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German Pages [327] Year 2017
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LEBENSWISSENSCHAFTEN IM DIALOG
A
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Der Begriff des Organismus steht am Anfang der Biologie und ist ein Kennwort dieser Disziplin. In ihr werden Lebewesen als Organismen beschrieben und von den nicht-belebten Körpern abgegrenzt. In historischer Perspektive hat der Organismusbegriff damit das antike Prinzip der Lebendigkeit, die Seele, abgelöst. Betont wird mit dem neuen Begriff die Entstehung der Lebensfunktionen aus der Interaktion aller Systemkomponenten – und nicht als Ergebnis einer zentralen Steuerung. Gegenwärtig, am Ende der genzentrierten Paradigmen und mit dem korrespondierenden Aufstieg der Systembiologie und synthetischen Biologie, erlebt der Begriff eine neue Konjunktur. Diese führt auch dazu, dass er verstärkt in andere Disziplinen ausstrahlt.
Die Herausgeber: PD Dr. Georg Toepfer, Biologe und Philosoph, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Berliner Zentrum für Literatur- und Kulturforschung. Sein Arbeitsschwerpunkt ist die Philosophie der Biologie, zurzeit insbesondere das Verhältnis der Biologie zu den Geistes- und Kulturwissenschaften. Dr. Francesca Michelini ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bereich Theoretische Philosophie und Mitglied des LOEWE Schwerpunkts »Tier - Mensch - Gesellschaft« an der Universität Kassel. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Philosophie der Biowissenschaften, Philosophische Anthropologie und Deutsche Klassische Philosophie.
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Georg Toepfer / Francesca Michelini (Hg.)
Organismus
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Lebenswissenschaften im Dialog Herausgegeben von Kristian Köchy und Stefan Majetschak Band 22
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Georg Toepfer Francesca Michelini (Hg.)
Organismus Die Erklärung der Lebendigkeit
Verlag Karl Alber Freiburg / München
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Gedruckt mit Mitteln, die die Deutsche Forschungsgemeinschaft dem Sonderforschungsbereich 644 Transformationen der Antike zur Verfügung gestellt hat.
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Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2016 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz: Frank Hermenau, Kassel Einbandgestaltung: Ines Franckenberg Kommunikations-Design, Hamburg Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany
ISBN: 978-3-495-48747-1 E-ISBN: 978-3-495-81747-6
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Inhalt
Georg Toepfer Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Martin F. Meyer Organ und Organismus in der aristotelischen Biologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 Gottfried Heinemann Sôma organikon. Zum ontologischen Sinn des Werkzeugvergleichs bei Aristoteles . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 Hans Werner Ingensiep Gibt es ein „Leben“ zwischen der Materie und Gott? Frühe kantianische Begriffe von „Leben“ und „Organismus“ und aktuelle Transformationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 Tobias Cheung Der Organismus-Begriff und die Innen-AußenweltProblematik um 1800: Brown, Hufeland und Treviranus . . . . . . 111 Ernst Müller Organ, Organismus, Organisation bei Friedrich Schleiermacher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 Stefano Poggi Bild und Abstraktion. Zwischen Ästhetik und Biologie in Deutschland, 1880–1930 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 Kristian Köchy Organismen und Maschinen. Das historische Fallbeispiel der Debatte von Plessner, Driesch und Köhler . . . . . . . . . . . . . . . . 163
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Inhalt
Mathias Gutmann Individuen in der Biologie? Einige methodologische Reflexionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 Marianne Schark Der Organismusbegriff, der Lebewesenbegriff und die Frage der Naturalisierbarkeit des Funktionsbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . 213 Ulrich Krohs Der Organismusbegriff als epistemisches Werkzeug . . . . . . . . . . 237 John Dupré und Maureen A. O’Malley Varianten des Lebendigen. Leben am Schnittpunkt von Stammlinie und Metabolismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 Olaf Breidbach Die Bedeutung des Organismusbegriffs in der rezenten Biologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323
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Georg Toepfer
Einleitung
Der deutsch-irische Literaturwissenschaftler John Hennig hat das Wort ‚organisch‘ als ein Zauberwort bezeichnet.1 Das war 1968, am Anfang der Ökologiebewegung, zu einer Zeit als es bereits organic farming und organic food gab und auch in Deutschland erste landwirtschaftliche Betriebe auf die so genannte „organisch-biologische Wirtschaftsweise“ umzustellen begannen. Für Hennig drückt sich in dem Wort die Verbundenheit alles Lebendigen aus; es verweise auf die Lebensphilosophie und romantische Naturphilosophie. Seiner positiven Aura als einem eindeutigen „Pluswort“ könne sich keiner entziehen; die Gegner des Organischen wären nicht nur Klassen- sondern auch Lebensfeinde. Gleiches lässt sich wohl auch von ‚Organismus‘ sagen. Es ist ebenfalls ein attraktives Wort mit einer großen Strahlkraft innerhalb einer Wissenschaft, der Biologie, und über diese hinaus in andere Bereiche, etwa in die Ästhetik, Sprach- und Sozialwissenschaften (vgl. dazu die in diesem Band vorliegenden Beiträge von Ernst Müller über ‚Organ‘, ‚Organismus‘ und ‚Organisation‘ bei Friedrich Schleiermacher und von Stefano Poggi über den Organismusbegriff in der Ästhetik um 1900). Als ein „Zauberwort“ kann ‚Organismus‘ vor allem deshalb verstanden werden, weil es in sehr verschiedene Kontexte eingebettet wurde und damit Heterogenes zu verbinden vermochte. Geprägt wurde es am Ende des 17. Jahrhunderts in einer Zeit der Dominanz mechanistischen Denkens. Der Ausdruck etablierte sich dementsprechend in den mechanistischen Theorien der Physiologie des 18. Jahrhunderts und versprach es, die kausale Erforschung der Lebenserscheinungen durch die Analyse der körperlichen Struktur und Interaktion der Teile von Lebewesen zu ermöglichen. Gleichzeitig bewahrte das Wort aber eine Opposi1
J. Hennig, „Organisch“, in: Sprache im technischen Zeitalter 28/1968, S. 376383, hier S. 376.
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tionsstellung zum rein Mechanischen und bloß Maschinenhaften. Von Anfang an konnte es daher auch von vitalistisch gesinnten Naturforschern, wie dem Hallenser Arzt Georg Ernst Stahl, der das Wort überhaupt 1684 als Erster gebrauchte2, verwendet werden. Neben der auf die Teile verweisenden, zergliedernden, analytischen Betrachtung hielt sich in dem Begriff eine holistische Perspektive: Organismen sind, mit einem Wort des Kybernetikers Horst Mittelstaedt3, Wirkungsgefüge, in denen die Systemfunktionen nicht aus einzelnen Teilen, sondern nur aus dem Zusammenwirken der Teile verständlich werden. Um diese Wechselseitigkeit der Teile und die Ganzheitlichkeit des Systems darzustellen, wurde ein Organismus häufig mit einem Kreislauf verglichen oder selbst als Kreislauf definiert, so beispielsweise 1803 durch einen in Vergessenheit geratenen Naturphilosophen: „Organismus ist ein bestehender Kreis von Wechselwirkungen“.4 Neben und vor aller Theorie hat ‚Organismus‘ aber an der Zauberhaftigkeit von ‚Leben‘ teil, weil das Wort eine feste semantische Kopplung an das lebensweltlich vertraute ‚Lebewesen‘ hat. Dieses Wort ‚Lebewesen‘ wiederum kann aufgrund seiner Verbindung zu konkreten Gegenständen der unmittelbaren Erfahrung als ein typisches Beispiel für einen „abbildenden Begriff“ gelten. Die Biologie als eine Wissenschaft mit großen deskriptiven Anteilen enthält viele derartige Wörter.5 Diese Ausdrücke – andere Beispiele sind ‚Individuum‘, ‚Pflanze‘, ‚Tier‘ oder das Kontinuum ‚gesund-krank‘ – beziehen ihre Präzision aus der festen Bindung an die unmittelbare Anschauung. Auch wenn das Wort häufig als wissenschaftliches Äquivalent für ‚Lebewesen‘ fungiert, ist ‚Organismus‘ im Unterschied zu ‚Lebewesen‘ aber doch kein abbildender Begriff (zur Differenz von ‚Lebewesen‘ und ‚Organismus‘ vgl. auch den Beitrag von Marianne Schark in diesem Band). Dass Lebewesen Organismen sind, also über einen gegliederten Körper mit einer Vielzahl von Teilen verfügen, aus deren Interaktion die sie als Lebewesen definierenden Ver2
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Vgl. T. Cheung, „From the organism of a body to the body of an organism: occurrence and meaning of the word ‚organism‘ from the seventeenth to the nineteenth centuries“, in: British Journal for the History of Science 39/2006, S. 319-339. H. Mittelstaedt, „Regelung in der Biologie“, in: Regelungstechnik 2/1954, S. 177181, hier S. 179 f. J. J. Wagner, Von der Natur der Dinge, Leipzig 1803, S. 472 (§ 474). Vgl. B. Hassenstein, „Abbildende Begriffe“, in: Verhandlungen der Deutschen Zoologischen Gesellschaft 1954, S. 197-202.
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mögen – wie Ernährung, Wachstum und Fortpflanzung – entstehen, ist ihnen nicht unmittelbar anzusehen. Es stellte eine wissenschaftliche Hypothese dar, die Leistungen von Lebewesen nicht aus einem zentralen Prinzip, einer Lebenskraft, zu erklären, sondern aus der dezentralen Verteilung von Wirkungen und Wechselwirkungen über den ganzen organischen Körper. Die Ursprünge dieser Hypothese liegen in der Antike, bei Aristoteles, dem Begründer der Wissenschaft der Biologie (vgl. dazu die Beiträge von Martin Meyer und Gottfried Heinemann in diesem Band). Der Organismusbegriff ist die verdichtete Form dieser Hypothese; er ist also mit einer bestimmten Perspektive auf die Verursachung der Lebensphänomene verbunden. ‚Organismus‘ ist damit ein theoretischer Begriff, eingebettet in eine Theorie oder eine Modellierung von Lebewesen. In dieser theoretischen Funktion, in der Rolle des Organismusbegriffs als ein starkes „epistemisches Werkzeug“ (Ulrich Krohs in diesem Band), dient er als ein bestimmter wegweisender Ansatzpunkt für Theorien über das Leben, ohne selbst schon eine solche Theorie zu liefern. Denn zugleich kann der Ausdruck, und das ist seine in der Biologie am weitesten verbreitete Rolle, quasi deskriptiv als sortaler Terminus verwendet werden, einfach zur Bezeichnung von Lebewesen. Diese Bindung an das konkret Lebendige, wie es uns auch lebensweltlich als die Vielzahl von ganzheitlich verfassten, für sich tätigen Individuen begegnet, ist auch der Grund dafür, warum der Begriff weniger zwischen den Disziplinen wandert als andere biologische Grundbegriffe, die abstraktere Verhältnisse bezeichnen, wie etwa ‚Umwelt‘, ‚Entwicklung‘, ‚Evolution‘, ‚Regulation‘ oder ‚Organisation‘. Im Gegensatz zu diesen in vielen Disziplinen gleichermaßen beheimateten Begriffen ist ‚Organismus‘ ein vornehmlich in nur einer Wissenschaft verankertes Konzept. Ihm kommt sogar geradezu der Status eines Kennworts der Biologie zu, das zugleich deren Gegenstand definiert und im Ansatz eine theoretische Perspektive auf ihn verdeutlicht. Die enge Kopplung des Begriffs an das lebensweltliche (und biografisch-selbstreferenzielle) Äquivalent ‚Lebewesen‘ bedingt es aber auch, dass ‚Organismus‘ nicht als ein kalter technischer Terminus einer wissenschaftlichen Disziplin erscheint, sondern vielmehr als ein warmer Begriff, in deutlichem Kontrast zu engen etymologischen Verwandten, wie der kalten ‚Organisation‘, die viel stärker auf Technisches, Konstruiertes und Zwanghaftes verweist.6 6
Vgl. E. Jünger, Der Weltstaat. Organismus und Organisation (1960), in: Sämt liche Werke, Bd. 7, Stuttgart 1980, S. 481-526.
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Die Funktion des Organismusbegriffs als ein Modell des Gegenstandes bedingt es, dass der Begriff mit einem erklärenden Anspruch verbunden ist und damit nicht zu den rein phänomenal beschreibenden Kategorien der Biologie – wie ‚Ernährung‘, ‚Wachstum‘, ‚Fortpflanzung‘, ‚Wahrnehmung‘ oder ‚Bewegung‘ – gehört, die über eine bis in die Antike zurückreichende Begriffstradition verfügen.7 Der Organismusbegriff ist demgegenüber, sowohl als Wort als auch als Konzept, jüngeren Datums. An ihm kann sogar der deutlichste Bruch mit der antiken Tradition der Biologie und Medizin festgemacht werden: die Ablösung der antiken Seelenbegrifflichkeit, über die die Lebensphänomene erklärt wurden, durch mechanistische und organismische Ansätze in der Frühen Neuzeit. Im Zuge dieses Prozesses erfolgte eine weitgehende Gleichsetzung von Lebendigkeit und Organisiertheit. Sie findet sich seit Mitte des 18. Jahrhunderts bei vielen Autoren ausdrücklich benannt, bei Biologen wie Buffon und Linné ebenso wie bei Diderot, Voltaire, Kant und seinen philosophischen Nachfolgern im 19. Jahrhundert (prägnant formuliert Voltaire 1772: „La vie est organisation avec capacité de sentir“8). Was mit der Kennzeichnung eines Körpers als ‚Organisation‘ gemeint ist, bleibt häufig etwas unscharf. Der Begriff bezeichnet vielfach nicht mehr als die spezifische Anordnung der Teile in einem Ganzen („arrangement des parties“, wie es 1765 in der Encyclopédie heißt9). Im Rahmen des mechanistischen Paradigmas der Physiologie in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts wird auch die Interaktion der Teile als ein Aspekt der Organisation des Systems angesehen. Der Physiologe Herman Boerhaave wählt dabei eine für die spätere Entwicklung richtungsweisende Formulierung, indem er die wech selseitige Abhängigkeit der Teile als das wesentliche Charakteristikum eines „organischen Körpers“ ansieht („Erat corpus Organicum ex diversis planè partibus compositum [...] & sic harum partium actiones ab invicem dependent”10). Am Ende des Jahrhunderts verbindet Immanuel Kant diese kausale Interdependenz (in der Erzeugung 7
Vgl. G. Toepfer, „Transformationen der Lebendigkeit – Kontinuitäten und Brüche in biologischen Grundkonzepten seit der Antike“, in: G. Toepfer, H. Böhme (Hrsg.), Transformationen antiker Wissenschaften, Berlin 2010, S. 313-329. 8 Voltaire, „Vie“, in: Questions sur l’encyclopédie, Bd. 9, London 1772, S. 55-58, hier S. 55. 9 Anonymus, „Organisation“, in: Encyclopédie, Bd. 11, Paris 1765, S. 629. 10 H. Boerhaave, Historia plantarum, Rom 1727, S. 3; vgl. G. Toepfer, „Kant’s teleology, the concept of the organism, and the context of contemporary biology“, in: D. Perler, S. Schmid (Hrsg.), Final Causes and Teleological Explanations,
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und Erhaltung) der Teile mit dem erkenntnistheoretischen Modus der teleologischen Reflexion, in dem uns die „organisierten Wesen“ der Natur in ihrer funktionalen Einheit allein gegeben seien. Seit Kant ist es üblich, ‚Organismus‘ in diesem Sinne zu verstehen, als ganzheitliches Gefüge wechselseitig voneinander abhängiger Teile (vgl. den Beitrag von Hans Werner Ingensiep in diesem Band). An der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert, der für die Etablierung der Biologie als eigenständiger Wissenschaft entscheidenden Phase, erweist sich ‚Organismus‘ als ein höchst integratives Konzept. Es vermag nicht nur, die zuvor in der „Naturgeschichte“ differenziert und pluralistisch behandelten Lebensformen der Tiere, Pflanzen und Einzeller auf einen (mit Erklärungsanspruch auftretenden) Begriff zu bringen, sondern leistet gleichzeitig auch eine Dynamisierung der materiellen Grundlage ihrer Verfasstheit. Deutlicher Ausdruck davon ist es, dass die Organismen selbst als autonom und tätig entworfen werden können; die kausale Wechselseitigkeit ihrer dynamisch gedachten Teile wird selbst als Ursache der lebendigen Kräfte konzipiert, der Kräfte also, die ihre Lebensäußerungen bedingen. Überwunden wird damit die Opposition von Organisation und Lebenskraft, die noch bis in die letzten Jahrzehnte des 18. Jahrhunderts hinein die Potenz des Organisationsbegriffs begrenzte: Aus einer „Organisation“, also einer „harmonischen Zusammensetzung“, könne keine „ursprüngliche Veränderung“ und keine „Kraft“ entstehen, kritisierte beispielsweise einer der Pro tagonisten der Lebenskraftlehren, Friedrich Casimir Medicus, 1774 die Versuche, Lebendigkeit auf Organisiertheit zurückzuführen: „Die Organisation giebt […] dem Körper keine Kraft“.11 Diese Vorstellung änderte sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts deutlich. ‚Organismus‘ wurde zum Inbegriff einer sich selbst organisierenden, kraftbegabten und aus sich selbst heraus tätigen Einheit. Sie wurde modelliert nach dem Vorbild des erkenntnistheoretischen, erkenntniskonstitutiven Subjekts (und von den Klassikern des Deutschen Idealismus auch so benannt, der „Organismus als Subject“, heißt es 1799 bei Schelling12). Eine formelhafte, die EntPaderborn: Mentis 2011 (= Logical Analysis and History of Philosophy, vol. 14), S. 107-124. 11 F. C. Medicus, Von der Lebenskraft, Mannheim 1774, S. 6; vgl. H. Thüring, Das neue Leben. Studien zu Literatur und Biopolitik 1750–1938, Paderborn 2012, S. 351 ff. 12 F. W. J. Schelling, Erster Entwurf eines Systems der Naturphilosophie für Vor lesungen (1799), in: Historisch-Kritische Ausgabe, Bd. I, 7, Stuttgart 2001, S. 172 f.
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wicklung zur Autonomie auf den Punkt bringende Definition liefert Lorenz Oken 1810 in seinem Lehrbuch der Naturphilosophie: „Ein individualer, totaler, in sich geschlossener, durch sich selbst erregter und bewegter Körper, heißt Organismus“.13 Parallel zu ‚Organismus‘ kamen an der Wende zum 19. Jahrhundert eine ganze Reihe weiterer Begriffe auf, die sich auf ähnlicher Abstraktionsstufe befanden, und die bis in die Gegenwart zum begrifflichen Grundgerüst der Biologie gehören. Darunter befinden sich neu geprägte Termini wie ‚Umwelt‘ oder ‚Anpassung‘ und aus anderen Feldern in die Biologie übernommene Ausdrücke wie ‚Entwicklung‘, ‚Evolution‘ oder ‚Regulation‘. Die Einführung dieser Begriffe zog auch Veränderungen der theoretischen Position des Organismusbegriffs nach sich. So hatte die steigende Bedeutung des Umweltbegriffs zur Konsequenz, dass ein Organismus immer weniger als selbstgenügsame Einheit entworfen werden konnte (zur Innen-Außenwelt-Problematik um 1800 vgl. auch den Beitrag von Tobias Cheung in diesem Band). Bereits die erste Verwendung des Umweltbegriffs im philosophischen Kontext durch den Göttinger Gelehrten Wilhelm Kern im Jahre 1802 (die bisher noch überhaupt keine Würdigung erfahren hat) weist in diese Richtung: Kern stellt fest, dass das einzelne Subjekt erst zusammen mit der „Aussenwelt um uns (Menschen, Thiere und alle Naturdinge)“ ein Ganzes bilde; jeder Mensch existiere nur durch die Umwelt.14 In Folge dieser Sicht wurde auch die Kategorie, mit der die Einheit eines Organismus begründet wurde, die ‚Wechselwirkung‘ (oder bei Kant: die ‚Wechselseitigkeit‘), auf das Organismus-Umwelt-Verhältnis bezogen. Es etablierte sich die Konzeption, den Organismus nicht für das Ganze des Lebens zu halten, sondern nur für einen seiner Teile: Hermann Lotze schreibt 1856, es bilde der „thierische Organismus“ „keinen abgeschlossenen Kreislauf der Verrichtungen“ und sei daher, „nichts als die eine Hälfte eines Ganzen, unfähig zu leben ohne die andere, die Außenwelt und die Seele“.15 Als Grund für die Einheit von Organismus und Umwelt wird dabei die Abhängigkeit des Organismus von der Umwelt angegeben. Das Verhältnis der beiden wird ausdrücklich als eine Wech13 L. Oken, Lehrbuch der Naturphilosophie, Bd. 2, Jena 1810, S. 10 (Nr. 817). 14 W. Kern, Programma zur Philosophie, Göttingen 1802, S. 8-11; vgl. www.bio logical-concepts.com: s.v. ‚Umwelt‘. 15 H. Lotze, Mikrokosmos. Ideen zur Naturgeschichte und Geschichte der Mensch heit, Bd. 1, Leipzg 1856, S. 148.
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selseitigkeit oder Reziprozität beschrieben, so 1884 von John Scott Haldane „a living organism and its surroundings must be regarded as a system of parts reciprocally determining one another“16. Eine zweite Entwicklung des 19. Jahrhunderts, die in Richtung einer Auflösung oder zumindest theoretischen Herabstufung des Organismusbegriffs wirkte, ergab sich aus der Etablierung der Evolutionstheorie. Charles Darwin kommt für seine Theorie mit einem einfachen Verständnis des Organismusbegriffs aus: Ein Organismus wird verstanden als ein Körper, der von Gesetzen der Fortpflanzung und Vererbung bestimmt wird und einer erblichen Variation unterliegt. Der von Darwin beschriebene Mechanismus der natürlichen Selektion zielt auf eine Erklärung der Anpassung der Merkmale von Organismen an Bedingungen der Umwelt ausgehend von dem Beitrag der Merkmale für das Überleben und die Fortpflanzung ihrer Träger in der Vergangenheit. Insofern dabei nicht der Organismus in seiner Ganzheit und Einheit im Blickpunkt steht, sondern vielmehr nur seine einzelnen Merkmale, kennzeichnet eine atomisierende Perspektive den evolutionstheoretischen Ansatz. Aus der Sicht der Evolutionstheorie erscheinen die Organismen also nicht primär als Akteure, sondern vielmehr als passives Material, das aufgrund von ihnen äußerlichen Mechanismen verändert wird (ElHani & Emmeche 2000: „The organism becomes a passive meeting point of forces alien to the very organism“17). Sie gelten als bloße Zwischenstationen oder Durchgangspunkte eines generationenübergreifenden Prozesses, der eigentlich das Leben ausmache. Zu einer stärkeren Integration des Organismusbegriffs in die Evolutionstheorie – und umgekehrt der Evolutionsvorstellung in den Organismusbegriff – kommt es erst im Rahmen der neueren Perspektive der Evolutionären Entwicklungsbiologie („Evo-Devo“) am Ende des 20. Jahrhunderts. In ihr werden Evolutionsmodelle ausgehend von dem Organismus als Entwicklungseinheit konzipiert. Ursprung und Richtung des evolutionären Entwicklungspotenzials eines Organismus liegen nach dieser Sicht wesentlich in ihm selbst, und erst in zweiter Linie in seiner Umwelt. Diese dynamische Perspektive auf Organismen durch ihre evolutionäre Entstehung zieht auch ein flexibleres Bild von der Einheit und den Grenzen eines 16 J. S. Haldane, „Life and mechanism“, in: Mind 9/1884, S. 27-47, hier S. 34. 17 C. N. El-Hani, C. Emmeche, „On some theoretical grounds for an organismcentered biology: property emergence, supervenience, and downward causation“, in: Theory in Biosciences 119/2000, S. 234-275, hier S. 235.
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Organismus nach sich. Verhältnisse der Kooperation und Konkurrenz auf allen Ebene der biologischen Organisation – von den Genen über die Zellen, Zellverbände und Organismen bis hin zu den ökologischen Gemeinschaften und Ökosystemen – bedingen es, dass innerhalb einer Art auf verschiedenen Ebenen organismische Einheiten abgegrenzt werden können. Besonders deutlich ist das Vorhandensein von konkurrierenden Ebenen der Organismizität bei den hochsozialen Insekten. Weil bei ihnen sterile Kasten ausgebildet sind, kann ein einzelnes sich nicht-reproduzierendes Insekt seine eigene Fitness allein über die Fitness der Gruppe maximieren. Diese Gruppe, die gesamte Kolonie einer Art von Ameisen, Bienen oder Termiten, wird damit zu einer neuen Selektionseinheit. Es kann dafür argumentiert werden, die Kolonien solcher Insekten nicht als ‚Superorganismen‘, sondern selbst als ‚Organismen‘ im eigentlichen Sinne zu bezeichnen, weil sie ein hoch integriertes System darstellen, in dem der Konflikt unter den Mitgliedern stark reduziert ist. Denn ein Organismus kann allgemein verstanden werden als ein (reproduktionsfähiges) organisiertes System, in dem alle Teile auf die Kooperation mit den anderen Teilen selektiert wurden und Konflikte unter den Teilen unterdrückt sind.18 In den Staaten der sozialen Insekten wäre die dominante Organismusebene also die der Kolonie. Deren Teile, die einzelnen Insekten, wären demgegenüber bloße Organe dieser Organismen, weil zwischen ihnen eine umfassende Kooperation, aber nur geringe Konkurrenz zu finden ist. In dieser Argumentation erfolgt die Auszeichnung der Ebene des Organismus auf selektionstheoretischer Grundlage: Ein Organismus ist eine Einheit auf derjenigen Ebene der Selektion, auf der die Konkurrenz unter den replikationsfähigen Teilen der Einheiten dieser Ebene, wie beispielsweise der Zellen und Gene eines Individuums oder der Insekten einer Kolonie, minimal ist, die Konkurrenz zu anderen Entitäten auf dieser Ebene, z. B. anderen Kolonien der gleichen Art, aber maximal. Aus der Überlagerung von Selektionsprozessen auf verschiedenen Ebenen der biologischen Organisation ergibt sich damit auch, dass der Organismusbegriff in der evolutionären Perspektive eine Graduierung erfährt: Innerhalb einer Art können verschiedene Organisationsstufen mit unterschiedlichem Organismizitätsgrad nebeneinander existieren. 18 D. C. Queller, J. E. Strassmann, „Beyond society: the evolution of organismality“, in: Philosophical Transactions of the Royal Society of London Series B 364/2009, S. 3143-3155.
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Und die für Organismizität grundlegende (vor allem metabolische) Kooperation besteht schließlich auch zwischen nicht näher miteinander verwandten Einheiten, die aus getrennten Stammeslinien hervorgegangen sind, wie die Komponenten der eukaryoten Zelle oder unsere Körper im Verbund mit den vielen symbiontischen Lebewesen in ihnen (vgl. dazu den Beitrag von John Dupré und Maureen O’Malley in diesem Band). Es gehört damit zum integrativen Potenzial des Organismusbegriffs, auch die selektionstheoretische Perspektive in sich aufnehmen zu können. Das Zusammenwirken, die Synergie und wechselseitige Abhängigkeit der Teile in einem Organismus haben selbst eine Evolutionsgeschichte. Die organismische Ganzheitlichkeit und Harmonie ist entstanden in einem Kontext von sich überlagernden Schichten der Konkurrenz und Kooperation. Erklärungen dieser Struktur müssen sowohl reduktionistische Aspekte enthalten, die von der Dynamik der interagierenden Elemente ausgehen, als auch holistische, die die Kooperation und wachsende Interdependenz der Teile mit der aus ihr folgenden Entstehung neuer Individualitätsstufen im Blick hat. Offen ist dabei aber noch, mit welchem begrifflichen Werkzeug diese Verhältnisse am besten beschrieben werden, ob es sich dabei um naturwissenschaftliche oder naturphilosophische Kategorien handelt, ob die Entwicklung spezifisch für das Lebendige ist oder ob im Bereich des Anorganischen die Bildung ähnlicher ganzheitlicher Gefüge durch Interdependenzen von Prozessen zu beobachten ist. Aktuell werden damit auch wieder die Diskussionen, die seit den 1920er Jahren über die organischen Ganzheiten und anorganischen Gestalten geführt wurden (für die in diesem Zusammenhang erhellende Debatte zwischen Driesch, Köhler und Plessner vgl. den Beitrag von Kristian Köchy in diesem Band). Darüber hinaus stellt sich dann die Frage, in welchen Kontexten und durch welche wissenschaftlichen Praktiken und Verfahren der Beschreibung von Lebewesen die Bestimmung von Einheiten als Organismen relevant wird (für Überlegungen zu den methodischen Anfängen im Rahmen von lebensweltlichen Praktiken des Umgehens mit Lebewesen vgl. den Beitrag von Mathias Gutmann). Zweifellos erfährt der Organismusbegriff gegenwärtig, am Ende der genzentrierten Paradigmen und am Anfang des korrespondierenden Aufstiegs der Systembiologie und Synthetischen Biologie, eine besondere Konjunktur. Auch in der jüngeren Vergangenheit erschienene philosophische Reflexionen auf das Konzept und Behttps://doi.org/10.5771/9783495817476 .
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mühungen um seine historische Rekonstruktion legen davon Zeugnis ab.19 Es ist daher sicher nicht übertrieben, von einer „Wiederentdeckung des Organismus in der Biologie des 21. Jahrhunderts“ zu sprechen, wie dies Manfred Laubichler tut (im Titel seines Beitrags auf der Tagung, aus der der vorliegende Band hervorgegangen ist). Klar ist dabei aber auch, dass eine adäquate Theorie des Organismus noch nicht vorliegt (Olaf Breidbach gibt in dem abschließenden Beitrag dieses Bandes, der nun Teil seines wissenschaftlichen Vermächtnisses geworden ist, einige Hinweise auf wichtige Elemente einer solchen Theorie). Hinsichtlich der Gestalt und des Ansatzpunktes einer Theorie des Organismus besteht noch kein Konsens: Sie könnte in einer Erweiterung der Systemtheorie bestehen, vom Konzept der Autopoiese ausgehen, die Vorstellung von funktional integrierten, hierarchisch angeordneten Organisationsebenen ins Zentrum stellen, Organismen als geschlossene Formen verstehen, deren Entwicklung durch jeweilige Formgesetze determiniert wird, an der Organismus-Umwelt-Interaktion ansetzen oder die evolutionäre Formung von Lebenszyklen zu ihrer Grundlage nehmen.20 Die Beiträge dieses Bandes sind hervorgegangen aus Vorträgen auf einer Tagung des Unterprojekts A5.3 „Transformationen der Lebendigkeit“ des Sonderforschungsbereichs Transformationen der Anti ke, die im Dezember 2012 an der Humboldt-Universität zu Berlin stattgefunden hat. Allen, die bei der Vorbereitung und Durchführung der Tagung sowie dem Korrekturlesen der Manuskripte geholfen haben, besonders Daniel Hempel, Nicolas Karl, Florian Matzke, Julia Raff und Mathias Zinnen, sei auch an dieser Stelle noch einmal sehr gedankt. Die Tagung stand unter dem Titel Organismus. Die Erklärung der Lebendigkeit, der auch für dieses Buch beibehalten wurde. Angesichts der Vieldimensionalität des Lebensbegriffs könnte dieser Titel als Provokation wahrgenommen werden. Es soll mit dem Titel aber nicht zum Ausdruck gebracht werden, dass es 19 Vgl. z. B. P. Huneman, C.T. Wolfe, (Hrsg.), The Concept of Organism. Historical, Philosophical, Scientific Perspectives, in: History and Philosophy of the Life Sciences 32/2010, Special Issue 2-3; P. Huneman, M. van Baalen (Hrsg.), Thematic Issue: Organisms as Ecosystems/Ecosystems as Organisms, in: Biological Theory 9/2014, S. 357-469. 20 Vgl. G. Longo et al., „In search of principles for a theory of organisms“, in: Journal of Biosciences 2015, 1-14 (online veröffentlicht am 1. Dez. 2015: doi:10.1007/s12038-015-9574-9).
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nur eine Möglichkeit zur Erklärung „der Lebendigkeit“ gibt, geschweige denn, dass diese in allen Fällen vom biologischen Organismusbegriff auszugehen habe. Schon wenn ‚Leben‘ auf die überindividuelle Welt des Menschen bezogen wird – auf ‚Geist‘, ‚Sprache‘ und ‚Kultur‘, wie die inzwischen veraltet klingenden Großbegriffe lauten, die in der Vergangenheit bevorzugt das überindividuell Lebendige der menschlichen Welt bezeichneten –, liegt dieser organismische Standpunkt nicht nahe. Unzweifelhaft ist aber mit dem Organismusbegriff der einflussreichste Erklärungsansatz gegeben, der für den individuenbezogenen Lebensbegriff und das vor zweihundert Jahren etablierte begriffliche Grundgerüst der Lebenswissenschaften zentral war. Knapp zusammengefasst wurden in den hier versammelten Beiträgen der Tagung die folgenden Thesen und Argumente entwickelt: Martin Meyer forscht in seinem Beitrag den metaphorischen und begrifflichen Ursprüngen der Wortfamilie um ‚Organismus‘ in der griechischen Antike nach. Er hält dabei fest, dass die Begriffe mit einem wissenschaftlichen Gebrauch meist der Alltagssprache entstammen. Dies gelte auch für den Ausdruck ‚Organ‘ (organon), der zunächst ein kunstvoll hergestelltes Artefakt meint und sich dann in der Bedeutung von „Werkzeug, Instrument“ verbreitet habe. Bei Empedokles beginne der Übergang des Ausdrucks in den Bereich des Biologisch-Medizinischen. Für Aristoteles war offenbar besonders der Wortgebrauch bei Demokrit leitend, der bereits die Glieder von Tieren als ‚Organe‘ bezeichnete. Erst bei Aristoteles gewinne der Organbegriff aber die zentrale Rolle für die Begründung der Biologie als einer besonderen Wissenschaft. Für Aristoteles seien Lebewesen „werkzeugartige“ Körper, weil sie aus Teilen bestehen, die sich zum Ganzen des Körpers wie Werkzeuge verhielten. Ermöglicht werde damit insgesamt ein neues Verständnis der belebten Natur als organischer Natur. Das Leben werde nicht, wie bei den Vorgängern des Aristoteles, bloß in Opposition zum Tod bestimmt, sondern es würden Ansätze für eine Theorie der Lebendigkeit entwickelt, die von der funktionalen Organisation des belebten Körpers und seiner Ausrichtung auf bestimmte Ziele ausgeht. Dem Organbegriff komme dabei nicht nur eine deskriptive, sondern in erster Linie eine explanative Funktion zu, was sich schon daran zeige, dass er in den theoretisch-systematisch argumentierenden Texten sehr viel häufiger erscheine als in der beschreibenden Tierkunde. In der erklärenden Verwendung ist ein Organ für Aristoteles ein von seiner Funktion her verstandener und durch sie bestimmter (und https://doi.org/10.5771/9783495817476 .
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benannter) Körperteil. Die funktionale Perspektive wird auf diese Weise bereits in der Beschreibungssprache verankert und das Lebendigsein zu einer Eigenschaft von funktional organisierter Materie. Aristoteles spezifiziert auch bereits die Ordnung dieser funktionalen Organisation, indem er in einer zentralen Passage seiner Schrift über die Seele Ernährung und Fortpflanzung als die „natürlichsten“ aller Leistungen der Lebewesen bezeichnet. Die Ausrichtung auf die Fortpflanzung, in der die Pflanzen und Tiere „ein anderes, sich gleiches Wesen“ erzeugen und durch die Iteration dieses Prozesses am „Ewigen und Göttlichen“ teilhaben, ziehe es dabei auch nach sich, dass die Individuen als Organe für das artspezifische ewige Kontinuum des Lebens verstanden werden könnten. Das biologische Telos der Individuen sei die Teilhabe am Ewigen und Göttlichen durch ihre Reproduktion mit immer gleichem Resultat. Allein durch diese auf Konstanz und ewige Kontinuität gerichtete Perspektive könne die Biologie in der aristotelischen Konzeption überhaupt zu einer theoretischen Wissenschaft werden. Gottfried Heinemann untersucht detailliert die aristotelische Formel vom organischen Körper (sôma organikon) und widmet sich dabei besonders dem ontologischen Sinn des Werkzeugvergleichs ausgehend von einer Passage in Aristoteles’ Schrift über die Seele (De anima). Mit der Mehrzahl der Aristotelesforscher geht Heinemann davon aus, dass die Formulierung organischer Körper so zu verstehen sei, dass der ganze Körper als ein Organ oder Werkzeug (für die Seele) fungiere. Nicht ausdrücklich behauptet werde damit die Werkzeugfunktion auch der Teile des Körpers; diese werde aber auch nicht ausgeschlossen. Was Kant als grundlegend für Organismen bestimmt habe, das wechselseitige Zweck-Mittel-Verhältnis zwischen den Teilen eines organisierten Wesens, treffe auch nach Aristoteles auf alle Lebewesen zu – selbst wenn Aristoteles nicht über das Wort ‚Organismus‘ oder ein direktes Äquivalent von ihm verfügt habe. Die funktionale Perspektive auch auf die Teile der Lebewesen werde darin deutlich, dass Aristoteles davon ausgehe, die Teile seien an ihre Funktion angepasst und könnten über diese bestimmt werden. Auch das Vorhandensein der Teile im Körper erkläre sich aus ihrer Funktion, ganz analog zum Vorhandensein eines Werkzeugs im Kontext des Handwerks, wie auch umgekehrt die funktionsgemäße Leistung sich aus dem Gebrauch erkläre. Das Lebendige sei nach Aristoteles ein natürlicher Körper von bestimmter Beschaffenheit, einer, der zum Werkzeug geeignet (organikon) sei und deshalb potenziell Leben habe. Das Lebendigsein eines solhttps://doi.org/10.5771/9783495817476 .
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chen Körpers, das mit seiner Seele zusammenfalle, stelle keine (akzidentelle) Eigenschaft dieses Körpers dar, sondern seine Form des Seins. Der Verlust der Seele bedeute also keine Veränderung seines Lebendigseins, sondern seine Vernichtung. Als die eine elementare Lebensfunktion stehe bei Aristoteles die Ernährung und damit verbunden der Stoffwechsel. Die Kontinuität dieses Prozesses garantiere die Identität des Lebewesens so wie die Kontinuität eines Verfügungsanspruchs die Selbigkeit eines Gebrauchsgegenstandes bedinge. Lebewesen können ihre Lebensaktivitäten also nicht vollständig suspendieren, ohne ihre Existenz zu verlieren. Im Unterschied zu Artefakten, die zu etwas geeignet sein können, ohne dafür gebraucht zu werden, falle bei Lebewesen aber das Geeignetsein zum Werkzeug (für die Seele) mit der Lebendigkeit zusammen. Der zum Werkzeug geeignete Körper existiere nur, indem er auch als solcher (von der Seele) gebraucht werde, also lebe. Der Vergleich eines potenziell lebendigen Körpers mit einem Werkzeug – und die durch Aristoteles begründete Bezeichnung dieses Körpers als ein zum Werkzeug geeigneter bzw. kurz als organischer Körper – eröffnet für Aristoteles also einerseits die für seine Theorie (und alle späteren Theorien) der Lebendigkeit grundlegende funktionalistische Grundlage, er hat aber auch seine Grenzen. Hans Werner Ingensiep untersucht in seinem Beitrag das Verhältnis zwischen den Begriffen ‚Leben‘ und ‚Organismus‘ ausgehend von Kants biotheoretischen Schriften. Er stellt dabei heraus, dass Kant beide Ausdrücke in unterschiedlichen Kontexten verwendet: Über ‚Leben‘ verfügen nach Kant auch immaterielle Sub stanzen wie Gott und Engel. Unter den materiellen Wesen seien die lebenden durch ihre Vermögen des Willens und Begehrens ausgezeichnet; dementsprechend würden sie über ein inneres Prinzip verfügen, sich selbst zu bewegen und zu verändern. Empfindungslose, nicht zur aktiven Bewegung fähige Wesen wie die Pflanzen wären daher keine Lebewesen, wohl aber Organismen. In seinem zentralen biotheoretischen Werk, der Kritik der teleologischen Urteils kraft, dienen Kant Pflanzen (ein Baum) zur Erläuterung seines Begriffs von einem „organisierten Wesen“ der Natur (den Ausdruck ‚Organismus‘ verwendet Kant erst in den posthum veröffentlichten Schriften). Von ‚Leben‘ ist in diesen biotheoretischen Schriften aber nicht die Rede; Kant gebraucht den Ausdruck vornehmlich in seinen Werken zur Ethik, in denen es um den Willen und das Begehren geht. Ingensiep verfolgt die begrifflichen Konstellationen besonders in der frühen Rezeption der Werke Kants. Dabei betrachtet er vier https://doi.org/10.5771/9783495817476 .
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Autoren näher: einen anonymen Verfasser einer Rezensension der Kritik der Urteilskraft aus dem Jahr 1793 sowie die drei Kantianer Sigismund Beck, Lazarus Bendavid und Johann Gottfried Kiesewetter. Alle diese Autoren würden dabei den besonderen epistemologischen Status der kantischen Teleologie in ihrem bloß regulativen Charakter betonen und vor metaphysisch-bioontologischen Hypothesen sowie empirischen Erklärungen auf dieser Grundlage warnen. Diese Warnungen könnten zum Teil gegen Kant selbst gerichtet werden, weil sich auch bei ihm metaphysische Annahmen, wie das Postulat einer bildenden Kraft, finden würden. Diese würden den transzendentalphilosophischen Rahmen überschreiten und könnten zudem heute nicht mehr plausibel vertreten werden. In einem nächsten Abschnitt beleuchtet Ingensiep die Frage nach der Abgrenzung von ‚Leben‘ und ‚Organismus‘ aus der heutigen Perspektive. Er stellt dabei fest, dass in der öffentlichen, von medizinischen Diskursen beherrschten Debatte, von einigen Autoren – durchaus problematisch und bioethisch brisant – als Kriterien für ‚Leben‘ personale Aktivitäten und mentale Kompetenzen herangezogen würden, für ‚Organismus‘ dagegen allein das Vorliegen einer Funktionseinheit. Ein Wachkomapatient sei nach dieser Ansicht dann zwar ein Organismus, aber kein Lebewesen. Ebenso wie bei Kants Postulat einer bildenden Kraft liege auch hier eine Überschreitung der philosophischen Reflexion in Richtung auf eine dogmatische Metaphysik vor. Ingensiep weist weiter darauf hin, dass der Organismusbegriff verschiedene Rollen in der Erkenntnis spielen kann. So könne er zur Bezeichnung eines konkreten Naturdinges dienen, eine ab strakte Klassifikation von Naturgegenständen begründen oder als theoretisches Modell zu ihrer Erklärung fungieren. Auch die Evolutionstheorie, die es mit einem langfristigen, generationenübergreifenden, mehr mit ‚Leben‘ als ‚Organismus‘ assoziierten Prozess zu tun habe, operiere mit einem Organismusmodell, insofern sie von individuellen Trägern von Variationen und Anpassungen ausgehe. Abschließend erläutert Ingensiep seine These, dass der Funktionsbegriff, der auch für die heutige Biologie unverzichtbar und für den Organismusbegriff grundlegend sei, sich gegen eine Naturalisierung sperre und in seiner Verwendung letztlich auf einen intentionalen Akteur verweise. Die Zwecke der Naturdinge müssten reflexiv aus uns als verantwortlich handelnden, erstpersonalen Akteuren gewonnen werden. In diesem Ursprung verbinde sich mit ihnen auch ein ethischer Anspruch, insofern wir für die von uns gesetzten Zwecke, Normen und Werte Verantwortung zu übernehmen hätten. https://doi.org/10.5771/9783495817476 .
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Tobias Cheung interpretiert den Organismusbegriff im Rahmen eines Agentenmodells, für das die Trennung und gleichzeitige Vermittlung von Innenwelt und Außenwelt zentral ist. Über die drei Stationen von John Browns Erregbarkeitslehre, Christoph Hufe lands Heilkunde und Gottfried Reinhold Treviranus’ Biologie zeichnet er die Situation um 1800 nach. In dieser verschiebe sich der Diskurs um die Spezifik des Organischen von der Zentrierung um die innere „Organisation“ der Lebewesen in Richtung einer Subjektsund Tätigkeitslehre, für die die Etablierung des Organismusbegriffs in dieser Zeit ein signifikanter Ausdruck ist. Angestoßen werde diese Entwicklung durch Browns medizinische Lehre, die Krankheiten im Rahmen eines Reiz-Reaktions-Schemas erklärt. Aufgenommen werde dieser Ansatz in Hufelands Konzept eines selbsttätigen Organismus, demzufolge die Aktivitäten von Lebewesen einerseits von der eigenen Organisation und inneren Lebenskraft abhängen und andererseits von Dingen der Außenwelt erzwungen würden. Zentrale Aspekte der Lebendigkeit könnten in diesem Schema, in dessen Zentrum die selbstbezügliche, zyklische Struktur des Organismus steht, zusammengeführt werden, so das Streben der Organismen nach ihrer Selbsterhaltung, Regulation und Regeneration sowie die zwischen Organismus und Außenwelt sich vollziehenden Prozesse der Umwandlung und Assimilation von Stoffen. Diese Konstitution des Organismus aus einer Verbindung von Reizlehre und autonomer Selbsttätigkeit finde in Treviranus’ Biologie eine Fortsetzung: Für Treviranus’ Agentenmodell des Organismus spiele die „Gleichförmigkeit“, die sich zwischen inneren Ordnungsverhältnissen und wechselnden äußeren Einwirkungen einstelle, eine zentrale Rolle. Verstanden als ein zwischen Innen und Außen vermittelndes Funktionsgefüge sei ein Organismus in die Lage versetzt, die Bedingungen seines Lebens zumindest teilweise selbst zu bestimmen. Dies erfolge durch die Konstitution einer eigenen Sphäre der Tätigkeit im Verhältnis zur Außenwelt. Ernst Müller weist in seinem Beitrag zur Wortfamilie um ‚Organismus‘ bei Friedrich Schleiermacher auf die hohe Affinität der deutschen Romantik zu organologischen Ausdrücken wie ‚Organ‘, ‚Organismus‘ oder ‚Organisation‘ hin. Diese würden keinesfalls nur sporadisch und metaphorisch erscheinen, sondern extensiv eingesetzt (allein in den Notizen zum Brouillon zur Ethik würden Ausdrücke aus der Wortfamilie nahezu tausend Mal auftauchen). Semantisch habe die Wortfamilie dabei eine Ausweitung erfahren, indem die Ausdrücke auf kulturelle und insbesondere soziale Phähttps://doi.org/10.5771/9783495817476 .
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nomene bezogen worden seien. Die Verwendung der organologischen Wörter im neuen Kontext sei parallel verlaufen zu anderen Ausdrücken, die in dieser Zeit in der Physik und Chemie verbreitet waren, wie etwa ‚Auflösung‘, ‚Mischung‘, ‚Amalgam‘, ‚Sublimat‘, ‚Kristallisation‘, ‚Sättigung‘ oder ‚Absorption‘. Weil diese Wörter, unter ihnen insbesondere die aus der Wortfamilie von ‚Organismus‘, noch nicht auf den naturwissenschaftlichen Bereich festgelegt gewesen seien, könnte ihre Verwendung für kulturelle Phänomene nicht als Metapher verstanden werden. Vielmehr liege hier eine Interaktion von zwei semantisch verbundenen Wissensfeldern vor. In beiden Bereichen bestand das parallele Problem, die besonderen Eigenschaften von Systemen – und darüber hinaus die Einheit der Systeme – aus der Wechselwirkung ihrer Komponenten zu erklären. ‚Organ‘ und ‚Organisation‘ seien dabei die von Schleiermacher zumeist gebrauchten Ausdrücke, um die gewachsene Ganzheit sozialer Verbände zu beschreiben. Wenn es aber um die Auszeichnung des vernunftgeleiteten „höchsten Gutes“ geht – den organischen Zusammenhang aller Güter – dann stehe bei Schleiermacher „Organismus“; in diesem sei der Gegensatz von Kraft und Erscheinung aufgehoben. Stefano Poggi analysiert einige Beiträge der ästhetischen Debatte in Deutschland zwischen 1880 und 1930 in ihrem Bezug auf lebenswissenschaftliche Anschauungen und Organismusvorstellungen. Seine erste Station ist dabei das Buch Das Kunstwerk als Organis mus (1905) von Wilhelm Waetzoldt. Darin wird das Kunstwerk als ein „lebendiges Gebilde“ verstanden, in erster Linie nicht aufgrund seiner intrinsischen Eigenschaften, sondern insofern es rezipiert und „erlebt“ wird, also insofern es nach dem Modell eines biologischen Reizes einen Kunstgenuss „auslöst“. Darüber hinaus sei aber auch die künstlerische Praxis als eine naturähnliche schöpferische Tätigkeit zu begreifen, und im Kunstwerk selbst ließen sich auch Prozesse nachweisen, die sich in gleicher Weise in der organischen Natur finden würden, insbesondere ein „Kampf der Teile im Organismus“, wie er für die Lebewesen von dem Entwicklungsbiologen Wilhelm Roux beschrieben wurde. Weniger rezeptionsästhetisch als Waetzoldt argumentiert die zweite Station von Poggis Betrachtung, die Grundprobleme der Malerei (1908) von Rudolpf Czapek. Darin wird das Kunstwerk aufgrund seiner harmonischen Komposition mit einem Lebewesen verglichen: Die Verteilung von Farben, Flecken und Linien weise Ordnung, Rhythmus, Einheit und Individualität auf, wie sie auch für Lebewesen charakteristisch seien. Wilhttps://doi.org/10.5771/9783495817476 .
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helm Worringers Studie Abstraktion und Einfühlung aus dem gleichen Jahr konzipiert dann auch das Kunstwerk als „selbständige[n] Organismus gleichwertig neben der Natur“. Worringer betone aber auch, dass trotz dieser Parallele die „spezifischen Kunstgesetze“ unabhängig von der Natur stünden und mit der Ästhetik des Naturschönen prinzipiell nichts zu tun hätten. Eine Verbindung auf der Ebene der Kräfte hinter den Erscheinungen sieht dagegen Rudolf Steiner zwischen Naturdingen und Kunstwerken. Er ist dabei besonders an Goethe orientiert, an „Goethe als Vater einer neuen Ästhetik“, wie der Titel eines Aufsatzes von Steiner aus dem Jahr 1889 lautet. Goethes Anschauungen würden ins „Innere“ der Lebensprozesse und zu den in ihnen liegenden bildenden Kräften leiten. Schließlich finde sich die Parallelisierung von natürlichem und künstlerischem Schöpfertum auch bei Paul Klee: In die Kreativität von Kosmos und Erde eingebunden sei der Mensch Geschöpf und Schöpfer zugleich, das Ich ein „organisch-dramatisches Ensemble“, was eine Reflexion auf den Begriff des Organismus herausfordere, wie Klee 1919 in seinem Tagebuch notiert. Kristian Köchy rekonstruiert in seinem Beitrag die Debatte um den naturphilosophischen Status von Organismen im Vergleich zu Maschinen und anorganischen Gestalten, die in den 1920er Jahren zwischen dem Biologen Hans Driesch und dem Gestaltpsychologen Wolfgang Köhler geführt und von dem Philosophen Helmuth Plessner kommentiert wurde. In dieser Debatte wird einerseits die konzeptionelle Nähe von Organismen zu Maschinen betont, weil beide als Funktionssysteme verstanden werden könnten. Andererseits wird über den Maschinenvergleich gerade das Spezifische des Organischen herauszuarbeiten versucht: In den Augen Drieschs besteht es in den exklusiv organischen Vermögen der Regulation und Reparatur, weil alle anorganischen Körper einschließlich der Maschinen ihre Gestalt nicht spontan aus innerer Dynamik entwickeln und erhalten, sondern ihnen diese von außen aufgezwungen würde. Für Driesch sind die anorganischen Strukturen daher lediglich „Wirkungseinheiten“, aber keine Ganzheiten. Köhler wendet dagegen ein, dass auch einige anorganische Systeme ganzheitlichen Charakter aufweisen, insofern auch bei ihnen die Eigenschaften und Funktionen der Teile von ihrem Verhältnis zum Ganzen abhängen würden. Plessner bezieht in dieser Auseinandersetzung Stellung, indem er Köhler zwar in empirischer Hinsicht Recht gibt, trotzdem aber mit Driesch an der Eigengesetzlichkeit des Lebendigen festhalten möchte. Er ist der Ansicht, dass das Spezifische des Lebendigen https://doi.org/10.5771/9783495817476 .
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nicht auf naturwissenschaftlicher, sondern naturphilosophischer Ebene, auf dem Wege der „Anschauung“, bestimmt werden könne. Die Bestimmung erfolgt bei Plessner über eine Analyse der Grenze von Organismus und Umwelt: Diese Grenze gehöre dem Organismus selbst an, werde von ihm gesetzt und erhalten; gleichzeitig diene sie aber auch der kontrollierten Überschreitung des Körpers und seiner gezielten Inbezugsetzung zu Elementen der Umwelt. Plessner bezeichnet diese besondere Innen-Außen-Beziehung der Lebewesen als ihre Doppelaspektivität und entfaltet ausgehend von ihr die seiner Ansicht nach der empirischen Naturforschung vorausliegende ontologische Besonderheit der Organismen. In einem abschließenden Abschnitt weist Köchy darauf hin, dass die empirischen Fortschritte der Biologie die künstliche Erzeugung von sich selbst organisierenden und begrenzenden Systemen prinzipiell nicht mehr ausschließen würden, aber auch diese Möglichkeit hebe die naturphilosophische Unterscheidbarkeit von extern determinierten Wirkungseinheiten und autonomen Ganzheiten noch nicht auf – besonders dann nicht, wenn natürliche Organismen als Modelle zur Erzeugung von künstlichen Ganzheiten dienen. Mathias Gutmann geht in seinem Beitrag von Organismen als Funktionsgefügen aus, die als offene Systeme mit ihrer Umwelt in Wechselwirkung stehen und zur Kompensation von Störungen ihres Gleichgewichts in der Lage sind. Die Bedeutung des Ausdrucks bewege sich in vielen Kontexten in der Nähe zum Begriff des Individuums. Besonderes Gewicht legt Gutmann darauf, dass Individuen nicht einfach gegeben sind, sondern ihre Abgrenzung abhängig sei von Methoden, Praktiken und Theorien der Individuierung. Im Gegensatz zur Rede von ‚Lebewesen‘, die in vielen alltäglichen Kontexten jenseits von wissenschaftlichen Beschreibungen und Analysen begegne, sei ‚Organismus‘ an wissenschaftliche Konzepte wie ‚System‘, ‚Komplexität‘ und ‚Selbstorganisation‘ gebunden, die die Verwendung des Begriffs regulieren würden. Diese wissenschaftlichen Konzepte ermöglichten eine Beschreibung von Lebewesen als Organismen – ohne dass die Bedeutung von ‚Lebewesen‘ aber in dieser wissenschaftlichen Beschreibung aufgehe. Die wissenschaftliche Beschreibung könne dabei auch als eine Modellierung verstanden werden, die im Kontext einer jeweiligen Praxis relevant und für die Forschung fruchtbar ist. Für die methodischen Anfänge einer Auszeichnung von Einheiten als Individuen spielen nach Gutmann lebensweltliche Praktiken wie Haltung, Züchtung, Kultivierung, Arbeitsnutzung oder Konsumtion von Lebewesen eine entscheidende Rolle. https://doi.org/10.5771/9783495817476 .
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Marianne Schark untersucht in ihrem Beitrag das Verhältnis der Begriffe ‚Lebewesen‘ und ‚Organismus‘. ‚Lebewesen‘ sieht sie dabei als einen in der Lebenswelt verankerten Begriff, der alltäglich vertraute Wesen mit bestimmten Vermögen wie Selbsterhaltung und Fortpflanzung bezeichne. ‚Organismus‘ sei demgegenüber ein theoretischer Begriff der Biologie, der die Art des Körpers von Lebewesen spezifiziere, nämlich als „das System von Strukturen und Prozessen, vermöge dessen ein Lebewesen zu leben und seine charakteristischen Tätigkeiten auszuüben vermag“. Besonders verankert sei dieses Konzept in mechanistischen Erklärungen von Lebenserscheinungen ausgehend von ihrem Körper. Problematisch ist es für Schark, den Organismusbegriff für ein teleologisches Konzept zu halten. Denn Zwecke oder Ziele seien keine deskriptiv erfahrbaren Zustände der Welt; ihre Zuschreibung zu bestimmten Entitäten setze außerdem Intentionalität bei diesen voraus. Ohne Annahme einer Intentionalität könne dagegen davon gesprochen werden, Entitäten hätten eine Funktion. Über Funktionen würden aber nur unselbständige Entitäten verfügen; die Zuschreibung von Funktionen leite sich davon ab, dass eine Entität von einem Wesen mit intrinsischer Intentionalität zu einem Zweck gebraucht werde. Der paradigmatische Kontext, in dem Entitäten Funktionen verliehen werden, sei der Gebrauch von Artefakten durch den Menschen. Für ein Verständnis der Teleologie physischer Dinge jenseits menschlicher Handlungskontexte sei dieses Artefaktmodell aber gerade nicht hilfreich, wenn Naturdingen keine Intentionalität unterstellt werden solle. Kritisch steht Schark aber auch den verschiedenen Spielarten von Naturalisierungsprojekten gegenüber, die die Verwendung des Funktionsbegriffs in Bezug auf Naturgegenstände von Intentionalitätspräsuppositionen abkoppeln. Illusorisch sei insbesondere, die Annahme, mit einer ätiologisch-selektionstheoretischen Analyse könne der Funktionsbegriff naturalisiert werden. Denn gerade die grundlegenden Begriffe der Selektionstheorie, wie ‚Fitness‘ oder ‚Anpassung‘, würden Funktionalität immer schon voraussetzen. Die von Schark favorisierte Rekonstruktion des Funktionsbegriffs setzt an der für Lebewesen spezifischen Eigenschaft des Wohlergehens an (welfare view): Weil Lebewesen (im Gegensatz zu leblosen Dingen) dadurch ausgezeichnet seien, dass es ihnen gut oder schlecht gehe, seien wir dazu berechtigt, ihre Teile und an ihnen ablaufenden Prozesse dahingehend zu beurteilen, ob sie einen Beitrag zu ihrem Wohlergehen leisten. Ein Vorteil dieses Ansatzes liege darin, dass damit keine Intentionalität auf Seiten der Lebewehttps://doi.org/10.5771/9783495817476 .
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sen unterstellt werden müsse: Ihr Wohlergehen müsse nicht von den Lebewesen beabsichtigt werden, damit ihren Teilen Funktionen zugeschrieben werden können. Verbunden sei mit dieser Sicht aber auch ein gewisser „metaphysischer Preis“: Die Annahme eines Wohlergehens als konstitutiv für Lebewesen beruhe auf einem generellen Werturteil, nämlich unserer Präferenzordnung, nach der das individuelle Leben ein Gut und der Tod ein Übel sei. Ulrich Krohs unterscheidet zwei epistemische Rollen für den Begriff des Organismus in der Biologie: In seiner schwachen Rolle diene der Begriff als sortaler Terminus dazu, Lebewesen zu individuieren, sie also als Einheiten abzugrenzen und zählbar zu machen; in seiner starken Rolle solle mit dem Begriff erfasst werden, was es heißt, dass etwas lebt. Krohs argumentiert dafür, dass der starke Organismusbegriff nicht als ein deskriptiver empirischer Begriff verstanden werden sollte. Denn Lebewesen seien gar nicht Organismen im starken Sinne. Die schwache Rolle des Organismusbegriffs als sortaler Terminus erläutert Krohs unter Bezug auf die populationsgenetischen und evolutionstheoretischen Debatten der 1980er und 90er Jahre, in denen es um die Abgrenzung von Selektionseinheiten ging. Diese konnten sich auch lediglich auf Teile von Organismen, wie die Gene, beziehen, so dass ‚Organismus‘ in diesem Zusammenhang nicht als hierarchisch organisierte Funktionseinheit bestimmt werden müsse. Diese systemtheoretische Perspektive spiele aber bei der Erklärung von Lebensfunktionen eine Rolle und beziehe sich auf die systematische wechselseitige Verknüpfung der Organe in einem Lebewesen. Gegen die Auffassung aber, dass Lebewesen Organismen im starken Sinne sind, wendet Krohs vier Argumente ein: (1) Viele Lebewesen würden nicht die im Organismusbegriff unterstellte Selbsterhaltung zeigen, (2) unzutreffend sei die Annahme einer kausalen und funktionalen Geschlossenheit von Lebewesen, (3) nicht alle am Aufbau eines Lebewesens beteiligten Komponenten seien auch in das Wirkungsgefüge eines Organismus eingebunden und (4) der Organismusbegriff sei auch auf andere Systeme als auf Lebewesen anwendbar. Zur Stützung dieser vier Argumente führt Krohs zahlreiche empirische Evidenzen an, etwa (zu 1) die regelmäßigen Alterungsprozesse von Lebewesen, die auch Selbstzerstörung von Zellen einschließen, (zu 2) die kausalen Einflüsse der Umwelt auf die Orientierung und Entwicklung von Lebewesen, (zu 3) das Vorhandensein von funktionslosen Körperteilen, wie abgestorbenen Zellen, in einem Lebewesen und schließlich (zu 4) die Interdependenzen von Prozessen in anorgahttps://doi.org/10.5771/9783495817476 .
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nischen Systemen wie dem Wasserkreislauf. Trotz seiner These, dass Lebewesen aufgrund dieser Argumente keine Organismen im starken Sinne sind, hält Krohs den Organismusbegriff aber für theoretisch wichtig und erläutert ihn als „epistemisches Werkzeug“: Er könne Theorien über das Leben instruieren, ohne selbst schon eine adäquate und umfassende Theorie des Lebens zu liefern. Vergleichbar sei seine Funktion mit Modellen der Physik wie dem harmonischen Oszillator, die ebenfalls nicht in einzelnen Naturgegenständen realisiert seien, aber für die Erklärung realer Gegenstände theoretisch von Bedeutung seien, insofern sie eine Beschreibung und Analyse eines Systems liefern und damit die weitere Erforschung anleiten könnten. Der Organismusbegriff fungiere in dieser Rolle als ein zwischen Empirie und Theorie vermittelndes Modell. John Dupré und Maureen O’Malley betonen in ihrem Beitrag, der 2009 auf Englisch erschienen ist, dass Organismen wesentlich aus kollaborativen Aktivitäten ihrer Komponenten bestehen und dass diese Komponenten bei allen höher entwickelten Organismen in anfangs unabhängig voneinander verlaufenden evolutionären Stammeslinien entstanden seien. Die zentrale kollaborative Leistung von Organismen ist ihr Stoffwechsel. Dieser erfolge gerade bei den paradigmatischen biologischen Individuen wie den großen Tieren unter essenzieller Beteiligung vieler Mikroorganismen, die mit ihrem vielzelligen Wirt in einem symbiotischen Zusammenschluss existieren. Allein zusammen mit diesen Mikroorganismen würden viele mehrzellige Organismen eine funktional geschlossene, lebensfähige Einheit bilden. Die in ihrem Körper integrierte metabolische Aktivität dieser Vielzeller (wie des Menschen) werde also von vielen Individuen geleistet, die vielfach als voneinander distinkt angesehen werden. Darüber hinaus habe die biologische Forschung der letzten Jahrzehnte schlüssig nachgewiesen, dass auch die eigenen Körperzellen der Vielzeller Komplexe kollaborierender Einzelteile darstellen, die aus ehemals freilebenden zellulären Wesen entstanden sind. Die Kollaboration dieser Teile erstrecke sich über einen Bereich interaktiver Prozesse, der sowohl kooperative als auch kompetitive Aktivitäten einschließt. Die kompetitiven Aktivitäten (auf einer Ebene) würden dabei eher ein Übergangs- als ein Endstadium der Entwicklung darstellen, weil die Evolution viele Beispiele dafür bereitstelle, dass Kollaboration mit gleich- oder andersartigen Wesen eine sehr erfolgreiche Strategie darstelle und neue Ebenen der Individualität erschließe. In vielen realen Fällen könnten dabei aber keine scharfen Grenzen zwischen egoistischen https://doi.org/10.5771/9783495817476 .
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und kooperativen Interaktionen gezogen werden. Bei den erfolgreichen Kooperationen seien funktionale Einheiten aus Ansammlungen von einer Vielzahl stammlinienbildender Wesen gebildet worden. Die Autoren plädieren daher insgesamt dafür, Leben als etwas zu betrachten, das am Schnittpunkt dieser beiden Eigenschaften entsteht: Materie sei lebendig, wenn Stammlinien – direkt oder indirekt – an metabolischen Prozessen beteiligt sind. Für den Organismusbegriff folge aus dieser Konzeption, dass jede Trennlinie zwischen individuellen Organismen und den größeren organismischen Gruppen, denen sie angehören, verschwimme. So wie Leben als ein Kontinuum von variabel strukturierten kollaborativen Systemen zu verstehen sei und sich damit nicht allein auf der Ebene von Individuen einer einzigen Stammlinie bewege, müsse auch der Begriff des Organismus flexibel für Systeme auf verschiedenen Ebenen der funktionalen Organisation angesetzt werden. Nur durch diese flexible Anwendung könne man den evolutionären Übergängen gerecht werden, die sich etwa in dem Kontinuum von freilebenden Organismen über Endosymbionten zu Organellen finden. Auf diese Weise könne auch das Phänomen der „transitionalen Organismen“ erfasst werden, das sich aus der bloß temporär befristeten (metabolischen) Kollaboration von Individuen verschiedener Stammlinien ergibt. Auf der Basis des Konzepts der Kollaboration könne der Organismusbegriff auf diese Weise als ein flexibles Hilfsmittel fungieren, die vielen Arten zu verstehen, wie sich Leben organisiert. Olaf Breidbach geht, im letzten Beitrag dieses Bandes, von dem Befund eines gegenwärtig verstärkten Interesses am Organismusbegriff aus. Er zeichnet historisch nach, wie der Begriff in verschiedenen Kontexten gebraucht wurde. Die drei explizit genannten Stationen sind dabei (1) die physiologische Fassung des Organismusbegriffs des 19. Jahrhunderts, besonders im Ausgang von der Schule Johannes Müllers, in der der Begriff im Kontrast zu morphologischen Ansätzen gebraucht worden sei und sich auf die Einheit eines (jeweils ontogenetisch sich bildenden) Reaktionsgefüges bezogen habe; die späteren genetischen und kybernetischen Modelle ordnet Breidbach diesem Paradigma zu, (2) die Diskussionen um die Abgrenzung der Sphäre des Lebendigen vom Leblosen und (3) die evolutionstheoretische Perspektive, die wesentlich die Frage nach der Formierung von Komplexität betreffe. Ein Organismusbegriff, der diese Perspektiven integriert, hat nach Breidbach von einer Organisation auszugehen, die aus der Überlagerung von funktionellen Strukturen entstanden ist. Dabei liege aber keine klar abgrenzbare https://doi.org/10.5771/9783495817476 .
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Funktionsschichtung vor, die Komplexität sei nicht durch Addition von Funktionen entstanden, sondern durch die wechselseitige Durchdringung der Wirkungen und Funktionen aller Komponenten. Der Organismus entstehe in seiner Einheit erst in der Wechselwirkung seiner Komponenten. Breidbach spricht von einem „Wechselwirkungsgefüge“, in dem sich die interagierenden Teilprozesse miteinander verzahnen und verkoppeln. Im Zuge dieser dynamischen Vorstellung komme auch der historischen Perspektive eine wichtige Bedeutung zu, insofern die Verschränkung von Funktionselementen nur aus dieser Perspektive nachgezeichnet und verstanden werden könne. Breidbach zielt mit seinem Beitrag auf einen prinzipiell anderen Ansatz als den der klassischen Systemtheorie, die lediglich von der Korrelation von Ein- und Ausgangsfunktionen ausgegangen sei. Breidbach charakterisiert eine adäquate Organismustheorie als eine „umfassendere Theorie interagierender Wirkschichtungen“, in der Organismen in ihrer hierarchischen, aber integrierten Struktur aus mehreren funktionalen Schichten dargestellt werden kann. Diese erst noch zu entwickelnde Theorie sei nicht nur von der klassischen Systemtheorie unterschieden, sondern auch von phylogenetischen Rekonstruktionen, die bloß die genealogische Entstehungsfolge im Blick hätten, und auch von dem Ansatz der Synthetischen Biologie, die häufig so verfahre, dass sie die (genetische) Komplexität des Systems durch seine sukzessive Reduktion untersuche, bis dieses nicht mehr lebensfähig ist („subtraktive Zytologie“). Auf diese Weise werde aber, ähnlich wie im evolutionstheoretisch-phylogenetischen Ansatz, lediglich die mögliche Variationsbreite lebendiger Systeme, nicht aber deren grundlegende Struktur deutlich. Alle diese Beiträge machen deutlich, dass der Organismusbegriff gegenwärtig im Zentrum vieler Diskussionen um theoretische und empirische Fragen steht. Als ein Begriff, der Gegenstand von Debatten ist und gleichzeitig Debatten organisiert ohne endgültige Antworten zu geben, bleibt er ein aktueller Begriff der Forschung. Eine noch offene Frage ist beispielsweise, ob Aristoteles über einen Organismusbegriff verfügte. Einerseits könnte die von Aristoteles postulierte Seele, die seiner Ansicht nach nicht vom Körper zu trennen ist, als die Organisation des Körpers im modernen Sinne verstanden werden: als der zusammenfassende Name für die Lebensfunktionen der Lebewesen, die fest mit dem Körper verbunden https://doi.org/10.5771/9783495817476 .
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sind und über keine Existenz unabhängig von und nach dem Leben verfügen. Andererseits scheint die Seele aber doch ein zentralis tisch gedachtes Einheitsprinzip zu sein – ein Organismus ist aber ein dezentriertes System, dessen Einheit allein auf dem Verhältnis der Interaktion und Interdependenz seiner Teile beruht. In vielen seiner Argumentationen offenbart sich bei Aristoteles ein instrumentalistisches, quasi agentenbasiertes Organverständnis (die Seele verwendet den Körper als Ganzen zu ihrem Zweck und einzelne Organe dienen dem Körper als Ganzem). Aristoteles verschließt sich mit dieser Vorstellung aber den (später von Kant gewählten) Weg, den Organ- (und Zweck-)begriff aus dem Verhältnis der Wechselseitigkeit der Glieder eines Ganzen zu entwickeln. Dafür kann das instrumentelle Handeln kaum ein Modell sein. Voll entwickelt erscheint der dezentrierte Organismusbegriff offenbar erst nach Aristoteles unter dem Einfluss von besserem physiologischen Wissen und Lehren von der Wechselseitigkeit der Teile in einem Ganzen (etwa bei dem römischen Arzt Galen).21 Offen ist daneben die Frage, welchen Status unsere Präferenzen und Werturteile in der Auszeichnung von Organismen als Einheiten haben. Zweifellos entspringt die Privilegierung des Lebens gegenüber dem Tod und dementsprechend der besondere Fokus auf dem Vermögen der Selbsterhaltung eines Organismus unseren Werturteilen. Es fragt sich aber, ob das Werturteil vom Wohlergehen der Lebewesen nicht doch naturalisiert werden kann im Rahmen von systemtheoretischen Modellen, die die Selbsterhaltung als einen objektiv durch das System selbst angestrebten und stabilisierten Zustand charakterisieren. Dessen Auszeichnung würde dann nicht auf projizierten Wertbezügen beruhen, sondern auf einer Beschreibung der besonderen Dynamik und Regulation des Systems selbst. Fraglich ist darüber hinaus, ob die Selbsterhaltung in der biologischen Argumentation überhaupt als der letzte Zweck (und damit Wert) gelten kann. Denn die biologische Perspektive bezieht sich gerade und vor allem auf die Reproduktionsmaximierung der Organismen, für die das individuelle Wohl lediglich ein Mittel darstellt. In dieser für die Biologie maßgeblichen Argumentation über die genetische Fitness scheint sich die biologische Zweckbeurteilung eher von der alltäglichen individuenzentrierten Wertbeurteilung gelöst 21 Vgl. G. Toepfer, „Vier Typen der Teleologie bei Aristoteles“, in: G. Heinemann, R. Timme (Hrsg.), Aristoteles und die heutige Biologie. Vergleichende Studien, Freiburg i. B., im Erscheinen.
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zu haben als diese zu bestätigen. In der biologischen (im Gegensatz zur medizinischen) Perspektive erscheint es gerade nicht möglich, das Gute (d. h. das in Selektionsprozessen Stabilisierte) für einen Organismus auf sein individuelles Wohl einzugrenzen. Dafür gibt es in der Biologie zu viele Beispiele (und gute theoretische Begründungen) dafür, dass Organismen ihr individuelles Wohlergehen ihrer eigenen Reproduktion oder der ihrer Verwandten opfern. Offen ist in diesem Zusammenhang auch die Frage, wie sich das Verhältnis der Begriffe ‚Individuum‘ und ‚Organismus‘ als Konzepte, die erst im Rahmen von Beschreibungen ausgehend von lebensweltlichen Praktiken oder wissenschaftlichen Theorien eingeführt werden, zu dem Status der von ihnen bezeichneten Gegenstände als sich selbst organisierende Systeme, die in ihrer Einheit selbst begrenzende Funktionsgefüge und diese Einheit selbst erhaltende Ganzheiten darstellen, verhält. Sind Organismen, zumindest einige paradigmatische Organismen wie menschliche Individuen, theorieübergreifend aufgrund ihrer autonomen Selbstabgrenzung gegebene Einheiten oder können Organismen grundsätzlich nur theorieabhängig individuiert werden? Als noch nicht abschließend geklärt erscheint auch die Frage, wie sich ‚Organismus‘ als sortaler Terminus zur Bezeichnung von zählbaren biologischen Individuen zu dem Organismusbegriff im Sinne eines epistemischen Werkzeugs verhält. Könnte dieses epistemische Werkzeug nicht noch weiter spezifiziert werden, so dass es zumindest auch weitgehende deskriptive Elemente enthält? Zu berücksichtigen wäre dann bei diesem spezifizierten starken Organismusbegriff, dass Organismen nicht ausschließlich und primär auf ihre Selbsterhaltung ausgerichtet sind (sondern auf ihre Reproduktion, die allerdings auch als eine Form der Selbsterhaltung, nämlich Selbsterhaltung der Organisationsform, verstanden werden könnte). Genauer zu bestimmen wäre in diesem starken Organismusbegriff die Rede von „kausaler Geschlossenheit“, weil es offensichtlich wenig Sinn macht, als Modell für einen Organismus ein kausal inertes System anzunehmen. Im Rahmen eines solchen näher bestimmten Modells müsste dann auch eine Unterscheidung zwischen Ressourcen und Systemkomponenten eingeführt werden, damit ein Organismus sich nicht durch Einschluss aller existenzermöglichenden Dinge seiner Umwelt (bei den meisten Organismen wäre das auch die Sonne) auflöst. Nach dem spezifizierten Modell wären nur solche Dinge Komponenten des Organismus, die Teil seines Gefüges der wechselseitigen Wirkung und Abhängigkeit wären; https://doi.org/10.5771/9783495817476 .
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ausgeschlossen wären damit sowohl die Sonne als auch Ressourcen wie (verschluckte) Steine zur Nahrungszerkleinerung. Auch terminologisch sollte in dem Modell unterschieden werden zwischen der wechselseitigen Abhängigkeit oder Interdependenz, die zwischen den Komponenten eines Organismus besteht, und der Wechselwir kung oder Interaktion, die das Verhältnis eines Organismus zu Gegenständen in seiner Umwelt ausmacht. Zu berücksichtigen wäre in diesem spezifizierten Modell außerdem, dass sich die Grenzen des Organismus im Laufe seines Lebens ändern können, so dass Komponenten, die am Aufbau beteiligt waren, später aber keine Funktion mehr ausüben, dann keine Bestandteile des Organismus mehr wären. Ein auf diese Weise spezifizierter Begriff des Organismus wäre immer noch ein Modell und eine Idealisierung von realen Organismen. Er könnte empirische Theorien über das Leben aber gezielter instruieren als vereinfachte Modelle, bei denen von Anfang an ausgeschlossen ist, dass sie auch beschreibenden Charakter haben. Eine weitere Klärung verdient schließlich das Verhältnis des biologischen Organismusbegriffs zu seinem außerbiologischen kulturellen Kontext. Naheliegend ist es, eine Verbindung zwischen dem Aufkommen des Organismusbegriffs im 18. Jahrhundert und der Konstitution des bürgerlichen autonomen Individuums herzustellen. Analog zum freien, von Bevormundung emanzipierten, autonomen Subjekt wird das biologische Konzept des sich selbst bildenden und von der Umwelt abgegrenzten biologischen Organismus konstituiert.22 Parallel zur Perspektive der Vergemeinschaftung und Historisierung des bürgerlichen Individuums im kulturellen und sozialwissenschaftlichen Kontext des 19. Jahrhunderts erfährt auch das Konzept des biologischen Organismus in dieser Zeit eine Veränderung, insofern der bezeichnete Gegenstand dynamisiert und gegenüber der Umwelt geöffnet wird. Offensichtlich sind hier verschiedene kulturelle Bereiche (und ihr Vokabular) in Interaktion miteinander getreten. Im Effekt vereint der Organismusbegriff bis in die Gegenwart nicht leicht zu vermittelnde Perspektiven miteinander: einerseits eine systemtheoretische Sicht, die ohne spezifische Lebenskräfte auskommt und auf deren Grundlage überzeitliche Gesetze der Form für alles Lebendige gesucht werden, und andererseits eine auf autonome Entwicklung und Veränderung gerich22 Vgl. M. Arz, Literatur und Lebenskraft. Vitalistische Naturforschung und bür gerliche Literatur um 1800, Stuttgart 1996, S. 208.
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tete historisierende Sicht, der zufolge in den Organismen selbst die entscheidenden Faktoren (oder zumindest ‚constraints‘) für die ontogenetischen und phylogenetischen Transformationen liegen. Entzeitlichung und Verzeitlichung können beide unter dem Dach des Organismusbegriffs gedacht werden. Auch das macht ihn zu einem Zauberwort.
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Organ und Organismus in der aristotelischen Biologie
Die moderne Rede von den Organen hat metaphorische Ursprün ge. Das griechische Wort ὄργανον meinte zunächst ein Werkzeug. Erst Aristoteles hat den Ausdruck in biologische Kontexte übertra gen. ‚Organon‘ wurde zu einem zentralen biologischen Fachbegriff. Wie bei anderen analogen Termini hat sich der epistemische Ge halt später verselbständigt. Der Organbegriff hat als terminus technicus heute einen festen Sitz in der Wissenschaftssprache. Er hat seinerseits Vorstellungen wie die von der organischen und der an organischen Natur bzw. die vom Organismus geprägt. Der folgende Beitrag zeigt, wie die Rede vom ὄργανον Eingang in die aristote lische Biologie gefunden hat und welche Funktion sie für die hier anvisierten Erklärungen hat. Er vertritt die These, daß der Terminus ὄργανον in Aristoteles’ Biologie einen Doppelsinn hat: Einerseits begreift Aristoteles die Teile der Lebewesen als ‚Organe‘ (als In strumente) des Individuums. Andererseits meint er mit ‚Organon‘ das Individuum als Organ der Spezies. In der ersten Bedeutung trägt der Organbegriff zur funktionalen Erklärung der Körpertei le eines Individuums bei. In diesem Fall hat er Erklärungskraft auf dem Gebiet der von Aristoteles begründeten vergleichenden Anatomie. In der zweiten Variante ist das Individuum Organ für die Spezies. In diesem Fall hat der Organbegriff Erklärungskraft für die von Aristoteles sogenannte Genetik. Der explanatorische Gehalt des Terminus ‚Organon‘ läßt sich auf die allgemeine Formel bringen: „Organ X hat eine Funktion F für Y“.1 Im ersten Fall bezeichnet X ein Körperteil und Y das ganze Wesen. Im zweiten Fall bezeichnet X das Individuum und Y die Spezies. Von diesen Verwendungen zu unterscheiden ist der im 18. Jahrhundert etablierte Ausdruck Or1
Vgl. M. C. Nussbaum, Aristotle’s De Motu Animalium, Text with Translation, Commentary, and Interpretive Essays, Princeton 1978, S. 59-106. Demnach lassen sich die funktionalistischen Erklärungen auf die Formel „x is for the sake of y“ bringen.
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ganismus, der Lebewesen als wechselseitige, einander bedingende Verbindung von differenten Organen bzw. Körperteilen vorstellt.2 Eine solch organistische Betrachtung ist bei Aristoteles nur selten. Er erwähnt zwar das Konzept der „wechselseitigen Verursachung“ (ἀλλήλων αἴτια),3 macht es aber in biologischen Kontexten nicht explizit fruchtbar. Der Organismusbegriff setzt eine mechanistische Auffassung des Lebens voraus, die eher typisch ist für das 17. Jahr hundert. Obwohl es bei Aristoteles also strenggenommen keinen Begriff des Organismus gibt,4 werden im vierten Teil dieses Beitrags
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Vgl. K. Köchy, Perspektiven des Organischen. Biophilosophie zwischen Natur- und Wissenschaftsphilosophie, Paderborn 2003; ausführlich zur Begriffsge schichte: G. Toepfer, „Organismus“, in: Historisches Wörterbuch der Biologie. Geschichte und Theorie der biologischen Grundbegriffe, Bd. 2, Stuttgart 2011, S. 777-842. Zur Begriffsgenese von Wechselseitigkeit: ders., „Wechselseitigkeit“, in: Historisches Wörterbuch der Biologie. Geschichte und Theorie der biologi schen Grundbegriffe, Bd. 3, Stuttgart 2011, S. 738-763. Die biologische Bedeu tung von „Wechselseitigkeit“ ist (obgleich sich schon bei Marsilius von Padua ähnliche Gedanken finden; vgl. ebd. S. 742 f.) maßgeblich geprägt von Herman Boerhaave (Institutiones medicae, Leiden 1708, vgl. insb. 4. Aufl. 1727), der den ‚organischen Körper‘ (corpus organicum) als „gegliederte Einheit beschreibt, deren Teile Prozesse vollführen, die wechselseitig voneinander abhängen“ (ebd. S. 742). Wechselseitigkeit wird seither zu einem „Definiens des Organismus begriffs“. Über die medizinisch-biologischen Fachgrenzen hinaus einflußreich wurde das Konzept insb. durch Kants Formulierung in der Kritik der Urteilskraft (1790/93): „Zu einem Körper [...], der an sich und seiner innern Möglichkeit nach als Naturzweck beurtheilt werden soll, wird erfordert, daß die Theile des selben einander insgesammt ihrer Form sowohl als Verbindung nach wechsel seitig und so ein Ganzes aus eigener Causalität hervorbringen“. [AA 373]; vgl. K. Köchy, „Das Konzept der Wechselwirkung bei Kant“, in: H. W. Ingensiep, H. Baranzke, A. Eusterschulte (Hrsg.), Kant Reader, Würzburg 2004, S. 78-106. Kants Formulierung wurde am Ende des 18. Jahrhunderts von vielen Interpreten auch im Sinne von ‚Wechselwirkung‘ gedeutet; vgl. G. Toepfer, „Wechselseitig keit“, Bd. 3, S. 747 f. Vgl. Aristoteles, Physica II 3. 195a10 [Beispiel: Anstrengung als Ursache von Wohlbefinden; Wohlbefinden als Ursache von Anstrengung]; Metaphysica V 2. 1013b9 [identisches Paradigma; identische Formulierung]; vgl. dazu G. Toepfer, ebd., S. 740. So ebenfalls G. Toepfer, „Organismus“, Bd. 2, S. 778: „Ein organischer Körper ist für Aristoteles […] ein dynamisches System von Teilen, die aufeinander ein wirken – er hat für dieses System allerdings keine terminologische Bezeichnung und auch das später im Zentrum des Organismusbegriffs stehende Verhältnis der Wechselseitigkeit der Teile wird von ihm nicht ausdrücklich thematisiert. Aristoteles verfügt daher nicht eigentlich über einen Organismusbegriff.“ [Her vorhebung: M. F. M.]; auch schon in: G. Toepfer, „Transformationen der Leben digkeit – Kontinuitäten und Brüche in biologischen Grundkonzepten seit der Antike“, in: H. Böhme u. a. (Hrsg.), Transformationen antiker Wissenschaften,
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Beispiele für Ansätze einer organistischen Betrachtung in der aris totelischen Biologie gegeben. Ich beginne mit einigen Bemerkungen zur frühen Begriffsgeschichte.
1. Frühgenese des Ausdrucks ὄργανον Die Griechen haben nur wenige szientistische Neologismen erfun den. Ihre wissenschaftlichen Begriffe sind meist Ausdrücken der Alltagssprache entlehnt. Solche Ausdrücke nehmen in epistemi schen Kontexten dann oft eine neue Gestalt an. Diese Transforma tionen von der Alltagssprache zum szientifischen Gebrauch zeigen dem Wissenschaftshistoriker, an welchen Stellen Erklärungsbedarf bestand und wie mit Worten aus anderen Sprachspielen explanatori sche Lücken gefüllt werden sollten. Dies gilt auch für den Ausdruck ὄργανον. Organon meint im Griechischen zuerst ein kunstvoll her gestelltes Artefakt (ein goldenes Gefäß, eine Mauer)5, dann meist ein Werkzeug und Instrument. In dieser technischen Bedeutung ist das Wort vielerorts und v. a. in der Tragödie belegt.6 Übertragungen in den epistemischen Kontext der frühen Astronomie finden sich bei Pythagoras, der von der Erde als einem „Werkzeug der Zeit“ (ὄργανον χρόνου) spricht.7 Empedokles begreift die Funktion des Schattens als Sonnenmesser auf den Gnomonen als ein Organon.8 Empedokles spricht auch vom Blut als Organon des Denkens.9 Fer ner bezeichnet er die Augen und Ohren als „Doppelorgane“.10 Hier liegt erstmals ein Übergang des Ausdrucks ὄργανον in die Sphäre des Biologisch-Medizinischen vor. Die Erklärungskraft des Orga nonmodells hat im 5. Jahrhundert zu einem inflationären Wortge
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Berlin 2010; S. 3-19, insb. S. 15-17 [3. Transformationen an einem Beispiel: der Organismusbegriff]. Vgl. Euripides, Andromacha 1014 (die von den Griechen vor Troja errichtete Mauer als das „Kunstwerk eurer schaffenden Hände“); Euripides, Ion 1030 (παλαιὸν ὄργανον): ein goldenes Gefäß der Athene als „Gebilde uralter Kunst“. Vgl. Sophokles, Trachiniae 905; Euripides, Bacchae 1208; Ion 1030. Vgl. Pythagoras gemäß H. Diels, W. Kranz (Hrsg.), Die Fragmente der Vorso kratiker, 3 Bde., Berlin 1951-52 [= DK] 14 B 37 Vers 32. Vgl. Empedokles gemäß DK 31 B 48; DK 31 B 154: „technische Organe“: φορᾶς δὲ ἡμέρων καρπῶν καὶ τέχνης ὄργανον οὐδὲν οὐδὲ μηχανὴ σοφίας. Vgl. Empedokles gemäß DK 31 B 105. Vgl. Empedokles gemäß DK 31 B 129 (Vers 8): Doppelorgane (διοργανώσεως) wie Augen und Ohren.
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brauch und zu Bedeutungsdehnungen geführt. Gorgias nennt „die Schrift ein Organon der Erinnerung“.11 Platon (der auch die tech nische Verwendung kennt)12 gebraucht das Wort in seiner Sprach philosophie: Das Nomen gilt ihm als ein Organon der belehrenden Rede.13 Platon verwendet ὄργανον auch in politischen Zusammen hängen. Termini wie Verfassungsorgan haben hier ihren Ursprung. Szientifisch einflußreich war Platons Gebrauch von Organon im Timaios, seinem naturwissenschaftlichen Hauptwerk.14 Dies ist zu betonen, weil Timaios den ganzen Kosmos als Lebewesen begreift und die Rede von den Organa einer funktionalistischen Naturer klärung die Tür öffnet. In Platons Theaitetos heißt es, daß wir nicht mit den Sinnen, sondern durch sie wahrnehmen.15 Auch Demokrit begreift den Leib als ein Werkzeug der Seele. In einem ethischen Sinne will er damit sagen, daß die Seele den Leib oft (durch falsche Taten) mißhandelt.16 Für Aristoteles (der keinen Vorsokratiker so intensiv studiert hat wie Demokrit) war prägend, daß Demokrit die Glieder der Tiere verschiedentlich als Organe begreift.17 An diese Rede knüpft Aristoteles an. Mit Abraham von Bos läßt sich sagen, daß der Leib (σῶμα) bei Aristoteles ein Instrument der Psyche ist (wobei ‚Psyche‘ hier als Lebensprinzip zu verstehen ist).18 Der Blick auf die Frühgeschichte des Ausdrucks zeigt: Der Ausdruck Organon hatte schon vor Aristoteles explanatorische Funktionen. Diese Erklärungen bezogen sich auf technische, unbelebte natür liche und belebte natürliche Objekte. Das Modell der funktionalen
11 Vgl. Gorgias gemäß DK 82 B 11a 198: γράμματά τε μνήμης ὄργανον. 12 Vgl. Platon, Politeia 374d; Leges 956a; Politikos 298d; weitere Angaben bei LJS 1245. [H. G. Liddell, R. Scott, H. S. Jones (Hrsg.), A Greek-English Lexicon, Ox ford 1940 (= LSJ).] 13 Vgl. Platon, Cratylus 388a-390b. 14 Vgl. Platon, Timaios (8 Stellen): 33c; 41e; 42d (Mond als Organon der Zeit); 45a; 45b; 52e; 53a; 83e (Werkzeuge der Krankheiten). 15 Vgl. Platon, Theaitetos 184e-186e. Zu Demokrit vgl. DK 68 B 159. 16 Vgl. Demokrit gemäß DK 68 B 159. 17 Vgl. M. F. Meyer, „Demokrit als Biologe“, in: J. Althoff, G. Wöhrle, B. Herzhoff (Hrsg.), Antike Naturwissenschaft und ihre Rezeption, Trier 2009, S. 31-46. 18 Vgl. A. P. Bos, The Soul and its Instrumental Body. A Reinterpretation of Aristotle’s Philosophy of Living Nature, Leiden 2003; ders., „The ‚instrumental body‘ of the soul in Aristotle’s ethics and biology“, in: Elenchos 27/2006, S. 35-72; vgl. dazu auch M. F. Meyer, „Aristoteles über die Psyche als Prinzip und Ursache des Lebens“, in: Peitho. Examina Antiqua [International Journal devoted to the in vestigation of Ancient Greek, Roman and Byzantine Thought/Adam Mickiewcz University in Poland], 1 (3) 2012, S. 115-142.
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Erklärung wurde auf sehr heterogenen Wissensgebieten wirksam.19 Im Corpus Aristotelicum findet sich die Rede vom ‚Organon‘ an mehr als 220 Stellen,20 übrigens fast nie in der Metaphysik und je nen Schriften, die seit der Spätantike unter dem Etikett „Organon“ zusammengestellt wurden.21 Auch Aristoteles verwendet ὄργανον oft in politischen und sprachtheoretischen Pragmatien. Der Organ begriff ist also bei Aristoteles nicht exklusiv auf die Biologie zuge schnitten. Allerdings wäre die aristotelische Begründung der biolo gischen Wissenschaft ohne den Organbegriff nicht vorstellbar. Die Rede vom ὄργανον wird nun selbst zu einem zentralen Werkzeug dieser Wissenschaft.22 Daß die lebendige Materie (a) ‚werkzeugar tig‘ organisiert ist, und daß sie sich (b) darin vom Unbelebten un terscheidet, ist gemäß De anima II ein zentrales Kriterium für die Abgrenzung der belebten natürlichen Körper von den unbelebten natürlichen Körpern. Lebewesen sind immer schon ‚werkzeugarti ge‘ Körper: Lebewesen haben Teile. Diese Teile verhalten sich zum ganzen beseelten (d. h. lebendigen) Körper wie Werkzeuge. Dies impliziert, daß die Körperteile ihren instrumentenhaften Charak ter verlieren, wenn sie nicht (mehr) Teile des Lebewesens sind. Eine vom Individuum abgetrennte Hand ist für Aristoteles nur dem Na men nach eine Hand. Diese Einsicht trägt er schon in der Meteorologie vor: 19 Vgl. Hippasos gemäß DK 18 B 11: ὡς δὲ κριτικὸν κοσμουργοῦ θεοῦ ὄργανον. (ὄργανον in theologischer Bedeutung). 20 Zahl der Fundstellen für ὄργανον im Corpus Aristotelicum: 226 (Metaphysica: 4; De anima [= DA]: 17; Politica 32; Ethica Nicomachea: 10; Topica: 4). Gottfried Heinemann hat eine Liste aller Fundstellen erstellt, die er mir freundlicherweise zugesandt hat. Dafür möchte ich ihm an dieser Stelle herzlich danken. 21 Vgl. Aristoteles, Topica I 13. 105a20-25: Demnach sind die „Organe Hilfsmittel zur Gewinnung von Schlüssen“. Aristoteles unterscheidet vier „Organe“ zur Auffindung von Syllogismen und Induktionen: (a) die Ermittlung der Prämissen; (b) die analytische Unterscheidung von Mehrdeutigkeiten; (c) die Auffindung der Unterschiede [in den Dingen] und (d) die Auffindung ihrer Strukturähn lichkeiten; vgl. Ch. Rapp, T. Wagner (Hrsg.), Aristoteles. Topik, Stuttgart 2004, S. 26 f. Von diesem Wortgebrauch leitet sich später (vermutlich bei Andronikos, der die entsprechenden Schriften so gruppierte) die bibliothekarische Bezeich nung „Organon“ ab, die sich aber erst in den spätantiken Kommentaren nach weisen läßt, vgl. dazu: H. Flashar, „Aristoteles“, in: Grundriss der Geschichte der Philosophie. Begr. v. F. Ueberweg. Völlig neu bearb. Aufl. hrsg. v. H. Holzhey, Die Philosophie der Antike. Hrsg. v. H. Flashar, Bd. 3: Ältere Akademie. Aristoteles. Peripatos, Basel 1983, S. 236. 22 Vgl. M. F. Meyer, „Die Natur des Organischen. Zur wissenschaftlichen Bedeu tung der aristotelischen Biologie“, in: B. Mojsisch u. a. (Hrsg.), Bochumer Philo sophisches Jahrbuch für Antike und Mittelalter, Bd. 13 (2008), S. 32-53.
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„Das [der Sachverhalt, daß alle Dinge nicht wesentlich durch ihre materiale Zusammensetzung, sondern durch ihre Form be stimmt sind] ist um so klarer, je höher jeweils ein Naturding steht; allgemein gesagt, es ist überall deutlich, wo etwas Werkzeug [Or gan] ist und einem Zweck dient. So ist es klar genug, daß ein toter Mensch nur dem Namen nach [ein Mensch] ist: So ist auch die Hand eines Toten nur dem Namen nach [eine Hand], im gleichen Sinne wie auch eine in Stein gebildete Flöte so heißen könnte, auch sie ist ja gewissermaßen wie ein Werkzeug (οἷον ὄργανα). Bei Fleisch und Knochen ist dies weniger deutlich, noch weniger bei Feuer und Wasser, der Zweck ist nämlich da am wenigsten offenbar, wo am meisten Materie ist.“23 Dieser Gedanke läßt sich in drei Schritte gliedern: (a) Für Aristo teles ist ein toter Mensch kein Mensch. Ausgangspunkt der Unter scheidung von Leben und Nicht-Leben ist die traditionelle Diffe renz von lebenden und nicht-mehr lebenden ‚Dingen‘. Zugleich rückt Aristoteles von dem Gegensatz ‚lebendig – tot‘ ab. Er fragt, welche Merkmale darüber richten, daß etwas ‚Mensch‘ ist. ‚Leben‘ wird in die Bestimmung von ‚Mensch‘ integriert. Es wird zu einem Wesensmerkmal des Menschen. ‚Leben‘ kann nicht isoliert von der Form der Lebewesen diskutiert werden. (b) Aristoteles unterschei det zwischen ‚Hand‘ und ‚toter Hand‘. Die Differenz von belebten und unbelebten Dingen zeigt sich an der Aktualisierung bestimm ter Fähigkeiten und Leistungen. Eine ‚tote Hand‘ kann nicht grei fen. Sie ist bloß dem Namen nach eine Hand. ‚Greiffähigkeit‘ ist hier Kriterium für die Differenz von Leben und Nicht-Leben. Damit wird die Frage nach den spezifischen Fähigkeiten eines Lebewesens (bzw. seiner Organe) virulent: Am Vorliegen/Nichtvorliegen einer solchen Dynamis entscheidet sich, ob ein Wesen lebt oder nicht. (c) Aristoteles sieht die Dynameis belebter Organismen bzw. ihrer Tei le analog (οἷον: „so wie“) zu den Funktionen eines Werkzeugs. Das Wesen eines Werkzeugs liegt darin, auf ein spezifisches Telos (Ziel, Zweck) hin bestimmt zu sein: Eine Flöte, auf der sich nicht spielen läßt, ist nur dem Namen nach eine Flöte. Dazu analog begreift Aris 23 Vgl. Aristoteles, Meteorologica [= Meteor.] IV 12. 389b29-390a4: ἀεὶ δὲ μᾶλλον δῆλον ἐπὶ τῶν ὑστέρων καὶ ὅλως ὅσα οἷον ὄργανα καὶ ἕνεκά του. μᾶλλον γὰρ δῆλον ὅτι ὁ νεκρὸς ἄνθρωπος ὁμωνύμως. οὕτω τοίνυν καὶ χεὶρ τελευτήσαντος ὁμωνύμως, καθάπερ καὶ αὐλοὶ λίθινοι λεχθείησαν· οἷον γὰρ καὶ ταῦτα ὄργανα ἄττα ἔοικεν εἶναι. ἧττον δ‘ ἐπὶ σαρκὸς καὶ ὀστοῦ τὰ τοιαῦτα δῆλα. ἔτι δ‘ ἐπὶ πυρὸς καὶ ὕδατος ἧττον· τὸ γὰρ οὗ ἕνεκα ἥκιστα ἐνταῦθα δῆλον, ὅπου δὴ πλεῖστον τῆς ὕλης·
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toteles die Körperteile als ‚Organe‘ der Lebewesen. Diese TechneAnalogie ermöglicht ein neues Verständnis der belebten Welt. Die belebte Natur wird als organische Natur aufgefaßt – diese Rede von der organischen Natur prägt die Lebenswissenschaften bis auf den heutigen Tag (man denke nur an die Unterscheidung von or ganischer und anorganischer Chemie). Kurz: Meteorologica IV 12 zielt darauf zu bestimmen, auf welches Telos hin ein Lebewesen (bzw. seine Teile) spezifisch ‚organisiert‘ ist. Aristoteles begreift Leben als jene Eigenschaft von funktional organisierter Materie, die diese Materie auf ein bestimmtes Ziel hin so organisiert, daß diese Entität ihrer Form nach genau das ist, was sie ist – und zwar so, daß die Erklärung dieser finalen Organisiertheit keine andere sein kann als eine Bestimmung des artspezifischen Lebens dieses We sens. Diese Einsichten sind für das ganze Projekt der aristotelischen Biologie maßgeblich.24 Anders als seine Vorgänger erklärt er Leben nicht bloß in Opposition zum Tod. Er fragt vielmehr, wie sich leben de von nicht-lebenden Dingen unterscheiden. Der zunächst zu me thodischen Zwecken eingeführte Organbegriff mutiert so auch zum Objektbegriff, der das Feld der aristotelischen Biologie umgrenzt. Zur Bedeutung der Biologie im Corpus Aristotelicum seien hier nur folgende Fakten angeführt: Etwa die Hälfte der unter Aristote les’ Namen tradierten Texte widmet sich naturwissenschaftlichen Themen. Innerhalb der Naturwissenschaft machen die biologischen Schriften mehr als zwei Drittel der Textmenge aus. Das zoologische Grundlagenwerk (die Historia animalium) ist mehr als doppelt so umfangreich wie Aristoteles’ zweitgrößte Schrift (die Politik) und hat fast viermal so viele Bekker-Seiten wie die sog. Metaphysik.
24 Vgl. Aristoteles, Meteor. I 1. 338b6-9: „Nach der Darstellung dieses Sachgebiets [der Meteorologie] wollen wir untersuchen, ob sich auf der gegebenen Grund lage ein Bericht über Tiere und Pflanzen, allgemein und speziell, geben läßt; ist dies nämlich vorgetragen, so dürfte unser ursprünglicher Plan zu seinem Ziel gelangt sein.“ Dies zeigt, daß das naturwissenschaftliche Curriculum einem fes ten Plan folgt und Aristoteles die Biologie schon früh im Blick hatte. Am Ende, in Buch IV, sagt Aristoteles, er wolle das eingeschlagene Verfahren nun auch auf die „ungleichartigen Körper“ anwenden und zu den „zusammengesetzten Gebilden“ (wie Mensch oder Pflanze) vordringen.
