m. Art. 140 GG, 137 WRV, in sehr weitreichender, nur randmäßig staatlich überprüfbarer Weise verfassungsnormativ verfestigt. Dieser individualethische Aspekt darf nicht hinter dem Schutz der Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaften zurücktreten oder auf diesen gar beschränkt werden, im Gegenteil: Der staatskirchenrechtliche Schutz nach Art. 140 GG bedeutet zugleich auch eine Sicherung individualethischer Verfassungsgrundlagen.
V. Meinungs-, Informations-, Medien-, Kunstund Wissenschaftsfreiheit (Art. 5 GG) Aus der „Meinungsfreiheit“ ergeben sich in verschiedener Hinsicht Anknüpfungen für die Bestimmung der Inhalte eines verfassungsrechtlichen Schutzes des individualethischen Verhaltens. Erwähnt seien i. Folg. nur die hier wichtigsten Erscheinungsformen dieses grundgesetzlichen Personalismus.
1. „Meinung“: „Individualethik in fieri“ a) Der Begriff verlangt keinen ethischen Inhalt, keine moralische Wertigkeit der „Meinung“ als Schutzgegenstand des Grundgesetzes. Sie muss nicht begründet und sie kann wertvoll oder wertlos, gefährlich oder harmlos sein272, polemisch oder überspitzt273. Lediglich bewusste, unzweifelhafte tatsächliche Unwahrheiten274 genießen nicht den Verfassungsschutz: sie sind aber auch ethisch unwertig. D. h.: „Meinung“ hat nicht notwendig einen „ethisch relevanten Inhalt“, ist jedoch nicht geschützt, wenn ihre Äußerung gegen die Moral verstößt („negative ethische Wirkung“). b) Der Meinungsfreiheit kommt als solche eine „Verfassungsfunktion“ zu275: Ihre Ausübung ist ein „heuristisches Instrument“ der Suche und Überprüfung politischer 270 271 272 273 274 275
Vgl. oben C. III. 3.; s. etwa BVerfGE 41, 29 (51). Vgl. dazu BVerfGE 83, 341 (353); 90, 112 (117); 105, 279 (293). Für Viele BVerfGE 124, 300 (320). Zum Beispiel BVerfGE 93, 260 (289). BVerfGE 99, 185 (197). BVerfGE 90,0 241 (248).
V. Meinungs-, Informations-, Medien-, Kunst- und Wissenschaftsfreiheit
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Zielsetzungen und Ansprüche in der Demokratie. Sie müssen als solche keinen ethischen Gehalt aufweisen, sie können und werden weithin sogar nur einzelne materielle Interessen zum Gegenstand haben, ein „besseres“, angenehmeres Leben – ethik-neutrale Gegenstände. Wird aber dieser Sach- und Kontrollmechanismus der Meinungsfreiheit als solcher oder im Einzelnen schwerwiegend gestört, so ist die ethische Grundlage der Demokratie als solche bedroht: in dem Herauswachsen ihrer Gewalt aus dem Willen der Einzelnen276. Denn die individualethisch verpflichtende Meinung kann ja nicht mehr entstehen, wenn schon eine (sie) suchende, hypothetische, zweifelnde, „zur Diskussion gestellte“ Meinung gar nicht gebildet werden darf. Meinung ist also, soweit sie darin „Überzeugung in fieri“ darstellt, in der Freiheit ihrer Bildung bereits ein individualethischer Wert, als solcher zu achten.
2. Informations- und Medienfreiheit als Voraussetzung individualethischen Verhaltens a) Die Informationsfreiheit ist eine gleichwertige Ausprägung der Kommunikationsfreiheit des Art. 5 GG neben der Meinungsfreiheit277: Ohne sie ist eine Meinungsbildung nicht möglich; für sie gilt also in deren individualethischem Gehalt Gleiches wie nach vorsteh. 1. Ihre „allgemein-zugänglichen Quellen“ weisen bereits auf die Nutzungsfreiheit der Medien hin; für die mediale Entfaltungsfreiheit gelten daher ebenfalls die Aussagen zu 1. Die aktive Medienfreiheit der Tätigkeit der dort Beschäftigten und über sie (Art. 5 Abs. 1 S. 2, 3 GG) ist schon als Voraussetzung der Meinungsbildungs- und Informationsfreiheit in gleichem individualethischen Gehalt und entsprechender Wertigkeit verfassungsrechtlich gesichert, aus der Sicht des Medienkonsumenten. Für alle Medienproduzenten im weiteren Sinn der Medientätigen gelten, unabhängig davon, noch die individualethischen Gehalte und Wertigkeiten nach vorsteh. 1.
3. Art. 5 Abs. 1 und 2 Im gesamten Schutzbereich des Art. 5 Abs. 1 und 2 GG sind individualethische Wertigkeiten angesprochen: Ein „völlig ethikfreies Meinungsbildungs- und Verbreitungsrecht“ kann es nicht geben. Rechtlich verbindliche „Ethische Richtlinien“ für den gesamten menschlichen Bereich eines von „Innen“ heraus in Überzeugung wirkenden Verhaltens sind also nicht nur zulässig im Rahmen aktuell geltender einfach-gesetzlicher Regelungen. Sie sind auch als solche nicht allein verfassungskonform, sondern sogar verfassungsnotwendig, aus den ethischen Grundlagen der Meinungs- und Informationsfreiheit heraus. Allerdings können sie den indivi276 277
S. oben B. III., C. I. BVerfGE 27, 71 (80).
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D. Bestimmungen mit individualethischem Entscheidungsgehalt
dualethischen Verbindlichkeitsgehalt der Inhalte nicht ausschöpfen, wie solche in Art. 5 Abs. 1 und 2 GG angesprochen werden (vgl. vorsteh. 1. und 2.), sie dürfen diesen aber nicht widersprechen. Dies entspricht heute weithin medial-journalistischer Praxis, sollte aber noch deutlicher auch ins verfassungsrechtliche Bewusstsein gehoben werden: Art. 5 Abs. 1 und 2 ist sedes materiae eines verfassungsgeschützten ethischen und insbesondere auch individualethischen Verhaltens.
4. Kunstfreiheit in Individualethik Ob und inwieweit künstlerische Betätigung, darüber hinaus alles, was „mit Kunst zu tun hat“, individualethische Gehalte aufweist, ist aufgrund der h. Kunstbegriffe zu ermitteln, welche das Bundesverfassungsgericht zugrunde legt278. Soweit es dabei einen formalen Kunstbegriff einsetzt, ist ein ethisches Verhaltenselement nicht feststellbar. Gleiches gilt für einen Begriff, der auf das Kunstwerk als „Instrument einer fortschreitenden Informationsvermittlung“ abhebt, soweit diese nicht die Informationsfreiheit (vgl. oben 2.) berührt. Der sog. „materielle Kunstbegriff“ dagegen legt eine andere Bestimmung zugrunde: Kunst als „unmittelbarsten Ausdruck der individuellen Persönlichkeit des Künstlers“. „Kunst“ erwächst danach unmittelbar aus einer Persönlichkeit, welche zugleich auch Trägerin des individualethischen Verhaltens des Einzelmenschen ist. Gerade hier ist der Individual-, nicht der Kollektivbezug entscheidend. Eine „Kollektivkunst“, wenn es eine solche überhaupt geben sollte, wird immer auflösbar sein in ihre individual-persönlichen Elemente, aus ihnen heraus „zusammenwachsen“. Damit liegt der nahe, ja wesentliche Bezug von Individualethik und künstlerischer Betätigung i. w. S. auf der Hand. Letztere muss nicht, wird aber in vielen und vor allem in ihren bedeutenden Ausprägungen, stets zugleich auch Ausdruck eines inneren Zwangs sein, des „Schaffen-Müssens“ eines „Sich-mitteilen-Müssens“. Damit ist, unabhängig sogar von Inhalten, die individualethische Dimension erreicht. Dass diese durch weitere ethische Zwecksetzungen, mahnender, erhebender, erzieherischer Art besonders moralisch geprägt wird, ist jedenfalls bei zahlreichen künstlerischen Erscheinungen zu unterstellen. In all dem weist „Kunst“ viele, wenn auch ganz unterschiedliche, deutliche individualethische Bezüge auch nach Verfassungsrecht auf. Sie sind vertiefend im Einzelnen zu verfolgen. Mit dieser Feststellung hat sich hier die Betrachtung zu begnügen.
5. Wissenschaftlichkeit: ein individualethisches Verhalten Die vorstehenden Ergebnisse lassen sich weithin auf die Wissenschaftsfreiheit übertragen. Auch hier finden sich individualethische Gehalte nicht primär in der 278
BVerfGE 67, 213 (226 ff.); 83, 130 (138).
VI. Ehe und Familie: Intensivierung der Individualethik
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Form der Tätigkeit, auch nicht in deren weiterwirkendem Informationswert, sondern vielmehr in den ethischen Motiven. Streben nach Erkenntnis, nach Wahrheit als Wesen der Wissenschaft279, ist als solches ein zentraler Gegenstand der Ethik wie Ausdruck der moralischen Verpflichtung. Der Wissenschaftler „fühlt sich dem eben verpflichtet“. Eigenverantwortliche Tätigkeit ist ein Konstitutivmerkmal der Wissenschaftlichkeit280. Die (systematisch-grundsätzliche) Art der Tätigkeit wie deren „Seriosität“, wie sie unabhängig von Gewinnstreben die Wissenschaft charakterisieren, zeigen deutlich die Nähe zur Ethik; die Tatsache, dass jeder Wissenschaftler „mit seinen (weiterführenden) Gedanken (zunächst einmal) allein ist“, weist auf individualethische Motivationslagen hin. „Wissenschaftliches Ethos“ verlangt der allgemeine Sprachgebrauch. In ihm nur kann der Einzelne letztlich „der Wissenschaft dienen“, durch sie Anderen. Kaum bei einem anderen Grundrecht ist Individualethik derart geradezu „typusprägend“ wie im Bild des Wissenschaftlers.
VI. Ehe und Familie: Intensivierung der Individualethik (Art. 6 GG) 1. Ehe als Gegenstand individualethischer Entscheidung „Die Ehe ist insbesondere als Ausprägung persönlicher individueller Freiheit verfassungsrechtlich geschützt“281. Sie beruht auf einer freien Wahl des Partners und des Zeitpunkts der Verbindung (Eheschließungsfreiheit)282. Deren Gegenstand ist das Versprechen besonders intensiver persönlicher Verbundenheit, welche sodann in rechtlichen Verhaltens-, insbesondere Unterhaltspflichten näher konkretisiert wird283. Nicht diese Einzelheiten, wohl aber ihre tragende, rechtliche Grundlage, die Eheentscheidung als solche, liegt im innersten individualethischen Bereich eines Menschen, ist unmittelbar durch solche Motivationen wesentlich (jedenfalls i. d. R. mit-)bestimmt. Eine grundsätzlich lebenslange Bindung kann, jedenfalls nach dem Bild der Ehe im Grundgesetz, kaum ohne eine besondere ethische Ernsthaftigkeit eingegangen werden; allerdings verbietet gerade Rücksicht auf die „innerste Intimsphäre“ der Persönlichkeit, aus welcher dieses Bild entsteht, eine „ethische Motivüberprüfung“, etwa gar noch durch die Staatsgewalt. Immerhin: Ehe als Ergebnis individualethischer Entscheidung ist jedenfalls das „Vor-Bild“ des Grundgesetzes. 279 280 281 282 283
BVerfGE 111, 333 (354). BVerfGE 95, 193 (209). Robbers, G., in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG 6. Aufl. 2010, Art. 6 Rn. 34. BVerfGE 104, 373 (387). BVerfGE 108, 351 (363 f.).
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D. Bestimmungen mit individualethischem Entscheidungsgehalt
Individualethik ist also eine wesentlich grundgesetzliche Grundlage des Schutzes nach Art. 6 Abs. 1 GG. Sie bestimmt auch die Modalitäten – Leichtigkeit oder Erschwernisse – der Auflösung dieser Verbindung.
2. Familie als individualethisch geprägte Gemeinschaft Deutlicher wohl noch als die Ehe beruht die (Klein-)Familie, als „umfassende Gemeinschaft von Eltern und Kindern“284 auf ethisch begründeter Verpflichtung aller ihrer Mitglieder – jedes Einzelnen für sich betrachtet: damit eindeutig auf Individualethik als solcher. Eine derart „umfassende“ Verpflichtung könnte rechtlich gar nicht in erschöpfender Formulierung bestimmt werden; hier muss im Einzelfall, auch nach Art. 6 GG, stets auf individualethische Vorstellungen der Beteiligten zurückgegriffen werden. Diese gewinnen damit geradezu einen Konkretisierungscharakter verfassungsrechtlicher Bindungen. „Familie“ ist also Ergebnis eines speziellen individualethischen Verhaltens, das man auch als Steigerungsform der Moralitätsintensivierung bezeichnen könnte. Hier muss die Verfassung auf nähere Bestimmungen, auf Definitionen verzichten; diese können rechtlich nur nach den Umständen des Einzelfalles zum Tragen kommen. Dabei hat aber (etwa) der Familienrichter auf die stattgefundene Familienentscheidung in ihrem individualethischen Gehalt zurückzugreifen. Kaum irgendwo zeigt sich deutlicher der vertiefende, aber rechtlich bedeutsame, ja entscheidende Charakter der Individualethik im Verfassungsrecht des Grundgesetzes. Von Bedeutung ist dies auch für alle „alternativen Lebensformen“, etwa auf der Grundlage von nichtehelichen Familienbildungen oder solchen auf gleichgeschlechtlicher Grundlage.
