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German Pages 273 [272] Year 2013
Benno Hafeneger, Peter Henkenborg, Albert Scherr (Hrsg.)
Pädagogik der Anerkennung Grundlagen, Konzepte, Praxisfelder
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Debus Pädagogik Verlag Schwalbach/Ts. 2013
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Wochenschau Verlag Dr. Kurt Debus GmbH Schwalbach/Ts. 2002
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Inhaltsverzeichnis
Vorwort ........................................................................................................ 7 I. Anerkennung als pädagogische Idee Micha Brumlik: Anerkennung als pädagogische Idee ................................... 13 Albert Scherr: Subjektbildung in Anerkennungsverhältnissen. Über „soziale Subjektivität“ und „gegenseitige Anerkennung“ als pädagogische Grundbegriffe ................................................................... 26 Benno Hafeneger: Anerkennung, Respekt und Achtung. Dimensionen in den pädagogischen Generationenbeziehungen ................... 45 Gerhard Himmelmann: Anerkennung und Demokratie-Lernen bei John Dewey. Wie kann man Anerkennung lernen? ................................ 63 Jürgen Ritsert: Asymmetrische und reine Anerkennung. Notizen zu Hegels Parabel über „Herr und Knecht“ .................................... 80 II. Anerkennung in pädagogischen Praxisfeldern Peter Henkenborg: Politische Bildung für die Demokratie: Demokratie-lernen als Kultur der Anerkennung ........................................ 106 Werner Helsper, Angelika Lingkost: Schülerpartizipation in den Antinomien von Autonomie und Zwang sowie Organisation und Interaktion – exemplarische Rekonstruktionen im Horizont einer Theorie schulischer Anerkennung ..................................................... 132 Mechtild Oechsle: Generationendifferenz und Anerkennung: Mädchen im Blick von Lehrerinnen .......................................................... 157 Alfred Holzbrecher: Anerkennung und interkulturelle Pädagogik .............. 168 Horst Leps: Anerkennungsverhältnisse im Klassenzimmer Ein Lehrstück zum Thema „Gerechtigkeit“ ............................................... 177
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Inhalt
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Sibylle Reinhardt: Jugendliche Anerkennung zwischen Gemeinschaft und Politik – Bericht aus der Sachsen-Anhalt-Studie „Jugend und Demokratie“ ......................................................................... 190 Annedore Prengel: „Ohne Angst verschieden sein?“ – Mehrperspektivische Anerkennung von Schulleistungen in einer Pädagogik der Vielfalt ............................................................................... 203 Heidrun Hoppe: Anerkennung als differenzierte Reflexion von Studienleistungen in der Lehrerausbildung ......................................... 222 Burkhard Müller: Anerkennung als „Kernkompetenz“ in der Jugendarbeit.................................................................................... 236 Kurt Möller: Anerkennungsorientierung als pädagogische Antwort auf den Konnex von Männlichkeit und Gewalt – Grundlegende Skizzen ............................................................................... 249 Autorenverzeichnis .................................................................................... 269
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Vorwort
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Vorwort
Erziehungswissenschaft sowie Bildungs- und Erziehungssoziologie haben ihre Aufgabe seit den siebziger Jahren wesentlich darin gesehen, pädagogische Ideale als Illusionen zu dekonstruieren, die an den Widersprüchen zwischen pädagogischen Ansprüchen einerseits, den Möglichkeiten organisierter Erziehung und der Realität der übermächtigen gesellschaftlichen Verhältnisse andererseits scheitern. Das Programm einer sozialwissenschaftlich fundierten Ent-Täuschung bzw. Desillusionierung von Pädagoginnen und Pädagogen hat weitreichende Wirkungen gehabt. Gegenwärtig gibt es deutliche Anzeichen dafür, dass es nicht mehr überschießende und unrealistische Utopien sind, die in pädagogischen Diskursen zirkulieren, sondern eher Varianten einer neuen Bescheidenheit und auch der Resignation und der Preisgabe von Hoffnungen auf Veränderungsmöglichkeiten, die einem Diktum Paolo Freires zufolge unverzichtbares Moment jeder pädagogischer Praxis sind. Die Ursache hierfür kann zwar nicht allein in den Wirkungen sozialwissenschaftlicher Kritik gesehen werden. Von erheblicher Bedeutung für die Erosion von Hoffnungen und Utopien aus der Pädagogik waren und sind die anhaltenden gesellschaftlichen Krisenentwicklungen ebenso wie die Geringschätzung von Erziehung und Bildung in einer Gesellschaft, die sich zentral vor allem als eine wirtschaftliche Interessengemeinschaft versteht. Vor diesem Hintergrund besteht Anlass für die Wiederbelebung einer solchen pädagogischen Diskussion, die positiv nach den Chancen und den uneingelösten Ideen pädagogischen Handelns fragt, die also nicht von vornherein resignativ angelegt ist, sondern die das Bestehende weiterhin unter Möglichkeitsdruck stellen will. Dazu bedarf es pädagogischer Begriffe und Theorien, die auszuweisen vermögen, worauf Pädagogik als Erziehung und Bildung ausgerichtet ist, die es also ermöglichen, ein eigenständiges fachliches Selbstverständnis und professionelles Profil zu begründen. Der „Abschied vom Normativen“ entbindet die Erziehungswissenschaften nämlich keineswegs von einer Auseinandersetzung mit der normativen Problematik einer Präzisierung der inhaltlichen Kriterien von Erziehung, Bildung, Schulqualität und Professionskultur. Dies ist gerade deshalb wichtig, weil Pädagogik immer wieder mit politischen und wirtschaftlichen Erwartungen und Aufgabenzuweisungen konfrontiert wurde und wird. Politik und Öffentlichkeit artikulieren nachdrücklich ihre Vorstellungen darüber, was Pädagogik leisten soll und kann. So galt es in den neunziger
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Jahren als vordringliche Aufgabe, einen Beitrag zur Prävention in Bezug auf Drogenmissbrauch, Gewalt, Kriminalität und Rechtsextremismus zu erbringen. Eingefordert wurde ebenso immer wieder eine Pädagogik der Wertevermittlung. Unter dem Stichwort Gender-Mainstreaming bzw. Geschlechterdemokratie wird seit einiger Zeit intensiv über eine solche Pädagogik diskutiert, die zur Überwindung tradierter Benachteiligungen im Geschlechterverhältnis beiträgt. Neuerdings verschieben sich im Zusammenhang der Diskussionen um Europa als „Wissens- und Informationsgesellschaft“ und in Reaktionen auf die PISA-Studie die Akzente in Richtung auf einen im Kern als arbeitsmarktgängige Qualifizierung verstandenen Bildungsauftrag der schulischen und außerschulischen Pädagogik. Pädagogik soll darauf verpflichtet werden, sich an dem Ziel der „Ausschöpfung der Humanressourcen“ zu orientieren. Über diese und andere Erwartungen an die Pädagogik kann sinnvoll nur auf der Grundlage eines eigenständigen und fachlich begründeten Selbstverständnisses diskutiert werden. Denn schulische und außerschulische Bildung sind kein Universalwerkzeug, das für beliebige Zwecke eingesetzt werden kann. Sie unterliegen vielmehr eigenen Gesetzmäßigkeiten und sind der eigenständigen Logik pädagogischen Handelns verpflichtet. Erziehung, Bildung und auch Ausbildung sind keine Prozesse, die angemessen als einseitige Beeinflussung oder Prägung von Kindern und Jugendlichen durch professionelle Pädagogen verstanden werden können. Vielmehr sind Kinder und Jugendliche ebenso wie die erwachsenen Generationen eigensinnige und eigenverantwortliche Subjekte ihrer Lebenspraxis, die sich vor dem Hintergrund ihrer Lebensgeschichte, ihrer aktuellen Lebenssituation und ihrer Zukunftsentwürfe mit den Zwängen und Möglichkeiten auseinander setzen, die sie in den unterschiedlichen pädagogischen Feldern vorfinden. Eine Pädagogik, die mehr sein will als ein mehr oder weniger effektives und effizientes Mittel der bloßen nützlichkeitsorientierten Wissensvermittlung oder der Vermittlung gesellschaftlich vorgegebener Werte und Normen hat deren Eigensinn und Eigenverantwortlichkeit zu respektieren – nicht als einen Störfaktor oder als didaktisch zu berücksichtigendes Moment der Motivationsbeschaffung, sondern als prinzipiell zu respektierende Qualität menschlicher Subjektivität. Der Begriff Anerkennung steht insofern nicht für ein weiteres Themenfeld der ohnehin zahlreichen und vielfältigen pädagogischer Diskurse, sondern für eine zentrale Dimension pädagogischer Theorie und Praxis. In der Anerkennung ihrer Adressaten als Subjekte ihrer Lebenspraxis konstituiert sich eine modern-reflexive Pädagogik. Sie ist dem grundlegenden Ziel verpflichtet, Individuen in der Entwicklung selbstbestimmter und rational begründeter Entscheidungs-, Handlungs- und Urteilsfähigkeit zu unterstützen. Dies setzt die Anerkennung der Fähigkeit jedes Einzelnen als ein Individuum voraus, das prinzipiell über entspre-
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chende Fähigkeiten verfügt, deren Entfaltung mit den Mitteln der Pädagogik gefördert und unterstützt werden kann. In den heterogenen Arbeitsfeldern der Pädagogik ist mit unterschiedlichen Begrenzungen und Beschädigungen solcher Fähigkeiten zu rechnen. Dies gilt nicht nur hinsichtlich des Wissens, der kognitiven Fähigkeiten sowie der moralischen und sozialen Kompetenzen, an die jeweils angeknüpft werden kann. Auch jeweilige rechtliche und organisatorische Vorgaben beeinflussen die Möglichkeiten der Realisierung einer Pädagogik der Anerkennung. Dies gilt nicht zuletzt im Kontext von Schulen, die dem Auftrag verpflichtet sind, Leistungskonkurrenz mit dem Ziel der ungleichen Bewertung von Einzelnen im Interesse der Zuweisung individueller Karrierechancen zu fördern. Im Kern stimmt die Idee einer Pädagogik der Anerkennung substantiell mit einem Verständnis der modernen Gesellschaft als Demokratie überein. Sie ist vom gleichen Menschenbild geleitet wie ein Demokratiemodell, das auf die aktive Beteiligung und Interessenartikulation durch mündige und urteilsfähige Bürgerinnen und Bürger setzt. Die Bedeutung des Anerkennungsbegriffs für pädagogische Theorie und Praxis wird in den vorliegenden Beiträgen mit unterschiedlicher Akzentuierung sowie in Bezug auf heterogene pädagogische Handlungsfelder diskutiert. Gemeinsam ist allen Beiträgen gleichwohl das Interesse an einer solchen Fundierung pädagogischen Denkens, die sich nicht auf quasi-technologische Handlungskonzepte reduziert, sondern im Rekurs auf die Idee der Anerkennung nach den normativen Grundlagen einer gegenüber ihren Adressaten verantwortbaren Pädagogik fragt. Frau Angelika Hufnagl danken wir für die Schreibarbeiten. Benno Hafeneger, Peter Henkenborg, Albert Scherr Schwalbach, im April 2002
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Micha Brumlik
Anerkennung als pädagogische Idee „Nur wolle man ja nicht ... glauben, daß der Mensch erst jenes lange und mühsame Raisonnement anzustellen habe, welches wir geführt haben, um sich begreiflich zu machen, daß ein gewisser Körper außer ihm einem Wesen seines Gleichen angehöre. Jene Anerkennung geschieht entweder gar nicht, oder sie wird in einem Augenblicke vollbracht, ohne daß man sich der Gründe bewußt wird. Nur dem Philosophen kommt es zu, Rechenschaft über dieselben abzulegen.“ 1
1. Hegel oder Fichte Eine pädagogische Theorie der Anerkennung wird sich zu Recht vor allem auf die von Hegel in der „Phänonomenologie des Geistes“2 entfaltete Theorie des Kampfes um Anerkennung sowie die von ihr geprägte Theorie der Bildung beziehen.3 Dabei kann sie sich auf Arbeiten stützen, die den „Kampf um Anerkennung“ als Sammelbegriff für eine „moralische Grammatik sozialer Konflikte“ auf der Basis neuerer sozialwissenschaftlicher Überlegungen rekonstruieren.4 Freilich war der Hegel der 1806 erstmals gedruckten „Phänomenologie“ weder der erste noch der einzige seiner Generation, der sich mit der Thematik der Anerkennung auseinander gesetzt hat. Vor ihm hat sich bereits Johann Gottlieb Fichte in seiner „Grundlage des Naturrechts nach Principien der Sittenlehre“5 im Jahr 1796 dieser Frage zugewendet. Fichtes Überlegungen sind für eine pädagogische Theorie der Anerkennung in mehrfacher Hinsicht von Interesse: 1. Fichte hat – klarer als Hegel – seine Anerkennungstheorie unmittelbar auf Intersubjektivität hin angelegt und darauf verzichtet, seine Theorie der Anerkennung – wie Hegel es tat – zugleich religionstheoretisch und gesellschaftsgeschichtlich einzubetten; 2. hat Fichte ein deutliches Bewusstsein davon, dass „Anerkennung“ eine vorreflexive Gegebenheit des sozialen Lebens von Menschen ist, die die Philosophie nur nachzuzeichnen, aber nicht zu begründen hat; 3. sind bei Fichte die vorsprachlich leiblichen Aspekte dessen, was „Anerkennung“ bedeuten kann, deutlicher herausgearbeitet als bei Hegel. Damit legt Fichte einen Ansatz vor, der vertragstheoretischen und dezisionistischen Missverständnissen der Anerkennungstheorie für den Bereich des sozialen Lebens – im Unterschied zur Rechtssphäre – von Anfang an den Weg verstellt.6 4. Fichtes intersubjektivistische Theorie der Freiheit und der Selbstbestimmung
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ist von Anfang an im weitesten Sinne „pädagogisch“. Menschliche Wesen, die gar nicht anders können, als sich wechselseitig die Fähigkeit zum freien Handeln zuzuschreiben, kommen auch nicht umhin, sich zur freien Selbsttätigkeit aufzufordern: „Die Aufforderung zur freien Selbstthätigkeit ist das, was man Erziehung nennt. Alle Individuen müssen zu Menschen erzogen werden, außerdem würden sie nicht Menschen.“7 Indem Fichte – deutlicher noch als Kant – autonome Subjektivität mit guten Gründen nicht abstrakten Vernunftwesen, sondern den Angehörigen der Gattung Mensch zuschreibt und damit einen normativen Begriff des Menschen postuliert, legt er zugleich eine pädagogische Anthropologie vor, die auf einem vorsprachlichen und leibbezogenen, nicht nur dezisionistischen Anerkennungsbegriff beruht. Dieser leibbezogene Anerkennungsbegriff erheischt einen theoretisch entfalteten Begriff vom „Menschen“, der in den letzten Jahrzehnten aus unterschiedlichen Gründen in den Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften entweder in die Kritik geriet oder unzeitgemäß erschien. Was Günther Anders vor einigen Jahrzehnten treffsicher als die „Antiquiertheit des Menschen“8 bezeichnet hat, ist auf eine Weise eingetroffen, die seine kühnsten Befürchtungen übertrifft. Während auf der einen Seite die neuere Tierverhaltensforschung immer drängender zu Bewusstsein bringt, dass vermeintlich den Menschen vorbehaltene Denk- und Verhaltensweisen, etwa die Fähigkeit von Symbolbildung, Bewusstsein und Selbsterkenntnis mindestens bei den Menschenaffen weit entwickelt ist,9 demonstriert die Reproduktionsmedizin nicht nur, dass menschliches Leben im Prinzip auch ohne Mutter und Vater entstehen kann, sondern auch, dass unsere Vorstellungen von menschlicher Individualität im Prinzip hinfällig geworden sind. Die Möglichkeit des Klonens von Menschen zerstört die Vorstellung, dass menschliches Leben im Prinzip eine unverwechselbare leibliche Ausdrucksgestalt hat und dass diese Gestalt ihren mehr oder minder zufälligen und deshalb eigenen Anfang in der Zeit nimmt.10 Beide wissenschaftlichen Ergebnisse: die durch geduldige beobachtende Forschung gewonnene Einsicht von der Bewusstseinsfähigkeit und Personalität von Menschenaffen hier sowie die durch analytische Verfahren gewonnenen Techniken zur Manipulation menschlicher Erbmasse auf unterschiedlichen Ebenen bezeichnen die vorläufigen Endpunkte eines sich weitenden Zirkels, in dessen Spannweite das, was einstmals als Mensch galt, immer verwaschener wird. Während auf der einen Seite das, was die Menschen als Gattung unverwechselbar auszuzeichnen schien – die Bewusstseins- und Reflexionsfähigkeit – schon im Tierreich vorzufinden ist, wird auf der anderen Seite die gelebte Einzigartigkeit eines individuellen Leibes zur Schimäre. Damit findet eine doppelte Enteignung statt: Geist und Körper der Gattung Mensch müssen von jetzt an als zufällige naturale Möglichkeiten, die jederzeit zur technischen Disposition stehen, gelten.
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Diesen Schwindel erregenden theoretischen Einsichten und technischen Möglichkeiten folgen hilflose und folgenreiche moralische Reaktionen und Provokationen. Während hier eine Menschenrechtsbewegung für Großaffen auf den Plan tritt, fordern dort Wissenschaftler, Politiker und Industrie die Beseitigung gesetzlicher Hemmnisse bei der Manipulation menschlicher Gene und Embryonen. Dem Einsatz für die Würde von Schimpansen und Orang-Utans entspricht die Abwertung der Würde des Menschen. Und so, wie hier der Beginn des menschlichen Lebens in der Zeit seiner Zufälligkeit entzogen und damit in seiner Individualität undeutlich wird, gewinnen dort Bestrebungen an Zuspruch, die das Ende des menschlichen Lebens seiner Zufälligkeit entziehen, damit vermeintlich seine Autonomie und Individualität retten wollen und damit den Tod deutlicher werden lassen. Während also der Anfang menschlichen Lebens mit der Geburt einen deutlichen Anfang markierte, Tod und Sterben aber oft genug einen undeutlichen Prozess mit ungewissem zeitlichen Ausgang darstellten, scheint die moderne Technik das Gegenteil zu bewirken. Der Anfang verliert sich in der Beliebigkeit willentlich herbeigeführter Genreproduktion und maschineller Embryonenpflege, während das Ende zum jederzeit herbeiführbaren, planbaren, genau datierbaren Eingriff wird. Beim gegenwärtigen Stand erscheinen Menschen als eine unter mehreren Gattungen bewusstseinsfähiger Tiere, die durch ihre eigenen symbolischen kulturellen Erzeugnisse das vernichtet haben, was sie der eigenen Meinung nach von den anderen Gattungen stets abhob: eine individuelle Zeit- und eine individuelle Leibgestalt.
2. Theorie des bildbaren Menschen Damit haben die modernen Biowissenschaften praktisch eingelöst, was der französische Philosoph Michel Foucault in seiner „Ordnung der Dinge“ als Ergebnis einer kritischen Analyse anthropologischer Entwürfe postuliert hatte: dass nämlich der Begriff des „Menschen“ eine neuzeitliche Erfindung sei und ebenso verschwinden werde wie ein menschliches Antlitz, das am Meeresufer in den Sand gezeichnet wurde. Foucaults „Absage an Sartre“, in der er 1966 begründete, warum gerade um der einzelnen Menschen willen der Begriff des „Menschen“ und mit ihm der „Humanismus“ als Ideologie destruiert werden müsse, endet mit einem programmatischen Aufruf: „Der Versuch, der gegenwärtig von einigen unserer Generation unternommen wird, besteht daher nicht darin, sich für den Menschen gegen die Wissenschaft und gegen die Technik einzusetzen, sondern deutlich zu zeigen, dass unser Denken, unser Leben, unsere Seinsweise bis hin zu unserem alltäglichsten Verhalten Teil des gleichen Organisationsschemas sind und also von den gleichen Kategorien abhängen wie die wissenschaftliche und technische Welt. Es ist das „menschliche
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Herz“, das abstrakt ist. Wir aber bemühen uns, den Menschen mit seiner Wissenschaft, mit seinen Entdeckungen, mit seiner Welt, die konkret ist, zu verbinden.“11 Foucaults programmatische Abkehr vom Humanismus berührt einen Begriff vom „Menschen“, der stets normative und das heißt in letzter Instanz ethische und normative Konsequenzen hatte. Auch auf den ersten Blick rein rationale Moralen, die ihre Imperative nicht durch starke Annahmen einer vorgegebenen menschlichen Natur oder einer verbindlichen Güterlehre bestimmen, sondern vor allem die logische Widerspruchsfreiheit bzw. widerspruchsfreie Verallgemeinerbarkeit derartiger Imperative ins Zentrum stellen (wie die Kant’sche) kommen offensichtlich ohne einen minimalen Begriff des Menschen nicht aus: „Das oberste Prinzip der Tugendlehre ist:“ – so Kant in der „Metaphysik der Sitten“ – „handle nach einer Maxime der Zwecke, die zu haben für jedermann ein allgemeines Gesetz sein kann. – Nach diesem Prinzip ist der Mensch sowohl sich selbst als andern Zweck und es ist nicht genug, daß er weder sich selbst noch andere als bloße Mittel zu brauchen befugt ist (dabei er doch gegen sie auch indifferent sein kann), sondern den Menschen überhaupt sich zum Zwecke zu machen ist an sich selbst des Menschen Pflicht.“12 Dieses Prinzip enthält ein – wenn auch begrenztes – Instrumentalisierungsverbot. Sich selbst und anderen Zweck zu sein, heißt zunächst nichts anderes, als dass die eigenen und vor allem die Wünsche, Bestrebungen und Absichten anderer zu achten sind, dass mithin keine Weise des Umgangs von Menschen untereinander akzeptabel ist, die ihre je eigenen Ansprüche auf bestimmte Lebensvollzüge missachtet oder unterbindet. Kant ist vorsichtig genug, ein bestimmtes Ausmaß an Instrumentalisierungen zuzulassen – verboten sind alleine jene Handlungs- und Denkweisen, die Menschen als reine, letzten Endes rechtlose Objekte treffen. Die Begründung dieses Instrumentalisierungsverbots liegt in dem Hinweis, dass das Menschliche des Menschen in seiner Fähigkeit liegt, Zwecke haben zu können. Für die Frage einer Begründung von Menschenwürde und Menschenrecht bedeutet dies die Klärung des Problems, was Kant unter „Zwecken“ versteht. Ist damit etwa die schlichte, gerichtete Regung gemeint, seinen Hunger zu stillen, sich fortzubewegen oder zu kommunizieren? Kant versteht unter der Fähigkeit, Zwecke haben zu können, die Anlage zu einer Freiheit, sich selbst aus Einsicht seinen sinnlichen Regungen entgegenzustellen und das eigene Handeln einer vernünftigen Prüfung zu unterziehen. Damit ist die Zugehörigkeit zur biologischen Gattung „Homo sapiens“ allenfalls eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung des Menschseins. Das moralische Achtungsgebot steht mithin unter der Bedingung, dass die Angehörigen dieser biologischen Gattung zu autonomen Individuen gebildet werden und dass sie dies über eine nicht ganz geringe Spanne ihrer Lebenszeit noch nicht sind oder einmal nicht mehr sein werden. Dieser für
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die Entfaltung einer Moral der Anerkennung notwendige Bildungsprozess lässt sich aber seinerseits nicht mehr aus einer Moral der Anerkennung von Gleichen regeln, weshalb in pädagogischen Bezügen eine auf den Ansprüchen von Freien und Gleichen beruhende Diskursethik zu kurz greift und an ihre Stelle eine „advokatorische Ethik“ zu treten hat. Tatsächlich bleibt unklar, auf welcher Basis die Diskursethik die Interessen jener berücksichtigen kann, die zur Teilnahme an rationalen Diskursen nicht fähig sind. Was bei Kant noch die Fähigkeit zum Hegen von Zwecken war, gerät in der Diskursethik zur wenigstens potentiellen Teilnahme an argumentativen Lebensformen. Sie vermag nach eigener Auskunft einen unbedingten Anspruch auf die Unverletzlichkeit der Person, die Anerkennung ihres Anspruchs auf ein freies Urteil und den Schutz der freien Kommunikation zu begründen. Diese Begründung bezieht die Diskursethik aus der Vorstellung, dass die Reflexion auf die je schon beanspruchten Normen vernünftiger Rede das Regulativ einer idealen Kommunikationsgemeinschaft deutlich werden lassen, die ihrerseits einen Anspruch auf praktische Einlösung impliziert. Sind es diese Fähigkeiten, die die Würde des Menschen begründen, so dass Personalität im Sinne von Argumentationsfähigkeit die notwendige Bedingung für das Zusprechen von „Würde“ ist. In diesem Fall wären nicht nur noch sprechunfähige Kinder aus dem Bereich zu respektierender Personen ausgeschlossen, sondern auch Demente, Bewusstlose, praktisch Bildbare, oder so genannte „Geisteskranke“. Warum sollten nach Maßgabe einer alleine auf „Argumentationsfähigkeit“ abhebenden Ethik menschliche Wesen einen kategorischen Anspruch auf Würde und Schutz haben, von denen etwa als sicher gelten kann, dass sie unter keinen denkbaren Umständen an dem teilnehmen könnten, was als argumentative Rede ausgezeichnet wird? Bei aktuell noch sprechunfähigen Kindern kann unter der Annahme einer „normal“ verlaufenden Entwicklung immerhin davon ausgegangen werden, dass sie durch advokatorisches, vorgreifendes Handeln einmal zu anerkannten, argumentationsfähigen Mitgliedern von Diskursgemeinschaften werden.13 Wie sind aber jene zu beurteilen, bei denen nach aller plausibel begründeten Prognose diese Möglichkeit ausgeschlossen ist? Sofern eine pädagogische Ethik der Anerkennung jenen Bereich, der herkömmlicherweise der „Sonderpädagogik“ zugeschrieben wird, nicht dezisionistisch ausblenden will, wird sie nicht umhin können, tiefer anzusetzen, nämlich nicht an der erwarteten oder erwartbaren Argumentationsfähigkeit der Edukanden, sondern an ihrer Angehörigkeit zur Gattung „Homo sapiens“. Einen entsprechenden Entwurf hat Johann Gottlieb Fichte 1796 postuliert: „… Dieses alles, nicht einzeln, wie es durch den Philosophen zersplittert wird, sondern in einer Überraschenden und in einem Momente aufgefasste Verbindung, in der es sich den Sinn gibt, ist es, was jeden, der menschliches Angesicht trägt, nötigt, die menschliche Gestalt Überall, sie sei bloß angedeutet, und werde durch ihn erst abermals, mit Notwendigkeit, darauf
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Übertragen, oder sie stehe schon auf einer gewissen Stufe der Vollendung, anzuerkennen und zu respektieren. Menschengestalt ist dem Menschen heilig.“14 An dieser Passage fällt nicht nur auf, dass sie sich ausdrücklich mit dem Gefälle von nur angedeuteter und vollendeter Menschengestalt auseinander setzt, sondern auch die angedeutete Begründung: Grund des Respekts ist der nur ganzheitlich einholende Sinn des menschlichen Antlitzes. Fichtes Begründung zielt also nicht – wie bei Kant oder oder in der Diskurstehik – auf das Achten von Zwecken bzw. die Fähigkeit zur Argumentation, sondern auf die Fähigkeit der Menschen, ihresgleichen zu bilden: „All dies, das ganze ausdrückende Gesicht ist, wie wir aus den Händen der Natur kommen, nichts; es ist eine weiche ineinanderfließende Masse, in der man höchstens finden kann, was aus ihr werden soll, und nur dadurch, daß man seine eigene Bildung in der Vorstellung darauf überträgt, findet und eben durch diesen Mangel an Vollendung ist der Mensch dieser Bildsamkeit fähig.“15 Die von Fichte – lange vor Gehlen – gesehene konstitutive Mangelhaftigkeit des Menschen impliziert eine Theorie der Bildung, die die Menschen in ihrem Anfang und Ursprung buchstäblich als „nichts“ ansieht: „Jedes Thier ist, was es ist: der Mensch allein ist ursprünglich gar nichts.Was er seyn soll, muß er werden: und da er doch ein Wesen für sich seyn soll, durch sich selbst werden.“16 Dabei ist sich Fichte darüber im Klaren, dass das genannte „durch sich selbst werden“ nicht als solipsistische, einsame Tätigkeit verstanden werden kann, sondern nur dadurch, dass Menschen einander als „Gleiche … halten.“17 Diese Anerkennungsleistung wird indes nicht freiwillig erbracht, sondern von der menschlichen Natur erzwungen: Menschen, die anders als Tiere nicht fertig, sondern nur „angedeutet und entworfen“ sind,18 verspüren als Gattungsangehörige voreinander keine Furcht und sind auf wechselseitige Mitteilung verwiesen. Ohne wechselseitige Hilfe der Menschen untereinander hätte die Gattung sich nicht erhalten können. Der neugeborene Mensch bedarf der Hilfe, er würde „ohne dieselbe, bald nach seiner Geburt umkommen. Wie er den Leib der Mutter verlassen hat, zieht die Natur die Hand ab von ihm, und wirft ihn gleichsam hin.“19 Diese konstitutive äußerste Hilflosigkeit ist der Motor der Selbstproduktion der Gattung, die sich nur dadurch zur Vernunft und zur Vervollkommnung bilden kann, dass sie sich bewusst und willentlich der Pflege und Bildung ihrer natürlichphysiologischen Eigenschaften bewusst zuwendet, also wichtiger Organe wie Haut, Mund und Auge sowie der eigentümlichen, nur Menschen möglichen Motorik. So habe die Menschheit ihr „wichtigstes Organ, das des Betastens … durch die ganze Haut verbreitet … in die Fingerspitzen gelegt ... weil wir es gewollt haben. Wir hätten jedem Theil des Leibes dasselbe feine Gefühl geben können …“20 In einem ebenso freien Willensakt habe sich die Gattung vom Boden erhoben und auf zwei Beine gestellt und damit die Freiheit der Hände erlangt. Dadurch wurde
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auch die Fortbildung des Auges als eines weltbemächtigenden, die Seele bildenden Organs möglich. Der Mund schließlich, der ursprünglich zum niedrigen Zwecke der Nahrungszufuhr bestimmt war, wird „durch Selbstbildung der Ausdruck aller gesellschaftlichen Empfindungen, sowie er das Organ der Mitteilung ist.“21 Fichte denkt die Menschlichkeit des Menschen auf der Basis einer leiblich grundierten Fähigkeit, um auf dieser Basis den Wunsch und Willen, diese Freiheit auch dort zu realisieren, wo sie noch nicht ausgeprägt, sondern lediglich angedeutet ist, als Grund für die Unantastbarkeit eines jeden Menschen zu beglaubigen. Der menschliche Leib ist für Fichte der Hinweis darauf, dass es sich bei dem Wesen, das wir anerkennen, um ein vernünftiges Wesen handelt. Ohne menschlichen Leib – so Fichte – ließe sich die zur Freiheit erheischte Gemeinsamkeit der Menschen nicht realisieren. In diesem Zusammenhang fällt auf, dass sich Fichte bereits vor mehr als zweihundert Jahren mit eben jener Frage auseinander gesetzt hat, die Foucault zu seiner Polemik gegen den Humanismus geführt hat und heute, angesichts von Tierverhaltensforschung, den Forschungen zur künstlichen Intelligenz, von Entwicklungspsychologie und Gentechnologie, heftig umstritten ist; die Frage der begründeten und mithin moralisch und rechtlich folgenreichen Zuschreibung des Prädikats „vernünftig“: „Denn wie weiß ich denn, welches bestimmte Object ein vernünftiges Wesen sei; ob etwa nur dem weissen Europäer oder auch dem schwarzen Neger, ob nur dem erwachsenen Menschen, oder auch dem Kinde der Schutz jener Gesetzgebung zukomme, und ob er nicht etwa auch dem treuen Hausthiere zukommen möchte.“22 Fichtes Antwort ist eindeutig: Er verweist auf eine Entscheidung der Natur, auf eine biologische Disposition, die „sogleich auf wechselseitige Mitteilung“ rechne. Es ist die menschliche Gestalt, der menschliche Leib, der dazu drängt, dass Menschen einander ohne jedes weitere Nachdenken anerkennen. Um dies zu vollziehen, bedarf es gerade nicht mühsamer theoretischer Überlegungen philosophischer Art – Aufgabe der Philosophie kann es in diesem Zusammenhang ohnehin nur sein, das zu entfalten, was im Leben selbstverständlich funktioniert: „Nur wolle man ja nicht ... glauben, dass der Mensch erst jenes lange und mühsame Raisonnement anzustellen habe, welches wir geführt haben, um sich begreiflich zu machen, dass ein gewisser Körper außer ihm einem Wesen seines Gleichen angehöre. Jene Anerkennung geschieht entweder gar nicht, oder sie wird in einem Augenblicke vollbracht, ohne dass man sich der Gründe bewusst wird. Nur dem Philosophen kommt es zu, Rechenschaft Über dieselben abzulegen.“23 Mit diesen Aussagen ist das Äußerste erreicht, was eine idealistische Philosophie, deren Ausgangs- und Endpunkt die normative Idee einer Gemeinschaft freier und einander anerkennender Wesen ist, in Bezug auf die Würde jener aussagen kann, die in vielfältiger Hinsicht diesem Ideal nicht zu genügen scheinen. Der philosophische Gedanke vollbringt nichts anderes, als den Sinn eines sich ohnehin
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entweder spontan oder überhaupt nicht vollziehenden Anerkennungsgeschehens zu entfalten, dessen Motor die menschliche Ausdrucksgestalt ist und das seinen Sinn darin findet, die in der Ausdrucksgestalt angelegte Freiheit in jedem einzelnen Fall zu realisieren. Was aber geschieht, wenn – wie Fichte richtig sieht – diese spontane Anerkennung unter Menschen einmal ausbleibt? Welche Argumente stehen dann zur Verfügung, in jedem einzelnen Fall Anerkennung und Würde einzuklagen? Wo die idealistische Philosophie der freien Anerkennung im Prinzip autonomer Wesen eine Begründungslücke aufweist, hat im Zwanzigsten Jahrhundert die Philosophie des Dialogs und der Existenz wieder angeknüpft und auf ganz anderen Voraussetzungen ein Denken menschlicher Solidarität begründet, das nicht von der Vernünftigkeit sprechenden Argumentierens ausgeht, sondern vom verpflichtenden Zwang der menschlichen Ausdrucksgestalt, des menschlichen Antlitzes. Eine solche Theorie ist auf der Basis von Phänomenologie, Dialogdenken und jüdischer Theologie von dem französischen, aus Litauen stammenden Philosophen Emmanuel Levinas entwickelt worden. In Levinas Phänomenologie zwischenmenschlicher Wahrnehmung finden die bei Fichte angelegten Überlegungen zur Paradoxie einer zwanghaften, vorsprachlichen und gleichwohl gewollten Anerkennung ihre Entfaltung.
3. Zu einer Ethik des Antlitzes Levinas moralphilosophische Überlegungen konzentrieren sich um zwei Interaktionserfahrungen bzw. deren Bezüge, die Levinas mit den Begriffen „Anderer“ und „Dritter“ umschreibt. Während die Kategorie „Anderer“ die ursprüngliche und nicht weiter hintergehbare Erfahrung eines unmittelbaren Verpflichtetseins verdeutlichen soll, dient die Kategorie des „Dritten“ dazu, eine systematische Idee von „Gerechtigkeit“ zu begründen. Ich beschränke mich im Folgenden auf die Verdeutlichung der ersten Kategorie, des „Anderen“ und ihrer Konsequenzen und übergehe Levinas Begriff des „Dritten“, mit deren Hilfe er zu entfalten versucht, wie man auf der Basis der „Theorie des Anderen“ zu einer traditionellen, politischen Gerechtigkeitstheorie gelangen kann.24 Die Erfahrung anderer Subjektivität, die als solche tatsächlich ernst genommen wird, hebt, so entwickelt Levinas seinen Gedanken in der Spur der Dialogphilosophie der Zwanziger Jahre, die von der Phänomenologie in der Erkenntnistheorie stets vorausgesetzte subjektive Intentionalität auf. Wird die Erfahrung anderer menschlicher Existenz ernst genommen, zeigt sich nämlich, dass die Faktizität zwischenmenschlicher Nähe jeder Vermutung über eine einseitige subjektive Leistung der Weltkonstitution vorausgeht. Konnte Descartes noch ein „Ich denke, also bin ich“ postulieren, so lässt ein Ernstnehmen der Erfahrung des Anderen nur noch Aussagen des folgenden Typs zu: „Ich werde angeblickt, ich werde angespro-
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chen, berührt, gegrüßt – also bin ich.“ Wenn dem so ist, so stehen die Menschen in gewisser Weise in der Schuld der anderen, ist jeder Mensch dafür verantwortlich, dass es andere gibt und muss jeder Mensch wissen, dass er jede seiner Lebensäußerungen letzten Endes anderen verdankt. Dieses unmittelbare Aufeinanderverwiesensein stellt eine vormoralische, vor jeder implizit oder explizit übernommenen Verpflichtung erfahrbare Schuld dar: „Der Nächste betrifft mich vor jeder Übernahme, vor jeder bejahten oder abgelehnten Verpflichtung. Ich bin an ihn gebunden – an ihn, der gleichwohl der Erstbeste ist, ohne Personenbeschreibung, nicht zum Ganzen passend – … Nicht deshalb betrifft mich der Nächste, weil er als einer erkannt wäre, der zur selben Gattung gehört wie ich. Er ist gerade Anderer. Die Gemeinschaft mit ihm beginnt in meiner Verpflichtung ihm gegenüber. Der Nächste ist Bruder. Als unkündbare Brüderlichkeit, als unabweisbare Vorladung ist die Nähe eine Unmöglichkeit, sich – ohne „Entfremdung“ oder schuldlos – davonzumachen …“25 Das in der Phänomenologie – etwa bei Heidegger – stets aufgebotene Existenzial der Nähe ist – so kann Levinas zeigen – systematisch unterbestimmt, wenn nicht die ursprüngliche Erfahrung der Nähe eines anderen, die nur die Nähe eines anderen Menschen sein kann, berücksichtigt wird. Diese Nähe äußert sich im Ausdrucksgeschehen der Gesichter anderer Menschen, die ihrer Andersheit wegen jeder Phänomenalität zugrunde liegen. Das Gesicht eines anderen Menschen zu verstehen, überschreitet – so Levinas – jede erfahrene Gegenwart und verweist auf eine zwanghafte Urbeziehung: „In der Nähe wird ein Gebot vernehmbar, das gleichsam aus einer unvordenklichen Vergangenheit kommt: die niemals Gegenwart war, die in keiner Freiheit begonnen hat. Diese Weise des Nächsten heißt Gesicht. Das Gesicht des Nächsten bedeutet mir eine unabweisbare Verantwortung, die jeder freien Zustimmung, jedem Pakt, jedem Vertrag vorausgeht.“26 Systematisch fragt sich, in welchem Sinn wir mit Fichte und Levinas – über die Diskursethik hinaus, die sich an den in jedem Sprechakt mitartikulierten und kontrafaktisch unterstellten minimalen, reziproken und daher legitimen Sozialerwartungen orientiert – von einer gleichsam vorpropositionalen Verantwortung sinnvoll sprechen können. Lässt sich von Pflichten und Verantwortungen angemessen sprechen, ohne auf wechselseitig anerkannte Regeln zu rekurrieren? Lässt sich von Regeln sinnvoll sprechen, ohne dabei vom in dieser Hinsicht stets vorgängigen Potential der Sprache zu zehren? Levinas komplexe und nicht immer klare Theorie des menschlichen Antlitzes lässt sich vielleicht so erläutern: Menschliche Gesichter enthalten als Ausdrucksphänomen und Zeichen – vor jedem sprachlichen Regelwissen – so etwas wie einen primitiven, unmissverständlichen Appell. Aus einer naturalistischen Beobachterperspektive dürfte dieser Befund kaum zu bezweifeln sein – Psychologie und vergleichende Verhaltensbiologie konnten eine Fülle bisher nicht widerlegter empirischer Belege dafür aufbieten,
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dass z.B. der gestische Ausdruck von Schmerz, Angst oder Traurigkeit von allen Menschen unter ganz unterschiedlichen Kontextbedingungen übereinstimmend verstanden wird. In moralphilosophischen Debatten ist jedoch allen Versuchen der Begründung einer Ethik auf einer so oder ähnlich inspirierten mitleidsethischen Basis, die in der Tradition am schlüssigsten von Arthur Schopenhauer entfaltet wurde, zweierlei überzeugend entgegengehalten worden: a. Aus derartigen Impulsen lässt sich kein Begriff der Gerechtigkeit ableiten – ohne eine Theorie der Gerechtigkeit aber lässt sich nicht von Moral sprechen. b. Die Ableitung einer Aufforderung aus der Feststellung eines Tatbestandes, etwa eines Gesichtsausdrucks, stellt einen so genannten naturalistischen Fehlschluss dar. Während es zur Stützung von Levinas Überlegungen keineswegs nötig ist, das erste Argument zu bestreiten, könnte gegen das zweite Argument vorgebracht werden, dass es sich selbst mindestens einer unbegründeten Setzung, wenn nicht gar einem entsprechenden Fehlschluss verdanke. Aber eine derart aufwändige Argumentation ist in diesem Zusammenhang gar nicht nötig; stattdessen genügt die Behauptung, dass die Wahrnehmung eines leidenden Gesichts genauso viel oder genauso wenig die Feststellung einer physikalischen Tatsache ist wie das Hören einer sprachlich artikulierten Äußerung. Auch zu solchen Äußerungen können wir eine beobachtende Haltung einnehmen und uns z.B. angesichts einer Bitte sagen: „Ich stelle fest, dass NN den Sprechakt einer an mich gerichteten Bitte vollzieht. Aus dieser Tatsache folgt für mich freilich im Sinne eines ethischen Sollens nichts.“ Dass eine derartige Haltung, auf das Ganze unserer Sprechhandlungen bezogen, einem Fehlschluss gleichkäme, braucht nicht weiter erläutert zu werden. Zu fragen bleibt nur: Warum in irgendeiner Weise verpflichtende Teilnehmerperspektiven lediglich in sprachlichen Interaktionen vorkommen sollen? Wenn aber – zumal was den sozialen Bindungscharakter zwischenmenschlicher Gesten angeht – die Sprechsprache nicht das einzig angemessene Kommunikationsmedium ist, dann entscheidet sich die Frage nach einer mitleidsethischen Begründung der Moral einmal mehr am Problem der Hintergehbarkeit der Sprache. Dieses Problem ist indessen kein rein moralphilosophisches, sondern ein prinzipielles, ontologisches Problem. Levinas will nicht nur die Hintergehbarkeit der Sprache hervorheben, sondern zudem deutlich machen, dass diese ursprüngliche Erfahrung zwischen den Menschen immer die Erfahrung einer empfundenen Schuld ist. Dabei verbindet Levinas drei unterschiedliche Argumentationsstränge: a. Ein erstes Argument entfaltet aus der Teilnehmerperspektive vorsprachliche, gestische Appelle als verständliche Ausdruckshandlungen; b. Ein zweites Argument trifft aus der Perspektive des beobachtenden Philosophen die Feststellung, dass diese von jedem Menschen erfahrenen Anmutungen ihn überhaupt als sinnverstehendes, erfahrendes Wesen konstituieren; c. Ein dritter Argumentationsgang interpretiert diese so, dass damit der genetische
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und systematische Vorrang normativer Beziehungen zwischen Menschen als Voraussetzung auch ihrer kognitiven Fähigkeiten erwiesen sei. Jetzt zeigt sich, dass der entscheidende Unterschied zwischen einer Ethik, die – wie die Diskursethik – auf implizit anerkannte sprachliche Geltungsansprüche oder – wie die phänomenologische Ethik – auf einseitig verstandenen Anmutungen gestischer Art setzt, in ihrer symmetrischen bzw. asymmetrischen Konstruktion liegt. Während eine Ethik der Symmetrie, die auf den gegenseitig anerkannten Regeln der Sprechsprache beruht, die unmittelbare Perspektive des Teilnehmers immer schon verlassen hat, beharrt eine Ethik der Asymmetrie auf der Unüberholbarkeit der leiblich vermittelten Standortgebundenheit. Wolfgang Krewani hat das so formuliert: „Die Asymmetrie ist die Tatsache, dass das Subjekt als ethisches seine Perspektive nicht verlassen kann zugunsten einer „objektiven“ Überschau über das Verhältnis. Das ethische Verhältnis zum Anderen ist grundsätzlich verschieden von der objektivierenden Vorstellung des Verhältnisses.“27 Demnach haben wir als Menschen zu erkennen, dass wir jenen anderen, mit denen wir konfrontiert sind, stets hinterher sind, dass die Spuren ihres Alters, ihres Leidens, ihrer Andersartigkeit Hinweise auf eine Vergangenheit individuellen Leidens sind, die wir als Anspruch an uns wahrnehmen, als einen Anspruch, dem wir genügen können oder nicht. Es ist dieser Appell, und sonst nichts, den wir als Begründung für eine unbedingt verpflichtende Moral in Bezug auf die Würde des Menschen in Anspruch nehmen. Ob wir diesen Anspruch hören, ob wir bereit sind, ihn allen gegenüber, die – wie Fichte sagte – Menschenantlitz tragen, gelten zu lassen, ist eine weitere Frage. Sie lässt sich nicht mehr durch den Rückgang auf eine Erfahrung klären, sondern nur durch den Willen, alles, was Menschenantlitz trägt, als Mitglied einer Menschengemeinschaft anzusehen und entsprechend zu behandeln. Dieser Gemeinsinn allen Mitgliedern der menschlichen Gattung gegenüber aber ist nichts, was gleichsam objektiv vorliegt, was gleichsam nur zu entdecken und anzuwenden wäre. Vielmehr handelt es sich dabei „nur“ um einen Beschluss – um eine Willenskundgebung, in gewisser Weise um einen Konstruktionsakt – einen Konstruktionsakt freilich, der nicht frei zu unserer Disposition steht. Die Gemeinschaft aller Menschen, wir müssen und können sie stiften, indem wir alle Angehörigen der biologischen Gattung vor dem Hintergrund von Gerechtigkeitsprinzipien und dem in jedem Antlitz laut werdenden Ruf nach Hilfe gleich behandeln sollen. Die Theorie der Anerkennung – vor allem wenn sie politisch verstanden wird – setzt das voraus, worum es geht, nämlich die reziproke Interaktionsbeziehung autonomer Individuen, ohne plausibel machen zu können, wie es zu diesen Beziehungen kommen kann; sie muss daher kontrafaktisch Verhältnisse antizipieren, die noch nicht hergestellt sind. Eine pädagogische Theorie der Anerkennung
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kann demgegenüber deutlich machen, dass voll entfaltete Anerkennungsbeziehungen zwar willentlich einzugehen sind, jedoch mehr und anderes als nur eine moralische Notwendigkeit darstellen. Die leibbezogenen und vorsprachlichen, zunächst im diffusen Feld familialer Interaktion hin- und herspielenden Prozesse lassen sich mithilfe psychoanalytischer Mittel auch auf der Basis der hegelschen Philosophie als eigentümliche Gestalten des Kampfes um Anerkennung abbilden.28 Freilich: Ob sich so der paradoxe Umstand, dass Anerkennungshandlungen im menschlichen Bildungsprozess weder freiwillig noch gezwungenermaßen, weder auf reziproker noch auf eindeutig asymmetrischer Basis, weder rein symbolisch noch rein leiblich vollziehen, theoretisch angemessen abbilden lässt, ist derzeit ungeklärt. Immerhin liegen hierzu wichtige Bausteine und Vorarbeiten vor: Eine Klärung des Nötigungscharakters der nicht nur erotischen, sondern auch pädagogischen Liebe29 gehört dazu ebenso wie eine Theorie der leiblichen Aspekte des Kampfes um Anerkennung.30 Eine sozialwissenschaftliche Entfaltung dieser philosophischen Intuitionen dürfte nach wie vor in einer zwar interaktionistisch und intersubjektiv bewussten, gleichwohl im besten Sinne orthodoxen Psychoanalyse besonders chancenreich sein. Ob die Entwürfe zu einer „allgemeinen Verführungstheorie“, die „unvollendete kopernikanische Revolution der Psychoanalyse“31 zu Ende bringen können, ist zu überprüfen. Beim derzeitigen Stand scheinen derlei Überlegungen jedoch der Paradoxalität einer pädagogischen Anerkennungstheorie am nächsten zu kommen: „Sich an jemanden richten, jemanden anreden ohne gemeinsames Deutungssystem, auf grundsätzlich außerverbale Weise, das ist die Funktion der Botschaften von Erwachsenen, dieser Signifikanten, von denen ich behaupte, dass sie gleichzeitig und untrennbar rätselhaft und sexuell sind …“32
Anmerkungen 1 Fichte, Johann Gottlieb 1971: Grundlage des Naturrechts nach Principien der Wissenschaftslehre. In: I. Fichte (Hrsg.): Fichtes Werke III, Zur Rechts- und Sittenlehre I. Berlin 2 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 1970: Die Phänomenologie des Geistes. Frankfurt/M. 3 Siep, Ludwig 2000: ,Der Weg der Phänomenologie des Geistes‘. Ein einführender Kommentar zu Hegels „Differenzschrift und „Phänomenologie des Geistes“. Frankfurt/M., S. 101-106, 189-206 4 Honneth, Axel 1992: Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte. Frankfurt/M.
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5 In: Grundlage des Naturrechts nach Principien der Wissenschaftslehre. In: I. Fichte (Hrsg.): Fichtes Werke III, Zur Rechts- und Sittenlehre I. Berlin 1971; vgl. H. Girndt (Hrsg.): Selbstbehauptung und Anerkennung. St. Augustin 1990; L. Siep: Praktische Philosophie im Deutschen Idealismus. Frankfurt/M. 1992, Teil I, S. 19-115; J. Stolzenberg: Fichtes Begriff des praktischen Selbstbewußtseins. In: W. Hogrebe (Hrsg.): Fichtes Wissenschaftslehre 1794. Philosophische Resonanzen. Frankfurt/M. 1995, S. 71-95 6 Ilting, Karl Heinz 1974: Anerkennung. Zur Rechtfertigung praktischer Sätze. In: M. Riedel (Hrsg.): Rehabilitierung der praktischen Philosophie II. Freiburg, S. 353-370 7 Fichte, Johann Gottlieb 1971: a.a.O., S. 39 8 Anders, Georg 1984: Die Antiquiertheit des Menschen. München 9 Cavalieri, Paola 1994: Menschenrechte für die großen Menschenaffen. München 10 Habermas, Jürgen 2001: Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik? Frankfurt/M. 11 Foucault, Michel 1969: Antwort an Sartre. In: G. Schiwy (Hrsg.): Der französische Strukturalismus. Reinbek, S. 207 12 Kant, Immanuel 1968: Metaphysik der Sitten. In: Kant, Werke, Bd. 7. Darmstadt, S. 526 13 Brumlik, Micha 1992: Advokatorische Ethik. Zur Legitimation pädagogischer Eingriffe. Bielefeld 14 Fichte a.a.O., S. 84/85 15 a.a.O. 16 a.a.O., S. 80 17 a.a.O. 18 a.a.O., S. 79 19 a.a.O., S. 81 20 a.a.O., S. 82 21 a.a.O., S. 84 22 a.a.O. 23 a.a.O. 24 Moses, Stefan 1993: Gerechtigkeit und Gemeinschaft bei Emmanuel Levinas. In: M. Brumlik/H. Brunkhorst (Hrsg.): Gemeinschaft und Gerechtigkeit. Frankfurt/M., S. 364384 25 Levinas, Emmanuel 1992: Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht. Freiburg, S. 195 26 a.a.O., S. 201 27 Krewani, Wolfgang 1992: Emmanuel Levinas, Denker des Anderen. Freiburg/München, S. 155 28 Honneth, Axel 2001: Leiden an Unbestimmtheit. Eine Reaktualisierung der Hegel’schen Rechtsphilosophie. Stuttgart 29 Frankfurt, Harry G. 2001: Autonomie, Nötigung und Liebe. In: ders.: Freiheit und Selbstbestimmung. Berlin, S. 166-183 30 Butler, Judith 2001: Hartnäckiges Verhaftetsein, körperliche Subjektivation. In: dies.: Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung. Frankfurt/M., S. 35-62 31 Laplanche, Jean 1996: Die unvollendete kopernikanische Revolution in der Psychoanalyse. Frankfurt/M.; ders. 1988: Die allgemeine Verführungstheorie. Tübingen 32 Laplanche 1996, S. 32
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Subjektbildung in Anerkennungsverhältnissen. Über „soziale Subjektivität“ und „gegenseitige Anerkennung“ als pädagogische Grundbegriffe
Ziele und diesen angemessene Methoden pädagogischer Praxis sind unter Bedingungen der funktional differenzierten, kulturell pluralisierten und sich schnell wandelnden (post-)modernen Gesellschaft nicht offenkundig, sondern begründungsbedürftig und strittig. Unterschiedliche Akteure und Organisationen formulieren je eigene (ökonomische, politische, rechtliche, ethische usw.) Erwartungen an die organisierte Erziehung und Bildung – und gerade dies erzwingt und ermöglicht eigenständige Antworten der Pädagogik auf die Frage nach ihren Zielen. Die einzig denkbare Alternative zu einer genuin pädagogischen Begründung der Möglichkeiten, Aufgaben und Methoden von Erziehung, Beratung und Bildung ist die Anlehnung an vorgegebene rechtliche und organisatorische Festlegungen sowie an jeweils einflussreiche zeitgeistige Erwartungskonjunkturen.1 Im Weiteren wird demgegenüber vorgeschlagen, bei der Bestimmung von Ansatzpunkten und Zielen pädagogischen Handelns den Begriffen ‚soziale Subjektivität‘ und ‚gegenseitige Anerkennung‘ einen prominenten Stellenwert zuzuweisen. Beabsichtigt ist damit ein Beitrag zur Klärung der Grundlagen einer solchen Pädagogik zu leisten, die sich als Subjekt-Bildung in Anerkennungsverhältnissen versteht. Hingewiesen ist mit dieser Formulierung zunächst auf die im Weiteren noch zu begründende Behauptung, dass Subjekt-Bildung und soziale Anerkennung in einem wechselseitig konstitutiven Zusammenhang zu denken sind. Aktuelle Grundlegungen einer anerkennungstheoretisch fundierten subjektorientierten Pädagogik liegen für die Erwachsenenbildung insbesondere bei Meueler (1993), für die Sozialpädagogik bei Winkler (1988) und für die Jugendarbeit bei Scherr (1997, 1998) vor. Holzkamp (1993) hat eine detaillierte subjektwissenschaftliche Analyse schulischen Lernens entwickelt.2 Prengel (1995) bestimmt die Befähigung zu Selbstachtung und gegenseitiger Anerkennung als zentrale Bildungsziele einer Pädagogik der Vielfalt (vgl. dazu Scherr 2001). Eine erneute pädagogische Auseinandersetzung mit dem Zusammenhang von Subjektivität und Anerkennung kann also durchaus auf relevante Vorarbeiten und Grundlagen zurückgreifen. Darauf bezogen soll es hier darum gehen, einige zentrale Aspekte einer Pädagogik der Anerkennung und Subjekt-Bildung zusammenfassend aufzuzeigen.3
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1. Autonome Pädagogik? Ein theoriegeschichtlicher Einstieg Bereits 1930 wies Theodor Geiger4 (1930/1977, 79) darauf hin, dass mit dem Blick auf die „Ruinen einst so sicher geglaubter absoluter Werte“ und angesichts der Unsicherheit von Zukunft „öffentlich institutionelle Erziehung“ (ebd., 79) nur dann noch legitimierbar sei, wenn die sich als eine „autonome Pädagogik“ (ebd., 78) versteht, die in der Lage ist, pädagogische Praxis erziehungswissenschaftlich zu begründen. Aufgabe einer autonomen Pädagogik kann es Geiger zufolge nicht sein, zur Einfügung des Individuums in „genormte speziale Lebensordnungen“ (ebd., 81) beizutragen. Sie kann „nicht fordern, dass der Mensch, als Katholik getauft, es bleibe bis in die Ewigkeit, kann nicht fordern, dass er, geboren als Kind national denkender Eltern, so denke wie sie; staatlich veranstaltete Erziehung kann nicht einmal zur Absicht haben, dass die heutige Verfassung des Deutschen Reiches, in der sie gesetzlich verankert ist, Geltung habe in alle Zeit“ (ebd., 79). Konsequent zurückgewiesen wird damit eine Orientierung an außerpädagogischen Vorgaben. Eingefordert wird dagegen eine solche öffentlich institutionalisierte Pädagogik, die darauf ausgerichtet ist, die „persönlichen Anlagen und Vergesellschaftungskräfte des jugendlichen Menschen an sich zu vollster Entfaltung zu fördern“ (ebd., 81).5 Damit formuliert Geiger nun jedoch kein Verständnis von Pädagogik als Förderung der Entwicklung individueller Subjektivität, das Sozialität nur als Schranke und Grenze der individuellen Entwicklung betrachtet. Denn Geiger geht in dezidierter Kritik zeitgenössischer Reformpädagogik von der Annahme einer grundlegenden „Polarität des Ich-selbst und Ich-mit-anderen“ (ebd., 80) aus, d.h. der Gleichzeitigkeit des Bedürfnisses nach Entfaltung der „individuellen Eigenart“ (ebd., 80) einerseits, des „Drangs zur Vergesellschaftung“ (ebd., 80) andererseits. Vor diesem Hintergrund wird die Annahme, dass Pädagogik Erziehung und Bildung von ‚Individuen‘ sei, in Frage gestellt: „Nicht das Individuum also ist … zu erziehen, sondern der Mensch ist in der Entfaltung seiner individuellen sowohl als seiner vom Uranfang gegebenen sozialen Anlagen im Rahmen seiner die sozialen Bedingungen einschließenden Lebenswelt zu fördern“ (ebd., 81). Akzentuiert wird damit, dass Vergesellschaftung nichts dem Einzelnen äußerliches, sondern subjektives Bedürfnis und konstitutive Bedingung der Entwicklung menschlicher Individualität und Subjektivität ist. Angelegt ist damit bei Geiger eine solche Theorie der Erziehung und Bildung, die Individuierung und Vergesellschaftung nicht als einen Gegensatz – individuelle Autonomie versus gesellschaftliche Schranken und Zwänge – fasst, sondern als einander wechselseitig bedingende Aspekte eines unauflöslichen Zusammenhanges. Damit ist ein nach wie vor unhintergehbarer Ausgangspunkt pädagogischer Theorie benannt: das Erfordernis einer eigenständigen theoretischen Begründung pädagogischer Praxis auf der Grundlage einer Klärung des konstitutiven Zusam-
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menhanges von Sozialität und Subjektivität. Zu einer solchen Klärung leisten Anerkennungstheorien, wie sie klassisch bei George Wilhelm Friedrich Hegel, William James und George Herbert Mead vorliegen (s. Habermas 1998; Honneth 1993; Todorov 1998), einen zentralen Beitrag. Denn dort wird die wechselseitige Anerkennung von Individuen als Subjekte (Beachtung und Wertschätzung) nicht nur als eine „Zielvorstellung bloß vorausgesetzt, sondern als Konstitutionsbedingungen des Selbstbewusstseins begriffen, auch wenn diese nicht notwendig auch empirisch stets als erreicht zu betrachten ist“ (Bambey 1991, 7). Die grundlegende Annahme, dass die Entwicklung der individuellen Subjektivität abhängig ist von der Teilnahme an sozialen Beziehungen, in denen Individuen als eigenständig sprach-, handlungs- und entscheidungsfähige Subjekte anerkannt werden, ist nicht nur sozialphilosophisch fundiert. Sie findet Bestätigung auch in den Ergebnissen der empirischen Sozialisationsforschung (s. Scherr 2002) sowie der entwicklungspsychologischen Bindungsforschung, wie zuletzt Krappmann (2001) nachweist. Sozialphilosophische bzw. sozialwissenschaftliche Anerkennungs- und Subjekttheorien unterschiedlicher Provinienz6 haben ihre Gemeinsamkeit darin, dass sie mit jeweils spezifischer Akzentsetzung und mit je eigenen begrifflichen Mitteln darauf ausgerichtet sind, Verschränkungen von individueller Subjektivität mit sozialen Anerkennungsformen und -verhältnissen zu analysieren.7 Vor dem Hintergrund des in diesen Theorien entfalteten Reflexionspotentials werden im Weiteren ‚Subjektbildung‘ und ‚Ermöglichung gegenseitiger Anerkennung‘ als unterscheidbare, aber aufeinander bezogene pädagogische Grundprinzipien bestimmt. Beansprucht wird damit eine empirisch fundierte und zugleich normativ gehaltvolle Zielbestimmung, die zunächst wie folgt zusammenfassend charakterisiert werden kann: Anerkennungs- und subjekttheoretisch fundierte Pädagogik beabsichtigt, zur Entwicklung von Selbstwahrnehmung, Selbstachtung, Selbstbewusstsein und Selbstbestimmungsfähigkeit in Anerkennungsverhältnissen beizutragen. Dazu ist es unverzichtbar, Individuen Erfahrungen der Anerkennung (im Sinne von Beachtung und Wertschätzung) ihrer Erfahrungen, Fähigkeiten, Bedürfnisse, Interessen und Lebensentwürfe zugänglich zu machen sowie Prozesse der Aneignung und kritischen Überprüfung vielfältiger Sichtweisen ihrer selbst, der Gesellschaft und der Natur anzuregen.
2. Subjektivität, Anerkennung und organisierte Pädagogik Der Begriff Anerkennung referiert zunächst auf unabhängig von theoretischen Bemühungen und empirischer Forschung zugängliche Beobachtungen und Erfahrungen: Individuen streben nach Beachtung und Wertschätzung, sie leiden unter auferlegter Isolation und Abwertungen. „All I want is a little respect“,8 singt
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Aretha Franklin, Norbert Elias postuliert auf der Grundlage seiner Beobachtung aggressiver Jugendlicher ein „nie gestilltes Bedürfnis nach einer Erhöhung der Selbstachtung“ (Elias/Scotson 1993, 307), Tvetzan Todorov (1998, 38) nimmt an, dass die alltägliche Wertschätzung ebenso unverzichtbar sei wie tägliche Nahrung. Solche Behauptungen gewinnen ihre Evidenz aus ihrer Übereinstimmung mit Alltagserfahrungen, die wohl jedem Leser einschlägiger Texte zugänglich sind. Auch bedarf es keiner entwickelten Theorie, um die Annahme zu plausibilisieren, dass Individuen die Fähigkeit besitzen und das Recht beanspruchen, eigenverantwortlich zu entscheiden und zu handeln, also in einem wie immer auch elementaren Sinne Subjekte ihrer Lebenspraxis sind. Mit solchen Hinweisen ist aber noch keine Begründung dafür formuliert, weshalb soziale Anerkennung und Subjektivität zentrale Ideen für pädagogische Theorien und pädagogische Praxis sind bzw. sein sollen. Pädagogische Relevanz gewinnen sie erst im Kontext von Überlegungen, die pädagogischer Praxis die Aufgabe zuweisen, in besonderer, die organisierte Erziehung und Bildung von anderen gesellschaftlichen Teilbereichen unterscheidender Weise gegenseitige Anerkennung und individuelle Autonomie zu ermöglichen. Solche Überlegungen wurden und werden vor allem in solchen Beiträgen zur Sozialphilosophie und Gesellschaftstheorie vorgetragen, die als Kritik gesellschaftlicher Macht- und Herrschaftsverhältnisse angelegt sind. Die Vorstellung, dass menschliche Individuen autonome und unabhängige Subjekte sein sollen, wurde in einer für die Pädagogik folgenreichen Weise zuerst seitens der Philosophie der Aufklärung9 in Kritik von Herrschaftsverhältnissen formuliert, die den Beherrschten abverlangen, sich dem Willen und den Anweisungen jeweiliger Herren zu unterwerfen, ihnen damit weder Eigenverantwortlichkeit noch Selbstbestimmungsfähigkeit zugestehen, sowie in der Kritik der Selbsteinfügung in solche Verhältnisse.10 Demgegenüber werden die Individuen mit naturrechtlichen Begründungen, die heute nicht mehr überzeugen, als autonome Subjekte postuliert, die in der Lage sind, eigenverantwortlich rational fundierte und moralisch rechtfertigbare Entscheidungen zu treffen (s. dazu Meueler 1993, 13 ff.). Vor dem Hintergrund der Erfahrung des deutschen Faschismus hat insbesondere die Kritische Theorie an Subjektbegriffe der Aufklärungsphilosophie in der Überzeugung angeknüpft, dass „Erziehung zur Mündigkeit“ – so der programmatische Titel eines grundlegenden Textes von Theodor W. Adorno – unverzichtbar sei, um eine Wiederkehr des Faschismus zu verhindern. Erziehung nach dem Holocaust sei nur noch als eine „Erziehung zu kritischer Selbstreflexion“ sinnvoll, formuliert Adorno (1970, 90). Ihr Ziel müsse darin bestehen, Menschen „davon abzubringen, ohne Reflexion auf sich selbst nach außen zu schlagen“ (ebd.). Erziehung und Bildung sollen demnach dazu beitragen, dass Individuen befähigt werden, Distanz zu gesellschaftlichen Erwartungen
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einzunehmen, Ideologien, Vorurteile und Feindbilder kritisch zu überprüfen, sich eigener Ängste und Empfindungen von Hass und Wut bewusst zu werden und auf dieser Grundlage Handlungen nicht nur unter zweckrationalen, sondern auch unter normativen Gesichtspunkten abzuwägen. Subjektivität wird hier als die Fähigkeit menschlicher Individuen beansprucht, auf der Grundlage kritischrationaler Abwägungen und unter Berücksichtigung ethisch-moralischer Prinzipien verantwortlich zu entscheiden, selbstbestimmt zu handeln und gleichberechtigte Beziehungen zu anderen einzugehen, die damit ihrerseits als Subjekte anerkannt werden. Anders formuliert: Nur ihrer selbst bewusste Subjekte können andere Individuen als selbstbewusste Subjekte anerkennen. Subjektivität und gegenseitige Anerkennung sind demnach prozessual unauflöslich ineinander verschränkt. Die zentrale Bedeutung, die dem Zusammenhang von Subjektivität und sozialer Anerkennung in der Theorie Adornos zugewiesen wird (s. Ritsert 1983, 169 ff.), basiert auf der Überzeugung, dass „der Mensch als Individuum nur in einer gerechten, menschlichen Gesellschaft zu sich kommt“ (Adorno 1956, 48). Eine gerechte und humane Gesellschaft und eine ihr angemessene Pädagogik sind so betrachtet daran zu erkennen, dass die Eigenständigkeit und Selbstbestimmungsfähigkeit der Individuen respektiert und gefördert werden. Vor diesem Hintergrund ist das „Primat der Gesellschaft über die Individuen“, die Reduzierung des Individuums „zum bloßen Exemplar seiner Gattung, auf das es nicht so sehr ankomme“ (ebd., 45), zentraler Gegenstand von Adornos Gesellschaftskritik. Versuche, auf dieser Grundlage eine kritische Erziehungswissenschaft zu entwickeln, bleiben aber zunächst aus der gegenwärtigen Perspektive entwickelter soziologischer Gesellschaftstheorie11 nicht mehr tragfähigen „verfallsgeschichtlichen Generaldiagnosen“ (Tenorth 1999, 154) verhaftet, deren Gesellschaftsbild, – wie Tenorth (1999) kritisch aufzeigt – gerade darauf hinausläuft, die Möglichkeit einer Pädagogik der Subjektbildung weitgehend zu bestreiten.12 Gleichwohl aber sind mit dem Insistieren auf dem Zusammenhang von Gesellschafts- und Subjektentwicklung unhintergehbare Gesichtspunkte für eine Klärung des Selbstverständnisses pädagogischer Theorie und Praxis angegeben: Ausgehend von der Einsicht in die unauflösliche Einbettung des individuellen Bildungsprozesses in soziale Beziehung akzentuiert die kritische Theorie die übergreifenden gesellschaftlichen Kontexte, in denen soziale Beziehungen – und damit auch pädagogische Beziehungen – situiert sind (vgl. Vogel 1992). Pädagogische Beziehungen können demnach nicht als ein isoliertes Geschehen analysiert und konzipiert werden, sondern sind als gesellschaftlich strukturierte Praxis in den Blick zu nehmen. Eine Pädagogik der Anerkennung kann also nicht davon absehen, dass Gesellschaftsstrukturen, insbesondere Funktionszuweisungen an pädagogische Organisationen, soziale Ungleichheiten sowie Macht- und Herrschaftsverhältnisse dem pädagogischen
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Handeln selbst nicht äußerlich sind, sondern für dieses unhintergehbare und in dieses eingreifende Bedingungen darstellen. In Kontexten organisierter professioneller Pädagogik müssen Pädagogen und ihre Adressaten folglich damit rechnen, dass Chancen der Anerkennung ihrer Erfahrungen, Interessen, Bedürfnisse und Fähigkeiten durch vorgegebene organisatorische Festlegungen und pädagogische Programme reduziert sind, pädagogisches Handeln zugleich aber von der Intention getragen ist, darauf nicht reduzierbare intersubjektive Anerkennungsverhältnisse und Subjektbildungsprozesse zu ermöglichen. In der durch die Vorgaben der Selektion für Karrieren und der Leistungskonkurrenz strukturierten Schule etwa sind die Möglichkeiten der Anerkennung des Schülers als autonomes Subjekt seiner Lebenspraxis eng begrenzt. Pädagogische Kommunikation in der Organisation Schule ist folglich mit einer unauflöslichen Paradoxie konfrontiert, die nicht überwunden werden kann und die von den Schülern auch beobachtet wird: Pädagogische Kommunikation adressiert sich hier sowohl an Kinder und Jugendliche als in ihrer Entwicklung zu fördernde Subjekte als auch zugleich an Schüler, die nach Maßgabe unterschiedlicher Leistungen bewertet werden (Luhmann 1996; vgl. auch den Beitrag von Helsper/Lingkost in diesem Band). Insofern sind Schüler in der Schule „wohl beraten, wenn sie sich darauf einstellen, dass das Ganze letztlich doch auf Selektion hinausläuft“ (Luhmann 1996, 288). Analog hierzu kann außerschulische Jugendpädagogik nicht ignorieren, dass ihre gesetzlich vorgegebenen Bildungsziele Eigenverantwortlichkeit und „Gemeinschaftsfähigkeit“ – so die Diktion des Kinder- und Jugendhilfegesetzes – sind. Pädagogische Anerkennung ist folglich voraussetzungsvoll und zielgerichtet, nicht die zweckfreie Anerkennung individueller Subjektivität, sondern advokatorisches Handeln vor dem Hintergrund je bestimmter Vorstellungen über anstrebenswerte Bildungsprozesse (s. Brumlik 1992).
3. Dimensionen sozialer Subjektivität Schwierigkeiten bei der Beanspruchung von Subjektivität und Anerkennung als pädagogische Grundbegriffe resultieren weiter daraus, dass die neuere, unter den Leitbegriffen Systemtheorie, Konstruktivismus, Postmoderne und Dekonstruktion geführte erziehungs- und sozialwissenschaftliche Diskussion den Subjektbegriff selbst problematisiert hat.13 Wie insbesondere Stuart Hall (1992) aufgezeigt hat, lassen sich die Theorien von Karl Marx und Luis Althusser, Sigmund Freud und Jacques Lacan, Ferdinand de Saussure, Jacques Derrida und Michael Foucault sowie die feministische Kritik der Gleichsetzung von männlich und menschlich als unterschiedliche Formen der Infragestellung der Vorstellung lesen, Individuen verfügten als voneinander unabhängige und mit sich selbst identische Einzelne über die Ursachen und Gründe ihres Empfindens, Denkens und Handelns.
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Vielmehr ist das individuelle Empfinden, Denken und Handeln in gesellschaftlich vorgegebene soziale Strukturen und Beziehungen eingebettet und ohne deren Berücksichtigung in seiner Entstehung und Entwicklung nicht verständlich. Individuen sind demnach nicht autonome Subjekte ihrer Lebenspraxis, sondern diese geschieht unter Bedingungen, die die Lebensführung der Einzelnen in hohem Maß beeinflussen, sich auf ihr Empfinden, Denken und Handeln auswirken. Charles Taylor (1996, 71) argumentiert entsprechend, dass das Selbst nur „in Geweben des sprachlichen Austausches“ existieren kann und es für den Einzelnen unmöglich sei, ohne einen sozialen Rahmen auszukommen. Man muss solche Kritik des Subjektbegriffs nicht bestreiten, um dennoch geltend machen zu können, dass der Begriff Subjektivität eine elementare Qualität menschlichen Erlebens, Denkens und Handelns charakterisiert. Denn Subjektivität ist keineswegs mit individueller Autonomie im Sinne umfassender Unabhängigkeit von sozialen Bedingungen identisch. Dass „der Mensch von Grund auf durch entsprechende andere“ existiert, „Mitmensch“ ist, „ehe er auch Individuum ist“ (Adorno 1956, 42), ist ein für die Kritische Theorie Adornos ebenso wie für George H. Mead (1932, 168) selbstverständlicher Gedanke. In der Tradition der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule bezeichnet der Begriff Subjektivität nicht individuelle Unabhängigkeit von sozialen Lebensbedingungen, sondern vielmehr den sozialwissenschaftlich nicht plausibel zu bestreitenden Sachverhalt, dass menschliche Individuen in ihrem Erleben, Denken und Handeln nicht durch angeborene Instinkte und soziale Festlegungen determiniert sind, vielmehr durch ein reflexives und offenes Verhältnis zu sich selbst charakterisiert werden können. Diesbezüglich können vier Dimensionen14 unterschieden werden: – Individuen erleben sich selbst als mit bestimmten Bedürfnissen und Empfindungen ausgestattete Wesen (Subjektivität als Selbstgefühl und Selbstwahrnehmung), – sie nehmen zu ihren Eigenschaften, Fähigkeiten, Bedürfnissen und Interessen bewertend Stellung (Subjektivität als Selbstbewertung), – sie kommunizieren und handeln auf der Grundlage eines bestimmten Wissens über sich selbst (Subjektivität als Selbstbewusstsein) – und sie sind in der Lage, zwischen Alternativen abzuwägen, Möglichkeiten zu ergreifen und zu verwerfen, also auf der Grundlage von Entscheidungen selbstbestimmt zu handeln (Subjektivität als Selbstbestimmungsfähigkeit). Solche Bestimmungen finden neuerdings eine Bestätigung auch durch Ergebnisse der Hirnforschung. Wolf Singer, Forschungsdirektor für hirnbiologische Forschung am Max-Planck-Institut formuliert (2001: 3 f.): „Funktion unseres Gehirns ist, für die Emergenz von Bewusstsein verantwortlich sein zu können … . (…) Der Vorschlag ist, dass wir die Erfahrung, ein freies, selbstbestimmtes Ich zu sein, aus der Spiegelung unseres Selbst im jeweils anderen
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gewinnen, aus Dialogen des Formats: ‚ich weiß, dass du weißt, dass ich weiß‘ … oder ,ich weiß, dass Du weißt, wie ich fühle‘. Die Möglichkeit, in solche Diskurse einzutreten, eröffnet sich uns, weil wir über hinreichend differenzierte Gehirne verfügen, um eine Theorie des Geistes zu formulieren.“ Menschliche Individuen sind so betrachtet, in der Sprache der modernen Systemtheorie formuliert,15 keine Trivialmaschinen, die auf Änderungen in ihrer natürlichen und sozialen Umwelt durch feststehende Verhaltensweisen reagieren (s. von Foerster 1997, 40; Luhmann 1995, 67 f.). Sie verarbeiten Impulse und Informationen vielmehr auf der Grundlage komplexer emotionaler und kognitiver Strukturen in einer Weise, die geschichtsabhängig und nicht vorhersehbar ist. Individuen werden systemtheoretisch als psychische Systeme charakterisiert, die mit der Fähigkeit zur „Selbstbeobachtung“ (Nassehi 1999, 101) ausgestattet und in der Lage sind, sich ihrer Individualitität unter Verwendung der Unterscheidung „Identität des Selbst und Differenz der Selbste“ (ebd., 101) zu versichern.16 Entsprechend formuliert Heinz von Foerster (1997, 51) als Grundsatz einer systemtheoretischen Ethik: „Handle stets so, dass Du die Anzahl der Möglichkeiten vergrößerst!“. Individuen sind als Subjekte prinzipiell in der Lage, sich Erwartungen entgegenzusetzen, mit Gewohnheiten zu brechen, Behauptungen zu hinterfragen, Normen zu ignorieren und Unerwartetes zu tun. Sie können auf der Grundlage rationaler Abwägungen über Motive, Mittel, Zwecke und Folgen ihres Handels oder Unterlassens Entscheidungen treffen, Handlungsoptionen unter Berücksichtigung ihrer eigenen Empfindungen, Bewertungen und ihres Wissens ergreifen oder verwerfen. Der Begriff Subjektivität kann jedoch nicht sinnvoll für die Behauptung beansprucht werden, Individuen seien in ihrem Empfinden, Denken und Handeln sozial voraussetzungslose und unabhängige Wesen. Wie George Herbert Mead (1962) grundlegend und in Anknüpfung an die William James17 und die Hegel’sche Sozialphilosophie gezeigt hat, entwickeln Individuen ihre Subjektivität in Auseinandersetzung mit den Erwartungen bedeutsamer Anderer (s. Habermas 1988). Sie sind dazu auf die Teilnahme an sozialen Beziehungen und die kommunikative Berücksichtigung ihrer Bedürfnisse und Fähigkeiten angewiesen. Wie Individuen sich selbst emotional erleben (Selbstgefühl), wahrnehmen und wie sie sich selbst bewerten (Selbstwertgefühl), ist abhängig von Erfahrungen der sozialen Wertschätzung und Missachtung. Das Selbstwertgefühl kann durch negative Bewertungen erheblich beschädigt werden, das Bild der eigenen Person, wie Goffman (1972) gezeigt hat, durch Etikettierungen weitreichend verunsichert und in Frage gestellt werden. Auch das Wissen über sich selbst (Selbst-Bewusstsein) entwickelt sich in der Auseinandersetzung mit den Bildern der eigenen Person, die andere mitteilen.
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Subjektivität ist deshalb notwendig soziale Subjektivität, d.h. in ihrer Entwicklung von der Teilnahme an sozialen Beziehungen abhängig. Selbstgefühl, Selbstbewertung, Selbstbewusstsein und Selbstbestimmung sind Qualitäten individueller Lebenspraxis innerhalb sozialer Beziehungen, sie setzen gesellschaftliches Zusammenleben voraus. Selbstbestimmung ist immer nur in Bezug auf die je konkrete soziale Lebenssituation möglich. Insofern sind die „asozialen Denkströmungen“ kritikbedürftig (Todorov 1998, 15 ff.), die Sozialität als Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung isolierter und individuellen Zwecken folgender Individuen denken. Sozialität ist, nicht zuletzt als Anerkennung, das jeder Individuierung vorausgehende Phänomen. Unter sozialpsychologischen und soziologischen Gesichtspunkten ist zudem die Annahme hoch plausibel, dass Individuen nach der Aufrechterhaltung und Stärkung eines positiven Selbstwertgefühls streben (s. Elias/Scotson 1993, 307) und dazu auf soziale Beziehungen angewiesen sind, in denen ihnen Erfahrung der Wertschätzung ihrer Bedürfnisse, Eigenschaften und Fähigkeiten zugänglich sind. Zu sprach- und handlungsfähigen Individuen, die in der Lage sind, sich selbst, die Welt und andere in dieser Welt zu verstehen, werden wir also durch die Teilnahme an sozialen Beziehungen, die als Anerkennungsverhältnisse charakterisiert werden können. Als Anerkennungsverhältnisse können solche sozialen Beziehungen charakterisiert werden, in denen Individuen nicht nur als ein Instrument für fremde Zwecke, z.B. als Arbeitskraft, von Bedeutung sind, sondern in denen ihr Recht auf und ihre Fähigkeit zu Selbstbestimmung respektiert werden (s. Honneth 1992). Subjektivität – Selbstgefühl, Selbstwahrnehmung, Selbstwertgefühl, Selbstbewusstsein und Selbstbestimmungsfähigkeit – sind so betrachtet keine unveränderlichen Eigenschaften menschlicher Individuen, sondern in ihrer Entwicklung und Entfaltung abhängig von jeweiligen sozialen Kontexten und in diesen möglichen Erfahrungen. Ein negativer Beleg für diese Behauptung ist der Beobachtung zu entnehmen, dass Individuen unter Bedingungen umfassender Isolation nicht in der Lage sind, ihr Selbstbild und ihre Handlungsfähigkeit aufrechtzuerhalten. Wendet man diese grundsätzlichen Überlegungen empirisch, dann ist die Frage zu stellen, in welchem Maß je gegebene soziale Strukturen – die Codes und Programme von Funktionssystemen und Organisationen, daran angelagerte soziale Ungleichheiten, die Erwartungsstrukturen und Interaktionsrituale in sozialen Gruppen und Familien, politische Macht- und Herrschaftsverhältnisse, Prozesse der Normsetzung und Normdurchsetzung usw. – die Selbstbestimmungsfähigkeit der Individuen fördern oder einschränken, welche Vorgaben sie für das Selbstverständnis (das emotionale Erleben der eigenen Person und das Wissen über die eigene Person) etablieren sowie ob und unter welchen Bedingungen sie positives Selbstwertgefühl durch soziale Wertschätzung unterstützen. Dies gilt selbstverständlich auch für die Strukturen und Programme der organisierten Pädagogik.
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4. Gesellschaftliche Kontexte einer Pädagogik der Anerkennung Im Interesse einer gesellschaftstheoretischen Fundierung ist Pädagogik vor diesem Hintergrund aufgefordert, gesellschaftliche Strukturen und Prozesse als Bedingungen zu untersuchen, die die Möglichkeiten der Entfaltung individueller Subjektivität und den Zugang zu Chancen sozialer Anerkennung strukturieren. Dies schließt die Frage ein, welche Möglichkeiten und Hindernisse für eine Pädagogik der Anerkennung und Subjektbildung durch die Organisationsformen des Erziehungssystems selbst und seine gesellschaftlichen Funktionszuweisungen gegeben sind.18 Funktionsimperative der gesellschaftlichen Teilsysteme, Macht- und Herrschaftschaftsverhältnisse, soziale Benachteiligungen und Ausgrenzungen, Vorurteile und Gender-Stereotype usw. sind so betrachtet deshalb für die pädagogische Theorie und Praxis zentrale Sachverhalte, weil sie mit der Beschränkung von Chancen der Selbstbestimmung und mit der Verweigerung sozialer Wertschätzung der Erfahrungen, der sozialen Identitäten und der Lebensentwürfe von Individuen einhergehen. Darauf hat bereits Bernstein (1971) in seiner fundamentalen Kritik kompensatorischer Erziehung hingewiesen. Nicht nur, so Bernstein (ebd., 36), teilen die räumlichen, sachlichen und personellen Rahmenbedingungen des schulischen Unterrichts Lehrern und Schülern den Grad an gesellschaftlicher Wertschätzung bzw. Missachtung in einer Weise mit, die „die Erwartungen und Motivationen von Lehrenden wie Lernenden“ (ebd., 36) beeinflussen. Hinzu kommt, dass schulische Curricula mit einer systematischen Entwertung der außerschulischen Erfahrungen von Schülern einhergehen können: „Alles, was das Kind außerhalb der Schule beeinflusst, Bedeutung und Zweck für es hat, hört auf, wertvoll zu sein; weder wird diesem Bedeutung zuerkannt, noch bietet es Chancen für das Vorwärtskommen in der Schule. Das Kind muss sich auf eine neue, veränderte Struktur von Bedeutungen einstellen, ob in der Form von Lesebüchern, der Art des Sprachgebrauchs und Dialektes oder in den Mustern sozialer Beziehungen.“ (ebd., 37).19 Die Auseinandersetzung mit den nicht hintergehbaren gesellschaftlichen Vorgaben und Einschränkungen ihrer Möglichkeiten ist ein zentraler analytischer Ausgangspunkt anerkennungs- und subjekttheoretisch fundierter Pädagogik. Ihre Perspektive gewinnt sie in der Bestimmung von Möglichkeiten der Entwicklung von Selbstwahrnehmung, Selbstwertgefühl, Selbstbewusstsein und Selbstbestimmungsfähigkeit in pädagogischen Arrangements und Beziehungen, die durch externe gesellschaftliche (ökonomische, rechtliche, religiöse usw.) Vorgaben und Erwartungen gerade nicht umfassend determiniert sind. Eine pädagogische Programmatik der Subjektbildung in Anerkennungsverhältnissen gewinnt ihre Plausibilität darüber hinaus daraus, dass die Strukturbe-
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dingungen der modernen Gesellschaft eine eigenverantwortliche und selbstbestimmte Lebensführung der Individuen ermöglichen und erzwingen. Die Lebensführung von Einzelnen und Familien wird in der funktional differenzierten Gesellschaft nicht umfassend durch eine einheitliche religiöse, ökonomische oder politische Ordnung reguliert (s. Luhmann 1993 und 1997, 595 ff.). Ernährungsvorlieben, Konsumpräferenzen, sexuelle Orientierungen, religiöse Glaubensüberzeugungen usw. werden den Einzelnen und sozialen Gruppen nicht mehr von einer zentralen Instanz vorgeschrieben. An die Stelle solcher Regulierungen der Lebensführung sind einerseits die individuelle Freiheit negativ begrenzende Normen des Rechts und andererseits der Zwang getreten, sich selbst – bei Strafe des Scheiterns – an den Teilnahme- und Erfolgsbedingungen auszurichten, die Betriebe als Organisationen des Wirtschaftssystems, Schulen als Organisationen des Erziehungssystems, Parteien als Organisationen staatlicher Politik, Krankenhäuser als Organisationen des Gesundheitssystems usw. festlegen. Wer sich in seiner Lebensführung den jeweiligen Bedingungen nicht anpassen kann oder will, kommt nicht hoch oder geht unter, formulierte bereits Max Weber (1972, 61). Scheitern an den Teilnahmebedingungen der Funktionssysteme und Organisationen wird in entwickelten Wohlfahrtsstaaten durch sozialstaatliche Leistungen mehr oder weniger erträglich gemacht (s. dazu ausführlich Bommes/Scherr 2000). Gesellschaften ohne ausgebauten Wohlfahrtsstaat verweisen die Individuen stärker auf ihre Eigenverantwortlichkeit und reagieren auf die unerwünschten Folgen von Armut und sozialer Ausgrenzung mit einem Ausbau der Gefängnisse. Unabhängig von diesbezüglichen Unterschieden aber können moderne Gesellschaften insgesamt als Gesellschaften beschrieben werden, in denen die Situation der Individuen als „Exklusionsindividualität“ (Luhmann 1997, 618 ff.) charakterisiert werden kann. D.h.: Das Leben der Einzelnen vollzieht sich nicht mehr in einem umfassenden und unauflöslichen sozialen Kontext, sei es einer Familie, einem Stand oder einer Organisation, der ihre Lebensbedingungen und Lebenschancen dauerhaft festlegt. Damit werden Zugehörigkeiten prinzipiell wählbar und es eröffnen sich Entscheidungsmöglichkeiten. Für ihre Lebensführung sind die Einzelnen jedoch zugleich darauf angewiesen, Zugang zu vielfältigen sozialen Systemen, Partnerschaften, Familien, Schulen, Betrieben, massenmedial verbreiteten Informationen, Einrichtung der Rechtsvertretung usw. zu finden. Chancen sozialer Anerkennung und der selbstbestimmten Lebensführung sind damit in verschiedener Hinsicht begrenzt sowie in Abhängigkeit von verfügbaren ökonomischen, sozialen, kulturellen und psychischen Ressourcen sozial ungleich verteilt. Einschränkungen der Möglichkeiten individueller Selbstbestimmung resultieren also in der modernen Gesellschaft einerseits aus Strukturbedingungen der funktional differenzierten Gesellschaft, ihrer Funktionssysteme und Organisationen, der ungleichen Verteilung von ökonomischen, sozialen und kulturellen
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Ressourcen der Lebensgestaltung sowie der ungleichen Prägung des Alltagslebens durch den Zwang der materiellen und psychischen Existenzsicherung. Andererseits sind die kulturellen und erzieherischen Verhältnisse dahingehend in den Blick zu nehmen, ob sie Individuen Chancen der Anerkennung und vielfältige Möglichkeiten der Lebensführung zugänglich machen, oder aber darauf ausgerichtet sind, vorgegebene Lebensbedingungen und an diese angepasste herrschaftskonforme Weisen der Lebensführung als alternativlose darzustellen.
5. Pädagogik als Subjektbildung in Anerkennungsverhältnissen Die Beziehungen menschlicher Individuen zu sich selbst, zu anderen und zur Natur sind durch genetische Dispositionen und angeborene Instinkte nicht festgelegt. Sie nehmen sich selbst und andere vielmehr auf der Grundlage von Wahrnehmungs- und Deutungsmustern wahr, die sie in den Kulturen der Gesellschaft vorfinden und sich in Sozialisationsprozessen aneignen. Die Vorstellungen, die Individuen sich über sich selbst und die Welt machen, sind nicht einfach Ergebnis ihrer materiellen Lebensbedingungen, sondern Ergebnis eines eigenständigen Konstruktionsaktes, dem sozial vorgegebene Muster zugrunde liegen. Solche Wahrnehmungs- und Deutungsmuster umfassen, wie Alfred Schütz (1974) gezeigt hat, grundlegende Typisierungen, die uns überhaupt erst in die Lage versetzen, die soziale und natürliche Wirklichkeit als eine geordnete und verständliche wahrzunehmen, in der wir zielgerichtet handeln können. So unterscheiden Kulturen etwa zwischen essbaren und nicht-essbaren Tieren und etablieren damit folgenreiche Vorgaben für das Erleben von und den Umgang mit Tieren. Individuen erleben sich und andere als Frauen oder Männer, und dies geschieht auf der Grundlage des sozial gültigen Wissens um die als typisch geglaubten Eigenschaften von Frauen und Männern, das Individuen sich durch die Teilnahme an alltäglicher Kommunikation aneignen. Solche Typisierungen umfassen auch Unterscheidungen von Menschengruppen als Angehörige von sozialen Klassen oder ethnischen Gruppen, die mit weit reichenden Annahmen über charakteristische Eigenschaften und Fähigkeiten einhergehen. Typisierungen statten uns nicht nur mit für die Selbst- und Fremdwahrnehmung basalen Schemata aus. Sie beinhalten auch grundlegende Bewertungen, die es uns erlauben, etwa einen schönen von einem hässlichen Körper zu unterscheiden. Sozialisation kann vor diesem Hintergrund als ein Prozess verstanden werden, der wesentlich in der Aneignung der grundlegenden Wahrnehmungs-, Bewertungsund Deutungsschemata besteht, die wir als selbstverständlich gültige Schemata der Kulturen vorfinden, in denen wir aufwachsen. Kulturen haben so betrachtet einen enormen Einfluss auf die Individuen, denn sie legen weitgehend fest, wie Individuen sich selbst und andere erleben und bewerten, was sie als normal und was sie
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als abweichend erleben, was als erstrebenswert und was sie als verachtenswert bewerten. Theorien in der Tradition des symbolischen Interaktionismus haben wiederkehrend aufgezeigt, dass Individuen jedoch nicht Gefangene einer Kultur sind, die Deutungs-, Handlungs- und Bewertungsschema einer Kultur als eindeutige Regeln anwenden. Erleben, Denken und Handeln besteht vielmehr im kreativen und eigensinnigen Umgang mit vorgefundenen Mustern und Regeln unterschiedlicher Kulturen. Denn diese legen nicht fest, wie konkrete Individuen in konkreten Situationen empfinden, denken und handeln können oder sollen. Sie wirken vielmehr als Begrenzungen des Möglichkeitsraumes, in dem sich Individuen bewegen. Entsprechend bestimmt Stuart Hall (2000, 106) Kulturen als „ein Gefüge von Einschränkungen … ohne die wir nicht sprechen“ und nicht zu einem Verständnis unserer Identität gelangen können. Auch Anthony Giddens (1984, 1 ff.) Theorie der Strukturierung weist darauf hin, dass Strukturen das individuelle Erleben, Denken und Handeln sowohl ermöglichen als auch einschränken. Sie wirken, wie insbesondere Pierre Bourdieu (1987, 97 ff.) gezeigt hat, als generative Strukturen, die Grundlage der kreativen Hervorbringungen der Individuen sind. Ohne eine Sprache können wir nicht sprechen, die Sprache schränkt ein, was gesagt werden kann und wie es gesagt werden kann, sie legt aber nicht fest, was wir in einer konkreten Situation äußern. Individuen sind so betrachtet immer schon Subjekte ihrer Lebenspraxis. D.h.: Ihr Erleben, Denken und Handeln ist in seiner konkreten Ausprägung nicht genetisch oder sozial determiniert, sondern vollzieht sich als aktive Leistung, als notwendig eigensinniger und kreativer Umgang mit den vorgefundenen kulturellen Mustern, Schemata, Regeln und Normen. Das heißt jedoch nicht, dass Individuen im Verhältnis zu den Denkstilen, Werten und Normen autonom sind, die sie gesellschaftlich vorfinden. Denn wir wachsen immer in einem bestimmten kulturellen Kontext auf, der ein bestimmtes Wissen, bestimmte Wahrnehmungs-, Bewertungs- und Deutungsschemata vorgibt und andere ausschließt. Der Möglichkeitsraum individueller Eigensinnigkeit ist also durch die Rahmungen der Kultur beschränkt. Kulturelle Macht besteht so betrachtet wesentlich darin, Individuen die jeweils dominante Kultur als alternativlose darzustellen und ihnen den Zugang zu anderen Weisen des Erlebens, Denkens und Handelns zu erschweren. Die Aufgabe einer Pädagogik, die sich am Ziel der Entfaltung von Subjektivität orientiert, kann vor diesem Hintergrund erstens darin gesehen werden, Individuen solches Wissen, solche Wahrnehmungs-, Bewertungs- und Deutungsschema zugänglich zu machen, die sie sich nicht ohnehin durch das ganz normale Heranwachsen, die Sozialisation in Familien, Schulen, Betrieben und durch die Teilnahme an der massenmedialen Kommunikation erschließen. Es geht also um Bildung, d.h. um die Eröffnungen neuer Horizonte des Erlebens, Denkens und
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Handelns. Pädagogik akzeptiert damit die vermeintliche Alternativlosigkeit der dominanten Kultur nicht und will Individuen in die Lage versetzen, deren Selbstverständlichkeiten zu hinterfragen. Sie kann grundlegend als eine Praxis charakterisiert werden, die Möglichkeiten anderen Erlebens, Denkens und Handelns eröffnet (s. Grossberg 1994, 18). Zur Verdeutlichung ein Beispiel: Die Kultur des Konsumkapitalismus verfügt über hocheinflussreiche Möglichkeiten, den Glauben zu verbreiten, dass der Besitz bestimmter Waren ein zentrales Ziel der individuellen Lebensführung sein soll. Im Extremfall werden Individuen veranlasst, bestimmte Kleidungsstücke bestimmter Marken als unverzichtbares Definitionselement ihrer Identität zu betrachten. Demgegenüber steht Pädagogik vor der Aufgabe, Individuen zur Distanz gegenüber der Überzeugung zu verhelfen, dass sich die Wertschätzung und die Identität aus seinem Konsum ableiten sowie durchschaubar zu machen, worin die kulturelle Macht der Konsumkultur begründet ist (s. Willis 1990). Auf Subjekt-Bildung zielende Pädagogik versteht sich zweitens nicht als bloße Vermittlung des gesellschaftlich als gültig und wertvoll betrachteten Wissens, nicht als ein einseitiger Transport wissenswerten Wissens in die Köpfe der Lernenden. Ihr Gegenstand sind vielmehr die grundlegenden Beziehungen, die Individuen zu sich selbst und zu anderen, zu den gesellschaftlichen Strukturen und zur Natur eingehen. Sie sieht ihren Auftrag darin, Individuen Möglichkeiten einer Klärung, Überprüfung und Veränderung dieser Beziehungen anzubieten. Ihr grundlegendes Interesse ist die Erweiterung der Horizonte, vor deren Hintergrund Individuen ihre lebensgeschichtlichen Erfahrungen und ihre aktuelle Situation interpretieren sowie ihre lebenspraktische Zukunft entwerfen. Dies schließt die reflektierte Auseinandersetzung mit der individuellen Lebensgeschichte und Lebenssituation und das darin begründete Verständnis der eigenen sozialen und persönlichen Identitäten ein. Anerkennungs- und subjekttheoretisch fundierter Pädagogik stellt sich deshalb drittens die Aufgabe, Individuen bei Vergewisserung über ihre Lebensgeschichte sowie der Überprüfung und Klärung ihrer Identitäten zu unterstützen. Sie setzt nicht voraus, dass Individuen eine kulturelle Identität haben, die durch ihre soziale und ethnische Herkunft bestimmt und unveränderlich ist, sondern will Individuen befähigen, sich mit Identifikationen und Zugehörigkeiten kritisch auseinander zu setzen. Eine solche Pädagogik kann viertens dadurch charakterisiert werden, dass sie die subjektiven Erfahrungen, das lebenspraktische Wissen, die Ängste und Hoffnungen ihrer Adressaten nicht ignoriert oder für unbedeutsam erklärt, sondern dass sie diese aufgreift und als wichtig betrachtet. Denn wenn es darum gehen soll, Individuen Möglichkeiten eines anderen Selbst- und Weltverständnisses zu eröffnen, dann haben sich entsprechende Angebote daran zu bewähren, ob sie zu einem
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besseren Verständnis der konkreten Erfahrungen und der konkreten Lebenssituation ihrer Adressaten verhelfen. Dies aber ist nur dann möglich, wenn Themen und Inhalte von Erziehung und Bildung auf entsprechendes Vorwisssen Bezug nehmen, wenn dieses zur Sprache gebracht werden kann und nicht ignoriert wird. Pädagogische Praxis ist deshalb fünftens aufgefordert, sich als eine „dialogic practice, which aims to allow the silenced to speak“ (Grossberg 1994, 16) zu verstehen. Wenn es hier darum geht, Erfahrungen zu klären, andere Sichtweisen eigener Erfahrungen zu ermöglichen, verfestigte Wahrnehmungs-, Deutungsund Bewertungsschemata aufzubrechen, dann kann dies nur in Prozessen geschehen, in denen sich Chancen eröffnen, solche Erfahrungen zur Sprache zu bringen. Dies hat zur Bedingung, dass Teilnehmer an Erziehungs- und Bildungsprozessen als Subjekte anerkannt werden, deren Erfahrungen und deren Wissen relevant und nicht minderwertig ist, in denen sich Lehrer und Schüler als Partner in einem Dialog respektieren. Die Anerkennung der Individuen als Subjekte, als selbstbewusstseins- und selbstbestimmungsfähige Personen, ist also nicht nur Ziel, sondern auch Methode pädagogischen Handelns. Pädagogische Praxis vollzieht sich in kleinen Schritten, die darauf ausgerichtet sind, Möglichkeiten einer selbstbestimmten Lebenspraxis zu eröffnen, gegebene Beschränkungen, die Individuen auferlegt sind und die sie sich selbst auferlegen, zu überwinden. Dies erfordert grundlegenden Respekt vor der Eigenverantwortlichkeit der Einzelnen für ihre Lebensgestaltung.