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2. Die Teile der Lebewesen als Organe Die Historia animalium ist die frühste biologische Schrift des Aris toteles. Sie entstand in den Jahren nach 347 v. Chr. im nordöstlichen Ägäisraum. Die Historia animalium enthält so ziemlich alle damals bekannten zoologischen Fakten. Aristoteles erwähnt ca. 580 Tier arten. Bereits in Buch I wird deutlich, daß sich seine Biologie in vier Subdisziplinen gliedert: (a) Vergleichende Anatomie, (b) Sinnesphysiologie, (c) Genetik (περὶ γενέσεως) im weitesten Sinne, (d) Verhaltensbiologie. Der Ausdruck ὄργανον begegnet in dieser Schrift an neun Stellen; auch vom Organischen (τὰ ὀργανικά) ist einmal die Rede.25 Gleich zu Beginn der Historia animalium ist ge fragt, wie es gelingen könne, die Tiere systematisch zu behandeln; ob man sie nach den Lebensweisen, den Habitaten, den Verhaltensmustern oder anatomisch untersuchen solle. Daß die Untersuchung mit der Anatomie beginnt, begründet Aristoteles damit, daß alle Tiere Teile haben, und sie sich daher am besten nach anatomischen Maßstäben vergleichen lassen.26 Aristoteles stützt sich dabei auf die (von Anaxagoras konzeptionell eingeführte) Unterscheidung von gleichartigen und ungleichartigen Teilen: (i) Gleichartige Teile (Homoiomere) sind Teile, die nicht wieder in andere Teile zerlegbar sind. Sie sind ἀσύνθετα („unzusammen gesetzt“). Wolfgang Kullmann begreift die gleichartigen Teile (im Anschluß an einen von Xavier Bichat im Jahre 1801 einge
25 Vgl. Aristoteles, Historia animalium [= HA] I 7. 491a25-26; HA II 1. 500a15 [Geschlechtsorgane]; HA IV 6. 531a27-30 [keine Sinnesorgane oder Organe zur Fortbewegung bei den Seescheiden, auch keine Ausscheidungsorgane]; HA V 2. 539b19-21 [Sexualorgane]; HA 589b16-18 [Fortbewegungsorgane im Wasser]; HA 603a21-23; HA 613b27-30; HA 637a18-20; HA 637a24-26. Biologisch irre levant ist HA IV 528a31-32: Hier bezeichnet der Ausdruck Organon die Instru mente der Muschelfischer. Die Übersetzungen der Historia animalium folgen in der Regel dem Text von Aubert und Wimmer (H. Aubert, F. Wimmer, Aristoteles Thierkunde, 2 Bde., unveränderter Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1868, Frank furt a. M. 1992). 26 Vgl. Aristoteles, HA I 6. 491a14-19: Zunächst sind die Teile zu betrachten, aus denen die Tiere bestehen. Durch diese nämlich unterscheiden sie sich am meisten und zuerst und im Ganzen dadurch, daß sie diese haben oder nicht haben, oder durch ihre Lage und Anordnung bzw. nach den zuvor erläuterten Unterschieden, dem Mehr oder Weniger und dem Analogen.
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führten Terminus) als Gewebe.27 Aristoteles’ Beispiele für Homoiomere sind etwa Blut, Fleisch, Fett, Talg, Mark, Samen etc. (ii) Ungleichartige Teile (Anhomoiomere) sind Körperteile, die aus asynthetischen Teilen zusammengesetzt sind und die, wenn man sie teilen würde, nicht ihre spezifischen Funktionen erfül len könnten. Aristoteles’ Beispiele für Anhomoiomere sind etwa Herz, Hirn, Augen, Hände, Füße, Zähne etc. 28 Gemäß Historia animalium I 4. 489a26 liegen aktiv verrichtende Funktionen (ποιητικαὶ δυνάμεις) nur in den Anhomoiomeren vor.29 Aristoteles begreift daher nur die Anhomoiomeren als Organe. Historia animalium I 7 bestätigt dies. Gemäß 491a25-26 will er nun diese Teile behandeln; „zuerst die werkzeugartigen (τὰ ὀργανικά) und dann später die einfachen, gleichartigen Teile.“ Organe sind also zusammengesetzte Körperteile, denen eine aktiv verrichtende Funktion zukommt. Diese Bestimmungen gelten nicht nur in der Zoologie, sondern auch in der Botanik. In De anima II heißt es dazu: „Organe sind auch die Teile der Pflanzen, aber ganz einfache, wie das Blatt eine Bedeckung für das Perikarp [die Fruchthülle], das Perikarp aber eine Bedeckung für die Frucht ist; die Wurzeln sind indes analog zum Mund, denn beide nehmen Nahrung auf.“30 Die Anatomie in der Historia animalium orientiert sich am Leitfaden der Frage nach der Existenz, der Lage und der Anordnung der Teile bei den Tieren. Die Untersuchung umfaßt die Bücher IIV.31 Die Studien ergeben, daß bei fast allen Tieren Organe vorhan den sind, die der Nahrungsaufnahme und Nahrungsausscheidung dienen. Die Fundstellen für ὄργανον zeigen, daß Aristoteles hier expressis verbis die Sinnesorgane, die Geschlechtsorgane und die 27 Vgl. W. Kullmann, Aristoteles. Über die Teile der Lebewesen. Übers. u. erl. v. W. Kullmann, Berlin 2007, S. 363-367, bes. S. 367 (insb. zur Unterscheidung von Organen und Gewebe) und ebd. S. 731 f. 28 Vgl. Aristoteles, HA I 1. 486a5-8: Τῶν ἐν τοῖς ζῴοις μορίων τὰ μέν ἐστιν ἀσύνθετα, ὅσα διαιρεῖται εἰς ὁμοιομερῆ, οἷον σάρκες εἰς σάρκας, τὰ δὲ σύνθετα, ὅσα εἰς ἀνομοιομερῆ, οἷον ἡ χεὶρ οὐκ εἰς χεῖρας διαιρεῖται οὐδὲ τὸ πρόσωπον εἰς πρόσωπα. 29 Vgl. Aristoteles, HA I 4. 489a26. 30 Aristoteles, DA II 1. 412b1 ff. 31 In Buch HA I 7 - II. 1 werden erst die ungleichartigen, dann in Buch III. 2-22 die gleichartigen inneren und äußeren Teile erst des Menschen, dann der andern blutführenden Tiere untersucht, später (ab Buch IV) die homogenen und hete rogenen Teile der blutlosen Tiere. Nach einer kurzen Pragmatie über die Physio logie wird die vergleichende Anatomie in den Büchern V & VI mit einer Unter suchung über die zur Fortpflanzung nötigen Teile und Vorgänge abgeschlossen.
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zur Fortbewegung nötigen Körperteile als werkzeugartige Teile mit Organstatus qualifiziert. Geht es der Historia animalium um die zoologischen Fakten, so widmen sich die Bücher De partibus animalium II-IV der kau salen Erklärung im Bereich der vergleichenden Anatomie. Daß der Organbegriff bei Aristoteles in erster Linie explanative Funktionen hat, zeigt sich daran, daß der Ausdruck ὄργανον in De partibus animalium (in Relation zum Textumfang) etwa neunmal häufiger (insg. 25mal) vorkommt als in der Historia animalium. Liefert die Historia animalium eher morphologische Deskriptionen, so analy siert Aristoteles in De partibus animalium die Funktionen der Teile. Es geht hier (um mit Wolfgang Kullmann zu sprechen) weniger um das Dass als um das Warum im Sinne des Worumwillen; weniger um eine Phänomenologie als um eine Aitiologie. Diese „Zweiteilig keit der Erklärung“ (Kullmann) ist generell kennzeichnend für die aristotelische Wissenschaft.32 So sagt Aristoteles, der Naturwissen schaftler müsse erst die Teile und Phänomene betrachten und dann die Ursachen (das διὰ τί bzw. die αἰτίαι).33 Für unsere Problemstel lung heißt das: De partibus animalium beleuchtet dieselben Gegen stände wie die Historia animalium aus einer andern Perspektive. Daß De partibus animalium die Ursache im Sinne der causa finalis (des Worumwillen: οὗ ἕνεκα) untersucht, begründet Aristoteles mit dem Ungenügen einer bloß materialistischen oder einer bloß ontogenetischen Beschreibung. Diese Methode sei für die Mehr zahl der früheren Forscher typisch. Aristoteles argumentiert gegen Empedokles, jede Genese sei um einer Ousia (eines Individuums) wegen, nicht aber jede Ousia (jedes Individuum) um ihrer Genese.34 Gegen Demokrit bringt er vor, es sei unzureichend (οὐ γὰρ ἱκανόν), bloß die Bestandteile („das Woraus-es-ist“: τὸ ἐκ τίνων ἐστίν) einer Sache aufzulisten. Die Körperteile müßten von ihrer Funktion her 32 Vgl. W. Kullmann, Wissenschaft und Methode. Interpretationen zur Aristoteli schen Theorie der Naturwissenschaft, Berlin, New York 1974; ders., „Die Vor aussetzungen für das Studium der Biologie nach Aristoteles“, in: W. Kullmann, S. Föllinger (Hrsg.), Aristotelische Biologie. Intentionen, Methoden, Ergebnisse (Akten des Symposions über Aristoteles’ Biologie vom 24. bis 28. Juli 1995 in der Werner-Reimers-Stiftung in Bad Homburg), Stuttgart 1997, S. 43-62; ders., Aristoteles und die moderne Wissenschaft, Stuttgart 1998. 33 Vgl. Aristoteles, De partibus animalium [= PA] I 1. 639b6-10. Die Übersetzung von De partibus animalium folgt, sofern nicht anders angegeben, der zitierten Übersetzung von Wolfgang Kullmann 2007. 34 Vgl. Aristoteles, PA I 1. 640a18-19: ῾Η γὰρ γένεσις ἕνεκα τῆς οὐσίας ἐστίν, ἀλλ‘ οὐχ ἡ οὐσία ἕνεκα τῆς γενέσεως.
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verstanden werden.35 Auch ein Bett oder ein Haus sei nur unzurei chend begriffen, wenn man bloß die Teile zusammenaddierte. Auch weise ein Leichnam zwar alle Bestandteile eines Menschen auf, eine Leiche sei aber keineswegs ein Mensch.36 Analog zu den Teilen von Artefakten begreift Aristoteles die Teile der Lebewesen von ih ren Funktionen her. Diese Techne-Analogie führt dazu, die Teile der Lebewesen nicht bloß als Teile, sondern als Werkzeuge für einen Zweck (als ὄργανα) zu begreifen. Die Körperteile werden wie Werk zeuge gesehen, die eine Funktion für ein „Werk“ (ἔργον) haben. Das techneanaloge ἔργον der Individuen ist ihr Leben/Lebendigsein. Ausdrücklich heißt es, die Psyche sei wie ein Ziel (ὡς τὸ τέλος).37 Zwischenbilanz: In der Historia animalium und in De partibus animalium kommt v. a. die erste Variante des Gebrauchs von ‚Or ganon‘ zur Geltung. Funktionale Erklärungen sind in der vergleichenden Anatomie unverzichtbar. Wer wissen will, was ein Gehirn ist, kommt nicht damit aus, allein seine materielle Beschaffenheit, die äußere Gestalt oder die Entwicklungsgeschichte zu beschreiben. Vielmehr muß die (artspezifische) Funktion dieses Organs für das lebende Individuum erklärt werden. Mit dieser Bestimmung des Organischen führt Aristoteles eine neue Dimension in die szientifi sche Analyse der belebten Welt ein: Leben/Lebendigsein wird fortan als eine Eigenschaft von funktional organisierter Materie begriffen und erklärt. Die Rede von den Organen begreift die Körperteile als Werkzeuge für etwas - und dieses ‚etwas’ meint das Leben zuerst im Sinne der Selbsterhaltung. In der vergleichenden Anatomie erlaubt der Organbegriff eine systematische Untersuchung der Funktionen der einzelnen Körperteile. In der materialistischen Analyse (etwa bei Demokrit) lag das ‚Leben‘ jenseits der Erklärung. ‚Leben/Leben digsein‘ war hier implizit schon vorausgesetzt oder wurde als eine von den Lebewesen disparate Eigenschaft begriffen. Die aristoteli sche Biologie zeichnet sich dagegen durch eine organische Betrachtung des Lebens aus. Sie integriert das Leben/Lebendigsein in die Erklärung. Anders gesagt: das Leben ist der Erklärung nicht mehr nur äußerlich. 35 Vgl. Aristoteles, PA I 1. 640b22; 640b28-29: ῾Η γὰρ κατὰ τὴν μορφὴν φύσις κυριωτέρα τῆς ὑλικῆς φύσεως. 36 Vgl. Aristoteles, PA I 1. 640b33-35; dieses Argument ist (wie oben ausgeführt) bereits formuliert in Aristoteles, Meteor. IV 12. 389b29-390a4. 37 Vgl. Aristoteles, PA I 1. 641a27-28: Καὶ ἔστιν αὕτη καὶ ὡς ἡ κινοῦσα καὶ ὡς τὸ τέλος. Τοιοῦτον δὲ τοῦ ζῴου ἤτοι πᾶσα ἡ ψυχὴ ἢ μέρος τι αὐτῆς.
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3. Die Individuen als Organe der Spezies Während sich die eben genannte Verwendung von Organon weit gehend mit dem modernen Gebrauch deckt, überrascht der zweite Modus der aristotelischen Verwendung von Organon zumindest auf den ersten Blick. Diese Verwunderung wird aber weichen, wenn klar wird, weshalb die sogenannte „Genetik“ (περὶ γενέσεως) für Aristoteles eine so entscheidende Rolle spielt. Worum es dabei geht, läßt sich an der Schrift De anima illustrieren. De anima zielt auf eine prinzipielle Klärung dessen, was Leben ist und wie biologische Erklärungen strukturiert werden sollen. Daß Aristoteles diese biologische Prinzipienforschung in der Schrift Περὶ ψυχῆς (De anima) vornimmt, liegt daran, daß die Griechen über keinen einheitlichen Oberbegriff für die ‚Lebewesen‘ verfügten. Seit Pythagoras hießen die Lebewesen ἔμψυχα; d. h. Wesen, die in sich eine Psyche haben. Psyche bedeutete ‚Leben‘ oder ‚Lebensprinzip‘. Wenn Aristoteles nach der Psyche fragt, so fragt er, was das Prinzip des Lebens ist. Anders als seine Vorgänger begreift er die Psyche nicht als eine ma terielle Substanz wie etwa Blut, Wasser oder Atem. Für Aristoteles ist die Psyche kein körperlich-materielles Ding. In De anima II fragt er, was einen belebten natürlichen Körper von einem unbelebten natürlichen Körper unterscheidet.38 Dabei ist vorausgesetzt, daß Le ben/Lebendigsein eine Eigenschaft ist, die nur natürlichen Körpern zukommen kann. Lebende natürliche Körper zeichnen sich durch bestimmte Merkmale aus, die Aristoteles (in Anlehnung an einen schon bei Platon zentralen Begriff)39 als Dynameis (Fähigkeiten, 38 Vgl. Aristoteles, DA II 2. 413a20-27: „Wir sagen nun, indem wir einen neuen An fang der Untersuchung nehmen, daß das Beseelte gegenüber dem Unbeseelten durch das Leben bestimmt ist. Da aber das Leben [eines Lebewesens] in mehr facher Bedeutung verstanden wird, sagen wir, [es] lebe, wenn Leben auch nur in einer [sc. einzigen dieser] seiner Bedeutungen vorliegt: als Geist, als Wahrneh mung, als Bewegung und Ruhe dem Orte nach, ferner als Bewegung gemäß der Ernährung, als Vergehen und als Wachstum.“ (λέγομεν οὖν, ἀρχὴν λαβόντες τῆς σκέψεως, διωρίσθαι τὸ ἔμψυχον τοῦ ἀψύχου τῷ ζῆν. πλεοναχῶς δὲ τοῦ ζῆν λεγομένου, κἂν ἕν τι τούτων ἐνυπάρχῃ μόνον, ζῆν αὐτό φαμεν, οἷον νοῦς, αἴσθησις, κίνησις καὶ στάσις ἡ κατὰ τόπον, ἔτι κίνησις ἡ κατὰ τροφὴν καὶ φθίσις τε καὶ αὔξησις). 39 Die δυνάμεις τῆς ψυχῆς markieren in Platons Politeia den Übergang von der noch im Phaidon favorisierten Dichotomie der Seele zu einer politisch brauch baren Dreiteilung in das vernünftige, das mutartige und das triebhafte Vermö gen. Aristoteles macht diese Dreiteilung für eine einzige Lebensfunktion (das θρεπτικόν) fruchtbar. Auch bei Platon sind die Dynameis im Kontext ‚biolo gischer‘ Lebensfunktionen bedeutsam: Protagoras spricht von einer Verteilung
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Vermögen, capacities) nennt. Von Leben/Lebendigsein ist gemäß De anima II 2. 413a20-27 zu sprechen, wenn ein natürlicher Körper eine der folgenden Eigenschaften aufweist: – Geist (νοῦς); – Sinneswahrnehmung (αἴσθησις); – Bewegung und Ruhe dem Orte nach (κίνησις καὶ στάσις ἡ κατὰ τόπον); – Bewegung gemäß der Ernährung (κίνησις ἡ κατὰ τροφὴν); – Vergehen (φθίσις); – Wachstum (αὔξησις).40 Liegt an einem natürlichen Körper mindestens eines dieser Merk male vor, so ist dieser Körper ein Lebewesen. Minimalerfordernis (minimal requirement)41 für ‚Leben‘ ist Ernährung bzw. Ernäh rungsbewegung. Gemäß De anima II 4. 415a22-b2 kommt die Er nährungsfunktion (θρεπτική ψυχή) als „erstes und allen gemeinstes Vermögen“ (πρώτη καὶ κοινοτάτη δύναμίς ψυχῆς) allen Lebewesen zu. Ernährung bewirkt (a) Wachstum; (b) Selbsterhaltung; (c) die Reifung der Lebewesen zur Entelechie. Der Ausdruck ἐντελέχεια (lat. actualitas) bedeutet wörtlich: „im-Ziel-sein“. Entelechie im biologischen Sinne meint die volle Realisierung (Aktualisierung) von Dynameis, die einem lebenden Individuum artspezifisch zu kommen. Besonders deutlich wird dies in De anima II 1. 412b5. Aristoteles spricht hier von der Psyche als „erster Entelechie“ der für die Lebenserhaltung der Tiere maßgeblichen δυνάμεις. Er nennt Größe, Stärke, Schnelligkeit, Bewaffnung, geflügelte Flucht usw. Die Dynameis werden getreu der Maxime verteilt, „daß nicht eine Art ausgetilgt würde“ (Protago ras 321a). Dies zielt also auf ein biologisches Gleichgewicht. Diese Idee kannte Platon aus der italischen Medizintheorie: Alkmaions Definition der Gesundheit hebt auf die ἰσονομία τῶν δυνάμεων (des Feuchten, Trockenen, Kalten, War men, Bitteren, Süßen etc.) ab; vgl. Alkmaion B 4. Aristoteles, DA II 2. 414a7-12 spielt hierauf an. Im Phaidros erläutert Sokrates die hippokratische Methode, dergemäß man die „einem jeden Einzelding zukommenden Dynamis untersu chen“ muß, um zu sehen, „was für eines es von Natur aus hat, um auf was für Dinge zu wirken, und was für eine, um Einwirkungen und was für welche zu erleiden“ (270c-d). Auch im Timaios ist die Rede von den Dynameis (etwa der Geruchsorgane oder des Mundes). 40 Vgl. G. B. Matthews, „De anima 2. 2-4 and the meaning of life“, in: M. C. Nuss baum, A. O. Rorty (Hrsg.), Essays on Aristotle’s De Anima, Oxford 1992, S. 185194, der diesen Katalog mit einer modernen Liste [The World Book Encyclo pedia] vergleicht, ihn auf seinen definitorischen Gehalt hin prüft und einem empirischen Test unterzieht. 41 Vgl. R. Polansky, Aristotle’s De anima, Cambridge 2007, S. 151.
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(πρώτη ἐντελέχεια). Die Rede von der ἐντελέχεια zielt darauf, die Psyche als erklärendes Prinzip aller artspezifischen Möglichkeiten eines Individuums einzuführen. Für Aristoteles realisiert beispiels weise ein schlafender Löwe (der ja unzweifelhaft ein Löwe ist) nicht alle artspezifischen Dynameis eines Löwen. Auch ein Kind (das zweifellos ein Mensch ist) realisiert nicht alle Möglichkeiten eines adulten Menschen; so kann es sich beispielsweise nicht fortpflanzen. Ein erhellendes Beispiel gibt Aristoteles in De respiratione 17. 478b: „Unter dem, was noch nicht seine Vollendung erreicht hat, verstehe ich beispielsweise die Eier oder bei den Pflanzen die Samen, die noch nicht Wurzeln gefaßt haben.“ Etwas bildhaft ließe sich sagen, daß der Begriff ‚Entelechie‘ erstens eine horizontale und zweitens eine vertikale Bedeutung hat: In dem horizontalen (synchronen) Sinn geht es um den Umstand, daß ein Lebewesen nicht zugleich alle Dynameis realisieren kann; so können Tiere nicht gleichzeitig wach sein und schlafen. In dem eher vertikalen (diachronen) Sinne geht es darum, daß einige artspezifische Dynameis erst im adulten (d. h. reproduktionsfähigen) Zustand (nicht schon vorher) realisiert wer den können. Da es der aristotelischen Biologie um die Erklärung der artspezifischen Dynameis lebender Individuen geht, wäre es z. B. nicht sinnvoll, nur das Samenkorn einer Pflanze zu untersuchen. In De anima II 4 zielt das Entelechie-Konzept auf die Aktualisie rung der artspezifischen Reproduktion. Lebewesen müssen sich so lange ernähren, bis sie sich fortpflanzen können. Zu den Leistungen (ἔργα) von Ernährung und Zeugung heißt es: „Diese Leistungen sind ja die natürlichsten (φυσικώτατον) für jedes Lebewesen, insofern es vollendet ist (und nicht verstümmelt oder spontan erzeugt wird), nämlich ein anderes, sich gleiches We sen zu erzeugen (τὸ ποιῆσαι ἕτερον οἷον αὐτό), das Tier ein Tier, die Pflanze eine Pflanze, damit sie am Ewigen und Göttlichen nach Kräften teilhaben; denn alles strebt nach jenem, und um jenes Zwe ckes wirkt alles, was naturgemäß (κατὰ φύσιν) wirkt.“42 Die Stelle ist von zentraler Bedeutung für die aristotelische Biologie: Aristoteles erklärt (a) das Nährvermögen zur allgemeins ten (allen Lebewesen zukommenden) Funktion; (b) teilt er diese Dynamis in die zwei Subfakultäten Ernährung und Reproduktion; wobei (c) gesagt wird, die Reproduktion sei die „natürlichste“ al ler Leistungen. Begründung: Alles Lebendige zielt darauf, sich art-
42 Aristoteles, DA II 4. 415a22-b2.
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gleiche Individuen zu erzeugen. Weiter heißt es in De anima II 4. 415b18-20: „Alle natürlichen [belebten] Körper sind Organe der Psyche, und wie die Körper der Tiere, so sind auch die Körper der Pflanzen um der Psyche wegen.“ (πάντα γὰρ τὰ φυσικὰ σώματα τῆς ψυχῆς ὄργανα, καθάπερ τὰ τῶν ζῴων, οὕτω καὶ τὰ τῶν φυτῶν, ὡς ἕνεκα τῆς ψυχῆς ὄντα).
Im Text ist nicht (wie in dem von mir favorisierten Zusatz) wört lich von allen belebten natürlichen Körpern die Rede. Aristoteles spricht einfach von allen „natürlichen Körpern“ (φυσικὰ σώματα). Isoliert man diese Rede von ihrem Kontext, so könnte man der Les art verfallen, auch natürliche Körper wie die Gestirne als „Organe der Psyche“ zu verstehen. Davon aber kann weder hier noch in der aristotelischen Astronomie die Rede sein. Der Kontext in De anima II 4. 415b18-20 erhellt klar und deutlich, daß Aristoteles hier (wie in der ganzen Schrift De anima) einzig und allein belebte Wesen meint. Ausdrücklich heißt es im Text, die Körper der Tiere und die Körper der Pflanzen existierten um der Psyche willen. Dies kann nichts anderes meinen als: Die einzelnen tierischen und pflanzli chen Individuen sind Organe für das artspezifische Kontinuum des Lebens. Aristoteles spricht hier von einem autopoietischen Prozeß. Die Autopoiesis ist die natürlichste Leistung aller Lebewesen. Diese Dynamis ist allen anderen Lebensfunktionen vorgeordnet. In De anima II 4. 416b25 bezeichnet er das Reproduktionsvermögen als πρώτη ψυχή γεννητική, als „primäre genetische Funktion“. Die Ar ten sind ewig und göttlich, damit die (sterblichen) Individuen daran „teilhaben“ (ἵνα τοῦ ἀεὶ καὶ τοῦ θείου μετέχωσιν). Diese Teilhabe ist das biologische Telos der Individuen. Die Spezies sind ewig. Das bedeutet nicht, daß die Spezies real existieren. Die Spezies sind ‚Formen‘ (den genetischen Programmen vergleichbar), die sich in den realen Individuen aktualisieren. Diese ‚Formen‘ bestimmen die Individuen zu dem, was sie ihrer Natur (Physis) nach wesentlich (d. h. artspezifisch) sind. Der ‚biologische Sinn‘ des individuellen Lebens (das οὗ ἕνεκα) liegt in der aktiven Teilhabe an diesem Ewi gen, da die Individuen qua Teilhabe das ewige Kontinuum (den Fortbestand) des artspezifischen Lebens garantieren (vgl. auch De generatione animalium II 1. 731b31 ff.). Die Arten sind die expla natorischen „Atome“ der aristotelischen Biologie. Für Aristoteles sind sie unteilbar. Die Spezies ‚laufen‘ ähnlich wie die kosmischen Sphären strikt getrennt nebeneinander her. In der modernen Aris https://doi.org/10.5771/9783495817476 .
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totelesforschung spricht man daher gelegentlich von „life-cycles“.43 Aristoteles fragt nie, warum sich Pflanzen und Tiere unterscheiden oder warum einzig der Mensch Geist hat. Wer solche Fragen an die aristotelische Biologie heranträgt, übersieht, daß es gerade die artspezifische Physis ist, die ein Lebewesen dazu bestimmt, das zu sein, was es seiner Wesensform nach ist. Dem einzelnen Löwen X war es schon bei seiner Zeugung bestimmt, seiner Natur nach ein Löwe zu sein. Das Theorem der Artenkonstanz verdeutlicht auch, weshalb die Biologie für Aristoteles eine theoretische Wissenschaft ist: Die Biologie richtet sich auf das ewig Göttliche der Spezies.44 Ferner sind Konfusionen vermeidbar, die entstehen, wenn man Dar wins Programm an Aristoteles heranträgt: Aus De anima II 4 geht (wie aus De generatione animalium II 1) eindeutig hervor, daß die „Entstehung der Arten“ (The Origin of Species) kein aristotelisches Problem ist. Darwins Frage wäre für Aristoteles völlig undenkbar. Jedes evolutionistische Denken lag der Antike ganz fern.45 43 Vgl. R. A. H. King, Aristotle on Life and Death, London 2001, bes. S. 1-16 und S. 130-140; ders., „The concept of life and life-cycle in De juventute“, in: S. Föllinger (Hrsg.), Was ist Leben? Aristoteles’ Anschauungen zur Entstehung und Funktionsweise von Leben (Akten der 10. Tagung der Karl und Gertud Abel-Stiftung vom 23. bis 26. August 2006 in Bamberg), Stuttgart 2010, S. 171189. 44 Vgl. D. M. Balme, Aristotle’s De partibus animalium I and De generatione animalium I (with passages from II 1–3). Translated with notes, Oxford 1972, S. 155 f.; J. G. Lennox, „Are Aristotelian species eternal?“, in: A. Gotthelf (Hrsg.), Aristotle on Nature and Living Things: Philosophical Studies Presented to David M. Balme on His Seventieth Birthday, Pittsburgh 1985, S. 68-94 [reprinted 2001]: Demnach sind für Aristoteles zwar die Spezies, nicht aber die Formen ‚ewig‘; ausführlich D. H. Cho, Ousia und Eidos in der Metaphysik und Biologie des Aristoteles [Diss.], Stuttgart 2003; ders., „Beständigkeit und Veränderlich keit der Spezies in der Biologie des Aristoteles“, in: S. Föllinger (Hrsg.), Was ist Leben? Aristoteles’ Anschauungen zur Entstehung und Funktionsweise von Leben (Akten der 10. Tagung der Karl und Gertud Abel-Stiftung vom 23. bis 26. August 2006 in Bamberg), Stuttgart 2010, S. 299-314. 45 Vgl. D. M. Balme, Aristotle’s De partibus animalium I and De generatione ani malium I, S. 97 (nur teils zutreffend); D. H. Cho, „Beständigkeit und Veränder lichkeit der Spezies in der Biologie des Aristoteles“, unterscheidet zwei Kon zepte von Spezies: „Morphospezies“ und „Biospezies“. Er untersucht zahlreiche Stellen im Corpus Aristotelicum und zeigt, daß es bei Aristoteles „vereinzelt“ Beobachtungen (i) zur „Aufspaltung einer Art in lokale Varietäten“ (vgl. HA VIII 28. 605b22 ff. und 606a13 ff.) und (ii) „zum Entstehen einer neuen Art durch Bastardisierung“ (vgl. GA II 8. 757b30 ff.) gibt. Cho sieht zwar, daß diese Beobachtungen das Tor zu einer evolutionstheoretischen Deutung aufstoßen. Gleichwohl bleibt er gegenüber solchen Versuchen zu Recht eher skeptisch. Die von Cho angeführten Stellen aus HA VIII 28 lassen sich m. E. nicht als Beleg für
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Anders als alle anderen Funktionen ist die genetische Lebensfunktion (die ψυχή γεννητική) nicht nur auf das einzelne Individu um und seine Selbsterhaltung bezogen. Selbsterhaltung in diesem Sinne ist nur ein Mittel der genetischen Funktion. Das Individuum ist ‚Organ‘ des artspezifischen Lebenskontinuums. Für Aristoteles ist die Reproduktion die explanatorisch irreduzible causa finalis al les Lebendigen. Diese Rede meint nicht, daß die Prozesse, die zur Ausbildung und Reifung dieser reproduktiven Funktion führen, nicht erklärt werden können. (Es gibt kein Thema, dem der Biologe Aristoteles mehr Aufmerksamkeit widmet: So bilden die insgesamt acht Bücher Historia animalium V-VII und De generatione animalium I-V den umfangreichsten Themenkomplex in seiner Biologie. Zu Beginn der Schrift De generatione animalium sagt er, die nun folgende Untersuchung ziele auf die Erklärung der causa efficiens. Hier sollen also jene Bewegungsursachen zur Sprache kommen, die es bedingen, daß ein lebendes Individuum entsteht und sich ent wickelt.) Was indes nicht final (d. h. durch Verweis auf ein wieder höheres Telos) erklärt werden kann, ist der Umstand, daß sich In dividuen artspezifisch fortpflanzen. Das Faktum der artspezifischen Reproduktion ist so gesehen ein echtes aristotelisches Prinzip im Sinne der Analytica posteriora.46 Es läßt sich daher sagen, daß schon für Aristoteles die Genetik den Status einer biologischen Leitdiszi plin hatte. Allerdings ist zu bemerken, daß die Rede von der ‚Genetik‘ (περὶ γενέσεως) bei Aristoteles (dem Sprachgebrauch seiner Zeit folgend) weniger eine ‚Vererbungslehre‘ im modernen Sinne meint die „Aufspaltung einer Art in lokale Varietäten“ lesen. Aristoteles zeigt hier (in Anlehnung an Herodot) nichts anderes, als daß bestimmte in Hellas bekannte Tiere in anderen Weltgegenden (besonders in Afrika) größer oder kleiner, langoder kurzlebiger vorkommen. Aristoteles sagt weder, daß es sich um dieselben Spezies handelt wie in Griechenland, noch, daß sich eine Art in differente Spe zies „aufspaltet“. Mindestens zwei Gründe sprechen gegen diese übertriebene Modernisierung der aristotelischen Biologie: (a) Aristoteles selbst hat diese (ohnehin nur singulären) Beobachtungen nicht zum Anlaß genommen, eine gesonderte Theorie der Spezies zu entwickeln. Die genannten Beispiele haben bestenfalls den Status von Ausnahmefällen. (b) Darwins Theorie der Evolution beruht nicht auf vereinzelten Beobachtungen. Sie hat hochkomplexe theoreti sche Überlegungen (so auf dem Gebiet der Taxonomie und der Geologie) und ein (gegenüber Aristoteles) viel weiteres, auch historisch tradiertes Beobachtungs spektrum zur Voraussetzung. Kurz: Die Unterschiede zwischen den Theorien von Aristoteles und Darwin sollten nicht verwischt werden. 46 Vgl. Aristoteles, Analytica posteriora I 10. 76a31-32: „Prinzipien nenne ich in jeder [sc. wissenschaftlichen] Gattung diejenigen Dinge, von denen man nicht beweisen kann, daß sie sind.“
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als Forschungen zu Geburt, Entwicklung und Reproduktion, wobei Fragen der Vererbung durchaus tangiert werden.47
4. Ansätze zu einer Organismustheorie? Wie oben schon angedeutet, bin ich nicht der Auffassung, daß Aris toteles die Lebewesen im eigentlichen (modernen) Sinne als Orga nismen begreift. Er spricht zwar (wie gesehen) in der Historia animalium einmal von den „werkzeugartigen Teilen“ (τὰ ὀργανικά). Auch an einer vieldiskutierten Stelle qualifiziert er den lebenden Körper durch den erklärenden Zusatz „wie es der organische ist“ (De anima I 1. 412a28 f).48 Daraus sollten aber keine allzu weitrei chenden Folgerungen gezogen werden. (Generell gilt: Die Hyper aktualisierung von antiken Texten schadet einem adäquaten Ver ständnis ebenso wie das Beharren auf ‚Fehlern‘, die ihren Grund in objektiven Mängeln der empirischen Beobachtungsoptionen oder in noch nicht realisierten Konzepten haben.) Kurz: Die Untersuchung der Wechselwirkung bzw. der Wechselseitigkeit der Teile der Lebe wesen ist kein tragendes Signum der aristotelischen Biologie. Das Konzept der kausalen Wechselseitigkeit ist erst seit dem 18. Jahr hundert (namentlich bei Kant) für die moderne Auffassung vom Organismus maßgeblich. Aristoteles beschreibt hingegen die ein zelnen Körperteile meist nur je für sich. Nach diesem Muster sind v. a. die anatomischen Untersuchungen in der Historia animalium 47 Vgl. W. Kullmann, Die Teleologie in der aristotelischen Biologie. Aristoteles als Zoologe, Embryologe und Genetiker (Sitzungsberichte der Heidelberger Akade mie der Wissenschaften, phil.-hist. Klasse), Heidelberg 1979. 48 Vgl. Aristoteles, DA II 1. 412a27 ff: Die Psyche ist die erste Aktualität eines na türlichen potentiell belebten Körpers. 412a28 f. ergänzt den Term „potentiell be lebter natürlicher Körper“ durch den Zusatz „ein solcher Körper, wie es der or ganische ist“. Daß Aristoteles ὀργανικόν von Naturdingen prädiziert, verstand sich für die Hörer nicht von selbst. Vielmehr lag hier eine gewichtige sprachliche Innovation vor. Im traditionellen Sprachgebrauch meinte ὀργανικόν so viel wie „werkzeugartig“ oder „instrumentell“. Das Wort wurde hauptsächlich von Ar tefakten ausgesagt. Aristoteles mußte seinen neuen Sprachgebrauch also genau er erläutern. Tatsächlich erklärt er sofort, wie die Rede von den „Werkzeugen“ („Instrumenten“) in der Biologie zu verstehen ist: „Organe sind auch die Teile der Pflanzen, aber ganz einfache, wie das Blatt eine Bedeckung für das Perikarp [die Fruchthülle], das Perikarp aber eine Bedeckung für die Frucht ist; die Wur zeln sind indes analog zum Mund, denn beide nehmen Nahrung auf.“ (DA II 1. 412b1 ff.); vgl. dazu auch den Beitrag von Gottfried Heinemann in diesem Band.
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und in De partibus animalium gestrickt. Es lassen sich aber auch Ausnahmen von dieser Methode angeben. Paradigmatisch sind die (in kritischer Diskussion mit früheren Medizintheorien gewonne nen) Ausführungen über die (mit vielen Organen, u. a. dem Gehirn) verbundenen Blutgefäße und das Herz in Historia animalium III 2-4. Aristoteles (der bekanntlich keine Vorstellung vom Blutkreis lauf hatte) kommt es hier v. a. auf zwei Punkte an: Erstens auf die Vorstellung, daß das Herz (bzw. bei den blutlosen Tieren das Ana logon) Zentrum und Lebenssitz (locus animi) eines jeden tierischen Individuums ist. (Auch die Pflanzen untersucht er in dieser Hin sicht.) Zweitens darauf, daß das Herz untrennbar mit der Lunge verbunden ist. Dazu gleich noch. Ebenfalls in den ontogenetischen Passagen von De generatione animalium II dominiert die einzelorganische Betrachtung. Auch hier ist die Unterscheidung von gleichartigen und ungleichartigen Teilen leitend. Das Herz als erstes distinkt zu erkennendes Organ ist die Arché sowohl der Homoiomeren als auch der Anhomoio meren. Zugleich aber ist in diesen Passagen eine Beziehung der Organ- bzw. Gewebegenese zu den Kernfunktionen der Psyche er kennbar. Aristoteles diskutiert die Embryonalentwicklung unter der Maxime, daß der (tierische) Keim in einer ersten Phase zunächst eine Art pflanzliches Leben führt, um dann in einer zweiten Phase in ein tierartiges Stadium überzugehen. Insofern dominiert zwar nicht der Blick auf den Gesamtorganismus die Untersuchung über die Genese der Körperteile. Gleichwohl aber steht diese Genetik in einer erkennbaren Relation zu dem psychischen Gesamtzusam menhang. Für das pflanzenartige Leben typisch ist die exklusive Beziehung auf die vegetativen Funktionen. Bald nach der Befruch tung entstehen aus dem Keimling zuerst die Sehnen (νεῦρα) und Adern (φλέβες). Diese Gewebe verleihen dem (zuvor weichen und fast amorphen) Keim eine erste Festigkeit und Stabilität. Eine dieser Adern ist der in 739a29 f. „sogenannte Nabelstrang“ (ὁ καλούμενος ὀμφαλός). Er entsteht, sobald der Keim gebildet ist und sorgt für den Nahrungstransfer von der Gebärmutter zum Embryo. Aristo teles spricht hier von einem heranwachsenden System, das sich (in einer freilich eher liberalen Lesart) durchaus als (eine Art) Organis mus interpretieren ließe: „Daher zeigt sich bei allen Bluttieren zuerst das Herz als etwas klar umgrenztes, weil es der Anfangspunkt sowohl der gleicharti gen wie auch der ungleichartigen Teile ist. Denn in der Phase, in der das Wesen [die Leibesfrucht] der Nahrung bedarf, ist es ange https://doi.org/10.5771/9783495817476 .
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messen, diesen Teil das Zentrum des Tieres und des Systems (τοῦ συστήματος) zu nennen. Denn das nun existierende Tier vergrö ßert sich, seine letzte Nahrung aber ist das Blut bzw. [bei den nicht blutführenden Tieren] das Analogon. […] Da es [der Keimling] aber der Anlage nach bereits ein [unvollkommenes] Tier ist […], so muß es seine Nahrung notwendig von anderswoher nehmen. Daher gebraucht es die Gebärmutter und die Mutter […] Zu die sem Zweck hat die Natur zuerst den Ursprung von zwei Adern aus dem Herzen angelegt. Von diesen (Adern) aber führen feine re Adern zu der Gebärmutter und dies ist der sogenannte Nabel strang. Der Nabelstrang ist nämlich eine Ader (bei einigen Tieren nur eine, bei anderen mehrere) und um diese ist eine Hülle aus Hautgewebe, denn die Fragilität der Adern bedarf des Schutzes und der Bedeckung.“49 In dieser ersten Phase ist die Beziehung der ersten Gewebetypen auf die nutritiven Funktionen der „Nährseele“ (θρεπτική ψυχή) entscheidend. Die Ernährung kennzeichnet für Aristoteles das pflanz liche Leben. Etwas vereinfacht ließe sich sagen: Was der modernen organistischen Biologie der Blick auf die Wechselbeziehung der Or gane, ist in der ontogenetischen Theorie des Aristoteles der Blick auf die Beziehung der Teile zu den (drei) Kernfunktionen der Psy che. Dies zeigt sich auch in den Ausführungen über die zweite Pha se der Embryonalentwicklung. Gemäß De generatione animalium II 6. 644a entsteht rings um das Herz, „aus dem reinsten (Ernäh rungs-)material das Fleisch“.50 Das Fleisch vermittelt die taktilen Sinnesempfindungen. Nach Aristoteles besitzen alle Tiere haptische Empfindungen. Der Tastsinn ist daher der basalste aller Sinne. An diesem Punkt der Ontogenese beginnt der Embryo ein „tierhaftes Leben“. Kriterium für den Eintritt in diese zweite (von Aristoteles begrifflich aber nicht näher bestimmte) Phase der Embryonalent wicklung sind die aisthetischen Leistungen. Auch an dieser Stelle geht Aristoteles also zwar nicht von einer reziproken Wechselwir kung (einer Relation auf einen Organismus) aus. Gleichwohl aber begreift er die Genese der genannten Körperteile in ihrer kausalen Mittel-Zweck-Relation zu den ersten Wahrnehmungsleistungen. So liegt auch hier eine Beziehung eines einzelnen Teils zu einem 49 Aristoteles, GA II 4. 740a17-34. 50 Vgl. J. Althoff, Warm, kalt, flüssig und fest bei Aristoteles. Die Elementarquali täten in den zoologischen Schriften (Hermes Einzelschriften 57), Freiburg i. Br. 1992, S. 76 f.
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Ganzen vor. Allein: Dieses Ganze ist für Aristoteles nicht eigentlich ein Organismus (im modernen Sinne), sondern eine Grundfunkti on der Psyche. Ebenfalls die anderen gleichartigen Teile (Knochen, Haut, Haare, Nägel) bilden sich um des Fleisches willen (ebenso: De partibus animalium II 8. 653b30 ff.). So dienen Knochen, Haut und Nägel dazu, das neu entstandene Sinnesvermögen zu schützen und der Leibesfrucht allmählich Stabilität zu verleihen. Die Haut entsteht (wie die Hautschicht auf einer Suppe) durch Abkühlung des Fleisches. Noch ein weiterer Aspekt verdient Beachtung: Aristoteles beschreibt die Genese der Homoiomeren einerseits als ein Nacheinander von einzelnen Gewebearten. Andererseits erklärt er, wie ein Gewebe zur Entwicklung oder zur Stabilisierung eines anderen Gewebes beiträgt. Aristoteles war also keineswegs blind für solche Wechselwirkungen. Ausdrücklich sagt er, daß die Kno chen und die Adern nie einzeln für sich existieren, sondern stets ein ganzes System bilden (De generatione animalium II 6; De partibus animalium II 9). Was die Embryonalentwicklung der Organe angeht, so bilden sich zunächst die inneren und dann später die äußeren Organe (De generatione animalium II 4 & 6). Der Forderung einiger Naturforscher nach einer genau be stimmten Organabfolge widerspricht De generatione animalium II 6. 742a16-18 mit dem Einwand, eine solche Abfolge lasse sich nicht präzise beobachten. (Diese Bemerkung zeigt nicht nur, wo die empirischen Grenzen der antiken Naturbeobachtung lagen, sondern ebenfalls, daß Aristoteles sich solcher Grenzen durchaus bewußt war.) Nochmals unterstreicht er, das Herz (diese „Akro polis des Körpers“; De partibus animalium III 7. 670a25 f.) sei das zentrale und primäre Organ, „von dem her“ und „um es her um“ sich alles andere entwickele. Auch die Leber, die ebenfalls zur Blutkochung beitrage, müsse zeitlich noch vor der Lunge existie ren. Es ergibt sich für die inneren Organe somit die chronologi sche Abfolge Herz, Leber, Lunge. Auch dies zeigt, daß Aristoteles die einzelnen Körperteile in De generatione animalium II nicht isoliert für sich betrachtet. Leitgedanke ist hier, daß sich erst die vegetativen, dann die aisthetischen und (im Falle des Menschen; aber „von außen“ kommend!) die dianoetischen Dynameis ent wickeln. Offenkundig sind Ansätze organistischer Betrachtungen, wo es um das Wechselspiel von Herz und Lunge geht. In der Schrift De respiratione etabliert Aristoteles die These, daß die Atmung der https://doi.org/10.5771/9783495817476 .
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Kühlung dient.51 Dieses Theorem stützt sich auf zwei grundlegende Prämissen: (a) Die erste Prämisse liegt in der Annahme, daß sich alle Lebewe sen ernähren müssen, um überhaupt zu existieren.52 Aristote les begreift den Ernährungsprozeß als „Kochung“ (πέψις) der Nahrung.53 Die blutführenden Tiere verwandeln die Nahrung mittels des Herzens und des „natürlichen Feuers“ in Blut. Die blutlosen Tiere verwandeln die Nahrung mittels des analo gen (namenlosen) Organs in eine analoge Flüssigkeit (modern: Hämolymphe).54 Das Blut (bzw. das Analogon) ist Produkt dieser Kochung und ernährt die anderen Körperteile. Ontogenetisch trägt es bei zu Wachstum, Entwicklung und Erhaltung. Bei dem Verbrennungsvorgang entsteht in ähnlicher Weise Hitze, wie wenn ein Feuer neuen Brennstoff erhält. Damit es nicht zur Überhitzung kommt, ist Kühlung nötig. Diese Kühlung wird durch Atmung bewirkt. (b) Die zweite Prämisse liegt in der Annahme, daß es für jedes Lebe wesen (expressis verbis auch für Pflanzen) ein spezifisches (u. a. vom Lebensalter abhängiges) ‚Wärmespektrum‘ gibt. Das Über-
51 Vgl. M. F. Meyer, „Aristoteles’ Theorie der Atmung in De respiratione“, in: J. Althoff, S. Föllinger, G. Wöhrle (Hrsg.), Antike Naturwissenschaft und ihre Re zeption, Bd. XXIII, Trier 2013. 52 Vgl. Aristoteles DA II 2. 413a20-27: Demnach ist die Ernährung ein Minimalkri terium für Leben; R. Polansky, Aristotle’s De anima, S. 151 spricht von „minimal requirement“. In DA II 4. 416b11-27 gliedert Aristoteles das Ernährungsvermö gen in drei Subfakultäten mit je besonderen Relata: (i) Hinsichtlich von Größe/ Qualität bewirkt das θρεπτικόν Wachstum; (ii) hinsichtlich des Lebens be wirkt es Selbsterhaltung; (iii) hinsichtlich des Zieles, ein artgleiches Individuum hervorzubringen, bewirkt es Reproduktion; vgl. dazu: J. Althoff, „Aristoteles’ Vorstellung von der Ernährung der Lebewesen“, in: W. Kullmann, S. Föllinger (Hrsg.), Aristotelische Biologie. Intentionen, Methoden, Ergebnisse (Akten des Symposions über Aristoteles’ Biologie vom 24. bis 28. Juli 1995 in der Werner- Reimers-Stiftung in Bad Homburg), Stuttgart 1997, S. 351-364. 53 Vgl. J. Althoff, „Aristoteles’ Vorstellung von der Ernährung der Lebewesen“. 54 Bei Aristoteles grundlegend und überall durchgehalten ist die Einteilung in blut führende und blutlose Tiere. In der modernen Biologie entspricht sie der (von Lamarck Anfang des 19. Jahrhunderts eingeführten) Einteilung in Vertebraten und Invertebraten; vgl. dazu M. Hirschberger, „Aristoteles’ Einteilung der Le bewesen in Bluttiere und Nicht-Bluttiere im Lichte der modernen Biologie“, in: J. Althoff, B. Herzhoff, G. Wöhrle (Hrsg.), Antike Naturwissenschaft und ihre Rezeption, Bd. 11, Trier 2001, S. 61-71; W. Kullmann, Aristoteles. Über die Teile der Lebewesen, S. 204 f.
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bzw. Unterschreiten der ‚natürlichen Temperatur‘ verursacht den Tod.55 Leicht verkürzt läßt sich sagen, daß bei den Verbrennungsvorgän gen im Herzen eine lebensnotwendige Wärme entsteht, und daß sowohl ein Zuviel als auch ein Zuwenig an Wärme zum Tod füh ren. In den letzten Kapiteln von De respiratione stellt Aristoteles die These von der Kühlfunktion der Atmung auf eine anatomische Basis. In Kap. 20 unterscheidet er die drei Funktionen des Herzens (Herzschlag, Pulsschlag, Atmung), um in Kap. 21 zu begründen, warum die Atmung eine Funktion ist, die von der Herzbewegung weder lokal noch prozessual isoliert werden kann. Was die Topolo gie von Herz und Lunge betrifft, so sagt er, daß diese beiden Organe (a) in unmittelbarer Nähe zueinander liegen, (b) sich gegenseitig berühren, (c) jedes dieser Organe „den Blasebälgen in den Schmie dewerkstätten“ ähnelt und (d), daß beide Organe zusammen die äu ßere Form eines „Doppelblasebalgs“ haben. Der letzte Punkt weist schon voraus auf das Wechselspiel dieser Organe. Das in De respiratione 21 beschriebene Zusammenwirken von Herzbewegung und Atmung läßt sich als Sechs-Phasen-Modell so darstellen, daß der je frühere Prozeß den jeweils nächsten kausal bedingt: (1) Ausdehnung des Herzens infolge der (bei der Verbrennung ent stehenden) Wärme; (2) Ausdehnung des Brustkorbes (Thorax) inklusive der Lungen; (3) Ansaugbewegung der kühlenden Luft (Vorgang des Einatmens); (4) Kühlungseffekt: die kalte Atemluft führt zur Kontraktion des Herzens; (5) Kontraktion des Brustkorbes inklusive der Lungen; (6) Austritt von heißer Luft (Vorgang des Ausatmens). Die kalten Luftanteile werden im Körper zur Kühlung gebraucht. Die kalte Außenluft erhitzt sich durch die Körperwärme. In anato mischer Hinsicht betont Aristoteles die absolute Synchronizität von 55 In diesem Kontext greift Aristoteles explizit auf einen schon in De juventute vorgelegten Gedanken zurück: Demnach gibt es zwei Modi der Vernichtung der natürlichen Wärme bzw. des natürlichen Feuers (φθορὰ δὲ πυρός), (a) „Aus löschung“ und (b) „Erstickung“. Im Falle der „Auslöschung“ (σβέσις) erhält das ‚Lebensfeuer‘ keine neue Nahrung und das Wesen stirbt an Wärmemangel. Dagegen wird im Falle der „Erstickung“ (μάρανσις) das Lebensfeuer durch ein Übermaß an Hitze auf ähnliche Weise vernichtet wie ein kleines Feuer durch ein großes Feuer erstickt wird.
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Herzbewegung und Atmung. Dabei legt er den Fingerzeig auf die wechselseitige Permanenz dieser Vorgänge: Dies geht offensichtlich immer und ununterbrochen vor sich, solange man lebt und dieses Körperteil (das Herz) die Bewegung ununterbrochen hervorruft. Und deshalb ist vom Ein- und Ausat men das Leben abhängig.56 Die Atmung ist eine notwendige Bedingung für die Selbsterhal tung aller Lungentiere. Entfällt die Atmung, so sterben sie. Aristo teles betont, daß das Leben mit dem Einatmen beginnt und mit dem Ausatmen endet. Die Kühlfunktion ist mit der Herzbewegung ana tomisch direkt verkoppelt. Herzbewegung und Atemvorgang lassen sich nicht voneinander trennen. Dies alles zeigt, daß es in der aristotelischen Biologie zwar durchaus Ansätze zu einer organistischen Betrachtung des Lebens gab. Insgesamt ist jedoch festzuhalten, daß solche Betrachtungen bei Aristoteles eher exzeptionell und nicht wirklich durchgreifend waren. Aus der historischen Rückschau läßt sich konstatieren, daß der antiken Forschung für eine solche Betrachtung (a) nicht aus reichende Datenmengen (so im Bereich der vergleichenden Zoo logie) zu Verfügung standen, (b) die Mittel zu einer präzisen (die Wechselwirkung in den Mikrobereichen erfassenden) Beobachtung fehlten, (c) kulturell-religiöse Vorschriften (wie das Verbot von Vi visektionen) tiefere Einblicke in die inneren Körperwelten nicht zuließen und (d) quantitative Methoden so gut wie nie zum Ein satz kamen. Es wäre auch eine anachronistische Übertreibung, das Konzept der Wechselseitigkeit an die aristotelische Vier-UrsachenLehre heranzutragen. Wissenschaftshistorisch ergiebiger wäre die Frage, weshalb und in welchen Phänomenbereichen das Konzept der Wechselseitigkeit dringlich wurde; oder (negativ formuliert), was sich mit der von der Antike tradierten Kausalitätslehre nicht mehr erklären ließ; ferner, inwiefern für die Entstehung dieses neuen Konzepts der Wechselseitigkeit auch die (in der Euphorie des mechanistischen Naturbetrachtung erblühte) frühneuzeitliche Diskreditierung der causa finalis eine Rolle gespielt hat. Mit Blick auf Aristoteles läßt sich zusammenfassend sagen, daß seine Über tragung des Ausdrucks ὄργανον in die Sphäre des Biologischen für die Geburt dieser Wissenschaft geradezu konstitutiv war. Die durch diese organische Naturbetrachtung imitierte funktionalistische Erklärung des Lebendigen wurde in doppelter Hinsicht zu einem 56 Aristoteles, De respiratione 21. 480b11-12.
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ersten methodischen Leitfaden dieser Episteme, indem nun einer seits die einzelnen Körperteile als Organe der lebenden Individuen, andererseits die Individuen selbst als Organe jener Spezies verstan den wurden, deren Entstehung selbst aber kein Explanandum bil dete.
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Gottfried Heinemann
Sôma organikon Zum ontologischen Sinn des Werkzeugvergleichs bei Aristoteles
Vorbemerkung: Die in der Überschrift zitierte Wendung – sôma [...] organikon1 – gehört zur aristotelischen Definition von „Seele“, d. h. von Lebendigsein. Sie wird meist so übersetzt, als wäre von einem Körper (sôma) die Rede, der „organisch“, „organisiert“ oder „mit Organen ausgestattet“ (organikon) ist.2 „Seele“, oder Lebendigsein, wäre demnach dasselbe wie „die erste Entelechie“ eines „natürlichen mit Organen ausgestatteten [und insofern „organischen“] Körpers“.3 – Man muss nicht sogleich verstehen, was hier „erste Entelechie“ heißt. Bei der zitierten Übersetzung ist das sogar ganz unverständlich;4 dieser Aufsatz soll zur Erklärung beitragen.
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Aristoteles, De anima II 1, 412b5-6, cf. a28-b1. Vgl. hierzu O. Gigon, Aristoteles: Vom Himmel. Von der Seele. Von der Dicht kunst, München 1983 (zu 412b6) sowie H. Seidl, Aristoteles: Über die Seele, Hamburg 1995: „organisch“; ebenso R. Polansky, Aristotle’s De anima: A Cri tical Commentary, New York 2007, S. 160: „organic“; J. Barnes, The Complete Works of Aristotle. The Revised Oxford Translation, Princeton 1984, hat „or ganized“; W. Theiler, Aristoteles: Über die Seele, 6. Aufl., Darmstadt 1983, und Gigon (Aristoteles: Vom Himmel. Von der Seele. Von der Dichtkunst, zu 412a28) „mit Organen ausgestattet“, ebenso D. W. Hamlyn, Aristotle, De anima, Books II and III, Clarendon Aristotle Series, New York 1968. Weitere Belege bei A. P. Bos, The Soul and Its Instrumental Body. A Reinterpretation of Aristotle’s Phi losophy of Living Nature, Leiden/Boston 2003, S. 85 f., Anm. 75. Aristoteles, De anima II 1, 412b5-6 (Übers. Theiler bzw. Gigon). Vgl. aber unten, T12. „Entelechie“ hat hier nichts mit dem Abschluss einer Entwicklung zu tun: Tiere sind schon vor diesem Abschluss (d. h. etwa: vor der Geschlechtsreife) lebendig; die Definition der Seele differenziert nicht zwischen Kindern, Erwachsenen und Greisen. Vielmehr bildet sie den Rahmen, innerhalb dessen eine Unterscheidung zur Seele gehöriger Vermögen und demgemäß auch eine Differenzierung nach Lebensphasen erfolgt (vgl. R. Johnston, „Aristotle’s De Anima: On why the soul is not a set of capacities“, in: British Journal for the History of Philosophy 19(2)/2011, S. 185-200). Wie auch bei den Verwendungsfällen in De generatione animalium (II 1, 734a16-735a4) kann entelecheia in De anima II 1 mit energeia gleichgesetzt werden.
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Die durch organikon angezeigte Werkzeugfunktion wird bei der zitierten Auslegung an die als „Werkzeug“ (organon) fungierenden Teile des Körpers delegiert.5 Demgegenüber betonen einige Interpreten zu Recht, dass der griechische Wortlaut dies gar nicht hergibt. Die Charakterisierung eines Körpers (sôma) als organi kon unterstellt eine Werkzeugfunktion dieses Körpers selbst; deren Zusammenhang mit einer Werkzeugfunktion seiner Teile ist zwar nicht ausgeschlossen, wird aber auch nicht präjudiziert.6 Welcher Körper dies ist, muss sich aus dem Kontext ergeben. Dabei halte ich es – mit der Mehrzahl der Interpreten – für unabweisbar, dass Aristoteles hier von dem ganzen Körper des jeweiligen Lebewesens spricht:7 was man im Deutschen auch den Leib nennt 5
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Vgl. z. B. J. Whiting, „Living bodies“, in: M. C. Nussbaum, A. O. Rorty (Hrsg.), Essays on Aristotle’s De anima, New York 2003, S. 75-92, hier S. 77: Die Charakterisierung des Körpers als organikon „[...] means that it has organs which are defined by their functions, and therefore that it cannot exist in the absence of soul, without which these organs could not perform their functions.“ Ähnlich R. Polansky (Aristotle’s De anima, S. 160): „The body is organic through being composed of parts that provide instruments for the soul.“ Diese Interpretation lässt sich bekanntlich bis auf Alexander von Aphrodisias zurückverfolgen (vgl. A. P. Bos, The Soul and Its Instrumental Body, S. 85 Anm. 75). L. A. Kosman, „Animals and other beings in Aristotle“, in: A. Gotthelf, J. G. Lennox (Hrsg.), Philosophical issues in Aristotle’s biology, Cambridge, Mass. 1987, S. 360-391, hier S. 376 f.; S. Everson, Aristotle on Perception, Oxford 1997, S. 64 f. (dazu im Hauptpunkt bestätigend: J. Barnes, „Rezension zu Everson“, in: Class. Rev. 49/1999, S. 120-122, hier S. 121); A. P. Bos, The Soul and Its Instru mental Body, S. 85 ff.; ders., „Aristotle’s De anima II.1: The traditional inter pretation rejected“, in: J. Hattiangadi, D. Johnson, D. Sfendoni-Mentzou (Hrsg.), Aristotle and Contemporary Science, Vol. 2, New York 2001, S. 187-201, hier S. 190 ff.; S. Menn, „Aristotle’s definition of soul and the programme of the De anima“, in: Oxford Studies in Ancient Philosophy 22/2002, S. 83-139, hier S. 108 ff. Auch R. Polansky (Aristotle’s De anima, S. 160) betont, dass „organikon probably means ‚instrumental‘ or having the power of an instrument“. Leider bleibt Kosmans bahnbrechender Aufsatz in den späteren Beiträgen unerwähnt; das gilt auch für die ausführlich dokumentierte Diskussion bei Bos (The Soul and Its Instrumental Body, S. 85 ff.; vgl. insbesondere den Schluss von Anm. 75 sowie S. 92 f.). – Vgl. jetzt aber die vervollständigten Angaben in ders., „The tongue is not the soul’s instrument for tasting in Aristotle, On the soul II 10“, in: Hermes 140(3)/2012, S. 375-385, Anm. 1. Demgegenüber identifizieren Everson und Bos den von Aristoteles in De ani ma II 1 als organikon charakterisierten Körper mit bestimmten, als Träger von Seelenfunktionen fungierenden Teilen des Leibes. Bei Everson (Aristotle on Per ception, S. 67 f.) sind das insbesondere die Sinnesorgane (und der ganze Leib nur „abgeleiteterweise“, ebd., S. 249 f.), bei A. P. Bos (Aristotle’s De anima II.1, S. 189 f. und 197 f.) das von Aristoteles an anderen Stellen erwähnte pneuma (oder ein Analogon, wo dieses fehlt). Da die Erklärung von organikon als „werk
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und dessen Lebendigsein eben die „Seele“ ist. Von einer Werkzeugfunktion des ganzen Körpers ist bei Aristoteles ja auch an anderen Stellen die Rede.8 Zu beachten bleibt allerdings, dass die Definition von „Seele“ in De anima II 1 diese Werkzeugfunktion nicht umstandslos unterstellt: Ausgangspunkt ist hier nicht der lebendige Körper als Werkzeug (organon), sondern der potentiell lebendige Körper als orga nikon, d. h. als „zum Werkzeug geeignet“.9 Was dabei unter einem potentiell lebendigen Körper zu verstehen ist und was es für einen solchen Körper heißt, zum Werkzeug geeignet – im Unterschied zu: als Werkzeug fungierend – zu sein, bleibt erklärungsbedürftig.10 1. Das Wort „Organismus“ oder ein direktes Äquivalent kommt bei Aristoteles nicht vor. Aber was nach Kant „organisierte Wesen“ auszeichnet, dass Teile und Ganzes einander wechselseitig als Zweck und Mittel bedingen,11 trifft nach Aristoteles auf alle Lebewesen zu. Diese Wechselseitigkeit ist bei Aristoteles bekanntlich gemäß der Unterscheidung von vier Arten der Ursache differenziert. Der Werkzeugvergleich, über den ich hier sprechen will, illustriert diese Differenzierung in einem wichtigen Punkt. Wie Werkzeuge (orga na, Pl.), haben Teile eines Lebewesens jeweils eine charakteristische
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zeughaft“ oder „zum Werkzeug geeignet“ oft mit der letzteren These gleichge setzt wird, komme ich auf sie später nochmals zurück. Aristoteles, De partibus animalium I 1, 642a11 (s. u. T2, dazu W. Kullmann, „Aristoteles: Über die Teile der Lebewesen“, in: Aristoteles Werke in deutscher Übersetzung, hrsg. von H. Flashar, Bd. 17, Zoologische Schriften II, Teil 1, Berlin 2007, S. 317); Aristoteles, De partibus animalium I 5, 645b16 f. (s. u. T3, hierzu Kullmann, „Aristoteles: Über die Teile der Lebewesen“, S. 356). Ebenso Aristo teles, De anima II 4, 415b18-20. Vgl. S. Menn (Aristotle’s definition of soul and the programme of the De anima, S. 109): organikon = „[...] suited for being used as an instrument [...]“; ebenso bereits L. A. Kosman („Animals and other beings in Aristotle“, S. 377): „[...] to be a horse’s body [...] is to be an instrument capable of being (or doing) that, the actual being (or doing) of which is specified in the formal account of being a horse.“ Siehe unten, Abschnitt 6. Die Teile des Körpers kommen dann dadurch ins Spiel, dass die Eignung des Körpers zum Werkzeug auf eine entsprechende Eignung der Teile als ihre notwendige Bedingung zurückführbar ist. I. Kant, Kritik der Urteilskraft, in: Kants Werke, Akademie-Textausgabe, Bd. 5, Berlin 1968, § 65 f. – Für Kants Begriff von einem organisierten Wesen ist außerdem entscheidend, dass die Teile einander (wechselseitig) bedingen, also untereinan der in einem Zweck-Mittel-Verhältnis stehen. (Ich danke den Herausgebern für den Hinweis auf diese unverzichtbare Verdeutlichung.)
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Funktion; ihre charakteristischen Merkmale sind dieser Funktion angepasst. Wie bei Werkzeugen erklärt sich einerseits ihr Vorhandensein aus ihrer Funktion, und andererseits das Zustandekommen der funktionsgemäßen Leistung aus ihrem Gebrauch. Näher betrachtet trifft dies insbesondere auf die ungleichteiligen Teile eines Lebewesens zu; Aristoteles spricht oft so, dass zwischen „Werkzeug“ (organon) und „ungleichteiliger Teil“ gar kein terminologischer Unterschied ausmachbar ist. Die zugrunde liegende Unterscheidung zwischen gleichteiligen und ungleichteiligen Teilen eines Lebewesens ist ganz elementar. Gleichteilig ist, was mit seinen Teilen gleichartig ist; ungleichteilig ist, worauf dies nicht zutrifft.12 Knochen, Blut, Muskelgewebe usw. sind gleichteilig. Denn jeder Teil eines Stücks Knochen ist wieder ein Stück Knochen, und so fort. Ein Herz ist nicht gleichteilig, denn ein halbes Herz ist kein Herz; ebenso eine Hand, denn eine halbe Hand ist keine Hand, und so fort.13 Ungleichteilige Teile sind aus gleichteiligen gebildet.14 Diese sind somit ihr Material;15 sie werden als geeignetes Material für die Bildung ungleichteiliger Teile mit funktionsgemäßen Merkmalen benötigt. Der Vergleich mit einem Werkzeug funktioniert auch hier: Wie eine Säge nur funktioniert, wenn sie aus Eisen ist, so muss der Kehlkopf zur Schallverstärkung aus steifem Knorpel bestehen.16 Wie der Körperteil als Werkzeug für eine Funktion, so wird der ganze Körper von Aristoteles als Werkzeug der Seele beschrieben: T1. „Die Kunst muss Werkzeuge verwenden, die Seele den Körper.“17 12 Demgemäß werden gleichteilige Teile durch Massenterme, ungleichteilige Teile durch (echte) Sortale (d. h. count nouns) charakterisiert. Zu dieser Unterschei dung vgl. M. Steen, The Metaphysics of Mass Expressions, Stanford 2012 (http:// plato.stanford.edu/entries/metaphysics-massexpress, Zugang: 15.11.2012). 13 Beachte: Dies gilt auch für homöomere Gemische. Die Hand ist nicht deshalb ungleichteilig, weil sie aus unterschiedlichen Materialien (Knochen, Sehnen, Muskel- und Bindegewebe usw.), sondern weil sie nicht aus Händen besteht. 14 Aristoteles, De partibus animalium II 1, 646b25-7; ebd. 2, 647b21-5. 15 Aristoteles, De partibus animalium II 2, 647b22: hôs hylê, d. h. „als Material“ – nicht wie in Kullmanns Übersetzung: „gewissermaßen Material“. 16 Aristoteles, Physica II 9, 200b4-7; Aristoteles, De partibus animalium I 1, 642a913. Zum Kehlkopf vgl. weiter unten, Abschnitt 6. 17 Aristoteles, De anima I 3, 407b25-6: δεῖ γὰρ τὴν μὲν τέχνην χρῆσϑαι τοῖς ὀργάνοις, τὴν δὲ ψυχὴν τῷ σώματι. Thema ist hier die pythagoreische Leh re, dass eine Seele in unterschiedlichsten Körpern wiedergeboren werden kann (b20 ff.). Nach Aristoteles ist das absurd: Der Flöte entlockt die Kunst des Zim mermanns keinen Ton (b24-5); ebenso belebt die Seele keinen Leib, zu dem sie nicht passt.
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Und demgemäß: T2. „[…] der Körper ist Werkzeug“.18 In der Einleitung zu De partibus animalium stellt Aristoteles die Sache so dar, als wäre das eine Schlussfolgerung: T3. „Jedes Werkzeug ist zu einem Zweck, von den Körperteilen ist jeder zu einem Zweck, der Zweck ist eine Tätigkeit (praxis), deshalb ist klar, dass der ganze Körper zwecks einer vollständigen Tätigkeit gebildet ist.19 Denn das Sägen ist nicht um der Säge willen da,
Dieses Beispiel unterläuft auch die zugrunde liegende Vorstellung von einer nachträglichen Verbindung der schon vorhandenen Seele mit einem Leib (vgl. b15): Ohne Flöten gibt es keine Kunst des Flötenspiels, und ohne den Leib gibt es nach Aristoteles keine Seele, die dessen Lebendigkeit ist. Aristoteles sagt das hier noch nicht, aber durch die Wahl des Beispiels beugt er einem solchen Missverständnis des Werkzeugvergleichs vor. In seiner Interpretation der Stelle rekurriert A. P. Bos („Why the soul needs an instrumental body according to Aristotle (Anim. I 3, 407b13-26)“, in: Hermes 128(1)/2000, S. 20-31) auf den einzigen Fall, in dem die zitierte Vorstellung bei Aristoteles eine Anwendung hat: Den Zeugungsvorgang, bei dem nach Bos das Sperma als „instrumental body“ fungiert (ebd., S. 26). Nach Aristoteles (De anima II 1, 412b26-7; dazu treffend R. Polansky, Aristotle’s De anima, S. 166) sind aber sperma und karpos (pflanzlicher Same) vor der Befruch tung nur potentiell solche Körper, wie sie seiner Definition von „Seele“ als „zum Werkzeug geeignet“ vorausgesetzt sind. Beim Zeugungsvorgang ist das Sperma zwar körperlicher Überträger der Form, aber kein Lebewesen. Irritierend ist bei Bos auch die Behauptung, dass Aristoteles die Seele als unbewegten Beweger, nicht wie Platon als Selbstbeweger, beschreibt („Why the soul needs an instrumantal body according to Aristotle“, S. 22 f.). Unbewegter Beweger ist nach Aristoteles nicht die Seele, sondern das Erstrebte und das machbare Gute (De anima III 10, 433b11 bzw. b16). Selbstbeweger ist das Tier (ebd., b28); soweit die Seele den Kör per bewegt, dessen entelecheia sie ist, wirkt nicht Eines auf Anderes ein. Zu der (auf die Interpretation von De anima II 4, 415b10 ff. durch Alexander von Aphrodisias zurückführbaren) Auffassung der Seele als unbewegten Beweger vgl. K. Corcilius, „Aristotle’s definition of non-rational pleasure and pain and desire“, in: J. Miller (Hrsg.), Aristotle’s Nicomachean Ethics: A Critical Guide, New York 2011, S. 117143, hier bes. S. 118 und S. 135-137. R. Polansky (Aristotle’s De anima, S. 210) ignoriert, dass prôton (De anima II 4, 415b21) = prôtê (Physica, II 3, 194b30). 18 Aristoteles, De partibus animalium I 1, 642a11: [...] τὸ σῶμα ὄργανον. Die ganze Stelle (a9-13) lautet in der Übersetzung von Kullmann: „[...] so wie das Beil hart sein muss, wenn man mit ihm Holz spalten will, und wenn hart, dann aus Bronze oder Eisen, so ist es auch notwendig, dass der Körper von der und der Beschaffenheit ist und aus den und den Bestandteilen besteht, wenn er seine Aufgabe erfüllen soll; denn der Körper ist ein Werkzeug (zu einem bestimmten Zweck existiert ja jeder seiner Teile und ebenso auch das Ganze).“ 19 „Vollständig“: plêrês (645b17) – nicht: „vielgliedrig“ (polymerês; zu dieser von einigen Interpreten bevorzugten Textvariante: W. Kullmann, Aristoteles: Über die Teile der Lebewesen, S. 356).
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sondern umgekehrt; das Sägen ist nämlich ein Gebrauch. Daher ist der Körper irgendwie zwecks der Seele da, und die Teile zwecks der Leistungen, für die sie von Natur bestimmt sind.“20 Dieser Schluss von den Teilen aufs Ganze ist fragwürdig.21 Betrachten wir ein selbsterhaltendes System S aus den Teilen A und B. Dabei habe A die Funktion, B zu erhalten; und B habe die Funktion, A zu erhalten. Die Selbsterhaltung von S ergibt sich somit aus der kombinierten Funktion der Teile A und B. Aber daraus folgt nicht, dass S die Funktion hat, sich selbst zu erhalten. Es ist nicht einmal klar, was das heißen soll. Hingegen ergibt sich der Sinn der Funktionszuweisungen an die Teile A und B, d. h. die Auszeichnung ihrer jeweiligen Wirkung als ihre Funktion, umstandslos aus der Charakterisierung von S als selbsterhaltend. Sie ist relativ auf diese Beschreibung; die Selbsterhaltung von S fungiert als letztlicher Zweck. Es ist deshalb wichtig zu verstehen, dass die aristotelische Auffassung des Körpers als „Werkzeug“ der Seele nicht von dem zitierten Argument abhängig ist. In diesem wird die Seele mit einer „vollständigen Tätigkeit“ (praxis plêrês) identifiziert, die den Zweck (oder die Funktion) des ganzen Körpers ausmachen soll. Diese Auszeichnung der Seele als Zweck ist bei Aristoteles bekanntlich nicht die Definition von „Seele“, sondern eine Charakterisierung, die sich erst aus dieser ergibt. 2. Seele ist Lebendigsein – mit dieser Formel beschreibe ich einen Sprachgebrauch, den Aristoteles ganz selbstverständlich voraussetzt.22 Die Formel ist keine Definition. Aber sie verweist auf den 20 Aristoteles, De partibus animalium I 5, 645b14-20: ᾽Επεὶ δὲ τὸ μὲν ὄργανον πᾶν ἕνεκά του, τῶν δὲ τοῦ σώματος μορίων ἕκαστον ἕνεκά του, τὸ δ‘ οὗ ἕνεκα πρᾶξίς τις, φανερὸν ὅτι καὶ τὸ σύνολον σῶμα συνέστηκε πράξεώς τινος ἕνεκα πλήρους. Οὐ γὰρ ἡ πρίσις τοῦ πρίονος χάριν γέγονεν, ἀλλ‘ ὁ πρίων τῆς πρίσεως· χρῆσις γάρ τις ἡ πρίσις ἐστίν. ῞Ωστε καὶ τὸ σῶμά πως τῆς ψυχῆς ἕνεκεν, καὶ τὰ μόρια τῶν ἔργων πρὸς ἃ πέφυκεν ἕκαστον. 21 Vgl. W. Kullmann, Aristoteles: Über die Teile der Lebewesen, S. 356, ad loc.; J. Lennox (Aristotle: On the Parts of Animals I-IV, New York 2001, S. 176, ad loc.) spricht treffend von einer „fallacy of composition“. 22 In diesem Sinne De anima II 2, 413a21-2: „[...] διωρίσϑαι τὸ ἔμψυχον τοῦ ἀψύχου τῷ ζῆν [...]“ („[...] dass sich das Beseelte vom Unbeseelten dadurch, dass es lebt, unterscheidet [...]“).
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Ausgangspunkt, von dem her Aristoteles eingangs des II. Buchs von De anima seine „allgemeinste Erklärung“ von „Seele“ entwickelt.23 Ich beginne demgemäß in diesem und dem nächsten Abschnitt mit einigen Plausibilitätsbetrachtungen; anschließend kommentiere ist die wichtigsten Schritte der Erklärung, die in De anima II 1 ausgearbeitet ist. Ich sage: Seele ist Lebendigsein, nicht Leben (wie man auch hört). Von „Seele“ kann also nur die Rede sein, wenn zugleich davon die Rede ist, dass etwas lebendig ist. Dieses Etwas ist nicht das Leben, die Seele selbst oder ein Geist (das alles wäre einfach nur widersinnig). Bei Aristoteles ist es ein „natürlicher Körper“ von bestimmter Beschaffenheit.24 Man möchte fragen: Warum nicht z. B. eine Person? Tatsächlich ist das gar nicht ausgeschlossen, da nach Aristoteles auch Personen natürliche Körper von bestimmter Beschaffenheit sind. Aber die Definition ist allgemeiner. Sie betrifft alles, was in einem biologisch relevanten Sinne lebendig ist: Pflanzen und Tiere, wobei der Mensch zunächst nur als eine unter vielen Tierarten gilt. Aber gerade bei uns selbst sehen wir, dass dieses Lebendigsein mit dem Sein zusammenfällt. Ich existiere nur als dieser lebendige Körper. Wenn mein Körper nicht mehr lebendig ist, bin ich nicht mehr; der lebendige Körper hört auf zu existieren, wenn er aufhört, 23 „Allgemeinste Erklärung“: koinotatos logos (De anima II 1, 412a5-6). 24 Ebd., 412a11-2 – „von bestimmter Beschaffenheit“: toionde (ebd., a16-7, vgl. b11 und b27). In Anlehnung an den zeitgenössischen Sprachgebrauch (vgl. Platon, Lg. 891c3: physis; ebd. 892c5: physei) kann Aristoteles die sogenannten Elemen te auch als „die natürlichen Körper“ bezeichnen (vgl. z. B. Physica IV 1, 208b8-9; Metaphysica VII 2, 1028b10). Diese Wendung ist aber nicht für die Elemente reserviert (vgl. z. B. Physica II 2, 193b24 und bes. De caelo I 3, 270a29-33). Für die Annahme von A. P. Bos („Aristotle’s De anima II.1: The traditional interpre tation rejected“, S. 188 f. sowie The Soul and Its Instrumental Body, S. 74 ff.), dass auch an der o. g. Stelle (De anima II 1, 412a11-2) von „elementaren“ Kör pern, insbesondere dem sogenannten pneuma, die Rede sei, spricht zwar viel leicht die anschließende Bemerkung, die natürlichen Körper seien „Prinzipien der anderen“ (a12-3; dazu Bos, The Soul and Its Instrumental Body, S. 75 f.). Die Annahme scheitert aber daran, dass dann ein „elementarer“ Körper „Leben“ und somit „selbstverursachte Ernährung sowie Zunahme und Abnahme“ (a145) „haben“ müsste. Was Bos allenfalls zeigen kann, ist aber etwas ganz anderes, nämlich: Dass nach Aristoteles ein elementarer Körper, das sogenannte „natür liche Feuer“, als Träger bestimmter Stoffwechselfunktionen erforderlich ist (vgl. De juventute etc. 14 = De respiratione 8, 474b10 ff., dazu Bos, The Soul and Its Instrumental Body, S. 82). Diese, und somit das „Leben“ im Sinne „selbst verursachter Ernährung sowie Zunahme und Abnahme“ eignen aber nicht dem „natürliche Feuer“ als solchem, sondern dem lebendigen Leib, dessen Teil es ist.
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lebendig zu sein. Lebendigsein ist keine Eigenschaft; sein Aufhören ist keine Veränderung, sondern Vernichtung. Lebendigsein ist daher auch ein Begriff von Identität. In den Vorbemerkungen zu seiner Definition von Seele erklärt Aristoteles, Leben sei dasselbe wie T4. „selbstverursachte Ernährung sowie Zunahme und Abnahme“.25 Der Begriff des Lebens wird nahe liegender Weise am Stoffwechsel als der elementarsten Lebensfunktion festgemacht. Bemerkenswert ist dann aber sogleich die Erwähnung von Zu- und Abnahme. Was hier gemeint ist, wird durch die gängigen Übersetzungen eher verstellt: Statt „Abnahme“ (so Theiler treffend für phthisis) schreibt Gigon „Verfall“, Seidl „Schwinden“, die Revised Oxford Trans lation und Hamlyn „decay“, Polansky „decline“.26 Dabei erklärt Polansky ganz richtig, dass hier – ich möchte sagen: vor allem – an eine Zu- und Abnahme bei wechselndem Ernährungsstand, z. B. auch Winterschlaf, und an den jahreszeitlichen Vitalitätszyklus von Pflanzen zu denken ist.27 Sogleich an altersbedingten Verfall und jugendliches Wachstum zu denken, ist geradezu irreführend, da in diesem Fall die ernährungsbedingte Zu- und Abnahme mit entsprechenden Phasen von Entstehen und Vernichtung einhergeht.28 Der somit angedeutete (aber nicht ausgeführte) Zusammenhang des Zu- und Abnehmens mit der Ernährung ist auch bei einem Komödienfragment vorauszusetzen, dessen Wortlaut sich mit den obigen Zitaten auffällig überschneidet: T5. (Schuldner S im Disput mit Gläubiger G) S: Wenn man zu einer Zahl einen Stein hinzufügt oder wenn man einen wegnimmt, ist sie noch dieselbe Zahl? – G: Nein. – S: Und wenn man eine Elle um ein Stück verlängert oder verkürzt, bleibt dann das Maß bestehen? – G: Nein. – S: Nun schau auf die Menschen: Der eine nimmt zu, der andere ab.29 Im Wechsel (metallaga) sind alle die ganze (Lebens-) Zeit. Was aber seiner Natur nach (kata physin) wechselt und nie im selben Zustand bleibt, das ist doch wohl ein anderes (heteron) Ebd., 412a14-5: δι‘ αὑτοῦ τροφή τε καὶ αὔξησις καὶ φϑίσις. Für die Nachweise siehe Fußnote 2. R. Polansky, Aristotle’s De anima: A Critical Commentary, S. 152. Vgl. zum Zusammenhang von Entstehen und Wachstum beim Embryo GA II 4, 739b33 ff.; die nährende Seele ist hier keine andere als die erzeugende Seele (ebd. 740b36-7: εἰ οὖν αὕτη ἐστὶν ἡ ϑρεπτικὴ ψυχή, αὕτη ἐστὶ καὶ ἡ γεννῶσα). 29 ὁ μὲν γὰρ αὔξεϑ‘, ὁ δέ γα μὰν φϑίνει, (Vs. 7) 25 26 27 28
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als das, von dem es sich abgesetzt hat (tou parexestakotos). Auch du und ich sind gestern andere, heute andere, morgen andere und nicht dieselben nach dieser Regel [...] (weshalb der Schuldner für das früher geliehene Geld gar nicht zuständig ist).30 Dass es nach Aristoteles zu der beschriebenen Lebensfunktion gehört, das Lebewesen als Exemplar seiner Art und somit als Substanz zu erhalten,31 besagt daher auch, dass bei aller Zu- und Abnahme die Selbigkeit eines Lebewesens durch seine „Seele“ gewährleistet ist. 3. Plutarch (Theseus 23,1) erwähnt das zitierte Argument im Zusammenhang mit einem Gedankenexperiment, das als „Schiff des Theseus“ Karriere gemacht hat. Ich referiere hier die moderne, im Kern auf Hobbes (De corpore II 11,7) zurückgehende Version: T6. Bei der wiederholten Reparatur eines hölzernen Schiffs werden nacheinander alle Teile durch neue ersetzt. Anschließend werden die alten Teile in ihrer alten Anordnung neu zusammengesetzt. Welches der beiden Schiffe ist das ursprüngliche Schiff? Wenn dieses hölzerne Schiff definitionsgemäß dasselbe wie die se Hölzer (Planken etc.) in dieser Anordnung ist, dann ist das aus den alten Teilen neu zusammengesetzte Schiff das ursprüngliche Schiff; das durch Austausch der Teile entstandene Schiff ist ein anderes Schiff. – Bei einem Museumsstück (wovon Plutarch spricht) leuchtet das ein, bei einem Gebrauchsgegenstand nicht. Bei einem Museumsstück hält die Ergänzung den Verschleiß nicht auf: sie dokumentiert ihn vielmehr. Es kann geradezu eine konservatorische Aufgabe sein, das Original durch Zusammenbau der ausgebauten Teile wiederherzustellen. Das durch Austausch der Teile entstandene Schiff ist demgegenüber eine bloße Kopie. Hingegen wird ein 30 Epicharm, DK 23 B 2 (Diogenes Laertios III 11) – ab „nun schau“ wörtlich übersetzt. Schuldner und Gläubiger nicht bei D. L., vgl. aber bei DK das ebd. (S. 194 Z. 13 ff.) an das Zitat aus D. L. anschließende Testimonium (Plutarch). Nach einem zweiten Testimonium zu DK 23 B 2 (S. 195 Z. 1 ff.,) verprügelt der Gläubiger den Schuldner und erklärt sich nach dessen Vorhaltungen für ebenso unzuständig. Zur Rekonstruktion und Wirkungsgeschichte vgl. D. Sedley, „The Stoic Criterion of Identity“, in: Phronesis 27/1982, S. 255-275. 31 In diesem Sinne De anima II 4, 416b17-9: ἡ μὲν τοιαύτη τῆς ψυχῆς ἀρχὴ δύναμίς ἐστιν οἵα σώζειν τὸ ἔχον αὐτὴν ᾗ τοιοῦτον. Anders als Sedley („The Stoic Criterion of Identity“, S. 256) unterstelle ich bereits hier eine Ant wort auf das obige Argument.
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Gebrauchsgegenstand durch den Austausch verschlissener Teile wiederhergestellt; er ist derselbe Gegenstand, aber „wie neu“. Niemand muss über die Teile Buch führen. Ob irgendwann alle Teile ausgetauscht sind,32 wird gar nicht bemerkt: das ist für die Selbigkeit des Gegenstandes ohne Belang. Diese Unterscheidung folgt der bekannten Regel, dass Kriterien für Selbigkeit durch sortale Prädikate festgelegt – und somit eventuell beschreibungsabhängig – sind. Aristoteles beschreibt den Körper eines Lebewesens in Analogie zu einem Gebrauchsgegenstand. Wir haben daher zu fragen: Was ist überhaupt ein Gebrauchsgegenstand? Auf meinem Schreibtisch liegt ein Stein, den ich vor Jahrzehnten in einem trockenen Bachbett gefunden habe. Der Stein dient mir als Briefbeschwerer und ist somit ein Gebrauchsgegenstand. Aber was heißt das? Während ich dies schreibe, liegt dieser Stein nur auf dem Schreibtisch herum. Er wird nicht verwendet, sondern liegt zur Verwendung bereit. Vor ein paar Wochen hatte ich ihn verlegt, und habe ihn dann vergeblich gesucht. Damals lag er also noch nicht einmal bereit. Gleichwohl war dieser Stein mein Briefbeschwerer und somit ein Gebrauchsgegenstand; das Taschenmesser, das ich stattdessen zur Briefbeschwerung benutzte, war ein schlechter Ersatz. Zu einem Gebrauchsgegenstand gehört es demnach, dass er normalerweise zur Verwendung bereitliegt. Wenn er nicht bereitliegt, ist das eine Störung und wird als solche vermerkt. Er kann z. B. auch zur Reinigung oder Reparatur vorübergehend außer Gebrauch genommen werden. Die Unterbrechung dient dann seiner Verwendbarkeit: Der Stein bleibt Gebrauchsgegenstand. Er bleibt es, bis ich ihn außer Gebrauch nehme. Aber ich kann ihn auch verschenken, verkaufen oder vererben: Wenn mein Erbe ihn seinerseits in Gebrauch nimmt, bleibt der Stein ein Gebrauchsgegenstand – und zwar bleibt er derselbe Gebrauchsgegenstand. Die These legt nahe, dass die Selbigkeit eines Gebrauchsgegenstandes von der Kontinuität seiner Verfügbarkeit abhängig ist. Diese ergibt sich ihrerseits aus der Kontinuität eines Verfügungsanspruchs: dass dies mein Briefbeschwerer ist, unabhängig davon, ob ich ihn gerade als solchen verwende, ob er zur Verwendung be32 Bei hölzernen Schiffen ist das ganz normal – wie auch bei alten Reisebeschrei bungen nachzulesen ist: Schiffe werden unterwegs immer wieder zur Reparatur an den Strand gezogen; Bäume werden gefällt und zu Masten, Rahen, Planken usw. verarbeitet; es wird ausgetauscht, was ausgetauscht werden muss.
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reitliegt oder vorübergehend nicht einmal das. Die Kontinuität des Verfügungsanspruchs zeigt sich gerade an den beschriebenen Unterbrechungen, die eben keine Abbrüche, sondern vorübergehende Störungen der Verfügbarkeit sind. Dasselbe gilt auch bei einem Austausch von Teilen: Die Kontinuität des Verfügungsanspruchs ist davon unbetroffen; die Kontinuität der Verfügbarkeit ist demgemäß nur vorübergehend gestört. Und mit der Kontinuität des Verfügungsanspruchs ist zugleich auch die Selbigkeit des Gebrauchsgegenstandes von der Störung gar nicht betroffen. Die von Aristoteles behauptete Analogie zwischen Leib und Gebrauchsgegenstand betrifft jedenfalls diese Selbigkeit, die im einen Fall durch den Bestand der Seele und im anderen Fall durch die Kontinuität eines Verfügungsanspruchs gewährleistet ist. 4. Wenn ein natürlicher Körper Leben hat, dann ist seine Lebendigkeit oder „Seele“ seine „Substanz“. Das ist bei Aristoteles der Ausgangspunkt: Als dasjenige, was auf den Körper zutrifft, wenn er Leben hat,33 ist die Seele zugleich dasjenige, was es für diesen Körper heißt, ein Gegenstand seiner Art zu sein.34 Sie ist „Substanz“ im Sinne der definitionsgemäßen „Form“,35 zu der sich der Körper als Träger und Material verhält.36 Nach Aristoteles verhält sich Material zu Form wie Möglichkeit zu Wirklichkeit:37 Material als solches ist potenzieller Träger der Form; das Auftreten der Form realisiert eine mit dem Material gegebene Möglichkeit. Aber die Sache ist komplizierter. „Material“ ist hier das „nächste Material“,38 über dem die Form superveniert.39 33 In diesem Sinne ebd. 412a18: kath‘ hypokeimenou. 34 Ebd., 412b11: to ti ên einai tôi toioutôi sômati. 35 Ebd., 412a19-20: ousia hôs eidos; – „definitionsgemäß“: kata ton logon (ebd. b10-1). 36 Ebd., 412a18-9: hôs hypokeimenon kai hylê. 37 Ebd., 412a9-10: ἔστι δ‘ ἡ μὲν ὕλη δύναμις, τὸ δ‘ εἶδος ἐντελέχεια. 38 Met. VIII 6: 1045b18: eschatê hylê. Vgl. zum Folgenden Kosman („Animals and other beings in Aristotle“, S. 377) und R. Polansky (Aristotle’s De anima, S. 154n13). 39 Die Supervenienz der Form über dem Material behauptet T7. „Ferner ist das Material etwas Bezügliches. Denn zu einer anderen Form gehört ein anderes Material.“ (Physica II 2, 194b8-9: ἔτι τῶν πρός τι ἡ ὕλη· ἄλλῳ γὰρ εἴδει ἄλλη ὕλη). Bemerkenswert ist, dass nach Aristoteles gleichwohl nicht die Form durch das Material, sondern das Material durch die Form determiniert ist; dazu auch G. Heinemann, „Material und Supervenienz bei Aristoteles“, in: J. Althoff,
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Anders als in Physica I 7, wo ein „bleibendes“ Material als „Prinzip“ eingeführt wird,40 ist „Material“ in De anima II 1 kein potentieller Träger unterschiedlicher Formen. Es ist ein „natürlicher Körper, der potentiell Leben hat“.41 Und als ein solcher ist das Material potentieller Träger genau derjenigen und keiner anderen Form, die es als lebendiger Körper tatsächlich trägt. Wenn der Körper diese Form verliert, hört er auf, lebensfähiger Körper zu sein; was von ihm bleibt, ist nur noch ein Leichnam.42 Der umgekehrte Fall, dass ein Körper zunächst nur lebensfähig ist und dann erst lebendig wird, kommt bekanntlich nicht vor;43 nach Aristoteles ist eine solche Annahme ganz widersinnig. Aber deshalb ist auch zunächst gar nicht klar, worin überhaupt der Unterschied zwischen einem lebensfähigen und einem lebendigen Körper liegt und was daher die Unterscheidung von Möglichkeit und Wirklichkeit hier überhaupt soll. Die aristotelische Formel, die Seele sei T8. „Substanz im Sinn von Form eines natürlichen Körpers, der potentiell Leben hat“,44 und somit T9. „Wirklichkeit eines solchen Körpers“ – oder deutlicher übersetzt: „volles Ausgebildetsein (entelecheia) dessen, was ein natürlicher Körper, der potentiell Leben hat, potentiell ist“,45 bleibt somit erklärungsbedürftig. Der Hinweis auf die zwei Bedeutungen von „Wirklichkeit“ (entelecheia), nämlich
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S. Föllinger, G. Wöhrle (Hrsg.), Antike Naturwissenschaft und ihre Rezeption, Bd. 19, Trier 2009, S. 47-59. „Bleibend“: hypomenon (Physica I 7, 190a10 und passim); im selben Sinne ebd. b13 und passim: hypokeimenon. Aristotels, De anima II 1, 412a20: sôma physikon dynamei zôên echon. In diesem Sinne ebd., 412b25-6: ἔστι δὲ οὐ τὸ ἀποβεβληκὸς τὴν ψυχὴν τὸ δυνάμει ὂν ὥστε ζῆν, ἀλλὰ τὸ ἔχον. „Potential zum Leben ist nicht der der Seele verlustige, sondern der sie habende Körper.“ Beachte: Die durch das männliche Sperma zur Bildung eines Embryo angeregten katamenia sind sind zunächst ein bloßer Teil des weiblichen Körpers. Als „le bensfähiger Körper“, der durch das Sperma belebt würde, kommen sie nicht in Betracht. Ebd., 412a19-21: τὴν ψυχὴν οὐσίαν εἶναι ὡς εἶδος σώματος φυσικοῦ δυνάμει ζωὴν ἔχοντος. Ebd., 412a21-2: [...] τοιούτου ἄρα σώματος ἐντελέχεια.
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T10. „entweder wie Wissen (epistêmê) oder wie dessen Vergegenwärtigung (to theôrein – wörtlich: das Betrachten)“,46 sowie die Präzisierung, die Seele sei Wirklichkeit „wie Wissen“,47 d. h. sie sei T11. „Wirklichkeit im ersteren Sinn eines natürlichen Körpers, der potentiell Leben hat“,48 behebt diese Unklarheit nicht. Aber diese Unterscheidung ist für das gegenwärtige Thema bedeutsam, weil sie zugleich auch eine – von mir im vorigen Abschnitt erörterte – Eigentümlichkeit von Gebrauchsgegenständen betrifft: 5. Der Gebrauchsgegenstand ist auch dann Gebrauchsgegenstand, wenn er zur Verwendung bereitliegt. Das Bereitliegen entspricht hier dem Wissen; die Verwendung seiner Vergegenwärtigung. Das heißt: Der zur Verwendung bereitliegende Gebrauchsgegenstand ist wirklich, nicht nur potentiell Gebrauchsgegenstand. Mein Schreibtischstein dient mir wirklich als Briefbeschwerer – ganz unabhängig davon, ob ich ihn gerade als solchen verwende oder ob er nur zur Verwendung bereitliegt. Beiläufig war in meiner obigen Diskussion aber auch von diesem Stein als potentiellem Briefbeschwerer die Rede: Als der Stein im Bachbett lag und ich ihn mir griff, war er kein Briefbeschwerer, aber zum Briefbeschwerer geeignet. Ich habe den Stein aber zunächst nur gegriffen und mitgenommen, weil er mir gefiel. Erst später habe ich seine Eignung zum Briefbeschwerer entdeckt und schließlich die somit entdeckte Möglichkeit, ihn zu meinem Briefbeschwerer umzufunktionieren, in die Tat umgesetzt. Erst mit diesem letzten Schritt wurde der Stein zu meinem Briefbeschwerer und somit zu einem 46 Ebd., 412a22-3: αὕτη δὲ (die ἐντελέχεια, a22) λέγεται διχῶς, ἡ μὲν ὡς ἐπιστήμη, ἡ δ‘ ὡς τὸ ϑεωρεῖν. Vgl. ebd. a9-11: τὸ δ‘ εἶδος ἐντελέχεια, καὶ τοῦτο διχῶς, τὸ μὲν ὡς ἐπιστήμη, τὸ δ‘ ὡς τὸ ϑεωρεῖν. 47 Ebd., 412a23: [...] φανερὸν οὖν ὅτι ὡς ἐπιστήμη. 48 Ebd., 412a27-8: ἡ ψυχή ἐστιν ἐντελέχεια ἡ πρώτη σώματος φυσικοῦ δυνάμει ζωὴν ἔχοντος. Zwischen T10 und T11 weist Aristoteles darauf hin, dass das Wissen seiner Vergegenwärtigung „der Entstehung nach“ (têi genesei, a26) vorausgehen muss. Die „Wirklichkeit im ersteren Sinn“ ist daher auch „der Entstehung nach“ die „erste Wirklichkeit“. Dieser (einigermaßen unschädliche) Doppelsinn von prôtê muss wohl hingenommen werden (ebenso, wenn ich recht verstehe, R. Polansky, Aristotle’s De anima, S. 159 f.).
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Gebrauchsgegenstand. Er ist jetzt, wie gesagt, wirklich mein Briefbeschwerer – in der Terminologie von T10: wirklich „wie Wissen“, wenn er zur Verwendung bereitliegt; und wenn ich ihn tatsächlich verwende, wirklich „wie dessen betrachtende Vergegenwärtigung (to theôrein)“. Aber ohne diese Verwendung ist er immer noch wirk lich ein – zum Briefbeschwerer geeigneter – Stein. Dies ist der entscheidende Unterschied zwischen meinem Stein und dem potentiell lebendigen Körper, von dem Aristoteles spricht. Der Stein kann zum Briefbeschwerer geeignet sein, ohne zu dieser Verwendung bereitzuliegen. Er ist dann potentiell Briefbeschwerer, ohne wirklich Briefbeschwerer zu sein. Hingegen ist nach Aristoteles kein natürlicher Körper potentiell lebendig, ohne wirklich lebendig zu sein.49 Das bleibt zu beachten, wenn Aristoteles die obigen Definitionen (T8, T9, T11) mit der Bemerkung erläutert, potentiell Leben habend sei ein Körper, der „zum Werkzeug geeignet“ (organikon) ist50 – woraus sich schließlich folgende „gemeinsame Charakterisierung jeglicher Seele“ ergibt: T12. „Wirklichkeit im ersteren Sinn eines natürlichen, zum Werkzeug geeigneten Körpers“.51 Die Erläuterung von „potentiell Leben habend“ durch „zum Werkzeug geeignet“ aber ändert nichts daran, dass Wirklichkeit hier Lebendigsein ist. Anders als der zum Briefbeschwerer geeignete Stein existiert der zum Werkzeug geeignete und daher lebensfähige Körper nur, indem er lebendig ist und als Werkzeug fungiert. Was es für diesen Körper heißt, • „zum Werkzeug geeignet“ (organikon), im Unterschied zu • als Werkzeug fungierend und somit „Werkzeug“ (organon)
49 Derselbe Unterschied ergibt sich, wenn der als Briefbeschwerer geeignete Stein mit Aristoteles als Material meines Briefbeschwerers beschrieben wird: Der Stein ist bleibendes Material; anders als der lebensfähige Körper ist er kein nächsten Material, über dem die „Form“ und „definitionsgemäße Substanz“ su perveniert. 50 Aristoteles, De anima II 1, 412a28-b1. 51 Ebd. 412b4-6: εἰ δή τι κοινὸν ἐπὶ πάσης ψυχῆς δεῖ λέγειν, εἴη ἂν ἐντελέχεια ἡ πρώτη σώματος φυσικοῦ ὀργανικοῦ. Zu prôtê („im ersteren Sinn“) s. o. Anm. zu T11.