3. (Kinder-)Erziehung als individualethische Aufgabe In Art. 6 Abs. 2 GG werden, wohl am deutlichsten im Bereich der „Einzelgrundrechte“, ethisch begründete Werte, Rechte und Pflichten ausdrücklich in der Verfassung angesprochen. Zugleich steht dabei gerade die Individualethik klar im Mittelpunkt. a) In den Begriffen „Pflege und Erziehung“ kommt der individualethische Gehalt des Grundrechts zum Ausdruck, in der Zwecksetzung dieser Freiheit: Sie ist auf Ziele einer menschlichen „Optimierung“, damit der Erreichung eines „Guten“, eines „Agathon“ im Sinne der platonischen Philosophie gerichtet. Dies sind Zentralbegriffe der Sittlichkeit im moralischen Verständnis, nicht in dem einer faktisch allgemeinen, von einer „Mehrheit“ geübten Praxis. Es geht um Sorge für die seelische 284
BVerfG i. st. Rspr. vgl. etwa E 80, 81 (90).
VI. Ehe und Familie: Intensivierung der Individualethik
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und geistige Entwicklung285, um jene ganzheitliche „Bildung und Ausbildung“286, wie sie dem Staatsideal Platons, vor allem in den „Gesetzen“, zugrunde liegt287 . Über Verfassungsgeschichte und Allgemeine Staatslehre hat diese ethische Grundorientierung ja das geltende Staatsrecht pädagogisch seit Generationen befruchtet288. b) „Elternverantwortung“ ist bereits ein fester Topos des grundgesetzlichen Staatsrechts289. Im Begriff der Verantwortung als solcher liegt nicht nur wesentlich ethischer Gehalt im Allgemeinen, in einer Virtualität, welche voller rechtlicher Konkretisierung gar nicht zugänglich ist. Dies ist ein „bipolarer“ Begriff in dem Sinn, dass er Verantwortung gegenüber Dritten (Rechtsgenossen, Staat) ebenso umfasst wie eben auch, wenn nicht gar zu allererst, die ethische Verantwortung vor sich selbst. Nur darin erschließt sich der volle Sinn des allgemeinen Wortgebrauchs, ein Mensch könne „etwas vor sich verantworten“. Wenn hier im Verfassungstext vom „natürlichen Recht der Eltern“ die Rede ist290, so mochte dies 1949 auf naturrechtliche Vorstellungen zurückgehen. Immerhin wird auch darin aber deutlich eine (individual)ethische Beziehung angesprochen. c) Der Vorrang des Kindeswohles gegenüber elterlichen Belangen wird in der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts betont291. Obwohl diese letzteren dabei keineswegs vernachlässigt werden dürfen, so zeigt sich doch, ja gerade darin der ethische Charakter der Erziehung als Pflicht: Ihr entsprechen Kindespflichten zwar ebenfalls mit ethischem Gewicht292, aus der staatsrechtlichen Sicht der Gemeinschaft ist aber vor allem die Elternpflicht von Bedeutung; sie insbesondere wird ja auch in der Rechtspraxis mit Staatsgewalt durchgesetzt. Der Vorrang des Kindeswohls rechtfertigt sich demgegenüber gerade moralisch bereits aus dem Kräfteverhältnis der Partner der Erziehungsbeziehung: Zum helfenden ethischen Verhalten sind vor allem die Eltern berufen – weil eben in der Lage. d) Die gesamte in Art. 6 Abs. 2 GG geregelte Pflege- und Erziehungsbeziehung ist aber nicht nur eine wesentlich ethisch geprägte, von der Verfassung als eine solche ins Recht rezipierte, aus faktisch-natürlichen Gegebenheiten. Sie trägt auch ein285
S. BVerfGE 93, 1 (17). BVerfGE 34, 165 (183). 287 Dazu vertiefend Leisner, W., Platons Idealstaat und das Staatsrecht der Gegenwart. Vergleiche – Anregungen – Mahnungen in den „Gesetzen“: Zu einem Bildungsstaat, 2014, insb. S. 39 ff. 288 Vgl. dazu Leisner, W., Institutionelle Evolution, 2013, S. 16 ff. 289 S. etwa Höfling, W., HStR3, Bd. 7, S. 155, Rn. 18; Robbers, S., in: v. Mangoldt/Klein/ Starck, GG 6. Aufl. 2010, Art. 6 Rn. 149 ff., beide m. Nachw. S. auch etwa BVerfGE 103, 89 (107); 121, 69 (92). 290 Was übrigens im staatsrechtlichen Interpretationsverständnis – erstaunlicherweise – kaum in seiner Bedeutung gewürdigt wird. 291 Vgl. etwa BVerfGE 79, 203 (210 f.); 75, 201 (219); 99, 145 (156). 292 Immerhin betont sie der mosaische Dekalog in seinem 4. Gebot, während Erziehungspflichten der Eltern dort nicht statuiert werden. 286
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D. Bestimmungen mit individualethischem Entscheidungsgehalt
deutig und bestimmend individualethische Züge. Dies folgt schon daraus, dass sie wirkt „von voll entfalteten“ zu „sich erst entwickelnden“ Einzelpersönlichkeiten; eine individuellere Rechtsbeziehung als die zwischen Eltern und Kind gibt es nicht, weshalb denn auch der Staat hier nicht „regelt“, sondern nur „überwacht“ (Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG). Die daraus folgende grundsätzliche und weitgehende Zurückhaltungsverpflichtung der Staatsgewalt293 ist ethisch begründet und daher unabänderlich festgeschrieben (Art. 1, 2 GG i. V. m. Art. 79 Abs. 3 GG). Es begründet dies geradezu etwas wie eine „individualethische Verfassungsorgankompetenz“ der Eltern in der grundgesetzlichen Ordnung. Selbst die – wahrhaft „marginalen“ – Eingriffsrechte der Staatsgewalt sind nur aus den allgemein ethisch geprägten Vorstellungen von einem zu sichernden Kindeswohl zu legitimieren. Die „Erziehung im Grundgesetz“ ist im Wesentlichen ein Verweis auf individualethische Maßstäbe, die als solche in die Verfassung übernommen werden; ihre Einhaltung kann – vor allem faktisch – nur marginal vom Staat überwacht werden.
VII. Beruf (Art. 12 GG) 1. Beruf – Berufung a) Der Begriff des „Berufes“ taucht zwar bereits in der Paulskirchenverfassung auf294. In der Weimarer Reichsverfassung ist aber nur die Freizügigkeit geregelt (Art. 111), sowie staatsbürgerliche Pflichten (Art. 151 Abs. 1, 2, vgl. auch Art. 163). Lediglich die „Freiheit des Handels und Gewerbes“ wird erwähnt (Art. 151 Abs. 3), jedoch unter den allgemeinen Vorbehalt der Reichsgesetze gestellt. Eine gesamtdeutsche verfassungsrechtliche Regelung des „Berufs“ als solchen gab es bis zum Erlass des Grundgesetzes nicht. b) „Beruf“ wurde erstmals in Art. 12 GG als „zentrales Tatbestandsmerkmal“295 grundrechtlich geschützt. Diese höchst bemerkenswerte Nennung, die einen der detailliertesten Rechtsprechungsbereiche des Bundesverfassungsgerichts hervorgebracht hat, ist jedoch seither als solche nicht hinreichend gewürdigt worden. Hervorgehoben wird lediglich, dass nun der Tatbestand wesentlich weiter gefasst ist als zur Weimarer Zeit296, und dass daher die Berufstätigkeit in ideeller wie materieller Hinsicht der Schaffung und Erhaltung einer Lebensgrundlage dient297; alles andere ist nur ungeschütztes „Hobby“298. Damit erscheint der Beruf(sbegriff) als im 293
Vgl. dazu BVerfGE 107, 104 (118 ff.). Art. 158: „Es steht einem jeden frei, seinen Beruf zu wählen und sich für denselben auszubilden, wie und wo er will“. 295 Manssen, G., in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG 6. Aufl. 2010, Art. 12 Rn. 37. 296 Manssen (FN 295), unter Berufung auf Bachof (1972!). 297 BVerfG st. Rspr. vgl. etwa E 110, 304 (321); 111, 10 (28). 298 Mann, Th., in: Sachs, GG Kommentar 6. Aufl. 2011, Art. 12 Rn. 48. 294
VII. Beruf
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Wesentlichen materialisiert, ja ökonomisiert: Die „ideelle Hinsicht“ hat keine nähere Behandlung erfahren – im Gegenteil: „Beruf ist danach nicht nur die aufgrund einer persönlichen „Berufung“ aufgenommene und ausgeübte Tätigkeit, sondern jede auf Erwerb gerichtete Beschäftigung, die sich nicht in einem einmaligen Erwerbsakt erschöpft“299. c) Mit „Beruf“ in dessen tieferem Verständnis als „Berufung“ wird allerdings zugleich eine ethische Verpflichtung angesprochen, mit Wirkung vor allem, wenn nicht ausschließlich, in einer individualethisch zentralen Orientierung des gesamten Lebens eines Menschen. Die Ökonomisierung führt – folgerichtig – zur praktisch entscheidenden verfassungsrechtlichen Bestimmung des Regelungsgegenstandes: Der Einzelne erbringt in seinem Beruf i. d. R. einen Beitrag zur „wirtschaftlichen Gesamtleistung“300, also für die Belange der im Staat verkörperten Allgemeinheit. Eine solche Betrachtung blendet Individualethik praktisch weitgehend aus dem Berufsbegriff aus. Dies widerspricht dem allgemeinsprachlichen Verständnis wie einer verbreiteten Vorstellung weiter Kreise der Bevölkerung. Im „Beruf“ liegt eben auch etwas von „Berufung“; es verleiht dieser „Beschäftigung“ eine besondere verfassungsrechtliche Wertigkeit. Dass „ein Beruf“, darüber hinaus, nicht selten ausschließlich, dem Gelderwerb, dem Lebensunterhalt dienen wird, ist tatsächlich wie rechtlich eine Selbstverständlichkeit. Dies darf jedoch nicht zu einer Entethisierung des Berufsbegriffs führen. Vielmehr muss das individualethische, nicht nur das „gesellschaftsfördernde“ Leistungselement des Berufsbegriffs stets besondere (verfassungs)rechtliche Beachtung finden, vor allem auch bei der Einschränkung der Berufsfreiheit (i. Folg.).
2. Berufswahl Dies wird durch die geltende Regelung speziell der Berufswahlfreiheit bestätigt. Im Grundsatz hatte das Bundesverfassungsgericht im Apothekenurteil ein Schutzsystem entwickelt301, das der Berufswahl einen erheblich strenger zu überprüfenden Schutz angedeihen ließ als der Berufsausübung(sfreiheit). In der Folge wurde jedoch immer mehr die enge Verbindung von Berufswahl und Berufsausübung betont302. Im Sinne einer zusammenfassenden Beurteilung der beiden Aspekte wirkte vor allem die „Berufsbildrechtsprechung“. In ihr verwischten sich nicht nur die Unterschiede zwischen den beiden Aspekten der Berufsfreiheit; es ging damit auch die erwähnte immer weitergehende „Entethisierung“ des Berufsbegriffs einher, vor allem in dessen individuellen Gehalten: Zwar wird dem Einzelnen ein Recht zur Weiterentwicklung seines Berufsbildes zugestanden, praktisch tritt dies aber nahezu völlig 299 300 301 302
BVerfGE 97, 228 (253). BVerfGE 50, 290 (362). BVerfGE 7, 377, 400 ff. Vgl. bereits BVerfGE 9, 338 (344 f.), sowie etwa 33, 303 (336) u. öfter.
140
D. Bestimmungen mit individualethischem Entscheidungsgehalt
zurück hinter den „Verkehrsanschauungen“, wobei die historische Entwicklung eine wesentliche Rolle spielt303. Damit verstärkt sich wiederum die entethisierende Wirkung der „Erwerbskomponente“, die ja in dieser Historie bereits angelegt ist. Erforderlich ist daher ein weit stärkerer Schutz der Berufswahl- gegenüber der Berufsausübungsfreiheit, wie dies der Verfassung ja auch entspricht. Mit ihr erlangt dann „Beruf“ (wieder) seine volle moralische Bedeutung.
3. Berufsausübung Auch in der Berufsausübung sollte den ethischen Gehalten weit mehr Beachtung geschenkt werden. Hier steht dem die erwähnte „Ökonomisierung des Berufs“ vor allem im Bereich der Wettbewerbsfreiheit, im Wege304. Die Ethisierung der Märkte, der Marktwirtschaft als solcher305 ist daher nicht nur ein dringendes Anliegen einer wie immer verstandenen Wirtschafts-, ja einer Sozialethik: Angesetzt muss hier werden bereits bei der Individualethisierung des Wettbewerbs(rechts), bei allen Erscheinungsformen der Berufsausübung, insbesondere etwa in den Ausstrahlungen der Berufsfreiheit auf das Arbeitsrecht306 und in der beruflichen Werbung307.