Anmerkungen 1 Trotz aller Skepsis gegenüber ihren Möglichkeiten wird der Pädagogik recht Vielfältiges zugetraut und zugemutet. So war in den 80er Jahren Friedenserziehung en vogue, was seit der Umdefinition von Armeen zu vermeintlichen Menschenrechtsorganisationen nicht mehr als zeitgemäß gilt. Anfang der 90er Jahre und aktuell soll Pädagogik einen Beitrag zur Bekämpfung von Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und Gewalt leisten. Neuerdings zeichnet sich eine neue Konjunktur ökonomisch akzentuierter Bestimmungen des Bildungsauftrags ab, die mit dem erwartbaren Scheitern bildungsökonomischer Illusionen zu Ende sein wird; vielleicht gewinnt dann in Folge des Klimawandelns wieder das Programm der Ökopädagogik Einfluss. Man kann den Eindruck gewinnen, dass andernorts nicht lösbare Probleme gerne in pädagogische Programme umformuliert werden.
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2 Inzwischen liegt bei der Landeszentrale für politische Bildung Rheinland-Pfalz sogar bereits ein Multiplikatorenpaket mit dem Titel „Subjektorientierung als didaktisches Prinzip“ vor. 3 Dieser Beitrag ist als ein Einführungstext angelegt, der begriffliche Grundlagen verdeutlicht; er basiert auf einem zuerst für eine US-amerikanische Publikation verfassten Artikel, der für diesen Band überarbeitet und erweitert wurde. 4 Theodor Geiger (1891-1952) ist ein heute nur noch Insidern bekannter Begründer der Erziehungs- und Bildungssoziologie; er hat Mitte der 1920er Jahre die klassische Studie ‚Die soziale Schichtung des deutschen Volkes’ vorgelegt, die eine mehrdimensionale Ungleichheitstheorie enthält, die vieles vorwegnimmt, was in Pierre Bourdieus Theorie des sozialen Raumes dargestellt ist. 1993 wurde ihm seine Lehrbefugnis an der Universität Braunschweig entzogen und er floh nach Dänemark. 5 Hintergrund dessen ist die Kritik von Theorien, die Sozialisation und Erziehung als Anpassung asozial gedachter Individuen an die ihnen vermeintlich äußerlichen Erfordernisse sozialen Zusammenlebens bestimmen. 6 S. als Übersichten Grubauer u.a. 1992; Habermas 1988; Honneth 1992; Luhmann 1993; Ritsert 1993 und 2001; Taylor 1996; Todorov 1998. In der neueren deutschsprachigen erziehungswissenschaftlichen Diskussion fungiert Honneth (1992) als der zentrale Referenzautor für anerkennungstheoretische Argumentationen; dies ist insofern problematisch, als seine hegelianische Kernfigur des Kampfes um Anerkennung dazu tendiert zu übersehen, dass das Herr-Knecht-Verhältnis nicht problemlos als das Kernparadigma menschlicher Sozialität beansprucht werden kann (s. dazu kritisch Gross 1994; Todorov 1998, 33 ff.) 7 Individualisierung kann entsprechend auch nichts anderes meinen als einen Wandel der Formen dieses Zusammenhanges, was in trivialisierten Varianten der Individualisierungsthese gelegentlich übersehen wird; s. zur Kritik Scherr 2000. 8 Respekt, ein in der pädagogischen Fachliteratur leider unüblicher Begriff, kann als Wertschätzung des anderen unabhängig von der besonderen Gestalt seiner Lebenspraxis verstanden werden. 9 Die Formulierungen dieses Absatzes sind grobe Vereinfachungen und dienen als solche nur der Markierung des roten Fadens des Diskurses. 10 Kant fordert bekanntlich den Mut ein, sich des eigenen Verstandes zu bedienen, appelliert also an den Willen, sich nicht unterzuordnen. 11 Angesprochen ist damit die anhaltende Krise des Marxismus als Theorie und die Verlagerung innovativer gesellschaftstheoretischer Entwicklungen in den Kontext der Systemtheorie Luhmann’scher Prägung. 12 Jürgen Ritsert hat in zahlreichen Studien den Versuch einer solchen Reinterpretation Adornos unternommen, die sich der verfallsgeschichtlichen Deutung entzieht bzw. diese deutlich relativiert (s. etwa Ritsert 1983 und 2001). 13 Diese Behauptung trifft selbstverständlich auf die Arbeiten von Peter Euler, Andreas Gruschka, Ludwig Ponkratz, Heinz Sünker, Michael Winkler u.a. nicht zu (s. etwa die Beiträge in Sünker/Krüger 1999). 14 Die gängige Rede von Identität fasst die drei ersten Dimensionen in unklarer Weise zusammen. 15 Bekanntlich hat Luhmann verschiedentlich eine dezidierte Kritik des Subjektbegriffs formuliert (etwa: Luhmann 1997, 1016 ff.). Diese bestreitet aber gerade nicht die Autono-
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mie individuellen Denkens und Handelns im Verhältnis zu sozialen Prozessen, sondern „nur“ die Annahme weltkonstitutiver Subjektivität und hält die Frage einer Konvergenz der eigenen Überlegungen mit der Tradition der Bewusstseinsphilosophie ausdrücklich offen (Luhmann 1995, 55). Die Nähe Luhmanns zur subjekttheoretischen Diskussion wird weiter auch daran deutlich, dass Sozialisation theoretisch als Selbstsozialisation gefasst wird, was nicht determinierte Eigenaktivität psychischer Systeme voraussetzt. Auf die gesellschaftstheoretischen Bestimmungen des Zusammenhanges von funktionaler Differenzierung und Individualität kann hier nicht eingegangen werden; s. dazu Luhmann (1993) und Nassehi (1999, 85 ff. und 105 ff.) sowie die Hinweise im folgenden Abschnitt. „Das soziale Selbst des Menschen ist die Anerkennung, die er von seinem Mitmenschen erhält. Wir sind nicht nur Herdentiere, die gerne in der Nähe der Gefährten sind, wir haben auch die angeborene Neigung, von anderen Wesen unserer Gattung bemerkt, billigend bemerkt zu werden.“(James 1904, 293) Damit ist eine m.E. zentrale Aufgabe erziehungswissenschaftlicher Forschung benannt. Ein solcher Bruch mit der vorschulischen Erfahrung ist gleichwohl nicht vermeidbar; s. Schwander 1990.
Literatur Adorno, Theodor W. 1956: Individuum. In: Institut für Sozialforschung: Soziologische Exkurse. Frankfurt/M., S. 40-49 Adorno, Theodor W. 1970: Erziehung zur Mündigkeit. Frankfurt/M. Bambey, Andrea 1991: Das Geschlechterverhältnis als Anerkennungsverhältnis. Frankfurt/M. Bernstein, Basil 1971: Der Unfug mit der kompensatorischen Erziehung. In: Bernstein, Basil u.a. (Hrsg.): Lernen und soziale Struktur. Amsterdam, S. 34-47 Bommes, M./Scherr, A. 2000: Soziologie der Sozialen Arbeit. Weinheim/München Bourdieu, Pierre 1985: Sozialer Raum und Klassen. Frankfurt/M. Bourdieu, Pierre 1987: Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft. Frankfurt/M. Braverman, Harry 1974: Labor and Monopoly Capital. The Degradation of Work in The Twentieth Century. New York/London Brumlik, Micha 1992: Advokatorische Ethik. Bielefeld Elias, Norbert/Scotson, John L. 1965: Etablierte und Außenseiter. Frankfurt/M. 1993 (The Established and the Outsiders, London Von Foerster, Heinz 1997: Abbau und Aufbau. In: Simon, Fritz B. (Hrsg.): Lebende Systeme. Frankfurt/M., S. 32-51 Freire, Paolo 1970: Pädagogik der Unterdrückten. Reinbek Geiger, Theodor 1930/1977: Erziehung als Gegenstand der Soziologie. In: Götz, Bernhard/ Kaltschmid, Jürgen (Hrsg.): Erziehungwissenschaft und Soziologie. Darmstadt, S. 63-89 Giddens, Anthony 1984: The Constitution of Society. Cambridge Goffman, Erving 1972: Asyle. Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen. Frankfurt/M. Gross, Peter 1994: Der Kampf als Maß aller Dinge? In: Soziologische Revue, 17. Jg., S. 16-21
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Anerkennung, Respekt und Achtung. Dimensionen in den pädagogischen Generationenbeziehungen
In der pädagogischen Diskussion gibt es etwa seit Mitte der 90er Jahre eine Thematisierung von Generationenverhältnissen und -beziehungen und damit eine Renaissance pädagogischer Kategorien und Dimensionen. Es mehren sich die Themen des pädagogischen Denkens über Beziehung und den Umgang im Mikrokosmos von Schule und Jugendarbeit, die lange Zeit vernachlässigt wurden und – bezogen auf ihren historischen Fundus – verschüttet waren. Sowohl in der allgemein- und schulpädagogischen Diskussion als auch in der Sozialpädagogik und Jugendhilfe, der Jugendarbeit und politischen Bildung wird (wieder) über die pädagogischen Binnenverhältnisse (den Binnenraum), über mikrodidaktische Fragen, Professionalität und die Bedeutung von (in der Schule) organisierten und (in der Jugendarbeit) offenen pädagogischen Generationenbeziehungen sowie pädagogisches Handeln mit all ihren zugehörigen Strukturfragen nachgedacht und empirisch geforscht (vgl. Combe/Helsper 1996). Neben Begegnung, Dialog, Beziehung, Takt oder auch Vertrauen, Klima und Atmosphäre haben die drei pädagogischen, mikrodidaktischen und berufsethischen Kategorien Anerkennung, Respekt und Achtung historisch wie aktuell eine besondere Bedeutung. Sie gehören als Arbeit, Aufgabe und Auftrag, als Interaktion zwischen den Professionellen und seiner Klientel – sowie gleichzeitig an das Soziale und Strukturelle rückgebunden – zum Spannungsfeld und Kernstück des beruflichen Selbstverständnisses. Bei den drei Dimensionen mit der zugehörigen Selbstachtung, -anerkennung und dem Selbstrespekt wird davon ausgegangen, dass gelingende Lern- und Bildungsprozesse an interaktive Prozesse und an deren Verwobenheit gebunden sind. Dem liegt wiederum die Annahme zugrunde, dass Lernen immer auch „durch die Personen hindurchgehen“ und die Aneignung von Welt und Sachen/Sachverhalten immer auch davon abhängig ist, welche erwachsenen Personen wie in den pädagogischen Generationenbeziehungen „wirken“ und vermitteln bzw. selbst im Spannungsfeld von Vermittlung und Aneignung mit ihnen umgehen. Damit wird ein Feld betreten, das von vielfältigen Antinomien und Ambivalenzen – zwischen Kontrolle (Disziplinierung) und Unterstützung (Förderung) – geprägt ist, und das u.a. die Gefahr beinhaltet Erziehung und Bildung zu pädagogisieren und zu harmonisieren oder auch wieder zu verzaubern und damit Strukturen und Bedingungen – des Bildungssystems – unter den
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jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnissen zu vernachlässigen. Mit einer solchen Auflösung wären die Debatten um die pädagogischen Binnenverhältnisse und beziehungen lediglich eine resignative Gegenreaktion auf die strukturelle Übermacht und Prozesse von Ökonomie, Politik und Gesellschaft. Hier soll es erstens nicht um Ersatzdebatten, sondern um die produktive Annahme des Spannungsfeldes und um eine Reflexion gehen, die es ernst meint mit der Ausgestaltung des pädagogischen Binnenraumes, der Arbeit an den Ambivalenzen und Antinomien sowie dem „Kampf“ um strukturell bessere Bedingungen – als Voraussetzung gelingende Beziehungen auch realisieren zu können. Der Ort der Debatte ist dann auch kein lediglich innerpädagogischer, sondern sie gehört in den politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Raum. Aber auch als pädagogisches Thema sind die Dimensionen Anerkennung, Respekt und Achtung ambivalent und missverständlich. Daher geht es hier zweitens nicht um die einseitige erwachsenenzentrierte und konservative Traditionslinie, wie sie in Erziehungsdebatten immer wieder deutlich wird, sondern um die dialogisch-emanzipatorische Funktion und um Potenziale, die die Erwachsenen und die nachwachsende Generation als wechselseitige Akteure – reziprok und in all ihren Relationierungen sowie den damit verbundenen jeweiligen (Selbst)Beschränkungen und Grenzen – als pädagogische Tatsachen im Blick hat.1 Die Entwicklung von Identität und Subjektivität ist immer an Erfahrungen intersubjektiver Anerkennung, die Achtung und den Respekt bzw. ihr Gegenteil in Formen von Missachtung(serfahrungen) gebunden. Auf die drei Kategorien soll zunächst mehr illustrierend und exemplarisch ein historischer Blick gerichtet und dann ihre aktuelle Diskussion vergegenwärtigt werden. Der Beitrag will eine pädagogische Wiederbelebung des generationellen Binnenraums, der notwendigen Professionalisierungs- und Professionalitätsdiskussion begründen helfen, weil die erzieherischen und bildenden Berufe zwangsläufig in ihrem Erwachsensein, ihrem Da- und Sosein in den Vergesellschaftungsprozess der jungen Generation und die Prozesse des Erwachsenwerdens eingebunden sind.2
Historischer Blick Für Krisen, Umbrüche und Zeiten des Neubeginns kann materialreich belegt werden, dass in der Erwachsenengesellschaft von der Erziehung und Bildung immer wieder „Hilfe und Rettung“ gesucht und gesehen wird. Mit Blick auf die möglichen und unterstellten Prägungen der nachwachsenden durch die ältere Generation wurde „den Jungen“ im 20. Jahrhundert wiederholt – u. a. gebunden an zeitbezogene Jugendbilder – die Verantwortung für „die Zukunft“ aufgeladen und „die Alten“ in den zugehörigen Einrichtungen und Institutionen bekamen einen pädagogisch-erzieherischen Auftrag zugewiesen – begründet zwischen Bild-
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samkeit und Erziehungsbedürftigkeit. Solche Aufgaben und Aufladungen mit ihren Eigenlogiken in der proklamierten „pädagogischen Provinz“ bzw. „pädagogischen Autonomie“ waren vielfach verbunden mit einer schwärmerischen (überhitzten) Persönlichkeitspädagogik und einem Enthusiasmus des harmonischen (und auch heroischen) Gemeinschaftslebens oder der Entwicklung eines „neuen Menschen(tums)“, das durch das „Wesen des geborenen Berufserziehers“ vermittelt wird.
Weimarer Republik Bei Klassikern der (Sozial)Pädagogik und vor allem Vertretern aus der geisteswissenschaftlichen Reformpädagogik (mit ihrem wertphilosophischen Denken) in der Weimarer Republik pendelt die Diskussion über den Beruf des Erziehers zwischen – so die relationalen Schlüsselbegriffe der reformpädagogischen Bewegung – „innerer Berufung“, „Erzieher aus Leidenschaft“ und „pädagogischem Realismus“. Die „pädagogische Beziehung“ und „pädagogische Liebe“ bekommen als „Spannung der Generationen“ und als „Generationsproblem“ – weil alles, was pädagogisch veranstaltet wird, als personelle Vermittlung durch eine Beziehung transportiert werden muss – eine herausgehobene Bedeutung (vgl. Roessler 1964, Giesecke 1997, Hafeneger 1998). Danach gilt es, das Eigenrecht des Kindes und Jugendlichen zu achten und in die Planungen der Erziehung einzubeziehen, weil das Grundlage einer Bildungsgemeinschaft zwischen Erzieher und Zögling mit seinem Bildungswillen ist (vgl. die Hinweise von Müller in diesem Band). So wird die Aufgabe und Wirksamkeit des Erziehers bzw. der pädagogischen Profession z.B. von Nohl – neben Spranger, Litt, Flitner und Weniger ein exponierter Vertreter dieses wissenschaftlichen Denkens – so apostrophiert: „Die Grundlage der Erziehung ist also das leidenschaftliche Verhältnis eines reifen Menschen zu einem werdenden Menschen, und zwar um seiner selbst willen (als Bejahung zwischen Subjekten, d.V.), dass er zu seinem Leben und seiner Form komme“ (Nohl 1933, 38, vgl. auch Nohl 1919). Der Pädagogische Bezug wird von Nohl als ein geistiges Verhältnis und eine „eigentümliche Hinwendung“ seines ganzen Wesens zum jungen Menschen verstanden, die für ihn eine eigene Lebenswirklichkeit, ein Stück seines Lebens selbst ist und dem eine eigene pädagogische Wirkung zukommt. Für Litt (1921, 1947) besteht der pädagogisch-erzieherische Spannungsbogen – in vermittelnder Absicht – zwischen „Führen oder Wachsenlassen“ und für Spranger ist Erziehung „der von einer gebenden Liebe zu der Seele des anderen getragene Wille, ihre totale Wertempfindlichkeit und Wertgestaltungsfähigkeit von innen heraus zu entfalten“ (1950, 381). Der Erzieher ist für ihn getragen von einem „doppelten Eros“: als Liebe zu dem werdenden Menschen und zu den geistigen Werten, als Liebe zu den jungen Menschen, um die geistigen Werte in
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sie hineinzupflanzen und die Seelen der jungen Menschen an diesen zu entzünden. Nach Petersen (1955) geschieht Erziehung da, wo in der Begegnung reifer Menschen mit weniger reifen ein Spannungsverhältnis auftritt, das beide Seiten zu einem gemeinsam zielgerichteten Tun aktiviert.3 Die zeitbezogene Beziehungsdebatte und die Begründungen für die „Autonomie der Pädagogik“ (als wissenschaftliche Disziplin und pädagogische Praxis) werden in mehrere Spannungsverhältnisse eingewoben: in die zwischen Zögling und Erzieher, zwischen Individualität und Sozialgefüge, zwischen Person und Sache, zwischen Fremderziehung und Selbstbildung. Nach der geisteswissenschaftlichen Denklogik geht es in der Wirkweise des Erziehers um idealtypisch drei Momente: Zwischen Erzieher und Zögling muss erstens ein Bildungsgefälle bestehen; die dadurch entstehende Spannung bewirkt der Erzieher zweitens nicht durch überlegenes Wissen sondern durch seine ganze Person; sein Handeln ist drittens nicht von einem Methodenbewusstsein gelenkt, sondern eine Art Kunst der Menschenbildung, die der Tiefe seines Wesens entspringt. Reklamiert werden von der geisteswissenschaftlich inspirierten Reformpädagogik erziehende Personen, die als hinwendende Figuren zu jungen Menschen und als „Sehnsucht ihres Lebens“ andeuten, um was es – mit Blick in die Geschichte der pädagogischen Beziehungen – bereits ging und nun mit Anerkennung, Achtung und Respekt für die„kulturelle Entwicklung“ und menschliche Entfaltung (Vervollkommnung) erneut gehen soll. Dabei wird historisch das Bild der Dialoge von Platon angeboten, bei denen Sokrates stets der Gesprächsführer ist. Mit dem Zeugnis von der „sokratischen Methode“ soll am Ende aller Dialektik dem im Schüler angelegten besseren Selbst zur Geburt ( als Verfahren der Mäeutik, der Hebammen-, Geburtshilfekunst) verholfen werden. Weiter wird auf die Menschenliebe bzw. pädagogische Liebe bei Pestalozzi als einen „Erzieher aus Leidenschaft“ hingewiesen, der mit „Leib und Seele“ bei seinen Kindern ist; oder auch Kerschensteiner wird als „echte Erziehernatur“ gepriesen, die es „ohne den Umgang mit der Jugend“ auch außerhalb der Schule „nicht aushält“. Aus der Sicht dieser Denktradition gilt es die „Eigengesetzlichkeiten“ der Erziehung, des berufsmäßigen Erziehers und zu Erziehenden zur Wirkung zu bringen, zu entfalten und den Prozess des Erwachsenwerdens – verbunden mit einem Glauben der Veränderung von Welt durch Erziehung – zu ermöglichen sowie die Jugend in die jeweiligen gesellschaftlichen (kulturellen) Bahnen zu lenken. Dazu bedurfte es nach den reformpädagogischen Begründungen der 20er Jahre eines jugendlichen Bildungsmoratoriums mit einer eigenen und eigenständigen Erziehungswirklichkeit, einer pädagogischen Autonomie und der Figur des Pädagogischen Bezuges. Erziehung als Beruf bekommt als dialektische Aufgabe zugewiesen, „vom Kinde aus“ zu denken und „als Anwalt“ wachsen zu lassen sowie die junge Generation – ausgehend von deren Erziehungsfähigkeit und -bedürftig-
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keit – von professionellen Erziehern als Mittler und Vermittler in Kultur, Staat und Gesellschaft hineinzuführen; die pädagogische Profession wird als Garantie für die kontrollierte und regulierte Überwindung von Entwicklungskrisen und Gefährdungen gesehen. 4
Fünfziger Jahre In der Geschichte der Bundesrepublik werden vor allem in den 50er Jahren (und auch noch der ersten Hälfte der 60er Jahre) das „Sozialverhältnis Lehrer – Schüler“, die pädagogischen Dimensionen „Bindung, Gehorsam und Freiheit“ sowie die Führungsstile und der „Auftrag“ von Erwachsenen in der Erziehung und Bildung thematisiert (vgl. Die deutsche Schule 1956). Die Diskussion um den Führungsstil, um Methoden und Atmosphäre – inspiriert aus der us-amerikanischen Gruppenpädagogik von Kurt Lewin – akzentuiert, dass die Persönlichkeit des Pädagogen in Gruppen (und Schulklassen) nach den drei Idealtypen autoritär, (autoritaristisch, ) demokratisch und Laissez-faire unterschieden werden kann. Die Plädoyers favorisieren einen demokratischen Führungsstil und wechselseitige Anerkennung, und mit Blick auf Erscheinungsformen der Autorität wird im Miteinander von Älteren und Jüngeren schließlich Abschied genommen von der Alters- und Amtsautorität (des reiferen Alters, des pädagogischen Amtes). Deren Begründung wird jetzt in der personalen Autorität (der Erzieherpersönlichkeit, der persönlichen Qualität des Erwachsenseins) gesehen, weil „erst die Erzieherpersönlichkeit die Erziehungsautorität schafft“ (Dumke 1957, 164). Diese Autorität, die einen Entwicklungs- und Bildungsauftrag hat, wird – soll sie zur Wirkung kommen und angenommen, gebilligt und auch gefordert werden – an Kategorien wie Gerechtigkeit und Fairness, ruhige Konsequenz, Großherzigkeit und Güte gebunden. Mit Blick auf die Schule und die Stellung des Lehrers fordert Dumke „Achtung und Ansehen, weil der erziehliche Erfolg seiner Tätigkeit davon unmittelbar abhängig ist“ (1957, 170). Das (eigentümliche) pädagogische Verhältnis wird als ein spezifisches Sozialverhältnis interpretiert, weil sich „der junge Mensch dem Einfluss des Erwachsenen nicht entziehen kann“ (Die deutsche Schule 1956, 389). Der Erziehungsvorgang wird als ein interaktiver Prozess zwischen Erzieher und Zögling verstanden und die junge Generation ist „zwingend“ und „unausweichlich“ der „Begegnung“ mit den Pädagogen ausgesetzt, die einen Bildungs- und Erziehungsauftrag (unter dem jeweiligen Erziehungs- und Bildungsauftrag der pädagogischen Institution) haben. Beide können sich dieser Begegnung und dem Miteinandersein, diesem „Schicksal nicht entziehen“ (Seidelmann 1956, 60), weil sie zum organisierten Kernbestand der Generationenfolge gehört. Bei allen Konflikten und Distanzierungen geht es nach dieser Denktradition um Tradierungen und die Weitergabe von Kultur durch Erziehung und
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Bildung, ohne dass die erwachsene Generation freilich die junge Generation auf die Zukunft – die unbekannt und offen ist – vorbereiten kann. Bei aller Offenheit müssen – so die Vergewisserung – das Kind und der Jugendliche unter dem Erziehungs- und Bildungsauftrag der jeweiligen pädagogischen Institution den Erwachsenen als Person, d.h. der Schüler den Lehrer als Person wie auch der Erwachsene das Kind als Person „ertragen und verarbeiten“, ernst nehmen, respektieren und achten – man könnte auch sagen reziprok bejahen. Neben der unterlegten Erziehungsbedürftigkeit der jungen Generation wird proklamiert: „Auch sie (die Kinder und Jugendlichen, d.V.) suchen den Erzieher, der für sie da ist und Zeit hat, der sie ernst nimmt“ (Giese 1958, 136). Damit ist eine auf Balance, Gegenseitigkeit und lebendige Wechselwirkung beruhende Beziehung und pädagogische Begegnung gemeint, die auf Teilnahme und Vertrauen (wie auch „guter Erziehungsautorität“) basiert und die auch Konflikte einschließt; dies knüpft an die Denkfigur des Erzieher-Zögling-Verhältnisses bei Buber an, der von einem „partnerschaftlichen und dialogischen Verhältnis“, von „Vertrauen und pädagogischer Begegnung“ in gegenseitiger und lebendiger Wechselwirkung gesprochen hat. Auch mit dem diskutierten pädagogischen Takt (dem Taktgefühl) wird eine Zurückhaltung und Distanz begründet, mit dem sich der Erzieher als Erzieher um des Kindes und Jugendlichen willen in seiner Rolle reflektiert, weil er das Anderssein im Blick hat; „denn das allein lässt den zum Takt notwendigen Respekt für die Eigenart und das Eigenrecht des anderen aufkommen“ (Muth 1961, 264). Im Prozess des Erwachsenwerdens wandelt sich dann – nach der Diskussion in den 50er Jahren – das pädagogische (menschliche) Sozialverhältnis in eine sachliche Begegnung, weil mit der Versachlichung der Beziehung (z.B. in der Oberstufe) der Pädagoge als Person interessant wird, der sich kompetent mit einer Sache/einem Gegenstand auseinander setzt und den Jugendlichen daran als Vermittler teilhaben lässt. Mit diesem Prozess soll der Schüler lernen, „dem Lehrer mit Achtung zu begegnen“ (Schliebe-Lippert 1956, 384). In dem zeitbezogenen Diskurs wird versucht, die pädagogische Generationenbeziehung neu auszubalancieren und die autoritäre Erziehung wird wie jegliche Form der Durchsetzungs-, Belehrungs- und Drohpädagogik (die keine Wahrnehmung für die junge Generation und deren Subjektivität hat, die deren Eigenrecht und Eigenarten und deren Recht anders zu werden wie die Erwachsenen nicht erfasst) ebenso kritisiert wie der Erziehungsverzicht, dem Verantwortungslosigkeit zugeschrieben wird. Roessler (1957) lehnt schließlich Ende der 50er Jahre den Begriff der Autorität ab und spricht von einem „Verlangen der jungen Generation nach Orientierung“; damit meint er nicht Belehrung, sondern die Summe aller Äußerungen, aus denen Jugendliche entnehmen können, wie die Erwachsenen – Eltern, Lehrer, Öffentlichkeit – über wichtige Lebensfragen denken. Er formuliert dann 1964, dass der Balance als pädagogischer Haltung (des „Berufserzieherstandes“), eine zentrale Bedeutung zukommt, weil
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verschiedene generationstypische Erfahrungen und Erlebniswelten in der gleichen „Kulturwelt“ miteinander umgehen: „Der stete Wandel der Lebenswelt wie die spezifische Struktur des Generationsgeflechtes ist hier Voraussetzung für die Erzieherschaft (die der Generation der Väter angehört), um dem neu heraufkommenden Geschlecht (der Enkelgeneration der gleichzeitig lebenden Alten) den Weg in eine ihr eigentümliche Generationshaltung bahnen zu helfen“ (41).
Neuere Diskussion Die anspruchsvolle und zugleich problematische Dimension des Pädagogischen Bezuges meint – im Kontext des geisteswissenschaftlichen Denkens und der Herstellung von Gemeinschaft – ein professionelles Profil, das in der Tradition von Ganzheitlichkeit (einem ganzheitlichen Erziehungsbegriff) und einem personal-zentrierten – dem familialen Grundmodell entlehnten – Lernen und Bilden steht.5 Von diesem Konstrukt und den impliziten angebotenen Perspektiven verabschiedet sich die erziehungswissenschaftliche Diskussion ab Ende der 60er Jahre. Gesellschaftlicher Wandel und Zeitdiagnosen, die sozialwissenschaftliche Reflexion des Verhältnisses von Erziehung/Bildung und Gesellschaft sowie die Veränderungen der Jugendphase selbst haben dann seit Mitte der 80er Jahre auch zu neu akzentuierten Professionsbestimmungen (Profilen) geführt. Im neuen Ausbalancieren von Nähe und Distanz, von Partikularität und Ganzheitlichkeit werden Begriffe wie „Lernhelfer, Lernbegleiter und Moderator“ eingeführt und als pädagogische Grundformen „Unterrichten, Informieren, Beraten, Arrangieren und Animieren“ (Giesecke 1987, 1997) unterschieden; in der Offenen Jugendarbeit hat Müller (1998) mit der Frage „Siedler oder Trapper?“ (Müller 1998) eine bedeutsame professionelle Differenzierung markiert. In den 90er Jahren wird mit der Diskussion über Beziehungsarbeit und Modernisierung auch die Bedeutung von professionellen Erwachsenen in Lernprozessen erneut aufgegriffen und Dimensionen wie Dialog, Entwicklung Atmosphäre, Respekt und Anerkennung zum Gegenstand der Reflexion. Für die pädagogische Professionalität wird als zeitbezogene Herausforderung thematisiert, eine tragfähige Balance von partikularer und distanzierter sozialer Beziehung herzustellen, deren Zweck einerseits eine gemeinsame „Sache“ bzw. ein gemeinsames Ziel (z.B. des Lernens) und andererseits ein partnerschaftliches Zusammensein von (ganzen) Persönlichkeiten ist, die sich achten, anerkennen und respektieren. Schule und Jugendhilfe werden als Orte von gesellschaftlichen und biographischen Entwicklungsprozessen verstanden und die Pädagogen und Jugendlichen sind gemeinsame Akteure in einem – jeweils interessengeleiteten, auch konflikthaften – kompromissorientierten Kampf um Anerkennungserfahrungen, Selbstachtung und Respekt bzw. von erweiterten Mustern für die Zukunft. Die Perspektive von Anerkennung, (Selbst)Achtung
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und Respekt „aller Einzelnen in ihrer Besonderheit“ (Scherr 2001, 353) bekommt schließlich unter Bedingungen einer Einwanderungsgesellschaft und interkulturellen Pädagogik eine besondere Bedeutung, weil hier eine Pädagogik gefordert ist, die mit der Anerkennung von Autonomie auf zukunftsoffene und selbstbestimmungsfähige Subjekte (Subjekt-Bildung) setzt. Dabei bleibt gleichzeitig die Ungewissheitsdimension erhalten, weil die antinomischen Strukturen, „Grenzen der Erziehung“ und Balanceanforderungen den Ausgang von Lern- und Bildungsprozessen offen lassen; damit pädagogisch konkret umzugehen, ohne sie strukturell auflösen zu können, ist die Herausforderung an die Profession (vgl. Hafeneger 2001). Die Diskussionen um Anerkennung, Respekt und Achtung sind nicht nur ein historisches Phänomen und sie sind auch keine fertigen, endgültigen Zustände, sondern als dynamische Kategorien sind sie zeitbezogen – unter den jeweiligen gesellschaftlichen und sozialisatorischen Bedingungen – immer wieder neu zu begründen und weiterzudenken. Ihre Thematisierung markiert ab Mitte der 90er Jahre unterschiedliche Aspekte und Problemstellungen und sie geraten in die Diskussion, weil insgesamt die Balance von „Gesellschaft und Pädagogik“ aufgrund struktureller Veränderungen sich verändert und auch gefährdet ist. Pädagogik ist – so angebotene Diagnosen – im Sog bzw. der Dominanz von Technologie und Ökonomie in der Gefahr „unter die Räder zu kommen“ und es gilt die Frage zu beantworten, „wie und ob unter den gesellschaftlichen Umständen die Pädagogik überhaupt noch glauben könne, erzieherische Persönlichkeitsideale und die Subjektperspektive durchsetzen zu können“ (Böhnisch/Schröer 2001, 222). In der Auseinandersetzung mit dieser Frage geht es auch um die zeitbezogene Begründung und Reformulierung des Pädagogischen (mit einem dosierten pädagogischen Optimismus) im Bildungsprozess der Subjekte mit all ihren Dynamiken, Kontinuitäten, Diskontinuitäten und Paradoxien (Beck/Bonß 2001) – auch wenn sich die Gesellschaft dazu eher sperrig und gleichgültig verhält.
Bedeutung der Profession Mit den neueren Angeboten der pädagogischen Profession mit Aspekten wie Vertrauen, Verständigung, Aushandlung, Arbeitsbündnis und pädagogische Sozialbeziehung sind auch die Dimensionen Anerkennung, Achtung und Respekt angesprochen, weil in der modernen Pädagogik und im beruflichen Selbstverständnis gilt: „Was immer an Zielen der Erziehung und Unterrichtung und an dafür geeigneten methodischem Repertoire erdacht werden mag – alles muss schließlich über diese Beziehung, also durch persönliche Vermittlung transportiert werden. Immer geht es darum, dass Menschen unmittelbar auf andere Menschen einwirken, um zu erreichen, was sie sich vorgenommen haben“ (Giesecke 1997,
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16). Damit ist angedeutet, dass Jugendliche (Schüler) die Pädagogen (Lehrerinnen und Lehrer, Jugendarbeiterinnen und Jugendarbeiter) nicht nur in ihrer Berufsrolle, sondern auch als andere Erwachsene (neben ihren Eltern) in ihrer Person/ Persönlichkeit – Böhnisch spricht vom Lehrersein, Jugendarbeitersein, Sozialarbeitersein – suchen und nachfragen.6 Damit ist der Zwiespalt von Offenheit und Grenze in den spannungsreichen sozialen Beziehungsfeldern von Schule und Jugendarbeit angesprochen. Vor allem für die Jugendarbeit als freiwilliges und weitgehend selbstbestimmtes pädagogisches Arbeitsfeld mit den widersprüchlichen Einheiten von „Autonomie und Abhängigkeit“, „Offenheit und Halt“, „Nähe und Distanz“, „Bindung und Ablösung“, „Ablösung und Transformation“ gilt, dass neben den anderen gleichaltrigen Jugendlichen gleichermaßen „hier die anderen Erwachsenen gesucht werden“ (Böhnisch 1998, 35), die den Jugendlichen wiederum zeigen, dass sie gebraucht werden. In der Umsetzung von Zielen wie Halt, Milieubezug, sozialkultureller Unterstützung, Raum für soziale Experimente und soziale Träume bieten die vermittelnden und verlässlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter professionelle Figuren wie „Verfügbarkeit“, „Pädagogischer Bezug“, „Arbeitsbündnis“ und „gegenseitiges Vertrauen“ an – und die gelebten pädagogischen Generationenbeziehungen sind dabei gerade auch als Geschlechterverhältnis (Frau-/Mannwerden) zu verstehen. Nach Böhnisch (1998) „suchen“ Jugendliche solche Erwachsene, von denen sie lernen können, „um sich an ,Modellen‘ für das Erwachsenwerden gleichermaßen orientieren, aber auch gegenüber diesen abgrenzen zu können“ (163). Auch Müller (1996) argumentiert, dass Jugendliche andere Erwachsene (ge)brauchen, nutzen und nachfragen, und dass diese sich – als Generationen- und als Geschlechterbeziehung – als vielfältige „Objekte“ zur Verfügung stellen müssen. Mit der „Nutzung“ und „Verwendung“ von Bezugspersonen (anderen Menschen als Repräsentanten der äußeren Realität) wird die eigene Person, das eigene Selbstverhältnis mit ihrer „inneren Realität“ modelliert. Ausgehend von der intersubjektiven Struktur personaler Identität nennt Müller (1996) drei Gründe, warum Kinder und Jugendliche Erwachsene brauchen: „Sie brauchen auch Eltern oder elternähnliche Personen, die es ihnen ermöglichen, sich selbst nach dem Bild, dass sie sich vom „Großwerden“ machen, zu formen; sie brauchen auch andere Erwachsene (als ihre Eltern), um den „Ablösungsprozess“ von den Eltern erfolgreich bestehen zu können; sie brauchen Personen, die zwischen ihrer Erfahrung in der Welt der Gleichaltrigen und ihrer Erfahrung mit der Erwachsenenwelt vermitteln“ (27 f.). In seiner subjekttheoretischen – pädagogisch-normativen – Fundierung von Jugendarbeit verweist Scherr (1997, 1998) u.a. auf den Zusammenhang von „Subjektivität und Anerkennung“. Mit dem Ziel, „Bildungsprozesse zum Subjekt, zu einer selbstbewussteren und selbstbestimmten Lebenspraxis zu ermöglichen“ (1998,148) akzentuiert er für die Jugendarbeit die Bedeutung von Prozessen der
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Selbst-Bildung in einem eigenständigen Feld und einer pädagogischen und professionalisierten Praxis. Subjektbildung und Bildungsprozesse sind für ihn auf wechselseitige soziale Anerkennung, Verständigung und Lebenspraxis angewiesen, die sich in der Jugendarbeit in unterschiedlichen Gruppen, Kulturen und Sinnwelten wiederfinden. Zu den leitenden Begriffen einer Theorie subjektorientierter Jugendarbeit gehören neben Subjektwerdung/-bildung, Selbstbewusstsein und Selbstbestimmung auch Selbstachtung, Wertschätzung und soziale Anerkennung (1997, 45 ff.); ihnen kommt – in Anlehnung an Honneth (1992) – mit ihrer emanzipatorischen Dimension in der Jugendarbeit eine herausragende Bedeutung zu. Auf dem Weg von Jugendlichen zu respektierten Erwachsenen schreibt Scherr der pädagogischen Profession im Umgang mit Anerkennung eine basale Kompetenz zu: „PädagogInnen ist deshalb ein sensibler und akzeptierender Umgang mit den Versuchen Jugendlicher abverlangt, ihre Identität positiv zu bestimmen, Selbstachtung und soziale Wertschätzung zu erlangen“ (1997, 54). Für Seifert (1998) gibt es in der Jugendarbeit vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Modernisierungsprozesse und als Reaktion auf strukturelle Veränderungen und Erfahrungen (Freisetzungen) unter Jugendlichen neben dem Streben nach Autonomie gleichzeitig auch eine Suche bzw. einen „Hunger nach Personen“, nach Bindungen, Bestätigung und Gebrauchtwerden. Für die Selbstwertentwicklung ist es für Jugendliche „enorm wichtig, dass sie als Persönlichkeit (gegenwärtig und nicht auf die Zukunft vertröstend, d.V.) in einem vielfältigen Beziehungsnetz akzeptiert und sozialräumlich integriert werden, denn sie erkennen ganz genau, wenn sie nicht als Person in ihrer Einmaligkeit gefragt sind, sondern ob es gleichgültig scheint, ob statt ihrer eine andere Person bestimmte Aufgaben zugewiesen bekommt und Verantwortung übernimmt“ (218). Die Suchprozesse nach Bindung, Selbstwert und Geborgenheit sind an lebbare und transparente personale Autorität gebunden, wie sie Böhnisch (1994) beschrieben hat; nach ihm sind sie „mit Respekt vor dem Wert anderer“ (241) mit dem Ziel gepaart, für eine autonome Lebenspraxis zu befähigen. Diese Diskussion ist an die Vorstellung gebunden, dass Persönlichkeit mit ihrem psychischen Innenleben als intersubjektiv vermittelt und als (konfliktreiche) Verinnerlichung von Interaktionsbeziehungen begriffen wird. Die Vorstellung der „interaktiven Konstitution der Selbstbeziehung“ (Honneth 2000, 1093) ist wiederum gebunden an Vermittlungssphären und Personen (Repräsentanzen), die zur Vergesellschaftung und Individuierung der Subjekte beitragen. In den Prozessen der sukzessiven Selbstwerdung des Menschen kommt entwicklungsphasenbezogen neben den Eltern den anerkennenden erwachsenen Pädagoginnen und Pädagogen eine bedeutende – lebenswichtige und formende – Rolle und Funktion zu. Die Suche nach den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern als für Jugendliche relevante Erwachsene meint einen erwachsenen Typus, der sie in ihrem jugendli-
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chen So- und Gewordensein – in der sensiblen Balance von Nähe und Distanz – versteht und respektiert. Mit ihm kann dann im pädagogischen Prozess Vertrauen generiert werden, ihn können sie respektieren, an ihm können sie sich (vorübergehend) orientieren, sich reiben und ihn können sie ernst nehmen in seinem Erwachsensein. Böhnisch (2001) reklamiert für die pädagogische Kommunikation und die Teilhabe der Erwachsenen an der Entwicklungsthematik (wie auch der Teilhabe der Jugendlichen an der Erwachsenenthematik) den Bewältigungsbegriff, indem sich Pädagogik in die Gesellschaft hineinbegibt und den Ort sucht, „an dem sie die Bewältigungsprobleme erkennen und aus ihr heraus pädagogisches Handeln formulieren kann. Der Begriff der „Autonomie“ wird durch den Begriff der „Handlungsfähigkeit“ abgelöst“ (225). Die Sicherung des gegenseitigen Respekts, von Achtung und Anerkennung gehört zu den ethischen Grundproblemen pädagogischen Handelns, und pädagogische Verhältnisse können als Anerkennungsverhältnisse und das Leben von Anerkennungsbeziehungen zwischen Menschen dechiffriert werden. Weil in pädagogischen Kontexten Asymmetrie „in der Natur der Sache liegt“, gehört zur moralischen Vorkehrung – sollen den Pädagogen und Pädagoginnen entgegengebrachtes Vertrauen und Beziehungen nicht missbraucht werden – eine gefestigte Haltung gegenseitiger Achtung, ein eingeübter Respekt vor der Autonomie, dem Eigenwert und der anerkennungswürdigen Andersheit der Anderen und des Anderen.7 Honneth (1992) hat in Anlehnung an Hegel und Mead ein intersubjektivitätstheoretisches Personenkonzept vorgelegt und markiert – in Auseinandersetzung mit Ungerechtigkeit und Ungleichheit – mit drei Anerkennungsformen Liebe, Recht und Wertschätzung/Solidarität intersubjektive Dimensionen, mit denen wiederum die Selbstbeziehung der Menschen verbunden ist. Er verweist auf die Idee der Achtung und des Respekts bei Schiller und Kant, wobei Kant in seinen Vorlesungen „Über Pädagogik“ aus dem Jahre 1803 ein Erziehungsdenken entwickelt hat, das auf Vervollkommnung durch Erziehung setzt, allen Subjekten den gleichen Respekt entgegenbringt und als Erziehungskunst von den öffentlichen Erziehern zu leisten ist. Das Konzept der gelungenen reziproken Anerkennung ist für den pädagogischen Mikrokosmos und die Herstellung institutioneller (gesellschaftlicher) Bedingungen bzw. dem Kampf um diese von Bedeutung; es ist im Prozess der Umsetzung in pädagogischen Einrichtungen und Institutionen die Grundlage um jegliche Formen von Missachtung, Erniedrigung und Beleidigung als verweigerte Anerkennung zurückzuweisen. Soziale Achtung und Wertschätzung sowie Respekt vor einer Person in ihrem Gewordensein, mit ihren Eigenschaften und Fähigkeiten ist eine kognitive und moralische Herausforderung. Damit ist ein Interaktionsverhältnis gemeint, „in dem die Subjekte wechselseitig an ihren unterschiedlichen Lebenswegen Anteil nehmen, weil sie sich untereinander auf symmetrische Weise wertschätzen“ (Honneth 1992, 208).
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Mit Profilangeboten wie helfende Begleitung der Lehrenden gegenüber den Lernenden, Lernhelfer und Moderator wird versucht, die intermediäre Funktion der pädagogischen Profession zu akzentuieren. Pädagogik und soziale Arbeit mit der jungen Generation wird neben vernetzter Infrastrukturarbeit immer auch als personale Dienstleistung im Kontext – wie auch immer Struktur und Funktion der pädagogischen Professionen akzentuiert werden – intermediärer Organisationen mit den zugehörigen Spannungen und Paradoxien professionellen Handelns verstanden. Die pädagogische Profession wird jenseits von funktionärshaften Aufgaben und Haltungen als eine „biographische Sachwalterfunktion“ (Combe/ Helsper 1996, 36) und mit ihren Ressourcen als ein Sichkümmern (als Fürsorge im wohl verstandenen Sinne) um die Lebenswelt zum Wohl der jungen Generation verstanden; sie ist zugleich Medium der Art des Umgangs mit der jungen Generation und der (vor)pädagogischen Einwirkung.8 Mit den Grundprinzipien einer mäeutischen oder sokratischen Pädagogik, als Hinführung zur selbsttätigen Einsicht, markiert Oevermann (1996) mögliche Strukturelemente von pädagogischen Arbeitsbündnissen, bei denen er, um erwachsen, ein autonomes und vernünftiges Wesen zu werden u.a. von der lernenden „Neugierde und dem Wissensdrang des Kindes“ (153) ausgeht. Das sind Motiv und Anlass für Pädagoginnen und Pädagogen, dem Kind und Jugendlichen mit einem ausgehandelten pädagogischen Arbeitsbündnis schlüssige und einsichtsvolle (und durchaus anstrengende) Lernangebote zu machen, „wie es diesen ,Mangel‘ beheben kann“ (153). Ein diskursoffenes Arbeitsbündnis orientiert sich als Bildungsaufgabe an der „Achtung vor dem Wert der Eigentätigkeit eines jeden Einzelnen“ (158) und es nimmt das Kind und den Jugendlichen, aber auch die Erzieherin und den Erzieher ernst. Auch die im modernisierungstheoretischen Diskurs angesiedelte Diskussion über Pädagogik und Jugendhilfe als Dienstleistung und Qualitätsmanagement ist – mit dem Hinweis auf reflexive Begrenzung und der Versachlichung institutionalisierter Bildungsprozesse – auf die Vermittlung durch den Experten angewiesen, der kompetent, strukturiert und empathisch agiert oder auch immer wieder – wie es Hörster und Müller (1996) formulieren – „neue Anfänge“ ermöglicht.9
Intersubjektivität Mit dem erkenntnistheoretischen Blick in die Intersubjektivität menschlichen Lernens, Erlebens und Verhaltens geht es in Lern- und Bildungsangeboten immer auch um das „pädagogische Verhältnis“ von Innen- und Außenwelt, d.h. um die Übersetzung von Außenwirklichkeit (repräsentiert durch erwachsene Personen) in die subjektiven (innerseelischen) Wirklichkeiten. Das theoretische Paradox ist, dass die Welt von den Subjekten immer schon vorgefunden wird und zugleich mit (neu) erschaffen wird. Damit begründet sich persönlichkeits- und kulturtheore-
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tisch sowie in Reflexion von Lernprozessen ein notwendig schärferer Blick in die Subjektlogiken (die inneren Faktoren), in die Aneignungsformen der Subjekte mit ihrer Umwelt und wie sie mit deren Einwirkungen und Lernangeboten umgehen; diese müssen in die Sinnstruktur und Herausforderungen eines lebensgeschichtlichen Narrativs integrierbar sein. Die Perspektive in den pädagogischen Generationenbeziehungen müsste sein, das Maß und die Erfahrungen an Anerkennung, Achtung und Respekt „für beide Seiten“ zu erweitern, weil damit Bedingungen und Voraussetzungen für die Entwicklung von Selbstachtung, eigener Wertschätzung und Selbstrespekt erfüllt werden. Die wiederum können – als intersubjektive Voraussetzungen für Selbstverwirklichung und Identität, der Vergewisserung der eigenen Person – in die sozialen Beziehungen, in Anteilnahme an anderen und am sozialen Leben im Gemeinwesen hineinvermittelt werden. Damit bekommen Lernen und Bildung in der Schule und Jugendarbeit pädagogisch und sozialisatorisch ein Profil als Erweiterung von Reflexivität; sie bleiben gleichzeitig gesellschaftlich rückgebunden und werden in ihrer Bedeutung für Teilhabe- und Entwicklungschancen der jungen Generation und auch den sozialen Zusammenhalt neu gesehen. Aufgrund gesellschaftlicher und kultureller Veränderungen sind in der Subjektentwicklung und -ausstattung der jungen Generation die Bedeutung und das Ausmaß der Mediensozialisation hervorzuheben und zu bedenken. Ein Aspekt unter vielen ist hier, dass im familiären Raum deren „Zurichtung“ durch das Fernsehen und das „Überfüttern“ mit Bildern früh beginnt – bevor Kinder sprechen können und in die Schule kommen sind sie medien-/fernseh-sozialisiert. Die Vielfalt des ununterbrochenen Bilderflusses ist für die weitere Subjektentwicklung mit seinem realistischen Universum vor dem Sprechenlernen und mit seinen grundlegenden symbolischen Bezugspunkten von entscheidender (prägender) Bedeutung und anthropologisch neu. Nicht mehr das Medium des Gesprächs und das Lernen der Sprache selbst mit seinen vielfältigen Dimensionen (Erzählungen, Weitergaben, Eigenarten, Genealogien, Riten, Kenntnissen, sozialen Beziehungen u.v.a.) ist für die mentalen Bilder, Aneignung von Realität und die Entwicklung von Identität allein strukturierend, sondern mit dem Fernsehkonsum entfernt sich – mit getrübter Wahrnehmung, symbolischer Konfusion – das Subjekt tendenziell von einer eigenständigen Beherrschung der symbolischen Kategorien Raum, Zeit und Person. Damit steht auch die diskursive Fähigkeit des Subjekts, seine Fähigkeit mit kritischer Anstrengung einen eigenen Standpunkt zu finden und zu überprüfen zur Disposition. Die äußeren (Fernseh-)Bilder bestimmen und besetzen – zugespitzt formuliert – tendenziell die inneren Bilder (des psychischen Apparates) und bringen das Subjekt (in seiner Entwicklung) in seine Abhängigkeit bzw. beherrschen es. In dieser kulturellen Gemengelage gehört es u.a. zu der geradezu altmodischen Aufgabe der Pädagoginnen und Pädagogen, sich
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auf ein „pädagogisches Verhältnis“ einzulassen, diskursiv-kritische und geduldige Gedankenarbeit zu leisten und die nachwachsende Generation „einladend und mitreißend“ anzustiften, ihre Kritikfähigkeit zu schärfen. Dabei müssen die Pädagoginnen und Pädagogen eine Vorstellung davon haben, was sie vermitteln wollen (dafür werden sie bezahlt), sie müssen darlegen können was es zu vermitteln gibt und sich dann auf die spannenden und möglicherweise spannungsreichen Formen der Aneignung durch die Jugendlichen einlassen. Dem liegt die Vorstellung zugrunde, dass wirkliches Lernen nicht nur Vergnügen (Spaß) bereitet, sondern immer auch ein anstrengender Erkenntnis- und fördernder Entwicklungsprozess zugleich ist – in dem sich freilich beide Seiten respektieren, achten und anerkennen. In der Auseinandersetzung mit dem gesellschaftlichen Druck auf die Pädagogik bzw. der „neuen Verlegenheit der Pädagogik“ (Böhnisch/Schröer 2001) und mit der tendenziellen Auflösung bisheriger Selbstverständlichkeiten, gehören unter den Bedingungen eines globalisierten und digitalen Kapitalismus drei Dimensionen zum Schlüsselkonzept und Qualitätsnachweis einer disziplinär auszuformulierenden, reflexiven und lebensweltlich sensiblen Pädagogik – die sich einer reflexiv-aufklärerischen Tradition verpflichtet weiß. Um tragfähige Hintergrundsicherheit und soziales Vertrauen zu erwerben, bedarf es in der Suche von Jugendlichen nach sozialer Integration, Anerkanntwerden und Selbstwertschöpfung entsprechender Erfahrungen auch innerhalb der pädagogischen Einrichtungen. Hier liegen für die Pädagogik, ihre Profession (mit einer zu entwickelnden Berufskultur) und Eigenlogiken ihrer Professionalität (als pädagogische generationelle Ordnung) zentrale Herausforderungen und die Verpflichtung zum Nachdenken über ihren Ort in der Gesellschaft. Zu fragen ist erstens nach ihrer Bedeutung und ihrem Auftrag im pädagogischen Binnenraum wie auch nach der Zurückweisung von problematischen Leistungsversprechungen und der Markierung ihrer Grenzen bzw. Grenzarten bei einem ungewiss-offenen antinomischen Charakter von Erziehung und Bildung – sowohl aus der Perspektive des Erziehers als auch des zu Erziehenden (vgl. Dudek 1999). Vor dem Hintergrund kultureller Modernisierungsprozesse sind die pädagogischen Beziehungen anspruchsvoller geworden und für den pädagogischen Raum gilt zweitens, dass er reflexiver und selbstbezüglicher geworden ist (Ziehe 1998). Mit zunehmender und wechselseitiger Anerkennung, mit Achtung und Respekt – verbunden mit dem zugehörigen „Kampf“ um die strukturellen (Arbeits-)Bedingungen bzw. den sozialen Bedingungen von Lernen und Bildung, die dies ermöglichen sollen – wächst auch die subjektive Autonomie, die Selbstachtung und Wertschätzung des Einzelnen. Dabei basieren drittens Anerkennungsprozesse immer auf Wechselseitigkeit und sie verlaufen in modernen Gesellschaften über Kritik, Reflexivität und Konflikt. Nach Honneth (1992) „ist in der Erfahrung von Liebe die Chance des Selbstver-
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trauens, in der Erfahrung von rechtlicher Anerkennung die der Selbstachtung und in der Erfahrung von Solidarität schließlich die der Selbstschätzung angelegt“ (278). Diese angedeuteten Dimensionen wären als ausgewiesene Kerne von ethischen Haltungen einer Profession, die auf eine lange Tradition solcher Gedanken zurückblicken kann, noch zeitgemäß auszubuchstabieren und empirisch zu prüfen.
Anmerkungen 1 Der unabgegoltene und im Zeitbezug zu konkretisierende Emanzipationsbegriff ist als (bescheidene) pädagogische und subjektorientierte Leitidee – nicht als Entwurf in der Tradition emanzipatorischer Gesellschaftsveränderung – zu verstehen. Sie besitzt im Sinne von Scherr (1997) nach wie vor politische und pädagogische Relevanz, weil „Bedürfnisse nach Erfahrungen der Selbstbestimmung, der leistungsunabhängigen sozialen Anerkennung und der Solidarität nicht bereits dadurch überholt und eingelöst sind, weil Perspektiven einer gesamtgesellschaftlichen Transformation gegenwärtig nicht mehr greifbar sind“ (S. 25). 2 Angeboten wird eine allgemeine Skizze, arbeitsfeldbezogene Differenzierungen und Professionalitätsprofile in den unterschiedlichen Handlungsfeldern (Schulsozialpädagogik, außerschulische Jugend- und Erwachsenenbildung, Jugendhilfe) können hier – mit all ihren (Neben-)Folgen – nicht vorgenommen werden. Auch auf die historisch wiederkehrende Debatte um das Thema „Autonomie der Pädagogik“ und deren Anerkennung als Erziehungswirklichkeit, als Struktur im Erziehungs- und Bildungssystem und als Wissenschaft sei hier nur verwiesen (vgl. zusammenfassend Kropp 1966). 3 Mit solchen Ansprüchen sind Fallen aufgestellt und Gefahren verbunden, die u.a. mit einer problematischen und überzogenen Selbstverwirklichungspädagogik oder auch heroischen Vergemeinschaftungspädagogik verbunden sein können. 4 Die nicht zu leugnende Verantwortung der Erwachsenen wird einem – die junge Generation überfordernden – pädagogischen Naturalismus gegenübergestellt, der primär von der Selbstentfaltung und Autonomie, einem unterstellten Entwicklungsgesetz und den Anlagen zum Guten ausgeht. Demgegenüber entwickelt Bernfeld aus der psychoanalytisch und gesellschaftskritisch stimulierten Denktradition in den 20er Jahren die Figur des „Kampfes
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um Anerkennung“ und die „Tatbestandsgesinnung“ in der Pädagogik (1921, 1925). In seinem Bericht über das „Kinderheim Baumgarten“ begründet Bernfeld (1921) einige Gedanken zum „neuartigen Verkehr der Erwachsenen (Lehrer) mit den Kindern“ um deren Vertrauen gewinnen zu können. Dazu gehören: „unbedingte Liebe und Achtung gegenüber den Kindern, rücksichtslose Hemmung aller Macht-, Eitelkeits-, Herrscher-, Erziehergelüste in sich selber“ (S. 113). Kameradschaftlichkeit heißt für ihn aber nicht den Kindern gefallen zu wollen, heuchlerisch und richtungslos zu sein. Zur pädagogischen Absicht, die Kinder beeinflussen und verändern zu wollen schreibt er: „Die Antinomie zwischen dem berechtigten Willen des Kindes und dem berechtigten Willen des Lehrers löst keine Pädagogik auf, vielmehr besteht sie in dieser Antinomie“ (S. 124). Er plädiert hier für eine „Kompromissgesinnung“, in dem beide „Willen“ zu ihrem Recht kommen. Eine Würdigung seines Denkens kann hier nicht entfaltet werden (vgl. auch die Hinweise von Müller in diesem Band). Zur Kritik an diesem historischen (idealisierten) Familien-Modell als Grundlage für professionelles pädagogisches Handeln und angemessene (selbstbeschränkende) pädagogische Beziehungen vgl. Giesecke 1987 und 1997. Auf die Diskussion um Idole, Vorbilder und Leitbilder kann hier nicht eingegangen werden (vgl. Hufnagel 1993, Hafeneger 1996b); auch auf die Debatte um Professionalisierung und Professionalität in der Pädagogik sei hier nur hingewiesen (vgl. Combe/Helsper 1996). Zugespitzt sei angemerkt: In der Schule steht das ‚Lernverhältnis‘ im Mittelpunkt und in der Jugendarbeit muss zunächst der ‚Gebrauchswert’ geklärt werden. Lehrerinnen und Lehrer sowie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind in ihren pädagogischen Arbeitsfeldern folglich auf ihre jeweils spezifische (unterschiedliche) Art und Weise mit gegenseitiger Anerkennung konfrontiert. Zu den Dimensionen des Vertrauens, der moralischen Achtung und vertrauensvoller Beziehungen bzw. Verhältnisse im sozialen Leben vgl. Hartmann/Offe (2001). Auf die Differenzierung von Arbeitsmarktsegmenten, von Professionsprofilen und den Aufgaben von Pädagogen, die z. B. im Kontext von Beratung, Verwaltung, Personal- und Organisationsmanagement über das Pädagogische hinausgehen, sei hier lediglich verwiesen. So skizziert Appel (2001) die pädagogischen Anforderungen z.B. im offenen Jugendbereich im Spannungsfeld von sozialräumlich orientierter Arbeit und Beziehungsarbeit. In der pädagogischen Praxis bietet sich der kollegiale Erfahrungsaustausch (das Kollegengespräch) als „Instrument“ an, um über pädagogisches Können (Erfolge) zu reden und anderen „gute“ Erfahrungen (didaktische Techniken) zugänglich zu machen. Aber dabei kann es nicht um Nachmachen oder Übertragung gehen, die unter anderem an der Person des Pädagogen (der Personenabhängigkeit) scheitern müssen: sie ist die entscheidende „Größe“ (bzw. das „diffuse Mittel“) für gelingendes Lernen und Wirkungen. Der Pädagoge bestimmt und steuert die Kommunikation bzw. den Kommunikationsprozess, aber was die Kinder und Jugendlichen daraus schlussfolgern, mitnehmen und lernen bleibt – allen bewährten Lehrtechniken, guten Absichten und klugen Kausalplänen zum Trotz – letztlich ihnen überlassen. Die Pädagogen können im strengen Sinne nicht wissen, was sie tun und wie sie wirken (wenn man vom Teilaspekt des Abfragens mal absieht). Das gilt insbesondere für die Schule: Hier gehört die Frage, ob das, was die Schüler lernen etwas mit dem Unterrichtsgeschehen zu tun hat, zu den spannenden Fragen der Bildungsforschung.
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Anerkennung und Demokratie-Lernen bei John Dewey. Wie kann man Anerkennung lernen?
1. Anerkennung und Demokratie In der jüngeren sozialphilosophischen Diskussion hat das Thema der gegenseitigen Anerkennung der Menschen eine überragende Bedeutung gewonnen. Der Aufschwung dieses Begriffs, d.h. des von ihm transportierten Sinns, kommt nicht von ungefähr. Seit der Zeitenwende von 1989 steht die moderne Sozialphilosophie verstärkt vor der drängenden Frage, was die demokratisch-freiheitliche Gesellschaft ohne den verloren gegangenen „Kitt“ einer feindlichen äußeren Systemalternative in Gestalt des Sozialismus/Kommunismus innerlich zusammenhält. Außerdem ist der zweite Kitt unserer Gesellschaft, das bisher gewohnte Maß an Wirtschaftswachstum und sozialer Sicherheit im Angesicht der Globalisierung nicht mehr gewiss. Die Verunsicherung, die in diesen Entwicklungen steckt, greift noch weiter. Sie schließt das Faktum ein, dass wir nach 1989 offenbar nicht nur vor dem „Ende des Zeitalters der Ideologien“ stehen, sondern dass wir ganz allgemein in postmetaphysischen und postchristlichen Zeiten leben, da die Verpflichtungsfähigkeit der bisher geltenden metaphysischen Normsysteme angesichts der weiter um sich greifenden Individualisierung des gesellschaftlichen Lebens zunehmend in Frage zu stehen scheint (vgl. z.B. Horster 1999). Die neue Selbstbefragung der inneren Legitimationsgrundlagen der bestehenden Demokratie zielt im Kern auf die Frage, ob eine allein auf der alten Argumentationsbasis des klassischen Individualismus gegründete liberale Gesellschaft auch ausreichende sozial-moralische Ressourcen des Zusammenhalts bereithält, um die soziale Integration fortdauernd zu erhalten, den gemeinsamen Anliegen einer freiheitlichen Lebensform genügend Rückhalt zu verschaffen und so die Weiterexistenz des demokratischen Gesellschaftsmodells zu gewährleisten. Es geht um das Problem, wie sich eine freiheitliche Gesellschaft gegen andere Lebensformen, auch gegen terroristisch bedrohlich erscheinende Fundamentalismen in der Welt, „aus sich selbst heraus“ legitimieren kann. Es handelt sich also um eine kritisch-normative Debatte über das Selbstverständnis unserer Gesellschaft und über die moralischen Grundlagen unserer Lebensweise. Diese Debatte hat viele Facetten. Sie umfasst so faszinierende neue Themen wie Kommunitarismus, Zivil- und Bürgergesellschaft, Gemeinsinn, Verantwortung, Vertrauen etc. Das Thema der wechselseitigen Anerkennung und der Aufschwung
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der Aufgabenstellung des Demokratie-Lernens an und in Schulen fügen sich in diesen neuen Diskurs ein. Der Begriff der Anerkennung wird in aller Regel als Einstellung und Handlungsidee interpretiert. Er wird in eine sehr direkte Beziehung zu den demokratischen Verhaltensweisen der Menschen, zur demokratisch verfassten Gesellschaft und zur politischen Verfassung der Demokratie gesetzt. Der Begriff umschließt ein Feld von sozialintegrativen Einstellungen und Verhaltensweisen der Menschen, die das wechselseitige Verhältnis der Menschen in einer Demokratie – jenseits von Individualismus, Selbstliebe, Egoismus, Einsamkeit und Vereinzelung – auf eine interaktiv-normative Grundlage stellt. Der Begriff der Anerkennung bedeutete in seinem recht weiten Sinngehalt so viel wie: Wertschätzung, Achtung, Respekt, Toleranz, Fairness, Würdigung, Bestätigung, Ehrung, Zuwendung, Vertrauen und Dankbarkeit sowie auch Rücksicht, Mitgefühl, Sympathie und Solidarität gegenüber den anderen. Gegenseitige Anerkennung hat eine personale und eine soziale Seite und eine physische und psychische Komponente. Sie berührt zugleich emotionale und kognitive Aspekte des Sozialverhaltens der Menschen. Der Begriff der Anerkennung richtet sich einerseits gegen einen rücksichtslosen Autismus und einen intoleranten Egoismus. Er schließt andererseits Konflikte und Antagonismen unter den Menschen nicht aus. Im Gegenteil. Er stellt sie in Rechnung und sucht sie sozialverträglich auszubalancieren. Der Begriff hat also nur wenig mit einer allgemeinen Harmonie, mit unbefragter Gefolgschaft, Ideologie oder mit gefühlsbetonter Hingabe des Einzelnen an die anderen, an die „Gemeinschaft“, zu tun. Vielmehr stellt er auf die individuell erträgliche und zugleich sozial verträgliche Regelung der Beziehungen zwischen Menschen ab, auch wenn sie in Ideen, Meinungen und Verhaltensweisen nicht übereinstimmen. Der Begriff „regelt“ die Beziehung der Menschen als Bürger im Spannungsfeld von Nähe und Distanz, von Gemeinsamkeit und Zwietracht und von Gefühl und Vernunft. In einer gelebten Struktur der wechselseitigen Anerkennung stellt sich im konkreten Zusammenleben der Menschen, in der Gesellschaft und in der Politik eine Art sozialmoralische Synthese, eine „soziale Physik“ (E. Durkheim) her, die allen Spielarten von Menschenverachtung, Missachtung, Misstrauen, Entwürdigung, Erniedrigung, Stigmatisierung, Intoleranz, Ehrabschneidung, Ausschließung, Entrechtung und Misshandlung einschließlich physischer und psychischer Verletzung und Gewaltsamkeit bis hin zu Übervorteilung oder Ausbeutung entgegensteht bzw. diese in Richtung eines friedlichen und gerechten Zusammenlebens überwinden helfen soll. Der Begriff der Anerkennung ist damit normativ, zukunftsweisend und kritisch zugleich gegenüber den bislang noch unerfüllten Versprechen der Aufklärung als ein zukünftiges Leben in Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit bei uns selbst und in der Welt. Je universaler eine faire gegenseitige
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Anerkennung über die unterschiedlichen Begabungen und Anlagen der Menschen sowie über ihre sozialisationsbedingten, geschlechtsspezifischen, ethnischrassischen, nationalen und religiösen Differenzen oder über die verschiedenen physischen oder psychischen Ausstattungen der Menschen hinweg entwickelt werden kann, desto größere Chancen hat das Modell der Demokratie, wenn man Demokratie als ein Projekt und als eine Idee des individuell erträglichen und insgesamt gemeinschaftsförderlichen Zusammenlebens der Menschen sowie der sozialkooperativen Bewältigung von praktischen Problemen ansieht. Im Kern fußt die gegenseitige Anerkennung auf einer individuell-interaktiven Moral, die im Sozialverhalten der Menschen, die der jeweiligen Gesellschaft angehören, verankert ist und die im Prozess der sozialen Evolution, bei allen Risiken, Gefahren und Rückschlägen, stets neu erlernt, bekräftigt, bestätigt und erweitert werden muss. Die Herstellung gegenseitiger Anerkennungsverhältnisse hat also eminente Bedeutung für die soziale Infrastruktur und für die soziale Integrationskraft einer Gesellschaft. Eine Gesellschaft wird, so die These, durch gegenseitige Anerkennung, Toleranz und Respekt erst zu einer demokratischen Gesellschaft. Gegenseitige Anerkennung bedeutet, dass der Einzelne die grundlegenden Menschen- und Bürgerrechte nicht nur für sich reklamiert, sondern im täglichen Umgang auch für andere gelten lässt. Die Struktur eines flächendeckenden Systems gegenseitiger Anerkennung ist insofern der Keim eines allgemeinen „Systems der Sittlichkeit“ in der Demokratie. Dabei erfasst der Begriff der gegenseitigen Anerkennung nicht nur die Ebene der zwischenmenschlichen Beziehungen (Familie, Geschlechter, Generationen etc.), sondern auch die Ebenen der Beziehungen zwischen Gruppen und Verbänden, zwischen Institutionen und Organisationen, zwischen Regionen und Ethnien, zwischen Religionen, Völkern und Nationen. Deutet man den Begriff nicht zu eng, so liegt in ihm die individual-, sozial- und politik-moralische (interaktive) Voraussetzung der Möglichkeit von Demokratie als Lebens-, Gesellschafts- und Herrschaftsform in lokaler und universaler Perspektive.
2. Theoretische Verortungen Axel Honneth, ein Autor, der dem Begriff der Anerkennung im deutschen sozialphilosophischen Diskurs zu Beginn der 90er Jahre zu Prominenz verholfen hat, sieht im Streben der Menschen nach „Selbstbehauptung“ im Anschluss an Thomas Hobbes eine anthropologische Grundkonstante der menschlichen Daseinsform. Er sieht den Menschen zugleich in einem permanenten „Kampf“ um Selbstbehauptung im gemeinschaftlich-gesellschaftlichen Zusammenleben verstrickt, da die gegenseitige Anerkennung unter den Menschen, soweit sie in größeren sozialen Zusammenhängen leben, nicht naturgegeben ist und nicht einfach „geschenkt“ wird, sondern stets neu „erkämpft“ werden muss. Der Mensch
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strebt also, sofern er in Gemeinschaften lebt, nach Selbstbehauptung, Selbsterhalt und Selbstentwicklung „immer schon“ in sozialen Kontexten. Der Wille zur Selbstbehauptung ist den Individuen, als Lebewesen, „von Natur aus“ eigen. Die Art der wechselseitigen Anerkennung, die sich in verschiedenen sozialen Kontexten herausbildet, schlägt sich in deren Gewohnheiten, Umgangsformen und Sitten nieder. Sie ist Teil der jeweiligen Kultur und manifestiert sich in sanktionsbewehrten Moralregeln. In entwickelten Gesellschaften, die in Richtung Demokratie und Rechtsstaat fortgeschritten sind, manifestiert sich die gegenseitige Anerkennung vor allem in formalen Rechtsregeln, deren Genese und Veränderungen wiederum als Teilergebnisse des wechselseitigen Kampfes um Anerkennung zu betrachten sind. Solche Rechtsregeln stellen allerdings nach Georg Jellineck nur das „Minimum an Moral“ in einer Gesellschaft dar. Sie bedürfen weiterer Ergänzung, Festigung und Fortführung in den nicht juristisch erfassten oder erfassbaren Einstellungen und Verhaltensweisen der Menschen. Axel Honneth erkennt im gegenseitigen „Kampf um Anerkennung“ ganz allgemein die „moralische Grammatik“, den moralischen Ursprung von sozialen Konflikten in größeren gesellschaftlichen Organisationen. Noch deutlicher formuliert: Er betrachtet den Kampf um Anerkennung gleichsam als den „emotionalen Rohstoff“ gesellschaftlicher Konflikte. In der Praxis dient er der stets erneuerungsbedürftigen, sozial auch konfliktreichen Herstellung von Freiheit, Gleichheit und Autonomie in gemeinschaftlichen Kontexten (Honneth 1992, 270). Der Wille zum Leben ist den Menschen instinktiv mitgegeben, ebenso die emotionale Disposition zur Befriedigung der eigenen Bedürfnisse und Interessen („life, liberty and pursuit of happyness“). Dies führt zum moralischen „Anspruch auf Anerkennung“ eines jeden Einzelnen, einer jeden Gruppe. Im Kampf um Anerkennung stellt sich politisch in der Gesellschaft eine jeweils spezifisch-historische, kulturelle „Anrechts- und Anspruchsbalance“ unter den Menschen und Gruppen her. Es ist eine Balance, die stets neu austariert wird und evolutionär keinen letzten Ruhepol hat. Demokratie ist in dieser Sichtweise eine Staatsform, die den eigenen Dispositionen, Handlungsantrieben und Anerkennungsbestrebungen der Menschen gebührenden Raum geben soll. Die politische Demokratie ist die äußere Form, in der sich ein Abgleich des je subjektiven Willens und der je subjektiven Dispositionen mit den Willen und Dispositionen der anderen in einem sozialverträglichen „Kampf um gegenseitige Anerkennung“ mit dem Ziel eines je fairen Ausgleichs vollziehen soll. Honneth stützt sich in seiner theoriegeschichtlichen Herleitung dieses anthropologisch-sozial verankerten „Kampfes um Anerkennung“ auf Thomas Hobbes, auf frühe Aussagen von Georg Wilhelm Friedrich Hegel in seiner Jenaer Philosophie aus dem Jahre 1803/1804 und auf den Sozialpragmatismus (Interaktionismus) von George Herbert Mead aus dem Jahre 1927. Honneth zieht also Autoren
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heran, die in ihrer theoretischen Anlage prima vista eigentlich nicht gegensätzlicher sein könnten. Gelegentlich zieht er auch andere Philosophen des Pragmatismus wie John Dewey heran. Honneth gründet auf den „Kampf um Anerkennung“ schließlich eine naturalistisch-soziale, eine kritische und zugleich eine „normativ gehaltvolle“ und eine historisch perspektivreiche Gesellschaftstheorie (Honneth 1992, 110). In dieser Sicht erscheinen die klassischen liberalen Grund- und Menschenrechte als ein vorläufiges Ergebnis des Kampfes um gegenseitige Anerkennung, ein Kampf, der nicht abgeschlossen ist, sondern auch zukünftig, schon gar im Weltmaßstab, die soziale Dynamik und die soziale Evolution bestimmen wird. Anders interpretiert Karl Otto Apel das Thema der gegenseitigen Anerkennung. Er hatte das Thema der Anerkennung bereits zu Beginn der 80er Jahre thematisiert. Apel sieht in der wechselseitigen Anerkennung die normative und generalisierte Vorbedingung („Apriori“) der gesellschaftlichen Kommunikation (Apel 19935, 385 f.). Obgleich auch Apel dem Pragmatismus recht nahe steht, glaubt er, anders als Honneth, jedoch nicht, dass das Prinzip der wechselseitigen Anerkennung allein mit den naturalistischen Argumenten des sozialen Interaktionismus und aus der sozialen Evolution heraus zu begründen ist, sondern letztlich normativ-transzendental (vor allem im Rückgriff auf Kant) theoretisch eingeführt und im Bewusstsein der Menschen verankert werden müsse. Er benennt seine Version daher „Transzendental-Pragmatismus“. Jürgen Habermas wiederum erörtert die intakte Struktur der Verhältnisse gegenseitiger Anerkennung als die demokratische Realisierung der vernunftrechtlichen Idee eines Zusammenschlusses der Bürger als freie und gleiche Rechtssubjekte (Habermas 1999, 237 f.). Nur auf der Grundlage der wechselseitigen Anerkennung, so interpretieren wir ihn an dieser Stelle, lasse sich ein vernunftgeleiteter Diskurs entwickeln, der wiederum vernünftige Regeln der Moral, der Einstellungen und Verhaltensweisen setzen könnte. Für Habermas ist das Prinzip der Anerkennung also ein wichtiges Moment seiner Theorie des dialogisch-kommunikativen Handelns. Die wechselseitige Anerkennung ist bei ihm jedoch eine „idealisierte“ Vorbedingung seiner Theorie der Moral-Diskurse, d.h. sie ist die angenommene Voraussetzung, dass vernunftorientierte Diskurse überhaupt stattfinden können. Auch Habermas bleibt damit also – wie Apel – dem von außerhalb des menschlichen Zusammenlebens eingeführten Apriori der Vernunftidee verhaftet („Universal-Pragmatismus“). Das ist freilich ein Gedankenzusammenhang, den Axel Honneth in dieser Form nicht teilt, da er den Kampf um Anerkennung nicht idealistisch interpretiert, sondern im gegenseitigen Streben der Menschen naturalistisch-anthropologisch, gleichsam sozialbehavioristisch verankert. Er nimmt nicht auf eine transzendentale oder theoretische Vorannahme Bezug, sondern leitet den Kampf um Anerkennung aus der Konstitution der menschlichen Natur und aus der Evolution der
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menschlichen Interaktionen selbst her, ordnet ihn in den Prozess der historischen sozialen Kämpfe ein und hält ihn damit für den weiteren Prozess der Aufklärung als einen noch unvollendeten Prozess der sozialen Evolution offen. Wir haben es bei den genannten Autoren also mit drei unterschiedlichen Herleitungen und Begründungen des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung zu tun: 1. die Herleitung aus dem interaktionistisch angelegten Sozialpragmatismus (G. H. Mead), 2. aus der Transzendental-Philosophie und Ethik (K.O. Apel) und 3. aus der dialog- und kommunikationstheoretisch gewendeten Vernunftphilosophie (J. Habermas). Oberflächlich betrachtet mag es für Lehrkräfte im Sinne des „DemokratieLernens“ unbedeutsam erscheinen, auf welche Herleitung und Begründung sich das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung stützt. Das Wissen darum, dass die wechselseitige Anerkennung eine höchst bedeutsame demokratische Handlungsidee und Verhaltenseinstellung ist, könnte im Grundsatz genügen, um daraus für die tägliche Praxis einer Lehrkraft unterrichtliche Folgerungen im Sinne des Demokratie-Lernens abzuleiten (Unterrichtsstil, Unterrichtsmethode, Unterrichtsthemen, Klassen- und Schulklima, vgl. Henkenborg 1997). Gleichwohl erscheint es bedeutsam, auch die hintergründigen Ableitungen in Betracht zu ziehen. Wird Anerkennung als normatives Prinzip aus (außerirdisch-abstrakten) Ethik-, Norm- oder Tugenddiskursen abgeleitet (Apel), so könnte dies zum „Absolutismus“ (Rorty) einer abstrakten Ermahnungs- und Belehrungskultur im Unterricht führen, wobei das Erlernen des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung den Schülern äußerlich bleibt („non vitae sed scholae discimus“). Wird das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung als idealisierte (praktisch „fiktive“, nie real vorhandene) Vorbedingung der Unterrichtsdiskurse betrachtet (Habermas), so wird es die Lehrkraft angesichts der immer unzulänglichen Unterrichtssituation ebenfalls schwer haben, praktisch-lebensnahe Zugänge zum Lernen dieses Prinzips zu finden und evtl. auf idealisierte Bedingungskonstellationen warten müssen. Allzu leicht schließen die beiden eben genannten Zugänge die konkrete „Erfahrung“ als praktische Grundlage allen nachhaltigen Lernens aus. Über den sozialen Interaktionismus (Mead) hinaus, auf den sich auch Honneth stützt, hat vor allem John Dewey das Leben und Lernen in sozialen Kontexten in direkte Beziehung zur Demokratie gesetzt und den Begriff „Erfahrung“ zum Ankerpunkt der Möglichkeit einer nachhaltigen Erziehung zur Demokratie gemacht. Wer in seinem engeren und weiteren Umfeld nicht die konkrete Erfahrung von wechselseitiger Anerkennung macht, so könnte man mit Dewey formulieren, für den wird das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung eher äußerlich bleiben und nicht in seine innerste Verhaltensdisposition aufgenommen.
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3. John Dewey – „Self-Realization“ Einer der wichtigsten Denkansätze von John Dewey liegt, wie bei anderen Interpreten der neueren Sozialphilosophie, in der Auseinandersetzung mit dem Problem des Liberalismus: dem Streben nach Selbstbehauptung des Individuums. Ein konsequent zu Ende gedachter Individualismus, der nicht an soziale Regeln gebunden ist, muss für Dewey, wie auch für Thomas Hobbes, zur Anarchie oder zum Kampf aller gegen alle führen. Im Kontext des Sozialpragmatismus kommt Dewey zu einer Neufassung des älteren liberalen Individualismus-Konzepts, eine Neufassung, die typisch für den interaktionistischen Ansatz des Denkens ist. John Dewey bedient sich dabei an prominenter Stelle einer psychologisch-soziologischen Argumentationslinie. Er entwickelt das ältere Individualismus-Konzept, ähnlich wie H. G. Mead, insofern fort, als er das „Ich“ eines Individuums (als Subjekt) in Beziehung zu dem „Mir“ setzt, zur Einwirkung der Umwelt auf das Individuum (als Objekt). Dies ist das Grundprinzip der Wechselwirkung. Aus beiden, dem „Ich“ und dem „Mir“, folgert er den sozialpragmatisch interpretierten Ansatz des „Selbst“.1 Das Individuum („Ich“) steht, sofern es in sozialen Zusammenhängen lebt, nie allein, sondern wird in seiner „Eigenheit“ von Kindheit an wesentlich durch die ständige Auseinandersetzung mit der jeweils gegebenen Umwelt, also mit dem, was dem Individuum („Mir“) als Objekt von außen angetragen wird, was andere (von „Mir“) erwarten und dem sich das Ich nicht entziehen kann, dem es sich in gewisser Weise anpassen muss, geprägt, um langfristig sein eigenes Leben in der gegebenen Umwelt auf möglichst erträgliche Weise gestalten zu können. Ein gewisser dialektischer Zug ist diesem Denken nicht abzusprechen. Das Ich trägt mit Initiative, Fantasie und Kreativität, evtl. auch durch Konfliktprovokation und Störung Eigenes an die anderen heran, nimmt dagegen aber auch Anderes in sich auf und verändert damit sowohl das Eigene als auch das Umfeld. Das zentrale Daseins-Moment des Individuums ist hier der Austausch, die Wechselseitigkeit, die Wechselwirkung und die soziale Kooperation. Entgegen dem Ansatz von Honneth handelt es sich nicht nur um einen „Kampf“. Der Austauschprozess ist nach Dewey ein Vorgang des ständigen Experimentierens, der stets neuen Ausbalancierung und der stetig prüfenden Kommunikation und Kooperation. Wechselwirkung heißt für das „Ich“ auch Erleiden und Ertragen des Widerstandes der anderen. Sie enthält vor allem auch Niederlagen und Misserfolge. Durch den täglichen Umgang, durch Probieren und Experimentieren, findet das „Selbst“ aber schließlich in eigener Erfahrungsevolution heraus, was sein „Ich“ als Einwirkung auf die Umwelt für sich als Erfolg bewirken kann und was seinem „Mir“ als Reaktion, als Einwirkungen der anderen als Widerstand oder Misserfolg zugemutet wird. Entscheidend ist dabei nicht nur das „Ich“, sondern ebenso das „Mir“, aus
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dem sich schließlich ein Neues, das „Selbst“, entwickelt. Das „Selbst“ hat demnach eine anthropologisch-natürliche „Ich“-Komponente (Aktion) und eine sozialumweltspezifische „Mir“-Komponente (Reaktion). Im Austausch mit den anderen, auch mit der Natur oder Technik, macht das Individuum beständig experimentelle „Erfahrungen“ von Erfolg und Misserfolg. Hier erfährt das Individuum die Folgen des eigenen Handelns, der eigenen Aktionen. Die Reife eines „Selbst“, die Reife einer voll entwickelten „Persönlichkeit“, hängt nach Dewey von der Reichhaltigkeit des Erfahrungsbestandes und von der Mannigfaltigkeit der sozialen Bezüge ab, in denen das Individuum steht und in denen es sich bewähren muss. Je enger das soziale Umfeld, desto weniger reichhaltig können die Erfahrungen sein, desto geringer sind die Chancen der Persönlichkeitsentwicklung. Der Prozess des fortdauernden Sammelns von Erfahrungen ist für Dewey ein ständiger „Lernprozess“. Lernen heißt dabei, dass äußere Probleme, Situationen, Erwartungen oder Reaktionen auf das eigene Handeln bzw. die (erwarteten oder unerwarteten) Folgen des eigenen Handelns in das Individuum zurückkehren und dort Bestätigungen oder Veränderungen der eigenen Ambitionen, Einstellungen, Verhaltens- und Handlungsstrategien auslösen. Bei Bestätigungen wird das Verhalten zur Routine, zur Gewohnheit, zur Sitte oder zum Ritual. Veränderungen treten bei Misserfolgen, Missbilligungen, negativen Erfahrungen ein (Dewey 1951). Dann gilt: „Erfahrungen, die wir machen, sprechen gegen die Erfahrungen, die wir haben“ (vgl. auch Hampe/Lotter 2000). „Erfahrungen“, die das Individuum macht, sind Denkanstöße zu Schlussfolgerungen aus Fehlern, die das Individuum hinsichtlich der Befriedigung der eigenen Bedürfnisse und Interessen in der ihm jeweils vorgegebenen Umwelt macht. Intelligenz bezeichnet dabei den Grad, solche Denkanstöße innerlich produktiv zu verarbeiten. In der beständigen, lebenslangen Sammlung von Erfahrungen findet für Dewey ein stetiger Prozess der „Selbsterneuerung“, ein Prozess der stetigen „Neuschöpfung“ des Individuums als ein spezifisches „Selbst“ statt. Bei dieser „Selbstschöpfung“ und Selbsterneuerung behält das Individuum große Züge an Eigenheit, Charakter und Persönlichkeit, bleibt aber in aller Regel nie statisch. Es lernt durch Anstöße von außen stetig dazu. Anders als der „früh-liberale“ und der üblicherweise auch heute noch so interpretierte Ich-Individualismus stellt der Sozialpragmatismus auf die sich interaktionistisch herstellende Ausprägung des „Selbst“ ab. Wenn man im deutschen Sprachgebrauch von Selbstbehauptung, Selbstbewusstsein, Selbststeuerung, Selbstentwicklung, Selbstkontrolle, Selbstdisziplin etc. spricht, dann sollte man die interaktionistische Deutung des „Selbst“ beachten. Gemeint ist jeweils nicht die (egoistisch-vereinzelte) Ich-Behauptung, das Ich-Bewusstsein, die IchSteuerung, die Ich-Entwicklung, sondern die Resultante aus dem Zusammenspiel
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von „Ich“ und „Mir“ als das soziale „Selbst“, als die soziale Identität des Menschen. Das Individuum steht damit in einem ständigen Prozess der Entfaltung seiner eigenen Anlagen, Begabungen, Fähigkeiten und Fertigkeiten gegenüber seiner Umwelt, der Einflussnahme auf sein Umfeld zur Befriedigung der eigenen Bedürfnisse und Ziele und gleichzeitig in einem beständigen Prozess der Adaption von Vorgaben, Schwierigkeiten, Problemen, Bedingungen und Setzungen von außen, also der Einflussnahme des Umfeldes auf sein Ich. Da das Umfeld, die Umwelt, auch die Technik etc. sich beständig wandeln, ist in der kooperativen Balance zwischen dem Individuum und seinem Umfeld nie Statik, Stagnation, Ruhe, Stille, Gewissheit oder Sicherheit zu erwarten. Solches kann letztlich nur Friedhofsruhe bedeuten. Der sozial-interaktionische dynamische Begriff des „Selbst“ als Prozess des Werdens, des Lebens, der ständigen Neujustierung, des Agierens und Reagierens muss als der entscheidende Punkt des Sozialpragmatismus gelten. John Dewey bezeichnet die „Self-Realization“, die „volle“ Verwirklichung des je spezifischen „Selbst“, als das entscheidende moralische Ideal einer demokratischen Gesellschaft (Dewey 1971). Die „Realization“ eines Individuums als Selbst in größeren Gemeinschaften (Umfeld) ist gebunden an: „the needed realization of some comunity of persons of which the individual is a member“ (Dewey 1969, 322). Gleichzeitig und konsequenterweise heißt dies im Umkehrschluss: „the agent who duly satisfies the comunity in which he shares, by that same conduct satisfies himself“ (ebenda). Hier liegt der Kern des sozial-moralisch verankerten Ethik-Konzepts von John Dewey (Dewey 1978). Eine optimale Selbst-Realisierung der Individuen in einer Gesellschaft fällt also im Idealfall, bei allen Schwierigkeiten, Hindernissen und Brüchen, mit einer optimalen Selbstrealisierung der Gemeinschaft, dessen Mitglieder die Individuen sind, zusammen. Dazwischen liegen im weiten „Kosmos von Liebe und Hass“ (Georg Simmel), Zwist, Streit, Konflikt, Kampf, auch Neid, Missgunst, überhöhtes Anspruchsdenken und so vieles anderes. Doch auch im Streit, im Konflikt und im Kampf bleiben die Menschen an die (sich dann freilich eher antagonistisch zeigende) Wechselwirkung mit anderen gebunden, aus denen sie wiederum eigenständige Erfahrungen ziehen. Bei John Dewey kommt an dieser Stelle auch der Begriff der „Anerkennung“ ins Spiel, obwohl dieser Begriff bei ihm keine überragende Rolle spielt. Bei ihm stehen die Begriffe der „Wechselseitigkeit“ und der „Erfahrung“ im Zentrum. Erfahrung ist ein kognitiv-emotionaler Vorgang, aus dessen Vielfalt sich erst die Relativierung des eigenen Ichs gegenüber den Erwartungen der anderen, also auch die gegenseitige Anerkennung als Selbstmodifikation und Neujustierung der jeweiligen Ichs erwachsen kann. Nach Dewey will der Mensch als ein „Selbst“ immer auch ein „anerkanntes Mitglied seiner Gruppe sein“ (Dewey 1993, 31). Der Einzelne hat von sich aus ein Interesse an Kontakt, Kooperation und Zugehörig-
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keit zu der Gruppe, der er angehört. Er hat darüber hinaus ein Interesse der „Teilhabe am Leben dieser Gruppe“, denn „Gunst und Anerkennung“ kann er nur in und mit der Gruppe, in der er lebt, „erfahren“. Seine eigenen Bedürfnisse und Ziele kann er nur in und mit der Gruppe, nur mit und in seiner Umwelt verwirklichen. Nur wenn er den Erwartungen, Forderungen, Billigungen und Missbilligungen seiner Gruppe in angemessener Weise entgegenkommt, kann er den schärferen Spielarten der Ablehnung, Ausschließung, Isolierung und Stigmatisierung entkommen. „Anerkennung“ ist in dieser Sicht nicht nur eine Angelegenheit der anderen gegenüber dem Einzelnen, sondern tatsächlich ein kooperatives Wechselverhältnis, also in gleicher Weise eine Aufgabe des einzelnen Individuums, die sozial-moralischen Grundsätze der Gemeinschaft, in der er lebt, anzuerkennen und zu ihrer Entwicklung beizutragen. Artet die Missbilligung der anderen in unerträgliche Unterwerfung, in Gewaltsamkeit und Unterdrückung aus, erhebt das Individuum Widerspruch (voice), geht in den Widerstand oder ins Ausland (exit) oder schließt sich mit anderen zu einer (neuen) Gruppe, Clique, Fraktion zusammen, um gegen die erlittenen schärferen Spielarten der NichtAnerkennung innerhalb der Gesellschaft zu streiten (vgl. auch A. O. Hirschmann). Es wird dabei wiederum neue Erfahrungen sammeln.
4. Erfahrung als Erziehung Bereits aus den bisherigen Erörterungen mag deutlich geworden sein, welch‘ zentrale Stellung die Begriffe „Erfahrung“, „Entwicklung“ und „Erziehung“ bei John Dewey haben. Systematische Erziehung hält Dewey für eine „Notwendigkeit“ in einer Gesellschaft, die infolge ihrer Größe, Arbeitsteiligkeit und Komplexität nicht mehr in unmittelbarer Lebensnähe jene Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten auf die jüngeren Mitglieder der Gemeinschaft übertragen kann, die für das spätere Gelingen des eigenen Lebens der Jungen und für deren adäquaten Beitrag zur gedeihlichen Entwicklung der Gemeinschaft, in der sie später leben werden, erforderlich sind. Dies gilt auch für die geistigen Orientierungen, die die Gemeinschaft prägen. Wenn der Prozess des Lebens, wie oben angedeutet, in der Sicht von Dewey auf ständigem Austausch, auf Wechselseitigkeit und auf Wechselwirkung beruht, in denen die Individuen stets neue Erfahrungen sammeln, so liegt es nahe, den Prozess des Sammelns von unterschiedlichsten Erfahrungen selbst als (ungewollte oder gewollte) Erziehung zu deuten. Dann ist das Wachstum an Reichhaltigkeit der Erfahrung im sozialen Austausch mit den vielfältigsten Menschen und im sächlichen Austausch mit möglichst zahlreichen natürlichen Kräften und Materialien als das Ziel der Erziehung selbst zu betrachten. Eine „gewollte Erziehung“ ist dann jene offizielle, planvolle Erziehung durch Schule und Lehrkräfte, denen
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aufgetragen ist, durch bewusste Unterrichtsgestaltung, entsprechende Themenpräsentation und angemessene Prägung des Unterrichts- und Schulklimas „den Einfluss wertloser und wertwidriger Züge der existierenden Umwelt auf die geistigen Gewohnheiten nach Möglichkeit auszuschalten bzw. ihnen entgegenzuwirken“ (Dewey 1993, 39). Wenn Erfahrung bei Dewey insgesamt gleich Erziehung gesetzt wird und das Ziel der Erziehung im Wachstum der wechselseitig gewonnenen Erfahrung im Umgang mit vielfältigen Problemen, Situationen und Menschen sowie mit Materialien und Gegebenheiten – etwa auch der Geographie, der Geschichte oder der Ästhetik – liegt, dann folgt: „1. dass der Vorgang der Erziehung kein Ziel außerhalb seiner selbst hat; er ist sein eigenes Ziel; 2. dass der Erziehungsvorgang beständige Neugestaltung, dauernder Neuaufbau, unaufhörliche Reorganisation bedeutet“ (Dewey 1993, 75). Erziehung dient nach Dewey der Sammlung möglichst vielfältiger neuer Erfahrungen. Hier hat die Denkerfahrung ebenso ihren Platz wie die Handlungserfahrung, wobei John Dewey die Denkerfahrung allerdings vorrangig als Resultante der Handlungserfahrung, als denkende Verarbeitung, als kognitiv-emotionale Evaluation von praktischen Handlungserfahrungen interpretiert. Im Kern bedeutet Erziehung: die Umformung der vorhandenen Erfahrung, das Wachstum an neuer Erfahrung, die Ermöglichung weiterer Erfahrung, also die stets größere Reichhaltigkeit an Erfahrung in den sozialen Wechselbeziehungen und in den Wechselwirkungen von Tätigkeiten und Bedeutungen, auch der Lenkung und Beherrschung von Vorgängen und Prozessen.