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zu sein, lässt sich nicht durch die Analogie zu dem Stein erläutern; es bleibt erklärungsbedürftig. 6. Soweit ich sehe, tragen die Ausführungen in De anima II 1 zu dieser Erklärung nicht mehr viel bei. Der an T12 anschließende Hinweis, man solle die Werkzeugfunktion des Körpers auch anhand der Teile betrachten,52 führt zwar wieder in den Umkreis des eingangs zitierten Fehlschlusses von den Teilen aufs Ganze.53 Aber die Sache stellt sich doch anders dar, wenn man nicht direkt bei der Werkzeugfunktion ansetzt, sondern bei der Eignung der Körperteile für diese Funktion. Ich habe oben die Auffassung zurückgewiesen, als Gebrauchsgegenstand sei dieses hölzerne Schiff definitionsgemäß dasselbe wie diese Hölzer (Planken etc.) in dieser Anordnung.54 Dasselbe gilt für den lebendigen Körper, der aus bestimmten gleichteiligen und ungleichteiligen Teilen besteht. Aber es muss nicht auch für den le bensfähigen Körper als solchen gelten: Natürliche Körper könnten in solcher Weise beschreibbar sein, dass (i) diese Beschreibung auf keine Lebensfunktionen rekurriert, und dass sich (ii) anhand dieser Beschreibung Kriterien zur Unterscheidung lebensfähiger von lebensunfähigen Körpern explizieren lassen. Insbesondere sollte die Eignung eines Körperteils zum Werkzeug für spezifische Lebensfunktionen anhand einer solchen Beschreibung beurteilbar sein. Aristoteles gibt dafür zahlreiche Beispiele: Der Kehlkopf ist zum Resonanzkörper geeignet, weil er hohl ist und weil der Knorpel, aus dem er gebildet ist, die nötige Härte und Elastizität aufweist;55 Tiere brauchen einen solchen Kehlkopf, wenn zu ihrer Lebensweise der Gebrauch einer lauten Stimme gehört. Das Auge ist zum Sehwerkzeug geeignet, weil sich die Durchsichtigkeit das Wassers seinem Innern (der sogenannten korê) mitteilt, das mit einer wässrigen Gallerte gefüllt ist;56 Tiere brauchen ein solches Auge, wenn zu ihrer Lebensweise das Sehen gehört. Ebenso braucht das Kamel einen Ebd., 412b17-8: ϑεωρεῖν δὲ καὶ ἐπὶ τῶν μερῶν δεῖ τὸ λεχϑέν. Siehe oben, Abschnitt 1. Siehe oben, Abschnitt 3. Aristoteles, De partibus animalium III 3, 664b1-2, vgl. De anima II 8, 419b618; dazu J. G. Lennox, „Material and formal natures in Aristotle’s De partibus animalium“, in: ders., Aristotle’s Philosophy of Biology. Studies in the Origins of Life Science, Cambridge 2001, S. 182-204, hier S. 196 f. 56 Aristotels, De anima III 1, 425a4; vgl. De sensu 2, 438a12-6. 52 53 54 55
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harten Gaumen und einen geteilten Wiederkäuermagen, weil seine Nahrung dornig und holzig ist;57 Watvögel brauchen lange Beine und Zehen, weil sie im Sumpf leben und so fort58 Ausgangspunkt der Erklärung ist jeweils ein bestimmtes Merkmal einer spezifischen Lebensweise (bios):59 Laute zu äußern, zu sehen, sich von dorniger und holziger Nahrung zu ernähren, im Sumpf zu leben und so fort. Die genannten Körpermerkmale werden durch ihre Funktion für diese Lebensweise erklärt: T13: „[...] denn die Natur macht die Werkzeuge (organa) nach Maßgabe der Leistung [d. h. des ergon, das ihre Funktion ist], nicht die Leistung nach Maßgabe der Werkzeuge.“60 Näher betrachtet handelt es sich in den obigen Beispielen um not wendige Bedingungen für die Eignung eines Körperteils zum Werkzeug für eine bestimmte, zur jeweiligen Lebensweise gehörendeLeistung – und demgemäß des ganzen Körpers zum Werkzeug für diese Lebensweise.61 Soweit hier von Kriterien zur Unterscheidung lebensfähiger von lebensunfähigen Körpern die Rede sein kann, sind dies Kriterien, an denen man nicht den zum Werkzeug für eine bestimmte Lebensweise geeigneten und deshalb potentiell Leben habenden, sondern den zum Werkzeug für diese Lebensweise unge eigneten Körper erkennt. Als hinreichende Bedingung für die Eignung eines Körpers zum Werkzeug für eine Lebensweise käme allenfalls die Erfüllung al ler dieser notwendigen Bedingungen in Betracht: Zum Werkzeug 57 Aristoteles, De partibus animalium III 14, 674a27-b5. 58 Aristoteles, De partibus animalium IV 12, 694b12-7, vgl. zu diesen Beispielen L. Judson, „Aristotelian teleology“, in: Oxford Studies in Ancient Philosophy 29/2005, S. 341-366, hier: S. 355, n. 46. 59 Vgl. Aristoteles, De partibus animalium IV 12, 694b7: tou biou charin. 60 Aristoteles, De partibus animalium IV 12, 694b13-4: τὰ γὰρ ὄργανα πρὸς τὸ ἔργον ἡ φύσις ποιεῖ, ἀλλ‘ οὐ τὸ ἔργον πρὸς τὰ ὄργανα. Der erste Teil das Satzes könnte auch so übersetzt werden: „Die Natur passt die Werkzeuge der Funktion an“ (pros to ergon [...] poiei). 61 Beachte: Bei notwendigen Bedingungen ist der Schluss von den Teilen auf Ganze unproblematisch. Ohne lange Beine funktioniert die Lebensweise des Reihers nicht; und dann sind nicht nur seine Beine, sondern sein ganzer Körper nicht zum Werkzeug für diese Lebensweise geeignet. Werden die langen Beine durch ein anderes Körpermerkmal ersetzt, z. B. durch Schwimmhäute, so dass der Reiher nicht waten muss, sondern schwimmend gründeln kann, dann ist seine Lebensweise nicht mehr diejenige eines Reihers, sondern vielleicht die einer En te. Für die Ente ergibt sich genau dieselbe Betrachtung: Ohne Schwimmflossen funktioniert ihre Lebensweise nicht.
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geeignet (organikon) und deshalb potentiell Leben habend wäre demnach ein Körper, der alle für eine spezifische Lebensweise (bios) erforderlichen, ohne Rekurs auf die entsprechenden Lebensfunktionen beschreibbaren Merkmale aufweist. Ich weiß nicht, ob Aristoteles in T12 an dergleichen denkt. Aber darauf kommt es nicht an. Denn erstens ist von vornherein klar, dass sich aus der beschriebenen Wendung kein handbares Kriterium für lebensfähige Körper ergibt: Die Liste der relevanten Merkmale wäre unübersehbar. Und zweitens ist es schon bedeutsam genug, die zum Werkzeug für eine bestimmte Lebensweise geeigneten und deshalb potentiell Leben habenden Körper durch notwendige Bedingungen zu charakterisieren. Diese Bedingungen sind zwar ohne Rekurs auf Lebensfunktionen beschreibbar, aber sie sind nur in einem lebendigen Körper – durch die vegetative Seele – gewährleistet. Ihre Gewährleistung ist eine Lebensfunktion. Ein totes Auge wird trüb, der Lauf eines toten Reihers zerfällt, und ganz buchstäblich: Alles fressen die Würmer. Das geschieht nicht sofort – wie ja auch die abgetrennten Teile mancher Kerbtiere nach Aristoteles eine gewisse Zeit weiterleben. Aber dann sterben sie, und ebenso zerfallen die Teile eines Leichnams, T14. „[...] weil sie keine Werkzeuge haben zur Erhaltung ihrer natürlichen [d. h. der Natur des Tiers, dessen Teile sie sind, entsprechenden] Beschaffenheit.“62 Bereits durch notwendige Bedingungen wie die genannten wird der lebensfähige Körper daher als nächstes, und nicht nur bleibendes, Material charakterisiert. Die Frage, was es für einen natürlichen Körper heißt, zum Werkzeug für eine spezifische Lebensweise geeignet und somit potentiell als Exemplar der jeweiligen Art lebendig zu sein, lässt sich durch die Angabe notwendiger, auf keine Lebensfunktionen rekurrierender Bedingungen nicht abschließend beantworten. Aber das heißt nur, dass jede Antwort fragmentarisch ist und ergänzungsbedürftig bleibt. Die Sinnhaftigkeit der begrifflichen Unterscheidung zwischen
62 Aristoteles, De anima I 5, 411b23-4: ὄργανα γὰρ οὐκ ἔχουσιν ὥστε σώζειν τὴν φύσιν. – Zum Vorherigen ebd. b19-22 („Kerbtiere“: entoma, b20; „eine gewisse Zeit“: tina chronon, b22). Ebenso De longitudine et brevitate vitae 6, 467a20-2 und De juventute et senectute, de vita et morte 2, 468b5-7.
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• einem lebensfähigen Körper, der zum Werkzeug geeignet (orga nikos) ist, und • einem lebendigen Körper, der als Werkzeug (organon) fungiert, und somit die Kohärenz der Terminologie von De anima II 1 ist hierdurch aber durchaus nicht beeinträchtigt. Und es ließe sich sogar ergänzen, dass die aristotelische Rede von einer Werkzeugfunktion des ganzen Körpers (s. o. T1-T3) überhaupt nur dadurch Sinn macht, dass man die Rede von einem zum Werkzeug geeigneten Körper versteht.
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Hans Werner Ingensiep
Gibt es ein „Leben“ zwischen der Materie und Gott? Frühe kantianische Begriffe von „Leben“ und „Organismus“ und aktuelle Transformationen
„So hat man über die Zweckmäßigkeit der Natur bald entweder die leblose Materie, oder einen leblosen Gott, bald eine lebende Materie, oder auch einen lebendigen Gott zu diesem Behufe versucht.“1
I. Dimensionen des Lebensbegriffs „Leben heißt das Vermögen einer Substanz, sich aus einem inneren Prinzip zum Handeln, einer endlichen Substanz, sich zur Veränderung, und einer materiellen Substanz, sich zur Bewegung oder Ruhe als Veränderung ihres Zustandes zu bestimmen“; so definiert Kant „Leben“ in den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissen schaft.2 An anderer Stelle wurde versucht, die diversen Dimensionen dieses Lebensbegriffs zu verstehen, der einen metaphysischen Kern beinhaltet, der bei Kant wohl durchgehend präsent ist, wenn er von „Leben“ spricht, und zwar sowohl in systematischen – spekulativtheoretischen und ethisch-praktischen Kontexten seiner Philosophie – als auch in besonderen biografischen Kontexten, beispielsweise als Kant im hohen Alter seine Lebenskräfte schwinden und er sich mit dem eigenen „Vegetieren“ auseinandersetzt.3 Mit diesem weiten Begriff eines „Lebewesens“ steht sein kritisch reflektierter Begriff von „Naturzweck“ qua Organismus als eine sich selbst organisierende Ganzheit in eigentümlicher Spannung. Es wird sich zeigen, dass seine Begriffe von „Leben“ und „Organismus“ im strikten Be1
2 3
I. Kant, Kritik der Urteilskraft, in: Kants Werke, Akademie-Textausgabe, Bd. 5, Berlin, New York 1968, S. 392, Anm. Kants Kritik der teleologischen Urteilskraft wird in der Folge als KdtU, die Kritik der reinen Vernunft als KrV und die Kritik der praktischen Vernunft als KpV abgekürzt. I. Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft, in: Kants Werke, Akademie-Textausgabe, Bd. 4, Berlin, New York 1968, S. 544. H. W. Ingensiep, „Leben, Lebewesen und Lebenskraft. Zur Lebensmetaphysik in Kants Biotheorie und Biografie“, in: J. F. Lehmann, R. Bogards, M. Bergengruen (Hrsg.), Die biologische Vorgeschichte des Menschen, Freiburg i. Br. 2012, S. 77-107.
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deutungssinn nicht deckungsgleich sind. Dogmatisch-metaphysisch betrachtet könnte nämlich auch Gott und den Engeln als immateriellen Substanzen ein „Leben“ zukommen, doch sind sie keine Organismen. Wenn aber bei Kant von materiellen endlichen Substanzen die Rede ist, gelten ihm nur Wesen mit Begehren und Willen als eigentliche Lebewesen. Wenn sie entsprechend fähig sind, sich durch ein „inneres“ Prinzip selbst zu bewegen und zu verändern, dann handelt es sich vorrangig um Tiere und Menschen. Aus dieser Perspektive betrachtet sind dann zwar Pflanzen wohl „Organismen“, aber keine eigentlichen „Lebewesen“. In jedem Fall aber ist bei Kant die Materie „leblos“ und ein materielles Ding der Welt als solches kein „Naturzweck“, und damit kein organisiertes Wesen, schon gar nicht in dem Sinn, wie heute oft alle Dinge der Natur als Konkretionen einer „Selbstorganisation“ verstanden werden. In diesem weiten metaphysischen Minenfeld zwischen der „Materie“ und „Gott“ besteht daher offenkundig Klärungsbedarf, nicht nur hinsichtlich der Bestimmung dessen, was ein „Organismus“ und was ein „Lebewesen“ ist und ob beide Termini kongruent eingesetzt werden können, sondern auch im philosophischen Feld und im Zeichen der Transzendentalphilosophie, der Metaphysik und Bioepistemologie. Im nachmetaphysischen Zeitalter benutzen wir gegenwärtig im Alltag die Worte „Organismus“ und „Lebewesen“ häufig synonym. Das „Leben“ ist aus der dogmatischen Metaphysik längst in die Sprache der Alltagsmetaphysik, auch der „Lebenswelt“, eingedrungen, weshalb z. B. der Mensch als „Organismus“ und als „Lebewesen“ einerlei zu sein scheint. Das „Leben“ des Menschen wird anders als das „Leben“ der Materie oder Gottes nicht in Frage gestellt. Und doch ergeben sich manchmal an den Grenzen des individuellen „Lebens“, z. B. als „Embryo“ oder als Wachkomapatient Probleme, diese Form von „Leben“ näher zu bestimmen, obgleich meist unbestritten ist, dass es sich in beiden Grenzfällen um „Organismen“ handelt. In solchen Fällen wird deutlich, dass „Leben“ heute an ein erstpersonales Agentenprinzip der Selbstbewegung oder des handelnden Selbstbewusstseins gebunden wird, das als solches in bestimmten Körperzuständen des „Organismus“ verloren gehen könnte. Wenn ein Agent in diesem Sinne noch lebt, dann „tut“ er noch etwas und „ist“ nicht bloß ein organisiertes „Etwas“, sondern vielleicht ein lebender „Jemand“ bzw. eine „Person“.4 Dann klafft 4
Vgl. R. Spaemann, Personen. Versuche über den Unterschied zwischen ‚etwas‘ und ‚jemand‘, Stuttgart 1996.
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auch alltagsprachlich bzw. „lebensweltlich“ betrachtet eine Lücke zwischen einer elementaren Prozessbestimmung als Lebewesen einerseits und einer funktionalen Strukturbestimmung als Organismus andererseits, gerade mit Bezug auf Individuen. Der biologisch implementierte Organismusbegriff kann aber davon völlig unabhängig als „epistemisches Werkzeug“ (Krohs) in der Biotheorie benutzt werden, während der erwähnte alltägliche Lebensbegriff als mediale „Tatprädikation“ (Gutmann) oder schlicht in Verbindung mit einer Handlung (Gethmann) zugeschrieben werden kann. Diese Unterscheidung läuft meist darauf hinaus, die drittpersonale Per spektive in der Beschreibung oder Erklärung mittels des Konzepts „Organismus“ im Kontext der Wissenschaft von einer erstpersonalen Perspektive qua „Lebewesen“ in der „Lebenswelt“ zu trennen, kurz: Biotheorie von Lebenspraxis. Von der medialen zur aktiven Perspektive eines „Lebewesens“ als erstpersonaler Handlungsakteur ist es also nicht mehr weit und wir sind auf dem Weg vom „Organismus“ als „sich selbst organisierendes“ Produkt der Natur in der Biotheorie zum tätigen „Lebewesen“ mit Selbstbewusstsein qua „Person“. Ein weites Feld von Assoziationen und Problemen ist damit eröffnet. Kant wollte offenkundig weder einer Philosophie der „Lebenswelt“ noch einer dogmatischen Metaphysik des Lebens Fundamente liefern, wohl aber war sein Anliegen, beider Ansprüche kritisch einzugrenzen. In der Kritik der teleologischen Urteilskraft (KdtU) geht es um eine Erörterung der „Dinge als Naturzwecke“, d. h. um organisierte Wesen und damit in heutiger Diktion um „Organismen“, ein Ausdruck den Kant meist nicht verwendet. In diesem Kontext sind weitere Abgrenzungen vorzunehmen und Referenzpunkte anzusprechen, die heute nicht selten durcheinander gehen, wenn es um die Frage geht, ob der Ausdruck „Leben“ auf Individuen, auf Organismen oder auf universale Prozesse wie Evolution oder „Selbstorganisation“ bezogen wird. Immer noch ist von Kant zu lernen, wenn es um Schlüsselbegriffe an wichtigen Schaltstellen zwischen Bioepistemologie und Bioethik geht, erst recht wenn die jeweiligen Perspektiven und Bedeutungsebenen auseinander gehalten werden sollen, d. h. kritische Transzendentalphilosophie, dogmatische Metaphysik und spekulative oder empirische Bioontologie. Weitere Einsichten zu Kants Anliegen liefern seine Behandlung gegnerischer Positionen in der KdtU sowie einige grundsätzliche Ergebnisse der Kritik der reinen Vernunft (KrV), die „Seele“ und das „Leben“ betreffend. https://doi.org/10.5771/9783495817476 .
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Kant inszeniert zwecks Widerlegung ein metaphysisches „Leben“ der „Seele“ im Paralogismuskapitel der KrV und zwar anlässlich der kategorialen Vorstellung der Amphibolien der rationalen Psychologie. „Leben“ erscheint hier als ein Produkt rational konstruierter Verwechslungen und Fehlanwendungen von Kategorien auf „Dinge an sich“ bzw. als eine metaphysische Illusion der alten Seelenmetaphysik. Jene rekurrierte nach Kant nämlich unkritisch auf Begriffe wie Substantialität, Einfachheit, numerische Identität, zeitliche Kontinuität und räumliche Interaktivität. Für die alte Metaphysik war die „Seele“ ein „Principium des Lebens in der Materie“ als „Grund der Animalität“.5 So konnte sie den tradierten Kernbegriffen der Personalität und Spiritualität theoretisch ein Leben einhauchen. Eigentlich, so wäre aus einer transzendentalkritischen Sicht der KrV zu vermuten, steht damit auch jede Verbindung von Kants Lebensbegriff mit einem reflektierten Organismusbegriff in Frage, vielleicht sogar die Teleologie im Organischen insgesamt. Wenn nämlich „Leben“ über das transzendentale „Ich“ kritisch destruiert und aus der Transzendentalphilosophie in die ewigen Jagdgründe der rationalen Metaphysik vertrieben wird, dann sollte es eigentlich keinen Ort mehr in einer systematischen Philosophie haben. Dennoch taucht das Prinzip des Lebens bei Kant nicht nur im Frühwerk, sondern auch im systematischen Haupt- und Spätwerk an diversen Stellen unerwartet auf, wie das Eingangszitat für die Metaphysischen Anfangsgründe der Natur wissenschaft dokumentiert. Kant will hier die Leblosigkeit der Materie gegen den Hylozoismus verteidigen. In der Kritik der prakti schen Vernunft (KpV) geht es Kant um den praktischen Akteur bzw. ein heteronom bestimmtes Begehrungsvermögen, weshalb hier das „Leben“ im moralischen Subjekt mit einem autonomen, freien Willen angesprochen wird. Ob es sich bei solchem Aufblitzen und derartigen Lebensinjektionen um Relikte oder Versuche „verschämter Restauration der Seinsmetaphysik“, wie Irrlitz meint,6 handelt, um nur episodische Rehabilitierungen oder um elementare Innovationen, wären weiterführende Fragen. Solche Stellen bieten jedenfalls Anlass zu Nachfragen, wie „Leben“ und „Organismus“ bei Kant am Ende zusammengehen. Wie oben angedeutet stehen sie in einer problematischen Beziehung zueinander und viele konkrete Fragen 5 6
I. Kant, Kritik der reinen Vernunft (2. Aufl., 1787), in ders., Kants Werke, Aka demie-Textausgabe, Bd. 3, Berlin, New York 1968, S. 265. G. Irrlitz, Kant Handbuch. Leben und Werk, Stuttgart 2002, S. 202.
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wären anzugehen, z. B. ob Pflanzen qua Organismen ein Leben haben.7 Zum tieferen Verständnis wäre noch der vorkantische historische Hintergrund einzubeziehen. Zeitnahe Hinweise dazu liefert der Beitrag „Leben“ in Johann Georg Walchs „Philosophisches Lexicon“ in der erweiterten vierten Auflage von Justus Christian Hennings, der selbst auch zur Tierseelenlehre arbeitete.8 Ein anderer nicht selten zu hörender Vorwurf ist noch zu erinnern. Die Kritik der reinen Vernunft sei so geschrieben, als ob es die Phänomene „Leben“ und „Organismus“ als Besonderungen in der Natur gar nicht gäbe. In der Tat fokussiert Kant in seinem kritischen Geschäft zunächst auf die „anorganische“ Natur als Inbegriff von kausalen Gesetzen nach dem mechanistischen Paradigma, als dynamisches Geschehen. Dabei werden Freiheit, Seele und Gott als Unbedingtheiten aus der Natur hinaus reflektiert, um sie zu zentralen Themen der Analytik und Dialektik erheben zu können, aber auch, um ihnen als „Ideen“ doch wiederum eine Einheit stiftende, regulative Rolle im System der Vernunft zuzuschreiben. Im Hinblick auf die KdtU ist dieses und das ganze kritische Geschäft Kants und damit die transzendentalphilosophische Position vorauszusetzen. Teil II der folgenden Analyse zielt auf Versuche Kants, „Sprachspiele“ mit dem Lebensbegriff zu betreiben, um auf diese Weise fundamentale Positionsbestimmungen und Abgrenzungen zu echten oder vermeintlichen Gegnern vorzunehmen. Seine Systempositionierungen zum Lebensbegriff erfolgen zwischen den Eckpfeilern Materie und Gott. Daher könnte die zugespitzte Leitfrage lauten: Gibt es als „Organismus“ eigentlich ein „Leben“ zwischen der Materie und Gott? Zur Erläuterung bzw. zum zeitgenössischen Verständnis Kants werden frühe Rezeptionen und einschlägige Sichtweisen hinzugezogen. Teil III skizziert die gegenwärtige Problemlage in der Beziehung der Begriffe „Leben“ und „Organismus“ im Hinblick auf unterschiedliche Anwendungsfelder, d. h. 1. auf Leben und Organismus mit Bezug auf Individuen als Singularitäten, Personalitäten oder Exemplaritäten, 2. auf Leben mit Bezug auf eine Klasse von Naturdingen, die wir heute schlicht „Organismen“ nennen, und schließlich, 3. auf Leben im universalen Prozessblick auf die Evolution des „Lebens“ oder aller „Organismen“ insgesamt. Dabei 7 8
H. W. Ingensiep, Geschichte der Pflanzenseele, Stuttgart 2001. J. G. Walch, Philosophisches Lexicon, 4. Aufl., 1. Teil, erweitert durch Justus Christian Hennings, Leipzig 1775, S. 2217-2219.
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zeigt sich, dass sich auch heute noch Inkongruenzen der Ausdrücke „Leben“ und „Organismus“ ergeben. Überlegungen zur Bedeutung von „Leben“ und „Organismus“ wurden bereits in aktuellen ökologischen, bioethischen sowie historisch-systematischen kantischen Kontexten vorgestellt.9 In den und mit den modernen, so genannten Lebens-Wissenschaften ist der Begriff „Leben“ ebenso präsent und wird inflationär verwendet, so auch in der Bio-Ethik; dazu einige Bemerkungen aus biophilosophischer Perspektive. In der Biophilosophie der letzten Dekaden wird immer noch eine breite Lösungspalette im Umgang mit Teleologieproblemen angeboten, sei es aus physikalischer Perspektive im Zeichen eines operationalen, im Kern ateleologischen Funktionenpluralismus (z. B. Bunge), aus biologischer Perspektive in mehr klassisch inspirierten Teleonomie-Konstruktionen (z. B. Lorenz, Monod, Mayr, Riedl) oder in aktuellen Konzepten einer naturalisierenden Teleosemantik (z. B. Millikan). Die Art der Problemstellung und möglicher Missverständnisse ist geblieben und noch immer kann ein orthodoxer Rückblick auf Kant hilfreich sein.
II. Kantische Positionsbestimmungen in der frühen Rezeption Angesichts der bunten Palette von Möglichkeiten, sich in „mancherley Systemen über die Zweckmäßigkeit der Natur“, so Kant im § 72 der KdtU, zu positionieren, sind u. a. die Systeme von Epikur, Spinoza, Aristoteles oder die thomistische Theologie und die Physikotheologie betroffen.10 Kant will sich von solchen dogmatischen „objectiven Behauptungen“ distanzieren und in der Kritik der Ur teilskraft sein Vernunftgeschäft angemessen beenden. Teleologische Urteile sollen „bloß in Beziehung auf unsere Erkenntnisvermögen kritisch“ erörtert werden, „um ihrem Princip eine, wo nicht dogmatische, doch zum sichern Vernunftgebrauch hinreichende Gültigkeit
9 H. W. Ingensiep, „Lebensbegriffe – der Vergangenheit, der Gegenwart, der Zu kunft“, in: ders., A. Eusterschulte (Hrsg.), Philosophie der natürlichen Mitwelt, Würzburg 2002, S. 103-119; ders., „Organismus und Leben bei Kant“, in: ders., H. Baranzke, A. Eusterschulte (Hrsg.), Kant Reader, Würzburg 2004, S. 107-136; ders., „Probleme in Kants Biophilosophie“, in: E.-O. Onnasch (Hrsg.), Kants Phi losophie der Natur, Berlin 2009, S. 79-114. 10 I. Kant, Kritik der praktischen Vernunft, Kritik der Urteilskraft, § 72.
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einer Maxime zu verschaffen“.11 Kants Intention im § 73 der KdtU ist nachzuweisen, dass „[k]eines der obigen Systeme leistet“, was es vorgebe.12 Diese Systeme wollten zwar unsere teleologischen Urteile über die Natur erklären, leugneten aber teils „die Wahrheit derselben“ und erklärten sie für einen „Idealism der Natur (als Kunst vorgestellt)“, teils würden sie als „wahr“ anerkannt und versprechen, die Möglichkeit der Natur „nach der Idee der Endursachen“ zu erkennen.13 Im Kopfzitat dieses Beitrages werden Adjektiv- und Partizipialkonstruktionen zum Lebensbegriff, wie „leblos“, „lebend“, „lebendig“ von Kant sprachspielerisch eingesetzt, um die jeweiligen Teleologieprobleme aus seiner Sicht antidogmatisch abzugrenzen bzw. kritisch aufzulösen. § 72 der KdtU stellt in einer Fußnote diese Sprachspiele mit Lebensausdrücken und damit vier Systeme vor, die Kant unter die Oberbegriffe „Idealism“ und „Realism“ einordnet, womit einerseits eine „unabsichtliche“ andererseits eine „absichtliche“ Zweckmäßigkeit die jeweilige Position markieren soll.14 Dazu ein Übersichtsschema:
Physisch:
Hyperphysisch:
Idealism (unabsichtliche Zweckmäßigkeit)
Realism (absichtliche Zweckmäßigkeit)
1. leblose Materie (Kasualität)
3. Leben der Materie (Hylozoism)
Epikur, Demokrit
Aristoteles
2. lebloser Gott (Fatalität)
4. lebendes Wesen (Theism)
Spinoza
Thomas von Aquin, Reimarus
Im § 73 der KdtU stellt Kant diese Positionen und seine Kritik im Grundsatz aus der Perspektive der Ergebnisse der KrV ausführlicher vor.15 Welche besonderen Akzente gesetzt werden, sollen frühe Rezeptionen verdeutlichen, die Kants Intentionen sehr nahe kommen dürften. Zum besseren Verständnis sei hier schon die in § 79 der KdtU aufgeworfene wichtige Frage Kants vorausgeschickt, wo 11 12 13 14 15
Ebd., S. 392 Anm. Ebd., § 73. Ebd., S. 392. Ebd., § 72. Ebd., § 73.
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eigentlich der Ort der Teleologie sei. Weder in der „Naturwissenschaft“ noch in der „Theologie“!, wird Kants Antwort sein.16 Die Teleologie stellt für Kant keine eigentliche Wissenschaft dar, da sie, kurz gesagt, dogmatisch weder im „Leben“ der Materie noch im „Leben“ Gottes fundierbar ist. In Kants kritischer Transzendentalphilosophie hat sie zudem weder im Verstand noch in der Vernunft ihren systematischen Ort, sondern allein in der „Urteilskraft“ als einer reflektierenden Vermittlungsinstanz. Im Detail wird das Schema nun mittels früher Kantleser bzw. der Philosophie Kants gegenüber aufgeschlossener Rezipienten der KdtU gut eine Dekade nach Erscheinen der ersten Ausgabe von 1790 erläutert. Kurze, epigonale Hinweise zu diesen frühen Rezipienten zeigen, dass bezüglich des Zugangs dieser Kantrezipienten geteilte Meinungen bestehen. Nichtsdestoweniger erhellen diese Autoren einige Grundgedanken Kants in der KdtU, wobei ein besonderes Augenmerk auf das System „Epikur“ gelegt wird. Die Rezipienten im Einzelnen: 1. Der Kantianer Friedrich Wilhelm Daniel Snell (1761–1827) verfasste früh eine Darstellung und Erläuterung der Kantischen Critik der Urteilskraft, deren Zweiter und lezter Theil […] die Hauptpunkte der Critik der teleologischen Urtheilkraft enthält (Mannheim 1792). Das Urteil des Kantkenners Adickes über Snells Schrift ist ambivalent: „where Kant is clear, Snell is long-winded; where Kant is difficult, on the other hand, Snell either reproduces his expressions exactly, or even omits much what Kant has said, in varied phraseology and on other occasions, for the more intelligible exposition of his argument.“17 2. Der anonyme Rezensent der zweiten Auflage der KU in der Zeitschrift Allgemeine Literatur-Zeitung (ALZ) vom Jahre 1793.18 Als Autor wird Christian Gottfried Schütz (1747–1832) genannt, Philologe, Philosoph, Redakteur und Professor zu Halle und Jena, seit 1785 Chefredakteur der ALZ, der durch seine frühe Rezension 1785 in der ALZ zuerst auf Kants Kritik der reinen Vernunft (so
16 Ebd., § 79. 17 E. Adickes, German Kantian Bibliography, Reprint der Ausgabe 1893-1896, Nr. 734j, New York 1970, S. 120. 18 Allgemeine Literatur-Zeitung vom Jahre 1793, Dritter Band, Nr. 191, 1. Julius, S. 1-8; Nr. 192, 3. Julius, S. 9-16; Nr. 193, 3. Julius, S. 17- 24; Nr. 194, 3. Julius, S. 25-32, Jena, in der Expedition dieser Zeitung, und Leipzig, in der churfürstl. Sächs. Zeitungs-Expedition.
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Krug) aufmerksam machte, wenngleich Adickes die Rezension unter „Reinhold“ anführt.19 3. Der Kantianer Jacob Sigismund [sic] Beck (1761–1840): Erläu ternder Auszug aus den critischen Schriften des Herrn Prof. Kant auf Anrathen desselben. Zweyter Band, welcher die Critik der Ur theilskraft und die metaphysischen Anfangsgründe der Naturwis senschaft enthält (Riga, 1794). Krug betont zu Beck, dass „Fichte selbst ihn für den richtigsten Interpreten Kant’s erklärte“,20 während Karl Rosenkranz in seiner Geschichte der Kant’schen Philoso phie (1840) den beleidigenden „Aufhellungseifer“ dieses Popularisators Kants verspottet.21 4. Der Kantianer Lazarus Bendavid (1762–1832): Vorlesungen über die Critik der Urtheilskraft (Wien, 1796). Krug lobt dessen Scharfsinnigkeit im Geiste der kantischen Vernunftkritik,22 während Rosenkranz ihn der „Wiener Gemütlichkeit“ bezichtigt.23 5. Der Kantianer Johann Gottfried Karl Christian Kiesewetter (1766–1816): Versuch einer fasslichen Darstellung der wichtigsten Wahrheiten der kritischen Philosophie für Uneingeweihte, Zweiter Theil welcher die Critik der Urtheilskraft zum Gegenstande hat, dritte Auflage (Berlin 1803). Krug stellt dessen Verdienste um die Erläuterung der kantischen Philosophie heraus,24 während Rosenkranz diesen „Modephilosophen des Kantianismus in Berlin“25 mit herbem Spott übergießt: „Kiesewetter schreibt für Uneingeweihte. Mann lass dich küssen für diese Erfindung!“.26 19 Vgl. dazu in E. Adickes, German Kantian Bibliography, Nr. 200; ferner W. T. Krug, Allgemeines Handwörterbuch der philosophischen Wissenschaften, Bd. 3, Leipzig 1828, S. 612; Adickes verzeichnet die Rezension unter „Reinhold“ (Adickes, Nr. 277); http://zs.thulb.uni-jena.de/receive/jportal_person_00008051 (Zugang: 27.08.2010) führt diese Rezension in der ALZ unter den Beiträgen von Christian Gottfried Schütz auf. 20 W. T. Krug, Allgemeines Handwörterbuch der philosophischen Wissenschaften, Bd. 1, Leipzig 1827, S. 252 f. 21 A. Rosenkranz, Geschichte der Kant’schen Philosophie, Berlin 1987, S. 339 (1. Aufl., Leipzig 1840). 22 W. T. Krug, Allgemeines Handwörterbuch der philosophischen Wissenschaften, Bd. 1, S. 271. 23 A. Rosenkranz, Geschichte der Kant‘schen Philosophie, S. 265 (1. Aufl., Leipzig 1840). 24 W. T. Krug, Allgemeines Handwörterbuch der philosophischen Wissenschaften, Bd. 2, Leipzig 1827, S. 521. 25 A. Rosenkranz, Geschichte der Kant‘schen Philosophie, S. 249 (1. Aufl., Leipzig 1840). 26 Ebd., S. 248.
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Ad 1. Für Snell stellt sich der unabsichtliche „Idealism“ des Epikur, der Unorganisches und Organisches gleichermaßen in der Natur durch Chaos und blinden Zufall entstehen lässt, als „leeres Hirngespinst“ dar.27 Erstens fehle der Grund, „warum von Ewigkeit her Bewegung in der Materie war, oder zu einer gewissen Zeit anfieng [sic].“28 Zweitens würden diese Bewegungsgesetze selbst aus blindem Zufall abgeleitet: „Warum mußte sich also die Materie nach Gesetzen bewegen? Warum bleiben diese Gesetze immer dieselbigen?“29 Drittens bestehe zum Ursprung der „Seelen (des Princips zum Leben, Empfinden und Denken in manchen Geschöpfen)“30 ein Widerspruch. Denn stelle man sich diese „selbst als materielle Substanzen, oder als Accidenzen von der Materie“ vor, so stehe dem immer noch ein teleologisches Vorstellungsphänomen entgegen: „Und doch kan [sic!] sich der Mensch Begriffe von Zweckmäßigkeit machen, nach vernünftigen Absichten handeln, und die Materie durch Kunst zweckmäßig formen.“31 Viertens sieht Snell noch einen Widerspruch, wenn wir zur Möglichkeit der Unterscheidung von unorganischen und organischen Körpern teleologische Urteile benötigen: „Sollten auch die teleologischen Ur theile blosse Täuschung sein, so müßte doch ein Grund angegeben werden, woher dieselbigen entstehen konnten.“32 Deren Entstehung aus blindem Zufall sei ungereimt, „da nicht einmal dadurch erklärt wird, wie ein solches Scheinurtheil (wenn es auch ein solches wäre,) entstehen konnte“, was doch das mindeste wäre, was man hätte fordern können.33 – So erläutert Snell spitzfindig, wie der dogmatische, unabsichtliche Zweckmäßigkeit annehmende „Idealism“ des Epikur als Erklärung von einheitlichen Gesetzen der Natur, dann des Organischen und selbst am Phänomen einer fiktionalen Teleologie – mithin an lauter vertrackten Widersprüchen - scheitere. Ad 2. Der Rezensent der ALZ geht textnah auf Kants Anliegen ein und stellt die Dogmatik „aller bisherigen philosophischen Systeme über die Zweckmäßigkeit der Natur“ heraus. Deren Vorstel27 F. W. D. Snell, Darstellung und Erläuterung der Kantisches Critik der Urtheils kraft. Zweiter und lezter Theil, welcher die Hauptpunkte der Critik der teleolo gischen Urtheilskraft enthält, Mannheim 1792, S. 77. 28 Ebd., S. 77. 29 Ebd. 30 Ebd., S. 78. 31 Ebd. 32 Ebd., S. 79. 33 Ebd.
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lungsart zeuge von einem Zweckmäßigkeitsbegriff, der unkritisch mit Dingen an sich verknüpft werde bzw. zu einer Verlagerung in Dinge an sich, was letztlich zu einem Idealismus der Casualität (Epikur) oder der Fatalität (Spinoza) führe, d. h. – nach Auffassung des Rezensenten – zum Konzept einer leblosen Materie oder eines leblosen Gottes. Nicht nur die Realität, sondern die bloße Denkbarkeit der Zweckmäßigkeit in der Natur werde in dieser Vorstellungsart aufgehoben. Dagegen werde ein Realismus der Zweckmäßigkeit im Hylozoismus und im Theismus unkritisch vorgestellt, indem einmal die Materie selbst lebendig gedacht werde oder im andern Fall ein lebendiger Gott den Erscheinungen der Zweckmäßigkeit zugrunde gelegt, was zudem als Gottesbeweis benutzt werde. In diesen dogmatischen Vorstellungsarten könne aber nach Kants Ansatz keine Zweckmäßigkeit von Dingen an sich erkannt werden, denn Teleologie sei – nach Kant – kein Erkenntnisprinzip der Natur, kein konstitutives Verstandesgesetz für die Sinnenwelt, sondern ein regulatives Vernunftprinzip für die über die Sinnenwelt reflektierende Urteilskraft, kurz, ein Prinzip der Beurteilung, aber nicht der Erkenntnis der Natur. Vielmehr handele es sich um ein Leitprinzip zur Auffindung empirischer Gesetze, „die sich aus den transcendentalen nicht ableiten und begreifen lassen“, daher als Denknotwendigkeit in der empirischen Naturforschung, aber ohne theoretisch erweisbare objektive Realität seien.34 Als Fazit dieser Darstellung eines aufgeschlossenen Viellesers im ernsthaften Bemühen um Nachvollzug kantischer Gedankengänge ist festzuhalten, dass er diese mehr komprimiert, kaum abweicht oder kritisiert - und insofern recht gut in Kants Gedanken einführt. Ad 3. Beck, Popularisator Kants, Professor in Halle und Rostock, tritt an diese Auseinandersetzung mit anderen dogmatischen Systemen im Rahmen der „Vorbereitung zur Auflösung obiger Antinomie“35 heran und führt so zur „Auflösung der Antinomie der teleologischen Urtheilskraft“.36 Beck geht es vor allem um die logische und transzendentalphilosophische Perspektive der skizzierten dogmatischen Positionen, d. h. um Ungereimtheiten, Kon 34 Allgemeine Literaturzeitschrift vom Jahre 1793, Dritter Band, Nr. 193, 3. Julius, S. 22. 35 J. S. Beck, Erläuternder Auszug aus den critischen Schriften des Herrn Prof. Kant auf Anrathen desselben. Zweyter Band, welcher die Critik der Urtheilskraft und die metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft enthält, Riga 1794, S. 269. 36 Ebd., S. 281.
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tradiktionen und die fälschliche Verknüpfung von Unbedingtem und Bedingtem in der Synthesis der Erscheinungen. Ebenso stellt er die dogmatische Verwechslung von Ding an sich und Erscheinung heraus, wenn es um die Elimination oder vermeintliche Lösung des Problems der Zweckmäßigkeit in der Natur geht. Die generelle Verdeutlichung der philosophischen Problemlage wird vor dem Hintergrund der KrV und KpV terminologisch dadurch charakterisiert, dass von den Dogmatikern die „Autonomie“ der reflektierenden Urteilskraft mit der „Heteronomie“ der bestimmenden Urteilskraft gemäß der Verstandesgesetzgebung verwechselt werde.37 Einige Erläuterungsabsichten mehr im Detail: Absichtlichkeit und Unabsichtlichkeit dienten Kant als oberste Einteilungsprinzipien für die beiden kontradiktorisch sich gegenüberstehenden Positionen in der Wegerklärung bzw. Erklärung der Zweckmäßigkeit in der Natur – bei Kant geführt unter „Idealismus“ und „Realismus“.38 Beck folgt Kants Darlegung der dogmatischen Positionen am Leitfaden der Varianten der Lebensbegriffe und betont aus der Sicht der Transzendentalphilosophie die jeweiligen widersprüchlichen Voran nahmen.39 Wie versteht Beck Kants Darstellung von Epikurs Ansatz einer „leblosen Materie“? Epikur hebe „allen Unterschied einer Technik der Natur und einer bloßen Mechanik gänzlich auf.“40 Der epikureische Ansatz erkläre nämlich nicht nur „die Übereinstimmung der organisirten Wesen mit unsern Begriffen vom Zweck für zufällig“, sondern gebe auch den blinden Zufall als deren mechanistische Erklärung aus. Das stelle letztlich eine Leugnung ihrer Ursache dar, da eine mechanistische Erklärung nicht einsichtig sei.41 Spinoza dagegen gebe Organismen nicht als Produkte eines empirischen Verstandes, sondern als die einem übersinnlichen Urwesen inhärierenden Akzidentien aus. Dadurch werde das Problem der Zweckmäßigkeit durch einen apodiktischen „Machtspruch“ erklärt.42 Dabei handele es sich – transzendentalphilosophisch betrachtet – um ein lächerliches Selbstmissverständnis von tran szendentaler Vollkommenheit eines Dinges mit dem Begriff der Zweckmäßigkeit. Die zentrale Frage sei aber nicht, so Beck, wie
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Ebd., S. 271 f. Ebd., S. 274. Ebd., S. 275-281. Ebd., S. 277. Ebd., S. 278. Ebd.
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Zweckmäßiges entstehe, sondern, warum man es als solches beurteile.43 Ähnlich werden von Beck Widersprüche im „Realismus“ der Naturzwecke des Hylozoismus und des Theismus aufgedeckt,44 um dann zur Auflösung der Antinomie zu schreiten. Beck sieht also im Fall von Epikur, anachronistisch formuliert, dass sich das Teleologieproblem auf zwei unterschiedlichen Ebenen, nämlich aus der Sicht der transzendentalen Bioepistemologie und der bioontologischen Theoriebildung, in unterschiedlicher Weise stellt, und betont Aspekte, die nicht verwechselt werden sollten. Die zwei völlig verschiedenen Leitfragen würden nämlich lauten: 1. Wie ist überhaupt ein teleologisches Urteil mit Bezug auf Organismen möglich? und 2. Was ist die Ursache der Entstehung von Organismen in der Natur? Epikur war aus der Sicht von Beck – und auch von Kant – blind für die transzendentalkritische erste Frage und lieferte zudem eine, auch nach Kant, „ungereimte“ Antwort auf die zweite Frage, indem er dogmatisch den blinden „Zufall“, also eine kasualistische Theorie, als Entstehungstheorie propagierte, aber nicht durch „Notwendigkeit“ gemäß einer Kausalität nach Naturgesetzen erklärte. Nach Kant und Beck, so wäre heute verkürzend zu sagen, unterschätzt bzw. leugnet „Epikur“ die transzendentalkritisch geläuterte, epistemologische Legitimität des Begriffs der „Zweckmäßigkeit“ und überschätzt unkritisch und dogmatisch den Begriff der „Zufalls“ als bioontologischer Erklärungsgrund für Organismen. Ad 4. Bendavid, ein früher Anhänger Kants in Wien und Berlin, erläutert in seiner 15. Vorlesung (1796) Kants Gedanken zur teleologischen Urteilskraft in knappen Formulierungen, wobei ihm eigene prägnante Reduktionen und Illustrationen gelingen. Die Verwechslung regulativer mit konstitutiven Prinzipien der Urteilskraft, so Bendavid mit Kant, ziele zunächst auf eine Kritik der Physikotheologie, des Mechanismus und einer Technik der Natur. Diese „Technik der Natur“, als absichtliche oder unabsichtliche, markiere die Positionen des Realismus oder Idealismus der Zweckmäßigkeit, letzterer bei Kant als physisch oder hyperphysisch konzipiert. Eng an Kant angelehnt schreibt Bendavid nun: „Er ist physisch, und heißt der Idealismus der Causalität [sic!] wenn er, mit Epicur und Demokrit behauptet, dass die, der Materie beygesellten Bewegungsgesetze hinreichende Causalität enthalten, um Formen hervor43 Ebd., S. 279. 44 Ebd., S. 279-281.
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zubringen, die wir für zweckmäßig erkennen.“45 Hier hat Bendavid nun aus dem bei Kant so bezeichneten System der Casualität in seiner Erläuterung kurzerhand das System der Causalität gemacht.46 Weiter erläutert wird diese produktive Umschreibung Kants dahingehend, dass es für den „Idealismus der Causalität [sic!]“, so Bendavid zu Epikur, in der Natur nur mechanische Gesetze gebe: „und die Frage: warum wir ihr eine Technik beylegen, die er doch beantworten wollte, bleibt unbeantwortet.“47 Dieser Idealismus erkläre nicht einmal, „wie unser Urtheil über die Zweckmäßigkeit der Naturdinge zu erklären sey“ und sage daher zu wenig.48 Wie andere Systeme wolle auch dieses „darthun, woher die von uns gefundenen Naturzwecke entstehen?“49 Einige Vertreter räumten damit die Zweckmäßigkeit den Naturprodukten ein, nämlich die Idealisten
45 L. Bendavid, Vorlesungen über die Critik der Urtheilskraft, Wien 1796, S. 153 f. 46 Es verunsichert, wenn auch im Encyclopädischen Wörterbuch von George Sa muel Albert Mellin (I. Bd. II. Abt. Züllichau, Leipzig 1798, S. 752) unter „Casua lität“ vom „Idealismus der Causalität der Zweckmäßigkeit“ die Rede ist, ebenso von „Kausalität“ in den Kommentaren zur KdtU von Manfred Frank und Vé ronique Zanetti (I. Kant, Schriften zur Ästhetik und Naturphilosophie, Bd. 3, Frankfurt a. M. 1996, S. 1291) und von Piero Giordanetti (in O. Höffe (Hrsg.), Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, Berlin 2008, S. 213). Diese Rede von der „Kausalität“ mag aus heutiger Sicht nahe liegen. Aber die Überprüfung früher Ausgaben der KdtU zeigt klar: In allen zu Lebzeiten Kants erschienenen Ausga ben (Berlin 1790; 1793, S. 322; 1799, S. 322 bzw. 2. Bd. Graz 1797, S. 69), ferner in der Werkausgabe von Rosenkranz/Schubert (Vierther Theil, hrsg. von Rosen kranz, Leipzig 1838, S. 279), in der Ausgabe von Erdmann (2. Aufl., Hamburg 1884, S. 239 f.), in der Arbeitsausgabe der Philosophischen Bibliothek von Vor länder (3. Aufl., Leipzig 1902, S. 267) und schließlich in der maßgeblichen Aka demie Textausgabe (I. Kant, Kritik der praktischen Vernunft, Kritik der Urteils kraft, S. 391) ist der Terminus „Casualität“ – und nicht Kausalität - zweimal im § 72 eindeutig auf Epikur bezogen zu finden. Aber ein solches Missverständnis lag durchaus nahe: Kirchmann rügt daher in seinen „Erläuterungen zu Kant’s Kritik der Urtheilskraft“ (2. Aufl., Leipzig 1882): „Auch hier ist die von Kant gewählte Terminologie nicht bezeichnend, sondern erschwert das Verständnis [sic]. Der sogenannte Idealismus ist vielmehr die Negation jedes Zweckes in der Natur, indem dadurch das anscheinend Zweckmässige auf blossen Zufall (Epikur) zurückgeführt wird, oder auf eine mit Notwendigkeit wirkende, wenn auch geistige Substanz (Spinoza). Erst der sogenannte Realismus erkennt einen Zweck an; indem er entweder die Materie belebt oder einen Gott setzt.“ (1882, S. 74 f.). Carl Christian Erhard Schmid verweist in seinem Wörterbuch zum leichtern Gebrauch der Kantischen Schriften (4. Aufl., Jena 1798, S. 134) unter „Casualität“ markant auf „Zufall, Grundlosigkeit – Zwecklosigkeit“. 47 L. Bendavid, Vorlesungen über die Critik der Urtheilskraft, Wien 1796, S. 155. 48 Ebd., S. 156. 49 Ebd., S. 157.
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eine unabsichtliche, die Realisten eine absichtliche Zweckmäßigkeit. Es gehe aber um den Begriff der Zweckmäßigkeit, der mehrere mögliche Fälle verlange, „aus denen Einer mit Ausschließung der übrigen deshalb gewählt worden, weil er dem Zwecke besser entspricht, als die übrigen, verworfenen Fälle: er verlangt Zufälligkeit“.50 Natur und Zweckmäßigkeit seien daher widersprechende Begriffe. Bendavid konzentriert sich also auf die Begriffsreflexion bzw. das fehlende Problemverständnis aus der Perspektive einer kritischen Transzendentalphilosophie, die ja die Bedingungen der Möglichkeit teleologischer Urteile reflektieren will und nicht beansprucht, eine kausale Erklärung von zweckmäßigen Naturprodukten zu liefern. Zudem möchte er den Begriff der „Zufälligkeit“ verständlicher machen, der für ihn viele Optionen und eine Wahl voraussetzt und insofern keine „Notwendigkeit“ beinhalte. Es soll, transzendentalphilosophisch betrachtet, aber gerade die berechtigte Möglichkeit eines teleologischen Urteils als notwendige Bedingung ausgewiesen werden, um überhaupt von besonderen organisierten Naturdingen sprechen zu können. „Natur“, allgemein und notwendig kausal erklärt nach den bekannten mechanischen Naturgesetzen, steht aber im Gegensatz zur berechtigten Rede von diesen besonderen Naturdingen. Deren Beurteilung erfordert notwendig den Begriff einer Zweckmäßigkeit im Urteil, wenn es um die Definition und um das Beurteilungsprinzip von Organismen geht. Kurz: Zweckmäßigkeit als apriorisches, regulatives und methodische Einheit stiftendes Prinzip in der Beurteilung des Organischen, und Zweckmäßigkeit – kausal bioontologisch erklärt – müssen auseinander gehalten werden. Als Fazit kann in neukantianischer Diktion formuliert werden: Ein transzendentalkritischer Geltungsgrund zur Rechtfertigung eines Begriffs von „Organismus“ als apriorische Grundlage für besondere Urteile einerseits und empirisch-bioontologische Hypothesen zur Erklärung von der Entstehung von Organismen andererseits sind strikt auseinander zu halten. Ad 5. Kiesewetter, der „Modephilosoph“, reduziert die „Wahrheiten der kritischen Philosophie“ (1803) für „Uneingeweihte“ häufig in fast trivialer Manier, aber manchmal gelingt es ihm so, Kernpunkte leichter verständlich und klarer zu formulieren, z. B. wenn es um die Doppelfunktion vom „wesentlichen Kennzeichen eines absoluten Naturzwecks“ geht: „Es gehört zu demselben zweierlei: einmal der Gegenstand muß als Zweck an sich und sodann er 50 Ebd., S. 158.
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muß als Naturprodukt existiren. Durch das erste Merkmal unterscheidet er sich von den Produkten der mechanischen Natur, durch das andere von den Kunstprodukten des Menschen.“51 Kiesewetter stellt hier explizit die doppelte Abgrenzungsfunktion des Begriffs eines „absoluten Naturzwecks“ vor. Selbst im empirischen Begriff setze die Erkenntnismöglichkeit eine begriffliche kausale Ursache für die Form des Gegenstandes voraus, wobei sie „uns nach empirischen Naturgesetzen als zufällig erscheinen“ müsse, aber nach praktischen Vernunftzwecken, als begriffliche Willensursache, gedacht, a priori als im Mannigfaltigen Einheit stiftende Notwendigkeit.52 In dieser apriorischen Ganzheitsperspektive stimme der Gegenstand mit Kunstwerken überein. Von Kunstprodukten aber unterschiede er sich dadurch, dass er „sich also selbst zweckmäßig hervorbringe“53 bzw. „von sich selbst Ursach und Wirkung“ sei.54 Erfahrungsgegenstände wie ein Baum zeigen ein derartiges Erzeugungsverhalten. Die Verknüpfung der Wirkursachen könne „zugleich als Wirkung durch Endursachen beurtheilt werden“, weshalb der Gegenstand ein „organisirtes und sich selbst organisirendes Wesen als Naturzweck genannt werden“ könne.55 Solche Dinge könnten, durch die Urteilskraft regulativ als „Naturzwecke“ beurteilt, „organisirte Wesen“ genannt werden, womit einerseits die doppelte Abgrenzung zum Kunstprodukt und zum mechanischen Naturgegenstand vorgenommen und ebenso ein heuristisches Prinzip formuliert ist. Kiesewetter wendet Kants Erörterungen „Über Technik der Natur“ auf die zu kritisierenden klassischen Systeme des „Realismus“ und „Idealismus“ der Zweckmäßigkeit an und weist die erwähnten dogmatischen Ansprüche dadurch in die Schranken, dass das Teleologieprinzip konstitutiv und nicht regulativ verstanden werde, was Kant „vortrefflich“ mit den Benennungen „System der leblosen Materie, eines leblosen Gottes, einer lebenden Materie und eines lebendigen Gottes“ auf den Punkt bringe.56 Die Casualisten Epikur 51 J. G. C. C. Kiesewetter, Versuch einer fasslichen Darstellung der wichtigsten Wahrheiten der kritischen Philosophie für Ungeweihte. Zweiter Theil welcher die Critik der Urtheilskraft zum Gegenstande hat, 3. Aufl., Berlin 1803, S. 426. 52 Ebd., S. 427. 53 Ebd., S. 423. 54 Ebd., S. 429. 55 Ebd., S. 432. 56 J. G. C. C. Kiesewetter, Critik der Urtheilskraft für Uneingeweihte, auf eine fass liche Art dargestellt, Berlin 1804, S. 461-466.
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und Demokrit erklärten zweckmäßige Köperformen durch blinden Zufall dogmatisch im System, „was das zu Erklärende völlig unerklärt“ lasse.57 Die Ansichten früher Kantrezipienten wären im Hinblick auf die Teleologiekritik in der Kantliteratur, ob nun Kommentatoren oder Analytiker, weiter zu verfolgen, z. B. vom ersten Anwender kantischer Prinzipien in der Naturgeschichte, Christoph Girtanner (1796), über diverse Versuche nach Darwin Kants Teleologiekritik erneut fruchtbar zu beleuchten wie bei Stadler (1874), Menzer (1911) oder Roretz (1922) bis hin zu solchen Interpreten am Ende des 20. Jahrhunderts, welche die Teleologiefrage vor dem Hintergrund der modernen Biologie neu aufrollen wie Löw (1980), McLaughlin (1989), Frank/Zanetti (1996), Toepfer (2004) oder Watkins58. Umfassende Literaturhinweise dazu finden sich in Georg Toepfers Werk Zweckbegriff und Organismus.59 Für viele wichtige Aspekte, z. B. „eine ernsthafte Auflösung der Antinomie“, wie Frank und Zanetti60 anerkennend die Bemühungen McLaughlin’s kommentieren, ist hier nicht der Ort, wohl aber für eine abschließende Perspektive auf die umrissenen dogmatischen Systeme und ein aktuelles Fazit im Geiste Kants: „Diese Systeme, die alle rein mechanistische Erklärungsversuche darstellen, scheitern nach Kants Auffassung allesamt, weil sie noch nicht die kritizistische Wende der Transzendentalphilosophie mitvollzogen haben, wonach regulative Prinzipien eben nicht objektkonstitutiv sind.“ Denn, so lautet der vernünftige Grund kurz und bündig formuliert: „Zwecke gibt es gar nicht in Objekten“.61 Letztlich sind „Naturzwecke“ damit – modern formuliert – als Teleoprojektionen anzusehen, die nach einer entfernten Analogie zu praktischen Zwecken allein im Subjekt fundiert sind, aber auf Objekte projiziert werden, welche theoretisch nach Kant aber nur im Rahmen der allgemeinen Verstandeskategorien und apriorischen Anschauungsformen Raum und Zeit bestimmt werden können. Wie sich schon bei den frühen Rezipienten zeigte, geht es auch heute noch um die methodische Abgrenzung kritischer 57 Ebd., S. 464. 58 E. Watkins, „Die Antinomie der teleologischen Urteilskraft und Kants Ableh nung alternativer Technologien (§§ 69-71 und §§ 72-73)“, in: O. Höffe (Hrsg.), Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, Berlin 2008, S. 241-258. 59 G. Toepfer, Zweckbegriff und Organismus, Würzburg 2004. 60 M. Frank, V. Zanetti, in: dies. (Hrsg.), Immanuel Kant, Schriften zur Ästhetik und Naturphilosophie, Bd. 3, Frankfurt a. M. 1996, S. 1289. 61 Ebd., S. 1291.
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Transzendentalphilosophie von dogmatischer Biometaphysik, aber auch von einer empirischen Bioontologie. Für die seinerzeit aufkeimende „Biologie“ wollte Kant anlässlich alltäglicher und in der Wissenschaft üblicher teleologischer Erfahrungsurteile über „Organismen“ deren Berechtigung kritisch prüfen. Kant wollte deren besondere Begrifflichkeit rechtfertigen, an deren analoge Quellen im praktischen Zweckbegriff, in den Zwecken der Vernunft, erinnern, aber auch deren heuristische Möglichkeiten in der Beurteilung von und in der Forschung über Organismen aufzeigen und schließlich die Grenzüberschreitungen in dogmatischen Systemen markieren. Wenngleich dies seine originäre Intention war, so hat sich auch Kant selbst zuweilen auf den Boden der Biometaphysik und Hyperphysik begeben, wenn es um die Erklärung des Organischen ging, z. B. mit der Hypothese des Bildungstriebs.
III. Postkantische Telos-Transformationen Diverse bioontologische Annahmen Kants sind heute nicht mehr plausibel wie ein „Bildungstrieb“ im Sinne Blumenbachs als einer spezifischen vitalistischen Naturkraft, analog zur Gravitationskraft gedacht, erst recht nicht ein metaphysischer Hintergrund, wenn dessen Führung durch ein hyperphysisches höheres Prinzip der Organisation erfolgen soll, wie Kant es in Verbindung mit dem „Bildungstrieb“ formuliert.62 Darwin, das Genom, das „genetische Programm“, dessen selektive und epigenetische Interaktion mit der Umwelt, Selbstorganisation als Ausdruck für evolutionäre Systemisierung im Organischen oder die Auffassung von Organismen als autopoietische Systeme – all das war in Kants Zeiten unbekannt und ein diesbezüglicher Vorwurf wäre höchst anachronistisch. Dennoch bleiben Einsichten und mit Kant wäre auch heute noch zu fragen: Was bleibt von seinen bioepistemologischen und methodischen Überlegungen zur Naturgeschichte und Geschichte der Natur des Organischen, vom epistemologischen Ansatz bei einer heuristischen, als-ob-teleologischen reflexiven Urteilsmaxime? Oder: Was bleibt vom Lebensbegriff? Ist die angedeutete Differenz zwischen „Leben“ und „Organismus“ auch heute noch relevant? 62 I. Kant, Kritik der praktischen Vernunft, Kritik der Urteilskraft, in: ders., Kants Werke, Akademie-Textausgabe, Bd. 5, Berlin, New York 1968, § 81.
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Kants durchgängige Skepsis gegenüber einem „Newton der Grashalms“, d. h. gegenüber einer mechanistischen Erklärung der Entstehung des Organischen ist bekannt, er hält sie zeitlebens für ebenso „ungereimt“ wie den „Casualismus“ Epikurs, der dogmatisch den blinden Zufall zur Erklärung organischer Zweckmäßigkeit proklamiert und damit das teleologische Urteilsprinzip seiner bioepistemologischen Begrifflichkeit und Legitimation als heuristisches Prinzip beraubt. Andererseits finden sich auch bei Kant selbst Spekulationen über eine Archäologie der Natur und über Naturrevolutionen, die sogar Menschenaffen im Vorfeld des Menschen einbeziehen. Hierbei war Kant weniger originell als oft angenommen, wird aber dennoch gerne in eine prädarwinische Siegergeschichte der Evolution eingeordnet, wenngleich dabei teleologische Hintergrundkonzepte eingehen.63 Aber, auch hinter manchen moder63 Aus heutiger, d. h. anachronistischer Perspektive kann festgestellt werden, dass selbst der späte Kant nicht selten erstaunliche Aussagen einer unkritischen Teleologiemetaphysik und naturalistischen Bioontologie bzw. Naturgeschich te miteinander verknüpft und er fast im Sinne eines „Anything goes“ Paul Feyerabends frei spekuliert. Beispielsweise trägt Kant Gedankenspiele zu „extremsten Formen des Entwicklungsgedankens“ vor, „die im ganzen Rahmen seines biologischen Weltbildes eigentlich eher fremdartig anmuten müssen“ (K. Roretz, Zur Analyse von Kants Philosophie des Organischen, Wien 1922, S. 146). Der Kantkenner Roretz zielt hier auf eine beiläufige Anmerkung Kants in der Anthropologie (I. Kant, Der Streit der Fakultäten, Anthropologie in prag matischer Hinsicht, Kants Werke, Akademie-Textausgabe, Bd. 7, Berlin, New York 1968, S. 328). Darin geht es Kant um die anthropologische Sicht des Ge schreis eines Kindes und um die Absicht der Natur bei dieser existenziellen lau ten Ankündigung. Sie diene, so Kant, der Arterhaltung des Menschen, aber doch erst in einer späteren Epoche, als „beide Ältern schon in derjenigen Cultur, die zum häuslichen Leben notwendig ist, gelangt waren“ (ebd.). Kant greift das bio theoretische Problem auf und spekuliert: „Diese Bemerkung führt weit, z. B. auf den Gedanken: ob nicht auf dieselbe zweite Epoche bei großen Naturrevolutio nen noch eine dritte folgen dürfte; da ein Orang-Utang oder ein Schimpanse die Organe, die zum Gehen, zum Befühlen der Gegenstände und zum Sprechen die nen, sich zum Gliederbau eines Menschen ausbildete, deren Innerstes ein Organ für den Gebrauch des Verstandes enthielte und durch gesellschaftliche Cultur sich allmählig entwickelte“ (ebd.; vgl. dazu Hinweise in R. Brandt, Kommentar zu Kants Anthropologie, Hamburg 1999, S. 493 ff., ferner S. 327 und speziell S. 495 zu Menschenaffen und S. 496 u. S. 498 zum Orang bzw. zu Camper). Kant spekuliert hier im Spätwerk im Zeichen seiner kritischen Transzendentalteleo logie innovativ und heuristisch über die Rolle des Geschreis eines Menschen kindes, fragt nach arterhaltenden Absichten der Natur im metaphysischen Kon text der Entstehung von „Cultur“ und von „Naturrevolutionen“. All dies wird noch mit dem seinerzeitigen naturgeschichtlichen Wissen über Menschenaffen verbunden. Nichtsdestoweniger wird Kant in solchen „evolutionären“ Speku
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nen Termini verbirgt sich nicht selten ein Teleologiekonzept oder die Vorstellung von einem „Leben“ als Vermögen einer Substanz, sich „selbst“ zu bestimmen – und suggeriert einen metaphysischen Kern. Im Begriff der „Selbstorganisation“ ist weder klar, welche Entität hier ein „Selbst“ hat, noch, was ateleologisch betrachtet das Wort „Organisation“ oder „Organismus“ physikochemisch betrachtet mehr bedeuten kann als ein vermeintlich anti-entropischer, irreversibler thermodynamischer „Prozess“, der aus der Perspektive der „Synergetik“ betrachtet vorübergehend eine „Ordnung durch Fluktuation“ hervorbringt. Schon die Übertragung des Begriffs der „Organisation“ auf den modernen Begriff der „Evolution“ suggeriert manchmal eine Höherentwicklung von Organismen, wenngleich orthodox darwinistisch betrachtet nur eine Weiterentwicklung durch „natürliche Selektion“ plausibel wäre. Andere rehabilitieren eine teleometaphysische Biosemantik durch die Rede von einer „systemischen Selbstorganisation“ oder „Strategie der Genesis“ als Richtungsgeber für die Evolution bis hin zum „Sinn“ des Menschen (Riedl). Wenn es um die generelle Frage: Was ist Leben? geht, sind zunächst die Bezugspunkte für diese Frage weiter zu differenzieren. Dann stellt sich im Zeichen von Kant methodisch gesehen die „heuristische“ Frage nach der Bedeutung der Antworten. Schließlich wäre noch als klassische Perspektive die angedeutete Differenz zwischen „Organismus“ und „Lebewesen“ mehr zu beachten. Man kann vereinfachend drei Dimensionen bzw. Bezugspunkte für die generelle Lebensfrage unterscheiden und zwar im Hinblick 1. auf
lationen durch verschiedene Vorläufer oder Zeitgenossen inspiriert wie durch La Mettrie, Rousseau, Bonnet, Monboddo oder Herder. Trotz transzendentaler Teleologiekritik produziert Kant biometaphysische Geistesblitze, die aber mehr am Rand seiner Vernunftanthropologie liegen und ihn sicherlich nicht zu einem prädarwinischen Evolutionisten erheben (vgl. Kap. 5 in H. W. Ingensiep, Der kultivierte Affe: Philosophie, Geschichte und Gegenwart, Stuttgart 2013). Andererseits konnte auch der späte Kant bei aller teleologiekritischen Distanz seine zeitlebens immer wieder durchschlagende Sympathie für die Physikotheo logie nicht verbergen. Von dieser Sentimentalität zeugt eine merkwürdige bio grafische Anekdote, die durch Kants Tischgenossen Hasse im Todesjahr Kants 1804 überliefert wurde: „‚Es ist ein Gott‘ rief er einst aus, und bewies das aus dem Benehmen der Schwalbe gegen ihre Jungen, die, wenn sie sie nicht mehr ernähren konnte, sie aus dem Neste stosse, um sie nicht vor ihren Augen sterben zu sehen. Und dabey sprach er viel zu Gunsten des Physiko-theologischen und teleologischen Arguments für das Daseyn Gottes.“ (J. G. Hasse, in: A. Buchenau, G. Lehmann (Hrsg.), Der alte Kant, Berlin, Leipzig 1925, S. 27).
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ein Individuum, 2. auf eine besondere Klasse von Naturdingen und 3. auf einen natürlichen Prozess, der gemeinhin als „Evolution“ bezeichnet wird. Die drei Bezugspunkte sind biophilosophisch in unterschiedlicher Weise relevant. Erstens: Im Hinblick auf das „Leben“ des Individuums nimmt man eine ontogenetische Zeitspanne in den Blick, von dessen Beginn an dieses Individuums als „lebendig“ bezeichnet wird, z. B. ab der befruchteten Eizelle, bis zu einem Ende, das als Tod definiert wird, z. B. durch das Hirntodkriterium. Es sind besondere Lebensaktivitäten wie Metabolismus, Reflex, Instinkt, Emotion, Kognition und die Dimension der individuellen Lebenszeit, die im Mittelpunkt stehen. Je nach Kriterium können der „Organismus“ und das „Lebewesen“ auseinander treten, z. B., wenn allein ein mentalistisches Kriterium für das „Leben“ einer Person eingefordert wird, ein Wachkomapatient es aber nicht erfüllen kann, und dann entsprechend zwar ein „Organismus“ ist, aber kein „Lebewesen“ mehr, das in der Lage ist, kognitiv seine Bewegungen „selbst“ zu steuern. Aus klassischer Perspektive betrachtet, treten nun die heuristische Perspektive auf das Individuum als strukturelle Funktionseinheit, sprich „Organismus“, und das primäre Selbstbewegungsprinzip, sprich „Leben“, deutlich auseinander. Der individuelle Wachkomapatient wäre zwar ein „Organismus“, aber kein individuelles „Lebewesen“ mehr.64 Die bioethische Brisanz dieser biophilosophischen Vorentscheidung ist offenkundig. Allerdings ist zu bedenken, dass dabei dogmatisch auf ein klassisches kognitives Lebensprinzip rekurriert wird bzw. „heuristisch“ auf einen bestimmten Organismusbegriff. Zweitens: Ist vom Leben „der Organismen“ die Rede, stehen nicht die individuelle Zeit, sondern die Gleichzeitigkeit, eben alle „Organismen“ kennzeichnende strukturbedingte Interaktionen, sprich strukturelle und funktionale Wechselwirkungen, im Mittelpunkt. In funktionalistischer Sprache ist dabei von Selbsterhaltung, Selbstregulation, Selbstorganisation etc. die Rede, und zwar dann, wenn besondere Strukturen dieser organischen Einheit wechselseitig als Zweck und Mittel zur Erhaltung eines Ganzen dienen. So können subzelluläre Elemente wie Mitochondrien oder Plastiden wiederum einer höheren Funktionseinheit, genannt „Zelle“, dienen, diese wiederum Geweben, die makroanatomisch als „Organe“ 64 K. Akerma, „Zur Definition des Begriffs ‚Lebewesen‘“, in: H. W. Ingensiep, T. Rehbock (Hrsg.), „Die rechten Worte finden…“: Sprache und Sinn in Grenz situationen des Lebens, Würzburg 2009, S. 157-175.
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„organisiert“ sind, die wiederum strukturell-funktional in ihrer Wechselwirkung einen „Organismus“ ausmachen usw. „Den Organismus“ als solchen gibt es aber nicht, da es sich, biotheoretisch betrachtet, um die Bezeichnung einer abstrakten Klasseneinheit handelt. „Der Organismus“ als Bezeichnung für eine besondere Entität mit zweckmäßigen Interaktionen zur vorübergehenden Erhaltung von Funktionen kann verschiedene heuristische Rollen spielen. So kann ein solches Organismuskonzept als „Modell“ zur Beurteilung und Klassifizierung bestimmter Naturdinge dienen. So kann z. B. die Klasse der Organismen als natürliche organische Körper von „anorganischen“ Körpern abgegrenzt werden, bei denen derartige Funktionen nicht vorliegen, z. B. Amöben von Kristallen. Heute ist es zudem möglich, derartige Funktionseinheiten synthetisch herzustellen, um sie dann als solche „künstliche“ Organismen, als Artefakte oder „Biofakte“ (Karafyllis), von Naturalien abzugrenzen. Häufig ist in diesen Kontexten heute deckungsgleich von „Organismen“ und „Lebewesen“ die Rede, was vor dem angedeuteten klassischen Hintergrund mögliche Verwirrungen zur Folge hat. Deutlich wird dies beispielsweise bei Viren, denn als funktionale Einheiten betrachtet, handelt es sich zwar um „Organismen“, die sich aber offensichtlich nicht aus sich „selbst“ heraus „bewegen“ können; sie zeigen zudem keinen autonomen, „aktiven“ Stoffwechsel, und wären insofern nicht als „Lebewesen“ zu bezeichnen, legt man das klassische Vorverständnis zugrunde, wonach „Lebewesen“ als „Substanzen, die sich aus sich selbst heraus zu bewegen vermögen“, aufgefasst wurden. Solche Spitzfindigkeiten lassen sich noch weiter treiben. Hier geht es nur darum, daran zu erinnern, dass der Organismusbegriff nach wie vor eine heuristische Rolle bei der Klassifikation von natürlichen oder künstlichen Dingen spielt. Dazu bedarf es einer Definition und eines Beurteilungsprinzips als Kriterium, erst recht, wenn bei Organismen eine funktionale „Störung“ oder eine „Krankheit“ festgestellt werden soll. Denn dann muss idealiter ein Standardorganismus vorausgesetzt werden, von dem nun im Einzelfall abgewichen worden ist. Schließlich bleibt der Organismusbegriff als strukturfunktionale Einheit immer auch ein Forschungsprinzip der Biologie, wenn nach der Rolle der Teile oder Teilprozesse im Ganzen des „Organismus“ gefragt wird. Auch wenn heute von „Programm“, „Gen“ oder „Regulation“ die Rede ist, ist heuristisch betrachtet nichts anderes gemeint als die besondere funktionale Rolle dieser Teile oder Teilprozesse im Interaktionsgeschehen des ganzen Organismus. Was zu Kants Zeiten https://doi.org/10.5771/9783495817476 .
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für Ärzte, Anatomen und Naturhistoriker galt, gilt auch heute als Forschungsprinzip für Physiologen oder Molekularbiologen, wenn sie fragen: Wozu dient diese Struktur oder dieser Prozess im „Organismus“? Drittens: „Leben“ wird ferner häufig als Bezeichnung für einen bestimmten universellen Prozess benutzt, der als organische „Evolution“ alle Organismen und damit auch alle Individuen, von der Amöbe bis Einstein, einschließt und sie in Beziehung zu einander und zu ihren Umwelten setzt. Zur heuristischen Funktion des Organismusbegriffs, der z. B. in der Beziehungsbeschreibung zwischen „Organismus“ und „Umwelt“ vorausgesetzt werden muss, kommt ein weiteres Problem, nämlich dasjenige der Erklärung, z. B. in der Diktion Darwins durch individual variation und natural selection. Was dabei als Erklärung der Vielfalt der Organismen durch Naturgesetze gilt, kann als eine heuristische Regel, gekleidet in die metaphorische Sprache der „Zuchtwahl“, aufgefasst werden, welche entsprechend eine besondere Relation zwischen Organismus und Umwelt, nämlich „Anpassung“ plausibel machen soll und kann. Darwins Faustregel wäre dann ein heuristisches Prinzip zur Auffindung von Anpassungsbeziehungen zwischen gedanklichen Isolaten, sei es mit Bezug auf Umwelten oder auf Organismen untereinander. Ohne einen heuristischen Begriff von „Organismus“ wäre weder klar, was für eine Entität hier „variiert“ (heute durch Mutation, Rekombination, Reorganisation im Genom usw.) noch wäre klar, was hier „selektiert“ wird im Hinblick auf eine „Umwelt“ oder andere „Organismen“. Dass die Natur hier das auswählende als-ob-Subjekt in Analogie zum menschlichen Zuchtwähler spielt, ist offenkundig – und war auch Darwin bewusst. Allerdings wird nicht selten bei manchen Neodarwinisten aus der fruchtbaren Forschungsregel ein physikalisches „Naturgesetz“ für einen genegoistischen „blinden Uhrmacher“ (Dawkins), was die heuristische Perspektive aufhebt und durch einen deterministischen Dogmatismus ersetzt. Doch gerade die physikochemische Perspektive auf die organische Evolution eröffnet noch eine andere Sicht. Wird eine biotheoretischphysikalisch erklärende, thermodynamische Perspektive eingenommen, wenn z. B. von vorübergehenden Ordnungsinseln am Rande des Chaos die Rede ist (Kauffman), die sich nach und nach autokatalytisch hochschaukeln, um am Ende der Evolution dann doch dem Wärme-„Tod“ im Universum zum Opfer zu fallen, dann kommen nicht selten wieder Lebensmetaphern ins Spiel, wie „Tod“, die nichts mit dieser physikalischen Sicht zu tun haben. Synergetiker https://doi.org/10.5771/9783495817476 .
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sprechen vom „Versklavungsprinzip“ (Haken), um dem zufälligen Prozess metaphorisch ein Scheinleben einzuhauchen, in vollem Bewusstsein, dass der universale Prozess der Evolution nichts mit den Begriffen „Organismus“ oder „Leben“ zu schaffen hat, es sei denn, eine „Weltseele“ oder ähnliche metaphysische Konstrukte werden hypostasiert, um alles in Bewegung zu setzen oder zu halten. Der heuristische Begriff des „Organismus“ hat hier ebenso wie der Begriff des „Lebens“ klar seine metaphysischen Grenzen überschritten. Mit den genannten Differenzierungen und Hinweisen lassen sich weitere aktuelle biophilosophische Fragen zur Urfrage: Was ist Leben? angehen, die auch diverse bioethische Probleme tangieren. Im Rückblick auf Kant und im Blick auf heutige Transformationen wären in Teleologiefragen drei Aspekte bzw. Zugänge deutlicher zu unterscheiden: 1. kritische Transzendentalteleologie, 2. unkritische Teleologiemetaphysik und 3. naturalistische bzw. empirische Bioontologie. Deren Arbeitsfelder im Umriss: 1. Kritische Transzendentalteleologie hat die Aufgabe, rational gerechtfertigte begriffliche Ermöglichungsbedingungen für den Gebrauch teleologischer Prinzipien und Urteile über „Organismen“ aufzuzeigen, d. h. auch ihre Quellen, Möglichkeiten und Grenzen. Es wären definierte Bedeutungen und auch Grenzen für den Einsatz jeglicher „Teleosemantik“ festzulegen. 2. Unkritische Teleologiemetaphysik beinhaltet im Kern weder beweisbare noch widerlegbare dogmatische Spekulationen über Gott, die Welt, die Evolution, Organismen oder das Leben. Wenn beispielsweise im erwähnten Begriff des „Selbst“ als Identität und unhinterfragte Lebensquelle wieder ein Subjekt der Evolution auftaucht, ist Pseudowissenschaft nicht mehr weit, z. B. in einer spirituell, mystisch fundierten Theorie der „Selbstorganisation“ des Universums (Jantsch). 3. Naturalistische Bioontologie kann plausible, erfahrungsgestützte Beschreibungen, Ergebnisse der experimentellen Erforschung und kausale Elemente einer erklärenden Biotheorie enthalten. Insofern handelt sie, kurz gesagt, von biologischen Seinssachverhalten. Auf dieser Ebene wäre im Rückblick auch Kants Ansatz eines auf „Epigenesis“ und „Bildungstrieb“ zurückgreifenden „Teleomechanismus“ (Lenoir) als problematisch einzuordnen, der allerdings seinerzeit als empirisch gestützte Arbeitshypothese plausibel war. Kant hat sich zwar selbst nicht immer an die hier genannten methodologischen Unterscheidungen gehalten, aber sie sind – ex post betrachtet – in seinen systematischen Überlegungen zur Teleologiekritik angelegt, was auch die frühe Kantrezeption zeigt. https://doi.org/10.5771/9783495817476 .
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Wie stellt sich heute das Problem der teleologischen Beurteilung im Organischen dar? Was die aktuelle Erforschung von Organismen bzw. von natürlichen organischen Prozessen leitet, ist nach wie vor eine heuristische teleologische Maxime im Sinne eines Beurteilungsprinzips von Dingen als „Naturzwecken“, nur dass diese heute zu beurteilenden Zweck-Mittel-Relationen meist durch Ausdrücke wie „Funktion“, „Regulation“, „Feedback“ etc. verdeckt werden. Vermutet werden heuristische Teleorelationen selbst dann, wenn noch gar keine konkreten empirischen Anhaltspunkte vorliegen. Dazu einige Beispiele: Kant hatte zwar seinen kritischen Blick primär auf den Organismus als besondere Entität, als „Naturzweck“ beurteilt, gerichtet, aber auch auf die zweckmäßigen geschlechtlichen Beziehungen zwischen Organismen und auch auf übergeordnete organische Systeme wie die oeconomia naturae, den „Haushalt der Natur“ und auf die äußeren Verhältnisse organisierter Wesen darin – Menschen, Tiere und Pflanzen – inspiriert durch Linné.65 Kant spekuliert – wie oben gezeigt – auch über die Evolution des Menschen und den „Archäologen der Natur“.66 Weit darüber hinaus geht es heute um evolutionäre Prozesse insgesamt, denen die Idee der Zweckmäßigkeit in forschender Erkenntnisabsicht, aber von Forschern manchmal auch naiv bioontologisch, übergestülpt wird. So kann „Biodiversität“ als funktionaler Faktor für die „Stabilität“ oder das „Gleichgewicht“ im Ökosystem angesehen werden und erfüllt damit scheinbar eine zweckmäßige Systemrolle. Nicht selten wird eine kybernetisch-funktionale und normative Ganzheit suggeriert, die sich irgendwie an natürlichen Sollwerten orientiere. Ein anderes Beispiel aus der Molekularbiologie war die Vermutung, es handele sich beim allergrößten Teil nichtcodierender DNS-Sequenzen um evolutionären Müll, junk DNS. Und dennoch wurden am heuristischen Leitfaden des Zweckbegriffs nach und nach vielfältige „regulatorische Funktionen“ im vermeintlich evolutionären Molekülschrott aufgedeckt. Im Zeichen des Dogmas der klassischen Molekulargenetik benutzte man also antiheuristische questionstopper in biologischen Theoriefragen. Die klassische dogmatische Formulierung des vermeintlich linear-kausal gedachten Flusses der „Information“ von der DNS über RNS zum Protein kann heute in der Tat als questionstopper angesehen werden, nachdem RNS-Viren, überlappende Gene, Exon-Intron-Struktur, RNA-Interferenz und 65 I. Kant, Kritik der praktischen Vernunft, Kritik der Urteilskraft, § 82. 66 Ebd., § 80.
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viele andere „Anomalien“ entdeckt wurden. Fruchtbare Arbeitshypothesen wurden durch Empirie widerlegt und neue „Funktionen“ entdeckt. Doch wenn nun auf bioontologischer Ebene bestimmte neue „Funktionen“ erkannt werden, bekommt die organische Evolution dadurch insgesamt dennoch keinen objektiven Gesamtzweck oder „Sinn“. Dies wäre ein erneuter Rückfall in eine unkritische Teleologiemetaphysik und wir wären nur Opfer unserer eigenen Teleoprojektionen auf Naturprozesse und Naturdinge. Ebenso problematisch ist es heute, im Zeichen der Hox-Gene mit EVO-DEVO im Hintergrund einen epigenetisch gestützten molekularen Lamarckismus zu vertreten, auch wenn es plausibel erscheint, dass eine umweltabhängige Rückkoppelung zur Reorganisation des Genoms oder damit zur Etablierung von „zweckmäßigen“ Bauplänen im Verlaufe der Evolution führt. Diese bioontologischen Theorien erscheinen aus teleologiekritischer Perspektive als ebenso unkritisch und dogmatisch wie die einstige Wiederholung des darwinistischen Mantras, ein „Organismus“ sei nichts als ein „Zufallsprodukt“ der „natürlichen Selektion“ und optimal an eine spezifische Umgebung angepasst. Sowohl praktische Forschung als auch aktuelle Biotheorie kommen also letztlich um den Einsatz einer Teleoterminologie nicht herum und sei es im pragmatischen Einsatz vermeintlich objektivierbarer Funktionsbegriffe. Im Kontext der naturalistischen Bioontologie ist allerdings eine selbstkritische Rechtfertigung für den Einsatz dieser Terminologie wenig gefragt, d. h. das ursprüngliche Anliegen einer kritischen Transzendentalteleologie Kants. Wissenschaftstheoretisch betrachtet folgen dem bioepistemologischen Ansatz Kants dennoch so heterogene Strömungen wie die „Funktionalanalyse“ (Stegmüller), das Autopoiesiskonzept im radikalen Konstruktivismus (Maturana), der „Funktionspluralismus“ (Bunge) und rudimentär auch die „Teleosemantik“ (Millikan). Für Biologen scheint der Funktionspluralismus (Bunge) – pragmatisch betrachtet – recht hilfreich, befreit aber nicht von einer vertiefenden Klärung der Ähnlichkeiten und Unterschiede der verschiedenen Funktionsbegriffe – je nach biologischem Anwendungskontext. Der Funktionsbegriff spielt also in der Biologie nach wie vor eine zentrale Rolle, ist dennoch nur scheinbar naturalisierbar und verweist in seiner Verwendung letztlich auf einen intentionalen Akteur, der bestimmte Dinge notwendigerweise als Quasi-Naturzwecke denkt. Soweit ist Kants Auflösung des Naturteleologie-Problems im Kontext einer transzendentalphilosohttps://doi.org/10.5771/9783495817476 .
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phischen Als-Ob-Teleologie immer noch ebenso aktuell wie das Problem der Naturalisierung.67 Dennoch wären pragmatisch und vor dem Hintergrund der Diskussionen der letzten Dekaden weitere terminologische TelosTransformationen in der Biotheorie und Bioethik ins Auge zu fassen. Ich ziehe nachfolgende teleo-terminologische Abgrenzungen in Anlehnung an diverse Autoren (wie Mayr) vor und möchte so Kernbedeutungen des altgriechischen „Telos“ Raum geben. Mit Hilfe der verschiedenen Telos-Bedeutungen – Ende, Ziel, Zweck, Sinn – möchte ich vier Telosterme unterscheiden. Ich gehe dabei nicht von essentialistischen Gegenstandsdefinitionen aus oder von stationären Strukturinteraktionen, sondern von Prozessen. Inspiriert durch und in entfernter Anlehnung an Ernst Mayrs Teleologieanalyse68 lassen sich terminologisch vereinfachend Bezeichnungen für folgende Prozesse unterscheiden: • Teleomatische Prozesse: Endgerichtet, raumzeitlich-kausal (z. B. ein Stein fällt in den Brunnen), • Teleonomische Prozesse: Zielgesetztlich, „Programm-gesteuert“, intern/extern (z. B. genomgesteuerte Ontogenese oder partiell offene Verhaltensweisen), • Teleologische Prozesse: Zielgerichtet und intentional, Zwecksetzungen mit Bewusstsein (z. B. Planhandlungen bei höheren Tieren), • Teleonorme Prozesse: intentional und Normen verwirklichend (z. B. in moralischen Handlungen). In Punkt 4 – bei teleonormen Prozessen – geht es letztlich um moralische Handlungen aus einer reflektierten erstpersonalen Metaperspektive auf bewusste Zwecksetzungen. Sie erfordert Einsicht 67 Vgl. hierzu etwa G. Keil, „Biologische Funktionen und das Teleologieproblem“, in: L. Honnefelder, M. C. Schmidt (Hrsg.), Naturalismus als Paradigma, Berlin 2007, S. 76-85; M. Schark, „Wie aktuell ist Kants Auflösung des NaturteleologieProblems?“, in: U. Meixner, A. Newen (Hrsg.), Logical Analysis and History of Philosophy. Special Issue. Final Causes and Teleological Explanations, Guest Editors: D. Perler, S. Schmid, Paderborn 2011, S. 125-154. 68 E. Mayr, „Teleologisch und teleonomisch – eine neue Analyse“, in: ders., Evolu tion und die Vielfalt des Lebens, Berlin, Heidelberg 1979, S. 198-229. Für Bio wissenschaftler gibt dieser Beitrag erste Einblicke in die klassische Diskussion aus der Perspektive eines Kenners der Evolutionsbiologie und Wissenschafts geschichte. Die Analyse selbst repräsentiert den Stand Anfang der 1970er Jah re; für neuere Entwicklungen in der philosophischen Diskussion vgl. Toepfer, Zweckbegriff und Organismus.
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in Normen, Werte oder „Endzwecke“ durch erstpersonale Akteure. Lebensweltlich betrachtet wären sie „Sinn“ stiftend zu nennen, womit wir das weite Feld der Metaphysik, Anthropologie und Ethik betreten. Wenn unter Punkt 2 – bei teleonomischen Prozessen – deren Zielgesetzlichkeit aus drittpersonaler Beobachterperspektive, z. B. als „Programm“, beschrieben wird, ist der jeweilige historische Kontext der kybernetischen Metaphorik im „Buch des Lebens“ (Kay) quasi als Teleoprojektion von „Sprache“ auf das „Genom“ zu beachten. Eine abschließende Bemerkung führt zurück zum Thema „Leben als Zweck“ und zu dessen biophilosophischen und bioethischen Dimensionen. Nach Kant, Darwin und der modernen Evolutions- und Molekularbiologie erkennen wir, dass wir die Zwecke nicht mehr in die „Objekte“ der Natur oder in transzendente Gegenstände wie Gott hineinreflektieren können, sondern, dass wir die Zwecke letztlich aus uns selbst als verantwortliche erstpersonale Akteure und moralische Subjekte herausreflektieren müssen. In der kritischen Reflexion auf die Ermöglichungsbedingungen unserer teleologischen Urteile über Gott und die Welt erkennen wir also letztlich, dass wir selbst die teleologische Quelle sind und selbst Gründe für mögliche Anwendungen und Grenzen geben. Dies zeigt sich bei teleologischen Urteilen in Ansehung der äußeren Natur, der so genannten Umwelt, deren „Kapazität“ und „Potential“ ebenso wie in Ansehung unserer inneren Natur, als physischer Mensch, Embryo oder Stammzelle mit totipotentem oder pluripotentem „Potential“. Solche Potentialitätsargumente enthalten – bereits bioepistemologisch betrachtet – nicht selten implizite naturalistische Teleoprojektionen, die am Ende wieder auf uns selbst – als beurteilende, erstpersonale Akteure und Normensetzer – zurückfallen. Klar ist damit, dass das „Leben“ insofern ganz in unserer Hand liegt. Sinn stiftende Normen und Werte können nicht aus drittpersonalen wertneutralen Beschreibungen und Erklärungen abgeleitet werden, was in der einen oder anderen Variante eines „Naturalistischen Fehlschlusses“ endet. Eine Abschiebung von theoretischen Teleoprojektionen auf ein „natürliches“ Leben als „Naturzweck“ wird uns als vermeintlich teilnahmslose Beobachter also immer wieder auf unser eigenes geistiges Leben als „Selbstzweck“ zurückwerfen und damit in rationaler Perspektive auf autonome Sinnstiftung. Noch weniger als zu Kants Zeiten können wir daher nach Darwin auf „Sinn“ in der Natur oder Evolution hoffen. Umso mehr sind wir als autonome Subjekte gefordert, im Hinblick auf menschliche Handlungszwecke https://doi.org/10.5771/9783495817476 .
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mit Bezug auf die uns bekannte und verfügbare äußere und innere Natur und ihre technischen Veränderungen ethische Rechenschaft abzulegen, d. h. Verantwortung für die von uns gesetzten Normen und Werte zu übernehmen. Aktuell ist in der Bio- und Gentechnologie die Diskussion über induzierte pluripotente Stammzellen interessant, wenn es um die in der „Natur“ von „Lebewesen“ oder „Organismen“ verankerte „Natürlichkeit“ der „Potentialität“ oder um die „Totipotenz“ von „Zellen“ oder „Embryonen“ gehen soll. Konkret wäre zu fragen, wieweit es sich um technisch-praktisch motivierte, heuristische Teleoprojektionen in Urteilen über die Zustände konkreter Individuen handelt, zu denen wir auch in moralisch-praktischer Beziehung stehen können. Als vermeintlich teilnahmslose drittpersonale Beobachter beschreiben wir sie, sind aber immer involviert als teilnehmende erstpersonale teleologische Bewerter dieser „natürlichen“ oder „künstlichen“ Entitäten. Die Verwirrung steigt, wenn wir fragen, ob es sich nicht nur um „Organismen“, sondern auch um „Lebewesen“ handelt, deren „Leben“, d. h. deren Vermögen sich „selbst“ zu bewegen oder zu entwickeln, noch in Abhängigkeit von einer bestimmten Kriteriologie definiert wird, z. B. mittels Stoffwechsel, genetisch eigenständiger Entwicklung, Emotion oder Kognition. Immer geht es auch um intentional verfolgte Zwecke erstpersonaler Akteure, wenngleich sie in unterschiedlichen Sprachspielen verdeckt sind. Biologen tendieren zu einer vermeintlich realistischen, internteleologischen „Programm“-Sprache über das „Genom“ oder das „Potential“ einer Zelle, letztlich, um daran externe Zwecke der Grundlagenforschung oder Therapie zu binden. In solcher Sprache werden die biologischen Texte dann Juristen vorgelegt, positivistisch aufgenommen und möglichst kohärent ins Gesetzeswerk eingefügt, wie sich z. B. in der Definition eines „Embryos“ zeigte. Am Ende sollen dann wieder die implizit damit verbundenen Wertfragen von Philosophen oder Theologen hervorgeholt werden. Im besten Fall kann man dann der Sinnfrage nicht mehr ausweichen und die den Handlungsnormen zugrunde liegenden Wertvorstellungen werden offen gelegt. Ausgehend von den biotheoretischen, organischen „Naturzwecken“ in Objekten werden so auf Umwegen wieder die von freien Subjekten gesetzten, praktischen Zwecke erreicht, welche menschliche Handlungen leiten sollen. Schon von Kant können wir dabei unter anderem lernen, dass eine umfassende biophilosophische Teleologiekritik der theoretischen Perspektive wieder auf Teleoprojektionen des Subjekts und https://doi.org/10.5771/9783495817476 .
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endlich auf die individuellen, praktischen und teleologischen Maximen zurückführt. Letztere können wir heute weder im Rückgriff auf „Gott“ oder die „Natur“ dogmatisch rechtfertigen. Weder die „Materie“ noch „Gott“ helfen, implizit verfolgte praktische Zwecke im „Leben“ zu legitimieren, wohl aber autonome Rechenschaft über selbst verantwortete Lebensentwürfe.
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Der Organismus-Begriff und die Innen-AußenweltProblematik um 1800: Brown, Hufeland und Treviranus
Um 1800 erweitert sich die Debatte um die Ordnung des Organischen immer stärker von dem Problem der Spezifik der inneren Organisation lebender Körper in eine Innen-Außenwelt-Problematik hinein, in der es um ihre Existenzbedingungen und Existenzweisen geht. Diese Verschiebung ist vor allem im deutschsprachigen Raum an das Aufkommen eines Organismus-Begriffs gekoppelt, der sich auf einen individuellen Agenten bezieht, dessen innere Organisa tion in Austauschprozesse mit einer Außenwelt eingebunden ist.1 Um die Verschiebung näher zu kennzeichnen, werde ich im Folgenden mit John Browns auf Lebenszustände und Reiz-ReaktionsSchemen ausgerichtetem Agentenmodell beginnen und von hier aus weiter zu Christoph Hufelands und Gottfried Reinhold Treviranus’ Ansätzen schreiten, durch die Browns Erregbarkeitsprinzip in die assimilatorische Dynamik physiologischer Prozesse eingebaut wird. Es ließen sich auch andere Wege gehen, die etwa mit Cuviers Funktions-Struktur-Paradigma in der vergleichenden Anatomie, mit Natur- und Subjektphilosophien von Schelling und Hegel oder mit Cabanis’ und Lamarcks Bestimmung des Zusammenhangs zwischen organisierten Körpern und „äußeren Umstände“ beginnen.2 All diesen Ansätzen ist gemein, dass sie die Existenzbedingungen und die Existenzweisen lebender Körper durch ein System von Teilen darstellen, dessen Selbsterhalt innerhalb der vom Körper 1
2
Siehe hierzu T. Cheung, Res vivens. Agentenmodelle organischer Ordnung 1600–1800, Stuttgart 2008; ders., „What is an ‚organism‘? On the occurrence of a new term and its conceptual transformations 1680–1850“, in: History and Philosophy of the Life Sciences 32/2010, S. 155-194. Für alternative Gangarten, siehe O. Breidbach, Das Organische in Hegels Den ken. Studie zur Naturphilosophie und Biologie um 1800, Würzburg 1982; ders., „Die Naturkonzeption Schellings in seiner frühen Naturphilosophie“, in: Phi losophia Naturalis 23/1986, S. 82-95; T. Cheung „Außenwelt und Organismus: Überlegungen zu einer begriffsgeschichtlichen Konstellation um 1800“, in: Fo rum Interdisziplinäre Begriffsgeschichte 2/2012, S. 8-14.
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vorgegebenen Grenzen durch ein wechselwirkendes Aufeinanderbezogen-Sein von innerer Organisation und Außenwelt möglich ist. Die Möglichkeit des Selbsterhalts impliziert zugleich, dass beide Welten – Innen- und Außenwelt – als eigenständige Regionen bis zu einem gewissen Grad aufeinander abgestimmt sind.
1. Browns Erregbarkeitsprinzip In Elements of Medicine (1788)3 bestimmt Brown, der an der Edinburgher Universität Theologie und Medizin studierte, „Lebenszustände“ (states of life, living states) organischer Körper durch Reiz-Reaktions-Schemen, deren allgemeines Prinzip „Erregbarkeit“ (excitability) ist.4 Sich an Newton orientierend, der von einem durch Beobachtung und Experiment wohlfundierten „Befund an 3
4
Brown veröffentlichte zuerst in Latein die Elementa medecinae (1780). Nach einer Überarbeitung (1784) erschien 1788 die erste englische Übersetzung (Ele ments of Medicine). Zur Editionsgeschichte der Elementa siehe J. A. Overmier, „John Brown’s Elementa Medicinae: An introductory bibliographical essay“, in: Journal of the Medical Library Association 70/1982, S. 310-317. Eine auszugs weise Übersetzung der lateinischen Ausgabe findet sich in J. Brown, Observa tions on the Principles of the Old System of Physic, Exhibiting a Compend of the New Doctrine. The Whole Containing a New Account of the State of Medicine from the Present Times, Backward, to the Restoration of the Grecian Learning in the Western Part of Europe. By a Gentleman Conversant in the Subject, Edin burgh 1787. Im Folgenden wird aus der revidierten, 1795 erschienenen und von Brown über tragenen englischen Ausgabe zitiert, die Thomas Beddoes edierte: J. Brown, The Elements of Medicine of John Brown. Translated from the Latin, with Com ments and Illustrations, by the Author. A New Edition, Revised and Corrected with a Biographical Preface by Thomas Beddoes, 2 Bde., London 1795. Nähere Angaben zu dieser Edition finden sich bei J. A. Overmier, „Brown’s Elementa“, S. 312-314. Für biographische Details zu Brown siehe Thomas Beddoes’ Einlei tung in J. Brown, Elements of Medicine, Bd. 1; William Cullen Browns Einleitung in J. Brown, The Works of Dr. John Brown, 3 Bde., Bd. 1, London 1804; und R. C. Newton, „John Brown M. D. and the Brunonian system of medicine“, in: Medical Record 2/1911, S. 1115-1121. Für den historischen Kontext von Cullens und Browns Ansätzen, siehe B. Hirschel, Geschichte des Brown’schen Systems und der Erregungstheorie, Leipzig 1846; W. Riese, „An outline of a history of ideas in neurology“, in: Bulletin of the History of Medicine 23/1949, S. 111-136; T. Henkelmann, Zur Geschichte des pathophysiologischen Denkens. John Brown (1735–1788) und sein System der Medizin, Berlin 1981; N. Tsouyopoulos, Ask lepios und die Philosophen. Paradigmawechsel in der Medizin im 19. Jahrhun dert, Stuttgart, Bad Cannstatt 2008. S. 61-105.
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Fakten“ (stock of facts) auf ein ihnen zugrundliegendes, einfaches „Attraktions“-Prinzip schloss, ohne das Prinzip selbst erklären zu können, versucht Brown, alle Erscheinungen lebendiger Körper auf ein allgemeines „Erregbarkeits“-Prinzip zurückzuführen.5 Das „Erregbarkeits“-Prinzip ist das „einzige alles bestimmende Prinzip“ (sole over-ruling principle) der Lebenszustände eines lebendigen Körpers.6 Es wirkt in höheren Tieren und Menschen innerhalb eines „Nervensystems“, dessen reaktive Einheiten aus „medullärer nervöser Materie“ und „muskulären festen Teilen“ bestehen.7 Aufgrund fehlender Kenntnisse „chemischer“ und „elek trischer Phänomene“ ist für Brown die physiologische Ursache der Muskelkontraktion genauso unbekannt wie „die Weise, auf die jede Funktion im lebendigen System ausgeführt wird“.8 Das Prinzip wirkt in jedem Teil, dem es „inhäriert“, gleich, doch ist sein Potential nicht in allen Teilen gleich verteilt. Teile lebendiger Körper, denen mehr Erregbarkeit innewohnt – etwa das Gehirn oder der Verdauungskanal – sind „lebendiger und empfindsamer“ (more vivid and sensible). Entsprechend können Reize bei gleicher Reizstärke unterschiedlich auf affizierte Teile wirken.9 Je nach der Reizstärke und der Einbindung eines erregbaren Teils in das Nervensystem werden „Erregungen“ (excitements) in verschiedenen Graden an andere Teile weitergegeben.10
5 Vgl. J. Brown, Elements of Medicine, Bd. 1, S. 7; und J. Brown, Observations, S. iv. 6 J. Brown, Observations, S. lxiii. 7 Vgl. J. Brown, Elementa Medicinae, Edinburgh 1784, S. 22: „Incitabilitatis in ani mato copore sedes, materia nervosa medullaris, et firmum musculare, est, genus nervosum, dicenda. Cui insita incitabilitas non in alia sedis parte alia est, nec ex partibus constat, sed una toto corpore et indivisa proprietas. Quam rem, sensus, motus, mentis et animi actio, protinus, temporis puncto, nec ulla succedentis ope ris serie, a potestatibus incitantibus suborientata, firmant.“; vgl. ders., Elements of Medicine, Bd. 1, S. 36. 8 Vgl. J. Brown, Observations, S. iii; ders., Elements of Medicine, Bd. 1, S. 234. 9 Vgl. J. Brown, Elements of Medicine, Bd. 1, S. 38: „the more excitability was assigned to any part originally, that is, the more vivid and sensible it is, the operation of each exciting power, whether acting with due force, or in excess, or in defect, is the more considerable. Thus the brain and alimentary canal possess more vivid excitability, that is, more propensity to life, than other internal parts; and the parts below the nails, than other external parts.“ 10 Vgl. J. Brown, Elements of Medicine, Bd. 1, S. 37 und 43 f.