4. Berufsordnung Eine entscheidende Verfassungsproblematik für eine Ethisierung, vor allem auch Individualmoralisierung der Berufstätigkeit liegt hier darin, inwieweit ständische Berufsordnungen diese in einem solchen Sinne regeln. Gerade in ihnen wird ja von jeher, vom Handwerk bis zu den ärztlichen Berufen308, das „Berufsethos“ näher beschrieben und rechtlich ausgestaltet. Die Berufsordnungen prägen die Berufsbilder, diese werden im Berufsgesetzesrecht allgemein normiert – vom „ehrbaren Kaufmann“ bis zum „Handwerksmeister“ in den Ordnungen des Innungsrechts. Hier begegnen zahlreiche, teilweise eingehende Einzelumschreibungen und rechtliche Folgerungen, die daraus in der Praxis auch gezogen werden. Sie dürfen nicht etwa als „Berufsromantik“ abgewertet werden; bis in rechtliche Einzelkonsequenzen hinein müssen vielmehr ihre rechtlichen Gehalte aktiviert, rechtlich umgesetzt und individualethisch vertieft werden. Nur darin hat das berufsständische Berufsordnungsrecht überhaupt eine Zukunft, nicht allein in „durchschnittsmoralisierender“ Berufsgesetzlichkeit. 303
BVerfGE 119, 59 (78 f.). S. dazu Leisner, W., Wettbewerb als Verfassungsprinzip. Wettbewerbsfreiheit und Konkurrenz der Staatsorgane, 2012, insb. S. 11 f., 18 ff., 35 ff. 305 S. bereits oben A. II. 3. b). 306 Vgl. etwa BVerfGE 50, 290 (363) – Unternehmensführung insgesamt. 307 Etwa BVerfGE 105, 252 (266); 111, 366 (373). 308 Vgl. die Grundsatzentscheidung in BVerfGE 33, 125. 304
VIII. Eigentum Privater
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Damit öffnen sich weit Tore für eine Erfassung des ethischen Gehalts einer Weiter-, Höher- und Tieferentwicklung der Funktionalen Selbstverwaltung309. Hier steht gerade das demokratische Verfassungsrecht in seinem Berufsrecht noch am Anfang seiner individualethischen Ausformung.
VIII. Eigentum Privater 1. Grundrecht der Einzelpersönlichkeit Das Eigentum ist, in all seinen denkbaren rechtlichen Ausprägungen, stets in erster Linie als ein Individualgrundrecht zu verstehen: Es regelt Rechtsbeziehungen zwischen einer Person und einer Sache. Im Mittelpunkt seines Verfassungsschutzes steht daher die Einzelpersönlichkeit des Inhabers. Der Zweck seines Schutzes ist dadurch bestimmt, ebenso sind es die Formen seiner Sicherung. a) Zentraler Zweck des Eigentumsschutzes ist Sicherung und Erhaltung von dessen Privatnützigkeit: Nicht irgendwelchen öffentlichen Interessen als solchen soll es primär nützen, sondern den Belangen seines Inhabers als einer bestimmten Person. Dies gilt auch für den Staat und alle juristischen Personen des Öffentlichen Rechts. In der Privatnützigkeit310 liegt die wesentliche Personenbezogenheit des Grundrechts. Ihr entsprechen alle Rechte aus Art. 14 GG in ihrer dogmatischen Qualität als subjektive Abwehrrechte. Die Konkretisierung dieser Privatnützigkeit, damit des Personenbezugs, weist bereits deutlich hin auf den ethischen Gehalt dieses Wesens des Eigentumsschutzes: Das Eigentum („Macht Euch die Erde untertan“) ist ein Herrschaftsrecht, das, nach Form wie Inhalt, ethischen Verpflichtungen unterliegt, in Inhaberschaft wie vor allem in seinem Gebrauch. Weil es wesentlich einer (Einzel-) Person zugeordnet ist, tritt darin bereits der individualethische Charakter dieser Rechtsstellung in besonderer Weise hervor. b) Dieser moralische Aspekt des Grundrechtsschutzes des Eigentums zeigt sich deutlich in dessen wesentlicher dogmatischer Verbindung mit der persönlichen Freiheit des Einzelnen311. Beeinträchtigungen der Inhaberschaft oder der Nutzung des privaten Eigentums, als des entscheidenden Mittels der Freiheitsbetätigung, führen zu der Feststellung: „Ohne Eigentum – Nutzlose Freiheit“312 ; denn das Eigentum sollte dem Inhaber „einen Freiheitsraum im vermögensrechtlichen Bereich sichern und ihm damit eine eigenverantwortliche Gestaltung seines Lebens ermöglichen“313. Mit dieser „Eigenverantwortung“ ist eindeutig der bestimmende 309 Grdl. Kluth, W., Funktionale Selbstverwaltung. Verfassungsrechtlicher Status – verfassungsrechtlicher Schutz, 1997. 310 Leisner, W., Eigentum, in: HStR3, Bd. VIII, § 173 Rn. 43 ff. 311 BVerfG st. Rspr., vgl. etwa E 84, 382 (384); 100, 126 (241); 101, 54 (75 f.). 312 Leisner (FN 310), Rn. 110. 313 BVerfG st. Rspr., vgl. etwa E 24, 367 (389); 79, 292 (303 f.).
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D. Bestimmungen mit individualethischem Entscheidungsgehalt
individualethische Aspekt des Privateigentums angesprochen, welcher sich ja auch bereits aus dem essentiellen Freiheitsbezug dieses Grundrechts ergibt314.
2. Nachrangigkeit des „Gemeinschaftsbezugs“ des Eigentums Sozialethische Gehalte, im herkömmlichen Sinn der „Verpflichtungen des Eigentums gegenüber der (staatlichen) Gemeinschaft“, sind zwar verfassungsrechtlich wichtig, aber im Verhältnis zu individualethischen deutlich nachrangig: Diese letzteren konstituieren das Verfassungseigentum als solches, bestimmen dessen Werthaltigkeit, stellen die wesentlichen Formen des Eigentumsnutzens, des Eigentumsgebrauchs dar. Die Belange der Allgemeinheit sind demgegenüber Schranken dieses Schutzbereichs315. Selbst wenn man diesen „Gemeinschaftszwecken“ des Eigentumsgebrauchs konstitutive Wirkungen für den Inhalt des Eigentums zuerkennt, ändert dies nichts an der Feststellung, dass das individualethische Element des Zweckes des Privateigentums eindeutig im individuellen, nicht im „sozialen“, „kollektivrechtlichen“ Bereich liegt.
3. Die Wesensbestimmungen des Verfassungseigentums (Leistung, Sicherung, Vertrauen) – in Individualethik Das private „Verfassungseigentum“ lässt sich, nach Inhalt wie Bedeutung, rechtlich qualifizieren, damit näher erfassen, in seinen wesentlichen, im Einzelnen konstitutiven Bezügen, als „Leistungs- und Sicherungseigentum“316, vor allem aber als „Vertrauenseigentum“317. Darin kommen eindeutig die wesentlichen individualethisch zu bestimmenden tragenden Inhaltselemente dieses Verfassungsschutzes wie auch dessen wichtigste Formen zum Ausdruck: Sie alle deuten klar auf individualethische Wertigkeiten und Entscheidungen über solche hin: a) „Eigene Leistung“ als Rechtsgrund und Erwerbsvorgang des Eigentums beruht insoweit zwar auf einer ökonomischen Zurechnung zu deren Erbringer. Darin erschöpft sich ihr inhaltlicher Gehalt aber nicht. „Leistung“ ist im Grundgesetz nicht ein rein ökonomischer Feststellungs- und Zurechnungsbegriff. Selbst wenn dieser Begriff „fachlich begrenzt“ wird318, so ergibt sich doch bereits aus dem Wort „Leistung“, deutlicher noch aus dem der „Eigenleistung“, deren ethischer Bezug. 314
S. oben B. III. Zu diesem dogmatisch wesentlichen Befund vgl. Leisner (FN 310), Rn. 127 ff. m. Nachw. 316 Leisner, W. (FN 310), Rn. 115 ff. 317 Leisner, W. (FN 310), Rn. 122. 318 Wie es in Art. 33 Abs. 2 GG der Textfassung des Grundgesetzes entspricht, vgl. BVerfGE 110, 304 (322). 315
IX. Individualethische Gehalte in weiteren Grundrechten
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Dieser ist im Bewusstsein der Allgemeinheit, damit bereits nach allgemeiner Wortbedeutung, von einer ständig zunehmenden Bedeutung schon deshalb, weil hier das Privateigentum Ergebnis eines sozialpolitisch „gerechten Lohnes“ ist, was wiederum auf ethische Inhalte der Sozialstaatlichkeit zurückverweist319. Insoweit ist aber gerade die individualethische Komponente „persönlicher Einsatz“, „Einsatzfreudigkeit“ die tiefere, die eigentliche Quelle der Leistung, damit auch die moralische Legitimation des verfassungsrechtlichen Eigentums. b) „Sicherungseigentum“ bezeichnet die Funktion des Privateigentums, welche den Selbststand der Persönlichkeit des Einzelnen als solcher und für einen gewissen Zeitraum gewährleistet, in der er eben als ethisch entscheidungsfähiges Individuum sein Leben selbst gestalten kann und darf. Wieder ist damit der innerste Persönlichkeitsschutz angesprochen, eine Existenzsicherung, welche schon als Inhalt der Sozialstaatlichkeit, der Menschenwürde und der Persönlichkeitsentfaltung dargestellt wurde. Zudem findet hier eine Erweiterung auf Ansprüche gegenüber dem Staat statt, im Verhältnis zu sämtlichen „sozialen Systemen“ der Gemeinschaft. Auch, ja gerade dies lässt sich aber nicht allein ökonomisch begründen; nur die Sicherung der menschlichen als einer moralischen Persönlichkeit bietet hier die Legitimation. Es ist die einer individualethischen Grundlage des Eigentums als solchen. c) „Vertrauenseigentum“ schließlich ist die Grundlage der Lebensgestaltung fast aller Rechtsträger320. Die Rechtsfigur des Vertrauens in bestehende Rechtspositionen, bis hin zum Rückwirkungsschutz321, findet ihren zentralen Anwendungsgegenstand im Privateigentum; damit erfolgt für das Privateigentum auch eine Rückbindung an die Rechtsstaatlichkeit als seine Verfassungsgrundlage322. Dies weist wiederum nicht nur allgemein auf ethische Quellen des Vertrauens hin, sondern insbesondere auf deren individualethischen Gehalt: Die Wortverbindung eines „begründeten, tiefen Vertrauens“ bringt dies deutlich zum Ausdruck.
IX. Individualethische Gehalte in weiteren Grundrechten Alle weiteren Grundrechte weisen ebenfalls, wenn auch in unterschiedlicher Intensität und Form, Bezüge zu individualrechtlichen ethischen Entscheidungsbereichen auf. Hierzu müssen im vorliegenden Zusammenhang kurze Anmerkungen genügen:
319 320 321 322
S. oben D. II. Leisner (FN 310), Rn. 122 ff.; vgl. BVerfGE 58, 81 (121); 76, 220 (244 f.). BVerfGE 95, 64 (87); 101, 239 (262 ff.). S. oben D, I.
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D. Bestimmungen mit individualethischem Entscheidungsgehalt
1. Schulwesen (Art. 7 GG) - Die staatliche Schulaufsicht (Art. 7 Abs. 1 GG) hat sich am Erziehungsrecht der Eltern (und Kinder) zu orientieren323. - Die Regelungen über den Religionsunterricht (Art. 7 Abs. 2 GG) sind unter Achtung der ethischen Gehalte von Art. 4 GG auszulegen324. In besonderer Weise ist die individualethische Entscheidung des Lehrers zu achten, ob er Religionsunterricht erteilen will (Art. 7 Abs. 3 S. 3 GG). - Privatschulen sind (nicht) zuzulassen (Art. 7 Abs. 4 GG) unter – wesentlicher! – Beachtung des individualerzieherischen Willens der Eltern wie auch des Persönlichkeitsrechts der Schüler325.
2. Versammlungsrecht (Art. 8 GG) Versammlung ist eine besondere Form, inhaltlich ein intensiver Ausdruck der Freiheit der Meinungsäußerung. Sämtliche individualethischen Bezüge dieses Grundrechts326 spielen also hier eine entsprechende Rolle.
3. Vereinsfreiheit, Koalitionsfreiheit (Art. 9 GG) Die Bildung von Vereinen und Gesellschaften erfolgt in aller Regel zur Wahrnehmung von durch andere grundrechtliche Bestimmungen geschützten Freiheitsrechten. Es gelten daher für die Vereinsfreiheit alle ethischen, insbesondere individualethischen Bezüge, welche vorstehend unter I. bis VIII. näher behandelt worden sind. Gerade Vereinigungsformen können aus einer so begründeten Entscheidung heraus gewählt werden. Damit legitimiert diese auch die jeweilige Gesellschaftsform und die durch sie geregelten Beziehungen zu anderen Rechtsträgern.
4. Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis (Art. 10 GG) Auch hier handelt es sich um Äußerungsformen der Persönlichkeit, für die insbesondere der Schutz der Meinungsfreiheit gilt. Insoweit ist auch individualethisches Verhalten entsprechend geschützt.
323 324 325 326
VI. 3. IV. Vgl. VI. 3., sowie II., u. U. auch V. Vorsteh. V.
IX. Individualethische Gehalte in weiteren Grundrechten
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5. Freizügigkeit (Art. 11 GG) Diese besonders geschützte Freiheitsbetätigung dient „instrumental“ der Ausübung sämtlicher anderer Grundrechte, seien sie (mehr) „kulturell“, „wirtschaftlich“ oder „politisch“ orientiert. In all diesen Fällen ist es das freie Bewegungsrecht, welches eine wesentliche Voraussetzung für den Schutz und die Entfaltung der Persönlichkeit darstellt, insbesondere für die Bildung von Meinungen, Ansichten, Überzeugungen. Sämtliche (individual-)ethischen Gehalte, welche in anderen Freiheitsrechten ausdrücklich, implizit, „vor allem“ oder „auch“ gesichert werden, finden dafür in der Freizügigkeit eine, nicht selten ihre oft wesentliche Voraussetzung, ja ihre Betätigungsform. Diese „lokale Entscheidungsfreiheit“ weist also, als solche, einen geradezu zentralen individualethischen Bezug auf. Wird sie nicht geachtet, so sieht sich der Einzelnen in einem, wenn auch größeren, „Gefängnis“ seiner Freiheiten beraubt.
6. Wohnungsfreiheit (Art. 13 GG) Für dieses Grundrecht gilt, gewissermaßen in einer „örtlichen Umkehr“, Gleiches wie für die Freizügigkeit: Hier wird nicht ein „Bewegungs-, sondern ein Bleiberecht an einem bestimmten Ort“ speziell geschützt, sozusagen ein „Stützpunkt der Persönlichkeit“, in dem sie ihre Ruhe327 finden kann, so wie sie in der Freizügigkeit den Raum ihrer freiheitlichen Bewegung garantiert sieht. Die eminente Bedeutung der Wohnungsfreiheit für die menschliche Persönlichkeit wird vom Bundesverfassungsgericht laufend betont, wenn dieses auf deren „Menschenwürdegehalt“ hinweist328, auf die Wohnung als einen „elementaren Lebensraum“329. Darin liegt deutlich eine „Wertentscheidung“330. All dies bezieht sich nicht nur auf allgemein moralisches, sondern auf deutlich individualethisches Verhalten, dessen Voraussetzung gerade diese „Ruhe der Entscheidung“ ist. Der Wohnungsschutz sichert also besonders individuell moralisch bestimmtes Verhalten des Einzelnen; er weist damit auf dieses als einen wahrhaft entscheidenden Verfassungswert deutlich hin.
7. Justizielle Grundrechte (Art. 101 bis 104 GG) Die grundrechtlichen Garantien der persönlichen Freiheit gegenüber der Staatsgewalt weisen alle mehr oder weniger gewichtige ethische Elemente auf, und zwar eindeutig in einem individualethischen Sinn. Immer steht hier ja ein Einzelner der Polizeigewalt gegenüber oder vor seinem Richter, in einer konkreten Fallkonstel327 328 329 330
BVerfGE 109, 279 (309). BVerfGE 103, 142 (150); 109, 279 (313). BVerfGE 92, 212 (219); 103, 142 (150). BVerfGE 18, 121 (132).
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D. Bestimmungen mit individualethischem Entscheidungsgehalt
lation. Hierzu mögen im vorliegenden Zusammenhang folgende allgemeine Hinweise genügen: a) Alle Beschränkungen der persönlichen Freiheit beeinträchtigen den Einzelnen in seiner individuellen Verhaltens-, insbesondere in seiner individualethischen Entscheidungsfreiheit. Er gerät damit generell unter einen seelischen Druck, welcher die Funktionsfähigkeit seiner innersten persönlichen „Beurteilungs- und Entscheidungsmechanismen“ – hier mag dieser Begriff erlaubt sein – wenn nicht außer Kraft setzt, so doch tiefgreifend beeinträchtigt. Besonders kommt dies im ausdrücklichen Verbot einer „seelischen“ oder „körperlichen Misshandlung“ (Art. 104 Abs. 1 S. 2 GG)331 zum Ausdruck. b) „Verdacht der strafbaren Handlung“ (Art. 104 Abs. 3 GG) – damit drohende strafrechtliche Sanktionen – beinhaltet Vorwürfe, welche in zentraler Weise den ethischen Bereich des Betroffenen berühren. Sie demütigen ihn vor sich selbst und vor Anderen, schaffen Schuldgefühle, Entschuldigungsverpflichtungen – all dies berührt das forum internum in seinem Innersten. Dessen Achtung ist daher eine höchstrangige verfassungsrechtliche Aufgabe sämtlicher Organe der Strafverfolgung. c) Unterrichtung über die Gründe der Festnahme (Art. 104 Abs. 3 GG) muss alsbald durch einen Richter erfolgen. Die dadurch garantierte, wenn auch tatsächlich eingeschränkte Möglichkeit der Vorbereitung einer Verteidigung, gesichert durch die Benachrichtigung von Vertrauenspersonen (Abs. 4), ist von eminenter individualethischer Bedeutung für den Betroffenen332. Nur unter solchem Schutz kann dieser einen persönlichen moralischen Verhaltensraum nutzen, der ihm unbedingt bleiben muss. Der allgemeine Anspruch auf rechtliches Gehör unterstreicht dies für alle justiziellen Garantien (Art. 19 Abs. 4, 103 Abs. 1 GG). d) Der Nulla poena-Satz (Art. 103 Abs. 2 GG) ist schließlich Ausdruck einer Achtung der individualethischen Verhaltensfreiheit: Wenn der Staat schon mit Strafdrohungen eine Betätigung orientieren darf, so muss er dem (potenziellen) Betroffenen jedenfalls Gelegenheit geben, sich darauf rechtzeitig, also vor/bei seinen
331
In diesem Zusammenhang wird auch das Allgemeine Persönlichkeitsrecht als Gegenstand des Schutzes erwähnt, vgl. etwa BVerfGE 49, 24 (54 f.), s. auch oben II. 3.: Die freie Willensbildung, insbesondere auch ihre Erinnerungsfähigkeit, aber auch die Informationsfreiheit werden in diesem Zusammenhang besonders genannt. Zum Misshandlungsverbot vgl. Gusy, Chr., in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG 6. Aufl. 2010, Art. 104, Rn. 29 ff. Verpflichtungen zu staatlicher Zurückhaltung in „physischer“ oder „psycho-sozialer“ Hinsicht, auch bei der Unterbringung (vgl. Gusy, Chr., in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG 6. Aufl. 2010, Art. 104, Rn. 34 m. Nachw.) betreffen hier zwar wesentlich äußere Umstände. Es sind dabei aber auch individualethische Maßstäbe anzulegen. 332 Das Bundesverfassungsgericht legt hier von jeher (vgl. E 16, 119 (122 ff.) einen strengen Pflichtenmaßstab für die Staatsorgane an.
X. Individualethik und Regelungsbereiche des Staatsorganisationsrechts
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Entscheidungen darauf einzustellen – und auch, im Namen seiner Grundrechte, schon vorsorglich individuell wie kollektiv dagegen zu protestieren333.
X. Individualethik und „grundrechtsnahe“ Regelungsbereiche des Staatsorganisationsrechts Individualethische Gehalte, entsprechend den Regelungsgegenständen, finden sich in der Verfassung in erster Linie im Bereich der Grundrechte, welche die moralische Freiheit des Einzelnen sichern. Im Staatsorganisationsrecht erscheinen sie jedoch auch, vor allem in dessen „grundrechtsnahen Normen“, welche das Verhalten der menschlichen Träger der Staatsgewalt normieren, wie auch in allen Regelungen von Gesetzgebungsbereichen, die ethische Handlungsmaximen in besonderer Weise betreffen. Jeder einzelne dieser Komplexe bedarf einer speziell-vertiefenden Untersuchung, welche jeweils Breite und Tiefe der individualmoralischen Gehalte auszuloten hat; sie geben den Staatsgewalten insgesamt wie den einzelnen Staatsorganen verfassungsrechtliche Orientierungen: in Eingriffsschranken, welche die Staatsmacht zu achten hat, wie in positiven Ausgestaltungen von Kompetenzen, Inhalten, Anreizen, die ihre Organe als solche zu ethisch verantwortlichem Verhalten anhalten. Darin wird dann (der Respekt vor der) Individualethik zur „organisierten Staatsethik der Verfassung“. Dem Aufbau des Grundgesetzes entsprechend folgen hier kurze Bemerkungen zu den Drei Gewalten des Verfassungsstaates.
1. Gesetzgebung Die Gesetzgebung hat sich an den Rahmen all jener übergeordneten Normschichten zu halten, welche, wie vorstehend dargelegt, vor allem über die Grundrechte, aber auch in Staatsformbestimmungen, darüber hinaus nach EU- und Völkerrecht als Achtungsverpflichtungen einer individualethisch gebundenen Staatsgewalt wirken könnten334. a) Zum Gesetzgebungsverfahren sei insbesondere auf die Ausführungen zur Rechts- und Sozialstaatlichkeit sowie zur „Demokratie“ hingewiesen, hier vor allem zum Mehrheitsprinzip335. Ferner haben sich für die Organträger, vor allem im „Abgeordneten-Gewissen“336 bereits verfassungsrechtliche Orientierungen ergeben. 333 Zu der höchstrangigen Grundsatzbedeutung des Nulla poena-Satzes vgl. BVerfGE 109, 133 (168 ff.). 334 Aus diesen Bereichen könnten rechtliche Topoi mit deutlich ethisch geprägten Inhalten, etwa über „Allgemeine Grundsätze des Völkerrechts“ (Art. 25 GG), bestimmenden Einfluss auf die innerdeutsche Rechtsordnung nehmen. 335 Vorsteh. D. I., II., IV. 336 C. III. 2.
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D. Bestimmungen mit individualethischem Entscheidungsgehalt
b) Bei den Gesetzgebungsmaterien begegnen in der Bestimmung von einzelmenschlichem Verhalten individualethische Gehalte vor allem in: - Art. 72 Abs. 3 GG: etwa Jagdwesen (Tierschutz, Nr. 1), sowie bei Naturschutz und Landschaftsschutz (Nr. 2), und bei der Bodenverteilung (Eigentum, Nr. 3). - Art. 73 Abs. 1: Im Vordergrund stehen hier Auswärtige Angelegenheiten, Verteidigung, Schutz der Zivilbevölkerung (Nr. 1), Freizügigkeit, Ein- und Auswanderung, Auslieferung (Nr. 2), Öffentliches Personalwesen im Bereich des Bundes (Nr. 8), gewerblicher Rechtsschutz, Urheberrecht, Verlagsrecht (Nr. 9), Terrorismusbekämpfung (Nr. 9 a), Verfassungsschutz (Nr. 10 b, c), Kriegsfolgenfürsorge (Nr. 13). - Art. 74 Abs. 1 GG: Die weitüberwiegende Zahl der dort aufgeführten Gesetzgebungsmaterien betrifft in ihren Regelungsgegenständen auch individualethisch bedeutsame Verhaltens- und Entscheidungsbereiche. Besonders deutlich ist dies in Nr. 1 (Strafrecht), beim Ausländer- und Flüchtlingsrecht (Nr. 5, 6), bei der Fürsorge (Nr. 7), dem Recht der Wirtschaft (Nr. 11), im Arbeits- und Sozialversicherungsrecht (Nr. 12), im Bereich des Missbrauchs wirtschaftlicher Machtstellungen (Nr. 16), im Gesundheitswesen (Nr. 15, 21), bei den Statusrechten und -pflichten der Beamten (Nr. 27, vgl. i. Folg. 3.), bei der Hochschulzulassung und den Hochschulabschlüssen (Nr. 33). - Einige andere Regelungsbereiche berühren dagegen ethisches Verhalten allenfalls am Rand, insbesondere dort, wo es um technische Einzelheiten des Gesundheitsoder des Verkehrsrechts geht (Nr. 17 bis 19). - Das weite Feld des Bürgerlichen und des Prozessrechts (Nr. 1) zeigt weit überwiegend „rechtstechnische“ Detailregelungen, obwohl auch dort immer wieder, und nicht nur in übergreifenden Generalklauseln (§ 138 BGB)337, Rezeptionen individualethischer Maßstäbe in geltendes Recht, bereits generell nach Verfassungsrecht, begegnen. Insgesamt zeigt der Katalog der Konkurrierenden Gesetzgebung, dass es nur wenige Gesetzgebungsbereiche gibt, bei deren Regelung individualethische Kriterien keinerlei Rolle spielen. In den weitaus meisten Materien treten Opportunitätsprobleme auf, welche rechtstechnische Gestaltung jeweils vorzusehen ist. Über die Rechtsstaatlichkeit mit ihrem Achtungsgebot der Verhältnismäßigkeit können jedoch auch sie einen moralischen, insbesondere auch individualethischen Entscheidungsgehalt aufweisen. Die Gesetzgebung ist also nahezu durchgehend dazu aufgerufen – nach Art. 28 Abs. 1 GG übrigens auch in den Ländern – vor allem die im Vorstehenden herausgestellten individualethischen Gehalte in ihrer laufenden Praxis zu beachten. Der Mehrheitsgesetzgeber der Demokratie ist nicht, auch nicht im Zweifel, Herr der
337
Vgl. zu § 138 BGB vorsteh. C. II. 1.