5. Demokratie-Lernen bei John Dewey John Dewey bezieht sich in seinem interaktionistischen Modell des Verhaltens und Handelns nicht auf abstrakte Vorgänge oder auf metaphysische Denk- oder Moralprinzipien. Moral existiert für ihn nicht abstrakt oder statisch, sondern wird einerseits durch Erziehung und Erfahrung übertragen, andererseits durch beständiges Probieren und Austesten neuer Möglichkeiten, also durch Experimentieren an den jeweiligen Grenzen der Möglichkeiten gemäß der Initiative, der Fantasie und Kreativität der Einzelnen fortentwickelt. Moral ist bei ihm historisch und im Prozess der Evolution, also gesellschaftlich-experimentell, verankert und fußt auf Erfahrung. Prüfstein der Verarbeitung der Erfahrung ist das Streben nach „Selbstrealisation“. Da Dewey sich stets auf das Faktum des Austausches, der Wechselseitigkeit und der Wechselwirkung im praktischen Handeln zur Lösung konkreter Probleme bezieht, geht er auch in seiner Demokratievorstellung auf diese Prinzipien zurück. Der Ausgangspunkt liegt darin, dass der Einzelne in einer entwickelten Gesellschaft sehr vielfältige Kontakte pflegt, vielfältige Beziehungen eingeht und einer
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„Vielheit von verschiedenen Gruppen“ angehört (Dewey 1993, 113 f.). Solche Gruppenbildungen vollziehen sich in einer demokratischen Gesellschaft „in endloser Mannigfaltigkeit“. Jede dieser Kontakte, Beziehungen und Gruppen vermittelt dem Einzelnen mannigfaltige Erfahrungen. Sie prägen seine Wertmaßstäbe und Handlungsmaxime mit. Jede Gruppe wirkt auch auf das Individuum, das ihr angehört, zurück. Jede dieser Gruppen bildet jedoch auch ein eigenes „Selbst“ aus den Wechselbeziehungen, in denen sie steht und sich bewähren muss, heraus. Jede dieser Gruppen leistet zugleich einen eigenen Beitrag zu den sozialen Wechselwirkungen. In diesen Wechselbeziehungen entstehen gemeinsam geteilte Interessen, da auch das Gelingen der Gruppe vom Gelingen der Gesellschaft, von der sie ein Teil ist, abhängt – vice versa. Beide lernen in diesen Wechselbeziehungen durch Erfahrung, wie sie ihre Selbstrealisation voranbringen können. Die Dialektik der Wechselwirkung vom „Ich“ und „Mir“ gilt also auch für die bestehenden Gruppen in der Gesellschaft. Da die Reichhaltigkeit an Erfahrungen und an gemeinsam geteilten Interessen in der Gesellschaft wiederum von der Reichhaltigkeit der Teilnahme, der erfahrbaren Wechselwirkungen und der gemeinsam geteilten Interessen der Gruppen abhängt, leitet John Dewey die erreichte Tiefe bzw. Reife der Demokratie von den beiden obersten Normen ab: „Wie zahlreich und mannigfaltig sind die bewusst geteilten Interessen? Wie voll und frei ist das Wechselspiel mit den anderen sozialen Gruppen?“ (Dewey 1993, 115). „A society which makes provisions for participation in its goods of all its members on equal terms and which secures readjustment of its institutions through interaction of the different forms of associated life is in so far democratic.“ Eine solche Gesellschaft schafft Raum für Veränderungen, Entwicklung und Wachstum weiterer Erfahrung im evolutionären Prozess der Selbstrealisation. „Eine solche Gesellschaft braucht eine Form der Erziehung, die in den Einzelnen ein persönliches Interesse an sozialen Beziehungen und am Einfluss der Gruppe weckt und diejenigen geistigen Gewöhnungen schafft, die soziale Umgestaltungen sichern, ohne Unordnung herbeizuführen“ (Dewey 1993, 136). Auch die Demokratiequalität einer Gesellschaft wird von John Dewey also an die Reichhaltigkeit und Vielfalt der gesellschaftlichen Interaktionen und ihres kooperativ geteilten Erfahrungsbestandes geknüpft. Das, was man mit dem „Selbst“ einer Demokratie, die aus vielerlei Gruppen besteht, bezeichnen kann, erwächst aus dem freien und gleichberechtigten Austausch, aus der kooperativkonfliktorischen Wechselseitigkeit, aus den vielschichtigen Kommunikationsbeziehungen und aus der wechselseitigen Abhängigkeit unter diesen Gruppen bei der Erreichung ihrer jeweiligen Ziele, letztlich aus den gemeinsamen Erfahrungen in der Selbstrealisierung jeder Gruppe in den engeren und weiteren Gemeinschaften. In einer voll entwickelten demokratischen Gesellschaft ist im Kern niemand vollkommen „autonom“, sondern immer auch an das Zusammenspiel, an den
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Austausch mit den anderen gebunden. In diesem Austausch mit anderen, in dieser Abhängigkeit, wachsen die gemeinsamen Werte und gemeinsam geteilten Interessen. Die „Vernunft“ kann nicht außerhalb dieser sozialen Interaktionen gedacht werden. Bedingung ist die Vielfalt der Wechselwirkungen und die Reichhaltigkeit der Erfahrungen und Denkanstöße – letztlich in universaler Perspektive. Projiziert man diesen Ansatz von John Dewey auf den Ansatz der wechselseitigen Anerkennung, wie er oben anhand der Ausführungen von Axel Honneth diskutiert wurde, so zeigt sich, dass der Ansatz von John Dewey im Sinne der „Selbstrealisation“ als „Prozess der wechselseitigen Kooperation“ neben das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung bzw. neben den „Kampf um Anerkennung“ gestellt werden kann. Axel Honneths Ausführungen in der Nachfolge von G. W. F. Hegel und G. H. Mead wären also fruchtbar mit dem Ansatz von J. Dewey zu verknüpfen, wenngleich hier unterschiedliche Argumentationslinien erkennbar bleiben. Bei der Frage, wie man Anerkennung bzw. Kooperation im Sinne des „Demokratie-Lernens“ erfahrbar machen kann, greift John Dewey doch sehr viel tiefer.
6. Demokratie als „soziale Idee“: „Lebensform“, „creative democracy“ und „radical democracy“ Geht man von der psychologisch-soziologischen Betrachtungsweise bei John Dewey aus, so kann es nicht verwundern, dass er Demokratie in besonderer Weise definiert. Da er „self-realization“ als das entscheidende moralische Ideal einer Gesellschaft definiert, wird verständlich, dass er Demokratie vorrangig nicht als Herrschaftsform, sondern als eine spezifische Form des Zusammenlebens der Menschen betrachtet. „Self-Realization“ der Demokratie ist vor allem die Selbstrealisierung der Menschen, die in der Demokratie leben. Demokratie ist dann jene Form des Zusammenlebens, in der die Individuen nach allen Erfahrungen bisher noch am besten zu der ihnen eigenen „self-realization“ kommen können. Für Dewey ist Demokratie vor allem ein offener und freier Lebensstil, eine besonders beziehungsreiche Lebensart, Lebensweise, Lebenseinstellung und Lebensordnung bzw. eine besondere Lebensform („way of life“, Dewey 1991d). „Demokratie ist mehr als eine Regierungsform; sie ist in erster Linie eine Form des Zusammenlebens, der gemeinsam geteilten Erfahrungen“ (Dewey 1993, 121). Für ihn ist sie vor allem eine „soziale Idee“ der gemeinschaftlichen Kooperation sowie der sozialverträglichen Konfliktregulierung (Dewey 1996, 125). „Als Idee betrachtet ist die Demokratie nicht eine Alternative zu anderen Prinzipien des assoziierten Lebens. Sie ist die Idee des Gemeinschaftslebens selbst“ (ebd., 129). „Brüderlichkeit, Freiheit und Gleichheit sind getrennt vom Gemeinschaftsleben hoffnungslose
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Abstraktionen“ (ebd., 129). „Das klare Bewusstsein eines gemeinschaftlichen Lebens“ – unter diesen historisch erkämpften und gemeinsam geteilten Werten – „mit allem, was sich damit verbindet, konstituiert die Idee der Demokratie“ (daselbst). Erst wenn die Menschen hinreichende soziale Erfahrungen gemacht haben, was für ihre eigene „Selbst“-Verwirklichung die angemessene Lebensform ist, werden sie – in historischer Perspektive, begleitet von vielen Brüchen, Niederlagen und Rückschlägen – eine Regierungsform wählen und erkämpfen, welche die von ihnen nach allen Erfahrungen am relativ günstigsten erscheinende Lebensform sichert und unterstützt. Demokratische Verfassungen bleiben bloße Papiere, wenn deren Prinzipien nicht von den Menschen selbst gelebt, eingeübt und realisiert werden. Die Menschen werden im Prozess der sozialen Evolution dagegen jene staatlich organisierte Herrschaftsform auf Dauer ablehnen, die auf Nicht-Anerkennung ihrer Eigenheiten und ihres persönlichen Strebens, zugleich auf Unterdrückung, Erniedrigung, Gewalt, Konfiszierungen, Bespitzelungen und Willkür beruht. Genauso lehnen Schüler, die zunehmend äußere Freiheiten genießen, instinktiv einen Unterricht ab, der demokratischen Prinzipien nicht entspricht, einen Unterricht, in dem sie mehr Macht, Zurechtweisung, Abzensierung und Ablehnung erfahren, als es rechtlich und sozialmoralisch zu rechtfertigen wäre. Sie tauchen ab in einen inneren Absentismus, zuweilen auch in einen äußeren Absentismus. Die Partizipation am Unterricht entfällt dann ganz. So folgert John Dewey: „Democracy is itself an educational principle, an educational measure and policy“ (1991b, 194). Demokratie muss erfahrbar gemacht werden und als Lebensprinzip den Unterricht und das Schulleben bestimmen. Gleichberechtigte, offene, von Wechselseitigkeit getragene, Experimente wagende, dabei Niederlagen einkalkulierende und auf das Unterrichts- und das Schulklima ausstrahlende demokratische Verhaltensweisen zu entwickeln, ist gewiss ein hehres Ziel für ein konkretes, praxis- und lebensnahes Demokratie-Lernen in der Schule. Der Maßstab liegt zunächst im Ansatz der „Demokratie als Lebensform“ in der Schule selbst. Eine lebendige Demokratie als Lebensform setzt für die Schüler dann freilich zugleich konkrete Maßstäbe für die Beurteilung der Demokratie als Gesellschaftsform und für die Demokratie als Herrschaftsform. Demokratie als Idee bleibt mit all‘ ihren Vorzügen und Umsetzungsschwierigkeiten für die Schüler abstrakt, unpersönlich und erfahrungsfern, wenn sie nicht im konkreten Schülerleben, in ihrer realen Lebensform spürbar wird und wenn die Schüler nicht lernen können, was sie später als Erwachsene leben sollen. „Demokratie muss zu Hause beginnen, und ihr Zuhause ist die nachbarschaftliche Gemeinde“ (Dewey 1996, 172). Analog sollte sich die Schule im Sinne des Demokratie-Lernens entwickeln zu: „a miniature community, an embryonic society … an embryonic community, active with types of occupations that reflect the life of the larger
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society“ (Dewey 1976, 12, 19). Die „larger society“ präsentiert sich gewiss kompliziert genug. Lehrkräfte sollten z.B. nicht in den Fehler verfallen, den Schülern Demokratie unreflektiert als „Volksherrschaft“ vorzustellen. Die Schüler könnten dann in der schulischen Praktizierung dieses Prinzips auf die Idee kommen, die „Volkssouveränität“ käme ihnen als „Schülersouveränität“ zu und sie könnten sich ihre Lehrer selbst wählen. Das ist nicht einmal in Summerhill der Fall. Demokratie als Lebensform in der Schule anzustreben, meint dagegen vor allem eine dialogisch-kommunikative, sozial-verantwortliche, experimentelle und an gemeinschaftlichen Problemen orientierte Erziehung. Erziehung in diesem Sinne ist nach John Dewey, wie bereits gesagt, jener planvolle Prozess, in dem sozial wertvolle Einstellungen und Verhaltensweisen gefördert und der Einfluss wertwidriger Züge der existierenden Umwelt auf die geistigen Gewohnheiten der Schüler ausgeschaltet, zumindest zurückgedrängt werden sollen. Gelingt es in diesem Sinne, die sozialen „Initiativen“ der Schüler anzuregen, ihre gemeinschaftsbezogene „Fantasie“ für praktische Problemlösungen zu nutzen und ihrer experimentellen „Kreativität“ im Denken und Handeln sowie in Bezug auf sich selbst und auf die Belange der Gemeinschaft Raum zu geben – so schwierig das im Einzelfall auch ist und so viele Enttäuschungen für die Lehrkräfte dabei entstehen können –, desto mehr wird diese Demokratie sich auch als „creative democracy“ (Dewey 1991a) in der Schule erweisen. Hier ist hohes Vertrauen in die Initiative, Fantasie und Kreativität der Lehrkräfte selbst zu setzen. Dann ist Demokratie auch „radikal“ („Democracy is radical“, Dewey 1991c), denn sie geht an die Wurzeln der Demokratie. Dann trifft sie die konkreten Verhaltensweisen der Menschen „im Leben“. Auch die „gegenseitige Anerkennung“ lässt sich prima vista nur durch Erfahrung in der realen Lebenspraxis lernen. Demokratie ist in diesem Sinne nicht nur außerordentlich anstrengend, sondern auch enorm anspruchsvoll. Aber wie wir in der Nachfolge John Deweys von Jean Piaget und Lawrence Kohlberg wissen, ist „self-regulation“ und „self-government“ doch auch „im Kleinen“ möglich. Wenn wir diese Hoffnung nicht haben könnten, hätte die Demokratie als Idee, als Lebens-, Gesellschafts- und Herrschaftsform auch nie eine Chance (Himmelmann 2001).
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Anmerkung 1 Ich übernehme in der Interpretation der beiden Komponenten des „Selbst“ an dieser Stelle zur Verdeutlichung des Gemeinten die Formulierungen „Ich“ und „Mir“ von G. H. Mead. G. H. Mead benutzte im englischen Original die Begriffe „I“ und „Me“. Leider ist in der deutschen Übersetzung von „Geist, Identität und Gesellschaft“ das „I“ und „Me“ des Originals als „Ich“ und „ICH“ übersetzt worden, was äußerst verwirrend wirkt und den gemeinten Sinn der sozial-dialektischen Bezogenheit von „I“ und „Me“ einigermaßen unklug durcheinander bringt (vgl. Mead, George, Herbert: Geist, Identität und Gesellschaft (Erstveröffentlichung 1934) übersetzt von Ulf Prager, deutsch: Frankfurt/M. 199811, S. 116 Anm. und S. 441/442.
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Anerkennung als Prinzip der praktischen Philosophie? Anhand einer Interpretation, insbesondere der Jenaer Schriften Hegels, hat Ludwig Siep schon 1979 „Anerkennung als Prinzip der praktischen Philosophie“ herausgearbeitet. Diesem Programm sind andere gefolgt. Beispielsweise Axel Honneth mit der Schrift: „Der Kampf um Anerkennung“ (1992), und erst jüngst wieder Robert R. Williams mit seiner Arbeit über „Hegel‘s Ethics of Recognition“ (1997). All diese und ähnliche Untersuchungen gehen von einer Interpretation der Hegel’schen Philosophie aus. Aber sie verstehen „Anerkennung“ zugleich als die „fundamentale intersubjektive Struktur des sittlichen Lebens“ (Williams). „Anerkennung“ soll mithin eine Grundstruktur jeder Praxis in der gesellschaftlichen Wirklichkeit bezeichnen, die sich den Namen „sittlich“ verdienen will (vgl. Williams 1997, 26 ff.). Wenn es sich dabei tatsächlich nicht bloß um eine ethische Kernvorstellung der Hegel’schen Philosophie, sondern zugleich um eine wirkliche und wirksame Kernstruktur moralischer Einstellungen und Aktivitäten überhaupt handelt, dann müssten sich deren gedankliche Spuren weit hinter Hegel und seine Zeit zurückverfolgen lassen. Kurzfristig zurückverfolgen lässt sich der Sprachgebrauch, die Verwendung des Wortes „Anerkennung“ als Kürzel für eine komplexe Konstellation von Aussagen im Rahmen des klassischen Projekts einer philosophia practica universalis bis zu J. G. Fichte und I. Kant.1 In Fichtes „Grundlage des Naturrechts“ (1796) bildet der Begriff der „Anerkennung“ zweifellos einen Drehund Angelpunkt seiner Argumentation. Die Verankerung dieser Darstellung in der Auseinandersetzung mit Kants praktischer Philosophie liegt auf der Hand. Denn der prägende Inhalt des Kürzels „Anerkennung“ lässt sich vor allem in die „Zweckformel“ des Kategorischen Imperativs von Kant zurückverfolgen: Die Menschheit sowohl in der eigenen als auch in der Person des Gegenübers „jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel“ zu gebrauchen, bedeutet ein NichtInstrumentalisierungsgebot (Kant IV; BA 67). Die anderen sind immer zugleich als Zweck an sich selbst anzuerkennen, und nicht zum bloßen Mittel für die Sonderinteressen und Machtansprüche von Einzelpersonen und Gruppen herab-
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zuwürdigen! Durch dieses Gebot werden Praxen der Interaktion wie Gewaltanwendung, Bedrohung, Unterdrückung, Ausbeutung, Manipulation, rücksichtslose Instrumentalisierung der Fähigkeiten und Arbeitsergebnisse anderer zugunsten der eigenen Interessen sowie zu Lasten und zum Schaden der Gegenüber, Diskriminierungen, Missachtungen des freien Willens und damit der Würde der Mitmenschen strikt als unsittlich ausgeschlossen. Wenn es bei „Anerkennung“ wirklich um Prinzipien der Moral und der Moralphilosophie (Ethik) gleichermaßen geht, müssten sich die im Anerkennungsbegriff zusammengezogenen Grundsätze einer philosophia practica universalis historisch selbstverständlich noch viel weiter zurückverfolgen lassen als bis zu Kant. Auf diesem Weg zurück stößt man beispielsweise auf die „Goldene Regel“ als frühen historischen Vorschein der „Universalisierungsformel“ des Kategorischen Imperativs.2 Implikationen des Kürzels „Anerkennung“ findet man zudem in vielen überlieferten philosophischen Diskursen wieder – wenn auch in ihrer jeweiligen Zeit und ihrem gesellschaftlichen Ort gemäßen Einfärbungen. Man findet sie, um nur ein weiteres klassisches Beispiel zu nennen, in Ciceros Bestimmung der „Aufgabe der Gerechtigkeit“ (vgl. Cicero 1984, 21). Diese besteht für ihn darin, dass „keiner dem anderen schadet“, ihn also respektiere. Klassische Motive dieser Abstammung werden dann später z.B. durch Domitius Ulpianus (170-228 n.Chr.) weitergereicht. Er fasst sie in seiner Version des Nichtinstrumentalisierungsgebotes zusammen: neminem laedere! „Füge niemandem einen Schaden zu!“ Dieser und andere Grundsätze Ulpians haben die Geschichte der abendländischen Rechts- und Sozialphilosophie so nachhaltig beeinflusst, dass sie noch Kant als zentralen Bestandteil seiner „Metaphysik der Sitten“ verhandelt und umformuliert. Solche Grabungen nach historischen Wurzeln des Anerkennungsbegriffs ließen sich nach Belieben weiter vertiefen. Sie lassen sich natürlich auch in die Gegenwart hinein verlängern. Fragen und schauen könnte man beispielsweise, wie gegenwärtige Moralphilosophen der verschiedensten couleurs die Kernbedeutung ihres jeweiligen Moralbegriffes festlegen. Um nur zwei willkürlich herausgegriffene Beispiele heranzuziehen: James Rachels etwa sucht – wie so viele andere Moralphilosophen – nach einem „Minimalbegriff der Moral“ (Rachel 1986, 11). Dazu gehört für ihn einerseits, dass moralische Urteile nicht einfach gesinnungsethisch verkündet, sondern der Unterstützung durch gute Gründe zugänglich gemacht werden. Die Möglichkeit, gute Gründe für ein moralisches Gebot angeben zu können, hänge ihrerseits mit der Idee der Unparteilichkeit zusammen, die fast in jeder Theorie der Ethik auf die eine oder andere Weise auftauche (ebd., 9). Unparteilichkeit wiederum bedeute, jede Person als gleich anzuerkennen und zu behandeln; es sei denn, es sprächen gute Vernunftgründe gegen dieses Vorgehen (ebd., 10). Gleichbehandlung schließlich bestehe darin, den Interessen eines jeden Individuums, welches durch die eigenen Handlungen berührt wird, das gleiche
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Gewicht beizumessen (wenn nicht gute Gründe dagegen sprechen). „Die Minimalkonzeption kann also jetzt sehr kurz gefasst werden: Sittlichkeit besteht zumindest in der Bemühung, das eigene Handeln von der Vernunft leiten zu lassen – das heißt, das zu tun, wofür es die besten Handlungsgründe gibt, wobei gleichzeitig den Interessen eines jeden Individuums, welches durch das eigene Tun affiziert wird, das gleiche Gewicht beigemessen wird“ (ebd., 11). Natürlich krankt diese Minimalbestimmung an ihrem unklaren Interessenbegriff, am Problem, was wohl gute von schlechten Handlungsgründen unterscheide, wann genau moralische Regeln die wohl begründete Ausnahme zulassen, sowie an der nicht sehr klar beantworteten Frage, was wohl gut begründete moralische Handlungen von irgendwelchen anderen vernünftigen Aktionen unterscheide. Doch das implizite Nicht-Instrumentalisierungsgebot, vor allem in der Form der Achtung „der Interessen“ des anderen Subjekts, tritt deutlich genug hervor. Die Frage, worin die spezifisch moralische Qualität bestimmter Handlungsregeln bestehe, hat z.B. auch Bernard Gert (1983) zu beantworten versucht. Sein Versuch der rationalen Begründung moralischer Regeln mündet (zunächst) in fünf Gebote für das Verhalten gegenüber allen anderen Menschen: „1. Verursache keinen Tod. 2. Verursache keine Schmerzen. 3. Verursache keine Unfähigkeit (im Sinne der Beeinträchtigung von Fähigkeiten anderer Personen – J.R.). 4. Verursache keinen Verlust von Freiheiten oder Chancen. 5. Verursache keinen Verlust von Lust.“ Unabhängig davon, ob der Begründungsversuch für Gerts Maximen gelungen, und wann der Kanon solcher kategorischen Sollenssätze vollständig ist, dürften sich diese fünf inhaltlichen Regelbestimmungen leicht als Implikationen der Anerkennungsformel des Kategorischen Imperativs ausweisen lassen. Die Liste aktueller Beispiele (und ihrer Probleme) ließe sich um mehrere Meter verlängern. Wenn es um Grundlagen der Ethik geht, sollte man trotzdem ein einschlägiges Zusatzproblem nicht aus dem Auge verlieren: Selbst nach einer optimal gelungenen philosophischen Begründung von „Anerkennung“ als Prinzip der praktischen Philosophie (oder wenigstens: vieler Minimalkonzeptionen von „Ethik“), könnte man sich nicht aus einem uralten Streit heraushalten, der die Geschichte nicht nur der abendländischen Ethik durchzieht. Ich meine das klassische Spannungsverhältnis utilitas vel honestas. Man hätte also auch dann noch genug damit zu tun, „Anerkennung“ als Prinzip substantieller Sittlichkeit gegen die Vielfalt alternativer Versuche zu behaupten, Moral in utilitaristischen Prinzipien der klugen und strategisch geschickten Abwägung individuellen Nutzens, persönlicher Vorteile und/oder positiver Lustbilanzen etc. zu verankern. Obendrein wäre die Anerkennungsethik gegen die Empfehlung einer Reihe von Moralphilosophen der Gegenwart abzuwägen, die Ethik – nach dem Vorbild des Aristoteles – als Lehre von einem „guten Leben“ zu begründen, das sich durch
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einen Katalog materialer Tugenden beschreiben lässt.3 Alles in allem erscheint es jedoch als keineswegs aussichtslos, „Anerkennung“ als Prinzip der Moral und der Moralphilosophie (Ethik) historisch zu dokumentieren und philosophisch zu begründen. Wenn aber „Anerkennung“ tatsächlich den hohen Rang eines Prinzips der praktischen Philosophie überhaupt beanspruchen kann, dann muss es umso mehr verwundern, dass dieser Begriff von Hegel in seinen späteren Schriften aus jener zentralen Stellung im Systemaufbau gerückt wurde, welche er vor allem in der „Jenenser Philosophie des Geistes“ (von 1805/06) einnahm. Wieso bildet schon in der „Phänomenologie des Geistes“ oder in der späteren „Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften“ im Grunde nur noch die Parabel von „Herr und Knecht“ denjenigen Textteil, worin „Anerkennung“ begrifflich im Zentrum steht? Diese Frage soll hier nicht durch Vermutungen über Hegels Absichten bei der Konstruktion seines Systems, oder durch Spekulationen über die Gründe veränderter Wortwahl im Verlauf der Entwicklung seines Denkens angegangen werden. Ich halte mich vielmehr an eine These, die jüngst wieder durch Robert Williams‘ Hegelstudien unterstützt wurde: „Anerkennung“ ist ein Begriff, worin verschiedene Motive der Hegel’schen Theorie der Sittlichkeit, des Rechts, der Gesellschaft und des Staates auch dort sehr gut aufgehoben sind, wo er ihn nicht oder nicht mehr gebraucht. Damit erscheint es jedoch als sehr problematisch, die Parabel von Herr und Knecht als alleinigen Brennpunkt für das Verständnis seines Anerkennungsbegriffes zu behandeln, auch wenn sie sich verschiedenen sozialwissenschaftlichen Ansätzen geradezu als Paradigma aufgedrängt hat. Diese und einige andere Thesen möchte ich anhand einer Skizze der Hegel’schen Dialektik von Herrschaft und Knechtschaft aus der „Phänomenologie des Geistes“ umreißen.
Selbstständigkeit und Unselbstständigkeit des Willens Implizite Bezüge zum Anerkennungskonzept lassen sich an verschiedenen Stellen und auf verschiedenen Stufen der Darstellung des Hegel’schen Systems herstellen – auch dort, wo das Wort „Anerkennung“ nur am Rande oder gar nicht auftaucht. So ist es schon fest in die Ausgangsstufe und Grundlage seiner gesamten Rechtsphilosophie eingelassen. Denn der juristische Begriff des Rechts impliziert die sittliche Idee der Anerkennung! Der „Wille, welcher frei ist“, bildet nämlich den „Ausgangspunkt“ der gesamten rechtsphilosophischen Darstellung (RPh § 4). Das Recht wiederum „besteht darin, dass jeder Einzelne von dem Anderen als ein freies Wesen respektiert und behandelt werde“ (WW 4; §3, 232). Die wechselseitige Achtung (Anerkennung) und aktive Unterstützung des freien Willens der einzelnen Menschen erweist sich somit als die Kernvorstellung des Rechtsbegriffes! „Insofern jeder als ein freies Wesen anerkannt (!) wird, ist er Person“ (WW 4; § 4, 233).
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Das Wort „der Wille“ – im Singular gebraucht – lässt diesen selbst wie eine einzelne Person oder ein Subjekt erscheinen. „Das Leben ist nur als einzelne lebendige Subjektivität wirklich“ (WW 13, 165). Welches Subjekt ist damit gemeint? Der absolute Idealismus Hegels lässt „den Willen“ vorwiegend als Lebensäußerung eines singulären Übersubjektes, als praktisches Verhalten „des Geistes“ erscheinen. Wenn man sich jedoch nicht zutraut, vom Standpunkt Gottes aus oder von den Höhen eines absoluten Geistes herunter zu philosophieren, ist es wohl sinnvoller, eine andere Sinnmöglichkeit der Hegel‘schen Texte auszubauen: Die Einzelheit gilt nach seiner Logik „als Prinzip der Individualität und Persönlichkeit“ (WW 6, 297). Auch wenn er an einer anderen Stelle betont, dieses Prinzip sei nicht „im Sinne nur unmittelbarer Einzelheit zu nehmen, nach der wir von den einzelnen Dingen, Menschen sprechen …“ (Enz. § 163), so schließt dies keineswegs die vermittelte Einzelheit als Bezugspunkt aus! Nicht das isolierte Individuum, wohl aber das einzelne menschliche Subjekt in besonderen sozialen Kontexten kann dann als lebendiger Träger des freien Willens gelten!4 Mehr noch: Die allgemeine Idee des absolut freien Willens, also die Idee einer substantiellen Sittlichkeit, setzt ausdrücklich voraus, dass der freie Wille der einzelnen Subjekte in Interaktionen gefördert, von Organisationen, Institutionen und gesamtgesellschaftlichen Prozessen unterstützt wird, wobei ihren spezifischen Bedürfnissen und Interessen ausdrücklich Rechnung zu tragen ist.5 „Nur im Willen, als subjektivem, kann die Freiheit oder der an sich seiende Wille wirklich sein (RPh § 106)! Damit taucht jedoch das Rousseau-Problem im Zentrum der Anerkennungslehre Hegels auf: Er hat ja nie einen Zweifel daran gelassen, dass der Wille allgemein ist (volonté générale), und somit nicht in den empirischen Willensäußerungen der einzelnen Subjekte aufgeht (volonté de tous).6 Gerade wenn „Allgemeinheit“ nicht an der Willensäußerung eines gottgleichen Übersubjekts festgemacht wird, stellt sich daher die Frage, wie bei Hegel die Eigenschaften des „Willens an und für sich“ im Verhältnis zu dem der konkreten Individuen zu verstehen seien. Der Eigenschaften des reinen Willens sind es bei ihm vor allem viere: Konkretion (konkretes Dasein); Selbstbezüglichkeit (Reflexivität), Absolutheit und eben jene Allgemeinheit, welche gerade nicht in den empirischen Willensäußerungen der einzelnen Menschen aufgehen soll. 1. Konkretion, bestimmtes Dasein, erreicht der reine Wille insoweit, wie er in den Gesinnungen und Strebungen einzelner Subjekte verankert ist. Die einzelnen Menschen mit ihrem legitimen Interesse an Selbsterhaltung sind die konkreten Träger des freien Willens (vgl. z.B. WW 4; § 18/224). Aber um Träger eines allgemeinen Willens zu sein, müssen sie zu bestimmten Orientierungs- und Interaktionsmustern bereit und in der Lage sein: zu eben jenem Typus der Interaktion, wobei jeder Einzelne jeden anderen als ein freies Wesen anerkennt, und von allen anderen als ein freies Wesen anerkannt wird. Der Wille als
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allgemeiner (volonté générale) ist somit nicht gleich der Summe der empirischen Willensäußerungen der Individuen (volonté de tous). Dennoch ist der allgemeine Wille nur konkret, da seiender Wille, weil und wenn die einzelnen Menschen sich tatsächlich anerkennend zueinander verhalten!7 „Der Mensch ist ein freies Wesen. Dies macht die Grundbestimmung seiner Natur aus“ (WW 4; § 22, 227). 2. Zu den Grundeigenschaften der Idee des Willens gehört nach Hegel dessen Selbstbezüglichkeit. Als „abstrakte(r) Begriff“ lässt sich die Willensreflexivität in der Formel: „… der freie Wille, der den freien Willen will“ zusammenfassen (RPh § 27). Anerkennungsverhältnisse erfüllen diese Bedingung; denn indem jeder Einzelne alle anderen zugleich als Zweck an sich selbst anerkennt und behandelt, hat der freie Wille den freien Willen zu seinem Bezugspunkt. Der Wille ist selbstbezüglich, indem und insoweit eine freie Willensäußerung der einen Person im freien Willen der anderen auf ihr eigenes Wesen trifft, und sich in der bestätigenden Reaktion der Gegenüber anerkannt findet. Die Allgemeinheit des reflexiven Willensverhältnisses kommt darin zum Vorschein, dass jeder Einzelne alle anderen als freie Wesen anerkennen und behandeln soll.8 3. Absolutheit: Das Wort „absolut“ liest sich zunächst wie: „losgelöst und befreit von jeder Heteronomie.“ Dem „freien Willen an und für sich“ stünde demnach gar nichts mehr entgegen. Die Idee der reinen Selbstbestimmung erschiene daher als eine durch überhaupt nichts mehr bedingte Beziehung des Geistes auf sich.9 „Nur in dieser Freiheit ist der Wille schlechthin bei sich, weil er sich auf nichts als auf sich selbst bezieht, so wie damit alles Verhältnis der Abhängigkeit von etwas anderem hinwegfällt …“ (RPh § 23). „Absolutheit“ bedeutet sicherlich diejenige Eigenschaft des freien Willens, welche sich am schwierigsten von der Übersubjektmetaphysik bei Hegel lösen lässt. Für den absoluten Idealismus bedeutet alles Anderssein, alles Entgegenstehende, auch das andere selbstständige Subjekt, letztlich Heteronomie. Diese Heteronomie weist aber zugleich die Qualität des nur scheinbaren Andersseins auf, das ein absolutes Übersubjekt am Ende seines Bildungsprozesses als eigene Erscheinungsform durchschaut. Aber setzt Hegel damit nicht eine, wenn nicht die Grundlage seiner eigenen Dialektik außer Kraft? In seiner „Wissenschaft der Logik“ erhebt er „den Widerspruch“ ausdrücklich zum Prinzip nicht nur der spekulativen Gedankenbewegung, sondern auch allen wirklichen Lebens! Was nicht den Widerspruch in sich enthält oder auszuhalten vermag, etwas, dem also nichts Selbstständiges und Eigensinniges entgegensteht, ist nach seiner eigenen Auskunft nicht lebendig (vgl. WW 6, 76). Von daher liegt ein Einwand Adornos nahe: „Fällt schließlich in der Totale, wie bei Hegel, alles ins Subjekt als absoluten Geist, so hebt der Idealismus damit sich auf, dass keine Differenzbestimmung überlebt, an der das Subjekt, als Unterschiedenes, als Subjekt fassbar wäre“ (Adorno 1963, 84 f.). Damit „der Geist“ ein lebendiger bleibt, wäre also an Gegensätze zu denken, an denen er sich bildet, ohne sie am Ende als bloß
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scheinbare zum Verschwinden zu bringen! In der Tat findet man dieses Motiv bei Hegel z.B. in Hinweisen auf die Haltung des „Freilassens“ gegenüber selbstständigem Anderssein wieder! Hegel erwähnt sie ausdrücklich im Zusammenhang mit dem Verhältnis des Menschen zu Kunstwerken: „Deshalb ist die Betrachtung des Schönen liberaler Art, ein Gewährenlassen der Gegenstände als in sich freier und unendlicher, kein Besitzenwollen und Benutzen derselben als nützlich zu endlichen Bedürfnissen und Ansichten, so dass auch das Objekt als Schönes weder von uns gedrängt und gezwungen erscheint, noch von den übrigen Außendingen bekämpft und überwunden“ (WW 13, 155 f.). Mit dem Gewährenlassen wird zudem eine Gesinnung bezeichnet, die notwendigerweise zu Anerkennung als wechselseitiger Bestätigung des freien Willens gehört! Unter „Heteronomie“ im abstraktesten Sinne lässt sich jede „Abhängigkeit von etwas anderem“ verstehen. So allgemein betrachtet, bedeutet „Heteronomie“ alles, was dem Willen entgegensteht oder entgegengesetzt ist. Die Willensentwicklung bei Hegel bedeutet einen Prozess der Befreiung von Heteronomie und die Idee der Freiheit entspricht der einer uneingeschränkten (unbedingten) Autonomie. Doch das Entgegengesetzte muss nicht schlechthin als negativ bewertet und zum Verschwinden gebracht werden! Einerseits verlangt die Idee des absoluten, sich selbst bestimmenden Willens zweifellos, sich vollständig von Heteronomie als Repression abzulösen, denn „Gewalt oder Zwang ist daher, abstrakt genommen, unrechtlich“ (RPh § 92). Unrecht stellt den strikten, den vollständig zu negierenden Gegensatz zu Anerkennungsverhältnissen dar: „Diejenige Handlung, welche die Freiheit eines anderen beschränkt oder ihn nicht als freien Willen anerkennt, ist widerrechtlich“ (WW 4; § 6, 233).10 Aber nach den Prinzipien von Anerkennung als Prinzip der praktischen Vernunft hat der freie Wille andererseits die Bestätigung durch alle mit einem freien Willen begabten anderen Subjekte zu seiner Entwicklungs- und Bestandsbedingung! Damit ist ein Typus „der Abhängigkeit von etwas anderem“ bezeichnet, der nichts mit destruktiver Heteronomie, also den geschichtlichen Varianten und Graden der Repression zu tun hat! Freie Willensäußerungen, die diese Bedingungen, die genuine Selbstständigkeit des anderen Subjekts, zerstören, zerstören ihre eigenen Voraussetzungen! Anerkennende Beziehungen zu genuin selbstständigen anderen sind daher als Anstöße zu fördern und auszubauen! Anders ausgedrückt: Die Idee des reinen Willens verlangt, dass dieser sich in der Tat von allen Erscheinungsformen des Unrechts, von Gewalt, Zwang, Unterdrückung, Ausbeutung, Diskriminierung und Entwürdigung frei macht. Die Idee des reinen Willens verlangt umgekehrt aber auch die Förderung aller subjektiven und objektiven Existenzbedingungen der Selbstständigkeit der Einzelnen, gerade nicht deren Negation ob ihrer Nichtigkeit! 4. Auch die prekäre Allgemeinheit des Willens kann im Ausgang von Hegels elementarem Rechtsbegriff gedeutet werden (§ 4/WW 4, 232). Dieser macht
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Szenen eines ganz bestimmten Typus der Interaktion zur Grundlage einer jeden rechtlich-sittlichen Willensentwicklung: Er gebietet jenen Typus der Interaktion, welcher in der wechselseitigen Achtung und Förderung des freien Willens aller Einzelnen besteht. Die überindividuelle Allgemeinheit muss also nicht zwangsläufig in der alle Einzelheiten und Besonderheiten in sich einschließenden Überpersönlichkeit des göttlichen Geistes bestehen, sondern der „objektive Geist“ erscheint in verschiedenen Formen gesellschaftlicher Beziehungen und Verhältnisse: Der allgemeine Wille bezeichnet (a) Muster (Szenen) der anerkennenden Interaktion zwischen Wesen, die mit einem freien Willen begabt sind. Diese Muster reichen ihrerseits von Zuneigung, Liebe und Empathie als Einfühlung in Bedürfnisse, Interessen, Situationsdeutungen und Zwecksetzungen der Gegenüber bis hin zur gezielten Förderung und Unterstützung der Selbstständigkeit des anderen Subjekts.11 Bei aller Verschiedenheit der konkreten Ausprägung solcher Beziehungen zwischen Einzelnen, handelt es sich zugleich um Haltungen und Aktivitäten vom Typus der wechselseitigen Bestätigung der Würde der anderen Person. „Der freie Wille“ wird also in verschiedenen Szenen der Interaktion wirklich und wirksam, wobei im Kern ein jeder alle anderen als selbstständige Subjekte anerkennen soll. (b) Die Idee des allgemeinen und freien Willens kann aber auch in der Gestalt reflexiver Institutionen wirklich und wirksam werden. Auf gesellschaftliche Institutionen passt Hegels Begriff des „objektiven Geistes“ besonders gut. „Objektiv“ sind gesellschaftliche Einrichtungen wegen ihrer „überindividuellen“ Merkmale und Einflussmöglichkeiten: Sie sind dem Leben des Individuums oftmals zeitlich vorgängig. Niemand kann sich die Familie aussuchen, in der er oder sie hineingeboren wird. Institutionen und Organisationen können dem Denken und Handeln der Einzelnen hart entgegenstehen, „objektive“ Schranken setzen und/oder Zwänge auferlegen. Selbst der dem methodischen Individualismus zugeneigte K. R. Popper sagt daher, viele gesellschaftliche Institutionen seien nicht nur das „unbeabsichtigte Resultat menschlicher Handlungen“, sondern sie bestünden grundsätzlich aus einer Verschränkung von Regeln mit quasi-naturgesetzlichen Regelmäßigkeiten des Geschehens, die auf uns einwirken (Popper 1957; I, 103 ff.). Als „objektiv“ können Institutionen schließlich auch wegen ihrer Funktionen bei der Bearbeitung systemischer Probleme (wie etwa dem allgemeinen gesellschaftlichen Problem der Sozialisation von Nachkommen) angesehen werden. Verschiedene Theorien der Institutionen und Institutionenbildung beschreiben sie zudem deswegen als „objektiv“, weil sie soziale Mechanismen beinhalten oder darstellen, welche die einzelnen Menschen von einer Fülle von Handlungen „entlasten“. Ihre „Objektivität“, das bedeutet in diesem Falle ihre Qualität als eigensinniges soziales Sein, erscheint in gesellschaftlichen Prozessen, die sich nicht auf die Anschauungen, Pläne und Aktionen ihrer individuellen Urheber reduzieren lassen. Sie weisen z.B. nach der Lehre der Systemtheorie den Charakter der
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„Autopoiesis“ auf, d.h.: Sie sind in der Lage, den eigenen Ablauf zu regulieren und dessen Elemente und Phasen im Zeitablauf auf vergleichbare Weise zu reproduzieren. Insofern gelten sie überdies als „selbstbezüglich“ und insofern als „reflexiv“. Hier sollen jedoch unter „reflexiven Institutionen“ besondere Einrichtungen verstanden werden, welche das Leben der Individuen nicht einfach kraft „dumpf eingelebter Sitte“ (Weber), aus Tradition oder durch Druck und Unterdrückung reglementieren, sondern autonomiefördernde Mechanismen ausbilden! Sie zeichnen sich durch „reflexive Mechanismen“ aus, wenn und insoweit sie bei der Bearbeitung systemischer Probleme zugleich die Selbstständigkeit der Einzeln tragen und fördern! (vgl. Reusswig 1993, 170 ff. und Ritsert 2001, 61 ff.). Reflexive Institutionen mögen Individuen von verschiedenen Aktivitäten „entlasten“, sie nehmen ihnen jedoch nicht die Autonomie ab! (c) Schließlich können auch „überindividuelle“ Organisationsprinzipien, Strukturen und Prozesse des gesellschaftlichen Ganzen daraufhin untersucht werden, ob sie den anerkannt freien Willen der Subjekte tragen, fördern oder stattdessen untergraben. Fazit: „Anerkennung“ steht nach all dem als ein Kürzel für einen äußerst komplexen Zusammenhang von Gefühlen, Gesinnungen, Interaktionsmustern, besonderen Institutionen und allgemeinen, gesamtgesellschaftlichen Strukturen und Prozessen, die im Lichte ihrer Bedeutung für wechselseitig bestätigte Willensfreiheit betrachtet werden. Diesen Zusammenhang kann man genauso gut mit Hilfe von Hegels rechtsphilosophischem Begriff der „konkreten Freiheit“ rekonstruieren; denn in diesem Konzept laufen alle die verzweigten dialektischen Wege zusammen, die bei Hegel die „substantielle Sittlichkeit“ zum Ziel haben (vgl. Ritsert ebd., 25 ff.). Die „konkrete Freiheit“ entspricht der Idee des an und für sich freien, des „reinen und absoluten Willens“.
Der doppelte Doppelsinn in der Dialektik des Selbstbewusstseins Das Kapitel über „Herr und Knecht“ aus der „Phänomenologie des Geistes“ nimmt einen prominenten und äußerst folgenreichen Platz in diesem Spektrum ein, es deckt es jedoch beileibe nicht ab! Die in groben Zügen schon von Leibniz vorgezeichnete Parabel (vgl. H. H. Holz 1968) kann nicht einfach als das Paradigma für die Auslegung des Anerkennungsbegriffs bei Hegel angesehen werden! So scheint zwar die Idee substantieller Sittlichkeit (als „reine Anerkennung“) in der Dialektik von Herr und Knecht vor, sie tritt darin jedoch noch nicht in ihrer voll entwickelten Form als konkrete Freiheit, also noch nicht als eine im Kontext des gesamten Spektrums begriffene Bestimmung an und für sich auf. Da die Dialektik von „Wissen und Wahrheit“, also die Entwicklung der Erfahrung und des Denkens äußerer Gegebenheiten, das Schlüsselthema der „Phänomenologie des Geistes“ darstellt, setzt die Parabel von Herr und Knecht natürlich den
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entscheidenden Akzent auf diese erkenntnistheoretische Problematik. Doch Hegel hat nie einen Zweifel daran gelassen, dass für ihn Wissen und Willen, theoretisches und praktisches Verhalten, eine Einheit bilden. Es ist nach seiner Auffassung daher widersinnig anzunehmen, dass man „Willen haben könnte ohne Intelligenz“. Man kann nichts ohne Wissen, Bewusstsein und Selbstbewusstsein gezielt anstreben (Ilting 1973, Band IV). Wegen der Einheit von theoretischem und praktischem Verhalten geht es auch in der Parabel also zugleich um Willensverhältnisse (als Herrschaftsverhältnisse). Sie werden allerdings nur im Rahmen von Interaktionsmustern zwischen zweien sich erfahrenden „Selbstbewusstseinen“ entwickelt. Folgt man der Systematik Hegels, muss man zudem bedenken, auf welcher Stufe der Entwicklung „des Begriffs“ sich die Darstellung dieser Dyade befindet. Die Stufe des „Selbstbewusstseins“ folgt in der „Phänomenologie“ auf die des „Bewusstseins“, bedeutet aber noch nicht die luftige Höhe „des Geistes“. Wenn man Hegel‘sche Versuche ernst nimmt, seine inhaltlichen Ausführungen zu Wissen und Willen auf der Grundlage von Stufen und Unterstufen seiner Wissenschaft der Logik zu entfalten, dann befindet man sich bei „Herr und Knecht“ zudem im Bereich der Reflexionslogik, der zwischen Seinslogik und Logik des Begriffs liegt. Es gibt also genügend Gründe, bei der Wahl von Hegels suggestiver Parabel über Herr und Knecht als Paradigma für jenes breitere Spektrum von Motiven, welche seine Anerkennungslehre als ganze ausmachen, Vorsicht walten zu lassen. Auch und gerade dann, wenn der sozialwissenschaftliche Charme der Parabel ausgeschöpft werden soll. Die Darstellung der Dialektik von Wissen und Wahrheit ist in der „Phänomenologie des Geistes“ im Kapitel über „Herr und Knecht“ an der Stelle angelangt, wo für das eine Selbstbewusstsein ein anderes Selbstbewusstsein in der Welt gegeben ist. Es stehen sich zwei nicht nur äußerer Gegebenheiten, sondern auch ihrer selbst bewusste und selbstbestimmter Handlungen fähige Instanzen gegenüber. Man kann sie als „Subjekte“ bezeichnen.12 Wenn „das Selbstbewusstsein“ bei Hegel nicht zwangsläufig nur als Entwicklungsstadium eines gottgleichen Übersubjektes verstanden werden muss, das „außer sich gekommen ist“ (PhG 141), weil es sich von sich unterscheidet, jedoch in dem von ihm Unterschiedenen am Ende nichts als sich selbst wiederfindet, dann geht Hegel von einer Interaktionsdyade zwischen zwei genuin selbstständigen Wesen aus. Das Subjekt, das den Bezugspunkt der Analyse bildet (sagen wir: Ego), ist völlig außer sich geraten (PhG 141). Darin steckt nach Hegel ein erster Doppelsinn: (1a) Das Selbstbewusstsein „hat sich selbst verloren“ oder entfremdet; denn Ego findet „sich als ein anderes Wesen“ vor (ebd.). Es findet ein Wesen vor, an dem das eigene Wesensmerkmal der Selbstständigkeit als Bestimmung eines anderen Wesens (sagen wir: Alter) hervortritt! (1b) Dieser Unterschied wird aber zugleich aufgehoben. Denn im Rahmen des ersten Doppelsinns (=1a+1b) stellt Ego bei Alter keine selbstständige Wesensbestimmung
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fest, sondern sieht sich selbst im Anderen (ebd.). Ego reflektiert sich aus dem anderen Selbstbewusstsein und gelangt dadurch zu seinem „Fürsichsein“ (Wissen um sich). Vielleicht darf man diese Stelle auch so lesen: Über die Erfahrung der Selbstständigkeit des anderen Subjekts erfährt Ego seine eigene. Beim ersten Doppelsinn liegt der Akzent auf dem von Ego aus betrachteten Unterschied zu Alter, auf dem Anderssein, auch wenn Ego sich daraus reflektiert. Der zweite Doppelsinn entsteht aus der Aufhebung des ersten: (2a) Ego geht daran, „das andere selbstständige Wesen aufzuheben, um dadurch seiner als des Wesens gewiss zu werden“ (PhG 141 f.). Der eigenen Selbstständigkeit kann Ego nur im Gegensatz zur Autonomie von Alter innewerden. (2b) Damit hebt es sich jedoch selbst auf; „Denn dies andere ist es selbst“ (PhG 142). Jetzt liegt der Akzent auf der Aufhebung des Unterschieds. Das muss nicht unbedingt so gelesen werden, dass die Differenz zwischen Ego und Alter verschwindet. Zum Selbstständigwerden von Ego gehört die Selbstständigkeit gegenüber Alter, insofern wird das „andere selbstständige Wesen aufgehoben“ (=2a). Aber in der Autonomie des anderen Subjekts begegnet Ego zugleich seiner eigenen Kompetenz der Reflexion, der nämlichen Fähigkeit zu seiner selbst bewussten und selbstbestimmten Handlungen. Nur in dieser Fähigkeit ist Alter mit Ego identisch, das eine gleich dem anderen (=2b). Doch genau diese Fähigkeit stellt sie zugleich einander gegenüber; denn sie sind beide selbstständige, der Selbstbestimmung fähige Wesen. Diese Form ihres Gegensatzes kann jedoch nicht mit Heteronomie als Repression, Gewalt, Macht und Herrschaft gleichgesetzt werden! Es muss sich vielmehr um einen produktiven Gegensatz handeln, um einen Gegensatz, der Autonomie ermöglicht, nicht zerstört! Von daher ist es folgerichtig, wenn Hegel den doppelten Doppelsinn anschließend keineswegs einseitig als Negation des anderen Subjekts, sondern zugleich als Bestätigung von dessen Selbstständigkeit interpretiert. Das eine Selbstbewusstsein „gibt das andere Selbstbewusstsein ihm wieder ebenso zurück“, es „entlässt also das andere wieder frei“ (PhG 142)! Dass Alter hier Ego tatsächlich als „freigelassenes“, gerade in seiner Selbstständigkeit relevantes Wesen gegenübersteht, zeigt sich insbesondere daran, dass Hegel den doppelten Doppelsinn in genau der gleichen Form (1+2) von der Seite Alters als eigenständigem Pol her entwickelt! „Die Bewegung ist schlechthin die gedoppelte beider Selbstbewußtseine“ (ebd.). Mit der Struktur des „doppelten Doppelsinns“ zielt Hegel natürlich auf ein altes Problem aller Theorien der Reflexion: Die Reflexion als Fähigkeit zu bewussten und selbstbestimmten Lebensäußerungen stellt eine Kompetenz dar, welche allen Vernunftwesen gleichermaßen zukommt. Zugleich bedeutet sie aber auch diejenige Kompetenz, wodurch das einzelne Subjekt einen bis zum Gegensatz zuspitzungsfähigen Unterschied zwischen sich und allem anderen machen kann. Das gilt in der Dyade auf beiden Seiten gleichrangig. Das „Tun des Einen (= Egos – J.R.)
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hat selbst die gedoppelte Bedeutung ebenso wohl sein Tun, als das Tun des Andern zu sein; denn das andere (= Alter – J.R.) ist ebenso selbstständig, in sich beschlossen, und es ist nichts an ihm, was nicht durch es selbst ist“ (ebd.). Ego und Alter sind als selbstständige Wesen grundsätzlich voneinander (womöglich bis zum Gegensatz) unterschieden, aber zugleich sind sie in der Kompetenz, die den Unterschied macht, genauer: wodurch sie selbstbestimmt den Unterschied machen können!, gleich. Diese Kompetenz fällt jedoch nicht vom Himmel oder wird allein aus den Genen geschüttelt. Nur in der Beziehung auf ein seinerseits selbstständiges anderes Wesen kann die Autonomie des einen sich entwickeln und Bestand haben. „Jedes ist dem andern die Mitte, durch welche jedes sich mit sich selbst vermittelt und zusammenschließt“, und jedes Subjekt ist nur in dieser und durch diese Beziehung zugleich selbstständiges Wesen (PhG 143). Das einzelne Subjekt ist nur durch dieses Interaktionsmuster „unmittelbares für sich seiendes Wesen, welches zugleich nur durch diese Vermittlung für sich ist“. Es kann nur in dieser und durch diese Reziprozität Selbstständigkeit (Fürsichsein) erhalten. Aus diesen Überlegungen geht der Begriff der reinen Anerkennung hervor. „Sie anerkennen sich, als gegenseitig sich anerkennend“ (PhG 143): Die beiden Subjekte der Dyade anerkennen (achten) das andere Subjekt im Bewusstsein der Selbstständigkeit des anderen als Bedingung der eigenen Autonomie. Sie unterhalten bewusst Beziehungen, die dem „reine(n) Begriff des Anerkennens“ (ebd.), der Idee symmetrischer Anerkennung entsprechen.
Der Kampf auf Leben und Tod Nach Hegel ist im „absoluten Sinne eigentlich kein Zwang gegen den Menschen möglich“, weil der freie Wille im Grenzfall „alles, was zu seinem Dasein gehört, aufgeben“, letztlich sogar die eigene Existenz freiwillig aufs Spiel setzen kann (WW 4; § 6, 234 und RPh § 91). Ein Mensch kann allerdings durch Strafen gezwungen werden, den „Zwang, den er anderen angetan hat, aufzuheben“ (WW 4; § 5, 233). Denn Gewalt, Zwang, Repression sind Unrecht. Unrecht wiederum stellt den strikten Gegensatz zu reiner Anerkennung dar: „Diejenige Handlung, welche die Freiheit eines anderen beschränkt oder ihn nicht als freien Willen anerkennt (!) und gelten lässt, ist widerrechtlich“ (ebd. § 6). „Unrecht“ in dieser sehr allgemeinen Hinsicht bedeutet ein Kürzel für sämtliche destruktiven Gegensätze zwischen Vernunftwesen, also den Inbegriff von ansonsten ganz verschiedenartigen Beziehungen und Verhältnissen, deren gemeinsamer Effekt die Untergrabung, wenn nicht die Zerstörung der Autonomie der Subjekte darstellt. Destruktive Gegensätze sind strikt zu negieren, zu beseitigen! In der Dyade „Herr und Knecht“ wird der Gegenpol zur Idee der reinen Anerkennung in Analogie zum Hobbes‘schen Naturzustand als Kriegszustand von
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Einzelwesen entworfen, die bereit sind ihr „abstraktes Fürsichsein“, ihre Einzelinteressen, in letzter Konsequenz mit Gewaltmitteln durchzusetzen. Die Subjekte behandeln einander in dieser Ausgangskonstellation wie jedes beliebige äußerliche Dasein in der Dingwelt, woran sich der freie Wille festmachen kann. Sie behandeln einander wie sachliche Mittel für die je eigenen Zwecke, also „in der Weise gemeiner Gegenstände“ (PhG 143). Doch der freie Wille muss nach Hegel „ins Dasein treten.“ Er muss wirklich und wirksam werden, indem er sich äußert. Auf der Stufe des „abstrakten Rechts“ bedeutet dies vor allem, dass er sich an äußeren Dingen festmacht. Er kann daher nachhaltig gepackt und gezwungen werden, „sofern er sich selbst aus der Äußerlichkeit, an der er festgehalten wird, oder aus deren Vorstellung nicht zurückzieht“ (RPh § 91). Insoweit die beiden Subjekte sich tatsächlich „in der Weise gemeiner Gegenstände“, nämlich wie „seiende Gegenstände“ (verdinglicht) in der Welt gegenübertreten, kann sich ihr Verhältnis zu einem gewaltförmigen Antagonismus zuspitzen. Bei einem extremen Antagonismus wollen beide Subjekte ihre Selbstständigkeit dadurch gegen den anderen behaupten, indem sie zeigen, „an kein bestimmtes Dasein geknüpft“ zu sein. Im Extremfall ist Ego sogar bereit, seine Existenz im Verhältnis zu Alter aufs Spiel zu setzen, „zu zeigen …, nicht (einmal – J.R.) an das Leben geknüpft zu sein“ (PhG 144). Wenn aber auch Alter unter „Daransetzen des eigenen Lebens“ operiert, dann entsteht jener absolute Gegensatz zu reiner Anerkennung, welcher im „Kampf auf Leben und Tod“ besteht (ebd.). Die rein strategischen Beziehungen kulminieren in der nackten Gewalt. Damit sind die beiden Pole (Hegel würde wohl sagen: „Extreme“) abgesteckt, zwischen denen sich die normative Theorie der Anerkennung bewegt: In der Dyade von Herr und Knecht stellt „reine Anerkennung“ den einen, die Idee der Autonomie vertretenden Pol dar, während der „Kampf auf Leben und Tod“ das andere Extrem, den gewaltförmigen Gegenpol völlig rücksichtsloser und selbstverleugnender Interaktion bedeutet. Diese Polarisierung entspricht normativ der von Recht und Unrecht in der Willenslehre der Rechtsphilosophie Hegels. Bei ihm sind an dieser Stelle allerdings auch einige problematische Töne zu vernehmen: Es klingt mitunter so, als müssten die beiden Subjekte zwangsläufig in eine heroische Bewährungsprobe ihres Wissens und Wollens nach der Art eines Zweikampfes in der Adelskultur eintreten. „Das Verhältnis beider Selbstbewusstseine ist also so bestimmt, dass sie sich selbst und einander durch den Kampf auf Leben und Tod bewähren. – Sie müssen in diesen Kampf gehen, denn sie müssen die Gewissheit ihrer selbst, für sich zu sein, zur Wahrheit an dem anderen und an ihnen selbst erheben“ (PhG 144). Und dazu müssen sie wie Zweikämpfer ihr Leben dransetzen; denn nur dadurch beweisen sie sich scheinbar die Unabhängigkeit von jeder Heteronomie (ebd.). Gleichwohl: Aus dem schrankenlosen Kampf auf Leben und Tod kann bloß „die abstrakte Negation“ herauskommen. Der Widerpart wird
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vernichtet. Wenn aber die Anerkennung durch Alter eine Bedingung der Willensentwicklung von Ego ist, dann wird dadurch Negation als „Aufhebung“ im berühmten Hegel‘schen Doppelsinn dieses Wortes verfehlt: Vernichtung ist „die abstrakte Negation, nicht die Negation des Bewusstseins, welches so aufhebt, dass es das Aufgehobene aufbewahrt und erhält, und hiermit sein Aufgehobenwerden überlebt“ (PhG 145). Das physische Überleben erweist sich daher dem Subjekt als genauso wichtig wie das reine Selbstbewusstsein und der absolut selbstbestimmte Wille. Vernunft und Selbsterhaltungsinteresse hängen zusammen. Man kann diese Überlegungen in der schlichten, aber zutreffenden Formel zusammenziehen, Gewalt gegen andere ist zwar empirisch bedauerlich oft vorzufinden und niemals ausgeschlossen, aber das Verhältnis zwischen Ego und Alter kann trivialerweise nicht als ein reines Gewaltverhältnis auf Dauer gestellt werden, worin der eine den anderen physisch vernichten will. Der Hobbes‘sche Naturzustand als Kriegszustand muss verlassen werden. Bei Hegel scheint ein weiterer Grundgedanke der zu sein, dass in der Dyade ein Subjekt sein Interesse an Selbsterhaltung höher stellt als das andere, und daher nicht so weitgehend unter dem äußersten Einsatz seines Lebens agiert wie das andere. Es kommt von daher nach seiner Auffassung zu einer Polarisierung in „ein reines Selbstbewusstsein“ einerseits, in ein Bewusstsein andererseits, „welches nicht rein für sich, sondern für ein anderes, d.h. als seiendes Bewusstsein oder Bewusstsein in der Gestalt der Dingheit ist“ (ebd.). Es entstehen mithin „zwei entgegengesetzte Gestalten des Bewusstseins; die eine das selbstständige, welchem das Fürsichsein, die andere das unselbstständige, dem das Leben oder das Sein für ein Anderes, das Wesen ist; jenes ist der Herr, dies der Knecht“ (PhG 146). Ego wird zum Repräsentanten des „Fürsichseins“, der Selbstständigkeit, Alter zum Repräsentanten des Interesses am Leben und materieller Selbsterhaltung – jedoch in Abhängigkeit vom Herrn. Das reine Gewaltverhältnis des Kampfes auf Leben und Tod wird in ein Herrschaftsverhältnis transformiert. Gewalt bedeutet den Kern von Macht, Macht – nach Weber die Chance, den eigenen Willen aus welchen Gründen auch immer gegen den Widerstand anderer durchsetzen zu können – den Kern von Herrschaft. Aber zur Herrschaft gehört bekanntlich ein Stück Anerkennung der Herren, Herrschaftspositionen und Herrschaftsstrukturen durch die Beherrschten selbst. „Sachautorität“ gründet demgegenüber in einer Anerkennung von freien Willensäußerungen der einen, in die andere berechtigtes Vertrauen setzen (können).
Die Befreiungsbewegung des Knechtes Die Dynamik des Verhältnisses zwischen Herr und Knecht stellt Hegel im Ausgang von der Position des Herrn dar. Der Herr verkörpert die an sich freie Existenz. Es handelt sich jedoch auch bei ihm um ein Subjekt, dessen selbststän-
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diges Dasein durch die Interaktion mit einem abhängigen Subjekt „vermittelt“ ist. Dieses andere Subjekt, der Knecht, ist seinerseits „mit selbständigem Sein“ vermittelt, nämlich an die „Dingheit überhaupt“ gefesselt (PhG 146). Der Herr steht daher – im Einklang mit der Struktur des „doppelten Doppelsinns“ – in einer doppelten Beziehung: Er bezieht sich einerseits „auf ein Ding, als solches, den Gegenstand der Begierde“, andererseits auf ein Subjekt, „dem die Dingheit das Wesentliche“ ist. Es hängt von der Bearbeitung der widerständigen Dingwelt ab. Genauer gesagt: Der Herr bezieht sich vermittelt durch seine Besitzrechte an den Dingen auf den Knecht, und vermittelt durch den Knecht auf die Dingwelt. Die Dyade weist also nach Hegel die folgende inhaltliche Grundordnung auf: (1): Der Herr bezieht sich vermittelt auf den Knecht. Vermittels seiner Verfügungsgewalt über sachliche Mittel und das „selbstständige Sein“ der Dingwelt, woran sich der Wille (u.a.) festmachen muss, um konkret zu werden, ist ihm der Knecht untertan. Die Dingwelt, also letztlich die Natur, die sich innerlich im elementaren Interesse an Selbsterhaltung und Bedürfnisbefriedigung des Individuums geltend macht, bedeutet die Kette des Knechtes, von der dieser „im Kampfe nicht abstrahieren konnte, und darum sich als unselbstständig, seine Selbstständigkeit in der Dingheit zu haben, erwies“ (PhG 146). Der Herr übt Macht über die Dingwelt und damit mittelbar Macht über das andere Subjekt aus, das daran gekoppelt ist. (2): Zugleich bezieht sich der Herr vermittelt über den Knecht auf die Dingwelt. Er überlässt dem Knecht die Arbeit und appropriiert dessen Arbeitsergebnisse. Der Knecht steht einer selbstständigen Dingwelt als Bedingung seiner Existenz gegenüber. Er greift darin verändernd, umformend ein. Er bezieht sich also „auf das Ding“ durchaus auch „negativ und hebt es auf; aber es ist zugleich selbstständig für ihn, und er kann darum durch sein Negieren nicht bis zur Vernichtung mit ihm fertig werden, oder er bearbeitet es nur“ (ebd.). Der Knecht ist der eigentliche Träger des Arbeitprozesses. Der Herr genießt demgegenüber unmittelbar die Früchte der Arbeit des Knechtes in Muße. Ihm ist das Ding frei verfügbar. Die Kehrseite der Widerständigkeit und Beständigkeit der Dingwelt überlässt er dem Knecht, der sich daran abarbeiten muss. Diese Bestimmung der Beziehungen zwischen Herr und Knecht stellt sich als ein asymmetrisches Anerkennungsverhältnis dar: Der Herr erscheint als der eigentliche Träger des freien Willens, als ein Selbstbewusstsein, „welches durch ein anderes Bewusstsein mit sich vermittelt ist“ (PhG 146). Zu Anerkennung gehört Interaktion: Die Selbstständigkeit eines jeden Subjekts bildet sich im Zusammenhang mit Art und Grad der Selbstständigkeit bedeutsamer anderer Subjekte heraus. Bei Hegel ist die Selbstständigkeit des Herrn eine Funktion des Umstandes, dass das andere Subjekt nicht „abstrakt aufgehoben“, bis zur Vernichtung negiert wurde, sondern sich den äußeren Lebensnotwendigkeiten sowie dem
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Herrn unterworfen hat. „In diesen beiden Momenten wird für den Herrn sein Anerkanntsein durch ein anderes Bewusstsein erkennbar; denn dieses setzt sich in ihnen als ein Unwesentliches, einmal in der Bearbeitung des Dings, das andermal in der Abhängigkeit von einem bestimmten Dasein“, dem des Herrn (PhG 147). Die absolute Selbstbestimmung, die Unabhängigkeit von jeder Form der Heteronomie ist damit jedoch nicht erreicht. Auch der Herr verkörpert keinen unbedingten Meister über das Sein! Denn er bleibt auf seine besondere Weise immer auch abhängig vom Knecht sowie den Resultaten der knechtischen Arbeit – mag sich der Knecht noch so sehr im Status eines für den Herrn „unwesentlichen Bewusstseins“ befinden, während der Knecht den Herrn als „wesentliches Bewusstsein“ respektiert. Bei Herrschaft und Knechtschaft ist die Reziprozität demnach unvollständig; es handelt sich um ein asymmetrisches Anerkennungsverhältnis. „Es ist dadurch ein einseitiges und ungleiches Anerkennen entstanden“ (ebd.). Zwar ist im Verhältnis zwischen Herr und Knecht so viel von reinen, „ihrem Begriff entsprechenden“ Anerkennungsbeziehungen nach Hegel‘schen Kriterien enthalten, dass sich die Selbstständigkeit des einen jeweils aus Art und Grad der Selbstständigkeit des anderen reflektiert (die beim Knecht ja vor allem in der Form der erfolgreichen Naturbearbeitung zum Ausdruck kommt). Es kommt jedoch nicht zur wahren Autonomie; auch nicht auf Seiten des Herrn! Denn zu dieser gehört nach Hegel die bewusste Bestätigung des freien Willens durch wahrhaft autonome Subjekte. Die Subjekte müssen sich im idealen Falle, im Falle reiner Anerkennung, als gleichrangige Zwecke an sich selbst achten und behandeln. Der Herr spiegelt sich daher nur aus einem partiell selbstständigem anderen Bewusstsein. Daher ist er im Grunde nur dem Schein nach, nicht wesentlich (wahrhaft) anerkanntes Subjekt.13 An sich ist auch der Knecht selbstständig; denn im Angesicht der Todesdrohung, beim Kampf auf Leben und Tod, ist auch der Knecht ein Stück weit seiner selbst bewusst geworden. Er hat „die Furcht des Todes, des absoluten Herrn, empfunden“ (PhG 148). Doch für den Knecht bedeutet der Herr die wesentliche Existenz, der er als „unselbstständiges Bewusstsein“ untergeordnet ist. Insofern bestimmt der Knecht sich und sein Tun in Abhängigkeit von einem wahrhaft selbstständigem Bewusstsein. Das „reine Fürsichsein“ (die Selbstständigkeit) ist beim Knecht nicht nur „an sich“ vorhanden, sondern sie ist auch „für ihn“ (bewusst) da – jedoch in der entgegenstehenden Gestalt des Herrn.14 Die wirklich selbstständige Existenz steht ihm somit nur als ein anderes, fremdes, ihn äußerlich bestimmendes Subjekt gegenüber. Die Knechtschaft weist daher Selbstständigkeit nicht als ihre eigene Bestimmung, sondern als eine fremde Gewalt (Heteronomie als Zwang!) auf. Aber durch Arbeit, durch die Bearbeitung der Dingwelt, gelangt auch der Knecht ein Stück weit zu Selbstständigkeit an und für sich. Er bildet dabei Möglichkeiten aus, die Fesseln der Heteronomie als Gewalt-, Macht- und Herr-
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schaftsverhältnis zu einem anderen Subjekt abzustreifen. „Durch die Arbeit kommt es (das knechtische Bewusstsein – J.R.) aber zu sich selbst“ (PhG 148). Die Umrisse der Befreiungsbewegung des Knechtes sehen bei Hegel so aus: Der Herr kann nach den Prinzipien von Trieb und Begierde einem Genuss frönen, der die Dinge ohne eigenen Aufwand „rein negiert“. Aber die Befriedigung eines Genussmenschen, der sich aufgrund seiner Herrschaftsposition die Früchte der Arbeit anderer zu Eigen machen kann, ist flüchtig, und sein Begehren wird zügellos. Arbeit stellt hingegen „gehemmte Begierde“ dar, „oder sie bildet“ (PhG 149). Der Knecht arbeitet sich also an einem Bleibenden in der Form des Natursubstrats, an widerständiger Materie ab. In der Arbeit und durch die Bearbeitung der Dingwelt kommt der Knecht gleichzeitig zu sich selbst, zum Wissen um seine eigene Selbstständigkeit (ebd.). Anders ausgedrückt: Der Arbeitsprozess gewinnt seine Beständigkeit durch die nicht völlig zu beseitigende Widerständigkeit des Objekts sowie durch die wirkenden Gegenkräfte einer nicht zur unbegrenzten Verfügung stehenden Natur (bzw. Materie). Der Träger des Arbeitsprozesses, der Knecht, wird aber zugleich durch gelingende Formierung, Bearbeitung der Materie seiner eigenen Selbstständigkeit als „Seiender“ inne (ebd.). Durch die Formierung kommt der Knecht nach Hegel zudem über die Furcht hinweg, die zu seiner Niederlage im Kampf auf Leben und Tod beitrug (ebd.). „Denn in dem Bilden des Dinges wird ihm die eigene Negativität, sein Fürsichsein (seine eigene Selbstständigkeit – J.R.) nur dadurch zum Gegenstand (also bewusst – J.R.), dass es die entgegengesetzte seiende Form (gegenständliche Gegebenheit; die Dingwelt) aufhebt“, gestaltet, bearbeitet, bestimmten Zwecksetzungen gemäß umformt (ebd.). Das „gegenständlich Negative“, dinglich Widerständige, war aber zugleich „das fremde Wesen“, wovor das knechtische Bewusstsein „gezittert hat“ (ebd.). Nun aber bewältigt es arbeitend das „fremde Negative“ und „setzt sich als ein solches in das Element des Bleibens, und wird hiedurch für sich selbst, ein Für sich Seiendes“, ein tendenziell um seine Selbstständigkeit wissendes und sich ihrer bewusst bedienendes Subjekt. „Es wird also durch dies Wiederfinden seiner durch sich selbst eigner Sinn, gerade in der Arbeit, worin es nur fremder Sinn zu sein schien“ (ebd.). Der Knecht arbeitet sich in der entfremdeten Arbeit zur genuinen Selbstständigkeit empor. Allerdings arbeitet er sich auf der Stufe des Verhältnisses von selbstständigem und unselbstständigem Selbstbewusstsein noch nicht aus dem Rahmen des Verhältnisses von Produktion und Appropriation, aus dem Herrschaftsverhältnis als solchem heraus! Der eigene Sinn des Knechtes (sein Selbstbewusstsein) ist auf dieser Stufe für Hegel noch „Eigensinn, eine Freiheit, welche noch innerhalb der Knechtschaft stehen bleibt“ (PhG 140).
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Die Parabel als sozialwissenschaftliches Musterbeispiel: einige Thesen und Probleme Der Abschnitt „Selbstständigkeit und Unselbstständigkeit des Selbstbewusstseins; Herrschaft und Knechtschaft“ aus der „Phänomenologie des Geistes“ ist sprachlich und inhaltlich gewiss alles andere denn leicht eingängig. Dennoch wurde dieses Lehrstück sowie die logische Struktur seiner Darstellung von den verschiedensten modernen Autorinnen und Autoren als so suggestiv empfunden, dass sie es als Parabel für bestimmte sozialwissenschaftliche Fragestellungen – insbesondere für Probleme der Herrschaftstheorie – auswählten und auslegten. Hegel hat damit so etwas wie eine Leinwand aufgespannt, worauf sich viele verschiedene, teilweise äußerst gegensätzliche sozialwissenschaftliche Thesen und Probleme projizieren ließen. Ich weiß nicht, was die eine richtige (sozialwissenschaftliche) Auslegung des Hegel‘schen Lehrstückes sein könnte. Sie gibt es mit aller Wahrscheinlichkeit gar nicht. Denn Texte selbst, erst recht so komplexe wie die Hegels, können verschiedene produktive Sinnmöglichkeiten enthalten. Eine ebenso umstrittene wie einflussreiche Sinnmöglichkeit des Textes hat beispielsweise Alexander Kojevnikov (Alexandre Kojève 1958) rekonstruiert, und im Zuge der feministischen Psychoanalysekritik hat beispielsweise Jessica Benjamin auf die Hegel’sche Parabel zurückgegriffen (J. Benjamin 1988). Im engen Rahmen dieses Aufsatzes besteht keine Möglichkeit, auf die Potentiale und Probleme der verschiedenen Wege einzugehen, auf denen Hegels Dialektik von Herr und Knecht Einfluss in den Sozialwissenschaften genommen hat. Ich muss mich darauf beschränken, einige Probleme und Thesen zusammenzustellen, die nach meiner Auffassung bei sozialwissenschaftlichen Projektionen auf die Hegel’sche Leinwand der Beachtung wert sind: 1. „Anerkennung“ als allgemeinster Ausdruck für Einstellungen und Handlungen, wodurch andere Subjekte immer zugleich als „Zweck an sich selbst“ (im Sinne Kants) geachtet und niemals nur taktisch zu Mitteln für die eigenen Zwecke herabgesetzt werden, lässt sich als Grundbestandteil vieler Elementarvorstellungen von Ethik vermuten. 2. „Anerkennung“ als ethisch-rechtlicher (politischer) Begriff verlangt die Unterstützung der Selbstständigkeit (des freien Willens) des anderen Subjekts. Jede Form der willentlichen oder strukturellen Untergrabung von Chancen der Autonomie bedeutet Unrecht. 3. Dementsprechend bilden Repression (deren Extrem der Kampf auf Leben und Tod darstellt) und reine Anerkennung die beiden Pole („Extreme“), zwischen denen sich die Dialektik von Autonomie und Heteronomie nicht nur in Hegels Kapitel über „Herr und Knecht“ abspielt. 4. Abgesehen vom vorwiegend erkenntnistheoretischen Akzent, den Hegels Para-
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bel setzt, bedeutet diese nur einen Ausschnitt aus einem viel breiteren Spektrum, worin sich die im Anerkennungsbegriff aufgehobenen Motive einer philosophia practica universalis bei ihm bewegen. Das Spektrum reicht von Mustern der empathischen Interaktion zwischen Menschen (Hegel: „Liebe“) bis zum Begriff der „konkreten Freiheit“ aus dem dritten Hauptteil der „Grundlinien der Philosophie des Rechts“, in dem die institutionellen, gesellschaftlichen und staatlichen Bedingungen „substantieller Sittlichkeit“ (vgl. RPh § 260). Diesen halte ich – in eine bestimmte Richtung ausgelegt – für die Essenz der Hegel’schen Anerkennungslehre und für einen außerordentlich brauchbaren „Maßstab“ zur Kritik von Tendenzen der Gegenwartsgesellschaft (vgl. Ritsert 2001, 54 ff.). Das klassische Rousseau-Problem betrifft das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft. Wie verhält sich die volonté générale zur volonté de tous ? Darin steckt bekanntlich auch die für Demokratietheorien zentrale Frage, wie sich die heterogenen Willensäußerungen der einzelnen Staatsbürger zu einer „vernünftigen“ Ordnung ihrer Beziehungen zusammenfassen lassen. Nach meiner Auffassung liefert die Hegel‘sche Lehre von der Konkretion, Reflexivität, Allgemeinheit und Absolutheit des Willens, die ebenfalls im Begriff der „substantiellen Sittlichkeit“ bzw. „konkreten Freiheit“ zusammenläuft, immer noch sehr hilfreiche Anstöße für demokratietheoretische Diskussionen der Gegenwart. Die Debatte über die Spielarten des „Kommunitarismus“ liefert nur einen Beleg dafür. Auch gemessen daran bewegt sich die Parabel über Herr und Knecht in einem viel engeren dyadischen Rahmen. Als Darstellung eines Herrschaftsverhältnisses hat sie jedoch mit Fug eine hohe Suggestivität für sozialwissenschaftliche Diskussionen unserer Zeit behalten. Die Deutungsvorschläge können allerdings weit auseinander liegen und eine Reihe zusätzlicher Probleme aufwerfen. Kojève beispielsweise geht vom Basisinteresse an der Selbsterhaltung des Individuums aus, das sich in Trieben, Begierden und Bedürfnissen äußert. Aber „für sich allein führt diese Begierde nur zum Selbstgefühl“, nicht zum entwickelten Selbstbewusstsein (Kojève 1975, 21). Dieses entstehe erst, wenn begehrt wird, was andere begehren, und/oder sich die Begierde des einen auf Begierden des anderen richtet (ebd., 24). Daraus macht Kojève geradenwegs einen anthropologischen Grundsachverhalt: Das menschliche Wesen insgesamt sei die Funktion einer „auf eine andere Begierde gerichteten Begierde, das heißt – letztlich – einer Begierde nach Anerkennung“ (ebd., 25). Infolgedessen erhalten Herrschaft und Knechtschaft sowie der Kampf auf Leben und Tod von ihm die geschichtsphilosophische Weihe einer historischen Notwendigkeit (vgl. ebd., 26). Die Befreiung des Knechts gilt allerdings als das ebenso
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zwangsläufige telos der geschichtlichen Entwicklung der Gattung. Auf diesem Hintergrund einer Verankerung des Anerkennungskonzepts in der Kampfmetaphorik gehen jedoch die entscheidenden normativen Gehalte des Konzepts „reiner Anerkennung“ nahezu verloren. Anerkennung wird auf den Prestigekampf reduziert. „Ohne den Prestigekampf auf Leben und Tod hätte es auf Erden niemals menschliche Wesen gegeben“ (Kojève 1975, 25). Hinter der Kategorie „Anerkennung“ steht dann nichts mehr als die Furcht vor der Übermacht oder – im harmloseren Falle – das taktisch kluge Sicheinstellen auf Reaktionsmöglichkeiten und -wahrscheinlichkeiten bedeutsamer anderer Personen. 9. Wie die Begriffe „Herr“ und „Knecht“ sozialgeschichtlich zu deuten seien, steht nicht eindeutig fest. Ludwig Siep beispielsweise begreift den Herrn als Patriarchen der Sklavengesellschaft (Siep 2000, 103 f.). Hinter dem Kampf auf Leben und Tod stehe bei Hegel das aus der Antike stammende Rechtsverständnis, der im Krieg unterlegene Feind dürfe getötet werden; es sei denn, er böte sein Leben für den Sklavendienst an. Von Natur aus als Sklave gelten im Anschluss an Aristoteles (Politik 1254b, 27 f.) überdies all diejenigen, welche über kein selbstständiges Vernunftvermögen verfügen. Leibniz spricht dementsprechend von einer „natürlichen Gemeinschaft“, worin bestimmte Personen zwar einen „Mangel an Verstand“ aufwiesen, wohl aber über die Fähigkeiten verfügten, „sich zu ernähren“ (vgl. Holz 1968, 11). Bei der Befreiungsbewegung des Knechtes habe Hegel jedoch eher an die „Emanzipation des Bürgertums vom Adel gedacht …“ (Siep ebd., 106). Im letzteren Fall hätte er also den Emanzipationsprozess der Bürger von den Feudalherren vor Augen gehabt. Bei Kojève wiederum scheint (im Sinne der marxistischen Tradition) auch an die Emanzipationsbewegung der Proletarier von der bürgerlichen Herrschaft gedacht zu werden. Wie dem auch sein mag: Klare Hinweise gibt es auf den Kern von Ungerechtigkeit in Herrschaftsverhältnissen von Menschen über Menschen überhaupt: Gesellschaftliche Strukturen und Prozesse im Zusammenspiel mit hegemonialen Kulturwertideen ermöglichen es allen Herren in der Geschichte, sich jener Arbeitsergebnisse der Unterworfenen zu bemächtigen, welche über das für die Reproduktion des Lebens des Knechtes Notwendige hinausreichen. Leibniz spricht diese allgemeine Kernvorstellung der Herrschaftssoziologie unmittelbar aus: „Denn eine solche Person ist ein Knecht von Natur, welcher arbeiten muss, wie es ihm ein anderer vorschreibt, und hat davon den Unterhalt, der Überschuss ist des Herrn“ (vgl. Holz 1969, 11). Hegels Anmerkungen zu Herrschaft als Typus asymmetrischer Anerkennung spielen zudem auf „Legitimitätsgründe“ (Weber) von Herrschaft an: Zu den charakteristischen Merkmalen „legitimer Herrschaft“ gehören Respekt aus Furcht sowie die Verinnerlichung von „Herrschafts-
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legenden“ durch den Knecht selbst, wodurch eine bestehende „Herrschaftsordnung“ besondere Stabilität gewinnen kann. Insoweit eine Herrschaftsordnung sich gegen die Chancen zur Ausbildung und Ausübung des freien Willens von Individuen und Gruppen kehrt, ist sie jedoch nach den normativen Prinzipien reiner Anerkennung als „Negativität“ zu negieren!15 Mir scheint, weder Kant noch Hegel haben gegenüber Akten der Unterdrückung des freien Willens faule Kompromisse gekannt – von Fichte gar nicht zu reden. Es handelt sich bei solchen Aktionen schlicht und einfach um Unrecht! 10. Neben diesen inneren Verbindungslinien zur Herrschaftssoziologie lässt sich nach meiner Auffassung noch eine andere, besonders tragfähige Brücke von der Parabel zu aktuellen gesellschaftswissenschaftlichen Diskussionen der Gegenwart schlagen: Kojève hat damals schon an das Projekt Hegels erinnert, die Entwicklung des Bewusstseins und Selbstbewusstseins in der Naturbasis zu verankern, ohne sie darauf zu reduzieren. Es gibt die Naturgeschichte des Geistes, der schon in Fähigkeiten und Leistungen weit „unterhalb“ des Denkens und Sprechens von Menschen zum Vorschein kommt – etwa im Selbstgefühl von Organismen, die von ihren Bedürfnissen geleitet –, selektiv auf Umweltbedingungen zu reagieren vermögen. Welche Rolle auf dieser Grundlage die Interaktion mit ihrerseits selbstständigen Subjekten für die Entwicklung der Selbstständigkeit des menschlichen Individuums spielt, das tritt in der Parabel deutlich genug hervor. All diese Motive spielen im Werk von George Herbert Mead die entscheidende Rolle (vgl. Ritsert 2001, 89 ff.). Meads Theorie liefert nach meiner Auffassung weiterhin die besten Chancen, das Hegel’sche Projekt mit den Mitteln einer soziologischen Interaktionstheorie auszubauen. Denn Mead bemüht sich bekanntlich um eine systematische Bestimmung des Verhältnisses zwischen Annahmen über die Naturgeschichte der menschlichen Gattung, der Reflexion (Ich-Identität), der Formierung des Sozialcharakters („Me“) sowie der Interaktion des Individuums mit bedeutsamen anderen. Ein Anschluss der Parabel an diese Tradition scheint mir unabhängig von der Frage fruchtbar und möglich zu sein, ob sich bei Hegel die Natur und Naturgeschichte am Ende tatsächlich als nichts mehr denn ein Gedankenprodukt des Geistes darstellt oder nicht. 11. Ich habe den Anerkennungsbegriff in einen allgemeinen politischen, gesellschaftskritischen Rahmen gestellt. Die Voraussetzungen für dieses Vorgehen suche und finde ich in den Hegel’schen Kernvorstellungen von Recht und Unrecht, wie er sie schon in seiner Nürnberger Zeit vorgetragen und in der „Rechtsphilosophie“ später ausgebaut hat (vgl. WW 4, 232 f.). Eine andere Implikation der Anerkennungslehre betrifft das Werden zum autonomen Subjekt, also Bildung. Die „Erziehung hat den Zweck, den Menschen zu einem selbstständigen Wesen zu machen, d.h. zu einem Wesen von freiem Willen“
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(WW 4; 227/§21). In elementaren Thesen wie diesen verschränken sich die ethisch-rechtlichen mit den bildungstheoretischen Implikationen der Anerkennungslehre. Von da aus könnte man sich gegenwärtig mit der brisanten Frage beschäftigen, ob diese im Anerkennungsbegriff steckende autonomieethische Norm veraltet ist, weil sie nicht länger in die „pluralisierte“ Welt „individualisierter“, auf den Märkten (gelegentlich auf Leben und Tod) kämpfender Monaden passt, die sich heutzutage aus der Vielfalt der „Lebensstile“ und „Sinnprovinzen“ eine ständig des Umbaus fähige Biographie basteln müssen. So oder so: Die Parabel von Herr und Knecht enthält unabhängig von der Autorität klassischer Lehrstücke, die man sich bei deren „Rekonstruktion“ und „Aktualisierung“ ausleihen kann, genügend Anregungen für die Bearbeitung aktueller sozialwissenschaftlicher Fragestellungen.
Anmerkungen 1 Die philosophia practica universalis umfasst – wie das Beispiel der Hegel‘schen Rechtsphilosophie belegt – Rechtslehre, Sittenlehre, Ökonomie, Staatswissenschaft und Gesellschaftstheorie. Aristoteles‘ „Nikomachische Ethik“ stellt sicherlich das klassische Vorbild dafür dar. 2 Eine denkbare Fassung der sog. „Goldenen Regel“ lautet bekanntlich: „Was Du nicht willst, das man Dir tu, das füg‘ auch keinem anderen zu.“ Die erste Formel des Kategorischen Imperativs aus der „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ begründet den berühmten Universalisierungstest für empirische Maximen: „ ... handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde“ (Kant: IV; 51/AB 52).
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3 Diese Position wiederum kommt in so verschiedenen, wenn nicht gegensätzlichen Positionen wie dem „Neo-Aristotelismus“ von M. Nussbaum und A. MacIntyre zum Vorschein. Vgl. M. Nussbaum: Menschliches Tun und soziale Gerechtigkeit. Zur Verteidigung des aristotelischen Essentialismus, in: M. Brumlik und H. Brunkhorst (Hrsg.): Gemeinschaft und Gerechtigkeit, Frankfurt/M. 1993, S. 323 ff. A. MacIntyre: Der Verlust der Tugend. Zur moralischen Krise der Gegenwart, Frankfurt/New York 1987. 4 In den Nürnberger Schriften bringt Hegel den sozialen Kontext, das Verhältnis zu anderen Menschen, ausdrücklich mit der logischen Kategorie der „Besonderheit“ in Zusammenhang: „Die Besonderheit des Menschen besteht im Verhältnis zu anderen“ (WW 4; § 39/ S. 257). 5 „Das Recht der Individuen an ihrer Besonderheit ist ebenso in der sittlichen Substantialität enthalten, denn die Besonderheit ist die äußerlich erscheinende Weise, in welcher das Sittliche existiert“ (RPh § 154). 6 „Der Wille an sich ist also ein allgemeiner Wille“, denn es gilt z.B.: „Wenn der Wille nicht ein allgemeiner wäre, so würden keine eigentlichen Gesetze stattfinden, nichts, was alle wahrhaft verpflichten würde“ (WW 4; § 18/S. 224). 7 Eine andere wesentliche Bedingung der Konkretion ist, dass der Wille „ins Dasein treten“, sich verwirklichen kann. Auf der Stufe des abstrakten Rechts geschieht das vor allem dadurch, dass er sich an Dingen festmacht. 8 Darin steckt natürlich die Universalisierungsstrategie für Maximen, die Idee der Maximenprobe aus der Lehre vom Kategorischen Imperativ bei Kant. 9 Diese Selbstbeziehung ist theoretisch und praktisch zugleich. Hegel betont immer wieder, dass der Wille eine theoretisch-praktische Einheit darstellt. 10 „Weil der Wille, nur insofern er Dasein hat, Idee oder wirklich frei und das Dasein, in welches er sich gelegt hat, Sein der Freiheit ist, so zerstört Gewalt oder Zwang in ihrem Begriff sich unmittelbar selbst ...“ (RPh § 92). 11 An dieser Stelle wäre natürlich Hegels Begriff der „Liebe“ einzuführen und ausführlicher zu diskutieren. 12 So z.B. im Anschluss an den § 105 der RPh. Dort schildert Hegel, wie die Person des abstrakten Rechts zum Subjekt wird. Nicht zuletzt dadurch, dass es zu einer „Reflexion des Willens in sich“ kommt. 13 Das Anerkennungsverhältnis zwischen Herr und Knecht enthält – gemessen an den Prinzipien reiner Anerkennung – einen Widerspruch in sich: Nicht ein selbstständiges Subjekt ist dem Herrn der Gegenstand, wodurch seine eigene Selbstständigkeit bestätigt wird, „sondern vielmehr ein unselbstständiges; er ist also nicht des Fürsichseins, als der Wahrheit gewiss, sondern seine Wahrheit ist vielmehr das unwesentliche Bewusstsein, und das unwesentliche Tun desselben“ (PhG 147). 14 „Dies Moment des reinen Fürsichseins ist auch für es, denn im Herrn ist es ihm sein Gegenstand“ (PhG 148). 15 Zu bedenken ist, dass „aufheben“ bei Hegel – wie es Zwang, Gewalt und Repression gegenüber angemessen ist – nicht nur in jenem berühmten Doppelsinn Kritiken meint, die Wahrheiten immer auch bewahren, sondern durchaus auch das Nichtige meinen kann!
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Literatur Adorno, Theodor W. 1963: Drei Studien zu Hegel. Frankfurt/M. Benjamin, Jessica 1988: Die Fesseln der Liebe. Psychoanalyse, Feminismus und das Problem der Macht. Basel/Frankfurt/M. Brumlik, Micha/Brunkhorst, Hauke (Hrsg.) 1993: Gemeinschaft und Gerechtigkeit. Frankfurt/M. Cicero, Marcus Tullius 1984: De officiis (Vom pflichtgemäßen Handeln). Stuttgart Fichte, Johann Gottlieb 1979 (1796): Grundlage des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre. Hamburg Gert, Bernard 1983: Die moralischen Regeln. Eine neue rationale Begründung der Moral. Frankfurt/M. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 1970: Werke in zwanzig Bänden. Frankfurt/M. Zitiert als WW. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Phänomenologie des Geistes (hrsg. V. J. Hoffmeister) 1952. Hamburg. Zitiert als PhG Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Grundlinien der Philosophie des Rechts 1955 (hrsg. v. J. Hoffmeister). Hamburg. Zitiert als RPh Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundriss (hrsg. v. F. Nicolin und O. Pöggeler) 1959. Hamburg. Zitiert als Enz. Holz, Hans Heinz 1969: Herr und Knecht bei Leibniz und Hegel. Neuwied und Berlin Honneth, Axel: 1992: Der Kampf um Anerkennung. Frankfurt/M. Ilting, Karl-Heinz 1973: Edition und Kommentar von Hegels Vorlesungen über Rechtsphilosophie von 1818-1831 Kant, Immanuel: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten 1963. In Kant, I.: Werke in sechs Bänden (hrsg. V. W. Weischedel), Band IV. Darmstadt. Zitiert als Kant IV Kojève, Alexandre 1975: Hegel. Kommentar zur Phänomenologie des Geistes. Frankfurt/M. MacIntyre, Alasdair 1987: Der Verlust der Tugend. Zur moralischen Krise der Gegenwart. Frankfurt/New York Popper, Karl R. 1957: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde (zwei Bände). Bern Rachels, James 1986: The Elements of Moral Philosophy. Philadelphia Reusswig, Fritz 1986: Natur und Geist. Grundlinien einer ökologischen Sittlichkeit nach Hegel 1993. Frankfurt/New York Ritsert, Jürgen 2001: Soziologie des Individuums. Darmstadt Siep, Ludwig 1979: Anerkennung als Prinzip der praktischen Philosophie. Untersuchungen zu Hegels Jenaer Philosophie des Geistes. Freiburg/München Siep; Ludwig 2000: Der Weg der Phänomenologie des Geistes. Ein einführender Kommentar zu Hegels „Differenzschrift“ und „Phänomenologie des Geistes“. Frankfurt/M. Williams, Robert R. 1997: Hegel‘s Ethics of Recognition. London
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Politische Bildung für die Demokratie: Demokratie-lernen als Kultur der Anerkennung
1. Demokratie-lernen als Kultur der Anerkennung als Philosophie politischer Bildung Wozu politische Bildung? Dass politische Bildung in Schule und Öffentlichkeit einen Kampf um Anerkennung führt, der Politikunterricht ein umstrittenes Randfach ist, hat sicher verschiedene Gründe. Ein Grund ist, dass es der politischen Bildung bis heute nicht gelungen ist, diese Frage durch eine überzeugende „Philosophie der politischen Bildung“ zu beantworten. Im alltäglichen Politikunterricht scheinen klare Auffassungen darüber zu fehlen, wofür der Fachinhalt nützlich ist und was seinen Kern ausmacht. Fachdidaktische Untersuchungen zum Politikunterricht lassen sich nämlich so zuspitzen: Politische Bildung scheitert nicht selten an einem unpolitischen Politikunterricht, in dem oft unklar, beliebig und zufällig ist, was Politik eigentlich ist und welche Aufgabe das Fach erfüllen soll (Henkenborg/Kuhn 1998a). Und auch die Politikdidaktik hat es bislang nicht geschafft, eine solche Philosophie der politischen Bildung zu entwickeln. Im Gegenteil, der Politikdidaktik, so Gerhard Himmelmann, fehle ein identitätsstiftendes Band, stattdessen vermittele sie den verwirrenden Eindruck der Profillosigkeit und der Beliebigkeit des Faches (Himmelmann 2001, 17). Dazu hat auch die Erosion ihrer traditionellen Erkenntnisinteressen und pädagogischen Ziele beigetragen. Denn wenn in der Pädagogik z.B. die Rede ist, von „einem Identitätsverlust der Pädagogik in Theorie und Praxis“ (Benner), von „Plausibilitätskrisen der großen Erzählungen“ (Oelkers) und von wachsenden „Erfahrungskrisen“ (Helsper/Combe), dann betreffen solche Diagnosen gerade die gewohnten Leitziele politischer Bildung. Ob Emanzipation, Aufklärung, Mündigkeit, Erziehung, Kritik oder Partizipation, kaum ein Baustein traditioneller Philosophien der politischen Bildung ist seit der Entzauberung der großen Erzählungen noch selbstverständlich – weder in der Theorie noch in der Praxis. Wozu also politische Bildung? Politische Bildung in der Demokratie ist politische Bildung für die Demokratie. Diese Philosophie politischer Bildung hat Kurt-Gerhard Fischer in einem einfachen Satz formuliert: „Politik und Demokratie wollen gelernt sein, um gelebt werden zu können“ (Fischer 1986). Politische Bildung erfüllt in demokratischen
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Gesellschaften deshalb eine grundlegende und unverzichtbare Aufgabe. In der Demokratie liegt die Aufgabe der Politik darin, das friedliche Miteinanderauskommen von Menschen und Gruppen durch die Herstellung und Durchsetzung von allgemeiner Verbindlichkeit zu sichern und zu regeln (Patzelt 2001, 23). Politische Bildung verwandelt dieses Kernproblem der Politik in eine pädagogische Grundfrage: Wie können Menschen und Gruppen in der Gesellschaft lernen ihr Zusammenleben zu gestalten und zu regeln? In der Auseinandersetzung mit dieser Frage kann politische Bildung eine Schule der Demokratie sein. Als Schulprinzip, als Unterrichtsprinzip sowie als eigenständiges Schulfach soll sie zur Einbürgerung der Demokratie beitragen. Kinder und Jugendliche sollen durch politische Bildung lernen, sich selbst als Subjekte der Demokratie zu begreifen. Kurz: Politische Bildung ist Demokratie lernen. Die Idee, Demokratie lernen in den Mittelpunkt der Theorie und Praxis politischer Bildung zu stellen, ist kürzlich von Gerhard Himmelmann (2001; vgl. auch den Beitrag von Himmelmann) aufgegriffen und weiterentwickelt worden. Demokratie versteht er als ein Ensemble von Beziehungen und eine Welt von Bedeutungen, die alle Aspekte menschlichen Lebens, sowohl öffentliche als auch private, umfasst. Demokratie ist dann nicht nur ein vertikales Verhältnis der Menschen zum Staat, sondern immer auch ein horizontales Verhältnis von Menschen und Gruppen untereinander (37). Demokratie in der modernen Gesellschaft entsteht aus der Verknüpfung und durch die Wechselwirkung von Demokratie als Herrschafts-, Lebens- und Gesellschaftsform. Demokratie lernen bezieht sich dann auf alle drei Aspekte der Demokratie. Die Demokratie als Herrschaftsform behandelt Demokratie lernen, wenn sich politische Bildung mit Demokratie als Form, Inhalt und Prozess auseinander setzt. Dabei geht es darum, bei Schülerinnen und Schülern ein Bewusstsein von den Bedingungen, Prinzipien und Verfahren der Demokratie als Herrschaftsform zu wecken und ihnen Handlungsmöglichkeiten durch Mitbestimmung und Partizipation zu eröffnen (188 ff.). Zweitens kann sich Demokratie lernen auf Demokratie als Gesellschaftsform beziehen, d.h. auf Demokratie als Öffentlichkeit, als Raum von Pluralismus und Konflikt und als Form der Bürgergesellschaft (269). Schließlich umfasst Demokratie lernen Demokratie als Lebensform. Diese Urform der Demokratie bezieht sich auf die personalen, sozialen und moralischen Voraussetzungen der Demokratie, auf Demokratie als soziale Idee, auf die Formen des Zusammenlebens in der Lebenswelt, z.B. in der Familie oder in der Schule. Mit der Idee der Demokratie als Lebensform greift Himmelmann eine Tradition des Demokratie lernens auf, die in der politischen Bildung mit John Dewey, mit dem Re-education-Konzept der Nachkriegszeit oder auch mit der Idee der Partnerschaftserziehung bei Friedrich Oetinger verbunden ist. Den gemeinsamen Grundgedanken dieses Ansatzes fasst Himmelmann so zusammen: Keine Demokratie als Herrschafts-
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oder Regierungsform kann lebensfähig sein „wenn die Menschen nicht in Freiheit und Gleichheit und im gleichberechtigten Zusammenwirken mit anderen Menschen die ,Fülle einer ganzheitlichen Persönlichkeit‘ erlangen und wenn die ursprüngliche ,soziale Idee‘ der Demokratie nicht in den Haltungen der Menschen im täglichen Leben verankert ist“ (43). Demokratie lernen ist an einen komplexen Demokratiebegriff gebunden und deshalb selbst in einen komplexen Lernkontext eingebunden. Politische Bildung kann sich nicht alleine auf Unterricht und auf verbale Argumentation stützen. Demokratie lernen erfordert „Modelllernen“, d.h. die Chance, sich an modellhaften Personen, Objekten, Sachverhalten oder Beziehungen zu orientieren, sie zu beobachten, zu erfahren und zu verarbeiten. Die Schulkultur selbst – und nicht alleine der Unterricht – muss zum Demokratie lernen beitragen, indem Schüler und Schülerinnen durch eigene Erfahrungen und eigenes Handeln in der Praxis von Schule und Unterricht durch eigene Erfahrungen erleben und begreifen, dass Politik die gemeinsame Regelung gemeinsamer Angelegenheiten ist (Henkenborg 1997). Die Frage ist nun, welche Bedingungen erfüllt sein müssen, damit Demokratie lernen in Schule und Unterricht gelingen kann. In der Pädagogik hat Hartmut von Hentig einen Maßstab für diese Frage formuliert, der auch für die politische Bildung gültig ist. Pädagogik wie politische Bildung können „gerade nicht die Verhältnisse ändern, sondern nur die jungen Menschen gegen diese stärken“ (von Hentig 1999, 57). Wie also kann die politische Bildung junge Menschen gegen die Verhältnisse und für die Demokratie stärken? Wenn sich Schule und Unterricht wie in der interaktionistischen Schultheorie als „Kampf um Anerkennung“ begreifen lassen, kann das Paradigma der Anerkennung (Honneth 1992) ein normativer und empirischer Orientierungsrahmen für die Theorie politischer Bildung sein. Die Chance einer positiven Selbstbeziehung ist an die Erfahrung wechselseitiger Anerkennung gebunden. Die Erfahrung sozialer Anerkennung ist die entscheidende Bedingung für die Entwicklung von Identität, Autonomie und Mündigkeit und damit für Demokratie lernen. Im Anschluss an diese Theorie der Anerkennung lässt sich sagen: Demokratie lernen kann gelingen, wenn Kinder und Jugendliche in Schule und Unterricht die Möglichkeit erhalten, Selbstvertrauen durch die Erfahrung emotionaler Zuwendung, Selbstachtung durch die Erfahrung kognitiver Achtung und Selbstschätzung durch die Erfahrung von Solidarität oder sozialer Wertschätzung zu entwickeln. Umgekehrt wird Demokratie lernen dort misslingen, wo Schülerinnen und Schülern diese Formen der Anerkennung verweigert werden und ihnen die Institution und die Personen statt mit emotionaler Zuwendung mit Einschüchterung, Beschämung oder Gleichgültigkeit, statt mit rechtlicher Anerkennung mit Entrechtung und statt mit Solidarität mit Entwürdigung begegnen (148 ff.).