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Gemäß dem Prinzip, dass „Erregung alle Lebenserscheinungen reguliert“ (excitement regulates all the phenomena of life)11, ist für Brown jeder Lebenszustand ein durch „erregende Kräfte“ „erzwungener Zustand“ (forced state)12. „Aktionen“ (actions) im Körper sind immer „Reaktionen“ auf vorherige Reizungen. Keine „Aktion“ (und kein „Verlangen“ (desire)) wird spontan erzeugt oder durch eine Art „Instinkt“ oder „weise Vernunft“ (wise rea son) geleitet, sondern durch reaktive „Systemzustände“ (states of the system) eingeleitet, die ihrerseits von den „Dispositionen“ des „Baus des tierischen Gerüsts“ (conformation of the animal frame) abhängen, die bestimmte „Aktionen“ ermöglichen.13 Lebendige Körper verfügen für Brown über eine spezifische, jedoch je nach Lebenszustand und Lebensalter wandelbare Menge an „Erregbarkeits-Energie“ (energy of the excitability), an der auch das „Gehirn“ teilhat.14 Durch die in ihm vorliegende „Energie“ ist der Körper fähig, spezifisch auf bestimmte Erregungsstärken zu reagieren, die ihrerseits „Wirkungen“ der „Kräfte“ von Reizen sind.15 Ausgehend von diesem Ansatz arbeitet Brown an einem quantifizierbaren Verhältnis zwischen „erregender Kraft“ (exciting power) und erregter „Energie“ – unabhängig davon, welche Reizquelle den „Prozess“ (process) auslöst. Ob Erregungen durch Hitze, Luft oder verschiedene Medikamente ausgelöst werden, spielt für die „Operationsweise“ der Erregung keine Rolle.16 Alle „Lebenserschei11 J. Brown, Elements of Medicine, Bd. 1, S. 58; vgl. ders., Observations, S. xci: „the whole phenomena of life, health, as well as disease, consist in stimulus, and nothing else“; ders., Elements of Medicine, Bd. 1, S. 14: „Since the general powers produce all the phenomena of life, and the only operation, by which they do so, is stimulant, it follows, that the whole phenomena of life, every state and degree of health and disease, are also owing to stimulus, and to no other cause.“ 12 Vgl. J. Brown, Observations, cvii; ders., Elements of Medicine, Bd. 1, S. 58. 13 Vgl. J. Brown, Observations, S. 45-47. 14 Vgl. J. Brown, Elements of Medicine, Bd. 1, S. 7: „We do not know what excit ability is, or in what manner it is affected by the exciting powers. But, whatever it be, whether a quality or a substance, a certain portion is assigned to every being upon the commencement of its living state. The quantity, or energy, is differ ent in different animals, and in the same animal at different times“; ebd., Bd. 2, S. 200 („energy of the excitability“). 15 Vgl. J. Brown, Elements of Medicine, Bd. 1, S. 4-5. 16 Vgl. ebd., S. 5: „That is, since sense, motion, mental functions, and the passions are the only, and constant, effects of the exciting powers, acting upon the ex citability; and since these happen, whether one, or more, or all the powers, or whichever of them, act, the irresistible conclusion, that arises in the mind, is, that, the effect of the powers being the same, the mode of operation of them
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nungen“ und „Lebenszustände“ werden durch Abfolgen von Reiz, Affektion und Reaktion „erzeugt“ und „modifiziert“. Erregungen „regulieren“ für Brown nicht nur den „Zustand“ von festen Teilen und von Flüssigkeiten. Sie sind auch die „erste Ursache“ ihrer „Bildung“ (formation) und die „alleinige Ursache“ ihrer „Erhaltung“ (preservation).17 Leben, als spezifischer Ordnungszustand von Körpern, die sich durch ihre Erregbarkeit von toten Körpern unterscheiden, beginnt und endet durch die Präsenz und Absenz von Reizen: „In all the states of life, man and other animals differ from themselves in their dead state, or from any other inanimate matter, in this property alone; they can be affected by external agents, as well as by certain functions peculiar to themselves, in such a man ner, that the phænomena peculiar to the living state can be produ ced. This proposition extends to every thing that is vital in nature, and therefore applies to vegetables.“18 Unter bestimmten „Umständen“ (circumstances) und innerhalb enger „Grenzen“ (limits, boundaries) kann der Prozess fortlaufender Erregung das System lebendiger Körper, das von sich aus zur „Auflösung“ (dissolution) seiner physischen Ordnung tendiert, in einem Zustand erhalten, den ein „angenehmer, einfacher und genauer Gebrauch aller Funktionen“ (pleasant, easy, and exact use of all the functions) charakterisiert.19 Diesen Zustand bezeichnet Brown als „Gesundheit“. Im „Gesundheitszustand“ entspricht der reaktiven „Kraft des Lebens“ (vigour of life) eine „Mittelmäßigkeit der Erregbarkeit“ (mediocrity of excitability), durch die das System auf „angemessene“ (appropriate) Weise auf Reize reagieren kann.20 Außen-Reize können entsprechend mit einer für den Erhalt „gesunder Zustände“ (healthy states) „angemessenen Kraft“ (due force) wirken oder durch „Überschuss“ (excess) und „Mangel“ (defect) „kranke Zustände“ (diseased states) auslösen.21 Allein ein
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all must be the same. This mode of reasoning, which is certainly as just as it is new in medicine, will often occur, and, we trust, will stand the test of the most scrupulous scrutiny.“ Vgl. ebd., S. 49: „The state both of the simple solids and fluids depends upon the state of health, which is regulated by the excitement“; ebd., S. 58: „excitement regulates all the phenomena of life“. Ebd., S. 3. Ebd., S. 1; vgl. ders., Observations, S. cvii und 58. Vgl. J. Brown, Observations, S. cvi; ders., Elements of Medicine, Bd. 1, S. 16: „Every age, therefore, and every constitution, if the excitement be properly directed, has its appropriate degree of vigour.“ Vgl. J. Brown, Elements of Medicine, Bd. 1, S. 38.
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„mittlerer“ oder „moderater Reiz“ (mean, moderate stimulus), der auf eine „mittlere oder halb-aufgebrauchte Erregbarkeit“ (mean or half consumed excitability) trifft, produziert eine Erregung, die Leben erhält.22 Der allgemeine Zustand der „Erregbarkeits-Energie“ wird durch Außen-Reize nicht nur erhalten, sondern auch nachhaltig beeinflusst. Das entscheidende Moment der Erhaltung und der Modifikation lebendiger Körper liegt daher nicht in ihnen selbst. Vielmehr hängt der „erzwungene Zustand“ ihres Lebens von den Einflüssen „fremder Kräfte“ ab: „From all that has hitherto been said, it is certain, that life is not a natural, but a forced state; that the tendency of animals every moment is to dissolution; that they are kept from it, not by any powers in themselves, but by foreign powers, and even by these with difficulty, and only for a time; and then, from the necessity of their state, they yield to death.“23 „Gesunde“ und „kranke Zustände“ sind „Lebenszustände“, doch stellt der „kranke Zustand“ nur einen „Schwächezustand“ (state of debility) dar, der droht, in einen „morbiden Zustand“ (morbid sta te) überzugehen.24 Für Brown kann kein lebender Körper dauerhaft eine ideale „Mittelmäßigkeit der Erregbarkeit“ einhalten. Während ihrer „Existenz“ treten unvermeidlich zu starke oder zu schwache Reize auf, die tendenziell pathologische „Dispositionen“ und „Systemzustände“ bedingen. Diese Veränderungen führen bei jedem lebenden Körper irgendwann zum „Tod“.25 Brown geht es in den Elements nicht primär um die Bedingungen der Existenzfähigkeit organischer Körper, sondern um Modifikationen ihrer „Systemzustände“, die zwischen dem Beginn des Lebens und dem Tod auftreten können. Durch eine Typologie möglicher „Lebenszustände“ versucht er, Medizin als eine Wissenschaft zu etablieren, deren therapeutisches Potential auf der Steigerung und Minderung der Reizstärke und der Reizfrequenz beruht. 22 Vgl. ebd., S. 15: „A mean stimulus, acting on a mean or half consumed excit ability, produces the highest excitement. And the excitement becomes less and less, in proportion either as the stimulus is applied in a higher degree, or as the excitability is more accumulated.“ 23 Ebd., S. 58. 24 Vgl. J. Brown, Observations, S. lxiv-lxv, lxxi und 43. 25 Vgl. J. Brown, Elements of Medicine, Bd. 1, S. 18: „And though a most exact measure of excitement be kept up, yet death at last, however late, will supervene“; ebd., S. 55.
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Angeregt durch Röschlaubs Dissertation De febri fragmentum (1795), die 1798 unter dem Titel Von dem Einflusse der Brown’schen Theorie in die practische Heilkunde erschien, kommt es in Deutschland zu einer intensiven Rezeption von Browns Ansatz, die neben Medizin und Diätetik auch Subjekt- und Naturphilosophie umfasst.26 Im Zentrum der Rezeption steht das Problem der Reduktion des „Lebensprinzips“ auf die Reiz-Reaktions-Schemen eines „Erregbarkeitsprinzips“.27 Während Carl Arnold Wilman in Grund satz der Beurtheilung des Brown’schen Systems (1800) das Prinzip der Erregbarkeit als ein „ganz neues Zwischending zwischen dem Körper und den Aussendingen“ einführt, durch welches das Verhältnis von Erregung und Erregbarkeit konstitutiv für die „Lebensprocesse“ von „Organismen“ wird28, kritisiert Hufeland an Brown, dass dessen lebendige Systeme primär von Außen-Reizen abhängen, und retabliert, ähnlich wie Xavier Bichat, die Autonomie organismischer Existenz als eine Ordnung, die sich den zerstörerischen Kräften der Umgebung widersetzt.
26 Für Röschlaubs Ansatz und zur Rezeption von Browns Erregbarkeitstheorie in Deutschland, siehe J. Frank, Handbuch der Toxicologie oder der Lehre von Gif ten und Gegengiften. Nach den Grundsätzen der Brownschen Arzneylehre und der neuern Chemie, Wien 1800; Erläuterungen der Erregungstheorie, 2. Aufl., Heilbronn 1803; J. Neubauer, „Dr. John Brown (1735–88) and early German ro manticism“, in: Journal of the History of Ideas 28/1967, S. 367-382; G. B. Risse, The History of John Brown’s Medical System in Germany during the Years 1790-1806, PhD., University of Chicago, Chicago 1971; T. J. Bole, „John Brown, Hegel and speculative concepts in medicine“, in: Texas Reports on Biology and Medicine 32/1974, S. 287-297; N. Tsouyopoulos, Andreas Röschlaub und die Ro mantische Medizin. Die philosophischen Grundlagen der modernen Medizin, Stuttgart 1982; ders., „The influence of John Brown’s ideas in Germany“, in: Medical History, Supplement 8/1988, S. 63-74; ders., Asklepios, S. 95-102. 27 Brown bezeichnet „Erregbarkeit“ als „Lebensenergie“ (energy of life) (J. Brown, Elements of Medicine, Bd. 1, S. 79) und das „Erregbarkeitsprinzip“ als „Lebens prinzip“ (principle of life) (S. 2). 28 Vgl. C. A. Wilmans, „Grundsatz der Beurtheilung des Brown’schen Systems“, in: Archiv für die Physiologie 4/1800, S. 1-62, hier S. 11 und 12. Für Wilmans Erregungstheorie, siehe U. Wiesing, Kunst oder Wissenschaft? Konzeptionen der Medizin in der deutschen Romantik, Stuttgart, Bad Cannstatt 1995, S. 92-104.
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2. Hufelands selbsttätiger Organismus In den Abhandlungen Ideen über Pathogenie und Einfluss der Le benskraft auf Entstehung und Form der Krankheiten (1795) und System der practischen Heilkunde (1800–1805) entwickelt Hufe land, der als Professor für Medizin und Pathologie in Jena und Berlin arbeitet29, ein „Organismus“-Modell „erregbarer lebender Wesen“, deren Reiz-Reaktions-Schemen auf „Äusserungen“ einer „Lebenskraft“ beruhen, die, ohne auf Gehirne angewiesen zu sein, durch Reize ausgelöst werden. Innere „Organisationsbeschaffenheiten“ und die Ordnungen der Dinge in der „Außenwelt“ ermöglichen und begrenzen als „innere“ und „äußere Lebensbedingungen“ das Wirken und die „Ausdrucks“-Fähigkeit der „Lebenskraft“.30 Hufeland hebt gegen Brown hervor, dass die „Selbstthätigkeit“ des „Organismus“ nicht nur durch „Aussendinge“ erzwungen wird, sondern auch von den „Aktionen“ und dem „Widerstand“ der inneren „Lebenskraft“ abhängt: 29 Für Hufelands Biographie und detaillierte Werksanalysen, siehe A. Göschen, Christian Wilhelm Hufeland. Eine Selbstbiographie mitgetheilt von Dr. Gö schen, Berlin 1863; H. Busse, Christoph Wilhelm Hufeland. Der berühmte Arzt der Goethezeit, Leibarzt der Königin Luise, St. Michael 1982; K. Pfeifer, Christoph Wilhelm Hufeland. Mensch und Werk. Versuch einer populärwis senschaftlichen Darstellung mit 35 Abbildungen und einem dokumentarischen Anhang, Halle 1968 und ders., Medizin der Goethezeit. Christoph Wilhelm Hu feland und die Heilkunst des 18. Jahrhunderts, Köln 2000; H. Schipperges, Die Kunst zu leben. Ein Kommentar zu Hufelands „Makrobiotik“, Karlsruhe 1987; N. Schönfeld, Beiträge zum ideengeschichtlichen Hintergrund der „Makrobio tik“ von Christoph Wilhelm Hufeland, Dissertation, Freie Universität Berlin, Berlin 1988. 30 Als Herausgeber des Journals der practischen Heilkunde verfasst Hufeland eine Reihe von Aufsätzen gegen den Brownianismus. Siehe C. W. Hufeland, Ideen über Pathogenie und Einfluss der Lebenskraft auf Entstehung und Form der Krankheiten als Einleitung zu pathologischen Vorlesungen, Jena 1795; ders., „Bemerkungen über die Brownische Praxis“, in: Journal der practischen Arz neykunde und Wundarzneykunst 4/1797, S. 125-159 und 318-349; ders., Be merkungen über die Brownische Praxis, Tübingen 1799; ders., „Bemerkungen über Galls Gehirnorganenlehre“, in: Journal der practischen Arzneykunde und Wundarzneykunst 21/1805, S. 114-158; ders., „Rechenschaft an das Publikum über mein Verhältniss zum Brownianismus“, in: Journal der practischen Heil kunde 32/1811, S. 3-29; ders., „Nachtrag zu meiner Rechenschaft an das Publi kum (S. Journal 1811, Februar)“, in: Journal der practischen Heilkunde 34/1812, S. 108-110. Für den weiteren Kontext von Hufelands Kritik, siehe Risse 1971; P. M. Mayer, Christoph Wilhelm Hufeland und der Brownianismus, Med. Diss., Johannes Gutenberg-Universität, Mainz 1993; U. Wiesing, Kunst oder Wissen schaft?, S. 66-81.
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„Der Organismus ist nicht blos etwas leidendes, durch Aussendinge bestimmbares und bestimmtes, sondern etwas selbstthätiges, sich selbst bestimmendes, selbst bei dem Affizirtwerden von aussen thätiges und auf die Aussendinge reagirendes, und ihre Wirkung spezifisch, daher sehr mannichfaltig, gestaltendes.“31 Hufelands Unterscheidungen zwischen „Organismus“, „Organisation“ und „Außenwelt“ gehören dem Lebenskraft-Diskurs an, der sich im letzten Drittel des achtzehnten Jahrhunderts mit John Hunter in England und Friedrich Casimir Medicus, Johann Friedrich Blumenbach, Johann Christian Reil und Carl Friedrich Kielmeyer in Deutschland etabliert.32 Nachdem 1780 seine Schrift Über den Bildungstrieb erschienen war, stellte Blumenbach in der vierten Auflage des Handbuchs der Naturgeschichte (1791) regulative Eigenschaften von „Lebenskräften“ – und zwar vor allem den „Bildungstrieb“ für „Zeugung“, „Ernährung“ und „Reproduction“ oder „Wiederherstellung“ – in das Zentrum organischer Ordnungen.33 Auf ähnliche Weise bezeichnet Hufeland die „Lebenskraft“ als eine aus der Erfahrung abgeleitete und für die Ordnung des „Organismus“ spezifische qualitas occulta, deren verschiedene Tätigkeitsbereiche an anatomische „Strukturen“ und physiologische „Verrichtungen“ gebunden, aber nicht – wie bei Reil – auf allgemeine Gesetze der Chemie und Physik reduzierbar sind.34 Die „Or31 C. W. Hufeland, „Rechenschaft“, S. 18. 32 Eine eingehende Diskussion des Lebenskraft-Diskurses findet sich bei T. Lenoir, The Strategy of Life. Teleology and Mechanics in Nineteenth-Century German Biology, Chicago 1982. 33 Vgl. J. F. Blumenbach, Handbuch der Naturgeschichte, 6. Aufl., Göttingen 1799, S. 17 f. Für Blumenbachs Modell von Lebenskräften, siehe T. Lenoir, „Kant, Blu menbach, and vital materialism in German biology“, in: Isis 71/1980, S. 77-108; P. McLaughlin, „Blumenbach und der Bildungstrieb. Zum Verhältnis von epige netischer Embryologie und typologischem Artbegriff“, in: Medizinhistorisches Journal 17/1982, S. 357-372. 34 Vgl. C. W. Hufeland, Pathogenie, S. 48: „Da wir das Wesen der Lebenskraft so wenig als irgend einer andern Kraft zu erkennen vermögen, so bleibt uns nichts anders übrig, als ihre Aeusserungen und Verhältnisse, in so fern sie unsere Sinne fassen können, zu beobachten, zu sammeln und zu ordnen. Dadurch allein kön nen wir hoffen, ihrem Wesen so nahe zu kommen, als es uns in dieser Sinnes welt möglich ist“; ders., „Ein Wort über den Angriff der razionellen Medicin im N. T. Merkur. August 1795“, in: Der Neue Teutsche Merkur 2/1795, S. 138-153, hier S. 149 f.; ders., „Rechenschaft“, S. 10 f.: „Jene Grundkraft [die Lebenskraft] gehört zur übersinnlichen uns ewig unbegreiflichen Welt, aber die Gesetze ihres Wirkens können wir erkennen und bestimmen“; J. C. Reil, Von der Lebenskraft, Halle 1796, S. 13 f.
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ganisation“ eines lebendigen Körpers ist für Hufeland eine „nach den Gesetzen des Organismus bewirkte Bindung und Formation der Bestandtheile“, und diese „Gesetze“ leiten sich aus den Reiz- Reaktions-Schemen der in ihm wirkenden „Lebenskraft“ ab. 35 Durch das Zusammenspiel von „Lebenskraft“ und „Organisation“ sind „Organismen“ für eine gewisse Zeit zur „Selbsterhaltung“ fähig. Während physische, von einer „Lebenskraft“ geleitete „Prozesse“ im „Ey“ unter gewissen „Umständen“ – zu denen eine „spezifische Konkurrenz“ der Stoffe gehört, aus denen sich das „Ey“ zusammensetzt – zur gesetzmäßigen „Ausbildung und Organisirung“ lebender Körper führen, stirbt der „Organismus“, wenn „Lebenskraft“ verbrauchende „Lebenstätigkeiten“ und zerstörerische Einflüsse der „Außenwelt“ zu einer die Erneuerung der „Lebenskraft“ nicht mehr ermöglichenden „Disorganisation“ der physischen Ordnung führen.36 Der tote „Organismus“ weist zwar noch „Organisations“-Grade auf, doch sind sie für die „Reproduktion“ der „Lebenskraft“ nicht mehr hinreichend.37 Während des Lebens des „Organismus“ stellen sich zwischen „Organisations“- und „Disorganisations“-Prozessen Lebenszu stände ein, deren „Modifikationen“ und „Normalzustände“ Grundlage von Hufelands Pathologie sind. Ausgehend von einem für alles Lebendige (und alle Menschen) einheitlichen „Organismus“Modell, das einen „Normalzustand“ festlegt, versucht Hufeland, „Einheit der Begriffe in die verschiedenen Theile der Heilkunst“ zu bringen.38 Diese „Einheit der Begriffe“ darf nicht nur deduktiv 35 C. W. Hufeland, System der practischen Heilkunde. Ein Handbuch für acade mische Vorlesungen und für den practischen Gebrauch, 2 Bde., Jena-Leipzig 1800–1805, Bd. 1, S. 71 36 Vgl. C. W. Hufeland, Pathogenie, S. 53; 71 f.; ders., Vorlesungen, Bd. 1, S. 60. Für den Bildungsprozess organischer Körper orientiert sich Hufeland an Blu menbachs These, dass „keine präfomirten Keime existieren: sondern dass in dem vorher rohen ungebildeten Zeugungsstoff der organisirten Körper, nachdem er zu seiner Reife und an den Ort seiner Bestimmung gelangt ist, ein besonderer, dann lebenslang thätiger Trieb rege wird, ihre bestimmte Gestalt anfangs anzu nehmen, dann lebenslang zu erhalten, und wenn sie ja etwa verstümmelt wor den, wo möglich wieder herzustellen.“ (J. F. Blumenbach, Über den Bildungs trieb, (1. Aufl. 1780) 4. Aufl., Göttingen 1791, S. 31). 37 Für das Verhältnis von „Organisation“ und „Disorganisation“ in lebenden Kör pern, siehe C. W. Hufeland, „Von dem Rechte des Arztes über Leben und Tod“ (1823), in: Neue Auswahl kleiner medizinischer Schriften, Bd. 1, Berlin 1834, S. 248 und S. 293. 38 Vgl. C. W. Hufeland, Pathogenie, Vorrede, S. [4]; ders., „Die Welt des Lebens“ (1815), in: Neue Auswahl, S. 60. Für die Problemlage der Medizin im ausge
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aus „Systemen“ abgeleitet werden, sondern muss für ihn auch auf Erfahrungen beruhen, die aus der Medizin als „Kunst“ hervorgehen.39 Hufeland schließt damit an Johann Georg Zimmermanns Von der Erfahrung in der Arzneykunst (1763) und Jean Senebiers L’art d’observer (1775) an, berücksichtigt aber zugleich tradierte antike Theoriegebäude. Das „Geschäft“ des Arztes besteht für Hufeland in einem „fortdauernden Experimentiren in der Region des Lebens“, das, je nach dem Fortschritt der einzelnen Wissenschaften, durch Anatomie, Physiologie und Chemie gestützt wird.40 Für Hufeland ist das „Gesetz der organischen Natur“ 41 oder das „Hauptgesetz des Organismus“42, dass selbst die „kleinste Lebensäußerung“ nicht ohne Reiz und Reaktion der „Lebenskraft“ abläuft, „sowohl die ohne unser Wissen und Willen geschehenden innern Bewegungen der Circulation, Chylification, Assimilation und Sekretion, als auch die freiwilligen und Seelenwirkungen“43. Leben ist nichts anderes, „als die beständige Verkettung des passenden Reizes mit der Reizfähigkeit, und eine fortdauernde Kraftäusserung, hervorgebracht durch den Eindruck des natürlichen Reizes auf die Reizfähigkeit“.44 Dabei werden „Eindrücke“ in einem lebendigen Körper „anders modificirt und reflectirt als in einem unbelebten“.45 Jede Wirkung eines „Aussendinges“ muss „als eine aus dem äußer lichen Eindruck und der Reaction der Lebenskraft zusammengesetzte“ angesehen werden.46 Drei Verschiebungen charakterisieren die Transformation von Browns Erregbarkeitsprinzip in Hufelands „Hauptgesetz des Organismus“: Erstens wirkt die „Lebenskraft“ nicht nur innerhalb des
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henden achtzehnten Jahrhundert, siehe S. Moravia, „Philosophie et médecine en France à la fin du XVIIIe siècle“, in: Studies on Voltaire 472/1972, S. 10891151; N. Tsouyopoulos, Romantische Medizin, S. 180-200; P. M. Mayer, Brow nianismus, S. 11-13; U. Wiesing, Kunst oder Wissenschaft?; G. Mirko, B. Fantini (Hrsg.), Storia del pensiero medico occidentale, 2. Dal Rinascimento all’inizio dell’Ottocento, Rom 1996. Vgl. C. W. Hufeland, Bemerkungen, S. 143: „Medizin konstituiert Erfahrung, Theorie dient ihr blos als Regulatif, letztere muss aber immer bereit seyn, sich umzuändern und der Erfahrung anzuschmiegen, sobald sich diese ändert.“ C. W. Hufeland, „Die Welt des Lebens“ (1815), S. 52. C. W. Hufeland, Vorlesungen, Bd. 1, S. 143. C. W. Hufeland, Pathogenie, S. 104. C. W. Hufeland, Vorlesungen, Bd. 1, S. 143. C. W. Hufeland, Pathogenie, S. 104. C. W. Hufeland, Makrobiotik oder die Kunst das menschliche Leben zu verlän gern, 8. Aufl., Berlin 1860, S. 31. C. W. Hufeland, Makrobiotik, S. 31.
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Nervensystems, sondern auch durch chemische „Operationen“ in anderen Systemen, etwa im Zirkulationssystem des Blutes.47 Zweitens verbraucht das Wirken der „Lebenskraft“ bestimmte physische Dispositionen der „Organisation“ des „Organismus“. Für eine „Kraftäußerung“ muss die „organische Grundmischung“ so beschaffen sein, dass die Einwirkung eines „Aussendings“ einen Reiz-erzeugenden Prozess der „Zersezung“ auslöst.48 Die Reaktion der „Lebenskraft“ auf diesen Reiz ist wiederum an eine „Energie“ verbrauchende „Anstrengung“ gekoppelt. Aus der „fortdauernden Erregung oder in Thätigkeit-Setzung der Lebenskraft“ resultiert eine beständige „Consumtion“ und „Aufzehrung“ der Materie, die „Kraftäußerungen“ ermöglicht.49 Drittens koppelt Hufeland das Moment der „Selbstverzehrung“ an den physiologischen „Prozeß“ der „Selbstrestauration“ (oder der „Selbsterschaffung“), der „fremde Stoffe“ assimiliert, um sie für eine erneute „Kraftäußerung“ zur Verfügung zu stellen.50 Für die Erhaltung des „Gleichgewichts“ zwischen Dekomposition und Komposition ist der lebende Körper daher nicht nur auf Reize, sondern auch auf ein „neues Zuströmen von materiellen Stoffen ausser uns“ und einen „beständigen Wechsel“ seiner Bestandteile angewiesen: „Unsre Bestandtheile wechseln unaufhörlich, werden uns durch Excretion entzogen, und durch Luft und Nahrung wiedergegeben, und die Operation des Lebens selbst supponirt einen beständigen Wechsel dieser Bestandtheile.“51 Hufelands Transformation von Browns Erregbarkeitsprinzip führt zu einer Verbindung zwischen Reiz-Reaktions-Schemen und 47 Vgl. ebd. 48 Vgl. C. W. Hufeland, Vorlesungen, Bd. 1, S. 234. 49 Vgl. C. W. Hufeland, Pathogenie, S. 97 („Lebensverrichtungen“), und ders., Vorlesungen, Bd. 1, S. 143: „Das wirkende Leben selbst ist eine unaufhörliche Kraftäußerung und Handlung, folglich mit unaufhörlichem Kraftaufwand und beständiger Consumtion der Organe verbunden. Alles, wodurch sich die Kraft als handelnd und thätig zeigt, ist Kraftäußerung“. 50 Vgl. C. W. Hufeland, Brownische Praxis, S. 54 („Operation der Selbst-Consum tion“); ders, Vorlesungen, Bd. 1, S. 2: „Das Leben ist eine fortdauernde Erregung oder in Thätigkeit-Setzung der Lebenskraft. Diese Erregung hat aber Aufzeh rung der Kraft und Organe zur unmittelbaren Folge, die eben so unmittelbar Wiederersatz dieses Verlusts erfordert.“ Hufeland bezeichnet den „Organis mus“ auch als „Reagens des Lebens“ und das „Leben“ als sich selbst verzehren de „Flamme“. Vgl. ders., Vorlesungen, Bd. 1, S. 60; ders., „Die Welt des Lebens“ (1815), S. 53; ders., Makrobiotik, S. 42. 51 C. W. Hufeland, Pathogenie, S. 65.
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assimilatorischen „Umwandlungs“-Prozessen, die nicht nur die Zusammensetzung, sondern auch die Verhältnisse von Flüssigem und Festem in der physischen Disposition oder „Organisation“ bestimmen.52 Unter die „Kategorien“ der „Erregbarkeit“ und der „Umwandlung“ lassen sich „alle Erscheinungen des Lebens bringen“.53 Ihre Verbindung wird durch eine „Lebenskraft“ ermöglicht, die sowohl „Product“ der „Zersezbarkeit“ der „organischen Grundmischung“ als auch „unterhaltende Ursache“ der „Organisation“ der „Organismen“ ist: „Die Lebensoperation ist also wesentlich sowohl im Ganzen als in jedem Augenblick aus zwey entgegengesezten Prozessen, Selbstverzehrung und Selbsterschaffung, zusammengesezt, welche beyde, das Leben innerlich constituirende Prozesse, aber wieder durch die Lebensäusserung (Erregung) erst möglich, und dadurch regulirt und bedingt werden.“54 Reiz-Reaktions-Schemen und „Umwandlungs“-Prozesse hängen von einer chemischen Differenz ab, die zwischen der „Organisation“ der Innenwelt des „Organismus“ und dem „todten Zustand“ der „umgebenden Natur“ besteht. Der Übergang von Reizen und Stoffen aus der „Außenwelt“ in die „Organisation“ des „Organismus“ charakterisiert zugleich das Verhältnis von „äußeren“ und „inneren Lebensbedingungen“. Auf einem „fortgesetzten Kampf chemischer zerlegender Kräfte“ der „Außenwelt“ mit der „alles bindenden und neu schaffenden Lebenskraft“ beruhend, führt der Übergang nicht zu einer Repräsentation der Ordnung des Äußeren im Inneren, sondern zu einer „Assimilation“ des Äußeren an eine Ordnung im Inneren, die der „Außenwelt“ fremd ist.55 In der Innenwelt des „Organismus“ werden materielle „Stoffe von aller Art“ in ein „ganz neues eigenthümliches Verhältniss“ gesetzt, das in der „unbelebten Natur“ nicht vorkommt.56 Die besondere organische „Chemie“ der „Lebenskraft“ besitzt damit nicht nur „Reizfähigkeit“, sondern auch bildendes Potential.57 Ähnlich wie in Alexander 52 53 54 55 56 57
Vgl. C. W. Hufeland, Rechenschaft, S. 10. C. W. Hufeland, Pathogenie, S. 9 f. C. W. Hufeland, Vorlesungen, Bd. 1, S. 3. Vgl. C. W. Hufeland, Makrobiotik, S. 139. Vgl. C. W. Hufeland, Vorlesungen, Bd. 1, S. 59 f. Vgl. C. W. Hufeland, Pathogenie, Vorrede, [6-7]; ders., Rechenschaft, S. 11; S. 17 f.: „Diese Lebenskraft, oder das innere Leben, offenbart sich auf doppelte Weise, einmal als Erregbarkeit oder Reizbarkeit im weitesten Sinne – d. h. die Fähigkeit nicht allein vital affizirt zu werden, sondern auch zu reagiren, worauf
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von Humboldts Aphorismen aus der chemischen Physiologie der Pflanzen (1794)58, reguliert die „Lebenskraft“ für Hufeland die chemischen Gesetze der nicht-lebendigen Körper durch „Aufhebung“ oder „Modifikation“ ihrer „Bindungen“.59 Die Gemische, die aus dieser „Umwandlung“ hervorgehen und eine physisch abgegrenzte Innenwelt konstituieren, „widerstehen“ ihrer „Zersetzung“ durch Einflüsse der „Außenwelt“, indem sie die fortdauernde Tätigkeit und „Reproduktion“ der „Lebenskraft“ ermöglichen. Lebendiges fault nicht.60 Vielmehr ist Leben als „beständiges Nehmen, Aneignen und Wiedergeben“ ein „immerwährendes Gemisch von Tod und neuer Schöpfung“61: „Die Lebenskraft ist das größte Erhaltungsmittel des Körpers, den sie bewohnt. Nicht genug, daß sie die ganze Organisation bildet und zusammenhält, so widersteht sie auch sehr kräftig den zerstörenden Einflüssen der übrigen Naturkräfte, in so fern sie auf chemischen Gesetzen beruhen, die sie aufzuheben, wenigstens zu modifiziren vermag.“62 Aus dem systemischen Bezug zwischen „Erregbarkeit“, „Umwandlung“ und „Widerstand“ setzt sich das regulative Dispositiv zusammen, das „Organismen“ gegenüber allen nicht-lebendigen Wesen als eine Klasse von Agenten auszeichnet, deren „Thätigkeiten“ und „Handlungen“ immer zugleich auf ihre innere „Organisation“ und auf die umgebenden Körper einer äußeren Welt gerichtet sind. Das Dispositiv steht für das Selbst des „Organismus“, der als
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sich das Reizverhältnis des Organismus gründet; – zweitens als Schöpfungskraft, d. h. das Vermögen die Materie chemisch umzuwandeln, organisch zu gestalten, zu individualisieren, den Organismus zu reproduzieren, zu heilen; worauf sich das chemisch-organische Verhältniss gründet.“ Der Text wurde bereits 1793 in Latein in Humboldts Florae Fribergensis speci men plantas cryptogamicas praesertim subterraneas exhibens veröffentlicht. Vgl. A. von Humboldt, Aphorismen aus der chemischen Physiologie der Pflan zen, Leipzig 1794, S. 9: „Diejenige innere Kraft, welche die Bande der chemi schen Verwandtschaft auflöst, und die freie Verbindung der Elemente in den Körpern hindert, nennen wir Lebenskraft.“ Vgl. C. W. Hufeland, Pathogenie, Vorrede, [7 f.]. Vgl. C. W. Hufeland, Pathogenie, S 54: „Nichts lebendes fault, oder mit andern Worten: So lange Lebenskraft einen Körper erfüllt, hat das allgemeine chemische Gesetz der Fäulniss (so wie andre chemischen Gesetze) keine Wirksamkeit in ihm.“ C. W. Hufeland, Makrobiotik, S. 139. C. W. Hufeland, Makrobiotik, S. 31 f.
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„in sich selbst zurückkehrender organischer Zirkel“ existiert.63 Der „Zirkel“ ist ein „Reproduktions“-Prozess, der Identität als spezifische Differenz zwischen einem Innen und einem Außen erhält. Wenn die „Selbstrestauration“ der „Reizfähigkeit“ der „Lebenskraft“ nicht mehr stattfinden kann, tritt der „wahre Tod“ des Individuums ein.64 Er wird nicht nur durch „zufällige Ursachen“ – etwa durch übermäßig starke Reizungen oder Reizentzug, fehlende Nahrungsstoffe und Krankheiten –, sondern auch „natürlich“ durch „das Leben selbst“ eingeleitet, das im fortgeschrittenen „Lebensalter“ zur „Erschöpfung der Lebenskraft“ und zur „Unbrauchbarwerdung und Destruction der Organisation“ führt.65 In Hufelands Makrobiotik oder die Kunst das menschliche Leben zu verlängern (1796) geht es um therapeutisch modifizierte „Lebensarten“, die, auf das regimen sanitatis von Galens sex res non naturales – Licht und Luft, Speise und Trank, Arbeit und Ruhe, Schlaf und Wachen, Sekretion und Exkretion und Affektionen der Seele – ausgerichtet, dem „Organismus“ durch ein den „Lebensaltern“ angepasstes „Gleichgewicht“ zwischen „Consumtion“ und „Regeneration“ ermöglichen sollen, die „natürliche Grenze der Lebensoperation“ zu erreichen.66 63 Vgl. C. W. Hufeland, Vorlesungen, Bd. 1, S. 69; S. 215 f.: „Erregung also bewirkt den innern Lebensprozess, dieser die organische Mischung und Darstellung der Stoffe, und diese producirt wieder die Erregbarkeit, ohne welche keine Erregung möglich wäre. Folglich ohne Reiz keine Erregung, ohne Erregung kein Organis mus und keine Erregbarkeit, aber ohne Erregbarkeit auch keine Erregung, und eben so wenig würde beydes ohne das Geben und in einander Wirken solcher Stoffe möglich deyn, die zum Material des Organismus geschickt sind.“ 64 Vgl. C. W. Hufeland, Vorlesungen, S. 110; ders., Makrobiotik, S. 34. 65 Vgl. C. W. Hufeland, Vorlesungen, Bd 1, S. 3-6. 66 Vgl. C. W. Hufeland, Pathogenie, S. 138; ders., Makrobiotik, S. 42-44. Eine ähn liche Ausrichtung der Makrobiotik findet sich bereits in James Mackenzies Ab handlung: The History of Health, and the Art of Preserving It. An Account of All that has been Recommended by Physicians and Philosophers, towards the Preservation of Health, from the most Remote Antiquity to this Time, 2. Aufl., Edinburgh 1759, S. 3-5: „Six things are known to be necessary to the life of man, commonly called the Six Non-Naturals, namely aliment, air; exercise and rest, sleep and wakefulness, repletion and evacuation, together with the passions and affections of the mind; in the proper use and regulation of which the art of preserving health principally consists.“ Zur Problemlage der Makrobiotik, siehe G. J. Gruman, „A history of ideas about the prolongation of life: the evolution of prolongevity hypotheses to 1800“, in: Transactions of the American Philosophi cal Society New Series 56/1966, S. 1-102. Zum Kontext der sex res naturales, siehe L. J. Rather, „The six things non-natural“, in: Clio Medica 3/1968, S 337347; P. H, Niebyl, „The non-natural“, in: Bulletin of the History of Medicine
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Hufelands Versuch, nach Brown die Ordnungsform eines lebendigen Organismus zu entwerfen, dessen Lebenszustand nicht nur durch Außen-Reize erzwungen, sondern auch durch die Selbsttätigkeit einer inneren Kraft reguliert wird, setzt Treviranus in seiner neuen Wissenschaft, der „Biologie“, fort. Ähnlich wie Hufeland fokussiert Treviranus auf die Autonomie der inneren Ordnung des „Organismus“, deren physische Organisation Prozesse und Tätigkeiten ermöglicht, die Kosumption und Regeneration, oder Selbstverzehrung und Selbsterschaffung, in einem spezifischen Gleichgewicht halten.
3. Treviranus’ innere Gleichförmigkeit Im Zentrum von Treviranus’ sechsbändiger Biologie, oder Philoso phie der lebenden Natur für Naturforscher und Ärzte (1802–1822) steht ein Agentenmodell, das auf die „innere Gleichförmigkeit“ eines „lebenden Organismus“ ausgerichtet ist.67 Die innere Gleichförmigkeit stellt einen „Zustand“ dar, der sich dynamisch durch den Abgleich zwischen inneren Ordnungsverhältnissen des Organismus und sich beständig verändernden „Einwirkungen“ der „Außenwelt“ einstellt. Treviranus’ innere Gleichförmigkeit hängt nicht nur von den Wechselwirkungen zwischen Strukturen, Bewegungen und chemischen Vorgängen innerhalb bestimmter „Grenzen“ oder „Schran45/1971, S. 486-492; H. Schipperges, „Schola Salernitana – eine Gesundheit slehre des Mittelalters“, in: Die Heilkunst 90/1977, S. 4-50; ders., Kunst, S. 5468; ders., Gesundheit und Gesellschaft. Ein historisch-kritisches Panorama, Berlin 2003, S. 32-58 und 67-69; L. García-Ballester, „On the origin of the ‚six non natural things‘ in Galen“, in: J. Kollesch, D. Nickel (Hrsg.), Galen und das hellenistische Erbe. Verhandlungen des IV. Internationalen Galen-Symposiums, 18.-20. September 1989, Stuttgart 1993, S. 105-115; O. Riha, „Diät für die Seele. Das Erfolgsrezept von Hufelands Makrobiotik“, in: Internationale Zeitschrift für Geschichte und Ethik der Naturwissenschaften, Technik und Medizin N. S. 9/2001, S. 80-89; H.-P. Nowitzki, „Hufeland: Makrobiotik als Sozialanthropolo gie“, in: K. Regenspurger, T. von Zantwijk (Hrsg.), Wissenschaftliche Anthropo logie um 1800?, Wiesbaden 2005 S. 33-59, hier S. 40-42. 67 Für eine detaillierte Rekonstruktion von Treviranus’ Entwurf einer „Biologie“, siehe B. Hoppe, „Le concept de biologie chez G. R. Treviranus“, in: P. P. Grassé u. a. (Hrsg.), Colloque international „Lamarck“ tenu au Muséum national d’histoire naturelle, Paris 1971, S. 199-237.
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ken“ ab, die ein lebendiger Körper vorgibt, sondern auch von einer regulatorischen, selbsttätigen Instanz.68 Diese Instanz stellt eine „Lebenskraft (vis vitalis)“ dar, die als „Damm“ und „Mittlerin“ gegen die Außenwelt wirkt. Auf den Schultern seines Göttinger Doktorvaters Blumenbach stehend, integriert Treviranus damit, ähnlich wie Hufeland, den nach innen gerichteten Bildungstrieb in das Schema einer mit der Außenwelt wechselwirkenden Lebenskraft.69 Im ersten Band der Biologie (1802) führt Treviranus Leben als einen „Zustand“ ein, der von Bewegungen in einem Körper abhängt, die „Produkte einer Wechselwirkung zwischen ihm und der Aussenwelt“ sind.70 Zur Erhaltung ihres Lebens modifizieren organisierte Körper äußere „Einwirkungen“ auf eine Weise, dass sie „dem Zustande des von ihnen afficirten Wesens angemessen werden“.71 Dieses „Vermögen“ kennzeichnet die „Selbstthätigkeit der lebenden Wesen gegen zufällige Eindrücke der äussern Natur“.72 Aus der selbsttätigen Modifizierung der „Außenwelt“ resultiert die „Gleichförmigkeit“ der inneren „Organisation“.73 Kein materielles Ensemble lebloser Körper verfügt über ein solches Vermögen: „Keine Materie, ihre Form und Mischung mag beschaffen seyn, wie sie will, kann für sich gleichförmig reagiren, wenn die Einwirkungen, wodurch diese Reaktionen hervorgebracht und unterhalten werden, zufällig und also veränderlich sind.“74 68 Vgl. G. R. Treviranus, Biologie oder Philosophie der lebenden Natur für Natur forscher und Aerzte, Bd. 1, Göttingen 1802, S. 20-21. 69 Treviranus’ 1796 abgelegte Dissertation trägt den Titel De emendanda physiolo gia. Für weitere biographische Angaben, siehe Friedrich Tiedemanns Vorwort in G. R. Treviranus, Die Erscheinungen und Gesetze des organischen Lebens, Bd. 1, Bremen 1831; G. W. Focke, „Treviranus, Gottfried Reinhold’, in: Historische Ge sellschaft des Künstlervereins (Hrsg.), Bremische Biographie des neunzehnten Jahrhunderts, Bremen 1912, S. 493-498; B. Hoppe, „Le concept“, S. 202, Fußnote 5. 70 G. R. Treviranus, Biologie, Bd. 1, S. 16 f. 71 Ebd., S. 23. 72 G. R. Treviranus, Erscheinungen, Bd. 1, S. 168. 73 Für Treviranus bezeichnet die „Organisation“ des „Organismus“ dessen „Struk tur der Teile“ und „Mischung der Elemente“. Vgl. G. R. Treviranus, De emen danda physiologia commentatio, quam consentiente illustri medicorum ordine. Pro gradu doctoris medicinae atque chirurgiae, Göttingen 1796, S. 32: „Organi satio autem non solum structuram partium, sed et mixturam elementorum, ex quibus compositae sunt illae, comprehendit.“ 74 G. R. Treviranus, Biologie, Bd. 1, S. 53. Für Treviranus’ Materietheorie und ihren Bezug zu Kants Kraftbegriffen, siehe G. R. Treviranus, Biologie, Bd. 1, S. 24-33; T. F. de Jager, G. R. Treviranus (1776-1837) and the Biology of a World in Transi tion, PhD, University of Toronto, Toronto 1991, S. 75-130.
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In Abgrenzung zur „leblosen Natur“ bezeichnet Treviranus’ Formel der „Gleichförmigkeit der Erscheinungen bey ungleichförmigen Einwirkungen der Aussenwelt“75 den „Charakter des Lebens“ und den „Stempel der Eigenthümlichkeit“ jedes lebendigen Körpers.76 Um innere Gleichförmigkeit zu erhalten, muss in lebenden Körpern eine Kraft vorhanden sein, die wie ein „Damm“ die „Wellen des Universums“ bricht, „um die lebende Natur in den allgemeinen Strudel nicht mit hereinzuziehen“.77 Durch diese „Lebenskraft“ erhält die „veränderliche absolute Stärke der äussern Einwirkungen“ im Innern lebender Organismen „relative Gleichförmigkeit“.78 Die durch das innere Reaktionsgefüge vermittelte Modifikation der äuße ren Einwirkungen unterscheidet die „Thätigkeiten“ lebender Organismen „unter dem Namen der Funktionen“ von denen „lebloser“ Körper „unter dem Namen der Actionen“.79 Leben als „Funktions“Zusammenhang ist der Materie „fremd“, und doch „modifiziert“ die Lebenskraft im Inneren der Organismen nur das, was in allen Körpern in Form chemischer Vorgänge und mechanischer Bewegungen abläuft – allerdings auf spezifische Weise: „Die Bewegungen, die wir an dem lebenden Organismus wahrnehmen, sind theils mechanische, theils chemische. Sie unterscheiden sich in keinem Stücke von denen, die wir in der leblosen Natur finden, als blos darin, dass die äussern Anlässe, denen sie ihr Entstehen verdanken, nicht unmittelbar, sondern durch die Lebenskraft modifizirt, auf die Materie des lebenden Körpers einwirken.“80 Durch sein inneres „Funktions“-Gefüge schafft sich der Organismus die „Bedingungen seines Lebens bis auf einen gewissen Grad selbst“.81 Neben der Atmung findet diese „Anpassung“ in Prozesszyklen der Ernährung statt, denn „alles Lebendige muss beständig formlose Materie aufnehmen, sich verähnlichen und aneignen.“82 75 G. R. Treviranus, Biologie, Bd. 1, S. 126; vgl. ders., Erscheinungen, Bd. 1, S. 18: „Es lässt sich daher als ein Merkmal des Lebens angeben: Streben nach Gleichför migkeit der Gegenwirkungen bei ungleichförmigen Einwirkungen, welche die äussern Bedingungen der Reactionen sind.“ 76 G. R. Treviranus, Biologie, Bd. 1, S. 39 f. 77 Ebd., S. 51. Treviranus bezeichnet in diesem Zusammenhang die Lebenskraft auch als „Scheidewand“(S. 53). 78 Ebd., S. 51. 79 Ebd., S. 60. 80 Ebd., S. 57-58. 81 G. R. Treviranus, Biologie oder Philosophie der lebenden Natur für Naturforscher und Aerzte, Bd. 4, Göttingen 1814, S. 4. 82 Ebd.
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Die assimilative Tätigkeit der Ernährung hat die Aufgabe, die „Mischung“ des lebenden Organismus, die durch den Einfluss der Außen welt „immerzu“ verändert wird, zu „reproduciren“, und den „Stoff zum Wachsthum und zur Fortpflanzung des Geschlechts“ zu bilden.83 Durch ihr „Wiederherstellungs“- oder Reproduktionsvermögen können Organismen nicht nur assimilierend tätig sein, sondern auch krankhafte Störungen ihres Systems aufheben und, in besonderen Fällen, zerstörte oder abgetrennte Teile erneut bilden.84 Die Innen-Außenwelt-Kontakte lebendiger Körper und der unaufhörliche „Wechsel“ ihrer Bestandteile wird durch ein „beständiges Wirken und Gegenwirken“ von Reizen eingeleitet und fortgeführt – auch wenn organische Einheiten bis zu einem bestimmten Grad Reiz-unabhängig tätig sein können.85 Die „Empfänglichkeit des lebenden Organismus für äussere Einwirkungen“ bezeichnet Treviranus als „Receptivität“, während das „Reaktionsvermögen“ dessen Vermögen ausmacht, „den Einwirkungen der Aussenwelt eine mehr oder weniger gleichförmige Thätigkeit entgegenzusetzen“.86 Durch sein Reaktionsvermögen „reagiert“ jeder lebende Körper „auch wieder auf die Aussenwelt“.87 Im Inneren des Organismus werden rhythmische oder nur zeitweise auftretende „automatische Bewegungen“ durch „äussere Ursachen“ unterhalten oder hervorgerufen.88 Der beständig fortgesetzte Herzschlag wird durch das mit 83 Ebd., S. 3. 84 Treviranus verweist etwa auf die abgeschnittenen Glieder eines „Wassersala manders“; vgl. G. R. Treviranus, Biologie, Bd. 1, S. 69 f. 85 Vgl. G. R. Treviranus, Biologie, Bd. 4, S. 3; ders., Erscheinungen, Bd. 1, S. 22: „Die Reizbarkeit ist indess nicht das erste wichtigste Attribut des Leben. Von keiner Erscheinung dieses Zustandes lässt sich darthun, dass sie ein blosses Product von Reizen und Reizbarkeit sey. Ein ausgeschnittenes Herz eines lebenden Thiers pulsirt noch eine Zeitlang. Dem Auge erscheinen noch Bilder, wenn es geschlos sen ist.“ 86 G. R. Treviranus, Biologie, Bd. 1, S. 62 f. 87 Ebd., S. 64; vgl. Bd. 4, S. 3 f.: „Diese unaufhörlichen Veränderungen setzen einen Wechsel der Bestandtheile des lebenden Körpers voraus, wobey die Fortdauer desselben in einerley Form des Lebens nicht statt finden könnte, wenn er sich bey den Einflüssen der materiellen Welt blos leidend verhielte und nicht gegen seitig auf diese einwirkte. Ohne ein solches Einwirken würde auch kein Wachs thum und keine Fortpflanzung des Geschlechts möglich seyn.“ 88 Vgl. G. R. Treviranus, Biologie oder Philosophie der lebenden Natur für Natur forscher und Aerzte, Bd. 5, Göttingen 1818, S. 253: „Die automatischen Bewe gungen gehen theils nur zu bestimmten Zeiten, theils ununterbrochen das ganze Leben hindurch vor sich. Zu jenen gehören die Bewegungen der Verdauungsund Zeugungstheile, so wie aller Organe der Ortsveränderung; zu diesen die, an einen festen Rhythmus gebundenen Bewegungen des Herzens, der Lungen und
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dem Herzen in Kontakt stehende Blut unterstützt, und die „Zusammenziehungen des Nahrungscanals“ werden durch die „genossenen Speisen“ und den Einfluss der „gastrischen Säfte“ ausgelöst.89 „Stöhrungen“, die durch zufällige „äussere Einwirkungen“ oder die „Reaktionen“ eines einzelnen Teils im Inneren hervorgehen, können durch die „Rückwirkungen“ nicht affizierter Teile aufgehoben oder „vernichtet“ werden.90 Vom Gewohnten abweichende starke „Einflüsse“ der Außenwelt können allerdings das „Verhältniss“ des Lebenden gegen die Außenwelt verändern.91 Diese „Stöhrungen“ machen das Lebendige „empfänglicher“ für bestimmte Außen-Einwirkungen.92 Durch „starken Dünger“ beeinflusste Pflanzen sind empfindlicher gegen Wärme, Kälte, Licht und Feuchtigkeit als andere, die an ihrem „natürlichen Standort“ unter gleichen äußeren Verhältnissen aufwachsen.93 Die „Stärke und Ausdauer“ der Tiere ist entsprechend von der „Beschaffenheit der Nahrung und des Mediums, worin sie athmen“, abhängig.94 Ein Tier, das ohne störende Einflüsse seiner „Selbstthätigkeit“ überlassen existiert, wird von seinem „Instinct geleitet in einer Sphäre leben, worin es jenen Einflüssen am wenigsten ausgesetzt ist“.95 Tiere versuchen daher, in eine ihnen „angemessene Sphäre“ zu gelangen.96 Die Welt als Außenwelt eines Agenten wird in Treviranus’ Biologie zur Tätigkeits-„Sphäre“ der Existenz eines individuellen, „lebenden Organismus“. Der Organismus ist, solange er lebt, an eine Außenwelt gebunden, die ihm ermöglicht, eine innere Gleichförmigkeit zu erhalten, deren Ordnung sich von der Außenwelt unterscheidet. Treviranus richtet die innere Statue des Lebendigen
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96
des Gehirns.“; und Ebd., S. 278: „Für jede automatische Bewegung lässt sich eine äussere Ursache angeben, wodurch sie veranlasst wird.“ Vgl. ebd., S. 278. Vgl. G. R. Treviranus, Biologie, Bd. 1, S. 64 und 75. G. R. Treviranus, Erscheinungen, Bd. 1, S. 165. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 165 f. Für Treviranus’ Instinktbegriff, siehe G. R. Treviranus, Biologie oder Philosophie der lebenden Natur für Naturforscher und Aerzte, Bd. 6, Göt tingen 1822, S. 6 f.; ders., Untersuchungen über den Bau und die Functionen des Gehirns, der Nerven und der Sinneswerkzeuge in den verschiedenen Classen und Familien des Thierreichs, Bremen1820, S. 91. Vgl. G. R. Treviranus, Erscheinungen, Bd. 1, S. 166; ders., Die Erscheinungen und Gesetze des organischen Lebens, Bd. 2, Bremen 1833, S. 424.
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aber nicht nur nach Außen, sondern verschränkt deren „eigentühmliche“ Sphäre auch mit der „Welt“, in der alle Organismen und „Gegensätze“ ihrer Lebensformen gemeinsam existieren. Auf die kosmologische Dimension der „Sphären“-Verschränkung der Tätigkeitsfelder organisierter Körper hatte bereits Bonnet in den Prin cipes philosophiques (1754) aufmerksam gemacht.97 In Anlehnung an Schellings Von der Weltseele (1798) baut Treviranus die Logik dieser Sphärenverschränkung in den Kreislauf „unaufhörlicher Zersetzungen und Zusammensetzungen“ zwischen lebender und lebloser Natur ein.98
4. Schlussbemerkungen Anhand der Abfolge der drei Ansätze von Brown, Hufeland und Treviranus lässt sich nachvollziehen, wie sich die Innen-Außenwelt-Problematik um 1800 durch Reiz-Reaktions-Schemen in ein Agentenmodell einschreibt, in dem physiologisch ausgewiesene Wechselwirkungsverhältnisse, die vor allem Reproduktion und Assimilation betreffen, zwischen inneren, über regulative Potentiale verfügende Organisationen und äußeren Welten mit spezifischen Eigenschaften die Ordnungsformen organisierter Körper erhalten. Brown eröffnet diese Entwicklung durch das Erregbarkeitsprinzip eines Agentenmodells, das organische Ordnungen durch Lebenszustände innerer Organisationen auszeichnet, die als „erzwungene Zustände“ von Außen-Reizen abhängen und zugleich für die Aufrechterhaltung der inneren Lebens-Dynamik notwendig sind. Hufeland 97 Vgl. C. Bonnet, Essai de psychologie; ou considérations sur les opérations de l’Ame, sur l’habitude et sur l’éducation. Auxquelles on a ajouté des Principes philosophiques sur la cause première et sur son effet, London [Leiden] 1755 [1754], S. 377: „Ainsi chaque Etre a sa Sphère dont l’Activité est proportionnée à la force du Mobile. Cette Sphère est renfermée elle même dans un autre Sphère; celle-ci, dans une autre encore; & les Circonférences s’étendent continuellement. Cette étonnante Progression s’élève par dégrès, des Infiniment Petits aux Infini ment Grands; de la Sphère de l’Atome à celle du Soleil; de la Sphère du Polype à celle du Cherubin.“ Für Bonnets Ansatz siehe T. Cheung, „Omnis fibra ex fibra: fibre architectures in Bonnet’s and Diderot’s models of organic order“, in: Early Science and Medicine 15/2010b, S. 66-104. 98 Treviranus kannte Schellings Schriften unter anderem durch seinen in Jena stu dierenden Bruder Ludolf Christian Treviranus. Siehe hierzu B. Hoppe, „Le con cept“, S. 202 f.; T. F. de Jager, Treviranus and Biology, S. 202 f.
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überführt Browns durch Außen-Reize bestimmte Lebenszustände in physiologische Assimilations-Modelle von „Umwandlungs“Prozessen zwischen Innen- und Außenwelten, die durch eine innere Instanz – die Lebenskraft – reguliert, aber auch durch diätetische Regime und bestimmte Existenzweisen in der Außenwelt beeinflusst werden. Treviranus baut Hufelands Organismus-Modell weiter aus und fokussiert hierfür sowohl auf das Phänomen der „inneren Gleichförmigkeit“ als auch auf das Zusammenwirken lebendiger und unlebendiger Körper im großen Kreislauf der Natur. Mit der Überführung von Browns Reiz-Reaktions-Schemen in Hufelands und Treviranus’ Physiologien gehen im neunzehnten Jahrhundert weitere Differenzierungen der Innen-Außenwelt-Problematik einher. Während Cuvier die Innen-Außenwelt-Problematik auf die Existenzfähigkeit anatomisch ausgewiesener Organisationstypen bezieht, deren System von Teilen nicht verändert werden kann, ohne zum Tod der entsprechenden Körper zu führen, entsteht mit Geoffroy Saint-Hilaire, Cabanis und Lamarck ein Diskurs über die Modifikabilität innerer Organisationen durch bestimmte Umstands-Konstellationen in Außenwelten.99 Neben diesem Diskurs über die Transformierbarkeit organischer Systeme, der in Evolutionstheorien einmündet, entwickeln sich auf einem anderen Weg Debatten über den spezifischen Einheits- und Ordnungscharakter von Außenwelten, die über Alexander von Humboldts Physiognomik der Pflanzen zur Ökologie und über Comtes Milieubegriff in die Soziologie führen.100 Ein weiterer Weg, der direkt an Hufeland und Treviranus anschließt, zeichnet sich durch Claude Bernards experimentelle Physiologie ab, aus der Modelle von Regulations- und Rückkopplungsmechanismen hervorgehen, die innere Gleichgewichtszustände erhalten. Die Innen-Außenwelt-Problematik differenziert sich damit entlang dreier Achsen – zwischen einer Innenwelt, einem Innen-Außen-Wechselwirkungsverhältnis und einer Außenwelt –, und sie geht von einem Agentenmodell aus, dessen Träger individuelle Organismen sind. 99 Siehe hierzu T. Appel, The Cuvier-Geoffroy Debate. French Biology in the Decades Before Darwin, New York 1987. 100 Siehe hierzu L. Trepl, Geschichte der Ökologie vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart, 2. Aufl., Frankfurt a. M. 1994; G. Canguilhem, La connaissance de la vie, Paris 1998, S. 129-154; D. Guillo, Les figures de l’organisation. Sciences de la vie et sciences sociales au XIXe siècle, Paris 2003; T. Cheung, „Comtes Mi lieutheorie proleptisch-reaktiver Organismen“, in: Laufener Spezialbeiträge 1/2011, S. 84-89.
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Organ, Organismus, Organisation bei Friedrich Schleiermacher
Die Affinität deutscher Romantiker für die Begriffe organisch, Organ, Organismus oder Organisation (im Folgenden auch organologische Begriffe genannt) und ihre Rolle für deren diskursiven Erfolg ist weithin aufgearbeitet. Gut untersucht sind sowohl die romantische Naturphilosophie1 wie die politisch folgenreichen Übertragungen des Organismusbegriffes auf den Staatsbegriff.2 Es kann deswegen etwas verwundern, dass Friedrich Schleiermacher, der die Begriffe weitreichend benutzt, außerhalb der Spezialforschung, also in der allgemeinen Rekonstruktion der kulturellen Geschichte dieser Begriffe kaum eine Rolle spielt. Dabei verwendet Schleiermacher, der als Theologe, Philosoph, Philologe, Pädagoge, Prediger und Bildungspolitiker in unterschiedlichste Wissensbereiche wirkte, dieses Wortfeld zeitgenössisch nicht nur rein quantitativ möglicherweise am häufigsten (allein in den Notizen zu nur einer Vorlesung, der sog. Brouillon zur Ethik (1805/06) geschätzt nahezu tausendmal), sondern zugleich mit großer begrifflicher Extension. Schleiermacher benutzt den in der Naturphilosophie und jungen Biologie entwickelten Begriff nicht nur sporadisch oder im engeren Sinne metaphorisch. Er nimmt vielmehr eine durchaus folgenreiche systematische Ausweitung oder Übertragung des Begriffs auf die gesamte Kultur sowie insbesondere auf den Bereich vor, der später Sozialwissenschaften heißen wird. Die Systematik wird in den 1
2
Vgl. u. a. S. Mischer, Der verschlungene Zug der Seele. Natur, Organismus und Entwicklung bei Schelling, Steffens und Oken, Würzburg 1987; B.-O. Küppers, Natur als Organismus. Schellings frühe Naturphilosophie und ihre Bedeutung für die moderne Biologie, Frankfurt a. M. 1992; M. Blumentritt, Begriff und Me taphorik des Lebendigen. Schellings Metaphysik des Lebens 1792–1809, Würz burg 2007. Zur Geschichte der organologischen Staatsmetaphorik und zum politischen Kör per insgesamt vgl. T. Frank, A. Koschorke, S. Lüdemann und E. Matala de Mazza, Des Kaisers neue Kleider. Über das Imaginäre politischer Herrschaft. Texte – Bilder – Lektüren, Frankfurt a. M. 2002.
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verschiedenen Feldern der Philosophie und Theologie von Schleiermacher durchaus auch unterlaufen, indem er – je nach Kontext – die unterschiedlichen semantischen Schichten des Begriffs auch in ihrem konnotativen Gehalt nutzt. Eine eingehendere Darstellung der Organismus-Metapher bei Schleiermacher (sowie in zeitgenössischen Theorien) findet sich bei Michael Moxter.3 Weil er in seiner gehaltvollen Arbeit Schleiermachers Organismusbegriff systematisch interpretiert, gerät ihm sein Ansatz aber mitunter zu einer allzu konsistenten Metatheorie, die sich nicht unbedingt mit den weniger stringenten Befunden zum Wortfeld Organ, organisch oder Organismus in Schleiermachers Werk deckt. Der vorliegende Beitrag geht – möglicherweise ekklektischer – stärker von den wörtlichen Befunden in der Ethik, der Politik und der Theologie aus. Wie bei Begriffen anderer Vertreter der romantischen Philosophie um 1800 ist es dabei auch bei Schleiermacher schwierig, immer klare, gar definierte Begriffe zu rekonstruieren; ihre Semantik gewinnen sie oft nur in der jeweiligen Konstellation. Es gibt eine ganze Reihe Hinweise dafür, dass Schleiermacher die zeitgenössischen Naturwissenschaften sehr genau kannte. Schon 1797 hatte Schleiermacher mit seinem als Apotheker ausgebildeten jüngeren Bruder Carl chemische Experimente und Studien vorgenommen. In Berlin hörte er öffentliche Vorlesungen mit chemischen Experimenten bei Martin Heinrich Klaproth, der als der chemische Analytiker vor Berzelius galt. In den Kreisen der Jenaer Frühromantiker galt Schleiermacher in dieser Zeit nicht etwa als Spezialist für die Gebiete der Theologie und Philosophie, sondern für Chemie, Physik und Mathematik; auf diese Themen hin wird er bei Planungen für eine Zeitschrift angesprochen, die als Gegenentwurf zur Allgemeinen Literaturzeitung fungieren sollte. Der chemische Wortschatz, den Schleiermacher hier aufnimmt, wird in seinen Schriften wiederkehren: Flüchtigkeit, Auflösung, Mischung, Amalgamieren, Sublimat, Amalgam, Niederschlag, Fällung, Kristallisation, Verwandtschaft, Sättigung, Neutralisation, Absorption. Es ist dabei auffällig, dass Schleiermacher die chemische Begrifflichkeit sehr stark mit der aus der Biologie stammenden verbindet (Trieb, Organ/Organismus, Bildung). Den für seine Systematik zentralen Begriff der Darstellung nimmt Schleiermacher nicht in seiner alltäglichen Bedeutung auf, sondern verwendet ihn sowohl in seiner 3
M. Moxter, Güterbegriff und Handlungstheorie. Eine Studie zur Ethik Friedrich Schleiermachers, Kampen 1991, 5. und 6. Kap.
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Religionsauffassung als auch in seiner Ethik im spezifischen Sinne wie die zeitgenössische Chemie. Es ist deswegen durchaus kein Sonderfall in der sprachlichen Strategie Schleiermachers, wenn er auch die organologischen Begriffe nicht ‚bloß‘ metaphorisch verwendet. Vielmehr unterstellt er, dass die Begriffe des Organs, der Organisation oder des Organismus für andere, nämlich kulturelle und soziale Bereiche ebenso gelten wie für die Natur. Auch wenn Schleiermacher nicht zu einer solchen begrifflichen Schärfe wie zum Beispiel Kant kommt, so heißt das nicht, dass er die genannten Termini in einem weniger begrifflichen Sinne versteht. Metaphorisch sind seine Begriffe im wortwörtlichen Sinne von Übertragungen, nicht jedoch bezogen auf eine Unterscheidung von ‚eigentlicher‘ und ‚uneigentlicher‘ Bedeutung. Denn natürlich übernimmt Schleiermacher Begriffe aus der Naturphilosophie (Schellings) und überträgt sie/weitet sie begrifflich auf das aus, was er Ethik nennt. Da der Gegenstandsbezug der organologischen Begriffe aber um 1800 noch gar nicht auf Biologie und (natürliches) Leben festgelegt ist, ist selbst der Aspekt der Übertragung fragwürdig. Heutige Metapherntheorien gehen von Interaktionen, also davon aus, dass Übertragungen nicht in eine Richtung erfolgen; um jegliche Substantialisierung schon in der Terminologie zu vermeiden, wird nicht von Übertragung (in eine Richtung), sondern von (zirkulierendem) ‚Verkehr‘ gesprochen.4 Die doppelte metaphorische Verwendung stellt auch Georg Toepfer heraus: „So wie der Organismus als ein Modell zum Verständnis des Wesens der Gesellschaft fungiert, so kann auch die Gesellschaft als Modell zum Verständnis des Organismus dienen.“5 Selbst bei Kant kann man sich fragen, ob er nicht gerade mit seiner Betonung des Modus der reflektierenden Urteilskraft selbst reflektiert, dass er – im weitesten Sinne metaphorisch, nämlich übertragend – über den Organismusbegriff spricht. Wenn Kant etwa den Organismus im Sinne einer MittelZweck-Relation diskutiert, diesen Diskurs aber insgesamt als ‚nur reflektierend‘ bezeichnet, dann könnte auch er deutlich machen
4
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Vgl. Eva Johach, „Metaphernzirkulation. Methodologische Überlegungen zwi schen Metaphorologie und Wissenschaftsgeschichte“, in: Metapherngeschich ten. Perspektiven einer Theorie der Unbegrifflichkeit, hg. v. Matthias Kroß und Rüdiger Zill, Berlin 2011, S. 83-103. G. Toepfer, (Art.) „Organismus“, in: Historisches Wörterbuch der Biologie. Ge schichte und Theorie der biologischen Grundbegriffe, Bd. 2, Stuttgart 2011, S. 797.
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wollen, dass hier Kategorien einer anthropomorphen Figur, nämlich menschlicher Intentionen auf etwas übertragen werden. Wenn schließlich schon für die Antike das Prioritätsverhältnis fragwürdig und keinesfalls abschließend geklärt ist, ob organologische Begriffe zuerst für Werkzeuge verwendet wurden, oder dessen Kernbedeutung möglicher Weise zunächst in Politik oder Sprache angesiedelt war,6 dann könnte auch bezogen auf Schleiermacher gesagt werden, dass er möglicherweise nicht romantisch einen eigentlichen Begriff des Organs oder des organisierten Wesens metaphorisch verwendet, sondern umgekehrt auf deren historische Kernbedeutungen rekurriert.
1. ‚Organismus‘ in der Geselligkeitstheorie Organologische Bedeutungen, ohne explizite Verwendung der Termini, finden sich bereits in Schleiermachers frühem, von der Erfahrung romantischer Salonkultur geprägten Versuch einer Theorie des geselligen Betragens (1799). Vor dem Hintergrund romantischer Geselligkeitsformen entwickelt Schleiermacher hier eine Gesellschaftstheorie, die sich zugleich als Entwurf seiner Ethik verstehen lässt. Schleiermacher spielt in seinem Text mit Bestimmungen, die Kant in den beiden Teilen seiner dritten Kritik, der Kritik der Ur teilskraft, entworfen hatte. Die Figur der ‚Zweckmäßigkeit ohne Zweck‘ bestimmt dort sowohl den Begriff des Spiels in der ästhetischen wie den des organisierten Naturprodukts in der teleologischen Urteilskraft. Schleiermacher postuliert bereits im Eingangssatz seines Textes das Ideal der zweckfreien Geselligkeit: „Freie, durch keinen äußern Zweck gebundene und bestimmte Geselligkeit wird von allen gebildeten Menschen als eins ihrer ersten und edelsten Bedürfnisse laut gefordert.“7 An die Stelle des Zwecks tritt die Kategorie der Wechselwirkung, die um 1800 häufig als funktionale Hauptbestimmung des Organismus angesehen wurde. „Der Zweck der Gesellschaft wird gar nicht als außer ihr liegend gedacht; die Wirkung eines Jeden soll gehen auf die Tätigkeit der übrigen, und die Tätigkeit eines Jeden soll sein seine Einwirkung auf die anderen […] 6 7
Siehe den Beitrag von Gottfried Heinemann in diesem Band. F. Schleiermacher, „Versuch einer Theorie des geselligen Betragens“, in: H.-J. Birkner u. a. (Hrsg.), Kritische Gesamtausgabe (= KGA), Erste Abteilung. Schrif ten und Entwürfe, Bd. 2, Berlin 1984, S. 163-184, hier S. 165.
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Die Wechselwirkung ist also in sich selbst zurückgehend und voll endet.“8 „Denn das ist der wahre Charakter einer Gesellschaft in Absicht ihrer Form, daß sie eine durch alle Teilhaber sich hindurchschlingende, aber auch durch sie völlig bestimmte und vollendete Wechselwirkung sein soll.“9 Wenn Kant in der Kritik der Urteilskraft in einer gewissen Symmetrie Ästhetik und Naturphilosophie entwickelt, dann wird der Zusammenhang von Schleiermacher fast noch gesteigert: Er fasst – und das wird später in seinen Überlegungen zur Ethik und Politik wiederkehren – gesellschaftliche Phänomene als naturhafte („die freie Geselligkeit als eine nicht zu umgehende natürliche Tendenz“; die Gegenwart mehrerer Menschen in einem Raum sei „Körper der Gesellschaft“, der durch die Tätigkeit jedes Einzelnen belebt werden müsse; der Trieb zur Geselligkeit etc.).10 Die Vermutung, dass sich Schleiermacher, auch ohne explizite Verwendung des Terminus, auf den zeitgenössischen Begriff des Organismus bezieht, wird durch einen Eintrag im Gedankenheft II bestätigt, in dem er seine Vorüberlegungen zu dem Geselligkeitsaufsatz notiert hatte. „Die Materie kommt in dreierlei Form vor: als Element (freie Stoffe) als Masse (gebunden und in eigenthümlicher Gestalt) und als System (in Körpern d. h. in organischen Ganzen). Man kann auch der zweiten Form einen gewissen Organismus nicht absprechen und die erste ist im strengsten Sinn nur fingirt den es darf nie angenommen werden daß etwas schlechthin Element sei. Hiervon hat Leibniz etwas zwischendurch gesehn. Das Element ist seine piscina.“11 Deutlich wird hier, dass Schleiermacher, der sich bei seinem Organismusbegriff offenbar nicht nur von Kant, sondern auch von Leibniz anregen ließ, allgemeine Bestimmungen des Organismusbegriffs auf den Begriff der Geselligkeit überträgt. Denn die strukturelle Unterscheidung zwischen frei, gebunden und organisch lässt sich auch in Schleiermachers Geselligkeitstext entdecken. Im Schauspielhaus etwa finde keine freie, sondern gebundene, weil nur einseitig auf Wirkung angelegte Geselligkeit statt.12 Deutlich wird schließlich in der Wendung von einem ‚gewissen Organismus‘, dass Schleiermacher schon hier in einer für ihn typischen Weise einen amplifizierten, graduierbaren Begriff voraussetzt. 8 9 10 11 12
Ebd., S. 169. Ebd. Ebd. S. 168. F. Schleiermacher, „Gedanken I“, in: KGA, I. Abt., Bd. 2, S. 26. F. Schleiermacher, „Theorie des geselligen Betragens“, S. 169.
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2. Organologische Begriffe in der Systematik der Ethik Schleiermachers Organismusbegriff hat ein Zentrum im Verständnis der Individualität in Gesellschaft und Gemeinschaft (die er nicht zufällig erstmals, wenn auch in anderer Weise als Ferdinand Tönnies unterscheidet). Seine Verwendung des Organismusbegriffs bestätigt dabei die These, dass die Soziologie sich überhaupt erst durch die organische Methode einen abgegrenzten Gegenstand konstituiert, der dann wie ein Gegenstand der Natur untersuchbar ist.13 In seiner Theorie des geselligen Betragens verwendet Schleiermacher organologische Bedeutungen und Denkfiguren eher essayistisch und anspielend, in seiner Ethik systematisiert er sie.14 Ihre Bedeutung bekommen sie dort weniger durch explizite Zuschreibungen als vor allem durch ihre syntaktische Anordnung. Schleiermachers Philosophische Ethik, die zu Lebzeiten nie vollständig gedruckt wurde, ist nur in Form verschiedener Vorlesungsnotizen aus seiner Zeit an der Hallenser und Berliner Universität sowie aus den vor der preußischen Akademie gehaltenen Vorträgen überliefert.15 Die Schwierigkeiten der Interpretation resultieren nicht allein aus der, gerade die frühen Ethikentwürfe durchziehenden Enigmatik romantischer Denkart, sondern auch aus der Überlieferungslage. Im Folgenden werden Bestimmungen der organologischen Begriffe vor allem aus der ersten Fassung der Ethik, der Brouillon zur Ethik von 1804/05 untersucht. Werkhistorisch gesehen lässt sich dabei beobachten, dass Schleiermacher in späteren Entwürfen die organologischen Fachtermini offenbar ersetzen und eindeutschen will: Statt organisch spricht er von bildend, der Terminus Organismus wird eher vermieden, es werden spezifischer seine bestimmten Funktionen (z. B. Teil-Ganzes) benannt.
13 Vgl. S. Lüdemann, (Art.) „Körper, Organismus“, in: Wörterbuch der philoso phischen Metaphern, Darmstadt 2008, S. 168-182, hier S. 179. – Vgl. auch den Beitrag von Tobias Cheung in diesem Band. 14 Noch in Schleiermachers Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre (1803) werden die Bedeutungen von Werkzeug, Mittel-Zweck oder Teil-Ganzes nicht in organologischen Termini gefasst. Nur wenig später, bereits in der Tu gendlehre von 1804/05 explodiert der Gebrauch, was wohl auf den Einfluss der Naturphilosophie des Hallenser Kollegen Steffens seit 1804 schließen lässt. 15 Die Wirkung von Schleiermachers Vorlesungen zur philosophischen Ethik be gann in gedruckter Form erst posthum mit der Veröffentlichung in: F. Schleier macher, Entwurf eines Systems der Sittenlehre. Aus Schleiermachers hs. Nach lasse (= Literar. Nachlaß, Bd. 3), hrsg. v. A. Schweizer, Berlin 1835.
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Die Ethik ist innerhalb der Schleiermacherschen Philosophie einer von zwei realphilosophischen Teilen, die von der Dialektik überwölbt oder vermittelt werden. Den anderen realphilosophischen Teil nennt Schleiermacher mit wechselnden Ausdrücken Physik oder Naturlehre. Schleiermachers Begriff der Ethik fällt dabei nicht mit dem um 1800 und auch bei Kant gebräuchlichen Begriff einer Theorie der Moral oder praktischen Vernunft zusammen. Sein ungewöhnlich weiter Begriff der Ethik umfasst zugleich eine Gesellschafts- und Kulturtheorie, eine Institutionenlehre und Geschichtswissenschaft sowie eine Handlungstheorie; man kann deswegen von der ‚Ethik‘ als einer Protosoziologie sprechen. Von der Ethik her entfaltet Schleiermacher schließlich auch andere Teile seiner Philosophie als Kunstlehren, wie etwa die später zu betrachtende Staatslehre. Schleiermacher entwickelt seine Ethik systematisch als Pendant zur Naturphilosophie, die er allerdings in seinen Vorlesungen selbst nicht vorgetragen hat. „[D]er Mensch“, so Schleiermacher, „wird uns gegeben als Naturwesen von der Naturphilosophie.“16 Er bezieht sich dabei besonders auf die Naturphilosophie seines Hallenser Kollegen und Freundes, des dänischen Naturphilosophen und Anhängers Schellings Hendrik Steffens. Von Steffens (und Schelling) übernimmt Schleiermacher wesentliche, auch mit der systematischen Einbindung der organologischen Begriffe im Zusammenhang stehende Denkfiguren der Quadrudupliziät, der Polarität, des Oszillierens, der Potenz u. a.17 Gerade jedoch die Semantik und den zentralen Stellenwert der Begriffe Organ, Organismus, Organisation findet man bei Steffens nicht. Betrachtet man Schleiermachers Verwendung organologischer Begriffe bezogen auf die Differenz von Natur und Kultur/Gesellschaft, so zeigt sich ein wechselnder Gebrauch. ‚Organisation‘ zum Beispiel wird in manchen Texten (wie in der Akademieabhandlung Begriff des höchsten Gutes II) durchaus im Sinne der biologischen Ausstattung des Menschen verstanden und von der Vernunft abgegrenzt.18 ‚Organisation‘ kann aber auch im Sinne einer bestimm16 F. Schleiermacher, Brouillon zur Ethik (1805/06), in: O. Braun, J. Bauer (Hrsg.), Werke. Auswahl in vier Bänden, Bd. 2, Leipzig 1913, S. 75-239, hier S. 86. 17 F. Schleiermacher knüpft offenbar vor allem an Schellings Ausweitung des Or ganismusbegriffs seit Über die Weltseele (ED 1798) an, vgl. auch H. Steffens, Beyträge zur innern Naturgeschichte der Erde, Freiberg 1801. 18 F. Schleiermacher, „Begriff des höchsten Gutes. Zweite Abhandlung“, KGA, Abt. I., Bd. 11: AkademieVorträge, S. 657-677, S. 664.
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ten Stufe der Einigung von Natur und Vernunft verstanden werden. Meist ist die Unterscheidung zwischen den Gegenständen der Naturphilosophie und der Ethik für Schleiermacher weniger von materialer als von funktionaler Art. In einer an Schelling erinnernden Wendung heißt es, in der Ethik erscheine alles „als Produciren, wie in der Naturwissenschaft als Product. […] Denn auch Wissen und Handeln sind als Vermögen Natur.“19 So kann Schleiermacher von der ‚Naturseite der Sprache‘ und davon sprechen, dass es das Wichtigste sei, die „Bedeutsamkeit der Sprachelemente organisch zu dediciren.“20 Die Übergänge von der Natur zur Vernunft werden bei ihm fließend gehalten, gerade dazu dienen die organologischen Begriffe. Schleiermacher ist kein Emergenztheoretiker, Differenzen sind bei ihm immer schon minimal angelegt. Die Ethik bestimmt Schleiermacher dahingehend, „daß alle socia len Verhältnisse in ihr entstehen müssen nach denselben Gesezen, nach welchen Verhalten in diesen Verhältnissen regulirt wird. Analogisch folgt, daß auch das Wissen als Wirkliches, als Handeln durch die Ethik entstehen muß.“21 Hier erscheint die für den Organismusbegriff wichtige Figur des Regulierens, die Schleiermacher verwendet, um das Verhalten (der Individuen) und Verhältnisse (zwischen ihnen) aus einem Prinzip zu entwickeln. Die Ethik ist die „Wissenschaft der Geschichte, d. h. der Intelligenz als Erscheinung“,22 sie reiche vom „Elementarischen bis zur höchsten Organisation“.23 Das Hineinreichen der Naturwissenschaft in die Ethik zeigt sich hier darin, dass auch soziale Verhältnisse durch Gesetze bestimmt sein sollen. Gesetze und Geschichte, die im späteren Methodendualismus (mit der Dichotomie nomothetisch vs. idiographisch) so stark getrennt werden, denkt Schleiermacher, obwohl Begründer der neuzeitlichen Hermeneutik, noch zusammen. Schleiermacher unterscheidet in seiner stark symmetrisch oder polar aufgebauten Systematik die Handlungsebene (symbolisierendes und organisierendes Handeln) von der des Resultats (Symbol und Organ, mitunter auch Organismus, Organisation). „Die Functionen des Lebens sind Bilden der Natur zum Organ und Gebrauch
19 20 21 22 23
F. Schleiermacher, Brouillon zur Ethik, S. 79. Ebd., S. 97. Ebd., S. 79. Ebd., 80, Ebd., S. 150.
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des Organs zum Handeln der Vernunft.“24 Mit symbolisierender Tätigkeit meint Schleiermacher alle zeichensetzende Tätigkeit, vor allem Sprache und Erkennen.25 Die Zeichen haben auch eine materiale Gestalt und deswegen lassen sie sich, wie etwa bezogen auf die Sprache, auch mit organologischen Ausdrücken benennen. Bei den Begriffen symbolisch/symbolisierend und organisch/organisierend bzw. Symbol und Organ der Vernunft handelt es sich weniger um Gegenbegriffe als um zwei Perspektiven, vor allem aber Funktionen derselben Vernunfttätigkeit. „Im Produciren selbst sind beide Factoren unzertrennlich [...]. Durch den Gebrauch bildet sich das Organ, und durch das Bilden entsteht Erkennbares.“26 Die beiden als Funktionen markierten polaren Tätigkeiten der Vernunft werden nun wechselseitig gekreuzt durch den entweder eher hervortretenden Charakter der Identität (des Allgemeinen) oder den der Eigentümlichkeit (oder des Individuellen). Aus der wechselseitigen Kreuzung von Symbolisieren und Organisieren sowie individuell und identisch entsteht ein viergliedriges Ordnungsschema, das Schleiermacher nach Steffens Quadruduplizität nennt. Den vier Funktionen des Vernunfthandelns ordnet Schleiermacher kulturelle Formen sowie das geschichtlich-gesellschaftliche Material wie den Fächern eines Fachwerkes zu: 1. Dem identischen Organisieren entsprechen Staat und Ökonomie, 2. dem individuellen Organisieren freie Geselligkeit und Hauswirtschaft, 3. dem identischen Symbolisieren die Wissenschaften, 4. dem individuellen Symbolisieren Kunst und Religion. Allein durch diese systematische Konstruktion werden ganze Bereiche systematisch anschlussfähig für organologische Denkfiguren. Man muss, abseits der systematischen Konstruktion, die ich im Folgenden thematisiere, sehen, dass die zeitgenössischen Begriffe des Organs, der Organisation und des Organischen offenbar so positiv konnotiert waren, dass gerade diejenigen Begriffe, die dem patriotischen Prediger und Romantiker Schleiermacher besonders wichtig waren, nämlich Individuum (vs. Identisches) und Staat, aber auch Familie und Geselligkeit (Salon) von ihm organologisch be-
24 Ebd., S. 89. 25 Zum Symbolbegriff vgl. P. Stoellger, „Der Symbolbegriff Schleiermachers“, in: A. Arndt, U. Barth, W. Gräb (Hrsg.), Christentum – Staat – Kultur. Akten des Kongresses der Internationalen Schleiermacher-Gesellschaft in Berlin, März 2006 (= Schleiermacher-Archiv, Bd. 22), Berlin 2008, S. 109-145. 26 F. Schleiermacher, Brouillon zur Ethik, S. 92.
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zeichnet werden. Wenn Georg Toepfer die Konnotationen des Organisationsbegriffs (im Gegensatz zum Organismusbegriff) als kalt, technisch und konstruiert darstellt, dann treffen diese Bestimmungen auf Schleiermacher nicht zu. Bei ihm,so könnte man sagen, wird auch der Organisationsbegriff romantisiert und positiv gewendet. Im Folgenden sollen unterschiedliche semantische Aspekte der organologischen Begriffe bei Schleiermacher unterschieden werden. a. Organ als Werkzeug Zunächst und vor allem ist Organ für Schleiermacher im antik-aristotelischen Sinne Werkzeug.27 Dazu zählen bei ihm auch die Sinnesorgane (Auge, Ohr etc.) als Sinneswerkzeuge.28 Organe erscheinen als Mittel, die aber für Schleiermacher immer zugleich auch Zweck sind. Organisieren heißt dann, etwas als Werkzeug zu verwenden. Entsprechend der Produktionstheorie Schleiermachers verhalten sich Organ und Organisieren wie Produkt und Produzieren. Organisieren ist Naturwerdung oder Vergegenständlichung der Vernunft. Es ist jedoch verkürzt, Schleiermachers Organbegriff auf den Werkzeugbegriff zu reduzieren.29 Denn Schleiermacher verbindet Bestimmungen des antiken Werkzeugbegriffs mit neueren Semantiken des Organismusbegriffs seit Kant. Organe erscheinen dadurch wie lebendige Werkzeuge. Schleiermacher verwendet dabei mitunter Formulierungen, die Ernst Kapps Organverlängerungstheorie vorwegzunehmen scheinen. Mit den natürlichen (oder im engeren Sinne biologischen) Organen (Schleiermacher dienen sie vor allem, um die Vermittlung zur Außenwelt herzustellen) ist prinzipiell vorgebildet, was im Wirken der Vernunft auf die Natur (mittels Natur) bis zur Einigung fortgesetzt werden soll. Auch Theorien können Organe sein.30 Wenn Schleiermacher von der organischen Vernunft oder deren organisierendem Handeln spricht, dann akzentuiert er 27 Schleiermachers Begriffsverwendung müsste auf altphilologisch-griechische Be züge hin geprüft werden. Er hatte ja nicht nur in der gleichen Zeit seine großen, mit Friedrich Schlegel begonnenen Platon-Übersetzungen fortgeführt, sondern in den 90er Jahren des 18. Jahrhunderts auch Aristoteles übersetzt. 28 F. Schleiermacher, Ethik 1816 (Einleitung und Güterlehre I), in: Werke, Bd. 2, S. 586. 29 Vgl. P. Stoellger, „Der Symbolbegriff Schleiermachers“, S. 113. 30 Meteorologie und Astronomie bezeichnet Schleiermacher in diesem Sinne als „größte der Organbildung“. F. Schleiermacher, Brouillon zur Ethik, S. 89.
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die sensualistische Seite der menschlichen Erkenntnis. Zugleich aber sind damit immer schon mehr als nur erkenntnistheoretische Fragen angesprochen. Schleiermacher fasst mit diesen Begriffen den Menschen als praktisch-tätiges Naturwesen. „Daher giebt es für jedes organische Vermögen, für jeden Sinn ein eignes System der Darstellung. Daher verhält sich nun umgekehrt auf der objectiven Seite die Darstellung (Sprache) zum Ursprünglichen (Anschauung) wie Geruch zum realen Object; auf der subjectiven Seite aber die Darstellung (Kunstwerk) zum Ursprünglichen (Gefühl) wie reales Object zum Geruch“.31 Die „vollkommene Ausbildung aller Talente“ nennt Schleiermacher auch „Organsystem“.32 Wie auch die Gefühle können sie nur außersprachlich durch organische Operationen (Ton, Gebärde, Antlitz, aber auch in der Kunst) mitgeteilt werden. „Dem Individuellen schreiben wir nemlich den Charakter der Unübertragbarkeit zu. Das angebildete Organ, insofern es Organ der Eigenthümlichkeit ist, kann es nicht eines andern werden. Die Erkenntniß, insofern Eigenthümlichkeit in ihr niedergelegt ist, kann nicht eben so lebendige Erkenntniß eines anderen werden.“33 Schleiermachers Verwendung organologischer Denkfiguren für Kultur und Gesellschaft hat eine ideologiegeschichtliche Seite. Sie wird am deutlichsten, wenn man sieht, wie seine Begriffe der Individualität oder Eigentümlichkeit mit dem des Eigentum zusammenhängen. Das Eigentum, durchaus im bürgerlich-rechtlichen, aber auch im Sinne der Geselligkeit, gründet auf der Funktion des eigentümlichen Produzierens. Solche Eigentümlichkeit in der Natur gegründeter Organe des einzelnen Lebens (wie z. B. das Talent) oder des Symbolisierens sind in sich abgeschlossen und damit unübertragbar. Sie lassen sich nur darstellen. Eigentum kann nur symbolisch, zum Beispiel durch Geld, Sprache oder, im höheren Sinne, durch Darstellungen wie Ausdruck, Stil etc. mitgeteilt werden. „Dasselbe, was die Tätigkeit unübertragbar macht, muß auch die Gemeinschaft möglich machen. Nemlich das Organ wird Object der Erkenntniß durch seine symbolischen Eigenschaften. Durch die vorausgesezte Identität des Organischen sind wir im Stande die Differenz in den Aeußerungen der Individuen von den unsrigen zu verstehen.“34 Die Figur des Orga31 32 33 34
Ebd., S. 181 Ebd., S. 104. Ebd., S. 92. Ebd., S. 125 f.
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nischen dient also Schleiermacher auch dazu, um die Integrität und Abgeschlossenheit des Subjektes zu markieren, allgemeiner gesagt: gesellschaftliche Prozesse der Exklusion und Inklusion zu fassen. Für Schleiermacher entstehen und erhalten sich die Organe und ihre Funktionen im Prozess. „Denn Organe könne nicht anders gebildet werden als durch den Gebrauch; es gibt nur Selbstbildung; und mit dem vermehrten Wissen im Gebrauch entstehen auch neue Aufgaben der Organbildung. Diese beiden Funktionen stehen also in einer nothwendigen Wechselverbindung, in lebendigem organischem Zusammenhang.“35 Organfunktionen müssen für Schleiermacher nicht unbewusst sein. In den höheren Funktionen kann das Wissen (die Reflexion) selbst zur organischen Tätigkeit werden. Das Ziel ist die Einbildung der Vernunft in die Natur, wobei sich diese Einigung geradezu selbstorganisatorisch auf höherer Stufe wiederholt. Zwischen der Organbildung der Natur und Anbildung der mittelbaren Organe durch Vernunft sieht Schleiermacher keinen Unterschied. Ein Kennzeichen des Schleiermacherschen systematischen Ansatzes besteht darin, dass er scharfe Gegensätze vermeiden oder aufheben möchte. Die organischen Begriffe ragen bis in die Ethik, d. h. in den Bereich, in dem es um die Tätigkeit der Vernunft auf die Natur geht. Im (menschlichen) Leib sind für Schleiermacher Vernunft und Natur immer schon organisch geeinigt. Es geht um potenziertes Hineinbilden, „beginnend von dem menschlichen Organismus als einem Theil der allgemeinen Natur, in welchem aber eine Einigung mit der Vernunft schon gegeben ist.“36 Das Maß der Vereinigung (nicht die Unterwerfung) von Vernunft und Natur ist für Schleiermacher der Grad des Sittlichen. Schließlich zielt das Ganze auf eine Aufhebung des Organs im Symbol. „Wenn der Prozeß vollendet wäre, würde alles Symbol sein und nichts brauchte Organ zu sein.“37 Schleiermachers Standpunkt schwankt zwischen älteren und neueren Ansätzen, wenn er in kurz aufeinander folgenden Passagen die lebendigen oder organischen Einheiten mittels der tradierten Figur der „Beseelung der menschlichen Natur durch die Vernunft“38
35 36 37 38
Ebd., S. 95. F. Schleiermacher, Ethik 1812/13 (Einleitung und Güterlehre), Werke, Bd. 2, S. 250. Ebd., S. 263. F. Schleiermacher, Brouillon zur Ethik, S. 87.
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und der modernen Figur der Funktion zu erklären versucht.39 „Das Leben erscheint überall in verschiedenen Functionen, die mit einander in relativen Gegensäzen stehn, aber doch einzeln weder verstanden werden noch existiren können, sondern in nothwendiger Verbindung stehen. So müssen wir also auch das Leben der beseelenden Vernunft finden; in Einzelheiten müssen wir es betrachten, die aber organisch und nothwendig zusammenhängen. Dasselbe will nun sagen Wissenschaft der Geschichte. Die merkwürdigen Erscheinungen der Geschichte sind nichts anders als die in Masse heraustretenden einzelnen Functionen, die das Bewußtsein ihres Zusammenhanges mit dem Ganzen oft nicht in sich haben.“40 b. Organismus und höchstes Gut Schleiermacher entwickelt seine Ethik in drei Teilen und unterscheidet zwischen Tugend-, Pflichten- und Güterethik. Auf die Güterethik legt Schleiermacher besonderen Wert, sie finde ihren vollkommensten Ausdruck im ‚höchsten Gut‘. Während Schleiermacher ansonsten eher von Organ oder Organisation spricht, greift er zur Charakterisierung des ,höchsten Gutes‘ auf Begriff und Metapher des Organismus zurück: „Das reinste Bild des höchsten Seins in Beziehung auf diese Verschiedenheit [von Kraft und Erscheinung – E. M.] ist der Organismus. Denn in ihm ist eben so sehr die Kraft durch die Erscheinung, als die Erscheinung durch die Kraft bedingt, und in der einfachen Anschauung desselben der Gegensatz beider aufgehoben. Ja, wenn man sagt, das Sein, inwiefern überwiegend als das Allgemeine gesezt, sei das Dynamische, und inwiefern überwiegend als Einzelnes, sei das Mechanische, so muß man gestehen, daß beides außerhalb alles Organischen gesezt, kein für sich Bestehendes ist. Nur so weit wir die Sphäre des Organischen verfolgen können, dürfen wir für sich Bestehendes annehmen.“41 Grundgedanken seiner Darstellung des ,höchsten Gutes’ ist es, „die Gesamtwirkung 39 Vgl. zu dieser Differenz G. Toepfer, „Transformationen des Lebensbegriffs: Von der Seele zum Organismus“, in: H. Böhme u. a. (Hrsg.), Transformation. Ein Konzept zur Erforschung kulturellen Wandels, München 2011, S. 137-181. 40 F. Schleiermacher, Brouillon zur Ethik, S. 88. – Vgl. Heinemann in diesem Band über Aristoteles’ Begriff der Seele als Form eines natürlichen Körpers, der po tentiell Leben enthält. 41 F. Schleiermacher, Ethik 1816 (Einleitung und Güterlehre I), in: Werke, Bd. 2, S. 534.
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der Vernunft […] als einen Organismus aufzustellen, in welchem jeder verwirrende Gegensatz von Mittel und Zweck aufgehoben, jedes Auseinander auch ein Ineinander, jeder Theil auch das Ganze ist, nichts aber mit aufgenommen wird, was nicht aus dem Leben der Vernunft im menschlichen Geschlecht entsprungen ist und dasselbe auch fortpflanzt und erneuert, das ist es, was ich mir unter einer Darstellung des höchsten Gutes denke.“42 Das ‚höchste Gut‘ ist der organische Zusammenhang aller Güter. Der Begriff des höchsten Gutes sei in dem Sinne aufzufassen, „in welchem jedes Ganze größer ist und vollkommner als seine einzelnen Theile, aber doch nicht erkannt und dargestellt werden kann, als in so fern diesen dasselbe auch widerfährt.“43
3. Organologische Begriffe in der Staatstheorie Eine besondere Brisanz bekommt die Übertragung des Organ-/Or ganismus-Gedankens in Schleiermachers Theorie der Politik, die von ihm systematisch als eine (untergeordnete) technische Disziplin der Ethik gefasst wird. Generell gilt, dass seit der Romantik nicht mehr die republikanische Staatsform mit der OrganismusMetapher gekoppelt, sondern die Monarchie; die Republik erscheint nun als mechanisch.44 In der Staatstheorie kann die romantische Organismusmetapher besonders verhängnisvoll sein, wie das Beispiel Ottmar Spann zeigt, der den ständischen Staat im Sinne Adam Müllers in seiner Ganzheit in Analogie zum biologischen Organismus sieht. Schleiermachers Verbindung von Organismus und Staat unterscheidet sich aber vom romantischen Ständestaat im Sinne Adam Müllers. Denn Schleiermacher ruft eine andere semantische Schicht des Organismusbegriffs auf. Während in seiner Ethik der Organismus als eine Figur fungiert, die vor allem die synthetisierende Einheit von Polaritäten markiert (wie Zweck-Mittel, Teil-Ganzes, VernunftNatur), legt Schleiermacher in seiner Politik-Theorie den Akzent erstens auf den naturhaften oder naturgeschichtlich zu behandeln42 F. Schleiermacher, „Über den Begriff des höchsten Gutes“, in: KGA, I. Abt., Bd. 11: Akademievorträge, Berlin 2002, S. 538-553, hier S. 548. 43 Ebd., S. 545. 44 S. Lüdemann, (Art.) „Körper, Organismus“, S. 178.
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den Charakter des Staates, zweitens aber auf die innere Differenziertheit des Ganzen eines Staates. „Der Ausdruck führt auf das Gebiet der Natur, und er bezeichnet damit meine Absicht, welche ist, den Staat als Erzeugniß der menschlichen Natur zu betrachten, freilich auch die Intelligenz, aber doch immer aus dem Gesichtspunkt einer natürlichen Produktion. Besonders aber führt jener Ausdruck auf das Gebiet der lebendigen und organischen Natur, und so ist meine Absicht, den Staat hier zu betrachten als einen bestimmten Organismus. Sehen wir auf die lebendige Natur: so finden wir überall die Mannigfaltigkeit der Gestaltung in einer verschiedenen Gradation, und überall, wo wir ein Lebendiges als Eins setzen, finden wir auch die Verschiedenheit dabei.[…] Betrachten wir die Körper auf dem Gebiet der lebendigen Natur: so finden wir in der Idee des Lebens Alles zusammenfallen; aber in verschiedenen Abstufungen, und je mehr sich die Funktionen entfalten, je mehr wir bei Einem treffen: um so vollkommener ist der Organismus; aber die rechte Erkenntnis besteht doch darin, daß man das Verhältniß derselben zu einander weiß. Wenden wir das auf den Staat als Organismus an: so ist auch da etwas Allem zum Grunde Liegendes. Je einfacher nun dieses ist: um so unvollkommener, aber je mannigfaltiger die Bewegung und der Organismus: um so vollkommener ist die Gestaltung. Natürlich wie auf dem Gebiet des Lebens zeigt sich uns dies nach den verschiedenen Graden verschieden.“45 Schleiermacher konstatiert zu Beginn seiner Vorlesungsnotizen, dass die Aufstellung eines Staatsideals (im Sinne Platons) vor allem in Zeiten der Revolution verfehlt wäre. „Es könnte doch von keinem Einfluß sein, weil Veränderungen im Staat nie vom Willen des Einzelnen ausgehn können. Die Natur dieser Vorträge soll ganz physiologisch sein; die Natur des Staates im Leben betrachten und die verschiedenen Functionen in ihren Verhältnissen verstehen lernen und auf diesem Wege ein richtiges Handeln möglich machen.“46 Vom normativen Ideal ist der Organismusvergleich weit entfernt. 45 Schleiermacher, , in: KGA, II. Abt., Bd. 8: Vorlesungen über die Lehre vom Staat, hg. v. Walter Jaeschke, Berlin 2008, S. 496/497. – Wenn Schleiermacher den Staat von seiner Naturseite her analysiert, dann wäre die Staatslehre nach seiner eigenen Systemkonstruktion eigentlich nicht eine von der Ethik abgeleitete Kunstlehre, sondern – was systematisch auch angelegt ist – Teil der Naturlehre oder Physik. 46 F. Schleiermacher, Die Lehre vom Staat (1829-1833), in: W. Jaeschke (Hrsg.), Vor lesung über die Lehre über den Staat, in: KGA, II. Abt., Bd. 8, Berlin 2008, S. 69.
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Es geht Schleiermacher um eine modern anmutende Funktionsanalyse des politischen Körpers, ohne die Berücksichtigung der Motive menschlichen Handelns.47 Schleiermacher spricht vom Staat als eines in „bewußtloser Nothwendigkeit gebildetes Werk des Menschen“, Staaten seien „geschichtliche Naturgebilde“.48 Walter Jaeschke hat zutreffend festgestellt, dass sich in der Organismus-Metapher gleichermaßen die Ablehnung von vertragstheoretischen Staatsbegründungen (der Staat als künstliche Konstruktion des Menschen) wie absolutistischer Ordnungsvorstellungen (zurückgehend auf Kant) ausdrücke.49 Die Staatstheorie verstehe „sich nicht als politische ‚Mechanik‘, da die frühneuzeitliche, bis in die Aufklärung reichende Metaphorik des Staates als einer Maschine seit dem Umbruch vom späten Absolutismus zur Französischen Revolution diskreditiert ist.“50 Aus der Perspektive der Ethik kommt nach Schleiermachers Konstruktion der Staat dem ethischen Postulat einer Einigung von Vernunft und physis offenbar nicht sehr nahe, der Staat ist bloßer Körper. Andererseits aber trifft eine Kritik nicht ganz zu, die das Nichtphysiologische in der Staatstheorie vermisst: Denn bei Schleiermacher findet sich in der Physis immer schon Vernunft. Es kann aber auch kritisch interpretiert werden, insofern für Schleiermacher klar bleibt, dass (moderne) Staaten nicht nach Vernunftprinzipien handeln. Die Thematisierung des Staates als Organismus erlaubt es Schleiermacher, den Krankheitsbegriff auf den Staat zu beziehen und den Code gesund/krank als normativen Maßstab einzuführen. Das Ab- und Ausschließende des Organischen wird allerdings, schon in der Brouillon zur Ethik, ganz explizit und in einer zumindest re trospektiv gesehen sehr fragwürdigen Form auch auf die Reinheit des Staates bezogen: „Denn das Organische weiß das Fremdartige 47 Bei Adam Müller wird dagegen der Gegensatz organisch-anorganisch zur Wer tung von Staaten und Staatstypen herangezogen: „Jede Krankheit des Staates, wie des Menschen, ist Herrschaft eines einzelnen, einseitigen Organs über die andern, oder auf Kosten des Ganzen, des Organismus.“ (A. Müller, Elemente der Staatskunst, Bd. 2, Berlin 1809, S. 158) 48 F. Schleiermacher, „Über den Begriff der verschiedenen Staatsformen“, in: KGA, I. Abt., Bd. 11: Akademievorträge, S. 95-124, hier S. 98. 49 W. Jaeschke, „Schleiermacher als politischer Denker“, in: A. Arndt, U. Barth, W. Gräb (Hrsg.), Christentum, Staat, Kultur. Akten des Kongresses der Internatio nalen Schleiermacher-Gesellschaft in Berlin, März 2006, Berlin 2008, S. 303315, hier S. 312 f. 50 Ebd., S. 313.