X. Individualethik und Regelungsbereiche des Staatsorganisationsrechts
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Individualethik. Das einfache Gesetz ist noch weit weniger als die Grundrechte der Verfassung338 Ausprägung des „Sittengesetzes“.
2. Verwaltung Die moderne Verwaltung ist als solche moralischen Grundsätzen verpflichtet, soweit sie das zentrale Handlungsorgan der „Person Staat“ in unmittelbar ethisch relevanten Beziehungen zu anderen „Personen“, den Bürgern, darstellt339. Individualethische Wertungen und Kriterien erlangen besondere Bedeutung für sie vor allem überall dort, wo sie in spezielleren, organisatorischen oder leistungsmäßigen Beziehungen zu Privaten tätig wird: als Adressaten (a), als Mitträger der Verwaltungsorganisation (b), als Partner in Leistungsbeziehungen (c). Überall muss die Verwaltung dabei auf individualethische Verhaltensweisen und Bedürfnisse nicht nur Rücksicht nehmen, diese werden darin weithin zu Maximen auch ihres Handelns. Für Gesetzgebung(sergänzung, -konktretisierung, -ersatz) in administrativer Form, vor allem über Verwaltungsvorschriften, gilt materienmäßig das zur Gesetzgebung (vorsteh. 1.) Ausgeführte entsprechend. Das administrative Verhalten ist, in seinen normativ geregelten Formen wie in seinen von diesen frei(er)en gestaltenden Ausprägungen Gegenstand der Verwaltungslehre. Auf deren entsprechende Darstellungen darf, unter den i. Folg. erwähnten Stichworten verwiesen werden340. a) Die Adressaten ihrer Anordnungen, wie auch ihre „Helfer“ und Leistungsadressaten, muss die Administration nicht nur auch, sondern in erster Linie sehen als individualethisch verpflichtete Partner. Sie hat daher auf deren tiefere Überzeugungen stets entsprechende Rücksicht zu nehmen, bereits in den Kontaktformen mit ihnen. Dies verlangt rechtzeitig-vollständige Informationen und Begründungen, welche zu überzeugen vermögen, bis in tiefere Schichten der Persönlichkeit hinein; das gilt jeweils entsprechend der (auch) moralischen Bedeutung derartiger Entscheidungen der Verwaltung insgesamt für die Adressaten341, von administrativen Anreizen bis zu Subventionen342. Allenthalben ist überdies ein verschonendes Dialogieren mit Individuen als Adressaten Verwaltungspflicht.
338 Dazu oben D. II. 2. Auch die „Drittwirkung der Grundrechte“ lässt das Grundgesetz nicht zu einem „Sittengesetz“ mit Ausstrahlung auf die einfache Gesetzgebung werden. 339 Vgl. C. I. 1. 340 Als Referenz dient dabei i. Folg. zu den wichtigsten Begriffen Schuppert, G. F., Verwaltungswissenschaft, 2000. 341 S. dazu Schuppert (FN 340), S. 140, 257 ff. 342 Vgl. dazu die Grundsätze des Förderungsrechts bei Leisner, W., Der Förderstaat (FN 41), insb. zur Freiheitsförderung (S. 77 ff.) sowie zur privatrechtskonformen Ausgestaltung staatlicher Förderung (S. 110 ff.). S. auch Schuppert (FN 340), S. 213 ff.
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D. Bestimmungen mit individualethischem Entscheidungsgehalt
b) Private „induzieren“ der Administration gewissermaßen ihre individualethischen Maßstäbe als Mitträger des Verwaltungsgeschehens. Vereinbarungen sind heute eine Grundform des Öffentlichen Rechts, in Verwaltungsprivatrecht und verwaltungsrechtlichen Verträgen343, aber auch ganz allgemein in der vielbehandelten Kooperation der Verwaltung mit Privaten344. Soweit hier Wertorientierungen Gewicht erlangen345, kommen solche, mit Bindungsqualität, auch als Verwaltungsverpflichtungen zum Tragen, in schonender Berücksichtigung der individuellen Überzeugungen. Das führt dann zu etwas wie einer individualethischen Überwirkung von Verhaltensregeln, damit zu einer eigenartigen flächendeckenden Form von „Privatisierung des Öffentlichen Rechts“; denn es ist ja schwer vorstellbar, dass ein und dasselbe Verhalten, welches Staatsinstanzen zusammen mit Privaten in Kooperation zeigen, nur von einer Seite her „ethikbeeinflusst“, wenn nicht -gesteuert erfolgt. Diese selbe Wirkung entfaltet sich übrigens auch in der „Funktionalen Selbstverwaltung“346, soweit sie vor allem in der gewerblichen Wirtschaft Private einbezieht. Dies bringt dort dann nicht nur deren jeweilige Interessen, sondern auch ihre individualethischen Bindungen zum Tragen347, wobei beides ja weithin in notwendiger Verbindung zu sehen ist. c) Private als Partner von Leistungsbeziehungen wirken schließlich, mit ihren individualethischen Überzeugungen und durch diese geprägten Erwartungen, in Formen einer „Moralisierung der Öffentlichen Verwaltung“, ebenfalls bedeutsam auf deren Verhalten ein. Dies gilt für den Gesamtbereich „Daseinsvorsorge“ in all ihren sozialstaatlichen Ausprägungen, darüber hinaus aber speziell für die gesamte Personalverwaltung: Diese stellt gewissermaßen die Brücke her von der leistungsgeprägten Personalverwaltung zu jener Kooperation mit Privaten (vorsteh. b)), welche ja auf staatlicher Seite von staatlichen Bediensteten geleistet wird. Das gesamte öffentliche Dienstrecht ist auf Erwartungen an und Verpflichtungen der Verwaltung ausgerichtet, welche eine daseinsvorsorgende, zugleich aber darin auch unmittelbar individualethische Beziehung zwischen der Administration und ihren Organen aufweisen. Der Staat baut sich ja nicht nur im demokratischen Wahlrecht, sondern insbesondere in der Leistung seiner Bediensteten demokratisch auf individuellem Verhalten von Menschen auf, die nach ihren individualethischen Überzeugungen leben wollen und dürfen, von Verfassungs wegen. Dies verbietet vor
343
S. Leisner, Vertragsstaatlichkeit (FN 4), S. 91 ff. Vgl. Schuppert (FN 340), S. 290 ff. 345 S. Schuppert (FN 340), S. 367. 346 Dazu noch immer grdl. Kluth, W., Die funktionale Selbstverwaltung. Verfassungsrechtlicher Status – verfassungsrechtlicher Schutz, 1997. 347 Vor allem im Bereich von Art. 12 GG, insbesondere im Wettbewerbsverhalten (vgl. vorsteh. VII.). 344
X. Individualethik und Regelungsbereiche des Staatsorganisationsrechts
151
allem eine moralisch besonders verwerfliche Ämterpatronage im öffentlichen Dienst348.
3. Insbesondere das Berufsbeamtentum und die Individualethik a) Das Berufsbeamtentum ist ein Rechtsstatus, der noch immer die Staatsorganisation durchgehend prägt: von den Parlamentsverwaltungen über die Ministerstellung, die seinen Grundzügen angenähert ist, bis zu der von ihm wesentlich getragenen Verwaltung und zur Richterstellung, in welcher seine Prinzipien noch spezieller ausgeprägt erscheinen. Als solches kommt das Beamtentum zwar „aus einer anderen Rechtswelt“ als der der Demokratie. Seine rechtlichen Ursprünge liegen in einem Monarchismus, in dessen vor-demokratischer Epoche das Beamtentum als Vollstrecker transpersonaler Staatsvorstellungen entstanden ist und entscheidend gewirkt hat349. Der Republik ist es in Deutschland, seit der Weimarer Zeit, nur unvollkommen gelungen, mit diesem zwar nicht feudal-ständisch gebildeten, aber in seinen Entwicklungen eben in diesem Sinn wirkenden Status politisch „ihren Frieden zu machen“, das Berufsbeamtentum als Träger der egalitären Republik voll in traditioneller Festigkeit anzuerkennen. Gerade in den vergangenen Jahrzehnten hat sich vielmehr seine Annäherung an das „allgemeine Beschäftigungsrecht“ der Angestellten und Arbeiter immer weiter verstärkt; manches spricht dafür, dass es letztlich nur mehr ein „Rechtsstatus in Auflösung“ ist. Immerhin wirkt das Berufsbeamtentum, auch in diesem Zustand, noch immer praktisch-politisch als Grundlage der demokratischen Staatsform, die es gerade in rechtlichen Gestaltungen festigt. Sie weisen eine spezielle Nähe auf zu Vorstellungen einer „Standes-Ethik“, darin zugleich zu individualethischen Vorstellungen und Überzeugungen, welche diese letzteren tragen. Und in diesem Sinn ist „das Berufsbeamtentum“ noch immer ein im besonderen Maß individualethisch-geprägter Rechtsstatus. Dies sei im Folgenden in kurzen Anmerkungen angedeutet350. b) Das Berufsbeamtentum wird von jeher, wie kaum eine andere Institution gerade des Deutschen Öffentlichen Rechts – für welches es sogar typisch und als solches ein international anerkanntes Vorbild ist –, bestimmt durch Prinzipien, in denen sich weithin ein geradezu offener Rückgriff auf tragende individualethische
348
Vgl. Schuppert (FN 340), S. 653 f. S. A. I., II., 1., 2.; Leisner, W., Prognose im Staatsrecht. Zukunft und Verfassungsrecht, 2015, S. 70 ff. 350 Sie erfolgen in Stichworten, zu welchen für nähere Ausführungen und Nachweise verwiesen wird auf entsprechende Stellen in Leisner, W., Schriften zum Beamtenrecht und zur Entwicklung des Öffentlichen Dienstrechts (Hg. v. Isensee), Entwicklungen des Öffentlichen Dienstes, 1968 bis 1991, 1995. 349
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D. Bestimmungen mit individualethischem Entscheidungsgehalt
Inhalte zeigt. So konnte es sogar als eine Ausdrucksform eines „Personalismus“ bereits früher angesehen werden351: - Von typischen „Beamtentugenden“, einem „Beamtenethos“ kann allgemein gesprochen werden, von einem „Funktionsvorbehalt“ als Ausdruck einer Verfassungsmoral352, in der geradezu kantianische Moralvorstellungen zum Ausdruck kommen. Sie treten in einer „Beamtenmentalität“ in Erscheinung, welche in einem Ehren/Standeskodex rechtlich fassbar wird. Dem liegen allgemeingrundsätzliche Rezeptionen individualethischer Werte zugrunde, welche den Status als solchen legitimieren, aus denen heraus alle ihn gestaltenden Rechtsregeln auszulegen sind. Anderen Verfassungswerten gegenüber „legitimieren“ sie gerade das Berufsbeamtentum. - „Dienst in Treue“ zum Dienstherrn353, zur von ihm repräsentierten Allgemeinheit, zum „Staat“, jenseits von Mehrheitspolitik: Das ist der innerste, der den Status konstituierende Pflichtenkern des Beamtenrechts. Das Amt bedeutet Dienst, als Hingabe, nicht in „Jobdenken“ und zu reinem Broterwerb, insgesamt in einer eben auf ein Amtsideal bezogenen Loyalität. All dies sind Kategorien, in denen menschliches Handeln aus einem deutlich individualethischen Hintergrund hervortritt, von ihm, seinen menschlichen Tiefendimensionen, entscheidend geprägt ist. - Die Leistung, die gesamte Leistungs-Austauschbeziehung des Berufsbeamtentums trägt die Züge individualethischer Verpflichtungen und Rechte, weit hinaus über soziale Bedürfnisbefriedigung in jeweiliger Gegenwart. Die Leistungspflicht als solche ist Ausdruck dieser Grundüberzeugungen354; die Inkompatibilitäten des Status mit anderen Tätigkeiten, seine Unparteilichkeitsverpflichtung355, vor allem aber die politische Zurückhaltungspflicht der Beamten und das Streikverbot sind Ausdruck tiefgreifender Konkretisierungen dieser Pflichtenlage. Dies alles legitimiert sich letztlich allein nicht aus Pflichten, die zur Festigung politischer Ordnung einer Gruppe von Bürgern auferlegt werden; es kann nur wesentlich verstanden werden als ein Appell an tiefinnerliche individualethische Überzeugung(sbereitschaft). Auf der anderen Seite entspricht dem, im beschäftigungsrechtlichen Austauschverhältnis, eine ebenso ethisch begründete und auch wirkende Verpflichtung des Dienstherrn zu einer lebenslangen Sicherung des Beamten; sie geht, in ihren Ausmaßen und ihrer Unbedingtheit, weit über alle sonstigen nicht nur beschäftigungs-, sondern zivil- und öffentlich-rechtlichen Pflichtenlagen hinaus.