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Das sozialphilosophische Paradigma der Anerkennung eignet sich aus vier Gründen als ein politikdidaktisches Paradigma, das die Voraussetzungen von Demokratie lernen konkretisiert. Erstens legt es Grundbedingungen der Persönlichkeitsentwicklung frei und enthält so eine anthropologische Basis für eine Theorie politischer Bildung. Die Idee der Anerkennung geht von einer „schwachen Anthropologie“ aus, die „einige wenige, aber elementare Bedingungen menschlichen Lebens rekonstruiert“, ohne die auch pädagogische Prozesse und Beziehungen nicht gelingen können (Honneth 2000, 67). Zweitens beschreibt es die anthropologische Grundstruktur des Politischen: „Politik entsteht in dem Zwischen-den-Menschen. … In einer monadischen Anthropologie kann das Politische nicht begründet werden“ (Meyer 1994, 203). Drittens lässt sich die Idee der Anerkennung mit der Schultheorie und der empirischen Schulgüteforschung sowie mit fachdidaktischen Prinzipien verbinden. Schülerinnen und Schüler können Selbstachtung entwickeln, wenn sich die kognitiven Anerkennungsverhältnisse einer Schule durch Partizipation, demokratische Kommunikationsstrukturen, Möglichkeiten der Selbsttätigkeit und durch eine mäeutische Lernkultur auszeichnen. Sie können Selbstvertrauen entwickeln, wenn die emotionalen Anerkennungsverhältnisse z.B. durch ein Klima des Vertrauens, durch Schülerorientierung und durch pädagogisches Engagement geprägt werden. Die Entwicklung von Selbstschätzung erfordert, dass die schulischen Anerkennungsverhältnisse Formen der solidarischen Zustimmung zu differenten Lebensweisen entwickeln. Zur Basis von Solidarität gehören dann eine Verständigung über Ziele, Werte und Aufgaben einer Schule („shared values and culture“; Schulphilosophie) ebenso dazu wie die Erfahrung friedlich durchgestandener Konflikte und Kontroversen. Die Idee der Anerkennung kann damit viertens sowohl die Ermöglichungsbedingungen von Demokratie lernen als auch die Verhinderungsbedingungen konkretisieren. Sie liefert dadurch Maßstäbe für guten und für schlechten Politikunterricht und damit für die Kritik von Schule und Politikunterricht.
2. Demokratie lernen und soziale Wertschätzung: Politische Mündigkeit als Grundkompetenz und doppelter Kompetenzbegriff Rahmungen sozialer Wertschätzung als Problem politischer Bildung Demokratie lernen als Problem sozialer Wertschätzung bedeutet, dass Kinder und Jugendliche das Gefühl von Selbstschätzung erst dann entwickeln können, wenn Schule und Unterricht ihren jeweiligen Selbst- und Weltinterpretationen, ihren Lebensstilen und Lebensformen die Erfahrung sozialer Wertschätzung entgegen-
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bringen. In der modernen Gesellschaft ist die Entwicklung sozialer Wertschätzung durch drei Rahmungen charakterisiert, mit denen jeweils besondere Probleme politischer Bildung verbunden sind. Das Problem der Anerkennung des einzelnen Schülers: Die Anerkennungsform der sozialen Wertschätzung lässt sich in Lehrerinterviews zumindest als Anspruch an die eigene Professionalität immer wieder rekonstruieren. In Aussagen wie z.B. „Kinder müssen spüren, dass man sie annimmt, wie sie sind“ oder „Schüler nicht nur als Schüler, sondern als Personen annehmen“ beschreiben Lehrer ihre Bereitschaft, die Eigenschaften und Fähigkeiten des jeweils anderen als bedeutsam für den gemeinsamen Unterricht anzuerkennen. In dieser Fähigkeit und Bereitschaft zur Solidarität kann man einen zentralen Kern der Sozialkompetenz von Sozialkundelehrern und Sozialkundelehrerinnen vermuten. Erkennbar wird auch, was soziale Wertschätzung meint. Die Anerkennung des einzelnen Schülers als von allen Verschiedenen. Durch die Anerkennungsform der sozialen Wertschätzung werden die besonderen Fähigkeiten und Leistungen der Individuen, ihr einzigartiger Beitrag zum gesellschaftlichen Leben anerkannt. Die Erfahrung sozialer Wertschätzung besteht darin, dass Subjekte gemäß dem gesellschaftlich definierten Wert ihrer konkreten Eigenschaften Anerkennung finden“ (Honneth 1992, 197). Dabei geht es also um die Anerkennung der spezifischen Selbstdarstellung und Selbstverwirklichung von besonderen Leistungen und Eigenschaften, Lebensstilen und Lebensformen, Selbst- und Weltdeutungen der jeweils besonderen Schülerinnen und Schüler. Erst diese Erfahrung sozialer Wertschätzung ermöglicht es Subjekten Selbstschätzung zu entwickeln, d.h. „ein gefühlsmäßiges Vertrauen darin, Leistungen zu erbringen oder Fähigkeiten zu besitzen, die von den übrigen Gesellschaftsmitgliedern als wertvoll anerkannt werden“ (208; 196 ff.). Zu den Ambivalenzen von Anerkennungskämpfen in der Schule gehört nun allerdings auch, dass die Schule einerseits die konkreten Eigenschaften von Schülerinnen und Schülern anerkennen soll, gleichzeitig aber aufgrund ihrer universalistischen Orientierung z.B. bei der Leistungsbewertung und Selektion gerade von den konkreten Eigenschaften der Schüler abstrahieren muss (vgl. den Beitrag von Helsper/Linkhorst in diesem Band). Die erste Frage für politische Bildung heißt: Welchen Schülern mit welchen Selbst- und Weltdeutungen und mit welchen Lebensstilen wird soziale Wertschätzung entgegengebracht oder verweigert? Das Problem der ambivalenten Aufgabenstellung: Die Entwicklung sozialer Wertschätzung in der modernen Gesellschaft – und wie die Schulforschung zeigt, auch in Schulen – ist durch eine ambivalente Aufgabenstellung gekennzeichnet. Einerseits ist die Erfahrung sozialer Wertschätzung auf einen Kontext solidarischer Wertegemeinschaften angewiesen, die sich durch einen innersubjektiv geteilten Werthorizont auszeichnen. In der modernen Gesellschaft kann dieser kulturelle
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Orientierungsrahmen nur durch einen Wertpluralismus gebildet werden: „Mit der Individualisierung der Leistung geht zwangsläufig auch einher, dass die gesellschaftlichen Wertvorstellungen sich für unterschiedliche Weisen der persönlichen Selbstverwirklichung öffnen“ (Honneth 1992, 203). Die zweite Frage ist daher, wie in der Schule „jener allgemeine Werthorizont bestimmt ist, der zugleich für verschiedene Arten der Selbstverwirklichung offen sein soll, andererseits aber auch noch als ein übergreifendes System der Wertschätzung dienen können muss“ (205). Das Problem symbolische Kämpfe um soziale Wertschätzung: Die Entwicklung sozialer Wertschätzung wird in der modernen Gesellschaft durch symbolische Kämpfe begleitet, in dem die verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen unter Bezug auf die allgemeinen Zielsetzungen „über den Wert der mit ihrer Lebensweise verbundenen Fähigkeiten miteinander streiten“ (205 f.). Die mit dieser Rahmung verbundene dritte Frage heißt: Wie kann politische Bildung für Schülerinnen und Schüler ein Raum sein, in dem solche symbolischen Kämpfe im Politikunterricht dargestellt, verhandelt oder parallelisiert werden können? Ein Rahmen für Antworten auf diese drei Fragen findet sich bei Horst Siebert: „Bildungsarbeit sollte Normen und Werte nicht ausklammern, und sich nicht auf die Vermittlung eines wertfreien, ,neutralen‘ Wissens beschränken. Eher im Gegenteil. In unserer Gesellschaft ist es wichtiger denn je, sich über Normen eines geglückten Lebens und einer demokratischen Verfassung zu verständigen. … Normativ sind die Imperative ,Du sollst, du darfst nicht‘. Emanzipatorisch ist die Haltung: ,Was muss man bedenken, wissen, berücksichtigen, um selbstverantwortlich eine begründete Entscheidung treffen zu können?‘“ (Siebert 2001, 34). Aus diesem Rahmen lassen sich drei Antworten auf die Ausgangsfragen ableiten. Politische Bildung darf Schülerinnen und Schülern erstens richtige Werte nicht vorschreiben, sondern soll Kindern und Jugendlichen eigenständige und rationale Sinn- und Wertentscheidungen ermöglichen (vgl. den Beitrag von Oechsle in diesem Band). Demokratie lernen im Sinne sozialer Wertschätzung orientiert sich deshalb an der Idee politischer Mündigkeit als einer Grundkompetenz. Zweitens: Dass politische Bildung im Sinne formaler Kompetenztheorie (Erpenbeck; Heyse 1999) formale Lernkompetenzen vermittelt, ist zweifelsfrei wichtig. Demokratie lernen muss jedoch darüber hinaus auch inhaltliche Kompetenzen vermitteln. Die Grundkompetenz politische Mündigkeit lässt sich somit durch einen doppelten Kompetenzbegriff operationalisieren. Dieser doppelte Kompetenzbegriff lässt sich in einer Lernzielmatrix darstellen, in der die formalen Kompetenzen auf der horizontalen Achse und die inhaltlichen Kompetenzen auf der vertikalen Achse angeordnet werden können (Henkenborg 2000a). Politische Bildung lässt sich so drittens als ein Kommunikationsraum vorstellen, in dem Fragen nach dem Guten und Gerechten gleichberechtigt und diskursiv behandelt werden.
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Politische Mündigkeit als Grundkompetenz von Demokratie lernen Die Grundlagenkompetenz, die Demokratie lernen vermitteln soll, kann man in der Tradition fachdidaktischen Denkens politische Mündigkeit nennen. Mündigkeit beschreibt das Persönlichkeitsideal einer demokratischen Gesellschaft. Der Mensch soll sein Leben aktiv, frei und aus Einsicht gestalten, autonom am politischen, kulturellen und gesellschaftlichen Leben teilnehmen sowie in der Lage sein, seine Pflichten, aber auch seine Rechte zu kennen und wahrzunehmen. Insofern bedeutet Mündigkeit im Umkehrschluss zu Kants Begriff der Unmündigkeit, dass sich der Mensch seines Verstandes ohne Leitung eines anderen bedienen kann, d.h. selbstbestimmt und verantwortungsfähig Entscheidungen trifft, denkt und handelt. Das bedeutet auch, dass der mündige Mensch die Strukturen seiner Lebensbedingungen kritisch reflektiert und durchschaut. Demokratie lernen als Aufgabe und Mündigkeit als Grundkompetenz weisen auf die grundlegende Rolle hin, die die Unterstellung einer rationalen und autonomen Person für Politik in einer demokratischen Gesellschaft und für eine Theorie politischer Bildung spielt. Im Anschluss an die Sozialphilosophie von Rawls hat Brumlik drei anspruchsvolle Konkretisierungen für diese Idee von Mündigkeit vorgeschlagen. Mündige Personen zeichnen sich dadurch aus, „dass sie oder er wissen und fühlen, worum es ihnen bei der Verwirklichung ihres Lebens geht; wie das Prädikat ,gerecht‘ auf Institutionen, Rechtssysteme oder ganze Gesellschaften jeweils sinnvoll anzuwenden ist; und wie im Lichte solcher Gerechtigkeitsgrundsätze auch noch die eigenen Konzeptionen eines guten Lebens verändert werden können“ (Brumlik 1997, 18). Politische Mündigkeit meint somit die gleichzeitige Befähigung zu Autonomie und Verantwortung. Die horizontale Dimension von Demokratie lernen: Politische Mündigkeit durch formale Kompetenzen Dieser allgemeine Begriff politischer Mündigkeit lässt sich in einem zweiten Schritt im Anschluss an formale Kompetenztheorien (Erpenbeck; Heyse 1999) ausdifferenzieren. Politische Mündigkeit umfasst dann: – Fachkompetenzen, d.h. die Kompetenz „geistig selbstorganisiert zu handeln … kreativ Probleme zu lösen, das Wissen sinnvoll einzuordnen und zu bewerten“ (157). Zu den Fachkompetenzen zählen a) Wissen (Fakten, Regeln, Begriffe, Definitionen), b) Erkenntnisse (z.B. Bezug auf eigene Situation; Regelmäßigkeiten; Entwicklungszusammenhänge) und c) interrationale Urteilsfähigkeit (zweckrationale Urteile: Effizienz; moralische Urteile: Legitimität; präferentielle Urteile: Wohlergehen). – Methodenkompetenzen, d.h. die Kompetenz „methodisch selbstorganisiert zu handeln, also Tätigkeiten, Aufgaben und Lösungen methodisch kreativ zu
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gestalten und von daher auch das geistige Vorgehen zu strukturieren“ (ebd.). Zu den Methodenkompetenzen zählen a) methodische Denkweisen (z.B. analytisches, strukturierendes, ganzheitliches und kreatives Denken, b) methodische Fertigkeiten (z.B. Texte lesen und verstehen; Informationen beschaffen und verarbeiten etc.) und c) metakognitive Strategien (Kontrolle des Lernens). – Sozialkompetenzen, d.h. die Kompetenz, „kommunikativ und kooperativ selbstorganisiert zu handeln, d.h. sich mit anderen kreativ auseinander und zusammenzusetzen, sich gruppen- und beziehungsorientiert zu verhalten, um neue Pläne und Ziele zu entwickeln“(ebd.). Zu den Sozialkompetenzen zählen z.B. Teamfähigkeit, Einfühlungsvermögen, Kommunikationsfähigkeit, Kooperationsbereitschaft, Konfliktfähigkeit. – Selbstkompetenzen, d.h. die Kompetenz reflexiv selbstorganisiert zu handeln (ebd.). Zu den Selbstkompetenzen zählen a) die Kompetenz zur kreativen Bedürfniserschließung; b) die Entwicklung politisch-moralischer Überzeugungen und Einstellungen und c) die Entwicklung politischer Tugenden (z.B. Toleranz, Solidarität, Zivilcourage, Gerechtigkeit, Phronesis, Bereitschaft zu rationaler Kommunikation).
Die vertikale Dimension von Demokratie lernen: Politische Mündigkeit durch inhaltliche Kompetenzen „Was für eine Welt wollen wir“ – diese Frage, fordert Hartmut von Hentig (1999, 15), darf die Pädagogik nicht offen lassen, die politische Bildung erst recht nicht. Denn ihr Wert im Kanon der Fächer liegt ja gerade darin, dass sie ein besonders geeigneter Kommunikationsraum für diese Frage ist. Dieser Kommunikationsraum lässt sich im Anschluss an die Unterscheidung zwischen Ethik und Moral, zwischen Fragen nach dem Guten und Fragen nach dem Gerechten, zwischen der ethischen und politischen Integration der Gesellschaft (Habermas 1993; Meyer 1994, 87 ff.) genauer bestimmen. Die politische Bildung ist ein Kommunikationsraum für Fragen des Guten und Gerechten. Fritz Oser und Roland Reichenbach plädieren dafür, dass ein stabiles demokratisches Leben auf beide Ressourcen angewiesen ist und politische Bildung deshalb beide Ressourcen der Selbst- und Weltinterpretation gleichberechtigt thematisieren sollte (2000, 25 ff.). Als Kommunikationsraum für gemeinsame Vorstellungen des guten Lebens erfordert politische Bildung Diskurse über Werte, Lebensziele, Gemeinschaftsbindungen, über das Verständnis von Kultur und Tradition, über Vorstellungen des Umgangs der Gesellschaftsmitglieder miteinander oder mit der Natur. Als Kommunikationsraum für Fragen nach dem Gerechten erfordert Demokratie lernen Diskurse über rationale und demokratische Verfahren, die eine gleichmäßige Achtung, gleiche Rechte sowie gleiche Lebenschancen für jeden Einzelnen garantieren und
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deshalb kollektiv verbindliche Normen und Entscheidungen hervorbringen können (Meyer 1994, 90 ff.). Dieser Kommunikationsraum für Fragen nach dem Guten und Fragen nach dem Gerechten lässt sich inhaltlich in der Tradition pädagogischer und fachdidaktischer Theorien zu Qualifikationen (z.B. Richtlinien Nordrhein-Westfalen 1987), Schlüsselqualifikationen (Weinbrenner 1991, Negt 1999) oder Fähigkeiten (von Hentig 1999) ausfüllen. Inhaltliche Kompetenzen, die Schülerinnen und Schülern die Entwicklung von Selbst- und Weltdeutungen ermöglichen, sind dann: – Identitätskompetenz, d.h. die Kompetenz der Selbst- und Fremdwahrnehmung (Ich – Wir – Ihr), – Politikkompetenz, d.h. die Fähigkeit und Bereitschaft zur politischen Teilhabe und Gestaltung (reflektiertes Beobachten – Intervention – Partizipation), – Toleranzkompetenz, d.h. die Fähigkeit, mit pluralen und kontroversen Weltverständnissen umzugehen (Konsens – Differenz – Kompromiss), – Gerechtigkeitskompetenz, d.h. die Wahrnehmungsfähigkeit für Recht und Unrecht, für Gleichheit und Ungleichheit (richtig/gerecht – falsch/ungerecht), – Ökonomische Kompetenz, d.h. die Fähigkeit, in Knappheitssituationen wirtschaftlich zu handeln (Kosten-Nutzen-Optimierung), – Historische Kompetenz, d.h. Erinnerungs- und Utopiefähigkeit (Früher – Heute – Morgen), – Ökologische Kompetenz, d.h. die Fähigkeit zu einem pfleglichen Umgang mit der Natur (bewahren/unterlassen – verändern/tun), – Technologische Kompetenz, d.h. die Fähigkeit die gesellschaftliche Wirkungen von Technik zu begreifen (Gestaltbarkeit – Verträglichkeit). Die Funktion dieser inhaltlichen Kompetenzen liegt darin, dass sie im Sinne der von Brumlik genannten Anforderungen an politische Mündigkeit als Kriterien für eine kritische Auseinandersetzung mit Politik und Gesellschaft sowie mit den jeweilig eigenen Präferenzen dienen können. Sie wirken dadurch als ein formaler Fokus für inhaltliche Fragen nach dem Guten und Gerechten in der politischen Bildung (Henkenborg 2000a).
3. Demokratie Lernen und kognitive Achtung: Pragmatisches Paradigma und Deutungslernen Die Entwicklung von Selbstachtung durch die Erfahrung kognitiver Achtung, d.h. durch die moralische Anerkennung als Träger gleicher Rechte, lässt sich in der politischen Bildung u.a. durch die von Tilman Grammes (1988) entwickelte Idee eines pragmatischen Paradigmas theoretisch erfassen und für die Praxis konkretisieren. Pragmatisches Paradigma meint die Idee, dass der Kern politischer Bildung
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sich in einer kommunikativen Praxis offener und demokratischer Verständigung kristallisiert, in der Verhandlung politischer Deutungsmuster durch „Interaktion“, „Begegnung“, „Dialog“. Nicht die Vermittlung von Stoff oder von Normen soll im Zentrum politischer Bildung stehen, sondern die individuellen Deutungsmuster und Deutungen, die Schülerinnen und Schüler in ihrer Auseinandersetzung mit den Themen politischer Bildung selbst hervorbringen. Im pragmatischen Paradigma politischer Bildung fungiert der Pädagoge als eine Vermittlungsinstanz, die in der unterrichtlichen Auseinandersetzung mit den Schlüsselproblemen politischer Bildung die Spannung zwischen dem Verallgemeinerbaren von Politik einerseits und den konkreten Gegenständen des Unterrichts sowie den lebensweltlichen Deutungsmustern der Schülerinnen und Schüler andererseits überbrücken muss. Demokratie lernen bedeutet einen mäeutischen Aufbau solcher kognitiver Strukturen, die einen verstehenden Umgang mit politischem Wissen ermöglichen. In diesem Verständnis von Transformationslernen sind Konzepte des Deutungslernens und Konzepte kategorialer Bildung die zentralen didaktischen Bezugspunkte für Demokratie lernen als Entwicklung von Selbstachtung durch die Erfahrung kognitiver Anerkennung im Politikunterricht (vgl. Henkenborg 2000a). Dieses pragmatische Paradigma politischer Bildung steht in der Tradition einer mäeutischen Pädagogik, die versucht durch „vorsichtiges Herausholen“ und „InErscheinung-Treten-Lassen“ produktiv an schon vorhandene Kompetenzen und Entwicklungsmöglichkeiten von Schülerinnen und Schülern anzuknüpfen. Diese Idee einer mäeutischen Pädagogik rechnet Koring neben der Förderung von „Selbsttätigkeit des Adressaten“ zu den regulativen Ideen pädagogischer Tätigkeit (1992, 56). Ein Kernproblem des pragmatischen Paradigmas und des alltäglichen Politikunterrichts liegt allerdings in der Frage, ob und wie sich kategoriale Bildung in Lernprozessen mit einer mäeutischen Transformation der Deutungsmuster von Schülerinnen und Schülern verbinden lässt. In der Politikdidaktik wird diese normative Frage durch fachdidaktische Prinzipien wie Schüler-, Problem-, Wissenschafts- und Handlungsorientierung sowie exemplarisches Lernen und Kontroversität beantwortet. In neuen interaktionistischen oder konstruktivistischen Theorien haben sich zu dieser Schlüsselstelle didaktischer Professionalität Theorieansätze entwickelt, die Deutungen und die Transformation von Deutungen als Dreh- und Angelpunkt für gelingende Lernprozesse begreifen (Schüßler 2000). Konzepte des Deutungslernens bieten vielleicht, ähnlich wie konstruktivistische Theorie in der allgemeinen Didaktik, keine neue Theorie politischer Bildung, sie helfen aber, fachdidaktische Prinzipien normativ zu präzisieren und damit den empirischen Blick auf professionelle Probleme des alltäglichen Politikunterrichts zu schärfen.
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Vom programmorientierten Politikunterricht zum Deutungslernen In der empirischen Unterrichtsforschung hat Koring am exemplarischen Beispiel einer Politikstunde Professionalisierungsdefizite von Lehrerinnen und Lehrern offen gelegt, vor allem ein „Schlagwortbedürfnis“, eine starke „Programmorientierung“ (1989, 319 f.) und den Widerspruch zwischen liberalem Selbstverständnis und autoritärem Verhalten (282). Ebenso belegen die interpretativen Unterrichtsanalysen von Grammes das Problem der Programmorientierung im alltäglichen Politikunterrichts: die „Verweigerung des Diskurses mit Andersdenkenden im Dienste der Effizienz von Lernprozessen“ (Grammes 1998, 102). Eine Pointe seiner Untersuchungen liegt in der These, dass solche Diskursausschlüsse quer zu Unterscheidungen von sog. „affirmativen“ und „emanzipatorischen“ Intentionen liegen. Die Programmorientierung entsteht bei Lehrerinnen und Lehrern aus einem Widerspruch zwischen progressiven Intentionen und konventionellem pädagogischem Handeln (ebd.). Konzepte des Deutungslernens fordern Lehrerinnen und Lehrer hier zu einem grundsätzlichen Perspektivenwechsel auf. Lernen wird nicht als passive Aufnahme von Informationen, sondern als ein aktiver und konstruktiver Prozess begriffen: „Aktives, konstruktives Lernern meint mehr als die aufmerksame Verarbeitung dargebotener Informationen. Es bedeutet, dass das für die Instruktion verwendete Material – Texte, Filme usw. – für sich genommen noch keine Bedeutung hat. Eine Bedeutung wird ihm erst vom Lernenden durch die aktive Konstruktion von Wissen zugewiesen. Dazu wird Wissen aus unterschiedlichen Bereichen auf eine aktuelle Aufgabenstellung bezogen und situationsspezifisch zueinander in Beziehung gesetzt. Diese Zuweisung von Bedeutungen ist ein individueller Interpretationsprozess, also abhängig vom Vorwissen, den Vorerfahrungen und Überzeugungen der Lernenden. Durch diese Prozesse der Wissenskonstruktion entstehen neue, situationsspezifische Verbindungen zwischen bisher unverbundenen Konzepten“ (Gräsel 1997, 33). Lernen bedeutet also die Differenzierung kognitiver Systeme durch Beobachtung der eigenen Wirklichkeitskonstruktionen. Deutungslernen verfolgt das Ziel, die Einsicht der Lernenden in ihre eigenen Deutungen und Konstruktionen durch die systematische Auseinandersetzung mit eigenen und fremden Deutungen zu fördern (Schüssler 2000). Den hermeneutischen Kern des Deutungslernens hat Hans Tietgens in einem prägnanten Satz zusammengefasst: Deutungslernen fragt, „wie sich in den Köpfen von Schülerinnen und Schülern die Welt malt“ (1983, 41). Aus diesem konstruktivistischen Grundsatz des Deutungslernens lassen sich fünf Gestaltungsfragen für Lehrerinnen und Lehrer gewinnen, die Anforderungen für eine professionelle Zeit- und Stoffstrukturierung sowie die Strukturierung der Lehrer-Schüler-Aktivitäten im Unterricht beschreiben (vgl. Gräsel 1997, 33 ff.):
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– Wie kann politisches Lernen als ein aktiver und konstruktiver Prozess gestaltet werden, d.h. als ein Prozess, der auf Konstruktion und Interpretation von Wissen als Zuweisen von Bedeutung gerichtet ist? – Wie kann politisches Lernen situations- und kontextgebunden gestaltet werden, d. h. wie kann das Wissen in einer bestimmten Situation aufgebaut werden und dabei neues Wissen unter Bezug auf Vorwissen konstruiert werden? – Wie kann politisches Lernen als ein selbstgesteuerter Prozess gestaltet werden, d.h. welche Lernarrangements, Lernumgebungen und tools ermöglichen, dass der Lernende den Prozess des Lernens selbst steuert? – Wie kann politisches Lernen als ein sozialer Prozess gestaltet werden, d.h. als ein Prozess, der in soziale Prozesse eingebettet ist? – Wie kann die Motivation von Schülerinnen und Schülern als eine zentrale Bedingung politischen Lernens gefördert werden?
Vom gegenstandsorientierten Unterricht zum problemorientierten Unterricht Wenn deutsche Schüler in internationalen Schulvergleichen unterdurchschnittliche Plätze einnehmen und inzwischen wieder von einer Bildungskatastrophe die Rede ist, liegt dies natürlich nicht nur, aber eben auch, daran, dass ein problemorientierter Unterricht immer noch eher eine Ausnahme als die Regel ist. Auch die politische Bildung ist hier von einem Widerspruch zwischen Anspruch und Wirklichkeit betroffen. Problemorientierung ist zwar theoretisch ein didaktisches Prinzip. Im alltäglichen Politikunterricht wird dagegen immer noch zu viel Wert auf isoliertes Faktenwissen gelegt, wird Wissen vermittelt, das im Alltag kaum angewendet werden kann und schließlich wird zu wenig Wert auf die Vermittlung von Problemlösungsstrategien gelegt. Konstruktivistische Ansätze situierten Lernens können wichtige Merkmale eines problemorientierten Unterrichts konkretisieren (Gräsel 1997). Dazu gehört z.B., dass problemorientiertes Lernen stärker von realen Problem- und Entscheidungssituationen sowie von Fällen ausgehen sollte (217). Ein zweites Ergebnis ist, dass die Gestaltung problemorientierten Lernens jenen Lernenden, die selbstgesteuertes Lernen nicht gewohnt sind, nicht einfach selbst überlassen werden, sondern durch eine Form der Modellierung unterstützt werden sollte, bei der Lehrerinnen und Lehrer bei der Lösung von Aufgaben ihre Problemlöse- und Kontrollstrategien offen legen (46 ff.). Drittens erfordert problemorientiertes Lernen, dass Probleme und Materialien auch widersprüchliche oder überflüssige Informationen enthalten, so dass es alternative Lösungsmöglichkeiten oder Widersprüche gibt und dass Lösungsversuche zu Fehlern führen können, die wiederum Lernen aus Fehlern ermöglichen. Ein viertes Ergebnis von Forschungen zum situierten Lernen ist, dass für die
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Entwicklung von Problemlösungskompetenz die Vermittlung domänspezifischer Problemlösungsstrategien außerordentlich wichtig ist (53 ff.). Übertragen auf die politische Bildung unterstreichen diese Ansätze – neben der Notwendigkeit der sukzessiven Aneignung kategorialer Schlüsselfragen für die eigenständige Analyse politischer Probleme durch Schüler – die Bedeutung von politikdidaktischen Lernwegen für die Stoffstrukturierung. So hat z.B. Bernhard Sutor für die Analyse politischer Probleme und Konflikte eine Dreiteilung des Lernprozesses in die Phasen der Situationsanalyse (Grundfrage: Was ist?), Möglichkeitserörterung (Grundfrage: Was ist möglich?) und Urteilsbildung (Grundfrage: Was soll sein?) vorgeschlagen. Grammes nennt solche Lernwege „prototypische Inszenierungsmuster“, die reale Entscheidungsabläufe in Gesellschaft und Politik mit Lernwegen „parallelisieren, so dass Inhalts- und Methodenebene korrespondieren“ (Grammes 2000a, 31). Solche Lernwege können im Politikunterricht eine dreifache Funktion übernehmen. Sie sind erstens gleichsam Modelle des Politischen, in denen das Exemplarische und Verallgemeinerbare von Politik in modernen Demokratien erkennbar wird. Sie ermöglichen zweitens eine zeitliche und thematische Gliederung einer Unterrichtseinheit, einer Unterrichtsstunde und damit des Unterrichtsverlaufes, und sie gewährleisten dadurch drittens einen gerichteten Prozess der Urteilsbildung, der durch eine sinnvoll aufeinander bezogene Abfolge von Erkenntnisschritten strukturiert ist. Schließlich betonen Konzepte situierten Lernens die Bedeutung metakognitiver Kontrollstrategien, Monitoring (Überwachung des eigenen Lernens, z.B. Fehler erkennen), Selbst-Diagnose (Ursachen für die Fehler finden, z.B. in der Lernumgebung oder im eigenen fehlerhaften Verhalten) und Regulation (Möglichkeiten, die Fehler zu beheben) (Gräsel 1997, 71 ff.).
Von der Vermittlungsperspektive zur Aneignungsperspektive Deutungslernen rückt die Auseinandersetzung mit den Deutungsmustern von Schülerinnen und Schülern in den Mittelpunkt des Unterrichts. Konzeptionen des Deutungslernens setzen voraus, dass die Konstruktion von Wissen im Unterricht entscheidend durch die Deutungen der Welt bestimmt wird, die Schülerinnen und Schüler immer schon mitbringen. Unter derartigen Deutungen werden so unterschiedliche Sichtweisen verstanden wie geronnene Erfahrungen, subjektive Einstellungen, Werte und Normen, Weltbilder oder Sinnentwürfe, die im alltäglichen Handeln zur Orientierung dienen. Sofern sich dabei kollektive Sinngehalte herausbilden, auf die Individuen auch unbewusst zurückgreifen können, lässt sich von Deutungsmustern sprechen. Hermeneutisch und semantisch betrachtet, sind Deutungsmuster Interpretationskonstrukte, d.h. Deutungsmuster sind keine Abbilder von Realität, sondern die beteiligten Akteure bauen ihre soziale Wirklichkeit eigenständig auf.
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Im alltäglichen Politikunterricht wird die Bedeutung der individuellen Deutungsmuster für die Konstruktion von Wissen, so die Ergebnisse der interpretativen Unterrichtsforschung, immer wieder durch zwei Professionsfehler unterlaufen: durch die fehlende Aufmerksamkeit von Lehrerinnen und Lehrern für die interaktive Struktur und Dynamik von Lernprozessen einerseits und durch ein Deutungsdefizit gegenüber den Themenverarbeitungsprozessen von Schülerinnen und Schülern andererseits. Dadurch kommt es im Unterricht immer wieder zu unbeabsichtigten Diskursausschlüssen. Grammes spricht sogar von einem strukturellen Risiko des Unterlaufens von Diskursivität in gesellschaftlich-politischen Lernprozessen (Grammes 2000a). Konzepte des Deutungslernens enthalten verschiedene Fragen, mit denen der Blick auf solche hermeneutischen Professionsdefizite geschärft werden kann. Wie werden die Rahmungsdifferenzen zwischen wissenschaftlichen Rahmungen von Themen durch Lehrerinnen und Lehrern einerseits und den lebensweltlichen Rahmungen der Themen durch Schüler im Unterricht andererseits berücksichtigt? Wie entwickeln sich Themen im Verlauf der Unterrichtsinteraktion, d.h., wie werden Lernthemen konstruiert und wie wachsen sie (Henkenborg 2000b; Siebert 2001, 44)? Der zentrale Perspektivenwechsel, zu dem Konzepte des Deutungslernens Lehrerinnen und Lehrer auffordern, liegt aber wohl in der Forderung, Unterricht nicht aus der Vermittlungsperspektive zu betrachten, sondern aus der Aneignungsperspektive (Siebert 2001, 36). Konzepte des Deutungslernens teilen die Annahme, dass Lernen und Lehren konstruktive Aktivitäten sind und dass Wissens- und Handlungskompetenz erst dann entsteht, wenn Lernende ihr bereits vorhandenes persönliches Wissen mit dem wissenschaftlichen Wissen verbinden können, so dass sie fähig sind, in individuellen und sozialen Situationen adäquat zu handeln. Zentral im Sinne von Schülerorientierung ist es deshalb, dass der Politikunterricht Ausdrucksmöglichkeiten für die „Rohstoffe des Politischen“ (Leidensdruck, Enttäuschungen, Aggressionen, Ängste, Vorurteile, aber auch Sehnsüchte, Hoffnungen und Leidenschaften) von Kindern und Jugendlichen (subjektive Epistemologie) bietet. Zur Professionalität im Politikunterricht gehört, dass Lehrerinnen und Lehrer Toleranz entwickeln für Entstehung, Aufbau, Attraktivität und Funktion (Viabilität) der subjektiven Deutungsmuster von Schülerinnen und Schülern. Ob Distanz zur Praxis der Demokratie und zur klassischen Politik in Institutionen und mit kollektiven Akteuren institutioneller Politik oder ob wie bei einer wachsenden Minderheit von Jugendlichen Rückzug in politische Apathie und Anfälligkeit für Rechtsradikalismus, Gewaltbereitschaft und Fremdenfeindlichkeit – eine zentrale Frage für Demokratie lernen – lässt sich jedes Mal im Anschluss an Albert Scherr (1995) so formulieren: Wie entstehen Deutungsmuster von Kindern und Jugendlichen aus der Wahrnehmung ihrer jeweiligen Lebenssituation und was macht die
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jeweiligen Deutungsmuster und Haltungen im Kontext ihrer besonderen Lebenssituation attraktiv und andere unattraktiv (Scherr 1995)?
Vom belehrenden Politikunterricht zu einer „Kultur der Differenzen“ Politische Bildung braucht eine „Kultur des Dissenses“ (George). Diese Forderung lässt sich mit konstruktivistischen Lerntheorien auf die These zuspitzen: Nicht das voreilige Einverständnis ist lernfördernd, sondern der Unterschied, die Kontroverse, die Aufklärung von relevanten Differenzen. Deutungslernen in der Sozialkunde ist in diesem Sinne immer ein Umgang mit Fremden, mit fremden Gewissheiten, Deutungsmustern, Lebensstilen oder Gefühlen (Arnold; Siebert 1997). Dies ist umso dringlicher, weil das Prinzip der Kontroversität mit Ambivalenzen verbunden ist. Einerseits lässt sich unsere Gesellschaft als „Zeitalter der Ambivalenz“ (Beck) charakterisieren und wird Toleranzkompetenz, d.h. die Fähigkeit mit Ambivalenzen, Unsicherheit umzugehen, zu einer Schlüsselkompetenz. Andererseits kommt es im alltäglichen Politikunterricht immer wieder zu Schwierigkeiten im Umgang mit Kontroversität und Ambivalenz, und zwar sowohl bei Schülern (vgl. den Beitrag von Reinhardt in diesem Band) als auch bei Lehrern. Die interpretative Unterrichtsforschung weist hier auf grundlegende Professionsdefizite hin – auf Tendenzen zum pädagogischem Fundamentalismus, auf die Strategie, Mehrdeutigkeit durch Eindeutigkeit zu ersetzen sowie auf Tendenzen der Belehrung, Moralisierung oder Überwältigung (Henkenborg 2000b). Diese Missachtung von Anerkennungsbedürfnissen verhindert, dass der Unterricht zu einem tatsächlichen Kommunikationsraum mit politischen Deutungsmustern von Schülern und Schülerinnen wird – besonders dann, wenn Schüler von den Normalitätserwartungen der Lehrer abweichen. Wenn politische Bildung tatsächlich eine Kultur der Differenzen entwickeln soll, bedeutet didaktische Reduktion immer auch die Fähigkeit, die Zuspitzung von Ambivalenzen und strukturellen Konflikten mitzudenken. Professionalität heißt dann, dass es Lehrern und Lehrerinnen gelingt, voreilige Einverständnisse zu vermeiden und stattdessen Differenzerfahrungen methodisch in „fruchtbare Momente des Lernens“ zu verwandeln, z.B. durch Strategien wie Perspektivenvielfalt, Multiperspektivität, Perspektivenübernahme, Perspektivenverfremdung oder Refraiming. Vom Frontalunterricht zu einer schüleraktiven Lernkultur Dass sich die Probleme von Demokratie lernen im Alltag von Schule und Unterricht in der antiquierten Lernkultur der heutigen Schule wie in einem Brennglas bündeln, ist im Bewusstsein von Lehrerinnen und Lehrern durchaus präsent. Dafür ein Beispiel aus einem Interviewausschnitt:
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„Dann müsste vielleicht auch der ganze Stundenplan anders aussehen. Die Einteilung in diese 45 Minuten ginge auch nicht, wenn du so an Komplexen arbeitest, selbstständig. Du müsstest fächerübergreifend arbeiten und ja, du müsstest so Anleiter werden und Impulse geben. Aber es würde eben wegfallen, so ein Frontalunterricht. Oder auch falsche Wege gehen, das müsste man eigentlich zulassen. Also müsste eigentlich die ganze Struktur in der Schule anders sein.“1
Dieser Sozialkundelehrer einer Gesamtschule formuliert wichtige positive und negative Gegenhorizonte zur dringenden Reform der schulischen Lernkultur: z.B. arbeitsteilige Spezialisierung in Fächer statt fächerübergreifendes Lernen, starres Zeitregime statt flexible Zeitgestaltung, rezeptives Lernen statt selbstständiges, schüleraktives Lernen. Seine Schulkritik müsste nur um wenige Stichpunkte ergänzt werden, um vollständig zu sein, z.B. geschlossene Schulwelt statt Öffnung von Schule, Isolierung statt Kooperation, Hierarchie statt Partizipation und Vereinheitlichung statt Differenzierung. Sicher liegen die Ursachen für die Mächtigkeit und Stabilität der traditionellen Lernkultur auch in der Institution Schule, aber eben auch in den professionellen Defiziten der Lehrerinnen und Lehrer. Auch das ist im Alltagsbewusstsein präsent: „Ein Grund ist, also natürlich, das ist das herkömmliche Modell, an dem sich äh letzendlich alle Kollegen festhalten. Und das gibt einem natürlich auch irgendwie, wenn man das über Jahre macht, natürlich auch eine gewisse Sicherheit.“
Deutlich wird hier, dass unabhängig von den institutionellen Bedingungen ein Zusammenhang zwischen traditioneller Lernkultur und mangelnder professioneller Methodenkompetenz besteht. Dieser Zusammenhang wird nirgendwo erkennbarer als im Herzstück der traditionellen Lernkultur, dem Lehrer-SchülerGespräch. Die interpretative Unterrichtsforschung zeigt, dass diese Kernmethode des Unterrichts insbesondere an zwei Defiziten leidet: Erstens an „Erfindungsaufgaben“ (Grell), d.h. an Aufgaben, bei denen Schüler nicht genau wissen, wie sie vorgehen sollen und für die ihnen kein Informationsinput angeboten wird, den sie selbst verarbeiten können. Zweitens am Trichter-Modell, d.h. an der ständig sich wiederholenden Trias von Lehrerfrage, Schülerantwort und Lehrerbewertung. Im Trichter-Modell wird die Meinung der Schüler nur im Rahmen immer schon bekannter Antworten und technologisch geplanter Unterrichtsverläufe zugelassen. In diesem Trichter-Modell wird die Komplexität des Unterrichts dadurch reduziert, dass zwischen Lehrer und Schülern ein durch einengende Fragen und lokal darauf bezogene Antworten eingeengter Gesprächsraum entsteht: „Dadurch wird ein Aufgabenbearbeitungsprozess hervorgebracht, der einerseits zwar zur Lösung der Aufgabe führt, für den andererseits der Schüler keine umfassende Problemsicht und kein reflektiertes Lösungshandeln benötigt“ (Krumheuer/Voigt 1991, 23). In diesem eingeengten Gesprächsraum stören dann immer drei Sorten von Antworten: die intelligente Antwort, die beiseite geschoben werden muss, der Fehler und die Antwort, die nicht in das Programm des Lehrers passt.
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Demokratie lernen braucht eine Lernkultur, die mehr Raum für schüleraktives und selbstgesteuertes Lernen lässt. Tilman Grammes hat hierzu folgendes Prüfkriterium einer dezentralen Unterrichtsentwicklung formuliert: „Erwerben die Schülerinnen und Schüler systematisch eine Methodenkompetenz, um zunehmend selbständig an gesellschaftlich-politische Probleme heranzugehen? Wird dazu im Schulprogramm eine für alle Fächer koordinierte Methodenprogression ausgewiesen? Stehen auch gegenstandsspezifische Methoden im Zentrum: Regeln und Verfahren der demokratischen Konfliktbearbeitung und Entscheidungsfindung: soziale Regeln, Verfahren parlamentarischer Willensbildung, Gerichtsverfahren, Marktordnung, Öffentlichkeit/Medien?“ (Grammes 2000b, 7) Sicher benötigt eine Veränderung der schulischen Lernkultur institutionelle Reformen, aber eben auch eine Erweiterung der Methodenkompetenz von Lehrerinnen und Lehrern.
4. Demokratie lernen und emotionale Zuwendung: Politiklehrerinnen und Politiklehrer als orientierende Erwachsene Während in den Diskussionen der Pädagogik und außerschulischen Jugendbildung Fragen nach der Begründung des Pädagogischen, nach Beziehungsstrukturen und nach dem Personenaspekt des pädagogischen Verhältnisses (vgl. den Beitrag von Hafeneger in diesem Band) eine wichtige Rolle spielen, werden solche Probleme in der schulischen politischen Bildung bislang kaum geführt. Die Politikdidaktik unterschätzt damit die emotionalen Bedingungen und Voraussetzungen von Demokratie lernen. Demokratie lernen als Entwicklung von Mündigkeit ist nämlich an gelingende Identitätsbildung gebunden: „Wer Demokratie fördern will, muss … zur gelingenden Identitätsbildung der Menschen (Kinder und Jugendliche) beitragen“ (Himmelmann 2000, 252). Gelingende Identitätsbildung ist wiederum an die Entwicklung von Selbstvertrauen durch die Erfahrung emotionaler Zuwendung gebunden. Demokratie lernen erfordert deshalb stets eine Kultur emotionaler Zuwendung. Die Anerkennungsform der emotionalen Zuwendung bezieht Honneth (1994) auf Primärbeziehungen, wie sie z.B. in Eltern-Kind-Beziehungen, Liebesbeziehungen oder in Freundschaften zu finden sind. Solche Anerkennungsbeziehungen deutet er als eine durch Zuwendung begleitete, ja unterstützende Respektierung von Selbsttätigkeit, weil sie „aus starken Gefühlsbindungen zwischen wenigen Personen“ bestehen und den „Charakter affektiver Ermutigung“ (153) besitzen. In dieser Erfahrung emotionaler Zuwendung ist die Chance der Entwicklung von Selbstvertrauen, d.h. eines elementaren Vertrauens in sich selber und in die
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eigenen Bedürfnisimpulse angelegt (ebd., 153). Natürlich lassen sich emotionale Anerkennungsbeziehungen in pädagogischen Beziehungen, wie z.B. der politischen Bildung, nicht als emotionale Zuwendung in der Form denken wie in Eltern-Kind-Beziehungen, in Liebesbeziehungen oder in Freundschaften. Unbestritten ist aber, dass Schule und Unterricht genauso wie politische Bildung Kindern und Jugendlichen eine unterstützende Bejahung von Selbsttätigkeit ermöglichen müssen. Darin lässt sich gleichsam eine „regulative Idee“ jeder pädagogischen Tätigkeit sehen (Koring 1992, 56). Die Fähigkeit und Bereitschaft zur Persönlichkeitsentwicklung von Kindern und Jugendlichen durch eine Kultur emotionaler Zuwendung beizutragen, gehört deshalb aus identitätstheoretischen, aber auch aus schultheoretischen und aus jugendsoziologischen Gründen zum Professionskern politischer Bildner. Umgekehrt muss Demokratie lernen dort misslingen, wo die pädagogische Beziehung durch Formen emotionaler Missachtung geprägt sind, z.B. durch Angst, Beschämung oder Gleichgültigkeit. Gleichzeitig liegt hier aber auch eine riskante Bruchstelle für eine Kultur emotionaler Zuwendung des Demokratie lernens. Empirisch und normativ ist es in der Pädagogik umstritten, welche Form emotionale Zuwendung in der heutigen Schule annehmen kann. Sollen politische Bildner in ihr Professionsverständnis Vorstellungen von Schule als Netzwerk und einer stärkeren sozialpädagogischen Orientierung der Schule aufnehmen oder sollen sie sich auf Unterricht als den Kern der Schule und damit auch von Demokratie lernen beschränken? Und kann das pädagogische Mandat politischer Bildner heute überhaupt ein ganzheitliches Mandat sein, das nicht nur Lernen, sondern auch Erziehung umfasst? Oder lässt sich das professionelle Mandat auf das Modell des Lernhelfers und auf eine „Pädagogik der Lernhilfe“ begrenzen, die nicht erziehen, sondern Lernen ermöglichen will (Koring 1992)? Oder findet Pädagogik ihr Leitmotiv heute in einem „Bewältigungsparadigama“, in dessen Mittelpunkt „das Streben nach subjektiver Handlungsfähigkeit in kritischen Lebenssituationen“ steht (Bönisch; Schröer 2001, 221)? Finden Politiklehrerinnen und -lehrer im Konzept der Lehrerrolle eine professionelle Orientierung oder bietet „der Blick auf das Lehrersein“ mehr Perspektiven für ein professionelles Selbstbild (179)? Was also kann eine Kultur emotionaler Zuwendung in der politischen Bildung bedeuten? Wenn es richtig ist, dass Jugendliche „Erwachsene suchen, um sich an Modellen für das Erwachsenwerden gleichermaßen orientieren und abgrenzen zu können“ (Böhnisch 1996, 82; vgl. den Beitrag von Hafeneger in diesem Band), dann kann eine Kultur emotionaler Zuwendung des Demokratielernens Folgendes bedeuten: Politische Bildner können Kindern und Jugendlichen als „orientierende Erwachsene“ (Hafeneger 1995, 109) dienen, d.h. Modelle sein für eine Bürgerrolle und für eine Erwachsenenrolle, die durch Formen bezogener Individuation gekennzeichnet ist (vgl. Henkenborg 1998b).
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Orientierende Erwachsene und Bürgerrolle Die Idee vom Modell-Lernen kann auch als Lernen durch und an Vorbildern bezeichnet werden. Diese Idee ist der Schule in einer Gesellschaft die „idolozid“ (Leggewie) ist, in der die Vorbilder zunächst suspekt und dann knapp wurden, fremd geworden. Dass Mündigkeit Ich-Stärke voraussetzt, bedeutet nicht, dass Kinder und Jugendliche keine Vorbilder brauchen. Im Gegenteil: „Vorbilder deshalb, weil es sozusagen zu unserem seelischem Lebensprogramm gehört, dass wir andere Menschen nicht nur imitieren, sie in ihren Reden nachahmen, sondern dass wir uns auch mit ihnen identifizieren, so sein wollen wie sie, ihren Erwartungen und Wertvorstellungen entsprechen wollen. … Wir brauchen ‚Modelle’, an denen wir lernen, so dass in uns, ,innere Bilder‘ entstehen davon, was ein guter Mensch, was ein gutes und richtiges Leben sei, Bilder, an denen wir uns messen und ausrichten, damit wir uns besser verstehen, wie und nach welchen Maßstäben wir selbst leben wollen“ (Becker 1993, 329). Zur pädagogischen Professionalität von Lehrerinnen und Lehrern gehört die Verantwortung für die „inneren Bilder“, die sie selbst gewollt oder ungewollt hervorbringen. Nun ist in der Politikdidaktik umstritten, an welchem Bürgerbild Demokratie lernen sich orientieren soll, etwa am Modell des Aktivbürgers, am Modell des reflektierten Zuschauers oder am Modell des interventionsfähigen Bürgers (Massing 1999). Solche Unsicherheiten betreffen ja nicht nur die Schülerinnen und Schüler, sondern auch die Lehrer und Lehrerinnen selbst. Denn die Frage ist doch, welches Bürgerbild die politischen Bildner selbst repräsentieren und vermitteln wollen. Auf welche Bürgermodelle treffen Schülerinnen und Schüler? Wahrscheinlich repräsentieren Lehrerinnen und Lehrer nicht nur positive Politikbilder, denn Politikverdrossenheit und Distanz gegenüber Politik lassen sich in West und Ost feststellen. So sagt z.B. ein Politiklehrer der 68er-Generation aus den alten Bundesländern: „Politisch bin ich nicht mehr engagiert ich war politisch engagiert, in den 70ern, sehr aktiv, und in den 60ern, äh, damit hängt auch so ne Systemkrise für mich zusammen, so ne persönliche Krise nämlich … der Radikalenerlass spielt da für mich ne Rolle, ehm, es hat im Prinzip auch dazu geführt, dass ich heute versuche systematischer an politische Ereignisse heranzugehen, äh, dass ich sie distanzierter sehe, versuche auch emotionsloser zu betrachten, sie mehr für mich zu strukturieren und ehm bei vielen Dingen auch etwas mehr Gelassenheit, vielleicht hängt das auch mitm Alter zusammen, dann versuche walten zu lassen.“
Deutlich wird hier ein vielleicht nicht untypisches Deutungsmuster dieser Generation, welches die politische Bildung in den alten Bundesländern immer noch bestimmt. Die Idee einer aktiven Teilhabe an der Politik ist bei vielen Lehrerinnen und Lehrern als sinnvolles Element der eigenen Biographie und von Gemeinsinn vielfach enttäuscht und damit blass geworden. Die Frage ist, ob der Politikunterricht noch ein Ort ist, an dem Politiklehrerinnen und -lehrer versuchen, ihren
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Schülern politisches Engagement als Wert mit pädagogischem Takt durch die Art ihres Gegenstandsverhältnisses nahe zu bringen. In den neuen Bundesländern fühlten sich nach einer 1994 durchgeführten Untersuchung der Bundeszentrale für politische Bildung etwa 40 Prozent der Politiklehrer durch das politische System der BRD überwältigt und etwa zwei Drittel der Lehrer durch den Pluralismus des politikwissenschaftlichen Denkens „überhaupt“ überfordert (Muszynski 1998, 4). In Lehrerinterviews finden sich Hinweise auf solche Überforderungen auch heute noch. So antwortet eine engagierte Lehrerin, die an einer sächsischen Reformschule tätig ist, auf eine Frage zum Thema Parteien: „Da hab ich … keine richtige Idee. Weil, das ist mir persönlich nicht so wichtig. Ich halte da nicht viel davon. Egal, welche Partei, also in der Bundesregierung nun die Regierung bildet, es kommt im Prinzip irgendwo das Gleiche raus. Und das ist ja auch eine Meinung, die eigentlich in Deutschland sehr verbreitet ist. Und mit Sicherheit in anderen demokratischen Staaten auch. Und das ist ja auch so, dass eben sehr alte Leuten in den Parteien … die Spitzenpositionen innehaben und wie soll ich da junge Leute motivieren, dass sie mitreden können? Das ist alles ein bisschen kurios. Und da hab ich eben keine gute Idee, weil ich stell den Schülern das dann auch kurios dar.“
„Die Lehrer sind sichere Stützen der Gesellschaft in der sie leben, kaum aber der Demokratie als politischem System. Zwar akzeptieren sie die Form des demokratischen Staates, wie er sich in der Bundesrepublik etablierte; von einem reflektierten demokratischen Bewusstsein allerdings kann bei den meisten kaum gesprochen werden“( Becker/Herkommer/Bergmann 1967, 65). Ende der 60er Jahre haben Becker/Herkommer/Bergmann auf diese Weise die Brüche und Widersprüche zwischen dem Selbstverständnis einer demokratischen Gesellschaft einerseits und dem Wissen und den Einstellungen einer durch den Nationalsozialismus geprägten Lehrergeneration andererseits beschrieben. Zu den im Vergleich zu Westdeutschland ganz sicher schwierigeren Bedingungen von Demokratie lernen in den neuen Bundesländern gehört, dass ähnliche desinteressierte, unpolitische und formaldemokratische Denkweisen bei den Lehrerinnen und Lehrern fortleben und als Grenzen eines gelingenden Bürgerbildes wirken.
Orientierende Erwachsene und bezogene Individuation Dass Demokratie lernen ohne Erziehung nicht gelingen kann, dass aber die Chancen für Erziehung begrenzt sind, gehört zu den grundlegenden Ambivalenzen politischer Bildung. Im alltäglichen Politikunterricht ist Erziehung immer mit anstrengenden und riskanten Anerkennungskämpfen verbunden. So erzählt z.B. ein in der Schülerunion aktiver Gymnasiast: „Also ich musste vor einem Vierteljahr meine Leistungskurse wechseln, weil ich in Gemeinschaftskunde einen Lehrer hatte, der, … mir bei jedem Satz, den ich sagte, sagte es wär
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Parteigeschwätz, mir quasi für alles, was ich gesagt hab, Punkte abgezogen hat, … äh es also es war kein Auskommen mehr möglich. Andererseits muss ich diesem Lehrer zugute halten, vielleicht hat er auch dazu beigetragen, dass ich eben nicht ganz so verbohrt bin. Also dass ist vielleicht auch so eine Aufgabe von Lehrern, die Schüler vielleicht wenn sie sich in der Partei engagieren so ein bisschen von dieser Parteilinie abzubringen, aber so dann zum kritischen Denken zu verhelfen. … Und da bin ich diesem Lehrer – auch wenn ich ihn nicht mag – auch ein bisschen dankbar. … ich ein bisschen gemerkt hab, dass man da viel kritischer sein kann und muss.“
In diesem Kampf um Anerkennung kommt es von Seiten des Schülers zum Kommunikationsabbruch, weil der Lehrer die Äußerungen und das Engagement des Jungen missachtet. Paradoxerweise schätzt der Schüler diesen Lehrer, weil er von ihm Bilder für politisches Erwachsenwerden bekommt, z.B. dass man auch gegenüber der eigenen politischen Jugendorganisation kritischer sein kann und muss. Übertragen auf den Fall kann man zunächst sagen: Der Junge ist seinem Lehrer dankbar, weil bei ihm ein Prozess des Refraiming stattgefunden hat. Erstens ist ihm bewusst geworden, dass seine „meaning perspectives“ (Mitgliedschaft in der Schülerunion) einschränkend auf seine Wahrnehmung gewirkt haben. Zweitens hat er seine gewohnten „meaning perspectives“ geändert (… „nicht mehr ganz so verbohrt bin“). Drittens zieht er die neuen Einsichten als Grundlage für zukünftige Entscheidungen heran ( „… dass ich da kritischer sein kann und muss“). Bemerkenswert ist, dass dieser Umdeutungsprozess bei dem Schüler stattfindet, obwohl der Lehrer unprofessionell agiert. Der Schüler bricht den Kommunikationszusammenhang mit seinem Lehrer ab, weil der ihm mit Kränkungen und Entwertungen („Parteigeschwätz“) oder Benachteiligungen („mir quasi für alles, was ich gesagt hab, Punkte abgezogen hat“) begegnet und ihm so die Erfahrung gegenseitiger Wertschätzung verweigert. Wie lässt sich dieser Anerkennungskampf nun mit Blick auf die Erwachsenenrolle interpretieren? Wenn Demokratie lernen politische Mündigkeit ermöglichen soll, darf politische Bildung Jugendlichen ihre Selbst- und Weltentwürfe nicht vorschreiben und Entwicklungsaufgaben im Zusammenhang mit Identitätsbildung nicht abnehmen. Dennoch spielen politische Bildner im Selbstfindungsprozess von Kindern und Jugendlichen als „verwendete Objekte“ eine wichtige Rolle (Müller 1995). Wozu politische Bildner bereit sein müssen, beschreibt Hafeneger: „Jugendlichen als Gegenüber und personale Umwelt zu fungieren, sich als Identifikations-, Verarbeitungs-, Ablösungs-, Test- und Ersatzobjekt bereitzuhalten, sich als anerkennende begleitende und streitende Person anzubieten und benutzen und verwenden zu lassen“ (Hafeneger 1995, 109). Das erfordert einerseits die Fähigkeit Kinder und Jugendliche mit „Gegenpositionen in angemessener Sicht- und Erlebnisweite“ zu konfrontieren, die auch Umdeutungsprozesse auslösen können. Der Lehrer bietet sich dem Schüler zwar als Folie für solche Gegenpositionen an, aber eben nicht in einer anerkennungstheoretisch angemessenen Weise.
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Aus einer psychologischen Perspektive erfordert dieser Professionsanteil nämlich die Fähigkeit und Bereitschaft zu Prozessen „bezogener Individuation“, die eine gelungene Balance von „Individuation mit“ und „Individuation gegen“ erfordern, d.h. eine Beziehungsdialektik von Prozessen, die sowohl Individuation und Trennung als auch neue Formen und Ebenen von Bezogenheit ermöglichen und verlangen. Von einer „Individuation mit“ kann man sprechen, „wenn sich die Beiträge der Partner von diesen gleichsam unbemerkt und mühelos in Individuationsfortschritte umsetzen … Allerdings gibt es im Individuationsprozess Situationen und Phasen, in denen sich die Beiträge der Partner nur unter den Zeichen eines Konfliktes in Individuationsfortschritte umsetzen. Um mich zu individuieren, muss ich auch Gegenpositionen in angemessener Sicht- und Erlebnisweite haben, muss ich bereit sein, auch ,Gegen‘ durchzuhalten, zu meiner eigenen Person zu stehen, Konflikte nicht zu scheuen und dadurch ein Gefühl der eigenen Identität und Integrität zu entwickeln und zu festigen“ (Stierlin 1994, 119).
Orientierende Erwachsene und Vertrauen In der pädagogischen Theorie werden die Typen (Modelle) „Ganzheitlichkeit“ und „Lernhelfer“ sehr kontrovers diskutiert. Nun hat eine solche zugespitzte Entgegensetzung von zwei Modellen des pädagogischen Mandats bei aller Fruchtbarkeit auch einen negativen Effekt. Die kontoverse Diskussion verdeckt nämlich, dass in der Praxis die Grenzziehungen zwischen diesen beiden Modellen schwieriger und Grenzüberschreitungen wahrscheinlicher sind als in der Theorie. Interviews mit Politiklehrern und -lehrerinnen legen jedenfalls die Hypothese nahe, dass solche Typen in der Praxis komplexer und ambivalenter sind und das deren Praxis – unabhängig davon, ob sie sich z.B. eher als ganzheitliche Erzieher oder eher als Moderatoren verstehen – stärkere Übereinstimmungen aufweist, als man vermuten könnte. Demokratie lernen im Politikunterricht kann offensichtlich ohne ein Minimum emotionaler Zuwendung nicht gelingen. Eine Berufsschullehrerin formuliert diese Voraussetzung der Profession so: „Ich würd’s nicht als lieben bezeichnen, aber ich glaube, dass für ‘ne, für erfolgreichen Unterricht Grundsympathie und Stück auch Affinität zur Zielgruppe notwendig ist. Wenn ich die Zielgruppen, die ich habe, ablehne oder ähm, es auch ähm, ich es eigentlich, ich eigentlich mit den nicht arbeiten will, dann kann es meines Erachtens auch kaum zu gelungenem Unterricht kommen. Die Schüler auch sehr sensibel sind äh, und das merken. … Also ich glaube, dass in der Arbeit mit benachteiligten Jugendlichen es wichtig ist, dass die äh, dass es ‘ne persönliche Beziehung gibt zwischen Schülern und Lehrkraft. Dass ähm, die Schüler … ja oder dass, dass man im Grunde an den unterschiedlichen Voraussetzungen ansetzt, die die Schüler mitbringen und ähm, dass ihnen deutlich wird, warum oder dass ihnen, dass ihnen klar ist, warum sie das lernen sollen, was sie lernen. … Also was ich versuche, und zwar mit unterschiedlichen Erfolgen natürlich auch immer, ist, den Schülern klarzumachen, dass man… ja, dass sie erwünscht sind an dieser
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Schule, dass man selber den Unterricht mit ihnen vorbereitet hat, dass man sich dabei was gedacht hat und dass man sie in ihren Stärken und ihren Schwächen auch akzeptiert. Und das heißt, was muss man investieren, man muss, man darf sich eigentlich nicht auf Kampfsituationen mit Schülern so einlassen. Also man muss auch in Situationen, wo man persönlich sich angegriffen fühlt oder wo man sich persönlich angegangen fühlt, muss man einerseits dann natürlich klar Grenzen setzen und muss deutlich machen, was geht und was nicht geht. Aber man muss eigentlich auch ein Stück neben sich stehen und sich klarmachen, dass eigentlich nicht immer und in erster Linie die eigene Person gemeint ist. … Also man darf eigentlich wenig nachtragend sein, ähm, sondern muss bereit sein zu sagen, und jetzt gibt’s wieder für uns alle, sowohl für die Lehrperson als auch für die Schüler neues Spiel, neues Glück. Ja, also… aber das ist natürlich teilweise, weil man da auch eigene Emotionen zum Teil ähm, also man muss damit ja auch irgendwohin, das, das kostet also auch unheimlich viel Kraft und das ist auch zum Teil unheimlich anstrengend, ja, also, so, mit solchen, mit so ‘ner Einstellung immer wieder in die Klasse zu gehen.“
An diesem Interviewausschnitt lässt sich ein grundlegendes Problem der Lehrertätigkeit erkennen. Dass pädagogische Tätigkeit heute mühseliger geworden ist, hängt mit veränderten und anstrengenden Rollenanforderungen an die Sozialkompetenz von Lehrern und Lehrerinnen zusammen. Die Modernisierung der Schul- und Unterrichtskultur zerstört die alten Autoritätsverhältnisse, verwandelt den Unterricht tendenziell zu einem Ort einer alltäglichen „Politik der Verständigung“ (Luhmann) zwischen Lehrern und Schülern. Pädagogen sind heute zu „Beziehungsarbeit“ und „Kulturarbeit“ gezwungen (Ziehe 1991). Als „Beziehungsarbeiter“ müssen sie an guten Beziehungen zu ihren Schülern arbeiten. Nur in dem Maße, wie strukturierende Beziehungsarbeit wesentliches Moment der professionellen Kompetenz eines Lehrers wird, können Energien für die kognitiven Kräfte freigesetzt werden (z.B. „für erfolgreichen Unterricht Grundsympathie und Stück auch Affinität zur Zielgruppe notwendig ist“). Als „Kulturarbeiter“ müssen Lehrerinnen und Lehrer bereit und in der Lage sein Möglichkeiten für Sinn- und Motivfindung erfahrbar und erlebbar zu machen („dass man selber den Unterricht mit ihnen vorbereitet hat, dass man sich dabei was gedacht hat“). Die Lehrerin formuliert gleichzeitig Prinzipien gelingender emotionaler Zuwendung, ohne die solche Beziehungs- und Kulturarbeit nicht gelingen kann und die sich in Interviews mit Lehrerinnen und Lehrern häufig wieder finden lassen. Dazu zählen: – Authentizität und Transparenz, z.B. „dass in der Arbeit mit benachteiligten Jugendlichen es wichtig ist, dass es ‘ne persönliche Beziehung gibt zwischen Schülern und Lehrkraft“. – Akzeptieren und Schätzen des anderen als eigenständiges Individuum, z.B. „dass für ‘ne, für erfolgreichen Unterricht Grundsympathie und Stück auch Affinität zur Zielgruppe notwendig ist“und „dass man sie in ihren Stärken und ihren Schwächen auch akzeptiert“.
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– Einfühlung als Fähigkeit, den anderen und seine Welt mit seinen Augen zu sehen, z.B. „dass man im Grunde an den unterschiedlichen Voraussetzungen ansetzt, die die Schüler mitbringen“. – Engagement, z.B. „den Schülern klarzumachen, dass man … ja, dass sie erwünscht sind an dieser Schule, dass man selber den Unterricht mit ihnen vorbereitet hat, dass man sich dabei was gedacht hat.“
Anmerkung 1 Die folgenden Interviewausschnitte mit Lehrerinnen und Lehrern stammen aus einem Forschungsprojekt zum Professionswissen von Politiklehrerinnen und -lehrern, das ich derzeit durchführe. Das Interview mit dem in der Schülerunion aktiven Gymnasiasten haben Studentinnen und Studenten im Rahmen eines Seminars durchgeführt, das ich an der Gesamthochschule Kassel gehalten habe.
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Die folgenden Überlegungen und Rekonstruktionen stehen im Zusammenhang umfassender theoretischer und empirischer Studien zur Schulkultur und ihrer Entwicklung.1 Die Partizipation der schulischen Akteure, sowohl der Lehrer, Eltern, insbesondere aber der Schüler, wird sowohl als konstitutiver Bestandteil der Schulkultur als auch durch spezifische Schulkulturen strukturierter Möglichkeitsraum konzipiert, durch den sich Schulkulturen unterscheiden (zu einer Theorie der Schulkultur vgl. Helsper/Böhme/Kramer/Lingkost 1998, 2001; Helsper/Böhme 2000; Böhme/Kramer 2001).
1. Schulische Anerkennungsverhältnisse als Rahmen moralischer Anerkennung Als Kernstruktur der jeweiligen Schulkultur werden die konkret ausgeformten Anerkennungsverhältnisse und -beziehungen zwischen Lehrern und Schülern begriffen. Dabei kann hier auf Honneths Anerkennungstheorie, insbesondere seine Unterscheidung von affektiver, kognitiv-moralischer und sozialer Wertschätzung des Einzelnen und damit individueller Anerkennung zurückgegriffen werden, die aber auf pädagogische Zusammenhänge ausgelegt werden muss (vgl. Honneth 1992; Prengel 1995; Helsper 1995, 2001; Helsper/Böhme/Kramer/Lingkost 2001; Bertram/Helsper/Idel 2000). Auch wenn die emotionale Zuwendung in Form von „Liebe“ in schulischen, universalistisch orientierten Sozialisationskontexten gegenüber der Primärgruppe stärker in den Hintergrund tritt, ist für die Schulkultur erstens doch entscheidend, in welcher Form sich Lehrer auf die emotionale, sinnliche Basis der Schüler beziehen. Dabei wird es in der Regel weniger um direkte Formen emotionaler, liebevoller Zuwendung und Anerkennung gehen. Vielmehr steht hier die Ermöglichung einer positiven, interessierten, freundlichen und offenen Haltung gegen-
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über Jugendlichen als Grundlage eines professionellen Arbeitsbündnisses im Mittelpunkt. Für dieses Arbeitsbündnis ist allerdings gegenseitiges Vertrauen eine Voraussetzung, das in pädagogischen Interaktionen generiert und in pädagogischen Prozessen erhalten werden muss. Dabei knüpft diese interaktive Erzeugung von pädagogischen Vertrauensverhältnissen – Vertrauen als Reduktion interaktiver Komplexität in pädagogischen Beziehungen – an das primärsozialisatorisch grundgelegte Selbstvertrauen von Kindern und Jugendlichen an und kann, bei dessen positiver Grundlegung, davon zehren bzw. bei dessen fragiler Errichtung davon beeinträchtigt werden. Entscheidend ist, dass Vertrauen nicht als eine psychische Disposition von lernenden Subjekten einfach abrufbar ist, sondern in den pädagogischen Beziehungen erzeugt werden muss (vgl. etwa Schweer 1996). Hierhin beruht wohl eine der gravierendsten strukturellen Brechungen der Grundlage für professionelles Lehrerhandeln: Denn mit den Zwangsrahmungen der Schulpflicht und der zwangsweisen Kopplung von Lehrern und Schülern sind die Möglichkeiten für Schüler, sich Lehrer ihres Vertrauens wählen zu können bzw. auch die Möglichkeit durch Misstrauen geprägte Lehrer-Schüler-Verhältnisse auflösen zu können, weitestgehend ausgeschlossen (vgl. Combe/Helsper 1996; Oevermann 1996; Schütze u.a. 1996; Kanders/Rösner/Rolff 1996, 62). So kann vermutet werden, dass die sozialisatorische Generierung von Vertrauen in andere und Vertrauen in sich als Ergebnis positiver emotionaler Anerkennung auf der Ebene universalistischer, institutioneller Beziehungsverhältnisse, als einer Transformation von in Nahbeziehungen wurzelnder Vertrauensmuster in stärker universalistische, institutionelle Vertrauensmuster – also die erweiterte Reproduktion von Vertrauen auf gesellschaftlichem Niveau – erschwert wird und bei vielen Schülern misslingt. Wenn in schulischen Verhältnissen aber Vertrauen nur unzulänglich generiert wird, dann liegen weitere emotionale Anerkennungsprobleme nahe: Verletzungen in Form von Angst, Verunsicherung, Hilflosigkeit und Entwertung werden in Beziehungsverhältnissen, die durch Misstrauen geprägt sind, wahrscheinlicher. Für die schulischen Sozialisations- und Bildungsprozesse ist zweitens die moralische Anerkennung in Form von gerechter Behandlung und der Zubilligung gleicher Rechte und Möglichkeiten jenseits partikularer und affektiver Vorlieben und Hintergründe entscheidend. Gegenüber der emotionalen Zuwendung muss die moralische Anerkennung als zentraler Aspekt der schulischen Anerkennung betrachtet werden. Die Partizipationsverhältnisse der jeweiligen Schule bilden die Grundlage für die Möglichkeiten unterschiedlicher Akteure, sich in schulischen Kommunikations- und Entscheidungsprozessen „Gehör zu verschaffen“, Einfluss zu nehmen, Argumente und Gründe vortragen zu können und beteiligt zu werden. Die Form der Beteiligung und die Regeln der Entscheidungsfindung in wichtigen schulischen Belangen bilden die Grundlage für die moralischen Anerkennungs-
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verhältnisse der jeweiligen Schule: Also die Anerkennung anderer als von mir unterschiedener Personen, die prinzipiell gleiche Rechte besitzen und mit dem Recht versehen sind, eigene Meinungen, Positionen und Ansichten zu vertreten und begründen zu können, unabhängig von Herkunft und sonstigen partikularen Bestimmungen und darin Beachtung zu finden. Wenn es zu Entrechtungen und Behinderungen der Beteiligung an Entscheidungen kommt, so liegen hier Formen der Missachtung vor, die die Selbstachtung der Person betreffen und ihre soziale Integrität bedrohen. Dabei bilden im schulischen Rahmen die Partizipationsbeziehungen zwischen Schulleitung und Kollegium sowie zwischen verschiedenen Lehrergruppen den Rahmen für die Ermöglichung der Partizipation von Schülern. Denn wenn es bei Entscheidungen zwischen den professionellen Akteuren bereits zu grundlegenden Ausschlüssen kommt bzw. strategische Machtkalküle dominieren, dann bedeutet diese „institutionelle moralische Struktur“, dass Heranwachsenden, die noch keine voll anerkannten Rechtssubjekte sind, noch in Prozesse moralischer Sozialisation und Kompetenzentfaltung involviert und im schulischen Rahmen durch gesetzliche Regelungen von vielen Entscheidungsprozessen ausgenommen und abhängig sind, Partizipation eher verweigert wird. Die einzelschulspezifischen Strukturen der Beteiligung bilden für die Schüler den Rahmen, in dem sie in alltäglichen Sozialisationsprozessen moralische Bildung vollziehen. In welcher Form somit allen Schülern unabhängig von Geschlecht, Ethnie, Herkunft oder Glaubensüberzeugungen Möglichkeiten des gleichberechtigten Zuganges zu Bildungsprozessen ermöglicht und gleiche Chancen der Partizipation eröffnet werden, ist für die Schulkultur zentral (vgl. Oser/Althof 1994; Oser 1998; Kohlberg 1986). Dabei geht es – im Unterschied zur moralischen Anerkennung von Erwachsenen – in schulischen Zusammenhängen vor allem auch um die Herausbildung der subjektiven Voraussetzungen, sich überhaupt an moralischen Anerkennungsprozessen umfassend beteiligen zu können, also um die Bildung moralischer Kompetenzen. Dies setzt nun die universalistische schulische Struktur der Eröffnung gleicher Rechte und Partizipationsmöglichkeiten nicht außer Kraft. Aber darüber hinaus sind pädagogische Flankierungen erforderlich, die – obwohl sie universalistisch, jenseits partikular-affektiver Vorlieben auf die Ermöglichung gleichberechtigter Teilhabe an Bildungsprozessen für alle zielen – selbst gerade nicht universalistischer Natur sein können, da sie die individuelle Bildungsgeschichte und subjektive Ausgangslage der Partizipationsmöglichkeiten und der kognitiven, symbolischen und moralischen Entwicklung beachten und damit fallorientiert sein müssen. Dies macht pädagogische Stellvertretungen, Stützungen und stellvertretende Deutungen erforderlich, entsprechend dem jeweiligen Stand der Kompetenzentfaltung und Bildungsgeschichte. Darin ruht die besondere Ausgesetztheit und Anfälligkeit schulisch-moralischer Anerkennung für Entrechtung, Aus-
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schließung und die Verletzung der soziomoralischen Integrität: Denn es reicht keineswegs aus, dass formal die gleichen Möglichkeiten für kommunikative Partizipation an Bildungsprozessen gegeben ist, sondern es bedarf gerade der materialen, subjekt- und gruppenzentrierten pädagogischen Haltungen, um die formalen Rechte zur Entfaltung zu bringen. Gerade die pädagogischen Interaktionen aber sind in der antinomischen Grundspannung von Autonomie und Heteronomie angesichts der widerspruchsvollen sozialen Institutionalisierung des Bildungssystems und den strukturell gegebenen Abhängigkeiten und zwanghaften Rahmungen anfällig für die Verweigerung schon entfalteter Partizipationspotentiale, die Blockierung bzw. Behinderung der Entfaltung von Partzipationsvoraussetzungen und den Ausschluss aus Bildungsprozessen bei deren formalem Zugeständnis und sogar entgegen der offiziellen Proklamation von Beteiligung und Förderung der Autonomie (vgl. Combe/Helsper 1994; Helsper/Böhme/Kramer/ Lingkost 2001; Aufenanger u.a. 1993; Oser/Althoff 1994; Oevermann 1996). Für die moralischen Anerkennungsverhältnisse im Rahmen der Schule treffen somit einerseits die allgemeinen Bestimmungen gleichberechtigter Partizipationschancen für moralische Anerkennung zu. Die Spezifik schulisch-moralischer Anerkennung beruht andererseits aber darin, dass den Schülern als Subjekten in Bildungsprozessen die gleichberechtigten Möglichkeiten durch selbst nicht formalisierbares, sondern konkret subjekt- und situationsorientiertes pädagogisches Handeln eröffnet werden müssen, um ihre Kompetenzen entfalten und darin Partizipationspotentiale realisieren zu können. D.h., die moralische Anerkennung in schulischen Zusammenhängen kann scheitern, auch wenn formal gleiche Partizipationsrechte zugestanden werden, aber die pädagogischen Interaktionen verhindern, dass die schulischen Bildungsprozesse zu einer umfassenden Entfaltung der subjektiven Kompetenzen und sozialkognitiven Strukturen führen, die Schüler erst in die Lage versetzen, an gleichen Rechten und Zugangsmöglichkeiten partizipieren zu können – oder aber sich begründet zu verweigern. Hier nun weisen viele empirische Ergebnisse und Fallstudien einerseits auf produktive Ansätze für Schülerpartizipation hin (vgl. Mauthe/Pfeiffer 1996; Müller 1996; Landesinstitut 1991 u. 1993; Reinhardt 1991; Held 1997). Andererseits wird deutlich, wie anfällig die schulischen Strukturen – selbst in reformorientierten und Schülerpartizipation proklamierenden Schulen – für die Brechung moralischer Anerkennung sind (vgl. Helsper 1995 u. 1996). Insbesondere im unterrichtlichen Bereich – als der zentralen alltäglichen Schulzeit – sind die Unterichtsformen und didaktisch-methodischen Vorgehensweisen in der Regel nicht auf eine Mitbeteiligung der Schüler orientiert oder tendieren zu Brechungen der Schülerautonomie (vgl. etwa Koring 1989; Klafki 1993 u. 1995; Keuffer 1996 u. 1997; Combe/Helsper 1994, S. 164 ff.; Müller 1996). Ist die moralische Anerkennung gleicher Rechte und Zugangschancen im
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Prinzip an die universalistische Abstraktion von der Besonderheit des einzelnen Individuums gebunden, so ist die Schulkultur drittens durch die Anerkennung des konkreten einzelnen Schülers gekennzeichnet, durch eine Anerkennung, in der „Subjekte gemäß dem gesellschaftlich definierten Wert ihrer konkreten Eigenschaften Anerkennung finden“ (Honneth 1992, 197). Über diese Anerkennungsform der konkreten Person aufgrund ihrer spezifischen Leistungen, Eigenschaften, ihres Lebensstils und ihrer Selbstdarstellung konstituiert sich die Wertschätzung der Person in den Augen bedeutsamer anderer und damit der Selbstwert, den Schüler in der Schule herausbilden können. Diese Wertschätzung, deren Pendant die soziale Beschämung und Degradierung ist (vgl. Neckel 1991), enthält somit nicht die Anerkennung des Einzelnen als Gleichberechtigtem, sondern die Anerkennung als von allen Verschiedenen. Es geht damit um die spezifische Selbstdarstellung und Selbstverwirklichung in Form pluralisierter und individuell kreierter oder übernommener Lebenstile und Lebensformen, die in den Augen der anderen geschätzt oder entwertet werden. Diese Form einer individualisierten Selbstdarstellung erfolgt nun allerdings nicht im Rahmen einer pluralisierten Gleichheit des Differenten – dies wäre die postmoderne Vision einer pluralen Vielfalt ohne Dominanzstrukturen –, sondern im Rahmen symbolischer Kämpfe um die Definition prestigeträchtiger Attribute. Für die Ausformung der Schulkultur ist daher zentral, welche Schüler, mit welchen Formen der Selbstdarstellung, mit welchen Lebensstilen und Lebensführungsprinzipien Anerkennung erfahren und welche entwertet und sozial beschämt werden. Dabei ist die Schule mit ihrer universalistischen Orientierung eher auf eine abstinente Haltung gegenüber der Beurteilung von Lebensformen und -stilen bezogen. Darin ruht einerseits ein Schutz, da die Schüler nicht als ganze Personen beurteilt oder verurteilt werden, aber zugleich auch die Belastung, dass sie darüber kaum Anerkennung als besondere Individuen erfahren, mit der Konsequenz, dass das konkrete, individuelle Selbst Jugendlicher im schulischen Rahmen „resonanzlos“ bleiben kann (vgl. Wexler 1994). Inwiefern sich nun in Schulen eine Verstrickung schulischer Wertschätzungen in die sozialen symbolischen Gewaltverhältnisse zeigt oder sich eher Strukturen einer posttraditionalen Solidarität der Anerkennung von Differenzen finden, ist für die Schulkultur hoch bedeutsam. Dabei geht gerade vom Anspruch der universalistischen Leistungsbewertung und Schulstatuszuweisung – die einerseits ja gerade als Schutz der Abwertung von Lebensformen fungiert – eine prekäre Dynamik für die schulischen Anerkennungsverhältnisse aus: Denn einerseits soll die Beurteilung unter Absehung der partikularen Besonderheiten einzelner Schüler erfolgen und damit alle – jenseits spezifischer Attribute und Lebenstile – gleich-gültig aufgrund ihrer individuellen Leistung bewertet werden. Darin soll eine gerechte Verteilung von Leistungsdifferenzen erfolgen, die die Schüler auf eine innerschulische Rangfolge von Leistungsplatzierungen verteilt. Darin werden aber bereits strukturell
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durch diese Selektionspraktiken Anerkennungsverweigerungen konstituiert, die das Selbstwertgefühl dieser Schüler belasten. Damit besteht die Gefahr, dass die universalistische Leistungsbeurteilung eine schulische Abwertung spezifischer Lebensformen mit sich bringt und sich mit der gesamtgesellschaftlichen Abwertung und Randständigkeit von Lebensformen und Selbstentwürfen verbindet (vgl. Hurrelmann/Wolf 1986; Nittel 1992; Combe/Helsper 1994, 69 ff.). Diese Anerkennungsverweigerung gegenüber dem konkreten jugendlichen Selbst in Form von Abwertung und Beschämung verletzt dabei umso deutlicher, je jünger Schüler und daher noch nicht in der Lage sind, zwischen Rolle und Person umfassend zu trennen und je weniger kompensatorische Alternativräume der Erfahrung von Wertschätzung des konkreten, individuellen Selbst vorhanden sind. Soziale Beschämung, Entwürdigung und soziale Missachtung von Schülern aber tragen dazu bei, dass nicht nur die Transformation primärer Anerkennungsverhältnisse in institutionelle, pädagogische Vertrauensbeziehungen gebrochen werden, sondern dass es für derart marginalisierte Schüler auch schwieriger wird, ihre Partizipationsrechte in Anspruch zu nehmen. Soziale Beschämung führt so häufig auch zu einem „Selbstausschluss“ aus der Mitgestaltung des schulischen Raumes. Dieser knappe Abriss soll verdeutlichen, dass sich die schulischen Anerkennungsverhältnisse stärker auf die kognitive Achtung sowie die soziale Wertschätzung von Lebensformen und Lebensführungsprinzipien des Einzelnen beziehen, ohne dass allerdings die institutionelle Transformation der primären Anerkennungsverhältnisse in pädagogische Vertrauensbeziehungen unbedeutend wäre. Die praktische Umsetzung der in den Schulmitwirkungsgesetzen verankerten Entscheidungs- und Beteiligungsmöglichkeiten wie auch der interaktiven Partizipationsmöglichkeiten von Schülern erfordert die Auseinandersetzung mit einer Grundparadoxie pädagogischen Handelns und Denkens „den Zu-Erziehenden zu etwas aufzufordern, was er noch nicht kann und ihn als jemand zu achten, der er noch nicht ist, sondern allererst vermittels Selbsttätigkeit wird“ (Benner 1987, 71). Dafür wäre eine Grundhaltung erforderlich, die Oser als grundsätzlich diskursiv bezeichnet. Es genügt nicht, dass die Handlungsweisen „Unterstützen“, „Gegenwirken“ und „Behüten“ verantwortlich abwägend situativ zum Zuge kommen. Vielmehr besteht diese Diskurshaltung darin, dass der Lehrer immer schon, apriorisch, „unterstellt“, dass das Kind fähig ist, sich selbst zu führen, selbst zu partizipieren, selbst Verantwortung zu übernehmen (vgl. Oser/Althoff 1994). Schülerpartizipation an schulischen Handlungsabläufen als ernst gemeinte Beteiligung stellt damit besondere Anforderungen an die schulischen Akteure, vor allem angesichts der widersprüchlichen Rahmungen des schulisch-professionellen Handelns in der Spannung von Autonomie und Zwang (vgl. Oevermann 1996; Helsper 1996, 2000b).
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2. Schülerpartizipation im Rahmen der Gesamtkonferenz – exemplarische Rekonstruktionen zur interaktiven Realisierung von Partizipationsversprechen Die Entwicklungsrichtung der Schulkultur seit den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts kann als Entwicklung vom „besonderen Gewaltverhältnis“ zur „antinomischen Partizipationsaufforderung“ gekennzeichnet werden (vgl. Helsper 2000a). Im Folgenden sollen die Partizipationsstrukturen, die Schülerbeteiligung fördern oder verhindern, an einer Gesamtschule in Sachsen-Anhalt, deren Selbstbild wesentlich auf der Betonung von Solidarität, Gleichheit und Integration beruht, rekonstruktiv erschlossen werden. Hierfür wurde eine Gesamtkonferenz ausgewählt, da dieses Gremium auch in Sachsen-Anhalt weitreichende Entscheidungsmöglichkeiten besitzt und Schüler systematisch einbezieht. Hier stellt sich nun – anhand dieses neu geschaffenen Gremiums, das den Schülern, zumal gegenüber der ehemaligen DDR, erweiterte Partizipationsmöglichkeiten verspricht – die Frage, wie die Partizipationsstrukturen in den interaktiven Mikroprozessen dieser gerade an Integration und Mitbeteiligung der Schüler orientierten Schule ausgestaltet werden.2 Dabei kann vorausgeschickt werden, dass sich deutliche Hinweise finden, dass den Schülern im Rahmen der Gesamtkonferenz Möglichkeiten eingeräumt werden, sich zu artikulieren, ihre Sicht einzubringen und sich an Entscheidungsprozessen zu beteiligen. Zugleich aber zeigen sich im Rahmen dieser Beteiligungsbemühungen deutliche Verkehrungen in Richtung Zwang, Heteronomie und einer Brechung moralischer Anerkennung.
Schülerbeteiligung als Farce und Verpflichtung – simulierte und verordnete Autonomie Als erstes wählen wir eine Szene aus, die in ein Abstimmungsverfahren eingelagert ist. Es geht um die anstehende „Rekonstruktion“ der Schulküche – eine in den neuen Bundesländern übliche Bezeichnung für Renovierungsvorhaben – als „einer der letzten selbst kochenden Küchen“, die durch Alternativen ersetzt werden soll. So erläutert der Schulleiter: mit herrn lindner als elternratvorsitzender ham wa uns schon . intensiv darüber unterhalten ich sach ihnen jetzt mal den jetzigen stand … ähm .. die küche is jetzt ‚geplant‘ .. (betont gesprochen) als . küche die von außen beliefert wird . ‚aber‘ . (betont gesprochen) mit der . technisch weitestgehenden möglichkeit . nämlich ‚gefrierkost‘ . (betont gesprochen) die zu achtzig prozent . vorgekocht ist und die dann in dieser küche . fertig zubereitet wird .. dafür braucht man wesentlich teurere . geräte oder kompliziertere ausstattung . als wenn man . eine äh einen anbieter nimmt . der das essen in kübel bringt und es dann in irgendeiner weise hier warmmacht und dann austeilt … (husten im publikum) ähm .
Erwartungsgemäß wird eine Lösungsmöglichkeit vorgestellt, über die der Eltern-
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vertreter bereits informiert wurde. Der Aussage ist zu entnehmen, dass die Planung inklusive technischer Ausstattung zur Bereitung von Gefrierkost abgeschlossen ist, denn die Verwendung des Präsens („ist jetzt geplant“) markiert das Ende der Entscheidungsfindung. Die anschließenden Äußerungen aber eröffnen die Entscheidungsfindung in einer inkonsistenten Form: und äh herr lindner und ich haben uns jetzt auf folgendes verfahren verständigt . ich konnte ihnen das hier nicht mit in die tagesordnung schreiben weil ich das wirklich jetzt erst die letzten tage so von der stadt bekommen habe . ähm . wir ham uns also auf folgendes verfahren verständigt .. äh wir schlagen ‚ihnen‘ (betont gesprochen) vor . als gesamtkonferenz . eine grundsatzentscheidung erstmal zu fällen .. wollen wir . erstmal mit gefrierkost ‚beginnen‘ (fragend) .. ähm . das ist die technisch weiter=die weitestgehende lösung die teurere lösung . wollen wir erstmal mit gefrierkost beginnen . oder wollen wir dieses ver=fix und fertig gekochte kübelessen das is die erste grundsatzfrage un daraus ergäbe=gäbe sich dann als zweites .. welchen anbieter nehmen wir . und da würde . würden wir dann vorschlagen dass wir so eine kleine . einen kleinen ausschuss aus dieser gesamtkonferenz bilden . ähm der dann . eine . lösung erstmal eine vorläufige lösung ‚sucht‘ . (betont gesprochen) und sie ihnen auf der ‚nächsten‘ (betont gesprochen) gesamtkonferenz im neuen schuljahr . dann . vorstellt . an der stelle würd ich jetzt einfach mal enden . hat dazu noch jemand erstmal fragen . ‚ja‘ (fragend)
Irritierend schließt sich der Vorschlag einer Grundsatzentscheidung an, sich zwischen Alternativen zu entscheiden: „wollen wir erstmal mit gefrierkost beginnen . oder wollen wir dieses ver=fix und fertig gekochte kübelessen“. Die Hervorhebung der technisch weitestgehenden und damit teureren Lösung, die an die Entscheidung zur Gefrierkost geknüpft ist, verweist auf die als abgeschlossen eingeführte Planung. Mit der Einführung der „Grundsatzentscheidung“: „oder wollen wir …“ wird die Situation aber scheinbar wieder geöffnet, wobei sich in der Formulierung „ver=fix und fertig“ und der abwertenden Formulierung „kübelessen“ unter der Hand bereits eine deutliche Favorisierung der teuren Variante Gefrierkost andeutet. Entweder aber kann es sich um eine authentische Entscheidungssituation handeln, deren Ausgang nicht prognostizierbar ist und die einer vorhergehenden Planung widerspricht oder aber die Planung als solche hat bereits stattgefunden, die Entscheidung ist gefallen, so dass es hier lediglich noch um eine nachträgliche Zustimmung geht, dabei aber so getan wird, als wäre eine offene Entscheidungssituation gegeben. Diese Inkonsistenz fordert zur Nachfrage heraus: L 2: äh geht es jetzt darum äh bei den angeboten über die technik die mal eingebaut werden soll oder über . das gesamtpaket äh . technik die die jetzt für die schule bereitgestellt werden soll weils eben baumaßnahme is oder wird gleich äh dass das im paket dann gebunden wird dass der . essenlieferant . äh=äh das mitbringt . ich seh jetzt noch nich so richtig durch wie das thema gemeint ist
Der Lehrer trifft genau den Punkt, der in den Ausführungen des Schulleiters unklar bleibt. Hat die technische Planung schon stattgefunden und ist die
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Entscheidng für Gefrierkost bereits gefallen? Dann aber gäbe es keine Grundsatzentscheidung mehr und die Bildung einer Kommission könnte gleich erfolgen. Der Schulleiter greift dies erläuternd auf, indem er – dabei allerdings die Inkonsistenz reproduzierend – die Entscheidungssituation erneut als offene und damit „Grundsatzentscheidung zwischen „Gefrierkost“ und „Kübelessen“ ausweist. Im weiteren Verlauf wird die Sitzung dann zum Forum unterschiedlicher Beiträge von Lehrern und Eltern, die insgesamt – wie bereits nahegelegt – für „Gefrierkost“ aus ernährungsphysiologischen sowie geschmacklichen Qualitätsgründen plädieren. Der Schulleiter schließt die Diskussion: L1: …. also vielen dank . dann würd ich saachen . gibts noch ir- noch ma eine fraache oder ne anmerkung dazu . dann können wa also erstmal die grundsatzfrage entscheiden wer ist also im moment dafür dass wa erstmal auf gefrierkost zugehn (handhebungen) … danke schön wer is dagegen . niemand wer enthält sich auch n- . eine enthaltung .
Das Abstimmungsverfahren wird durchgeführt und entspricht aufgrund der positiven Äußerungen zur Gefrierkost den implizit geäußerten Erwartungen des Schulleiters. Interessant ist nun, wie der Schulleiter diese Entscheidung abschließend kommentiert: … wunderbar . sie wissen gar nicht wie sehr sie mir jetzt geholfen habn ich habe nämlich der stadt ja aufs auge gedrückt . die einrichtung bereits für gefrierkost zu ‚planen‘ (betont) weil die die teurere ist . und die stadt liebt nicht das was teurer is . ja also die nehmen bei die=wir sin die vorletzte selbstkochende küche hier oder haben die vorletzte selbstkochende küche in (stadtname) . ja . so … dann brauchen wir jetzt noch . äh eine kleine kommission und da hatte ich mir gedacht . ich mach jetzt einfach mal vorschläge . ähm ..