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schon selbst entweder zu assimiliren oder heraus zu werfen.“51 Das Böse ist Insuffizienz der Begeistung: wo die Intelligenz als Wille zu ohnmächtig ist, „um den Angriff einer untergeordneten Potenz auf ihren unmittelbaren Organismus abzuweisen“.52
4. ‚Organismus‘ in Theologie und Kirche Der Aspekt der Abgeschlossenheit einer Ganzheit und ihrer Bedrohung durch von außen kommende Krankheiten steht auch ganz im Zentrum der Anwendung von ‚Organismus‘ (hier explizit als Metapher) in Schleiermachers Theologie. „Wenn man aber vorläufig nur das oben auseinandergesezte hinzunimmt, daß nämlich die Kirche eben so sehr der Organismus als das Abbild Christi ist, und also ihr Wesen darin bestehen muß alle Thätigkeit Christi fortzusezen und darzustellen.“53 „Ja es ist eben so sehr dieses als die wesentliche Zusammengehörigkeit der verschiedenen Aemter und Berufsthätigkeiten, was wir ausgedrükt finden in der Darstellung der Kirche als eines organischen Leibes, dessen lebendige Einheit durch die Vollständigkeit der verschiedenen Glieder bestimmt ist. Denn Berufsgeschäfte können nur zwekmäßig vertheilt werden, wenn eine Verschiedenheit der Gaben zum Grunde liegt, bei der wiederum, wenn sie auf natürlichem Wege entstanden sein soll, eine Verschiedenheit der innersten Lebenseinheit vorausgesetzt werden muß.“54 In der Kurzen Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen (1811) behandelt Schleiermacher das Gesamt der theologischen Wissenschaft als Organismus, Organismus und Organisation sind geradezu die Leitmetaphern des Textes. In der vollständigen Einheit zwischen Frömmigkeit und dem „Trieb“, die „Frömmigkeit zum Gegenstand einer Gemeinschaft zu machen“, bestünde der „normale Gesundheitszustand“
51 F. Schleiermacher, Brouillon zur Ethik, S. 141. – Andere Gegenbegriffe zu den organologischen Begriffen sind ,anorganisch‘, ‚roher Stoff‘, ‚ungebildete Masse‘, ‚mechanisch‘. 52 Schleiermacher, Über den Unterschied zwischen Natur- und Sittengesetz, in: KGA, I. Abt., Bd. 11, S. 416. 53 F. Schleiermacher, Glaubenslehre, KGA, Abt. I., Bd. 7.1., S. 214 (= § 146) 54 Ebd., S. 208.
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der Kirche.55 Schleiermacher entfaltet das Kapitel „Grundsätze der Polemik“ gegen dogmatische Abweichungen in der Kirche im Krankheitsdiskurs. „Krankheitszustände gibt es in geschichtlichen Individuen nicht minder als in organischen.“56 „Krankhafte Erscheinungen eines geschichtlichen Organismus […] können teils in zurücktretender Lebenskraft gegründet sein, teils darin, daß sich beigemischtes Fremdartige in demselben für sich organisiert.“57 ‚Organismus‘ fungiert hier im Sinne der Inklusion und Exklusion. So sei im Indifferentismus die „christliche Frömmigkeit selbst krankhaft geschwächt“, während der „geschwächte Gemeinschaftstrieb“ zum Separatismus führe.58 Wenn Schleiermacher hinzufügt, dass es nicht nötig sei, bei der Analogie auf den „animalischen Organismus zurückzugehen; derselbe Typus kann auch schon an den Krankheiten der Staaten zur Anschauung gebracht werden“ – dann zeigt sich, wie kompliziert das Selbstverständnis von Begriff und Metapher in Schleiermachers Denkens selbst ist.59
55 F. Schleiermacher, Kurze Darstellung des Theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen (1811), in: KGA, I. Abt., Bd. 6, Berlin, New York 1998, S. 243-315, § 55. 56 Ebd., § 35. 57 Ebd., § 54. 58 Ebd., § 56. 59 Ebd., § 54. – In den Reden Ueber die Religion entwickelt Schleiermacher in einem längeren Abschnitt die Idee der Religion als eine „Krankheit des Gemüths“ allein als Referat ihrer Gegner. Religiöse Geselligkeit wird hier in Metaphern der Ansteckung entfaltet. KGA, I. Abt., Bd. 2, S. 266.
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Stefano Poggi
Bild und Abstraktion Zwischen Ästhetik und Biologie in Deutschland, 1880–1930
1. In diesem knappen Referat möchte ich nur einige Aspekte der Beziehung Kunst (dabei vor allem bildnerische Kunst) und Lebenswissenschaften in Deutschland im Zeitraum 1880–1930 in Betracht ziehen. Ich werde versuchen, einige Hinweise auf die Rezeption einiger allgemeiner lebenswissenschaftlicher Anschauungen in der ästhetischen Debatte zu geben. Um die Jahrhundertwende gilt die Annäherung der künstlerischen Tätigkeit an die Prozesse innerhalb der lebenden Organismen als ein Topos. Die darauf folgenden Vergleiche zwischen den beiden Arten von Produktivität legen den Akzent vor allem auf die Gesetze jener Produktivität und somit auf die Möglichkeit, alles, was gebildet wird, auf eine einzige, gemeinsame Wurzel zurückzuführen. Man darf zumindest behaupten, dass die beiden Arten von Produktivität den typischen Charakter eines gestaltenden – und demnach eines gewissermaßen abstrakten Prozesses zeigen. Als erstes Beispiel gilt ein Büchlein, das 1905 erschienen ist. Der Titel lautet: Das Kunstwerk als Organismus.1 Der Verfasser – Wilhelm Waetzoldt – war ein junger Kunsthistoriker, Schüler von Wölfflin und später eine der prominenten Figuren der deutschen Kunstgeschichte der 20er und 30er Jahre. Schon auf den ersten Seiten verzichtet Waetzoldt nicht auf den kanonischen Hinweis auf Goethe. Der Künstler und der Naturforscher Goethe gilt als Urheber des Gedankens des „Kunstwerks als Organismus“. In der Tat wolle Goethe „keinen Vergleich, sondern Wesensgleichheit zwischen natürlichen und künstlerischen Produkten“: Die beiden Produkte seien organischer Natur. Es folgt die immer wieder erwähnte Aussage aus der Italienischen Reise: „Diese hohen Kunst1
W. Waetzoldt, Das Kunstwerk als Organismus. Ein ästhetisch-biologischer Ver such, Leipzig 1905.
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werke von Menschenhand nach wahren und natürlichen Gesetzen hervorgebracht“.2 Dank seiner „vergleichenden Methode der Anschauung“ kam Goethe „auf die Entdeckung gleicher Bildungsgesetze für Naturprodukte und Kunstprodukte“. Diese Gesetze gelten als „konstituierende Prinzipien“ der „organischen Bildungen“. „Die Gesetze des künstlerischen Aufbaues sind nach Goethe die des Aufbaues der natürlichen Organismen“.3 Auf dieser Basis – und sich auf Böcklin und Hildebrand beziehend – kommt Waetzoldt zu einer bedeutenden Äußerung, nämlich „dass sich auch die künstlerische Entwicklung durch die gleichen Veränderungen charakterisiert, die das organisch höher Entwickelte gegenüber dem niedriger Entwickelten kennzeichnen“. Das Kunstwerk dürfe keineswegs als ein „totes Mosaik formaler Bruchstücke“ betrachtet werden. Im Gegenteil gilt das Kunstwerk als „ein durch und durch lebendiges Gebilde“, das „Sinn und Existenz“ gewinne „erst in dem Augenblick, in dem wir es erleben“. Nochmals sich an Goethe anlehnend (an die Äußerungen Goethes über Hemsterhuis), kommt endlich Waetzoldt zur Charakterisierung des Kunstwerks als eines Reiz-Systems: „Durch dieses künstlerische Reiz-System wird in uns das psycho-physische Erlebnis des eigentlichen Kunstgenusses ausgelöst, die Reproduktion der lebendigen, organischen Einheit angeregt, die vom Künstler produziert und in Farben und Linien als Symbol seiner Vorstellungen fixiert wurde“.4 Der Weg zu einer „biologischen Betrachtungsweise der Kunst“ ist also geöffnet. Es ist aber in dieser Zeit klar, dass das „konsequente Festhalten“ an jener Betrachtungsweise zu einer Reihe von Problemen führt. An erster Stelle kommt „die Frage nach dem Ursprung der künstlerischen Tätigkeit“. Das Echo der Fiedler’schen Ideen ist deutlich: In der Tat bezieht sich Waetzoldt vor allem auf den Fiedler’schen Vorwurf einer Auffassung der künstlerischen Tätigkeit als „sklavische Nachahmung“ oder als „willkürliche Empfindung“. Kunst sei vor allem „freie Gestaltung“.5 Kunst – Waetzoldt 2
3 4 5
Ebd., S. 8. Das genaue Goethe-Zitat wäre: „Diese hohen Kunstwerke sind zu gleich als die höchsten Naturwerke von Menschen nach wahren und natürlichen Gesetzen hervorgebracht worden. Alles Willkürliche, Eingebildete fällt zusam men, da ist die Notwendigkeit, da ist Gott“. (J. W. v. Goethe, Italienische Reise, in: Goethe’s Meisterwerke, Bd. 19, Berlin 1870, S. 83). W. Waetzoldt, Das Kunstwerk als Organismus, S. 8 f. Ebd., S. 14 f sowie S. 17 f. K. Fiedler, Schriften zur Kunst, 2. Bde., hrsg. v. G. Boehm, München 1971, hier Bd. 2, S. 31.
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gibt seiner Stellungnahme eine entschieden „biologische“ Nuance, während Fiedler einen mehr „physiologischen Standpunkt“ einnimmt – bilde einen integralen Teil der „eine[n] lebendige[n], organisches Leben zeugende[n] Natur, unter deren Produkten die künstlerischen eine Welt für sich ausmachen, die ihre eigenen Gesetze und ihre eigene Wahrheit in sich trägt“.6 Die Kunst besitze einen spezifisch biologischen Wert als wesentlichen Faktor in der Befriedigung des seelischen Trieb- und Gefühlslebens. So schreibt Waetzoldt: „Das Bedürfnis dazu ist aber überall vorhanden, und im unmittelbaren Interesse des Individuums, im weiteren Interesse der Erhaltung und Vervollkommnung der Gattung muss es durch angemessene Betätigung des seelischen Apparates befriedigt werden. In der weitesten Entfaltung des gesamten körperlichen und seelischen Lebens liegt ein hoher biologischer Wert, in seiner Unterdrückung eine direkte biologische Schädigung. Die Möglichkeit aber die höchsten seelischen Ansprüche, vor allem aber den psychischen Zeugungstrieb zu befriedigen, gewährt nur die Kunst durch die eigenartige Natur des Kunstwerkes als eines Reizsystemes, welches das im Leben entbehrte volle Trieb- und Gefühlsleben auslöst.“7 Die Kunst sei in der Lage, eine „Umwandlung der natürlichen Wirklichkeit“ zu leisten. Man redet „von einer ‚Stilisierung‘ der Natur“: in der Tat, habe ein Kunstwerk Stil, „wenn es ein möglichst vollkommener Organismus ist“.8 Ohne auf ein weiteres GoetheZitat zu verzichten, hebt Waetzoldt die Bedeutung einer Analyse der Stilbildung hervor: Der Stil eines Kunstwerks, „als Gesamtheit spezifischer formaler Elemente gefaßt“, sei als „Resultante zweier Komponenten“ anzusehen: einerseits des Stils „im engsten Sinne konform der Disposition des schaffenden Künstlers“ und andererseits der „in der Umwelt liegenden stilbildenden Elemente“.9 Es sei also leicht zu zeigen, „daß die Gesamtheit der Lebensbeziehungen, innerhalb deren ein Kunstwerk entsteht, auf dessen Stil einwirkt.“10 Die Folge daraus ist eindeutig: „eine Stilwandlung beim Eintreten von Umbildungsvorgängen in der Umwelt“. Waetzoldt bezieht sich wiederholt auf die Thesen Wilhelm Roux’ über den „Kampf der Teile 6 7 8 9 10
W. Waetzoldt, Das Kunstwerk als Organismus, S. 19; 24 f. Ebd., S. 22 f. Ebd., S. 25. Ebd., S. 27. Ebd., S. 30.
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im Organismus“11; er hebt dabei die Bedeutung der Optimierungsprozesse im Organismus hervor. In dieser Hinsicht sei es leicht im Kunstwerk die Resultante ähnlicher Prozesse nachzuweisen: „Statt von Elimination des Unwesentlichen spricht man in künstlerischen Dingen besser von einer Läuterung des Bildvorwurfs nach sachlichen und formalen Gesichtspunkten“.12
2. Im Falle der Malerei (und der Skulptur) um die Jahrhundertwende besitzt das Bild einen unzweifelhaft abstrakten Charakter. Aber eben in diesem abstrakten Charakter liegt die Kraft des Bildes, genauer: seine tiefe Eindrucksfähigkeit. In dieser Hinsicht scheinen die Äußerungen des Malers Rudolph Czapek in seinem Werk Grundprobleme der Malerei. Ein Buch für Künstler und Lernende aus dem Jahre 1908 sehr treffend zu sein: „Da wo das ungeübte oder unkünstlerisch sehende Auge nur Dinge, Personen usw. sieht, empfindet das Malerauge vor allem die harmonische Wirkung von Farben, Flecken oder Linien. Die Bedeutung dieses Komplexes als Naturszene an sich erscheint dann als ein sekundäres, d. h. die melodische Wirkung der elementaren Harmonien besteht auch abgesehen von ihrer Bildbedeutung, oder auch: die Harmonie entscheidet und nicht die Bildbedeutung.“13 Die Bildbedeutung spiele gegenüber dem abstrakten Charakter einer Komposition eine sekundäre Rolle: „Das Bild kann einem gesehenen Naturausschnitt ganz, teilweise oder gar nicht entsprechen, es kann ganz oder teilweise aus dem Gedächtnis gemalt oder gar völlig frei komponiert sein“.14 Die Komposition folge einer Reihe von festgelegten Regeln: „Bildkomposition wurde neuerdings mit Rechnen verglichen“.15 „Die Wurzel der Beziehungen der Malkunst zur praktischen Wirklichkeit liegt in der Bildharmonie. Sie ist imstande, im emp11 W. Roux, Der Kampf der Teile im Organismus: Ein Beitrag zur Vervollständigung der mechanischen Zweckmässigkeitslehre, Leipzig 1881. 12 W. Waetzoldt, Das Kunstwerk als Organismus, S. 34 f. 13 R. Czapek, Grundprobleme der Malerei: Ein Buch für Künstler und Lernende, Leipzig 1908, S. 6. 14 Ebd., S. 40. 15 Ebd., S. 41.
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fangenden Geist ein höchstes Interesse wachzurufen. Das Zusammensein der Kunstmittel gipfelt in der absoluten, notwendig so und nicht anders beschaffenen Einheit des Bildeindrucks. Diese kompositionelle Einheit des Bildes ist das, was im vornehmlichen Sinne des Wortes ‚dekorativ‘ zu nennen ist. Das will besagen, diese Einheit erst macht das Bild geeignet, einen idealen Flächenschmuck darzustellen. Die dekorative Wirkung bezeichnet gleichsam die Zusammenfassung aller zugrunde liegenden Wirkungen harmonisch vermittelter Gegensätze. Sie ist die vom Rhythmus geschaffene, durch harmonische Farbflächen und Linien melodisch gemachte Eigenart und Einheit des Bildes. Sie bedeutet für jedes Kunstwerk eine unumgängliche Forderung.“16 Die Malerei, genauer die Malkunst, zeige also eine Reihe von „rein formalen Eigentümlichkeiten“. Diese „rein formalen Eigentümlichkeiten besitzen die Bedeutung einer allgemeinen abstrakten Inhaltsbestimmung, innerhalb derer naturgemäß jede einzelne Bilderscheinung auftreten muß.“17
3. In demselben Jahre 1908 erscheint als Buch die Dissertation eines jungen Kunsthistorikers: Abstraktion und Einfühlung, von Wilhelm Worringer. In diesem von Georg Simmel bereits bei seinem Erscheinen hochgeschätzten Buch tritt das Problem der Beziehungen zwischen dem abstrahierenden Charakter der künstlerischen Einbildungskraft und den konkreten, lebendigen, gefühlserregenden Wirkungen dieser letzteren in den Vordergrund. Zunächst zwei längere Zitate: „Unsere Untersuchungen gehen von der Voraussetzung aus, daß das Kunstwerk als selbständiger Organismus gleichwertig neben der Natur und in seinem tiefsten innersten Wesen ohne Zusammenhang mit ihr steht, sofern man unter Natur die sichtbare Oberfläche der Dinge versteht. Das Naturschöne darf keineswegs als eine Bedingung des Kunstwerkes angesehen werden, wenn es auch im Laufe der Entwicklung zu einem wertvollen Faktor des
16 Ebd. S. 142. 17 Ebd., S. 141; Hervorhebung S. P.
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Kunstwerkes, ja teilweise geradezu mit ihm identisch geworden zu sein scheint. Diese Voraussetzung schließt die Folgerung in sich, daß die spezifischen Kunstgesetze mit der Ästhetik des Naturschönen prinzipiell nichts zu tun haben. Es handelt sich also z. B. nicht darum, die Bedingungen zu analysieren, unter denen eine Landschaft schön erscheint, sondern um eine Analyse der Bedingungen, unter denen die Darstellung dieser Landschaft zum Kunstwerk wird. Die moderne Ästhetik, die den entscheidenden Schritt vom ästhetischen Objektivismus zum ästhetischen Subjektivismus gemacht hat […], gipfelt in einer Theorie, die man mit einem allgemeinen und weiten Namen als Einfühlungslehre bezeichnen kann.“18 Diese Ästhetik der Einfühlung gilt in jeder Hinsicht als eine einseitige. Sie brauche einen „Gegenpol“: „Als diesen Gegenpol betrachten wir eine Ästhetik, die anstatt vom Einfühlungsdrange des Menschen auszugehen, vom Abstraktionsdrange des Menschen ausgeht. Wie der Einfühlungsdrang als Voraussetzung des ästhetischen Erlebens seine Befriedigung in der Schönheit des Organischen findet, so findet der Abstraktionsdrang seine Schönheit im lebensverneinenden Anorganischen, im Kristallinischen oder allgemein gesprochen in aller abstrakten Gesetzmäßigkeit und Notwendigkeit.“19 Worringer hebt damit die Unentbehrlichkeit der Abstraktion hervor. Diese schließt jedoch keine Kluft zwischen dem Denken und der menschlichen Organisation ein: „Wir können […] nicht annehmen, daß der Mensch diese Gesetze, nämlich die abstrakt gesetzmäßigen, der leblosen Materie abgelauscht hat, es ist vielmehr eine Denknotwendigkeit für uns, anzunehmen, daß diese Gesetze implizite auch in der eigenen menschlichen Organisation enthalten sind“.20 In der Tat besteht der echte Kern der künstlerischen Tätigkeit für Worringer in einer durchgehenden Verbindung der beiden Pole: „Dieser Dualismus des ästhetischen Erlebens, wie ihn die genannten beiden Pole kennzeichnen, ist […] kein endgültiger. Jene beiden Pole sind nur Gradabstufungen eines gemeinsamen Bedürfnisses,
18 W. Worringer, Abstraktion und Einfühlung. Ein Beitrag zur Stilpsychologie (1907), München 1948, S. 15 f. 19 Ebd., S. 16. 20 Ebd., S. 36.
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das sich uns als das tiefste und letzte Wesen alles ästhetischen Erlebens offenbart: das ist das Bedürfnis nach Selbstentäußerung“.21 Diese Selbstentäußerung bilde gewissermaßen das Innere, den Kern der künstlerischen Tätigkeit. Aber die beiden Weisen, wie diese Selbstentäußerung wirkt, stimmen nach Worringer nicht überein: „Im Abstraktionsdrang ist die Intensität des Selbstentäußerungstriebes eine ungleich größere und konsequentere. Er charakterisiert sich hier nicht wie beim Einfühlungsbedürfnis als ein Drang, sich vom individuellen Sein zu entäußern, sondern als ein Drang, in der Betrachtung eines Notwendigen und Unverrückbaren erlöst zu werden vom Zufälligen des Menschseins überhaupt, von der scheinbaren Willkür der allgemeinen organischen Existenz.“22 Die Bedeutung der Abstraktion bleibt also unangetastet, die Individualität des Künstlers wird gleichzeitig als entscheidend anerkannt, wenn auch immer im Rahmen eines polaren Gegenspiels. Als Spielraum dieses Wechselverhältnisses gilt jedenfalls das Leben, das Leben der menschlichen Organisation. Worringer behauptet: „Es steht also der Selbstentäußerungstrieb, der auf die allgemeine organische Vitalität ausgeweitet ist, als Abstraktionsdrang dem nur auf die individuelle Existenz gerichteten Selbstentäußerungsdrang, wie er sich im Einfühlungsbedürfnis offenbart, als polarer Gegensatz gegenüber“.23 Gegenüber der „starren Gesetzmäßigkeit des Abstrakten“ – eine Gesetzmäßigkeit, als deren Muster übrigens die Gesetzmäßigkeit des „Reichs der Wissenschaften“ gilt – steht also „die milde Harmonie des organischen Seins“.24
4. Worringers Charakterisierung – oder Idealisierung – der künstlerischen Tätigkeit darf in vielerlei Hinsicht als Folge einer dominanten Entwicklungslinie innerhalb der deutschen ästhetischen Debatte des letzten Drittels des 19. Jahrhunderts betrachtet werden. Ich beziehe mich insbesondere auf die Bedeutung, die psychologischen (und auch psychophysiologischen) Analysen zugeschrieben wird, 21 22 23 24
Ebd., S. 37. Ebd. Ebd. Ebd., S. 146.
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und zugleich auf eine Reihe von unterschiedlichen Versuchen einer Naturalisierung der Ästhetik. Beginnend mit Fechner, wären hier mindestens die Namen von R. Vischer, K. Fiedler, A. Hildebrand und auch von T. Lipps zu erwähnen. Die Auseinandersetzung mit den Standpunkten und Ergebnissen der wissenschaftlichen Erforschung der Natur (in erster Linie der Wissenschaften vom Leben) stellt sich als eine unentbehrliche Aufgabe dar. Auf dieser Grundlage tritt das Verhältnis von Kunst und Natur in den Vordergrund. Als erstes Beispiel dafür wähle ich die Auseinandersetzung R. Vischers mit der Frage der „Stylisierung“ und seine Hervorhebung der „unbewußten Kraft der organischen Gestalt“.25 An dieser Stelle ist es unumgänglich, mich auf das lehrreiche Buch von Annika Waenerberg (Urpflanze und Ornament) zu beziehen, das schon vor zwanzig Jahren eine ausführliche und bahnbrechende Darstellung der Frage geliefert hatte.26 Auch die Stellungnahme Rudolf Steiners erweist sich als exemplarisch und folgenreich, vor allem in dessen entschiedener Berufung auf Goethe als „Vater einer neuen Ästhetik“ – so der Titel seiner 1889 und erneut 1909 veröffentlichten Schrift.27 Man sollte den Fehlschluss vermeiden, diese Berufung als eine sonderbare Erfindung des künftigen Anthroposophen zu betrachten. In der Tat bringt Steiner eine verbreitete Neigung zu einem „Zurück zu Goethe“ auch auf der Ebene der Naturwissenschaften (genauer: der Lebenswissenschaften) zum Ausdruck. Der Grund dafür liegt in der wachsenden Überzeugung nicht nur von der Triftigkeit, sondern auch der wirkungsvollen Anwendbarkeit der Ideen Goethes auf die Erforschung des lebenden Organismus. Die Anschauung Goethes leitet ins „Innere“ der Lebensprozesse, und gleichzeitig wird dem Menschen die Möglichkeit gesichert, sich in diesem „Inneren selbst anzuerkennen. Die Folgen für das Verhältnis von Kunst und Natur sind offensichtlich. Es lohnt sich trotzdem, einige Stellen der bereits erwähnten, zuerst 1889 erschienen und danach vielfach nachgedruckten Schrift von Steiner mit dem Titel Goethe als Vater einer neuen Ästhetik anzuführen: 25 R. Vischer, Über das optische Formgefühl. Ein Beitrag zur Ästhetik, Leipzig 1873, S. 43-44. 26 A. Waenerberg, Urpflanze und Ornament. Pflanzenmorphologische Anregungen in der Kunsttheorie und Kunst von Goethe bis zum Jugendstil, Commentationes Humanarum Litterarum, 98, Helsinki 1992. 27 R. Steiner, „Goethe als Vater einer neuen Ästhetik“, in: Deutsche Worte 9(4)/ 1889 (auch in: Rudolf Steiner Gesamtausgabe, Bd. 30, Basel 1983, S. 23-46).
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„Goethe flieht die Wirklichkeit nicht, um sich eine abstrakte Gedankenwelt zu schaffen, die nichts mit jener gemein hat; nein, er vertieft sich in dieselbe, um in ihrem ewigen Wandel, in ihrem Werden und Bewegen, ihre unwandelbaren Gesetze zu finden, er stellt sich dem Individuum gegenüber, um in ihm das Urbild zu erschauen. So entstand in seinem Geiste die Urpflanze, so das Urtier, die nichts anderes sind als die Ideen des Tieres und der Pflanze. Das sind keine leeren Allgemeinbegriffe, die einer grauen Theorie angehören, das sind die wesentlichen Grundlagen der Organismen mit einem reichen, konkreten Inhalt. […] Die Goetheschen Urbilder sind […] nicht leere Schemen, sondern sie sind die treibenden Kräfte hinter den Erscheinungen. Das ist die „höhere Natur“ in der Natur, der sich Goethe bemächtigen will. Wir sehen daraus, daß in keinem Falle die Wirklichkeit, wie sie vor unseren Sinnen ausgebreitet daliegt, etwas ist, bei dem der auf höherer Kulturstufe angelangte Mensch stehenbleiben kann. Nur indem der Menschengeist diese Wirklichkeit überschreitet, die Schale zerbricht und zum Kerne vordringt, wird ihm offenbar, was diese Welt im Innersten zusammenhält. Nimmermehr können wir am einzelnen Naturgeschehen, nur am Naturgesetze, nimmermehr am einzelnen Individuum, nur an der Allgemeinheit Befriedigung finden. Bei Goethe kommt diese Tatsache in der denkbar vollkommensten Form vor. Was auch bei ihm stehenbleibt, ist die Tatsache, daß für den modernen Geist die Wirklichkeit, das einzelne Individuum keine Befriedigung bietet, weil wir nicht schon in ihm, sondern erst, wenn wir über dasselbe hinausgehen, das finden, in dem wir das Höchste erkennen, das wir als Göttliches verehren, das wir in der Wissenschaft als Idee ansprechen. Während die bloße Erfahrung zur Versöhnung der Gegensätze nicht kommen kann, weil sie wohl die Wirklichkeit, aber noch nicht die Idee hat, kann die Wissenschaft zu dieser Aussöhnung nicht kommen, weil sie wohl die Idee, aber die Wirklichkeit nicht mehr hat. Zwischen beiden bedarf der Mensch eines neuen Reiches; eines Reiches, in dem das Einzelne schon und nicht erst das Ganze die Idee darstellt, eines Reiches, in dem das Individuum schon so auftritt, daß ihm der Charakter der Allgemeinheit und Notwendigkeit innewohnt. Eine solche Welt ist aber in der Wirklichkeit nicht vorhanden, eine solche Welt muß sich der Mensch erst selbst erschaffen, und diese Welt ist die Welt der Kunst: ein notwendiges drittes Reich neben dem der Sinne und dem der Vernunft. Und die Kunst als dieses dritte Reich zu begreifen, hat die Ästhetik als ihre Aufgabe anzusehen. […] https://doi.org/10.5771/9783495817476 .
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Der Künstler muß […] auf das zurückgehen, was ihm als die Tendenz der Natur erscheint. Und das meint Goethe, wenn er sein Schaffen mit den Worten ausspricht: ‚Ich raste nicht, bis ich einen prägnanten Punkt finde, von dem sich vieles ableiten läßt‘. Beim Künstler muß das ganze Äußere seines Werkes das ganze Innere zum Ausdruck bringen; beim Naturprodukt bleibt jenes hinter diesem zurück, und der forschende Menschengeist muß es erst erkennen. So sind die Gesetze, nach denen der Künstler verfährt, nichts anderes als die ewigen Gesetze der Natur, aber rein, unbeeinflußt von jeder Hemmung. Nicht was ist, liegt also den Schöpfungen der Kunst zugrunde, sondern was sein könnte, nicht das Wirkliche, sondern das Mögliche. Der Künstler schafft nach denselben Prinzipien, nach denen die Natur schafft, aber er behandelt nach diesen Prinzipien die Individuen, während, um mit einem Goetheschen Worte zu reden, die Natur sich nichts aus den Individuen macht. ‚Sie baut immer und zerstört immer‘, weil sie nicht mit dem Einzelnen, sondern mit dem Ganzen das Vollkommene erreichen will. Der Inhalt eines Kunstwerkes ist irgendein sinnenfällig wirklicher – dies ist das Was; in der Gestalt, die ihm der Künstler gibt, geht sein Bestreben dahin, die Natur in ihren eigenen Tendenzen zu übertreffen, das, was mit ihren Mitteln und Gesetzen möglich ist, in höherem Maße zu erreichen, als sie es selbst imstande ist.“28 Eine Stelle aus den Gesprächen mit Eckermann gilt für Steiner als eine Art Zusammenfassung der Anschauung Goethes. Goethe hatte sich geäußert: „Der Künstler muß freilich die Natur im einzelnen treu und fromm nachbilden […;] allein in den höheren Regionen des künstlerischen Verfahrens, wodurch ein Bild zum eigentlichen Bild wird, hat er ein freieres Spiel, und er darf hier sogar zu Fiktionen schreiten“.29 Fiktionen, d. h. in gewisser Hinsicht auch Abstraktionen.
5. Wenn auch zuerst auf indirekte Weise – durch mündliche und schriftliche Referate – erreichten diese Äußerungen Steiners auch den jungen Paul Klee. Nach einem Vortrag Steiners in München 28 Ebd., S. 23-46. 29 J. P. Eckermann, Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens 1823–1832, Bd. 1, 1823–1827, Leipzig 1836, S. 108 f.
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schrieb er 1918 an seine Frau: „Schön wars, nur etwas zuviel Steiner“.30 Sachlich zeigte sich Klee gründlich einverstanden mit der Aufgabe einer „Nachbildung des natürlichen Prozesses“. Schon 1914 hatte Klee in seinem Tagebuch notiert: „Formbildung ist energisch abgeschwächt gegenüber Formbestimmung. Letzte Folge beider Arten von Formung ist die Form. Von den Wegen zum Ziel. Von der Handlung zum Perfektum. Vom eigentlichen Leben zum Zuständlichen. Im Anfang die männliche Specialität des energischen Anstosses. Dann das fleischliche Wachsen des Eies. Oder: zuerst der leuchtende Blitz. dann die regnende Wolke. Wo ist der Geist am reinsten? Im Anfang.“31 Im Tagebuch 1919 wird der Vorsatz deutlich: „Mein ich als or ganisch-dramatisches Ensemble. Betrachtung des Begriffs Orga nismus.“32 Aber erst während der Weimarer Zeit kam es zur Verwirklichung dieses Vorsatzes: „Die Art des Kunstbekenntnisses von gestern und des damit zusammenhängenden Studiums der Natur bestand in einer, man kann wohl sagen peinlich differenzierten Erforschung der Erscheinung. Ich und Du, der Künstler und sein Gegenstand, suchten Beziehungen auf dem optisch-physischen Weg durch die Luftschicht, welche zwischen Ich und Du liegt […]. Es entspricht heute dieser eine Weg nicht mehr unserem ganzen Bedarf, wie er auch ehedem, vorgestern, nicht einziger Bedarf war. Der heutige Künstler ist mehr als verfeinerte Kamera, er ist komplizierter, reicher und räumlicher. Er ist Geschöpf auf der Erde und Geschöpf innerhalb des Ganzen, das heißt Geschöpf auf einem Stern unter Sternen. Dies kommt nun schrittweise so zum Ausdruck, daß in der Auffassung des natürlichen Gegenstandes eine Totalisierung eintritt […]. Der Gegenstand erweitert sich über seine Erscheinung hinaus durch unser Wissen um sein Inneres. Durch das Wissen, daß das Ding mehr ist, als seine Außenseite zu erkennen gibt. Der Mensch seziert das Ding und veranschaulicht sein Inneres an Schnittflächen,
30 C. Lichtenstern, Die Wirkungsgeschichte der Metamorphosenlehre Goethes: Von Philipp Otto Runge bis Joseph Beuys, Metamorphose in der Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts, Bd. 1, Weinheim 1990, S. 84. 31 P. Klee, Tagebücher 1898–1918, textkritische Neuedition, hrsg. v. d. Paul-KleeStiftung, Stuttgart 1988, S. 363 f. 32 Ebd., S. 493.
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wobei sich der Charakter des Gegenstandes ordnet nach Zahl und Art der notwendigen Schnitte.“33 In das Innere der Natur, in das Innere des Lebens vorgedrungen, komme der Künstler zu einem neuen, radikalen Standpunkt. Eine zentrale Rolle spielt dabei das Muster eines sich gestaltenden Organismus. Der Biologe Wilhelm Troll verwies in einer längeren Einleitung zu einer viel gelesenen Auswahl aus den morphologischen Schriften Goethes aus dem Jahre 1926 auf die Idee als das treibende Innere, „nicht etwa Abstrakte, sondern Urlebendige, von innen heraus Bildende“.34 In diesem Sinne heißt es auch bei Wassily Kandinsky im selben Jahr: „Die Kompositionsgesetze der Natur eröffnen dem Künstler nicht die Möglichkeit äußerlicher Nachahmung […], sondern die Möglichkeit, diesen Gesetzen diejenigen der Kunst entgegenzustellen […]. Die auf diese Weise abgesonderten und selbständig lebenden Gesetze der beiden großen Reiche – der Kunst und der Natur – werden schließlich zum Verständnis des Gesamtgesetzes der Weltkomposition führen und die selbständige Betätigung der beiden an einer höheren synthetischer Ordnung – Äußeres + Inneres – klarlegen“.35 Auf den Punkt brachte Klee diesen Gedanken bereits 1924: „Die Natur ist schöpferisch und wir sind es. Sie ist es im Kleinen und Kleinsten, und da es hier im Kleinen leichter mit einem kurzen, intensiven Blick zu erkennen ist, haben wir auch im Kleinen begonnen, es der schöpferischen Natur gleichzutun, und gelangten unter ihrer Führung leicht dahin, uns schöpferisch zu erkennen.“36
33 P. Klee, Form- und Gestaltungslehre, Bd. 1, Das bildnerische Denken, hrsg. und bearb. v. J. Spiller, Basel 1990, S. 63-66. 34 W. Troll (Hrsg.), Goethes morphologische Schriften, Jena o. J. [1926], S. 93. 35 W. Kandinsky, Punkt und Linie zu Fläche. Beitrag zur Analyse der malerischen Elemente, mit einer Einleitung von M. Bill, 10. Aufl., Bern 1986, S. 116 f. 36 P. Klee, Form- und Gestaltungslehre, Bd. 2: Unendliche Naturgeschichte, hrsg. und bearb. v. J. Spiller, Basel 1990, S. 259.
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Kristian Köchy
Organismen und Maschinen Das historische Fallbeispiel der Debatte von Plessner, Driesch und Köhler
1. Sind Organismen Maschinen? Durch die „Synthetische Biologie“ wurde die alte Debatte um den Maschine-Organismus-Vergleich neu belebt. Heute geht es weniger um theoretische Fragen des Modell- oder Konzepttransfers als vielmehr um ein technisches Fertigungsprogramm nach dem Motto:1 „If we view life as a machine, then we can also make it.“ Ein solches Programm trifft insbesondere auf ethisch begründete Einwände. Unthematisiert bleibt hingegen weitgehend die Frage, ob die vorliegenden Verfahren der Technik, das zugrunde liegende Designprinzip oder die zur Fertigung verwendeten Materialien und Strukturen den Maschinenvergleich von der Sache her rechtfertigen.2 Dabei hängen diese Aspekte eng zusammen: Die Klärung der Tauglichkeit des Maschinenvergleichs in praktisch-technischer oder theoretischer Hinsicht respektive die Aufklärung über die Bedingungen und Vorannahmen für diesen Vergleich haben auch eminent praktisch-moralische Bedeutung.3 1 2
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Rathenau Instituut, Constructing Life. The World of Synthetic Biology, The Hague 2007, S. 2. Vgl. dazu K. Köchy, „Konstruktion von Leben? Herstellungsideale und Mach barkeitsgrenzen in der Synthetischen Biologie“, in: V. Gerhardt, K. Lucas, G. Stock (Hrsg.), Evolution, Berlin 2011, S. 233-242; K. Köchy, „Sind die Überle gungen von Hans Jonas zum Sonderstatus biologischer Technik angesichts der Entwicklungen in der Synthetischen Biologie noch haltbar?“, in: M. Gadebusch Bondio, H. Siebenpfeiffer (Hrsg.), Konzepte des Humanen, Freiburg, München 2012, S. 81-102; K. Köchy, „Zum Verhältnis von Natur und Technik in der Syn thetischen Biologie“, in: J. Boldt, O. Müller, G. Maio (Hrsg.), Leben schaffen?, Paderborn 2012, S. 155-176; K. Köchy, „Philosophische Implikationen der Syn thetischen Biologie“, in: K. Köchy, A. Hümpel (Hrsg.), Synthetische Biologie. Entwicklung einer neuen Ingenieursbiologie?, Dornburg 2012, S. 137-161; K. Köchy, „Lebensbegriffe in den Handlungskontexten der Synthetischen Biolo gie“, in: Jahrbuch für Wissenschaft und Ethik 18/2013, S. 133-172. Zur moralischen Bedeutung der Maschinenmetaphorik in der aktuellen Tier ethik vgl. etwa B. Luke („Selbstzähmung oder Verwilderung? Für eine nicht-
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Im Folgenden sollen diese Rahmenvorgaben untersucht werden. Dazu verlassen wir die aktuelle Streitzone und begeben uns an eine historische Schlüsselstelle zurück, an der die Grundlagen für die heutigen Auseinandersetzungen gelegt wurden. Der historische Rückblick ist erstens dadurch gerechtfertigt, dass die aktuellen Maschinenvergleiche in den Lebenswissenschaften durchaus als Anachronismus erscheinen können. Berücksichtigt man verwandte Auseinandersetzungen in der Entwicklungsbiologie des frühen 20. Jahrhunderts, dann ist die derzeitige Inflation von Maschinenanalogien quasi ein konzeptioneller Rückschritt. Schon die wissenschaftsphilosophische und -historische Untersuchung der Organismusmetaphern durch Donna Haraway in den 1970er Jahren hat gezeigt, dass man sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit guten Gründen von simplen Maschinenmodellen für Organismen verabschiedete, um sich von einem festgefahrenen weltanschaulichen Streit zwischen Mechanisten und Vitalisten zu lösen.4 Der historische Rückblick wird zweitens notwendig, weil es für die Bewertung wesentlich ist, welcher Typ von Maschine oder welche Vorstellung von Maschinen für den Vergleich herangezogen werden.5 Im Verlaufe der Geschichte haben diverse Apparate für technomorphe Lebenskonzepte als Leitbild fungiert. Verändert man aber ein Relatum der Analogiebeziehung, dann hat dies notwendig auch Konsequenzen für das andere. Es ist deshalb relevant, ob man bei der Rede von „maschinenhaftem“ Leben an eine Theaterapparatur, eine hydraulische Konstruktion (nach Art von Springbrunnen), eine Uhr, eine Dampfmaschine, eine Orgel, einen Computer oder
4
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patriarchalische Metaethik der Tierbefreiung“, in: F. Schmitz (Hrsg.), Tierethik, Frankfurt a. M. 2014, S. 407-444, hier S. 433) nach dem die philosophische Theo rie von Tieren als Automaten das psychologische Bedürfnis von Tierexperimen tatoren verbrämt, Tieren als Opfer ihrer Experimente ein Bewusstsein abzuspre chen: „Der Gebrauch eines von intentionalen Begriffen gereinigten Vokabulars hat den gleichen schuldmindernden Effekt wie das explizite Festhalten an der Automatentheorie der Tiere […].“ D. J. Haraway, Crystals, Fabrics, and Fields. Metaphors of Organicism in Twen tieth-Century Developmental Biology, New Haven 1976, S. 6 f.: „Despite the fact that each camp rested secure in the belief that reason and experiment resided with it alone, no resolution could or did occur until the machine paradigm com mon to mechanist and vitalist alike was fundamentally altered […]. [There was, K. K.] […] a process of paradigm change in metaphor from machine to organic system […].“ Vgl. etwa G. Canguilhem, „Maschine und Organismus“ (1952), in: ders., Die Er kenntnis des Lebens, Berlin 2009, S. 183-232; A. Sutter, Göttliche Maschinen. Die Automaten für Lebendiges, Frankfurt a. M. 1988.
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einen Nanoroboter denkt. Den für die aktuellen Versuche wesentlichen Konzeptwechsel markiert der Übergang von KraftwandlerMaschinen (Typ Dampfmaschine) zu Regelungs- oder Informationsmaschinen (Typ Computer). Dieser vollzog sich bei der Ausbildung der Kybernetik.6 Im Vorfeld dieses Wandels spielt der von Haraway genannte Streit. In diesem ging es insbesondere um das Vorhandensein oder Nichtvorhandensein von plastischen Eigenschaften. Plastizität galt als differentia specifica von Maschine und Organismus. So betont etwa Jakob von Uexküll in seiner Theoreti schen Biologie:7 „Die Fähigkeit, sich äußeren Umständen anzuschmiegen, besitzen nur solche Maschinen, deren innere Gefüge frei beweglich sind. Plastische Leistungen können nur von plastischen Maschinen ausgeführt werden. Plastische Maschinen, die automatisch arbeiten, kennen wir nicht, weil jede echte Mechanik zwangsläufig ist. Wo
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Vgl. etwa W. Wieser, Organismen, Strukturen, Maschinen. Zu einer Lehre vom Organismus, Frankfurt a. M. 1959, S. 29: „Wenn man also heutzutage über Ma schinen im Zusammenhang von ‚Maschine und Leben‘ spricht, dann muß man sich darüber im klaren sein, daß moderne Maschinen Dinge vollbringen, die von den Leistungen der bisher üblichen Maschinen nicht bloß quantitativ, sondern auch qualitativ verschieden sind. Es ist eine Tatsache, […], daß die Begriffe Su chen, Zielbewußtsein, Anpassung, Assoziation, Wahl nicht diametral verschie den sind von den Begriffen, die im Reich der Technik verwendet werden […].“; Vgl. auch G. Ewald, Der Mensch als Geschöpf und kybernetische Maschine, Wuppertal 1971. J. v. Uexküll, Theoretische Biologie (1928), Frankfurt a. M. 1973, S. 168 f. Uexkülls Reflexionen zum Unterschied von Maschine und Organismus sind komplex und unterliegen im Laufe seiner wissenschaftlichen Entwicklung von der Physiolo gie zur ‚Biologie‘ der Umweltforschung einem Wandel. Mit Blick auf die Plasti zität ist u. a. relevant, dass für Uexküll in der Zeitgestalt biologischer Bildungen Betriebsperioden (‚mechanische Perioden‘) und Bildungsperioden (‚technische Perioden‘) zu unterscheiden sind (J. v. Uexküll, „Technische und mechanische Biologie“, in: Ergebnisse der Physiologie 20/1922, S. 129-162, hier S. 129). Die in diesem Kontext angestellten Reflexionen zum Unterschied zwischen der pa radigmatischen Maschine Uhr und einem Lebewesen (ebd., S. 136 ff.) beinhalten das Postulat der unmöglichen kausalen Ableitbarkeit des Plans von Maschinen, Maschinen bauenden Maschinen und Lebewesen aus dem Mechanismus, die Betonung der übermaschinellen Qualität von Neubildung, Umbildung oder Zu rückbildung (ebd., S. 137), die Hervorhebung der Unterschiede im Ablaufgesche hen der Bildung von Maschinen und Lebewesen (zentripetal versus zentrifugal, ebd., S. 138) sowie den Hinweis auf die unterschiedliche Qualität der elemen taren materiellen Bausteine solcher Bildungen (ebd.). Vgl. auch J. v. Uexküll, „Ist das Tier eine Maschine?“, in: Bausteine für Leben und Weltanschauung von Denkern aller Zeiten 1/1926, S. 177-182.
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eine Umstellung der Teile in einer Maschine stattfindet, ist immer ein Lebewesen vorhanden, das die Umstellung vornimmt.“ Verwandte Überlegungen finden sich etwa auch in der philosophischen Anthropologie Max Schelers8 oder in der organismischen Systemtheorie Ludwig v. Bertalanffys9 und schließlich bei Helmuth Plessner.10 Da Plastizität vermittelt durch kybernetische Regelungsprozesse in der Folge auch für Maschinen behauptet wurde, hat sich die Frage nach der Differenz von selbst erzeugten (gewachsenen) plastischen Systemen qua Lebewesen und fremd erzeugten (gemachten) plastischen Systemen qua Maschinen neu gestellt. Aus diesem Grund ist diese historische Phase der Debatte besonders aussagekräftig.
2. Die historische Konstellation: Plessner, Driesch und Köhler Wir betrachten also einen speziellen Disput in den 1920er und 1930er Jahren. Alle Beteiligten des historischen Fallbeispiels beziehen sich in ihren Argumenten auf die Plastizität, Restitution oder Regulationsfähigkeit von Systemen. Ihre Bewertung des Maschinenvergleichs fällt jedoch je unterschiedlich aus, da sie Regulationsfähigkeit entweder auch im Anorganischen erkennen (so Köhler) oder aber für Lebewesen reservieren (so Driesch), bzw. bei der Konkretisierung dessen, was organische Selbstregulation meint, zu einem eigenständigen Ansatz gelangen (so Plessner). Hierbei spielen verschiedene Konzepte von Organisation eine Rolle, die unter den Begriffen „Wirkeinheit“, „Gestalt“ und „Ganzheit“ gefasst werden. Das im Fokus stehende Fallbeispiel führt uns (entsprechend der Studie von Donna Haraway) mitten in die zentrale Auseinander8 M. Scheler, Vom Umsturz der Werte (1915), Bern 51972, S. 137 ff. 9 L. v. Bertalanffy, Das Gefüge des Lebens, Leipzig 1937, S. 11 ff.: „Als Erklärung für diese Geordnetheit im Lebensgeschehen besaß man nun eigentlich nur eine einzige Vorstellung: indem man nämlich die Funktion des Organismus nach Art der Maschine beurteilte. […] Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß feste, maschinenartige Einrichtungen im Organismus vielfach gegeben sind. […] Wir können jedoch diese ‚maschinellen‘ Strukturen nicht mehr als grundlegend für das Lebendige ansehen, seit die Forschung Regulationen […] in ungeahntem Ausmaße nachgewiesen hat.“ 10 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die phi losophische Anthropologie (1928), in: G. Dux u. a. (Hrsg.), Gesammelte Schrif ten, Bd. 4, Darmstadt 2003, S. 167.
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setzung um den Status von lebenden Systemen zu Beginn des 20. Jahrhunderts hinein. Hier herrscht ein programmatischer Streit innerhalb der biologischen Entwicklungstheorien, bei dem sich mechanistische und vitalistische Erklärungsansätze gegenüberstehen. Bezeichnenderweise ist die betrachtete Auseinandersetzung um den Maschinenvergleich jedoch nicht nur durch die Entwicklungsbiologie geprägt. Die empirischen Grundlagen für die im Folgenden zu skizzierenden Positionen entstammen vielmehr mehreren Forschungsfeldern. Mit Wolfgang Köhlers Bezugnahme auf die Gestalt sind etwa Grundlagendebatten der biologischen Verhaltensforschung tangiert, bei der neben tierpsychologischen Postulaten auch extrem reduktionistische Konzepte, wie das eines rein maschinenhaften Ablaufgeschehens, diskutiert wurden, so paradigmatisch von Jacques Loeb.11 Mit Loeb ist dann auch einer der Väter des Gedankens einer Synthetischen Biologie genannt.12 Daneben geht die 11 J. Loeb, Vorlesungen über die Dynamik der Lebenserscheinungen, Leipzig 1906. Dass diese Programmatik offen mit dem Maschinenvergleich operiert und ihn auch mit einem technischen Programm verbindet, wird bereits in den einlei tenden Worten deutlich (ebd., S. 1): „Wir sehen in den folgenden Vorlesungen die Lebewesen als chemische Maschinen an, welche wesentlich aus kolloidalem Material bestehen, und welche die Eigentümlichkeit besitzen, sich automatisch zu entwickeln, zu erhalten und fortzupflanzen. Dadurch, daß die Maschinen, welche unsere Technik bis jetzt hervorgebracht hat, nicht imstande sind, diese letzteren Leistungen auszuführen, besteht einstweilen ein prinzipieller Unter schied zwischen lebenden Maschinen und den Maschinen der Technik. Es spricht aber nichts gegen die Möglichkeit, daß den technischen oder experimentellen Naturwissenschaften auch die künstliche Herstellung lebender Maschinen ge lingen wird.“ Damit vertritt er, vergleicht man seine Äußerungen etwa mit dem eindeutigen Votum des Vaters der Cellularpathologie, Rudolf Virchow, ein neues Paradigma der Forschung. Virchow hatte 1858 in seinem Beitrag „Über die mechanische Auffassung des Lebens“ (in: ders., Vier Reden über Leben und Kranksein, Berlin 1862, S. 1-33, hier S. 28) betont: „Vergeblich suchen die Neueren nach der Möglichkeit, Zellen zu machen.“ (vgl. K. Köchy, „Der Mensch im Kontext von Geburt und Tod. Die Medizinkonzepte von Carl Gustav Carus und Rudolf Virchow“, in: D. Stederoth, T. Hoyer (Hrsg.), Der Mensch in der Medizin, Freiburg, München 2011, S. 137-158, hier S. 152). 12 Vgl. zum Programm von Loeb u. a. P. J. Pauly, Controlling Life. Jacques Loeb and the Engineering Ideal in Biology, Oxford 1987; H. Fangerau, Spinning the scientific web. Jacques Loeb (1859–1924) und sein Programm einer internationa len biomedizinischen Grundlagenforschung, Berlin 2010; H. Fangerau, „Zur Ge schichte der Synthetischen Biologie“, in: K. Köchy, A. Hümpel (Hrsg.), Synthe tische Biologie. Entwicklung einer neuen Ingenieursbiologie?, Dornburg 2012, S. 61-84. Wie H. Plessner (Elemente der Metaphysik. Eine Vorlesung aus dem Wintersemester 1931/32, Berlin 2002, S. 92) die mechanistische Richtung cha rakterisiert: „Man hofft sogar auf die Möglichkeit der mechanischen Erzeugung
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Debatte weit über den innerbiologischen Fragehorizont hinaus und hat vor allem bei Helmuth Plessner bedeutende anthropologische Implikationen. Der eigentliche Streit, der den Gegenstand unserer Analyse bildet, findet zwischen Hans Driesch und Wolfgang Köhler statt. Wir betrachten ihn jedoch aus der Perspektive seiner Rezeption durch Helmuth Plessner. Bereits die damit tangierte Personenkonstellation macht das Fallbeispiel ergiebig. Sie weist auf die impliziten Querbezüge des Maschine-Organismus-Vergleichs hin. Ein kurzer Blick auf die Opponenten zeigt dieses: Die Vorlage liefert Wolfgang Köhler. Er ist ausgebildeter Philosoph und Naturwissenschaftler, gehört zum Kreis der Gestaltpsychologen um Carl Stumpf und sein Name ist untrennbar verbunden mit den Untersuchungen zum Verhalten von Menschenaffen, die die gesamte Anthropologie der Zeit beschäftigten.13 Seinen Vorschlag zur Deutung des Organismus-Maschine-Vergleichs entwickelt er aus der – von wahrnehmungspsychologischen Befunden abgeleiteten – Gestaltkonzeption in dem Buch Die physischen Gestalten in Ruhe und im stationären Zustand (1920). Diese „naturphilosophische Untersuchung“ wendet den wahrnehmungspsychologischen Gestaltbegriff auf die Konstitution der natürlichen Dingwelt an. Konzeptionell bedeutsam ist ebenfalls der Beitrag Gestaltprobleme und Anfänge einer Gestalttheorie (1925).14 Die Replik auf diese Überlegungen erfolgt ebenfalls auf naturphilosophischem Boden. Sie wird formuliert von Hans Driesch, Biologe und Philosoph, maßgeblicher Vertreter des Neovitalismus. Der Maschine-Organismus-Vergleich wird hier vor dem Hintergrund des Ganzheitsbegriffs beantwortet, wie er im biophilosophischen Hauptwerk Philosophie des Organischen (1928)15 und der Spezialdes Lebens, ein Gedanke, der sicher im Laufe der kommenden wissenschaftlichen Entwicklung noch bedeutend zunimmt.“ 13 So schreibt W. Köhler im Vorwort von Die physischen Gestalten in Ruhe und im stationären Zustand. Eine naturphilosophische Untersuchung, Braunschweig 1920: „Den ersten Anlaß zu dieser Untersuchung gaben Beobachtungen über das Verhalten von Wirbeltieren gegenüber ihrer Umgebung […]“. Vgl. auch W. Köhler, Intelligenzprüfungen an Menschenaffen, unveränderter Nachdruck der zweiten durchgesehenen Auflage der ‚Intelligenzprüfungen an Anthropoiden I‘ 1917/1921, Göttingen, Heidelberg 1963. 14 W. Köhler, „Gestaltprobleme und Anfänge einer Gestalttheorie“, in: P. Rona, K. Spiro (Hrsg.), Jahresbericht über die gesamte Physiologie und experimentelle Pharmakologie, Bd. 3, 1. Hälfte, München 1925, S. 512-539. 15 H. Driesch, Philosophie des Organischen, Leipzig 41928.
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untersuchung Die Maschine und der Organismus (1935)16 formuliert wird. Eine unmittelbare Antwort auf Köhlers Überlegungen erfolgt im Zeitschriftenbeitrag „,Physische Gestalten‘ und Organismen“ (1925).17 Die argumentativen Frontlinien des Streites schließlich rekon struiert der studierte Zoologe und promovierte Philosoph Helmuth Plessner. Als Schüler und Kritiker Drieschs antwortet er auf der Basis eines von Husserl stammenden, aber eigenständig modifizierten phänomenologischen Ansatzes. Präsentiert wird dieses in einer als Biophilosophie gekennzeichneten anthropologischen Grundlagenschrift, die erneut wieder einen naturphilosophischen Anspruch transportiert: Die Stufen des Organischen und der Mensch (1928).18 In aufbereiteter Form finden sich diese Überlegungen auch in der Vorlesungsnachschrift aus dem Wintersemester 1931/32.19 Plessners zentrales theoretisches Konzept der Doppelaspektivität operiert insbesondere mit einer besonderen Vorstellung von Grenze und grenzrealisierenden Systemen. Wie zu zeigen sein wird, erlangt damit wieder der Begriff der Ganzheit besondere Bedeutung. Bereits die Tatsache, dass alle Protagonisten ihre Überlegungen als Naturphilosophie bestimmen, ist über zeitbedingte Begrifflichkeiten hinaus aufschlussreich. Sie belegt, dass der MaschineOrganismus-Vergleich in einen immer auch naturphilosophischen Grundlagenstreit hinein führt, also die Frage nach dem Verhältnis von Organismus und Maschine niemals allein eine modelltheoretische oder methodologische ist. In klassischen Begrifflichkeiten formuliert, geht es schließlich darum, die bereits von Aristoteles an zentraler Stelle seiner Physik abgehandelte Verhältnisbestimmung von Dingen der Natur (physis) und Dingen der Technik (techné) neu zu justieren. Darüber hinaus belegt Plessners Versuch, in Abgrenzung von Driesch und von Köhler, eine eigenständige Begrün16 H. Driesch, Die Maschine und der Organismus, Reihe: Bios. Abhandlungen zur theoretischen Biologie und ihrer Geschichte, sowie zur Philosophie der organi schen Naturwissenschaften, Bd. 4, Leipzig 1935. 17 H. Driesch, „‚Physische Gestalten‘ und Organismen“, in: Annalen der Philo sophie 5 (1)/1925, S. 1-11. 18 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch. Das Buch öffnet mit einem Zitat Alexander von Humboldts (ebd., S. 35): „Die Naturphilosophie kann den Fortschritten der empirischen Wissenschaften nie schädlich sein.“ Die Leitidee des Arbeitsplans lautet (ebd., S. 63): „Ohne Philosophie des Menschen keine Theorie der menschlichen Lebenserfahrung in den Geisteswissenschaften. Ohne Philosophie der Natur keine Philosophie des Menschen.“ 19 H. Plessner, Elemente der Metaphysik, S. 92 ff.
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dung für die übermaschinenhafte Qualität von Organismen zu entwickeln, die eminente anthropologische Relevanz der Fragestellung. Auch zeigt sich die fächerübergreifende Dimension des Problemfeldes. Zudem macht gerade die Position Plessners deutlich, dass es immer auch um einen Streit um die Deutungshoheit über das Leben geht. Plessner versteht seinen Ansatz als Positionierung im schwelenden Konflikt der zwei Kulturen.20 Naturwissenschaftliche und kulturwissenschaftliche Erklärungsansprüche treffen insbesondere in der Frage nach dem Verhältnis von Organismus und Maschine aufeinander.
3. Die systematischen Positionen I: Plessners Rekonstruktion Die Grundlinien der Debatte rekonstruiert Plessner in Die Stufen des Organischen und der Mensch bei der Entfaltung seiner eigenen These.21 Wie die Überlegungen in den Stufen zeigen, ist die Debatte systemkonstituierend für Plessners eigenen Ansatz. Bei aller Komplexität von Plessners philosophischer Position lässt sich diese wohl am einfachsten dadurch charakterisieren, dass ihr Ziel die Überwindung des Cartesianischen Dualismus ist. Anstoß erregen insbesondere die methodologischen Umdeutungen der dualistischen Ontologie im 19. Jahrhundert.22 Für Plessner laufen diese in naturwissenschaftlichen Fragen auf eine hegemoniale Stellung der mathematischen Naturwissenschaften hinaus, die sich aus der Identifikation von Ausdehnung mit Messbarkeit ergibt. Für die Psychologie entsteht eine analoge Leitfunktion der Denkpsychologie aus der Identifizierung von Innerlichkeit mit Introspektion. Plessners antidualistischer Ansatz setzt nun an die Stelle der Dua lität die neue Konzeption der Doppelaspektivität. Dieses hochgra20 H. Plessner, Die Stufen des Organischen, S. 63 ff. Dabei ist die Bedeutung der Geisteswissenschaften für die Lösung eminent (ebd., S. 123): „Nicht die natur wissenschaftliche Erfahrung – von ihrer Verabsolutierung überhaupt nicht zu reden –, die geisteswissenschaftliche Erfahrung ist es, der die Initiative zum Aufbau einer konkreten Naturphilosophie zufällt.“ Vgl. dazu auch K. Köchy, F. Michelini (Hrsg.), Zwischen den Kulturen. Plessners ‚Stufen des Organischen‘ im zeithistorischen Kontext, Freiburg, München 2015. 21 H. Plessner, Die Stufen des Organischen, S. 138 ff.; vgl. auch die Deutung im Vorwort zur zweiten Auflage, ebd., S. 31. 22 Ebd., S. 78 ff.
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dig komplexe Konzept erklärt sich sowohl aus einer von Husserl kommenden phänomenologischen Erkenntnistheorie als auch aus einer durch biologische Daten gespeisten, wiewohl der Sache nach über-erfahrungswissenschaftlichen Ontologie. Doppelaspektivität bezeichnet eine grundsätzliche und überräumliche Richtungsdivergenz von „Innen“ und „Außen“ bei lebendigen Bildungen. Im Unterschied zu anderen natürlichen Dingen, bei denen man nach phänomenologischem Verständnis in der Wahrnehmung durch Einnahme verschiedener Standpunkte („alternativer Blickstellungen“) verschiedene Aspekte der Sache erfassen kann, steht Doppelaspektivität für zwei prinzipiell nicht ineinander durch Wechsel des Wahrnehmungsstandpunkts überführbare Sphären. Die eigentliche Aufgabe besteht dann darin, den einzigen (natur-)philosophischen Standpunkt auszuzeichnen („konvergente Blickstellung“), von dem aus die Beziehung zwischen einem räumlichen und einem nicht-räumlichen Aspekt des Systems zugleich erfasst werden kann. Körperliche Dinge der Anschauung, an welchen diese prinzipiell divergente Außen-Innenbeziehung als zu ihrem Sein gehörig gegenständlich auftritt, bestimmt Plessner als „lebendig“.23 Um diese komplizierte Überlegung zu erläutern und die Besonderheit seines Ansatzes herauszustellen, bedient sich Plessner des Streits zwischen Köhler und Driesch. Im Zentrum steht die Frage, inwiefern ein lebendes Ding, das in die Reihe anderer natürlicher Dinge hinein gehört, mit einem „Plus jener rätselhaften Eigenschaft des Lebens“24 versehen sein kann und welchen Status dieses besondere „Plus“ hat. Ist das hier relevante Verhältnis durch Gegenüberstellung von bloß summenhaften Bildungen einerseits und komplexqualitativen, d. h. übersummenhaften Bildungen andererseits adäquat erfassbar? Wir werden sehen, dass Plessner letztlich für eine Summation von Eigenschaften votiert. Allerdings gibt dabei eine der Eigenschaften letztlich den Ausschlag, um die neue Qualität des eigenschaftstragenden Systems zu begründen. Im Zentrum von Plessners Argumentation steht also die Frage: Welchen Status hat die Lebenseigenschaft? Handelt es sich um ein reines Anwachsen von Merkmalen nach summativem Muster? Im Resultat also um eine reine Und-Verbindung? In diesem Fall wäre von der Organisationsform eines Aggregats auszugehen. Ein 23 Ebd., S. 138. 24 Ebd.
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Aggregat bezeichnet eine Verbindung von Teilstrukturen nach Art der bloßen Häufung. Diese lockere „Zusammenhäufung“ hatte insbesondere Kant25 als Gegenkonzept zum (organischen) System verstanden. Nach Plessner ist die Debatte zwischen dem Mechanisten Köhler und dem Vitalisten Driesch allerdings vor allem deshalb interessant, weil es sich hier nicht mehr simpel um einen Streit zwischen der Behauptung einer bloß summenhaften oder einer übersummenhaften Konstitution des Organismus handelt. Beide Gegner vertreten vielmehr unterschiedliche übersummenhafte Modelle. Die hier notwendigen begrifflichen Unterscheidungen können wir Hans Drieschs Überlegungen entnehmen. Dessen Kritik an Köhler ist durch eine terminologische Feinarbeit vorbereitet. Er unterscheidet dazu die Konzepte „Gesamtheit“, „Summe“, „Einheit“ und „Gestalt“:26 Als „Gesamtheit“ gilt ihm jeder zusammengesetzte Gegenstand der Forschung, sei er künstlich (Haus), natürlich (Frosch) oder mental (Willensinhalt).27 Eine Gesamtheit ist dann eine „Summe“, wenn die Aufmerksamkeit der Forschung allein auf die Zahl der Teile gerichtet ist. Die möglichen Relationen zwischen den Teilen werden dabei wegen ihrer Regellosigkeit nicht beachtet. Ganz reine Summen sind insofern nur strenge ‚und‘-Verbindungen, also begriffliche Zusammenstellungen von Elementen verschiedener Gattungen (etwa reine Bedeutungsgegenstände und Bestandteile der Natur). Alle summenhaften Gesamtheiten der Natur hingegen besitzen für Driesch insofern „Einheit“, als zwischen ihren Teilen immer wechselseitige kausale Beziehungen möglich sind (Driesch spricht diesbezüglich von „Wirkungseinheit“). Für die strittige Frage bedeutet diese Differenzierung nun Folgendes: Für Driesch stellen die von Köhler untersuchten Gestaltbildungen in der anorganischen Natur lediglich Wirkeinheiten dar. Sie sind keine „Ganzheiten“. Diese besondere Organisationsform mit ihren übersummenhaften Qualitäten besitzen vielmehr nur Organismen. Auch Wirkungseinheiten können durchaus als Gesamtkomplex Eigenschaften aufweisen, die als solche nicht den Ein25 I. Kant, Kritik der reinen Vernunft (1781), in: W. Weischedel (Hrsg.), Immanuel Kant. Werke in zehn Bänden, Bd. 4, Darmstadt 1983, S. 566 (A 645) unterschei det hinsichtlich der Ordnung von Überlegungen zu einem wissenschaftlichen Gesamt das nach notwendigen Gesetzen zusammenhängende System vom zu fälligen Aggregat. 26 H. Driesch, „,Physische Gestalten‘ und Organismen“, S. 1-11. 27 H. Driesch, Die Maschine und der Organismus, S. 71.
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zelfaktoren zukommen und die insofern deren Einheit auszeichnen. Ganzheitliches Geschehen aber zeigt zusätzlich die Wirksamkeit eines übermechanischen „Lenkfaktors“.28 Diese Zweckhaftigkeit (ihr in ‚Hinsicht auf Etwas‘) tritt als Modifikation der Ganzheit auf. Ganzheiten sind deshalb nach Driesch notwendig nicht-mechanischen Ursprungs und Ausdruck für die Selbständigkeit und Unreduzierbarkeit des Lebens. Nach der Rekonstruktion von Plessner entsteht genau an diesem Punkt der Konflikt mit Köhler. Dessen Konzept der „Gestalt“ hat nämlich zunächst mit Drieschs Modell die Betonung der Übersummenhaftigkeit gemeinsam. Nach Plessner gilt: „‚Ganzes‘ und ‚Gestalt‘ bedeuten insoweit dasselbe, als beide darin übereinstimmen, mehr zu sein als die Summe ihrer Teile.“29 Trotz der Tatsache, dass die Eigenschaften und Wirkungen des Systems nicht aus artgleichen Eigenschaften und Wirkungen ihrer Teile zusammensetzbar sind, postuliert Köhler jedoch keinen Sonderstatus von Organismen. Ähnliche Konstellationen gibt es für ihn auch in der anorganischen Natur. Während damit für Köhler sowohl Organismen als auch anorganische Bildungen (physikalische Systeme wie die Moleküle in Gasen30 oder elektrische Ladungssysteme31) und damit implizit auch Maschinen übersummenhafte Gestalten sind, handelt es sich für Driesch bei Maschinen um spezielle Formen der Wirkeinheit, die sich letztlich als summenhafte Gesamtheiten erweisen; nur Organismen sind hingegen Ganzheiten.
4. Die systematischen Positionen II: Drieschs Argumente Vor diesem Hintergrund lassen sich nun die Details des Maschinenvergleichs rekonstruieren. Wir wechseln dazu den Standpunkt, verlassen kurz die Rekonstruktion von Plessner und betrachten direkt Drieschs Argumente in Die Maschine und der Organismus. Driesch betont hier, das Zentralproblem des Organischen sei bisher kaum ge28 H. Plessner, Elemente der Metaphysik, S. 96. 29 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. 143. 30 W. Köhler, Die physischen Gestalten, S. 50: „Physikalische Systeme und ihre Verteilungen verhalten sich durchaus anders als die (im allgemeinen) summati ven Gruppierungen von ‚Dingen‘; die Gruppierungen in physikalischen Syste men sind nichtadditiver Natur […].“ 31 Ebd., S. 54 ff.
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würdigt.32 Es besteht für ihn in der Aufgabe, die räumlich-zeitliche Einreihung von Einzelfunktionen in die Gesamtheit aller Ausführungen eines Lebewesens so zu realisieren, dass eben diese Gesamtfunktion möglich wird. Ob sich das strukturierte „Hier-jetzt“ von Teilfunktionen mechanisch erklären lasse oder nicht, sei die wesentliche Frage für die Rechtfertigung des Maschinenvergleichs. Während diese Frage zumeist „ohne intime Prüfung der empirischen Sachverhalte“33 beantwortet werde, setzt Driesch auf experimentelle Überprüfung. Dabei kommt er zu dem Ergebnis, dass nur in Organismen die Teilgesamtheiten eine Plastizität dergestalt besitzen, dass eine Neubildung komplexer Systeme auch aus Teilstrukturen möglich wird.34 Mit dieser speziellen Systemplastizität sei die lex fundamentalis organica gefunden.35 Für seine Argumentation greift Driesch auf zwei Klassen von biologischen Sachverhalten zurück: Erstens auf die Relationen von Reiz und Reaktion im Verhalten von Lebewesen und zweitens auf die Relationen von Material und Form im Wachstum von Lebewesen. Bezüglich des Verhaltens bestehe eine Eigengesetzlichkeit der organischen Bewegung.36 Zentraler Punkt ist hier eine besondere, plastische Relation von Reiz und Reaktion unter Zwischenschaltung des Organismus. Als „Reiz“ definiert Driesch die Ursache des Geschehens im engsten Sinne. Angesichts der Gesamtheit aller Zustände und Geschehnisse, die verwirklicht sein müssen, damit ein Verhalten sich abspielt („Vollursache“), ist der „Reiz“ das letzte unter allen Ereignissen von außen, auf welches unmittelbar das zur Untersuchung stehende Verhalten einsetzt. Der Reiz trifft den Organismus an einem bestimmten Ort, das System Organismus schließt dann eine Fülle weiterer Bedingungen ein und die Reaktion erfolgt schließlich als Bewegung bestimmter Teile des Organismus 32 H. Driesch, Die Maschine und der Organismus, S. 2. 33 Ebd., S. 4. Die Grundfrage lautet: Ist diese Einreihung von Teilfunktionen im Sinne eines mechanischen Maschinengetriebes (also als lediglich auf einer vorgegebenen Struktur mit physikalisch-chemischen Mitteln sich abspielend) denkbar? 34 Ebd., S. 49. Driesch spricht von harmonisch-äquipotentiellen und komplexäquipotentiellen Systemen: „Ein harmonisch-äquipotentielles System ist eine Gesamtheit organischer Elemente, von der jede beliebig herausgegriffene Teil gesamtheit ‚dasselbe‘ typisch zusammengesetzte Gebilde wie jede andere Teilge samtheit und wie die volle Gesamtheit den relativen Proportionen nach leisten kann.“ Vgl. auch H. Driesch, Philosophie des Organischen, S. 98 ff. 35 H. Driesch, Die Maschine und der Organismus, S. 49. 36 Ebd., S. 10 ff.
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an einem anderen Ort. Hierbei ist bedeutsam, dass die Systembedingungen des Organismus spezielle sind. Die gesamte Vorgeschichte des Systems beeinflusst nämlich die Reaktion mit („Prinzip der historischen Reaktionsbasis“).37 Die Relation von Reiz und Reaktion, vermittelt über das System Organismus, ist deshalb durch die Regulation bestimmt:38 Eine Fähigkeit, die Reaktion auf ganz verschiedenen Wegen (also durch verschiedene Formen der Vermittlung) zu realisieren.39 Bethes Lehre von der Plastizität40 einbeziehend, verweist Driesch auf experimentelle Daten, die eine enorme Flexibilität des Organismus belegen. Will man diesbezüglich mechanische Analogien verwenden, dann muss man auf Informationstechnologien zurückgreifen.41 Auch dann ist jedoch noch ein „radikal unmechanistisches Prinzip zur Erklärung des Problems der ‚Ausführung‘“42 erforderlich. Wie bei technischen Regelungssystemen (Telefonzentrale) zwar regelbare Einrichtungen existieren, die Regulation selbst aber durch ein Etwas (den Menschen) erfolgt, das nicht zu diesen Einrichtungen gehört, so setze auch die Regelung des Verhaltensgeschehens ein übermechanisches Prinzip voraus.43/44 Die maßgeblichen Argumente gegen die Gleichsetzung von Organismus und Maschine liefert dann allerdings die zweite Untersuchung der Eigengesetzlichkeit des organischen Wachstums. Auch hier spielt wieder die Plastizität des Wachstumsgeschehens die entscheidende Rolle. Driesch definiert zunächst: „Als Maschine 37 Ebd., S. 12. 38 Ebd., S. 16 ff. 39 Ebd., S. 17: Als verschiedene Varianten dieses Geschehens sind (a) Regulationen mit Rücksicht auf die Beantwortung von Zwischenreizen, (b) Regulationen mit Rücksicht auf die Verwendung von inneren Wegen und (c) Regulationen mit Rücksicht auf die Verwendung der End-Ausführungsorgane zu unterscheiden. 40 Ebd., S. 18 ff. 41 Ebd., S. 25. Driesch spricht von „einfachsten menschlichen Übermittlungsappa raten“ und konkretisiert: Telefonzentrale oder Weichenzentrale eines Bahnhofs. 42 Ebd. 43 Ebd., S. 26. Im übertragenen Sinne ist auch der Ganzheitsgrund des organischen Geschehens außerhalb des zu regelnden (materiellen) Systems – nach Driesch existiert „wohl ein ‚Zentrum‘, aber kein materielles“. 44 Ebd., S. 27. Hier setzt Driesch die ‚Entelechie‘ oder Seele als Regulationseinheit, die bald, hier bald dort einsetzt: „Es setzt nicht nur nach dem Prinzip der ‚indi viduellen Zuordnung‘ auf Grund einer ‚historisch erworbenen Reaktionsbasis‘ die Reaktion in Gang, sondern überwacht auch jede Phase ihrer Ausführung. Ingangsetzen und Überwachen sind zwei Leistungen; eben deshalb können wir von zwei voneinander unabhängigen Beweisen für die nicht-mechanische Natur des ‚Handelns‘ reden […].“
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bezeichnet man in der menschlichen Technik ein aus verschiedenen Teilen zusammengesetztes materielles Gebilde, welches, wenn es ‚in Gang gesetzt ist‘, durch die kausale Verkettung seiner Teile eine bestimmte Leistung erzielt.“45 Die Leistung der Maschine besteht entweder in einer durch sie bewirkten materiellen Änderung der Umwelt oder in ihrer eigenen Ortsbewegung. Alle Maschinen sind von Menschen nach Zweck-Gesichtspunkten gebaut. Ihre Ingangsetzung wird direkt oder indirekt ebenfalls vom Menschen besorgt. „Automatisch“ heißen solche Maschinen, die einmal in Gang gesetzt, bei dauernder Energiezufuhr ohne weitere Eingriffe von außen funktionieren. Nach Driesch sind „bauende“ automatische Maschinen denkbar, deren Gesamtprodukt ein geordneter Bau bestehend aus maschinenfremden Material wäre.46 Dieses Gesamtprodukt kann auch eine neue Baumaschine sein. Selbst in diesem Fall bliebe man bezüglich der Ursprungsmaschine beim technischen Maschinenbegriff – eines von Menschen zur Erreichung bestimmter Zwecke entworfenen Artefakts. Für Drieschs Argument wesentlich ist nun die Annahme, dass die Komplexität der bauenden Maschine (Maschine 1) jeweils mindestens der Komplexität der gebauten Maschine (Maschine 2) entsprechen muss.47 Die statische Ordnung des Produkts (Maschine 2) müsse sich projizieren lassen auf die dynamische Ordnung der Einzelleistungen der Baumaschine (Maschine 1) für die Zusammensetzung des Produkts. Diesbezüglich wird der Begriff „Struktur“ wesentlich: Struktur meint „eine bestimmte, auf die Leistung eingestellte, Anordnung ihrer materiellen Teile.“48 Von Menschen gebaute Maschinen besitzen stets nur eine „grobe“ Struktur, die nicht auf die letzten Bestandteile der Materie ausgedehnt ist.49 Wolle man 45 Ebd., S. 29. In der Philosophie des Organischen, S. 117 wird zunächst bei der De finition auf die menschliche Konstruktion und Zwecksetzung verzichtet: „Eine Maschine ist uns also eine typische Anordnung physikalischer und chemischer Konstituenten, durch deren Wirkung ein typischer Effekt erreicht wird.“ 46 H. Driesch, Die Maschine und der Organismus, S. 30. 47 Ebd., S. 32: „[…] zur Erzielung einer ganz bestimmten Sukzession von Vor gängen müßte nämlich alles, was an dem fertigen gebauten Werke zugleich in bestimmter Ordnung da sein wird, an der bauenden Maschine vorgebildet, prä formiert sein.“ 48 Ebd. 49 Eine Familienähnlichkeit dieses Gedankens besteht zu den Überlegungen von Leibniz. In dessen Monadologie (in: H. H. Holz (Hrsg.), Kleine Schriften zur Metaphysik. Philosophische Schriften, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1996, S. 468/469, § 64) wird der organische Körper als göttliche Maschine (Machine divine) oder
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deshalb das Dasein natürlicher – nicht vom Menschen gemachter – Gebilde nach Art des Geschehens an einer technischen Maschine genetisch erklären, dann müsse man einen allgemeinen Begriff der Struktur investieren, der auch auf die letzten Teile der Materie anwendbar ist. Man müsse den natürlichen zusammengesetzten Gegenständen einen Anfangszustand zuschreiben, der eine Struktur im genannten Sinne besitzt. Auch das Ausgangsgebilde müsse dann als Maschine im mechanistischen Sinne verstanden werden können (Driesch nennt diese eine „elementar-intime“ Maschine).50 Wenn die organischen Ausgangsgebilde solche elementar-intimen Maschinen wären (d. h. Gebilde, die lediglich aufgrund ihrer materiellen Struktur durch die von den Teilen der Materie ausgehenden Kräfte ihre Leistung vollziehen), dann wären sie „Baumaschinen“ im genannten Sinne. Wendet man diesen Maschinengedanken nun auf Organismen an, dann impliziert das konkret folgende Forderungen: Erstens, die gesuchten Strukturen müssen ihre Bauleistung automatisch vollziehen. Zweitens müssen die von ihnen gebauten Maschinen ihrerseits Leistungsmaschinen sein (also Getriebe von Funktionen). Drittens müssen die Produkte in gewissen Bestandteilen ebenfalls Baumaschinen sein, sodass diese Bestandteile ihrerseits denselben Bau errichten können wie die ursprüngliche Maschine. Im Unterschied zu allen vom Menschen hergestellten Maschinen, die in Relation zum entwerfenden Menschen stets ein fremdes Ding neben ihm sind und damit den Status der Nebenordnung haben, ist das Verhältnis von organischem Ausgangsgebilde (die produzierende Baumaschine 1) und dem Ergebnis seiner Leistung (die produzierte Baumaschine 2) besonders. Baumaschine 1 hat nämlich Baumaschine 2 nicht „neben“ sich, sondern hat sich vielmehr in dieses neue Gebilde umgestaltet (Umordnung).51
natürlicher Automat bezeichnet und von künstlichen Automaten (Automates artificiels) unterschieden. Die göttliche Maschine übertrifft demnach alle durch Kunst des Menschen verfertigten Maschinen unendlich, denn jene sind nicht in jedem ihrer Teile Maschine („[…] une Machine, faite par l’art de l’homme, n‘est pas Machine dans chacune de ses parties […]“). Hingegen sind die Maschinen der Natur, worunter Leibniz lebende Körper versteht, noch in ihren kleinsten Teilen Maschinen („[…] les Machines de la Nature, c’est à dire les corps vivans, sont encor des machines dans leur moindres parties jusqu’à l’infini.“). 50 H. Driesch, Die Maschine und der Organismus, S. 33. 51 Ebd., S. 34.
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Hinsichtlich dieser auf Organismen angewandten Maschinen konzeption bestehen nach Driesch nun drei denkbare Realisierungs optionen:52 • Möglichkeit a: Der Formgestaltungsprozess ist lediglich eine Vergrößerung einer bereits im Ausgangsgebilde fertig daliegenden Struktur (eine präformistische Lösung). • Möglichkeit b: Der Formgestaltungsprozess geht darauf zurück, dass im Ausgangsgebilde eine echte bauende Maschine existiert, im Verhältnis zu der der Rest dieses Gebildes und Teile der Umwelt das für den Bau zu ergreifende Material bilden (eine mechanistische Lösung). • Möglichkeit c: Der Formgestaltungsprozess entsteht dadurch, dass das Ausgangsgebilde auf die Bildung des Produktes „eingestellt“ ist. Das Produkt entsteht durch Wechselwirkung der Teile des Ausgangsgebildes. Das Ausgangsgebilde muss dazu eine strukturelle Mannigfaltigkeit aufweisen, die zwar anders geartet sein kann als die des Ergebnisses, die aber doch von gleicher Komplexität sein muss (eine epigenetische Lösung). Konfrontiert man diese gedanklichen Möglichkeiten jedoch mit experimentellen Befunden, dann sprechen gegen Möglichkeit (a) die Experimente zur Herstellung von verkleinerten Organismen aus isolierten Einzelzellen des Keimes sowie die Regenerationsexperimente.53 Gegen die Möglichkeit (b) spricht die Tatsache, dass die Struktur der Ausgangsgebilde (Eier) im Verlauf der Phylo- und der Ontogenese durch fortgesetzte Teilung entsteht.54 Mit Möglichkeit (c) hingegen ergibt sich aus dem Wechselwirkungsgedanken ein Beleg für Drieschs Konzept. Die epigenetische Lösung wandelt sich so zur ganzheitlichen Lösung: „Einer strukturellen Maschinerie kann man nicht an beliebigen Orten beliebige Teile nehmen, auch kann man ihre Teile nicht beliebig verlagern, ohne die Leistungsfähigkeit grundlegend zu stören. Bei harmonisch-äquipotentiellen Zellgesamtheiten (abgefurchter Keim, junge Organanlagen, Fälle der Regeneration) ist aber ein solcher Eingriff ohne Beeinträchti52 Ebd., S. 35 f. 53 Ebd., S. 36. Vgl. auch H. Driesch, „,Physische Gestalten‘ und Organismen“, S. 6. 54 Ebd., S. 37: „Wie […] könnte eine sehr zusammengesetzte, auf die Mannigfal tigkeit des Erwachsenen eingestellte Struktur sich fortgesetzt teilen und dabei immer ganz bleiben?“ Vgl. dazu auch H. Driesch, Philosophie des Organischen, S. 119: „Eine seltsame Maschine in der Tat, welche in allen ihren Teilen dasselbe darstellt!“
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gung der Leistungsfähigkeit möglich. Die Maschine geht ‚entzwei‘, das harmonische System nicht!“55 Über diese experimentellen Einwände hinausgehend spricht weiter gegen das Maschinenkonzept die geforderte Potenz des Ausgangsgebildes. Es soll im organischen Bildungsgeschehen nicht nur „bauen“, sondern zugleich ein Leistungsgebilde liefern, d. h. ein physiologisch funktionierendes Gebilde, „wobei die Funktionen auf die einzelnen Teile des Gebildes verteilt sind, aber harmonisch ineinandergreifen, so daß jede dem richtigen Vollzug jeder dient.“56 Dabei ist diese Forderung noch anspruchsvoller, denn auch alle Durchgangsstadien der Embryogenese müssen jeweils für sich solche Leistungsgebilde sein. Nicht nur die Bildung einer komplett im gesamten Geschehensablauf harmonisch abgestimmten Leistungsmaschine, sondern auch die Art der von ihr geforderten Leistung spricht gegen den mechanischen Erklärungsansatz: Wieder geht es um die Plastizität der Leistungen in Abhängigkeit von den herrschenden Rahmenbedingungen (Regulation). Erneut werden verschiedene Ausführungswege durch einen regulatorischen Akt quasi „geöffnet“. Nicht so sehr das Beschreiten dieser Wege (was nach Driesch möglicherweise mechanisch erklärt werden könne), sondern insbesondere der Akt einer den Bedingungen angepassten Wahl macht den Unterschied aus.57 Insgesamt sprechen also die Befunde für Driesch entweder für einen Verzicht auf den Maschinenvergleich oder aber für dessen Modifikation: Angesichts der Bedeutung von Plastizität und Regu55 H. Driesch, Die Maschine und der Organismus, S. 38. 56 Ebd. 57 Vgl. ebd., S. 40. Eine typische Ablaufgesamtheit, die im genannten Sinne regu lierbar ist, ist für Driesch die Embryogenese – nicht jedoch ein anorganisches Geschehen wie ein Kristallisierungsprozess. Weiter ergibt sich auch hinsichtlich der Energiezufuhr (einer automatischen Baumaschine) ein Unterschied (ebd., S. 41): Bereits bei von Menschen gemachten Kraftwandler-Maschinen (Wasser-, Windmühlen) wird die Energie von der Natur geliefert und kann bei Fehlen einer Energiequelle (möglicherweise ebenfalls automatisch) durch eine andere ersetzt werden. Im organischen Geschehen wird die Energiezufuhr jedoch zu sätzlich entweder bei Ausbleiben durch Variation des Energieverbrauchs (Hun gerstadien) oder durch aktives Aufsuchen der Nahrung geregelt. Der Betrieb der Funktionen tritt dann zusätzlich im Interesse der Ermöglichung des Fortganges des Betriebes selbst auf. Das „In Gang setzen“ der Kette von Baumaschinen wird zudem nicht vom Menschen initiiert, sondern spielt sich im Laufe von Generati onsfolgen ab (… Ausgangsgebilde – Endgebilde – Ausgangsgebilde – Endgebilde …) (ebd., S. 42 f.). In diesem Fall liegt im Automatismus der früheren Generation selbst unmittelbar die In-Gang-Setzung des Automatismus der späteren.
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lation muss neben die erste Forderung nach einer automatischen Baumaschine, die in der Lage ist, neue Maschinen ihrer Art zu generieren, die zweite Forderung nach einer stetigen dynamischen Regelung des Baugeschehens treten. Für Driesch sind dazu „Eingriffs-Maschinen“ gefordert, die das Geschehen angemessen regeln können und die in der Lage sind, bestimmte Pfadentscheidungen zu treffen.58 Die erforderlichen Regulationen sind zudem andere als sie die Technik kennt. Bei Ausfall von Funktionen und Teilen, selbst bei Separierung von Systemgliedern gibt es in Organismen die Möglichkeit von Ersatzleistungen (Regeneration, Plastizität) und der Rekonfiguration des ursprünglichen Systems.
5. Plessners Erweiterung dieser „Lösung“ Kommen wir zu Plessners Rekonstruktion zurück: Für ihn ist Drieschs Angriff gegen Köhler insofern anfechtbar, als der durch die Ganzheit angesprochene Wesensunterschied auf einer anderen Seinsebene liegt, als sie durch das Konzept der Gestalt bestimmt ist.59 Aus diesem Grund setzt sich Plessner von den Diskutanten Köhler und Driesch ab, indem er in der Frage nach der Summativität oder Übersummativität von „Organismus“ und „Maschine“ einen neuen Akzent setzt. Plessner setzt dazu unter phänomenologischen Vorzeichen neu an. Für ihn ist jeder wahrnehmbare Gegenstand ein gestalthafter Zusammenhang von Eigenschaften. Die verschiedenen Aspekte solcher Wahrnehmungsgestalten sind nie ‚auf ein Mal‘ sinnlich belegbar. Stets ist im Wahrnehmungsgeschehen nur eine Seite präsent. Sie impliziert zwar das ganze Ding, aber stets lediglich als eine von
58 Ebd., S. 46. Dabei ist das Besondere im organischen Ablauf, dass hier im obigen Sinne der Regler nicht zu den materiellen Bedingungen des Systems gehört: „Unter diesem Gesichtspunkt, d. h. wenn wir das organische Geschehen mit dem Geschehen an solchen von Menschen gebauten Maschinen vergleichen, die nicht rein automatische Maschinen, sondern kurz gesagt, Eingriffs-maschinen sind, wäre also der Organismus, sei er Ei, Embryo oder Erwachsener, insoweit er ein materielles Gebilde ist, sehr wohl als ‚Maschine‘ zu bezeichnen. Aber eine Maschine dieser Art fordert ja eben den eingreifenden Führer. Den Maschinen begriff in diesem Sinne auf den Organismus anwenden, bedeutet also gerade die schärfste Abkehr vom mechanistischen Dogma!“ 59 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. 145.
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unendlich vielen Seiten des ‚abgeschatteten‘ Gesamts.60 Mit Blick auf diese in der Wahrnehmung stattfindende Summation von aspekthaften Eigenschaften stellt sich in Bezug auf Organismen nun die Frage nach einer dieser Eigenschaften, als dem besonderen „Plus“ ihrer Lebendigkeit. Zunächst gilt: Die Aspektivität in der Wahrnehmung einzelner Eigenschaften – als eine dem „Erscheinen strukturell zugehörige Seitenhaftigkeit“61 – bleibt auch im Fall der Wahrnehmung von Organismen erhalten. Dabei enthalten alle einzeln wahrgenommenen Eigenschaften eine „transgrediente“ Verweisung auf andere Eigenschaften (‚um‘ das Ding ‚herum‘) sowie auf die Gesamtheit des Dings (‚in‘ das Ding ‚hinein‘). Darüber hinaus kommt es bei Organismen jedoch zu einem besonderen Verhältnis:62 Das organische Ding soll im Doppelaspekt erscheinen und nicht nur kraft des Doppelaspekts, sodass die Divergenz der gegenstandsbedingenden Sphären selbst den Gegenstand der Anschauung bilden soll. „Doppelaspektivität“ ist dann zwar erneut eine Eigenschaft aus der Summe aller Eigenschaften eines lebendigen Dings. Jedoch handelt es sich um eine solche, die eine Sonderfunktion im Gesamtgeschehen erfüllt. Aus ihr soll sich die besondere Qualität des Gebildes als eines lebendigen ergeben. Plessner plädiert somit für eine Übersummenhaftigkeit besonderer Art. Die Tatsache, dass lebende Systeme eine prinzipiell divergente Außen-Innenbeziehung als zu ihrem Sein gehörig besitzen, ist eine Eigenschaft unter vielen und dennoch diejenige, die die gesamte Bildung mit diesen Eigenschaften transzendiert: „Obzwar sie – als eine Eigenschaft neben andern – nur einen Summanden in der Summe sämtlicher Bestimmtheiten des lebendigen Dingkörpers bedeutet, erscheint sie ihnen doch nicht einfach nebengeordnet, sondern übergeordnet.“63 Plessner führt also mit seinem Konzept der „Grenze“ von Organismen64 – als der konstituierenden Systemabgrenzung und -öffnung zum umgebenden Feld – den Gedanken einer Umschlagzone von prinzipiell divergenten Richtungen ein. Mit dieser absoluten Richtungsdivergenz zwischen raumhaftem Außen und nichträumlichem Innen ist die Grenze sowohl „Raumgrenze“ als auch „As60 61 62 63 64
Ebd., S. 130. Ebd., S. 131. Vgl. ebd., S. 136 f. Ebd., S. 149. Vgl. ebd., S. 155, S. 181 ff.
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pektgrenze“. In letzter Hinsicht ein Umschlag zweier wesensmäßig nicht ineinander überführbarer Richtungen: „Aus dieser Forderung geht hervor, daß die organische Formgrenze als Gestalt einen übergestalthaften, mit Gestalt nicht erschöpften Charakter haben muß.“65 Ein solches System ist nicht nur für uns (in der Anschauung) eine Ganzheit, an sich aber ein hochkompliziertes Gestaltsystem, sondern Plessner geht von einer Bestimmung der Sache selbst aus.66 Wieder ist mit diesem, zugegeben anspruchsvollen, Konzept eine Betonung von Plastizität des organismischen Systems verbunden und darüber hinaus eine Hervorhebung von dessen Autonomie. Wieder bedeuten diese Punkte eine grundsätzliche Abgrenzung vom Maschinenmodell. Ein körperliches System mit einer „Grenze“ im Plessnerschen Sinne ist nicht nur wie andere Dinge der Wahrnehmung gegen die Umgebung abgrenzbar, sondern es grenzt sich selbst ab und hat insofern die Abgrenzung als systemkonstituierende Fähigkeit an sich. Zugleich ist die besondere Grenze immer schon Grenzübergang. Ein Organismus ist nicht nur an seinen Konturen begrenzt, sondern in seiner Begrenzung vollzieht er den Übergang und ist insofern der Übergang.67 Die konstitutive Funktion der Doppelaspektivität erweist sich nach Plessner, wenn es gelingt, aus diesem Konzept „diejenigen Grundfunktionen zu entwickeln, deren Vorhandensein an belebten Körpern als charakteristisch für ihre Sonderstellung geltend gemacht wird […].“68 Die Feststellung von Plastizität im Sinne einer Verschiebbarkeit der Grenzkonturen selbst gehört dann jedoch zunächst lediglich zu den so genannten „indikatorischen Wesensmerkmalen“, die zwar 65 Ebd., S. 153. 66 Ebd., S. 157. Er sieht sich dabei in Übereinstimmung mit den Ansprüchen sowohl von Köhler als auch von Driesch. 67 Die „absolute Begrenzung“ (ebd., Abb. S. 155) gehört dem organischen Kör per reell an, wodurch dieser nicht nur als begrenzter „an seinen Konturen den Übergang zu dem anstoßenden Medium gewährleistet“ (ebd., S. 154), sondern vielmehr in seiner Begrenzung den Übergang vollzieht. Die Grenzen schließen damit organische Körper nicht nur ein, sondern ebenso gegenüber dem Medi um auf (ebd., S. 181). Der organische Körper zielt damit ‚über sich hinaus‘. Die Grenze ist Gewährleistung des Übergangs und Übergang selbst. Mit der Dia lektik von „Über ihm Hinaus“ und „Ihm Entgegen“ ist die anschauliche Prä zisierung der Doppelaspektivität gegeben (ebd., S. 183). Es resultiert daraus die „Positionalität“ (ebd., S. 184) als Grundzug des organismischen Wesens, die ein einfaches Körperding in doppelsinniger Hinsicht transzendiert und es zu einem Wesen, d. h. einem für sich bestehenden Gebilde macht (ebd., S. 185). Zu diesem Gedanken am Ende dieses Beitrags mehr. 68 Ebd., S. 157.
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Lebenserscheinungen im Sinne des Habitus der Lebendigkeit anzeigen können, die aber auch die Möglichkeit beinhalten, Leben lediglich vorzutäuschen.69 Im Gegensatz dazu sind die so genannten „konstitutiven Wesensmerkmale“ (Modale oder Kategorien des Lebens) bestimmend für das Leben. Sie können nur in der Anschauung voll erfasst werden und haben „mit jenen Seinsschichten, in denen physikalische und chemische Begriffsbildung zu Hause ist, unmittelbar nichts zu tun.“70 Aus dem Postulat der realisierten Grenze folgt innerhalb von Plessners Ableitungssystem dann nicht nur die Positionalität, sondern auch die Prozessualität und Selbstregulation von Organismen.71 Mit dem Konzept einer real gesetzten „Grenze“ ist für Plessner auch formal der Übergang von „Gestalt“ zu „Ganzheit“ vollzogen. Ontologisch betrifft „Gestalt“ als raumbezogene Kategorie vor allem die Raumgrenze (Kontur) eines Körpers und markiert dessen Begrenzung zum angrenzenden Medium.72 Erkenntnistheoretisch – vorausgesetzt ist allerdings die komplexe Erkenntnistheorie der Einheit der Sinne73 – ist „Gestalt“ ein darstellbarer Gehalt und insofern in der Erfahrung (auch der naturwissenschaftlichen) konstatierbar. Für solche Sachverhalte fordert Plessner die Erfassung in mehr als einer Gegebenheitsweise.74 Nun gilt jedoch, dass die Kennzeichnung der spezifisch organischen Einheitsform nicht hinreichend über den Begriff der Gestalt erfolgen kann. Wenn ein Körper außer seiner Begrenzung den Grenzübergang selbst als Eigenschaft hat, dann ist diese Begrenzung zugleich Raumgrenze und Aspektgrenze. Damit gewinnt „der [sic!] Kontur unbeschadet seines Gestaltcharakters den Wert der Ganzheitsform“.75 Die Eigengegründetheit und Selbständigkeit des Organismus ist also nicht als Gestalt, sondern nur als Ganzheit fassbar. „Ganzheit“ gehört allerdings erkenntnistheoretisch zu den „nur zu erschauenden 69 70 71 72 73
Ebd., S. 166, S. 178. Ebd., S. 167. Ebd., S. 190, S. 218 ff. Ebd., S. 154 f. H. Plessner, Die Einheit der Sinne. Grundlinien einer Ästhesiologie des Geistes (1923), in: G. Dux u. a. (Hrsg.), Gesammelte Schriften, Bd. 3, Darmstadt 2003, S. 79. Demnach können Anschauungen darstellbar, präzisierbar und prägnant sein. Darstellbarkeit und Präzisierbarkeit gelten nur von Gehalten, die physischintersubjektiv an den Raum erfüllenden Körpern erscheinen. Darstellbare Ge halte umfassen so alle körperlichen Erscheinungen. 74 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. 172 f. 75 Ebd., S. 154.
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Gehalten“.76 Diese sind entweder solche, die nur in einer Gegebenheitsweise erscheinen und gegen diese nicht variieren können oder aber solche, die keine spezifische Gegebenheitsweise haben. Wobei die Wesenheit Ganzheit in die letztere Kategorie fällt und keine spezifische Gegebenheitsweise hat.77 Insofern kann „Ganzheit“ zwar in die Wahrnehmung des Organischen eingehen, entzieht sich aber der darstellenden Feststellung und ist insofern nicht in der Lage, den Fortgang der biologischen Erfahrung zu bestimmen.
6. Ergebnisse und Anwendungen Die historische Rückwendung auf den Disput zwischen Köhler, Driesch und Plessner hat eine ganze Reihe von Hinweisen für die aktuelle Debatte erbracht, die hier nicht im Detail ausgewertet werden können. Möglicherweise hat jedoch insbesondere die letzte Konsequenz auch Irritationen erzeugt. Deswegen sei abschließend die Frage nach dem Gehalt des Fallbeispiels jenseits konkreter Sachfragen auf einer Metaebene thematisiert. Man könnte angesichts der vitalistischen Tendenz einiger Gegenargumente die Haltung von Marcel Weber78 einnehmen und (wie dieser gegen Driesch) betonen, es gebe keinen physikalischen Grund, warum eine „Maschine“ nicht durch ihre eigenen Bestandteile etwa bei Besitz eines genetischen Programms morphogenetische Prozesse vollziehen könne. Allerdings wird man bei einem solchen Transfer des Maschinengedankens auf das biomolekulare Niveau mit Bedingungen konfrontiert, auf die Drieschs Begriff der „elementar-intimen“ Maschine anspielt und die jüngst Richard Jones in seinem Buch Soft Machines hinsichtlich der Postulate von Nanomaschinen untersucht hat. Dabei sind zwei Punkte bedeutsam: Zunächst verlieren tradierte Maschinenvorstellungen im Bereich der Nanoskala schnell an Bedeutung, weil aufgrund der veränderten physikalischen Bedingungen unsere alltäglichen Assoziationen von Maschinen, Konstruktionsprinzipien und Kraft-Wirkungs-Bezie-
76 Ebd., S. 172. 77 Ebd., S. 173. 78 M. Weber, „Hans Drieschs Argumente für den Vitalismus“, in: Philosophia Na turalis 36 (2)/1999, S. 263-293.
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hungen ins Leere laufen. Nach Jones79 ist jedoch zweitens das De signgeschehen auf dieser Ebene gegenüber dem Mesokosmos radikal verändert. Die Designprinzipien auf der Ebene einzelner Moleküle fasst Jones als „self-assembly“. Diese Prozesse im Nanokosmos, die auch die Möglichkeit von Selbstkorrektur oder Selbstheilung beinhalten, so Jones, erinnern an die Eigenschaften von lebenden Systemen. Hier ändert der Modelltransfer seine Richtung: Während vormals das mechanische Geschehen in mehr oder weniger simplen Maschinen zur Deutung von Organismen herangezogen wurde, werden nun umgekehrt organismische Abläufe zum Vorbild für ein neues Verständnis von komplexen Geschehnissen im Nanokosmos. Den philosophischen Debatten unseres Fallbeispiels sind durchaus Hinweise für empirische Sachfragen zu aktuellen Disputen zu entnehmen. Wichtig ist allerdings, sich dabei darüber im Klaren zu sein, dass diese empirische Verwendung immer nur eine eingeschränkte Sicht auf die verhandelten Positionen bedeutet, da es sich vorrangig um explizit naturphilosophische Überlegungen handelt. Deren Anwendungsbezug auf empirische Sachfragen ist nie unmittelbar gegeben. Die hier vorzunehmenden gedanklichen Feineinstellungen sind zudem nie trivial. Im Fall von Drieschs Neovitalismus und der mit ihm verbundenen Einführung okkulter Qualitäten (Entelechie) scheint die Ablehnung durch die Naturwissenschaften naheliegend, nachvollziehbar und „alternativlos“. Die vorsichtigen Versuche Georges Canguilhems,80 den Vitalismus aus der Zone der kompromittierten Positionen herauszuführen, zeigen allerdings auch diesbezüglich einen Weg, sich weniger rigide und stärker sondierend zu verhalten. Bei Plessner hingegen liegt die Sache nicht so einfach. Für ihn hat das Postulat der ganzheitlichen Verfasstheit des Organischen – und damit auch die Unterscheidung von Organismus und Maschine – zwar immer auch mit empirisch darstellbaren Sachverhalten zu tun, rangiert aber letztlich als überempirische Bestimmung auf einer anderen Ebene. Ebenso können die für ihn maßgeblichen Befunde zur Plastizität, Selbstregulation und Restitution von Organismen zwar experimentell festgestellt werden, ihre Deutung im Sinne eines Verweises auf die Ganzheitscharakteristik von Organismen und die durch sie begründbare „Autonomie des Vitalen“ verlässt jedoch den Bereich naturwissenschaftlicher 79 R. A. L. Jones, Soft Machines. Nanotechnology and Life, Oxford 2004, S. 89. 80 G. Canguilhem, „Aspekte des Vitalismus“, in: ders.: Die Erkenntnis des Lebens, Berlin 2009, S. 149-181.