351 352 353 354 355
Leisner (FN 350), S. 163. Leisner (FN 350), S. 178 ff., 197, 225. Leisner (FN 350), S. 71 f., 125 f., 168 ff. Leisner (FN 350), S. 273 ff. Leisner (FN 350), S. 66, 121 f., 167 f.
X. Individualethik und Regelungsbereiche des Staatsorganisationsrechts
153
Der Gesamtstatus des Berufsbeamtentums erscheint in all dem als ein nicht nur besonderes, sondern deutlich grundsätzlich gestaltetes Rechtsverhältnis, geprägt durch individualethische Inhalte. Und nicht zuletzt deshalb war ja auch die so eminent ethisch durchformte Erziehungsaufgabe356 traditionell „Lehrern als Beamten“ anvertraut, früher357 … Sollte sich, in all diesen Bereichen, eine „Entethisierung“ des Berufsbeamtentums ankündigen, so wird eine solche Entwicklung die Verwaltung ganz allgemein tiefgreifend verändern.
4. Die Richter Die Judikative ist der ethisch tiefste und zugleich der normativ höchste Ausdruck der staatsorganisatorisch institutionalisierten Individualethik in der Demokratie. Ihr, letztlich einem „Gouvernement des juges“ (Edouard Lambert schon 1936), sollen sich die virtuell allmächtigen staatlichen und sozialen Gewalten beugen, dem Intellekt und dem Willen weniger völlig machtloser Individuen, die „(das) Recht (aus) sprechen“, es allein darin letztlich sogar zur Durchsetzung führen. Dieser wahrhaft großartige geistige Staatsakt des Staatsrechts, perfektioniert in der gewaltenbändigenden Demokratie, bedeutet als solcher eine einmalige Moralisierungsanstrengung einer Staatsform. Bei aller Entartungskritik, wie sie gerade der Verfasser nicht selten gegenüber der „Volksherrschaft“ formuliert hat358, sollte dies als eine demokratische Großtat anerkannt werden – weit mehr als bisher. Der Richter ist die einzige voll-individualethisch geprägte Instanz des geltenden Staatsrechts. Gesetzesunterworfenheit ändert nichts daran, das er im Augenblick der Entscheidung völlig allein ist mit sich selbst, d. h. aber mit seinem Gewissen, seinen Überzeugungen, seiner individuellen Moral. Niemand nimmt ihm diese „Last vor sich selbst“ ab, er bleibt in seinen Überzeugungen unter ihr stehen, auch wenn eine höhere Instanz diese nicht teilt. „Der Richter und die (Macht) der Moral“ – auf dieses Kapitel einer früheren Untersuchung359 darf verwiesen werden; es ist dies einmaliges Privileg, Verpflichtung, Versuchung zugleich. „Geltendes Recht ist Individualmoral der Richter“, insgesamt, in einem Ausmaß, das im Einzelnen stets – ein Rechtsgeheimnis, weil ein Entscheidungs-, ein Beratungs-Geheimnis der Richter bleiben wird. Recht(swissenschaft) will dies nicht lüften, aus gutem Grund: Damit würde der letzte rechtliche und auch politische moralische Halt brechen, den Demokratie und Mehrheit staatsrechtlich noch anerkennen. Die Roben symbolisieren dies: Sie wirken
356
Vgl. vorsteh. IX. 1. Leisner, W., Müssen Lehrer Beamte sein? 1980, in: ders. (FN 350), S. 240 ff. 358 Vor allem auch in kritischen Betrachtungen gerade zur Judikative, in Leisner, W., Das Letzte Wort. Der Richter späte Gewalt (FN 54), S. 135 ff., 269 ff. 359 Leisner (FN 358), S. 199 ff. 357
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D. Bestimmungen mit individualethischem Entscheidungsgehalt
nach außen als Aufruf zu Respekt – und sie verdecken das individualethische Innerste der Richter. Dieses verhüllt das Recht – eben ein individualethisch geprägtes. In Kollegialität muss der Richter sich überstimmen lassen – aber auch dies deckt das moralische Geheimnis der Gerichtsbarkeit. Es bricht erst auf im Sondervotum in allerhöchsten Instanzen, wo dann der Entscheidende aus seinem Gewissen heraus sprechen darf „Hier stehe ich …“. Dass seine Entscheidung „auf dem Scheiterhaufen der Mehrheit verbrannt werde“, bedeutet den Endsieg des Aller-höchsten auf Erden: Nicht der Ethik, sondern der Macht. Und (nur) deshalb glauben Viele noch immer an ein Jenseits in Gerechtigkeit – vielleicht eben sogar, in allerletztem Personalismus, an etwas wie ein moralisches Jenseits in jedem Richter. Und deshalb schließt dieser wissenschaftliche Versuch zu einem Personalismus im Respekt vor dem Geheimnis des Richtens, es ist das des Rechts, das des einzelnen entscheidenden Menschen.
E. Ausblick: Personalismus als staatsrechtlicher Auftrag I. Herrschaft des Menschen Die Untersuchung endet wo sie begonnen hat: Bei der Person des Einzelmenschen, bei ihm als einem Rätsel, das auch, ja gerade das so rationale Recht nicht lösen, nur beschreiben und begrenzen kann und will. In Transpersonalismus hat das Staatsrecht versucht, über die Persönlichkeit des Menschen hinweg, hinaufzusteigen in Ordnungen; in „Demokratie aus Individuen“ ist es zum Menschen zurückgekehrt, zu seinen Geheimnissen in letzter Moral, aber auch zu einer Gewalt, mit der es jeden Knoten durchschlägt. Ethik der Menschen bleibt jedoch auch in dessen gelösten Strängen noch unerreichbares Geheimnis. Der Staat, das Recht und seine Wissenschaft muss es den Menschen lassen. Einiges aber können sie als Wirkungen eines „Personalismus im Staatsrecht“ sehen, vor allem als Auftrag: In der Individualethik, wie sie das Grundgesetz kennt und als rechtlichen Maßstab anerkennt, legitimiert es sich selbst darin, dass es nicht nur Ordnung von Regelungsmaterien ist, sondern aufruht auf dem Menschen, auf dem Einzelnen. Es ist dies wahrhaft das „ethische Grundgesetz“, wie es die weitestsichtigen unter seinen Vätern einst wollten: Zuhöchst Herrschaft nicht des Volkes, sondern des Menschen.
II. Mehr Individualismus Dies sollte ein Plädoyer sein für den Individualismus im Recht. Ein Bekenntnis zum Einzelnen, aus dem alles sich aufbaut im Staatsrecht; deshalb sollte, muss dieses immer noch mehr Privates (an)erkennen, achten, ihm folgen. Vorbilder sollten ihm alle Rechtsbeziehungen sein, welche „in Nähe zum Einzelnen“ sich zeigen, das Privatrecht zu allererst – daher Privatisierung des Öffentlichen Rechts. Nur hier lassen sich immer weitere Räume eröffnen für ein Verhalten aus Individualmoral. Mehr Mitbestimmung sollte daher wirken, auf allen Ebenen des Staates – aber nicht in dessen Auflösung in immer noch zahlreichere, kleinere, stets noch tiefer eindringende, individualgefährdende Kollektivismen. Achtung vor der Einzelentscheidung ist demokratisches Programm; keine Sorge vor „Missbrauch des Gewissens“, sollte zur „German Angst“ werden. Der Einzelne wird stets seine Grenzen
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E. Ausblick: Personalismus als staatsrechtlicher Auftrag
finden, will er fremdes Gewissen vergewaltigen. Dies ist seine ethische Schranke, nicht „die Ordnung“ durch „die Gewalt“.
III. Mehr Bildung Fehlverständnis eines Personalismus, wie er entwickelt werden sollte, führt zu dem heute mit Recht so gefürchteten Egoismus. Doch diese Angst darf nicht den Weg in einen Kollektivismus ebnen, der am Ende Individualmoral diktiert. Die Gefahr des politischen Egoismus lauert letztlich, und darüber besteht auch weiter Konsens, in dem, wogegen Ethik in voller Grundsätzlichkeit steht: in einem Materialismus, der real Greifbares, Geld, Güter, Macht sich zum Ziel setzt, für den sie nicht Mittel bleiben. Der ethisch gebildete Mensch, das platonische Ideal der Antike, muss zurückkommen, in geistiger Befriedigung und Befriedung. Individualismus in Bildung gegen Egoismus als Staatsgefahr: Das ist ein Staatsprogramm, welches vor allem blickt auf die Person als solche, auf ihren Geist, ihre Erkenntnisfähigkeit, nicht allein auf ihren Machtwillen. Recht und Staat verlangen den Rundblick, nicht den Durchbruch – (n)irgendwohin. Die Welt des heutigen Menschen, seine Gegenwart, hat nicht mit Gewalt begonnen, sondern in Staunen, das zu Erkennen führte. Im Erstaunen vor dem Geheimnis des Einzelnen muss sie sich fortpflanzen in Erkenntnis seiner Person – hinaufpflanzen im Personalismus des Menschen und, darin, seines Staates.
F. Ergebnisse I.
S. 13 bis 18: „Ethik“ im herkömmlichen Verständnis, insbesondere dem des kantischen „Kategorischen Imperativs“, kommt aus Individualmoral. Das gilt vor allem für das Privatrecht. Eine formale „Staats-Ethik“ als solche gibt es, als eindeutige Rechtsfigur, historisch nicht. Ansätze zu einer solchen im Fürstenrecht mündeten, seit dem 19. Jahrhundert, in eine „Gemeinschaftsethik“, neuerdings vor allem als eine „ökonomische Sozialmoral“. Mit all deren individualethischen Ursprüngen und Gehalten beschäftigt sich aber die klassische Staatslehre nur wenig. Es gilt in ihr, wie im Staatsrecht, hier zu vertiefen. S. 20/21: Im Verfassungsrecht sind neuerdings deutlich Bestrebungen zur Aufwertung allen „Menschlich-Persönlichen“, des Persönlichkeitsschutzes insbesondere, feststellbar. Dennoch wirkt ein „staatsrechtlicher Transpersonalismus“ noch immer fort, der Individualethik herkömmlich im Staatsrecht zurückgedrängt hat. Auch ein individualethisch erneuernder Personalismus hat daher von einer Betrachtung eines transpersonalen Verständnisses der Staatsgewalt auszugehen. S. 21 bis 32: Religiös-transpersonale Vorstellungen allein tragen eine Staatsethik heute nicht (mehr), sie schwächen sich laufend ab, als Rechtfertigungen und Grundlagen der Staatlichkeit. Dies zeigt sich seit langem in einem ständigen Verlust religiöser Fundamente des Staatsrechts, der Bedeutung einer „Moraltheologie“ in Staatspolitik. Staatskirchenrecht kann dies in Staatsethik nicht auffangen. In Entwicklungen von Ehe und Familie gerät gesellschaftlicher Transpersonalismus in Auflösung, vor allem in Bindungen von Großfamilien. „Ökonomischer Transpersonalismus“, aus Staatsgrundlegungen in einer Wirtschaftsordnung, kann in Marktwirtschaft transpersonale Staatsmoralisierung nicht halten oder gar neu entwickeln. „Wirtschaftsethisierung“ stößt an die Grenzen des Liberalismus. Staatsgrundsätzlicher Transpersonalismus wirkt allerdings noch immer weiter in einer „Machtstaatlichkeit“, die auf Staatsethik weithin verzichtet. Dennoch sind insgesamt alle Erscheinungsformen des historischen Transpersonalismus im Staatsrecht im Verschwinden. Neue staatsethische Kräfte kommen aus ihm nicht mehr, wo und wie immer solche früher gewirkt haben. S. 33 bis 42: Seit Beginn des 20. Jahrhunderts finden staatsethische Vorstellungen auch in Dogmatik und Staatspraxis der „neuen Demokratie“ keine bedeutsamen Ansatzpunkte. Ein gewisser, nun deutlich „staatsrechtlicher Transpersonalimus“ mag noch fortwirken, schwächt sich aber immer weiter ab. In der, noch weiterwirkenden, Staatslehre der Weimarer Zeit stand er schon nicht mehr im Mittelpunkt;
158
F. Ergebnisse
Tradition als eine Grundlage gerät nach 1945 ins Zwielicht; in verfassungsrechtlichem Systemdenken lässt sich dies nicht kompensieren. Neue Staatsethik ist nicht im Entstehen in irgendwelchen Transpersonalismen – es sei denn vielleicht in, noch unklaren, „Weltordnungsvorstellungen“. II.