Der Anschluss bestätigt, wie bereits vermutet, dass die „Entscheidung“ letztlich keine war, da die Anwesenden lediglich nachträglich das bestätigen, was bereits vorher entschieden wurde und worauf sie – mit den positiven Wertungen des Schulleiters für die „Gefrierkost“ – bereits subtil verpflichtet wurden. Denn der Schulleiter hat „nämlich der stadt ja aufs auge gedrückt, die einrichtung bereits für gefrierkost zu planen“. Darin zeigt sich eine strategische Täuschung, die ohne jede Not vorgenommen wird. Dies könnte darauf verweisen, dass eine vorab getroffene Entscheidung des Schulleiters als Ausdruck seiner innerschulischen Machtposition nicht offen vertreten werden kann, was implizit auf institutionelle und soziale Ansprüche an Mitbestimmung und Mitentscheidung verweisen müsste, so dass es zu einer Bemäntelung hierarchischer Strukturen kommt. Gerade damit aber erscheint der gewährte Diskussionsraum als Farce, da die Argumente bedeutungslos sind, weil sie keine Auswirkung auf die Entscheidung haben können. Doch zurück zur Szene und zur Bildung einer „kleinen Kommission“. Da ein Schüler bereits seine Beteiligung angeboten hat, wird der Elternbeiratsvorsitzende noch hinzugezogen. Auch einige Eltern erklären sich bereit, aber die Schüler, die doch am ehesten von der Qualität des Essens betroffen sind, sind noch nicht
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genügend vertreten. Diese Szene der „Anwerbung“ von Schülern soll nun detaillierter dargestellt werden: L1: un jetzt noch schüler .. da bräu=bräuchten wa . groß=dein bruder is der bruder auch da S 1: der is auch da ja L 1: ja . der der bruder is jetzt siebte klasse ja . siebte . ja . ähm . jüngere ham wa nich . und die jüngeren essen am meisten . also müsste auf jeden fall . äh der rolf dabei sein .. (gemurmel) wer wird en sonst noch vorgeschlagen S 2: ich kann da leider nich mitmachen herr bergius L 1: warum nich S 2: weil ich umziehe . also ab achte klasse bin ich nich mehr in der schule . leider … ja deswegen is S 1:: ich komm weiter hierher L 1: du kommst (mehrere reden unverständlich) ähm . und du auch (fragend) . auch wenn du dich vorhin enthalten hast (fragend) S 3: ich (fragend) L 1: wenns ums schmecken geht . enthältst du dich bestimmt nicht S 3: ok was solls L 1: da weißte bestimmt S 3: na klar dann komm ich L 1: was gut is un was nich gut is . so gut dann hätten wa die astrid auch noch mit dabei . ich . gibts weitere vorschläge aber ich denke das reicht (gemurmel, kurzes unverständliches zwischengespräch)
Am Anfang dieser Textpassage wird in allgemein-unpersönlicher Form („un jetzt noch schüler“) artikuliert, dass für die Funktionsfähigkeit der „Essens-Kommission“ noch Schüler benötigt werden. Die darin implizit enthaltene Aufforderung an anwesende Schüler führt nun nicht zur „freiwilligen“ Bereitschaft an der Kommission mitzuwirken, sondern mündet in die direkte Ansprache von Schülern durch den Schulleiter, um sie zur Mitwirkung an der Kommission aufzufordern. Deutlich wird, dass für die Mitwirkung an der Kommission ein Bedarf an jüngeren Schülern besteht, der momentan nicht erfüllt werden kann: „jüngere ham wa nich“. Die Wichtigkeit der Mitwirkung jüngerer Schüler wird dadurch plausibilisiert, dass sie als die wichtigsten Nutzer des schulischen Essensangebotes bestimmt werden. Die besondere Hervorhebung ihrer Mitwirkung wäre so eine von der Sache her sehr sinnvoll begründete Aufforderung. Der Schulleiter fährt fort: also müsste auf jeden fall . äh der rolf dabei sein .. (gemurmel) wer wird en sonst noch vorgeschlagen
Der Sprecher schlussfolgert, da keine jüngeren Schüler anwesend sind, dass „auf jeden fall . äh der rolf dabei sein“ muss. Da er ihn namentlich erwähnt, können wir davon ausgehen, dass er ihn persönlich kennt. Auffällig ist jedoch, dass er ihn nicht direkt anspricht. In der vorliegenden Form wird damit über Rolf als ein gerade
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noch akzeptables Objekt der Bedarfserfüllung verfügt und darin seine Autonomie gebrochen. Als konkrete Person mit Entscheidungsfreiheit interessiert er nicht. Als disponibles Element im Rahmen eines Auswahlverfahrens wird sein eigener Wille und seine Entscheidungskompetenz negiert, er wird unter eine nun als „Sachzwang“ erscheinende Kommissionszusammensetzung subsumiert, ohne dafür sein Einverständnis einzuholen. Die inhaltlich sinnvolle Beteiligung jüngerer Schüler an der Entscheidungsfindung über das Schulessen werden hier mit einer zwanghaften Beteiligungsverpflichtung verflochten. Partizipation, als erzwungene, aber schlägt ins Gegenteil einer Brechung lebenspraktischer Autonomie um. Darüber hinaus wird am Ende der obigen Äußerung dieser Verfügungsakt vom Schulleiter implizit als Ausdruck eines Wahlverfahrens gedeutet, so als sei Rolf vorgeschlagen worden, habe sich bereiterklärt und dies sei anschließend von den Anwesenden bestätigt worden. Eine autonomienegierende Beteiligungsverpflichtung wird somit durch den Schulleiter als Partizipation ermöglichendes Verfahren verkennend legitimiert. Die folgende Äußerung verdeutlicht nun die negierte Problematik: S 2: ich kann da leider nich mitmachen herr bergius
Unerwartet wird die Suche nach weiteren Teilnehmern unterbrochen und der Schulleiter direkt angesprochen. Rolf ist also sehr wohl anwesend und kann für sich selbst sprechen. In der Form einer höflichen Entschuldigung spricht er Herrn Bergius direkt an und weist die vorgenommene Vereinnahmung zurück. Allerdings erfolgt die Zurückweisung in einer bedauernden Form, so dass Rolf sich keineswegs gegen die Beteiligungsverpflichtung wendet und diese als illegitimen Übergriff zurückweist. Da er „leider“ nicht mitmachen „kann“, müssen objektive Gründe vorliegen, sonst hätte er formuliert „ich möchte nicht“. Trotz dieser impliziten Einwilligung in den Partizipationszwang vonseiten Rolfs, wird aber schlagartig deutlich, dass Rolf beim Akt der Partizipationsverpflichtung übergangen wurde. Mit Rolfs Intervention ist nun die direkte Kommunikation eröffnet, auf die der Schulleiter reagieren muss. L 1: warum nich
Die Antwort ist eine äußerst knappe Reaktion. Denkbare Anschlüsse, in denen sich grundsätzliche Akzeptanz wie „das ist aber schade, ich habe gedacht, es würde dir Spaß machen“, und der Versuch der eigenen Handlungsbegründung aufweisen lassen, werden nicht gewählt. Die reduzierte Reaktion erfolgt ohne Namensanrede im Schema eines Verhörs. Rolf muss sich verteidigen, er muss gestehen, was ihn zur Ablehnung bewogen hat, wobei implizit deutlich ist: Nur wirklich schwerwiegende Gründe werden akzeptiert. Damit entsteht eine eigenartige Verkehrung: Denn nicht der nachgezogene Hinweis Rolfs auf Gründe, die seine Beteiligung verhindern, ist begründungspflichtig, sondern vielmehr die Vorgehensweise des Schulleiters, der Rolf in seiner Entscheidungskompetenz übergangen hat. Rolf
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wird somit zur Legitimation eines selbstverständlich ihm zustehenden Rechtes gezwungen und indirekt wird dabei auch noch die Glaubwürdigkeit seiner Äußerung angezweifelt. S 2: weil ich umziehe . also ab achte klasse bin ich nich mehr in der schule . leider … ja deswegen is
Rolf hat einen triftigen Grund für seine Ablehnung. „weil ich umziehe“ würde bereits ausreichend den Sachverhalt klären. Aber er detailliert ihn noch, er wird die Schule verlassen. Wiederum drückt er sein Bedauern aus. Das kann sich auf den bevorstehenden Schulwechsel ebenso wie auf sein Bedauern, Herrn Bergius nicht zur Verfügung zu stehen, beziehen. In dieser Entschuldigungsfigur für einen unverschuldeten Sachverhalt manifestiert sich zum einen der Druck, der auf ihn ausgeübt wird. Andererseits aber zeigt sich darin auch, dass Rolf die zum Mitmachen zwingende Erwartung zentraler schulischer Repräsentanten bestätigt: Wäre nicht dieser außerordentliche Vorgang des Umzuges, hätte er über sich verfügen lassen. Darin deutet sich – im Sinne einer riskanten Strukturhypothese – an, dass die Schülervertreter dieser Schule sich dem Erwartungsdruck einer Partizipationsverpflichtung bei materialer Negation ihrer Autonomie und Entscheidungskompetenz beugen. Vor diesem Hintergrund können die erweiterten Partizipationsmöglichkeiten schulischer Gremien zum Ort einer Verpflichtung auf Mitvollzug werden, der gerade materiale Mitbestimmung negiert. Das erweiterte Niveau der Gremienbeteiligung der Schüler impliziert so auch als Kehrseite erweiterter Möglichkeiten ihrer Entmündigung unter dem Vorzeichen der Stärkung von Partizipation. Damit aber ist der Versuch der Zwangsrekrutierung von Kommissionsschülern erst einmal gescheitert und der Schulleiter muss weitere Anstrengungen unternehmen: L 1: ähm . und du auch (fragend) . auch wenn du dich vorhin enthalten hast (fragend)
Herr Bergius ist auf der Suche nach weiteren Kandidaten für die Kommission. Auch hier zeigt sich, wie schon in der knappen Legitimationsnachfrage, eine Vernachlässigung der Höflichkeitsregeln, denn zum einen wird die Schülerin ohne Namensnennung angesprochen und zum zweiten in einer äußerst verkürzten Frageform, die auch als Feststellung bzw. sogar Befehl gelesen werden kann. In dieser fragenden Feststellung schwingt zum einen die über andere verfügende Haltung mit, zum anderen aber wird die implizite Verpflichtung zur Mitwirkung in dieser Formulierung fraglich. Denn beim vorher inszenierten Abstimmungsverfahren gab es eine Enthaltung. Augenscheinlich wurde diese Option nur von der angesprochenen Schülerin gewählt. Sie war also schon vorher eine unsichere Kandidatin für Herrn Bergius. Zumindest ist es fraglich und müsste gegenüber der Schülerin auch angefragt werden, ob sie angesichts ihrer Stimmenthaltung überhaupt willens ist, an dieser Kommission teilzunehmen. Indem der Schulleiter nun
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offensiv („auch wenn du dich vorhin enthalten hast“) diese Möglichkeit expliziert, deutet er implizit an: „jetzt wirst du dich hoffentlich nicht enthalten“. Im gegebenen Kommunikationszusammenhang zwischen Vertretern unterschiedlicher schulischer Hierarchien – hier Schulleiter und dort Schülerin – ist dies eine sprachliche Kontrollgebärde, die eine implizite Rüge des beobachteten Verhaltens enthält, obwohl die Schülerin doch nichts anderes als ihr Recht in Anspruch genommen hat, sich auch enthalten zu dürfen. Eine Haltung, die im Übrigen der Situation, in der es ja nichts mehr zu entscheiden gab, angemessen war. Wird sich die Schülerin jetzt – mit der fragenden Bestimmung und der impliziten Kritik und Schelte für ihr „abweichendes Verhalten“ – unter Druck setzen und zum Mitmachen bewegen lassen? S 3: ich (fragend)
In der fragenden Vergewisserung, ob sie angesprochen ist, zeigt sich entweder, dass die Schülerin „nicht aufgepasst“ hat, dabei ertappt wurde und sie damit den Sinn der äußerst verknappten Anfrage nicht entschlüsseln kann. Nicht auszuschließen ist aber auch, dass die Schülerin irritiert ist, weil sie trotz ihrer Enthaltung aufgefordert wird. Diese Rückfrage erfordert eine Plausibilisierung vonseiten des Schulleiters, ob und wie sie angesprochen ist. L 1: wenns ums schmecken geht .
„Wenns ums schmecken geht“ – wann wird ein solcher Satz genutzt? Als IchAussage würde ein Expertenstatus beansprucht in informellem Kontext „ja weißt du, wenns ums Schmecken geht, kannst du dich immer an mich wenden“. Sicher kann man sich auch einen Werbeslogan vorstellen, wir kennen: „wenn’s ums Geld geht, Sparkasse“. Es ist ein umgangssprachlicher Code und bedeutet, über Kenntnisse eines Experten zu verfügen. In der Du-Botschaft erscheint neben der Zuweisung als Experte ein negativ einschränkender Bedeutungsgehalt: „in allen anderen Dingen bist du eben kein Experte“. enthälst du dich bestimmt nicht
Der Vergleich zwischen dem Wahlverhalten und der geschmacklichen Kompetenz ist wertend und abwertend getroffen. Die implizite Botschaft ist klar: Im Bereich sinnlicher Wahrnehmung kann sie klar entscheiden, während sie auf der kognitiven Ebene zu keiner klaren Entscheidung fähig war. Was heißt das im Interaktionszusammenhang? Die Schülerin wird öffentlich infantilisiert und in eine komplizierte double-bind-Situation verstrickt. Das kann man sich daran verdeutlichen, dass sie, um Verhaltenskontinuität zu beweisen, sinnlogisch eine Beteiligung ablehnen müsste, da sie aufgrund ihrer Stimmenthaltung legitim geäußert hat, sich für keine der zur Abstimmung anstehenden Varianten entscheiden zu können. Würde sie aber konsequenterweise eine Beteiligung ablehnen, würde sie damit öffentlich nicht etwa zu einer Person, die zu ihrer Entscheidung
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steht, sondern vielmehr bestätigen, jemand zu sein, der auch im sinnlichen Bereich über keinerlei Kompetenz verfügt. Zugleich formuliert der Schulleiter diese implizit entwertende Äußerung als für die Schülerin stellvertretend gedeutete Vorwegnahme ihrer Entscheidung, womit er ihr nur die Möglichkeit der Unterwerfung lässt oder sie – weiter entwertend und marginalisierend – in die Position der Rebellin treibt. Eine für die Schülerin kaum auflösbare Falle: S 3: ok was solls.
Angesichts der exponierten Situation, die für die Schülerin peinlich und bedrohlich wird – zum einen wird sie beschämt und zum anderen gerät sie in die Gefahr, als tendenziell rebellisches Element typisiert und von den anwesenden Lehrern, die ihrerseits Definitions- und Selektionsmacht repräsentieren, entsprechend wahrgenommen zu werden –, gibt die Schülerin resignierend auf und nach. Mit „ok“ signalisiert sie ihre Einwilligung um mit „was solls“ anzudeuten, dass sie keineswegs überzeugt ist oder aus innerem Antrieb heraus zustimmt, sondern sich trotz bestehender Zweifel oder vielleicht sogar gegen besseres Wissen fügt. In dieser Antwort der Schülerin scheint somit noch einmal beides auf: Sie entgeht mit ihrer Einwilligung der Negativtypisierung als „Rebellin“ und Verweigerin, verdeutlicht aber zugleich, dass ihr Mitmachen nicht aus Überzeugung geschieht, sondern sie sich fügt und keine „Spielverderberin“ sein will. Der Schulleiter fährt nun fort: da weißte bestimmt
Im wiederholten Gebrauch von „bestimmt“ betont der Schulleiter die Evidenz seiner Aussage, die sich auf die vorherige implizit beschämende Hervorhebung der „geschmacklichen“ Kompetenz der Schülerin bezieht. Zu erwarten wäre ein Anschluss wie: „da weißte bestimmt Bescheid“. Der abwertende Gehalt der Äußerung würde sich damit noch verstärken. Diese Kompetenzzuschreibung betont die implizite Dequalifikation der Schülerin erneut. Hier deutet sich eine Fortsetzung der öffentlichen Beschämung an, mit für die Schülerin immer peinlicheren Zügen. S 3: na klar dann komm ich
Mit „na klar“ gibt die Schülerin ihrer Zustimmung eine andere Wendung. Denn „na klar“ impliziert überzeugte Zustimmung. Wenn etwas klar ist, wird signalisiert, dass eine Sicht gemeinsam geteilt wird. Damit werden die im „was solls“ noch geäußerten Zweifel und die Komponente des sich resignativ Fügens getilgt: Die Schülerin ist jetzt überzeugt bzw. hat sich überzeugen lassen. Damit beugt sie sich aber auch der Definition des Schulleiters, der implizit ihre Stimmenthaltung ja als Ausdruck von Unsicherheit und mangelnder Kompetenz gedeutet hat und damit die Farce der Gesamtsituation verschweigt und nun als jemand auftritt, der ihr auf der manifesten Ebene seiner Aussagen „Mut“ machen will. Damit übernimmt die Schülerin die Fremddefinition mangelnder Kompetenz und bestätigt dem Schul-
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leiter, dass sein Bemühen, ihr Mut zu machen, Erfolg hatte: Wenn Sie sagen, da weiß ich bestimmt Bescheid, „dann komm ich“. Kamen in ihrer Enthaltung und auch noch im resignativ, skeptischen Fügen Momente der Widerständigkeit gegen die absurde Abstimmung und den Zwang zur Partizipation zum Ausdruck, so sind diese Spuren jetzt getilgt. Damit wird diese Situation, die unter dem Etikett „Partizipationsmöglichkeiten auch für jüngere Schüler“ firmiert, letztlich zu einem Lernprozess des sich fügenden Einordnens trotz kritikwürdiger Rahmenbedingungen und gegen eigene Zweifel: Unter dem Label der Autonomie wird in Heteronomie eingeführt. Die Intentionen, die dieser Szene zugrunde liegen, lassen sich kurz rekapitulieren: Herrn Bergius ist es wichtig, dass vor allem Schüler, und insbesondere jüngere Schüler an dem zu bildenden Ausschuss teilnehmen, da gerade diese Gruppe die stärkste Nachfrage im Bereich des schulischen Essensangebots zeigt, eine Argumentation, die durchaus plausibel ist und stellvertretend deutend die Interessen der jüngeren Schüler wahrzunehmen versucht. Diese Haltung des Schulleiters kann durchaus als Ausdruck seiner Orientierung an einem Ideal der Mitbestimmung der Schüler verstanden werden, das er an der Schule zu realisieren und auch im Rahmen der erweiterten Partizipationsmöglichkeiten in schulischen Gremien zu gewährleisten versucht. Stünde beim Schulleiter diese Orientierung an Mitbestimmung, und insbesondere Schülerpartizipation nicht im Hintergrund, wäre die Inszenierung einer farcenhaften Abstimmung und die Aufforderung der Schüler sich an der Essens-Kommission zu beteiligen; nicht nachvollziehbar. Der Schulleiter könnte vielmehr aus seiner machtvollen, überlegenen Position heraus eigenmächtig entscheiden und bestimmen, wenn er sich eindeutig als Führungsautorität dieser Schule sieht. In der obigen Situation zeigt sich nun, dass nur wenige jüngere Schüler anwesend sind. Dies würde eigentlich erfordern, dass andere Schüler, die nicht Mitglieder der Gesamtkonferenz sind, gefragt werden müssten, was allerdings zeitliche Versäumnisse und Unklarheiten über die Zusammensetzung der Kommission bedeuten würde. Vor dem Hintergrund, die Funktionsfähigkeit der Kommission möglichst schnell zu sichern, verschlingt sich nun auf Seiten des Schulleiters seine Orientierung an Schülermitbestimmung mit der Ausübung von Druck und dem Zwang zum Mitmachen. Neben der routinisierten Erwartung, dass alle – selbst bei absurden Abstimmungsinszenierungen – zustimmen, deutet sich auch an, wie angesichts einer Irritation der Routine verfahren wird, um das Mitmachen der Akteure entsprechend der formalen Gewährleistung „demokratischer Gremien“ sicherzustellen. Formen einer Partizipationsverpflichtung, eines Zwanges zum Mitmachen in Form einer Brechung moralischer und persönlicher Anerkennung scheinen in das Repertoire der Handlungsroutinen im Umgang mit Schülern zu gehören. Betrachten wir den Schluss dieser „EssensKommissions“-Szene.
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L 1: so gut dann hätten wer die astrid auch noch mit dabei . ich . gibts weitere vorschläge aber ich denke das reicht (gemurmel, kurzes unverständliches zwischengespräch) also . dann wären wa . insofern erstmal . klar . so und das is sogar fast . pünktlich denn für neun …
Die latente Sinnstruktur dieser Partizipationsverpflichtung durch Beschämung reproduziert sich auch in der Schlusssequenz: Statt einer wohlgeformten Schließung (etwa: „vielen Dank, das freut mich, dass du mitmachen willst“), spricht der Schulleiter über die Schülerin zu den Mitgliedern der Gesamtkonferenz, wobei die Formulierung, dass „wer die Astrid auch noch mit dabei“ haben, wiederum einer Entwertung gleichkommt. Erneut interpretiert Herr Bergius – wie schon bei Rolf – auch die Rekrutierung von Astrid als „Vorschlag“ und deutet diesen Vorgang, der Ausdruck symbolischer Gewalt ist, als ein auf Freiwilligkeit und Gegenseitigkeit beruhendes Abstimmungsverfahren. Eine Interpretation, der niemand widerspricht, so dass diese Selbstdeutung das offizielle, institutionelle Bild, eine an Demokratie, Partizipation und Solidarität orientierte Schule zu sein, stützt und bestätigt. Die Verstrickung in die Antinomie von Autonomie und Zwang scheint schlaglichtartig noch einmal in der paradoxen Formulierung auf: „gibts weitere vorschläge aber ich denke das reicht…“. Die Aufforderung für weitere „Vorschläge“ wird, ohne jegliche Möglichkeit für andere Akteure Vorschläge einbringen zu können, sofort geschlossen. Im Hintergrund, das zeigt die Schlussformulierung dieses Tagesordnungspunktes („sogar fast . pünktlich denn für neun“), steht eine formale, vorgegebene Zeitstruktur, die es einzuhalten gilt. Der „Pünktlichkeit“ wird hier die materiale Einlösung von Partizipation und Autonomie geopfert. Durch den Zwang zur Partizipation kann sichergestellt werden, dass das zeitliche Ablaufmuster, der organisatorische Rahmen des Gremiums Gesamtkonferenz eingehalten wird. Die interaktive Verstrickung in die pädagogische Antinomie von Zwang und Autonomie ist somit auch Ergebnis einer Dominanz formaler Organisationsprinzipien und zeitlicher Ablaufmuster, deren Einhaltung über die notwendige interaktive Offenheit kommunikativer Klärungsprozesse obsiegt.
Gestaltung von Schülerräumen – kontrollförmige Autonomie Eine weitere Szene soll abschließend betrachtet werden. Es geht um die Möglichkeit für die Schüler, ihr Interesse an eigenen Freizeiträumen und deren Ausgestaltung zur Geltung bringen zu können. Die stellvertretende Schulleiterin schließt an ihre Ausführungen in der Gesamtkonferenz Folgendes an: … aus der 9 G3 in zusammenarbeit mit kunst äh unterricht ist ein äh vorschlag gekommen . der heute eventuell auch zu einer beschlussfassung werden kann . der äh vorschlag äh konnte noch nicht mit aufgenommen werden in unsere beschlussvorlage . weil diese sache erst in der letzten woche so gediehen is aber ich denke . äh . der rainer und äh die ute sollten mal bitte vorkommen
Bereits in der Einleitung werden die Initiatoren erkennbar: Schüler einer 9. Klasse
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haben in Zusammenarbeit mit Kunstfachlehrern die Initiative ergriffen, aus der ein „vorschlag“ resultiert, den sie in Wahrnehmung ihrer Rechte, Anträge an die Gesamtkonferenz stellen zu können, in dieses Gremium einbringen möchten, wobei allerdings – eine formaler Fehler – dieser Antrag nicht auf der Tagesordnung erscheint, weil – so die stellvertretende Schulleiterin – „diese sache erst in der letzten woche so gediehen is“. Der Hinweis verdeutlicht, dass es durchaus die Möglichkeit gäbe, den Schülervorschlag aufgrund dieses formalen Fehlers abzuweisen. Diese Möglichkeit wird nicht gewählt, woraus gefolgert werden kann, dass an dieser Schule durchaus eine Bereitschaft besteht, auf Schüleranliegen auch außerhalb formalisierter Abläufe einzugehen. Die stellvertretende Schulleiterin fungiert nun als „Türöffnerin“, die den Schülern – außerhalb der Tagesordnung – einen Raum für die Darstellung ihres Anliegens bereitstellt. Die zwar höfliche („mal bitte“) Aufforderung an die beiden Schüler „nach vorne“ zu kommen, verdeutlicht aber auch die Machtposition der Lehrerin: Sie kann die Erlaubnis erteilen und die Aufforderung aussprechen und die Schüler können dem folgen, aber nicht sie haben ihren Antrag formuliert, sondern dies erfolgt stellvertretend für sie. ute: also es geht erstma um den pausenraum für die . der für die oberstufe eingerichtet wurde
Ute verdeutlicht das Anliegen: Es geht „erstma“ – ein Hinweis darauf, dass es noch weitere Aspekte geben kann – um den „Pausenraum“, also die Möglichkeiten Pausen und schulische Freizeit verbringen zu können. Dieser Pausenraum wurde für die „Oberstufe“ eingerichtet. Da es nun die Initiative einer 9. Klasse ist, liegt es nahe, dass dieser bislang für die Oberstufe reservierte Raum einem erweiterten Nutzerkreis zugänglich gemacht und eventuell auch verändert werden soll. Die beiden Schüler, die im Folgenden zu Wort kommen, haben sich geradezu expertenhaft vorbereitet. Auf einem Flip-chart werden verschiedene Skizzen des betreffenden Raumes präsentiert, „wir ham jetzt von jeder . perspektive würd ich mal sagen . äh . ein . vorschlag drangeheftet“. Rainer präsentiert im Folgenden drei Varianten, eine ‚Billigvariante’, die „ungefähr auf eintausendachthundertzweiundsechzig mark“ kommt, eine Variante, in die ein Hinweis über erweiterte Nutzungsmöglichkeiten eingeflochten ist, sowie eine „luxusvariante“, die mit „fünftausendeinhundertachtunddreißig mark“ zwar „etwas länger halten würde“, jedoch seiner „meinung nach is es natürlich en bisschen zu viel“. Und so schließt er seinen Vortrag auch mit dem Wunsch: „deshalb äh würden wir gerne beantragen dass es in den schlüssel aufgenommen wird . dass äh wir . so . drei bis viertausend mark zur verfügung gestellt bekommen . dass wir den raum ausgestalten können . denn äh so wie er jetzt ist kann er . und darf er nicht bleiben“. Weiterhin betont er, dass der Raum allen Schülern zur Verfügung stehen soll – es ist schließlich eine Initiative der 9. Klasse – und dass seine Klasse bereit ist, die Verantwortung für den
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Raum zu übernehmen. Dies Angebot trifft sich mit den Überlegungen der stellvertretenden Schulleiterin: „ … ich denke schon äh dass man diese umsetzung unterstützen sollte würde aber eine auflage geben . äh in welcher art die aussehen könnte müsste man sich noch überlegen . dass dieser raum auch . von den schülern mit kontrolliert wird . denn äh . es es geht nich dass äh wir . ein par tausend mark jetzt hier reinstecken und innerhalb eines jahres ist alles wieder ramponiert . dazu wären dann gelder zu schade“
Das Anliegen der Schüler findet Unterstützung aufseiten der stellvertretenden Schulleiterin. Allerdings bindet sie diese Unterstützung an eine „Auflage“, die den Jugendlichen auferlegt werden soll, die aber bereits von den beiden vortragenden Schülern – hier liegen Vorgespräche mit der stellvertretenden Schulleiterin nahe, in denen dies bereits gefordert wurde – selbst schon avisiert wurden. Die Gelder und die Unterstützung für die Ausgestaltung des Raumes wird mit einer Kontrollauflage verbunden, wobei die Lehrerin vermutet, dass bei mangelnder Kontrolle schnell „alles wieder ramponiert“ ist. Diese Formulierung impliziert, dass sich dies vorher auch schon ereignet hat („wieder“), und dass die Zerstörung umfassend gewesen sein muss („alles“). Zugleich wird prognostiziert, sogar mit genauer Angabe eines zeitlichen Intervalles („innerhalb eines jahres“), dass sich diese Zerstörung wieder ereignen wird, wenn der Raum nicht durch die Schüler „mit kontrolliert“ wird. Dies verweist darauf, dass die bereits erfolgende schulische Kontrolle als nicht ausreichend gesehen und deren Ausweitung auf die Schüler gefordert wird. Darin kommt zum einen ein grundlegendes Misstrauen gegenüber den Schülern zum Ausdruck, die anscheinend nur durch verstärkte Kontrolle zu einem angemessenen Verhalten zu bewegen sind. Zugleich bedeutet diese Auflage, dass ein Teil der Schüler als Kontrolleure gegenüber ihren Mitschülern fungieren müssen, was die Gefahr impliziert, dass bereits bestehende Konflikte zwischen Schülern verstärkt werden oder auch neue Friktionen durch diese „Kontrolle“ von Schülern durch ihre Mitschüler entstehen können. Die Unterstützung der Raumgestaltungsmöglichkeiten wird somit unmittelbar mit der Partizipationsverpflichtung an der schulischen Kontrolle verbunden. Und zugleich – dies deutet sich ebenfalls an – wird nicht beabsichtigt darüber zu reflektieren oder zu diskutieren, wie diese vergangenen, aber auch prognostizierten Schülerhaltungen zu verstehen sind, was darin zum Ausdruck kommt und wie dem anders als mit Kontrolle zu begegnen wäre. Diese enge Kopplung der Eröffnung von Gestaltungsmöglichkeiten für Schülerräume mit Kontrollverpflichtungen findet sich auch in weiteren Stellungnahmen, etwa einer Lehrerin: „… ne ganz gute voraussetzung finde wenn eine klasse sich speziell für so en raum engagiert . die erstmal für die ausgestaltung . äh selbst mit zur verfügung stellt also hängt schülerarbeit dran . und damit äh gehn sie mit diesen dingen auch ganz anders um und wenn die klasse dann selber auch noch äh . sich mit verantwortlich fühlen möchte für die ordnung dort im raum . und für
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werterhaltung wär das ja eigentlich schon mit ne voraussetzung . die schüler sind ja auch noch drei jahre hier an der schule vielleicht kann das ja als (nebengeräusche) werden . also als basis find ich das ganz gut“
Auf dieser Grundlage wird vonseiten der anwesenden Eltern angeboten, im Rahmen der Möbelbeschaffung behilflich zu sein und der Elternratsvorsitzende bietet eine finanzielle Unterstützung durch den Förderverein an. Die Schüler beugen sich nun einerseits dieser Kontrollverpflichtung, da ihnen ja nur dadurch auch die materielle Unterstützung und die Gestaltungsspielräume sicher sind. Allerdings zeigt sich in einigen Schüleräußerungen auch unterschwellige Kritik: So wird darauf hingewiesen, dass die vorherige ausschließliche Raumbenutzung durch die Oberstufe auch eine Ausschlusserfahrung für andere Schüler bedeutete, die vielleicht neidvoll auf dieses Privileg der „Größeren“ reagierten. Es ist nicht auszuschließen, dass die „Ramponiertheit“ des Raumes auch damit in Zusammenhang stehen könnte. Schließlich soll diese Problematik zukünftig dadurch verhindert werden, dass „alle schüler die hier im haus b und c sind“ den Raum nutzen können, so dass es der Raum aller wird. Zumindest schwingt hier die nicht offen artikulierte Frage mit, ob es unter diesen Umständen noch der massiven Kontrolle der Schüler durch ihre Mitschüler bedarf und ob die Kontrollauflage damit nicht zu überdenken sei. Den implizit enthaltenen Fragen und Problemstellungen in den Äußerungen der Schüler wird damit kein diskursiver Raum der Auseinandersetzung geöffnet, sondern der Schulleiter kommt „zum Punkt“ – nicht der Kritik, sondern des Geldes – das nun in einer Eilentscheidung einstimmig genehmigt wird, um dann nahtlos in der Tagesordnung fortzufahren: „machen sie dann mit den anträgen bücher weiter“. Damit lässt sich diese Szene als widerspruchsvolle Verkopplung von Partizipationsmöglichkeiten und Partizipationsverweigerung lesen: Zum Ersten werden den Schülern – außerplanmäßig, jenseits der Tagesordnung – die Möglichkeiten und Ressourcen bereitgestellt, um ihre Freizeiträume auszugestalten. Dieses Entgegenkommen, aus dem eine Offenheit gegenüber Anliegen und Anträgen von Schülerseite spricht, wird mit einer Auflage verbunden, die für die Schüler sehr ambivalent ist. Einerseits erhalten sie die notwendigen materiellen Ressourcen nur, wenn sie der Kontrollverpflichtung gegenüber ihren Mitschülern im Auftrag der Lehrer und der Gesamtkonferenz zustimmen. Damit aber ist die Rahmung der Gestaltungsmöglichkeiten für die Schüler zugleich enteignet und fremdbestimmt. Die Schülerinitiativgruppe erscheint so als verlängerter Arm der Lehrerschaft und belastet damit die solidarisch-symmetrischen Beziehungen in der schulischen Gleichaltrigengruppe immens, wenn sie sich dieser fremdbestimmten Auflage fügt. Etwas anderes wäre es gewesen, wenn es im Vorfeld eine Vollversammlung der betroffenen Schüler oder zumindest ein Treffen der Klassen- und Kurssprecher gegeben hätte und daraus der Vorschlag eines Ordnungsdienstes zur Erhaltung der
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Räume erwachsen wäre. So aber muss die Initiativgruppe als Kontrollelement der Lehrer in der Schülerschaft erscheinen, die sich von der Gesamtkonferenz hat „kaufen“ lassen. Daneben aber werden die Gestaltungsmöglichkeiten der Schüler nicht nur mit Zwangsverpflichtungen erkauft, sondern die implizit in den Schüleräußerungen aufscheinende Kritik dieser Praxis wird nicht aufgegriffen und offen angesprochen. Damit scheint in die Initiative der Raumgestaltung durch die Schüler bereits ein Strukturkonflikt eingezeichnet zu sein, der auch ein Konfliktpotential für die Schülerbeziehungen hinsichtlich der Raumnutzung birgt.
3. Zusammenfassung: Paradoxe Verstrickungen in die Antinomie von Autonomie und Heteronomie Anhand dieser an Integration, Solidarität, Partizipation und Förderung der Selbstständigkeit der Schüler orientierten Schule kann nun exemplarisch verdeutlicht werden, worin für Schulen mit einem derartigen integrativ-solidarischen Schulmythos eines Partizipations- und Autonomieversprechens die Gefahren liegen, sich in die konstitutive pädagogische Handlungsantinomie von Autonomie und Heteronomie, von verständigungsorientierter Aushandlung und formalisierter organisatorischer Entscheidungsverwaltung paradox zu verwickeln. So zeigen sich paradoxe Verstrickungen in simulierten Entscheidungsverfahren, die gerade das Gegenteil von Partizipation bedeuten – nämlich die strategische Inszenierung von Mitbestimmung als strukturelle Täuschung über vorweg getroffene Entscheidungen. Dabei nimmt die darin erfolgende Aufforderung zur Partizipation Züge einer Partizipationsverpflichtung an, die gerade die Autonomie der Schüler bricht und sie zu Funktionsgehilfen in formalisierten, absurden Entscheidungsakten degradiert. Hier nimmt der Diskurs der Partizipation und Autonomie Züge eines Disziplinardiskurses an. Die hier rekonstruierten Formen einer paradoxen Verstrickung in die Antinomie von Autonomie und Heteronomie können als „simulierte Autonomie“ und „verordnete Autonomie“ bezeichnet werden. Diese beiden Formen, die zugleich als Versprechen und Realisierung von Partizipation und Autonomie und damit als Realisierung moralischer Anerkennung vorgestellt werden und damit die faktische Heteronomie maskieren, sind besonders für jene Schulen typisch, die an hohen ethischen Ansprüchen und an weitreichenden Entwürfen der Partizipation und Autonomie orientiert sind. Angesichts dieses Anspruchs drohen immer wieder Situationen, in denen die faktisch vorhandene Dominanz und Hierarchie verborgen wird, bis zu jenen absurden Szenen der Simulation von Beteiligung und der Verordnung von Partizipation, in denen das Bild breiter Partizipation aufrechterhalten werden soll (vgl. für eine westdeutsche Gesamtschule auch Helsper 1995, 1996).
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In einer anderen – hier nicht rekonstruierten Szene (vgl. Helsper/Böhme/ Kramer/Lingkost u.a. 1997) – wird den Schülern in der Gesamtkonferenz breiter Raum für kontroverse Argumentationen im Zusammenhang der Gewichtung von Klausuren bei der Notengebung zugestanden. Diese argumentativen Auseinandersetzungen werden so lange zugelassen, wie sie der Festigung und Bestätigung des Selbstbildes der Schule und des Schulmythos dienen. An jenem Punkt allerdings, an dem ein Schüler die Möglichkeit einer unterschiedlichen Gewichtung für Gymnasiasten und Sekundarschüler thematisiert und damit implizit für Differenzierung votiert, Unterschiede macht und damit den Schulmythos der Einheitlichkeit, der Integration und Gemeinsamkeit aller Schüler implizit in Frage stellt, wird der argumentative und diskursive Raum geschlossen und der Schüler auf Integration und eine einheitliche Linie für alle orientiert: S 1: muss es dann jetzt für realschüler und gymnasium gleich sein oder kann man jetzt sagen wir machen bei der realschule vierzig und bei gymnasium fünfzig oder ähnlich Schulleiter: also es is wenig sinnvoll . wenn wir ‚eine‘ (betont) schule sind . dass wir äh überall . äh grad in so ner grundlegenden frage alles ‚anders‘ (betont) machen . äh sondern da sollten wir schon eine linie fahrn . aber jetzt wern wer folgendes machen…
Damit wird hier eine innerschulische Grenze diskursiver Auseinandersetzung und autonomer Positionierung markiert: Gerade die schulischen Leistungs- und Selektionsprozesse erzeugen strukturell Unterschiede und stets die Gefahr desintegrativer Spaltungen zwischen Schülern, besonders brisant in der örtlichen Gemeinsamkeit unterschiedlicher Statusgruppen von Schülern (Gymnasium und Sekundarschule in einer Kooperativen Gesamtschule). In der Diskussion von Leistungskriterien wird die diskursive Verständigung dort blockiert, wo diese strukturellen Effekte der Leistungsbewertung das integrative Schulkonzept bedrohen. An diesem Beispiel kann verdeutlicht werden, dass den Schülern so lange autonome Artikulations- und Argumentationsräume zugebilligt werden, wie sie den Schulmythos stützen und das Image der Schule nicht gefährden. Dort wo diese Grenze überschritten wird, erfolgt die Schließung des argumentativen Freiraums. Diese Form kann als „instrumentalisierte Autonomie“ bezeichnet werden: Denn die argumentativen Potentiale und die Artikulationsräume unterschiedlicher Schülermeinungen werden dafür verwendet, das Bild und den Mythos der Schule zu bestätigen. Für diese Form einer „Verwendung von Autonomie“ als subtile Brechung moralischer Anerkennung sind insbesondere jene Schulen anfällig, die stark an programmatischen Konzepten arbeiten, sich deutlich profilieren und bestrebt sind ein konturiertes Schulimage öffentlich aufzubauen. Daraus resultiert die Gefahr, das Engagement, die Partizipation und die autonomen Artikulationsmöglichkeiten der Schüler für diese Selbstinszenierung zu verwenden und sie damit in der Aufforderung zur autonomen Partizipation zu instrumentalisieren. Schließlich konnte in der obigen Rekonstruktion anhand der „Auflagen“ für die
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Gestaltungsmöglichkeiten von Schülerräumen verdeutlicht werden, wie sich die Eröffnung eigenständiger Schüleraktivitäten für die Realisierung von Schülerinteressen zugleich mit Kontrollauflagen verbindet, so dass die Kontrollhaltung letztlich entscheidend wird. Auf diese Variante einer „kontrollformigen Autonomie“, in der die eigenständige Partizipation von Schülern die Form einer Kontrolle gegenüber Mitschülern annimmt und damit zu einer überwachenden Tätigkeit von Schülern als „Lehrerkollaborateuren“ im Dienst der Schulordnung führt, sind wir in anderen, stärker auf Dominanz, Unterordnung und Hierarchie orientierten Schulkulturen in weit drastischeren Formen gestoßen (vgl. Helsper/Böhme/ Kramer/Lingkost 2001). Diese Form, wie auch die Form einer „offenen Negation von Autonomie“, scheint stärker für jene Schulen zu stehen, die von den Schülern Unterordnung fordern und eine disziplinorientierte Führungspädagogik favorisieren, obwohl auch sie gleichzeitig Mündigkeit, Kritikfähigkeit und Autonomie proklamieren. Es wäre nun völlig verkürzt, die rekonstruierten paradoxen Verknotungen nur als Überdauern „alter“ DDR-Muster zu begreifen, auch wenn sich – als Ergebnis des DDR-Lehrerhabitus – aufseiten ostdeutscher Lehrer eine stärkere Affinität zu Disziplin, Unterordnung und Lehrerdominanz in einschlägigen Studien zeigt. Vielmehr ist die grundlegende Antinomie von Autonomie und Zwang auch in den neuen gesetzlichen Rahmungen enthalten, die zwar Spielräume erweitern (vgl. Anders 1995), dies aber im Rahmen weiterhin grundlegender Zwänge und formalisierter Rahmungen, etwa der prinzipiellen Schulpflicht (vgl. Oevermann 1996). Formen wie die „simulierte Autonomie“ oder die „verordnete Autonomie“ konnten in analoger Struktur auch an westdeutschen Schulen rekonstruiert werden. Die hier skizzierten Partizipationsfiguren lassen sich somit als Ergebnis einer Schulkultur verstehen, die umfassende Ansprüche an Schülermitbestimmung formuliert und als Ideal projektiert, wobei allerdings deutlich heteronome Positionen im Hintergrund stehen, so dass sich strukturell für alle Schulkulturen von „inkonsistenten partizipativen Anspruchskulturen“ sprechen lässt. Daraus kann auf ein prinzipielles Strukturproblem bei der reflexiven Ausgestaltung der konstitutiven Antinomie von Autonomie und Zwang und damit der moralischen Anerkennung gegenüber Schülern in der gegenwärtigen Schulstruktur gesprochen werden (vgl. auch Helsper/Böhme/Kramer/Lingkost 2001; Böhme/Kramer 2001). Gerade aus dieser Verschlingung einer Proklamation von Partizipation und Autonomie als Wert mit bestehenden deutlichen Kontrollorientierungen und einer Verpflichtung zum „Mitmachen“ entstehen die skizzierten Verwicklungen in die Antinomie von Autonomie und Zwang.
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Anmerkungen 1 Diese Studie ist im Rahmen des DFG-Forschungsprojektes „Institutionelle Transformationsprozesse der Schulkultur in ostdeutschen Gymnasien“ (Laufzeit: 1.10.1995-31.12. 1998) entstanden, das von Werner Helsper geleitet wurde und am „Zentrum für Schulforschung und Fragen der Lehrerbildung“ der Martin-Luther-Universität Halle angesiedelt war. Im Projekt arbeiteten neben den Autoren als wissenschaftliche Mitarbeiter Jeanette Böhme und Rolf T. Kramer und als wissenschaftliche Hilfskräfte Susann Busse, Jörg Hagedorn und Heike Schaarenberg. 2 Für eine umfassendere und detailliertere Interpretation des folgenden Protokolls weisen wir auf den Zwischenbericht unseres Forschungsprojektes hin (vgl. Helsper/Böhme/Kramer/ Lingkost u.a. 1997).
Literatur Anders, Sönke 1995: Die Schulgesetzgebung der neuen Bundesländer. Weinheim/München Aufenanger, Stefan u.a. 1993: Pädagogisches Handeln und moralische Atmosphäre. Eine objektiv-hermeneutische Dokumentenanalyse im Kontext schulischer Interaktion. In: Garz, Detlef/Kraimer, Klaus (Hrsg.): Die Welt als Text. Frankfurt/M., S. 226-247 Benjamin, Jessica 1991: Die Fesseln der Liebe. Frankfurt/M. Benner, Dietrich 1987: Allgemeine Pädagogik. Eine systematisch-problemgeschichtliche Einführung in die Grundstruktur pädagogischen Denkens und Handelns. Weinheim/München Bertram, Marion/Helsper, Werner/Idel, Stephan 2000: Entwicklung schulischer Anerkennungsverhältnisse. Eine Reflexionshilfe zum Thema Schule und Gewalt. Mainz Böhme, Jeanette 2000: Schulmythen und ihre imaginäre Verbürgung durch oppositionelle Schüler. Bad Heilbrunn Böhme, Jeanette/Kramer, Rolf-Torsten (Hrsg.) 2001: Partizipation in der Schule. Opladen Combe, Arno/Helsper, Werner 1994: Was geschieht im Klassenzimmer. Weinheim Combe, Arno/Helsper, Werner (Hrsg.) 1996: Pädagogische Professionalität. Frankfurt/M. Fend, Helmut 1977: Schulklima. Soziale Einflussprozesse in der Schule. Weinheim/Basel Fend, Helmut 1988: Sozialgeschichte des Aufwachsens im 20. Jahrhundert. Frankfurt/M. Fend, Helmut 1991: Schule und Persönlichkeit. In: Fend, Helmut/Pekrun, Reinhard (Hrsg.): Schule und Persönlichkeit, S. 18-39 Held, Peter 1997: Der Kummerlöser. Erfahrungen mit einem Konfliktausschuß. In: Pädagogik, H. 10/97, S. 16-23 Helsper, Werner 1989: Selbstkrise und Individuationsprozeß. Subjekt- und sozialisationstheoretische Entwürfe zum imaginären Selbst der Moderne. Opladen Helsper, Werner 1995a: Zur „Normalität“ jugendlicher Gewalt: sozialisationstheoretische Reflexionen zum Verhältnis von Anerkennung und Gewalt. In: Helsper, Werner/Wenzel, Hartmut: Pädagogik und Gewalt. Opladen, S. 113-155 Helsper, Werner 1995b: Die verordnete Autonomie – Zum Verhältnis von Schulmythos und Schülerbiographie im institutionellen Individualisierungsparadoxon der modernisierten
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Schulkultur. In: Krüger, Heinz Hermann/Marotzki, Winfried (Hrsg): Erziehungswissenschaftliche Biographieforschung. Opladen, S. 175-201 Helsper, Werner 1996: Antinomien des Lehrerhandelns in modernisierten pädagogischen Kulturen: Paradoxe Verwendungsweisen von Autonomie und Selbstverantwortlichkeit. In: Combe, Arno/Helsper, Werner (Hrsg.): Pädagogische Professionalität. Frankfurt/M., S. 521570 Helsper, Werner 1997: Das postmoderne Selbst – eine neuer Subjekt- und Jugendmythos? In: Keupp, Heiner (Hrsg): Identitätsarbeit heute. Frankfurt/M., S. 174-207 Helsper, Werner 2000a: Wandel der Schulkultur. In: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 3, H. 1/00, S. 215-235 Helsper, Werner 2000b: Antinomien des Lehrerhandelns und die Bedeutung der Fallrekonstruktion – Überlegungen zu einer Professionalisierung im Rahmen universitärer Lehrerausbildung. In: Cloer, Ernst/Klika, Dorle/Kunert, Hubertus (Hrsg.): Welche Lehrer braucht das Land? Weinheim/München, S. 142-177 Helsper, Werner/Böhme, Jeanette/Kramer, Rolf-Torsten/Lingkost, Angelika u.a. 1997: Schulmythos und Schulkultur. Zwischenbericht des DFG-Projektes „Institutionelle Transformationsprozesse der Schulkultur an ostdeutschen Gymnasien“. Halle Helsper, Werner/Böhme, Jeanette/Kramer, Rolf-Torsten/Lingkost, Angelika 1998: Entwürfe zu einer Theorie der Schulkultur und des Schulmythos – strukturtheoretische, mikropolitische, genetische und rekonstruktive Perspektiven. In: Krüger, Heinz Hermann u.a. (Hrsg.): Entwicklung von Schulkultur. Weinheim, S. 29-76 Helsper, Werner/Kramer, Rolf-Torsten: Pädagogische Generationsbeziehungen und -konflikte in der gymnasialen Schulkultur – Eine exemplarische Fallstudie an einem ostdeutschen Gymnasium. In: Ecarius, Jutta (Hrsg.): Was will die jüngere Generation mit der älteren? Opladen 1998, S. 207-237 Helsper, Werner/Böhme, Jeanette 2000: Schulmythen – Zur Rekonstruktion pädagogischen Sinns. In: Kraimer, Klaus (Hrsg.): Die Fallrekonstruktion. Frankfurt/M., S. 239-275 Helsper, Werner/Böhme, Jeanette/Kramer, Rolf-Torsten/Lingkost, Angelika 2001: Schulkultur und Schulmythos. Rekonstruktionen zur Schulkultur 1. Opladen Honneth, Axel 1992: Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte. Frankfurt/M. Hurrelmann, Klaus/Wolf, Hartmut K. 1986: Schulerfolg und Schulversagen. Weinheim/ München Kanders, Michael/Rösner, Ernst/Rolff, Hans-Günter 1996: Das Bild der Schule aus der Sicht von Schülern und Lehrern – Ergebnisse zweier IFS-Repräsentativbefragungen. In: Rolff, Hans-Günter u.a. (Hrsg.): Jahrbuch der Schulentwicklung Band 9. Weinheim/München, S. 57-115 Keuffer, Josef 1996: Schülerpartizipation in Schule und Unterricht – Erfahrungen mit Schülermitbeteiligung seit der Wende. In: Helsper, Werner/Krüger, Heinz Hermann/Wenzel, Hartmut (Hrsg.): Schule und Gesellschaft im Umbruch. Band 2: Trends und Perspektiven der Schulentwicklung in Ostdeutschland. Weinheim, S. 160-182 Keuffer, Josef 1997: Kulturelle Modernisierung und das Verhältnis von Freiheit und Zwang. In: Keuffer, Josef/Meyer, Meinhard (Hrsg.): Didaktik und kultureller Wandel. Studien zur Schul- und Bildungsforschung Band 3. Weinheim, S. 128-153
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Klafki, Wolfgang 1995: Schule und Unterricht gestalten. „Autonomie“, „Partizipation“ und „politische Verantwortung“ als schultheoretische und didaktische Kategorien. In: Bastian, Johannes/Otto, Gunter (Hrsg.): Schule gestalten. Hamburg, S. 35-47 Klafki, Wolfgang 1993: Zur Unterrichtsanalyse: Schülermitbestimmung – ein fruchtbarer Ansatz und eine verspielte Chance – Portätskizze und didaktische Einschätzung einer Unterrichtsstunde und ihres Nachspiels sowie eine Nachbemerkung aus Lehrerinnen-Sicht. In: Ders.: Neue Studien zur Bildungstheorie und Didaktik. 3. Auflage. Weinheim/Basel Kohlberg, Lawrence 1986: Der „Just-Community“-Ansatz der Moralerziehung in Theorie und Praxis. In: Oser, Fritz/Fatke, Rainer/Höffe, Otfried (Hrsg.): Transformation und Entwicklung. Grundlagen der Moralerziehung. Frankfurt/M., S. 21-56 Koring, Bernhard 1989: Eine Theorie pädagogischen Handelns. Weinheim Landesinstitut für Schule und Weiterbildung (Hrsg.) 1991: Schule und Werteerziehung. Ein Werkstattbericht. Soest Landesinstitut für Schule und Weiterbildung (Hrsg.) 1993: Werteerziehung in der Schule – aber wie? Ansätze zur Entwicklung moralisch demokratischer Urteilsfähigkeit. Soest Mauthe, Anne/Pfeiffer, Hermann 1996: Schülerinnen und Schüler gestalten mit – Entwicklungslinien schulischer Partizipation und Vorstellung eines Modellversuchs. In: Rolff, HansGünter u.a. (Hrsg.): Jahrbuch der Schulentwicklung Band 9. Weinheim/München, S. 221261 Müller, Sabine 1996: Schulentwicklung und Schülerpartizipation. Neuwied Neckel, Sighard 1991: Status und Scham. Frankfurt/M., New York Nittel, Dieter 1992: Gymnasiale Schullaufbahn und Identitätsentwicklung. Weinheim Oevermann, Ulrich 1991: Genetischer Strukturalismus und das sozialwissenschaftliche Problem der Erklärung der Entstehung des Neuen. In: Müller-Doohm, Stefan (Hrsg.): Jenseits der Utopie. Frankfurt/M. Oevermann, Ulrich 1996: Theoretische Skizze einer revidierten Theorie professionalisierten Handelns. In: Combe, Arno/Helsper, Werner (Hrsg.): Pädagogische Professionalität. Frankfurt/M., S. 70-182 Oser, Fritz/Althof, Wolfgang 1994: Moralische Selbstbestimmung. Stuttgart Prengel, Anedore 1995: Pädagogik der Vielfalt. Opladen Reinhardt, Sibylle 1991: Didaktische Reflexionen. Bericht aus der Materialentwicklungsgruppe. In: Landesinstitut für Schule und Weiterbildung (Hrsg.): Schule und Werteerziehung. Ein Werkstattbericht. Soest, S. 191-226 Schütze, Fritz u.a. 1996: Überlegungen zu Paradoxien des professionellen Lehrerhandelns in den Dimensionen der Schulorganisation. In: Helsper, Werner/Krüger, Heinz Hermann/Wenzel, Hartmut (Hrsg.): Schule und Gesellschaft im Umbruch. Band 1. Weinheim, S. 333377 Schweer, Martin 1996: Vertrauen in der pädagogischen Beziehung. Bern u.a.
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Generationendifferenz und Anerkennung: Mädchen im Blick von Lehrerinnen
Anerkennung im Generationenverhältnis – einleitende Bemerkungen Gerade engagierte Lehrerinnen und Lehrer wählen den Lehrerberuf, weil sie das Anliegen haben, Heranwachsende zu begleiten, ihnen Orientierung zu geben und sie in ihren Entwicklungen zu unterstützen. Bei Lehrerinnen ist es nicht selten der eigene Emanzipationsprozess als Frau, der zur Herausbildung eines professionellen Selbstverständnisses führt, zu dem ganz wesentlich die Förderung und Unterstützung von Mädchen gehört. Die jüngere Generation wird in dieser Perspektive als Trägerin des sozialen und kulturellen Wandels gesehen, aber auch als diejenige, die die eigenen Kämpfe fortsetzt. Die gesellschaftspolitisch motivierte Hoffnung auf die jüngere Generation ist legitim und verständlich, aber eine, die „notwendigerweise enttäuscht wird, da die jüngere Generation immer die eigenen Probleme in Angriff nimmt und nicht die der vorherigen Generation“ (Hagemann-White 1998). Das Problem der Generationendifferenz, das Hagemann-White hier im Zusammenhang mit der Frauenbewegung thematisiert, ist nicht auf diesen politischen Kontext beschränkt; gerade im pädagogischen Kontext von Schule gewinnt es eine besondere Relevanz. Generationendifferenzen zwischen Lehrerinnen/Lehrern und Schülerinnen/Schülern sind insofern besonders interessant, als sich hier pädagogische Generationenbeziehungen und soziologisch zu fassende Generationenverhältnisse in komplexer Weise überlagern und vielfältige Probleme der Anerkennung generieren. Die folgende Fallstudie1 analysiert Probleme der Anerkennung zwischen Lehrerinnen und Schülerinnen aus der Perspektive der älteren Generation. Es wird gezeigt, wie deren professionelles Selbstverständnis in Verbindung mit einer spezifischen Konstruktion der Generationendifferenz zu Anerkennungsproblemen zwischen den beiden Generationen führt.
„Deren und unsere Realität haben kaum Berührungspunkte“ – zur Generationendifferenz zwischen Lehrerinnen und Schülerinnen Die folgende Gruppendiskussion findet an einer Gesamtschule in NordrheinWestfalen statt. Das Gespräch führen acht Kolleginnen miteinander, die – anders
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Mechthild Oechsle
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als die meisten – nicht mit einem Kollegen gemeinsam die Klassenleitung für ihre Lerngruppe innehaben, sondern mit einer anderen Kollegin. Sie haben sich als Gruppe in dieser Konstellation erstmalig zu dieser Gruppendiskussion getroffen. Sowohl was das Alter als auch was die Lebenssituation und Familienkonstellation betrifft, ist die Gruppe recht heterogen. Die Unterrichtsfächer, die sie unterrichten, umfassen sowohl den sprachlichen, den musischen als auch den mathematisch-technischen und den naturwissenschaftlichen Bereich. Als Impuls für die Diskussion haben die Teilnehmerinnen die Frage bekommen, ob Geschlecht eine Rolle für ihr Handeln als Lehrerinnen spielt und wie sie die Schnittstelle zwischen Schule und Familie sehen. Im Laufe des Gesprächs verständigen sich die acht Lehrerinnen im Wesentlichen darüber, wie sie die Mädchen, die sie unterrichten, wahrnehmen und wie sie selbst ihre Rolle im Verhältnis zu ihren Schülerinnen sehen. Zunächst greift die Gruppe das zweite Stichwort des Eingangsimpulses auf und rückt das Thema Familie in den Mittelpunkt ihres Gesprächs. Der Zugang zum Thema Familie bzw. zur Frage nach dem Verhältnis von Familie und Schule geschieht über die Beschreibung auffälliger Schülerinnen und Schüler; die Ursachen ihres problematischen Verhaltens werden in der Familie gesehen. Im zweiten Abschnitt des Interviews tauschen die Lehrerinnen ihre Beobachtungen zum Miteinander von Jungen und Mädchen aus. Sie nehmen spontane Geschlechtertrennungen bzw. Cliquenbildungen wahr. Auf dem Schulhof oder beim Pausensport, im Klassenzimmer bei Gruppenbildungen rücken Mädchen von Jungen ab und umgekehrt. Diese offensichtliche Separierung der Jungen und Mädchen voneinander lenkt den Blick auf Geschlechterdifferenzen. „Auffällig“, „problematisch“, „aggressiv“, darin sind sich die Kolleginnen einig, sind überwiegend die Jungen; die „Mädels“ sind typischerweise die „Braven“ und die „Angenehmen“. Isabell wirft die Frage auf, wie sie als Lehrerinnen mit diesen Geschlechterdifferenzen umgehen. Sie beschreibt, wie es dazu kommt, dass auch sie mehr und mehr die Jungen in den Blick nimmt und die Mädchen sehr viel weniger an Aufmerksamkeit erhalten und dadurch im Unterrichtsgeschehen an den Rand gedrängt werden. Sie ist unzufrieden mit ihrem Handeln und seinen Auswirkungen. Peggy bekräftigt diese Problemwahrnehmung und fügt selbstkritisch hinzu, dass sie und andere Kolleginnen und Kollegen die lieben Mädchen als „Puffer“ missbrauchen und dass sie mit dem Anspruch überfordert ist, allen gerecht zu werden. Allerdings, ganz so stimmt das Bild nicht, das Peggy von den Mädchen zeichnet. Sie relativiert das Bild von den „stillen“, „lieben“ Mädchen, die bestenfalls durch Krankheit auffallen und beschreibt neue Entwicklungen, die ihr bei ihren Schülerinnen auffallen. Damit leitet sie zu einem neuen Thema über. Wer sind diese Mädchen überhaupt? Das fragen sich die Lehrerinnen immer wieder im Verlauf der
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Gesprächsrunde und eine Antwort darauf ist alles andere als einfach. Auch die Mädchen haben sich offenbar verändert in den letzten Jahren, sie haben angefangen „andere Besonderheiten auszuprägen“. Peggy beobachtet „völlig überzogene Lovestorys“, „abgekupfert von bestimmten Fernsehserien“, „unechtes“ und „hysterisches“ Verhalten und „aggressive Mädchen“. In den Augen der Lehrerinnen verhalten sich die Mädchen unangemessen, sie überreagieren, dramatisieren, bringen ihre Gefühle und Beziehungen in einer Intensität zum Ausdruck, die den erwachsenen Frauen fremd ist und Impulse weckt, zu intervenieren, „den hysterischen Kreislauf zu unterbrechen“. Sind die Lehrerinnen zunächst geneigt, in diesem Verhalten eine „gewisse Rollenveränderung“ zu erkennen, so sehen sie – „wenn man genau hinguckt“ – doch ein „Fortfahren in dieser traditionellen Rolle“. Gegen das traditionelle Rollenverhalten der Mädchen setzen die Lehrerinnen pädagogisches Handeln, sie bemühen sich, den Mädchen mehr Selbstbewusstsein zu vermitteln, andere Rollenmodelle dagegenzusetzen. „Oh Gott, hier möchtest du aber den Mädchen mal gern vermitteln: ,Nun habt doch mal mehr Selbstbewusstsein, ihr seid doch stark, ihr seid doch ganz toll‘“. Aber anstatt selbstbewusst aufzutreten, nehmen sich die Mädchen zurück, gehen „den Jungen gegenüber den unteren Weg“ und werden stiller. Die Jungen schaffen es im Laufe der Jahre, die Mädchen „unterzubuttern“. Yvonne wünscht sich, dass die Mädchen selbstbewusster auftreten: Aber die Schülerinen entsprechen nicht dem Bild von selbstbewussten Mädchen, das Yvonne insgeheim vor Augen hat und an dem sie die Mädchen misst. Yvonne erlebt das Verhalten der Mädchen als eigenes Scheitern, sie fühlt sich verantwortlich dafür, dass sich bei den Mädchen ein ihrer Meinung nach traditionelles Rollenverhalten verfestigt. Sie verliert den „Kampf“ um das Selbstbewusstsein der Schülerinnen – so jedenfalls sieht sie es, wenngleich sie die Metapher des Kampfes abzuschwächen versucht: „Kampf kann man es eigentlich nicht nennen, aber ich hätte mir halt gewünscht, da erfolgreicher zu sein.“ Immer wieder versucht sie das Verhalten der Mädchen im Unterricht zu thematisieren und erhält häufig die Antwort: „,Ne, warum. Wir werden doch später diese oder jene Rolle haben, also die Hausfrauenrolle und der Mann geht nach draußen und verdient das Geld.‘ Da habe ich immer gedacht, um Gottes willen, was hörst du da für Worte, das ist ja voriges Jahrhundert.“ Doreen, eine jüngere Kollegin, ist sich nicht sicher, wie diese Äußerungen der Mädchen zu verstehen sind. Gegenüber den älteren Kolleginnen versucht sie eine andere Lesart. Vielleicht ist dies eher als Provokation zu sehen. Die Diskussionsleiterin schlägt vor, solche und ähnliche Äußerungen eher als Versuchsballons zu sehen. Solche kontroversen Deutungen werden von Yvonne jedoch als nicht stichhaltig verworfen. Sie ist davon überzeugt, dass die Schülerinnen dies wirklich so meinen.
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Nach dieser längeren Sequenz wendet sich das Gespräch dem Thema Mädchen in Technik und Naturwissenschaften zu. Doreen beschreibt den Prozess, den sie bei ihren Schülerinnen beobachtet. Im fünften Schuljahr sind die Mädchen im Technikunterricht „hellauf begeistert, sind voll dabei, machen mit und haben die besten Ergebnisse. Und dann passiert irgendetwas und ich bin noch nicht dahinter gestiegen, was es genau ist. Im siebten Schuljahr haben sie dann plötzlich das Verhalten, das man auch eigentlich in diesem Zusammenhang von den Mädchen erwartet, vorsichtig, zurückhaltend, schieben das den Jungen rüber, kannst du mir mal helfen oder mach mal.“ Auch Melanie ist sich sicher, dass „in der Zwischenzeit von fünf bis neun irgendetwas passiert sein (muss), was unseren Mädchen einredet, ihr braucht keine Naturwissenschaft. Irgendwer redet ihnen ein: Ihr seid nicht so gut wie die Jungs“. Im Folgenden geht es in der Gesprächsrunde darum, herauszufinden, was eigentlich mit den Mädchen passiert, warum sie sich im Lauf der Schuljahre immer mehr zurücknehmen. Eine jüngere Lehrerin versucht die Beobachtungen ihrer Kolleginnen mit dem Hinweis auf andere Erfahrungen in der Oberstufe zu relativieren. Sie hat Mühe, sich vorzustellen, dass Mädchen in der Sekundarstufe I nichts mehr zu sagen hätten. Dennoch ist sie der Meinung, dass es „wirklich etwas geben muss, wo die sich plötzlich zurücknehmen. Aber ich verstehe es nicht“. Im weiteren Gespräch entwickeln die Lehrerinnen eine Reihe von Alltagstheorien, um sich das Verhalten der Mädchen zu erklären. An verschiedenen Stellen des Gesprächs wird die Vermutung geäußert, dass es an den Jungen liegen könnte, an ihrer Abwertung, an ihrer Dominanz. Aber auch ihr eigenes Verhalten nehmen die Lehrerinnen unter die Lupe; sie fragen sich, ob sie nicht Jungen mehr bevorzugen würden. Mit dieser von Eileen aufgeworfene Frage verschiebt sich der Fokus des Gesprächs. In den Blick geraten nun die Jungen. In einer längeren Sequenz befassen sich die Lehrerinnen mit den spezifischen Probleme der Jungen. Isabelle berichtet von Situationen, in denen sich die Jungen „öffnen“ konnten, „weich“ wurden. Für sie wurde hierbei deutlich, „welche Not dahinter steckt“, hinter den Mutproben, hinter der Fassade des coolen Typen. Für Isabell sind die Erfahrungen mit den eigenen Söhnen hier wichtig. Angestoßen durch eine Frage der Diskussionsleiterin befasst sich die Gruppe mit der Frage, ob es für die Jungen und die Lehrerinnen nicht hilfreich wäre, ein gemischtgeschlechtliches Klassenlehrertandem zu haben. Doreen ist der Meinung, dass den Jungen „was fehlt (...) die sind ja im Grunde umzingelt von den Frauen“, ihnen fehlen die männlichen Modelle. Peggy relativiert diese Sichtweise; für sie ist ein „Pärchen“ nicht prinzipiell die Lösung. Sie ist der Meinung, dass Frauen durchaus auch „männliche Anteile“ repräsentieren können, für sie ist das nicht unbedingt eine Frage der (biologischen) Geschlechtszugehörigkeit.
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Für viel gravierender hält sie das Problem der unterschiedlichen Sozialisation von Lehrerinnen und Schülerinnen. Weniger die Geschlechterdifferenz als vielmehr die Generationendifferenz hält sie für das eigentliche Problem. Mit diesem neuen Stichwort ist der Exkurs über Jungen beendet und Peggy kommt im zweiten Teil ihrer längeren Ausführungen auf das Kernthema dieser Gruppe zu sprechen – auf die Differenz, die Fremdheit zwischen Lehrerinnen und Schülerinnen. „Ich finde, der zweite Punkt, die Sozialisation von uns Lehrerinnen-Frauen, das ist eine ganz andere. Ich habe schon oft gedacht, ich habe ganz andere Phasen in meinem Leben durchgemacht, die auch irgendwo die Berührungspunkte mit dem hatten, was so Frauenbewegung ausmachte. Das ist ein Teil meiner Identität.“ Diese Identität ist eine andere als die ihrer Schülerinnen. Peggy beobachtet mit „staunenden Augen“, dass ihre „Kiddys“ die Hochzeitsmesse besuchen und das „super“ finden, während sie vor dem Hintergrund ihrer Erfahrungen in der Frauenbewegung ob dieser Vorliebe ihrer Schülerinnen „auf den Rücken“ fällt. Sie spürt die Distanz zwischen den Generationen und vermutet, dass „deren Realität und unsere wenig Berührungspunkte“ haben. Im Folgenden setzen sich die Lehrerinnen (erneut) mit der Frage auseinander, welche Aufgaben sich für Schule als Institution stellen und was die Einzelnen dazu beitragen können, dass sich das Geschlechterverhältnis an der Schule verändert. Diese Frage wird in der Gruppe kontrovers diskutiert. Eileen grenzt sich von ihrer Meinung nach überbordenden Anforderungen an Schule und die einzelnen Lehrer ab. Ihr geht es zu weit, dass sie „jetzt auch noch den Vaterpart liefern soll, indem ich auch noch einen männlichen Co habe“. Yvonne formuliert einen sehr viel weitergehenden programmatischen Anspruch an Schule: Schule sollte versuchen „diese Rollenfixierung, die vielleicht besteht (…) aufzubrechen, Angebote so reich zu gestalten, dass alle Beteiligten an Schule, egal ob Jungen oder Mädchen, Wahlmöglichkeiten haben und sich dann die Jungen in weibliche Rollen hineindenken können und umgekehrt. Wenn wir das nicht bewusst stiften, geht, glaube ich, zu viel verloren oder es würden Chancen vertan“. Welche Handlungsspielräume gibt es dafür in der Schule, wie sind die Resultate des eigenen Handelns zu beurteilen, welche Konzepte für pädagogische Interventionen sind brauchbar – um diese Fragen dreht sich das weitere Gespräch der Gruppe. Yvonne betont die Grenzen von Schule; Jungen und Mädchen sind in ihrem Verhalten nur ein Abbild der Gesellschaft und sie ist „manchmal erschüttert, wie wenig Fortschritt es gibt“. Eileen betont die positiven Veränderungen in der Klasse, die sie sich ein Stück weit selbst zurechnet und auf die sie stolz ist. Generell überwiegt allerdings die Einschätzung, dass es wenig Fortschritt gibt und dass sich immer wieder Elemente eines traditionellen Geschlechterverhältnisses im Verhalten der Schülerinnen und Schüler durchsetzen. Vor diesem Hintergrund diskutiert die Gruppe, ob das Konzept einer zeitwei-
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ligen Geschlechtertrennung in einzelnen Fächern hilfreich für die Förderung der Mädchen wäre. Ein wichtiges Stichwort ist in diesem Zusammenhang der „Schutzraum“ für Mädchen, in dem diese Selbstbewusstsein und Stärke entwickeln können, um sich dann in gemischtgeschlechtlichten Kontexten besser zu behaupten. Dieses Schutzraum-Konzept wird von einer Lehrerin positiv gesehen, von den anderen aber doch eher skeptisch beurteilt. Es scheint keine wirklich überzeugende Lösung für die bei den Mädchen in der Pubertät beobachtete „Verunsicherung“ zu bieten. An dieser Stelle taucht erneut die Frage auf, was da in der Pubertät mit den Mädchen passiert, dass sie sich so „zurückziehen“ und „unsicher“ werden. Verschiedene Erklärungsmuster für die Verunsicherung der Mädchen in der Pubertät werden angeboten. Für Yvonne ist es die Verschiedenartigkeit der Einflüsse, denen Mädchen in Familie, Schule und Freizeitbereich ausgesetzt sind. Für Mädchen gibt es deshalb keine „Einheitlichkeit“, keine klaren Orientierungsangebote; sie bleiben sich selbst „überlassen“ und deshalb kommt es in der Pubertät zu den beschriebenen massiven Einbrüchen im Selbstwertgefühl. Ein anderer Erklärungsversuch sieht die sich entwickelnde „körperliche Überlegenheit“ der Jungen in der 7. und 8. Klasse und komplementär dazu das „körperliche Defizit“ der Mädchen als Ursache für deren Verunsicherung. Dieses Thema führt zu einem Themenwechsel – weg von der Interaktion zwischen Schülerinnen und Schülern und hin zur Frage, welche Rolle das Geschlecht in den Interaktionen zwischen Lehrerinnen und Schülern spielt. Peggy beschreibt ihre Probleme mit diesen „körperlich überlegenen“ Jungen, die sie selbst um Kopfeslänge überragen; sie erlebt das Verhalten dieser Jungen an manchen Stellen als „männliche Dominanz“ und fragt sich, „wie sehen mich Schüler als Frau? Ich stehe da so neben, so ein Stück kleiner, ist hier überhaupt eine Lehrerin?“ Yvonne erzählt, wie ihr bei der „geballten, männlichen Rotzigkeit“, mit der die Jungen auftreten, der „Adrenalinspiegel“ steigt. Andere Gruppenmitglieder sind mit dieser Sicht nicht einverstanden. Melanie z.B. findet es „mit Jungen einfacher“, ihr fällt es leichter, „die Jungs wieder runter zu kriegen als die Mädchen“. Eileen findet das Verhalten der Mädchen „peinlich“, auch sie findet es leichter, auf das „machomäßige“ Verhalten der Jungen zu reagieren als auf das „frauliche und sentimentale“ Verhalten der Mädchen. Generell hat sie Probleme mit dem demonstrativ männlichen oder weiblichen Verhalten ihrer Schüler, „weil es so offensichtlich ist und nicht meiner Rollenvorstellung so entspricht oder wie ich mir denke, wie ihr sagt, das ist ja Mittelalter, was die zum Teil denken. Ja, wie machst du das klar“. An dieser Stelle interveniert die Diskussionsleiterin – sie fragt, ob ein solches Verhalten der Mädchen nicht auch der Abgrenzung von der älteren Generation dient; eine Frage, die Eileen verwirrt, weil sie in dem Verhalten der Mädchen keine
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Abgrenzung, sondern nur Anpassung an traditionelle Weiblichkeitsstereotype sieht. Peggy und Yvonne greifen den Einwand der Diskussionsleiterin auf – sie sind sich darin einig, dass man das manchmal befremdliche Verhalten der Mädchen nicht unbedingt als „Endverhalten“ sehen muss, sondern als Phase des „Ausprobierens“ – trotzdem muss man ihrer Meinung nach darauf reagieren und eindeutig Stellung dazu beziehen. Die Diskussionsleiterin weist darauf hin, dass man im Lehrerberuf die Erfolge der eigenen Arbeit häufig nicht zu sehen bekomme, weil sie erst nach der Schulzeit wirksam werde. Damit macht sie ein Thema explizit, das als implizites schon während des ganzen Gesprächs vorhanden war: Welchen Erfolg haben die Bemühungen der Lehrerinnen, Mädchen zu fördern, ihr Selbstbewusstsein zu stärken, traditionelle Geschlechterstereotype bei ihren Schülerinnen und Schülern abzubauen, Jungen in ihrem Dominanzverhalten zu zügeln – kurz, das asymmetrische Geschlechterverhältnis an der Schule zu verändern? In einer längeren Sequenz versuchen die Gruppenmitglieder, sich über Maßstäbe und Kriterien zu verständigen, an denen sie den Erfolg ihrer Bemühungen messen können. Am Ende dieser Sequenz versucht Jennifer eine optimistische Deutung sowohl hinsichtlich der Entwicklungsprozesse der Mädchen als auch im Hinblick auf die Bemühungen der Lehrerinnen. Sie möchte sich nicht damit zufrieden geben, bei den Mädchen eine Abwärtskurve ab der 7. Klasse festzustellen. Sie möchte „genauer nachhaken“ und fragen, „wie geht es denn weiter, wie geht die Kurve weiter? Werden die dann anders, ändert sich das wieder? Gibt es eine Erfahrung, dass man sagt, der Gedanke, das ist eine vorübergehende Ausprobierphase. Also weil Sie jetzt sagen, es gibt auch Erfolge, es gibt auch gute Stimmung oder so etwas. Aber das würde einem ja Sicherheit geben, wenn man wüsste, es geht hinterher anders weiter.“ Das Angebot von Jeniffer, das für die Lehrerinnen oftmals befremdliche Verhalten der Mädchen im Rahmen eines längeren Entwicklungsprozesses zu sehen und dadurch mehr Sicherheit, vielleicht auch Gelassenheit im Umgang mit den Mädchen zu gewinnen, wird von der Gruppe allerdings nicht weiter aufgegriffen. Im Gegenteil – ihre verhalten optimistische Sicht wird von Peggy deutlich relativiert. Die positiven Entwicklungen, die in der Oberstufe (vielleicht) zu beobachten sind, sind nur begrenzt zu verallgemeinern, sie betreffen nur einen kleineren Teil der Schüler. Die weitere Entwicklung des größeren Teils der Schüler kriegen die Lehrerinnen nicht mit. Nach dieser eher skeptischen Einschätzung über den Erfolg des eigenen professionellen Bemühens – generell, und vor allem bezogen auf die Mädchen, wird das Gespräch von der Diskussionsleiterin beendet.
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Lehrerinnen als Emanzipationshelferinnen – Generationendifferenz und Professionsverständnis Die Mädchen und ihr Verhalten stehen hier im Zentrum des Gesprächs zwischen den acht Lehrerinnen. Acht von zwölf Themen der Gesprächsrunde befassen sich mit den Mädchen bzw. der Frage, wie die Lehrerinnen diese wahrnehmen und wie sie mit ihnen umgehen können. Das eigentliche Thema, das dem Gespräch aber zugrunde liegt, ist die Generationendifferenz zwischen den Lehrerinnen und ihren Schülerinnen und das Problem der Anerkennung zwischen den Generationen. Die Lehrerinnen sind bemüht, ihren Beitrag zur Veränderung des asymmetrischen Geschlechterverhältnisses innerhalb und außerhalb der Schule zu leisten. Sie möchten die Mädchen fördern und sie selbstbewusster machen; sie achten darauf, dass sie Jungen nicht bevorzugen, sie kennen Forschungsergebnisse der feministischen Schulforschung, haben sich mit Konzepten der zeitweiligen Geschlechtertrennung auseinander gesetzt und selbst ausprobiert und sind doch mehr als skeptisch hinsichtlich der Erfolge ihres Handelns. Zwar beobachten sie neue Tendenzen bei ihren Schülerinnen, die sie ausführlich beschreiben und fragen sich, ob hier nicht doch eine „gewisse Rollenveränderung“ zu beobachten sei. Aber bei genauerem Hinsehen stellen sie doch „ein Fortfahren in dieser traditionellen Rolle“ fest. Sie sind davon überzeugt, dass in den Äußerungen ihrer Schülerinnen die tatsächlichen Lebensentwürfe zum Ausdruck kommen und dass diese nicht etwa als Provokation oder als Hinweis auf soziale Erwünschtheit zu interpretieren sind. Deshalb sind sie „erschüttert, wie wenig Fortschritt es gibt“ und sind bestürzt über das traditionelle Rollenverhalten, das sie bei ihren Schülerinnen zu erkennen glauben. Dieses Rollenverhalten weckt das pädagogische Engagement der Lehrerinnen; sie möchten den Mädchen mehr Selbstbewusstsein und ein anderes Rollenmodell vermitteln. Aber die Mädchen nutzen diese Angebote nicht, so der Eindruck der Lehrerinnen. Sie nehmen sich zurück, lassen sich von den Jungen „unterbuttern“ und verzichten in Gesprächen und Diskussionen darauf, so selbstbewusst aufzutreten und ihre Meinung zu formulieren, wie es sich die Lehrerinnen gewünscht hätten. Diese „raufen sich im Stillen die Haare“ und fühlen sich dafür verantwortlich. Sie stehen daneben und versuchen „unterrichtlich da was gegenzusetzen“ und stellen fest, dass sie diesen Kampf verlieren oder jedenfalls nicht so erfolgreich sind, wie sie es sich gewünscht hätten. Dem professionellen Handeln dieser Lehrerinnen liegt ein spezifisches Modell der Generationenbeziehung zugrunde. Nach diesem haben die älteren Frauen Erfahrung im Kampf um eine Veränderung des Geschlechterverhältnisses, sie haben Wissensvorsprünge, kennen Zusammenhänge und haben eine, wenn auch begrenzte Macht im institutionellen Setting der Schule. Diese Ressourcen werfen
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sie in die Waagschale, um Mädchen zu unterstützen, die sie als wenig selbstbewusst und in traditionellen Rollenvorstellungen verhaftet wahrnehmen. Sich selbst sehen sie als Emanzipationshelferinnen der jüngeren Generation, im Kampf gegen männliche Dominanz und gegen schädliche Einflüsse von Medien und Elternhaus. Eine solche Konstruktion setzt notwendigerweise voraus, dass die Mädchen nicht-emanzipiert sind; erst vor diesem Hintergrund macht das eigene professionelle Selbstverständnis als Emanzipationshelferin Sinn. Doch dieses Modell ist zum Scheitern verurteilt. Welche jüngere Generation möchte sich schon von der vorhergehenden bei ihrer Emanzipation helfen lassen und das nach Maßstäben der älteren Generation? Und so laufen denn die Bemühungen der Lehrerinnen weitgehend ins Leere; ihre Angebote an die Schülerinnen werden von diesen nicht aufgegriffen, möglicherweise nicht einmal verstanden. An einigen Stellen des Gesprächs gibt es Versuche, die Fremdheit zwischen der Lehrerinnen- und der Schülerinnengeneration zu thematisieren; so befasst sich Peggy in einer längeren Passage mit der unterschiedlichen Sozialisation von Lehrerinnen und Schülerinnen. „… die Sozialisation von uns Lehrerinnen-Frauen, das ist eine ganz andere. Ich habe schon oft gedacht, ich habe ganz andere Phasen in meinem Leben durchgemacht, die auch irgendwo die Berührungspunkte mit dem hatten, was so Frauenbewegung ausmacht. Das ist Teil meiner Identität. Und ich begucke mir dann manchmal mit staunenden Augen, dass es hier in Düsseldorf eine Hochzeitsmesse gegeben hat. Da falle ich auf den Rücken, aber unsere Kiddys finden das super. Ich glaube, also, deren Realität (…) und unsere haben z.T. wenig Berührungspunkte. Also, was wir als Ziele formulieren, ja wunderbar, kann man wunderbar abdrucken, 20 Thesen, finden wir alle gut, revolutionär, gleichberechtigt, das ist überhaupt nicht mehr deren Realität. Ich denke an vielen Punkten haben die ganz andere Identifikationspunkte gefunden. Und räumen bereitwillig das Feld, sich zurückzunehmen“. Überraschend ist in dieser Passage der unvermittelte Übergang von einer Reflexion der Generationendifferenz zu einer Bewertung des Verhaltens der Mädchen. Während zunächst ganz im Sinne des Mannheim’schen Generationenkonzepts die unterschiedliche Generationenlagerung und die damit verbundene Differenz in der Erfahrungsaufschichtung thematisiert wird und damit die Möglichkeit einer reflexiven Auseinandersetzung gegeben wäre, wird im nächsten Satz das Verhalten der jüngeren Generation als Selbstaufgabe gedeutet und kritisiert. Eine Anerkennung der „selektiven Perspektivität“ (Honig 1996, 208) der jeweiligen Generationenerfahrung wird damit unmöglich. Statt die Irritation durch die Generationendifferenz auszuhalten und sie als „Fremdheitsrelation“ (Matthes 1985) zu identifizieren und zu bearbeiten, wird diese Differenz als Geschlechterdifferenz (hier die Mädchen, die sich anpassen und zurücknehmen – hier die Jungen,
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die die Mädchen unterbuttern) gedeutet. Das Problem der Generationendifferenz zwischen Lehrerinnen und Schülerinnen und der mangelnden gegenseitigen Anerkennung wird zu einem Problem der Ungleichheit im Geschlechterverhältnis; das eigene professionelle Selbstverständnis als Emanzipationshelferin bleibt unwidersprochen und wird sogar noch bestärkt. Notwendig wäre aber gerade eine Reflexion der Fremdheitsrelation zwischen den Generationen und ihre Anerkennung als Voraussetzung für die eigene pädagogische Arbeit. Hilfreich für einen solch reflexiven Umgang mit der Generationendifferenz wäre ein soziologischer Generationenbegriff, der Generationenunterschiede als Unterschiede in den kulturellen Strukturen der Weltwahrnehmung begreift und nicht als bloße Bewusstseinsphänomene, die durch Aufklärung zu verändern wären. Eine solche soziologische Perspektive erlaubt es, „chronologisch gegeneinander versetzte Muster der Weltwahrnehmung wechselseitig identifizierbar zu machen, in ihrer Konfrontation aus der Selbstverständlichkeit ihrer ,konjunktiven Geltung‘ unter den Gleichzeitigkeiten herauszuholen, zurechenbar und ,verhandlungsfähig‘ zu machen“ (Matthes 1985, 369). Ein solch soziologischer Blick auf Generationenverhältnisse könnte den Lehrerinnen helfen, reflexive Distanz zu den eigenen lebensgeschichtlichen Erfahrungen zu gewinnen und diese nicht umstandslos als Maßstab für die Wahrnehmung und Bewertung der jüngeren Generation zu nehmen. Vielleicht wäre dadurch ein anderer Blick auf Mädchen möglich – ein Blick, der sich eher explorativ der Realität von Mädchen annähert und fragt, was z.B. Hochzeitsmessen oder soap operas für Jugendliche in diesem Alter und zu diesem historischen Zeitpunkt bedeuten.
Anmerkung 1 Die Fallstudie ist Teil einer empirischen Studie über „Geschlechterkonstruktionen und Familienkonzepte im Lehrerberuf“, die an der Universität Bielefeld unter der Leitung von Prof. Dr. Mechthild Oechsle durchgeführt wurde; Projektmitarbeiterinnen waren Maria Anna Kreienbaum, Beate Kortendiek, Barbara Henkys und Susanne Lehmann. Untersucht wurde der Zusammenhang von Profession, Organisation und Geschlecht im Berufsfeld Schule. Die Studie fragt danach, wie Profession und Geschlecht im Lehrerberuf miteinander verwoben sind, wie in der Organisation Schule Geschlechterverhältnisse thematisiert und zum Gegenstand von Intervention und Reflexion werden und wie die Schnittstelle von Schule und Familie von Lehrern und Lehrerinnen wahrgenommen wird. Hierzu wurden 15 Gruppendiskussionen mit verschiedenen Lehrern und Lehrerinnen und mit Lehramtsstudierenden durchgeführt. Die Auswertung der Gruppendiskussionen orientierte sich an dem rekonstruktiven Verfahren von Bohnsack (2000).