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Feststellungen in Richtung einer Philosophie des Organischen. Plessner argumentiert hier zwar familienähnlich wie Driesch, sucht aber dessen Problem zu umgehen, mit der Entelechie einen in den Raum hinein wirkenden, dem naturwissenschaftlichen Zugang aber prinzipiell entzogenen und damit okkulten Faktor einzuführen.81 Berechtigung hat diese Überlegung insofern, als der mit Blick auf die Plastizität und Regulationsfähigkeit – also nicht nur den Organisationsgrad von Organismen, sondern vor allem deren Organisationstypik – betonte Unterschied angesichts der durch die Kybernetik erfolgenden neuen Vorgaben wieder stärker als Grundunterschied zwischen Selbstherstellung (Gewachsenheit) von Organismen und Fremdherstellung (Gemachtheit) von Maschinen wahrgenommen wird. Gerade jedoch, wenn man im technischen Paradigma verbleibt und wie etwa Maturana lebende Systeme als „physikalische autopoietische Maschinen“ bestimmt,82 dann rekurriert man doch auf einen besonderen Modus der Selbstherstellung und Selbsterhaltung,83 der immer auch die Frage nach dem hier adressierten „Selbst“ mitschwingen lässt. Mit Blick auf die Genese wären Maschinen im üblichen Sinne auch nach diesen Vorgaben als „heteropoietische“ Systeme anzusprechen. Nicht nur ist deshalb auch mit den Reflexionen Maturanas der Boden fachwissenschaftlicher Sacharbeit in Richtung auf naturphilosophische Reflexionen verlassen. Auch stellen sich weiter die gleichen Fragen, die Plessner umtreiben und die ihn letztlich zu einer abgestuften Zuschreibung veranlassten: Während Systeme der anorganischen Natur und Maschinen lediglich „Dinge“ der Wahrnehmung sind, werden lebende Systeme mit positionalem Charakter zu „Wesen“, d. h. zu für sich bestehenden Gebilden84 mit komplexer Selbstvermittlung,85 und 81 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. 212 f. 82 H. R. Maturana, Erkennen: Die Organisation und Verkörperung von Wirklich keit, Braunschweig, Wiesbaden 21985, S. 185 ff. 83 Für die Autopoiese-Theorie sind lebende Einheiten einerseits „autonom“, d. h. dazu fähig, ihre eigene Gesetzlichkeit beziehungsweise, das ihnen eigene zu spe zifizieren (H. R. Maturana, F. J. Varela, Der Baum der Erkenntnis. Die biologi schen Wurzeln des menschlichen Erkennens, Bern, München 31991, S. 55), zum anderen stehen sie in einem besonderen Verhältnis zum Medium: „Ein lebendes System, das in einem Medium unter Bewahrung seiner Organisation und seiner Anpassung operiert […] bringt in der Tat seine sich ständig verändernde Nische ständig selbst hervor […].“ (H. R. Maturana, Biologie der Realität, Frankfurt a. M. 1998, S. 184). 84 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. 185. 85 Ebd., S. 248.
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können sich in der geschlossenen Organisationsform der Tiere sogar zu „Selbsten“ entwickeln.86 Vor allem für den eingangs genannten Kontext der Synthetischen Biologie, deren Maschinenmetaphern und -analogien wieder stärker den Grundunterschied zwischen der Selbstherstellung (Gewachsenheit) von Organismen und der Fremdherstellung (Gemachtheit) von Maschinen akzentuieren, gerade weil in dieser Disziplin diese Unterscheidungen in ein komplexes Wechselverhältnis geraten und zunehmend von Hybridkonzepten überlagert werden,87 sind diese Konsequenzen von Plessner bedeutsam.
86 Ebd., S. 297, S. 304. 87 Vgl. K. Köchy, „Zum Verhältnis von Natur und Technik in der Synthetischen Biologie“, S. 173 sowie ders., „Philosophische Implikationen der Synthetischen Biologie“, S. 150 ff.
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Individuen in der Biologie? Einige methodologische Reflexionen1
Individuum zu sein, erscheint als wesentliche Eigenschaft von Lebewesen. Dabei bleibt allerdings unklar, was mit der Rede gemeint ist, denn zwar referiert der Ausdruck dem Wortsinne nach auf die „Unteilbarkeit“ des jeweiligen Gegenstandes, zugleich aber läßt sich auch von einer Tasse als einem Individuum sprechen. Während im ersten Fall die Rede gleichsam unmittelbar die operationale Kontrolle mit sich zu führen scheint, ist dies hier nicht unmittelbar ersichtlich. Immerhin läßt sich im zweiten Fall auf eine lapidare Rede von Individuum verweisen, die sich auf die Abzählbarkeit von Gegenständen bezieht. „Eine“ Tasse zu sein bedeutete dann nicht mehr, denn als Typenexemplar oder als Element einer Klasse angesprochen zu werden. Der Ausdruck „Tasse“ fungierte doppelt, nämlich einmal als Bezeichnung von etwas – diesem Gegenstand da – und als irgendwie abstrakter Ausdruck – also „die“ Tasse, im Gegensatz zu „dieser“ Tasse. Deutlich anders aber ist der erste Fall gelagert, denn hier verweist die Rede von „Individuum“ vor allem auf den Aspekt der „Unteilbarkeit“ – ein ebenfalls mehrdeutiger Ausdruck: 1. Die Handlung des Teilens ist zunächst hinsichtlich der, diese Teilungsweise bestimmenden Möglichkeiten der Teilbarkeit oder Unteilbarkeit eines Gegenstandes charakterisiert. Zur „Teilungsweise“ gehören nämlich auch die investierten Mittel und hier kann der Fall auftreten, daß etwas, bezüglich der Mittelkonfiguration A nicht teilbar ist, bezüglich B aber sehr wohl. Ein Stück Holz etwa, daß mit einer groben Holzfällersäge gut zu bearbei1
Die folgende Darstellung basiert auf Überlegungen, die im Zusammenhang mit einigen Grundbegriffen der biologischen Theoriebildung entwickelt wurden (M. Gutmann, „Life, organism or system? Some methodological reconstruction concerning biological individuals“, in: Annals of the History and Philosophy of Biology 16/2013, S. 81-95). Hier steht allerdings weniger das „System“ als das Problem der Individualität und Einheit im Vordergrund.
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ten ist, wird unterhalb einer gewissen Ausdehnung mit eben dieser Säge nicht mehr bearbeitbar sein – gleichwohl mag es dies wieder werden, bei Wechsel der Sägengröße. Die Geschichte des regelrecht paradigmatischen Atoms zeigt exemplarisch, wie sehr sich die Bedeutung des Ausdruckes „teilbar“ im Laufe der Entwicklung der eingesetzten Mittel verschieben kann.2 2. In einer Erweiterung von 1 läßt sich mit „teilbar“ auf Kriterien verweisen, die stärker die Eigenschaften des Gegenstandes in Rechnung stellen. Während hier der zu teilende Gegenstand zumindest noch über eine – relativ zum Mittel – bestimmte „Festigkeit“ verfügen musste, lassen sich zusätzliche Kriterien des Zusammenhaltes auszeichnen. So könnte etwa auf den Verlauf der Fasern Wert gelegt werden, was Folgen für die Schnittführung ebenso haben wird, wie die Forderung nach der Abtrennung – mehr oder minder – homogener Teile. 3. Weitergehend lassen sich Kriterien einführen, die auf die Nut zung des jeweiligen Gegenstandes abzielen. So ist etwa eine Tasse in einem gewissen Grade „teilbar“ – bei Erhalt der Nutzung als Tasse – wenn Schnitte parallel zum Querschnitt, zumeist nicht jedoch, wenn diese quer dazu geführt werden. Auch an komplexeren Artefakten sind leicht „Teile“ auszumachen, die bezüglich einer bestimmten Nutzung verzichtbar sein mögen3. Immerhin aber wären nun Kriterien im Spiel die nicht oder nicht ausschließlich auf den Gegenstand selber bezogen sind, sondern eben auf den Umgang mit demselben (was sich in der Regel an dessen „Design“ zeigt4).
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Vgl. E. Cassirer, Substanzbegriff und Funktionsbegriff (1910), Darmstadt 1980. Die Qualität der Nutzung bleibe hier außer acht; eigentlich müsste auch hier auf die „Leistung“ im engeren Sinne Bezug genommen werden, denn häufig wird sich die Leistungsfähigkeit eines Artefakts verschlechtern bei Entnahme von Teilen, ohne jedoch ganz zum Erliegen zu kommen (auch mit einem Ham mer, von dem nur der Kopf geblieben ist, läßt sich noch leidlich hämmern; ein um die Hälfte seiner Windungen verkürzter Flaschenöffner wird – bei nicht zu hartem Korken – leidlich seinen Dienst versehen; und schließlich mag auch ein Computer, der auf zwei Rechnerkerne angelegt ist mit einem noch funktionie ren können). Grundsätzlich ist aber auch hier die Spezifik der Mittel in Blick zu nehmen. Damit ist nicht behauptet, daß am Design die Nutzung eines Artefaktes „abzu lesen“ sei; dies gilt direkt ohnehin nur für den Fall der trivialen Ansprache (wer nicht weiß, wozu ein Austernmesser dient – etwa, weil er keine Austern kennt – wird ihm seine Funktion nicht ansehen).
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4. Eine Verschärfung ließe sich im gegebenen Zusammenhang darin erblicken, daß gewisse Fähigkeiten, Eigenschaften oder Leistungen des zu teilenden Gegenstandes auch nach der Teilung erhalten bleiben. Diese – vor allem bei Lebewesen relevante – Rede, läßt sich etwa an Pflanzen erläutern, wenn man an die Abteilung einiger Blätter von einem Basilikumstrauch denkt. Hier wird – gesetzt eine gewisse, durch den Zustand des Gewächses im Ganzen bestimmte Grenze ist nicht überschritten – die Teilung ohne ersichtlichen Schaden überstanden; ähnliches mag für den Beschnitt von Obstbäumen, Rosenstöcken etc. gelten. Bei tierlichen Lebewesen ist dies für lebensweltlich vertraute Formen in der Regel nicht der Fall (setzt man etwa die heute lebensweltlich nur selten noch erfahrbaren Cestoden als Beispiel an, so lassen sich Ausnahmen finden; Ausnahmen sind dies aber zunächst nur gemessen am lebensweltlichen Standard). Denn bezogen auf „normale“ Tiere5 wie etwa Rinder, Hühner, Forellen oder Haie6, hat eine Teilung häufig die Einschränkung oder gar Aufhebung der Anwendung der geforderten Kriterien zur Folge. Die angeführten Unterscheidungen erlauben es in einem nächsten Schritt, die Frage nach dem spezifischen Individuum-Sein von Lebewesen zu bearbeiten.
1. Individuen als Funktionsgefüge Der Zusammenhang der Begriffe „Organismus“ und „Funktion“ ist unstrittig, was für den Zusammenhang mit dem Begriff „Individuum“ nicht gilt. Eine Möglichkeit, einen solchen herzustellen, besteht darin, auf die ontische Verfasstheit von Lebewesen als Funktionsgefügen zu referieren, wobei Funktion“ vor allem den unter 4
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Diese entstammen nicht ganz zufällig, wie die als Beispiel angeführten Pflanzen auch, dem Feld der „Nutz-Lebewesen“; dazu unten mehr. Daß es sich jeweils um Vertebraten handelt, also eine, aus biologischer Perspek tive recht übersichtliche Gruppe, für deren lebensweltliche Relevanz gleichwohl gute Gründe anzugeben sind, sei hier nur angemerkt. Ein Grundproblem der Debatte um „Individualität“ oder „Individuität“ (F. Buddensiek, Die Einheit des Individuums, Berlin 2006 S. 2 ff) besteht schlicht in der fehlenden Vertrautheit mit lebensweltlich unüblichen Lebensformen. Dies verzerrt auf angebbare Weise die resultierende Ontologie.
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aufgeführten Kriterien zu genügen scheint. So wäre ein Individuum als funktionale Einheit wie folgt charakterisierbar: „Ein Individuum, das ein materieller Gegenstand ist, ist ein Funktionsgefüge. Dieses Gefüge wird durch den kausalen Beitrag aller seiner Teile konstituiert, die ihrerseits durch das Leisten ihres Beitrags als Teile identifizierbar sind, und mit dem Leisten des Beitrages ihre Funktion ausüben. Im Leisten ihres Beitrages interagieren und kooperieren die Teile auf solche Weise miteinander, daß ein persistierendes, kohärentes und gegebenenfalls flexibles Gefüge gebildet wird, das dank seiner Struktur der Welt als etwas synchron und diachron Ganzes selbständig gegenübertreten kann. Die Einheit des Individuums besteht in der synchronen und diachronen Kohärenz dieses Gefüges.“7 Die detailliertere Bestimmung zielt ausdrücklich auf den „intui tiven“ Zugriff, welcher gleichsam die Basis der weiteren Überlegungen abgibt, deren Fokalpunkt in der Identifikation von Einheiten besteht, die etwas sein sollen, „das es in der Welt und unabhängig von unserem Zugriff gibt“8. Die näheren Bestimmungen dieser Einheiten orientieren sich an einer einschlägigen Lehrbuchdefinition: „Organismen sind vergleichsweise stabile dynamische Systeme, die aus Materie- und aus Form-Teilen bestehen, deren Interaktion Selbsterhaltung ermöglicht und eine Voraussetzung für sie ist. Organismen sind ferner ‚offene Systeme, die kontinuierlich mit ihrer Umwelt in Wechselwirkung stehen‘ (Campbell 1997: 10), was üblicherweise so verstanden wird, daß sie Energie und Materie mit ihrer Umwelt austauschen (...). Organismen zeichnen sich schließlich dadurch aus, daß sie sich bei bestimmten außergewöhnlichen Störungen, wie z. B. bei bestimmten Verletzungen, selbst reparieren können oder daß sie bei normalen Störungen angemessen (z. B. ausgleichend) reagieren können (...).“9 Das Definiens dieser – durch System-, Selbstorganisations-, Autopoiese- und Komplexitätstheorien inspirierten – Festlegung,10 7 8 9 10
F. Buddensiek, Die Einheit des Individuums, S. 7 f. Ebd., S. 44. Ebd., S. 30. Damit wird nicht deren Identität oder auch nur die Identität der (!) je zugrunde liegenden Forschungsprogramme behauptet; es handelt sich – daher der Plural – vielmehr zunächst um Bündel von grob in Familienähnlichkeiten geordneten Ansätzen mit durchaus unterschiedlicher Erklärungskraft und unterschiedli chem Erklärungsanspruch; die Nivellierung, welche sich in der Definition im merhin ausdrückt, hat aber Folgen für das ontologische Projekt im Ganzen.
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wird aus Zentralbegriffen wie „System-Umwelt“, „Selbsterhaltung“, „Störung-Reaktion“ gewonnen11. Die Aufgabe des Ansatzes läßt sich nun dahingehend präzisieren, daß es um die Bestimmung dessen geht, „was (...) als selbsterstellendes System gilt, d. h. was zu diesem System dazugehört und durch welche Individuenkonzeption sich die Einheit dieses Systems fassen läßt“12. Die Reihenfolge der Bestimmungen geht also von dem Vorliegen von etwas als einem Individuum aus, welches eine Einheit ist; die Wahl der Konzeption wäre insofern sekundär, als sie sich ausdrücklich nach der Einheit des Systems selber richten solle (sonst wäre dieses eben nicht zu fassen), wobei als Kandidat wie selbstverständlich die „Selbsterstellung“ gilt (unabhängig von den spezifischen begrifflichen Beziehungen zu „Autopoiese“, „Selbstorganisation“ etc.). Das genauere Design des Konzeptes wird durch zwei zentrale Abgrenzungen sichtbar, die das spezifische ontologische Anliegen verdeutlichen: 1. Zum einen wird der Vermutung einer Naturteleologie entgegengetreten. Dies geschieht defensiv mit Hinweis auf die Irrelevanz der Beantwortung der Frage nach der Zweckmäßigkeit von Organismen: „Tatsächlich soll sie aber für meine Individuenkonzeption keine Rolle spielen. Das heißt, es soll mit der Wahl des Organismus als Selbstorganisierer weder behauptet noch geleugnet werden, daß ein Organismus etwas zweckmäßig Eingerichtetes sei, und dies soll schon deshalb nicht behauptet oder geleugnet werden, weil uns für die entsprechende Behauptung oder Leugnung das Fundament fehlt.“13 Im Weiteren ist daher u. a. die Frage zu beantworten, ob die Bestimmung von Organismen als Selbsterstellern (oder Selbstorganisierern etc.) ohne auch nur indirekten Bezug auf Zweckmäßigkeitsüberlegungen auszukommen vermag.
11 Die „Offenheit“ bezieht sich zunächst auf thermodynamische Aspekte (s. etwa L. v. Bertalanffy, General System Theory, New York 1969); genaugenommen sind aber Organismen im Sinne der Autopoiese durch ihre „Geschlossenheit“ charakterisiert, wobei dann regelmäßig „operationale Geschlossenheit“ ge meint ist (etwa G. Roth, „Selbstorganisation und Selbstrefentialität. Prinzipien der Organisation von Lebewesen“, in: Dialektik 12/1986, S. 194-213); auch die Überlegungen von Gutman und Bonik zielen auf „biomechanisch“ geschlossene Gebilde ab (W. F. Gutmann, K. Bonik, Kritische Evolutionstheorie, Hildesheim 1981). 12 F. Buddensiek, Die Einheit des Individuums, S. 32. 13 Ebd., S. 38.
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2. Zum zweiten wird der Ausdruck „Organismus“ in Reaktion auf Überlegungen von Schark, nicht als Resultat einer „biologistisch verengten Sicht“14 verstanden. Doch nicht die Einführung des Ausdruckes selber sei das Anliegen, als vielmehr „alles zu erfassen, was zu einem Individuum gehört“15. Damit wird die – begrifflich bestimmte – Differenz von „Lebewesen“ und „Organismus“ zurückgewiesen, was mit Blick auf den vermuteten „intuitiven“ Charakter der Rede von Organismen als Selbstorganisierern kaum überraschen mag. Im weiteren ist daher zu untersuchen, ob die Zurückweisung der genannten Differenz tatsächlich im So-sein von Individuen (hier als Organismen auftretende) seine Ursache hat, oder nicht vielmehr einem ganz spezifischen Theoriedesign geschuldet ist, welches letztlich den gesamten Ansatz trägt. Begonnen werden soll mit der Erarbeitung jener Voraussetzungen, die erfüllt sein müssen, um Organismen als Selbstorganisierer oder -ersteller charakterisieren zu können. Dies berührt unmittelbar die Frage nach dem Umgang mit Zweckbestimmungen. In Anschluß daran ist auf die ontologischen Konsequenzen der investierten Begriffsbestimmungen einzugehen. Abschließend kann – unter Nutzung der systematische Differenz von „Lebewesen“ und „Organismus“ die Rede vom (biologischen!) Individuum als präparations-, methoden- und theorie-relativ näher konturiert werden. Es scheint danach wohl so, daß etwas das Individuum-Sein nicht (einfach!) an sich hat.
2. Selbstorganisierer als Herausgegriffene Wie bei jeder Bestimmung eines Gegenstandes besteht auch im vorliegenden Ansatz ein Anfangsproblem. Dieses läßt sich explizit an der prominenten Rolle des Ausdruckes „System“ festmachen, denn für dieses gilt: „Wenn wir annehmen, daß Lebewesen Systeme sind, so ist der Umstand, daß sie Grenzen besitzen und daß sie mit ihrer Umwelt interagieren, von empirischer, nicht von prioritärer ontologischer Relevanz. In ontologischer Hinsicht scheint es zumindest möglich, daß ein materieller Gegenstand zwar Grenzen besitzt, daß er aber 14 Ebd., S. 32. 15 Ebd.
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gleichwohl nicht in Interaktion mit seiner Umwelt steht, z. B. dann, wenn es keine Umwelt gibt.“16 Die Überlegung, es gäbe Systeme (der Status dieser Rede ist noch zu klären17), ohne von diesen Systemen zugleich behaupten zu müssen, sie hätten eine Grenze, die durch das bestimmt ist, was nicht zum System gehört und üblicherweise als Umwelt bezeichnet wird, ist von dem Bemühen geprägt, die methodologischen Engführungen „klassischer“ Systemkonzepte zu umschiffen18. Damit liegt der Focus auf dem, was das System gleichsam „an-sich selber“ ist, sodaß die Einführung solcher Einheiten mit der Tätigkeit des „Herausgreifens“ verbunden ist und eben nicht mit Tätigkeiten des „Konstituierens“, „Beschreibens“ oder „Präparierens“. Eine ähnliche begriffliche Strategie läßt sich bei Ansätzen neoraristotelischen Zuschnittes antreffen, welche die Verfasstheit insbesondere lebendiger Gegenstände auf deren intrinsische Aktivität zurückspielen19. Dies hat zur Folge, daß Lebewesen unmittelbar als σῶμα ὀργανίκόν anzusprechen sind20. Für die hier vertretene Systembestimmung von Lebewesen ist es methodologisch wichtig festzuhalten, daß mit diesem argumentativen Zug kein primär empirisches, sondern ein methodisches Problem verknüpft ist. So läßt die Überlegung, es sei ontologisch möglich, daß materielle Systeme wohl Grenzen aufwiesen, aber nicht in Interaktion mit der Umwelt (also dem NichtSystem) stünden, physikalisch an (thermodynamisch) isolierte Systeme denken. Allerdings sind selbst isolierte Systeme, als Systeme nämlich, durch ihre Grenze definiert, welche nichts andere ist, als
16 Ebd., S. 39 f. 17 Vgl. M. Gutmann, Erfahren von Erfahrungen. Dialektische Studien zur Grund legung einer philosophischen Anthropologie, 2 Bde., Bielefeld 2004. 18 Tatsächlich besteht „das“ klassische Systemkonzept, das von Lambert nämlich, auf der zweckbezogenen Auswahl der Elemente und deren Verknüpfungen (J. H. Lambert, Texte zur Systematologie und zur Theorie der wissenschaftlichen Erkenntnis, Hamburg 1988). Hier definiert die Zweckmäßigkeit die Einheit und damit die Grenze, gegenüber dem, was nicht zum System gehört. Die „Zweck mäßigkeit“ von Systemen wäre zudem die Folge ihrer Nutzung als Erkennt nismittel – im Gegensatz etwa zur Luhmannschen Insistenz auf deren (dann vermutlich beschreibungsinvarianten) Vorliegen oder Existenz (N. Luhmann, Soziale Systeme, Frankfurt a. M. 1994). 19 Etwa M. Thompson, Life and Action. Elementary Structures of Practice and Prac tical Thought (2012), Harvard, A. Kosman, The Activity of Being (2013), Harvard. 20 S. M. Gutmann, Lebewesen verstehen (2014), Deutsche Zeitschrift für Philo sophie, 62 (1), S. 90 -107.
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das mit dem Ausdruck „Umwelt“ belegte (also das nicht zum System gehörige). Eine Einführung des Ausdruckes „Grenze“, der solche begriff lich bedingten Probleme vermeidet, wäre zwar mit Blick auf dessen Form als Relationsausdruck möglich, der (mindestens) zweifach ungesättigt ein Verhältnis darstellt, von dem gilt, daß eine Grenze wesentlich Grenze „von x zu y“ ist.21 Die Herstellung der Grenze kann dann aber, trotz aller Beteuerung durch Selbstorganisationstheorien, keine Leistung im Wesentlichen des Systemes selber sein – vielmehr ist die Bestimmung der Grenzen nur mit Bezug auf anderes, hinsichtlich dessen nämlich das System ab-gegrenzt wird (und sich dann abgrenzt), möglich22. Ein Ausweg könnte im hier gegebenen begrifflichen Rahmen immerhin darin gesehen werden anzunehmen, daß die Grenzen absolut – d. h. nicht bezogen auf etwas, das nicht zum System gehört23 – gegeben seien: „Die Bestimmung der Grenzen des Selbstorganisierers hängt von der Bestimmung der Zugehörigkeit der Aktivitäten bzw. Teile ab, die für die Selbstorganisation relevant sind. Die Erhaltung der Differenz erscheint somit als eine Folge der Organisation des Gegenstandes, nicht aber als ein constituens.“24 Schon rein semantisch zeigt sich aber die Bezüglichkeit der Definition von Selbstorganisierern an der gewählten Formulierung, denn es sind eben die „Aktivitäten bzw. Teile, die für die Selbstorganisation relevant sind“25 – und mithin also diejenigen des als Selbstorganisierer verstandenen Gegenstandes. Die Antizipation des nun drohenden Zirkelvorwurfs, der schon gelegentlich Gegenstand 21 Zur begrifflichen Analyse von „Grenze“ siehe G. W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik (1832), Werke, Bd. 5 und 6 Frankfurt a. M. 1986 und H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch (1928), Berlin 1975. 22 Eben deshalb scheint „Historizität“ im Sinne von Zeitlichkeit eine wesentliche Bestimmung von Lebewesen zu sein, die im lebenswissenschaftlichen Zusam menhang meist mit Blick auf Evolution bestimmt wird; es ist also nicht nur gelegentlich sondern gleichsam qua Prämisse ein einzelnes Lebewesen eine spe zifische Abstraktion (F. Buddensiek, Die Einheit des Individuums, S. 72); vgl. M. Gutmann, M. Weingarten, „Die Struktur des systemtheoretischen Argumen tes“, in: H.-J. Rheinberger, M. Weingarten (Hrsg), Jahrbuch für Geschichte und Theorie der Biologie 2/1995, S. 7-15 23 Dies kann allerdings kaum die „Umwelt“ sein – jedenfalls nicht im üblichen sys temtheoretischen Sinne, der hier ja wichtig war (s. o.). 24 F. Buddensiek, Die Einheit des Individuums, S. 40; Hervorhebungen Buddensiek. 25 Ebd.
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der Auseinandersetzung mit systemtheoretischen, insbesondere mit autopoiese-theoretischen Ansätzen war26, zeigt exemplarisch die Schwierigkeiten, eine ontologische Basis für Referenten systemtheoretischer Beschreibungen zu finden, ohne das damit verbundene Anfangsproblem zu lösen.27
3. Herausgreifen und Anfangen Sollen „Individuen“ identifiziert werden, so ist zu wissen, nach welchen Kriterien die Auswahl dessen, „was sich zeigt“ (Phänomene) zu erfolgen hat, jedenfalls dann, wenn das Ziel nicht „die Struktur des Denkens über die Welt“ ist, als vielmehr „die Struktur der Welt oder Wirklichkeit“28. Das Herausgreifen wird also, diesem Ansatz gemäß, wesentlich nicht als Handeln gedacht, sondern als Beschreiben29. Nun ist grammatisch auch „beschreiben“ zunächst ein Verb und insofern Bezeichnung einer Tätigkeit, wobei die Mehrstelligkeit darin zum Ausdruck kommt, daß „A etwas unter Nutzung von M zu Zwecken Z beschreibt“. Das Gelingen oder Misslingen der Beschreibung wird dann u. a. von den jeweiligen Zwecken aber eben auch von den jeweils genutzten Mitteln (M) und deren Struktur 26 Vgl. P. Janich, Was ist Erkenntnis?, München 2000; M. Gutmann, M. Weingarten, „Die Struktur des systemtheoretischen Argumentes“, M. Gutmann, Erfahren von Erfahrungen 27 Instruktiv – allen methodischen Schwächen zum Trotz – hier immer noch Lam bert (J. H. Lambert, Texte zur Systematologie und zur Theorie der wissenschaft lichen Erkenntnis); zu Weiterem M. Gutmann, T. Syed, „Warum „kritische Evolutionstheorie“?“, in: I. Elbe, C. Zunke (Hrsg.), Oldenburger Jahrbuch für Philosophie 2012, S. 33-62. 28 F. Buddensiek, Die Einheit des Individuums, S. 22. 29 Dieses Verständnis ist naheliegend, wenn nicht auf Zweckmäßigkeit abgezielt wird, was den Vorwurf des Dezisionismus mit sich bringen könnte, der die resul tierenden Strukturen als „nur durch unseren Zugriff“ bestimmt ansähe (F. Bud densiek, Die Einheit des Individuums, S. 22). Da nun andererseits auch Beschrei ben (menschliches) Handeln ist, muß die Zweckdimension soweit immunisiert werden, daß die „Angemessenheit“ der Beschreibung (die sich bei Festhalten des Handlungscharakters gerade erst mit Bezug auf die Zwecke der Beschreibungen ergäbe) selber deskriptiv verstanden werden kann. Dann erst läßt sich zumindest sagen, daß Strukturen (der Welt) bestünden, auch „wenn sie nicht Gegenstand einer Instanz von Denken“ sind (F. Buddensiek, Die Einheit des Individuums, S. 22) – abgesehen von der unnötigen Reduktion gegenständlicher Erfahrung auf „Denken“ bleibt aber auch die Geltung solchen Sagens unklar.
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abhängen. Erst wenn die Handlungsstruktur des Beschreibens selber nivelliert und als Ausdruck der Widergabe von etwas verstanden werden soll, das es unabhängig von der Beschreibung in der Weise des Beschriebenen gibt, tritt das Zirkelproblem auf, welches für radikalkonstruktivistische Ansätze ein regelmäßiger Begleiter ist30. Dessen Vermeidung könnte unter diesen Umständen gelingen, wenn es ein Wissen von dem Gegenstand gäbe, das wesentlich von den weiteren Beschreibungsmitteln unabhängig ist. Dies scheint vorzuliegen, wenn das Gesuchte schlechthin ein „Einheits-Habendes“ ist: „Auf Individuen, d. h. „Einheits-Besitzer“, greifen wir zunächst aufgrund von Phänomenen zu, ohne mit diesem Zugriff schon etwas über die Konstitution der Einheit zu sagen.“31 Das „Einheit-Haben“ einer Sache wäre danach wesentlich eine Eigenschaft dieser Sache und zwar unabhängig vom Zugriff auf dieselbe. Die Frage aber, woher das Wissen um das Einheit-Haben von etwas stammt, läßt sich nicht beantworten mit Bezug auf das Konstituiert-Sein der Einheit durch Interaktion ihrer Teile – denn das entspräche dem klassischen, systemtheoretischen Zirkel. Im gegebenen Ansatz wird dies durch Verweis auf „Phänomene“ versucht, für die die Einheit als unabhängig vom Zugriff vorliegende Eigenschaft aufzufassen ist. Solche Einheiten können also nur deshalb herausgriffen werden – und ließen in einem zweiten Schritt etwas über das Zustandekommen der Einheit erfahren32 –, weil Phänomene existieren, die das Vorliegen der Einheit als Eigenschaft eines (!) Gegenstandes anzeigen. Die Frage, woher aber diese Phänomene selber bekannt sind, wird mit Verweis auf ihre Seins-Verfasstheit beantwortet: „Es trifft sich eben für Entitäten, die sich durch Einheit auszeichnen, daß sie auf eine bestimmte Weise herausgegriffen werden – was aber nicht heißt, daß sie dadurch konstituiert würden.“33 Nicht zufällig ist das Herausgreifen hier nun wesentlich passiv formuliert, als Herausgegriffen-Werden, womit sich das Begründungsproblem jetzt auf der Ebene des Herausgreifens selber einstellt34. 30 P. Janich, Was ist Erkenntnis? 31 F. Buddensiek, Die Einheit des Individuums, S. 43. 32 Z. B. als Resultat der Interaktion „ihrer“ Teile – was zum zweiten, „mereologi schen“ Zirkel führt. 33 F. Buddensiek, Die Einheit des Individuums, S. 43. 34 Es stellt sich dann ein Zirkel ein, wenn nach den Bedingungen des Gelingens der Handlung des Herausgreifens gefragt wird. Die Ähnlichkeit dieses Argum entzuges zum „zynischen Artbegriff“ ist nicht zufällig – es ließe sich auch der
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4. Das Einheit-Sein als kategoriales Problem Dies führt nun zu einer Problemdimension zurück, die dem primär begrifflichen Aspekt der Rede vom Individuum geschuldet ist, und mithin der Verwendung des Ausdruckes „Einheit“ selber. Dabei fällt zunächst auf, daß es sich um einen höherstufigen Ausdruck handeln muß, der insofern der Rede von „Individuum“ – mit Bezug zumindest auf die oben entfaltete Rede von „unteilbar“ – ähnelt. Weder Individuen noch Einheiten lassen sich exemplarisch durch Beispiel und Gegenbeispiel einführen. „Einheit“ kann zudem sowohl im Sinne von „Einheit-Sein“ als auch von „Einheit-Haben“ verwendet werden. Die erste Bedeutung zeigt sich an der Rede von Einheitlichkeit und der der Meßeinheit. Bei der zweiten Redeweise hingegen bezeichnet das „Einheit-Haben“ die Bestimmung von etwas als einem durch Einheit Ausgezeichneten (wobei dann die kategoriale Bestimmung von Teil und Ganzes zu ihrem Recht kommen mag). Um dies deutlicher herausarbeiten zu können, sei die substantivierende Rede verlassen und zur adjektivischen oder adverbialen von „einheitlich“ übergegangen. Es zeigt sich, daß „einheitlich bezüglich x“ im ersten Sinne soviel bedeutet wie „homogen bezüglich x“. Dies kann sich auf Stoffe beziehen, in welchem Fall etwa von einem „homogen “, also „nur aus Eisen bestehenden“ Gegenstand die Rede ist. Die Homogenität muß sich überprüfen lassen, für beliebig herauspräparierte Stücke des Gegenstandes. Doch muß die „Einheitlichkeit“ nicht nur auf elementare Stoffe sich beziehen, sie kann auch generell für Stoffe gelten und wird dann ebenso wie im genannten Fall, z. B. mit Blick auf Umsetzungen mit anderen Stoffen bestimmt.35 Die Rede kann sich aber auch auf numerisch verschiedene Gegenstände eines Typus beziehen, weswegen Kohorten durchaus sinn-
Bezug auf die Einführung von Homologien herstellen (P. Kitcher, „Species“, in: M. Ereshefsky (Hrsg.), The Units of Evolution, Cambridge, Mass. 1992, S. 317341; M. Weingarten, Organismuslehre und Evolutionstheorie, Hamburg 1992). Auch erkenntnistheoretisch findet sich ein solches Argument, nämlich in der engen Verknüpfung von Leben (als zu erkennendem Gegenstand) und Erkennen (als Leistung eines Lebendigen) – etwa H. R. Maturana, „Kognition“, in: S. J. Schmidt (Hrsg.), Der Diskurs des Radikalen Konstruktivismus, Frankfurt a. M. 1988, S. 89-118; zur kritischen Rekonstruktion siehe M. Gutmann, Erfahrungen von Erfahrungen. Dialektische Studien zur Grundlegung einer philosophischen Anthropologie, 2 Bde., Bielefeld 2004. 35 G. Hanekamp, Protochemie. Vom Stoff zur Valenz, Würzburg 1997.
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voll Einheiten einer Legion darstellen – weisen sie doch hinsichtlich etwa Bewaffnung, Training, Aufstellung etc. eine (zumindest gewisse) Homogenität auf, sodaß wiederum einzelne Exemplare von Kohorten herausgegriffen werden können, mit den genannten Erwartungen36. Aufwendiger gestaltet sich die Darstellung des Gemeinten bei der Rede von Einheit als „Maß für x“, wenn man etwa an Raum-, Zeit- und Massenmaße denkt. Die hier geltenden Homogenitätsanforderungen beruhen gleichwohl ebenso wesentlich auf Prozeduren der Her- oder Bereitstellung, wie in den beiden ersten Beispielen.37 Denn sowenig, wie Eisen einfachhin gefunden werden kann, ohne zuvor dessen Konstitution bestimmt zu haben38, sowenig gilt dies für Kohorten, Minuten oder Kilos. Beim „Einheit-Haben“ kommt zusätzlich ein Aspekt zum tragen, der oben keine prominente Rolle spielte (wiewohl er in gewisser Hinsicht bei dem Kohorten-Beispiel schon begegnete) und der sich in der Rede von „Organisation“ ausdrückt. Wie bei den Einheit-Seienden gilt auch hier, daß diese Gegenstände ihr so-Sein nicht einfach an-sich haben, sondern bezüglich bestimmter Hand36 Dabei ist über die Unterschiedlichkeit der Ränge (jedenfalls gelegentlich bei der ersten Kohorte einer Legion) hinwegzusehen. Diese aber wären wiederum einheitlich – bezüglich etwa Aufstellung. 37 P. Janich, Die Protophysik der Zeit, Frankfurt a. M. 1980; ders., Grenzen der Naturwissenschaften, München 1992; ders., „Das Experiment in der Biologie“, in: Theory in Biosciences 116/1997, S. 33-64; ders. Was ist Erkenntnis? 38 Um sagen zu können, daß ein gefundenes Stück Metall „wirklich“ Eisen sei, sind einige Tests notwendig – diese „machen“ das Metall nicht zum Eisen, sie bestimmen aber die Erwartungen, die sich mit der Behauptung verbinden, „x ist aus Eisen“. Nur wenn man von den in die „Entdeckung“ desselben (wie ande rer Elemente auch) eingehenden Handlungszusammenhängen ab- und einfach auf das Resultat hinsieht, wird Eisen zum bloß durch Herausgreifen Bestimm baren. Entsprechendes gilt für die Testung der Einheitlichkeit. Wichtig im hier gegebenen Zusammenhang ist nur die Verbindung von Eigenschaften eines Stoffes zu jenen Tätigkeiten, die es erlauben die Eigenschaften zu identifizieren. Ob diese dann tatsächlich verwendungs- (d. h. kontext-)invariant vorliegen, ist nicht formal zu beantworten, sondern letztlich nur experimentell (also in einem wohlverstanden methodischen Sinne „empirisch“); jedenfalls könnte schon die Veränderung in der Größendimension (etwa in den Bereich der Nano-Partikel) zu einer Veränderung von Eigenschaften führen. Die Tätigkeiten, die die Iden tifikation erlauben, sind – im Anfang – von grundlegenderer Bedeutung, als es der Ausdruck des „Herausgreifens“ Wort haben will (weshalb die Rede von der „Konstitution“ erster Gegenstände hier wohl angemessener erscheint (P. Janich, Grenzen der Naturwissenschaften, München 1992, und ders., „Das Experiment in der Biologie“, in: Theory in Biosciences 116/1997, S. 33-64).
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habungen und Beschreibungen – dies zumal auch von nicht-lebendigem sinnvoll gesagt werden kann, es sei „organisiert“. Beginnt man die weiteren Klärungen bei Artefakten (in einem weiteren Sinn), so fällt es nicht schwer, deren Organisiert-Sein als Resultat einschlägiger Handlungen – ihres Her- oder Bereitstellens nämlich – aufzufassen. Dabei läßt sich der Wortsinn des „ὄργανον“ zugrundelegen und feststellen, daß von etwas das Organisiert-Sein dann ausgesagt werden wird, wenn es bezüglich ausgezeichneter Zwecke „organisiert“ wurde. Der Ausdruck „organisieren“ bezeichnet aber nicht eine Handlung sondern Handlungstypen, die sich wesentlich auf die Vermittlung von Zwecken und die Verzweckung von Mitteln beziehen. Die Organisation einer Verwaltung bedeutet damit sicher etwas anderes, als die der römischen Verteidigung von Alesia oder der Produktion von Nylon. In jedem dieser Fälle ist sinnvoll von einer „zweckgemäßen“ Anordnung und Zusammenstellung39 von etwas zu sprechen, wobei sich das Anordnen auf räumliche, zeitliche, stoffliche oder andere Aspekte im Umgang mit etwas beziehen wird. Auch das Aufteilen solcher Einheiten, die durch die Tätigkeit des Organisierens ihr Einheit-Haben gewinnen, wird dann wieder nach Zwecken erfolgen etc.40 Methodologisch interessant ist für den in Rede stehenden Zusammenhang der Übergang zum Bereich der nicht-Artefakte und an dieser Stelle zeigt sich nun, daß die Nivellierung der Rede von „Lebewesen“ und „Organismus“ für den Argumentaufbau tatsächlich hinderlich ist. In Beantwortung der zweiten der oben formulierten Fragen ging es dabei allerdings nicht um einen etwa zu rügenden Biologismus der Rede vom Organismus (das Organismus-Sein impliziert also nicht das Lebewesen-Sein); vielmehr wird damit eine semantische Differenzierungsmöglichkeit verschenkt, die sowohl für das Verständnis von Einheit-Haben wie von Individuum-Sein (nun in einem zu explizierenden biologischen Sinne) relevant wird.
39 Hier wäre also der locus naturalis des Systems – als eines Zusammengestellten. 40 Von Widerfahrnissen des aufgeteilt-Werdens sei abgesehen; ein Belastungs bruch eines Hebels ist sicher ein Aufteilen, aber gerade kein zweckmäßiges. Er ist andererseits als Störung bezüglich der Funktion des Hebels bestimmt und führt möglicherweise zur Organisation des Reparierens (grundsätzlich dazu M. Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 1993).
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5. Vom Teil zur Struktur, vom Lebewesen zum Organismus Wenn man nun sich bemühte, statt herauszugreifen, anzufangen, dann liegt es allerdings nahe, eine materiale Prämisse zurückzuweisen, daß nämlich das „Selbstorganisierer-Sein“ eine intuitiv seit der Antike bekannte Anschauung von Organismen sei. Problematisch wird diese Prämisse weniger wegen der nun gleichzeitig zu verteidigenden Aussage, daß es sich bei den aristotelischen Darstellungen von Bewegungen um eine prozess- und nicht um eine substanzphilosophische Erörterung handele (wogegen es gute Gründe gibt41); auch soll nicht die Frage aufgeworfen werden, ob die in Anspruch genommenen Konzepte der Autopoiese und Selbstorganisation nicht doch einen Energiebegriff benötigen, der überhaupt erst nach der Entfaltung der Thermodynamik und der Nutzung komplexer mathematischer Mittel bereitgestellt werden konnte – dies ist jedenfalls dann bedeutsam, wenn der begriffliche (!) Zusammenhang von Selbstbe weger und Selbstorganisierer hergestellt werden soll. Vielmehr steht in Frage, in welchem Sinne es angemessen ist zu sagen, etwas sei ein Selbstorganisierer, ohne zugleich auf hochentwickelte wissenschaftliche Beschreibungen zurückgreifen zu müssen, mithin also den intu itiven Status der Rede von Selbstorganisation instantan zu dementieren. Es fällt jedenfalls auf, daß gerade in den genutzten Ansätzen regelmäßig nicht von Selbstorganisierern die Rede ist, sondern etwa von Selbstorganisation als Resultat der Aktivität von selbstorganisie renden (oder auch von autopoietischen42) Systemen.43 Für den Status solcher Systeme läßt sich eine wichtige Asymmetrie ausmachen: 1. Es ist möglich, ein Wissen über Lebewesen zu erwerben, ohne zugleich ein solches über Systeme, Selbstorganisation oder Kom plexität in Anspruch nehmen zu müssen. 2. Umgekehrt lassen sich biologische Einheiten oder deren Eigenschaften – z. B. im Sinne von Selbstorganisation, Systemen oder Komplexität – nur dann einführen, wenn schon ein, häufig implizit bleibendes, Wissen über Lebewesen verfügbar ist. 41 W. Wieland, Die aristotelische Physik, Göttingen 1962. 42 Damit ist nicht die Identität beider angezeigt; Letztere können aber als Teilklasse Ersterer bestimmt werden. 43 F. Varela, Autonomy and Autopoiesis, in: G. Roth, H. Schweiger (Hrsg.), Self organizing Systems, Frankfurt a. M. 1981, S. 14-23; G. Roth, „Selbstorganisation und Selbstrefentialität“; H. R. Maturana, Biologie der Realität, Frankfurt a. M. 2000.
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Die Unabhängigkeit der Rede von „Lebewesen“ von den angeführten, für wissenschaftliche Beschreibungen gleichwohl einschlägigen Ausdrücken ist einfach mit Blick darauf zu plausibilisieren, daß Lebewesen in vielerlei praktischen und lebensweltlichen Zusammenhängen begegnen, ohne relevanten Wissens zu bedürfen, das deren wissenschaftlicher Strukturierung entstammte. Der zweite Aspekt wird deutlich an der Notwendigkeit, daß Beschreibungen von etwas (wie z. B. Lebewesen) als selbstorganisierendes System jedenfalls dann als adäquat auszuweisen sind, wenn damit wissenschaftliche Ansprüche sich verbinden44. Für die lebensweltliche Rede von Lebewesen und deren Eigenschaften, Fähigkeiten oder Fertigkeiten, läßt sich entsprechendes umgängliches Wissen anführen, das wesentlich Handlungswissen ist, bezüglich dessen sich gewisse Eigenschaften etc. von Lebewesen zeigen – man denke exemplarisch an Haltung, Züchtung, Kultivierung, Arbeitsnutzung oder Konsumtion von Lebewesen.45 Nun sind Lebewesen in dem hier angesprochenen Sprachspiel weder komplex noch sind sie organisiert oder organisieren sich selbst – sie können aber auf diese Weise beschrieben werden.46 Dieser Sprachebenenübergang korreliert mit einer Transformation der Praxis, denn es werden nicht mehr primär lebensweltliche Verfahren und die ihnen entsprechenden Wissensformen vorwiegend relevant sein, sondern solche, die wesentlich auf die Erzeugung situtations- und personeninvarianten Wissens angelegt sind. Das Verlassen der lebensweltlichen und der Eingang in die wissenschaftliche Handhabung von Lebewesen kann sprachlich durch den Übergang von Lebewesen zu Lebewesen, beschrieben als funktionale Einheiten, nachvollzogen werden; der Ausdruck „Organismus“ zeigte dann den Übergang in das wissenschaftliche (hier das biologische) Sprachspiel an.47 Die Beschreibung von Lebewesen als Organismen ist nun ihrerseits nur durch erhebliche Zurüstun44 In selbstorganisationstheoretischen Ansätzen wird diese Differenz meist da durch verdunkelt, daß eben regelmäßig schon von Organismen gesprochen wird, wenn grundlegende Begriffe von Selbstorganisation eingeführt werden. 45 Dazu im Detail M. Gutmann, Die Evolutionstheorie und ihr Gegenstand. Beitrag der Methodischen Philosophie zu einer konstruktiven Theorie der Evolution, Berlin 1996; M. Weingarten, Organismuslehre und Evolutionstheorie. 46 Zur Rekonstruktion des Ausdruckes „Selbstorganisation“ siehe M. Gutmann, B. Rathgeber, T. Syed, „Autonomie“, in: A. Stephan, S. Walter (Hrsg.), Handbuch Kognitionswissenschaft, Stuttgart 2013, S. 230-238. 47 Hierzu P. Janich, M. Weingarten, Wissenschaftstheorie der Biologie, München 1999; M. Gutmann, P. Janich, „Überblick zu den methodischen Grundproblemen der Biodiversität“, in: P. Janich, M. Gutmann, K. Prieß (Hrsg.), Bodiversität. Wis
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gen möglich, die zusammenfassend als „Modellierung“ angesprochen seien. Es werden dabei Lebewesen und deren Teile als Organismen und deren Strukturen oder allgemeiner als organismische Konstruktionen modelliert.48 Dabei kann zunächst ein Hinweis von Aristoteles49 auf den Handlungsaspekt von „Teil“ aufgenommen werden: so lassen sich etwa Dauern gemäß ihrer Länge aufteilen, in kleinere Einheiten, für die z. B. lineare Superposition gilt; eine Dauer läßt sich danach in kleinere Dauern aufteilen, wobei die Zusammensetzung von deren Längen wieder die Länge der ursprünglichen Dauer ergäbe. Gleichwohl folgt daraus aber nicht, daß Dauern aus elementaren Zeiteinheiten50 aufgebaut wären – andernfalls u. a. die Zenonischen Paradoxien sich einstellten. Das Teilen ist also nicht notwendigerweise die einfache inverse Operation zum Zusammenstücken (es gibt gleichwohl Fälle, wo dies zutrifft). Bei Lebewesen wäre eine solche Asymmetrie in Anspruch zu nehmen, weswegen zur Herstellung von Lebewesen wieder Lebewesen benötigt werden und nicht deren Teile51 (auch hier besteht ein Unterschied zur allgemeinen Rede von selbstorganisierenden Systemen und Lebewesen, die als solche beschrieben wurden). Nun lassen sich gleichwohl Lebewesen auf die unterschiedlichste Art und Weise teilen, von denen nicht jede gleichermaßen für (lebens-)wissenschaftliche Zwecke geeignet ist. Die Eignung allerdings ergibt sich erst im Lichte des resultierenden Wissens von diesen Teilen und deren Bezug auf die als Organismen beschriebenen Lebewesen, ein Vorgang der mit der Genese
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senschaftliche Grundlagen und gesellschaftliche Relevanz, Berlin 2002, S. 3-27; dies., „Methodologische Grundlagen der Biodiversität“, in: ebd., S. 281-353. Hierzu im Detail M. Gutmann, Die Evolutionstheorie und ihr Gegenstand. Aus gehend hiervon, können „Systeme“ eingeführt werden; es hindert zudem nichts, „organismische Konstruktionen“ diesen Ausdruck zuzulegen – lediglich der Be zug auf die, hier als relevant angezeigten – methodischen – Anfänge würde da durch verdunkelt (M. Gutmann, „Life, organism or system?“). Aristoteles, Physik, hrsg. u. übers. v. H. Zekl, Hamburg 1995, IV,10 ff. Ebd., IV, 10, 218a8: „ἐκ τῶν νῦν“ – aus „Jetzten“ wie Zekl übersetzt; zur methodologischen Rekonstruktion der Zeit siehe P. Janich, Die Protophysik der Zeit. Ersichtlich ist dies der Einsatzort der synthetischen Biologie, die also genau ge nommen nicht an Lebewesen, sondern an Organismen arbeitet; es werden im wahren Sinne des Wortes „organismische Konstruktionen“ erzeugt und zwar im „Ingenieursparadigma“ (M. Gutmann, B. Rathgeber, T. Syed, „Organic com puting: metaphor or model?“, in: C. Müller-Schloer; H. Schmeck, T. Ungerer (Hrsg.), Organic Computing. A Paradigm Shift for Complex Systems, Basel 2011, S. 111-125).
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wissenschaftlicher Erfahrung selber verknüpft ist. Bei den für (lebens-)wissenschaftliche Zwecke relevanten Formen des Aufteilens von Lebewesen – nämlich im Rahmen präparativer Praxis – ist es allerdings unabdingbar, auf Wissen zu referieren, das anderen Praxen entstammt – etwa der Planung, dem Bau und Betrieb sowie dem Erhalt von Artefakten, speziell von Maschinen.52 Die funktionale Strukturierung von Lebewesen oder ihren Teilen wird ihren Anfang beim Teilen nehmen – allerdings nicht bei beliebigem: Indem etwa Lebewesen beschrieben werden, als seien sie Maschinen wird ein Strukturierungswissen ins Spiel kommen, das zum einen unabhängig von biologischem Wissen ist. Hier findet sich also ebenfalls die oben angemerkte Geltungsasymmetrie, bezogen nun auf die Tatsache, daß zwar ein Wissen über Bau, Betrieb und Erhalt von Maschinen verfügbar ist, ohne auf relevante biologische Wissensbestände zu referieren, nicht aber das Umgekehrte der Fall sei. Doch kommt hinzu, daß bestimmte Beschreibungen der Arbeitsfähigkeit von Maschinen sich dazu nutzen lassen, Lebewesen als funktionale Gebilde strukturieren zu können; hierher gehört etwa – zumindest im Felde klassischer Maschinen – das Wissen um Kraft-, Materialund Formschluß, die zusammenfassend als Kriterien der Kohärenz bezeichnet werden53. Die Präparation wird im Lichte solchen Wissens zu erfolgen haben, die resultierende Modellierung, anhand unterschiedlicher Typen von Maschinen wird danach Zusammenhänge identifizieren – bezüglich der genannten Kriterien. Diese Zusammenhänge unterscheiden sich z. T. grundlegend, je nach investiertem Modell54. So werden für das mechanische Verständnis der Muskelfunktion die von Borelli genutzten Hebelapparaturen 52 M. Gutmann, Die Evolutionstheorie und ihr Gegenstand; M. Weingarten, Or ganismuslehre und Evolutionstheorie; W. F. Gutmann, K. Bonik, Kritische Evo lutionstheorie, Hildesheim 1981. 53 Kohärenz ist also im hier vorgeschlagenen Sinne gerade kein „bloßer“ sondern ein qualifizierter Zusammenhang; damit ist weder einfach wahr, daß „in“ einem Organismus alles mit allem zusammenhängt, noch daß dies nicht der Fall sei. Es kommt vielmehr darauf an, die Zusammenhänge in der genannten Weise zu spezifizieren. Hierzu W. F. Gutmann, K. Bonik, Kritische Evolutionstheorie und M. Gutmann, „Aspects of Crustacean evolution. The relevance of morphology for evolutionary reconstruction“, in: M. Gudo, M. Gutmann, J. Scholz (Hrsg.), Concepts of Functional, Engineering and Constructional Morphology: Biome chanical Approaches on Fossil and Recent Organisms. Senckenbergiana letheia 82 (1), Frankfurt a. M. 2002, S. 237-266. 54 Die Rede vom Mechanismus ist also modelltheoretisch sowohl adäquat als auch wenig überraschend.
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hinreichend sein; sie sind es nicht mehr, wenn die Zusammenhänge der die „Muskeln“ bildenden Gewebe dargestellt werden sollen.55 Schließlich treten zu den im weitesten Sinn technischen und physikalischen Wissensbeständen noch andere, etwa chemische hinzu, wenn z. B. physiologische Vorgänge, die chemisch vermittelte Interaktion konstitutiver Gewebe oder deren zytologische Struktur in den Blick kommen. Dies zeigt sich, wenn etwa über die bloße Leitungsfunktion von Neuronen – deren Struktur sich zunächst ebenfalls bezüglich anatomischer sowie der anschließenden „chemischen56“ Präparation57 ergab – hinausgehend ermittelt werden soll, auf welche Weise die für die elektrischen Phänomene notwendigen Ladungsverschiebungen zustandegebracht werden58. Aus all dem folgt nun nicht, daß die Strukturen, welche identifiziert werden, gleichsam durch die Modellierung einfach erzeugt werden; Modellierung und mithin auch Strukturierung wird vielmehr an Widerständigkeiten orientiert sein, die sich aber – wie es das Wesen des Widerständigen ist – erst im Tun zeigen. Es steht also lediglich in Abrede, daß die Darstellung dieser Strukturen ihre Geltung unabhängig vom Bezug auf die investierten Mittel erhält. Das „SichZeigen“ der Strukturen ist vielmehr ein „Sich-bezüglich-Zeigen“, wobei die jeweilige präparative Praxis das Medium der Darstellung ist. Insofern ist es auch adäquat, etwa die Präparation von anatomischen Strukturen als „Darstellung“ derselben, die von Stoffen als deren „Darstellung“ zu bezeichnen; „darstellen“ ist eben nicht einfach Abbilden dessen, was – gleichsam vor der Darstellung – vorhanden ist. Wie wichtig die Praxisrelativität der Strukturierung ist, zeigt sich daran, daß Modellierung auch scheitern kann (und können muß); es lassen sich zwar bestimmte Eigenschaften und Fä55 W. F. Gutmann, K. Bonik, Kritische Evolutionstheorie. 56 Man denke an Fixierung, evtl. Beizung, Färbung oder komplexere histologische Präparation inklusive Einbettung, Schnitt etc.; Entsprechendes für nicht optische Darstellungen wie die mittels Elektronenmikroskopie. Es sind selbstverständlich auch bildgebende Verfahren ohne chemische Präparation möglich; diese hängen aber wissensmäßig von den erstgenannten auf nicht triviale Weise ab. 57 Es ist weiter zu bedenken, daß damit die Art der Zusammenhänge von der Art der Mittel abhängt, die diese zur Darstellung bringen; es handelt sich eben über haupt um „Darstellung“ – übrigens ein im anatomisch-chirurgischen ebenso wie etwa im chemischen Zusammenhang gebrauchter und durchaus glücklich gewählter Ausdruck. 58 Vgl. etwa A. L. Hodgkin, A. F. Huxley, „A quantitative description of membrane current and its application to conduction and excitation in nerve“, in: Journal of Physiology 117/1952, S. 500-544.
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higkeiten von Skelett-Muskel-Systemen biomechanisch mit Starrkörper-Strukturen modellieren; andere wiederum nicht, sodaß hier Modellwechsel notwendig sind59. Wenn daher von „der“ Struktur „des“ Organismus die Rede ist, so wird damit implizit nicht nur auf einfache Modellierung sondern auf Bewährungsgeschichten (!) bisheriger Modellierungspraxen abgestellt60. Die aus solchen Praxen resultierenden Strukturen werden zu „Organismen“ integriert, wobei nun Kohärenzen höherer Ordnung gelten. Denn es ist eine aus dem modellierenden Herangehen gespeiste Erwartung – gemessen am Modell der kraftschlüssigen Maschine etwa –, daß die Strukturen nicht nur „zusammenpassen“, sondern auch gemeinsam „funktionieren“. Es handelt sich also durchaus wesentlich um die Kohärenzen61 der Beschreibungen von (organismisch strukturierten) Lebewesen. Dabei spielen unstrittig die lebensweltlich gleichsam „natürlicherweise“ ausgezeichneten Einheiten (also etwa Pferde, Schweine oder Forellen) eine herausragende Rolle als me thodische Anfänge.
6. Individuation in Praxen Die aus solchen Praxen resultierenden Strukturierungen von Lebewesen und ihren Teilen erlauben den Übergang zur Rede von „Organismus“ und „System“; es dürfte jedoch dem Anliegen dieser 59 Etwa der Übergang zu hydraulischen Hülle-Füllungs-Konstruktionen; siehe W. F. Gutmann, K. Bonik, Kritische Evolutionstheorie. 60 Mit allen daraus folgenden Schwierigkeiten – denn das Verharren bei bestimm ten Modelltypen kann gerade dasjenige verdecken, was zum Verständnis einer organismischen Konstruktion notwendig wäre (was aber erst ex post gesagt werden kann) – wiederum scheint hier der Verweis auf das Hydraulikmodell angebracht (M. Gutmann, T. Syed, „Warum „kritische Evolutionstheorie“?). Aber auch in anderen Feldern gilt dies – man denke nur an die zahlreichen Mo dellwechseln in „der“ Genetik (H. J. Rheinberger, Toward a History of Epistemic Things. Synthesizing Proteins in the Test Tube, Stanford 1997; ders., „Regula tion, Information, Sprache – Molekulargenetische Konzepte in Francois Jacobs Schriften“, in: Epistemologie des Konkreten, Frankfurt a. M. 2006, S. 293-309; ders., „Die Evolution des Genbegriffes – Perspektiven der Molekularbiologie“, in: ebd., S. 221-244; M. Bölker, M. Gutmann, T. Syed, „Existiert ‚genetische In formation?‘“, in: M. Bölker, M. Gutmann, W. Hesse (Hrsg.), Menschenbilder und Metaphern im Informationszeitalter, Münster 2010, S. 155-180). 61 Diese Doppelung (Kohärenz der Struktur und Kohärenz der Beschreibung) er gibt sich aus der komplexen semantischen Struktur von „Darstellen“.
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Überlegungen besser entsprechen, anstelle der, eine substantielle Einheit insinuierenden, substantivischen Verwendung auf die adjektivische oder adverbiale einer „organismischen Konstruktion“ oder allgemeiner zur „organismischen Strukturierung“ von62 Lebewesen überzugehen (entsprechendes böte sich für das etwas sperrige „systemisch“ an). Eine solche Beschreibung beginnt in der Regel mit – lebensweltlichen – Exemplaren, die – bezüglich des relevanten umgänglichen Wissens – als Individuen, d. h. als Einheiten lebensweltlicher Praxis aufgefaßt werden. Was zu einem Lebewesen als Individuum „gehört“ und was nicht, bestimmt sich im Zusammenhang der Praxis und nicht in Betrachtung des Lebewesens „ansich“. Dabei ist die mediale Formulierung des „sich-Bestimmens“ wichtig, denn es zeigt sich im Zusammenhang eines Tuns ein Lebewesen auf eine bestimmte Weise – und die Bestimmtheit dieser Weise ist weder einfach vom Handelnden noch einfach vom Behandelten erzeugt. Doch schon im Rahmen nur lebensweltlichen Tuns ergeben sich prägnante Unterschiede bezüglich „individueller“ Eigenschaften von Lebewesen. So ist für den Einsatz von Pferden als Arbeitstieren ein einzelnes zunächst der hinreichende Bezugspunkt – es bleibt dies vielleicht auch beim Zusammenstellen von mehreren etwa vor eine Quadriga, obgleich hier schon nicht mehr sinnvoll nur von den Eigenschaften einzelner Wesen sondern besser von den Eigenschaften bestimmter Gruppierungen derselben gesprochen werden sollte. Noch deutlicher werden die Unterschiede, wenn man zur Züchtung oder Kultivierung übergeht. Während ein Arbeitsindividuum „Pferd“ mit einem Exemplar durchaus identisch ist (mit den Einschränkungen von oben), gilt dies nicht mehr notwendig für „reproduktive Individuen“ – denn diese werden wohl von (mindestens) zwei Exemplaren „Pferd“ unterschiedlichen Geschlechtes gebildet. Dies ist schon bei Bienen wieder anders, wobei der Zusammenhang der wohlunterscheidbaren und je für sich (in gewissem Maße) lebensfähigen Exemplare als Individuen ein anderer ist, je nachdem, welche Aspekte der Betrachtung im Vordergrund 62 Zwar ist regelmäßig von organismischen Beschreibungen „eines“ Lebewesens die Rede; dabei wird aber leicht übersehen, daß es ebenso regelmäßig um „eines von solchen“ (etwa Exemplaren von Typen) zu tun ist. Biologische Beschreibun gen beziehen sich – und auch insofern sind sie (natur-)wissenschaftlich – nicht lediglich auf einzelnes (das gilt auch für „Evolution“, denn die Darstellung die ses – unstrittig einmaligen – Vorganges erfolgt mit Bezug auf Verlaufs- und Ge setzeswissen, das wiederum in der oben dargestellten funktionalen Normalform erarbeitet wurde; (M. Gutmann, „Aspects of Crustacean evolution“).
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stehen63. Ein – lebensweltlich – anschaulicher Fall wird schließlich durch Pfropfung etwa im Zusammenhang des Weinbaues repräsentiert, bei der faktisch neue Einheiten gebildet werden, obgleich durch Zusammensetzung erhaltene. Zusammenfassend mögen die im Wortsinne praktischen Einheiten, welche hier exemplarisch in Rede stehen, lebensweltlich hinreichend durch „die Pflanze“ oder „das Tier“ wiedergegeben werden – und genau diese, lebensweltlich einigermaßen stabile – RedeEinheit erweist sich beim Übergang in den biowissenschaftlichen Zusammenhang als äußerst fragwürdig (jedenfalls dann, wenn es um die Auszeichnung eines ontologisch wohlbestimmten Referenten der Ausdrücke geht).
7. Zur Strukturierungsrelativität biologischer Individuen Der methodische Anfang wurde bei lebensweltlichen Individuen genommen. In dieser Ansprache ist aber die Einheit praxisbezüglich bestimmt (im explizierten medialen Sinne); es werden also auch hier schon Individuationen vorgenommen, ohne die Einheit des Individuums notwendig (nur) am Exemplar zu orientieren. Noch deutlicher wird diese Funktionalisierung der Einheit und der Individuation, wenn der Übergang in den biowissenschaftlichen Zusammenhang stattfindet. Denn zwar ist hier die Rede von „der“ Einheit theoriesprachlich an die Auszeichnung funktionaler Zusammenhänge geknüpft. Dies hindert gleichwohl nicht, einen ontologischen Primat zu sehen, sodaß in einer gewissen Lesart ein aristotelisches Verständnis des Selbständig-Seins von etwas angesetzt wird, bezüglich dessen gilt, daß es seinerseits nicht wieder Teil eines anderen Selbstständigen sein kann64. Der Primat des Ontologischen gerät 63 Es bleibt hier wie bei anderen Aggregaten richtig, daß diese zerfallen können, ohne daß zugleich die Konstituenten zerfallen (F. Buddensiek, Die Einheit des Individuums, S. 72 ff.); gleichwohl bedeutet die Vermutung, daß letztere der „Normalfall“ seien eine (ontologische) Vorentscheidung, deren (biologische) Konsequenzen aber zu rechtfertigen wären. Die Vermutung, daß es einem ein zelnen Wesen – etwa „einem einzelnen Menschen – prinzipiell“ möglich sei, „unabhängig und eigenständig zu leben“ (F. Buddensiek, Die Einheit des Indivi duums, S. 81) läuft Gefahr, „leben“ auf „überleben“ zu nivellieren. 64 F. Buddensiek, Die Einheit des Individuums, S. 69 ff. Dies läßt andere, eher sprach analytisch orientierte Lesarten außer Acht. (W. Sellars, „Substance and form in
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allerdings leicht in einen Konflikt mit den theoriesprachlichen und methodischen Anforderungen moderner Biologie, welche in der Tat wesentlich auf die funktionale Strukturierung ihrer Gegenstände angelegt ist. Dies drückt sich in dem Bedürfnis aus, eine Abgrenzung (ontologisch) echter Individualität nach „oben“ und „unten“ vorzunehmen – bezogen also auf die in den Biowissenschaften übliche Schichten-Rede der Organisation des Natürlichen: „Im ersten Fall spreche ich vereinfachend von der ‚Abgrenzung nach oben‘, im zweiten Fall von der ‚Abgrenzung nach unten‘. Im ersten Fall geht es um das Verhältnis des Gegenstandes zu umfassenden Entitäten, wie z. B. das Verhältnis eines einzelnen Menschen zu sozialen Organismen, die ihn umfassen. Im zweiten Fall geht es um das Verhältnis z. B. des einzelnen Menschen zu den Teilen, d. h. insbesondere zu den „Partikeln“, aus denen er besteht. In beiden Fällen geht es um die Frage, ob bzw. weshalb die ontologische Ebene des einzelnen Menschen gegenüber den anderen (höheren oder niederen) Ebenen ontologische Priorität besitzt.“65 Nun steht nach den bisherigen Ausführungen ohnehin in Frage, ob es – biowissenschaftlich – sinnvoll ist, davon zu sprechen, daß ein Lebewesen aus Teilen bestehe; daß dies methodologisch fragwürdig ist, legten die oben an einer handlungstheoretischen Lesart von Aristoteles orientierten Überlegungen nahe. Ebenso kann dieses Argument aber – biowissenschaftlich – auf die Verknüpfung jener Gegenstände bezogen werden, die ausgehend vom methodischen Anfang als organismische Konstruktionen bezeichnet wurden. Die besondere Auszeichnung dieser Gegenstände ergab sich im vorgeführten methodischen Argument gerade aus der Form der Gegenstandsansprache im methodischen Anfang; und hier dürfte vermutlich unstrittig gelten, daß es sich – biowissenschaftlich gesprochen – regelmäßig um morphologische (!) Individuen handelt, die den Anfang für die Konstruktion erster biologischer Gegenstände liefern66. Doch schon im lebensweltlichen Zusammenhang zeigte sich, daß nur unter Absehung vom gesamten Lebensvollzug der Aristotle“, in: Journal of Philosophy 54/1957, S. 688-699). Zum Überblick vgl. H. Steinfath, Selbstständigkeit und Einfachheit, Frankfurt a. M. 1991. 65 F. Buddensiek, Die Einheit des Individuums, S. 69 f. 66 Es gilt dies ersichtlich einfachhin nur für Tiere und auch hier nur für höhere Vertebraten und vermutlich zumeist wieder nur für die lebensweltlich vertrau ten Formen, also einiger (!) Mammalier. Von dem erheblich größeren „Rest“ wird ganz abgesehen – wie etwa Cestoden, Nemathelminten aber auch Groß gruppen wie Porifera oder kolonien- und stolonenbildende Coelenteraten etc.
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jeweiligen Lebensformen diese Ebene ausgezeichnet werden konnte (s. o.). Noch stärker stellt sich ein gewisses Unbehagen bezüglich der lebenswissenschaftlichen Praxis ein, denn hier ist unter „morphologisch“ die funktionale Strukturierung nicht einfach vorfindlicher einzelner Lebewesen zu verstehen, sondern letztlich ganzer life-cycles. Diese können in der Tat nicht nur starke morphologische Umkonstruktionen des jeweiligen Organismus mit sich bringen, sondern übergreifen z. T. distinkte Lebensformen (man denke exemplarisch an holometabole Insekten). Bei der am typischen Exemplar („die“ Ameise, „der“ Käfer) orientierten Beschreibung lassen sich gewisse funktionale Zusammenhänge gar nicht modellieren, weil die entsprechenden Phänomene nicht auftreten – wie etwa der Blick auf „soziale“ Insekten zeigt. Schon die Organisation einer Wanderameisen-„Straße“ verweist zwar auf Voraussetzungen morphologischer Individuen67, ist aber gerade nicht eine einfache Aggregation68 derselben (sondern eben eine „Organisation“ – im oben explizierten Doppelsinn bezogen auf etwas und auf die Mittel, die in die Organisation durch den Betrachtenden eingehen). Zeitlichkeit ist ebenso wie Räumlichkeit und Stofflichkeit ein notwendiger Aspekt dessen, was als biologischer Gegenstand auftritt. Im Falle der Modellierung ökologischer Zusammenhänge ist dies schon auf der Modellebene ersichtlich, bedenkt man etwa die starke Semantik, die in der Beschreibung von biotischen Zusammenhängen als Momenten einer „world-engine“ zutage tritt69. Auch die aus funktionalistisch-kybernetischen Ansätzen resultierenden „Systeme“ beinhalten Referenzen auf die morphologische Ebene, ohne doch in diesen aufzugehen. Systeme „gibt“ es also nicht einfach – Nimmt man diese in den Blick, dann werden die lebensweltlich vertrauten For men in vielerlei Hinsicht zu Ausnahmen! 67 Siehe etwa B. Hölldobler und E. O. Wilson, Der Superorganismus, Heidelberg 2009. 68 Unbenommen der Tatsache, daß sie tatsächlich in morphologische Individuen seggregierbar ist. Das semantische Problem besteht hier darin, daß „Verhalten“ nicht auf der Ebene eines einzelnen beschreibbar ist; es erscheint aber (metho disch) unplausibel, die sich-verhaltenden Gegenstände von ihrem Verhalten ab zutrennen – was analytisch gelingen mag. Dies vor allem deshalb, weil in den methodischen Anfang das „Sich-Verhalten“ schon einging (hier als „Bionomie“ bezeichnet; dazu W. F. Gutmann, K. Bonik, Kritische Evolutionstheorie. Sollten sich Argumente für eine ontologische Interpretation solcher analytischen Diffe renzierungen ergeben, dann wäre der entstehende Widerspruch sicher nicht den Biowissenschaften anzulasten. 69 A. J. Lotka, Elements of Physical Biology, New York 1925.
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weder „in“ der Natur noch „in“ Organismen; sie können aber unter Angabe der jeweiligen die Fragestellung leitenden Zwecke zusammengestellt und modelliert werden70. Folgt man dem Argument der Unteilbarkeit als einer funktionalen Bestimmung, so gilt dies auch für Fälle, in denen nicht morpho logisch strukturierte organismische Konstruktionen prävalieren. Der Grund für diese Divergenz von ontologischer und methodi scher Auffassung von Individuen besteht vermutlich in radikal unterschiedlichen Bewertungen des Zweckaspektes biowissenschaftlicher Strukturierung, Modellierung und Beschreibung.
8. Zum Schluß: das Problem der Zwecke Es ist weder sinnvoll, auf eine These einfach mit einer Gegenthese zu reagieren, noch folgt aus der Einschränkung oder Zurückweisung der einen die Adäquatheit oder Richtigkeit der je anderen. Die vorliegenden Überlegungen zielten daher auch eher darauf ab, Bedingungen zu bestimmen, die beim Ausgang von Individuen in lebenswissenschaftlicher Rede (etwa als selbstorganisierende Systeme) sich ergeben, wie zugleich auf die entstehenden – als ontologisch erscheinenden – argumentativen Verpflichtungen. Das Resultat der Rekonstruktion derselben kann daher auch nicht die Juxtaposition eines ungezügelten Systemismus zu einem ebenso uneingeschränkten Individualismus sein, der – gleichsam als dessen Antidot – derselben Kritik verfiele. Es sollte mit dem Aufweis der Darstellungsrelativität von „Individualität“ in der Biologie lediglich der Blick geöffnet werden darauf, daß sosehr auch „die Natur“ oder „die Lebewesen“ wesentlich Gegenstand der Tätigkeit als Biologen sein mögen, die resultierenden Beschreibungen und Bestimmungen immer auch die Inschriften der jeweiligen Handha bung dieser Gegenstände tragen. Das Individuum-Sein ebenso wie das Einheit-Haben sind in wohlverstandenem Sinne, Formen der Strukturierung des Umganges mit Gegenständen – hier mit Lebewesen und einigem mehr –, die erst bei Abblendung des Praxis-Aspektes lebenswissenschaftlichen Tuns einfachhin als Eigenschaften der Gegenstände selber erscheinen. 70 Siehe P. Janich, M. Weingarten, Wissenschaftstheorie der Biologie.
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Der Organismusbegriff, der Lebewesenbegriff und die Frage der Naturalisierbarkeit des Funktionsbegriffs
1. Zu den Begriffen „Lebewesen“ und „Organismus“ Lebewesen sind uns lebensweltlich vertraut. Um Lebewesen in un serer Lebenswelt zu identifizieren, brauchen wir den Organismus begriff nicht. Lebensweltlich erfassen wir Lebewesen als Wesen mit bestimmten charakteristischen Vermögen, von denen die beiden ba salen das der Selbsterhaltung und das der Fortpflanzung sind. Der Organismusbegriff ist demgegenüber der Begriff, unter dem die Biologie die Kategorie der Lebewesen erfasst. Erst im Kontext des Programms der mechanistischen Erklärung der Lebensfähigkeit und der mit ihr einhergehenden Lebensphänomene durch die Bio logie wurden Lebewesen als Organismen konzipiert. Der Begriff des Organismus ist daher im Gegensatz zum Lebewesenbegriff ein the oretischer Begriff, mit dem sich stets eine bestimmte Theorie von Lebewesen verbindet; und in der Geschichte der Biologie sind dies durchaus unterschiedliche gewesen. Der Organismusbegriff ist konstituierend für die Biologie als eine eigenständige Naturwissenschaft, insofern erst das Konzept des Organismus der Biologie ihren eigenen Gegenstand gibt, der es erlaubt, sie gegenüber Physik und Chemie abzugrenzen.1 Er ist auch der grundlegende Begriff, der der Biologie eine wissenschaft lich fruchtbare Zergliederung der Körper von Lebewesen ermöglicht hat: Denn mit der funktionalen Dekomposition ist eine Dekompo sition des Körpers von Lebewesen gelungen, die einerseits generelle Konzepte lieferte – die Konzeption eines „Atemorgans“ etwa er laubt es, verschiedenste Körperstrukturen in sehr unterschiedlichen Lebewesen miteinander vergleichend in Bezug zu setzen –, und an die andererseits in großem Umfang eine mechanistische Erklärung
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Vgl. zu dieser These auch G. Toepfer, Zweckbegriff und Organismus, Würzburg 2004; insbesondere Kap. IV.0 und IV.4.
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der jeweils auf einer Organisationsebene beschriebenen Leistungen („Funktionen“) ansetzen konnte. Das Paradigma mechanistischer Erklärbarkeit sind Maschinen, deren Verhalten sich aus ihrer Organisation ergibt. Doch ist die Or ganisation der Maschinen stets ein Produkt der Planung von an deren als ihnen selbst, und die Maschinen sind in die spezifischen Prozesse, die durch ihren physischen Aufbau ermöglicht werden, nicht so eingebunden, dass durch diese auch ihr interner Aufbau re generiert würde. Dies ist bei Organismen anders und hat schließlich in der Biologie zur Hinwendung zu systemtheoretischen Beschrei bungen geführt, im Rahmen derer der Organismusbegriff durch den des „lebenden Systems“ ersetzt wird. Wie verhält sich nun der wissenschaftliche Begriff des Orga nismus zum vorwissenschaftlichen Lebewesenbegriff? Meine The se ist: Der Organismusbegriff ist ein Begriff, mit dem im Rahmen der mechanistischen Erklärung der Aktivitäten und Vermögen von Lebewesen deren Körper genauer spezifiziert wird – nämlich als ein komplex organisierter. Das Verhältnis dieses systemtheore tischen Organismusbegriffs zum Lebewesenbegriff lässt sich wie folgt fassen: Der Organismusbegriff bezeichnet das System von Strukturen und Prozessen, vermöge dessen ein Lebewesen zu le ben und seine charakteristischen Tätigkeiten auszuüben vermag. Insofern die Vermögen bzw. Aktivitäten, die für Lebendiges cha rakteristisch sind, zuerst identifiziert werden müssen, scheint die Identifikation von Organismen in der Welt abhängig von der vor gängigen Identifikation von Lebewesen zu sein. Sehr deutlich wird dieses Abhängigkeitsverhältnis in der Redeweise vom „Organis mus eines Lebewesens“, die man insbesondere in medizinischen Kontexten findet. In der Biologie hat sich der systemtheoretische Begriff des Or ganismus allerdings verselbständigt zu einem Begriff, der wie ein Synonym zum Lebewesenbegriff bzw. als Bedeutungserklärung des Lebewesenbegriffs verwendet wird. Darin äußert sich ein car tesianisches Verständnis von Lebewesen, das in ihnen nichts als eine Art von besonders komplexen lebenden/belebten materiellen Körper sieht. Es ist jedoch in Bezug auf Lebewesen fraglich, ob sie nur als or ganisierte lebende Körper oder Systeme zu beschreiben sind, und nicht vielmehr als körperliche Wesen (deren Körper dann näherhin als organische bzw. komplex organisierte Systeme beschrieben wer den können), die aufgrund ihrer spezifischen Vermögen von bloßen – https://doi.org/10.5771/9783495817476 .
Der Organismusbegriff, der Lebewesenbegriff
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wie immer komplexen – Körpern zu unterscheiden sind. Auch das animal rationale gehört schließlich zu den Lebewesen.2
2. Der Organismusbegriff enthält eine funktionale Bedeutungskomponente Wenn wir bei der Redeweise vom „Organismus eines Lebewesens“ bleiben, dann ist es der Lebewesenkörper, der mit seiner Charakte risierung als Organismus so konzipiert wird, dass er ein aus funkti onstragenden Teilen (z. B. Organen) und Prozessen (z. B. Bluttrans port) bestehendes, hierarchisches funktionales System bildet, des sen Bestandteile insgesamt so zusammenwirken (sollten), dass das Lebewesen als Ganzes in seiner Umwelt weiterleben, wachsen und gedeihen und sich fortpflanzen kann.3 Dass der Organismusbegriff eine funktionale Bedeutungskomponente beinhaltet, dürfte unbe stritten sein. Die Bestandteile eines Organismus wie auch deren Aktivitäten werden darauf überprüft, was ihre Funktion im Ganzen oder für das Ganze ist. Auch die Aktivitäten von Organismen wer 2 3
Mehr hierzu in M. Schark, Lebewesen versus Dinge, Berlin 2005, Kap. III und VI. H. Plessner (Die Stufen des Organischen und der Mensch, Berlin/New York [1928] 1975, S. 186) differenziert zwischen dem Organismus als einer „Ein heit gegenüber seinen Organen“ (meine Hervorhebung) und „Zweck seiner selbst“ und dem Organismus als einer „Einheit aller Organe“ und „Mittel sei ner selbst“. Im ersten Sinne wird er wie ein „Subjekt“, „welches den Körper mit seinen Teilen [i. e. Organen] hat“, diesem Körper entgegengesetzt (ebd.), im zweiten Sinn wird darunter nicht mehr als „eine funktionelle Einheit“ (ebd., S. 187) verstanden. Anstatt eines doppelsinnigen Gebrauchs des Organismus- Begriffs halte ich mich an Aristoteles’ Terminologie, im ersten Fall von einem Lebewesen (zôon), im zweiten Fall von einem Organismus (sôma organikon) zu sprechen. Von dem ersten Sinn ganz abzusehen, d. h. davon, das Lebewesen als eines vom Organismus als der zu einer funktionalen Einheit zusammengefass ten Gesamtheit der organischen Teile abzusetzen, folglich das Lebewesen „mit seiner Apparatur, [und so] die Ganzheit mit der Einheit der Teile“ zu identifizie ren, lehnt Plessner ebenso ab wie die strikt maschinentheoretische Vorstellung, „die Organisation“ sei „eine neben dem einheitlich-ungeteilten Lebensprozeß einhergehende Apparatur“ (ebd., S. 186), an der sich das Leben abspiele, oder de rer sich das Lebewesen bediene. Sein Lösungsvorschlag, dass der Organismus in seinen Organen zu einer Ganzheit vermittelt würde, überzeugt mich allerdings nicht. Ich sehe nicht, wie dadurch der Organismus als eine Einheit gegenüber seinen Organen konstituiert werden können soll. Die Einheit des Lebewesens liegt eher darin begründet, das es als ein zusammenhängendes Ganzes agiert und empfindet (soweit dieses Vermögen vorhanden ist).
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den auf ihre Funktion hin überprüft. Die Frage: „wozu dient das?“ ist ubiquitär in der Biologie. Diese funktionale Charakterisierung unterscheidet Organismen als Gegenstände der Biologie von den Gegenständen der anderen Naturwissenschaften.
3. Die begriffliche Herausforderung für die Erläuterung der biologischen Verwendung des Funktionsbegriffs: Keine Funktionen ohne Zwecke So unumstritten es ist, dass der Organismusbegriff eine funktio nale Bedeutungskomponente hat, so umstritten ist es, ob er damit auch schon ein teleologisches Konzept ist. Denn wenn ja, scheint er ein „Fremdling in der Naturwissenschaft“ zu sein, wie Kant es ausdrückt, in der Kausalerklärungen das Paradigma wissenschaftli cher Erklärungen abgeben und der die Natur nur als Kausalnexus gilt. Der Kern des Naturteleologie-Problems der Biologie besteht darin, dass nicht klar ist, wie die Zuschreibung von Funktionen zu Teilen von und Prozessen in Organismen zu verstehen ist, wenn einerseits Dinge oder Prozesse Funktionen nur relativ zu Zielen, Zwecken oder Absichten erwerben können, andererseits aber unklar ist, wer jenseits menschlicher Handlungskontexte der intentionale Akteur sein soll, relativ zu dessen Absichten oder Zielen diese ihre Funktion erwerben. Woher rührt der Zweifel, dass der Funktionsbegriff ohne einen expliziten oder zumindest impliziten Bezug auf Zwecke verwen det werden kann? Er liegt in der Logik der Zweck-Mittel-Relation begründet: Es ist die prinzipielle Dreistelligkeit dieser Zweck-Mit tel-Relation, die diesen Verdacht nährt. Ein Satz wie „Gegenstand i dient zum Fen“ ist elliptisch; vollständig muss er heißen: etwas dient jemandem zu etwas. Als Mittel zu jemandes Zweck erwerben physische Dinge oder Prozesse Funktionen. Holenstein weist in sei ner semantischen Analyse des Wortfelds von Zweck und Funktion zudem darauf hin, dass das „Zwecke bzw. Ziele haben“ nur als selb ständig angenommenen Entitäten zugeschrieben wird, das „Funk tionen haben“ dagegen nur unselbstständigen.4 Zwecke im Sinne von Zielen sind dabei deswegen als naturwissenschaftliche Begriffe 4
E. Holenstein, „Zur Semantik der Funktionalanalyse“, in: Zeitschrift für allge meine Wissenschaftstheorie 14(2)/1983, S. 292-319, hier: S. 299 f.
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so problematisch, weil der Zweck- bzw. Zielbegriff kein deskriptiver Begriff ist. Kantisch ausgedrückt: Zwecke werden nicht durch die Erfahrung gegeben. Ein Sachverhalt wird vielmehr erst dadurch zu einem Zweck bzw. Ziel, dass er für gut bewertet und infolgedessen seine Verwirklichung angestrebt wird.5 Genaugenommen wird auch nicht „das Ziel“ verwirklicht, sondern ein Weltzustand herbeige führt, der die Beschreibung des Ziels erfüllt.6 Die Zuschreibung, dass eine Entität einen Zweck im Sinne eines Ziels hat, setzt daher Intentionalität bei der Entität voraus, der man dies zuschreibt. In Anlehnung an Searles Unterscheidung zwischen intrinsi scher und abgeleiteter Intentionalität können wir dieses begriffliche Verhältnis von Funktion und Zweck auch so beschreiben, dass die Funktionen von Entitäten – wie die Bedeutungen von Sätzen – im Unterschied zu Zwecken, Zielen oder Absichten einen Fall von ab geleiteter Intentionalität darstellen.7 Searle knüpft an die klassische Bestimmung von Intentionali tät an, wonach dies die Eigenschaft von Handlungen und menta len Zuständen ist, auf etwas gerichtet zu sein, über etwas zu sein oder etwas zu repräsentieren. Intrinsische Intentionalität besitzen Wesen, bei denen Zuschreibungen von Überzeugungen Wünschen, Absichten etc. wörtlich wahr sind: „[T]he states and events really exist in the minds/brains of agents; the ascription of these states and events is to be taken literally.“8 Demgegenüber besitzen bestimmte Dinge „abgeleitete Intenti onalität“, wenn sie zwar de facto, genau wie die mentalen Zustände intentionaler Wesen, auch über etwas sind oder auf etwas gerichtet sind etc.; dieses jedoch im Unterschied zu intrinsisch intentionalen Wesen nicht von sich aus sind. Es gibt danach eine Klasse von In tentionalitätszuschreibungen, die sehr wohl wörtlich zu verstehen sind, die jedoch Entitäten betreffen, die diese Eigenschaft der Inten 5 6
7 8
Vgl. H. Schnädelbach, „Werte und Wertungen“, in: Logos N. F. 7/2001, S. 149170, hier: S. 168. S. Woodfield, Teleology, London 1976, S. 211 ff.: „Goals […] are mental entities, living permanently inside intentional brackets. I agree that if a goal is achieved, we say that it exists or has been actualised. But this teetering from intensional to extensional usage is a loose façon de parler. Intentional objects can never break free of their shackles, for they can never become real objects. What is actualised, strictly speaking, is always some action or state of affairs that matches the goal by satisfying a goal-description.“ J. R. Searle, „Intentionality and its Place in Nature“, in: Synthese 61(1)/1984, S. 3-16. Ebd., S. 4.
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tionalität, des Über-etwas-Seins oder Gerichtetseins auf etwas, nicht von sich aus besitzen, sondern nur, weil ihnen diese von Wesen, die von sich aus, i. e. intrinsisch Intentionalität besitzen, verliehen oder übertragen wurde. Searles Beispiel ist die Bedeutung von Sätzen: Es ist wörtlich wahr zu sagen, dass der Satz „Es regnet“ einen bestimmten Welt zustand repräsentiert, dass er über Regen ist. Doch die Lautfolge „es regnet“ hat an sich selbst nichts, aufgrund dessen sie diesen Welt zustand und keinen anderen oder überhaupt einen repräsentieren würde. Dieser Satz besitzt die repräsentationale Eigenschaft, die er de facto hat, nur, weil Sprecher des Deutschen gerade ihn und kei nen anderen benutzen, um sich damit auf das betreffende Phäno men zu beziehen. Bei den Funktionen, die Entitäten zugeschrieben werden, liegt der Fall ganz ähnlich: Intrinsisch sind die Entitäten, denen Funk tionen zugeschrieben werden, nicht intentional; sie sind nicht von sich aus auf einen Zweck oder ein Ziel gerichtet. Sie haben an sich selbst nichts (außer einer physischen Beschaffenheit, die sie über haupt erst geeignet sein lässt, eine bestimmte Funktion zu erfüllen, aber dies ist eine relativ schwache Restriktion), aufgrund dessen sie genau die Funktion haben, die sie haben, und nicht eine andere oder überhaupt keine. Dennoch ist es unter bestimmten Umständen wörtlich und nicht etwa bloß metaphorisch wahr zu sagen, dass ein konkretes physi sches Ding die-und-die Funktion hat – genauso wie es wörtlich wahr ist, dass der Satz „Es regnet“ den Sachverhalt, dass es regnet, repräsentiert. Ihrem Sinn nach sind diese Aussagen Tatsachen-Fest stellungen: es verhält sich so, dass dieses die (oder eine) Funktion eines Dinges ist, oder dass jenes der Sachverhalt ist, den der Satz „Es regnet“ repräsentiert. Doch welche Funktion ein Ding hat, und dass es überhaupt eine hat und nicht vielmehr keine, leitet sich da von ab, dass es von einem Wesen mit intrinsischer Intentionalität zu einem Zweck gebraucht wird, oder für einen bestimmten Zweck hergestellt wurde. Oder, wie ich vorsichtiger formulieren möchte: Die Zuschreibung abgeleiteter Intentionalität – z. B. einer Bedeu tung oder einer Funktion – zu einem Gegenstand setzt immer voraus, dass erläutert werden kann, von welch einer Beziehung zu Wesen mit intrinsischer Intentionalität sich die diesem Gegenstand zuerkannte, ihm jedoch nicht per se zukommende Intentionalität ableitet. Im Falle von Funktionszuschreibungen muss also der Kontext erhellt werden, innerhalb dessen Dinge oder Ereignisse ihre Funktionen erhalten. https://doi.org/10.5771/9783495817476 .
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4. Über die Schwierigkeiten, in die die Übertragung des ArtefaktModells von Funktionalität auf Organismen führt Ein, vielleicht auch der paradigmatische Kontext, in dem Dinge eine Funktion erwerben können, ist der Kontext, dass Menschen sie als Mittel bei der Verwirklichung bestimmter Ziele benutzen oder als Mittel dafür hergestellt haben. In diesem Kontext leitet sich die Funktion eines Dinges davon ab, zu welchen Zwecken es gebraucht wird oder davon, zu welchem Gebrauch es gedacht ist. Woodfield sagt von diesen Funktionen, die Dingen als Mitteln zu unseren in tentionalen Akten zugeschrieben werden, dass sie „functions on the ‚artefact model‘“9 von Funktionalität seien. Dies ist in der Tat eine treffende Analyse des Sinns von Funkti onszuschreibungen zu von uns für einen bestimmten Zweck herge stellten Artefakten: So sind z. B. die Aussagen, dass ein Thermostat die Funktion hat, die Raumtemperatur konstant bei einer bestimm ten Temperatur zu halten, oder die Aussage, dass ein selbststeu ernder Torpedo die Funktion hat, ein Ziel (im Sinne von „target“) anzusteuern und zu treffen, wörtlich wahr. Dieses sind die Zwecke oder Aufgaben, die wir diesen Dingen zur Ausführung übertragen haben, die sie für uns, ihre Hersteller und/oder Benutzer, tatsächlich erfüllen sollen. Diese Klarheit des Sinns von Funktionszuschreibungen im Be reich von Artefakten könnte nun dazu verleiten, die Analogie von Organismus und Maschine, mit anderen Worten die mechanistische Organismuskonzeption, auch dazu einzusetzen, die funktionale Charakterisation von Körperteilen und Vorgängen in Organismen verständlich zu machen. Doch, wie Kants Argumentation in der Kri tik der teleologischen Urteilskraft eindrücklich demonstriert, führt die Übertragung des Artefakt-Modells von Funktionalität auf Or ganismen unweigerlich entweder in die Physikotheologie oder zur Personifizierung der Natur, oder aber zu der Annahme, dass nicht nur Zielzuschreibungen zu Naturdingen nicht wörtlich zu nehmen sind, sondern selbst Funktions-Zuschreibungen nicht, sondern auch diese strenggenommen nur (methodologisch nützliche, womöglich auch unabdingbare) Projektionen eines Erkenntnissubjekts dar stellen.10 9 A. Woodfield, Teleology, S. 27. 10 Vgl. dazu M. Schark, „Wie aktuell ist Kants Auflösung des NaturteleologieProblems?“, in: U. Meixner, A. Newen (Hrsg.), Logical Analysis and History of
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Kants agnostisches Ergebnis hinsichtlich der Annahme, dass die organischen Wesen einem Zweck (einer Absicht) gemäß exis tieren, hat zur Folge, dass auch die dazu relative Zuschreibbarkeit von Funktionen zu Teilen von und Prozessen in Organismen einge klammert werden muss. Er leistet damit einem rein instrumentalistischen Verständnis von Funktionszuschreibungen im Bereich des Organischen Vor schub, nach welchem diese als Instrument der Systematisierung von Erkenntnis zwar eine wichtige methodologische Rolle spielen mögen, andererseits jedoch jenseits menschlicher Handlungskon texte physischen Dingen nicht in wörtlichem Sinne Funktionen zu gesprochen werden können. Das Missliche an diesem Ergebnis ist, dass sich damit die an geblich „durch besondere Erfahrungen“11 gegebene, bzw. im Wesen der Dinge aufgefundene „objektive, reale Zweckmäßigkeit“12, die ursprünglich den Stein des Anstoßes darstellte, letztlich als eine an (den Teilen von) natürlichen Wesen nicht beobachtbare oder empi risch feststellbare, sondern als eine bloß durch unsere Beurteilung in sie hineingelegte Eigenschaft herausstellt.13 Dieses Ergebnis ist insofern problematisch, als damit – gleichsam rückwirkend – das zu erklärende Phänomen abhanden zu kommen scheint. Denn Kants begriffliche Analyse nahm ihren Ausgang von der Überzeugung, dass es in der Natur tatsächlich Organismen und nicht bloß mate rielle Körper gibt. Dies scheint aber als Ergebnis der Analyse nun gleichfalls eingeklammert werden zu müssen. Die metaphysischen Schwierigkeiten der Analogie von Organis men und Maschinen, die Kant deutlich vorexerziert, sind m. E. ein klares Signal, dass man sich von diesem Modell zur Explikation des Sinns von Funktionszuschreibungen im Bereich des Organischen abwenden sollte. Dann ist man jedoch mit einer Explikationslücke konfrontiert:
Philosophy/ Philosophiegeschichte und logische Analyse, Bd. 14, Special Issue: Final Causes and Teleological Explanations (Gast-Hg.: D. Perler, S. Schmid), Paderborn 2011, S. 125-154. 11 I. Kant, Kritik der teleologischen Urteilskraft, in: ders., Kritik der Urteilskraft (1790), Weischedel-Werkausgabe, Bd. X, Frankfurt a. M. 1968, hier: § 70, B 315. 12 Vgl. ebd., § 62, über die Unterscheidung zwischen intellektueller oder formaler und realer bzw. „empirischer“ (sic!) Zweckmäßigkeit, B 275 f.. 13 Vgl. A. Woodfield, Teleology, S. 26-29, der diese Auffassung „projectionism“ nennt.
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Denn was bedeutet es dann, von einem Naturgegenstand zu ur teilen, er habe eine Funktion; wenn wir die Erläuterung für falsch halten: dies bedeute, dass er zu einem Zweck hat dienen sollen, wo mit wir ihn für ein von einem nicht-menschlichen Erzeuger mit Blick auf die von ihm zu erfüllende Aufgabe konstruiertes Produkt ansehen? Wie lassen sich die Funktionsbestimmungen und Zweck mäßigkeitsurteile begreifen; wenn die in ihnen präsupponierten Zwecke nicht mehr als die Inhalte der Absichten zu deuten sind, die ein technisch verfahrender Erzeuger der Lebewesen gehabt hat? Wessen sind sie dann? Die Frage nach der Bedeutung funktionaler Wendungen stellt sich aufs Neue, wenn man die Analogie von Organismus und Ma schine und das Artefakt-Modell von Funktionalität nicht mehr zur Analyse der biologischen Funktionszuschreibungen verwenden will.
5. Reaktionen auf die Schwierigkeiten, in die die Übertragung des Artefakt-Modells von Funktionalität auf Organismen führt Es gibt im Ausgang von dieser Situation zwei grundsätzlich ver schiedene Alternativen weiter zu verfahren, wenn man gleichzeitig dem Selbstverständnis der Biologie gerecht werden will, die ihre Funktionsaussagen als wörtlich wahre Zuschreibungen versteht, und die Frage, wozu etwas dient, als eine Tatsachenfrage behandelt, als etwas, was entdeckbar ist. 1. Man versucht der Notwendigkeit zur Einklammerung der biologischen Funktionszuschreibungen dadurch zu begegnen, dass man zu erweisen versucht, dass die Prämisse der ganzen Argumen tation nicht richtig ist, dass nämlich physische Gegenstände nur re lativ zu (irgendjemandes) Zwecken Funktionen erwerben können. Dies ist das Ziel der verschiedenen Projekte zur Naturalisierung des biologischen Funktionsbegriffs. Sie alle verfolgen das Programm, die Verwendung des Funktionsbegriffs in der Biologie von Intentio nalitätspräsuppositionen irgendwelcher Art abzukoppeln. Häufig wird im Rahmen dieser Explikationsansätze davon ausgegangen, dass „Funktion“ im biologischen Bereich etwas anderes bedeute als in Handlungs- bzw. Herstellungskontexten. Funktionen von Arte fakten und Funktionen von organismischen Bestandteilen und Pro zessen werden wie zwei unterschiedliche Spezies von Funktionen behandelt, und der Verlust einer univoken Verwendungsweise des https://doi.org/10.5771/9783495817476 .
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Funktionsbegriffs wird in Kauf genommen und nicht weiter als pro blematisch angesehen. 2. Die alternative Reaktion besteht darin, die wörtlich wahre Zu schreibbarkeit von Funktionen dadurch zu „retten“, dass man an nimmt, dass es einen weiteren Kontext als den der Analogisierung von Organismus und Maschine gibt, der geeignet ist, die biologi schen Funktionsaussagen zu stützen. 5.1 Zur Naturalisierung des Funktionsbegriffs Unter dem Programm der Naturalisierung eines intentionalitätsprä supponierenden Begriffs verstehe ich in Anlehnung an Fodor14 das Programm, in nichtmentalen, nichtsemantischen und nichtteleologi schen Begriffen notwendige und hinreichende Bedingungen für das Vorliegen des intentionalen bzw. intentionalitätspräsupponierenden Phänomens zu formulieren. In der Wissenschaftstheorie der Biolo gie dominieren hier zwei Ansätze, zum einen die ätiologische The orie des Funktionsbegriffs, die hierfür auf evolutionstheoretische Konzepte rekurriert, zum andern die Explikation des Funktionsbe griffs als der „kausalen Rolle“ eines Teils oder Prozesses, auf den in der Analyse von Systemfähigkeiten bezuggenommen wird. Es erforderte einen eigenen Aufsatz, im Einzelnen darzulegen, warum diese Ansätze insgesamt unbefriedigende Ergebnisse zei tigen.15 Ich beschränke mich an dieser Stelle nur auf das zentrale Argument gegen die ätiologische Theorie des Funktionsbegriffs. Nach der ätiologischen Definition bzw. Analyse des Funktionsbe griffs, wie sie von Millikan oder Neander vorgestellt wurde16, ist als die Funktion eines Merkmals derjenige seiner Effekte anzusehen, aufgrund dessen dieses Merkmal selektiert wurde. Das zentrale Ge 14 Vgl. J. A. Fodor, Psychosemantics. The Problem of Meaning in the Philosophy of Mind, Cambridge, Mass. 1987, S. 98 und S. 126.; Vgl. auch R. Millikan, Lan guage, Thought and Other Biological Categories, Cambridge, Mass., London 1984, S. 17. 15 Gute Kritiken an diesem Ansatz finden sich in der Literatur zum Funktionsbegriff bei P. McLaughlin, What functions explain, Cambridge 2001, und G. Toepfer, Zweckbegriff, Kap. III.5. 16 Stellvertretend K. Neander, „The Teleological Notion of ‚Function‘“, in: Aus tralasian Journal of Philosophy 69(4)/1991, S. 454-468, hier S. 459: „a function of a trait is the effect for which that trait was selected“; siehe auch ebd., S. 455: „Roughly speaking, on the etiological theory I favor, the proper function of a trait is to do whatever it was selected for.“
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genargument lautet, dass sie fälschlicherweise annehmen, dass die Evolutionstheorie selbst ohne erläuterungsbedürftige funktionale Zuschreibungen auskommt. Die Evolutionstheorie jedoch erklärt, wie Woodfield schon 1976 treffend festgehalten hat, „how organic features came to be pre sent [or rather: were preserved] by exploiting the fact that they had functions which contributed to reproductive success.“17 Und er zieht daraus auch schon die Konsequenz, dass „to think that evolutiona ry theory can explicate the meaning of ‚function‘ is to get things back to front.“18 Man kann sich auf die Evolutionstheorie beziehen, um die Existenz von bestimmten Merkmalsausprägungen von Or ganismen zu erklären, die als zweckmäßig (im Sinne von: einem Zweck angemessen, für einen Zweck geeignet) angesehen werden, aber nicht, um zu erläutern, warum diese Merkmale als zweckmä ßig (im Sinne von: eine Funktion habend) angesehen werden. Wenn dies richtig ist, dann ist damit auch gezeigt, dass die Annahme, mit der ätiologischen Analyse könne man Funktionalität naturalisieren, illusorisch ist. Um diese Kritik zu erhärten und zu zeigen, dass in adaptationa len Erklärungen von Evolution19 die Funktionalität der betreffenden Merkmale vorausgesetzt wird, muß ich näher auf deren Form ein gehen. Adaptationale Erklärungen erklären den Wandel der Zusam mensetzung von Populationen oder auch den Erhalt von Trägern bestimmter Genotypen (Organismen) in einer Population damit, dass die betreffenden Individuen etwas an sich hatten, das ihnen in mindestens einer der Organismus-Umwelt-Interaktionen im Ver gleich mit den anderen einen Vorteil verschaffte. Zwar leitet sich in der Populationsgenetik die Fitness eines Typs von Individuen schlicht aus dessen faktischer differentieller Repro duktionsrate ab, und auf diese läßt sich der Wandel der Populati onszusammensetzung von einer Generation zur nächsten zurück führen. Doch „to simply observe historical change and describe its mechanisms wholly in terms of the different reproductive success of
17 A. Woodfield, Teleology, S. 118; meine Hervorhebung. 18 Ebd. Außerdem behauptet Darwin nicht, „that to ascribe a function to a feature just is to assert that the feature contributes to reproductive success“ (ebd.). 19 Daneben gibt es auch nicht-adaptationale Erklärungsgründe für Evolution wie die Gendrift.