S. 43 bis 52: Die freiheitliche Demokratie bedarf der Grundlage und Rechtfertigung in einem Personalismus, der aus Individualethik erwächst; sie ist die tiefere Grundlage ihrer staatsrechtlichen Freiheit. Die Grundrechte sind ein „rechtlicher Auf-Schwung“ zu einer Ethisierung des Staatsrechts, fortschreitend von Individualzu Gemeinschaftsethik. „Sozialethik“ darf aber nicht missverstanden werden als neue „staatskonzentrierte“ Form eines Transpersonalismus, in „Staatsschutz“, gegen „Freiheitsfeinde als Staatsfeinde“, in „Freiheit als Angstvorstellung vor Ideologisierungen“ in Staatspolitik. S. 52 bis 57: Ethischer Personalismus, wie er als Grundlage der Staatlichkeit zu entfalten ist, findet seine Ausgangspunkte in menschlichen Überzeugungen des Augenblicks, in dem „die Situation da ist“, nicht in Entwicklungskreis(läuf)en von Staatsformen. Staatsethik aus Individualethik wächst nicht notwendig in Formen eines rechtlich-technischen Evolutionismus, und auch nicht aus „staatsrechtlicher Fortschrittsideologie“. Im Blick auf antike Staatsethik kann aber staatsrechtlicher Personalismus eine historische Orientierung gewinnen. S. 57 bis 64: Freiheitliche Staatlichkeit kann ihre Grundlagen nur in rechtlichem Individualismus finden, in Individualethik als Quelle der Staatsethik. Hier ist Staatswille – Menschenwille; die Staatsgewalt handelt nur mit den Kräften der Menschen, deren Leben sie ordnet: also muss der Staat wollen, entscheiden, handeln wie der Mensch. Staatsorgane sind Menschen als Kompetenzträger. Über ihre Persönlichkeit wirkt Individualethik als Staatsethik. Diese kommt aber „von unten“, nicht aus einer (Un-)Moral von „Führern“. S. 65 bis 75: Gerade, vor allem, wenn nicht ausschließlich die Demokratie bedarf einer Individualethik als Staatsfundament. Staatliche Willensäußerungen müssen sich in ihr stets auf Menschen-Willen, insbesondere auf den Willen von Bürger (schafte)n zurückführen lassen, diesem nicht nur entsprechen. Der demokratische Mehrheitsstaat ist in seinem allmächtigen Allgemein-Willen dafür nur die staatsrechtliche Form. Er versteht sich als Ausdruck eines ethischen Bekennens. Soweit in ihm Staatspatriotismus lebt, Staatsbegeisterung, kann dies nur aus Individualethik erwachsen. Sie allein schafft Staatsvertrauen als Staatszutrauen. Damit wird die staatsrechtliche Fundamentalinstitution des „Vertrauens“ der Bürger zueinander in Staatlichkeit gehalten und in diese hinauf-gehoben. Die Forderungen der Gegenwart nach einem „entbürokratisierten“, „menschlichen“, „gütigen“ Staat, bis hin zu „Mehr Mitbestimmung“ übersetzen all dies in immer deutlichere Staats-, ja Machtpolitik. Den geistigen Grundströmungen im Deutschland der Gegenwart, christlichen, liberalen, sozialistischen Überzeugungen, wirksam in allen politischen Gruppierun-
F. Ergebnisse
159
gen, in vielfältigen Verbindungen, ist eines gemeinsam: Ihre tiefsten Grundlagen finden sich im Einzelmenschen und seinen ethischen Überzeugungen vom Jenseits, vom Diesseits des Miteinander, aus der Freiheit. Staatlichkeit aus Individualethik als solcher ist heute von einem Quasi-Total-Konsens getragen. III.
S. 76 bis 83: Die grundgesetzliche Ordnung ist rechtlich geprägt von einem Personalismus auf individualethischer Grundlage. Es gilt, ihn bewusst zu entfalten. Der deutsche Verfassungsstaat steht als „Person“ unter dem Kategorischen Imperativ, der für alle Rechtssubjekte gilt. In der Bindung an das „Sittengesetz“ (Art. 2 Abs. 1 GG) kommt dies zum Ausdruck, für Bürger wie Staatsgewalt(en). Letzteren steht kein Regelungsmonopol aus dem „Sittengesetz“ zu, im Sinn einer staatsdiktierten Sozialethik. S. 84 bis 87: Unter der Ordnung der „guten Sitten“ (§ 838 BGB) steht auch die Staatsgewalt. Jene beinhalten nicht „mehrheitlich Geübtes“, sondern sittlich Gebotenes. Grundrechte soll(t)en Ausprägungen dieser Ordnung sein, und sind es weithin. Insoweit bestimmen sie auch staatsrechtliche Beziehungen zwischen Privaten in der „Drittwirkung der Grundrechte“. Das bedeutet aber nicht „Staatsgewalt als letzte Ethikinstanz in Verfassungsregelung“. S. 88 bis 97: Gewissensentscheidungen sind, nach ausdrücklichen Verfassungsnormierungen, höchstrangige rechtsverbindliche Festlegungen, die der Einzelmensch für sich trifft. Nur so können Art. 4 Abs. 1 und Art. 38 Abs. 1 GG im Rahmen des Sittengesetzes verstanden werden. Staatliche „Gewissensüberprüfung“ muss stets vor einem Überzeugungsgehalt Halt machen. Eine in staatsrechtlicher Dogmatik wie Praxis festzustellende Abwertung, jedenfalls Zurückdrängung der rechtlichen Bedeutung des „Gewissens“ ist höchst bedenklich. Das Toleranzgebot ist Schutz der Gewissensfreiheit; sie findet ihre begrifflichimmanenten Grenzen an der Gleichheit fremden Gewissens. Widerstandsrecht (Art. 20 Abs. 5 GG) darf stets, muss aber nicht aus Gewissensentscheidung kommen. S. 97 bis 100: Mit religiös-ethischen Ordnungsvorstellungen versiegen nicht nur transpersonale Staats-Kräfte (vgl. 3.), sondern auch individualethische Quellen in der geistigen und gesellschaftlichen Entwicklung von Bürgern und in deren Gemeinschaften. Abschwächungen von Individualethik in allzu leichter Lösung familiärer Bande führen zu Problemen in einem Erziehungsbereich, den der Staat zunehmend besetzen muss, damit zu weiteren Verlusten von Individualethik in einer „Selbst-Entwicklung von Gemeinschaftsethik“. S. 100 bis 105: Im Privatrecht halten sich, noch immer weithin, vor allem im Geschäftsleben und bis ins Gesellschaftsrecht, individualethische Überzeugungen. Hier finden sie auch, vor allem in immer neuen Formen einer Wettbewerbsmoral, Eingang in gemeinschafts-, ja staatswirksame Rechtsformen. In ihnen ist die Staatsgewalt gefordert als behutsam-behütende Ordnungsmacht aus Individualethik
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F. Ergebnisse
der Bürger. Die Gleichheit wird zu einer staatsrechtlichen Brücke von Individualethik zu Staatsethik. S. 105 bis 120: Die staatsrechtlichen Grundentscheidungen, welche die Staatsform des Grundgesetzes prägen, sind vollständig in Individualethik zu bestimmen und anzuwenden. Für die „Demokratie“ wurde dies unter Nr. 5 ff. dargestellt. a) Für die Rechtsstaatlichkeit ergibt es sich bereits daraus, dass die Legalität als solche schon eine ethische Rechtsbindung des Kategorischen Imperativs für den Staat als eine „Person“, als ein Rechtssubjekt beinhaltet (vgl. 1). Zentrale Elemente der staatsrechtlichen Rechtsstaatlichkeit finden in der Individualethik bereits ihre Grundlage: Forderungen nach Klarheit und Bestimmtheit des Verhaltens, Folgerichtigkeit und Widerspruchslosigkeit, vor allem aber nach Verhältnismäßigkeit, als übergreifendes Rechtsprinzip – dies alles wirkt in foro interno wie in foro externo. b) Sozialstaatlichkeit ist individualethisches wie staatsrechtliches Gebot. Staatsrechtlich steht – nicht selten schillert – sie zwischen Gemeinschaftsbezug und Verteilungsstaatlichkeit. Beides kann sich gegen Individualethik wenden, enthält aber auch Überzeugungselemente derselben. Das marxistische „Jeder nach seiner Leistung, Jedem nach seinem Bedürfnis“, findet keine Grundlage in einzelmenschlicher Moralität, wohl aber eine unbedingte Existenzsicherung, welche „Persönlichkeit“ gewährleistet. Christliche Barmherzigkeit ist, in diesem Rahmen, eindeutig Ausdruck von Individualethik. c) Föderalismus mag vor allem als „rechtstechnisches“ Staatsorganisationsprinzip erscheinen. In ihm liegen aber tiefe individualethische Entscheidungsgehalte: In einem Aufbau „von unten nach oben“ soll Staatlichkeit „nah bei den – einzelnen – Menschen wirken“, nicht nur in deren kleineren Gemeinschaften. Bundesstaatlichkeit wird damit zur Beschränkung kollektivierender Mehrheitsdemokratie, bewährt sich in einer „Staatsvertraglichkeit“, welche individualmenschlichen Vereinbarungen und deren Vertragsethik entspricht. „Bundestreue“ ist „Treu und Glaube“, vom Privat- ins Staatsrecht gewendet. Auf den Stufen des föderalen Staatsaufbaus, insbesondere in den Ländern, entfalten sich „personal“ demokratische Führungskräfte. Der Föderalismus bietet Chancen einer „Führungsschule der Nation“. S. 121 bis 124: Die „Demokratie“ des Grundgesetzes beruht als Verfassungsprinzip in all ihren grundsätzlichen normativen Wesenszügen, im wahren Wortsinn auf Individualethik. Sie mag in „rechtstechnischen“ Gestaltungen näher konkretisiert werden; ihr individualistischer Grundcharakter bleibt stets vorherrschend. IV.
S. 124 bis 126: Art. 1 GG schützt (nur) die menschliche Person, auch in „Vor- und Nachwirkungen ihres Lebens“, in Existenz-Hilfe: Dies ist eindeutig Staatsrecht aus personaler Ethik. In der Demokratie ist „Würde des Staates“ eine Personalausstrahlung der staatstragenden Menschen.
F. Ergebnisse
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S. 126 bis 128: Art. 2 GG beinhaltet Persönlichkeitsschutz, insbesondere den einer Privatheit. Das ursprüngliche Verständnis von Abs. 1 als „PersönlichkeitsKernschutz“ wurde vom Bundesverfassungsgericht i. S. der Sicherung einer allgemeinen Handlungsfreiheit erweitert, aus systematischen Gründen. Dennoch entfaltet Art. 2 GG insgesamt, vor allem als Grundlage eines Allgemeinen Persönlichkeitsrechts, noch immer deutlich personalethische Normbedeutung. S. 128 bis 130: Art. 3 Abs. 1 GG proklamiert die Allgemeine Gleichheit, sie ist moralisch in Personalismus begründet, nicht aber i. S. einer ganz allgemeinen rechtlichen Gleichbehandlungsverpflichtung. Der Staat darf Differenzierungsgründe normieren, dabei hat er jedoch individualethische Überzeugungen zu achten. Die Verfassung gebietet unbedingte Achtung (ethischer) Individualität(süberzeugung)en Anderer. S. 132/133: Art. 4 GG sichert verfassungsrechtlich in der Glaubens- und Gewissensfreiheit deren individualethische Inhalte, wie das Staatskirchenrecht dies rezipiert hat, darüber hinaus in der weltanschaulichen Überzeugung. Dies kann als Ausdruck eines Globalschutzes der ethischen Überzeugungsfreiheit im Verfassungsrecht verstanden werden. Das Grundgesetz verleiht damit nicht nur den Religionsgemeinschaften, sondern allen menschlichen Personen verfassungsrechtlichen Öffentlichkeitsschutz aus Individualethik. In Toleranz ist dabei Gleichheit unbedingt zu achten. S. 133 bis 135: Art. 5 GG ist durchgehend individualethisch geprägt: a) Abs. 1 und 2 schützen rechtlich die Meinung als „Überzeugung“, (damit) als Individualethik in fieri. Meinungn müssen aber keinen moralischen Gehalt haben. Informations- und Medienfreiheit ist Voraussetzung individualethischen verfassungskonformen Verhaltens in der Gemeinschaft. In diesem Rahmen sind „ethische Richtlinien“ rechtlich zulässig; einen rechtlichen Überzeugungsschutz können sie aber nicht ausschöpfen. b) Kunst ist wesentlich „individuell zuzuordnen“, nach den verfassungsrechtlichen Kunstbegriffen ist sie deutlich auch Ausdruck einer tiefen persönlichen Überzeugungslage. Damit steht ihr Schaffen wie ihr „Konsum“ nahe bei individualethischen Motivationen. c) Für Wissenschaftlichkeit ist die Individualethik geradezu typusprägend. Sie kommt aus innerstem Erkenntnisstreben, ist mit ihren Gedanken (zunächst) „allein“, in Eigenverantwortung. S. 135 bis 137: Art. 6 GG ruht in all seinen Bestimmungen auf Individualethik. a) Abs. 1 schützt Eheschließung und Ehebindung als individualethische Entscheidung. Grundsätzliche Lebenslänglichkeit verlangt besonderen sittlichen Ernst. Die geschützte Klein-Familie beruht in ihrer rechtlichen Einheit auf konvergierendem individualethisch begründetem Verhalten. Dies gilt auch für „alternative Lebensformen“. Moralische Vorstellungen konkretisieren hier geradezu verfassungsrechtliche Bindungen.