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Literatur Bohnsack, Ralf 2000: Rekonstruktive Sozialforschung. Einführung in Methodologie und Praxis qualitativer Forschung, 4. Aufl., Opladen Hagemann-White, Carol 1998: Identität – Beruf – Geschlecht. In: Oechsle, Mechtild/Geissler, Birgit (Hrsg.): Die ungleiche Gleichheit, Opladen, S. 27-41 Honig, Michael-Sebastian 1996: Wem gehört das Kind? Kindheit als generationale Ordnung. In: Liebau, Eckart/Wulf, Christoph (Hrsg.): Generation. Versuch über eine pädagogischanthropologische Grundbedingung, Weinheim, S. 201-221 Matthes, Joachim 1985: Karl Mannheims „Das Problem der Generationen„ neu gelesen, in: Zeitschrift für Soziologie, Jg. 14, H. 5, S. 363-372
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Begriffe dienen als Instrumente um sich die Welt zu erklären und zu erschließen. Während uneindeutige Begriffe im Alltagsleben oft ausreichen, bemüht sich die Wissenschaft um eine größtmögliche Präzisierung. Faszinierend an einem schillernden Begriff wie dem der Anerkennung ist sein breites Bedeutungsspektrum und die Möglichkeit, sich der Sache von der Semantik her zu nähern. Mit Charles Taylor sei zunächst der doppelte Diskurs der Anerkennung unterschieden: der in der Sphäre der persönlichen Beziehungen, der sich auf die Identitätsentwicklung bezieht, und die im öffentlichen Bereich, in dem es um gleiche Rechte und Freiheiten für alle Bürger geht (Taylor 1997, 27). In der pädagogischen Arbeit sind beide Sphären untrennbar miteinander verbunden. Anerkennung kann sich darauf beziehen, eine Leistung zu würdigen, eine Überzeugung gelten zu lassen bzw. etwas für richtig, berechtigt oder gültig zu halten. Für kulturell heterogene Gesellschaften mag die These plausibel erscheinen, dass in diesem Begriff zentrale Spannungsfelder verdichtet erscheinen, geht es doch um die Entwicklung ethischer Grundhaltungen angesichts des Faktums multikultureller Vielfalt; und hier lässt sich ein Spektrum erkennen von der Ablehnung und Leugnung der Differenz über deren passive Tolerierung, eine Respektierung der Eigenlogik fremder Wertsysteme bis zu deren „Zu-Eigen-Machen“. „All equal – all different“. In dieser Formel ist sowohl beschreibend als auch normativ das Bemühen interkultureller Bildung verdichtet: Unsere Lebenswirklichkeit ist faktisch „globalisiert“, d.h. durchdrungen von weltweit wirksamen Kommunikations-, Produktions- und Konsumstrukturen. Weil die Vorstellung eines Lebens in „kulturell homogenen“ Räumen sich mehr denn je als (politisch gefährliche) Fiktion entpuppt, wird die Differenz des anderen für soziale Gruppen wie für das einzelne Subjekt zu einer immer größer werdenden Herausforderung. Europa mutiert zu einem immer „farbigeren“ Kontinent, auf dem Vermischungen und Verwandlungen die Regel sein werden. Fremdes fasziniert und macht Angst, stellt das Eigene, Vertraute potentiell in Frage, andererseits zeigt die Geschichte, dass es in modernen Gesellschaften die zentrale Entwicklungsbedingung darstellt: Ohne die dynamisierende Kraft des Fremden versänken sie in Stagnation und Barbarei. Die Anerkennung des Fremden wird zur zentralen gesellschaftspolitischen Herausforderung und damit zur pädagogischen Entwicklungsaufgabe. Aus sozio-
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logischer Sicht lässt sich fragen: Wie weit kann eine Gesellschaft, eine Gruppe bzw. eine Person in der Anerkennung differenter Verhaltensnormen gehen, ohne die Substanz des eigenen Wertsystems in Frage zu stellen? Wie können, wie sollen die Schule und andere Bildungsinstitutionen mit der zunehmenden Vielfalt der Lebenswelten, mit milieu-, geschlechts- und kulturspezifisch unterschiedlichen Formen der Realitätswahrnehmung und des Lernens umgehen? Die Interkulturelle Pädagogik erweitert diesen Fragehorizont: Ihr geht es nicht nur darum, das Allgemeinbildungskonzept der staatlichen Institution Schule zu bewahren, sondern es auch „vom anderen“ her in Frage stellen zu lassen: Welche monokulturellen Traditionen und Lehrinhalte können wir ins Museum stellen, weil sie nicht mehr zeitgemäß sind? Inwiefern könnte eine Anerkennung des Fremden zu einem geschärften Blick auf „das Eigene“ führen und zu einer (Weiter-)Entwicklung gemeinsamer Werthaltungen? Welches pädagogische Potential steckt in der Erkenntnis, dass „das Eigene“ ein biographisch wie historisch-gesellschaftlich bedingtes Konstrukt ist? Der geschichtliche Rückblick auf die „Gastarbeiter“-Beschäftigung in den 60er Jahren – nach dem Versiegen des Arbeitskräftezustroms durch den Mauerbau 1961 – zeigte eine erste Variante möglicher Reaktionsweisen auf die Anwesenheit Fremder: Sie wurden in ihrer Rolle als „Arbeiter auf Zeit“ anerkannt, der millionste „Gastarbeiter“ bekam noch ein Moped als Willkommensgeschenk. Doch schon die Rezession 1966/67 zeigte, dass der marxsche Begriff der „industriellen Reservearmee“ auf die Arbeitsmigranten zutraf, denn sie konnten je nach Arbeitsmarktlage eingestellt und wieder entlassen werden. Die Kurzsichtigkeit dieses Denkens zeigte sich spätestens mit dem Anwerbestopp von 1973, als die große Fluktuation unmöglich wurde, die in Deutschland befindlichen (meist männlichen) Arbeitskräfte ihre Familien nachholten und ihre Kinder in Schulen schickten, die in keiner Weise darauf vorbereitet waren. Die sich zu Beginn der 70er Jahre entwickelnde „Ausländerpädagogik“ zielte – als eine Sonder-Pädagogik – auf eine Kompensation v.a. der Sprachdefizite der „Gastarbeiterkinder“. Anerkennung war und ist in diesem Konzept nur unter der Bedingung denkbar, dass sich die Fremden an die nicht hinterfragten bestehenden Verhältnisse anpassen. Wenn von Integration gesprochen wird, dann ist faktisch bloße Anpassung, der narzisstische Appell „Werdet wie wir!“ gemeint. Doch die Forderung der Mehrheitsgesellschaft nach Integration der Minderheiten führt bekanntlich nicht zwangsläufig zu gesellschaftlicher Anerkennung. Dies zeigen nicht nur unzählige Beispiele aus der jüngeren Migrationsgeschichte, sondern auch schon das Schicksal vieler Deutscher jüdischen Glaubens, v.a. während der Nazi-Zeit: Selbst als „Über-Angepasste“ werden sie noch als „fremd“ wahrgenommen. Verfolgen wir die pädagogikgeschichtliche Linie weiter, dann wird deutlich, dass mit der Einführung des „Muttersprachlichen Unterrichts“ (MU) die Rück-
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kehroption eingeschlossen ist: Solange die Wahrscheinlichkeit einer Rückkehr ins Herkunftsland besteht, sollte die Sprache der Eltern lebendig bleiben. Unabhängig von dem neuerlichen Diskurs um den Sinn eines „muttersprachlichen Ergänzungsunterrichts“ angesichts des Faktums, dass viele Migranten sich auf Dauer in Deutschland einrichten, ist interessant zu untersuchen, in welch unterschiedlicher Weise der „MU“ organisiert ist, denn dies kann in gewisser Weise als Indikator für die Anerkennung der Migrantenkultur gewertet werden. So gibt es etwa in Bayern „Vorbereitungsklassen in Langzeitform“, die getrennt vom Unterricht der deutschen Schüler/innen stattfinden und deren Inhalte v.a. die Konsulate zu verantworten haben – mit Blick auf die mögliche (erwünschte ?) Rückkehr der Familie. Demgegenüber findet in Nordrhein-Westfalen der Unterricht für deutsche und ausländische Schüler im Prinzip gemeinsam statt, es gibt gemeinsame Richtlinien, eine Trennung ausländischer Schüler/innen wird nur zeitweise vorgenommen, etwa um gezielt (sprachliche) Defizite auszugleichen. Zielperspektive ist dort, den „MU“ in ein Konzept von Mehrsprachigkeit umzuwandeln. In Schweden geht man noch einen Schritt weiter und orientiert sich weitgehend an den Wünschen der Eltern, ob und in welchem Grad die Herkunftssprache gepflegt werden soll bzw. man sich sprachlich und kulturell primär am Aufnahmeland orientieren möchte. Das Bildungssystem ist entsprechend flexibel, um sich auf diese Bedürfnisse einstellen zu können (Belke 1996, 27). Das separierende Modell Bayerns könnte auf den ersten Blick als „Anerkennung der Kultur der Herkunftsländer“ gedeutet werden, zumal deren Regierungen über den Lehrplan bestimmen. Doch bei genauerer Betrachtung wird sie durch die strukturelle Benachteiligung der Migrantenkinder im Bildungssystem konterkariert. Außerdem erinnert dieses Konzept an das konservative Politikmodell der „Vaterländer“, nach dem jedes „Volk“ auf das ihm angestammte Territorium gehört („wir haben nichts gegen Türken, wenn sie in ihrem Land bleiben“). Wenn also (Bildungs-)Politiker von Migranten verstärkt „Integration“ fordern, sollte genau hingesehen werden, was sich hinter dieser Rhetorik verbirgt bzw. ob in den von ihnen regierten Bundesländern auch die dafür notwendigen strukturellen Bedingungen vorhanden sind. Mit Beginn der 80er Jahre vollzog sich in der Pädagogik ein „Paradigmenwechsel“ von der „Ausländerpädagogik“, die nur die Migrantenkinder im Blick hatte, hin zur „Interkulturellen Pädagogik“, die darauf abzielt, dass beide Seiten, also Schüler/innen ausländischer und deutscher Herkunft, voneinander lernen. Ins Blickfeld sollten weniger zu kompensierende Defizite kommen, sondern die Differenz der Fremden, deren Kompetenzen und bereicherndes Potential anzuerkennen sei. Erst mit dieser neuen Denkfigur, so kann behauptet werden, ist es möglich, die Eigen-Wertigkeit des anderen zur Kenntnis zu nehmen, d.h. sie zu respektieren, was nicht zwangsläufig bedeutet sie zu akzeptieren. Dass die religiöse Alltagspraxis etwa strenggläubiger Muslime oder Zeugen Jehovas zu respektieren
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ist, im schulischen Kontext aber nicht in jedem Fall akzeptiert wird, zeigt den Kernkonflikt des Problems der Anerkennung. Ein vorbehaltloses Akzeptieren der Weigerung von Zeugen Jehovas, demokratische Spielregeln zu praktizieren (vgl. aktive und passive Wahlen im Rahmen der Schule), oder der Weigerung streng muslimischer Familien, ihre Töchter mit auf Klassenfahrten zu schicken, würde zu einem Kulturrelativismus führen, der für viele Lehrer/innen an die Substanz des pädagogischen Grundverständnisses von schulischer Erziehung geht. Dem steht – vor dem Hintergrund der Geschichte der Institution – der Universalitätsanspruch der deutschen Schule gegenüber, der sich nicht nur im „monolingualen Habitus“, sondern auch in einem für alle Schüler/innen verbindlichen und mehr oder weniger starren Lehrplan äußert (Gogolin 1994). Mit der bildungstheoretischen Frage nach dem Verhältnis zwischen universalen Ansprüchen und der Berücksichtigung partikularer Interessen bzw. kulturbedingter Lernvoraussetzungen wird eine Grundproblematik interkultureller Pädagogik angesprochen: Können wir im Umgang mit dem Fremden von „transkulturellen“, d.h. kulturübergreifenden und für alle Menschen geltenden Wert- und Normvorstellungen ausgehen oder gilt es sie jeweils „relativ“, d.h. im Kontext ihrer spezifischen historisch-gesellschaftlichen Entwicklung, zu verstehen und anzuerkennen? Während die universalistische Position in der Tradition Kants lange Zeit unbestrittene Gültigkeit beanspruchen konnte, wurde dieses Deutungsmuster vor allem durch kulturanthropologische Forschungen in Frage gestellt. Einen besonderen Akzent erhielt die „relativistische“ Position durch die politisch-ökonomisch fundierte Kritik am eurozentrischen Weltbild, in dem die Jahrhunderte lange Herrschaftsgeschichte Europas verdichtet erscheint. Vertreter universalistischer Ansätze gehen davon aus, dass es unabhängig von der Zugehörigkeit zu einer Gesellschaft oder Kultur „Universalien“ im menschlichen Zusammenleben gibt. „Sie unterstellen also, dass historisch sowohl die einzelnen sozialen Systeme als auch die individuellen Denkund Handlungsmuster innerhalb eines universalen Gesamtsystems integriert und vereinheitlicht werden, wodurch sich allgemein gültige Strukturen ausformen“ (Kiesel 1996, 112). Daher gelte es eine „transkulturelle Identität“ bzw. „kulturtranszendierende Bildungsprozesse“ zu entwickeln und die Rede von „Kulturen“ als historisch befangen zu überwinden (vgl. ebd., 114 f.). Mit kulturrelativistischen Ansätzen (vgl. ebd., 118 ff.) wird vor dem Hintergrund des Postulats der Gleichwertigkeit der Kulturen die Einsicht in die Zwangsläufigkeit ethnozentrischer Sichtweisen gefordert, was gleichzeitig ein Erkennen der Begrenztheit der eigenen Wahrnehmung und des Verstehens beinhaltet. Weniger in gemeinsamen Normen, sondern im Bewusstwerden der eigenen Kultur und in der sensiblen Wahrnehmung des anderen ließen sich Verbindungswege zwischen den Kulturen herstellen. Zu betonen gelte es die historische Bedingtheit der jeweiligen Perspektiven, zu kritisieren die Vorstellung,
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es gäbe irgendeinen Standpunkt, von dem aus für alle Menschen gültige Aussagen gemacht werden könnten. „Aus der Anerkennung der Verschiedenheit und Gleichwertigkeit der Kulturen sowie ihrer Prozesshaftigkeit leitet Interkulturelle Pädagogik die Aufgabe her, das Bewusstsein eigener kultureller Identität zu fördern“ (Prengel 1993, 85). Gerade der Schule komme mit ihrem – historisch bedingten – universalistischen Anspruch eine homogenisierende Wirkung zu, was eben nicht zur Anerkennung von Vielfalt führte, sondern zur Diskriminierung „des anderen“, dessen „Defizite“ im Verhältnis zur „Norm“ damit erst deutlich wurden (vgl. Prengel 1993). Universalistische Ansätze beinhalten tendenziell „evolutionär“ begründete „Entwicklungsskalen“ – und damit zwangsläufig die Vorstellung von der Höherwertigkeit dessen, der sich selbst an deren oberem Ende situiert. Aus philosophischer wie aus erziehungswissenschaftlicher Perspektive erscheinen die beiden Positionen scharf konturiert bzw. abgrenzbar. In der pädagogischen Praxis – so meine These – geht es nicht um ein Entweder-oder, sondern darum, die Positionen als Spannungsfeld zu begreifen, in dem sich das pädagogische Handeln bewegt. Zugleich wird damit verdeutlicht, dass ein wesentliches Kennzeichen dieses Handelns im Allgemeinen und interkultureller Arbeit im Besonderen in der Wahrnehmung und Gestaltung von ambivalenten und sich ständig verändernden Handlungsstrukturen liegt. Diese Tätigkeit dürfte umso besser gelingen, je klarer Vor- und Nachteile der konträren Positionen sind. Daher seien im Folgenden stichwortartig noch einmal deren Kernpunkte sowie die Kritik an ihnen aufgeführt (vgl. Kiesel 1996, 111 ff.; Schöfthaler 1984, 333 ff.):
„Kulturuniversalismus“ – es gibt kulturübergreifende „Universalien“ (z.B. Moralsystem/Menschenrechte) – das „essentiell Humane“ ist allen Menschen präsent – lernendes Subjekt im Mittelpunkt, unabhängig von ethnischer … Zugehörigkeit – „transkulturelle“ Orientierung: Überwindung einer Fixierung auf (National-) Kulturen; Entwicklung übergreifender Bildungskonzepte (vgl. diskursfähiges, mündiges Subjekt) – blind gegenüber historisch und kulturbedingten Differenzen; universalistische Perspektive ist selbst ethnozentrisch – universale Prinzipien wirken homogenisierend und bewirken gleichzeitig Ausgrenzung bzw. die Fest-Stellung von „Defiziten“ – „evolutionäre“ Entwicklungsskalen/-hierarchien sind meist mit (Minder-/Höher-)Wertigkeit verbunden – assimilatorisches Integrationskonzept, das auf Minderheiten inferiorisierend und ausgrenzend wirkt
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– es gibt keinen außerhalb der Kultur liegenden Standpunkt zur Entwicklung „universaler“ Prinzipien
„Kulturrelativismus“ – Anerkennung ethnischer Differenz und kultureller Vielfalt – Verstehen des anderen in seinem spezifischen historisch-gesellschaftlichen Kontext – „Gleichwertigkeit“ der Kulturen; Bewusstwerden ethnozentrischer Perspektiven – intersubjektive Anerkennung: Dialektik Fremd- und Selbstwahrnehmung sowie Selbstachtung und Achtung des anderen – Postulat der „Gleichwertigkeit“ kann zu Werterelativismus/Gleich-Gültigkeit und damit zu Handlungsunfähigkeit führen – Gefahr der Rechtfertigung von Menschenrechtsverletzungen als „kulturell bedingt“ – bietet keine Kriterien zur Konfliktlösung – ist in der (institutionell verfassten) pädagogischen Praxis nicht durchzuhalten Annedore Prengel ist sicher zuzustimmen, wenn sie konstatiert: „Das gesellschaftlich wertvolle Gut, das Schulen und andere pädagogische Einrichtungen aus eigener Machtbefugnis und eigenen Ressourcen zu verteilen haben, heißt ‚intersubjektive Anerkennung‘ jeder einzelnen Person in ihrer je einmaligen Lebenslage“ (Prengel 1995, 61). Gleichzeitig gilt es eine solche Subjektorientierung im Kontext des gesellschaftlichen Subsystems Schule zu verorten. So produziert etwa das vorherrschende Leistungskonzept gerade wegen seines egalitären Anspruchs Versager, d.h. Schüler/-gruppen, denen Anerkennung entzogen wird, weil sie die „für alle einheitliche“ Messlatte nicht überspringen konnten. Es dürfte nicht schwerfallen sich die Ursachen dafür speziell für Migrantenkinder vorzustellen, zumal zu den familiär und milieubedingten Benachteiligungen häufig die rechtliche Ungleichbehandlung hinzukommt. Wenn z.B. in einer Kölner Schule eine Minderheit von Aussiedlerkindern mit deutschem Pass doppelt so viele Stützkurse (bezahlt) bekommt wie die doppelt so große Gruppe der Schüler mit türkischer und kurdischer Muttersprache, ist Pädagogik gegenüber diesen strukturell abgesicherten Diskriminierungserfahrungen relativ machtlos. Die Bedeutsamkeit juristischer und politischer (Nicht-)Anerkennung als systemische Bedingung für die pädagogische Arbeit ist also nicht zu unterschätzen. Zu den Rahmenbedingungen pädagogischer Arbeit gehört auch die Wirklichkeit, die durch Sprache geschaffen wird: Wenn etwa pauschal von „den Ausländerkindern“ gesprochen wird, ohne zu unterscheiden zwischen gerade zugezogenen Flüchtlingskindern und Kindern von bereits in der dritten Generation hier lebenden Arbeitsmigranten, dann sind solche Begriffe einerseits Ausdruck einer
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bestimmten Realitätssicht, andererseits werden damit Vorstellungsbilder erzeugt. In diesem Fall werden die Bilder des „Eigenen“ und des „Fremden“ zu jeweils abgeschlossenen Identitäten konstruiert, die wie Kugeln oder Kultur-„Kreise“ säuberlich voneinander getrennt sind. Auch Huntingtons Formel vom „Kampf der Kulturen“ wirkt in dieser Form: Es wird eine Wirklichkeit geschaffen, die zur Folge hat, dass die Welt undifferenziert durch diese Brille betrachtet wird. Stellt man sich dagegen Kulturen als Netze oder Gewebe mit fließenden Übergängen und unterschiedlichen Verdichtungen vor (vgl. Meyer 1997, 115), wären Vermischungen und Bruchlinien eher der Normalfall als die Ausnahme. Erkennbar würde, dass „das Eigene“, Vertraute und Sicherheit Vermittelnde schon immer von „Fremdem“ durchzogen ist und dadurch seine Dynamik erhält. Die faszinierende wie auch die bedrohliche Seite des Fremden anzuerkennen, ist eine der bedeutsamsten Entwicklungsaufgaben lernender Subjekte, denn damit ist die Arbeit am Weltbild untrennbar mit der am Selbstbild verknüpft. Die Lernarbeit zielt auf ein An-Erkennen der Verschiedenheit der Subjekte in ihren jeweils unterschiedlichen lebensweltlich-biographischen und historisch-gesellschaftlichen Kontexten. Es geht um eine doppelte Relationierung, die des Selbst im Horizont der anderen und die des anderen/Fremden im eigenen Verstehenshorizont. Anerkennung des Fremden wird zu einem Prozess, der seine Dynamik erhält aus der doppelten Bewegung des Fremd- und des Selbstverstehens. Damit kann sich das Bewusstsein entwickeln, dass sowohl die eigene Welt-Sicht ein Konstrukt darstellt als auch die des anderen – als Grundlage für die Suche nach gemeinsamen Handlungsmöglichkeiten. Die prinzipielle Unabgeschlossenheit dieses hermeneutischen Prozesses ergibt sich einerseits aus der Tatsache, dass jeder Verstehende bzw. Interpretierende in einen spezifischen historisch-gesellschaftlichen und kulturellen Kontext eingebunden ist, der zum Gegenstand des reflexiven Verstehens werden muss. Andererseits ist für den Hermeneutiker die Differenz zwischen der objektiven Realität des anderen – seinem Eigen-Sinn – und der eigenen Verstehensbemühung, dem Bild vom anderen bzw. dem Verstehenshorizont, unaufhebbar. Jenseits der Versuchung zur Bemächtigung des anderen kommt in einem solchen Verstehenskonzept eine bestimmte Haltung zum Ausdruck, die zum Kernbereich interkulturellen Lernens gehört: An der Kontaktgrenze zwischen dem Ich und dem Nicht-Ich wird dem Fremden Raum gegeben, der Verstehende begibt sich auf dessen Spur, um damit ihn und sich selbst besser erkennen zu können. Aber diese Spur findet er nicht vor, sondern muss sie, um im Bild zu bleiben, erkunden, probeweise konstruieren und ihre Gangbarkeit erfahren. Von entscheidender Bedeutung an dieser Verstehenshaltung ist das selbstreflexive Moment, konstruktivistisch ausgedrückt: Der Beobachter denkt sich als Teil des Bildes mit, das er entwirft und interpretiert.
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Verstehen wird damit zu einem „Erkenntnismittel, das mich davor bewahrt, dem Fremden zu nahe zu kommen, bevor ich es (oder ihn) verstanden habe. Die sinnliche Kraft des Verstehens liegt dabei in den assoziierten Bildern von dem anderen (Fremden). (...) Erst in dieser Haltung innerer Bewegung und raumzeitlicher Ruhe (ich bin irritiert, gehe aber nicht weg, sondern bleibe stehen) gewinnen Symbole vom Anderen konkrete Gestalt. Jetzt ist die Bedingung für das bildhafte Durchdenken des Gegenüberstehenden gegeben“ (Hoffmann 1991, 175). Was im Lernprozess als „Wirklichkeit des Fremden“ angeeignet wird, ist das Resultat einer wechselseitigen Wirkungsdynamik: Es ist die „Auseinandersetzung mit anderem und anderen im Rahmen einer Zwischensphäre, die eine Zuordnung und ein Zusammenspiel zwischen Erfahrendem, Erfahrenem und Miterfahrendem ermöglicht“ (Waldenfels 1991, 64). Der Kontakt mit Menschen aus soziokulturell unterschiedlichen Lebenswelten, die aktive Auseinandersetzung mit der Fremdheit der Alltagswelt und mit „fremden“ Themenbereichen ist also untrennbar verbunden mit intrapsychischen Kontaktprozessen, die v.a. für die (Selbst-)Entwicklung von Jugendlichen konstitutiv sind: Wie weit lasse ich die Befremdung zu? Wo ziehe ich die Grenze, um mein Selbst- und Weltbild, meine Identitätskonstruktion zu sichern? Was macht das Fremde mit mir? Diese Fragen verweisen auf die Selbstwahrnehmung in kommunikativen Prozessen und lassen die projektiven Anteile des Beobachters erkennen, die Bestandteile seines Bildes vom Fremden sind. Sich auf Fremde/s einzulassen, d.h. zunächst von der ihm eigenen bzw. für ihn bedeutsamen „Wahrheit“ auszugehen und vertraute Bewertungsmuster zeitweilig in den Hintergrund zu stellen, beinhaltet einen Verzicht auf absolute Gewissheiten – und die Chance persönlicher Entwicklung: „Wer die eigene Biographie interkulturell durchschaut, kann auf die Andersartigkeit anderer besser eingehen, weil er sie mit seinen eigenen Erfahrungen nicht mehr erdrücken muss. Die Angst vor dem Fremden weicht in dem Maße, in dem ich die Angst vor mir selber verliere – und eben diese nimmt mir der Fremde, weil er dazu beiträgt, dass ich über mich selbst aufgeklärt werde. Nicht daß der Fremde die Erkenntnis der Wahrheit über mich besäße, aber in der Konfrontation mit ihm kommt sie zwischen uns heraus.“(Simpfendörfer 1981, 92).
Interkulturelles Lernen bedeutet damit im Kern, die Kompetenzen zu entwickeln, in selbstreflexiver Weise mit dieser „Resonanzwahrnehmung“ umzugehen, unbewusste Vorstellungsbilder „zur Sprache“ zu bringen und sie gemeinsam mit anderen zu bearbeiten. Dies dürfte v.a. gelingen, wenn die Möglichkeit besteht, das Lernen mit Hilfe von ästhetischen, Fantasie und Kreativität freisetzenden Medien und Ausdrucksformen als Suchprozess zu gestalten. Denn die Arbeit an den Vorstellungsbildern von Fremdheit und von dem, was als „Eigenes“ wahrgenommen wird, qualifiziert dafür, mit Ambivalenz, mit uneindeutigen und sich verändernden Situationen selbstbewusster umzugehen (vgl. Holzbrecher 1997).
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„Das Buch der Umarmungen“ des uruguayischen Schriftstellers Eduardo Galeano, eine Liebeserklärung an die lebendige Vielfalt der lateinamerikanischen Kulturen, enthält einen Satz, der programmatisch das Anliegen interkulturellen Lernens ausdrücken könnte: „Unsere Identität ist nicht ein Museumsstück, das in eine Vitrine gesperrt wird, sondern die Synthese unserer alltäglichen Widersprüche, die stets aufs neue überrascht.“ (Galeano 1998, 117).
Literatur Belke, Gerlind 1996: Zweisprachige Erziehung in Schweden. Die gesetzlichen und organisatorischen Vorgaben der hemspraksreform (Reform des muttersprachlichen Unterrichts) Vorbild für unsere Reformüberlegungen? In: GEW (Hrsg.): Muttersprachlicher Unterricht. Wesentlicher Bestandteil interkultureller und mehrsprachiger Erziehung. Essen Galeano, Eduardo 1998: Das Buch der Umarmungen. Zürich Gogolin, Ingrid 1994: Der monolinguale Habitus der multilingualen Schule. Münster Hoffmann, Erich 1991: Verstehen heißt in Kontakt bleiben. In: O.-A.Burow/H.Kaufmann (Hrsg.): Gestaltpädagogik in Praxis und Theorie. Berlin, S. 171-187 Holzbrecher, Alfred 1997: Wahrnehmung des Anderen. Zur Didaktik interkulturellen Lernens, Opladen Kiesel, Doron 1996: Das Dilemma der Differenz. Zur Kritik des Kulturalismus in der Interkulturellen Pädagogik. Frankfurt/M. Meyer, Thomas 1997: Identitäts-Wahn. Die Politisierung des kulturellen Unterschieds. Berlin Prengel, Annedore 1993: Pädagogik der Vielfalt. Verschiedenheit und Gleichberechtigung in Interkultureller, Feministischer und Integrativer Pädagogik. Opladen Schöfthaler, Traugott 1984: Kultur in der Zwickmühle zwischen Relativismus und Universalismus. In: Das Argument 139/1984, S. 333-347 Simpfendörfer, Werner 1981: Sich einleben in den größeren Haushalt der bewohnten Erde – ökumenisches und ökologisches Lernen. In: Dauber, Heinrich/Simpfendörfer, Werner (Hrsg.): Eigener Haushalt und bewohnter Erdkreis. Wuppertal, S. 64-93 Taylor, Charles 1997: Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung, Frankfurt/M. Waldenfels, Bernhard 21991: Der Stachel des Fremden. Frankfurt/M.
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Anerkennungsverhältnisse im Klassenzimmer. Ein Lehrstück zum Thema „Gerechtigkeit“
Ein kleines Gymnasium in Hamburgs Norden, idyllisch zwischen Wald und Wiesen gelegen; ein Kurs Ethik mit fast 30 Schülerinnen und Schülern, zusammengesetzt aus zwei 9. Klassen. Der freundliche Umgangston im Miteinander der Schüler wäre jedem Beobachter aufgefallen; keine „Anmache“, kein Geschimpfe und kaum aufdringliches Gehabe; wer Hilfe brauchte, bekam sie. Die erste Unterrichtseinheit beschäftigte sich mit Jugendkriminalität, die Schülerinnen und Schüler hatten es so gewünscht; alle arbeiteten fleißig mit, aber irgendetwas stimmte nicht. Ständig wurden harte Strafen verlangt; die Schülerinnen und Schüler konnten die Perspektive auch nicht versuchsweise zugunsten jugendlicher Straftäter aus einem anderen sozialen Milieu wechseln. In einer folgenden Unterrichtseinheit ging es um einen Schüler, der die Klassenreise nicht mitmachen kann, weil zu Hause das Geld fehlt; diese freundlichen, sogar fürsorglichen Schülerinnen und Schüler standen hilflos vor diesem Problem; sie fanden keine Lösung. Den unmittelbar Nächsten, der wie sie selbst ist, konnten sie anerkennen, den aber, der ihnen ferner ist, nicht. „Natürlich darf man Musik-CDs, die die Freundin gekauft hat, für sich selbst kopieren; die Musikgruppe wird dadurch nicht geschädigt, denn gekauft hätte man sich die CD ja auch sonst nicht.“ (Ein Jahr später, teilidentischer Kurs)
Aber nur den Nahestehenden anerkennen, nicht jedoch den, der mir ferner ist, aber mit mir in derselben Welt lebt, ist ungerecht. Ich suchte eine Provokation, um die Lerngruppe vor eine neue Entwicklungsaufgabe zu stellen, und nahm mir deshalb vor, mit den Schülerinnen und Schülern dieses Ethik-Kurses das Mayflower-Experiment (George/Hilligen 1983, 2 ff.) durchzuspielen. Die Fragen von Gerechtigkeit und Anerkennung sollten ihnen eine existentielle Frage (Hilligen 1985, 23) werden. Ein Staat wurde gegründet; Gruppen von Siedlern, gespielt von den Schülerinnen und Schülern, wünschten sich: Demokratie – Jeder kann den Beruf erlernen, den er möchte. – Keine Gewalt – Jeder bekommt ein STARTKAPITAL. – Glaubensfreiheit – Meinungsfreiheit – Gleichheit – Freiheit – Optimale Lebensbedingungen (auf dem Planeten) – Gründung einer Regierung – Gleichberechtigung – Bau eines Zentrums – Der Umgang mit dem Startkapital ist jedem frei überlassen. – Gemeinschaftsrecht – Keine Kriege!
Das waren schon ein paar mehr oder weniger brauchbare Ziele und Regeln, aber
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sie waren noch nicht genau genug; die Struktur des neuen Systems war noch nicht zu erkennen. Also wurden die Fragen präzisiert: 1. 2. 3. 4.
Was soll für jeden Einzelnen gelten? Was soll für die Organisation und die Willensbildung der Gemeinschaft gelten? Was soll für die Verteilung der Güter gelten? Wie soll vor Gewalt und Krisen vorgesorgt werden?
Es entstand ein ausgefeilter Grundrechtskatalog, Institutionen wurden entworfen, von einer ersten Häuptlingsherrschaft bis zum späteren Aufbau eines Parteiensystems, von einer Gemeinschaftsökonomie zu einem System des Eigentums mit einem Markt. Eine Verfassung wurde verabschiedet. Aber als wir im Rahmen des Verfassungsentwurfs über die Justiz redeten, und als wir die Rechte der unverschuldet Armen im Unterrichtsgespräch klären wollten, zeigte sich keine Änderung der Einstellung der Schüler. Strafe statt Resozialisierung, und wie man dem Mitschüler, dessen Eltern die Klassenreise nicht zahlen konnten, helfen kann, blieb immer noch unklar. Wer fern steht, bleibt fremd, wird nicht anerkannt. Meine Schlussfolgerung: Eine Staatsgründung allein ist zu wenig, um moralisch-politische Entwicklung zu stimulieren; sie bedarf einer begleitenden problemorientierten moralischen und politikphilosophischen Reflexion (Grammes 2000, 354 ff.; Bohlen 2001, 2). Wie zieht man Schüler in ein Problem hinein? oder: Ein Lehrstück wird gespielt Es galt einen Weg zu finden, Schülerinnen und Schüler in den Prozess von Anerkennung und Missachtung hineinzuziehen. Der Unterricht musste sich von einem „Reden über“ zu einem „Handeln in“ verwandeln, und zwar so, dass die Anerkennungsbedürfnisse und Missachtungserfahrungen der Schülerinnen und Schüler selbst Subtext des Lernprozesses werden können. Ich wählte für einen anderen Kurs in einem neuen Anlauf experimentell einen Zugang über die Lehrkunstdidaktik. Lehrstücke nehmen ein „kollektives Lernereignis der menschlichen Gattung“ (Berg/Schulze 1995, 368) und transformieren es „exemplarisch – genetisch – sokratisch“ (Wagenschein 1999, 75) in eine Lehrststückdramaturgie (Berg/Schulze 1995, 361 ff.). Lehrstücke für den Politikunterricht und die Sozialerziehung müssen es ermöglichen, die großartig-unverzichtbare Entdeckung und Erfindung der Demokratie als Lebens-, Gesellschaftsund Herrschaftsform im Klassenzimmer neu zu entdecken und zu erfinden (Himmelmann 2001, 125). Hier wird zurückgeholt, was mir auf dem Weg von der Weltkatastrophenkunde der späten 70er und frühen 80er Jahre zu „Politik im Kern“ der 90er Jahre verloren gegangen scheint: „Politische Philosophie als Basis“ (Brumlik 1997, 12). Die Lehrkunstdidaktik fragt, wie das Wissen in den „Schlüs-
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selthemen der Menschheit“ (Berg/Schulze 1995, 364) entstanden ist. Sie modelliert es so, dass Schülerinnen und Schüler den Wegen – und auch Irrwegen – schon gegangener Erkenntnisprozesse nachspüren können, um solche grundlegenden Einsichten und Fähigkeiten zu gewinnen, die es ihnen ermöglichen, an den „Schlüsselproblemen der Menschheit“ (Klafki 1996, 56 ff.), also an den Zukunftsaufgaben, mitzuarbeiten. Schülerinnen und Schüler verspüren nach meiner Beobachtung genau bei dem was „gerecht“ ist – sei es im Umgang mit anderen, sei es im Umgang mit sich selbst –, eine Irritation, die ihnen spätestens in der Oberstufe selbst bewusst werden kann. Das muss mit einem Lehrstück zum Thema „Gerechtigkeit“ beantwortet werden; Gerechtigkeit ist Voraussetzung und Resultat anerkennender Interaktion. In diesem Lehrstück geht es um die Reinszenierung philosophischer, religiöser und politischer Überlieferungen zur Gerechtigkeit. Das Denken der westlichen Welt über Gerechtigkeit ist durch Athen und Jerusalem bestimmt, Rom vermittelte beides und London säkularisierte es (Brunkhorst 2000). Rekonstruktion: Sokrates und die Frage nach der Gerechtigkeit „Der Versuch des Menschen, sein Leben über Erkenntnis in sein Eigentum zu nehmen ..., kennzeichnet das Selbstverständnis der Antike. Erst unter den Bedingungen dieses Selbstverständnisses vermag Freiheit zum Problem zu werden als notwendige Vorstufe ihrer Verwirklichung. Bewußtsein schafft Distanz. Alle klassische Bildung beruht auf dem Distanzbegriff; er ist im anthropologischen Grundverständnis angelegt. Indem das Bewußtsein zum konstituierenden Element wird, ist das Gegebene seiner Fraglosigkeit entkleidet, es erzeugt Widerspruch.“ (Heydorn 1980, 236). Sokrates stellte der philosophischen Überlieferung nach als erster ganz konsequent die Frage nach der Gerechtigkeit und zerstörte im Streit mit jedem, dessen er habhaft werden konnte, jene Common-Sense-Antworten, die heute kaum andere sind als damals. Es müsste möglich sein, mit Hilfe der Dialoge des Sokrates in Platons „Politeia“ das Lernen der Schülerinnen und Schüler zum Thema „Was ist Gerechtigkeit?“ zu initiieren. Diese Platon-Texte sind ja heute noch so frisch wie damals,1 sie bedürfen aber einer Reinszenierung, die den Schülerinnen und Schülern angemessen ist. Ich erwartete, dass die Schülerinnen und Schüler in der Konfrontation mit Sokrates eine eigene Konzeption entwickeln würden, die durch konservativ-konventionelles „Jeder für sich“ und „Jeder nach seiner Leistung“ bestimmt sein würde. Dem sollte dann ein „dynamischer“ Begriff von Gerechtigkeit entgegensetzt werden: Der Gott des Exodus und des Bundesschlusses am Sinai ist Schöpfer und Herr der Welt; Ungerechtigkeiten kann und will er ändern. Die Welt des sozialen Lebens ist kein stahlhartes Gehäuse, nichts muss so bleiben, wie
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es ist. Seine Gebote sind an einem Maßstab der Gerechtigkeit orientiert, der den Armen und den Fremden leben lässt (Brunkhorst 2000, 73 ff.). Dennoch: Wie können offensichtliche ökonomische und soziale Unterschiede begründet und begrenzt werden? Der amerikanische Philosoph Rawls, den manche in einen Rang mit Platon und Kant stellen (Kersting 1993, 7), soll diese Frage abschließend beantworten. Bei einem Lehrstück wird ein Phänomen so exponiert, dass es bei den Schülern die Fragen, die an dieses Phänomen in der Geschichte von der Menschheit gestellt und beantwortet wurden, selbst hervorruft. Ein Sog des Denkens muss entstehen, der die Schüler erst wieder verlässt, wenn Antworten gefunden sind. Ich wollte nun herausfinden, ob es gelingen kann, die Fragen, mit denen sich Sokrates herumschlug, zu Fragen der Schüler zu machen. Aber wie kann der streitende Sokrates sokratisch/dramaturgisch unterrichtet werden? „Entscheidend ist, daß diese Anmerkungen (des Lehrers) den Gedankengang nicht drängen, sondern im Gegenteil stauen. Also nicht ungeduldig (Blick auf die Uhr): Noch eine Frage?, sondern nachdenklich: Ich kann mir nicht denken, daß alle ja dazu sagen. Daß also der Lehrer überhaupt nicht auf schnelle Zustimmung, sondern auf Einwände hofft, ja, den Mut hat und die Ruhe des Sokrates, die nach Wahrheit Suchenden in die Irre gehen und straucheln zu lassen. Ja ... sie in die Irre zu schicken. ... Der Lehrer wird deshalb sogar ... jetzt fachspezifisch (über die Sache mitredend) die Rolle des Verunsichernden annehmen dürfen.“ (Wagenschein 1999, 134; bearbeitet).
Die scheinbar einfachste Methode – Arbeit am Text – fällt aus, sie lässt keinen Denksog entstehen. Wie kommt der Streit denn nun in das Klassenzimmer? Das Schönste wäre, wenn die Schüler selbst das Lehrspiel „Sokrates gegen den Rest der Welt“ aufführen könnten. Sokrates hebelt seine Gegner jedoch nicht damit aus, dass er von einer überlegenen Position, durchreflektiert bis in die Fußnoten, seine Widersacher übertrumpft, sondern er setzt sie durch eine verblüffende Technik destruktiver Rekonstruktion, oftmals dreist, unfair und frech außer Gefecht. Können Schüler diesen Sokrates nachspielen? Kann sein, aber das dürfte wohl nicht der Regelfall sein. Aber wenn diese Streitereien des Sokrates die erste uns bekannte Variante aktueller Auseinandersetzungen um die Gerechtigkeit sind, dann muss der Schüler selbst streiten. Anders geht das nicht. Sokrates will seine Gegner erziehen, auf dass sie besser nachdenken mögen. Ein Lehrer hat dieselbe Aufgabe. Also spielt der Lehrer den Sokrates! – Aber ist er denn größenwahnsinnig? Risiko. Ich spielte also erst einmal selbst den Sokrates. Der Lehrer gegen eine vermutet meinungshomogene Schülergruppe, in der verschiedene Standpunkte nicht repräsentiert sind – ein politikdidaktisches legitimes Vorhaben (Ackermann u.a. 1994, 106)? Der Unterricht fand immer Dienstagmorgen um acht Uhr statt; eine Doppelstunde, es handelte sich um zwölf Schüler; zehn männlich, zwei weiblich aus dem
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Jahrgang elf. Ich kam in den Klassenraum, hatte vorher ein weißes Tuch über die linke Schulter geworfen. „Gestatten, Sokrates, aus Athen, von 470 bis 399 v. Chr. habe ich dort gelebt. Ich habe gehört, einige von Ihnen haben gerade einen Staat gegründet, das habe ich auch mal gemacht, jedenfalls in Gedanken. Was Sie gemacht haben, das interessiert mich sehr. Denn die Zeiten damals und heute, so verschieden sind sie gar nicht. Große Kriege hat Athen geführt, gegen die Perser sogar gewonnen, das hat niemand für möglich gehalten, und deshalb waren wir nachher führend unter den Griechen, aber wir haben die anderen Griechen schlecht behandelt, und dann waren sie alle gegen uns, vor allem die Spartaner, 30 Jahre Krieg, und wir haben fürchterlich verloren. Kein Wunder, dass bei uns darauf alles drunter und drüber ging, und keiner mehr wusste, was gut und was schlecht ist. Ja, und da habe ich mir dann überlegt, wie ein Staat beschaffen sein muss, der auf Dauer gestellt ist, der nicht schnell wieder verschwindet, der gegenüber den anderen Staaten keinen Unsinn macht. Genauer gesagt, mein berühmtester Schüler, der Platon, hat sich das dann ganz genau ausgemalt. Aber mit den wichtigsten Fragen habe ich unter allen Denkern als Erster angefangen, das kann mir keiner nehmen. Und das kam so, eigentlich ein Zufall: Im Sommer 409 war ich mit Freunden in Piräus, dem Hafen von Athen, so was wie St. Pauli in Hamburg, da gab es eine riesige Party zu Ehren einer thrakischen Göttin, deren Bild dort gerade aufgestellt worden war. Zwischendurch wollte ich mich etwas ausruhen, da kam überraschend Polemarchos auf mich zu – Polemarchos war der Sohn eines alten Bekannten von mir, von Kephalos, einem reichen Mann. ,Komm mit‘‚ sagte er, ‚gehen wir zu mir, da ist dann auch mein Vater, und da können wir uns etwas ausruhen und später, wenn es uns dann etwas besser geht, wieder hier zum Fest gehen.‘ Ja, warum nicht, sagte ich mir. Im Haus trafen wir den alten Kephalos, ich begrüßte ihn freundlich, ‚Schön, dass ich dich hier sehe, mit alten Leuten rede ich gerne, ich bin ja auch schon 60, du bist 80, und da sehe ich, was ich bald vor mir haben werde. Erzähl doch mal, wie ist das, wenn man älter wird?‘ ‚Gut, aber so ganz sicher bin ich mir noch nicht, mit 80 denkt man auch an den Hades. Vielleicht muss ich da doch büßen für vieles, was ungerecht war.‘ ‚Aber hilft dir dabei nicht dein Reichtum? ,Ja sicher, was ich mal falsch gemacht habe, kann ich leichter wieder in Ordnung bringen, aber ein Armer, der genau auf die Dinge achtet und vernünftig lebt, kann auch im Alter zurechtkommen. Wie es ja auch genauso Reiche gibt, die sich alles verderben, weil sie nicht die richtige maßvolle Einstellung zum Leben haben.‘ Eigentlich wollte ich ja nur friedlich plaudern, etwas Smalltalk, aber bei so viel spießigem Gerede wollte ich es dann doch genau wissen. ,Willst du damit sagen, dass ein Armer genauso gerecht sein kann wie ein Reicher?‘ Wollte er das sagen? Bevor ich Ihnen, liebe junge Freunde, sage, wie das Gespräch weiterging – es führte immerhin zu Begründung des berühmtesten Staates der Weltgeschichte, jedenfalls in Gedanken –, möchte ich Sie bitten, sich selbst eine Antwort zu überlegen. Aber bedenken Sie, Sie wissen es ja schon, Ihr Lehrer übt ab und zu, recht stümperhaft, wie ich finde, mich nachzumachen, ich kann recht scharfsinnig und recht brutal sein, wenn ich jemandem, der Unfug redet, übers Maul fahre. Damit es gut wird, machen Sie es bitte so, wie wir es in Athen gemacht haben: Wenn es um schwere Dinge ging, dann sind wir aufgestanden und sind miteinander spazieren gegangen, zu zweit oder zu dritt, und haben dabei miteinander
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diskutiert. Und so in 20 Minuten kommen Sie bitte wieder, schreiben Sie nichts auf, Notizen machen nur die Schwachen, und dann sagen Sie es mir: Kann ein Armer genauso gerecht sein wie ein Reicher, oder hat ein Reicher dazu mehr Möglichkeiten?“ (nach Platon 1983, 83 ff.).
Die Schüler begriffen diese Sokrates-Frage als eine, in der es um die Gerechtigkeit als persönliche Tugend geht, um Anerkennung im Vis-à-vis. Eine typische Antwort: Beispiel: Reicher rettet einen Armen und ein Armer rettet einen Reichen. In beiden Situationen kann man von Gerechtigkeit sprechen, wenn der Gerettete dem Retter seine Dankbarkeit aus voller Überzeugung ausdrückt. Dies kann folgendermaßen aussehen: Da der Arme dem Reichen sein Leben quasi neu geschenkt hat, wäre es gerecht, wenn er ihn aus Dankbarkeit an seinem Wohlstand teilhaben lässt, da er diesen jetzt nur noch dem Armen zu verdanken hat. Hingegen wäre es nicht gerecht, wenn der Arme dem Reichen als Dank seine letzten Ersparnisse gäbe, da er dann noch ärmer wäre und der Reiche keinen Nutzen davontragen würde. Deshalb sollte er seine Dankbarkeit durch innere Werte zum Ausdruck bringen, da es dem Reichen schon reicht, wenn er Anerkennung und Dankbarkeit entgegengebracht bekommt. In beiden Fällen muss die Dankbarkeit ehrlich gemeint sein und dies auch mit vollem Bewusstsein, warum man dies tut, geschehen.
Wird der Vorgang, über den nachzudenken ist, extrem – eben die Lebensrettung –, dann kann Gerechtigkeit nicht als Äquivalentenverhältnis gedacht werden. Dann ist vielmehr auf das Vermögen des Einzelnen, das Seine – auch seine Pflichten – zum Ausdruck zu bringen, abzuheben. Verletzungen müssen vermieden werden, so könnte man dieses Verständnis von Gerechtigkeit näher bestimmen. Schüler sind im Umgang mit Eltern und Lehrern ja fast immer die Schwächeren; sie verteidigten hier, indem sie die Anerkennung des Armen verlangten, sich selbst, die Unsicherheit ihrer sozialen Position eher ahnend als erkennend. Ihre Gerechtigkeit, ihre Anerkennung durch die Stärkeren wurde zum Subtext des Gesprächs, verwickelte sie in die Sache. Und damit steckte in dieser Frage nach Gerechtigkeit als einer Frage nach der Anerkennung durch andere ein Gedanken und Gefühle treibendes Potential, aber zunächst einmal ein anderes als ein politisches, eines der semi-intimen Situationen. Ganz langsam weitet Platon den Blick auf sozialtheoretische Fragen, von der Anerkennung der Individuen vis-à-vis zur Anerkennung im Staat. In einer der späteren Doppelstunden wurde dann dieser Text gelesen; die Aufgabe war ganz konventionell: „Was versteht Thrasymachos unter Gerechtigkeit?“ „Sag mir, Sokrates, hast du eine Amme?“ „Ja, wieso denn?“ fragte ich. „Weil du glaubst, die Schaf- oder Rinderhirten achten nur auf das Wohl ihrer Herden und mästen und betreuen sie zu einem andern Zweck als zum Vorteil ihrer Herren und ihrem eigenen. Und ebenso meinst du, die Herrscher in den Staaten, und zwar die wahren Herrscher, verhielten sich anders zu ihren Untergebenen als der Hirt zu seiner Herde, und ihr Ziel bei Tag und Nacht sei ein anderes als
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ihr eigener Vorteil, und so tief bist du in das Wissen von Recht und Gerechtigkeit, von Unrecht und Ungerechtigkeit eingedrungen, dass dir ganz entgeht, wie die Gerechtigkeit und das Gerechte in Wahrheit der Vorteil des andern ist, nämlich des Mächtigen und Herrschenden, zugleich aber die eigene höchste Schmach; denn man schilt solche dann Tempelräuber, Sklavendiebe, Einbrecher, Räuber, Diebe, wenn sie diese Untaten einzeln verüben. Wer aber außer ihrem Besitz die Bürger selbst unterwirft und versklavt, den schmäht und schimpft man nicht, sondern preist ihn glücklich und selig; das machen nicht nur die Bürger, sondern alle, die seine volle Schurkerei erfahren, denn wer die Ungerechtigkeit schmäht, macht es nicht aus Furcht vor dem Unrechttun, sondern vor dem Unrechtleiden! So ist, mein Sokrates, die Ungerechtigkeit stärker, edler und mächtiger als die Gerechtigkeit, wenn sie nur groß genug ist; und wie ich am Anfang sagte, der Vorteil des Mächtigen ist das Gerechte, das Ungerechte aber, was sich selber Nutzen und Vorteil schafft.“ „Auf denn, Thrasymachos!“ sagte ich. „Antworte uns von Anfang an! Die vollendete Ungerechtigkeit ist deiner Meinung nach gewinnbringender als die vollendete Gerechtigkeit?“ „Das behaupte ich.“ „Also ist die Gerechtigkeit ein Laster?“ Thrasymachos: „Nein, sondern eine dummedle Gutmütigkeit!“ Ich: „Die Ungerechtigkeit ist also dann eine Bösmütigkeit?“ „Nein, sondern Klugheit!“ (Platon 1983, 106 ff., bearbeitet).
Gerechtigkeit ist das, was die Mächtigen tun. Der, der das dann als Gerechtigkeit nimmt und freiwillig tut, der ist ein „dummedel Gutmütiger“. Thrasymachos: Es ist sinnlos, auf wechselseitige Anerkennung zu setzen. Rolf: „Das mit der Gerechtigkeit ist in jedem Bereich des Lebens anders, anders im Beruf und in der Wirtschaft, anders in der Familie und gegenüber Freunden.“2 Eckart: „Jeder kleine Angestellte möchte doch aufsteigen und sich einmal selbstständig machen, denn dann verdient er richtig. Nur als Unternehmer kann man richtig Profit machen mit dem, was man verkauft.“ Hans: „Politiker wollen wieder gewählt werden, das ist auch egoistisch. Aber da kann das Volk was von haben, weil sie dazu ja etwas machen müssen, was dem Volk zugute kommt.“ Eckart: „In der Wirtschaft müssen die Unternehmer ja auch was anbieten, was anderen zugute kommt.“ Christine: „Nein, die Unternehmen können verkaufen, je nachdem, wie sie für ihr Produkt werben und es mit Macht in den Markt drücken. Die Waren können aber ganz schlecht sein. Und es kommt auch vor, dass Politiker dem Volk eine schlechte Politik als in seinem Interesse liegend verkaufen.“
Welche dieser Auffassungen ist richtig? Gilt nur der Egoismus, ohne Rücksicht auf die Folgen, oder führt dieser Egoismus auch zu guten Ergebnissen für die anderen? „Offensichtlich gibt es beides.“ Wir beschlossen, es bei dieser Unklarheit zu belassen, mehr konnten wir hier nicht tun. Rekonstruktion: John Rawls und die Frage nach der Gerechtigkeit Es galt nun, die gegenwärtigen Ungleichheiten in den Blick zu nehmen – und damit im Subtext die Lebenschancen der Schüler. John Rawls ist hier der Sozialtheoretiker der Wahl, weil die Grundfigur seiner Philosophie – die Verhand-
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lung hinter dem Schleier der Unwissenheit – selbst eine didaktische Konstruktion ist, nimmt sie doch den Leser in ein Gedankenexperiment hinein. „Wir wollen uns also vorstellen, dass diejenigen, die sich zu gesellschaftlicher Zusammenarbeit vereinigen wollen, in einem gemeinsamen Akt die Grundsätze wählen, nach denen Grundrechte und -pflichten und die Verteilung der gesellschaftlichen Güter bestimmt werden. Die Menschen sollen im Voraus entscheiden, wie sie ihre Ansprüche gegeneinander regeln wollen und wie die Gründungsurkunde ihrer Gesellschaft aussehen soll. Ganz wie jeder Mensch durch vernünftige Überlegung entscheiden muss, was für ihn das Gute ist, d.h. das System der Ziele, die zu verfolgen für ihn vernünftig ist, so muss eine Gruppe von Menschen ein für alle Mal entscheiden, was ihnen als gerecht und ungerecht gelten soll. Die Entscheidung, die vernünftige Menschen in dieser theoretischen Situation der Freiheit und Gleichheit treffen würden, bestimmt die Grundsätze der Gerechtigkeit. (Wir nehmen für den Augenblick an, dass dieses Entscheidungsproblem eine Lösung hat.) In der Theorie der Gerechtigkeit als Fairness spielt die ursprüngliche Situation der Gleichheit dieselbe Rolle wie der Naturzustand in der herkömmlichen Theorie des Gesellschaftsvertrags. … Zu den wesentlichen Eigenschaften dieser Situation gehört, dass niemand seine Stellung in der Gesellschaft kennt, seine Klasse oder seinen Status, ebenso wenig sein Los bei der Verteilung natürlicher Gaben wie Intelligenz oder Körperkraft. Ich nehme sogar an, dass die Beteiligten ihre Vorstellung vom Guten und ihre besonderen psychologischen Neigungen nicht kennen. Die Grundsätze der Gerechtigkeit werden hinter einem Schleier des Nichtwissens festgelegt. Dies gewährleistet, dass dabei niemand durch die Zufälligkeiten der Natur oder der gesellschaftlichen Umstände bevorzugt oder benachteiligt wird. Da sich alle in der gleichen Lage befinden und niemand Grundsätze ausdenken kann, die ihn aufgrund seiner besonderen Verhältnisse bevorzugen, sind die Grundsätze der Gerechtigkeit das Ergebnis einer fairen Übereinkunft oder Verhandlung.“ (Rawls 1998, 28 f.).
Und das Ergebnis dieser Verhandlungen hinter dem „Schleier der Unwissenheit“ sind zwei Prinzipien: 1. Jedermann soll gleiches Recht auf das umfangreichste System gleicher Grundfreiheiten haben, das mit dem gleichen System für alle anderen verträglich ist. 2. Soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten sind so zu gestalten, dass (a) vernünftigerweise zu erwarten ist, dass sie zu jedermanns Vorteil dienen, und (b) sie mit Positionen und Ämtern verbunden sind, die jedem offen stehen. (Rawls 1998, 81). Die Schüler den Text nur lesen zu lassen, führt, wie ich früher in anderen Kursen feststellen konnte, noch nicht einmal zu seinem intellektuellen Verständnis. Der Text ist gerade verteilt, dann meldet sich regelmäßig der erste Schüler: „Das ist doch ganz utopisch!“ Deshalb schien es mir in einem früheren Versuch nahe zu liegen, dass die Schülerinnen und Schüler diese Verhandlung in einer Gründungsituation nachspielen. Es war nicht schwer, Rawls’sche politische und soziale Gleichheitsprinzipien von Schülerinnen und Schülern (er-)finden zu lassen; aber es gelang nicht, diese Gleichheitsprinzipien dann mit Ungleichheitsprinzipien ins Verhältnis zu setzen. Das ist eine zu komplizierte intellektuelle Operation. Ich
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wollte nun probieren, ob es möglich wäre, Grundzüge der „Theorie der Gerechtigkeit“ ohne weitere Vorgaben im Gespräch mit den Schülern zu entwickeln. Dazu fand ich bei Rawls einen zweiten Argumentationsstrang, die „Kohärenzargumentation“. „Das Kohärenzmodell lässt sich folgendermaßen beschreiben: Um zu gerechtfertigten moralischen Prinzipien zu kommen, müssen wir (l) von unseren moralischen Alltagsurteilen ausgehen. Dann müssen wir (2) durch die Anwendung allgemeiner, für die Urteilstätigkeit überhaupt geltender Rationalitätskriterien aus unseren moralischen Alltagsurteilen die unvernünftigen, emotional verzerrten und vorurteilsgeprägten Urteile herausfiltern. Danach müssen wir (3) aus den inhaltlichen Übereinstimmungen und formalen Gemeinsamkeiten unserer rational überprüften moralischen Alltagsurteile sowie aus den ihnen zugrunde liegenden allgemeineren Vorstellungen durch Abstraktion und Explikation normative Prinzipien ableiten. Schließlich müssen wir (4) unsere wohl überlegten moralischen Alltagsurteile mittels der aus ihnen gewonnenen Explikationsprinzipien in einen systematischen, in sich widerspruchsfreien Zusammenhang bringen. Als gerechtfertigt können moralische Prinzipien nach den begründungstheoretischen Vorstellungen des Kohärenzmodells dann gelten, wenn sie unseren wohl bedachten, nach reiflicher Überlegung gefällten moralischen Alltagsurteilen Kohärenz verleihen.“ (Kersting 1993, 120 f.).
Wie konnte ich diesen langweilig zu lesenden und zudem sehr komplexen Argumentationsweg den Schülern so erschließen, dass sie sich in ihm selbst wieder finden? Die Schüler kannten nur den späteren Ausgangspunkt der Suche nach einem besseren Verständnis von Gerechtigkeit; sie dachten, dass ich, der Lehrer, meinte, solch ein Verständnis zu kennen; aber sie hielten das für eine Theorie, die man wie jede andere als bloße Meinung durch eine andere fast argumentlos ersetzen könne. Zu einem anderen Ergebnis konnte der Unterricht bei den Schülern nur kommen, wenn sie diese Theorie in ihrem Gang Schritt für Schritt selbst finden würden, dabei jeden Schritt immer wieder neu prüfend: „Ist das ein Zwischenergebnis, mit dem wir alle mindestens vorläufig übereinstimmen können, weil wir es selbst gefunden und nach vielen Seiten abgesichert haben?“ „Bislang sind wir trotz langen Bemühens um ein Verständnis dessen, was man Gerechtigkeit nennt, noch nicht weit gekommen, es steht im Raum, dass alle Menschen nur nach ihren Interessen handeln und sonst gar nichts (Thrasymachos). Das ist schon was, aber noch nicht viel. Es geht um eine politische, die ganze Gesellschaft umfassende Definition von Gerechtigkeit. Als Erstes müssen wir hier mal einen festen Ausgangspunkt gewinnen. Geben Sie mir doch mal eine spontane Definition von Gerechtigkeit.“ „Ich soll den anderen so behandeln, wie ich selbst von ihm behandelt werden möchte.“ Ein Glücksfall von Antwort! „Und was bedeutet das für die Menschen, von denen da die Rede ist?“ „Das bedeutet, dass sie sich immer im Griff haben müssen, mit Ruhe und Bedacht handeln müssen, nicht aufgeregt, und sich nicht hinreißen lassen dürfen.“ Noch ein Glücksfall! „Und
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was müssen die beteiligten Menschen dabei gegenseitig von sich annehmen?“ „Dass sie einander gleich sind.“ „Wenn sie sich als gleich ansehen, welche Rechte müssen sie sich dann gegenseitig zubilligen? Wir wollen hier ja auf die Politik zu.“ „Bestimmte Freiheiten, z.B. die Meinungsfreiheit.“ Damit ist ein erster Schritt erfolgreich vollzogen; wir haben die Goldene Regel, den rationalen Egoismus und die Rawls’schen Grundgüter. „Also bestimmte Freiheiten soll jeder gleich haben?“ „Ja, ganz sicher!“ „Auch noch mehr politische Rechte sollen gleich sein? Man könnte doch sagen, die Klügeren sollten drei Stimmen bei der Wahl haben, und andere nur eine.“ Die Antwort fällt den Schülern nicht leicht. „Was würde denn Thrasymachos sagen, wie die Klügeren dann stimmen würden?“ „Nach ihren Interessen. Und nicht nach den Interessen der Gemeinschaft. Also geht das nicht.“ Aber wie steht es denn nun mit der sozialen Gleichheit? „Schauen wir bei uns in die Gesellschaft, dann sehen wir aber nicht nur Gleichheit, gleiche Rechte in der Politik, die uns sehr einleuchten, wir sehen auch Ungleichheit im Wohlstand, es gibt Reiche und es gibt Ärmere. Wie kann man denn das im Zusammenhang mit der Gerechtigkeit sehen?“ „Richtige Gleichheit gibt es vielleicht nur im Kommunismus, wenn wir uns das konsequent denken wollen.“ Aber das wollte keiner. Denn Kommunismus, das war ja gerade danebengegangen. „Nein, wir müssen mal sehen, ob wir bei unserem Standpunkt des rationalen Egoismus bleiben können und trotzdem Ungleichheit als gerecht begründen können. Also die Frage, wir gehen jetzt etwas zurück, um einen neuen Anlauf zu bekommen, lautet, wie können wir mit dem rationalen Egoismus soziale Ungleichheit begründen und gleichzeitig ein gerechtes Maß dafür finden? Fangen wir beim Reichen an, welches Interesse hat der?“ Der hat ein Interesse daran, so reich wie möglich zu sein, und der Ärmere will vom Reichtum möglichst viel abbekommen, und vielleicht genauso viel Wohlstand haben wie der Reiche. Das sind doch Gegensätze, da ist doch ein Konflikt. Gibt es eine Möglichkeit, diesen Konflikt rational-egoistisch zu überwinden? „Aber wann fühlt der Reiche sich in seinem Reichtum sicher?“ „Wenn der Ärmere ihm den Reichtum freiwillig gönnt, weil er zufrieden ist mit dem, was er hat. Und zufrieden ist er eigentlich erst, wenn er wirklich was hat, das ihm reicht. Also muss der Reiche dafür sein, dass es den Ärmeren gut geht, sonst wird sein Leben ungemütlich und er kann seinen Reichtum nicht wirklich genießen.“ „Und wie ist es mit den Ärmeren, haben die auch ein rational-egoistisches Interesse daran, dass die Reichen reich sind?“ Erst mit Einhilfe kamen die Schülerinnen und Schüler darauf, dass Reichtum auch was mit Investitionen zu tun hat. „Wenn der Reiche seinen Reichtum dazu verwendet, die Gesellschaft voranzubringen, wenn er Lokomotive der Gesellschaft ist, dann hat auch der Ärmere was davon. Sonst schadet der Mangel an Reichtum auch dem Armen.“
Ich ließ die einzelnen Schritte wiederholt prüfen und fragte jedes Mal nach: Jeder der Schüler stimmte zu, dass wir immer beim Prinzip des rationalen Egoismus geblieben sind und nicht zu allgemeinen Prinzipien von Menschenliebe oder Ähnlichem, deren Ableitung nicht jedem einleuchtet, gegriffen hatten und dennoch etwas gefunden hatten, das man vielleicht als Gerechtigkeit bezeichnen könnte. In der nächsten Doppelstunde wurde die gewonnene gedankliche Möglichkeit vertieft; die „Konferenz hinter dem Schleier“, also Rawls‘ anderer Argumentati-
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onsgang, war an der Reihe. Ein kleiner Trick half: Ich fragte, wie Babys, hätten sie vor ihrer Geburt die Möglichkeit, einen kleinen, etwas unscharfen Blick in die Welt und auf sich zu werfen, in einer „Konferenz vor der Geburt“ die Verteilungsverhältnisse in der Welt wohl regeln würden. Nach kurzer Verblüffung war das Setting dieses Gedankenexperiments verstanden und die Schüler entwarfen Prinzipien, die denen von Rawls sehr nahe kamen. Später haben sie dann eine Darstellung der „Theorie der Gerechtigkeit“ bekommen: Sie hatten diese Theorie in ihren Grundzügen selbst erarbeitet! Anerkennungsprozesse in genetischer Rekonstruktion Was ist hier geschehen? Das Lehrstück sollte den Inhalt von Gerechtigkeit durch eine rekonstruierende didaktisch-methodische Inszenierung als einer wichtigen, allerdings auch umstrittenen, politischen und sozialen Errungenschaft unserer Geschichte, von den Schülern (wieder-)erfinden lassen. Es ging auf mehreren Ebenen um „Anerkennung“: Die drei Anerkennungsformen der Liebe, des Rechts und der sozialen Wertschätzung (Honneth in: Pongs 2000, 93) sind im Unterricht nicht nur Gegenstand, sie bestimmen auch die Methode. Damit werden sie zugleich in vielen Dimensionen erfahrbar: 1. Das Selbst: Ich habe es selbst herausgefunden! 2. Im Vis-à-vis: Ich habe es mit anderen zusammen herausgefunden! 3. Im Subtext: Ich möchte nicht der Schwächere sein! Und: Der andere ist wie ich! 4. Im Inhalt: So bespricht man Anerkennung und Missachtung in der philosophischen und politischen Tradition! 5. Als Maßstab: Ja, jetzt habe ich etwas, mit dem ich andere und mich beurteilen kann! 6. Für die Praxis: Ja, so kann man handeln wollen! Das ergibt für mich und für alle einen Sinn! Der Unterricht nahm seinen Ausgang bei den Dialogen des Sokrates in Platons „Politeia“; dabei warf er die Schüler in die Dialoge selbst hinein, sie mussten in ihnen Stellung nehmen und sahen ihr Anerkennungsbedürfnis von Sokrates thematisiert. In dem hier nicht berichteten zweiten Schritt lernten sie das Gerechtigkeits-Verständnis der biblischen Exodus-Tradition kennen.3 Die „Theorie der Gerechtigkeit“ von Rawls entwickelten sie in ihren zwei Fassungen Schritt für Schritt selbst. Ihre eigene rekonstruierende Erkenntnisleistung erkannten sie dann in der Lektüre dieser Theorie wieder. Die Schülerinnen und Schüler beurteilten ihre Lösung von dieser modernen und dennoch schon klassischen Gestalt her und umgekehrt; dabei erfuhren sie die beachtliche Qualität ihrer Entwürfe. Die schöpferisch-(re-)konstruierende Aktivität der Schülerinnen und Schüler ist in diesem Erkenntnisgang von ausschlaggebender Bedeutung. Die Rolle des Lehrers ist nicht die des Belehrenden, sondern des Fragenden, des Diskussions-
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und Streitpartners und des sokratischen Geburtshelfers. Das Ergebnis wird von den Schülerinnen und Schülern im Ringen mit der Problemstellung und den Mitschülern selbst gefunden. Dadurch gewinnen sie ein begründetes Selbstvertrauen, eben Selbstanerkennung. Sie erfahren, dass sie fähig sind, selbst Gedanken und Anschauungen sinnhaft hervorzubringen. Derartige Gedanken waren ihnen zuvor nicht nur kompliziert, sondern letztlich auch überflüssig erschienen, weil sie ihrer Welt nicht verbunden schienen. Jetzt aber wissen sie, dass ihre Probleme, Anerkennung zu finden und zu geben, verallgemeinerungsfähig sind und diese Verallgemeinerungen ihnen Hilfe für die Entwicklung eigener, begründeter Auffassungen sein können. Der Zugriff der Lehrkunstdidaktik auf gegenwärtige Probleme gegenwärtiger Menschen ermöglicht dies. Die Lehrkunstdidaktik sucht auch im politischen Unterricht die ursprüngliche Situation: Menschen leben zusammen und dabei gibt es immer schon Probleme. Aber das Rad muss nicht neu erfunden werden, das Schülerindividuum ist nicht verloren auf sich selbst gestellt; die Ideengeschichte zeigt schon erkannte Fragen und schon gefundene Lösungen, deren rekonstruierende Aneignung heutiges Fragen und heutiges Problemlösen erleichtert. Dabei gelangen die Schülerinnen und Schüler zu jenen nicht hintergehbaren politischen Standards unserer Zeit in einer Weise, die ihnen selbst Orientierung in ihren Kämpfen um ihre Anerkennung und den an sie gestellten Anforderungen, andere anzuerkennen, ermöglicht.
Anmerkungen 1 Je länger ich mich mit der politischen Philosophie der Griechen beschäftige, desto mehr erstaunt es mich, dass sie im Politikunterricht heute fast nicht vorkommt (Ausnahme: Sutor 1994, 35 und 80 f.) und in der Politikdidaktik nur in den Grundlagenkapiteln der Lehrbücher erwähnt wird, beispielsweise bei Sutor (1984, 41 ff.) und Hilligen (1985, 35). Es liegt dort schon fast alles, was wir brauchen, im Ursprung vor. Mindestens als Frage. – Es ist eben kein deutsch-idealistischer Zeitgeistzufall, dass der erziehende Unterricht Herbarts die Beschäftigung mit den Griechen an den Anfang stellte. 2 Womit Rolf den Grundgedanken von Michael Walzers „Sphären der Gerechtigkeit“ gefunden hat. 3 Der Grund ist einfach: Ich betrachte ihn als nicht gelungen.
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Literatur Ackermann, Paul u.a. 1994: Politikdidaktik kurz gefasst. Schwalbach/Ts. Berg, Hans Christoph/Schulze, Theodor 1995: Lehrkunst – Lehrbuch der Didaktik. Neuwied/ Kriftel/Berlin Gerd Bohlen: Die Inselgesellschaft – Über Gesellschaftsentwürfe von Schülern in Praxis und Theorie politischer Bildung, http://www.leps.de/lehrstuecke/bohlen.pdf Brumlik, Micha 1997: Politische Bildung – Braucht sie eine normative Theorie? In: kursiv 4/ 1997, S. 12-19 Brunkhorst, Hauke 2000: Einführung in die Geschichte der politischen Ideen. München Grammes, Tilman 2000: „Inseln“ – Lehrstücke und Reflexionsräume für Werte-Bildung in didaktischer Tradition. In: Breit, Gotthard/Schiele, Siegfried (Hrsg.) 2000: Werte in der politischen Bildung. Schwalbach/Ts., S. 354-373 Heydorn, Heinz-Joachim 1980: Zur bürgerlichen Bildung – Anspruch und Wirklichkeit – Bildungstheoretische Schriften, Bd 1. Frankfurt/M. Henkenborg; Peter 2000: Politische Bildung als Kultur der Anerkennung. In: kursiv 2/2000, S. 32-35 Henkenborg, Peter 2001: Zur Philosophie des Politikunterrichtes, http://www.sowionlinejournal.de/2001-1/henkenborg.htm Hilligen, Wolfgang/ Gagel, Walter/ Buch, Ursula 1978: sehen – beurteilen – handeln (7./10. Schuljahr). Frankfurt/M. Hilligen, Wolfgang/ George, Siegfried 1983: sehen – beurteilen – handeln (5./6. Schuljahr). Frankfurt/M. Hilligen, Wolfgang 1985: Zur Didaktik des politischen Unterrichts, 4. völlig neu bearbeitete Aufl., Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung. Bonn Himmelmann, Gerhard 2001: Demokratie-Lernen als Lebens-, Gesellschafts- und Herrschaftsform. Schwalbach/Ts. Kersting, Wolfgang 1993: John Rawls zur Einführung. Hamburg Klafki, Wolfgang 19965: Neue Studien zur Bildungstheorie und Didaktik. Weinheim und Basel, Platon 1982: Der Staat (Politeia), übers. u. hrsg. v. Vrestka, Karl. Stuttgart Pongs, Armin 2000: In welcher Gesellschaft leben wir eigentlich? Gesellschaftskonzepte im Vergleich, Bd. 2. München Rawls, John 199810: Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt/M. Sutor, Bernhard 1984: Neue Grundlegung politischer Bildung, Band I – Politikbegriff und politische Anthropologie. Paderborn Sutor, Bernhard 1985: Politik – Ein Studienbuch zur politischen Bildung. Paderborn Wagenschein, Martin 1999: Verstehen lehren. Weinheim und Basel Walzer, Michael 1998: Sphären der Gerechtigkeit. Frankfurt/M.
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Das didaktische Problem: Gemeinschaft ist nicht Gesellschaft Der deutsche Soziologe Ferdinand Tönnies hat (zuerst 1887) das Begriffspaar „Gemeinschaft und Gesellschaft“ entworfen, das nicht nur der alltäglichen Verständigung dient, sondern das auch für die Analyse sozialer Beziehungen und Strukturen nützlich ist. „Alles vertraute, heimliche, ausschließliche Zusammenleben (so finden wir) wird als Leben in Gemeinschaft verstanden. Gesellschaft ist die Öffentlichkeit, ist die Welt.“ (Tönnies 1988/1935, 3). Das zentrale Motiv der Begriffsbestimmung ist auf Seiten der Gemeinschaft die Nähe, das Konkrete, und auf Seiten der Gesellschaft die Ferne, das Abstrakte. Der Nahraum bietet Bindung, während die Öffnung zur Gesellschaft den Schritt hinaus verlangt. „In Gemeinschaft mit den Seinen befindet man sich, von der Geburt an, mit allem Wohl und Wehe daran gebunden. Man geht in die Gesellschaft wie in die Fremde.“ (a.a.O.) Tönnies nutzt das Begriffspaar für die historische und sozialstrukturelle Analyse, indem er zwei Zeitalter gegenüberstellt – ein Zeitalter der Gesellschaft folge dem Zeitalter der Gemeinschaft (215). Dieser dichotomische und auch kulturkritische Begriffsgebrauch wird hier nicht verfolgt (zur Einordnung von Tönnies vgl. Korte 1993, 80-86; Lichtblau 2000), sondern „Gemeinschaft“ und „Gesellschaft“ werden zur Differenzierung unterschiedlicher Relationen zwischen Menschen bzw. Menschen und Institutionen herangezogen. Beides – Gemeinschaft und Gesellschaft – sind gegebene Relationen, die nicht gegeneinander ausgespielt werden sollten, die aber auch nicht harmonisierend aufeinander reduziert werden dürfen. Pädagogische Institutionen – als Beispiel diene die Schule – sind weder eindeutig als Gemeinschaft noch als Gesellschaft zu bezeichnen. Sie haben eine mittlere und mittelnde Qualität, weil sie jungen Menschen helfen (sollen), den Weg aus den primären Beziehungen der Familie in die Weite gesellschaftlicher Zusammenhänge zu gehen (vgl. Reinhardt 1999a). Das bedeutet, dass die Schule die Bindungsqualitäten vom Typus Gemeinschaft ermöglichen muss – und Chancen eröffnen muss, sie zu transzendieren in eine noch unbekannte ferne und fremde Gesellschaft.
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Es wäre eine pädagogische Illusion, wenn man von der Herstellung oder Entstehung kleiner Gemeinschaften in der Schule (Klassengemeinschaft, Gleichaltrigengruppen, Schulgemeinschaft) – so unverzichtbar diese sind – eine automatische Ausweitung der Perspektiven auf Gesellschaft und Politik erwarten würde. Es ist sogar zu fragen, ob nicht der innere Zusammenhalt der kleinräumigen Gemeinschaft unter Umständen errungen oder erkauft wird um den Preis der Abgrenzung gegen das andere und die anderen. Die didaktische Aufgabe lautet somit, über die Stärkung von partikularen Bindungen zu einem gemeinsamen Verständnis von und in Gesellschaft zu gelangen. Hierfür ist – besonders in einer pluralistischen Gesellschaft – die öffentliche Schule besser geeignet als begrenzte Gemeinschaften. (Vgl. auch Haydon 2001, der an die Kommunitarismus-Liberalismus-Debatte anknüpft.)
Liebe – Recht – Solidarität: Muster intersubjektiver Anerkennung Die Muster intersubjektiver Anerkennung, die Honneth (1994, 148-211) in der Auseinandersetzung vornehmlich mit Hegel und Mead formuliert hat, können die Unterscheidung von Gemeinschaft und Gesellschaft präzisieren und erläutern. Sie sind geeignet, das vielfältige Leben und Arbeiten in der Schule zu erfassen und in seinen Spannungslinien besser zu verstehen. Anerkennung im Muster von Liebe und Freundschaft ist an Sympathie und Zuwendung gebunden und deshalb notwendig partikular. Sie betreffen ganz bestimmte, der Zahl nach wenige Menschen; ihre Ausweitung auf viele würde die exklusive Qualität der Beziehung beenden. Liebe und Freundschaft haben jene Bindungsqualität, die die „unverzichtbare Basis“ für jenes Selbstvertrauen des Individuums ist, das seinerseits die Basis für die autonome Teilnahme am öffentlichen Leben ist (174). Von völlig anderer Qualität ist die Anerkennung im Rechtssystem der Moderne: Hier wird jede und jeder – unabhängig von allen Besonderheiten – als gleiche Person mit gleichem Recht geachtet. Diese universalistische Achtung ist die Basis für die Selbstachtung des Individuums. Die „Rechtssubjekte erkennen sich (…) wechselseitig als Personen an, die in individueller Autonomie über moralische Normen vernünftig zu entscheiden vermögen“ (177). Dieses zweite Muster der Anerkennung (das Recht mit seiner abstrakt-universalistischen Achtung aller Einzelnen) setzt dem ersten Muster der Anerkennung (Liebe und Freundschaft mit ihren emotionalen und exklusiven Beziehungen) deutliche Schranken. Das zweite Muster transzendiert das konkrete Individuum in einem solchen Maße, dass wir uns fragen müssen: Wie ist dieses Muster subjektiv überhaupt möglich? Honneths überzeugende und didaktisch relevante Antwort
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lautet, dieser Typ der universalistischen Achtung sei eine „rein kognitive Verstehensleistung“ (178). Da in der rechtlichen Anerkennung zum Ausdruck kommt, dass „jedes Subjekt unterschiedslos als ein ‚Zweck an sich‘ gelten muss“ (180), stellt sich zudem die Frage, wie das Subjekt Anerkennung für seinen Wert als unverwechselbares Individuum erlangen kann. Hier ist offensichtlich ein drittes Muster intersubjektiver Anerkennung notwendig. Solidarität als soziale Wertschätzung – das dritte Muster der Anerkennung – gilt der besonderen Person mit ihren besonderen Fähigkeiten und ihrem Beitrag zum Leben einer Gruppe. Diese Gruppe muss eine Wertgemeinschaft sein, damit die Maßstäbe für die wechselseitige Anerkennung durch soziale Wertschätzung von den Mitgliedern geteilt werden. Die Wertschätzung gilt in posttraditionalen Gesellschaften nicht mehr einem Kollektiv, sondern dem Einzelnen als Einzelnem. Diese soziale Wertschätzung ermöglicht dem Individuum die Wertschätzung seiner selbst (Selbstschätzung). Gesellschaftliche Prozesse der Individualisierung, Pluralisierung und Globalisierung entziehen kollektiver Identität tendenziell ihre Grundlage, weshalb der Einzelne die soziale Anerkennung, die er von anderen für seinen Beitrag zum Ganzen erhält, sich selbst zurechnen können muss und nicht einem ihm vorgegebenen Kollektiv. Auch führt die Pluralisierung zu Kämpfen um soziale Wertschätzung, denn Gruppen (oder Milieus) ganz unterschiedlicher Lebensart und mit unterschiedlichen Werthorizonten klagen die Wertschätzung der anderen für ihre Lebensweise ein. Honneth spricht seiner Unterteilung in drei Interaktionssphären Plausibilität zu und die drei Formen sozialer Integration lassen sich danach unterscheiden, „ob sie auf dem Weg emotionaler Bindungen, der Zuerkennung von Rechten oder der gemeinsamen Orientierung an Werten zustande kommen“ (152). Wir können mit Hilfe der Muster der Anerkennung in schulischen Lernprozessen und Lebensvollzügen prüfen, welcher Typ Anerkennung (oder Verweigerung bzw. Misslingen von Anerkennung) in welchen Situationen und Interaktionen zu beobachten (bescheidener: zu vermuten) ist. Wir können auch fragen, ob in den Aussagen von Jugendlichen die unterschiedlichen Anerkennungsmuster als Bewusstseinsinhalte aufscheinen. Dieser zweite Schritt wird hier gegangen, woran sich didaktische Überlegungen anschließen.
Die Bedeutung von Wertorientierungen: Prosozialität und Ausländerfeindlichkeit In der Studie „Jugend und Demokratie in Sachsen-Anhalt“ (Leitung: HeinzHermann Krüger und Sibylle Reinhardt) wurden ca. 1400 Schülerinnen und Schüler der 8., 9. und 11. Klasse (bzw. aus dem 1. Lehrjahr) gefragt, wie wichtig
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bestimmte Verhaltensweisen für sie persönlich seien. Die fünfstufige Antwortmöglichkeit reichte von überhaupt nicht wichtig (=1) bis zu sehr wichtig (=5). Eine Gruppe von Wertorientierungen, die faktorenanalytisch extrahiert wurde und 7 Einzelitems umfasst, erfasst „Prosozialität“ – hierzu gehören „anderen Menschen helfen“, „Rücksicht auf andere nehmen“, „im Streitfall einen Ausgleich suchen“, „im Umgang mit anderen fair sein“, „alle Menschen gleichberechtigt behandeln“, „gerecht sein“, „soziale Unterschiede zwischen Menschen abbauen„. (Eine kürzere Skala bei Gille 1995, 120 und 2000, 157, ebenfalls mit hohen Zustimmungen.) Die Zustimmung zu diesen prosozialen Wertorientierungen in ihrer Bedeutung für das Handeln der befragten Person ist sehr hoch – im Mittel werden die Verhaltensweisen als „wichtig“ angesehen! Dabei ist die Streubreite der Antworten sehr gering, auch gibt es z.B. keine nennenswerten Unterschiede in den Antwortmustern von Jugendlichen unterschiedlicher Schulformen (Sekundarschulen, Gymnasien, Berufsbildende Schulen, Gesamtschule). Wir können also davon ausgehen, dass prosoziale Werte für die Jugendlichen in Sachsen-Anhalt gemeinsame Werte darstellen – die Jugendlichen teilen diesen Werthorizont. Die Formulierungen enthalten einen generellen Bezug zu anderen („anderen Menschen helfen“, „alle Menschen gleichberechtigt behandeln“ usw.) und zeigen sprachlich also eine universalistische Dimension. Offensichtlich sind die Antworten nicht auf den Modus von Liebe und Freundschaft begrenzt und vielleicht auch nicht auf den Gruppenbezug von Solidarität bzw. sozialer Wertschätzung – haben wir es also mit universalistischen Orientierungen des Modus „Recht“ (oder Demokratie) zu tun? Das ist nicht der Fall, denn die hohen Werte auf der Wertedimension Prosozialität werden nicht bestätigt durch Äußerungen zu Ausländern. Aus einer längeren Reihe von Aussagen zu in Deutschland lebenden Ausländern, die befürwortet oder abgelehnt werden konnten, ergab sich faktorenanalytisch eine Skala „Ausländerfeindlichkeit“ mit sechs Items (… man fühlt sich als Fremder, … Belastung für das soziale Netz, … Probleme auf dem Wohnungsmarkt, … nehmen Arbeitsplätze weg, … häufiger Straftaten, … zu viele). Diesen Aussagen wird eher zugestimmt, als dass sie abgelehnt werden. Noch deutlicher wird das Ausmaß an Ausländerfeindlichkeit, wenn man prüft, wie viele der Befragten mindestens fünf der sechs Aussagen zustimmen – mehr als ein Drittel (37,2 Prozent) der Jugendlichen bzw. jungen Erwachsenen äußern sich ausländerfeindlich. Dabei zeigen sich Unterschiede nach Geschlecht (Jungen ausländerfeindlicher als Mädchen), Alter (geringere Ausländerfeindlichkeit in Jg. 11), Schulformen (am Gymnasium geringer als an Sekundarschulen und Berufsschulen) und nach Region (in der Stadt geringer als auf dem Land). Der gemeinsam geteilte Werthorizont, wie er sich aus den Aussagen zu Werteorientierungen der Dimension „Prosozialität“ zu ergeben schien, ist offensichtlich in seiner inhaltlichen Bedeutung kein gemeinsamer mehr, wenn es um
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Ausländer geht. Ausländer können hier als ein Beispiel für „andere“ stehen, denen je nach Gruppenzugehörigkeit der Status derer, denen man helfen will, auf die man Rücksicht nimmt, denen gegenüber man fair ist usw., zugesprochen oder abgesprochen wird. Die hohen Zustimmungen zu prosozialen Werten sind in einem schlechten Sinne abstrakt – sie sind nicht universalistisch, sondern umfassen ganz unterschiedliche Reichweiten der Bedeutung. Alle drei Anerkennungsmodi nach Honneth (Liebe, Solidarität, Recht) können sich in Prosozialität wieder finden, was für ein Bildungsziel der Förderung von Prosozialität bedeutet, dass es (zu) unscharf ist. Denn die Bindung an die Primärgruppe ist zwar unerlässlich für das Individuum und bleibt es auch in der Lebensgeschichte, aber die Fähigkeit zur Solidarität in sozialen Zusammenhängen von Gruppen, Organisationen und Institutionen ist ebenfalls notwendig – und einer Demokratie ist schließlich der universalistische Modus des Rechts als kognitive Verstehensleistung angemessen. Das Fazit an dieser Stelle lautet: Gemeinschaft ist nicht Gesellschaft – die drei Modi sozialer Integration sind nicht reduzierbar auf ein einziges Konzept – und Prosozialität verwischt die gravierenden Unterschiede. Für die Schule als soziale Institution gilt es also nach unterschiedlichen Sphären der Interaktion zu suchen, in denen die drei Modi der Anerkennung sich abspielen mögen. Die personale Beziehung zwischen Lehrern und Schülern und zwischen Schülerinnen und Schülern (Respekt, Freundlichkeit, Anteilnahme) ist genauso wichtig wie die Bestätigung des Selbstwertes der Einzelnen durch die ihnen gezeigte soziale Wertschätzung in Gruppen (z.B. der Klasse, deren Zusammenhalt den einzelnen Schüler integriert) wie auch die Förderung kognitiver Verstehensleistungen mit dem (nicht abprüfbaren, sondern regulativen) Ziel des Aufbaus universalistischer Orientierungen (dies muss eine zentrale Aufgabe von Unterricht sein). Selbst- und Urvertrauen, Selbstschätzung und Selbstwertgefühl und – schließlich – Selbstachtung als Mensch und Bürger sind die selbstbezogenen Äußerungen der drei Modi sozialer Integration. Der Institution ist es aufgegeben, die drei Formen der Anerkennung zu verwirklichen, damit die Entfaltung des Selbst in eine vernünftige Beziehung zur Welt als Bildungsaufgabe ermöglicht wird.
Prosozialität und Verständnis für Demokratie – eine schwierige Relation Es hat sich gezeigt, dass prosoziale Werte die Differenz von Gemeinschaft und Gesellschaft verwischen und auch den Unterschied der drei Anerkennungsformen nicht erfassen. Die alltägliche Verständigung über das Zusammenleben, die die entsprechenden Wertäußerungen benutzt, ist also illusionär – die Menschen reden über Unterschiedliches, meinen aber, sich zu verstehen.
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Für die Bildung zur Demokratie wird häufig vermutet, dass gemeinschaftliche Zusammenhänge mehr oder weniger automatisch in einen gesellschaftlichen und politischen Zusammenhang übergehen. Ferdinand Tönnies‘ Begriffe von „Gemeinschaft“ und „Gesellschaft“ machen darauf aufmerksam, dass hier sehr unterschiedliche Sphären in Rede stehen, die nicht vorschnell vereinheitlicht werden sollten. Auch Krappmann (2001, 79) warnt davor, mikropolitische Prozesse als stellvertretend für makropolitische Prozesse zu sehen – das sei eine Verwechslung von Strukturen. Demokratische Systemstrukturen und Handlungsprozesse sind gekennzeichnet durch Interessenkonflikte, durch die Pluralität von Milieus und Lebensgeschichten, durch komplizierte Verfahren und komplexe Aufgaben, durch die Konkurrenz von Parteien und Interessengruppen, durch die Orientierung an Macht zum Erwerb der Entscheidungsbefugnis – Politik ist kein gemeinschaftlicher Vorgang, sondern die konflikthafte Organisation einer in sich heterogenen Gesellschaft zur Regelung gemeinsamer Angelegenheiten. Der normative Grund demokratischer Systeme ist die Gleichwertigkeit aller Staatsbürger und die gleiche Achtung aller hier Lebenden (Menschenwürde), also ein universalistisches Verständnis von Person, das sich über die Anerkennung von Menschenrechten noch einmal generalisiert. Demokratische Gleichheit und gesellschaftliche Ungleichheit resultieren in Kämpfen um Anerkennung, die im Rahmen des politischen Systems ausgetragen werden, weshalb Honneth im Untertitel auch von der „moralischen Grammatik sozialer Konflikte“ spricht. Demokratie-Lernen kann verstanden werden als Erwerb von Konfliktfähigkeit für das Begreifen von und die Teilnahme am demokratischen politischen System (ausführlicher Reinhardt 2001a, b). Damit ist betont, dass es nicht um die Bindung in der Gemeinschaft geht, die auf selbstverständliche Zugehörigkeit, Identität von Interesse und Neigung und personale Beziehung baut. Zwar ist – wie auch Honneth betont – nicht vorstellbar, dass Konfliktfähigkeit als PolitikQualifikation erworben werden kann ohne die Fundierung des Subjekts in Prozessen von Selbstvertrauen und Selbstschätzung, die auf die Anerkennung durch andere angewiesen sind, aber emotionale Bindungen und soziale Wertschätzung ergeben nicht umstandslos die Integration in und durch Demokratie und Recht. Das zeigt sich auf der empirischen Ebene an den Daten aus der Sachsen-AnhaltStudie zu Prosozialität und Konfliktverständnis. Drei Aussagen zu Interessen des ganzen Volkes und denen der Einzelnen, zur Aufgabe der politischen Opposition und zu Auseinandersetzungen zwischen Interessengruppen sind geeignet, das Systemverständnis zu erheben.
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Schaubild 1: Konflikte in Staat und Gesellschaft Inwieweit stimmen Sie mit den folgenden Aussagen überein? (trifft gar nicht zu, trifft eher nicht zu, trifft eher zu, trifft vollkommen zu)
Die Interessen des ganzen Volkes sollten immer über den Interessen des Einzelnen stehen.
73,3
Aufgabe der politischen Opposition ist es nicht, die Regierung zu kritisieren, sondern sie in ihrer Arbeit zu unterstützen.
69,2
Die Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen Interessengruppen in unserer Gesellschaft und ihre Forderungen an die Regierung schaden dem Allgemeinwohl.
50,2
0
10
20
30
40
50
60
70
80
Fragen 1-3: Zustimmung in Prozent (trifft eher zu + trifft vollkommen zu)
Quelle: Projekt „Jugend und Demokratie in Sachsen-Anhalt“ – Schülerbefragung 2000
Die Hälfte der befragten Schülerinnen und Schüler spricht sich gegen die Auseinandersetzungen zwischen Interessengruppen aus, weil dies dem Allgemeinwohl schade. Die politische Opposition wird nicht mit Kritik in Verbindung gebracht, sondern ihre Aufgabe wird von zwei Dritteln der Befragten in der Unterstützung der Regierung gesehen. Schließlich möchten drei Viertel der Befragten die Interessen des ganzen Volkes immer (!) über die Interessen des Einzelnen stellen. Ein eher objektivistisches Verständnis des politischen Prozesses, in dem das Allgemeinwohl irgendwo gegeben ist und nur gefunden und umgesetzt werden müsste, verkennt die Notwendigkeit von Auseinandersetzungen und setzt Eindeutigkeit und Klarheit dagegen. An die Stelle von Konflikt tritt eher die Suche nach Harmonie, an die Stelle von Gesellschaft und Politik tritt eher Gemeinschaft als Bezugspunkt für die Urteile. Wie verhält sich die bewusstseinsmäßige Realisierung von Konflikten zur Ausprägung der Prosozialität, wie wir sie gemessen haben? Die umstandslose Verwandlung von Wertorientierungen des sozialen Raums in Konzepte der
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politischen Gesellschaft müsste sich in den Daten darin zeigen, dass ein höherer Wert für den Index Prosozialität einhergeht mit besserem Konfliktverständnis im gesellschaftlich-politischen Raum. Das ist aber nicht der Fall, sondern das Ausmaß der Prosozialität ist unempfindlich gegenüber den drei Aussagen zum Konflikt, sie macht also keinen Unterschied – eher das Gegenteil. Schaubild 2: Prosozialität und Demokratieverständnis „Die Interessen des ganzen Volkes Sonderinteressen des Einzelnen stehen“
sollten
immer
über
den
„Aufgabe der politischen Opposition ist es nicht, die Regierung zu kritisieren, sondern sie in ihrer Arbeit zu unterstützen“ „Die Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen Interessengruppen in unserer Gesellschaft und ihre Forderungen an die Regierung schaden dem Allgemeinwohl“
Mittelwert Prosozialität 5
4
3,9
3,9 3,9
3,9 4,0 4,0
4,0 4,0
4,1
4,1 4,1 4,1
3
2
1 Präferierte Kategorie:
“trifft gar nicht zu”
“trifft eher nicht zu”
“trifft eher zu”
“trifft vollkommen zu”
Quelle: Projekt „Jugend und Demokratie in Sachsen-Anhalt“ – Schülerbefragung 2000
Die Höherschätzung der Interessen des ganzen Volkes über die Interessen der Einzelnen nimmt sogar mit der geäußerten Prosozialität zu: Während der Mittelwert derer, die die Aussage stark ablehnen (trifft gar nicht zu), für Prosozialität bei 3,9 (also fast bei der Kategorie „wichtig“ für die sechs Verhaltensweisen) liegt, sind jene, die „vollkommen“ zustimmen, im Mittel der Prosozialität bei dem Wert von 4,1 (ihnen sind die prosozialen Verhaltensweisen noch wichtiger). Die dazwischen liegenden Aussagen („trifft eher nicht zu“ und „trifft eher zu“) gehen mit
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Mittelwerten von 3,9 bzw. 4,0 einher. Da die Streubreite der Werte für Prosozialität sehr gering ist, sind auch diese kleinen Unterschiede bedeutsam. Dieselbe Richtung des Zusammenhangs und exakt dieselben Zahlenwerte zeigen sich beim Zusammenhang von Prosozialität und der Aufgabe der politischen Opposition: Je prosozialer die Befragten sich äußern, umso eher wird der Opposition die Aufgabe der Kritik abgesprochen und die Unterstützung der Regierung als Aufgabe zugesprochen. Fast identisch ist der Zusammenhang für die Ablehnung von Auseinandersetzungen zwischen Interessengruppen und Prosozialität: Je prosozialer sich die Befragten äußern, umso eher stimmen sie der Aussage zu, dass Auseinandersetzungen dem Allgemeinwohl schaden. Die Daten machen uns also darauf aufmerksam, dass Prosozialität nicht gleichbedeutend ist mit Konfliktverständnis als einer zentralen Struktur von Demokratieverständnis. Es bleibt die – für Bildungsprozesse entscheidende – Frage offen, wie die Entwicklung von Prosozialität und von Konflikttoleranz zueinander stehen. Der Zweifel an der politischen Bedeutsamkeit von Prosozialität wird verstärkt durch die Daten zum politischen Interesse, zur politischen Partizipationsbereitschaft und zur Rechts-Links-Einordnung gemäß den Angaben der Befragten. Weder hängt Prosozialität positiv mit dem politischen Interesse zusammen, noch mit der bekundeten Partizipationsbereitschaft. Letztere wurde über 18 Möglichkeiten politischer Partizipation erhoben – von Beteiligung an Wahlen bis zur Beteiligung an einem wilden Streik. Auch die, die sich (fast) überhaupt nicht beteiligen (wollen), zeigen einen hohen Mittelwert der Prosozialität. Undeutlicher – und hier liegt womöglich ein hypothesen-generierender Punkt – wird der Zusammenhang bei den Befragten, die sich sehr viele der genannten Partizipationsformen für sich selbst vorstellen können. Hier schwanken die Mittelwerte der Prosozialität in auffälliger Weise. Die (gewagte) Hypothese könnte sein, dass eine einlinige Prosozialität erschüttert wird beim Erwerb einer Vorstellung von Konflikt im gesellschaftlich-politischen Zusammenhang. Ohne Konfliktverständnis und Konflikttoleranz ist Demokratie-Lernen nicht vorstellbar. Da das Konstrukt „Prosozialität“ aber eher harmonisierende (vereinheitlichende, Konflikte bereinigende bzw. abwehrende, mitmenschliche und sympathische) Bestrebungen ausdrückt, ist zu vermuten, dass das demokratischpolitische System Befragte mit hoher Prosozialität eher beunruhigt bzw. von ihnen nicht als Teil ihres Lebens betrachtet wird. Die Tatsache, dass die Gruppe der an Politik „etwas Interessierten“ den höchsten Mittelwert (von 4,1) im Vergleich zu sowohl „sehr Interessierten“ (3,8) als auch „gar nicht Interessierten“ (3,8) aufweist, bestätigt die Vermutung des irgendwie gebrochenen Zusammenhangs.
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Fachdidaktische Konsequenzen Im Schulleben ist zu prüfen, ob und wie Anerkennungsprozesse möglich sind und was ihnen entgegensteht (vgl. oben). Zahlreiche Aufsätze in diesem Band gehen dieser Frage nach. Im Fachunterricht Politik bzw. Sozialkunde ist zu prüfen, wie soziales Lernen zu politischem Lernen werden kann. In der Fachdidaktik wird seit langem ein unpolitischer Politikunterricht festgestellt (vgl. die Aufsätze in dem Sammelband „Politik als Kern der politischen Bildung“, herausgegeben von Massing und Weißeno, 1995). Lehrerinnen und Lehrer geben offensichtlich der in der Öffentlichkeit und bei Schülerinnen und Schülern vorhandenen Neigung zur sozialen Entschärfung politischer Probleme und Prozesse und Konflikte nach – vielleicht teilen sie diese Neigung auch streckenweise. Die Abneigung gegen Politik zugunsten sozialen Lernens dürfte bei moralischen und ethischen Postulaten und Erwägungen besonders nahe liegen. Deshalb ist es wichtig, gegen moralisierenden Unterricht auf dem Zusammenhang von „Werte-Bildung und politischer Bildung“ (Reinhardt 1999b) zu bestehen. Das fachdidaktische Prinzip der moralisch-politischen Urteilsbildung (das ein Prinzip in einer Reihe von fachdidaktischen Prinzipien darstellt) zielt auf den Lernschritt von der Empathie/Solidarität mit Einzelnen oder dem Nahraum in die politisch konflikthafte Frage nach Systemstrukturen bzw. der Solidarität mit Fremden (Reinhardt 2000, kritisch Detjen 2000). Dabei ist – so meine These – häufig unerlässlich, dass der Lernprozess zuerst dem Einzelfall in seinem Eigenwert nachgeht und erst anschließend in die Reflexion auf die Gesamt- bzw. Systemebene wechselt. Der Fachunterricht betont auch kognitive Denkprozesse und kann damit die Lebens- und Erfahrungsdimensionen der Interaktionen in Unterricht und Schule reflexiv einholen. Er kann zudem Perspektiven denken helfen, die sich der konkreten Erfahrbarkeit in Schule und Lebenswelt der Jugendlichen entziehen, was für riskante, ferne und komplexe Politikfragen gilt.
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Literatur Detjen, Joachim 2000: Werteerziehung im Politikunterricht mit Lawrence Kohlberg? In: Breit, Gotthard/Schiele, Siegfried (Hrsg.) 2000: Werte in der politischen Bildung. Schwalbach/ Ts., S. 303-335 Gille, Martina 1995: Wertorientierungen und Geschlechtsrollenorientierungen im Wandel. In: Hoffmann-Lange, Ursula (Hrsg.) 1995: Jugend und Demokratie in Deutschland. DJIJugendsurvey 1. Opladen, S. 109-158 Gille, Martina 2000: Werte, Rollenbilder und soziale Orientierung. In: Gille, Martina/Krüger, Winfried (Hrsg.) 2000: Unzufriedene Demokraten. Politische Orientierungen der 16- bis 29-Jährigen im vereinigten Deutschland. DJI-Jugendsurvey 2. Opladen, S. 143-203 Haydon, Graham 2001: Kommunitarismus, Liberalismus und moralische Erziehung. In: Zeitschrift für Pädagogik 2001, H. 1, S. 1-12 Honneth, Axel 1994: Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte. Frankfurt/M.. Korte, Hermann 1993: Einführung in die Geschichte der Soziologie. Opladen, 2. Aufl., S. 8086 Krappmann, Lothar 2000: Politische Sozialisation in Kindheit und Jugend durch Partizipation an alltäglichen Entscheidungen – ein Forschungskonzept. In: Kuhn, Hans-Peter/Uhlendorff, Harald/Krappmann, Lothar (Hrsg.) 2000: Sozialisation zur Mitbürgerlichkeit. Opladen, S. 77-92 Lichtblau, Klaus 2000: „Vergemeinschaftung“ und „Vergesellschaftung“ bei Max Weber. Eine Rekonstruktion seines Sprachgebrauchs. In: Zeitschrift für Soziologie 2000, Heft 6, S. 423443 Massing, Peter/Weißeno, Georg (Hrsg.) 1995: Politik als Kern der politischen Bildung. Wege zur Überwindung unpolitischen Politikunterrichts. Opladen Reinhardt, Sibylle 1999a: Auf dem Wege zu einer Theorie der Schule? In: Leschinsky, Achim/ Gruner, Petra/Kluchert, Gerhard (Hrsg.) 1999: Die Schule als moralische Anstalt. Erziehung in der Schule: Allgemeines und ‚Fall DDR’. Weinheim, S. 255-260 Reinhardt, Sibylle 1999b: Werte-Bildung und politische Bildung. Zur Reflexivität von Lernprozessen. Opladen Reinhardt, Sibylle 2000: Bildung zur Solidarität. In: Breit, Gotthard/Schiele, Siegfried (Hrsg.) 2000: Werte in der politischen Bildung. Schwalbach/Ts., S. 288-302 Reinhardt, Sibylle 2001a: Demokratie-Lernen – Wege und Möglichkeiten in der Schule. In: Gegenwartskunde 2001, H. 2, S. 237-247 Reinhardt, Sibylle 2001b: Demokratie und politische Bildung. Fragestellungen und Ergebnisse der Sachsen-Anhalt-Studie „Jugend und Demokratie“. In: Kühnel, Martin/Rüdiger, Axel/ Reese-Schäfer, Walter (Hrsg.) 2001: Modell und Wirklichkeit, Festschrift für R. Saage, Halle, S. 198-210 Reinhardt, Sibylle/Tillmann, Frank 2001: Politische Orientierungen Jugendlicher. In: Aus Politik und Zeitgeschichte B 45, S. 3-13 Tönnies, Ferdinand 1988: Gemeinschaft und Gesellschaft: Grundbegriffe der reinen Soziologie. Darmstadt, Neudruck der 8. Auflage von 1935
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Anhang: Frageformulierungen und Antwortvorgaben 18) Bitte geben Sie zu jeder Verhaltensweise auf der folgenden Liste an, wie wichtig es für Sie persönlich ist, so zu sein oder sich so zu verhalten! (überhaupt nicht wichtig – nicht so wichtig – schwer zu sagen – wichtig – sehr wichtig) j) Anderen Menschen helfen – o) Rücksicht auf andere nehmen u) Im Streitfall einen Ausgleich suchen – v) Im Umgang mit anderen fair sein w) Alle Menschen gleichberechtigt behandeln – x) Gerecht sein y) Soziale Unterschiede zwischen Menschen abbauen 21) Inwieweit treffen die folgenden Aussagen über in Deutschland lebende Ausländer Ihrer Meinung nach zu? (trifft gar nicht zu – trifft eher nicht zu – trifft eher zu – trifft vollkommen zu) a) Durch die vielen Ausländer in Deutschland fühlt man sich zunehmend als Fremder im eigenen Land c) Sie sind eine Belastung für das soziale Netz e) Ihre Anwesenheit in Deutschland führt zu Problemen auf dem Wohnungsmarkt g) Sie nehmen den Deutschen Arbeitsplätze weg h) Sie begehen häufiger Straftaten als die Deutschen j) Ich bin der Meinung, dass es zu viele Ausländer in Deutschland gibt 13) Inwieweit stimmen Sie mit den folgenden Aussagen überein? (trifft gar nicht zu – trifft eher nicht zu – trifft eher zu – trifft vollkommen zu) e) Die Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen Interessengruppen in unserer Gesellschaft und ihre Forderungen an die Regierung schaden dem Allgemeinwohl h) Aufgabe der politischen Opposition ist es nicht, die Regierung zu kritisieren, sondern sie in ihrer Arbeit zu unterstützen i) Die Interessen des ganzen Volkes sollten immer über den Sonderinteressen des Einzelnen stehen 1) Sind Sie politisch interessiert? (sehr interessiert – ziemlich interessiert – etwas interessiert – recht wenig interessiert – gar nicht interessiert) 2) Angenommen Sie möchten politisch in einer Sache, die Ihnen wichtig ist, Einfluss nehmen bzw. Ihren Standpunkt zur Geltung bringen. Welche der Möglichkeiten kommen für Sie in Frage und welche nicht?