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different types, with no functional explanation, would be to throw the baby out with the bathwater.“20 In der Erklärung des Faktums der differentiellen Reprodukti onsrate der unterschiedlichen Typen von Individuen taucht der Be griff der „fitness“ allerdings gerade in seinem alltagssprachlichen Sinn auf: dem der Geeignetheit (als Mittel) für etwas (eine Funk tion). Das fitteste, d. h. tüchtigste, Individuum ist eines, das etwas Bestimmtes, was alle Mitglieder seiner Art tun können müssen, sollen sie überleben und sich fortpflanzen können, aufgrund seiner individuellen genetischen Ausstattung und der damit verbundenen phänotypischen Eigenschaften besser tun konnte als seine Artge nossen, und das deswegen besser (oder überhaupt) gedieh und mehr Nachkommen hinterließ als diese.21 Zur Veranschaulichung der funktionalen Präsuppositionen der adaptationalen Erklärung der Erhaltung bestimmter Individuen mag das klassische Beispiel für „evolution by natural selection“22 dienen, der Industriemelanismus beim Birkenspanner. Diese Ge schichte geht so: Die Tiere sitzen tags auf Birkenstämmen. Vor der industriellen Revolution überwogen die weißgescheckten Mitglie der dieser Art, und es gab nur sehr wenige, die aufgrund einer Mu tation dunkelbraun gefärbt waren. Auf den hellen Birkenstämmen waren diese dunklen Tiere für ihre Freßfeinde, die Vögel, sehr gut zu entdecken – im Unterschied zu den hellen, die sehr gut getarnt waren. Infolgedessen wurden eher die dunklen als die hellen von den Vögeln gefressen, und wenige von den dunklen überlebten so lange, dass sie sich fortpflanzen konnten. Als Folge davon blieb der Anteil dunkler Spanner in der Population sehr klein. Dann kam die industrielle Revolution, und die Fabrikschlote pusteten jede Menge 20 R. Lewontin, „Adaptation“, Scientific American 239/1978, S. 212-230, hier S. 220. 21 Sober gehört zu denjenigen, die eine dispositionale Auffassung der „fitness“ verteidigen (E. Sober, The Nature of Selection, Cambridge, Mass. 1984, S. 67 f. und 82 f.). Danach ist die „Darwinian fitness“ eines Individuums eine hoch stufige dispositionale Eigenschaft, die über dessen physischen Eigenschaften su perveniert. Die „Darwinian fitness“ hat zwei Komponenten: die Viabilität eines Organismus („its probability of surviving from the egg to the adult stage“ (ebd., S. 68)) und die Fertilität eines Organismus („its expected numbers of offspring, divided by two if it engages in biparental sexual reproduction“ (ebd.). Die Wahr scheinlichkeiten werden aus der Häufigkeit berechnet, mit der Individuen glei chen Typs früherer Generationen bis zur Geschlechtsreife heranwuchsen und Nachkommen produzierten. 22 M. Begon, J. L. Harper and C. R. Townsend, Ecology, Oxford 1986, S. 6.
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Ruß in die Atmosphäre, der sich in der Landschaft und so auch auf der Rinde der Birkenstämme niederschlug, so dass diese schwarz von Ruß wurden. Auf diesen Birkenstämmen hoben sich nun die hell gefärbten Spanner viel deutlicher ab als die dunklen, die auf den verrußten Stämmen sehr gut getarnt waren. Infolgedessen wurden nun eher die hellen als die dunklen Varianten von den Vögeln ge sehen und gefressen, sodass nun viele helle Varianten nicht lange genug lebten, um sich fortpflanzen zu können. Als Folge davon sank der Anteil hell gefärbter Spanner von Generation zu Generation. In der Blütephase der industriellen Revolution gab es schließlich kaum noch hell gefärbte Mitglieder der Art. Dies änderte sich erst wieder, als die Luftverschmutzung zurückging und die Birkenstäm me wieder ihre ursprüngliche Farbe bekamen. Heute überwiegen in den Gebieten der ehemaligen englischen Schwerindustrie wieder die hell gefärbten Spanner. Es ist leicht zu sehen, welchen Vorteil die jeweilige Färbung den hellen bzw. dunklen Spannern verschaffte: dieser bestand in der da durch erreichten Tarnung vor dem Freßfeind. In diese Geschichte zur Erklärung der Veränderung der Populationszusammensetzung der Birkenspanner geht von vornherein die Annahme ein, dass dies die Funktion der Färbung ist. Würde man nicht davon ausgehen, dass dies die Funktion der Färbung ist, könnte man diese Geschichte gar nicht erzählen und damit das Faktum des Wandels der Popula tionszusammensetzung über die Jahre nicht erklären, sondern nur beschreiben. Die Funktion der Tarnung aber wurde zur Blütezeit der Schwerindustrie besser von der dunklen Färbung erfüllt, während sich zu Zeiten ohne Luftverschmutzung die helle Färbung besser dafür eignete. Man kann also nicht sagen, dass z. B. der dunklen Färbung aufgrund dieser Selektionsgeschichte die Funktion zu kommt, zur Tarnung zu dienen, auch wenn diese Folge der Fär bung – die erreichte Tarnung – als der Erklärungsgrund dafür auf geführt wird, dass die so gefärbten Individuen sich zu einer Zeit gegenüber den anderen vermehrt reproduzierten. Die Funktion, der Tarnung zu dienen, wird der Färbung vielmehr im Lichte einer generellen Erwägung (funktionalen Analyse) zugesprochen, dass (i.) Organismen, die Beutetiere anderer Organismen sind, in der Lage sein müssen, sich vor der Vernichtung durch ihre Freßfeinde zu schützen, wenn sie weiter bestehen bleiben sollen, und dass (ii.) Tarnfärbung eines der funktionalen Äquivalente dafür ist, dies zu erreichen, und dass (iii.) dies – Tarnung – tatsächlich eine Folge ihrer Färbung ist. https://doi.org/10.5771/9783495817476 .
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Da hier die Funktionalität des Merkmals vorausgesetzt wird, kann man nicht bei der adaptationalen Erklärung des Vorhanden seins bzw. der Häufigkeit dieses Merkmals in der Population von Organismen ansetzen, um zu erläutern, aus und mit welchem Grund dem Merkmal eine Funktion zugeordnet wird.23 Eine andere Naturalisierungsstrategie verfolgt Cummins. Er knüpft an die funktionale Analyse an, aber behauptet schließlich, dass die Zuschreibung von Funktionen bereits immer dort ange bracht ist, wo sich eine – aus kantischer Sicht lediglich kausalanalytische bzw. mechanistische – Analyse des Zustandekommens einer Disposition eines Systems als sinnvoll und gewinnbringend erweist: Wann immer eine Disposition eines bestimmten MakroGegenstandes mit Hilfe der „analytischen Strategie“ Mikro-erklärt werde, so Cummins (1975, 62) „exercise of an analyzing capacity emerges as a function“. Dies ist der Ansatz, die Funktionen der Din ge ausschließlich als ihre „kausalen Rollen“, ihren kausalen Beitrag zur Realisation einer bestimmten Disposition eines Ganzen, zu be greifen. Da Cummins jedoch nur pragmatische Kriterien dafür angibt, in welchen Fällen dieser Ansatz lohnt, droht das Problem, dass die angeblich funktionalen Analysen letztlich ununterscheidbar von kausalen Analysen sind. So ist sein Versuch, Funktionalität natu ralistisch zu begründen, Gegenbeispielen ausgesetzt wie dem von Millikan (1989, 294) vorgebrachten, dass es seinem Explikations vorschlag zufolge auch als die Funktion der Wolken im Wasser kreislauf gelten könne, es regnen zu lassen.24 Solchen Gegenbeispielen entkommt man nur, wenn man aner kennt, dass in den Fällen, in denen zwar explizit nur ein Vermögen Mikro-erklärt zu werden scheint, gleichwohl aber den erklärenden Dispositionen Funktionen zugeschrieben werden, implizit ein teleo logischer Hintergrund vorhanden ist, vor dem diese Analyse sich abspielt und der nur abgeschirmt ist. Diese Abstraktion gilt es rück
23 Dass Tarnung als die hochstufige Funktion (im Sinne von Aufgabe) angesehen wird, der die Färbung dient, liegt vielmehr daran, so meine These, für die ich weiter unten plädieren werde, dass wir den Schutz vor Freßfeinden als von Vorteil oder gut für die betreffenden Lebewesen bewerten. 24 R. Millikan, „In Defense of Proper Functions“, in: Philosophy of Science 56/1989, S. 288-302, hier S. 294.
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gängig zu machen, wenn man ein vollständiges Bild des Sinns von Funktionszuschreibungen erhalten will.25 Die Frage ist jedoch: welches ist dieser Einbettungskontext bei Lebewesen, wenn es nicht wie im Falle von Artefakten der unse rer Intentionen ist, relativ zu denen Dinge klarerweise Funktionen erhalten können? Worauf beruhen die Aussagen darüber, dass or ganismische Strukturen etwas Bestimmtes tun können sollten, und wodurch ist festgelegt, was genau sie tun sollten? Welches ist der weitere Kontext, in dem die kausal-analytischen Erklärungen von Vermögen in der Biologie stehen? 5.2 Ein alternativer Kontext der Funktionszuschreibung Diese Fragen führen mich zu der oben genannten alternativen Reak tion auf die Schwierigkeiten der Anwendung des Artefakt-Modells von Funktionalität auf die Teile von und Prozesse in Lebewesen zurück. Wenn die Naturalisierungsversuche ebenfalls unbefriedi gende Ergebnisse liefern, dann bleibt als Alternative nur übrig, dass wir uns auf die Suche nach einem anderen Modell machen müssen, um zu erläutern, was die Zuschreibungen zu Teilen von Lebewesen begründet und eindeutig macht. Dass ein Ding oder Prozeß von einem intentionalen Wesen für eine bestimmte Verrichtung vorge sehen wurde oder dass es in einem instrumentellen Verhältnis zu einem intentionalen Akt dieses Wesens steht, wäre diesem Ansatz zufolge nicht der einzige Kontext, in dem Dinge Funktionen erlan gen können. Einen Hinweis darauf, dass es offenbar einen weiteren Kontext gibt, in dem physische Dinge und Prozesse Funktionen erwerben können, liefert auch Woodfields Feststellung, dass es schief klingen würde, wenn man behaupten wollte, dass Tiere ihre inneren Organe benutzten, um bestimmte Ziele zu erreichen. Auch im Falle von uns selbst, in dem die Intentionalitätspräsupposition unproblematisch, weil klarerweise erfüllt ist, läßt sich die Rede z. B. von der Funktion der Leber oder der Nieren nicht gut nach dem Modell der Funkti 25 Für eine ähnliche Kritik, vgl. P. Kitcher, „Function and Design“ (1993), in: D. Hull, M. Ruse (Hrsg.), The Philosophy of Biology, Oxford/ New York 1998, S. 258-279, hier: S. 272. Er will Cummins’ Ansatz der Vermögensanalyse in einen Kontext von „allgemeinen Selektionsdrücken“ einbetten, um seine unterschei dende Kraft wiederherzustellen.
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onszuschreibungen zu Artefakten verstehen. Wir benutzen unsere Organe nicht, sondern wir benötigen sie. Ich möchte zum Abschluß die These vertreten, dass die Alterna tive zum Artefakt-Modell von Funktionalität der „‚welfare‘ view“ biologischer Funktionen ist, wie ich ihn in Anschluß an Nagel nen nen will.26 In neuerer Zeit hat vor allem Peter McLaughlin diesen Ansatz als Erläuterung des Sinns biologischer Funktionszuschrei bungen ins Spiel gebracht.27 Hiernach ist die Funktion eines Teils eines Lebewesens diejenige seiner Verrichtungen oder Eigenschaf ten, die nützlich oder gut für das Lebewesen ist, dessen Teil es ist.28 Hierbei handelt es sich meiner Ansicht nach um einen eigenstän digen Kontext von Funktionszuschreibungen, der nur in Bezug auf Lebewesen sinnvoll ist. Der Grund hierfür ist, dass nur sie Wesen sind, in Bezug auf die sinnvoll gefragt werden kann, ob es ihnen wohl oder schlecht ergeht, während diese Frage in bezug auf leblose Dinge (wörtlich genommen) sinnlos ist. Es wird meines Erachtens viel zu wenig beachtet, dass wir über Lebewesen in einem solchen Idiom sprechen können, welches auf Maschinen und andere technische Produkte nicht bzw. bestenfalls metaphorisch anwendbar ist; dass es generell möglich und sinnvoll ist, bei Lebewesen von ihrem Gedeihen oder (Ver-)Kümmern zu sprechen oder ihrer Gesundheit oder Krankheit. Diese Attribute beschreiben dabei nicht neutral bestimmte Zu stände, sondern enthalten Werturteile: Es gehört zum Begriff des Gedeihens oder der Gesundheit, dass dies etwas Gutes ist, ebenso wie es zum Begriff der Krankheit oder des (Ver-)Kümmerns gehört, dass dies etwas Schlechtes ist. Oder, vorsichtiger ausgedrückt: Wir urteilen grundsätzlich, dass es für Wesen, die gesund oder krank sein, (ver)kümmern oder gedeihen können, besser ist, gesund zu sein als krank und zu gedeihen als zu (ver)kümmern. Diese Urteile werden zusammengefaßt in der Auffassung, dass es ein Wohl die ser Wesen gibt: dass man einen bestimmten Zustand als den für sie selbst guten auszeichnen kann. Es sind Wertungen dieser Art, die letztlich auch der funktionalen Sprache in der Biologie zugrunde liegen, und die Vorhandenheit solcher Wertungen läßt eine grund 26 E. Nagel, „Teleology Revisited“, in: „Teleology Revisited: Goal-Directed Pro cesses in Biology“, Journal of Philosophy 74(5)/1977, S. 261-301, hier: S. 290. 27 P. McLaughlin, What Functions Explain. 28 Vgl. auch Bedingung (2) von McLaughlins generellem Analysans der Aussage „Die Funktion eines X (für S) ist F“. (Ebd., S. 140.)
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sätzliche und generelle Differenz zwischen Maschinen und Lebewe sen deutlich werden. Anthony Kenny bezeichnet Wesen, „that [have] needs, can flou rish, can sicken, decay and die“ als „beneficiaries“.29 Auch McLaugh lin nimmt an, dass diese Annahme der metaphysische Preis ist, der für die Funktionszuschreibungen zu (den Aktivitäten von) Körper teilen von Lebewesen entrichtet werden muß. Allgemein gesagt: „If we ascribe a function to an item i in a system S, we assume that S is an appropriate subject of benefit, that it has a good.“30 Sie greifen damit eine Unterscheidung von Aristoteles auf, die dieser an einigen Stellen seines Werks erwähnt:31 die von „Zweck von“ (to hou heneka tinos oder hou) und „Zweck für“ (to hou he neka tini oder hô). Den Genitiv von „to hou heneka tinos/hou“ interpretiert Kullmann als genitivus subjectivus.32 Der „Zweck von etwas“ ist dasjenige, worauf etwas, was geschieht oder da ist, gerich tet ist, das, wozu es geschieht oder da ist bzw. dient. Zum einen wird also etwas „das, ‚um dessentwillen‘ (hou heneka) etwas geschieht oder ist“ oder ‚Zweck‘ (telos) genannt in dem Sinne, dass es der Sachverhalt ist, auf dessen Verwirklichung ein Kontinuant oder ein Geschehnis gerichtet ist oder in Bezug zu dem diese eine Funktion haben. Den Dativ in „to hou heneka hô/tini“ interpretiert Kull mann als dativus commodi: d. h. mit „etwas“ wird hier das bezeich net, zu dessen Vorteil oder Nutzen etwas geschieht oder ist – „das Subjekt [...], für das etwas zweckmäßig ist“.33 Etwas kann also auch ‚das, um dessentwillen etwas geschieht oder da ist‘ oder ‚Zweck‘ ge nannt werden in dem Sinne, dass es dasjenige (wirkliche) Wesen ist, zu dessen Vorteil oder Nutzen etwas anderes ist oder geschieht. Ein 29 A. J. P. Kenny, Reason and Religion, Oxford 1987, S. 73. 30 P. McLaughlin, What Functions Explain, S. 191; Variablenzeichen geändert zwecks Einheitlichkeit der Darstellung. Ebd., S. 76: „A functional explanation [...] involves not only the relative purposiveness of i for F and F for S but also the characterization of S as a beneficiary.“ 31 Aristoteles, Über die Seele, in: Philosophische Schriften, Bd. 6, übers. v. W. Thei ler, bearb. v. H. Seidl, Hamburg 1995, hier Buch II, 4, 415b2 f. und 20 f.; Meta physik, in: Philosophische Schriften, Bd. 5, übers. v. H. Bonitz, bearb. v. H. Seidl, Hamburg 1995, hier Buch XII, 7, 1072b1 ff.; Physikvorlesung, in: Philosophische Schriften in 6 Bd., Bd. 6, übers. v. W. Theiler, bearb. v. H. Seidl, Hamburg 1995, hier Buch II, 2, 194b33 f.; Eudemische Ethik, übers. v. F. Dirlmeyer, Akademie- Verlag, Berlin 1962, hier Buch VIII, 3, 1249b15. 32 W. Kullmann, Die Teleologie in der Aristotelischen Biologie, Heidelberg 1979, S. 26 f. 33 Ebd.
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solches Wesen bezeichnen Kenny und McLaughlin als „beneficiary“ oder „Nutznießer“. Als Nutznießer wird üblicherweise jemand definiert, dem ohne sein eigenes aktives Streben danach etwas zugute kommt. D. h., es muß nicht unterstellt werden, dass das betreffende Wesen die Ab sicht gehabt hat, in den Genuß des betreffenden Guten zu kom men, damit es der Nutznießer eines entsprechenden Sachverhalts genannt werden kann. Wenn wir das betreffende Wesen für eines halten, das prinzipiell ein Nutznießer sein könnte, das ein Kandidat dafür ist, so genügt es, wenn wir sehen, dass ihm de facto etwas zugute kommt, um es als Nutznießer zu charakterisieren. Es muß dafür auch nicht selbst wie wir, seine Betrachter, einen Begriff von dem haben, was ihm zugute kommt. Wenn wir nun noch einmal die dreistellige Zweck-Mittel-Re lation ‚etwas (i) dient jemandem (S) zu etwas (F)‘ betrachten, die die intrinsische Intentionalität von S präsupponiert, dann nehmen sich die Vorschläge von Kenny, McLaughlin und anderen wie zwei Vorschläge zur Umgehung dieser Präsupposition aus: Diese scheint vermieden werden zu können, indem man (1.) S nicht als Subjekt eines intentionalen Akts versteht, sondern als ein Wesen, das der Nutznießer von etwas ist, und (2.), indem man an die Stelle von ‚F‘, des von S verfolgten (subjektiven) Ziels das für S Gute bzw. das Wohl von S einsetzt. Als drittes läßt sich zudem die Aussage, dass Gegenstand oder Prozess i S zu etwas dient, oder dass er S von Nutzen ist, nun so fas sen, dass das, was i tut, das für S Gute befördert, diesem zuträglich ist oder zu diesem beiträgt. Ist S ein Wesen, das lebt und gedeihen kann, und benötigt S dafür bestimmte Dinge, so kann i S zu etwas dienen, indem es ein solches Bedürfnis von S befriedigt oder dazu beiträgt. Der physische Gegenstand i – ein Ding oder Ereignis – wird danach nicht als Mittel zur Verwirklichung eines von S intendierten Sachverhalts begriffen, sondern als eines zur Befriedigung eines Be dürfnisses von S und erhält dadurch seine Funktion.34 34 Vgl. P. Rohs, Feld – Zeit – Ich. Entwurf einer feldtheoretischen Transzendental philosophie, Frankfurt a. M. 1996, S. 265: Ein „Prozeß muß [...] nicht aufgrund der Überzeugung von Wirksamkeit initiiert sein, um als zweckmäßig beurteilt werden zu können. Von besonderer Bedeutung ist hier die Kategorie des Bedürf nisses bzw. des Brauchens. Eine Pflanze braucht Wasser oder einen bestimmten Dünger, um zu überleben.“ Rohs übernimmt Merkers Analyse des Bedürfnis begriffs – „[e]in Bedürfnis liegt [...] immer dann vor, wenn ein Subjekt (in be stimmten Umständen) etwas bekommen, haben oder geschehen lassen muss,
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In diesen Zügen besteht der Versuch, die betreffenden Wesen nicht mehr als intentionale Akteure zu begreifen, sondern statt des sen in das evaluative Sprachspiel zu wechseln und so die Möglich keit wörtlich zu nehmender organischer Funktionszuschreibungen zu erweisen. Die Preisfrage ist natürlich, ob diese Züge tatsächlich geeignet sind, die problematische Annahme intrinsischer Intentio nalität bei den Wesen, für die etwas gut oder schlecht sein können soll, zu vermeiden.35 Denn hierauf kann eingewendet werden, dass bislang noch nicht gesagt worden ist, was ein Wesen zu einem Kandidaten dafür macht, ein Wohl zu haben, oder Nutznießer von etwas zu sein. McLaughlin kritisiert etwa an von Wright, dass dieser nur behauptet, dass dies für Lebewesen gelte. Von Wright bleibe bei der Analyse des Sprach gebrauchs stehen, dass wir de facto nur bei Wesen, die „ein Leben haben“36 und gedeihen oder kümmern können, von einem Wohl dieser Wesen sprechen. Doch er sage nichts weiter darüber, warum gerade und nur die lebenden Wesen prinzipiell als Nutznießer, oder als Wesen, zu deren Wohl etwas sein kann, in Betracht kommen; Artefakte und andere leblose Dinge hingegen nicht. Darum legt er sich selbst die Frage vor: „What is it about or ganisms that makes them beneficiaries of good?“37 bzw. „what is it about an entity that enables it to flourish and thus to have a damit ein bestimmter Zustand erreicht wird oder erhalten bleibt“ (B. Merker, Wünsche und Bedürfnisse und ihr Zusammenhang mit dem Glück, unveröf fentl. Habilitationsschrift, Münster 1994, S. 116; zit. nach Rohs, ebd.) – und fügt hinzu: „In dem Erfülltsein dieses ‚damit‘ liegt die Teleologie der Bedürfnisse“ (ebd.). 35 Nicht alle Philosophen verwenden den „welfare view of function“ zu diesem Zweck. Kenny, Woodfield und McLaughlin jedoch verstehe ich so, dass sie in ihm eine Alternative zu Ansätzen sehen, die (menschliche) Intentionalität als die einzige Quelle von Funktionalität oder Zweckmäßigkeit in der Welt ansehen. Woodfield beantwortet seine Frage „Is the concept of a natural biological end log ically dependent upon the concept of a goal?“ (A. Woodfield, Teleology, S. 110) schließlich mit nein und setzt statt dessen „the natural ends of an organism“ gleich mit „those states, activities, and processes which are intrinsically good for it“ (ebd., S. 121). Seine Analyse funktionaler Aussagen lautet schließlich: „S’s bodily functions do S good by promoting S’s natural ends, where ‚end‘ means states or activities that are intrinsically good for S“ (ebd., S. 130). Man kann aber meines Erachtens den Gedanken, dass etwas „intrinsisch gut für Organismen“ sein können soll, nicht erläutern, ohne auf die menschliche Selbst-Erfahrung zurückzugreifen. 36 Vgl. G. H. von Wright, The Varieties of Goodness, London 1963, S. 50. 37 Ebd.
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good?“38 Was also haben Lebewesen an sich, vermöge dessen alle und nur sie Wesen sind, von denen gesagt werden kann, dass sie „a good of their own“39 haben? McLaughlins Antwort darauf lautet: um zu erklären, warum die Kategorie der Wesen, für die es einen Zustand gibt, der für sie selbst der gute ist, doch genau mit der Kategorie der Lebewesen zusam menfällt, können wir bei Aristoteles’ Antwort ansetzen, was das er gon von Lebewesen ist. Es liegt an der Besonderheit des ergons von Lebewesen, dass alle Lebewesen und nur sie Wesen sind, bei denen es sinnvoll ist, davon zu sprechen, dass etwas für sie gut ist. Als das ergon von Lebewesen, d. h. als die charakteristische Leis tung, die eine Entität zu einem Lebewesen macht, bestimmt Aristo teles in De Anima die Selbst-Ernährung (trophê di’hautou), modern geprochen, die Selbsterhaltung durch Regeneration der Körperbe standteile. Das Spezifische dieser charakteristischen Leistung von Lebewesen ist, dass dies keine Leistung ist, mit der sie für andere als sie selbst nützlich wären, wie dies bei den Leistungen von Arte fakten der Fall ist. Sie ist vielmehr eine Tätigkeit, die für dasjenige Wesen, was sie ausführt, selbst gut ist. So formuliert McLaughlin: „(1) The characteristic activity of an artifact is something that is good for us. The characteristic activity of the organism is something that is good for the organism.“40 Die charakteristische Aktivität von Lebewesen ist die Selbst-Re produktion. Dieses ist zudem genau die Tätigkeit, durch die sie über die Zeit hinweg persistieren, durch die sie sich im Dasein erhalten. Darum schließt er seine Analyse mit der These: „(2) If the characteristic activity of an organism is its self-re production, then ‚good for the characteristic activity of S‘ and ‚good for S‘ are the same.“41 Weil die charakteristische Aktivität von Lebewesen die SelbstReproduktion ist, verhält es sich im Falle der Lebewesen nicht bloß kontingenterweise so, dass das, was für die charakteristische Akti vität von S gut ist, auch gut für S ist, wie im Falle der Artefakte; sondern dies kann nicht anders sein.
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Ebd., 193; meine Hervorhebung. Ebd. P. McLaughlin, What Functions Explain, S. 203. Ebd.; Variablenzeichen geändert zwecks Einheitlichkeit der Darstellung.
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Soweit diese Analyse trägt, stimme ich ihr zu. Indessen: McLaugh lins zweite These, dass im Falle von Lebewesen „gut für die Aktivität von S“ und „gut für S“ auf das gleiche hinauslaufen, präsupponiert die erste: dass die charakteristische Aktivität von S gut für S ist. Das heißt: (2) ist nur richtig, wenn auch (1) richtig ist. McLaughlins eigene, abschließende Antwort auf die Frage, was Lebewesen denn an sich haben, vermöge dessen sie Wesen sind, für die etwas gut oder schlecht sein kann, oder allgemeiner, welches die metaphysischen Voraussetzungen sind, auf die wir uns verpflichten, wenn wir ein Wesen für einen möglichen Nutznießer halten, lautet denn auf der Grundlage dieser Analyse auch lediglich: wir müssen es für eine Entität halten, deren charakteristische Aktivität in der steten Re-Produktion ihrer selbst besteht. Doch so billig kommen wir meines Erachtens nicht davon. Denn ich bezweifle, dass allein das Faktum, dass die charakteristische Ak tivität von Lebewesen Selbst-Reproduktion ist, uns schon veranlaßt zu sagen, dass der kontinuierliche Vollzug dieser Tätigkeit für sie selbst gut ist. Vielmehr ist die erste These, nämlich, dass die stete Regeneration seiner materiellen Bestandteile gut für das Lebewesen ist – insbesondere, wenn der Verweis darauf, dass es dadurch gera de persistiert, als Begründung dieser These gemeint ist – nur dann richtig, wenn (der Effekt der Tätigkeit, nämlich) zu persistieren gut für ein Lebewesen ist.42 Eine Begründung für dieses implizite Werturteil findet sich bei McLaughlin nicht mehr. Und in der Tat fordert die Begründung die ser Annahme einen höheren „metaphysischen Preis“ von uns als bloß die Annahme der Existenz selbst-reproduzierender Systeme. Die Grundlage hierfür scheint mir vielmehr unser generelles Werturteil zu sein, dass der Tod ein Übel ist, wogegen zu leben und sich selbst zu erhalten gut, mit anderen Worten erstrebenswert ist. Es sind wir – die wir in der Regel den Tod als ein Übel begreifen –, die sehen, was Gutes einem lebenden Wesen de facto aus bestimm ten Ereignissen oder Folgen des Daseins von bestimmten Dingen erwächst – auch wenn es sich bei diesem Lebewesen um eines han delt, das selbst keinen Begriff davon hat. Unsere Präferenzordnung als Maßstab angelegt, bewirkt, dass wir, was immer zum Weiterle ben dieses Wesens beiträgt, als etwas Gutes für es ansehen.
42 Woodfield etwa nimmt dies explizit an (A. Woodfield, Teleology, S. 121).
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Wenn wir daher urteilen, dass beispielsweise der Herzschlag eines Wirbeltiers funktional, ein Herz mit verwachsenen Klappen, die die Blutgefäße nicht ganz abdichten, dysfunktional, und Herztöne afunktional sind, dann beruhen solche Urteile nach dieser Analyse letztlich auf unserer Wertschätzung des Weiterlebens gegenüber dem Tod. Diese ist der Grund, weshalb uns das der Lebensfähigkeit eines Wesens Zuträgliche als funktional, das sie Beeinträchtigen de als dysfunktional, und das, was sich nicht auf sie beziehen läßt, als afunktional gilt. Pointiert ausgedrückt: Wären wir davon über zeugt, dass der Tod der Zweck des Lebens ist, oder hielten wir ihn für etwas grundsätzlich Erstrebenswertes, dann würden auch unsere Funktionsbestimmungen im Reiche des Organischen ganz anders ausfallen als sie es tatsächlich tun. So läßt sich jedoch ein Organis mus in Anlehnung an Bichat charakterisieren als „l’ensemble des fonctions qui résistent à la mort“.43 Ein Standard-Einwand gegen diese evaluative Interpretation des biologischen Funktionsbegriffs lautet, dass in der Biologie auch Verhaltensweisen von Lebewesen als funktional beurteilt werden, die für das Lebewesen selbst schädlich sind. Beispiele da für liefert das Fortpflanzungsverhalten mancher Tierarten, etwa das von Lachsen oder Spinnen. Man kann als Antwort auf diesen Einwand versuchen, diese Gegenbeispiele in den „welfare view“ biologischer Funktionen zu integrieren: Dass die Lachse flußauf wärts zum Laichen wandern, ist zwar nicht gut für die wandern den Lachse selbst, wohl aber für den Lachsnachwuchs. Das Ver halten der Lachse sowie die Mechanismen, die ihm zugrunde lie gen, werden als funktional betrachtet, insofern dieses gut für den Nachwuchs bzw. dessen Gedeihen ist, der ja seinerseits von der Art ist, dass er ein Wohl haben kann.44 Wichtiger jedoch scheint mir der Hinweis zu sein, dass in der Biologie der Fortpflanzung über haupt nicht zugeschrieben wird, eine Funktion (für irgendetwas oder -jemanden) zu haben. Wohl aber wird ihr zugeschrieben, eine Funktion zu sein. Wa rum? Setzt dies nicht die Annahme voraus, dass sich fortzupflan zen gut für Lebewesen ist? Hier gilt es zu differenzieren: In der Tat wird der Besitz der Fortpflanzungsfähigkeit als zur Gesundheit
43 X. Bichat, Recherches physiologiques sur la vie et la mort, Paris 1800, S. 1. 44 Vgl. für eine solche Argumentation P. McLaughlin, What Functions Explain, S. 188.
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und insofern zum Wohl eines Lebewesens gehörig gerechnet.45 Ob es sich jedoch auch de facto fortpflanzt oder nicht, wird dagegen in der Biologie nicht mehr als gut oder schlecht für es selbst bewertet, sondern lediglich als Faktum und gegebenenfalls als Grundlage von Evolution registriert.46
45 Eine Ausnahme hiervon bilden allerdings z. B. staatenbildendende InsektenArten, bei denen „Arbeitsteilung“ hinsichtlich der Fortpflanzung besteht. Eine Arbeiterbiene kann gesund sein, ohne fortpflanzungsfähig zu sein. 46 Vgl. auch G. Toepfer, Zweckbegriff, S. 418: „Das Paradox der Biologie liegt darin, dass die Teleologie des Organischen […] letztlich auf ein unteleologisches Geschehen der langfristigen, generationenübergreifenden bloßen Veränderung hinausläuft.“
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Einleitung Wir sind Lebewesen, und wir sind von Lebewesen wie auch von Unbelebtem umgeben. Die alltägliche Erfahrung dieses Unterschieds zwischen Belebtem und Unbelebtem, ebenso diejenige von Lebendigem und Totem, leitet neben unserem täglichen Handeln auch viele wissenschaftliche und naturphilosophische Fragen. Was macht es aus oder was heißt es, lebendig oder ein Lebewesen zu sein, wie laufen Lebensprozesse ab, was ist die Grundlage der Entstehung „des“ Lebens auf der Erde, der Entwicklung der Biosphäre und derjenigen des Individuums? Eine zentrale Rolle in der Auseinandersetzung mit solchen Fragen spielt der Begriff des Organismus. Er übernimmt innerhalb der Biologie mindestens zwei Rollen. Zum einen dient er dazu, Lebewesen zu individuieren. In dieser ersten Rolle ist der Begriff des Organismus ein sortaler Terminus: wir können Hunde, Katzen und Mäuse, Fadenwürmer und Kolibakterien zählen, oder auch Arten von Organismen. Zum anderen soll mit dem Begriff des Organismus erfasst werden, was es heißt, dass etwas lebt: eine bestimmte Art von Organisiertheit wird als Charakteristikum eines Lebewesens aufgefasst und seine Eigenschaft, zu leben, auf diese Organisation zurückgeführt. Den ersten, sortalen Begriff des Organismus nenne ich im Folgenden den schwachen Begriff des Organismus, den zweiten, historisch älteren bezeichne ich als den starken. Ich möchte zeigen, dass der schwache Organismusbegriff, der seit einiger Zeit die wissenschaftsphilosophische Debatte dominiert, auch heute keinesfalls der einzig relevante ist, und die epistemische Rolle des starken Organismusbegriffs untersuchen. Ich argumentiere dafür, dass dieser nicht als ein deskriptiver empirischer Begriff verstanden werden sollte. Lebewesen sind gar nicht Organismen im strikten Sinne des starken Organismusbegriffs und die wichtige Rolle dieses Begriffs liegt nicht darin, Belebtes von Unbelebtem https://doi.org/10.5771/9783495817476 .
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zu unterscheiden. Statt dessen ist er ein epistemisches Werkzeug, das lediglich einen Referenzpunkt beschreibt und das es erlaubt, Lebensprozesse auf diesen – nicht unbedingt realisierbaren – Referenzpunkt zu beziehen. Während der starke Organismusbegriff seit Kant die philosophische Debatte für lange Zeit dominierte, wurde in den 1980er Jahren zunehmend der schwache Organismusbegriff in das Zentrum der philosophischen Reflexion gestellt. Seine biologische Anwendung ist allerdings in vielen Fällen problematisch: ist beispielsweise eine Flechte als Symbiose eines Pilzes mit einer Alge insgesamt dennoch ein Organismus im schwachen Sinne? Wie steht es mit kolonialen Lebewesen wie Staatsquallen, ist hier die Kolonie der Organismus oder jeder einzelne Polyp? Der schwache Organismusbegriff schien hinreichende Trennschärfe vermissen zu lassen und so wurde er weitgehend aufgegeben und durch allgemeinere Begriffe des biologischen Individuums ersetzt. Dies werde ich im ersten Abschnitt dieses Beitrags kurz erläutern. Mit der Diskreditierung des schwachen Organismusbegriffs verschwand ohne Not auch der starke Begriff aus dem philosophischen Blickfeld, obwohl er weiterhin zentral für die biologische Forschung ist. Im zweiten Abschnitt werde ich zunächst verschiedene Spielarten dieses Begriffs vorstellen. Ausgehend von der im dritten Abschnitt behandelten Frage, ob Lebewesen Organismen in diesem starken Sinne sind, werde ich im vierten Abschnitt die epistemische Rolle des starken Organismusbegriffs untersuchen. Der fünfte Abschnitt setzt anhand dieser Ergebnisse den starken Organismusbegriff in Relation zum schwachen.
1. Der schwache Organismusbegriff Wurde in der Frage nach der Definition des Organismus traditionell die Frage nach der Definition des Lebens gesehen, so musste sich jede solche Definition der Herausforderung stellen, ihre Trennschärfe bei der Abgrenzung von unbelebten organisierten Systemen unter Beweis zu stellen. So stellt sich die Frage, ob beispielsweise der Wasserkreislauf oder ein politisches Gemeinwesen unter den Begriff eines Organismus fallen. Solche Fragen sollen hier zunächst jedoch ausgeklammert werden, denn die Abgrenzungsproblematik tritt bereits innerbiologisch auf. Ist ein Ameisenstaat ein Organishttps://doi.org/10.5771/9783495817476 .
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mus, oder haben zumindest eine Staatsqualle, eine Flechte oder eine Korallenkolonie diesen Status? Die Zahl der Problemfälle ist Legion und unser vor allem an Haus- und Nutztieren geschulter Blick für die Einheit des Organismus ist keinesfalls hinreichend, um solche Fälle zu entscheiden.1 Problematisch wurde diese Frage unabhängig von dem Interesse an einer Definition des Lebens, nämlich in der Debatte um die Ebenen der Selektion. Sind Organismen oder Gruppen, gar Arten oder aber Gene die Angriffspunkte von Selektionsprozessen? Wie soll diese Frage entschieden oder auch nur sinnvoll behandelt werden, wenn nicht beantwortet werden kann, ob Staatsquallen Organismen oder Gruppen von Organismen sind? David Hull schlug deshalb vor, die Frage nach der Selektionseinheit von derjenigen nach der Definition des Organismus abzukoppeln. Der Organismusbegriff spielt in der Selektionstheorie eine sortale Rolle, er soll dazu dienen, zählbare Einheiten zu isolieren. Wenn er dies nicht eindeutig ermöglicht, muss er durch einen anderen sortalen Begriff ersetzt werden. Wie gleich zu erläutern sein wird, führt dies dazu, dass der Begriff des Organismus bzw. des biologischen Individuums nicht mehr unabhängig von biologischen Theorien und diesen vorgängig betrachtet werden kann. Er wird ausschließlich als ein Begriff in den Blick genommen, der innerhalb einer bestimmten biologischen Theorie eine bestimmte Rolle spielt, zunächst eben innerhalb der Evolutionstheorie.2 Hulls Schachzug, den Individuenbegriff nur theorieabhängig zu behandeln, hat der Diskussion um die Ebenen der Selektion eine ausgesprochen fruchtbare Wendung gegeben. Diese hat zugleich in weiten Teilen der Biologie bzw. ihrer Philosophie das Ringen um den problematischen Organismusbegriff überflüssig gemacht. Wird im Kontext der Evolutionstheorie dennoch wieder über Organismen gesprochen, so wird ‚Organismus’ nun in dem sehr schwachen Sinne eines biologischen Individuums hoher Komplexität auf einer mittleren Ebene verstanden, die zwischen Genen und Populationen liegt.3 Die Qualifikation der „mittleren“ Ebene ist hierbei kaum eindeutig bestimmbar. Sie soll den intuitiven Bezug auf einen lebensweltlichen Begriff 1 2
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J. Wilson, Biological Individuality, Cambridge 1999, S. 48 ff. D. L. Hull, „Individuality and selection“, in: Annual Review of Ecology and Systematics 11/1980, S. 311-332; D. L. Hull, „Individual“, in: E. F. Keller, E. A. Lloyd (Hrsg.), Keywords in evolutionary biology, Cambridge, Mass. 1992, S. 180-187. E. Clarke, „The problem of biological individuality“, in: Biological Theory 5(4)/ 2010, S. 312-325.
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der Lebewesen ersetzen und leistet eine lediglich unvollständig qualifizierte Eingrenzung des Begriffs des biologischen Individuums. Betrachten wir den Ausgangspunkt und im Anschluss daran Hulls Lösungsvorschlag genauer. Der Organismusbegriff erscheint unproblematisch, solange wir typische Lebewesen vor Augen haben. Ein Organismus ist ein lebendiges Ding, eine hierarchisch organisierte Einheit aus Organen, die aus Geweben bestehen, die wiederum aus Zellen bestehen, in denen Moleküle als genregulatorische und metabolische Netzwerke organisiert und von einer Membran umschlossen sind, wobei alle Zellen des Lebewesens gleichen genetischen Ursprungs sind. Hunde, Katzen, Mäuse und Menschen sind solch typische Lebewesen, ebenso alle als Modellorganismen dienenden Lebewesen, insbesondere also Escherichia coli, Caenorhab ditis elegans, Arabidopsis thaliana, Drosophila melanogaster und wiederum Mus musculus. In anderen, häufig als atypisch titulierten Lebewesen, fallen jedoch organisatorische und genetische Einheit auseinander: Physalia physalis bildet eine hierarchisch organisierte Einheit, deren Komponenten Polypen meist unterschiedlicher Abstammung sind. Cladonia arbuscula und andere Flechten bilden ihre organisierte Einheit aus Komponenten, die sogar unterschiedlichen taxonomischen Reichen angehören. Die Amerikanische Zitterpappel Populus tremuloides bildet umgekehrt mehrere Rameten als organisatorische Einheiten aus, die wir als einzelne Bäume anzusprechen geneigt sind, obwohl sie über Zweigwurzeln miteinander verbundenen sind und insgesamt als ein klonales Individuum betrachtet werden können. Auch zahlreiche Korallen wie z. B. Acropora monticulosa bilden große Verbünde nicht voneinander getrennter Einheiten aus, in diesem Fall also Polypen, die gemeinsam das Skelett der Koralle hervorbringen und zumindest partiell gemeinsame Organisationseinheiten bilden. Auch Insektenstaaten können als hierarchisch organisierte Einheiten aufgefasst werden und werden häufig als Superorganismen bezeichnet. Wie erwähnt fallen bei all diesen als atypisch angesehenen Lebewesen organisatorische und genetische Einheit nicht zusammen. Dies gab Anlass zu Gedankenspielen über den Organismusbegriff, die jedoch zu keinem eindeutigen Ergebnis führten. Was die Einheit des Lebendigen ist, scheint damit nicht zu klären zu sein – ein durchaus unbefriedigendes Ergebnis. David Hull fand nun einen wissenschaftsphilosophisch respektablen Weg, nach den natürlichen Einheiten zu fragen: Diejenigen Dinge sind natürliche Einheiten, für die bzw. für deren Verhalten sich Naturgesetze finden oder https://doi.org/10.5771/9783495817476 .
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aufstellen lassen: „Out of the welter of individuals that clutter our conceptual landscapes, how are we to pick out ,natural‘ individuals? I would suggest that ,natural‘ individuals are those entities to which laws of nature apply.“4 Dabei geht er von der weithin akzeptierten Prämisse aus, dass Naturgesetze den Bezug auf natural kinds erfordern: Naturgesetze kann es nur für Dinge geben, die sich jeweils gleich verhalten: nicht für einzelne Elektronen, sondern für alle Elektronen. Nicht für einzelne Federpendel, sondern für alle Federpendel. Nicht für einzelne Mäuse, sondern, wenn überhaupt, dann nur für alle Mäuse. Und eben: nicht für Organismen nur bestimmter biologischer Arten, sondern für alle Organismen. Erst diese Allgemeingültigkeit macht gegebenenfalls den Gesetzescharakter aus. Nach Hull gibt es nun keine Naturgesetze, die für Organismen jeglicher Art gelten. Das Auftreten atypischer Organismen scheint dies mehr als deutlich zu belegen. Organismen im bisher betrachteten Sinne bilden somit kein natural kind. Dinge welcher Art stellen aber im Bereich der Biologie natural kinds dar? Hull stellt diese Frage in folgender Weise: Über Dinge welcher Art stellt die Biologie Gesetze auf? Was auch immer hier einzusetzen ist, es müssen natural kinds sein. Die Bearbeitung dieser Frage könnte ein weites Feld sein. In einer für die Philosophie der Biologie in den 1980er Jahren typischen Verengung kommen für Hull jedoch ausschließlich die Gesetze der Evolutionstheorie in Frage. In grober Verkennung beispielsweise sämtlicher physiologischer Disziplinen von der molekularen bis zur Verhaltensphysiologie, der Enzymkinetik, der klassischen und der molekularen Genetik usw. sieht er keine andere biologische Theorie als die Evolutionstheorie als hinreichend entwickelt an, dass sie überhaupt Gesetze aufstellen würde. Da Hull die Evolutionstheorie als mathematische Theorie der Selektion versteht, wird die Frage nach den natural kinds transformiert in die Frage nach den Selektionsebenen: Einzeldinge welcher Sorte unterliegen der natürlichen Selektion? Hull legt sich nicht auf eine Ebene fest, er entscheidet nicht, ob Lebewesen, Gruppen, oder Gene Einheiten der Selektion sind. Seine Antwort ist zugleich Definition: Die gesuchten Einheiten sind die „Interaktoren“, an denen die natürliche Selektion angreift, und diese kann es auf unterschiedlichen Ebenen geben. Diese Interaktoren sind nach Hull die ‚natürlichen‘ biologischen Individuen. Der Begriff des Organismus muss für ihn 4
D. L. Hull, „Individual“, in: E. F. Keller, E. A. Lloyd (Hrsg.), Keywords in evo lutionary biology, Cambridge, Mass. 1992, S. 180-187.
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deshalb durch den des Interaktors einer mittleren Ebene ersetzt werden. Auf diese Interaktoren sind Naturgesetze anwendbar. Phy salia physalis ist ein Interaktor, der aus mehreren Polypen besteht, nicht jedoch die einzelnen Polypen. Bei Populus tremuloides mag jedoch ein einzelner Stamm ein Interaktor sein, obwohl er nur ein Teil des genetischen Individuums ausmacht. Und auch die Frage, ob ein Ameisenstaat ein Interaktor ist, kann nun der empirischen Forschung über Selektionsprozesse überlassen bleiben. Nach Hulls Umdeutung der Frage stand das biologische Individuum vornehmlich als Interaktor zur Diskussion, nicht mehr als hierarchisch organisiertes Wesen. Die Debatte hatte sich auf den schwachen Begriff des Organismus verengt, seine sortale Rolle war die philosophisch einzig relevante. In den letzten Jahren wurde zwar die Einschränkung auf den evolutionstheoretischen Kontext überwunden, indem auf ausgearbeitete Theorien anderer biologischer Teildisziplinen zurückgegriffen wurde, in denen Naturgesetze aufgestellt werden.5 Durch die Übernahme von Hulls Ansatz, nach Klassen von Individuen zu suchen, die in den jeweiligen biologischen Teildisziplinen als natural kinds fungieren, wurde die Abkehr vom Begriff des Organismus als hierarchisch organisiertes Wesen jedoch weiter verstärkt.
2. Starke Begriffe des Organismus Anders als der Begriff des Lebewesens entstammt derjenige des Organismus nicht unserem normalsprachlichen Wortschatz, sondern thematisiert eine Eigenschaft von Lebewesen, die sich erst in einer bestimmten theoretischen Perspektive zeigt.6 Zwar könnte man einwenden, die Organe, also wörtlich die Werkzeuge eines Lebewesens, seien doch, zumindest soweit es die Sinne, Extremitäten und inneren Organe betrifft, bereits in der Alltagswelt als solche bekannt. Organismus meint jedoch mehr als lediglich die Zusammensetzung 5
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Z. B. T. Pradeu, „What is an organism? An immunological answer“, in: History and Philosophy of the Life Sciences 32/2010, S: 247-268; E. Clarke, „Plant indi viduality: a solution to the demographer’s dilemma“, in: Biology and Philosophy 27(3)/2012, S. 321-361. Vgl. hierzu: G. Toepfer, „Organismus“, in: ders. Historisches Wörterbuch der Biologie. Geschichte und Theorie der biologischen Grundbegriffe, 3 Bde., Stutt gart 2011, Abschnitt „Lebewesen“, Bd. 2, S. 810-812.
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aus Organen. Der Begriff rekurriert auf die systematische wechselseitige Verknüpfung der Organe, auf die Organisiertheit eines Lebewesens. Und auch wenn das Wort „Organismus“ im deutschen und stärker noch das Wort „organism“ im angelsächsischen Sprachraum inzwischen der Alltagssprache angehört, so spielt es auch weiterhin eine theoretische Rolle in Biowissenschaften und Naturphilosophie, die sich vom Alltagsgebrauch unterscheidet. Jedoch hat „Organismus“ in den Lebenswissenschaften inzwischen mindestens zwei unterschiedliche Bedeutungen, die es auseinanderzuhalten gilt. Während im vorangehenden Abschnitt der schwache Organismusbegriff thematisiert wurde, soll nun der starke Begriff des Organismus untersucht werden. Die grundlegende Idee hinter dem starken Organismusbegriff ist, dass alle Teile des Organismus als in einer wechselseitigen Abhängigkeit voneinander stehend zu betrachten sind. Wirkmächtig sind Kants Formulierungen in der Kritik der teleologischen Urteilskraft, in der er diese Beziehung als wechselseitige UrsacheWirkungs- bzw. Zweck-Mittel-Relation beschreibt: „In einem solchen Producte der Natur wird ein jeder Theil so, wie er nur durch alle übrige da ist, auch als um der andern und des Ganzen willen existirend, d. i. als Werkzeug (Organ) gedacht“ (§ 65) „... daß die Theile sich dadurch zur Einheit eines Ganzen verbinden, daß sie von einander wechselseitig Ursache und Wirkung ihrer Form sind“ (§ 65) „Ein organisirtes Product der Natur ist das, in welchem alles Zweck und wechselseitig auch Mittel ist“ (§ 66).7 Nach einer solchen Bestimmung kommt Physalia physalis sicher eher dafür in Betracht, als Organismus klassifiziert zu werden, als ein Klon von Populus tremuloides, ungeachtet der Feststellung, dass ersterer genetisch inhomogen, letzterer aber weitgehend homogen ist. Auch ein Ameisenstaat kommt als Kandidat dafür in Frage, als Organismus im starken Sinne klassifiziert zu werden. Organismen im starken Sinne scheinen also gerade die Hullschen Interaktoren zu sein, obwohl er diesen Begriff doch eingeführt hatte, um Probleme mit dem Organismusbegriff zu umgehen. Hierzu mehr im Schlussteil dieses Beitrags.
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I. Kant, Kritik der Urteilskraft, 1790, Zit. nach: Königlich Preußische Akademie der Wissenschaften (Hrsg.), Kant’s gesammelte Schriften Bd. V, Berlin 1913, S. 165-485.
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Kants Begriff des Organismus in seiner rein regulativen Funktion, die Kant teleologischen Begriffen in Anwendung auf Lebewesen zuschreibt, gründet in dessen transzendentalphilosophischer Konzeption der oberen Erkenntnisvermögen des Menschen. Jedoch machte sein Begriff auch ohne dieses Fundament Karriere und wird sowohl in konstruktivistischen als auch in realistischen Organismusbegriffen aufgenommen. Insbesondere wird der Aspekt des wechselseitigen Bedingungsverhältnisses aller Teile eines Organismus betont, dass der sich nämlich in dreifacher Hinsicht selbst hervorbringt: im individuellen Entwicklungsprozess („durch Wachstum“), im homöostatischen Erhalt durch Stoffwechselprozesse einschließlich der regulatorischen Reaktion auf verschiedenartige Störungen (wechselseitige Erhaltung der Teile und „Selbsthülfe der Natur“) sowie durch Fortpflanzung („der Gattung nach“).8 Wilhelm Roux sah eine neunfache Aufgliederung des Selbstbezugs biologischer Systeme in die Selbstleistungen oder Autoergasien der Selbstveränderung, Selbstausscheidung, Selbstaufnahme, Selbstassimilation, Selbstwachstum, Selbstbewegung, Selbstvermehrung, Selbstübertragung der Eigenschaften auf die Nachkommen oder Vererbung sowie Selbstentwicklung, dazu die übergeordnete Selbstregulation in der Ausübung dieser neun Leistungen.9 In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts werden diese Leistungen in einheitlichen Begriffen zu fassen gesucht. Am prominentesten ist sicher der von Humberto Maturana und Francisco Varela entwickelte Begriff des Organismus als eines autopoietischen Systems.10 Charakteristikum eines solchen sich selbst hervorbringenden Systems ist nach Maturana und Varela, dass das Sein und das Tun einer autopoietischen Einheit nicht voneinander getrennt werden können, da einziges Produkt ihrer Organisation der Organismus selbst sei. Es gebe keine Trennung von Erzeuger und Erzeugnis.11 Insbesondere bringen die dynamischen Prozesse des Systems, der Stoffwechsel, auch seinen Rand oder seine Begrenzung in Form einer Membran hervor. Wir sehen bei Maturana und Varela somit die kantische Charakterisierung des organisierten Wesens auf Ebene der Zelle 8 Ebd., § 64. 9 W. Roux, „Die Selbstregulation, ein charakteristisches und nicht notwendig vi talistisches Vermögen aller Lebewesen“, in: Nova acta Academiae Caesareae Leopoldino-Carolinae Germanicae Naturae Curiosorum 100(2)/1915, S. 10, S. 56. 10 H. Maturana, F. Varela, Der Baum der Erkenntnis. Die biologischen Wurzeln menschlichen Erkennens, Bern 1987, Kap. 2, S. 39 ff. 11 Ebd., S. 56.
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angewandt, wobei die besondere Berücksichtigung der Begrenzung als zum System selbst gehörig zuvor von Plessner herausgearbeitet wurde.12 Parallel hierzu hat Robert Rosen seinen lange Zeit kaum beachteten Begriff des (M, R)-Systems entwickelt, des metabolic repair bzw. metabolism-replacement-Systems.13 Rosens Ansatz betont, dass nicht nur der Stoffwechsel einer Zelle von deren Komponenten katalysiert wird, sondern dass auch die Katalysatoren selbst immer wieder repariert bzw. ersetzt werden müssen. Enzyme altern, denaturieren und werden dysfunktional. Das Selbst-Hervorbringen besteht deshalb für Rosen im Wesentlichen, neben dem Hervorbringen von Zellmaterial durch den Stoffwechsel, in der ständigen Ersetzung und somit Selbst-Hervorbringung der Selbsthervorbringungs-Maschinerie. Rosen geht noch weiter und sieht den Metabolismus des Organismus als kausal geschlossen an: zwar tauscht der Organismus Energie und Materie mit der Umgebung aus, die Ursachen sämtlicher interner Prozesse sind jedoch in ihm selbst zu finden. Im Vergleich zu Maturana und Varela marginalisiert Rosens Ansatz dabei die Selbsthervorbringung der Zellgrenze. Umgekehrt denken zwar Maturana und Varela auch die von Rosen betonte Selbsthervorbringung des Stoffwechselapparates mit, nur Rosen konzeptualisiert diese jedoch in einer Weise, die außer einer plausiblen abstrakten Beschreibung auch eine mathematische Modellierung des Systems erlaubt. Auch wenn diese ihm selbst noch nicht in überzeugender Weise gelungen ist, können (M, R)-Systeme heute auf verschiedenen Stufen modelliert werden, was jüngst zur Modellierung eines replacement-Systems und seiner Einbindung in ein metabolisches System geführt hat, ohne dass hierzu eine Einschränkung auf die kontingenten Verhältnisse der Proteinbiosynthese in den uns bekannten Zellen erforderlich war.14 Ein weiteres autopoietisches Organismusmodell hat Tibor Gánti mit dem Chemoton vorgestellt.15 Sein Modell bildet in sehr viel 12 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie, Berlin 21965, S. 99-105. 13 R. Rosen, „On the dynamical realization of (M, R)-systems“, in: Bulletin of Mathematical Biology 35(1-2)/1973, S. 1-9; R. Rosen, Life itself, New York 1991. 14 J. C. Letelier, J. Soto-Andrade, F. Guíñez Abarzúa, A. Cornish-Bowden, M. L. Cár denas, „Organizational invariance and metabolic closure: analysis in terms of (M, R) systems“, in: Journal of Theoretical Biology 238(4)/2006, S. 949-961. 15 T. Gánti, Chemoton theory. Vol I: Theoretical foundation of fluid machineries and chemoton theory. Vol. II: Theory of living systems, New York 2003 (un
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stärkerem Maße als Rosens (M, R)-System tatsächliche Vorstellungen über die Biochemie der Zelle ab und soll ein Minimalmodell der Organisation einer lebenden Zelle sein. Das Chemoton verfügt über drei miteinander gekoppelte Systeme: ein metabolisches System, ein Matrizen-Polykondensations-System oder informationsspeicherndes Steuersystem sowie ein Membranbildungssystem. Die Verknüpfung aller drei Systeme nennt Gánti ‚primäres Leben‘. Übertragen auf den Maßstab vielzelliger Lebewesen, die aus Gántis Perspektive als ‚sekundäres Leben‘ modelliert werden müssen, ergeben sich die drei Systeme des Stoffwechsels, der neuronalen Steuerung und einer Hülle oder Haut als Begrenzung.
3. Lebewesen und der starke Organismusbegriff Mit dem starken Organismusbegriff verbinden die Autoren den Anspruch, Leben zu definieren oder die essentiellen Eigenschaften von Lebewesen anzugeben. Jedoch stellt sich die Frage, ob Lebewesen (und nur Lebewesen) überhaupt Organismen in diesem starken Sinne sind. Mindestens vier Beobachtungen sprechen gegen die Adäquatheit dieser Auffassung: (i) Lebewesen, zumindest mehrzellige, zeigen keineswegs die im starken Organismusbegriff unterstellte perfekte Selbsterhaltung. (ii) Die Annahme der kausalen (wie auch der funktionalen) Geschlossenheit von Organismen erweist sich bezüglich Lebewesen als unzutreffend. (iii) Nicht alle am Aufbau eines Lebewesens beteiligten Komponenten müssen in das Wechselwirkungsgefüge des Organismus eingebunden sein. (iv) Auf einige Systeme, die wir nicht als Lebewesen anerkennen würden, ist der Organismusbegriff in ähnlicher Weise anwendbar wie auf Lebewesen. Im Folgenden sollen diese vier Einwände näher untersucht werden.
garische Originalausgabe Budapest 1991); T. Gánti, The Principles of Life, Ox ford 2003.
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Zu (i): Die meisten Mehrzeller sind nicht dauerhaft selbsterhaltend. Sie entwickeln sich, altern und sterben.16 Zwar erhalten sie ihre Struktur in höherem Maße oder über längere Zeit als die meisten chemischen Reaktionssysteme, sodass man den Organismus nach dem starken Begriff als Idealisierung des Zustands eines Lebewesens in der mittleren Phase seines Lebens anzusehen versucht sein könnte. Jedoch gehören auch die Veränderungsprozesse wesentlich zum Lebensprozess. Offensichtlich ist zunächst, dass ein Mehrzeller von der Zygote ausgehend einen Entwicklungsprozess durchlaufen muss, um den „mittleren“ Zustand erst einmal zu erreichen. Solche Entwicklung ist im Begriff des autopoietischen Systems durchaus mitgedacht. Zu diesem Entwicklungsprozess gehört neben der Proliferation der Zellen auch die Apoptose, der programmierte Zelltod, durch den erst sich entwickelnde Finger voneinander getrennt, das zentrale Nervensystem strukturiert oder die Blätter einiger Pflanzen gefenstert werden. Reguläre Lebensprozesse führen hier zur Selbstzerstörung von Zellen. Auch das Altern des Lebewesens als Ganzes unterliegt biologischen Mechanismen, zu denen z. B. die Verkürzung der Telomere der Chromosomen bei jeder Zellteilung gehört. So sind Altern und Untergang des Lebewesens weder allein noch primär äußeren Einflüssen zuzuschreiben, sie sind in ihm selbst angelegt. Der Begriff des autopoietischen Systems vernachlässigt diesen Aspekt. Lebewesen der meisten Arten sind nicht nur autopoietische, sondern ebenso autolytische Systeme. Hiervon mögen Bakterien, viele Einzeller und einige derjenigen Mehrzeller ausgenommen sein, die keine Trennung von Keimbahn und Soma aufweisen. Jedoch wird deutlich, dass unter den starken Organismusbegriff Lebewesen vieler Arten gerade nicht fallen, insbesondere nicht die für das Alltagsverständnis paradigmatischen so genannten höheren Tiere. Bestenfalls taugt der starke Organismusbegriff demnach als Idealisierung des Zustandes des Lebewesens in einer mittleren Phase seiner Entwicklung. Zu (ii): Der starke Organismusbegriff unterstellt metabolische oder kausale Geschlossenheit:17 Zwar tauscht der Organismus Energie und Materie mit der Umgebung aus, die internen Kausalket16 Die Relevanz auch der Verfallsprozesse wurde seltener hervorgehoben, insbeson dere jedoch von Claude Bernard, Leçons sur les phénomènes de la vie communs aux animaux et aux végétaux, 2 Bde., Paris 1878-79, Bd. 1, S. 32, 34. 17 A. Cornish-Bowden, G. Piedrafita, F. Morán, M. L. Cárdenas, F. Montero, „Simu lating a model of metabolic closure“, in: Biological Theory 8(4)/2013, S. 383-390.
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ten, sofern sie zum Selbsterhalt beitragen, sind jedoch geschlossen. Gemeint ist damit bei Rosen, dass sämtliche Stoffwechselprozesse einschließlich der Ersetzung der Katalysatoren, des Replacement, keinem externen Anstoß zu verdanken sind, sondern intern generiert werden. Hier findet sich die kantische zyklische Kausalität wieder, die eben nicht nur in linearer Verknüpfung „abwärts“ verläuft, sondern Abhängigkeiten „sowohl abwärts als aufwärts“18 aufweist, auch wenn diese nun gerade nicht mehr als mechanistisch nicht erklärbar konzipiert wird. Auch dieses Konzept verkennt jedoch die Verfasstheit von Lebewesen, wie sie von derzeitigen physiologischen und entwicklungsbiologischen Theorien beschrieben wird. Das Wachstum vieler Pflanzen beispielsweise ist nicht nur von externen Ressourcen wie Wasser, Mineralien und der Energiequelle Licht abhängig, sondern wird auch von Licht und Gravitation als Reizen beeinflusst. Die externen Reize sind kausal wirksam durch die Auslösung interner Prozesse, ohne selbst als Ressource in diese Prozesse einzugehen. Letztere laufen eben nicht vollständig selbständig ab, sondern bedürfen zumindest eines externen Triggers. Auch bei Tieren einschließlich des Menschen sind – wiederum neben externen Ressourcen – externe kausale Einflüsse für die Entwicklung, den Erhalt und auch das Altern mit verantwortlich. Ohne eine solche Denkmöglichkeit brauchte die „nature-nurture“-Debatte gar nicht erst geführt zu werden und es erscheint fast ausgeschlossen, dass die „nurture“Seite sich letztlich als gänzlich bedeutungslos erweisen könnte. Die äußeren Einflüsse sind eben nicht nur Ressourcen, deren sich ein Lebewesen bedient, sondern sie beeinflussen als kausale Trigger und Modifikatoren seinen Stoffwechsel und seine Entwicklung. Damit ist ein Lebewesen gerade kein metabolisch oder kausal geschlossenes System. Dies gilt im Gegensatz zum ersten Einwand für alle bekannten Lebewesen, Bakterien und alle Einzeller eingeschlossen. Zu (iii): Von Kant bis Gánti finden wir – mit unterschiedlicher Schwerpunktsetzung – den Begriff des Organismus als eines sich selbst hervorbringenden, begrenzenden, steuernden und erhaltenden Systems. Nicht alle am Aufbau eines Lebewesens beteiligten Komponenten müssen aber in das Wechselwirkungsgefüge des Organismus eingebunden sein. Der starke Organismusbegriff definiert 18 I. Kant, Kritik der Urteilskraft, 1790, Zitiert nach: Königlich Preußische Akade mie der Wissenschaften (Hrsg.), Kant’s gesammelte Schriften Bd V, Berlin 1913, § 65.
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deshalb zugleich, welche Teile eines Lebewesens seinem Organismus gar nicht angehören: Teile, die räumlich zum System gehören, aber entweder nicht von ihm selbst hervorgebracht oder sich aktiv einverleibt wurden, oder die zwar von ihm hervorgebracht wurden, ohne jedoch zum Erhalt des Systems beizutragen. Alternde und absterbende Zellen gehören damit ggf. bereits nicht mehr zum Organismus (sofern man des sehr jungen Sokrates Einordnung folgen wollte, gälte dies auch für Haar, das er mit Kot und Schmutz auf eine Stufe stellen möchte).19 Selbst Fortpflanzungsorgane gehörten zwar nach Kant in immerhin einer Hinsicht (Hervorbringung der Gattung nach), nicht jedoch gemäß Rosen und Gánti zum Organismus. Der Organismus wäre demnach allenfalls so etwas wie der Kern eines Lebewesens. Einiges weitere käme zu diesem hinzu, was das Lebewesen ausmacht, jedoch nicht sein Organismus-Sein. Sofern man unter diesem Hinzukommenden auch das fassen möchte, was für Altern und Tod verantwortlich ist, mag mancher vielleicht eher in diesen Ergänzungen als im Kern des Lebewesens Teuflisches erkennen. Jedoch sind auch nicht alle an der Aufrechterhaltung des Gleichgewichts beteiligten Komponenten vollständig in das Kausalgefüge eingebunden, denn nicht alle Komponenten eines Lebewesens werden von ihm hervorgebracht. Nehmen wir Wasser und Salze einmal aus, so bleiben dennoch lebenswichtige Komponenten fremder Herkunft zu nennen: verschluckte Steine und Sandkörner, die im Vogel- oder Muschelmagen an der Zerkleinerung der Nahrung beteiligt sind, oder auch Darm- und ggf. Pansenflora, ohne die Säugetiere und zahlreiche Insekten verhungern oder an Vitaminmangel zu Grunde gehen würden. Zu (iv): Wäre nach den Anmerkungen zu (i) und (ii) Lebewesen weniger perfekt strukturiert als der starke Begriff des Organismus verlangt, und bestünde nach (iii) ein Lebewesen zugleich aus mehr Komponenten als sein Organismus, so wäre bei Außerachtlassung dieser Einwände der Organismusbegriff mit gleichem Recht wie auf Lebewesen auch auf einige Systeme anwendbar, die wir in der Regel nicht als Lebewesen anzuerkennen bereit wären. Insbesondere ist hier an den Wasserkreislauf zu denken. Verdunstung, Niederschlag und Wasserreservoire stehen in wechselseitiger kausaler Abhängigkeit voneinander, der Prozess organisiert sich selbst und ist langfristig stabil. Der Wasserkreislauf fällt damit unter die Kantische 19 Platon, Parmenides 130b-d.
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Version des starken Organismusbegriffs. Werden Wellen und die Transpiration der Pflanzen in das Bild einbezogen, so erneuert der Wasserkreislauf sogar selbst seine die Verdunstung katalysierenden Komponenten, sodass auch die Fassungen des Begriffs von Maturana und Varela sowie von Rosen anwendbar werden. Allein der von Gánti geforderte Informationsspeicher dürfte schwerlich auszumachen sein. Er könnte zwar z. B. in der Struktur der (Fließ)gewässer gesehen werden, hätte jedoch nicht die Form eines MatrizenPolykondensationssystems des primären Lebens. Zumindest nach den anderen Fassungen des starken Organismusbegriffs müsste der Wasserkreislauf jedoch als Organismus gelten, sofern der Organismusbegriff hierfür kategorial überhaupt geeignet ist (was hier bestritten wird). Da der Wasserkreislauf zugleich kaum als Lebewesen wird gelten können,20 kann der starke Organismusbegriff gerade nicht den Lebensbegriff explizieren. Während der schwache Organismusbegriff laut Hull keine wissenschaftliche Anwendung hat und durch denjenigen des Interaktors ersetzt werden sollte, stellt sich nun heraus, dass es Organismen nach dem starken Begriff gar nicht gibt (s. o. zu (i) – (iii) sowie u. Abschnitt 4)21 bzw. dass, wenn es Organismen im starken Sinne doch geben sollte, zu diesen auch unbelebte Systeme gehören können (s. o. zu (iv)). Das heißt gerade nicht, dass der starke Organismusbegriff ebenfalls wissenschaftlich irrelevant wäre. Seine epistemische Rolle ist jedoch nicht diejenige, eine Klasse von Dingen zu charakterisieren, die wir in der Welt vorfinden.
4. Die epistemische Rolle des starken Organismusbegriffs Der starke Organismusbegriff ist nach dem im letzten Abschnitt gesagten kein empirischer Begriff, unter den die Lebewesen fallen. Auch um einen theoretischen Begriff handelt es sich nicht, denn der Begriff wird nicht von einer ohne ihn nicht geschlossen formu20 Toepfer klassifiziert den Wasserkreislauf konsequenterweise als Organismus, nicht jedoch als Lebewesen: G. Toepfer, Zweckbegriff und Organismus. Über die teleologische Beurteilung biologischer Systeme, Würzburg 2004, S. 211 ff. 21 Ruse macht es sich zu einfach, wenn er glaubt, eine teleologische Organisation als spezifische Eigenschaft von Lebewesen und damit als Alleinstellungsmerkmal (wenn nicht als Essenz!) ausweisen zu können. M. Ruse, „Do organisms exist?“, in: American Zoologist 29(3)/1989, S. 1061-1066.
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lierbaren Theorie als Ergänzung gefordert. Eine solche Rolle spielt allenfalls Hulls Begriff des Interaktors. Jener wird benötigt, um das natural kind erfassen zu können, für das die Gesetze der Selektionstheorie gelten. Somit stellt sich die Frage nach der epistemischen Rolle, die der starke Organismusbegriff in der Biologie spielt. Der starke Organismusbegriff soll etwas erfassen, was von biologischen Theorien gerade nicht gefordert ist. Diese benötigen keinen Lebensbegriff und können deshalb auch nicht vorgeben, wie dieser verfasst sein müsste. Dennoch spielt der starke Organismusbegriff eine wichtige theoretische Rolle: Er kann Theorien über Lebewesen instruieren und bei ihrer Entwicklung helfen, ohne selbst schon eine adäquate und umfassende Theorie des Lebens zu sein oder zu umfassen. Zugleich hat er einen starken empirischen Aspekt, indem er das Wissen um wechselseitige kausale Abhängigkeiten der Komponenten von Lebewesen und um die Selbsthervorbringung und -erhaltung von Lebewesen konzeptualisiert. Um diese Rolle des starken Organismusbegriffs als eines epistemischen Werkzeugs weiter zu verdeutlichen, soll zum Vergleich ein Begriff herangezogen werden, der in der Physik eine ähnliche Rolle spielt (neben weiteren Rollen, die hier jedoch nicht relevant sind), den Begriff des harmonischen Oszillators. Der harmonische Oszillator wird zur Beschreibung zahlreicher makroskopischer und mikroskopischer Systeme verwendet, vom Feder- und Fadenpendel über elektrische Schwingkreise und Molekülschwingungen bis zu näherungsweisen Lösungen der Schrödingergleichung. Allerdings scheint kein makroskopisches und auch kein mikroskopisches physikalisches System ein harmonischer Oszillator zu sein. Oszillatormodelle sind jedoch sehr hilfreiche epistemische Werkzeuge. Sie erlauben zum einen die annähernde Beschreibung bestimmter Aspekte eines schwingenden Systems. Sie erlauben aber zum anderen auch, Besonderheiten des untersuchten Systems dort, wo das System von den Annahmen des Modells abweicht, zu isolieren und somit Ansatzpunkte für die weitere Untersuchung des Systems zu finden. Diese werden dann beispielsweise als Dämpfung oder als Kopplung von Oszillatoren beschrieben. Wie einige physikalische Systeme unter bestimmten Annahmen recht gut als harmonische Oszillatoren beschrieben werden, so werden viele biologische Systeme auf einer bestimmten Zeitskala in guter Näherung durch den starken Organismusbegriff beschrieben. Der Organismusbegriff ist ein epistemisches Werkzeug wie der Begriff des harmonischen Oszillators. Er erlaubt zum einen die https://doi.org/10.5771/9783495817476 .
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annähernde Beschreibung bestimmter Aspekte eines biologischen Systems. Zum anderen erlaubt er, Besonderheiten des untersuchten Systems zu isolieren und somit weiter zu untersuchen, insbesondere Abweichungen von Replacement/Repair, von der Konstanz autokatalytischer Zyklen, von der Langzeitstabilität des Systems und von seiner kausalen Geschlossenheit. So erlaubt der starke Organismusbegriff, die „autos“-Aspekt des Lebens von den „vergänglichen“ Zügen zu isolieren und beide getrennt voneinander zu untersuchen. Ich schlage deshalb vor, den starken Begriff des Organismus weder als empirischen, noch als theoretischen Begriff aufzufassen, sondern als ein epistemisches Werkzeug, das verschiedene heuristische Funktionen erfüllen kann. Der starke Organismusbegriff ist am besten zu verstehen als ein vermittelndes Modell im Sinne Morgans und Morrisons.22 Wie der gedämpfte Oszillator lokales Wissen über Abweichungen vom harmonischen Oszillator fasst und theoretisch systematisiert,23 so können Modelle, die ausgehend vom starken Organismusbegriff Abweichungen von diesem erfassen, lokales Wissen z. B. über Entwicklungs- und Alterungsprozesse systematisieren. Erst der modellhafte starke Organismusbegriff ermöglicht es, nach diesen Abweichungen zu suchen und die Forschungstätigkeit darauf zu fokussieren. Die wichtigste Rolle des starken Organismusbegriffs mag vor einigen Jahrzehnten noch eine andere gewesen sein, sie mag nicht so stark auf der Isolierung von Abweichungen gelegen haben: Sicher war lange Zeit die Modellierung derjenigen Prozesse vorrangig, die Stabilität und Homöostase bedingen. Auch ist die zuvor betone Rolle als Differenzindikator selbst vermutlich nur temporär vorrangig. Mit dem neueren Interesse an der Robustheit komplexer Systeme gelangt zunehmend wieder deren Stabilität in dem Blick, nun aber vor allem als Stabilität des Ergebnisses einer Veränderung gegenüber Unterschieden zwischen verschiedenen Wegen, auf denen sie hervorgebracht werden kann. Statt der Stabilität von Zuständen
22 M. Morrison, M. S. Morgan, „Models as mediating instruments“, in: M. Morgan, M. Morrison (Hrsg.), Models as Mediators: Perspectives on Natural and Social Science, Cambridge 1999, S. 10-37. 23 M. Suárez, „The role of models in the application of scientific theories: epistemo logical implications“, in: M. Morgan, M. Morrison (Hrsg.), Models as Mediators: Perspectives on Natural and Social Science, Cambridge 1999, S. 168-196.
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findet damit die Pfadunabhängigkeit von Veränderungen besonderes Interesse. Solche pfadunabhängigen Veränderungen zu isolieren wird nicht die letzte Rolle des starken Organismusbegriffs sein.
5. Schluss Abschließend möchte ich nochmals auf den schwachen Organismusbegriff zurückkommen, an den für Hull das Problem der atypischen Organismen geknüpft war. Hulls Interaktoren auf der „mittleren“ Ebene umfassen typische und atypische Organismen. Typische Organismen – Hund, Katze, Maus – sind paradigmatisch für die Modellierung durch den starken Begriff des Organismus. Wie sieht es mit den atypischen Organismen aus? Physalia physalis ist ebenso gut oder ebenso schlecht als Organismus im starken Sinne beschreibbar, wie die typischen Organismen. Genau deshalb werden Staatsquallen ja als atypische Organismen bezeichnet. Sie sind atypisch, weil sie genetisch nicht homogen sind, nicht, weil sie keine Organismen wären. Genetische Homogenität aber ist, wie Hull korrekt bemerkt, völlig unerheblich dafür, dass sie eine Selektionseinheit bilden, und genau aus diesem Grund geht er vom schwachen Begriff des Organismus zu demjenigen des Interaktors über. Ähnliches wie für Staatsquallen gilt für Flechten wie Cladonia arbuscula. Umgekehrt können die einzelnen Stämme von Populus tremuloides und zumindest einige Polypen einer Kolonie von Acropora monti culosa sich unabhängig voneinander fortpflanzen, sodass die Nachkommen einzeln der Selektion unterliegen. Auch hier gilt, dass, was auch immer mittels des starken Organismusbegriffs als Einheit beschrieben wird, dieses die Einheit der Selektion bildet, auch wenn es z. B. der Superorganismus eines Insektenstaates wäre. Die Gesetze der Selektion, wie Hull sie auffasst, gelten also genau für diejenigen Dinge, für die der starke Organismusbegriff als Modell adäquat ist: für Lebewesen. Lebewesen sind die Interaktoren nach Hull. Einmal unterstellt, Hull wäre bereit gewesen, den Organismusbegriff als empirischen Begriff anzusehen, so hätte er den Organismusbegriff gerade nicht zu eliminieren brauchen, sondern mit dem starken Begriff des Organismus bereits den gesuchten natural kind-term vorgefunden – auch wenn präziser nur von einem Stellvertreter für einen natural kind-term gesprochen werden sollte, denn es handelt sich ja nicht um einen empirischen Begriff. https://doi.org/10.5771/9783495817476 .
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Weshalb also bereiteten Hull die atypischen Organismen derartige theoretische Probleme? Dies erklärt sich aus der Klassifikation als atypisch: die betrachteten atypischen Organismen sind entweder genetisch inhomogen, oder es handelt sich trotz genetischer Homogenität und physischer Kontinuität um mehrere Organismen. Atypisch sind sie also ausschließlich nach Kriterien der genetischen Individuierung. Nur wenn der Begriff des Organismus so gefasst wird, dass er genetische Einheitlichkeit bei physischer Abgegrenztheit umfasst, entsteht überhaupt das Problem, das Hull lösen möchte. Hull fasste den schwachen Organismusbegriff in dieser Weise. Der starke Organismusbegriff schließt jedoch genetische Homogenität nicht notwendigerweise ein. Der Organismus im starken Sinne, besser gesagt, das Lebewesen, das er modelliert, ist bereits ein Hullscher Interaktor, das biologische Individuum der mittleren Ebene. Hulls Ersetzung des Organimusbegriffs durch denjenigen des Interaktors leistet vor allem die Eliminierung der ohne Not in den schwachen Organismusbegriff aufgenommenen genetischen Individuierungskriterien. Hulls Argumentation zeigt vor allem dies: so atypisch an den problematischen Fällen die Genetik ist, so überflüssig ist es, sie im Begriff des Organismus zu berücksichtigen. Typisch für ein biologisches Individuum ist hingegen seine Unteilbarkeit. Diese beruht, wo sie auftritt, keinesfalls auf seiner genetischen Homogenität, sondern auf seiner Organisation, die bei Teilung zerstört würde. Auch dieses wiederum im starken Organismusbegriff gefasste Typische gilt jedoch nicht ohne Ausnahme und bedarf der Untersuchung am Einzelfall. Damit ist ein weiteres Feld genannt, bei dessen Untersuchung der starke Organismusbegriff als Modell vermittelnde Funktionen erfüllt.
Danksagung Für die Diskussion des hier vorgestellten Ansatzes gilt mein Dank Auditorien in Aachen, Berlin, Hannover und Heidelberg sowie dem DFG-geförderten Netzwerk „Philosophie der Lebenswissenschaften.“
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John Dupré und Maureen A. O’Malley
Varianten des Lebendigen Leben am Schnittpunkt von Stammlinie und Metabolismus1
Wir greifen drei grundlegende Fragen auf: Was bedeutet es, dass ein Wesen lebendig ist? Was ist die Rolle interorganismischer Kollaboration in der Evolution? Was ist ein biologisches Individuum? Unsere Kernaussage lautet, dass Leben dann entsteht, wenn Stammlinienbildende Wesen beim Metabolismus kollaborieren. Indem wir Metabolismus als einen kollaborativen Prozess auffassen, der von funktionalen Einheiten ausgeführt wird, die Zusammenschlüsse einer Vielzahl stammlinienbildender Wesen sind, vermeiden wir die übliche Spannung, die in Diskussionen des Lebens zwischen Reproduktion und Metabolismus besteht – eine Spannung, die sich besonders augenfällig in Diskussionen über die Lebendigkeit von Viren zeigt. Unsere Perspektive nimmt keine scharfe Trennung zwischen Leben und Nicht-Leben an, und sie setzt Leben nicht ausschließlich mit einem zellulären oder organismischen Status gleich. Zu diesem Ergebnis kommen wir durch die Analyse der Fähigkeiten eines Spektrums biologischer Wesen, das den Schlüsselfall der Viren ebenso umfasst wie Prionen, Plasmiden, Organellen, intraund extrazelluläre Symbionten sowie ein- und mehrzellige Lebensformen. Das übliche Kriterium zur Klassifikation vieler dieser Wesen als nicht-lebendig ist Autonomie. Eine solche Gewichtung der Autonomie ist indes problematisch, da sogar paradigmatische biologische Individuen wie große Tiere von symbiotischen Zusammenschlüssen mit vielen anderen Organismen abhängig sind. Diese zusammengesetzten Individuen konstituieren die metabolischen Einheiten, auf die die Selektion einwirkt. Zuletzt behandelt unser Ansatz Kooperation und Konkurrenz nicht als Gegenpole, sondern als Punkte auf einem Kontinuum der Kollaboration. Wir legen nahe, 1
Englische Originalfassung: J. Dupré, M. A. O’Malley, „Varieties of living things: life at the intersection of lineage and metabolism“, in: Philosophy & Theory in Biology 1/2009, S. 1-25. Mit Dank an die Autoren und die University of Mi chigan Library für das Recht der Übersetzung und des Drucks.
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John Dupré und Maureen A. O’Malley
dass kompetitive Beziehungen einen Übergangszustand darstellen, in dessen Verlauf aus vielen Stammlinien gebildete metabolische Einheiten ihre egoistischen Konkurrenten schlussendlich ausstechen, und dass dieser Prozess manchmal zur Entstehung neuer Typen oder Ebenen solcher Einheiten führt. Unser Blick auf Leben als Kontinuum variabel strukturierter kollaborativer Systeme lässt die Möglichkeit offen, eine Vielzahl von Formen organisierter Materie – von chemischen Systemen bis hin zu Ökosystemen – sinnvollerweise als lebendig zu verstehen.
„Sechzig Jahre nachdem Erwin Schrödinger sein Buch ‚Was ist Leben?‘ verfasst hat, scheint es, dass wir in der Lage sein sollten, die Frage zu beantworten. Doch die Natur hört niemals auf, die Grenzen unserer Vorstellungskraft auszuloten.“ M. Y. Galperin2
Dieser Aufsatz soll keine Definition liefern, die Schrödingers Frage beantworten würde. Vielmehr möchten wir uns ihr nähern, indem wir ein Spektrum biologischer Wesen beschreiben, das verdeutlicht, warum scheinbar keine nützliche scharfe Trennlinie zwischen lebendigen und nicht-lebendigen Dingen existiert. Das positive Ziel dieser Überlegungen ist es, eine flexible Perspektive auf Leben aufzuzeigen, die tatsächlich erklärt, warum bestimmte Organisationsformen der Materie als lebendig beschrieben werden können. Indem wir die unterschiedlichen Eigenschaften der verschiedenen Wesen unseres Spektrums identifizieren, insbesondere Problemfälle wie Viren, hoffen wir wenigstens einige der Probleme anzusprechen, die hinter Schrödingers Frage, ihren Vorgängern und ihrem Widerhall stehen. Wieder aufgeworfen wurde die Fragestellung von eindrucksvollen aktuellen Versuchen, unter dem Label der ‚Synthetischen Biologie‘ aus einfachen chemischen Bestandteilen Leben zu synthetisieren. In diesem Aufsatz möchten wir ein Spannungsverhältnis in den Blick nehmen, das die üblichen Diskussionen um Merkmale des Lebens bestimmt. Diese Diskussionen neigen dazu, eine der beiden grundlegenden, doch sehr verschiedenen Eigenschaften lebendi2
M. Y. Galperin, „Life is not defined just in base pairs“, in: Environmental Micro biology 7/2005, S. 149-152, hier S. 149.
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ger Dinge zu priorisieren: die Fähigkeit zur Stammlinienbildung durch Replikation auf der einen, oder die Fähigkeit, als selbsterhaltende metabolische Systeme zu existieren, auf der anderen Seite. Wir schlagen vor, dass dieses Spannungsverhältnis am besten dadurch gelöst werden kann, Leben als etwas zu betrachten, das nur am Schnittpunkt dieser beiden Eigenschaften entsteht: Materie ist lebendig, wenn Stammlinien – direkt oder indirekt – an metabolischen Prozessen beteiligt sind. Doch ebenso entscheidend für unsere These und, wie wir meinen, für viele der Schwierigkeiten, denen sich Versuche, Leben zu verstehen, ausgesetzt sahen, ist die Beobachtung, dass die Wesen, die Stammlinien bilden, nicht immer und nicht einmal üblicherweise dieselben sind wie die, die eine metabolische Einheit bilden. Wir werden herausstellen, dass Metabolismus, die transformativen chemischen Reaktionen zur Erhaltung von Lebensprozessen, eine Frage der Kollaboration ist. Leben, behaupten wir, findet typischerweise an den kollaborativen Schnittpunkten vieler Stammlinien statt. Wir schlagen darüber hinaus sogar vor, Kollaboration als zentrales Merkmal lebendiger Materie zu betrachten – eine Ansicht, die Implikationen für unser Verständnis der Ursprünge des Lebens nach sich zieht. Begleiterscheinungen dieser Inkongruenz der Teile von Stammlinien mit metabolischen Einheiten sind, dass wir weder die Identifikation lebendiger Dinge mit Organismen noch das Verständnis von traditionellen Organismen als ‚den‘ biologischen Individuen als Einheiten der Evolution aufrecht erhalten können.
1. Kollaboration und die Vielfalt des Lebens Die kollaborative Natur lebendiger Wesen und Prozesse ist unser wesentlicher Ausgangspunkt. Darwins Theorie der natürlichen Auslese hat berechtigterweise Fragen des Wettbewerbs großes theoretisches Interesse entgegengebracht. Eine weniger günstige Konsequenz dieser Schwerpunktsetzung war, dass sie von dem ebenso wichtigen Thema der Kooperation ablenkte und schließlich sogar in der Annahme kulminierte, Altruismus, verstanden als Übertragung eines Vorteils von einem biologischen Wesen an ein anderes, stelle ein ernsthaftes theoretisches Problem dar. Zwar wird das Problem üblicherweise auf Organismen bezogen, jedoch erlangte auch ein entsprechendes Argument Prominenz, das auf die Ebene von Genen https://doi.org/10.5771/9783495817476 .
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angewandt wurde. Richard Dawkins3 machte die Idee von Genen als grundlegend egoistischen Wesen, die zueinander in Konkurrenz stehen, berühmt. Aus dieser Perspektive ist es wirklich bemerkenswert, dass der gesamte Zusammenschluss der Gene im Genom eines Organismus dennoch dazu in der Lage ist, bei einer so bedeutsamen Aufgabe wie der Entwicklung zusammenzuarbeiten. In diesem Aufsatz stellen wir Egoismus in einen weiteren Kontext und heben die breitere Perspektive auf Leben als kollaborative Unternehmung hervor. Wir behaupten nicht, dass Interpretationen, die auf Egoismus abzielen, ungültig wären, wohl aber, dass sie bestenfalls eine limitierte Perspektive auf Leben und die Evolution bieten. Anstatt Kooperation auf Egoismus zu reduzieren, schlagen wir vor, Egoismus und Kooperation besser innerhalb eines Rahmens von Kollaboration zu verstehen. Mit Kollaboration meinen wir Interaktionen zwischen Komponenten eines Systems, die zu verschiedenen Graden an Stabilität, Erhaltung oder Transformation dieses Systems führen. Wie bei wissenschaftlichen Kollaborationen beinhalten diese Interaktionen möglicherweise starke egoistische Interessen4, aber diese egoistischen Aktivitäten können nur in einem kollaborativen Kontext stattfinden. Von der Kollaboration abzuweichen, ist nur dann möglich, wenn Kollaboration den grundsätzlichen Standard darstellt. In jedem Bereich organismischen Lebens gibt es große Mengen von Organismen, die für das klassische evolutionäre Verständnis egoistischer Individuen problematisch sind5. Geteilte Interessen können zu einem hochkooperativen ‚Team‘-Verhalten führen, das Joan Roughgarden als ‚cooperative Teamwork‘ beschreibt6. Zwar ist der evolutionäre Nutzen möglicherweise nicht für alle Mitglieder gleich, doch wird er an das gesamte Team verteilt. Kollaboration mag gleichwohl auch die ‚bloße‘ Koinzidenz individueller Interessen beinhalten und so liegt es häufig im Eigeninteresse jedes Individuums, zu kollaborieren – zumindest in einem gewissen Maß. Kollaboration in diesem Sinne erstreckt sich über eine Spanne interaktiver Prozesse, die sowohl kooperative als auch kompetitive Aktivitäten beinhalten kann. Während an dem einen Ende dieses Kontinuums die Ziele der Individuen vollständig übereinstimmen können, sind 3 4 5 6
R. Dawkins, The Selfish Gene, Oxford 1976. D. L. Hull, Science as a Process, Chicago 1988. J. Roughgarden, The Genial Gene: Deconstructing Darwinian Selfishness, Cali fornia 2009. Ebd., S. 13.
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sich die Individuen am anderen Ende größtenteils oder vollständig feindlich gesinnt. Wir werden in besonderen Maße versuchen, die evolutionäre Beständigkeit offensichtlich ‚parasitärer‘ oder egoistischer Interaktionen zwischen Organismen sowie die Natur solcher Wesen zu verstehen, die sich aus biologischen Individuen zusammensetzen, die üblicherweise als voneinander distinkt angesehen werden. Ein Aspekt von Kollaboration ist schlicht interaktive Kombination. So schließen sich etwa Atome zu Molekülen zusammen, die schließlich Eigenschaften besitzen, die sich in keinem der Atome finden, aus denen sie zusammengesetzt sind. Doch damit ein Prozess nach unserem Verständnis als Kollaboration gelten kann, ist sicherlich noch mehr notwendig. Wie die Mehrzahl derer, die sich mit der Frage beschäftigen, was Lebewesen ausmacht, nehmen wir an, dass es eine notwendige Bedingung der Lebendigkeit gibt, die den meisten Atomen und Molekülen fehlt: die Fähigkeit zur Reproduktion. Doch obwohl wir sie für eine notwendige Bedingung halten, ist es weniger offensichtlich, dass sie auch hinreichend ist. Lebewesen müssen auch im Hinblick auf ihre Fähigkeit zur Selbsterhaltung durch biochemische Transformationen verstanden werden. Metabolismus, wie wir ihn verstehen, kann entweder autonom (nach dem üblichen Verständnis) oder kollaborativ, durch Interaktionen mit anderen biologischen Wesen, auftreten. In jedem Fall ist, wie die im Folgenden beschriebenen Mikroben und mikrobenartigen Wesen illustrieren, eine sehr diverse Gruppe von Dingen sowohl reproduktiv tätig als auch an einem metabolischen System beteiligt. Unsere empirisch fundierte Analyse lebendiger Materie wird nicht auf dem Tier-, Pilz- oder Pflanzenleben basieren, dem das Hauptinteresse der Philosophen und Wissenschaftler gilt, die sich mit dem Thema beschäftigen – den Status dieser lebendigen Dinge bezweifelt niemand, es geht bei ihnen nur darum, welches ihrer Merkmale für ihre Lebendigkeit konstitutiv ist. Vielmehr werden wir uns auf den Bereich konzentrieren, der allgemein als mikrobiell bezeichnet wird und einige Wesen enthält, deren Zuweisung in den Bereich des Lebendigen umstritten ist. Zwar sind Mikroben eine Gruppe von Organismen, deren biologische und konzeptuelle Diversität an Inkohärenz grenzt, doch lässt sich dasselbe über die Makroorganismen oder Makroben sagen, die für die meisten Perspektiven auf Leben eine große Rolle spielen7. Die Kategorie der Mikroben 7
J. Dupré, M. A. O’Malley, „Metagenomics and biological ontology“, in: Studies in History and Philosophy of Biological and Biomedical Sciences 38/2007, S. 834-846
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beinhaltet wenigstens Protisten (einzellige Eukaryoten mit mem brangebundenen Zellkernen und anderen Organellen), Prokaryoten (die solche Kompartimente nicht besitzen aber in anderen Aspekten hochorganisiert sind) sowie Viren. Viren sind die biologischen Objekte, die den Kernpunkt unserer Diskussion darstellen, denn viele Biologen bestreiten, dass sie lebendige Organismen sind. Tatsächlich werden sie häufig als Testfälle für die Grenzziehung zwischen Leben und Nicht-Leben, Organismus und nicht-Organismus, sowie zwischen Biologie und Chemie angesehen8. Meistens werden sie dabei der jeweils zweiten Kategorie zugeschrieben. Viren gelten häufig als nicht lebendig, da sie sich weder selbstständig reproduzieren können, noch über einen Metabolismus verfügen. Gleichwohl können sie solch beeindruckende biologische Aktivitäten ausführen, wie in Zellen einzudringen, deren Transkriptions- und Translationsmechanismen zu übernehmen und die DNA der Organismen, mit denen sie interagieren, aufzunehmen und zu bewegen. Indem sie zelluläre Organismen auf diese Art ausbeuten oder mit ihnen kollaborieren, können sie sich hocheffektiv selbst reproduzieren ohne auf einen selbständigen Metabolismus angewiesen zu sein. Das Nachdenken über Viren und ihre Verbannung in die Bereiche der nicht-lebendigen und nicht-organismischen Wesen macht es nötig, sich den Fragen zu stellen, ob Organismus und Lebewesen identische Kategorien sind, und ob ein minimales Verständnis des Lebens seinen Ausgang bei Zellen finden muss. Solche Überlegungen regen schließlich zum Nachdenken über andere biologische Wesen an, die zwar ein gewisses Maß an Autonomie zu besitzen scheinen, aber so gut wie nie als lebendige Organismen beschrieben werden. Joshua Lederberg, ein Pionier der Molekularbiologie, auf den der Begriff ‚Plasmid‘ zurückgeht9, verortet diese biologischen Wesen ebenso wie Mitochondrien und Chloroplasten in der Kategorie der ‚symbiotischen Organismen‘ – sie sind für ihn Teil eines
8
9
W. M. Stanley, „On the nature of viruses, cancer, genes, and life – a declaration of dependence“, in: Proceedings of the American Philosophical Society 101/1957, S. 317-324; E. Wimmer, „The test-tube synthesis of a chemical called poliovirus“, in: EMBO Reports 7(Special Issue)/2006, S. S3-S9. M. Grote, „Hybridizing bacteria, crossing methods, cross-checking arguments: The transition from episomes to plasmids (1961–1969)“, in: History and Phi losophy of the Life Sciences 30/2008, S. 407-430.
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‚organischen Ganzen‘10. Er folgert allgemeiner, dass jede Darstellung des Lebens einen Platz finden müsse für Prionen, Plasmiden, Integrons (Systeme, die Gene einfangen und integrieren) sowie Transposons – mobile genetische Elemente in einem Genom, die manchmal als ‚springende Gene‘ bezeichnet werden11.12 Wir werden den Faden von Lederberg aufnehmen und unsere Untersuchung von Leben mit einer Diskussion der biologischen Wesen beginnen lassen, die sich in der Grauzone zwischen Leben und Nicht-Leben befinden, insbesondere Prionen, Plasmiden, Organellen, Endosymbionten und extrazelluläre Symbionten. Indem wir uns entlang dieses Kontinuums der biologischen Organisation hin zu Wesen bewegen, deren Lebendigkeitsstatus niemals bestritten wird (Mikro- und Makroorganismen), werden wir untersuchen, ob diese Wesen einige der meistverwendeten Merkmale zur Bestimmung der Lebendigkeit besitzen, so etwa das der räumlichen Begrenztheit, der Reproduktion, des Metabolismus sowie der Evolutionsfähigkeit, und wie unser Kriterium der Kollaborativität mit diesen Merkmalen zusammenhängt. Wir werden außerdem zeigen, dass unsere Konzeption zellulärer und sub-zellulärer Wesen sehr gut mit Ursprungsszenarien des Lebens, die chemische Kollaboration und Gemeinschaft betonen, vereinbar ist. Unsere Perspektive von unten nach oben, die im Gegensatz zu einer Perspektive von oben nach unten an der mikroskopischen Ebene der Biologie statt bei deren komplexesten und unstrittigsten Exemplaren ansetzt, legt nahe, dass ein großer Teil der üblichen Reflexion über Leben auf ziemlich beschränkten und sogar verdeckt normativen Konzeptionen darüber, was Leben ist, basiert. Diese Perspektive wird in letzter Konsequenz die Ansicht in Frage stellen, dass Wesen wie Viren nicht lebendig seien und die minimale Definition des Lebens zellulär sein müsse.
10 J. Lederberg, „Cell genetics and hereditary symbiosis“, in: Physiological Reviews 32/1952, S. 403-430, hier S. 403. 11 J. Lederberg, „Personal perspective: Plasmid (1952–1997)“, in: Plasmid 39/1998, S. 1-9. 12 Lederberg bezieht in seine Liste von 1998 auch Heterokaryonzellen ein, die eine Vielzahl von Zellkernen in einem gemeinsamen Zytoplasma besitzen. Wir werden auf diese interessanten Wesen nicht weiter eingehen. Für Details siehe: A. D. M. Rayner, Degrees of Freedom: Living in Dynamic Boundaries, London 1997.
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2. Ein Spektrum biologischer Wesen 2.1 Prionen Prionen, die früher für ‚langsame Viren‘ gehalten wurden, versteht man heute üblicherweise als sich selbst vermehrende Proteine, die fähig sind, normale Proteine desselben Typs in die pathogene Prionenform umzuwandeln.13 Ihr Lebenszyklus reicht von der Induktion14 bis zur Selbstfortsetzung (der Konversion eines anderen Proteins). Prionen sind sehr robuste und beständige Wesen, denn ihre Konformation macht sie hochresistent gegenüber der Inaktivierung durch chemische, Hitze- oder Strahlenbehandlungen. Die große Eigentümlichkeit der Prionen liegt darin, dass sie sich autokatalytisch in einer reinen Proteinform vermehren, ohne dass DNA beteiligt ist.15 Aus diesem Grund werden sie häufig als proteinbasierte Gene bezeichnet16. Obwohl sie als nichtmendelnde erbliche Elemente17 in Schafen, Rindern und Menschen am bekanntesten sind, existieren Prionen auch in einzelligen Organismen. Zwar zeigen 13 C. Weissmann, „The state of the prion“, in: Nature Reviews Microbiology 2/2004, S. 861-871; S. B. Prusiner, „Prions“, in: Proceedings of the National Academy of Science USA 95/1998, S. 13363-13383; C. Soto, G. P. Saborio, „Pri ons: Disease propagation and disease therapy by conformational transmission“, in: Trends in Molecular Medicine 7/2001, S. 109-114; PrPC ist das generische Protein und PrPSc die pathogene Isoform des Proteins. Die Bezeichnung als Prion wird in Bezug auf die Funktion vorgenommen, die für die pathogene Form noch immer nur vermutet werden kann (C. Weissmann, „The state of the prion“, S. 863). Für ein Argument gegen ein ausschließliches Verständnis von Prionen als Proteine und für deren Virenstatus siehe L. Manuelidis, „A virus behind the mask of prions?“, in: Folia Neuropathology Supplement B, S. 10-23. 14 Die Induktion kann spontan, durch vertikale Vererbung oder durch laterale In fektion auftreten. 15 Das Gen, das das Prionenprotein kodiert, muss natürlich exprimiert werden, aber dieselbe Basensequenz kann entweder die pathogene oder die nicht-pathogene Konformation des Proteins exprimieren. 16 R. B. Wickner u. a., „Prion genetics: New rules for a new kind of gene“, in: Annual Review of Genetics 38/2004, S. 681-707; S. M. Uptain, S. Lindquist, „Prions as protein-based genetic elements“, in: Annual Review of Microbiology 56/2002, S. 703-741. 17 Prionen werden als ‚nichtmendelnde erbliche Elemente‘ beschrieben, da sie sich selbst vermehren, indem sie ihre konformationellen Eigenschaften auf eine stammlinienbildende Weise übertragen, aber keine mendelnden Vererbungs muster bilden. Siehe S. W. Liebman, I. L. Derkatch, „The yeast [PSI+] prion: making sense of nonsense“, in: Journal of Biological Chemistry 274/1999, S. 1181-1184.
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Hefe- und anderen Pilzprionen keine Ähnlichkeiten zu Säugetier prionen und unterscheiden sich in ihrer Funktion und Übertragung von ihnen stark18. Doch experimentelle Untersuchungen an Hefe prionen haben tiefe Einsichten in die konformationelle Veränderung von Proteinen und ihre Übertragung gewährt19. Die Moderne Synthetische Evolutionsbiologie kommt mit Prionen nicht gut zurecht. Einige Kommentatoren sind daher der Ansicht, dass eine umfassendere Theorie der Vererbung benötigt werde, um ein angemessenes evolutionäres Verständnis von Prionen zu ermöglichen20. Das Prionenbildungspotenzial der genannten Hefeproteine ist evolutionär konserviert, was darauf schließen lässt, dass es adaptiv ist21. Diverse Funktionen wurden für Prionen einer Reihe von Taxa identifiziert oder vorgeschlagen. Es gibt Hinweise darauf, dass Prionen mit der Fähigkeit von Hefezellen in Verbindung stehen, sich epigenetisch an veränderliche Umweltbedingungen anzupassen, und dass sie eine Rolle bei der Gedächtnisbildung von Meeresschnecken spielen22. Die nicht-pathogene Isoform menschlicher Prionenproteine (deren Funktion noch immer weitgehend unerklärlich ist) steht im Zusammenhang mit der Alzheimerprävention23. Diese Fähigkeiten und Merkmale liefern keine abschließende Antwort auf die Frage, ob die Selbstvervielfältigung der Prionen ihnen den Status der Lebendigkeit verleiht. Denn obwohl Genen in Theorien der Vererbung häufig eine spezielle ‚informationelle‘ Rolle beigemessen wird24, macht die Zuschreibung des gleichen Status an Proteine – als informationstragende Moleküle – sie nicht 18 L. Bousset, R. Melki, „Similar and divergent features in mammalian and yeast prions“, in: Microbes and Infection 4/2002, S. 461-469; S. M. Uptain, S. Lindquist, „Prions“; C. Weissmann, „Transmission of prions“, in: Journal of Infectious Diseases 186(Suppl. 2)/2002, S. S157-S165. 19 R. B. Wickner u. a., „Prions of fungi: Inherited structures and biological roles“, in: Nature Reviews Microbiology 5/2007, S. 611-618. 20 E. Jablonka, M. J. Lamb, Evolution in Four Dimensions, Cambridge, Mass. 2005; Y. O. Chernoff, „Mutation processes at the protein level: Is Lamarck back?“, in: Mutation Research 488/2001, S. 39-64. 21 Y. O. Chernoff u. a., „Evolutionary conservation of prion-forming abilities of the yeast Sup35 protein“, in: Molecular Microbiology 35/2000, S. 865-876. 22 J. Shorter, S. Lindquist, „Prions as adaptive conduits of memory and inherit ance“, in: Nature Reviews Genetics 6/2005, S. 435-450. 23 E. T. Parkin u. a., „Cellular prion protein regulates β-secretase cleavage of the Alzheimer’s amyloid precursor protein“, in: Proceedings of the National Acad emy of Sciences USA 104/2007, S. 11062-11067. 24 L. Hood, D. Galas, „The digital code of DNA“, in: Nature 421/2003, S. 444-448.