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F. Ergebnisse
b) „Erziehung“ als „Recht wie Pflicht der Eltern“ (Art. 6 Abs. 2 GG), richtet sich auf eine allein ethisch begründbare Optimierung in umfassender Menschen-Bildung. Der (verfassungsrechtliche) Begriff der „(Eltern-)Verantwortung“ übernimmt dies in rechtlicher Bindung. Der „Vorrang des Kinderwohls“ konkretisiert es, ebenfalls moralisch, im Schwächerenschutz für die Heranwachsenden. „Erziehung im Grundgesetz“ verweist damit wesentlich auf individualethische Maßstäbe. S. 138 bis 141: Art. 12 GG „konstitutionalisiert“ – erstmals – umfassend „den Beruf“; dies ist verfassungsrechtlich noch nicht hinreichend gewürdigt; der Begriff ist, als „Schaffung/Erhaltung“ einer Lebensgrundlage, (zu) weitgehend ökonomisiert, damit ent-ethisiert worden. In ihm liegt aber vor allem auch der moralische Anspruch einer „Lebensgestaltung aus Berufung“, damit spezielle Verfassungswertigkeit. Die höhere Bedeutung der Berufswahl – gegenüber der Berufsausübungsfreiheit – ist individualethisch begründet und verdient stärkere Betrachtung, ebenso die Erkenntnis der Berufsausübungsformen in ihren moralischen Gehalten. Das Verfassungsrecht muss daher aus ethischen Gründen „Berufsordnungen“ weiten Raum in Autonomie gewähren, welche dies rechtlich in Freiheit ausgestalten. S. 141 bis 143: Art. 14 GG: Eigentum Privater war stets und ist wesentlich ein Grundrecht der Einzelpersönlichkeit, nach Zweck wie Formen seiner Sicherung. Seine „Privatnützigkeit“ wie seine wesentlichen subjektiven Abwehrrechte führen ebenso auf moralische Grundlagen zurück, wie die besondere Bedeutung des Eigentumsschutzes als Sicherung persönlicher Freiheit. „Ohne Eigentum – nutzlose Freiheit“ – das ist Individualethik pur. Der Gemeinschaftsbezug des Eigentums, seine sozialethischen Gehalte sind demgegenüber nachrangig, wirken nur als Schranken. Die Wesensbestimmung des Verfassungseigentums – aus Leistung, zur Sicherung, in Vertrauen – finden ihre Grundlagen in der moralischen Persönlichkeit des Einzelnen, in dessen individualethischem Verhalten. S. 143 bis 147: Die anderen Grundrechte sind alle, inhaltlich wie formal, ebenfalls mehr oder minder individualethisch geprägt: „Schulwesen“ (Art. 7 Abs. 1 GG) über „Erziehung“ (Art. 7 Abs. 2, 3 GG), „Religionsunterricht“ (Abs. 2, 3 GG) durch Art. 4 (Nr. 19), Privatschulrecht (Art. 7 Abs. 4 GG) durch Art. 6 und Art. 2 Abs. 1 GG, „Versammlungsrecht“ (Art. 8 GG) als besondere Form der Meinungsäußerung (Nr. 20), „Vereins/Koalitionsfreiheit“ (Art. 9 GG) als – wesentliche – Äußerungsform(en) „persönlichen Verhaltens“, „Briefgeheimnis“ (Art. 10 GG) als dessen Medium, „Freizügigkeit“ (Art. 11 GG) als lokale „Verhaltensfreiheit“, Wohnungsfreiheit (Art. 13 GG) als Sicherung eines „Stützpunktes der Persönlichkeit“. Die justiziellen Grundrechte (Art. 101 bis 104 GG) sichern die persönliche Freiheit als Voraussetzung moralisch verantwortlichen Handelns und als Schranke gegen ethisch belastenden Verdacht. Individualethik ist daher durchgehendes Leitmotiv der Grundrechte. S. 147 bis 154: Individualethik findet verfassungsrechtliche Anknüpfungspunkte vor allem in den Grundrechten, aber auch im „grundrechtssichernden“ Staatsorga-
F. Ergebnisse
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nisationsrecht wie in moralischen Verpflichtungen der Staatsorgane, in den drei Staatsgewalten: a) Das Gesetzgebungsverfahren steht unter ethischen Verpflichtungen nach den Grundsätzen der allgemeinen Staatsformbestimmungen (Demokratie, Rechts-, Sozialstaatlichkeit: Nr. 5 f., 15). Regelungsgegenstände wesentlich moralisch geprägten Verhaltens finden sich in zahlreichen Gesetzgebungsmaterien: Art. 72 GG, z. B. Naturschutz; Art. 73 GG, etwa Personalwesen, Urheberrecht, Verfassungsschutz; Art. 74 GG, insbesondere Strafrecht, Fürsorge, Beamtenrecht. Alle Normgeber der grundgesetzlichen Ordnung haben in ihren sämtlichen Entscheidungen laufend Individualmoral zu berücksichtigen, zu achten – anzuwenden. b) Die Verwaltung ist als Organ der „Person Staat“, an moralische Maßstäbe gebunden, vor allem in ihren sämtlichen Rechtsbeziehungen zu Privaten, als den Adressaten ihrer Anordnungen, als den (Mit-)Trägern ihrer Organisation(en), als ihren Partnern in Leistungsbeziehungen. Überall dort hat sie individualethische Überzeugungen und Verhaltensweisen zu achten. In sämtlichen Kooperationen „induzieren“ Einzelmenschen ihre Ethik der öffentlichen Administration, besonders in Autonomien der Funktionalen Selbstverwaltung. Näheres beschreibt die Verwaltungslehre. c) Insbesondere das Öffentliche Dienstrecht stellt die Verwaltung unter durchgehende Verpflichtungen zu personal-, damit (auch) individualethischem Verhalten, von der Übernahme einzelmenschlicher Verhaltensmuster bis zur „Fürsorgepflicht für Personal“. d) Das Berufsbeamtentum ist, historisch wie noch immer gegenwärtig, eine organrechtliche Verkörperung individualethisch bestimmten Staatshandelns. Aus Wurzeln „absoluter Persönlichkeit“ im Absolutismus entstanden, trägt es eine gewisse Standes-Ethik in Beamtenmentalität fort: in Treuebindung zum Dienstherrn, der dem in beispielloser sozialer Sicherung entspricht, wie in einem rechtlich exemplarisch ausgestalteten Prüfungs- und Leistungsprinzip. Für den Richter ist dies noch gesteigert zu einer Unabhängigkeit, welche auf seine Persönlichkeit allein setzt – und sie allein lässt in ihren Entscheidungen. Rechtlich und vor allem tatsächlich wird hier Individualethik unmittelbar zu geltendem Verfassungsrecht. S. 155/156: Ausblick: Personalismus bedeutet Recht als Herrschaft „des“, nicht „der“ Menschen; sie ruht auf dem Innersten jedes Einzelnen, nur darin ist sie legitim. Es gilt ein „ethisches Grundgesetz“: „Zuhöchst“ ist Herrschaft nicht „des Volkes“, sondern „des Menschen“. Gefordert ist „Mehr Individualismus“ im Staatsrecht, mit seiner Privatheit des Rechtsdenkens, seinen Mitbestimmungsrechten, in der Bildung „des“ Menschen – gegen Egoismus als Staatsgefahr, wie sie aus reinem Materialismus droht. Für alles Recht bleibt Staatlichkeit im Letzten ein ungelöstes Rätsel: Im Geheimnis des Einzelnen, in seiner Person.
Sachwortverzeichnis Abgeordnete 93, 122 Allgemeine Handlungsfreiheit 127 Allgemeine Staatslehre – Weimarer Zeit 17 Allgemeines Persönlichkeitsrecht 127 f. Aristokratie 14, 27 Autorität 69 Berufsbeamtentum 151 Berufsfreiheit 138 ff. – Berufsausübung 140 – Berufsordnung 140 – Berufswahl 139 f. Bestimmtheit 108 f. Bildung 156 Briefgeheimnis 144 Bürgertum 16 Bundestreue 120 Christentum – und Barmherzigkeit 116 f. – und Staatsethik 73 f. Civitas Dei 22, 74 Demokratie passim – als Verfassungsgrundsatz 121 ff. Dezisionismus 36 ff. Ehe 135 f. Eigentum 141 ff. Eignung 63 Einheit der Rechtsordnung 100 f. Ethik 5 – s. auch Freiheit, Grundrechte, Moral Evolutionismus 54 f. Existenzsicherung 115 f. Familie 24 ff., 94 f., 136 f. – Großfamilie 26 f. – und Kindererziehung 136 f. – Kleinfamilie 26
– Niedergang 24 ff. Föderalismus 117 ff. Folgerichtigkeit 109 Freiheit – und Eigentum 141 ff. – und Individualethik 57 ff. – und justizielle Grundrechte 146 f. – und Staatsethik 44 f. Freizügigkeit 145 Führung 63 f., 120 f. Gesellschaftsrecht 29 Gesetzgebung 147 ff. – Katalog 148 Gewissen 88 ff. – des Abgeordneten 93 – Gewissensfreiheit 90 ff., 130 f. Gewohnheitsrecht 85 Glaubensfreiheit 130 ff. Gleichheit 59 ff., 70 f., 104 f., 128 ff. – Differenzierungsgründe 129 f. – Staat, Mensch 60 ff. Gottesgnadentum 22 Grundrechte passim, 45 ff., 86 ff. – Drittwirkung 86 ff. – justizielle 146 f. Gute Sitten 84 ff. Historia Magistra 39, 67 – s. auch Tradition Ideologie 50 ff., 73, 95 f. Imperialität 28, 32 Individualethik passim, 44 ff., 53 ff., 76 ff., 155 ff. – und Demokratie 70 ff. – für Staatsorgane 61 ff. Individualismus passim Informationsfreiheit 133 f. Intermediäre Gewalten 71 Interpretationslehre 36
Sachwortverzeichnis Josephinismus 14 Kategorischer Imperativ 13, 53, 76 f., 106 Kinder(erziehung) 136 ff. Kirche – s. Staatskirche Koalitionsfreiheit 144 Kommunismus 16 f., 58, 113 – als Ideologie 51, 95 Kunstfreiheit 134 Leistung 63, 142 f. – Beamtenrecht 152 f. Liberalismus 30, 75 f. Machtstaat 31 ff. Marktwirtschaft 28 ff. Medien 73, 133 Mehrheit 65, 86 ff., 118 f. Meinungsfreiheit 132 f. Menschenrechte 79 Menschenwürde 79, 124 ff. Mitbestimmung 71 f. Monarchie 14 f., 22, 27 Moral passim – s. auch Ethik – Moral und Recht 81 f. – Richtermoral 86 Nationalsozialismus 30 f., 95 Normbegriff 107 Partei(en) 122 Patriotismus 67 f. Persönlichkeitsschutz 126 ff. Personalismus passim – und „Führermoral“ 63 ff. – in der grundgesetzlichen Ordnung 76 ff. – Staat als „Person“ 106 ff. Privatrecht – als Vorbild für Staatsrecht 100 ff. Rechte anderer 83 Rechtsstaat(lichkeit) 105 ff. Rechtssubjekt 76 f., 83 Reine Rechtslehre 35 f. Religion 21 ff. – s. auch Staatskirche
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– Rückgang 98 f. Religionsfreiheit 130 ff. Richter 153 f. Sanktion 103 f. Schulwesen 144 Sittengesetz 78 ff. – s. auch Gute Sitten – und Toleranz 94 f. Sozialethik passim, 16, 47 f., 79 f., 82 ff. Sozialismus 74 ff. Sozialrecht 25, 113 f. Sozialstaat(lichkeit) 111 ff. – Bedürfnis(se) 114 f. Staatsethik passim – antike 55 ff. – in der grundgesetzlichen Ordnung 77 ff. – aus Individualethik 53 ff. Staatsfeind 48 ff. Staatskirche 15, 22, 51, 99 Staatsrechtfertigung 81 Ständestaat 27 Stiftung 23 System – Systemdenken 39 – Wertesystem 59 f. Terrorismus 49 Testament 26 Toleranz 93 ff., 131 f. Tradition – und Transpersonalismus 38 f. Transpersonalismus 19 ff., 33 ff. Umverteilung 112 ff. Vereinsfreiheit 144 Verhältnismäßigkeit 110 Versammlungsfreiheit 144 Vertrag 31, 119 f. Vertrauen 31, 61 ff., 110 Verwaltung 149 – Kooperation mit Privaten 150 f. Volk 22, 121 f. Volkssouveränität 25 Wahlen 122 Wehrdienst 91 f. – s. auch Gewissensfreiheit
166 Weimarer Zeit 20 f., 24 f., 34 ff. – s. auch Allgemeine Staatslehre Weltanschauungsfreiheit 130 f. Wertesystem 59 f. – s. auch Grundrechte Widerspruchsfreiheit 109 Widerstandsrecht 96 f.
Sachwortverzeichnis „Wille zur Macht“ 32 Wirtschaftsethik 28 Wissenschaftsfreiheit 134 f. Wohnungsfreiheit 145 f. Würde – s. auch Menschenwürde