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(Habe ich bereits gemacht – Kommt für mich in Frage – Kommt für mich nicht in Frage) Die Möglichkeiten in Kurzfassung: Wählen – nicht zur Wahl gehen – extreme Partei wählen – Briefe an Politiker – öffentlich an Diskussionen beteiligen – politisches Amt – in Mitbestimmungsgremium beteiligen – Briefe schreiben – Parteimitgliedschaft und Mitarbeit – Bürgerinitiative – politische Gruppierung – an Partei etc. Geld spenden – Unterschriftenaktion – genehmigte politische Demonstration – nicht genehmigte politische Demonstration – gewerkschaftlicher Streik – Hausbesetzung u.Ä. – wilder Streik 4) Viele Leute verwenden die Begriffe LINKS und RECHTS, wenn es darum geht, unterschiedliche politische Einstellungen zu kennzeichnen. Wenn Sie an Ihre eigenen politischen Ansichten denken, wo würden Sie sich einordnen? (links – eher links als rechts – weder links noch rechts – eher rechts als links – rechts – Das weiß ich noch nicht)
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„Ohne Angst verschieden sein?“
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Annedore Prengel
„Ohne Angst verschieden sein?“1 – Mehrperspektivische Anerkennung von Schulleistungen in einer Pädagogik der Vielfalt2 „Woher bekommen junge Menschen, die nicht mithalten können ihre Anerkennung?“ (Wilhelm Heitmeyer nach dem 26. April 2002) Pädagogik der Vielfalt entstand aus dem Wunsch, die Heterogenität und die Gleichheitsrechte von Kindern und Jugendlichen anzuerkennen: In einem für vielschichtig sich überschneidende Differenzen (Fraser 1994) offenen Prozess wurden Geschlechtervielfalt, Kulturen- und Sprachenvielfalt sowie Entwicklungsund Leistungsvielfalt sowohl durch pädagogische Praxis als auch durch empirische und theoretische Untersuchungen prägnant (Preuss-Lausitz 1982; 1998; Prengel 1990, 1993, 1999; Hinz 1993, 1998; Döpp/Hansen/Kleinespel 1995; DemmerDieckmann/Struck 2001; Bertelsmannstiftung 1998; Schader 2000; Ulrich 2000). Die Analyse, Reflexion und Gestaltung von Anerkennungsverhältnissen – im Sinne der Befürwortung von Anerkennung und der Kritik ihrer Negativformen, der Missachtung und Ausbeutung – sind für die Pädagogik der Vielfalt zentral. Dabei beeinflussen sich Theoriebildung, empirische Forschung und alltägliche Erfahrungen des Lehrens und Lernens in heterogenen Lerngruppen wechselseitig. Ziel dieses Beitrags ist es zu klären, welche Bedeutung der Leistungsbewertung auch mit ihren normierenden und hierarchisierenden Implikationen in einer grundsätzlich individuelle und kollektive Anerkennung favorisierenden Pädagogik zukommt. Es geht dabei auch darum, Widersprüche einer der Demokratisierung der Schule verpflichteten Pädagogik der Vielfalt zu reflektieren. Wenn Anerkennung als ein Prinzip demokratischer Pädagogik herausgestellt wird, dann soll hier zugleich danach gefragt werden, wie ein demokratisches Verständnis von Leistungshierarchien beschaffen sein könnte.
1. Zum Widerspruch zwischen Vielfalt und Leistung In anerkennungstheoretischen Reflexionen ist eine Grundstruktur vorzufinden. In einem ersten Schritt lässt sich mit Reisinger sagen: „Die formale Struktur des Anerkennens ist dreistellig: x erkennt y bezüglich z (das Worumwillen des
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Anerkennens) an“ (Reisinger 2001, 9; vgl. auch Düsing 2000). Als spannungsreich werden Anerkennungsverhältnisse erkennbar, wenn zugleich danach gefragt wird, ob und wie y auch z anerkennt. Im Hinblick auf das Generationenverhältnis ist zu fragen, wie eine Triangulation von Anerkennung zwischen drei (und mehr) Personen gestaltbar ist (vgl. Benjamin 1990; Warsik 2000). Die Idee der Anerkennung in demokratischen, egalitären Verhältnissen zeichnet sich durch eine Balance wechselseitiger Anerkennung aus, die darauf beruht, dass beide, „x“ und „y“ sich selbst und die andere Person anerkennen. Auch ist, wenn Aussagen über Anerkennungsverhältnisse getroffen werden, stets zu klären, in welchen Hinsichten – im oben genannten Schema „z“ – welche Person von welcher anderen Person anerkannt wird oder werden soll (bzw. in welchen Hinsichten welche Personen von welchen Personen anerkannt werden oder werden sollen). Bekannt geworden sind auch in der Erziehungswissenschaft zum Beispiel Axel Honneths Vorschlag, drei Formen der Anerkennung zu unterscheiden (Honneth 1990, 1992) und Jessica Benjamins Reflexionen zu den Paradoxien der Anerkennung (Benjamin 1990). Anerkennungstheoreme sagen also etwas aus über Beziehungen zwischen Einzelnen oder Gruppierungen hinsichtlich von Anerkennungskriterien, darin gleichen sie Gleichheits- und Differenztheorien, in denen ein so genanntes „Tertium Comparationis“, eine Hinsicht in der Menschen sich gleichen bzw. unterscheiden, bestimmt werden muss, um zu Aussagen kommen zu können (vgl. Dann 1975; Herberger u.a. 1992; zusammenfassend Prengel 1993). Pädagogik der Vielfalt mit ihrer Betonung des Zusammenhangs der Anerkennung von Gleichheit und der Anerkennung von Differenzen entstand im Kontext sozialer und bildungspolitischer Strömungen des 20. Jahrhunderts, die sich holzschnittartig vereinfachend in aller Kürze anhand der aufeinander folgenden und partiell gleichzeitig existierenden historischen Phasen „Prämoderne“, „Moderne“, „Postmoderne“, „Zweite Moderne“ (Schmid 1998; Beck 1997) skizzieren lassen. Für jede Phase sind eigene Anerkennungskriterien maßgeblich: Die „moderne“ Kritik an der „prämodernen“ geburtsständisch fixierenden Bildungsordnung, wie sie zum Beispiel in der Einheitsschulbewegung formuliert wurde und – wenn auch auf die ersten vier Schuljahre beschränkt – zu Beginn der Weimarer Republik mit der Einrichtung einer Grundschule für alle Kinder des Volkes erfolgreich war, lässt sich lesen als Forderung nach Anerkennung der Kinder der unteren Schichten durch das Schulwesen im Hinblick auf ihre Begabung. In dem Maße, in dem eine geburtsständische Statuszuweisung abgelöst wurde durch eine vom Prinzip der Chancengleichheit motivierte leistungsbegründete Statuseinmündung (Keim 2000; Schlömerkemper 1986), ereignet sich Anerkennung im Sinne des formal gleichen Rechts auf Zugang zu Bildungsinstitutionen. Die westdeutsche Bildungsreform strebte (ähnlich wie bedeutende Strömungen im Schulsystem der DDR) danach, diese formale Gleichstellung durch Förderung
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auch für Kinder mit eher bildungsferner Herkunft zu realem Bildungserfolg werden zu lassen und so prämoderne ständische Relikte zu vermindern. Indem durch die Anerkennung des Gleichheitsrechts auf Bildung Chancengleichheit eröffnet wurde, lastete zugleich auch der Druck, Anerkennung für eigene Leistung erreichen zu sollen und Scheitern selbst verantworten zu müssen auf den Individuen und führte zu Stress vom Grundschulalter an. Erst vor dem Hintergrund dieses „modernen“ Entwicklungs- und Erkenntnisstandes konnte jene „postmodern“ motivierte Kritik der Ausgrenzung all jener, die sich nicht dem Diktat des Wettbewerbs um gleiche Ziele beim Lernen beugen wollten oder konnten (Prengel 1984) prägnant werden, die die Pädagogik der Vielfalt begründete. Untermauert durch soziale Bewegungen setzte eine Kritik der Ausgrenzung und des Zwangs zur Assimilation durch Bildung sowie ein Kampf um Anerkennung „anderer“ Lern- und Lebensweisen ein. An die Stelle monistisch ausgerichteter Assimilationspädagogik sollte auf der Basis gleicher Rechte die Wertschätzung des Heterogenen z.B. in Gestalt von Leistungsvielfalt, Kulturenvielfalt und Geschlechtervielfalt treten. Die Anerkennung kollektiver und individueller Besonderheiten wurde in einer Kombination aus „romatischem“ und „moralischem“ Individualismus (Eberlein 2000) entworfen. Aber schließlich machte die Einsicht in Illusionen der Vielfalt (Prengel 1999; Hinz 1998) bewusst, dass die Vielfalt nicht zu haben sei, dass es vielmehr darum gehe, im Sinne einer „zweiten“ oder „anderen“ Moderne Begrenztheit anzuerkennen und mit nun selbst gewählten Begrenzungen zu leben. In „guten Ordnungen“ kann Pädagogik sich auf begrenzte und begrenzende Strukturen als revidierbare, flexible, dabei relativ stabile Rahmen für gewisse Zeitspannen festlegen und bewusst so auch Freiräume für Vielfalt eröffnen. Wichtig ist, dass sowohl die „moderne“ Emphase für Gleichheit als auch die „postmoderne“ Emphase für Verschiedenheit hier nicht abgelöst, sondern weitergeführt werden; sie ermöglichen selbst erst weitere Entwicklungen, die auf ihnen aufbauen und die ihrerseits wieder zur Kritk stehen werden. Diese in aller Kürze skizzierten Erkenntnis- und Entwicklungsstände lassen sich auf verschiedene Systemebenen mit ihren jeweiligen Akteuren beziehen. „Für die schulischen Anerkennungsverhältnisse sind die folgenden Beziehungsebenen zu unterscheiden: – die Anerkennungsverhältnisse zwischen Schulleitung und Lehrerschaft, – innerhalb des Kollegiums und zwischen verschiedenen Lehrergruppen, – zwischen Lehrkräften und Schülern und Schülerinnen innerhalb und außerhalb des Unterrichts, – zwischen den Schülerinnen und Schülern innerhalb der Klasse und im Rahmen der gesamten Schülerschaft“ (vgl. Bertram/Helsper/Idel 2000, 19). Die von Bertram/Helsper/Idel zusammengefassten Systemebenen können im Hinblick auf weitere Ebenen aufgefächert werden. Wichtig ist die Ebene der
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intrapersonellen Anerkennungsverhältnisse, da hier bewusste und unbewusste Tendenzen der Selbstachtung, Selbstliebe, Selbstsorge sowie der Selbstverleugnung, des Selbsthasses und der Autoaggression auf der innerpsychischen Ebene thematisiert werden. Innerpsychische Anerkennungsverhältnisse werden grundgelegt in frühkindlichen interpersonellen Anerkennungsverhältnissen. In konflikthaften und paradoxen Sozialisationsprozessen können sich die Fähigkeit zur Selbstachtung und die Fähigkeit zur Anerkennung anderer entwickeln (Benjamin 1985, Warsik 2000). Die Säuglingsforschung, die die erstaunlichen Möglichkeiten und Folgen der Anerkennung von sehr kleinen Kindern von Geburt an untersucht, steht erst am Anfang (vgl. Klaus/Klaus 2000). Werner Helsper hat dargelegt, wie Lebenserfahrungen in den verschiedenen Sozialisationsphasen von früh an spätere Möglichkeiten, sich anerkennend bzw. missachtend bis hin zu gewalttätig zu verhalten, beeinflussen (Helsper 1995). Auch ist davon auszugehen, dass Geschehnisse auf den verschiedenen oben genannten Ebenen nicht unabhängig voneinander stattfinden und dass vor allem Formen der Anerkennung bzw. Missachtung, die von Lehrpersonen Schülerinnen und Schülern gegenüber praktiziert werden, die Formen der Anerkennung bzw. Missachtung, die in der Schülergruppe vorherrschen, beeinflussen. Zu berücksichtigen ist also, dass Schülerinnen und Schüler, Lehrkräfte, Eltern und Angehörige von Schulleitungen, Schulaufsicht und Schulpolitik sowohl aktiv anerkennen und missachten als auch passiv Anerkennung und Missachtung durch andere erfahren. Angesichts der Komplexität des Schulwesens werden neue theoretische Entwürfe, empirische Untersuchungen und praktische soziale Erfindungen auch zukünftig weitere schulrelevante Ebenen der Analyse von Anerkennungsverhältnissen erschließen. Dieser Beitrag widmet sich auf dem hier umrissenen Hintergrund zwei grundlegenden aktuellen Anerkennungsaspekten demokratisch orientierter Schulpädagogik: Er fragt danach, wie Lehrpersonen Schülerinnen und Schüler hinsichtlich der beiden widersprüchlichen Anerkennungskriterien unbestimmte Heterogenität und bestimmte vergleichbare Schulleistung anerkennen sollten. Integrationspädagogik, die seit fast 30 Jahren durch das gemeinsame Lernen von Kindern mit und ohne Behinderung dem demokratischen Prinzip der Nicht-Ausgrenzung am konsequentesten verpflichtete schulpädagogische Konzeption, bringt diese Anerkennungskriterien in zwei erfolgreichen Slogans zum Ausdruck: Dem Prinzip der Vielfalt entspricht die programmatische Aussage „Es ist normal verschieden zu sein“ (Prengel 1993). Sie orientiert sich an der „postmodernen“ Anerkennung von unbestimmter individueller Besonderheit und Kreativität, an der Gleichberechtigung des Heterogenen. Dem Prinzip der Leistung entspricht die Aussage: „Ein Leben so normal wie möglich führen“ (Thimm u. a. 1985). Sie orientiert sich an der „modernen“ Anerkennung der Gleichheit und des Wettbewerbs, an der schulischen Verpflichtung auf Chancengleichheit. Beide Prinzipien sind für demokra-
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tische Schulpädagogik maßgeblich! Sie bringen Widersprüche innerhalb demokratischer Visionen zum Ausdruck. Angesichts der aktuellen öffentlichen Debatten (Baumert u.a. 2001) nimmt das Anerkennungskriterium des Leistungsvergleichs an Bedeutung zu. Die seit Jahren das gleichberechtigte Miteinander der Verschiedenen postulierende Pädagogik der Vielfalt muss an dieser Stelle neu Position beziehen und reflektieren, welche Bedeutung der antihierarchischen Offenheit für Heterogenität und welche Bedeutung dem hierarchisierenden Leistungsvergleich zukommen soll. Ich spitze noch einmal die Fragestellung, die im Zentrum dieses Beitrags steht, zu: Was ist wichtiger: Kinder und Jugendliche in ihrer persönlichen Heterogenität anzuerkennen und Freiräume für ihre individuelle Kreativität zu eröffnen? – Oder: Kindern und Jugendlichen definierte Anforderungen und hierarchisierende Bewertungen zuzumuten und sie in der Fähigkeit, ihre demokratische Chancengleichheit zu nutzen und in den hierarchisierenden Wettstreit um bessere Leistungen einzutreten, anzuerkennen? In Schulen, vor allem in zahlreichen Gesamtschulen, Gymnasien und Realschulen, erkennen die einen Lehrkräfte im Bewusstsein der hohen Anforderungen der modernen Wissens- und Informationsgesellschaft die Notwendigkeit der höchstmöglichen Leistungsfähigkeit aller Kinder, vor allem im Bereich der Kulturtechniken, an. Die anderen, vor allem Lehrkräfte in Reformschulen (vgl. z.B. Becker u. a. 1997) im Bewusstsein der Vergänglichkeit unseres kurzen Lebens, erkennen das Glück des Augenblicks, das Kinder genießen könnten, wenn man ihren individuellen Persönlichkeiten in ihrer Vielfalt Raum ließe. Die Erziehungswissenschaft verfügt mindestens seit ihren Anfängen über eine lange Tradition in diesem Streit! Generationen von Pädagogen haben in der Geschichte unseres Faches über den hier skizzierten Widerspruch nachgedacht (vgl. zum Beispiel Klafki 1985; Helsper 1995, 1996). Um die aktuelle Bedeutung des Dilemmas für Lehrpersonen und für Schülerinnen und Schüler sichtbar zu machen, möchte ich drei Schulgeschichten wiedergeben, die Studierende der Grundschulpädagogik nach ihren Unterrichtsbeobachtungen in einem Schulpraktikum – in hypothetischer Übernahme der Kinderperspektive in „Ich-Geschichten“ – im Sommer des Jahres 2001 aufgeschrieben haben (Prengel 2001): „Ich habe jetzt Sport. Ich hasse Sport, weil ich immer eine Fünf bekomme. Die anderen hänseln mich immer, wenn ich nicht über den Bock springen kann. Bloß weil ich ein bisschen dicker bin als die anderen. Oh Gott, Kletterstangen sind heute dran. Ob ich erzähle, dass ich mein Sportzeug vergessen habe. Dann muss ich vielleicht wie Sven vor kurzem mal in Unterwäsche turnen. Ach herrje, jetzt ist es zu spät. Ich soll jetzt da hoch. Und alle gucken mir zu. Ich höre schon die Jungs, weil sie lachen und sagen: ‚Hey du bist viel zu dick, da kommst du nicht hoch’. Am liebsten würde ich jetzt gehen. Aber Frau Schulze zwingt mich zum Klettern. Ich lege beide Hände um die Stange und versuche mich hochzuziehen. Es geht nicht. Jetzt fangen alle laut an
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zu lachen und einer ruft: ‚Dicki, Dicki, du hängst wie ein nasser Sack da’. Ich schäme mich und langsam kullern mir Tränen über die Wangen.“ „Ich komme in den Klassenraum und: Oh weih, die Tafel ist aufgeklappt und die Lehrerin steht hinter der einen Hälfte und schreibt. Ich werde versagen und Mutti und Vati werden sich auch nicht gerade freuen. Aber am schlimmsten ist es für mich, wenn die Lehrerin alle anderen Hefte austeilt und nur bei meinem ein grimmiges Gesicht zieht und laut ‚Fünf‘ in die Klasse ruft. Ich finde das nicht fair. Schließlich muss es ja nicht jeder wissen! Vielleicht würde ich es meiner besten Freundin erzählen. Aber doch nicht den Jungs, die dann wieder auf mir herumhacken! Jetzt klingelt es mittlerweile schon zum Unterricht. Na toll, wir sollen unsere Testathefte aufschlagen. Die Aufgaben sind voll schwer. Ich muss mich jetzt anstrengen! Die Zeit vergeht so schnell. ‚Nur noch fünf Minuten’, sagt die Lehrerin. Ich hab versagt. – Mein Heft wird wie immer ganz unten liegen. Die anderen waren anscheinend auch nicht so gut. Zumindest sehen sie nicht so glücklich aus. Jetzt wollen wir Wahlaufgaben lösen. In der Zeit wird sie kontrollieren… Oh nein! – Mein Heft liegt ganz unten. Sie wird es laut sagen und alle werden mich ansehen.“ „Vor einigen Wochen bin ich neu in diese Klasse gekommen und eigentlich dachte ich, dass ich hier schnell neue Freunde kennen lerne, so wie in meiner alten Klasse, aber bis jetzt hab ich hier noch keinen Freund und reden tun die auch nicht mit mir, vielleicht verstehen sie mich ja nicht. Aber die müssen mir doch nicht immer ein Bein stellen oder mich rumschubsen, ich hab denen doch gar nichts getan. Die Kunststunde ist vorbei und wir müssen wieder in unseren Klassenraum. Ich verlasse den gleichen Raum mit meiner Lehrerin und mit dem Mädchen, das auch mal Lehrerin werden möchte. Frau Heimann öffnet die Tür zum Klassenraum, mein erster Blick fällt auf die Tafel, da steht ganz groß mein Name und dahinter, dass ich blöd bin! Die anderen Jungs lachen. Ach Gott, die Studentin denkt doch nicht, dass ich wirklich blöd bin, warum tun die das nur. Ich verstehe doch nur noch nicht richtig die deutsche Sprache, deswegen bin ich doch nicht blöd. Am liebsten würde ich schnell nach Hause rennen, dann brauchte ich das fiese Grinsen der anderen Jungs nicht ertragen.“ „Als Hausaufgabe sollten wir kleine Schäfchen aus weißer Watte auf grünem Karton aufkleben. Nun hatte Mutti aber nur Watte in Rosa, Blau und Gelb. Wenn ich die nehme, wird die Lehrerin bestimmt böse. Aber Mutti hat gesagt, wir können nicht extra weiße Watte kaufen nur für die Schäfchen. Also werde ich heute mein Bild mitnehmen und mir das Geschimpfe anhören. Alle anderen zeigen stolz ihre Bilder mit den weißen Schafen. Ich bin die einzige, die ein rosanes, ein gelbes und ein blaues Schaf aufgeklebt hat. Jetzt will die Lehrerin, dass ich mein Bild allen in der Stunde herumzeige. Ich stehe langsam auf und halte mein Bild hoch. Alle anderen sind erstaunt und die Lehrerin lächelt ja sogar. Sie sagt, sie sei erstaunt, aber nicht böse über die bunten Schafe, denn schließlich sehe man auch in der Werbung, dass Kühe nicht schwarz-weiß, sondern auch lila sein können. Danach nimmt sie mein Bild und hängt es mit einigen anderen an die Wandzeitung. Meins in die Mitte.“
Die Beispiele verdeutlichen: Es gibt Schulsituationen, in denen Leistungsunterschiede oder Herkunftsunterschiede von Lehrpersonen und Mitschülern dazu benutzt werden, Schülerinnen und Schüler schlecht zu behandeln, sie bloßzustellen oder gar zu demütigen und zu diskriminieren, kurz: ihnen Anerkennung vorzuenthalten und ihnen so Angst zu machen (Krumm 1999); es gibt aber auch
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zahlreiche Situationen, in denen sich Lehrkräfte um Anerkennung bemühen. Durch Missachtung ausgelöste Angst in der Schule ist Angst vor Lehrpersonen und Angst vor Mitschülern. Aber sehen wir vom Extrem der Angst machenden Diskriminierungen, von denen in den zitierten Schulgeschichten berichtet wird, einmal ab: Das unverzichtbare alltäglich wirksame Leistungsprinzip der Schule selbst macht auch Angst und es wird benutzt, um den Diskriminierungen einen Schein von Legitimität zu verleihen. Hier stellt sich die grundsätzliche Frage, ob nicht konsequente Leistungsforderungen und die Konfrontation mit Leistungsmängeln im Gegensatz zur Anerkennung von Kindern und Jugendlichen stehen. Ist angesichts der Selektionsfunktion von Schule Anerkennung nicht unmöglich und sitzt Pädagogik der Vielfalt mir ihrer Emphase für Heterogenität nicht Illusionen auf? Empirische Daten (s.u.) belegen, dass der Konflikt Vielfalt versus Leistung in Schulen unumgänglich ist, denn: Schulen sind grundsätzlich von der Gleichheit und der Verschiedenheit der Schülerinnen und Schüler geprägt. Kinder gleichen sich darin, dass sie alle vor nicht allzu langer Zeit geboren wurden. Sie alle sind damit beschäftigt, die Welt, die für sie noch relativ neu ist, kennen zu lernen. Ihr Leben fängt erst an. Sie alle durchlaufen Entwicklungen, wenn auch individuell unterschiedlich, so doch in raschem Tempo. Sie sind Angehörige der neuen, jungen Generation und sie werden alle in eine bestehende Kultur eingeführt. Sie alle unterliegen in modernen Gesellschaften der Schulpflicht. Alle Kinder haben leibliche, seelische und geistige Grundbedürfnisse. In den Schulen wird sichtbar, wie verschieden Kinder – auch angesichts der genannten Gleichheiten – sind. Hier dazu eine Auswahl an Forschungsergebnissen: Forscher des Nürnberger Instituts für Grundschulforschung stellen fest, dass in Grundschulklassen von Anfang an Kinder unterschiedlichen Alters sitzen. Der Altersunterschied beträgt meist zwei bis drei, oft sogar vier Jahre. Zahlreiche Studien belegen, dass auch die ökonomischen Lebensverhältnisse der Herkunftsfamilien stark divergieren. Etwa jedes fünfte Kind in Deutschland lebt in Armut! Daneben gibt es eine Mehrheit aus mittleren Einkommensschichten und wiederum eine Minderheit wirklich reicher Kinder (vgl. Bundesministerium für Familie 1998). Inzwischen haben ein Drittel aller Schülerinnen und Schüler mindestens ein Elternteil mit anderer kultureller Herkunft (Baumert u.a. 2001). Auch ist daran zu erinnern, dass Mädchen und Jungen unterschiedlich sozialisiert sind und mehr oder weniger verschiedene Gruppierungen in Schulklassen bilden. Zur Verschiedenheit der soziokulturellen Kontexte, in denen Kinder aufwachsen, kommt die Verschiedenheit ihrer individuellen Entwicklungen hinzu (Largo 2000). Es darf also keineswegs von der Gleichförmigkeit der Entwicklungsschritte im Prozess des Aufwachsens ausgegangen werden, Entwicklung ist vielmehr ein von Kind zu Kind höchst unterschiedliches Geschehen. Auch aus entwicklungs-
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psychologischer Sicht ist es „normal“, einzelne Altersstufen sehr verschieden zu durchlaufen. Für schulische Zusammenhänge sind die unterschiedlichen Lernausgangslagen von besonderer Bedeutung. Dazu stellt das Nürnberger Institut für Grundschulforschung fest: „In allen Klassen sind zwischen den leistungsstärksten und den leistungsschwächsten Schülern Unterschiede feststellbar. Die lernschwachen Kinder sind bereits mit den lehrplanmäßig vorgegebenen Grundleistungen überfordert. Demgegenüber sind die leistungsstarken Schüler durchaus in der Lage, auch Anforderungen höherer Jahrgangsstufen zu erfüllen“ (Rabenstein u.a. 1989, 12). Hinzu kommt, dass nicht nur innerhalb einzelner Klassen solche Differenzen vorzufinden sind, sondern dass die Leistungsstände ganzer Schulklassen und sogar ganzer Schulen erheblich voneinander abweichen. Ich schließe die Verweise auf empirische Daten mit einer besonders wichtigen Erhebung. Hanns Petillon hat Kinder selbst befragt nach ihren Schulerfahrungen. Sie berichteten: In Schulklassen finden sich beliebte und ungeliebte Schülerinnen und Schüler. Beide, die Anerkannten und die Außenseiter behalten über lange Zeit, meist über Jahre, unverändert diese Rollen bei: „Das leistungsstarke Kind, das sich auch bereitwilliger den Forderungen des Lehrers unterordnet, hat in vielen Fällen in der Schülergruppe eine günstige soziale Stellung, die es ihm wiederum ermöglicht, sozial unbelastet und selbstbewusst schulische Forderungen zu erfüllen. Gleichzeitig bietet die Möglichkeit, sein soziales Ansehen durch gute Schulleistungen zu erhöhen, einen Anreiz, sich um gute Leistungsergebnisse zu bemühen. Der Leistungsschwächere hingegen verliert zunehmend an positiven Kontaktmöglichkeiten in der Gruppe und hat es besonders schwer, Leistungsrückstände aufzuholen, zumal er auch vom Lehrer eher selten die notwendige Zuwendung erhält“ (Petillon 1993, 182). Bedeutsam ist auch ein weiteres Ergebnis von Petillons Befragung: Etwa 10-15 Prozent der Kinder wurden von keinem anderen Kind als Freund genannt und von niemandem zum Spielen oder zum Nebeneinandersitzen ausgewählt. Ich fasse die Forschungsergebnisse zusammen: In Grundschulen, in Gesamtschulen, in Gymnasien, Realschulen und Sonderschulen finden sich Schülerinnen und Schüler in den Klassen, die unterschiedlich alt sind, die aus verschiedenen ökonomischen, kulturellen und familiären Welten kommen, die sich verschieden entwickeln, die mit verschiedenen Arbeitsweisen und auf verschiedenen Niveaus lernen. Sie haben verschiedene, gute oder auch weniger gute soziale Beziehungen und verschiedene glückliche und unglückliche existentielle Erfahrungen. Sie kommen mit sehr unterschiedlichen Interessen an den Lerngegenständen in die Schule. Die im deutschen Schulsystem von der Sekundarstufe I an wirksame Viergliedrigkeit ermöglicht die gewünschte Homogenität der Jahrgangsklasse nicht (Ingenkamp 1969). Schulklassen werden als heterogene Lerngruppen erkennbar, sobald man den Lernausgangslagen und Biographien sowie den
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soziokulturellen Lebenslagen von Schülerinnen und Schülern Aufmerksamkeit schenkt. Nach dem Blick auf die empirischen Befunde stellt sich die Widersprüchlichkeit der oben formulierten Ausgangsfragen dieses Beitrags noch schärfer dar. Der Streit um die Möglichkeiten von Anerkennung in der Schule scheint unlösbar: Heterogenität einerseits ist ein zentrales Kennzeichen der Schülerschaft aller Schulen heute, Leistungsanforderungen und Wettstreit um Leistungen andererseits können gerade auch um der demokratischen Chancengleichheit willen nicht aufgegeben werden.
2. Mehrperspektivische Anerkennung der Schülerinnen und Schüler und ihrer Schulleistungen Perspektivitäts- und erwägungstheoretische Überlegungen können für die Auseinandersetzung mit unvereinbar erscheinenden Positionen interessante Anregungen geben. Statt einen Kampf um Alternativen, aus dem eine Position als siegreich, die andere als unterlegen hervorginge, zu führen, erschließt das „Erwägungskonzept die Möglichkeiten eines integrierenden und bewahrenden Umgangs mit Alternativen“ (Blanck 2002). Perspektivitätstheorien regen dazu an, verschiedene Standpunkte, Blickwinkel und Horizonte auszuloten, ihre Erkenntnispotentiale und Erkenntnisgrenzen jeweils zu reflektieren, zwischen ihnen hin- und herzugleiten und neue Weltausschnitte zu erschließen (Graumann 1960; König 1989; zusammenfassend Prengel 1997). Es geht also gerade auch in einer durch die Anerkennung von Pluralität motivierten Pädagogik der Vielfalt darum, unterschiedliche Positionen mehrperspektivisch erwägend zu durchdenken und zueinander in Beziehung zu setzen. Die stichhaltigen Argumente und die blinden Stellen verschiedener Sichtweisen müssen berücksichtigt werden: dass Schülerinnen und Schüler im Interesse ihrer Chancengleichheit sehr gute Leistungsförderung brauchen und dass jedes einzelne besondere Kind eine glückliche, selbstbestimmte Schulzeit braucht. Realisierbar ist eine entsprechende Unterrichtsgestaltung. Eine Didaktik der Anerkennung heterogener Lernwege ist durch die jahrelange Arbeit der Integrationsklassen bereits voll entwickelt (vgl. Dräger 1997; Nicolas 1997; Mayer 1992; Preuss-Lausitz/Maikowski 1998). Sie muss nicht erst erfunden werden. Kürzlich hat Basil Schader (2000) aus Zürich in seinem Buch „Sprachenvielfalt als Chance“ in interkultureller Perspektive eine herausragende Anleitung für die Praxis der heterogenen Lerngruppen aller Bildungsstufen geschrieben. Konzeptionell wäre es in jeder Klasse möglich, sofort damit anzufangen, Kinder und Jugendliche an ihren Lernniveaus entsprechenden verschiedenen Aufgabenstellungen arbeiten zu
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lassen. Freie Arbeit ist eine Methode der Schulpädagogik für alle Schulstufen, nicht nur für die Grundschulpädagogik, die mehr als 100 Jahre alt ist und mit der wir über viele Erfahrungen verfügen (Prengel/Schmitt 2000). Selbstachtung und Anerkennung der anderen sind wesentliche Elemente der unterschiedlichsten Ansätze einer Praxis der Erziehung zur Demokratie, des sozialen Lernens, der Erziehung zur Gewaltlosigkeit, der interkulturellen Erziehung ebenso wie der Erziehung zur Geschlechterdemokratie (vgl. z.B. Senatsverwaltung 1998; Grubmüller 1998; Edelstein/Oser/Schuster 2001; Prengel 1993). Angesichts solcher Erfahrungen ist die Frage nach der Bedeutung von Schulleistungen in diesem Kontext zu diskutieren. Im Folgenden sollen fünf verschiedene Perspektiven schulischer Anerkennung von Leistungen aufgefächert und in Beziehung zueinander gesetzt werden. Die oben erwähnten perspektivitäts- und erwägungstheoretischen Einsichten regen dazu an, widersprüchliche Aspekte nicht aufzulösen, sondern produktiv auszuarbeiten. 1. Die Perspektive schulischer Anerkennung der Menschenrechte bildet in Demokratien eine Grundlage allen pädagogischen Handelns. Sie macht bewusst, dass auch in Schulen Prinzipien des Grundgesetzes gültig sind. Jedes Kind ist gleich wertvoll, unabhängig von seiner sozialen Herkunft und Leistungsfähigkeit. Keine Schülerin und kein Schüler darf, aus welchem Grund auch immer, missachtet werden. Gleichgültig welcher Leistungsstand erreicht wurde: Jedes Kind, jeder Jugendliche muss gleichermaßen als Person mit eigener Würde anerkannt werden. Physische Gewalt durch Lehrkräfte wird zu Anfang des 21. Jahrhunderts in Schulen offiziell schon lange nicht mehr geduldet. Aber subtile verbale, psychisch wirksame Gewalt ist in Schulen anzutreffen (Krumm 1999). Bloßstellen, auslachen, beschimpfen, diskriminieren sind Verletzungen der verfassungsmäßig gebotenen, elementaren demokratischen Anerkennungsprinzipien. 2. Die Perspektive der Anerkennung der Mitgliedschaft betont, dass jedes Kind, jeder Jugendliche, unabhängig vom Leistungsstand und von sozialer Herkunft, Zugehörigkeit zu einer Schul- und Klassengemeinschaft erfahren sollten. Jedes Kind wird als Mitglied der „embryonic society“ (vgl. z.B. von Hentig 1993; Becker u.a. 1997; Oser/Althof 2001; Sliwka 2001; Drews 1994) in der Schule der Demokratie anerkannt und lernt andere anzuerkennen. Schulen haben dafür vielfältige neue, der Demokratie angemessene Symbole und Rituale (Prengel 1999; Gebauer/Wulf 1998) erfunden, dazu gehören Kreisgespräche (Heinzel 2001), Schul- und Klassenordnungen, Feste, Geburtstagsfeiern, Reisen, Partnerschaften, Konflikt-Projekte (Grubmüller 1998; Senatsverwaltung 1998), Versammlungen (Oser/Althof 2001). 3. Die Perspektive der Anerkennung der einzelnen Person mit ihren individuellen
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Lernprofilen rückt u.a. folgende Fragen ins Blickfeld (vgl. Portmann 1997, Carle 1997, Kohls 1990, Eggert 1997): – Was ist die Lernausgangslage des einzelnen Kindes? Wie lernt es konkret? Was kann es zu einem bestimmten Zeitpunkt? – Welche emotionalen, familiären und biographischen Bedingungen beeinflussen die Lernsituation? – Welche Lernschritte hat das einzelne Kind in einer bestimmten Zeitspanne gemacht? – Hat das Kind an seiner persönlichen Leistungsgrenze gearbeitet? – Welche inneren oder äußeren Blockaden haben das Kind beim Lernen behindert? – War die pädagogische Umgebung passend für dieses Kind gestaltet? – Was können die nächsten Lernschritte sein? – Welche Unterstützung braucht das Kind dafür? Erst auf der Basis dieser drei elementaren Anerkennungsperspektiven kommen die folgenden interpersonell und normativ vergleichenden Sichtweisen ins Spiel: 4. Die Perspektive der fairen Konkurrenz. Konkurrenz muss fair ausgetragen werden, wenn nicht von vornherein Sieger und Verlierer feststehen sollen. Für alle Leistungsniveaus kann eine faire Konkurrenz nur darin bestehen, dass annähernd ähnlich befähigte Kinder miteinander wetteifern und sich so gegenseitig anspornen. Jene Kinder und Jugendlichen, die zusammenpassen, können innerhalb der heterogen zusammengesetzten Schulklasse oder in klassenübergreifenden Lernsituationen in ihrer Schule miteinander wetteifern. Pädagogik der Vielfalt schließt also Möglichkeiten zu konkurrieren nicht aus, sondern sollte Fairness kultivieren. Kinder können Schwächeren Vorsprung lassen, um Freude am Wettkampf zu haben. Zum fairen Kämpfen gehört zum Beispiel auch, dass körperliche Auseinandersetzungen freiwillig und implizit oder explizit mit Regeln geführt werden (Oswald 1997). 5. Die Perspektive der Anerkennung von Stärken und Schwächen durch Leistungsvergleiche mit einer Lehrplannorm. Diese Perspektive ermöglicht danach zu fragen, welchen Leistungsstand eine Schülerin oder ein Schüler im Verhältnis zum für seine Jahrgangsstufe vorgegebenen Lehrplan erreicht hat. Es geht darum, explizit zu thematisieren: „Wo steht“ ein Kind oder Jugendlicher in den einzelnen Leistungsbereichen im Vergleich zu den anderen Schülerinnen und Schülern ihrer oder seiner Altersgruppe. Im Hauptstrom der Regelschulen des Schulwesens bildet diese fünfte Perspektive einen Dreh- und Angelpunkt der Ziffernnoten, die den Grad der Anerkennung als „guter“, „durchschnittlicher“ oder „schlechter“ Schüler bzw. „gute“, „durchschnittliche“ oder „schlechte“ Schülerin legitimiert. Interessant ist, dass in reformpädagogischen Diskursen diese Perspektive häufig weitgehend ausgeblendet oder sogar explizit als schüler-
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feindlich kritisiert wird; obwohl auch im offenen Unterricht mit aufs Individuum zentrierten Lernberichten ohne Ziffernnoten die Beteiligten in der Regel ein Wissen darüber haben, wo jedes Kind im Vergleich zu anderen in seiner Lernentwicklung steht. Meine These ist: Die Spaltung in eine reformpädagogische Minderheit, die hierarchisierende Leistungsvergleiche ausblendet, und in eine Mehrheit der Lehrkräfte, die diesen die Alleinherrschaft einräumt, schadet den Schülerinnen und Schülern. Wenn die Perspektive vergleichend-hierarchiebildender Anerkennung allein zählt und die Perspektiven der Anerkennung der Menschenrechte, der Mitgliedschaft und der individuellen Lernprofile vernachlässigt werden, ist die schulische Sozialisation im Sinne der Demokratie gefährdet. Dann drohen Schulen zu gleichschaltenden, kulturell verarmenden, Angst machenden Lehranstalten zu werden. Solange Schule systematisch und unabhängig von individueller Anstrengung einem Teil der Zielgruppe bescheinigt „schlechte“ Schüler zu sein, enthält sie ihnen elementare Anerkennung vor und gefährdet so die Entwicklung von Selbstakzeptanz bei ihnen. Selbstakzeptanz aber ist jene zentrale Voraussetzung für die Fähigkeit, andere anzuerkennen, ohne die Demokratie nicht auskommen kann. Wenn hingegen die Perspektive der zustimmenden individuellen Anerkennung die einzig wahrgenommene bleibt, leiden Kinder und Jugendliche unter einem Mangel an Zu-Mutungen (Oser 1994) und an Grenzenlosigkeit (Rumpf 1996); wesentliche emotionale und kognitive Herausforderungen (Bambach 1998) bleiben ihnen dann vorenthalten. Im Spektrum einer mehrperspektivischen Anerkennung von Schulleistungen ist jede der fünf dargestellten Anerkennungsformen unentbehrlich, sie können kombiniert und in einem gleitenden Perspektivenwechsel miteinander verbunden werden. Abschließend stellt sich damit die prekäre Frage, wie ein demokratischer Umgang mit den unter 5. erläuterten Hierarchien gestaltet werden könnte: Wie kann Anerkennung gegeben werden ohne zu beschönigen und zu verschleiern, aber auch ohne zu demütigen und zu verachten? Einmal mehr vermag hier die Integrationspädagogik einen Weg zu weisen. Es war der italienische Kinderarzt Adreano Milani-Comparetti (vgl. Milani-Comparetti 1982; 1987), der als einer der Ersten darauf aufmerksam machte, dass die Integration eines Kindes mit Behinderung im gemeinsamen Unterricht nur gelingen kann, wenn die beteiligten Personen diese Behinderung anerkannt haben. Es kommt darauf an, die Beeinträchtigung, die mit ihr verbundene Kränkung und den Schmerz wahrzunehmen, zu benennen und darum zu trauern. Wenn die Begrenztheit anerkannt wird, entsteht schließlich nicht Resignation und affirmative Fixierung auf eine beeinträchtigte Situation, sondern eine aufgeklärte, desillusionierte Freiheit für neue Entwicklungen kann aufkommen. Ohne Trauerarbeit kann es geschehen, dass heterogene Lerngruppen dazu beitragen, Illusionen und Größenfantasien zu
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nähren, die kognitive und soziale Lernprozesse beeinträchtigen. Jessica Benjamin (1990) und Rolf-Peter Warsik (2000) haben sich aus psychoanalytischer Sicht mit dem Problem der Anerkennung der Grenzen der oder des anderen sowie von Begrenztheit überhaupt in Anerkennungsverhältnissen auseinander gesetzt. Auch sie weisen vehement darauf hin, dass Anerkennung nicht nur aus aufbauender Bestätigung bestehen kann und schon gar nicht mit harmonisierender irrealer Beschönigung zu verwechseln ist. Die Idee der Anerkennung im Generationenverhältnis kann mehrperspektivisch verstanden werden, sowohl egalitär als humane Anerkennung von gleich zu gleich vom ersten Lebenstag an (Klaus und Klaus 2000) als auch hierarchisch als Anerkennung der Verantwortung der älteren Generation und der Unerfahrenheit der jüngeren Generation in bestimmten Lebensbereichen (Ahrbeck 1998). Beispiele für einen solchen mehrperspektivischen Entwurf des Generationenverhältnisses finden sich im Konzept der „generationenvermittelnden Grundschule“ nach Heinzel (2001), der „Ermutigungen – nicht Zensuren“ nach Bambach (1994, 1998) und der „einfühlsam vertretenen Grenzen“ nach Rumpf (1996). Dabei verdeutlichen die Arbeiten von Heide Bambach, wie sehr die Verantwortung der älteren Generation sich auch in beschützend und fürsorglich formulierten Leistungsrückmeldungen an Kinder zeigen kann, die ihnen zu-muten, was ermutigend und nicht destruktiv wirkt. Einer um die Gefahr der Illusionen der Vielfalt aufgeklärten Pädagogik der Vielfalt stellt sich die Aufgabe, an einer Kultur der Anerkennung zu arbeiten, in der Schülerinnen und Schüler in ihrer Heterogenität wertgeschätzt werden und zugleich respektvoll Rückmeldungen über ihre Leistungen, auch im Vergleich mit anderen erhalten. Praxisberichte belegen, dass es in Schulen möglich ist, gerade auch mit benachteiligten Jugendlichen eine unterstützende Atmosphäre zu gestalten, wenn sie sich mit ihrem Stand in der Leistungshierarchie und ihren beruflichen Chancen bewusst realistisch auseinander setzen (vgl. Grubmüller 1998). Wenn Kinder und Jugendliche sich der äußerst schmerzlichen Anerkennung von Begrenztheit, Mangel und Unterlegenheit stellen, die interpersonelle Leistungsvergleiche für viele mit sich bringen, dann ist es wichtig, dass Lehrkräfte niemals eine grundlegende humane Achtung in Frage stellen, ihnen taktvoll beistehen und sie trösten, anstatt sie zu diskriminieren und dass auch Mitschülerinnen und Mitschüler lernen, sich wechselseitig Halt zu geben. Der Wunsch, über Leistungshierarchien und ihre Folgen wahrhaftig zu kommunizieren, kann verknüpft werden mit dem Wunsch, individuelle Heterogenität anzuerkennen – dieser Impuls kann von einer vielfaltsorientierten Pädagogik ausgehen. Eine solche widersprüchliche und zugleich produktive Anerkennungssituation könnte sich vermutlich in Schulsituationen unabhängig von der Schulform zugleich leistungsförderlich und demokratieförderlich auswirken.
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Anmerkungen 1 Vgl. Adorno 1976, S. 130 f., vgl. auch Friedeburg 1994. 2 Ich danke dem Kollegium der Montessori-Gesamtschule Potsdam, den Kooperationspartnern des Forschungsvorhabens „Kinder im Prisma der Lehrerwahrnehmung. Verfahren zur Leistungs- und Entwicklungsdokumentation“ sowie meinen Kolleginnen Ursula Carle und Friederike Heinzel für Diskussionen und Anregungen zum Thema dieses Beitrags. Uta Marini sei für ihre Unterstützung bei der Erstellung des Manuskripts und der Literaturliste gedankt.
Literatur Adorno, Theodor W. 1976: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Frankfurt/M. Ahrbeck, Bernd: Konflikt und Vermeidung. Psychoanalytische Überlegungen zu aktuellen Erziehungsfragen. Berlin 1998 Arnold, Karl-Heinz/ Jürgens, Eiko 2000: Schülerbeurteilung ohne Zensuren. Neuwied Bambach, Heide 1994: Ermutigungen. Nicht Zensuren. Lengwil/Schweiz Bambach, Heide 1998: Wer sein Bestes gibt, muss sich gut fühlen dürfen. In: Die Grundschulzeitschrift. 1/1998, 12. Jg., Heft 111, S. 4 Baumert, Jürgen/Lehmann, Rainer u.a. 1997: TIMSS – Mathematisch – naturwissenschaftlicher Unterricht im internationalen Vergleich. Opladen Baumert, Jürgen u.a. (Hrsg.) 2001: PISA 2000. Basiskompetenzen von Schülerinnen und Schülern im internationalen Vergleich. Opladen Beck, Ulrich 1985: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt/M. Beck, Ulrich 1996: Das „eigene“ Leben in die eigene Hand nehmen. In: Pädagogik 7-8/1996. 48. Jg., S. 40 Beck, Ulrich (Hrsg.) 1997: Kinder der Freiheit. Frankfurt/M. Becker, Gerold u.a. 1997: Die Helene Lange Schule Wiesbaden. Das andere lernen. Entwurf und Wirklichkeit. Hamburg Benhabib, Seyla 1998: Kulturelle Vielfalt und demokratische Gleichheit. Politische Partizipation im Zeitalter der Globalisierung. Frankfurt/M. Benjamin, Jessica 1985: Die Fesseln der Liebe. Zur Bedeutung der Unterwerfung in erotischen Beziehungen. In: Feministische Studien 2/1, 3. Jg., S. 10-33 Benjamin, Jessica 1990: Die Fesseln der Liebe. Psychoanalyse, Feminismus und das Problem der Macht. Frankfurt/M. Bertelsmannstiftung (Hrsg.) 1998: Eine Welt der Vielfalt. New York/Gütersloh Bertram, Mechthild/Helsper, Werner/Idel, Till-Sebastian (2000): Entwicklung schulischer Anerkennungsverhältnisse. Eine Reflexionshilfe zum Thema Schule und Gewalt. Ministerium für Bildung, Wissenschaft und Weiterbildung Rheinland-Pfalz. Mainz Blanck, Bettina 1998: Erwägen als philosophische Orientierung und Didaktik. In: Lohmann, Karl Reinhard/Schmidt, Thomas (Hrsg.): Akademische Philosophie zwischen Anspruch und Erwartung. Frankfurt/M., S. 164-195
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Zur Bedeutung von Anerkennung in individualisierten Gesellschaften Die Schule ist eine wichtige gesellschaftliche Instanz, die Anerkennung – insbesondere für Lernleistungen, aber auch etwa für soziale Fähigkeiten und Schlüsselqualifikationen – vergibt oder verweigert. Die Ergebnisse solcher Anerkennungs- bzw. Verweigerungsmaßnahmen schlagen sich im Zeugnis nieder, das entweder zur Weiterbildung ermutigt und berechtigt oder aber nur einen begrenzten Bildungsabschluss in Aussicht stellt. Da die Qualität des Schulabschlusses wichtig ist für die Zuweisung des Individuums zu ungleichen gesellschaftlichen Positionen,1 ist es für Schülerinnen und Schüler von großer Bedeutung, dass ihre Leistungen von der Lehrkraft richtig und vollständig erkannt und anerkannt werden. Die Beachtung und Anerkennung von Leistungen dient jedoch nicht nur der Gesellschaft zur Zuweisung und Legitimation ungleich ausgestatteter Positionen, sondern sie ist auch zentral für die psychische Stabilität des Individuums.2 Hier ist nicht nur die Lehrkraft, sondern es sind auch einzelne Mitschülerinnen und Mitschüler oder die Lerngruppe als Ganzes für die Schülerin bzw. den Schüler von Bedeutung, wenn sie/er stumm fragt: Wie sehen mich die anderen? Erkennen sie mich an, so wie ich bin? Halten sie mich für klug, cool und witzig oder für dumm, langweilig und hässlich? Wie kann ich mir (mehr) Anerkennung verschaffen? In welchen Bereichen ist es mir besonders wichtig bzw. weniger wichtig, Anerkennung zu erhalten? Die Beziehungen innerhalb von Schulklassen sind Orte wechselseitiger Anerkennung, in denen Kinder sich in z. T. diffizilen Aushandlungsprozessen darin üben, sich selbst zu behaupten und egalitäre Interaktionszusammenhänge aufzubauen.3 Prozesse der Anerkennung und Ablehnung begleiten und prägen also nicht nur das schulische Lernen durch Noten und Zeugnisse, sondern sie tangieren in vielfältiger und subtiler Form emotionale und soziale Aspekte, die für das Selbstwertgefühl und für die Entwicklung von Identität zentral sind (für die frühe Kindheit vgl. Benjamin 1993; Altmeyer 2000).4 Wird Anerkennung in zentralen Handlungsfeldern dauerhaft oder grundlos verweigert oder zwar pauschal bzw.
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schematisch, aber nicht überzeugend gezollt, beeinträchtigt dies das Selbstwertgefühl. Anhaltende oder wiederholte gravierende Erfahrungen dieser Art erzeugen Gefühle von Unsicherheit und Überforderung und versetzen das Individuum in einen Zustand der Verletzlichkeit, der schließlich in Krankheit und/oder Devianz münden kann.5 Je unsicherer ein Mensch sich seiner selbst ist, desto mehr ist er auf die Anerkennung anderer angewiesen; Anerkennung bzw. die Verweigerung von Anerkennung tangiert also das Selbstwertgefühl direkt (vgl. Benjamin 1993). Die genaue Wahrnehmung der eigenen Existenz – und zwar der Selbst- wie der Fremdeinschätzung – ist in individualisierten Gesellschaften von besonderer Bedeutung, sollen doch nicht mehr Familien-, Standes-, Klassen- oder Schichtzugehörigkeit über den Platz in der Gesellschaft und die damit zu erwartende Wertschätzung entscheiden, sondern der Lebensweg soll als Resultat eigener Leistungen sowie persönlicher Fähigkeiten interpretiert werden. Insofern ist das Bild, das die Außenwelt dem Individuum spiegelt, für die Selbsteinschätzung und die Selbstachtung des Einzelnen von großer Bedeutung, auch was die Wahrnehmung von Unzulänglichkeiten und Brüchen angeht (vgl. Bude 1994). Sich aus einer anderen Perspektive sehen zu lernen und über individuelle Stärken und Schwächen zu kommunizieren, erweitert zudem die soziale Kompetenz eines Individuums. Die Einübung des fremden, analytischen Blicks (vgl. Goffman 1967) ermöglicht es dem Individuum, gerade auch das Selbstverständliche, Alltägliche auf seine Gewordenheit hin zu untersuchen.6 Zur Schulung dieser Wahrnehmungsfähigkeit und zum Umgang mit Fremdeinschätzungen und Bewertungen von anderen ist es wichtig, bereits in der Schule pädagogisch geeignete Prozesse der Anerkennung von Leistung und Fähigkeiten durchzuführen, entsprechende Zuschreibungen, Erwartungen und Verunsicherungen bewusst zu machen und Strategien der Bewältigung zu reflektieren. Mit diesem Beitrag will ich – wenn auch noch in einer kursorischen Art und Weise – begründen und darstellen, dass in der Lehrerausbildung die FeedbackTechnik7 ein Instrument ist, mit Hilfe dessen die Leistungen der Studierenden differenziert anerkannt, die Reflexion über Lehr-/Lernprozesse angeregt und dadurch die Seminarqualität verbessert wird. Erfahrungen mit der kritischkonstruktiven Reflexion von Lernarrangements und Präsentationsformen erweitern die (fach-)didaktische Kompetenz der Studierenden. Denn Schule wird vor dem Hintergrund der eigenen Erfahrung als Schülerin/Schüler konzipiert (vgl. Meyer 1996, 118), wenn die Studierenden nicht während des Studiums neue Sicht- und Handlungsweisen erproben und praktizieren können. Jeder Lehr-/ Lernprozess vollzieht sich auf der Folie von Erfahrungen und Haltungen, die im Verlauf der Lebensgeschichte gewachsen sind. Wenn die jeweils als ‚selbstverständlich‘ und ‚normal‘ erachteten eigenen Lernerfahrungen von anderen beleuchtet und kommentiert werden, erweitert dieses den eigenen begrenzten
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Horizont. Die Hochschullehre ist insofern ein Lernmodell für die Studierenden und kann dafür genutzt werden, Anregungen für die Anerkennung von Schülerleistungen zu geben und durch die Fundierung der reflexiven didaktischen Kompetenzen die Professionalität des Lehrerhandelns insgesamt zu erhöhen. Der Aufsatz gliedert sich in drei Teile: Zunächst gehe ich kurz auf verschiedene Aspekte der Bedeutung von Anerkennung für das Schulkind ein um zu begründen, warum auch vor diesem Hintergrund Feedback-Verfahren zur Reflexion und Anerkennung von Studienleistungen in der Lehrerausbildung größere Beachtung zukommen sollten. In einem weiteren Abschnitt zeige ich – auch anhand einer kleinen eigenen empirischen Erhebung –, welche Erfahrungen heutige Studierende mit Feedback an der Hochschule haben und welche Wünsche/Vorschläge sie dafür anmelden. Den Schluss bilden einige konkrete Vorschläge für Feedback als Anlass für Reflexionen über Lernprozesse und -arrangements in der Hochschullehre sowie als Modell für Anerkennungsverfahren in der Schule.
Zur Bedeutung von Anerkennung für das Schulkind Die meisten Menschen können sich wahrscheinlich spontan an schulische Situationen erinnern, in denen sie Anerkennung seitens der Lehrkraft oder der Lerngruppe erhielten bzw. vermissten.8 Besonders gravierende Situationen, in denen Anerkennung erteilt wurde oder aber versagt blieb, können den weiteren Lebensweg entscheidend prägen, vielfach ohne dass die Ursachen hierfür im Einzelnen bewusst und nachvollziehbar sind. Seine eigene Lebenskrise aufgrund vorenthaltener Anerkennung in der Schulzeit und seinen Umgang damit schildert der Erziehungswissenschaftler Erhard Meueler (Meueler 1987, 13 ff.). Als Vierzigjähriger erleidet Meueler starke Angstattacken: Druck auf der Brust, Hämmern in den Schläfen, Beklemmungen und Todesangst. Dies ist für ihn Anlass, sich mit seiner Lebensgeschichte genauer auseinander zu setzen. Als zentral für seine Lebensgestaltung „kommt die Abitur-Geschichte wieder hoch“ (ebd., 13), eine Geschichte, in der „vorenthaltene Anerkennung“ (ebd.) Auslöser ist für die Ausbildung zentraler Orientierungen. Meueler war – für ihn selbst völlig überraschend – durch die mündliche Abiturprüfung gefallen. Nach einem halben Jahr besteht er zwar die Prüfung, zahlt aber dafür einen hohen Preis: „Weg ist mit einemmal die Unbekümmertheit des sorglosen Schülers. Um mich vor erneuten Verletzungen zu schützen, entwickele ich in der Folge einen bis ins Kleinste durchrationalisierten Lebensstil, diszipliniert und leistungsorientiert. Ich lerne, mich effektiv fremd- und selbstgesetzten Leistungsnormen zu unterwerfen. Ich beginne, systematisch und diszipliniert mein mittleres Talent auszureizen“ (ebd., 12 f.). Seine gesundheitlichen Beschwerden in der späteren Lebensphase und das gewonnene Bewusstsein um die Bedeutung der verpatzten Prüfung veranlassen ihn zur Umorientierung seiner Lebensführung: „Ich spreche mich davon frei, jeden Abend und jedes Wochenende in
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meinem Arbeitszimmer wie unter Zwang zu schreiben. Ich will meine ‚Anerkennungsarbeit‘ auf andere Art organisieren“ (ebd., 13).
Das Zitat ist ein Beispiel dafür, dass der Kampf um Anerkennung (vgl. Honneth 1994) mit erheblichen persönlichen Kosten und Krisen verbunden sein kann, wenn die Rückmeldung über Leistungen und/oder Verhalten/Eigenschaften nicht kontinuierlich, transparent und differenziert erfolgt. Gerade auch die Schulklasse insgesamt kann zu einer differenzierten und pädagogisch reflektierten Kommunikation über persönliche Stärken und Schwächen bei der Erbringung von Lernleistungen beitragen, wenn dies nach pädagogisch reflektierten Regeln geschieht. Das ist aber bisher nur ausnahmsweise der Fall.9 Zwar spielen Anerkennung und Verweigerung von Anerkennung in der Schule schon immer eine Rolle, und zwar sowohl im Verhältnis zwischen Lehrern und Schülern als auch innerhalb der Lerngruppe selbst. Solche Prozesse vollziehen sich jedoch meist noch nach Regeln, die nicht transparent und insofern kaum durchschaubar und beeinflussbar sind. Entsprechende Signale, Gesten und Symbole der Anerkennung besitzen ihre Wirksamkeit nicht zuletzt aufgrund des ‚heimlichen Lehrplans‘ von Schule. Dieser wird den Schülerinnen und Schülern mittels verschiedener Rituale von Beginn der Grundschulzeit an nahe gebracht (vgl. Wellendorf 1975) und beinhaltet als zentrale Botschaft, dass die Schüler die Anforderungen und die Bewertungsmaßstäbe der Schule nicht nur akzeptieren, sondern ihnen in ihrem Leben einen hohen Rang einräumen.10 Die Wirkung von Anerkennung bzw. von vorenthaltener Anerkennung ist allerdings nicht zuverlässig vorherzusagen, kann doch die Verweigerung auch zu Frustration und die reichliche Gewährung dazu führen, dass das Lob ohne Bedeutung bleibt. Solche Unwägbarkeiten könnten minimiert werden, wenn die Regeln für die Verbalisierung von Anerkennung und konstruktiver Kritik pädagogisch reflektiert sowie die Bewertungsmaßstäbe transparent sind. Wenn Stärken und Schwächen unterschiedlicher Lernarrangements differenziert herausgestellt werden und dies Anlass bietet, sich über unterschiedliche Lernbedürfnisse auszutauschen, wird dies den Schülerinnen und Schülern ein größeres Maß an Sicherheit für ihre Selbsteinschätzung und Orientierung geben. Damit ist die Erwartung verbunden, dass die Erfahrung von realitätsgerechter Anerkennung in Form einer differenzierten und reflektierten Würdigung der Leistung die Fähigkeit zur Selbsteinschätzung verbessert und das Vertrauen auf die eigene Kraft stärkt. Um diesen Zielen zu genügen, müssen Anerkennungsverfahren auch und gerade für diejenigen akzeptabel und förderlich sein, die in der Leistungs- und Beliebtheitsrangordnung weiter unten rangieren, denn gerade ihr Selbstvertrauen, ihre psychische Stabilität und ihre Fähigkeit zur sozialen Integration soll gestärkt werden. Dazu ist es notwendig, eine Balance zwischen (kritischer) Anerkennung
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und der Möglichkeit der Selbstbehauptung herzustellen. In der Realisierung einer solchen Balance werden quasi ‚nebenbei‘ die kommunikativen Kompetenzen sowie die Fähigkeit zur Selbst- und Fremdeinschätzung der Kinder und Jugendlichen und damit zentrale Schlüsselqualifikationen gefördert.
Anerkennung von Studienleistungen in der Lehrerausbildung Bei meinen Fahrten in Bus oder Bahn zur Universität oder bei verschiedenen Gelegenheiten in der Universität (Mensa/Lift) werde ich häufig Zeugin von Gesprächen, in denen Studierende Erfahrungen über Seminarveranstaltungen austauschen: was inhaltlich neu oder schon längst bekannt war, dass etwas besonders originell oder professionell präsentiert wurde oder auch dass das Referat ja mal wieder total eintönig, unverständlich, schlecht vorbereitet usw. war. Niemals habe ich erlebt, dass Studierende während der Seminarveranstaltung ohne spezielle Aufforderung solche Rückmeldungen über Seminarbeiträge geliefert hätten, im Gegenteil: Die spontane Bereitschaft, in derartige Reflexionen einzutreten, ist meist nicht besonders groß, was sich z.T. darin äußert, dass die Zeit für die inhaltliche Präsentation und Diskussion voll ausgeschöpft wird. Doch die anfängliche Skepsis schwindet schnell, wenn die Studierenden die verschiedenen Regeln und Möglichkeiten des Feedback kennen gelernt haben. Reflexionen über den Ertrag der Seminarleistung sowie konstruktive Hinweise für alternative Gestaltungsmöglichkeiten werden von allen Beteiligten in der Regel als weiterführend und hilfreich geschätzt, insbesondere wenn für die Metakommunikation interdisziplinäre Aspekte (etwa Ergebnisse aus der Lern- und Motivationspsychologie) eingebracht werden können, wovon die Gruppe insgesamt profitiert. Die im Seminar zusammengetragenen unterschiedlichen Rückmeldungen und Bewertungen der Seminarbeiträge stärken insgesamt die Wahrnehmungsfähigkeit der Studierenden gerade für verschiedene Arten des Lernens und für Stärken und Schwächen bei der Organisation von Lehre, was der didaktischen Kompetenz zukünftiger Lehrerinnen und Lehrer zugute kommt. Bisher gibt es nur vereinzelte Erkenntnisse über Feedback-Verfahren in der Hochschullehre und ihre Akzeptanz bzw. Bewertung durch die Studierenden. So wurde im Rahmen eines Frankfurter Projektes untersucht, ob Rückmeldung durch Kommilitonen nach Referaten praktikabel und für die Referierenden nicht nur akzeptabel, sondern auch hilfreich ist. Mittels eines eigens entwickelten Fragebogens zur Bewertung studentischer Referate wurden in einem 1. Schritt 175 Referate von 886 Seminarteilnehmerinnen und -teilnehmern bewertet (vgl. Krampen/Zayer 2000). Im Anschluss daran fanden in einem 2. Schritt Gespräche mit den Referentinnen und Referenten über ihre Erfahrungen mit diesem Verfah-
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ren statt. Die Rückmeldungen wurden von den Referenten positiv aufgenommen (vgl. ebd.). Zur Klärung der Frage, welche Erfahrungen Lehramtsstudierende heute mit der Anerkennung ihrer Studienleistungen machen, habe ich an der Universität Essen im Sommersemester 2001 300 Fragebögen an Studierende ausgegeben und in der Seminarsitzung ausfüllen lassen. 272 Bögen habe ich zur Auswertung zurückerhalten; 163 von weiblichen und 102 von männlichen Studierenden, sieben hatten auf die Geschlechtsangabe verzichtet.11 Insgesamt zeigen die Antworten, dass die Anerkennung von Studienleistungen zwar stattfindet, dass dies aber keineswegs regelmäßig geschieht. Die Frage, ob sie von den Lehrenden differenzierte Rückmeldungen für ihre mündlichen Seminarbeiträge (z.B. Referat) erhalten, beantworteten die Studierenden mit Immer 13 Häufig 104 Wenig 153 Gar nicht 2 Differenzierte Rückmeldungen für schriftliche Arbeiten (Hausarbeiten) erhalten die Studierenden Immer 17 Häufig 113 Wenig 130 Gar nicht 12 Rückmeldungen von Kommilitonen bekommen Studierende Immer 9 Häufig 64 Wenig 186 Gar nicht 13 Sie selbst geben ihren Kommilitonen Rückmeldungen Immer 3 Häufig 98 Wenig 147 Nie 24
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Diejenigen, die selten oder nie anderen Rückmeldungen geben, begründen dies so: Im Seminar gibt es dafür zu wenig Zeit und Gelegenheit Es gibt so viele Referate, da schwindet das Interesse Ich traue mich nicht, werde vielleicht missverstanden Habe wenig Kontakt In großen Seminaren gibt es nur wenig Gelegenheit für Rückmeldungen Üblich sind positive, allgemein gehaltene Rückmeldungen, die uninteressant sind keine Angabe
34 23 21 16 15 5 37
Rückmeldeverfahren, die man bisher im Studium kennen gelernt hat: Ja 204 109
Mündliches Feedback Schriftliches Feedback
nein 68 163
Die Studierenden nennen weitere Verfahren der Rückmeldung über Seminarleistungen, die sie kennen gelernt haben: das Gruppen-Feedback (27), Fragebogen (25), Punkte auf einer entsprechenden Skala anbringen (12), ‚Blitzlicht‘ (4). Zusätzliche Verfahren, die sich die Teilnehmerinnen bzw. Teilnehmer wünschen, werden nur vereinzelt benannt: Eine(n) Beobachter/in extra abstellen, der/die Kommentare abgibt (11); dass Studierende aktiv ein Feedback einfordern (9); ein persönliches Gespräch mit der Seminarleiterin/dem -leiter führen (6); Rückmeldung per Internet (2); Selbstkritik (1). Weitere Kommentare, die die Befragten zu dem Thema abgaben, lassen sich wie folgt zusammenfassen:12 Die Feedback-Kultur sollte ausgebaut werden Es werden Verletzungen/Missverständnisse befürchtet Die Dozenten geben zu wenig Rückmeldung, man muss explizit nachfragen Konstruktives Feedback wird gewünscht Noten sollten gegeben und mitgeteilt werden ‚Smilys‘ vergeben Befürchtung, durch Feedback Zeit zu verlieren
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Die Befragung zeigt, dass Studierende mehrheitlich an Rückmeldungen über ihre Seminarleistungen interessiert sind, dass sie auch entsprechende Verfahren kennen gelernt haben, diese aber bisher eher selten praktiziert werden. Die punktuellen Erfahrungen mit Feedback sind wahrscheinlich nicht ausreichend, um für die spätere Berufspraxis im Handlungsrepertoire zur Verfügung zu stehen. Um den Ertrag solcher Verfahren für die Reflexion von Lehr-Lernprozessen in der Hochschule und damit potentiell auch in der Schule zu verdeutlichen, möchte ich einige Erfahrungen mit und Vorschläge für Feedback-Verfahren in der Hochschullehre vorstellen.
Feedback in der Hochschullehre als Möglichkeit, Lehr-/ Lernprozesse genauer wahrzunehmen und zu reflektieren Die differenzierte Wahrnehmung von Lernbedürfnissen, -möglichkeiten und -hemmnissen ist eine Fähigkeit, über die ‚gute‘ Lehrerinnen und Lehrer verfügen sollten, kommt es doch im Unterricht heute nicht mehr nur darauf an, möglichst viel Wissen anzuhäufen, sondern ‚das Lernen zu lernen‘ und damit zentrale Orientierungen zu vermitteln, die eine Reihe weiterer Schlüsselqualifikationen beinhalten. Dabei geht es im Kern um die Fähigkeit, aus eigenem Antrieb immer wieder neuartige Problemstellungen wahrzunehmen und sich für die Suche nach adäquaten Lösungen selbstständig die geeigneten Informationen zu beschaffen. Wenn Schüler solche neuen Fähigkeiten erwerben sollen, müssen Lehr-/Lernprozesse diese auch hervorbringen können, was bisher nicht in dem Maße der Fall zu sein scheint, wie dies wünschenswert und angesichts neuer Qualifikationserfordernisse nicht nur in Berufen erforderlich ist. Während die Grundschule eine ‚aktive‘ Lernhaltung mit dem Konzept des ‚offenen Unterrichts‘ fördert, wird – die einschlägigen Untersuchungen zeigen dies – in den Sekundarstufen I und II noch immer vorrangig die Wissensvermittlung im Gleichschritt (d.h. Frontalunterricht in Frage-Antwort-Form) praktiziert. Einblick in den Alltag der Schule ermöglichen auch die Berichte über Schulpraktika, die überwiegend methodisch anspruchslosen Unterricht protokollieren: „Leider musste ich feststellen, dass in allen Jahrgangsstufen der Frontalunterricht die gängige Lehrform ist. Die Fachlehrer (auch wenn sie noch ‚relativ‘ jung sind) bemühen sich auch nicht, schülerorientiert zu arbeiten. In ihrer Themenwahl versuchen sie zwar die Schülerinteressen und die Besonderheiten der verschiedenen Altersgruppen zu berücksichtigen, aber der Unterricht ist vom traditionellen Lehrer-Schüler-Verhältnis geprägt: der Lehrer fragt etwas, die Schüler antworten. Auch der Beginn einer Unterrichtsstunde bot keinen besonderen Einstieg, zumeist wurde dort angeknüpft, wo das Thema der vorherigen Stunde unterbrochen wurde. Aber die Schüler scheinen dies mit Gleichmut hinzunehmen“ (Bericht über das Praktikum im Fach Politik/Sozialwissenschaften an einem Essener Gymnasium, angefertigt von Silke Pletschen, Sommer 2001).
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Wenngleich im verbreiteten „Fünf-Phasen-Modell“ der Stundenplanung die Phase der Metakommunikation vorgesehen ist, wurde die Realisierung dieser Phase in noch keinem der mir vorgelegten Berichte erwähnt. Im Interesse einer Unterrichtskultur, in der Leistungen differenziert erkannt und anerkannt werden, lenkt die gezielte Beobachtung und Wahrnehmung von Lernvorgängen und die Kommunikation über Lernprozesse in der Hochschullehre den Blick auf die Vorzüge und Nachteile verschiedener Lernarrangements. Die Kommunikation über unterschiedliche ‚Lernertypen‘ und über die Vorzüge und Nachteile verschiedener Lernarrangements schärft den Blick einer neuen Lehrergeneration für die Chancen und Probleme einer sowohl sach- wie auch schülerorientierten Unterrichtsplanung. Die genauere Wahrnehmung von Lernprozessen und die Anerkennung je unterschiedlicher Lernwege ist m.E. eine wesentliche Voraussetzung für die Entwicklung einer aktiven und produktiven Lernhaltung. In der Lehrerausbildung muss entsprechend die Wahrnehmung und die Kommunikation über Chancen und Risiken von Lehr-/Lernprozessen eine größere Rolle spielen als bisher: Während aktuell das Studium der Fachwissenschaft große Bedeutung hat, ohne dass dabei Lehr-Lern-Arrangements gezielt reflektiert werden, steigt gerade auch mit der gewachsenen Bedeutung von Schlüsselqualifikationen die Relevanz pädagogischer Belange und (fach-)didaktischer Qualifikationen. Einen Anlass zur differenzierten Reflexion von Lehr-Lern-Arrangements bietet das Feedback, indem es die Wahrnehmung von Lerngelegenheiten fördert und über subjektive Prioritäten im didaktischen Entscheidungsprozess Klarheit verschafft. Um die Aufmerksamkeit der angehenden Lehrerinnen und Lehrer für Lernprozesse gezielt zu schulen, sind systematische und wiederholte Fragen und Reflexionen hilfreich: Wo liegen individuelle Stärken und Schwächen, die durch Feedback angesprochen und ggf. verändert werden können? Welche Lösungsansätze sind erkennbar (konstruktive Kritik)? Wo liegen aber auch strukturelle Widersprüche, die nicht im Verantwortungsbereich des Individuums liegen und individuell nicht zu lösen sind?13 Dabei geht es zum einen um die Wahrnehmung und Anerkennung der eigenen Leistung, zum anderen um die Wahrnehmung und Anerkennung der Leistungen anderer. Wenn das Seminar als ein Feld zur Erprobung eigener Vermittlungsfähigkeiten genutzt und entsprechende Phasen der Metakommunikation gepflegt werden, fördert dies die didaktische Kompetenz der Studierenden. Verschiedene Arten des Feedback kennen wir aus unserer alltäglichen Kommunikation: Wir stimmen jemandem verbal („Ja, richtig“) oder nonverbal (nicken) zu oder signalisieren entsprechend Ablehnung bzw. Vorbehalte. Feedback, wie ich es hier für Lehr-/Lernprozesse vorschlage, ist differenzierter:14 Es stellt die persönliche Wahrnehmung von Verhaltensweisen und Leistungen konkret heraus und erkennt diese ausdrücklich an. Die zentralen Feedback-Regeln werden im Seminar jeweils vorgestellt und es
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wird an deren Beachtung erinnert.15 So wird anfangs jeweils mindestens ein als positiv/produktiv wahrgenommener Aspekt genannt. Weiter ist es wichtig darauf hinzuwirken, dass bei der Rückmeldung eigene, also subjektive Reaktionen auf einen Lehrimpuls beschrieben werden, ohne dass damit der Anspruch einhergeht, den Lernimpuls ‚objektiv‘ zu bewerten. Schließlich werden die Studierenden aufgefordert, ihre konkreten Informationen in Ich-Form zu geben. Anstelle der Mitteilung „Du hast immer nur die Seminarleiterin angesehen und auch in der Diskussion nur die Fragestellerin/den Fragesteller und nicht die ganze Gruppe angesprochen“ heißt es in der Ich-Form: „Ich habe mich weder durch Blickkontakt noch verbal ausreichend angesprochen gefühlt.“ Wegen der anfänglichen Vorbehalte vieler Studierender gegenüber Feedback biete ich anfangs auch ein Verfahren in schriftlicher Form an. Dabei erhalten diejenigen, die einen Seminarbeitrag geleistet haben, das Feedback des Plenums schriftlich.16 Die Kommentare werden ausgewertet und zu Beginn der nächsten Seminarsitzung gebündelt vorgestellt. Da bei diesem Verfahren dann meist keine besondere Bereitschaft mehr besteht, sich der vergangenen Situation gedanklich nochmals genauer zu widmen, weil ein neues Thema auf dem Programm steht, ist das schriftliche Feedback aus meiner Sicht für eine differenzierte Reflexion von Lernarrangements nicht so ergiebig. Aus meiner Seminararbeit möchte ich den Ertrag des Feedbacks beispielhaft verdeutlichen: In einer mündlichen Rückmeldung zum Inhalt eines Referates äußert eine Kommilitonin: „Über ‚Globalisierung‘ weiß ich natürlich einiges aus der Zeitung. In deinem Referat hast du den Zusammenhang zwischen Globalisierung und dem Zusammenbruch der sozialistischen Länder hergestellt. Dadurch ist mir klar geworden, dass die Wirtschaft jetzt, weil die Alternative Sozialismus fehlt, eine ganz andere Machtposition hat.“ Dieser Kommentar leitete eine Diskussion über die Bedeutung der politischen Bildung in einer globalisierten Gesellschaft ein. Allgemeine Rückmeldungen wie z.B. „Ich fand das Referat interessant“ werden durch Nachfragen konkretisiert: Was genau war inwiefern besonders interessant? So können weitere Erkenntnisse darüber gewonnen werden, welche Inhalte in einer Lerngruppe als wichtig und Zusammenhänge erschließend oder aber als bereits bekannt und/oder marginal eingestuft werden. Neben solchen inhaltlichen Reflexionen lenkt Feedback die Aufmerksamkeit auf irritierende Verhaltensweisen und typische Anfängerfehler. Beispiel: „Du hast vorhin mehrere Fragen gestellt und nicht sofort die ‚richtigen‘ Antworten bekommen. Da hast du die Fragen selber beantwortet. Wenn du mehr Zeit gibst, kann ich besser nachdenken.“ Weiter kommen methodische Alternativen zur Sprache, etwa wenn auf einen aktuellen Lehrfilm aufmerksam gemacht wird, der den Einsatz vieler Folien vermeiden kann. Grundsätzlich sollte das Feedback so formuliert sein, dass der anderen Person
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geholfen und sie nicht angegriffen wird. Die Information soll deshalb offen angeboten, aber nicht aufgedrängt werden, wobei der Feedbackgeber sich darüber klar sein soll, dass seine Eindrücke und Gefühle keine objektive Darstellung von Wirklichkeit und deshalb möglicherweise auch unzutreffend sind. Der Empfänger von Feedback wiederum sollte konzentriert zuhören, ggf. um Konkretisierung bitten, sich aber nicht verteidigen oder rechtfertigen, sondern die erhaltene Information prüfen und Konsequenzen daraus ziehen.
Zusammenfassung Feedback in der Hochschullehre verfolgt das Ziel, zur kritischen Reflexion (Metakommunikation) über den Lehr-/Lernprozess in seinen verschiedenen Dimensionen anzuregen. Es bietet Anlass für Gespräche, in denen didaktische Entscheidungen offen gelegt, erläutert und dadurch nachvollziehbar werden, und trägt damit zur Reflexion fachdidaktischer Entscheidungen bei. Dabei werden die Absichten, Pläne und Überlegungen der Lehrenden mit denen der Gruppe in Beziehung gesetzt. So werden die Seminare der Lehrerausbildung für die Genese selbstreflexiver Kompetenzen genutzt. Die Anregung zu einer differenzierten und realistischen Wahrnehmung und Reflexion des Lehr-/Lernprozesses während der Ausbildung erhöht die Professionalität des Lehrerhandelns, indem das Wissen um die eigene Handlungskompetenz sich ausdifferenziert und aufgrund der so gewonnenen Sicherheit die Offenheit für Anregungen und konstruktive Kritik von Dritten wächst. Die gewachsene Sicherheit fördert die Möglichkeit der Selbstanerkennung der eigenen Arbeit und schafft eine gute Ausgangsbasis für neues Lernen; zwar ist die Aneignung von Routine auch im Lehrerberuf wichtig, aber es gilt auch immer wieder hinzuzulernen, sich in einen „Amateurstatus“ zu versetzen. Wenn eine neue Lehrergeneration die Lernkultur der Schule reformieren können soll, muss die Hochschullehre neue Lernerfahrungen anbieten. Metakommunikation im Hochschulseminar bedeutet, die Lern- und Kommunikationssituation zum Thema zu machen, sie bewusst wahrzunehmen und die Wirkungen vorhandener Interaktionsformen herauszuarbeiten. In diesem Prozess wird die Sensibilität für Beobachtungs- und Analysekriterien in der Kommunikation und Interaktion erhöht. Diese Fähigkeit zur Initiierung und Steuerung von Reflexionsprozessen muss gerade in der Ausbildung zukünftiger Lehrer ein zentrales Anliegen sein, da hier auch eine zentrale Quelle von Selbst-Anerkennung liegt.
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Anmerkungen 1 Inzwischen mag es als völlig ,natürlich‘ erscheinen, dass die individuell erbrachte Leistung gesellschaftliche Partizipationschancen eröffnet bzw. erschweren soll. Bekanntlich war das nicht immer so: In der Stände- oder Klassengesellschaft entschied die Geburt über die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Stand bzw. einer Klasse und den damit verbundenen Privilegien bzw. Aufgaben. Wenngleich auch heute noch die Herkunft für den Bildungserfolg eines Menschen eine nicht unbedeutende Rolle spielt, sollten doch vom gesellschaftlichen Anspruch her jedem bzw. jeder gemäß seiner/ihrer Leistungsfähigkeit entsprechende Chancen offen stehen (zur Kritik vgl. Bourdieu/Passeron 1971). Zum Erfolg als strukturell manifestierte soziale Anerkennung vgl. Bourdieu 1982. 2 In der psychoanalytischen Narzissmustheorie wird die Bedeutung von Anerkennung im Säuglingsalter – etwa durch den liebevollen Blick der Mutter – für das Selbstempfinden des Individuums herausgearbeitet, wohingegen die Verweigerung von Anerkennung als seelischer Schmerz erlebt wird (vgl. Altmeyer 2000, 118). Auch Mead (1969) verweist auf die Bedeutung von Interaktionspartnern für den Aufbau einer stabilen Persönlichkeit. Danach kann ein Subjekt nur ein Bewusstsein von sich selbst erwerben, wenn es in der Lage ist, sich mit den Augen der anderen zu sehen. Diese anderen sind zunächst die frühesten Interaktionspartner (z.B. die Mutter), später erweitert sich der Kreis (Kindergarten, Schule usw.). Indem das Kind lernt, sich aus der Perspektive der anderen wahrzunehmen und deren Verhaltenserwartungen einzuschätzen, partizipiert es am sozialen Leben und gewinnt Selbstbewusstsein bzw. Selbstachtung. Das Risiko besteht darin, dass Anerkennung auch verweigert und der Aufbau eines adäquaten Selbstwertgefühls verunsichert werden kann. 3 Krappmann und Kleineidam (1999) interpretieren Interaktionen zwischen zehnjährigen Schulkindern und deren Strategien, sich in Aushandlungsprozessen einerseits zu behaupten, sich dabei aber auch auf andere einzulassen und von ihnen abzugrenzen. Im Unterschied zu asymmetrischen Mustern in der Eltern-Kind-Beziehung geht es hier um den Aufbau einer Ordnung der Gleichheit und wechselseitigen Anerkennung, in denen Menschen ihre Subjektivität im gegenseitigen Respekt füreinander entfalten (vgl. auch Benjamin 1993; Honneth 1994). 4 Für die meisten Menschen dürfte die Frage, ob ihnen Anerkennung gezollt oder verweigert wird, lebenslang eine große Rolle spielen. Wichtig für die Erteilung von Anerkennung ist der Erfolg einer Person. So beklagt sich Jack London in seiner Biographie darüber, dass er als Mensch zwar derselbe geblieben sei, in der Zeit vor seinen schriftstellerischen Erfolgen aber gesellschaftlich ausgeschlossen wurde und nun begehrt und anerkannt sei. 5 Hier werden in der Literatur geschlechtsspezifisch unterschiedliche Reaktionen und Krankheitsbilder angeführt. Minderwertigkeitsgefühle aufgrund vorenthaltener (gesellschaftlicher) Anerkennung münden bei Frauen typischerweise in Aggressionen, die sie in Form von Essstörungen, Tablettensucht und Depression gegen sich selbst richten (vgl. Wardetski 1991), während Männer Aggressionen aufgrund von Minderwertigkeitsgefühlen typischerweise gegen andere richten und/oder sich Gruppen anschließen, in denen ‚andere’ Maßstäbe für anerkennenswerte Leistungen oder Verhaltensweisen herrschen (vgl. Goffman 1967; Heitmeyer 1992).
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6 Zur Bedeutung des ‚fremden Blickes’ gerade für die politische Bildung vgl. Hoppe 1996. 7 Feedback (Rückmeldung) ist eine Mitteilung an eine andere Person darüber, wie ihr Verhalten bzw. ihre Mitteilung wahrgenommen wird. 8 Auf meine entsprechende Frage in Seminarveranstaltungen erhielt ich von Studierenden lebhafte Reaktionen. Sowohl Ereignisse, in denen ihnen Anerkennung ausdrücklich gezollt oder auch vorenthalten wurde, kamen zur Sprache. Neben verbalem Lob wurden entsprechende Symbole (‚Sternchen’ oder Lach- bzw. Weinmännchen) und auch kleine Geschenke erwähnt: Süßigkeiten, Bücher, private Einladung zur Lehrerin. Gesten der Anerkennung werden auch in Romanen und Lebenserinnerungen oft erwähnt, z.B. dass sich die Lehrerin bei den Eltern dafür einsetzt, dass das Kind eine höhere Schule besucht (insbesondere von Schriftstellerinnen geschildert) oder dass erwartete Anerkennung ausblieb, was eine persönliche Krise zur Folge hatte. 9 Fragen und Probleme der Leistungsbewertung sind zwar ein zentrales Thema der diversen Fachdidaktiken, wobei es aber in der Regel um die Benotung geht und nicht darum, Leistungen und Fähigkeiten differenziert anzuerkennen und Lernprozesse zu reflektieren. Im Hinblick auf Anerkennung durch die Lehrkraft gab und gibt es – meist dem ‚Zeitgeist’ folgend und entsprechend unreflektiert praktiziert – verschiedene Handlungsmuster: Wird Anerkennung durch die Lehrkraft eher versagt bzw. äußerst zurückhaltend erteilt, steht dahinter die Erwartung, dass sich die Schülerinnen oder Schüler umso mehr bemühen würden, um sich das knappe Gut zu verdienen. Mit der Praxis, Anerkennung reichlich zu zollen, ist dagegen die Hoffnung verbunden, dass die Gelobten sich besonders anstrengen, um dem Lob auch zu entsprechen. Anerkennungsverfahren innerhalb der Lerngruppe vollziehen sich nach anderen Mustern, und zwar geschlechtsspezifisch noch immer unterschiedlich: Mädchen erhalten eher Anerkennung für gutes Aussehen und soziale Kompetenz, während Jungen für Kraft und Mut Anerkennung erhalten. 10 Dabei ist es bisher so, dass meist die Lehrkräfte Situationen und Verhaltensweisen interpretieren und bewerten, ohne ihre Einschätzung zur Diskussion zu stellen. Im Ergebnis halten Schülerinnen oder Schüler sich für ungerecht beurteilt, wenn ihnen der Bewertungsmaßstab nicht nachvollziehbar ist, sie an dem Verfahren unbeteiligt bleiben und das Ergebnis unterhalb ihrer Erwartung liegt. 11 Der relativ hohe Anteil an Studentinnen ist wahrscheinlich dadurch zu erklären, dass die Fragebögen hauptsächlich in Seminaren eingesetzt wurden, die schwerpunktmäßig von Lehramtsstudierenden besucht werden. 12 Bei dieser Rubrik ist mir bei der Auswertung aufgefallen, dass bis auf vier Ausnahmen ausschließlich weibliche Studierende die Möglichkeit genutzt hatten, diese offene Frage ausführlich zu beantworten. 13 Solche strukturellen Bedingungen von Schule sollten durchaus genannt und reflektiert werden, schon um ihnen nicht ausgeliefert zu sein. 14 Hier ist also nicht vorrangig Feedback mittels standardisierter Erhebungsinstrumente gemeint, es sei denn, diese würden wiederum zeitnah und konkret zur Kommunikation über die Lehrveranstaltung dienen. 15 Die Einhaltung der Regeln soll eine Balance zwischen Anerkennung und Kritik herstellen. Zur gegenseitigen Anerkennung im Lehr-/Lernprozess gehört die Erfahrung des aktiven Miteinander, hervorgebracht und gefördert durch die Möglichkeit der gegenseitigen Beein-
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flussung unter Beachtung des prekären Gleichgewichtes zwischen Anerkennung und Selbstbehauptung (vgl. Benjamin 1993: 19). 16 Das Plenum äußert sich zu den Fragen: Was hat mir gefallen? Was kann verbessert werden?
Literatur Altmeyer, Martin 2000: Narzissmus und Objekt. Ein intersubjektives Verständnis der Selbstbezogenheit. Göttingen Bourdieu, Pierre/Passeron, J.-C. 1971: Die Illusion der Chancengleichheit. Stuttgart Bourdieu, Pierre 1982 : Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt/M. Bude, Heinz 1994: 1968 und die Soziologie. In: Soziale Welt 2 Goffman, Erving 1967: Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität. Frankfurt/M. Heinzen, Georg/Koch, U. 1989: Von der Nutzlosigkeit, erwachsen zu werden. Reinbek Heitmeyer, Wilhelm u.a.1992: Die Bielefelder Rechtsextremismus-Studie. Weinheim/München Honneth, Axel 1994: Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte. Frankfurt/M. Hoppe, Heidrun 1996: Subjektorientierte politische Bildung. Begründung einer biographiezentrierten Didaktik der Gesellschaftswissenschaften. Opladen Krampen, Guenter/Zayer, H. 2000: Psychologiedidaktik und Evaluation II. Neue Medien, Psychologiedidaktik und Evaluation in der psychologischen Haupt- und Nebenfachausbildung. Bonn, S. 203-218 Krappmann, Lothar/Kleineidam, V. 1999: Interaktionspragmatische Herausforderungen des Subjekts. Beobachtungen der Interaktionen zehnjähriger Kinder. In: Leu, Hans Rudolf/ Krappmann, L. (Hrsg.): Zwischen Autonomie und Verbundenheit. Bedingungen und Formen der Behauptung von Subjektivität. Frankfurt/M. Mead, G.H. 1969: Philosophie der Sozialität. Frankfurt/M. Meueler, Erhard 1987: Wie aus Schwäche Stärke wird. Vom Umgang mit Lebenskrisen. Reinbek Wardetzki, Bärbel 1991: Weiblicher Narzissmus. Der Hunger nach Anerkennung. München Wellendorf, Franz 1975: Schulische Sozialisation und Identität: Zur Sozialpsychologie der Schule als Institution. Weinheim
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Anerkennung als „Kernkompetenz“ in der Jugendarbeit
Das Thema der Anerkennung ist in der Jugendarbeit so alt wie diese selbst. Schon der klassische preußische Jugendpflegeerlass von 1911, bekannt als Gründungsdokument einer auf soziokulturelle Disziplinierung angelegten Praxis, wollte gleichwohl „das selbsttätige Eigeninteresse der Jugend für die zu ihren Gunsten getroffenen Veranstaltungen“ erwecken. Der Grund dafür ist klar: auf freiwillige Teilnahme Jugendlicher angewiesen, hat Jugendarbeit ohne jenes „Eigeninteresse“ schlicht keine Chance. Programmatisch offensiv vertrat die Idee einer auf gegenseitiger Anerkennung der Angehörigen unterschiedlicher Generationen beruhenden pädagogischen Praxis die von der Jugendbewegung inspirierte Reformpädagogik. Gustav Wynecken (1913) ist hier zu nennen, der den Programmbegriff der Jugendkultur (und Schule als deren Lebensraum, z.B. in so genannten Landerziehungsheimen) ins Gespräch brachte. Herman Nohl, der 1910 über „das Verhältnis der Generationen in der Pädagogik“ schrieb (Nohl 1930) und damals schon von der Notwendigkeit eines „Arbeitsbündnisses“ zwischen den „Jungen“ und den „Älteren“ sprach, hat mit seinem darauf aufgebauten Konzept des „pädagogischen Bezugs“ die gegenseitige (auch affektive) Anerkennung von Erziehern und Zöglingen zum Kernelement allen pädagogischen Handelns erklärt. Auf Siegfried Bernfeld und seinen Umkreis ist schließlich zu verweisen (vgl. bes. Bernfeld Gesammelte Werke, Bd. 3); für ihn war die Idee einer gegenseitigen Anerkennung von Erziehern und Kindern oder Jugendlichen Angelpunkt seiner radikalen Schulkritik (Bernfeld 1927, 1928), aber auch jeder „neuen“ Erziehung, die nur aus einer „Kompromißgesinnung“ zwischen dem „berechtigten Willen des Kindes und dem berechtigen Willen des Lehrers“ (Bernfeld 1921, 63 ) erwachsen könne.
Das Anerkennungsdilemma der Jugendarbeit An solche Konzepte schloss sich die neuere Theorie der Jugendarbeit seit den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts zumindest implizit insoweit an, als sie das emanzipatorische Moment von Jugendarbeit, die „Erziehung zur Freiheit in Freiheit“ (Kentler 1964) zum konstitutiven Merkmal von Jugendarbeit erklärte – entgegen dem notorischen Scheitern der Erziehungsinstitutionen an ihren Anerkennungsversprechen und gegen die vereinnahmenden Tendenzen staatlicher oder auch kirchlicher Jugendpflege. Dies Bekenntnis zur Anerkennung jugendlicher Selbst-
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bestimmungsrechte wurde seitdem zum offiziellen Fachstandard, bis in die gesetzlichen Formulierungen (§11 KJHG) hinein. Die weitere Diskussion allerdings verlief insofern paradox, als sie einerseits ihr Konzept von jugendlicher Autonomie – und von Jugendarbeit als dem exemplarischen Ort ihrer Anerkennung und Förderung – radikalisierte, andererseits zugleich immer mehr aushöhlte. Die in den 70er Jahren dominierende, sich selbst „antikapitalistisch“ nennende Jugendarbeit radikalisierte den Emanzipationsbegriff insofern, als sie Jugendarbeit nicht mehr nur als Vorbereitungs- und Übungsraum für den Kampf Jugendlicher um gesellschaftliche und politische Teilhaberechte verstand, sondern als politischen Aktionsraum selbst. Dementsprechend wurde das Verhältnis wechselseitiger Anerkennung zwischen Pädagogen und Jugendlichen in ein politisches Aktionsbündnis ungleicher Partner umdefiniert, z.B. von Manfred Liebel, der eine „Selbstdefinition sozialistischer Pädagogen“ forderte, „die in bewußter Anerkennung der Klassendifferenz zwischen sich und den Arbeiterjugendlichen an der Überwindung dieser Differenz im gemeinsamen politischen Kampf zu arbeiten erlaubt.“ (1974, 248, Hervorhebung im Orig.). Es gehe, so schreibt er weiter, nicht um eine wie auch immer geartete pädagogische Bearbeitung der Jugendlichen, sondern um die Beteiligung „an einem Veränderungs- und Selbstveränderungsprozeß, der sich aus der gemeinsamen ,Bearbeitung‘ eines ,Objekts‘ außerhalb der Beziehung zwischen Arbeiterjugendlichen und Pädagogen ergibt.“ (ebd., 249, Hervorhebung im Orig.) Die gegenseitige Anerkennung beider Seiten folgt nach diesem Konzept aus den gemeinsamen Erfahrungen, Siegen und Niederlagen im Kampf um jugendliche Freiräume und Rechte. Dass dieses Konzept – und vor allem seine trivialisierte Umsetzung in der wachsenden Zahl von Jugendzentren und Jugendeinrichtungen in den 70er und 80er Jahren – zugleich die gegenseitige Anerkennung untergrub, stellte sich erst allmählich heraus. Das Konzept leugnete nicht nur letztlich die Differenzen der komplementären Rollen von Pädagogen und Jugendlichen; es leugnete auch die Differenz der Generationserfahrungen, und vor allem die Aussichtslosigkeit des Unterfangens, benachteiligten Jugendlichen allein durch die Optimierung ihrer jugendkulturellen Freiräume bessere Chancen für eine Zukunft „mit aufrechtem Gang“ (Aly 1977) zu ermöglichen. Den Schlussstrich unter dieses Konzept zog einer der Vorkämpfer, Helmut Lessing, am Ende seines Lebens. Er schrieb, Jugendarbeit habe insgesamt von einem „Wunschbild von Jugend“ und von einem „Wunschbild des beteiligten, aktivierenden und Partei nehmenden Jugendarbeiters“ gelebt (1986, 13); und dieses Wunschbild habe von der Illusion einer bereits vorweg gesicherten gegenseitigen Anerkennung gelebt, nämlich „von einer zumindest partiellen, vor allem aber unausgesprochenen politischen und persönlichen Übereinstimmung zwischen Jugendarbeiter, Jugendarbeit und Jugendlichen. Diese Übereinstimmung besteht nicht mehr“ (ebd.). Er hätte auch sagen können:
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„Jugendarbeit hat keine haltbare Basis der gegenseitigen Anerkennung von Jugendlichen und Jugendarbeiterinnen und -arbeitern mehr“. Spätestens zu diesem Zeitpunkt hatte sich im Übrigen die Frage nach der Kompetenz, die für eine „Pädagogik der Anerkennung“ nötig ist, unterschwellig verschoben: Es war nicht mehr nur die reformpädagogische Frage, was Jugendarbeiterinnen und -arbeiter können müssen, um den jugendlichen Interessen und Wünschen nach Selbstverwirklichung in ihrem pädagogischen Handeln genügend Raum zu geben; es war mehr noch die Frage, was sie können müssen und anzubieten haben, um ihrerseits bei Jugendlichen Chancen zu kriegen, ernst genommen zu werden und Anerkennung zu erfahren (was alle traditionelle Pädagogik als selbstverständlich voraussetzt oder im Verweigerungsfall für erzwingbar hält). Die klassische pädagogische Frage: „Was will denn die ältere Generation mit der jüngeren?“ (Schleiermacher) verschob sich in Richtung auf die Frage: „Was wollen Jugendliche denn überhaupt mit Erwachsenen, z.B. mit Jugendarbeitern?“ (Müller 1996).
Die Option „Raumorientierung“ Bereits ein Jahr nach Lessings Offenbarungseid zogen Böhnisch und Münchmeier (1987) die Konsequenz aus diesem Dilemma, indem sie der Jugendarbeit, ganz unabhängig von ihren jeweiligen pädagogischen oder politischen Intentionen, einen realistischen „Sockel“ zu geben suchten. Und der konnte nur im nüchternen Blick auf deren realen (und begrenzten) „Gebrauchswert“ für Jugendliche liegen. Das „selbsttätige Eigeninteresse der Jugendlichen für die zu ihren Gunsten getroffenen Veranstaltungen“ – darin waren sie sich mit der vorhergehenden Diskussion freilich einig – sahen auch sie in den Spielräumen und Ressourcen jugendkultureller Selbstbestimmung. Aber nicht mehr als Emanzipationskampf oder gar politische Befreiungsbewegung, sondern, bescheidener und realistischer (vielleicht auch konformistischer), als Chance relativ unkontrollierter Freizeitgestaltung für unterprivilegierte Jugendliche. Grundlage für die gegenseitigen Anerkennungsverhältnisse zwischen Jugendarbeitern und Jugendlichen war in diesem Konzept nicht mehr die unterstellte „Übereinstimmung“ der pädagogischen oder politischen Intentionen, sondern das gemeinsame Interesse an der Nutzbarkeit von Räumen und Ressourcen. Freilich jetzt auf der Grundlage einer nicht mehr symmetrischen, sondern komplementären Rollenverteilung: die Pädagogen als „Raumwärter“ und „Fermente jugendlicher Sozialraumkonstitution“ (Becker u.a. 1984); demgegenüber die Kinder und Jugendlichen als Nutzerinnen und Nutzer, denen im Kontext ihrer sonstigen Freizeitmöglichkeiten jenes begrenzte Eigeninteresse am Gebrauch und Erhalt solcher Ressourcen hoffnungsvoll unterstellt werden konnte.
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Die Frage nach der gegenseitigen Anerkennung reduziert sich in der Logik dieses Konzepts, und deutlicher noch in den neueren „marktorientierten“ Konzepten (Wendt 1993), auf ein pragmatisches Komplementärverhältnis: den pädagogischen Verwaltern von Räumen und Ressourcen jugendlicher Freizeitgestaltung stehen Nutzerinnen und Konsumenten gegenüber. Beide Seiten sind wie Marktpartner insofern voneinander abhängig, als die Befriedigung der Wünsche der einen (pädagogischen) Seite – nämlich erfolgreiche, „pädagogisch sinnvolle“ Jugendarbeit machen zu dürfen – von der Erfüllung der Wünsche der anderen Seite – attraktive Angebote und Freiräume – abhängt; und umgekehrt, wobei Letzteres weniger gewiss ist. Nur Jugendliche, die wenig Alternativen haben, sind zur Befriedigung ihrer Freizeitbedürfnisse auf Pädagogen angewiesen. Das Problem der gegenseitigen Anerkennung scheint in diesem Modell insofern gelöst, als es sich der Idee nach um einen sich selbst regulierenden Mechanismus (im Sinne eines Marktprozesses) handelt. Die Frage, ob man sich gegenseitig mag, respektiert oder in einem tieferen Sinne als Partner anerkennt, wird hier suspendiert oder als erwünschte Folge der Erkenntnis beider Seiten betrachtet, dass man sich gegenseitig braucht, solange eben Jugendarbeit noch stattfindet. Praktisch ist dies Modell freilich in der Gefahr, nur noch im Sinne eines Nullsummenspiels oder gar einer Spirale negativer Gegenseitigkeit zu funktionieren. Denn es sind ja merkwürdige Marktpartner: Die Jugendlichen bezahlen nicht wie Kunden und können insoweit nicht bestimmen, was angeboten wird; andererseits aber muss das Angebot, um überhaupt attraktiv zu sein, von ihnen mitproduziert werden. Wenn sie Letzteres unzufrieden verweigern oder ihr Interesse sich nur noch aus pädagogisch unerwünschten Aktivitäten speist, ist Jugendarbeit nicht mehr als der jeweilige kleinste gemeinsame Nenner einer Koalition faktischer (zumindest unterschwelliger) Gegner, deren Interessen unvereinbar sind. Nur noch Bedienungspersonal oder Aufpasser jugendlicher Freizeitbedürfnisse zu sein, die ja auch nicht naturgegeben, sondern gesellschaftlich bestimmt, vom jeweiligen sozialen Ort und seinen Zwängen geprägt sind, kann keine pädagogisch sinnvolle Option sein. Die Frage der Begründung gegenseiter Anerkennung, über die kostenlose Bedienung von Freizeitbedürfnissen oder die bloße Angst vor Sanktionen hinaus, bleibt also offen. Abgesehen davon ist jedoch interessant, dass das Markt-Modell ein Merkmal der von Liebel einst so pathetisch formulierten „sozialistischen“ Jugendarbeit festgehalten hat: Es geht auch hier bei der Klärung gegenseitiger Anerkennungsverhältnisse nicht um eine „Bearbeitung“ der Jugendlichen, sondern um die gemeinsame Bearbeitung eines „Objektes“: nämlich um Nutzbarmachung von Räumen und Ressourcen der Freizeitgestaltung. Ob allerdings beide Konzepte, jenes „sozialistische“ wie dieses ressourcen-orientierte „kapitalistische“, darin Recht haben, ein solches „Objekt“ eindeutig „außerhalb der Beziehung zwischen
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Jugendlichen und Pädagogen“ anzusiedeln – das scheint mir eine Schlüsselfrage für eine Pädagogik der Anerkennung in der Jugendarbeit zu sein. Beide Konzepte, die jenes „außerhalb“ des zu bearbeitenden „Objektes“ so stark betonen, blenden eben damit die pädagogische Dimension von Jugendarbeit weitgehend aus.
Die beziehungspädagogische Option Weil der Rückzug auf die schwache Gegenseitigkeit bloßer Marktpartner offenkundig den gesuchten „Sockel“ fachlicher Kompetenz auch nicht liefert, hat sich in der Jugendarbeit-Diskussion die pädagogische Dimension längst wieder ins Zentrum des Anerkennungsproblems geschoben. Explizit auf die Idee der Anerkennung nimmt z.B. das Konzept der „akzeptierenden Jugendarbeit“ (Krafeld 1992) Bezug. Der Begriff des „Akzeptierens“ als Programm meint mehr als den trivialen Tatbestand, dass Jugendarbeit auf die freiwillige Teilnahme von Jugendlichen angewiesen ist und insofern immer das Eingehen auf deren Bedürfnisse als Geschäftsgrundlage akzeptieren muss. Vielmehr weist der Begriff ausdrücklich auf das Spannungsverhältnis zwischen dieser Notwendigkeit und den für Pädagogen nicht akzeptablen Verhaltensweisen und politischen Weltbildern von z.B. „rechten“ Jugendcliquen hin. „Akzeptierende“ Jugendarbeit meint genau, dieses Spannungsverhältnis zwischen den Freizeitbedürfnissen, Lebensperspektiven und Entwicklungsrechten solcher Jugendlicher einerseits – und ihren Verhaltensweisen und Vorstellungen andererseits – zu akzeptieren und Jugendarbeit als produktive Auseinandersetzung damit zu gestalten. Strukturell ähnlich angelegt, wenn auch mit anderem inhaltlichem Fokus, sind die Ansätze zur geschlechtsspezifischen Jungen- und Mädchenarbeit, die in der heutigen Fachdiskussion einen hohen Stellenwert haben. Fast alle Konzeptionsentwürfe laufen hier auf die Beschreibung (oder vielleicht Beschwörung?) einer Anerkennungsbalance hinaus: Es kommt hier einerseits darauf an, die Mädchen und Jungen in ihrem Bedürfnis eine „richtige“ (anerkannte) Frau, ein „richtiger“ (anerkannter) Mann zu sein anzunehmen und zu unterstützen, gerade auch dann, wenn die Mittel und Wege zu jener Anerkennung (klischeehafte Anpassung an Markt- oder Gruppennormen, Großkotzigkeit, Machogehabe etc.) fragwürdig sein mögen. Andererseits aber kommt es auf Pädagoginnen und Pädagogen an, die sich selbst diesen Jugendlichen als zur entwicklungsförderlichen Partnerschaft bereites Gegenüber erweisen. Sie sollen ihnen „andere Frau“ oder „anderer Mann“ sein, verglichen mit den sonst verfügbaren Erwachsenen. Dieses „anders“ hat z.B. in der Mädchenarbeit (vgl. Klees u.a. 1989, 53) doppelte Bedeutung: Zum einen als „positive Identifikationsfiguren“, die aber „aufgrund eigener Betroffenheit, Erkenntnis- und Emanzipationsprozesse Zugang zu den Problemen der Mädchen“ (ebd.) haben, diese also aufgrund ihrer eigenen (Leidens-)Erfahrungen
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anerkennen können und den Mädchen „anders“ begegnen als „normale“ Erwachsene; zum zweiten als Herausforderung, „andere als die gewohnten Verhaltensformen kennenzulernen, ... den eigenen Horizont zu erweitern und in der lebendigen Auseinandersetzung mit einer anderen Frau ihren eigenen Weg zu finden“ (ebd.). Die Konzepte für Jungenarbeit (z.B. Sielert 1989; Winter/Willems 1991; Böhnisch/Winter 1993) wiederholen diese Grundfigur einer Pädagogik der gegenseitigen Anerkennung aufgrund dieses doppelten „Andersseins“ der Pädagogin für das männliche Pendant.
Probleme der Bestimmung des Objektes der Anerkennung Die Gefahr ist freilich, dass solche Zielbestimmungen, so richtig sie sein mögen, den Realitätsbezug zu den faktischen Handlungschancen von Jugendarbeit verlieren. Hans Bosse sieht solche Beziehungsarbeit in der Falle, weil sie mit der Glaubwürdigkeit des Vorlebens eines „anderen Mannseins“ (bzw. Frauseins) steht und fällt und deshalb „zwangsläufig in eine Selbstverwirklichungspädagogik des Erziehers“ münde (Bosse 2000, 68), die an den realen Entwicklungschancen und -grenzen Jugendlicher vorbeiziele (die eben meist andere sind als die der Pädagogen selbst). Praktisch sind zudem die Versuche, Beziehungen zum Thema geschlechtsspezifisch selbstreflexiver Biografisierungsarbeit Jugendlicher zu machen, keineswegs erfolgsverwöhnt. Jugendliche dafür zu gewinnen ist mühsam. Dies könnte u.a. daran liegen, dass in der Jugendarbeit verlässliche Arbeitsbeziehungen, freundschaftliche Bindungen oder gar tief die Personen prägende Partnerschaften, wie sich dies solche beziehungspädagogischen Ansätze nach dem klassische Modell des „pädagogischen Bezugs“ erhoffen, nur als erfreuliche Ausnahmen anzutreffen sind. Jener „raumorientierte“ Ansatz (s.o.) hat zu Recht darauf verwiesen, dass es höchst fragwürdig sei, in der Jugendarbeit ständig auf der Suche nach authentischen Beziehungen und dem pädagogisch „Eigentlichen“ auf der Spur sein zu wollen, aber zu vergessen, dass Jugendarbeit zunächst einmal davon lebt, einen gewissen (und durchaus begrenzten) Gebrauchswert für Jugendliche zu haben, der in Räumen, Gelegenheiten zum Treffen mit Freunden, Möglichkeiten zu kostengünstigen Freizeitaktivitäten etc. besteht. Jugendliche kommen selten zur Jugendarbeit, um sich dort erziehen zu lassen, seien die Erziehungsprogramme noch so emanzipatorisch. Andererseits kann es keine Lösung sein, Jugendarbeit zur reinen Ressourcenarbeit zu erklären, ohne die Frage zu beantworten: Ressourcen wofür eigentlich? Doch eben für die Selbstfindung in gegenseitiger Anerkennung! Denn andere Chancen hat Jugendarbeit in aller Regel nicht zu verteilen. Soll nun Jugendarbeit dazu beitragen, Ressourcen für die Selbstfindung Jugendlicher zu liefern, Hilfe zu leisten bei der Aufgabe, Autorinnen und Autoren der eigenen Biographie zu werden, so stößt sie auf ein neues Problem. Die Le-
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bensphase, in der sich Jugendarbeit seit der Jugendbewegung entfaltet hat, die Adoleszenz, von Bernfeld und Spranger „gestreckte Pubertät“ oder „Kulturpubertät“ genannt, seit Erikson als „psychosoziales Moratorium“ bekannt, hat sich gewandelt. Dies Lebensmilieu der Jugendarbeit – die gesellschaftlich tolerierte und zugleich beschränkte Phase, in der der rasche Übergang vom Kindesstatus zum Erwachsenen gleichsam stillgestellt wird, in eine längere Übergangszeit des nicht mehr Kind und noch nicht Erwachsenseins und in Übergangsräume, eben der Jugendkultur, transformiert wird, ist als eigene Lebensphase ein neuzeitliches Phänomen und war zunächst auch nur Teilen der Jugend zugänglich: vor allem den bürgerlichen, vor allem den männlichen Jugendlichen, die eben deshalb auch exemplarischer Adressatenkreis der Jugendarbeit wurden. Heute ist dies psychosoziale Moratorium mehr oder weniger allen Jugendlichen zugänglich. Fast alle haben jugendkulturelle Freiräume, Cliquen Gleichaltriger etc. und andererseits hohen Bedarf der Orientierung an verständnisvollen Erwachsenen. Insofern müssten die Chancen der Jugendarbeit immens gewachsen sein. Nur leider hat sich der Charakter des psychosozialen Moratoriums selbst für die meisten auch radikal geändert. Es ist, wie uns die Soziologen belehren, keine (privilegierte) Übergangsphase mehr, sondern ein eigener Lebensabschnitt, der für sich Probleme genug hat. Pubertätsprobleme, familiäre Ablösungsprobleme, soziale und kulturelle Zugehörigkeitsprobleme, Berufsfindungsprobleme, Geldbeschaffungsprobleme, Probleme mit Gewalterfahrungen, Devianzprobleme können sich gerade für die typischen Adressaten von Jugendarbeit gegenseitig potenzieren. Die Freiräume sind überall oder auch nirgends und all dies trägt zur Überforderung und manchmal auch Hilflosigkeit von Jugendarbeit bei. Andererseits scheint sie für die Mehrzahl der Jugendlichen entbehrlich geworden zu sein. Andere Angebote, die der vielfältigen Jugendszenen ganz ohne pädagogische Betreuung, der Medien und der Popkultur oder auch der verständnisvoller gewordenen Eltern verdrängen sie. Wo immer aber solche Ressourcen für wenig begünstigte Jugendliche knapp sind, ist Jugendarbeit gefragt. Sie kann sich deshalb, Überforderung hin oder her, nicht auf irgendwelche Spezialaufgaben zurückziehen, egal ob diese Beschaffung von Freizeiträumen, Hilfe bei der Entwicklung einer nicht regressiven Geschlechtsidentität, Integration von sozialen oder ethnischen Minderheiten, Beratung bei Alltagsproblemen oder Devianzprophylaxe heißen. Immer steht sie dabei zugleich vor der allgemeineren Frage, was sie Jugendlichen, die bei all solchen Problemen Unterstützung brauchen, bieten kann, ihnen zu helfen, den Übergang vom Kindsein zum Erwachsensein unter den jeweiligen Lebensbedingungen erfolgreich zu bewältigen. „Offenheit und Halt“ lautet die Formel, die Böhnisch u.a. (1998) hier zu Recht in die Diskussion gebracht haben. Sie schlagen damit eine Brücke zwischen jener Raum- oder Ressourcenorientierung der Jugendarbeit und ihrer beziehungspäd-
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agogischen Seite, um die allgemeinste Aufgabe des pädagogischen Bezugs in der Jugendarbeit zu formulieren: offene Gelegenheitsstrukturen und Räume für jugendkulturelle Gesellungsformen, die gerade für benachteiligte Jugendliche heute Mangelware sind; zum anderen Beziehungsangebote von Erwachsenen, die anders sind als die Erwachsenen, welche Jugendlichen in den gesellschaftlichen Machtpositionen und Chancenverteilungsapparaten begegnen; die aber gleichzeitig profiliert und stabil genug sind, um den Selbstverhärtungen, aggressiven Ausschlusstendenzen, dem Machismus, Sexismus, Rassismus, der auch in jugendkulturellen Milieus grassiert, wo nicht den Kampf anzusagen, so doch gleichsam Wellenbrecher zu bieten, an denen Jugendliche sich abarbeiten können. Das „Objekt“ von Jugendarbeit hat demnach immer eine „trianguläre Struktur“ (Bosse 2000; Müller 2000), d.h. es liegt sowohl „innerhalb“ als auch „außerhalb“ der Beziehung zwischen Jugendlichen und Pädagogen. Im Übrigen sind die Aufgaben der Adoleszenz, die Neujustierung und Klärung des Lebensentwurfs zu allgemeineren Aufgaben der Lebensbewältigung geworden. Lebensbegleitende Unterstützung des zugleich Freiräume eröffnenden und Halt gebenden Typs brauchen auch andere Lebensphasen, beim Zwang zur beruflichen Umorientierung oder Arbeitslosigkeit z.B. oder beim Abschied vom Berufsleben, was die Frage nach dem Spezifischen, das Aufgabe von Jugendarbeit sein soll, noch diffuser und allgemeiner sein lässt.
Kompetenzen für eine Pädagogik der Anerkennung in der Jugendarbeit Klar ist nach all dem nur: Die Problematik der Anerkennung verschiebt sich weiter in die Richtung: „Was müssen Jugendarbeiter und -arbeiterinnen tun, um Anerkennung von Jugendlichen zu bekommen?“ – denn erst wenn sie die haben, können sie etwas geben. Ganz gewiss hilft weder richtungslose Gefälligkeitspädagogik, noch Beschwören von „Mut zur Erziehung“; eine positive Alternative zu formulieren ist aber schwieriger. Es ist keine Frage mehr, dass Jugendarbeiter Räume und Ressourcen für Jugendliche zu verwalten haben, aber sich über dieses „Objekt außerhalb der Beziehung zwischen Pädagogen und Jugendlichen“ mit diesen auseinander setzen müssen; nur dann können sie eine Art des Gebrauchs jener Ressourcen erreichen, in der pädagogische Intentionen und jugendliche Gesellungsbedürfnisse sich treffen. Die Frage ist vielmehr, welche Art der persönlichen Glaubwürdigkeit Jugendarbeiter erringen müssen, um dieser Aufgabe gewachsen zu sein und welche „Kompromissgesinnung“ dabei angesagt ist. Die Frage ist andererseits auch nicht, ob sich Jugendarbeiter und -arbeiterinnen, ausgehend von ihren eigenen Lebenserfahrungen als erwachsene Frau oder Mann, mit Jugendlichen auseinander setzen müssen, um diesen zu helfen „ihren eigenen
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Weg zu finden“. Die Frage ist vielmehr, wie Jugendarbeiter und -arbeiterinnen zugleich ein hinreichendes Maß an professioneller Distanz von ihren eigenen Selbstverwirklichungsprojekten gewinnen können, um zu erkennen, womit sich die jeweiligen Jugendlichen wirklich auseinander setzen – und was in einem gegebenen Moment entwicklungsfördernd hilfreich sein kann. Unter dem Blickwinkel dieser Fragen sind Jugendarbeit als Beziehungsarbeit und Jugendarbeit als ressourcen- und raumbezogene Arbeit zwei Seiten derselben Sache. Damit stellt sich aber die Frage, was Kompetenz für eine Pädagogik der Anerkennung sei, auf mehreren ineinander verschränkten Ebenen. Die persönliche, authentische Akzeptanz der eigenen Person und ihrer Geschichte ist als emotionale Basis einer solchen Pädagogik der Anerkennung Jugendlicher sicher das Wichtigste, aber nicht das einzige. Ich würde dabei allerdings nicht so sehr auf die „eigene Betroffenheit, Erkenntnis- und Emanzipationsprozesse“ (s.o.) verweisen, sondern eher auf die „negativen“ Fähigkeiten, mit denen Bernfeld den „Neuen Erzieher“ beschreibt, welcher „nicht die ichverliebte Überschätzung seiner eigenen Person und ihrer Handlungen – weder im Guten noch im Bösen – besitzt, weil ihn vor allem die primäre Affektstellung gegenüber der Kindheit und Jugend unterscheidet“ (1921, 119). Mit dem Begriff „ primäre Affektstellung“ verweist Bernfeld zugleich auf eine andere, von der Beziehungspädagogik vorausgesetzte, aber kaum reflektierte Ebene der Anerkennung. Nämlich auf die (oft schmerzhafte, weil mit der Bewältigung von Kränkung verbundene) Anerkennung der Differenz zwischen Jugendlichen und Erwachsenen. Erwachsen in Bernfelds Sinn – der hier natürlich auf die Psychoanalyse zurückgreift – kann nur genannt werden, wer seinen Frieden mit den Hoffnungen und Ängsten des „Kindes in sich selbst“ (vgl. Bernfeld 1925, 140 ff.) geschlossen hat. Nur ein solcher Pädagoge oder eine solche Pädagogin kann ohne Erschütterung des eigenen Selbstwertgefühls aushalten, dass Jugendliche ihrerseits diesen Frieden noch nicht geschlossen haben können. Denn die „Adoleszenz“ genannte Entwicklungsaufgabe besteht wesentlich darin, sich „mit dem Unwillen über die eigene Abstammung aus Anderen ohne eigenes Wollen und Zutun“ (Winterhager-Schmid 1996, 238) auseinander zu setzen, damit den ganz eigenen Frieden zu machen, um wirkliche Autonomie zu erlangen. Gerade deshalb aber haben Jugendliche das „Recht“, vor allem gegenüber Pädagogen, diese als äußerliche „Objekte“ ihrer ungelösten inneren Konflikte zu verwenden (Müller 2000) (als Identifikations- wie als Abgrenzungsobjekte, als Ideal wie als Punchingball). Und sie haben insoweit das Recht, zeitweilig die Anerkennung ihrer Gegenüber als Subjekte eigenen Rechtes zu verweigern, ohne den Anspruch auf deren entsprechende Anerkennung zu verlieren. Jugendliche haben aber zugleich das Recht, das Scheitern dieser Verweigerung erfahren zu dürfen, d.h. heimlich darauf vertrauen zu können, dass die Erwachsenen (vor allem die
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Unvermeidlich werden sie dabei in einem weiteren Balanceakt und Anerkennungskampf gefordert, nämlich bezüglich der Anerkennung bei Jugendlichen und in den relevanten Umwelten, bei den öffentlichen oder freien Trägerinstitutionen, den Nachbarn, der lokalpolitischen Öffentlichkeit. Dass Jugendarbeit als anspruchsvolle, ja professionelle Berufsleistung eines erwachsenen Menschen anerkannt wird, ist keineswegs so selbstverständlich, wie das bei Ärzten oder Lehrern der Fall ist. Dies wirkt zugleich auf die Ausstattung der Angebote zurück. Die Vorstellung, Jugendarbeit habe die Aufgabe „die Jugendlichen von der Straße zu holen“ und könne im Übrigen von allen, die ein wenig Herz und Händchen für Jugendliche haben, geleistet werden, ist noch weit verbreitet. Fachliche Standards sind schwer zu definieren und noch schwerer durchzusetzen, es sei denn durch die persönliche und fachliche Autorität von Jugendarbeiter, die sich bei vorgesetzten Instanzen und in einer lokalen Öffentlichkeit Respekt verschaffen (Beispiele in Müller 1989). Solche Anerkennung schlägt auf die Fähigkeit, Jugendlichen attraktive Angebote zu machen zurück und steht mit ihr in Wechselwirkung. Die Anerkennung bei Jugendlichen fördert solche Außenkompetenz freilich nur, wenn sie nicht mit Loyalitätsbrüchen ihnen gegenüber erkauft wird, sondern in einer glaubwürdigen Interessenvertretung und Vermittlerrolle praktiziert wird.
Anerkannte Profession? Nach all dem klingt es, als sei kompetente Jugendarbeit letztlich nichts anderes als ein sozusagen freihändig zu führender Kampf um Anerkennung für eine nur persönlich zu gestaltende, aber ansonsten wenig definierte Aufgabe. Dies wäre ein falscher Eindruck. Jugendarbeit wäre dann als Rolle für eine Art von WildwestHelden, aber nicht als normaler, wenn auch anspruchsvoller Beruf beschreibbar. Sie ist zwar tatsächlich nicht als Feld spezifisch begrenzter Expertenschaft, sondern nur als offenes Feld jener Balanceakte zu bestimmen. (Müller 1998). Wahr ist auch, dass die Klärung fachlicher Standards und die empirische Beschreibung dieses Feldes noch mangelhaft sind (Müller/Thole 2001), was sich auch in einem Mangel an professionellem Selbstbewusstsein der Jugendarbeiter und -arbeiterinnen niederschlägt (Thole/Küster-Schapfl 1997). Dies bedeutet allerdings nur, dass ein anderer Kampf um Anerkennung noch zu wenig geführt wird. Nämlich nicht der individuelle, sondern der Kampf um Anerkennung von Jugendarbeit als respektierter Profession. Dies bedeutet auch Kampf um Ausbildungsstandards, anerkannte Merkmale „guter Praxis“, Mindeststandards der Ausstattung, Etablierung von geeigneten Verfahren der Evaluation (Projektgruppe Wanja 2000). Hätten die beruflich tätigen Jugendarbeiter normalerweise das Gefühl, an einer anerkannten Fachpraxis teilzuhaben, so hätte dies zweifellos auch stützende Rückwirkungen auf die Anerkennung ihrer Leistungen bei Jugendlichen wie bei
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den ressourcenverwaltenden Instanzen. Ohne dies bleibt die Rede von Anerkennung als „Kernkompetenz“ von Jugendarbeit eine Formel, die zwar den zentralen Anspruch an diese Arbeit benennt, aber nicht erklärt, wie er eingefordert und verlässlich eingelöst werden kann.
Literatur Aly, Götz 1977: „Wofür wirst Du eigentlich bezahlt?“ Berlin Becker, Helmut/May, Helmut/May, Michael 1984: „Das ist hier unser Haus, aber ...“ Raumstruktur und Raumaneignung im Jugendzentrum. Frankfurt/M. Bernfeld, Siegfried 1921: Kinderheim Baumgarten. In: Bernfeld, Siegfried (1996): Sämtliche Werke Bd. 11, S. 9-154. Weinheim Bernfeld, Siegfried 1925: Sisyphos oder die Grenzen der Erziehung. Frankfurt/M. (1967) Bernfeld, Siegfried 1927: Nur die Schüler können die Schule retten. Zit. nach: Bernfeld, S. 1974: Antiautoritäre Erziehung und Psychoanalyse Bd. 2, S. 5-9 Bernfeld, Siegfried 1928: Die Schulgemeinde und ihre Funktion im Klassenkampf. Zit. nach: Bernfeld, S. 1974: Antiautoritäre Erziehung und Psychoanalyse Bd. 2, S. 14-105 Böhnisch, Lothar/Münchmeier, Richard 1987: Wozu Jugendarbeit. Weinheim und München Böhnisch, Lothar/Rudolph, Martin/Wolf, Barbara (Hrsg.) 1998: Jugendarbeit als Lebensort. Jugendpädagogische Orientierungen zwischen Offenheit und Halt. Weinheim und München Böhnisch, Lothar/Winter, Reinhard 1993: Männliche Sozialisation. Bewältigungsprobleme männlicher Geschlechtsidentität im Lebenslauf. Weinheim und München Bosse, Hans 2000: Aufgaben und Fallen geschlechtsspezifischer Pädagogik mit männlichen Jugendlichen. In: King, Vera/Müller, Burkhard (Hrsg.): Adoleszenz und pädagogische Praxis. Freiburg i.B., S. 59-74 Kentler, Helmut 1964: Jugendarbeit als Aufklärung. In: Müller, C. Wolfgang u.a.: Was ist Jugendarbeit? München, S. 37-88
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Anerkennungsorientierung als pädagogische Antwort auf den Konnex von Männlichkeit und Gewalt – Grundlegende Skizzen Woher kommt die Gewaltwelle der letzten Jahre und wovon ist ihre Höhe abhängig? Vielleicht vom Bildungs- oder Einkommensniveau in gewaltaffinen Milieus und Schichten? Von Arbeitslosigkeit? Von desolaten Familienverhältnissen? Vom Ausländeranteil in der Bevölkerung? Von der konfessionellen Zugehörigkeit? Generell vom Grad sozialer Desintegration der Täter? – Fragen wie diese stellt der öffentliche Diskurs über die Ursachen von Gewalt. Und auf Fragen wie diese fokussieren vordringlich auch die fachöffentlichen Themen-Debatten in der Pädagogik und Gewaltforschung. Die Diskussionen übersehen dabei geflissentlich die erhebliche Geschlechtsspezifik von Gewaltanfälligkeit. Denn wenn es überhaupt Sinn macht, nach soziodemographischen Faktoren von Gewaltaffinität zu fahnden, dann ist es ganz vorrangig die Geschlechtszugehörigkeit, die über die Wahrscheinlichkeit von Gewaltnähe oder -distanz von Individuen oder Gruppen Aussagen gestattet. Oberflächlich und formelhaft verkürzt lautet die diesbezügliche zentrale Erkenntnis: je maskuliner, umso gewaltaffiner, je femininer, umso gewaltabstinenter. Der vorliegende Beitrag zeichnet in einem ersten Schritt schlicht empirisch beschreibend diesen Konnex nach, unternimmt in einem zweiten und dritten Schritt unterschiedlich tiefgreifende Erklärungsversuche und markiert schließlich viertens Ansatzpunkte für einen anerkennungsorientierten pädagogischen Umgang mit der Problematik.
1. Männlichkeit und Gewalt – Phänomene Ist Gewalt männlich? – So eindeutig diese Frage grammatikalisch zu beantworten und in dieser Hinsicht leicht zu verneinen ist, so stark scheint sich ihre Bejahung aufzudrängen, wenn wir die geschlechtsspezifische Verteilung gesellschaftlicher Gewaltphänomene betrachten. Die folgende Tabelle stellt sie auszugsweise dar: Wählerschaft rechtsextremer Parteien/Listen Mitgliedschaft in rechtsextremen Parteien/Organisationen Rechtsextreme Straftäterinnen/Straftäter Skinheads: Zugehörigkeit/Sympathie Gewaltkriminalität Vergewaltigung und sexuelle Nötigung
ca. 66 % ca. 90 % ca. 95 % ca. 80 % ca. 90 % ca. 99 %
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Hinzu kommen weitere Belastungen: Die gewaltförmig in Erscheinung tretende Hooligan-Szene ist zu gut 90 Prozent männlich. (Junge) Männer stellen den Löwenanteil an Verurteilten und Strafgefangenen, vor allem bzgl. von Gewaltdelikten. Territoriale Machtkämpfe, ob um die Vorherrschaft in Straßenzügen im Stadtteil oder ob in größerem Maßstab um die Dominanz bei internationalen Kriegen, werden nahezu ausschließlich von Angehörigen des männlichen Geschlechts geplant und ausgetragen. Während im Bereich der PKS-registrierten Gewaltkriminalität (s. Tab. auf S. 249) zeitlich recht konstant eine Geschlechterverteilung von neun zu eins zwischen männlichen und weiblichen Tatverdächtigen beobachtet wird und die Kriminalitätsbelastung männlicher Jugendlicher im Alter zwischen 14 und 18 bzw. 18 und 21 Jahren die der weiblichen Altersgenossen um ca. das 10- bzw. 20fache und die gesamte Kriminalitätsbelastung der männlichen Jugendlichen die der weiblichen um das 2, 5fache bis 4fache übersteigt, ist bei den Befragungsdaten zu Gewaltbereitschaft und Gewalttätigkeit zwar auch Jungen-Dominanz ausgewiesen (vgl. z.B. Eisner 1998, 27 und Pfeiffer/Wetzels 1999), fällt diese aber zumindest bei nur gelegentlichen gewaltsamen Verstrickungen teilweise deutlich niedriger aus. So erbringt die im Herbst 1993 durchgeführte nordrhein-westfälische Polis-Studie, eine repräsentative Querschnitts-Befragung von 1045 deutschen Jungen/jungen Männern und Mädchen/jungen Frauen im Alter von 14 bis 24 Jahren, dass 5 Prozent der weiblichen und 10 Prozent der männlichen Befragten angeben, selbst „häufiger in Schlägereien verwickelt zu sein“ (vgl. Utzmann-Krombholz 1994). Die Heitmeyer-Untersuchung vom Winter 1992/ 93 mit 3400 Befragten zwischen 16 und 20 Jahren in Ost und West gibt ganz ähnliche Befunde für Drohung und Raub zu erkennen, stellt bei Körperverletzung aber einen „nur“ 50prozentigen Überhang männlicher Täter fest (vgl. Heitmeyer u.a. 1995, 276). Die auf die Stadt Zürich beschränkte, 1994 durchgeführte Studie von Eisner und Mitarbeitern (vgl. Eisner 1998) zeigt ähnliche Tendenzen, sieht aber bei besonders schweren Gewaltformen mit Waffeneinsatz eine 5,5- bis 14fache Belastung (je nachdem, ob die Gewaltausübung bereits mehrfach oder nur einmal ausgeführt wurde bzw. ob die Waffe nur zur Drohung oder auch mit Verletzungsfolgen zum Einsatz kam) der untersuchten 15- und 16-jährigen männlichen Jugendlichen. Auch die aktuelle Folgeuntersuchung der Polis-Studie muss in Bezug auf die Verwicklung in Schlägereien inzwischen eine 5fache Belastung der Jungen konstatieren (vgl. Utzmann 2001, 82). Schon kindliche „Sandkastenrocker“ und Störenfriede in der Schule sind empirisch nachweisbar fast immer männlichen Geschlechts. Die Studien zu Gewalt in der Schule weisen bei allen Gewaltformen zahlenmäßige maskuline Dominanz aus (vgl. zusammenfassend Tillmann u.a. 1999, aktuell auch Fuchs u.a. 2001). So genannte „ausländische“ Jugendliche – zumeist inzwischen längst Inländer
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mit fremdem Pass oder Deutsche mit familiärem Migrationshintergrund – gelten gemeinhin als besonders gewaltbelastet. Soweit sich solche Einschätzungen auf die Polizeiliche Kriminalitätsstatistik (PKS) beziehen, liegen ihnen im Wesentlichen jedoch methodische Artefakte zugrunde: Nicht berücksichtigt wird dann die höhere Anzeigebereitschaft und intensivere Ermittlungstätigkeit gegenüber der ausländischen Wohnbevölkerung sowie ihre sozio-demographische Zusammensetzung, die überproportional solche Gruppierungen umfasst, die auch bei den Deutschen überdurchschnittlich kriminalitäts- und gewaltanfällig sind: mehr jüngere Leute, mehr männliche Personen, mehr Menschen mit niedrigem Einkommens- und Bildungsniveau und in schlechteren Wohnverhältnissen etc. Bei Befragungsdaten ist freilich eine stärkere Gewaltbelastung „ausländischer“ Jugendlicher und übrigens auch von jungen Aussiedlern nicht von der Hand zu weisen. Dabei zeigt sich allerdings: Es handelt sich um Personen(gruppen), die verschärfter sozialer Desintegration ausgesetzt sind, sich daher stark in eigenethnische Bezüge zurückziehen (vgl. dazu Pfeiffer/Wetzels 1999, 2000; Enzmann/ Wetzels 2000; Müller 2000; zusammenfassend: Möller 2001) und wohl auch deshalb einem traditionalistisch ausgerichteten Männlichkeitsbild interpersonaler Dominanz (s.u.) anhängen.
2. Männlichkeit und Gewalt – Erklärungsversuch Stufe 1 Verfolgt man diese und ähnliche Phänomene der besonderen Gewaltnähe von Jungen und Männern historisch zurück, so treten deutlich anhaltende Traditionsbezüge zutage. Die Kontinuitätslinien männlicher Gewaltförmigkeit sind dabei für manch eine(n) so stark, dass er/sie sich fragt, ob männliche Wesen vielleicht von Natur aus gewalttätig sind. Sind etwa Hormone und/oder Chromosomen schuld? Wäre dies durchgängig der Fall, so müssten die Bemühungen um politischpädagogische Gewaltbekämpfung wohl aussichtslos sein. Für manche mag ein derartiger Fatalismus („gegen Gewalt lässt sich nichts ausrichten, also müssen wir auch nichts tun“) schon Züge ethischer Bedenklichkeit annehmen; dies insoweit, als er letztlich zur stillschweigenden Akzeptanz gewaltförmiger Verhaltensweisen und damit menschenunwürdiger Verhältnisse führt. Schwerer als dieses moralische Argument jedoch wiegt, dass sich bei einer biologistischen Erklärung von Gewalt eine Reihe von Tatbeständen nicht erklären ließe. Zu ihr gehören – die zwar geringere, aber durchaus auch vorhandene Gewaltakzeptanz von Mädchen und Frauen, – die historische Variabilität von gesellschaftlichen Gewaltniveaus, die Tatsache ihres An- und Abschwellens bei prinzipiell gleich bleibender biologischer Ausstattung der Menschen,
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– die Differenz der Gewaltlevels und der verschiedenen Gewalt-Verständnisse zwischen verschiedenen Kulturen bei gleicher Geschlechter-Verteilung. Bei der Eruierung des Zusammenhangs von Männlichkeit und Gewalt kommt man mithin ohne eine sozialisationstheoretische Erklärung nicht aus. Anders formuliert: Offenbar sind es die Eigenarten der Prozesse des Aufwachsens und der Lebensweise des männlichen Geschlechts, die seine vergleichsweise hohe Gewaltaffinität bewirken. Unsere eigenen Studien (vgl. vor allem Möller 2000 und Möller 2001) ergeben in dieser Hinsicht im Wesentlichen, dass Gewalt für ihre Befürworter und Akteure als probates Mittel zur Sicherung männlicher Identität angesehen wird. In der „Kultur der Zweigeschlechtlichkeit“, in der wir leben, sind Zuordnungen über die Attribute „männlich“ und „weiblich“ fundamentale Orientierungshilfen für die Ordnung von Wahrnehmungen, Gefühlslagen, kognitiven Deutungen und Verhaltensweisen. Da dies so ist, prägen die einzelnen Subjekte im Allgemeinen – und dies gilt auch ungeachtet annehmbarer biologischer Präformierungen – die Tendenz aus, auch die eigene Person mit einer geschlechtsspezifischen Identität auszustatten, um als weibliches oder männliches Wesen für einen selbst spürbar, aber auch vor allem nach außen erkennbar zu sein. Identität ist deshalb unumgänglich von ihrer Anerkennung durch andere abhängig. Sie ist nicht gleichsam selbstgenügsam oder monadisch konstituier- und lebbar. Im Rahmen der Identitätsbildungsprozesse, die sich speziell in der Jugendphase vollziehen, lernt der männliche Jugendliche seine Identität – also alltagsprachlich formuliert: das Gespür und Wissen darum, wer er ist, was er tun und denken soll und warum dies zusammengenommen für ihn subjektiv Sinn macht, aber eben auch intersubjektiv Anerkennung erfährt – auch geschlechtsspezifisch zu konturieren. Er sieht sich dabei konfrontiert mit tradierten Männlichkeitsbildern und -erwartungen, die über die Sozialisationsinstanzen wie z.B. Familie, Schule und Medien Anerkennungen von Männlichkeit vermitteln. Überall dort, wo in Gesellschaften männliche Hegemonie herrscht (vgl. zu diesem Begriff: weiter unten), leiten sich Vorstellungen vom Männlichen nach den kulturanthropologischen Studien David Gilmores (vgl. 1991) aus den Aufgaben jener Funktionsbereiche ab, die kulturübergreifend als männlich denotiert werden. Sie beziehen sich auf die Zuständigkeiten des – Erzeugens von Nachwuchs, – des Versorgens der eigenen sozialen Einheit mit subsistenz-erhaltenden bzw. wohlstandsvermehrenden Gütern (besser: ihres bloßen Besorgens, nicht mehr ihrer alltäglichen Herrichtung zum Gebrauch), – des Beschützens der nicht-männlichen bzw. nicht-erwachsenen oder nicht verteidigungsfähigen Mitglieder der eigenen sozialen Einheit (Frauen, Kinder, Alte, Gebrechliche etc.).
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Insoweit für Jungen im Jugendalter (noch) nicht in sozial akzeptierter Weise der Nachweis der eigenen Männlichkeit über die Nachwuchserzeugung, Rollen von Familienernährer o. Ä. und die institutionell eingebundene Verteidigung von „Recht und Ordnung“ auf dem als „eigen“ betrachteten Territorium möglich ist (z. B. durch die Zugehörigkeit zu Polizei oder Armee), sehen sie sich im Zuge der Ausbildung eigenständiger Identität gedrängt, Vorfelder oder Ersatzfelder für derartige Männlichkeitsfunktionen zu schaffen bzw. zu besetzen. Insbesondere ist hier mit Bezug auf die o.g. Männlichkeitsfunktionen zu nennen – das Herausstellen heterosexueller Potenz, – der Besitz und gekonnte Umgang mit Gerätschaften und Technik von hohem Tauschwert (heute insbesondere Fahrzeug- und Informationstechnik), – die Demonstration von als Verteidigungshaltung ausgegebener Kampfbereitschaft und -fähigkeit. Da gesellschaftlich vorherrschend über Fähigkeiten auf diesen Aktivitätsfeldern die Kernbereiche maskulin-hegemonial geprägter Männlichkeitsdefinitionen verlaufen, sehen sich viele Jungen gezwungen, ihnen entgegengehaltene Zweifel an ihrer darüber bestimmten Männlichkeit am besten gar nicht erst aufkommen zu lassen oder ihnen bei ihrem Auftreten zumindest prompt entgegenzutreten. Vor allem besonders gewaltauffällige Jungen berichten immer wieder vom Gefühl des permanenten Angegriffenseins. Blicke, die sie als provokant einstufen, in erster Linie aber Vorwürfe wie „Du Wichser“ oder „Du schwule Sau“ gelten ihnen daher als Beleidigungen ihrer männlichen (Erzeuger-)Ehre, die sie vermeinen keinesfalls auf sich sitzen lassen zu dürfen, wollen sie nicht dem Verdikt von Unmännlichkeit und damit geschlechtsspezifischem Respektverlust anheim fallen. Wer bei Gesprächen über z.B. Computer, Unterhaltungselektronik, Motorräder und Autos nicht mithalten kann, muss – zumindest unter Gleichaltrigen (und eben diese sind in dieser Lebensphase für den Aufbau einer männlichen Identität entscheidend prägend) – gewärtigen, einen unmännlichen Interessenzuschnitt attestiert zu bekommen. Wer keine Kampfbereitschaft zeigt, sei es bei der Austragung der Zwistigkeiten um interpersonale Dominanz, sei es bei verspürten Angriffen auf die „Familienehre“ („Du Hurensohn“) oder sei es bei den lokalen und interlokalen Territorialfehden von Jungen, kann damit rechnen als „Feigling“, „Memme“, „Waschlappen“ „Mädchen“ oder „Baby“ tituliert zu werden. Dreierlei aber – so lernen Jungen – dürfen sie nicht sein: nicht schwul, nicht „weibisch“, nicht kindisch. Anwürfe, die in diese Richtungen gehen, treffen sie deshalb im Kern ihrer geschlechtsspezifischen Identität, ja aus ihrer Sicht bedrohen sie ihn fundamental. Wer so ausgelöste Verunsicherungen nicht auszuhalten vermag, sieht sich veranlasst, unmittelbar, d.h. häufig situativ reaktant, den sofortigen Gegenbeweis anzutreten. Und dieser Gegenbeweis kann aus ihrer Perspektive nur auf Gewalt Bezug nehmen, weil Violenz – wie immer man sie auch moralisch beurteilen mag
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– scheinbar unauflöslich mit Männlichkeit, verbale Wehrbereitschaft allein hingegen nicht mit den Insignien und der Exklusivität des Männlichen konnotiert ist. Aufgrund traditionell-männlicher Geschlechtersozialisation geraten Jungen also in einen Sog in Richtung auf Gewaltsamkeit. Einerseits handelt es sich bei dem Beschriebenen um ein Denk- und Verhaltensmuster von Angehörigen des männlichen Geschlechts, das für männlich hegemonialisierte Gesellschaften typisch ist. Andererseits setzt es sich ethnisch-kulturell durchaus in unterschiedlicher Akzentuierung um. Dies zu berücksichtigen ist wichtig, um die Spezifik der Verknüpfung von Männlichkeitsvorstellungen und Gewalt bei diversen Gruppierungen von Migrantenjugendlichen verstehen zu können. Im traditionellen türkischen Männlichkeitsbild und entsprechend bei den daraufhin familiär orientierten türkischen Jugendlichen finden sich zum Beispiel Begriffe von männlicher „Ehre“ („Namus“), Achtung („Saygi“) und Ansehen („Seref“), die die konventionellen Männlichkeitsnachweise des Erzeugens, Ver-/Besorgens und Beschützens in besonderer Weise akzentuieren, evozieren (vgl. Schiffauer 1983; Tertilt 1996; Khanide 1999) und gegen modernisierte Auffassungen vom Geschlechterverhältnis abzusperren scheinen. Überdurchschnittlich hohe innerfamiliäre Straf- und Gewalterfahrungen insbesondere türkischer Jungen aus traditionalistisch orientierten Familien belasten zudem im Zusammenhang mit rigiden Normvorgaben für das Gewähren und öffentliche Demonstrieren von Anerkennung und Liebesbezeugungen eine positive Emotionalisierung der Vater-Sohn-Beziehung (vgl. Atabay 1998). Hinzu kommt die herausgehobene Bedeutung der männlichen Freundesgruppe innerhalb der PeerBeziehungen („arkadaslik“), von der angenommen werden kann, dass sie – in ähnlicher Funktion wie vergleichbare Gruppen von deutschen Jugendlichen – traditionelle Männlichkeitsbilder noch stabilisieren. Diejenigen deutschen und ausländischen Jungen, die sich ihnen entziehen können, sind entweder in der Lage, die Bedeutsamkeit spezifisch männlicher Geschlechtsidentität (bzw. von dem, was anerkanntermaßen als eine solche gilt) zu relativieren oder besitzen alternative Bezüge zu Aufbauleistungen eines „anderen“ Mannseins. Dies sind im Allgemeinen Jungen, die in modernisierten Geschlechterbeziehungen ihrer Eltern aufwachsen und insbesondere über Väter (manchmal auch Lehrer oder Jugendarbeiter) verfügen, die ihnen Wege aufzuzeigen vermögen, „ganz Mann“ und durchsetzungsfähig zu sein, aber Gewalt dabei auszusparen. Für Mädchen kann Gewalt in der weiter oben beschriebenen Weise keine Attraktivität entfalten, weil sie sich anderen geschlechtsspezifischen Vorstellungen und Zumutungen ausgesetzt sehen. Soweit letztere traditionellen WeiblichkeitsKlischees folgen, setzen sie auf Kompetenzen wie Zurückhaltung, verbale Konfliktfähigkeit, Häuslichkeit, Nachgiebigkeit etc., also auf Verhaltensweisen, die
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Gewaltförmigkeit geradezu entgegenstehen. Mädchen sehen sich zudem auch entweder gar nicht oder kaum gezwungen, ihrer Umwelt und sich selbst Nachweise ihrer Weiblichkeit zu liefern; oder sie stilisieren ihre Weiblichkeit mittels Symboliken und Anerkennungsformen, die den Weiblichkeits-Klischees der männlich hegemonialisierten Gesellschaft folgen: Fürsorglichkeit, Kompromissfähigkeit, sexuelle Attraktivität etc. Mädchen unterliegen erst dann Gewaltgefährdungen, wenn sie sich mit derartigen Identitäts- und Anerkennungsangeboten nicht mehr zufrieden geben und Durchsetzungsfähigkeiten zeigen wollen, die denen der Jungen in nichts nachstehen. Die Zahl dieser Mädchen dürfte steigen, weil der traditionelle weibliche Sozialisationsstrang in jüngerer Zeit immer stärker durch jene Erwartung konterkariert wird, die in Zeiten der traditionell geprägten Jugendsozialisation nur an Jungen gerichtet waren: Sei stark! Setz‘ dich durch! Gewalt an sich ist also nicht männlich. Einerseits erhöht zwar die traditionelle Männlichkeits-Sozialisation die Wahrscheinlichkeit der Übernahme gewaltförmiger Verhaltensweisen für Jungen. Andererseits zeigt sich aber, dass lebbare, weil sozial anerkannte Alternativen anderer Männlichkeit geeignet sind, vor Gewaltgefährdungen zu schützen. Diesbezüglich harrt ein leider noch viel zu wenig beackertes Feld geschlechtsreflektierender Jungen- und Männerarbeit (dazu: Möller 1997) auf seine Bestellung. Insofern stellt sich mit Nachdruck die Frage: Wo sind entsprechende Ansatzpunkte zu finden?
3. Männlichkeit und Gewalt – Erklärungsversuch Stufe 2 Weiter oben wurde erwähnt, dass die von Gilmore herausgearbeiteten Männlichkeits-Funktionen und die daran anschließenden Analysen für männlich hegemonialisierte Gesellschaften gelten. Es erhebt sich nunmehr die Frage, was darunter zu verstehen ist und unter welchen Bedingungen ihre Produktion und Reproduktion zustande kommt. Zu ihrer Beantwortung lässt sich auf die sozialwissenschaftliche Männlichkeitstheorie von Robert W. Connell (vgl. v.a. 1999) zurückgreifen. Der Autor arbeitet sie im Wesentlichen in Auseinandersetzung mit zwei anderen Ansätzen heraus: der Rollentheorie und dem Patriarchats-Konzept. Die auf beide bezogenen Argumentationen und Abgrenzungen können hier nicht im Einzelnen nachvollzogen werden. Nur so viel: Eine rollentheoretische Fassung von Männlichkeit und Geschlechter-Verhältnis wird vor allem aus zwei Gründen abgelehnt. Zum Ersten wegen ihrer biologischen Unterfütterung: Wenn Rollen allgemein durch Erwartungen definiert werden, so werden Geschlechterrollen durch Erwartungen definiert, die an den biologischen Status einer Person gebunden werden; zum Zweiten wegen der Ausklammerung der Machtfrage: Macht und
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Unterdrückung im Geschlechterverhältnis können höchstens als Ausfluss wechselseitiger Erwartungshaltungen von Rollenträgern begriffen werden. Welche ursächlichen Verbindungen Erwartungshaltungen mit gesellschaftlichen Machtverhältnissen besitzen, ist nicht explizierbar. Das feministische Patriarchats-Konzept fasst zwar die Geschlechterverhältnisse als Macht- und Herrschaftsverhältnisse, aber der Patriarchats-Begriff vermag (1.) nicht die Beziehung der Unter- und Überordnung von Männern untereinander zu fassen (z.B. die zwischen herrschenden heterosexuellen und unterdrückten homosexuellen Männlichkeiten) und polarisiert (2.) zwischen beiden Geschlechtern, wobei patriarchale Männlichkeit immer mit dem biologischen Geschlecht einhergeht. Indem der Begriff jeden Mann als Agenten patriarchaler Strukturen sieht, muss er jeder Beziehung zwischen den Geschlechtern unterstellen, durch Ungleichheit gekennzeichnet zu sein, und zwar so, dass der Mann stets die Überlegenheitsposition innehat und die „patriarchale Dividende“ (Connell) einheimst. Damit aber geht die Strukturierungsfunktion sozialer Situationen durch Faktoren wie z.B. „Klasse“ und „Rasse“ verloren. Was nun sind die Merkmale männlicher Hegemonie? Hier heißt – grob zusammengefasst – Connells Antwort: 1. ein gesellschaftlich allgemein verbreitetes Machtgefälle zwischen Männern und Frauen, 2. die soziale Konstruiertheit von Geschlechtlichkeit bzw. Männlichkeit, 3. die Existenz verschiedener Männlichkeiten mit einer Vorrangstellung des Männlichkeits-Typs „hegemonialer Männlichkeit“ mit den Kennzeichen: – Heterosexualität – (Schein-)Rationalitätsorientierung und – Entscheidungsmacht in Institutionen und Strukturen, 4. die historische Bedingtheit von Männlichkeitsmustern, 5. körperreflexive Praxen. Die beiden ersten Punkte kann man am besten gemeinsam erläutern, indem man die Frage klärt: Wo und wie wird männliche Hegemonie zu sichern gesucht? Connel nimmt vier Absicherungs-Ebenen an: 1. die geschlechtliche Arbeitsteilung (Muster: männlicher Lohnarbeiter/weibliche Hausarbeiterin). Folge ist auch eine geschlechtsspezifisch differente Akkumulation gesellschaftlich produzierten Mehrwerts, 2. die Machtbeziehungen (Muster: Männer herrschen, Frauen ordnen sich unter), 3. die emotionale Bindungsstruktur (Kathexis): die „Praktiken, die das Begehren formen und realisieren“ (Muster: Zusammenhang von Heterosexualität und männlicher Dominanz), 4. die symbolisch-kulturellen Repräsentationen der Geschlechter (Muster: Aufrechterhaltung geschlechtsspezifischer Symbolwelten).
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Man mag den etwas additionistischen Charakter dieser Auflistung für kritisierenswert halten, vor allem kann man anführen, dass der Machtaspekt sich eigentlich quer durch die anderen drei Ebenen zieht und insofern jeweils auf diesen drei Ebenen Berücksichtigung finden muss. Aber klar wird: Geschlechterordnung wie Männlichkeit existieren nicht vor sozialer Interaktion, sie werden vielmehr aktiv konstruiert. Bezüglich der oben in Punkt 3 angesprochenen Multiplizität von Männlichkeiten und ihren Hierarchie-Hegemonie-Gefügen unterscheidet Connell vier verschiedene Formen von Männlichkeiten als Handlungsmuster: 1. hegemoniale Männlichkeit. Dies ist die Männlichkeit, die jeweils den Ton angibt – im gesellschaftlichen Geschlechterverhältnis und auch in Bezug auf andere Männlichkeit. Korporativ inszeniert findet sie sich vor allem auf den Führungsebenen von Wirtschaft, Militär und Politik. 2. untergeordnete Männlichkeit. Es handelt sich vor allem um schwule Männer und junge Noch-nicht-Männer (Jungen). Beide werden wohl nicht zufällig in die symbolische Nähe zum (ja abgewerteten) Weiblichen gerückt; Jungen z.B. durch Begriffe wie „Heulsuse“, „Muttersöhnchen“ u.Ä.m. 3. komplizenhafte Männlichkeit. Dies sind Männer, die sich nicht den Spannungen und Risiken an der vordersten Frontlinie des Patriarchats aussetzen, aber auf der Welle hegemonialer Männlichkeit mitschwimmen, ohne sie selber bilden zu müssen, so dass sie, ohne sich viel aus dem Fenster zu lehnen, bequem die „patriarchale Dividende“ einstreichen können. 4. marginalisierte Männlichkeit. Hier finden sich Männer, die durch Faktoren wie „Rasse“ oder „Klasse“ an den Rand der Hegemonialstrukturen (und damit der Männer-Gesellschaft) gedrückt werden. Diese vier Handlungsmuster sind lt. Connell keine festen Typen. Zum einen können einzelne Männer Bestände aus verschiedenen Handlungsmustern aufweisen – durchaus auch in widersprüchlicher Weise. Zum anderen unterliegen die Muster historischem Wandel. Hegemoniale Männlichkeit – und damit sind wir beim vierten ihrer Kennzeichen – verändert sich nämlich im Zuge von Modernisierungsprozessen: Die Entwicklung geht weg von interpersonaler Dominanz hin zu einer Dominanz, die sich auf Wissen und Expertenschaft beruft. Überspitzt illustriert: Nicht mehr so sehr der faire Faustkampf „Mann gegen Mann“ prägt Männerkonkurrenz, nicht mehr unbedingt die physische Gewaltanwendung gegenüber Frauen. Viel mehr wiegt heute das Pochen auf analytisch-intellektuelle Kompetenz, verbale Durch-
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setzungsfähigkeit und Cleverness, am besten gepaart mit ökonomischer und/oder institutioneller Macht. Wem als Mann oder auf dem Wege zum Mann-Werden so gesehen Zugänge zu Wissen und institutionelle Einbindungen fehlen, wird in besonderem Maße auf ein traditionelles Maskulinitätsideal zurückgeworfen, in dem physische Gewaltsamkeit einen zentralen Stellenwert einnimmt. Sicher gibt es gute sozialwissenschaftliche Argumente dafür, einen großen Anteil von Körperlichkeit – und damit sind wir beim fünften Merkmal männlicher Hegemonialstrukturen nach Connell – konstruktivistisch als Ergebnis von sozialen Praxen aufzufassen. Dennoch: Der Materialität des Körpers lässt sich nicht entrinnen. Er ist eine habituell geronnene Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsmatrix, in die sich soziale Erfahrungen – u.a. solche von Macht und Unterwerfung – einschreiben. Dennoch: Der Körper ist nicht nur Objekt, sondern auch Agent sozialer Praxis. Und aus dieser Praxis entstehen wiederum Strukturen, die den Körper definieren und anpassen: „Durch körperreflexive Praxen werden Körper in den sozialen Prozess mit einbezogen und zu einem Bestandteil von Geschichte, ohne damit aber aufzuhören, Körper zu sein. Sie verwandeln sich nicht in Symbole, Zeichen oder Positionen im Diskurs. Ihre Materialität (inklusive der Fähigkeit, zu zeugen, zu gebären, zu säugen, zu menstruieren, zu penetrieren, sich zu öffnen, zu ejakulieren) löst sich dadurch nicht auf ...“ (Connell 1999, 84). Schaubild 1 Funktionsbereiche von Männlichkeitsnachweisen (Re-)Produktionselemente männlicher Hegemonie
Biologische (Re-)Produktion/ Sexualität
Materielle Reproduktion
Soziale Reproduktion
Arbeitsteilung
„Erzeuger“
„Versorger“
„Beschützer“
Emotionale Bindungsstruktur (Kathexis)
Heterosexualität und sex. Dominanz
Externalisierung von Emotionalität und ökonom. Dominanz
Paternalismus und territoriale Dominanz
symbolisch-kulturelle Repräsentationen
(hetero-)sexuelle Potenzsymbolik
Körperkraft Technikkompetenz Konkurrenzehrgeiz Expertenschaft Materielles Prestige Institutionelles Prestige
WehrhaftigkeitsSolidarität Kampfbereitschaft Durchsetzungsfähigkeit Schmerzresistenz
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Ziehen wir ein Zwischenfazit, so erkennen wir nunmehr: Das Verhältnis von Männlichkeit und Gewalt ist eine sozial konstruiertes und damit veränderbares. Es lässt sich aber nicht voluntaristisch wandeln, sondern ist in seiner Struktur eingelagert in das gesellschaftliche Herrschaftssystem männlicher Hegemonie. Eine grundlegende Veränderungsstrategie bezüglich der Verweisungszusammenhänge männlicher Identität bedarf deshalb eines Ansetzens auf den unterschiedlichen Ebenen der (Re-)Produktion männlicher Hegemonialstrukturen. Nimmt man Gilmores und Connells Analysen einmal gemeinsam in den Blick, ergeben sich dafür Problemfelder, die es zu bearbeiten gilt (s. Schaubild 1). Letztlich stellt sich die Frage, wie sozial akzeptierte Männlichkeit jenseits des Leitbilds hegemonialer Maskulinität aussehen kann. Damit wiederum sind wir erneut auf den Umstand verwiesen, dass wie auch immer geartete alternative Männlichkeiten sich erst Akzeptanzen schaffen und speziell durch Anerkennungsprozesse hindurchmüssen.
4. Anerkennungstheoretische Ansatzpunkte als pädagogische Handlungsprogrammatik In Abschnitt 2 wurde kurz erwähnt, dass Identität auf die Bestätigung anderer angewiesen und ihre Herausbildung deshalb kein rein innerpsychischer Prozess ist. Dieser Umstand gründet in der unhintergehbaren „Dialogizität“ menschlicher Existenz (vgl. Taylor 1993). Sie bindet die Bildung von Identität unmittelbar an Prozesse der Gewinnung von Akzeptanz. Akzeptanzerhalt wiederum setzt Integration voraus (vgl. zum Folgenden auch Honneth 1992; Helsper 1995; Anhut/ Heitmeyer 2000 sowie Tab. 1). Im Anschluss an Lockwood (1979) und Habermas lässt sich Integration generell analytisch in Systemintegration und Sozialintegration zerlegen (vgl. zum Folgenden überblicksartig Schaubild 2). Unter Systemintegration verstehen wir – über das klassische Verständnis dieses Begriffs hinausgehend – nicht nur die funktionale Passung der Subsysteme eines Systems, sondern auch die aus der Perspektive des Subjekts avisierte individuellfunktionale Integration. Sozialintegration lässt sich ebenfalls in zwei Elemente teilen. Im Anschluss an Max Weber (vgl. 1964) unterscheiden wir hier gesellschaftliche und gemeinschaftliche Sozialintegration. Die Akzeptanz eines Subjekts ergibt sich in den zuletzt genannten drei Bereichen im Wesentlichen aus drei Elementen: Zugehörigkeit zu Strukturen und sozialen Einheiten, die Art der Partizipation samt den ihnen zugeordneten Medien an diesen und die Anerkennungen, die hier durch Feedbackschleifen von Systemeinrichtungen bzw. intersubjektiv zu erlangen sind. Auf der Ebene der Zugehörigkeit wird individuell-funktionale Systemintegra-
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Schaubild 2 Integrationsformen
Systemintegration subsystemfunktionale
Akzeptanzformen – Zugehörigkeit – Partizipation – Anerkennung
Sozialintegration
individuellfunktionale
gesellschaftliche
gemeinschaftliche
Positionale Zugehörigkeit zu Strukturen von Teilsystemen
Kommunikativinteraktive(r) Zugang/ Zugehörigkeit zu intermediären Instanzen
Lebensweltliche affektuelle und/ oder habituelle Zugehörigkeit zu Primärgruppen
Partizipation an materiellen und kulturellen Gütern der Gesellschaft
Partizipation an öffentlichen Diskurs- und Entscheidungsprozessen
Partizipation an kulturell tradierten und/ oder emotionalen Beziehungen und anderen Milieuressourcen
Partizipationsmedium: Rechtsgleichheit Sprache Macht Besitz Geld/Konsum instrumentelle Leistung Bildung/ Qualifikation
Partizipationsmedium: Kommunikative Leistungen Kompetenzen der Interessendurchsetzung und des Interessenausgleichs
Partizipationsmedium: Liebe/ Zuneigung lebensweltliche Konventionen/ Tradition
Anerkennungsformen: Status Materielles Prestige
Anerkennungsformen: Wechselseitige Anerkennung universalistischer Normen (z.B. Gerechtigkeit, Gleichberechtigung) und soziale Wertschätzung
Anerkennungsformen: Wechselseitige Anerkennung partikularistischer Normen und persönliche Wertschätzung
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tion durch positionale Zugehörigkeiten zu Strukturen von Teilsystemen sichergestellt; etwa durch die Einnahme von Positionen im Beschäftigten- oder Bildungssystem. Zugehörigkeiten und Zugänge im Bereich der gesellschaftlichen Sozialintegration hingegen zielen auf eine kommunikativ-interaktive Präsenz in intermediären Instanzen (Kirchen, Gewerkschaften, Sozialverbänden etc.). Während diese beiden Zugehörigkeitsformen öffentlich zu erwerben sind, stellt sich gemeinschaftliche Sozialintegration über lebensweltlich gegebene habituelle und affektuelle Zugehörigkeiten zu Primärgruppen mit kurzen Handlungsketten (Familie, Verwandtschaft, unmittelbarer Bekanntschaftskreis und andere Face-to-faceBeziehungen) her. Entsprechend differieren die Partizipationsweisen: Regelt positionale Zugehörigkeit zu Systemstrukturen die Teilhabe an den materiellen und kulturellen Gütern einer Gesellschaft, so stehen unter Gesichtspunkten kommunikativinteraktiver Zugehörigkeiten zu intermediären Instanzen Teilhabemöglichkeiten an öffentlichen Diskurs- und Entscheidungsprozessen, unter Aspekten lebensweltlicher Zugehörigkeiten die Partizipation an kulturell tradierten und emotionalen Beziehungen sowie sonstigen Milieuressourcen im Mittelpunkt. Die Medien, über die die jeweilige Partizipationsweise gewährleistet werden soll, unterscheiden sich ebenfalls erheblich: Systemintegrative Partizipation erfolgt über Medien wie die Garantie von Rechtsgleichheit, aber auch Sprache, Macht, Besitz, Geld/ Konsum, qualifikatorische Bildung und instrumentelle Leistung, gesellschaftliche Sozialintegration mit ihren jeweiligen Partizipationsweisen wird dagegen primär über abstrakt-funktionale kommunikative Leistungen (vor allem solchen der Interessendurchsetzung und des Interessenausgleichs) aufgebaut. In gemeinschaftlichen Primärgruppen wird demgegenüber Teilhabe über die Gemeinsamkeit lebensweltlicher Traditionen und Konventionen und/oder über emotionale Zuwendungen erfahren. Deswegen weichen die Anerkennungsformen in den drei Bereichen voneinander ab und nehmen jeweils spezifische Gestalt an. Im Bereich der systemintegrativen Zugehörigkeit und Partizipation wird Anerkennung im Wesentlichen über den eingenommenen Status erworben, insbesondere schlägt materielles Prestige zu Buche. Die beiden Formen der Sozialintegration hingegen sind auf wechselseitige Anerkennung hin angelegt. Auf der Ebene des Gesellschaftlichen steht das Teilen universalistischer Normen im Zentrum der Anerkennungsprozesse: Werte wie Gerechtigkeit, Gleichberechtigung der Subjekte etc. steuern – jedenfalls dem Anspruch nach – soziale Wertschätzung. Gemeinschaftlich organisierte Primärgruppen können in ihrer Normorientierung davon durchaus abweichen, indem sie partikularistische, nur für ihre eigenen Verkehrskreise geltende Normen ausprägen und neben emotionalen Bezügen über sie persönliche Wertschätzung vermitteln. Das Tableau macht deutlich, dass die Akzeptanz von Individuen und Gruppen
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vielfältige Formen annehmen kann und auch anerkennungsbezogene Rückmeldungen nicht nur plural ausfallen, sondern sich u.U. – je nach Integrationsbereich – sogar gegensätzlich darstellen können. In Bezug auf Gewalt heißt dies, dass sie in partikularen Gemeinschaften durchaus als Integrationsmedium fungieren kann, während sie im Rechtssystem und in den Institutionen verpönt ist und ihre Anwendung geradezu zu Desintegrationen führen kann. Wo dies der Fall ist (wie beispielsweise in jungendominierten jugendlichen Cliquen von Gewaltbereiten und Gewalttätigen) fordern Versuche, sie pädagogisch zu beseitigen, erhebliche Gegenwehr seitens ihrer Träger heraus, müssen sie doch gewärtigen, eines Kernstücks ihrer Identität und persönlichen Anerkennung verlustig zu gehen. Schon einem oberflächlichen Blick entschleiert sich, dass angesichts der „Kultur der Zweigeschlechtlichkeit“ (Carol Hagemann-White), die unsere Gesellschaft prägt, Akzeptanz- und Anerkennungsformen geschlechtsspezifische Gestalt annehmen. Beim Versuch, männlichkeitsspezifische Akzeptanz- und Anerkennungsformen zu eruieren, müssen wir freilich – neben der schlichten Tatsache, in einer männlich hegemonialisierten Gesellschaft zu leben – zwei Bedingungen berücksichtigen: Akzeptanz- und Anerkennungsformen sind je nach Männlichkeitsmuster unterschiedlich zugänglich. Hegemoniale Maskulinität verfügt diesbezüglich über andere Bezugspunkte als beispielsweise marginalisierte Männlichkeit. Und: Männlichkeit ist historisch variabel und bewegt sich im Zuge der Modernisierung von Geschlechtervorstellungen und -verhältnissen gegenwärtig vom Muster interpersonaler Dominanz hin zu einem Muster, das Männlichkeit in terms von Institutionenzugehörigkeit und Expertenschaft definiert. Dessen ungeachtet muss zunächst einmal das hegemoniale Männlichkeitsmuster interessieren, ist doch davon auszugehen, dass vor allem dieses mehr oder minder subtile Gewaltförmigkeiten in sich trägt. „Verlängern“ wir gleichsam die drei rechten Spalten des obigen Tableaus (vgl. Schaubild 2) nach unten, so ergeben sich die in Schaubild 3 überblicksartig präsentierten männlichkeitsspezifischen Akzeptanzformen. Systemintegrative Zugehörigkeit erfahren und demonstrieren Männer vorrangig durch die Einnahme von Positionen, die sie zu einer möglichst autonomen persönlichen und zudem für ihre Versorgerrolle adäquaten Subsistenzsicherung befähigen. Sozialintegration vermögen sie insbesondere zum einen im Bereich des Gesellschaftlichen durch ihre Zugehörigkeit bzw. ihren Zugang zu Institutionen, Parteien, Vereinen, Verbänden und sonstigen Organisationsformen gesellschaftlicher Kollektive, zum anderen im Bereich des Gemeinschaftlichen durch ihre Zugehörigkeit zu sowohl geschlechtsheterogenen (z.B. die „eigene“ Familie) als auch -homogenen Reproduktionseinheiten (die Gruppe der männlichen Freunde/Kumpels) vorzuweisen. Männliche Partizipation bedeutet ebenso über Status- wie Sozialkapital zu
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Schaubild 3 Männlichkeitstypische Akzeptanzformen (Typus: hegemoniale Männlichkeit)
Individuell-funktionale Systemintegration
Gesellschaftliche Sozialintegration
Gemeinschaftliche Sozialintegration
Zugehörigkeit/Zugang zu Subsistenzpositionen
Zugehörigkeit/Zugang zu Institutionen, Parteien, Vereinen, Verbänden u.a. Organisationen gesellschaftlicher Kollektive
Zugehörigkeit zu geschlechtsheterogenen und -homogenen Reproduktionseinheiten
Partizipation an Statuskapital
Partizipation an gesellschaftlichem Sozialkapital (Artikulations- und Definitionsmacht)
Partizipation an gemeinschaftlichem Sozialkapital und emotionaler Absicherung
Partizipationsmedium: Erwerbsarbeit Vermögen Systemstrukturelle Macht
Partizipationsmedium: Durchsetzungsfähigkeit Verhandlungsgeschick Externalisierung von Emotionalität
Partizipationsmedium: Verbindung von Versorger- mit Erzeugerund Beschützerrolle; Sexuelle u.ökonomische und/oder pyhsische Dominanz; territoriale bzw. paternalistische Dominanz
Anerkennungsformen: Outputorientierter „Erfolg“ Achtung Aufstieg („Karriere“) Bezahlung/Gewinn Zertifizierung Auszeichnung
Anerkennungsformen: Loyalität Respekt Institutionelles Prestige
Anerkennungsformen: Teilen geschlechtsspezifischer Habitus und symbolisch-kultureller Repräsentationen; (hetero)sexuelle Potenzsymbolik; Wertschätzung männlicher Fürsorgemoral
verfügen, wobei das erstgenannte die Teilhabe an den materiellen und kulturellen Gütern der Gesellschaft ausweist, das andere Artikulations- und Definitionsmacht (im Gesellschaftlichen) bzw. emotionale Absicherung (z.B. und vor allem in der Familie) mit sich bringt. Ist das Partizipationsmedium für Statuskapital beim männlichen Geschlecht vor allem Erwerbsarbeit, Vermögen und sonstige (z.B. politische) systemstrukturell gegebene Macht, so ist das Medium von gesellschaftlichem Sozialkapital zum einen in Kompetenzen wie Verhandlungsgeschick und Durchsetzungsfähigkeit, verbunden mit der Externalisierung männlicher Emotionalität und der Absehung von der „Innenwelt“ der Gefühle begründet und liegt zum anderen – auf der Ebene der gemeinschaftlichen Sozialintegration – in der Verbindung der Versorger- mit der Beschützer- und Erzeugerrolle vor. Über sie kann sexuelle und ökonomische, ggf. auch physische Dominanz ausgeübt und als
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territoriale – vorwiegend auf dem Felde von („Möchtegern“-)Männerhändeln – bzw. paternalistische – vorwiegend im Verhältnis zu den Frauen und Kindern der eigenen Sozialeinheit – Überlegenheit dokumentiert werden. Innerhalb dieses Spektrums streuen männlichkeitsspezifische Anerkennungsformen von systemintegrativ eingebundenen Formen wie outputorientiertem „Erfolg“, Achtung, Aufstieg, Bezahlung bzw. Besitz, Zertifizierung und Auszeichnung („Orden“) über gesellschaftlich-sozialintegrativ bedeutsame Modi wie Loyalitäts- und Respektbezeugungen und institutionelles Prestige bis hin zu gemeinschaftlichen Anerkennungen, die über das Teilen eines geschlechtsspezifischen Habitus („Macker, Macher und Macho“) bzw. geschlechtsspezifischer symbolisch-kultureller Repräsentationen (Muskelspiel, Fußballleidenschaft, Alkohol, Gewaltsymbolik etc.), (hetero)sexuelle Potenzsymbolik („der Steher“) und die Wertschätzung von männlicher Fürsorgemoral („der treusorgende Vater und Ehemann“) konstruiert werden. Nicht-hegemoniale Männlichkeiten – untergeordnete und marginalisierte beispielsweise – stehen so gesehen deshalb unter einem permanenten Unmännlichkeits-Verdacht, weil ihnen Zugänge zu den hegemonial geprägten Akzeptanzund Anerkennungsformen fehlen oder nur kaum zur Verfügung stehen. Dem, der keinen oder kaum Systemzugang und -zugehörigkeit hat, mangelt es an Chancen auf entsprechende Anerkennungsformen. Wer gesellschaftliche Sozialintegration nicht durch entsprechende Zugänge und Zugehörigkeiten zu intermediären Instanzen realisieren kann, hat Probleme an entsprechende sozial akzeptierte Anerkennungen zu gelangen. Wer gemeinschaftliche Sozialintegration nicht über die Einnahme von sozial akzeptierten Erzeuger-, Beschützer- und Versorgerrollen erfahren und über sie positive Rückmeldungen für die Realisation männlicher Fürsorgemoral erhalten kann, wird sich umso stärker zu Zwecken des Männlichkeitsnachweises auf symbolisch-kulturelle und habituelle geschlechtsspezifische Konturgewinnungen, sexuelle Potenzsymbolik und – wenn andere Medien zur Demonstration männlicher Überlegenheit gegenüber Konkurrenten und Frauen unzugänglich bleiben – physisch ausagiertes Dominanzgebaren verwiesen sehen oder muss sich mit dem Verdikt des Unmännlichen auseinander setzen, ein Urteil, das gerade unter Männern – überpointiert formuliert – einem sozialen Todesurteil gleicht. Als fatal erweist sich in dieser Hinsicht auch die Modernisierung hegemonialer Männlichkeit. Die Subtilisierung männlicher Dominanz, die mit ihr einhergeht, beinhaltet eine Abwertung der klassischen Männlichkeitsformen, ja auf Dauer einen Ausschluss archaisch anmutender Männlichkeitsformen aus den Sphären gesellschaftlicher Akzeptanz. Man mag das Zurückdängen des Musters interpersonaler Dominanz zu Durchsetzungszwecken begrüßen; das Problem, das es mit sich bringt ist allerdings, dass es bei denjenigen, denen die Chancen eines auf
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ökonomischem Erfolg, Expertenschaft und institutionellem Prestige gründenden Männlichkeits(selbst)bilds abgehen, erst recht auf Muster physischer Durchsetzung zurückgeworfen werden, scheinen sie dann doch die letzten Ankerpunkte männlichkeitsspezifischen Identitätsaufbaus in einer Zeit rapiden Wandels zu sein. Solche Regression wiederum übt Druck aus auf die Auflösung traditionsgebundener partikularistischer Gewaltnormen. Die tradierte Gewaltmoral verflüchtigt, besser: dereguliert sich. Überlieferte Gewalttabus werden dann geschliffen, Unterwerfungsgesten des Gegners nicht mehr als solche akzeptiert, Eskalationsschwellen schneller überschritten und überkommene moralische Bedenken beiseite geschoben. Die zentralen Aufgabenstellungen einer männlichkeitsbezogenen Anti-Gewalt-Pädagogik ergeben sich aus dieser Sicht, wenn die (Re-)Produktions-Ebenen maskuliner Hegemonialstrukturen, also die Formen der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung, die emotionale Bindungsstruktur, symbolisch-kulturelle Repräsentationen und – in Abweichung vom Modell Connells nicht zusätzlich, sondern quer dazu – Machtbeziehungen auf die genannten Schwerpunkte der männlichkeitsspezifischen Akzeptanz- und Anerkennungsformen bezogen und auf Veränderungserfordernisse des Status quo „abgeklopft“ werden. Pädagogische Gewaltbekämpfung macht deshalb nur Sinn im Rahmen einer Pädagogik funktionaler Äquivalente, die Anerkennungsalternativen zu tradierten Männlichkeitsbildern hegemonialen Zuschnitts zu liefern im Stande ist. Gleichzeitig muss es sich um Offerten handeln, die nicht das Monitum des Unmännlichen auf sich ziehen, wird doch Gewalt von Seiten ihres Akteurs subjektiv gerade in der Funktion des Sicherungsmittels maskuliner Identität begriffen. Geschlechterdemokratie – als Gegenentwurf zu einer männlich hegemonialisierten Gesellschaft – ist mithin nur dann zu realisieren, wenn männliche Integration und männlichkeitsspezifische Akzeptanzformen neue Konturen gewinnen. Unter Gesichtspunkten individuell-funktionaler Systemintegration steht dabei eine Veränderung der eingeschliffenen geschlechterdifferenten Arbeitsteilung durch die Öffnung von Zugängen für Jungen und Männern zu Positionen im Reproduktionsbereich im Vordergrund. In dieser Hinsicht ist eine gleichstellungsorientierte Männer- und Jungenpolitik gefordert, die gezielte Förderprogramme in dieser Richtung auflegt. Zu denken ist etwa an Sozialpraktika für männliche Schüler, an Maßnahmen zur Verbesserung der Beteiligung von Vätern an der Kindererziehung (etwa über eine Quotierung des Elternurlaubs) oder an eine gezielte Politik der Vermittlung von Ausbildungs- und Stellensuchenden in soziale und pflegerische Berufe. Bezogen auf die Bereiche gesellschaftlicher und gemeinschaftlicher Sozialintegration bedeutet dies die Notwendigkeit, die Gleichwertigkeit von Produktionsund Reproduktionsleistungen ebenso lebensweltlich erfahrbar zu machen wie
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institutionell anzuerkennen. Ein Wandel der emotionalen Bindungsstruktur ist neben der aus fachlicher Sicht erforderlichen Unterstützung gleichstellungspolitischer Bestrebungen von Jungen- und Männerpolitik und der Absicherung einer tatsächlich als Gleichstellung realisierten Rechtsgleichheit von Männern und Frauen wohl nur über die Propagierung von Anerkennung der gleichwertigen Differenz unterschiedlicher Männlichkeiten (hetero- und homosexueller oder ethnisch-kulturell differenter etwa), vor allem aber über die Anerkennung kommunikativ-interaktiver und sozio-emotionaler Leistungen im Sinne ihrer Gleichstellung mit instrumentellen Leistungen sowie die Horizonterweiterung männlicher Emotionalität zu betreiben. Gerade Letzteres erscheint vordringlich, weil Gewalt eine zutiefst emotional verankerte Angelegenheit ist, Jungen und Männer erhebliche Probleme des Zugangs zu ihren eigenen Gefühlen und des Austarierens ihres eigenen Emotionshaushalts haben (vgl. z.B. Böhnisch/Winter 1993) und pädagogische Praxis der Jungen- und Männerarbeit wie der Gewaltbekämpfung immer wieder gerade vor diesen Problemen steht. Auf der Ebene symbolischkultureller Repräsentationen muss eine Reflexion geschlechtsspezifischer Stereotypisierungen und Klischees eingeleitet werden, die einer Anerkennung der Differenz symbolisch-kultureller Repräsentationen unterschiedlicher Männlichkeiten Bahn bricht. Auch wenn deutlicher konkretisierte Schlussfolgerungen aus der obigen Analyse hier nicht mehr im Einzelnen dargestellt werden können – in jedem Fall gilt: Männergewalt wird weder ausschließlich mit Repression noch mit wohl gemeintem pädagogischen Bemühen bzw. mit Therapieversuchen des einzelnen Gewalttäters reduziert werden können. Dazu ist sie viel zu tief in gesellschaftlichen Strukturen verankert. Das Unterfangen pädagogischer Gewaltbekämpfung bleibt so lange hoffnungslos verkürzt, wie es nicht die Veränderung männlicher Hegemonialstrukturen und der mit ihnen verbundenen Anerkennungsformen mit einbezieht.
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Literatur Anhut, Raimund/Heitmeyer, Wilhelm 2000: Desintegration, Konflikt und Ethnisierung. Eine Problemanalyse und theoretische Rahmenkonzeption. In: Heitmeyer, W./Anhut, R. (Hrsg.): Bedrohte Stadtgesellschaft. Soziale Desintegrationsprozesse und ethnisch-kulturelle Konfliktkonstellationen. Weinheim und München, S. 17-75 Atabay, Ilhamé 1998: Zwischen Tradition und Assimilation. Die zweite Generation türkischer Migranten in der Bundesrepublik. Freiburg Böhnisch, Lothar/Winter, Reinhardt 1993: Männliche Sozialisation. Weinheim und München Connell, Robert W. 1999: Der gemachte Mann. Konstruktion und Krise von Männlichkeiten. Opladen Durkheim, Emile 1977: Über die Teilung der sozialen Arbeit. Frankfurt/M. Eisner, Manuel 1998: Männlichkeit und Gewalt. Ergebnisse einer Befragung von Jugendlichen in der Stadt Zürich. In: Newsletter 2/1998, S. 22-41 Enzmann, Dirk/Wetzels, Peter 2000: Gewaltkriminalität junger Deutscher und Ausländer. Brisante Befunde, die irritieren: Eine Erwiderung auf Ulrich Mueller. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 1/2000, S. 142-156 Fuchs, Marek/Lamnek, Siegfried/Lüdtke, Jens 2001: Tatort Schule: Gewalt an Schulen 19941999. Opladen Heitmeyer, Wilhelm u.a. 1995: Gewalt. Schattenseiten der Individualisierung bei Jugendlichen aus unterschiedlichen Milieus. Weinheim und München Gilmore, David 1991: Mythos Mann. Rollen, Rituale, Leitbilder. München Helsper, Werner 1995: Zur „Normalität“ jugendlicher Gewalt: Sozialisationstheoretische Reflexionen zum Verhältnis von Anerkennung und Gewalt. In: Helsper, Werner/Wenzel, Hartmut (Hrsg.): Pädagogik und Gewalt. Opladen, S. 113-154 Honneth, Axel 1992: Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte. Frankfurt/M. Khanide, Marina 1999: Seminarunterlagen zu Ehre und Geschlecht – Sexualerziehung im Spannungsfeld verschiedener Kulturen. München Möller, Kurt (Hrsg.) 1997: Nur Macher und Macho? Geschlechtsreflektierende Jungen- und Männerarbeit. Weinheim und München Möller, Kurt 2000: Rechts Kids. Eine Langzeitstudie über Auf- und Abbau rechtsextremistischer Orientierungen bei 13- bis 15jährigen. Weinheim und München Möller, Kurt 2001: Coole Hauer und brave Engelein. Gewaltakzeptanz und Gewaltdistanzierung im Verlauf des frühen Jugendalters. Opladen Müller, Joachim 2000: Jugendkonflikte und Gewalt mit ethnisch-kulturellem Hintergrund. In: Heitmeyer, Wilhelm/Anhut, Raimund (Hrsg.): Bedrohte Stadtgesellschaft. Soziale Desintegrationsprozesse und ethnisch-kulturelle Konfliktkonstellationen. Weinheim und München, S. 257-305 Pfeiffer, Christian/Wetzels, Peter 1999: Zur Struktur und Entwicklung der Jugendgewalt in Deutschland. Ein Thesenpapier auf Basis aktueller Forschungsbefunde. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 26/99, S. 3-22 Pfeiffer, Christian/Wetzels, Peter 2000: Integrationsprobleme junger Spätaussiedler und die
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Folgen für ihre Kriminalitätsbelastung. In: Friedrich-Ebert-Stiftung (Hrsg.): Neue Wege der Aussiedlerintegration. Vom politischen Konzept zur Praxis. Bonn, S. 27-55 Schiffauer, Werner 1983: Die Gewalt der Ehre. Erklärungen zu einem türkisch-deutschen Sexualkonflikt. Frankfurt/M. Taylor, Charles 1997: Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung. Frankfurt/M. Tertilt, Hermann 1996: Turkish Power Boys. Ethnographie einer Jugendbande. Frankfurt/M. Tillmann, Klaus-Jürgen u.a. 1999: Schülergewalt als Schulproblem. Verursachende Bedingungen, Erscheinungsformen und pädagogische Handlungsperspektiven. Weinheim und München Utzmann-Krombholz, Hilde 1994: Rechtsextremismus und Gewalt. Affinitäten und Resistenzen von Mädchen und jungen Frauen. Studie im Auftrag des Ministeriums für die Gleichstellung von Frau und Mann des Landes NRW. Düsseldorf Utzmann, Hilde 2001 : Rechtsextremismus und Gewalt. Ergebnisse einer Repräsentativbefragung bei Jugendlichen. (Ministerium für Frauen, Jugend, Familie und Gesundheit des Landes NRW), Düsseldorf
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Brumlik, Micha, Dr., geb. 1947, Professor für Theorie der Erziehung und Bildung an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt/M., gleichzeitig Direktor des Fritz-Bauer-Institutes, Studien- und Dokumentationszentrum zur Geschichte und Wirkung des Holocaust ausgewählte Veröffentlichungen: – Die Gnostiker, Frankfurt/M. 1992, 1994. Berlin 2000 – Vernunft und Offenbarung. Religionsphilosophische Versuche. Berlin 2000 – Deutscher Geist und Judenhass. Das Verhältnis des philosophischen Idealismus zum Judentum. München 2000 – Kein Weg als Deutscher und als Jude. Eine bundesrepublikanische Erfahrung. Berlin 2000 Hafeneger, Benno, Dr. phil, geb. 1948, Professor für außerschulische Bildung am Institut für Erziehungswissenschaft der Philipps-Universität Marburg ausgwählte Veröffentlichungen: – Rechte Cliquen (zus. mit M. Jansen). Weinheim 2001 – Rechte Cliquen in Hessen. Schwalbach/Ts. 2002 – Politische Bildung. In: Tippelt, R. (Hrsg.): Handbuch Bildungsforschung. Opladen 2002 Helsper, Werner, Dr., geb.1953, Professor für Schulforschung und Allgemeine Didaktik am Fachbereich Erziehungswissenschaften der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Geschäftsführender Direktor des Zentrums für Schulforschung und Fragen der Lehrerbildung ausgewählte Veröffentlichungen: – Selbstkrise und Individuationsprozeß. Studien zum imaginären Selbst der Moderne. Opladen 1989 – Pädagogische Professionalität. Untersuchungen zum Typus pädagogischen Handelns. Frankfurt/M. 1996. Hrsg. gemeinsam mit A. Combe – Schulkultur und Schulmythos. Rekonstruktionen zur Schulkultur 1 (zus. mit J. Böhme/ R.T. Kramer/A. Lingkost). Opladen 2001
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Henkenborg, Peter, Dr., geb. 1955, Professor für Didaktik der politischen Bildung/ Gemeinschaftskunde an der TU Dresden, Institut für Politikwissenschaft ausgewählte Veröffentlichungen: – Die Unvermeidlichkeit der Moral. Über den Beitrag der Ethik zur Politischen Bildung in der Risikogesellschaft, Schwalbach/Ts. 1992 – Der alltägliche Politikunterricht: Beiträge qualitativer Unterrichtsforschung zur politischen Bildung in der Schule (gemeinsam hrsg. mit Hans-Werner Kuhn). Opladen 1998 – Politische Bildung als Kultur der Anerkennung. Skizzen zu einer kritischen Politikdidaktik. In: kursiv 2/2000, S. 36-40 Himmelmann, Gerhard, Dr., geb. 1941, Professor für Politische Wissenschaft, Abteilung Politische Wissenschaft und Politische Bildung im Seminar für Sachunterricht und Politik, Fachbereich für Geistes- und Erziehungswissenschaften der Technischen Universität Braunschweig ausgewählte Veröffentlichungen: – Demokratie-Lernen als Lebens-, Gesellschafts- und Herrschaftsform. Schwalbach/Ts. 2001 – Direkte Demokratie lernen oder Demokratie direkt lernen? Ein Beitrag der Didaktik der Politischen Bildung (i.E.) – Was bedeutet der Staat für den Bürger und der Bürger für den Staat? In: Politische Bildung, Jg. 34/2001, H. 3. Schwalbach/Ts. Holzbrecher, Alfred, Dr., geb. 1950, Professor an der PH Freiburg, Institut für Erziehungswissenschaft ausgewählte Veröffentlichungen: – Subjektorientierte Didaktik. Lernen als Suchprozess und Arbeit an Widerständen. In: H.G. Holtappels/M. Horstkemper (Hrsg.): Neue Wege in der Didaktik, Die Deutsche Schule, 5. Beiheft 1999, S. 169-185 – Vielfalt als Herausforderung. In: ders. (Hrsg.): Dem Fremden auf der Spur. Interkulturelles Lernen im Pädagogikunterricht. Baltmannsweiler 1999 – Aneignung des Politischen. Subjektentwicklung durch Kompetenzerfahrung. In: A.H./ Landeszentrale für politische Bildung Rheinland-Pfalz (Hrsg.): Einmischen! Subjektorientierung als didaktisches Prinzip (Multiplikatorenpaket). Schwalbach/Ts. 2002 Hoppe, Heidrun, Dr., geb. 1945, Professorin für Soziologie am Institut für Soziologie der Universität Essen ausgewählte Veröffentlichungen: – Geschlechterdemokratie als Perspektive Politischer Bildung. In: Politisches Lernen 1-2/ 2000
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– Geschlechterperspektiven in der Fachdidaktik (gemeinsam hrsg. mit Marita Kampshoff und Elke Nyssen). Weinheim/Basel 2001 – „Und da dachte ich: Promovieren, das wär’s!“ Erfahrungen von Frauen mit der Promotion. In: Marita Kampshoff/Beatrix Lumer (Hrsg.): Chancengleichheit im Bildungswesen. Opladen 2002 Leps, Horst, geb. 1948, Oberstudienrat am Gymnasium Ohlstedt (Hamburg) und z.Zt. Lehrbeauftragter für die Didaktik der Sozialwissenschaften am Fachbereich Erziehungswissenschaft der Universität Hamburg ausgewählte Veröffentlichung: – Arbeit an Lehrstücken im Politikunterricht: http://www.leps.de/lehrstueck Lingkost, Angelika, Dipl. Päd., geb. 1948, Mitarbeiterin am Cornelia-Goethe Centrum für Frauenstudien und die Erforschung der Geschlechterverhältnisse an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt/M. ausgewählte Veröffentlichungen: – Schulkultur und Schulmythos. Rekonstruktionen zur Schulkultur 1 (gemeinsam hrsg. mit W. Helsper, J. Böhme und R.T. Kramer). Opladen 2001 – Partizipation und pädagogische Professionalität – Pädagogische Deutungsmuster von Lehrern und die Bedeutsamkeit der Biographie (zus. mit G. Meister). In: Böhme, J./ Kramer, R.T. (Hrsg.): Partizipation in der Schule. Opladen 2001, S. 123-153 Möller, Kurt, Dr., geb. 1954, Professor an der Fachhochschule für Sozialpädagogik Esslingen im Fachbereich Sozialwesen, Privatdozent an der Fakultät für Pädagogik der Universität Bielefeld; zahlreiche Veröffentlichung zur Jugend-, Gewalt-, Rechtsextremismus- und Männerforschung ausgewählte Veröffentlichungen: – Rechte Kids. Eine Langzeitstudie über Auf- und Abbau rechtsextremistischer Orientierungen bei 13- bis 15jährigen. Weinheim/München 2000 – Zur Grundlegung geschlechtsreflektierender Ansätze sozialer und pädagogischer Arbeit zur Prävention von Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit bei Jugendlichen. In: Projekt: Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit – Jugendpolitische und pädagogische Herausforderungen (Hrsg.): Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit? Aufgaben und Grenzen der Jugendhilfe. Leipzig 2000, S. 59-76 – Coole Hauer und brave Engelein. Gewaltakzeptanz und Gewaltdistanzierung im Verlauf des frühen Jugendalters. Opladen 2001 Müller, Burkhard, Dr., geb. 1939, Professor für Sozialpädagogik an der Universität Hildesheim
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ausgewählte Veröffentlichungen: – Was will denn die jüngere Generation mit der älteren? In: Liebau, Eckart/ Wulf, Christoph (Hrsg.): Generation. Weinheim 1996, S. 304-332 – Auf’m Land ist mehr los. Jugendpflege in Kleinstädten und ländlichen Gemeinden. Weinheim/München 1989 – Jugendarbeit als intergenerationaler Bezug. In: King, Vera/Müller, Burkhard (Hrsg.): Adoleszenz und pädagogische Praxis. Freiburg i.B. 2000, S. 119-142 Oechsle Mechtild, Dr., geb. 1951, Professorin für Sozialwissenschaften mit dem Schwerpunkt Berufsorientierung und Arbeitswelt unter besonderer Berücksichtigung der Geschlechterverhältnisse an der Universität Bielefeld, Zentrum für Lehrerbildung/Fakultät für Soziologie ausgewählte Veröffentlichungen: – Politische Bildung und Geschlechterverhältnis (gemeinsam hrsg. mit Karin Wetterau. Opladen 2000 – Gleichheit mit Hindernissen, Expertise für das Bundesmodell „Mädchen in der Jugendhilfe“. Berlin (SPI) 2000 – Die ungleiche Gleichheit. Junge Frauen und der Wandel im Geschlechterverhältnis (gemeinsam hrsg. mit Birgit Geissler). Opladen 1998 Prengel, Annedore, Dr., geb. 1944, Professorin für Erziehungswissenschaft/Grundschulpädagogik an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Fachbereich Erziehungswissenschaften ausgewählte Veröffentlichungen: – Pädagogik der Vielfalt. Verschiedenheit und Gleichberechtigung in Interkultureller Feministischer und Integrativer Pädagogik, 1993, 2. Auflage, Opladen 1995 – Vielfalt durch gute Ordnung im Anfangsunterricht. Opladen 1999 – Handbuch qualitativer Forschungsmethoden in der Erziehungswissenschaft (gemeinsam hrsg. mit Barbara Friebertshäuser). Weinheim/München 1997 Reinhardt, Sibylle, Dr., geb. 1941, Professorin für Didaktik der Sozialkunde an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Institut für Politikwissenschaft ausgewählte Veröffentlichungen: – Didaktik der Sozialwissenschaften. Gymnasiale Oberstufe. Opladen1997 – Werte-Bildung und politische Bildung. Zur Reflexivität von Lernprozessen. Opladen 1999 – Politische Orientierungen Jugendlicher. Ergebnisse und Interpretationen der SachsenAnhalt-Studie „Jugend und Demokratie“ (zus. mit F. Tillmann). In: Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zur Wochenzeitung „Das Parlament“ B 45/2001, S. 3-13
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Ritsert, Jürgen, Dr., geb. 1935, em. Professor für Soziologie an der Johann- WolfgangGoethe-Universität Frankfurt/M., Institut für Methodologie, Fachbereich Gesellschaftswissenschaften ausgewählte Veröffentlichungen: – Ideologie, Theoreme und Probleme der Wissenssoziologie, Reihe: „Einstiege“. Münster 2002 – Soziologie des Individuums. Darmstadt 2001 – Gesellschaft. Ein unergründlicher Grundbegriff der Soziologie. Frankfurt/M./New York 2000 Scherr, Albert, Dr., geb. 1958, Professor für Soziologie und Jugendarbeit an der Fachhochschule Darmstadt, Fachbereich Sozialpädagogik, Privatdozent am Institut für Soziologie der Universität Karlsruhe ausgewählte Veröffentlichungen: – Subjektorientierte Jugendarbeit. Weinheim/München 1997 – Soziologie der Sozialen Arbeit. Weinheim/München 2000 – Pädagogische Interventionen gegen Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus. Schwalbach/Ts. 2001
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Ionna Zacharaki, Thomas Eppenstein, Michael Krummacher (Hrsg.)
Praxishandbuch Interkulturelle Kompetenz Vermitteln, vertiefen, umsetzen Im Einwanderungsland Deutschland bedarf es zunehmend professioneller interkultureller Kompetenzen. Das Praxishandbuch versammelt erstens Fachbeiträge von Autorinnen und Autoren unterschiedlicher Wissenschaftsdisziplinen und zweitens in der Umsetzung erprobte Zertifikatskurse: Basisqualifikation Interkulturelle Kompetenz für Soziale Berufe“ auf. Das Buch besticht durch den interdisziplinären Bezug der Fachbeiträge sowie durch die Dokumenta-
ISBN 978-3-95414014-5, 172 S., ¤ 19,80
tion von in der Praxis erprobten und für die Praxis sozialer Arbeit sofort anwendbaren Umsetzungsbeispielen. Unter Mitarbeit von: Thomas Eppenstein, Nikolaus Immer, Dorothee Kahm, Michael Krummacher, Peter Kücking, Roderich Kulbach, Holger Langenkamp, Wolfgang Maaser, Hildegard Mogge-Grotjahn, Cièdem Özgüzel, Lea Reinecke, Matthias Schnath, Martin Steinkampf, Susanne Stolle, Ioanna Zacharaki.
Ioanna Zacharaki Germanistin, Soziologin, M.A., Migrationsreferat des Diakonischen Werkes der Ev. Kirche im Rheinland/Düsseldorf. Thomas Eppenstein Dr., Professor für Pädagogik/Erziehungswissenschaft und Theorien der Sozialen Arbeit an der Ev. Fachhochschule RWL. Michael Krummacher Dr., Professor für Politikwissenschaft/Sozialpolitik an der Ev. Fachhochschule RWL.
Adolf-Damaschke-Str. 10, 65824 Schwalbach/Ts. Tel.: 06196/86065, Fax: 06196/86060 [email protected] www.debus-paedagogik.de
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