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gleichzeitig zu Lebewesen. Trotz der weit verbreiteten These von der ‚egoistischen DNA‘, die Nukleotiden Autonomie zu verleihen scheint25 und trotz der Anerkennung der zentralen Rolle von Enzymen für Lebensprozesse26 wird Genen und Proteinen kein Status selbständiger Lebendigkeit zugewiesen27. Prionen zeigen kollaboratives Verhalten, das ihnen selbst als einer Klasse von Protein-Isoformen ebenso nutzt wie ihren Wirten. Wenn geringe Mengen der nicht-pathogenen Isoform hergestellt werden, wird der Prionenkonversionsprozess unterbrochen, wohingegen die Produktion von großen Mengen die spontane Entstehung von Prionen in der zuvor prionenfreien Zelle anregen kann28. Für die Ausbreitung von Prionen in Hefe werden Chaperonproteine benötigt. Darüber hinaus stehen Hefeprionen mit einer größeren Adaptibilität der Hefe in Zusammenhang, da sie die Variation der Proteine erhöhen – ein Faktor, der sich unter veränderlichen Umweltbedingungen als vorteilhaft herausstellen und schließlich genetisch assimiliert werden könnte29. Vermutlich sind es diese Fähigkeiten, mit biologischen Prozessen auf unterschiedlichen Organisationsebenen zu interagieren, die die Beharrlichkeit der Prionen erklären.
25 W. F. Doolittle, C. Sapienza, „Selfish genes, the phenotype paradigm and genome evolution“, in: Nature 284/1980, S. 601-603; L. E. Orgel, F. H. C. Crick, „Selfish DNA: The ultimate parasite“, in: Nature 284/1980, S. 604-607. 26 A. Kornberg, For the Love of Enzymes: The Odyssey of a Biochemist, Cambridge, Mass. 1989; T. R. Lezon, J. R. Banavar, A. Maritan, „The origami of life“, in: Journal of Physics and Condensed Matter 18/2006, S. 847-888. 27 Für eine ältere Sichtweise, dass Gene aufgrund ihrer Fähigkeiten zu Repro duktion, Mutation und Enzymproduktion auf eine einzigartige Weise lebendiges Material seien, siehe H. J. Muller, „The gene material as the initiator and the organizing basis of life“, in: American Naturalist 100/1966, S. 493-517, hier S. 512. 28 Y. O. Chernoff u. a., „Evolutionary conversation“; I. L. Derkatch u. a., „Prions affect the appearance of other prions“, in: The story of [PIN+]. Cell 108/2001, S. 171-182. 29 H. L. True, S. L. Lindquist, „A yeast prion provides a mechanism for genetic variation and phenotypic diversity“, in: Nature 407/2000, S. 477-483; C. Pál, „Yeast prions and evolvability“, in: Trends in Genetics 17/2001, S. 167-169; J. Masel, A. Bergman, „The evolution of the evolvability of the yeast prion [PSI+]“, in: Evolution 57/2003, S. 1498-1512.
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2.2 Plasmide Plasmide sind kleine, stabil vererbte und selbstreplizierende Moleküle der DNA (manchmal auch RNA), die von der chromosomalen DNA der Bakterien-, Archaeen- oder Eukaryotenzellen, in denen sie sich befinden, unabhängig sind. Plasmide sind fruchtbar und divers und können größer als manche Prokaryotengenome sein30. Viele sind mobile genetische Elemente, die ihre eigene genetische Information während der Konjugation (dem Einzeller-Äquivalent zur Sexualität) an neue Wirtszellen übertragen und sich damit sowohl auf verwandte als auch auf evolutionär entfernte Prokaryoten ausbreiten31. Daraufhin werden sie vertikal von Mutter- zu Tochterzellen weitergegeben. Plasmide haben einen zweistufigen Lebenszyklus von Verankerung und Vervielfältigung, in dessen Folge ein Ruhezustand auftritt, der dem des Zellzyklus entspricht32. Benachbarte plasmidfreie Zellen werden häufig von Plasmiden getötet, was zu einer sehr hohen Rate erfolgreicher Infektionen führt33. Die Komplexität der Merkmale von Plasmiden hat einige Biologen dazu veranlasst, sie als ‚subzelluläre Organismen‘ oder Endosymbionten mit von ihren Wirten getrennter Autonomie zu beschreiben34. Wegen ihrer vielen Talente haben sich Plasmide als Vektoren des Gentransfers in Laboratorien zu einer tragenden Säule der genetischen Manipulation entwickelt.
30 G. del Solar, M. Espinosa, „Plasmid copy number control: An ever-growing story“, in: Molecular Microbiology 37/2000, S. 492-500. 31 C. M. Thomas, „Paradigms of plasmid organization“, in: Molecular Microbiol ogy 37/2000, S. 485-491; C. M. Thomas, „Transcription regulatory circuits in bacterial plasmids“, in: Biochemical Society Transactions 34/2006, S. 1072-1074; S. J. Sørensen u. a., „Studying plasmid horizontal transfer in situ: A critical re view“, in: Nature Reviews Microbiology 3/2005, S. 700-710. 32 G. del Solar, M. Espinosa, „Plasmid copy number control: An ever-growing story“, in: Molecular Microbiology 37/2000, S. 492-500. 33 K. Gerdes, P. B. Rasmussen, S. Molin, „Unique type of plasmid maintenance function: Postsegregational killing of plasmid-free cells“, in: Proceedings of the National Academy of Sciences USA 83/1986, S. 3116-3120; W. G. Eberhard, „Evolution in bacterial plasmids and levels of selection“, in: Quarterly Review of Biology 65/1990, S. 3-22; L. E. H. Bingle, C. M. Thomas, „Regulatory circuits for plasmid survival“, in: Current Opinion in Microbiology 4/2001, S. 194-200. 34 M. H. Perlin, „The subcellular entities a. k. a. plasmids“, in: U. N. Streips, R. E. Yasbin (Hrsg.), Modern Microbial Genetics, 2. Aufl., New York 2002, S. 507-560, hier S. 508.
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Plasmiden wird häufig ein Egoismus zugeschrieben, der analog zu dem anderer genetischer Elemente ist, denn sie kodieren Gene, die für den Wirt nicht notwendig sind und senken möglicherweise dessen genetische Fitness35. Auf der anderen Seite spielen sie in Zellen auch kooperativere Rollen36. Plasmide kodieren und exprimieren Gene mit einer Vielzahl von über ihre eigene Mobilität und Vermehrung hinausgehenden Funktionen, so etwa antibiotische Resistenz, Virulenz, Schutz vor Umweltbedingungen (einschließlich der Bildung eines Biofilms), DNA-Reparatur sowie zusätzliche Stoffwechselwege37. Sie können somit als kollaborative Elemente betrachtet werden, die die Funktionalität und Adaptivität ihrer Wirtszellen erhöhen. Die Tatsache, dass diese Eigenschaften das Überleben der Plasmide begünstigen, ermöglichte es, diese Phänomene als Fälle von Egoismus zu deuten, aber in unserem Rahmen können sie ebenso gut als Beispiele einer (manchmal beidseitigen) Kollaboration interpretiert werden. 2.3 Organellen Organellen sind unterschiedliche membrangebundene Kompartimente in Eukaryotenzellen.38 Sie führen hochspezialisierte biochemische Funktionen aus und kommunizieren untereinander um diese
35 C. I. Kado, „Origin and evolution of plasmids“, in: Antonie van Leeuwenhoek 73/1998, S. 117-126. 36 G. Wegrzyn, „What does ‚plasmid biology‘ currently mean? Summary of the Plasmid Biology 2004 Meeting“, in: Plasmid 53/2005, S. 14-22. 37 B. M. Barton, G. P. Harding, A. J. Zuccarelli, „A general method for detecting and sizing large plasmids“, in: Analytical Biochemistry 226/1995, S. 235-240; J. M. Ghigo, „Natural conjugative plasmids induce bacterial biofilm development“, in: Nature 412/2001, S. 442-445. 38 Es gibt eine wachsende Zahl von Berichten über eine Vielzahl von Komparti menten in Prokaryotenzellen, die immer häufiger als ‚Organellen‘ beschrieben werden. Hierzu z. B. L. A. V. Niftrik u. a., „The ammoxosome: An introcyto plasmic compartment in anammox bacteria“, in: FEMS Microbiology Letters 233/2004, S. 7-13; M. Seufferheld u. a., „Identification of organelles in bacteria similar to acidocalcisomes of unicellular eukaryotes“, in: Journal of Biological Chemistry 278/2003, S. 29971-29978; C. A. Kerfeld u. a., „Protein structures forming the shell of primitive bacterial organelles“, in: Science 309/2005, S. 936938; A. Komeili u. a., „Magnetosomes are cell membrane invaginations organ ized by actin-like protein mamK“, in: Science 311/2006, 242-245.
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Arbeitsteilung zu ermöglichen39. Zu den wesentlichen Organellen zählen Mitochondrien und Plastide (darunter Chloroplasten, die Organellen, die Photosynthese in Pflanzen ermöglichen) ebenso wie Peroxisome (Kompartimente, die an Stoffwechselaktivitäten wie der oxidativen Metabolisierung von Fettsäuren und der Spaltung von Wasserstoffperoxid beteiligt sind), Golgi-Apparate und endoplasmatische Retikula. Mit Ausnahme des Zellkerns beteiligen sich die meisten Organellen hauptsächlich an Erzeugung, Transport und Speicherung von Energie. Sie sind häufig hochdynamische, mobile Strukturen, die auf relevante Umweltfaktoren reagieren, um die Zellfunktion aufrecht zu erhalten40 Wegen ihrer semi-selbständigen Vererbungsstrategien werden Organellen oft als ‚autonome Strukturen‘ aufgefasst41. Sie vervielfältigen sich innerhalb von Zellen und während der Zellteilung wird ein ganzer Satz von ihnen an die Tochterzellen weitergegeben. Da aber die meisten Membranen von bereits existierenden Membranen ererbt werden müssen und üblicherweise nicht von neuem kon struiert werden,42 werden sie nach dem Muster bereits existierender Organellen gebildet. Sie setzen sich auf Basis der Informationen, die ihre Membranen über Membranpolarität, -typ und -standort mit sich tragen, selbst zusammen43. Zwei der aus evolutionärer Sicht faszinierendsten Organellen waren einst freilebende Bakterien. Mitochondrien und Plastiden fungierten zunächst als intrazelluläre Symbionten, bis ihre DNA vor mehr als einer Milliarde Jahren in den Zellkern ihrer Wirte wanderte – ein Prozess, der die Struktur und den Inhalt des Genoms und 39 M. Lowe, F. A. Barr, „Inheritance and biogenesis of organelles in the secretory pathway“, in: Nature Reviews Molecular Cell Biology 8/2007, S. 429-439; S. Munro, „Organelle identity and the organization of membrane traffic“, in: Nature Cell Biology 6/2004, S. 469-472. 40 S. Cutler, D. Ehrhardt, „Dead cells don’t dance: Insights from live-cell imaging in plants“, in: Current Opinion in Plant Biology 3/2000, S. 532-537; S. S. v. Braun, E. Schleiff, „Movement of endosymbiotic organelles“, in: Current Protein and Peptide Science 8, S. 426-438; D. A. Collings u. a., „Life in the fast lane: Actinbased motility of plant peroxisomes“, in: Canadian Journal of Botany 80/2002, S. 430-441. 41 G. Warren, W. Wickner, „Organelle inheritance“, in: Cell 84, S. 395-400, hier S. 398; J. Nunnari, P. Walter, „Regulation of organelle biogenesis“, in: Cell 84, S. 389-394. 42 Peroxisomen und Golgi-Körper können manchmal aus anderen Membrantypen neu hergestellt werden. Siehe T. Cavalier-Smith, „Membrane heredity“; M. Lowe, F. A. Barr, „Inheritance“. 43 Ebd.
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der Zellen der Eukaryoten grundlegend prägte44. Um die Proteine, die sie für viele Funktionen einschließlich ihrer eigenen Stoffwechselaktivitäten benötigen, zu erhalten, verlassen sich Mitochondrien und Plastiden heute auf einen von der zellulären Maschinerie des Wirts bereitgestellten Proteinimportmechanismus45. Ihre genetische Autonomie verlieren Plastide und Mitochondrien indessen nicht vollständig, denn sie bewahren Gene für den Translations- und Transkriptionsmechanismus ebenso wie für ihre Stoffwechselfunktion. Sie teilen sich und wachsen unabhängig vom Zellzyklus, wenngleich Mitochondrien bei der Teilung Unterstützung von der Wirtszelle erhalten46. Neben der direkten Vererbung ihrer Membranen, geben beide Organellen ihre eigene, organellspezifische DNA weiter. Mitochondrien und Plastide sind für ihre zellulären Wirte nicht nur notwendig, sie definieren deren Merkmale: Es gibt keine Eukaryoten ohne Mitochondrien oder Pflanzen ohne Plastide.47 Auch hier ist offensichtlich, dass Kollaboration auf eine Weise stattfindet, die sowohl den Organellen als auch den sie beinhaltenden Zellen nutzt – und beide voneinander abhängig macht. Tatsächlich könnte die Eukaryotenzelle ohne ihre mitochondrialen Bewohner ebenso wenig überleben, wie letztere unter natürlichen Umständen außerhalb der Zelle.
44 J. N. Timmis u. a., „Endosymbiotic gene transfer: Organelle genomes forge eukaryotic chromosomes“, in: Nature Reviews Genetics 5/2004, S. 123-135; W. Martin, „Gene transfer from organelles to the nucleus: Frequent and in big chunks“, in: Proceedings of the National Academy of Sciences USA 100/2003, S. 8612-8614; Mitochondrien wurden noch vor Plastiden in frühe Eukaryoten zellen aufgenommen. Ebenso wie primäre Plastiden, die während eines einzel nen endosymbiotischen Ereignisses erworben wurden, gibt es auch sekundäre und tertiäre Plastiden, die aus Endosymbiosen mit Organismen stammen, die Plastide in sich tragen. Siehe J. M. Archibald, „Nucleomorph genomes: Struc ture, function origin and evolution“, in: BioEssays 29/2007, S. 392-402. 45 U. Theissen, W. Martin, „The difference between organelles and endosymbionts“, in: Current Biology 16/2006, S. R1016-R1017; T. Cavalier-Smith, J. J. Lee, „Protozoa as hosts for endosymbioses and the conversion of symbionts into organelles“, in: Journal of Protozoology 32/1985, S. 376-379. 46 K. W. Osteryoung, J. Nunnari, „The division of endosymbiotic organelles“, in: Science 302/2003, S. 1698-1704. 47 Ausgenommen Fälle von späterem Verlust oder Fehlfunktionen. Für eine Ent kräftung der Hypothese von den ‚amitochondrialen Eukaryoten‘ siehe T. M. Embley, W. Martin, „Eukaryotic evolution, changes and challenges“, in: Nature 440/2006, S. 623-630.
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2.4 Viren Viren sind typischerweise sehr kleine Bündel einzel- oder doppelsträngiger DNA48 (häufig nur wenige Gene), die in einen Proteinmantel und manchmal eine zusätzliche Hülle aus Lipiden verpackt sind.49 Sie sind fruchtbar, hochdivers und sehr alt, wenngleich über ihre evolutionären Ursprünge keine völlige Einigkeit herrscht (wie wir weiter unten sehen werden). Üblicherweise werden sie nicht als Organismen betrachtet, da sie zwar einige ihrer eigenen Proteine synthetisieren können, sich aber nicht unabhängig reproduzieren oder Stoffwechsel betreiben können50. Sie nutzen dafür entweder ihre Wirte, worunter wahrscheinlich jeder Organismus in Gegenwart und Vergangenheit fällt, oder arbeiten gelegentlich in Kollaboration mit anderen Viren, um die notwendigen Enzyme herzustellen. Viren reproduzieren sich nicht durch Teilung, sondern indem sie sich selbst aus den Komponenten zusammensetzen, die sie mit der Hilfe ihrer Wirtszellen herstellen. Einige Viren beeinflussen das Verhalten ihrer Wirte erheblich, beispielsweise indem sie Schutz vor anderen Viren oder virulenten Eigenschaften bieten (etwa Diphterie oder Choleratoxin). Viren haben wohldefinierte Lebenszyklen, die häufig als aus ‚Entwicklungsstufen‘ bestehend beschrieben werden51. Der Zyklus beginnt mit Virionen, der inaktiven Form von Viren, die durch ihre Umwandlung die nächste Stufe der Adsorption erreichen, während derer Viren oder Phagen (Viren mit Affinitäten für Prokaryoten, statt für Eukaryoten) an die äußere Zellmembran ihrer Wirte ‚andocken‘ und in die Zelle eindringen oder ihre DNA induzieren. Nachdem sich ihre Proteinmäntel aufgelöst haben oder abgelegt wurden, übernehmen sie die Zellmechanismen des Wirts um Gene zu exprimieren, die zur Replikation ihres Genoms und zur Matu48 Einzelsträngige RNA-Viren können in positiv und negativ strangorientierte (sense und anti-sense) Genome sowie Retroviren unterteilt werden, die mit ih rer eigenen reversen Transkriptase DNA-Kopien von sich selbst erstellen bevor in sie das Wirtschromosom eindringen und dann in RNA zurückübersetzt wer den. Siehe P. Ahlquist, „Parallels among positive-strand RNA viruses, reverse- transcribing viruses and doublestranded RNA viruses“, in: Nature Reviews Mi crobiology 4/2006, S. 371-382. 49 Viroiden, kleine RNA-Viren, die Pflanzen infizieren, besitzen keinen Protein mantel. 50 M. H. V. Van Regenmortel, „Virus species and virus identification: Past and current controversies“, in: Infection, Genetics and Evolution 7/2007, S. 133-144. 51 S. E. Luria u. a., General Virology, 3. Aufl., New York 1978.
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ration (während derer die neuen Genome in frisch synthetisierte Proteine verpackt werden) führen, um schließlich die intakte oder lysierte Zelle zu verlassen. Einige Pflanzenviren bewegen sich aktiv von Zelle zu Zelle, indem sie viruskodierte Bewegungsproteine verwenden52. Manche Viren haben eine zusätzliche Entwicklungsstufe, während derer sie als Prophagen oder Proviren in der Wirtszelle oder dem Wirtsgenom inaktiv bleiben und vererbt werden53. Endogene Retroviren, permanent in die Wirtschromosomen integrierte Viren, die vertikal vererbt werden, haben ihre Spuren in den Genomen vieler Organismen, einschließlich unseres eigenen, hinterlassen54. Unter ihnen sind einige entscheidend für die Entwicklung der Plazenta in Säugetieren55. Die Diversität und Mutabilität der Viren erschwert deren Klassifizierung, doch Analysen der Genomsequenz und Proteinstruktur sorgen für eine ständige Verfeinerung ihrer Gruppenzuordnung, die ehemals vornehmlich auf deren pathogenen Effekten basierte. Der Begriff ‚Spezies‘ wird häufig, wenn auch mit vielen Vorbehalten, verwendet, um Untergruppen von Virenabteilungen zu bezeichnen56. Das Ziel einer solchen Sprechweise ist es, ‚die Definition von Virusspezies in Übereinstimmung mit den Speziesdefinitionen zellulärer Organismen zu bringen‘57. Eine ältere und eine weitere, aktuellere Einteilung des Lebens in Domänen, weisen Viren eine 52 P. Boevink, K. J. Oparka, „Virus-host interactions during movement processes“, in: Plant Physiology 138/2005, S. 1815-1821. 53 S. Casjens, „Prophages and bacterial genomics: What have we learned so far?“, in: Molecular Microbiology 49/2003, S. 277-300; N. Bannert, R. Kurth, „Retro elements and the human genome: New perspectives on an old relation“, in: Proceedings of the National Academy of Sciences USA 101(Suppl. 2)/2004, S. 14572-14579. 54 D. J. Griffiths, „Endogenous retroviruses in the human genome sequence“, in: Genome Biology 2(6)/2001, Reviews 1017.1-1017.5; G. Hamilton, „The gene weavers“, in: Nature 441/2006, S. 683-685. 55 F. Mallet u. a., „The endogenonous retroviral locus ERVWE1 is a bona fide gene involved in hominoid placental physiology“, in: Proceedings of the National Academy of Sciences USA 101/2004, S. 1731-1736. 56 J. G. Lawrence, G. F. Hatfull, R. W. Hendrix, „Imbroglios of viral taxonomy: Genetic exchange and failings of phenetic approaches“, in: Journal of Bacteriology 184/2002, S. 4891-4905; R. W. Hendrix u. a., „Evolutionary relationships among diverse bacteriophages and prophages: All the world’s a phage“, in: Proceedings of the National Academy of Sciences USA 96/1999, S. 2192-2197; M. H. V. Van Regenmortel, „Virus“. 57 A. J. Gibbs, M. J. Gibbs, „A broader definition of ‚the virus species‘“, in: Archives of Virology 151/2006 S. 1419-1422, hier S. 1419.
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eigene Domäne (superkingdom) zu: die Acytota oder Akamara, die beide Kategorien für azelluläre Organismen mit Genomen sind58. Diese Klassifikationsschemata auf der Domänenebene haben das Potential, Viren als genuine Formen des Lebens zu identifizieren, müssen aber ihre Anhänger noch finden. Es gibt drei grundlegende Hypothesen über den Ursprung der Viren: Viren als urzeitliches vorzelluläres Leben (die Virus-Zuerst oder Ursprungshypothese), als degenerierte intrazelluläre Parasiten (die Reduktions- oder Regressionshypothese), und als abtrünnige Prokaryotengene (die Ausbruchshypothese). Die gängigste ist momentan die dritte dieser Hypothesen, die besagt, dass Viren eigentlich genetische Elemente sind, die sich aus der zellulären Organisation ausgeklinkt haben, und damit Musterfälle von ‚egoistischem‘ Genmaterial darstellen59. Doch auch neue Versionen der Ursprungshypothese werden weiter vertreten. Sie lenken den Fokus der Diskussion zurück auf den präzellulären, ‚un-egoistischen‘ Genpool und weisen Viren wichtige Rollen als evolutionäre Innovatoren zu60. Wo auch immer ihre Ursprünge liegen mögen – durch ihre Neigung zur Mutation und Rekombination sowie ihre Fähigkeit, Gene aufzunehmen, von einem Organismus zum anderen zu bewegen (Transduktion) und ihr eigenes und anderes genetisches Material in das Genom ihrer Wirte zu integrieren, waren sie maßgeblich an der Evolution des nichtviralen Lebens beteiligt61. Darüber hinaus 58 C. Jeffrey, „Thallophytes and kingdoms – a critique“, in: Kew Bulletin 25(2)/ 1971, S. 291-299; C. Hurst, „An introduction to viral taxonomy and the proposal of Akamara, a potential domain for the genomic acellular agents“, in: C. Hurst (Hrsg.), Viral Ecology, San Diego 2000, S. 41-62; M. G. Weinbauer, „Ecology of prokaryotic viruses“, in: FEMS Microbiology Reviews 28/2004, S. 127-181. 59 A. Campbell, „The origins and evolution of viruses“, in: Trends in Microbiology 9/2001, S. 61; R. W. Hendrix u. a., „The origins and ongoing evolution of viruses“, in: Trends in Microbiology 8/2000, S. 504-508. 60 P. Forterre, „The origin of viruses and their possible roles in major evolutionary transitions“, in: Virus Research 117/2006, S. 5-16; E. V. Koonin, T. G. Senkevich, V. V. Dolja, „The ancient virus world and evolution of cells“, in: Biology Direct 1: 29 doi 10.1186/1745-6150.1-29; R. W. Hendrix, „Bacteriophages: Evolution of the majority“, in: Theoretical Population Biology 61/2002, S. 471-480; R. W. Hendrix u. a., „The origins“; J. M. Claverie u. a., „Mimivirus and the emerging concept of ‚giant‘ virus“, in: Virus Research 117/2006, S. 133-144. 61 M. G. Weinbauer, F. Rassoulzadegan, „Are viruses driving microbial diversifi cation and diversity?“, in: Environmental Microbiology 6/2004, S. 1-11; J. G. Lawrence, „Imbroglios“; J. D. Karam, „Bacteriophages: The viruses for all sea sons of molecular biology“, in: Virology Journal 2/2005, S. 19; L. P. Villarreal, „Can viruses make us human?“, in: Proceedings of the American Philosophical
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zeigt beispielsweise ihre Rolle als Kohlenstoffregulatoren in den Weltmeeren62, dass eine breitere Konzeption von Kollaboration nötig ist, um die evolutionären, biochemischen und ökosystemischen Beiträge der Viren zu allen lebenden Systemen zu verstehen. Der kürzlich entdeckte Mimivirus (kurz für ‚mimicking microbe‘) stellt einige der vorherrschenden Auffassungen über Viren und ihre Fähigkeiten vor eine weitere Herausforderung. Mimiviren sind riesig (sie haben ein größeres Volumen und Genom – über 900 Protein kodierende Gene – als viele der kleinsten Bakterien, von denen einige weiter unten beschrieben werden) und besitzen, was am meisten überrascht, Gene, die dafür bekannt sind, Translation sowie DNA-Reparatur- und Stoffwechselaktivitäten zu kodieren63. Sie scheinen diese Gene nicht von ihren Wirten übernommen zu haben.64 Diese Viren können zwar ihre eigenen Ribosomen nicht synthetisieren und besitzen keinen Stoffwechsel, der ohne Hilfe auskäme (ihre Stoffwechselpfade sind unvollständig kodiert), doch können sie mühelos als Wesen begriffen werden, die sich im Übergangsstadium von Viren zu freilebenden Organismen befinden65. Mimiviren zeigen sicherlich mehr Unabhängigkeit als Organellen und scheinen sich darüber hinaus in einem evolutionären Wartezustand zu befinden, der keine Anzeichen einer Genomreduktion zeigt66. Mikro- und andere Biologen sind bezüglich des biologischen Status von Viren sehr unentschlossen. Einerseits zieht sich die Ansicht, dass Viren lebendig und wenigstens proto-organismisch seien, durch die Geschichte der Virusforschung und Mikrobiologie67, an-
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Society 148/2004, S. 296-323; E. Hambly, C. A. Suttle, „The viriosphere, diver sity and genetic exchange within phage communities“, in: Current Opinion in Microbiology 8/2005, S. 444-450. C. A. Suttle, „Viruses in the sea“, in: Nature 437/2005, S. 356-361. D. Raoult u. a., „The 1.2-megabase genome sequence of Mimivirus“, in: Science 306/2004, S. 1344-1350. Während manche andere große Viren auch Transla tions- und Stoffwechselgene mit sich tragen, erweitern Mimiviren das bekannte Repertoire solcher Gene in Viren immens. Siehe E. V. Koonin, „Virology: Gul liver among the Lilliputians“, in: Current Biology 15/2005, S. R167-R169. Für eine Gegenposition siehe D. Moreira, P López-Gárcia, „Comment on ‚The 1.2-megabase genome sequence of Mimivirus‘“, in: Science 308/2005, S. 1114a. P. Forterre „The origin“; D. Raoult, „The journey for Rickettsia to Mimivirus“, in: ASM News 71/2005, S. 278-284; J. M. Claverie u. a., „Mimivirus“. J. M. Claverie u. a., „Mimivirus“, S. 142. F. M. Burnet, Virus as Organism: Evolutionary and Ecological Aspects of Some Human Virus Diseases. Cambridge, Mass. 1945; W. M. Stanley, „Some chemical, medical and philosophical aspects of viruses“, in: Science 93/1941, S. 145-151; Luria u. a., Virology; T. v. Helvoort, „Bacteriological and physiological research
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dererseits steht für die dominante Sicht auf Viren noch immer die Annahme fest, dass nur zelluläre Wesen zutreffender Weise als lebendig bezeichnet werden können68. Laut dem Virologen Marc Van Regenmortel „besitzen nur einzellige und mehrzellige Organismen die Eigenschaft, lebendig zu sein, während die Organellen, Makro moleküle und Gene innerhalb der Zellen selbst nicht für lebendig gehalten werden. Die Unterschiede zwischen Viren [die nicht lebendig sind] und verschiedenen Typen von Organismen werden ziemlich offensichtlich wenn die funktionalen Rollen der Proteine, die in Viren gefunden werden, mit denen in Organismen verglichen werden“.69 Andere Mikrobiologen glauben dennoch, dass es zahlreiche Gründe dafür gibt, Viren den Status lebendiger Materie zuzuweisen. Da sie ‚die intrinsische Fähigkeit ihren Wirtstransfer von einem Host zum anderen zu vermitteln besitzen‘, bemerken Salvador Luria und Ko-Autoren: „Viren sind unabhängige genetische Systeme. Sie sind keine zufällig getrennten Fragmente eines Zellgenoms. Sie sind mit genetischer Kontinuität und Mutabilität ausgestattet und enthalten Sätze von Genen, die zusammenarbeiten, um mehr Viren herzustellen. Sie haben ihre eigene Evolution, die, wenigstens in gewissem Maß, von der Evolution der Organismen, in denen sie sich reproduzieren, unabhängig ist“.70 Manche Virologen gehen noch weiter und vertreten den Standpunkt, dass Viren dieselben primären Kennzeichnen zeigen, die allen Lebensformen gemeinsam sind, etwa interne homöostatische Kontrollmechanismen, die ein Überleben in veränderlichen Umwelten ermöglichen, Organisation auf Basis erblicher Nukleinsäuren, Reproduktion, Verwertung von Umweltressourcen, Diversität der Komponenten und ihrer Funktionen, sowie die Fähigkeit zur Anpassung und Evolution71. Die Entdeckung schwächender Effekte
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styles in the early controversy on the nature of the bacteriophage phenomenon“, in: Medical History 36/1992, S. 243-270. D. Moreira, P. López-Gárcia, „Ten reasons to exclude viruses from the tree of life“, in: Nature Reviews Microbiology 7/2009, S. 306-311. M. H. V. Van Regenmortel, „Virus“, S. 133. Luria u. a., Virology, S. 481. D. P. Mindell, L. P. Villarreal, „Don’t forget about viruses“, in: Science 302/2003, S. 1677; D. P. Mindell, J. S. Rest, L. P. Villarreal, „Viruses and the tree of life“, in: J. Cracraft, M. Donoghue (Hrsg.), Assembling the Tree of Life, Oxford 2003, S. 107-118; W. M. Stanley, „Aspects of viruses“; ders., „Nature of viruses“.
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einer winzigen ‚Virophage‘ auf einen riesigen Virus wurde als Hinweis auf die Lebendigkeit von Viren angeführt: Wenn sie selbst infiziert werden können und auf unterschiedliche Arten auf diese Infektionen reagieren, dann scheint die ‚imaginäre Grenze‘ zwischen Viren und echten Organismen überschritten zu sein72. Eine weitere Denkströmung sieht keinen Widerspruch darin, Viren als zwischen lebendigen und nicht-lebendigen Phasen alternierend zu betrachten: „Außerhalb der Wirtszelle ist der Poliovirus so tot wie ein Tischtennisball. Es ist eine Chemikalie, die gereinigt […] und kristallisiert wurde […] deren physische und chemische Eigenschaften größtenteils determiniert sind […] und deren dreidimensionale Struktur aufgeklärt ist. Wie eine gewöhnliche Chemikalie wurde das Poliovirus im Reagenzglas hergestellt. Wenn das Poliovirus, die Chemikalie, jedoch einmal die Zelle betreten hat, hat es einen Überlebensplan. Seine Vermehrung ist dann evolutionären Gesetzen unterworfen: Vererbung, genetische Variation, Selektion nach Fitness, Evolution zu verschiedenen Spezies und so weiter – das bedeutet, das Poliovirus gehorcht denselben Gesetzen, die für Lebewesen gelten“.73 Die Trägheit der Virionen außerhalb der Zelle gibt uns Anlass zu der Annahme, dass Viren sich analog zu Prokaryoten mit Sporenphasen oder Pflanzensamen und Pilzsporen verhalten. In unserem Fazit werden wir (behutsam) eine solche Perspektive einnehmen, und uns zusätzlich dafür aussprechen, dass es nützlich ist, zwischen dem Entwicklungszyklus, der sowohl aktive als auch inaktive Phasen beinhaltet, und dem Lebenszyklus, der nur auf metabolisch aktive Phasen stammlinienformender Systeme angewandt werden sollte, zu unterscheiden. Der historische Widerhall der Diskussion über den Status von Viren wird ergänzt von den jüngsten Erfolgen, virale Genome synthetisch herzustellen. Einige dieser Genome konnten nun vollständig synthetisiert werden und wurden erfolgreich verwendet um Zellen zu infizieren74. Manche der daran beteiligten Forscher be72 J.-M. Claverie und E. Koonin nach H. Pearson, „‚Virophage‘ suggests viruses are alive“, in: Nature 454/2008, S. 677. 73 E. Wimmer, „Test-tube“, S. 56. 74 T. M. Tumpey u. a., „Characterization of the reconstructed 1918 Spanish influ enza pandemic virus“, in: Science 310/2005, S. 77-80; H. O. Smith u. a., „Gen erating a synthetic genome by whole genome assembly: ФX174 bacteriophage from synthetic nucleotides“, in: Proceedings of the National Academy of Sciences USA 100/2003, S. 15440-15445; J. Cello, A. V. Paul, E. Wimmer, „Chemical syn-
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zeichnen ihre Errungenschaften als letzte Sargnägel des Vitalismus, da ihre ‚Virus-Chemikalie‘ in einem Zellextrakt, und nicht in einer lebendigen Zelle zum Leben erweckt wurde75. Diejenigen allerdings, die Viren nicht als Organismen betrachten, empfinden synthetisch hergestellte virale Genome als weiteren Beweis dafür, dass ‚echtes‘ (zelluläres) Leben – das sich einer Synthese von oben nach unten oder von unten nach oben noch immer widersetzt – etwas grundlegend anderes als die sehr viel einfacher herzustellende Biologie von Viren oder Plasmiden sei. Für uns steht fest, dass evolutionäre, ökologische, physiologische oder konzeptuelle Untersuchungen von Lebewesen, die Viren außen vor lassen, nur ein unvollständiges Verständnis von Leben – auf welcher Ebene auch immer – ermöglichen76. Die tiefe und umfangreiche Interaktion zwischen Viren und zellulärem Leben ist aus unserer Perspektive biologisch zu wichtig, um als rein parasitär betrachtet zu werden. Begreift man es kollaborativ, erscheint zelluläres Leben, innerhalb und außerhalb jeder Zelle, als unentwegt ‚in einem scheinbaren Meer von Viren badend‘, was für Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart aller zellulären Lebensformen beträchtliche evolutionäre Konsequenzen mit sich bringt77. Tatsächlich, merkt der Biologe Dennis Bamford78 an, ist es an der Zeit eine Zweiteilung von Leben in zwei Bereiche in Betracht zu ziehen: den zellulären Bereich und den viralen. Er nimmt an, dass wir einen angemessenen Blick auf Leben nur erreichen können, wenn wir uns eingehender mit einem Konzept von Leben befassen, das sich der Rolle der Viren vollständig bewusst ist – selbst dann, wenn wir nur die zellulären Manifestationen des Lebens in den Blick nehmen.
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thesis of poliovirus cDNA: Generation of infectious virus in the absence of natural template“, in: Science 297/2002, S. 1016-1018. Ebd. M. G. Weinbauer, F. Rassoulzadegan, „Viruses driving“; S. W. Wilhelm, C. A. Suttle, „Viruses and nutrient cycles in the sea“, in: BioScience 49/1999, S. 781788; C. A. Suttle, „Viruses“. D. H. Bamford, „Do viruses form lineages across different domains of life?“, in: Research in Microbiology 154/2003, S. 231-236, hier S. 232. D. H. Bamford, „Different domains“, S. 235.
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2.5 Endosymbionten Endosymbionten sind Wesen, die innerhalb der Zellen anderer Organismen leben. Bei einigen ist dieses Verhältnis mutualistisch, bei anderen eher parasitisch. Parasiten werden im Allgemeinen durch ihre Art der Kollaboration von anderen Symbionten unterschieden. Während Endosymbionten eine gegenseitige Geben-NehmenBeziehung zu ihren Wirten pflegen, werden obligate Endoparasiten üblicherweise vor allem als Empfänger, nicht als Spender von Nutzen betrachtet. Zunehmend wird allerdings auch die Veränderlichkeit und Komplexität dieses Verhältnisses betont79. Zahlreiche Bakterien sind obligate Parasiten, die ein reduziertes Genom und verarmte zelluläre Funktionalität aufweisen. Bekannte Beispiele sind Rickettsia, Chlamydia80 und Microsporidia. Microsporidia haben so viele ihrer genomischen, biochemischen und morphologischen Eigenschaften verloren, dass sie früher für die primitivsten Eukaryoten gehalten wurden81. Inzwischen gelten sie aber als Pilze, die extrem an ihre parasitären Lebensweisen angepasst sind. Anstatt wie die Organellen ihre Gene an das Wirtsgenom abzutreten, haben obligate Endoparasiten die Gene verloren, die durch das Vertrauen auf die Versorgung durch den Wirt überflüssig geworden sind82. Dabei handelt es sich normalerweise um die Gene für Stoffwechsel und Bewegung, wenngleich sich einige dieser Symbionten die Fähigkeit zur intra- und interzellulären Bewegung erhalten haben83. Trotz der fortlaufenden Reduktion ihrer Genome, erhalten und tauschen manche dieser Parasiten DNA durch Konjugation und Transduktion84. Obligate Bakterienparasiten können sowohl verti79 R. H. Valdivia, J. Heitman, „Endosymbiosis: The evil within“, in: Current Biology 17/2007, S. R408-R410. 80 Inaktive Chlamydia ‚Sporen‘ (Elementarkörper) existieren zwar außerhalb von Zellen, doch die ‚aktive‘ Form der Organismen führt alle ihre Aktivitäten intra zellulär aus. Man beachte die Parallelen zu dem Entwicklungszyklus von Viren, für die Chlamydia früher gehalten wurden. 81 P. J. Keeling, N. M. Fast, „Microsporidia: Biology and evolution of highly reduced intracellular parasites“, Annual Review of Microbiology 56/2002, S. 93-116. 82 J. N. Timmis u. a., „Endosymbiotic“; I. Tamas u. a., „Mutualists and parasites: How to paint yourself into a (metabolic) corner“, in: FEBS Letters 498/2001, S. 135-139. 83 E. Gouin u. a., „The RickA protein of Rickettsia conorii activates the Arp2/3 complex“, in: Nature 427/2004, S. 457-461. 84 A. C. Darby u. a., „Intracellular pathogens go extreme“, in: Trends in Genetics 23/2007, S. 511-520.
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kal als auch horizontal übertragen werden und an der Übertragung zwischen Säugetieren und anderen Tieren sind häufig Vektororganismen wie Zecken oder Flöhe beteiligt85. Einer anderen Form der Symbiose, des ‚reproduktiven Parasitismus‘86, bedienen sich Wol bachia, weitverbreitete erbliche Endosymbionten von Insekten, Krustentieren, Spinnen und Fadenwürmern. Ihre Wirte sind für ihren Stoffwechsel oder zum Selbstschutz87 nicht auf ihre Endosymbionten angewiesen, aber die Bakterien beeinflussen das Leben ihrer Wirte erheblich und können Artbildungsereignisse veranlassen, indem sie die Reproduktion einzelner Stammlinien isolieren88. Wolbachia steuern die Reproduktion und Entwicklung vieler ihrer Wirte, indem sie Geschlechterverhältnisse und Reproduktionsstrategien (ungeschlechtlich statt geschlechtlich) beeinflussen sowie genetische Männchen feminisieren89. Zusätzlich zur vertikalen Vererbung durch maternale Transmission verbreiten sich Wolbachia lateral, manchmal zu evolutionär entfernten Insektenwirten. Auch ihre Gene werden lateral auf die Genome ihrer Insektenwirte (in einem Fall das gesamte Genom!) übertragen90. Viele mutalistische Endosymbionten können nicht überleben ohne ihre Wirte, die häufig ebenso abhängig von ihren Endosymbionten sind. Die Endosymbionten werden so gut wie immer vertikal
85 A. C. Darby u. a., „Pathogens“. 86 J. J. Wernegreen, „Endosymbiosis: Lessons in conflict resolution“, in: PLoS Bio logy 2(3)/2004, e68. doi:10.1371/journal.pbio.0020068. 87 Dennoch stellt Wolbachia wirtsbezogene metabolische und andere physiolo gische Funktionen zur Verfügung (K. Fenn, M. Blaxter, „Wolbachia genomes: Revealing the biology of parasitism and mutualism“, in: Trends in Parasitology 22/2006, S. 60-65). Für die vermehrten Anzeichen dafür, dass die Insektenwir te Vorteile aus Wolbachia-Infektionen ziehen, siehe I. Iturbe-Ormaetxe, S. L. O’Neill, „Wolbachia-host interactions: Connecting phenotype to genotype“, in: Current Opinion in Microbiology 10/2007, S. 221-224. 88 S. Charlat, G. D. D. Hurst, H. Merçot, „Evolutionary consequences of Wolbachia infections“, in: Trends in Genetics 19/2003, S. 217-223; A. R. Weeks, K. T. Rey nolds, A. A. Hoffman, „Wolbachia dynamics and host effects: What has (and has not) been demonstrated?“, in: Trends in Ecology and Evolution 17/2002, S. 257–262. 89 J. H. Werren, „Biology of Wolbachia“, in: Annual Review of Entomology 42/ 1997, S. 587-609; R. Stouthamer, J. A. J. Breeuwer, G. D. D. Hurst, „Wolbachia pipientis: Microbial manipulator of arthropod reproduction“, in: Annual Review of Microbiology 53/1999, S. 71-102. 90 J. C. D. Dunning-Hotopp u. a., „Widespread lateral gene transfer from intra cellular bacteria to multicellular eukaryotes“, in: Science 317/2007, S. 1753.
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über die maternale Linie von Wirt zu Wirt übertragen91. Zahlreiche Insekten befinden sich mit Bakterien in obligaten zellulären Mutualismen, insofern getrennte Insekten- und Bakterienstammlinien zu einzelnen, hochkoordinierten metabolischen Systemen verschmelzen92. Solche Endosymbionten leben häufig in spezialisierten Zellen (Bakteriozyten), die innerhalb des Wirtsorganismus erschaffen werden. Ihre primären Endosymbiosen treten nicht selten in Verbindung mit sekundären Endosymbiosen auf93. Einer der meisterforschten mutualistischen Endosymbionten ist Buchnera aphidicola, die in engem Verbund mit ihren Blattlauswirten (etwa eine Million Buchnerazellen pro Blattlaus) lebt und für diese essenzielle Aminosäuren herstellt. Sie wird vertikal von einer Generation Blattläuse zur nächsten vererbt und ihre wenigen Regulatorgene scheinen ihren Lebenszyklus im Verhältnis zu ihrem Blattlauswirt zu regulieren94. Aufgrund von Genverlust und der fehlenden Aufnahme mobiler genetischer Elemente haben Buch nera winzige Genome. Sie messen nur etwa ein Siebtel der Größe von E. coli (obwohl die Zellen von Buchnera größer sind und mehr Kopien des Genoms beinhalten), mit denen sie einen etwa 200 Millionen Jahre alten gemeinsamen Vorfahren teilen95. Blattläuse und Buchnera evolvieren und diversifizieren sich in gegenseitiger Abhängigkeit, was bedeutet, dass sich die Stammesgeschichte ihrer jeweiligen Stammlinien aufeinander abbilden lässt96. Buchnera werden häufig als Endosymbionten klassifiziert, aber die Tiefe der Abhängigkeit von ihren Wirten veranlasst einige Biologen dazu, diese Bakterien in ihrem Status näher an den Organellen zu sehen97.
91 J. J. Wernegreen, „Genome evolution in bacterial endosymbionts of insects“, in: Nature Reviews Genetics 3/2002, S. 850-861. 92 D. Wu u. a., „Metabolic complementarity and genomics of the dual bacterial symbiosis of sharpshooters“, in: PLoS Biology 4(6)/2006, e188. 93 A. E. Douglas, J. A. Raven, „Genomes at the interface between bacteria and orga nelles“, in: Philosophical Transactions of the Royal Society London B 358/2003, S. 5-18; P. Baumann, „Biology of bacteriocyte-associated endosymbionts of plant sap-sucking insects“, in: Annual Review of Microbiology 59/2005, S. 155-189. 94 N. A. Moran, P. H. Degnan, „Functional genomics of Buchnera and the ecology of aphid hosts“, in: Molecular Ecology 15/2006, S. 1251-1261. 95 Ebd. 96 N. A. Moran, „Symbiosis“, in: Current Biology 16/2006, S. R866-R871. 97 J. O. Andersson, „Evolutionary genomics: Is Buchnera a bacterium or an orga nelle?“, in: Current Biology 10/2000, S. R866-R868; A. E. Douglas, J. A. Raven, „Genomes“.
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Ein wesentlicher Unterschied, der häufig als Unterscheidungskriterium zwischen Endosymbionten und Organellen bezeichnet wird, liegt darin, dass die Genome der Endosymbionten die meisten ihrer essenziellen Proteine selbst kodieren, während in den Organellen viele der für die Organellfunktion verantwortlichen Gene auf das Wirtsgenom übertragen und von einem Proteinimportmechanismus ersetzt wurden98. Diese Unterscheidung ist gleichwohl nicht überall akzeptiert und andere Kommentatoren sehen veränderliche Grade an biochemischer und zellulärer Integration zwischen Wirt und Endosymbiont/Organell99. Mit Sicherheit scheinen zahlreiche Endosymbionten den Wandel vom Organismus- zum Organellenstatus zu vollziehen100 und jede Definition eines der beiden muss sich auf ein Kontinuum kollaborativer Strategien berufen, anstatt auf klare Kategorien distinkter Wesen zurückgreifen zu können101. Mit den Beobachtungen des Vorkommens dieser evolutionären Übergänge von freilebendem Organismus zu Endosymbiont zu Organell scheint eine Veränderung der von den Biologen verwendeten Sprache einherzugehen: von autonomen ‚Eindringlingen‘ zu gezähmten ‚Dienern‘ bis hin zu ‚Gefangenen‘ oder ‚Sklaven‘, die ihre bakterielle Identität fast vollständig verloren haben102. 2.6 Reduzierte extrazelluläre Symbionten Eine Fülle an Bakterien und anderen Mikroben leben in intimer extrazellulärer Liaison mit Pflanzen, Tieren und Pilzen (diese Verhältnisse werden manchmal als Ekto- oder Episymbiosen bezeich98 T. Cavalier-Smith, J. J. Lee, „Protozoa“, S. 378; U. Theissen, W. Martin, „The difference“. 99 D. Bhattacharya, J. M. Archibald, „The difference between organelles and en dosymbionts – response to Theissen and Martin“, in: Current Biology 16/2006, S. R1017-R1018; A. Bodyt, P. Mackiewicz, J. W. Stiller, „The intracellular cy anobacteria of Paulinella chromatophora: Endosymbionts or organelles?“, in: Trends in Microbiology 15/2007, S. 295-296. 100 Oder von einem Endosymbionten mit einer immer begrenzteren Funktion zum Aussterben. Siehe V. Pérez-Brocal u. a., „A small microbial genome: The end of a long symbiotic relationship?“, in: Science 314/2006, S. 312-313. 101 N. Rodríguez-Ezpeleta, H. Phillipe, „Plastid origin: Replaying the tape“, in: Current Biology 16/2006, S. R53-R56. 102 S. D. Dyall, M. T. Brown, P. Johnson, „Ancient invasions: From endosymbionts to organelles“, in: Science 304/2004, S. 253-257; P. Baumann, „Biology of endosymbionts“.
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net). Cyanobakterien sind nicht nur die Vorfahren der Plastiden, sie leben auch in engen Symbiosen mit Eukaryoten, denen sie durch eine Vielzahl an Mechanismen die Möglichkeit zur Stickstoffaufnahme und Photosynthese verschaffen103. Manche werden vertikal übertragen und einige wenige freilebende Cyanobakterien zeigen Tendenzen zur Genomreduktion, die denen der Endosymbionten stark ähneln104. Manche letztlich obligate symbiotische Beziehungen weisen freilebende Stufen auf, etwa die RhizobiumBakterien, die Pflanzenwurzeln besiedeln und für ihre Partner Stick stoff binden. So faszinierend viele dieser symbiotischen Beziehungen auch sein mögen (z. B. versorgen einige Bakterien Wimperntierchen mit ‚Beinen‘; andere oxidieren Schwefel für Röhrenwürmer, die als Jungtiere nach der Besiedlung durch die Ektosymbionten ihre Münder und Gedärme verlieren), wir werden uns hier auf ‚transitionale‘ Organismen konzentrieren, die sich am äußersten Rand ‚unabhängigen‘ Lebens zu befinden scheinen. Ein Beispiel ist Nanoarchaeum equitans, ein außerordentlich kleines Archaeon, das stets als Organismus beschrieben wird – obwohl es nur ein extrem reduziertes Genom besitzt und folglich unfähig ist, autonom Stoffwechsel zu betreiben, zu wachsen oder sich fortzupflanzen, ohne dabei auf ein weiteres Archaeon, Ignococcus hospitalis, angewiesen zu sein105. Ein bekannteres Beispiel ist die Gattung Mycoplasma, die aus sehr kleinen obligaten Parasiten besteht, die bemerkenswerterweise keine Zellwände haben (fast alle Bakterien haben Zellwände, ebenso Pflanzen und Pilze, nicht aber Tiere oder die meisten Protisten106). Sie werden üblicherweise als die kleinste freilebende Zelle betrachtet107, obwohl sie stark von Aminosäure- und Kofaktorbiosynthese sowie dem Fettsäuremetabolismus ihrer Wirte, insbesondere von 103 A. E. Douglas, J. A. Raven, „Genomes“. 104 G. A. B. Marais, A. Calteau, O. Tenaillon, „Mutation rate and genome reduction in endosymbiotic and free-living bacteria“, in: Genetica, doi 10.1007/s1079007-9226-6. 105 H. Huber u. a., „A new phylum of Archaea represented by a nanosized hyper thermophilic symbiont“, in: Nature 417/2002, S. 63-67. 106 Natürlich besitzen alle Organismen Zellmembranen, doch nicht alle besitzen die starreren Zellwände, über die Pflanzen und Bakterien verfügen. 107 Gleichwohl mehren sich die Anzeichen, dass Mycoplasma auch intrazelluläre Symbionten sind (M. A. Meseguer u. a., „Mycoplasma pneumoniae: A reducedgenome intracellular bacterial pathogen“, in: Infection, Genetics and Evolution 3, S. 47-55). Und das oben erwähnte Genom von N. equitans ist kleiner als die aller Mykoplasmen.
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Sterolen zur Aufrechterhaltung von Membranen, abhängig sind108. Sie haben zahlreiche ihrer Gene verloren und ihnen wird eine ‚geringe Anpassungsfähigkeit‘ zugeschrieben109. Wegen ihres reduzierten Genoms und ihrer eingeschränkten Funktionalität waren Mycoplasma (besonders M. genitalium) beliebte Kandidaten der minimalen Zellforschung, in der synthetische Biologen versuchen, die einfachste zelluläre Form des Lebens aus künstlichen oder konstruierten Komponenten herzustellen. Einer der jüngeren Durchbrüche in der Synthetischen Biologie umfasste den ‚Neustart‘ einer Mycoplasma-Zelle mit dem Genom eines anderen Mycoplasma-Taxons.110 Die Übertragbarkeit des Verfahrens auf weniger eng verwandte Organismen oder solche mit Zellwänden wurde allerdings trotz des Erfolgs des Experiments in Zweifel gezogen111. Was bei all dieser Forschung nicht in Frage gestellt wird, ist der Status von Mycoplasma als lebendigem Organismus. Ihre abhängige Beschaffenheit und ihre beschränkte Funktionalität scheinen also offensichtlich unzureichende Gründe zu sein, sie im selben Licht wie Viren zu betrachten. Eines der Merkmale, aufgrund dessen der Organismenstatus häufig zugesprochen wird, ist genetische Autonomie oder die Fähigkeit eines biologischen Wesens seine eigene Reproduktion einzuleiten und abzuschließen. Plastiden oder Organellen, die üblicherweise als bloße Teile der Zelle, in der sie gefunden werden, verstanden werden, wird dieser Status jedoch nicht verliehen. Die zusätzlichen biosynthetischen und metabolischen Fähigkeiten der Endo- und Exosymbionten scheinen, wie reduziert sie auch sein mögen, für die Übertragung des Organismenstatus wesentlich zu sein. In Anbetracht der vollständigen Abhängigkeit dieser Prozesse von der Mitwirkung der Wirtszelle ist die Grundlage dieser scharfen Trennung zwischen Viren und (anderen) Symbionten allerdings keineswegs klar. 108 C. M. Fraser u. a., „The minimal gene complement of Mycoplasma genitali um“, in: Science 270/1995, S. 397-403; S. Rottem, Y. Naot, „Subversion and exploitation of host cells by mycoplasmas“, in: Trends in Microbiology 6/1998, S. 436-440. 109 J. I. Glass u. a., „Essential genes of a minimal bacterium“, in: Proceedings of the National Academy of Sciences USA 103/2006, S. 425-430, hier S. 425. Mykoplasmen verfügen jedoch über multifunktionale Enzyme, die unübliche Rollen übernommen haben. 110 C. Lartigue, „Genome transplantation in bacteria: Changing one species to another“, in: Science 317/2007, S. 632-638. 111 E. Pennisi, „Replacement genome gives microbe new identity“, in: Science 316/ 2007, S. 1827.
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2.7 Einzellige Organismen und einzelne Zellen Es mag merkwürdig anmuten, einzellige Organismen daraufhin zu befragen, ob sie lebendig sind oder nicht, ohne dass ihr Status von jemandem in Zweifel gezogen worden wäre. Doch unser Ansatz besteht hier gerade darin, die Frage zu stellen, ob die Grenzen des Lebens eindeutig gezogen werden können, und insbesondere, ob das Kriterium der Zellularität alleine ausreicht, um einem Wesen ‚Lebendigkeit‘ zuzuschreiben. So wird beispielsweise eine einzelne Säugetierzelle in einer Petrischale üblicherweise nicht für ein eigenständiges Lebewesen gehalten,112 zum Teil wegen der hohen technischen Anforderung, die notwendig sind um die Zelle und ihre Nachkommen am Leben zu halten113. Hier zeigt sich, wie wir meinen, derselbe Zwiespalt bezüglich ihres Status, der unser Verständnis von Prionen, Plasmiden, Organellen und Viren erschwert. Einzelne Tier- oder Pflanzenzellen sind nur dann wirklich lebendig, wenn sie mit anderen Zellen in Kollaboration treten. Ob Prokaryot oder Eukaryot, mikro- oder makroorganismisch, Zellen arbeiten auf vielfältige Art und Weise zusammen und strukturieren ihre Aktivitäten gemeinsam durch zahlreiche Mechanismen. Viren, Plasmide und Prionen erreichen ebenso wie zelluläre Lebensformen ihre volle Funktionalität nur in Kollaboration mit anderen Zellen. Ist es sinnvoll, eine scharfe Grenze zwischen verschiedenen Weisen der zellulären und subzellulären Kollaboration – zwischen Kollaboration und Ausbeutung – zu ziehen? Wir glauben nicht. Darüber hinaus stellt sich, selbst wenn man einzelne Zellen isoliert betrachtet, jede Zelle als Komplex kollaborierender Einzelteile dar. Im Fall der Eukaryotenzellen, können diese Teile – wie wir in der Diskussion der Organellen gesehen haben – ehemals freilebende zelluläre Wesen umfassen. Eine Eukaryotenzelle kann in den Augen mancher Biologen ‚mit einer Gesellschaft verglichen werden, die sich aus dem Zellkern und einer Masse an subzellulären Organellen zusammensetzt und in der alle Mitglieder für das Wohl der Gemeinschaft zusammenarbeiten‘114. Es handelt sich aber 112 Für eine Erörterung der Autonomie von Säugetierzellen siehe aber T. T. Puck, The Mammalian Cell as a Microorganism: Genetic and Biochemical Studies in Vitro, San Francisco 1972. 113 U. Bhardwaj u. a., „Completely self-contained cell culture system: from storage to use“, in: Molecular Genetics and Metabolism 89/2006, S. 168-173. 114 W. G. Eberhard, „Evolutionary consequences of intracellular organelle com petition“, in: Quarterly Review of Biology 55/1980, S. 231-249, hier S. 231.
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um eine komplexe Kollaboration, denn zwischen Organellen oder Plasmiden in einer Zelle können auch kompetitive Reproduktionsbeziehungen bestehen115. Eine solche Konkurrenz kommt auch zwischen Zellen in Klonen vor, etwa wenn somatische Mutationen in den Meristemen von Pflanzen auftreten, die sich vegetativ vermehren116. Obwohl die Philosophie der Biologie dem Problem des Konflikts im Übergang von einzelnen Zellen zur Mehrzelligkeit beträchtliche Aufmerksamkeit gewidmet hat117, wurde die intrazelluläre Kooperation und Konkurrenz nicht im selben Maße in den Blick genommen. Eine solche Ausweitung der Perspektive halten wir für lohnenswert, um die kollaborativen Beziehungen zwischen biologischen Wesen auf verschiedenen Ebenen besser zu verstehen. 2.8 Mehrzellige Organismen Mehrzellige Organismen, besonders Pflanzen und Tiere, und vor allem wir selbst, werden als ‚paradigmatische‘ Beispiele von Lebewesen angesehen118. Auch diese Zuweisung ist, wie wir meinen, nichts weniger als evident und wir denken, dass, was auch immer es ist, das beispielsweise Tieren Lebendigkeit verleiht, ein sehr viel weniger autonomer Zustand ist, als es üblicherweise in Diskussionen von Leben angenommen wird (insbesondere, aber nicht ausschließlich, in philosophischen Diskussionen). Die Evolution der Eukaryoten wurde in hohem Maße von mikroorganismischen Interaktionen vorangetrieben und eine Vielzahl an Modi der gegenseitigen Abhängigkeit erhält und diversifiziert sich in jedem existierenden eukaryotischen Organismus. Eine erhebliche Zahl von Eukaryoten kann sich 115 J. B. Walsh, „Intracellular selection, conversion bias, and the expected sub stitution rates of organelle genes“, in: Genetics 130/1992, S. 939-946; W. G. Eberhard, „Evolutionary consequences“; J. Paulsson, „Multileveled selection on plasmid replication“, in: Genetics 161/2002, S. 1373-1384. 116 E. J. Klekowski, „Plant clonality, mutation, diplontic selection and mutational meltdown“, in: Biological Journal of the Linnean Society 79/2003, S. 61-67; M. Pineda-Krch, T. Fagerström, „On the potential for evolutionary change in meristematic cell lineages through interorganismal selection“, in: Journal of Evolutionary Biology 12/1999, S. 681-688. 117 S. Okasha, „Multi-level selection and the major transitions in evolution“, in: Proceedings of the Philosophy of Science Association, 19th Biennial Meeting, Austin 2004. 118 J. A. Wilson, „Ontological butchery: Organism concepts and biological generali zations“, in: Philosophy of Science 67 (Proceedings)/2000, S. S301-S311.
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ohne ihre prokaryotischen Partner weder fortpflanzen, noch entwickeln oder Stoffwechsel betreiben. Wir haben bereits festgestellt, dass der Erhalt des Organismenstatus häufig mit dem Erhalt von Autonomie gleichgesetzt wird. Diese Interpretation kann unsere Deutung von Leben und dessen, was es bedeutet, am Leben zu sein, leicht in die Irre führen. Die herkömmliche Auffassung biologischer Wesen kreist um ihre einzigartigen Genome, doch sie als autonome Individuen zu verstehen, halten wir für einen Fehler: Funktionale Geschlossenheit, die Basis der Zuschreibung von Autonomie, ist ein Merkmal von kollaborativen Interaktionen, an denen fast immer eine Vielzahl von Individuen beteiligt sind. Paradigmatische mehrzellige Organismen sind nicht nur mehrzelliger als üblicherweise angenommen (insofern ein mehrzelliger Organismus so verstanden werden sollte, dass er all jene Wesen umfasst, die interagieren, um gemeinsame Stoffwechsel- und Reproduktionsziele zu erreichen), darüber hinaus können auf der Basis der Zuschreibung von Autonomie sogar ‚einfache‘ Prokaryoten als Kandidaten für den Status der Mehrzelligkeit angesehen werden. So besitzen beispielsweise magnetotaktische Bakterien Organellen aus magnetischen Kristallen (Magnetosomen), die sich innerhalb der Zelle aufreihen und an die Flagellen des Bakteriums angefügt werden. Die Magnetosomen funktionieren als Kompasse und leiten die Bakterien lokale magnetische Feldlinien entlang (vorzugsweise nach Norden oder Süden, je nachdem in welcher Hemisphäre sie leben). Als wäre das nicht schon erstaunlich genug, leben einige magnetotaktische Bakterien in streng multizellulären Anordnungen. Die individuellen Zellen bilden eine kugelförmige Gruppe von bis zu 40 Bakterien, wobei sie in der Mitte der Gruppe ein leeres Kompartiment erzeugen. So wie sie Magnetlinien gemeinsam aufspüren und sich auf eine vollkommen koordinierte Weise fortbewegen, findet auch die Fortpflanzung der Gruppen durch koordinierte Zellteilung gemeinschaftlich statt. Sie wachsen mit derselben Geschwindigkeit (mit einem Anstieg des Volumens, nicht der Anzahl an Zellen) und teilen sich dann gleichzeitig zu einem neuen mehrzelligen Organismus, der unmittelbar nach der Abspaltung davonschwimmt119. Während die meisten mehrzelligen Organismen 119 C. N. Keim u. a., „Multicellular life cycle of magnetotactic prokaryotes“, in: FEMS Microbiology Letters 240/2004, S. 203-208; ders., M. Farina, U. Lins, „Magnetoglobus, magnetic aggregates in anaerobic environments“, in: ASM News 2/2007, S. 437-445; F. Abreu u. a., „‚Candidatus Magnetoglobus multi
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eine einzellige Entwicklungsstufe besitzen, können die magnetotaktischen Bakterien für sich beanspruchen, während ihres Lebenszy klus ausschließlich mehrzellig zu sein.120 Variabler in ihrer Organisation als magnetotaktische Bakterien und andere spezialisierte mehrzellige Strukturen einzelliger Organismen (wie den bekannten aggregierenden Beispielen von Dictyo stelium und Myxobakterien) sind andere kollaborative Ordnungen, die als Lebensgemeinschaften bekannt sind. Prokaryoten und andere Mikroben kommen selten als isolierte Einzelzellen vor, sondern leben in einer Vielzahl gemeinschaftlicher Organisationen wie etwa Biofilmen zusammen. Mikroorganismen, die als Teile von Biofilmen leben, exprimieren ganz andere Gene als freischwimmende (planktonische) Mikroben, und zwar in Mustern, die in jeder Stufe der Entwicklung des Biofilms strukturiert werden121. Lebensgemeinschaften wie Biofilme (die aus einem oder mehreren Taxa bestehen können) zeigen ebenso wie Populationen einzelliger Organismen eine wohldefinierte Zellorganisation und eine funktionale Arbeitsteilung. Diese umfasst spezialisierte Interaktionen zwischen Zellen, die Unterdrückung zellulärer Autonomie und Konkurrenz, gemeinsame Verteidigungs- und Angriffsstrategien sowie die Koordination von Bewegung, Wachstum und Fortpflanzung122. Viele dieser Aktivitäten kann keines der Mikrobenindividuen alleine ausführen, und cellularis‘, a multicellular, magnetotactic prokaryote from a hypersaline envi ronment“, in: International Journal of Systematic and Evolutionary Micro biology 57/2007, S. 1318-1322. 120 F. Abreu u. a. weisen diesem Organismus den Namen Candidatus Magnetoglo bus multicellularis zu (‚Candidatus‘ verweist darauf, dass er nicht gezüchtet wurde) (F. Abreu u. a., „Candidatus Magnetoglobus“). 121 P. Stoodley u. a., „Biofilms as complex differentiated communities“, in: Annual Review of Microbiology 56/2002, S. 187-209; J. W. Costerton u. a., „Microbial biofilms“, in: Annual Review of Microbiology 49/1995, S. 711-745. 122 J. Cho u. a., „Self-organization in high-density bacterial colonies: Efficient crowd control“, in: PLoS Biology 5(11)/2007, e302; C. Aguilar u. a., „Think ing about Bacillus subtilis as a multicellular organism“, in: Current Opinion in Microbiology 10/2007, S. 638-643; D. Kaiser, „Building a multicellular or ganism“, in: Annual Review of Genetics 35/2001, S. 103-123; J. A. Shapiro, „Thinking about bacterial populations as multicellular organisms“, in: Annual Review of Microbiology 52/1998, S. 81-104; P. E. Kolenbrander, „Oral micro bial communities: Biofilms, interactions, and genetic systems“, in: Annual Re view of Microbiology 54/2000, S. 413-437; B. J. Crespi, „The evolution of social behaviour in microorganisms“, in: Trends in Ecology and Evolution 16/2001, S. 178-183; M. Dworkin, „Multiculturism versus the single microbe“, in: J. A. Shapiro, M. Dworkin (Hrsg.), Bacteria as Multicellular Organisms, Oxford 1997, S. 3-13.
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um das kollektive Verhalten zu erreichen, müssen die individuellen ‚altruistischen‘ Mikroorganismen oftmals Nachteile (aus der Per spektive des Egoismus) in Kauf nehmen. Manche Biologen und Philosophen mögen es vorziehen, die Definition von Mehrzelligkeit aus der Betrachtung von Pflanzen und Tieren herzuleiten, um die mikrobiellen Lebensgemeinschaften aus dieser Kategorie auszuschließen. Aber sicherlich wird jede allgemeine Darstellung der Varianten biologischer Organisation dazu gezwungen sein, sie zu berücksichtigen und zu erklären, wie sie mit Konzepten wie ‚Mehrzelligkeit‘, ‚Individualität‘ und ‚Autonomie‘ in Einklang zu bringen sind. Endet beispielsweise der Mensch bei seiner Haut und muss eher als röhrenförmig statt als undurchdringlich und solide verstanden werden, um den großen Populationen von Darmmikroben in ihm gerecht zu werden? Mit seinem Konzept des ‚Symbiom‘ wirft Lederberg die Frage auf, ob Organismen notwendigerweise monogenomisch sind oder nicht eher ein multi- oder metagenomischer Zustand die übliche Form organismischer Organisation darstellt123. Diskussionen des Lebens und seiner Organisation müssen der Tatsache Rechnung tragen, dass symbiotische Beziehungen allgegenwärtig und alle Organismen, verstanden als funktionale Einheiten in Interaktion mit ihren Umgebungen, multilinear und multigenomisch sind. Alle mehrzelligen Organismen funktionieren durch die er erbte Unterstützung ihrer endosymbiotischen Partner im Zusammenspiel mit zahlreichen weiteren Formen der Partnerschaft. Alle einzelligen Organismen sind von Phagen und anderen einzelligen Organismen infiziert, und sogar Viren haben ihre eigenen Phagen, die ‚Virophagen‘124. Zwar werden Viren üblicherweise für streng parasitisch gehalten, doch diese Ansicht scheint eher auf einem Vorurteil als auf Fakten zu basieren. Die Erforschung der Funktionen von Mikro-Allianzen mit Viren steht erst am Anfang, und ein früher Erfolg bestand darin, den Beitrag der Cyanophagen zur Photosynthese der Cyanobakterien zu beschreiben125. Ebenso 123 L. V. Hooper, J. I. Gordon, „Commensal host-bacterial relationships in the gut“, in: Science 292/2001, S. 1115-1118; J. Dupré, M. A. O’Malley, „Metagenomics and biological ontology“, in: Studies in History and Philosophy of Biological and Biomedical Sciences 38/2007, S. 834-846. 124 B. La Scola u. a., „The virophage as a unique parasite of the giant mimivirus“, in: Nature 455/2008, S. 100-104. 125 D. Lindell u. a., „Photosynthesis genes in marine viruses yield proteins during host infection“, in: Nature 438/2005, S. 86-89.
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spielen die Phagen, die das Anthrax-Bakterium Bacillus anthracis befallen, eine wesentliche Rolle bei der Fähigkeit dieser Bakterien, Lebensgemeinschaften zu bilden und die langlebigen Sporen herzustellen, die das Fortbestehen des Zyklus von Anthraxinfektionen in Tieren sichert126. Weiter gefasst bedeutet die Rolle der Viren als Vermittler genetischer Variation in Lebensgemeinschaften mit vielen Stammlinien und als grundlegende Akteure in biogeochemischen Kreisläufen127, dass sie nicht als ausschließlich parasitisch und eigennützig angesehen werden können. Alles in allem lassen tiefe und weitgehende Kollaborationen zwischen biologischen Wesen – zum Mindesten – jede Trennlinie zwischen sogenannten individuellen Organismen und den größeren organismischen Gruppen, denen sie angehören, verschwimmen. Sie verweisen außerdem auf die nicht-diskrete und hochdynamische Natur biologischer Individuen128. Obwohl unser Hauptaugenmerk darauf nicht liegt, stellen wir doch fest, dass der Symbiose ein enormer evolutionärer Stellenwert eingeräumt wurde129. Wie unsere Diskussion der Mitochondrien und Plastiden verdeutlicht hat, haben Symbiosen Innovationen begründet, die einige der bedeutendsten Transformationen in der Geschichte der Evolution ermöglicht haben.
3. Merkmale lebendiger biologischer Wesen 3.1 Übliche Kriterien des Lebens Wie wird normalerweise entschieden, welches dieser verschiedenartigen Wesen lebendig ist? Alle momentan geläufigen Definitionen von Leben betonen bestimmte lebensverleihende Eigenschaften. Für manche dieser Definitionen sind funktionale Kriterien (wie reproduktive Autonomie) am wichtigsten, während andere evolutionäre Kriterien wie Kontinuität oder Evolvierbarkeit betonen oder den
126 R. Schuch, V. A. Fischetti, „The secret life of the anthrax agent Bacillus anthra cis: Bacteriophage-mediated ecological adaptations“, in: PLOS One 4(8)/2009, e6532. doi:10.1371/journal.pone.0006532. 127 C. A. Suttle, „Viruses“. 128 A. D. M. Rayner, „Freedom“. 129 J. Sapp, Evolution by Association: A History of Symbiosis, Oxford 1994.
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metabolischen oder organisationalen Charakter in den Vordergrund stellen130. Die meisten Kriterien zur Entscheidung der Frage, ob eine Entität lebendig ist oder nicht, werden von Exemplaren abgeleitet, die bereits zweifelsfrei für lebendig gehalten werden. Häufig sind zunächst Merkmale von Tieren für diese Kriterien bestimmend, die schließlich modifiziert werden, um auch Pflanzen, Pilze und einzellige Organismen ein-, Wesen wie Feuer und Kristalle aber auszuschließen131. Räumliche Begrenztheit ist als grundlegendes Kriterium für Lebewesen weitverbreitet und ein Grund dafür, dass größere biologische Systeme wie Ökosysteme selten als eigenständige Lebewesen klassifiziert werden. Grenzen bestehen üblicherweise aus einschließenden Materialien wie Membranen, Zellwänden und Haut, die innere von äußeren Umgebungen trennen und interne Aktivitäten wie Metabolismus ermöglichen132. Verbunden mit der räumlichen Begrenztheit und zudem fast unausweichlich mit dem Projekt zusammenhängend, kohärente Untereinheiten von den sie umfassenden Systemen zu unterscheiden, sind Stabilität und die Fähigkeit, einen Puffer gegen veränderliche Umwelten aufrecht zu erhalten. Doch die Vernetzung der diversen, im vorangegangenen Text diskutierten Wesen weist auf die offensichtlichen Gefahren hin, die die Annahme mit sich bringt, räumliche Grenzen könnten direkt und eindeutig identifiziert werden133. Die Grenzen einer Pflanze oder eines Tieres sind genau die Orte, an denen komplexe Interaktionen zwischen Wesen stattfinden, die zwar üblicherweise als unterschiedlich verstanden werden, deren enge Verbindung uns jedoch dazu verleitet, sie als Teile desselben Systems zu betrachten.134
130 R. Popa, Between Necessity and Probability: Search for the Definition and Origin of Life, Berlin, Heidelberg 2004; D. E. Jr. Koshland, „The seven pillars of life“, in: Science 295/2002, S. 2215-2216; G. Pályi, C. Zucchi, L. Caglioti (Hrsg.), Fundamentals of Life, Paris 2002; Y. N. Zhuravlev, V. A. Avetisov, „The definition of life in the context of its origins“, in: Biogeosciences 3/2006, S. 281-291; E. Szathmáry, „The origin of replicators and reproducers“, in: Phi losophical Transactions of the Royal Society B 361/2006, S. 1761-1776. 131 C. F. Chyba, K. P. Hand, „Astrobiology: The study of the living universe“, in: Annual Review of Astronomy and Astrophysics 43/2005, S. 31-74. 132 R. Popa, „Necessity“. 133 A. D. M. Rayner, „Freedom“. 134 Natürlich erkennen wir die Bedeutung von Membranen für die Ursprünge und Erhaltung des Lebens überhaupt an, ebenso die epistemologische Notwendig keit für theoretische wie experimentelle Biologen, Grenzen zu ziehen. Diese
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Die wahrscheinlich am weitesten verbreiteten Kriterien von Lebewesen sind Metabolismus oder Energieumwandlung sowie Reproduktion, die Fähigkeit von Wesen, sich selbst zu vermehren. Biochemische Umwandlung von Energie, um einerseits die eigene Struktur und funktionale Integrität zu erhalten sowie andererseits sich selbst zu reproduzieren, stellt eine plausible Beschreibung dessen dar, was Lebewesen auf der grundlegendsten Ebene tun. Metabolismus ist folglich ein grundlegendes Mittel des Überlebens für alles, was lebendig ist.135 Für viele Biologen ist er der grundlegendste biologische Prozess und die echte Grenzlinie zwischen lebendigen und nicht-lebendigen Wesen136. Nach einem verbreiteten Verständnis der organismischen Funktion besteht diese in einer internen Fähigkeit zur Selbsterhaltung auf der Basis der Verarbeitung externer Ressourcen137. Unsere Bedenken bezüglich dieses Kriteriums drehen sich nicht um die Frage, ob Metabolismus ein grundlegendes Merkmal lebendiger Systeme darstellt, sondern ob es effektiv genutzt werden kann, um die Art von Unterteilungen in distinkte Lebewesen vorzunehmen, die von Theorien der Biologie üblicherweise erwartet werden. Denn Metabolismus ist normalerweise eine kollaborative Aktivität, die viele der Dinge mit einbezieht, die üblicherweise als eigenständige Lebewesen betrachtet werden. So wird etwa üblicherweise angenommen, dass ein Mensch als eigenständiges biologisches Wesen aus einer Stammlinie von Zellen besteht, die sich in einer Reihe von Zellteilungen aus einer ursprünglichen Zygote entwickelt haben. Aber ein funktionaler Mensch besteht auch aus einer sehr großen Anzahl symbiotischer Bakterien, die tatsächlich 90 % der Zellen des menschlichen Systems ausmachen. Diese mikrobiellen Zellen greifen tief in Stoffwechselprozesse ein, die die Funktion des Systems erhalten, was sich am offensichtlichsten an der Verdauung
epistemische Funktion erfordert jedoch nicht, dass solche Grenzen eindeutig und unzweifelhaft identifizierbar wären. 135 Die Notwendigkeit biochemischer Umwandlung schließt Phänomene wie Com puterviren aus dem Kreis der Kandidaten für Leben aus, denn sie erhalten sich selbst nicht durch biochemische Mittel. 136 T. Gánti, „Biogenesis itself“, in: Journal of Theoretical Biology 187/1997, S. 583-593; P. L. Luisi, „About various definitions of life“, in: Origins of Life and Evolution of the Biosphere 28/1998, S. 613-622. 137 Ebd.
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zeigt138. So verstanden ist der Mensch aber nicht dazu in der Lage, die für sein Überleben notwendigen Stoffwechselprozesse autonom zu vollziehen. Wenn es indes als hinreichend betrachtet wird, nur manche, aber nicht alle für das Überleben des Lebewesens nötigen Stoffwechselprozesse eigenständig auszuführen, dann werden auch Organellen und Endosymbionten als Lebewesen zählen müssen. Während wir weiter oben erwähnt haben, dass Reproduktion zwar eine notwendige Eigenschaft von Leben ist, haben wir auch auf ihre Unzulänglichkeit für ein vollständiges Verständnis des Lebens hingewiesen. Wie wir gezeigt haben, reproduzieren sich Viren, Organellen und sogar Prionen selbst. Das Reproduktionskriterium wird manchmal an autonome Reproduktion gebunden, so dass von Viren und ähnlichen Wesen, obwohl sie sich sehr effektiv vervielfältigen, häufig angenommen wird, dass sie das Kriterium nicht erfüllen, da sie sich nicht unabhängig reproduzieren und ‚echte‘ Organismen aus anderen Stammlinien benötigen, um ihre Reproduktion zu bewerkstelligen. Doch sogar für paradigmatische mehrzellige Organismen ist zweifelhaft, ob sie das Kriterium der auf eine Stammlinie beschränkten autonomen Reproduktion erfüllen können. Ein offensichtliches Gegenbeispiel sind die Insekten, deren Reproduktion wesentlich unter der Kontrolle der endosymbiotischen Wolbachia steht. Allgemeiner ist jede Reproduktion, insofern sie die Anwendung von Stoffwechselprozessen erfordert, was zwangsweise der Fall ist, auch von endo- und exosymbiotischen Mikroben abhängig. Ein anderes Kriterium zur Definition von Leben, das manchmal vorgeschlagen wird, ist Evolvierbarkeit139. Eine häufig zitierte Definition von Evolvierbarkeit ist die von Marc Kirschner und John Gerhart gelieferte, in der Evolvierbarkeit die ‚Fähigkeit eines Organismus, vererbbare phänotypische Variation zu erzeugen‘ ist140. Eine Konsequenz, die die Annahme dieses Kriteriums mit sich bringt, ist, dass es alle von uns beschriebenen Wesen bis hin zu Viren und Prionen einschließen würde. Unser Interesse an dem Konzept hat allerdings einen viel allgemeineren Grund, der, wie wir 138 S. R. Gill u. a., „Metagenomic analysis of the human distal gut microbiome“, in: Science 312/2006, S. 1355-1359; L. V. Hooper, J. I. Gordon, „host-bacterial“. 139 K. Ruiz-Mirazo, J. Peretó, A. Moreno, „A universal definition of life: Autonomy and open-ended evolution“, in: Origins of Life and Evolution of the Biosphere 34/2004, S. 323-346. 140 M. Kirschner, J. Gerhart, „Evolvability“, in: Proceedings of the National Aca demy of Sciences USA 95/1998, S. 8420-8427, hier S. 8420.
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denken, den Kern des Problems der Definition von Lebewesen trifft. Evolvierbarkeit im Sinne Kirschners und Gerharts ist ein Merkmal von Stammlinien. Viren, Prionen, einzellige Organismen und mehrzellige Organismen, verstanden als monogenomische Einheiten, bilden alle die geforderten Arten von Stammlinien. Obwohl wir den Kriterien von räumlicher Begrenztheit, Metabolismus, Reproduktion und Evolvierbarkeit eine wichtige Rolle für das Verständnis von Leben zugestehen, glauben wir, dass der Bezugsrahmen, innerhalb dessen diese Kriterien verstanden werden, Lebewesen in einem grundsätzlichen Sinne falsch auffasst. 3.2 Neubestimmung der Kriterien des Lebens Unsere Bedenken bezüglich der oben genannten Kriterien gründen in der Tatsache, dass keine der von uns diskutierten Wesen die funktionalen Einheiten bilden, deren Erfolg oder Misserfolg in Interaktion mit ihrer Umwelt den Erfolg oder Misserfolg der Stammlinien bestimmt, an denen sie Teil haben. Diese funktionalen Einheiten sind vielmehr Ansammlungen einer Vielzahl solcher stammlinienbildenden Wesen. Ein typischer großer Eukaryot beispielsweise besteht aus all den Wesen, die wir oben unterschieden haben. Wir könnten uns an dieser Stelle auf David Hulls141 bekannte Unterscheidung zwischen Replikatoren und Interaktoren berufen, doch verwenden wir sie in einem ganz anderen Sinne als ursprünglich von Hull vorgeschlagen. Interaktoren sind aus unserer Sicht komplexe Systeme, die die Kollaboration vieler, hochdiverser stammlinienbildender Wesen umfassen. Diese Art von Interaktor halten wir für die grundlegendste Einheit der Selektion. Diese Perspektive hat radikale Implikationen dafür, wie wir über die Evolution nachdenken. Sie würde gegenwärtige Konzepte der Gruppenselektion im mehrstufigen Selektionismus beinhalten, aber gleichzeitig weit über diese hinausgehen142. Eine der Implikationen ist es, die Wichtigkeit von Kollaboration, die selten als Kriterium des Lebens vorgeschlagen wird, anzuerken-
141 D. L. Hull, „Individuality and selection“, in: Annual Review of Ecology and Systematics 11/1980, S. 311-332. 142 E. Sober, D. S. Wilson, Unto Others: The Evolution and Psychology of Unselfish Behavior, Cambridge, Mass. 1998.
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nen (siehe aber z. B. Lezon143 u. a., die die Rolle der Kooperation betonen). Auf der intra- wie interzellulären Ebene ist es schwierig, sich Leben vorzustellen, das nicht im oben beschriebenen Sinne kollaborativ wäre. Wir behaupten daher, dass Kollaboration eines der zentralen Merkmale von Leben ist. Um sie als solches zu behandeln wird es allerdings nötig sein, genauer zu spezifizieren, was Kollaboration im relevanten Sinne umfasst. Wir wollen selbst einfache chemische Systeme nicht ohne weiteres ausschließen. Einige chemische Aggregationen zeigen Wachstum, Reproduktion (die zu Stammlinienbildung unterschiedlicher Beharrlichkeit führt), Fehlerkorrektur sowie Sensibilität für ihre Umwelten144. Es wäre überraschend, wenn diese Eigenschaften in der chemischen Welt nicht auftreten würden, denn sonst wäre es nur schwer vorstellbar, wie Leben entstanden sein könnte. Unser Kontinuums-Blick auf Leben ist dafür offen, dass chemische Systeme zuweilen als lebendige Systeme beschreibbar sind, obgleich es wahrscheinlich ist, dass diese die relevanten Kriterien nur zeitweise erfüllen. Weil biologische Wesen nach unserer Konzeption eine Serie von dynamischen und vielfältigen Kollaborationen sind, sind die Grenzen flexibel und veränderlich. Jede Behauptung, dass es sich bei etwas um ein lebendiges Ding handelt, muss mit Blick auf die von uns beschriebenen allgemeinen Merkmale geprüft werden.145 Wichtiger als jeder Versuch, Grenzen zwischen dem Lebendigen und Nichtlebendigen zu spezifizieren, wird es jedoch sein, den Kontrast zu betonen, der zwischen einer Perspektive auf das Leben als kollaborativ und der sehr viel geläufigeren Annahme, das Leben sei grundlegend egoistisch und beinhalte Konkurrenz zwischen reproduktiv und metabolisch autonomen Organismen, besteht. Die Umrisse unserer Reaktion auf die Ansicht, dass sich nur egoistische Wesen im Kampf aller gegen alle durchsetzen, sollten nun erkenn143 T. R. Lezon, J. R. Banavar, A. Maritan, „Origami“. 144 R. Schulman, E. Winfree, „How crystals that sense and respond to their en vironments could evolve“, in: Natural Computing doi: 10.1007/s11047-0079046-8/2007; B. H. Weber, „Emergence of life“, in: Zygon 42/2007, S. 837-856. 145 Interaktoren in diesem Sinne schließen auch den gesamten Planeten als Kan didaten für evolvierendes Leben aus, denn obwohl sich der Planet als (auf eine hochkollaborative Weise) metabolisierend auffassen lässt, interagiert er nicht mit anderen solchen Einheiten. Ihm fehlt außerdem jede Möglichkeit zur Re produktion seiner selbst. Unentschiedener sind wir bezüglich Ökosystemen, die zwar häufig interagieren können, aber deren Fähigkeit zur Stammlinien bildung, die über bloße Kontinuität (als Ersatz für Replikation) hinausgeht, zunächst noch nachgewiesen werden müsste.
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bar sein: Die Einheit der Selektion, das Wesen, in dem Egoismus möglicherweise als Norm erwartet werden kann, ist eine Kollaboration vieler verschiedener Stammlinienbildender Wesen. Der Kontext, innerhalb dessen diese evolvieren, ist dann typischerweise ein Kontext von Kollaboration. Wir haben zwar bemerkt, dass von dieser kollaborativen Einheit vielleicht typischerweise Egoismus zu erwarten ist. Doch das setzt natürlich voraus, dass es irgendeinen natürlichen Endpunkt des Kollaborationsprozesses gibt. Wir vermuten, dass kompetitive Aktivität eher ein Übergangs- als ein Endzustand ist und dass solche zeitweise kompetitiven Einheiten eine starke Tendenz zeigen werden, am erfolgreichsten zu konkurrieren, indem sie neue Ebenen der Kollaboration mit gleich- oder andersartigen Wesen erschließen. Wir betrachten das Aufkommen von Sozialität, ebenso wie allgemeiner die von John Maynard Smith und Eörs Szathamáry146 aufgezeigten evolutionären Umwandlungen, als Instanziierung eines solchen Prozesses. Unser Spektrum biologischer Wesen gibt Beispiele für eine Reihe unterschiedlicher Formen von Kollaboration, die für ein solches evolutionäres Schema wesentlich sind. Wie wir betont haben, nimmt unser Konzept von Kollaboration keine scharfen Grenzen zwischen egoistischen und kooperativen Interaktionen an – was bei der Neigung der ersteren, sich zu letzteren zu entwickeln, sicherlich nicht weiter verwundert. Wir haben die Kriterien, die als Merkmale von Lebewesen vorgeschlagen wurden, sicherlich nicht erschöpfend behandelt. Nicht explizit betrachtet haben wir beispielsweise das Reaktionsvermögen auf Umweltbedingungen, die Fähigkeit, auffällige Eigenschaften von Umwelten zu entdecken und angemessen auf diese zu reagieren, sowie Entwicklung, die wiederholte Produktion charakteristischer Stufen eines Lebenszyklus (obwohl sich vieles von dem, was wir gesagt haben, implizit auf diese Kriterien bezog). Wir wollen diesen und vielleicht anderen distinktiven Merkmalen lebendiger Systeme ihren Stellenwert nicht absprechen. Wir argumentieren vielmehr dafür, dass ein Fokus auf Metabolismus und Reproduktion, die für gewöhnlich als grundlegende Eigenschaften des Lebens betrachtet werden, den zusätzlichen Vorteil hat, dass er die Aufmerksamkeit auf ein Merkmal lenkt, dessen Bedeutung weithin unterschätzt wurde: das der Kollaboration. Dass sie heruntergespielt wurde, ist eine leicht verständliche Konsequenz des Gewichts, das 146 J. Maynard Smith, E. Szathmáry, The Major Transitions in Evolution, Oxford 1995.
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die Theoretiker der Biologie der Konkurrenz beigemessen haben147. Genau aus diesem Grund könnte es wichtige neue Einsichten in die Natur evolutionärer Prozesse liefern, der Kollaboration die angemessene Beachtung zu schenken, denn diese Schwerpunktsetzung beeinflusst, wie wir die für die Evolution zentralen Wesen und Prozesse konzeptualisieren.
4. Autonomie und die Ursprünge des Lebens Unsere kollaborative Interpretation von Leben zeigt, dass es möglich ist, die üblichen Probleme der Definition von Leben zu umgehen. Wir behaupten nicht, eine Definition des Lebens geliefert zu haben, doch haben wir, wie wir meinen, einen Blick auf lebendige Materie eröffnet, der ein flexibles Hilfsmittel dafür bietet, die vielen Arten, wie sich Leben organisieren kann, zu verstehen. Die Spannung zwischen sich vermehrenden Stammlinien als dem einen sowie metabolischer Selbsterhaltung als dem anderen Kriterium für Leben, kann aufgelöst werden, indem man eine sehr viel interaktivere Perspektive auf metabolische Prozesse einnimmt und Kooperation und Konkurrenz innerhalb des Rahmens von Kollaboration neu begreift. Gemäß unserer Analyse tritt Leben am Schnittpunkt von Stammlinienbildung und der (typischerweise kollaborativen) Beteiligung an Metabolismus auf. Wesen die Problemfälle darstellen, wie etwa Viren, können dann als lebendig aufgefasst werden, wenn sie aktiv kollaborieren. Wenn sie gerade nicht kollaborieren, haben sie höchstens ein Potential zum Leben. Wir ermutigen unsere Leser, unseren Bezugsrahmen auf weitere Kandidaten für Lebendigkeit auszudehnen und auf verschiedene chemische und physikalische Systeme sowie Ökosysteme anzuwenden. Was aber ist mit dem autonomen individuellen Organismus, der häufig das konzeptuelle Ziel der Versuche, Leben zu definieren, darstellt, und dem den Gesetzen von Konkurrenz und Selektion unterworfenen Ding, das von Modellen der Evolution angenommen wird? Insoweit solche individuelle Autonomie nur ein individuelles Leben oder eine individuelle Lebensgeschichte erfordert, lässt es sich sicherlich viel breiter anwenden, als es die Theoretiker der Biologie üblicherweise beabsichtigen. Zahllose nicht-zelluläre Wesen haben 147 J. Roughgarden, Genial Gene.
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individuelle Lebensgeschichten, zu denen sie kommen, indem sie zu den Leben und Lebensgeschichten der größeren Wesen, in denen sie kollaborieren, beitragen, und diese Kollaboration begründet ihren Anspruch auf Leben. Aber – und das ist der Kernpunkt unserer These – über die Ansprüche paradigmatischer Organismen wie Tieren oder Pflanzen auf individuelle Lebensgeschichten kann nicht mehr und nicht weniger gesagt werden; außer wir fassen sie als den kollaborativen Fokus von Lebensgemeinschaften von Wesen aus vielen verschiedenen reproduktiven Stammlinien auf. Was auch immer wir von Dawkins‘ Idee der egoistischen Gene halten mögen, auf fast genau dieselbe Weise ist und war molekulare Replikation, von der präzellulären molekularen Gemeinschaft bis in die Gegenwart, immer die Errungenschaft von Molekülgemeinschaften, nicht von individuellen Molekülen148. Es ist vollkommen vernünftig davon auszugehen, dass sich Autonomie hauptsächlich in Kollaboration statt nur in schroffer Unabhängigkeit zeigt. Nimmt man an, dass etwas, um ein lebendiges Ding zu sein, diese Art von Autonomie benötigt, dann umfasst unser Ansatz Viren nicht nur als lebende Materie, sondern, wenn sie Zellen betreten und mit den metabolischen Kapazitäten der Zelle interagieren, als vollentwickelte Lebewesen. Als Virionen sind sie noch immer Elemente einer Stammlinie, aber zeitweise von der metabolischen Kollaboration ausgenommen (ebenso Bakterien wie Chlamydia während ihres inaktiven sporenartigen Zustands und möglicherweise sogar viele Pflanzensamen und Pilzsporen). Deshalb haben wir oben empfohlen, Viren grundsätzlich als Wesen mit Entwicklungszyklen anstelle von Lebenszyklen zu beschreiben.149 Das Einnehmen dieser Perspektive macht nicht nur die Vorstellung eines manchmal lebenden und manchmal nicht-lebenden Wesens unproblematisch, es bestärkt auch das Bild des Lebens und der Evolution des Lebens als eines Kontinuums der Kollaborativität. Akzeptiert man die Auffassung, dass sich das Leben aus einem chemischen Kontext entwickelt hat, erscheint es fehlgeleitet, selbstreplizierende Komplexe von Chemikalien und Molekülen nicht zu berücksichtigen, weil sie keine Zellen sind. Festzulegen, dass Leben 148 D. Segré, D. Lancet, „Composing life“, in: EMBO Reports 1/2000, S. 217-222. 149 Es ist verlockend, hier Kants Analyse der Autonomie als Bedingung der Mög lichkeit zur Pflichtentsprechung heranzuziehen, einem wesentlich sozial defi nierten Konzept, ebenso seine Ablehnung der Auffassung, Autonomie folge al lein aus der Verfolgung kontingenter individueller Interessen oder Neigungen.
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ausschließlich zellulär und monogenomisch organismisch sei, würde bedeuten, dass die Ursprünge des Lebens einen einzelnen Sprung von völlig nicht-lebendig zu völlig lebendig beinhalten, etwas das konzeptuell schwierig zu akzeptieren ist und aus diesem Grund einen natürlichen Angriffspunkt für Kreationisten darstellt, um auf der Notwendigkeit einer übernatürlichen Intervention zu beharren. Das Spektrum der Wesen, die wir beschrieben haben, zeigt jedenfalls, dass eine unflexible Dichotomie zwischen Leben und NichtLeben äußerst problematisch ist, sogar um nur die gegenwärtig existierenden Wesen zu verstehen. Unser großzügigerer Rahmen kann eine Bandbreite von Theorien über die Organisation und Evolution präzellulären Lebens umfassen, die Prionen, Plasmiden und Viren ebenso wie anderen makromolekularen Komplexen wichtige Rollen zuweist150. Wir glauben außerdem, dass unsere These von multimodalen, vernetzten und einander überlappenden Lebensprozessen eine kontinuierlichere Vorstellung der Geschichte der Evolution nahelegt. Viele Diskussionen frühen Lebens postulieren eine radikale Umwandlung von einer Gemeinschaft des genetischen Austauschs zu einer der beschränkten vertikalen Vererbung, zellulärer Autonomie und stabiler Genealogie151. Während manche Biologen glauben, dass präzelluläres Leben sich am besten als ‚unegoistische‘ Gemeinschaftlichkeit verstehen lässt, in der genetische Ressourcen geteilt werden152, setzen andere wie Dawkins voraus, dass präzelluläres Leben von egoistischer Replikation bestimmt war und promiskuitiver horizontaler Austausch die Möglichkeiten zum Egoismus le150 B. M. Rode u. a., „Are prions a relic of an early stage of peptide evolution?“, in: Peptides 20/1999, S. 1513-1516; O. Lupi u. a., „Are prions related to the emer gence of early life?“, in: Medical Hypotheses 67/2006 S. 1027-1033; O. Lupi, P. Dadalti, C. Goodheart, „Did the first virus self-assemble from self-replicating proteins prion proteins and RNA?“, in: Medical Hypotheses 69/2007, S. 724730; W. G. Eberhard, „bacterial plasmids“; C. I. Kado, „Origin“; A. L. Koch, „The origin of intracellular and intercellular pathogens“, in: Quarterly Review of Biology 70/1995, S. 423-437. 151 C. R. Woese u. a., „Evolving biological organization“, in: J. Sapp (Hrsg.), Mi crobial Phylogeny and Evolution: Concepts and Controversies, Oxford 2005, S. 99-117; R. Dawkins, „Life: A gene-centric view. Craig Venter and Richard Dawkins. A conversation in Munich. (Transcript), in: Edge 235, 6. Feb; abge rufen am 24. Feb. 2008 (www.edge.org/documents/archive/edge235.html#life; auch unter www.edge.org/documents/life/life_index.html). 152 C. R. Woese u. a., „Aminoacyl-tRNA synthetases, the genetic code, and the evolutionary process“, in: Microbiology and Molecular Biology Reviews 64/ 2000, S. 202-236.
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diglich ausweitet153. Anstatt einige evolutionäre Prozesse auf eine abgeschlossene Vergangenheit zu beschränken, ziehen wir es vor, diese in ein Schema einzubinden, das die Kontinuität lateralen Gentransfers als wichtiges Merkmal heutiger kollaborativer Evolution anerkennt. Diesbezüglich finden wir die Überlegungen von Norris et al.154 und Hunding et al.155 sehr hilfreich. Sie argumentieren, dass Leben als ‚vielfältige interagierende Gemeinschaft von Molekülen‘ evolviert habe – eine ‚präbiotische Ökologie‘, die einen ökologischeren und gemeinschaftsbasierten Blick auf jedes biologische Wesen, vor oder nach der Evolution der Zellen, voraussetzt. Ihr Modell beschreibt „die Entstehung des Lebens als ein funktionales ökologisches System durch einen Prozess der Integration verschiedener Komponenten, nicht als einzelnes Ereignis […] es gibt keinen identifizierbaren Punkt, an dem das Leben entstanden wäre. Vielmehr [ist es] ein kontinuierlicher Prozess, durch den immer komplexere, eingebundene, selbstreplizierende und autokatalytische Modulsysteme zusammen mit ihren Umwelten neue Eigenschaften entwickeln.“156 Wir glauben, dass ein dynamisches, systembasiertes Szenario dieser Art eher damit im Einklang steht, was wir vom Rest der Evolution des Lebens wissen.157 Die Geschichte der Evolution legt nahe, dass Leben eine Reihe koevolvierender Hierarchien umfasst, und dass Nicht-Leben und Leben ein riesiges und biologisch bedeutendes Territorium teilen, das jeder Darstellung eines der beiden Bereiche eine höhere Komplexität abverlangt. Die Ökologie konfrontiert uns mit Szenarien der Kollaboration, die mindestens so überzeugend sind wie die, deren Fokus auf Konkurrenz liegt, und die unser Verständnis der makrobiellen und mikrobiellen Welt rapide verbessern158. Die Auffassung von Leben als Ergebnis der Überschneidung 153 R. Dawkins, „Life“. 154 V. Norris u. a., „Question 7: The first units of life were not cells“, in: Origins of Life and Evolution of the Biosphere 37/2007, S. 429-432. 155 A. Hunding, „Compositional complementarity and prebiotic ecology in the origin of life“, in: BioEssays 28/2006 S. 399-412. 156 A. Hunding, „Compositional complementarity“, S. 409-410. 157 Dynamische, systembasierte Szenarien des Lebens sind eine allgemeine Vor stellung, die im Werk von theoretischen Biologen wie Tibor Gánti, Robert Rosen, Stuart Kauffman sowie Humberto Maturana und Francisco Varela, prä ziser formuliert wird. Unser Schwerpunkt auf kollaborativer Interaktion legt Übereinstimmungen mit solchen Arbeiten nahe, doch müssen wir diese noch spezifischer erkunden. 158 J. Dupré, M. A. O’Malley, „Metagenomics“.
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von stammlinienbildender, metabolisch kollaborativer Materie, die sich innerhalb unterschiedlicher interagierender Ebenen organisiert, erlaubt einen sanften Übergang von der frühesten lebendigen Materie zu Standardbeispielen des Lebens und darüber hinaus bis hin zu gegenwärtigen Ökosystemen. Eine allgemeine Darstellung wie die unsere ist nicht definitorisch – und muss das auch nicht sein. Es reicht aus, wenn sie berücksichtigt, was über eine immer eindrucksvollere Vielfalt biologischer Wesen und deren evolutionäre Geschichte bekannt ist, und neue Sichtweisen auf Leben ermöglicht, die sich um eine biologisch realistische Interpretation von Kollaborativität drehen. (Übersetzung: Mathias Zinnen)
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Die Bedeutung des Organismusbegriffs in der rezenten Biologie
I. Problemexposition Derzeit gewinnt das Konzept „Organismus“ auch innerbiologisch verstärkt an Interesse. Dies ist zum einen durch die Problemstellung der Biodiversitätsanalyse bedingt. Hierin wird versucht, die Typik der Lebensformen in ihrer Diversifizierung zu erfassen. Es geht damit um die Realisationsformen des Organischen, die in ihrer Identität und in Abgrenzung zueinander und zum Nicht-Organischen zu erfassen sind.1 Das Ziel sind eine Indizierung der Lebenswirklichkeit in der Moderne und deren Bewertung in Bezug auf ökologische Diversifizierung und deren jeweilige Perspektive. Dabei zielt diese Bestandsaufnahme nicht einfach nur auf einen Katalog der Formen, es geht vielmehr um eine Gewichtung der Formvielfalt, ein vertieftes Verständnis der Gründe und um die Bewertung lokaler und systematischer Diversifizierungen, die dann auch für eine Darstellung der ökonomischen Qualität – im Sinne einer Kennung möglicher Ressourcen (von Naturstoffen bis zu Erholungswerten) – zu nutzen sind. Zugleich formieren sich Alternativen zu klassischen Organisationsvorstellungen, in denen Ordnungen, Familien und Gattungen in ihrem systematischen Verhältnis beschrieben wurden. Die Darstellung der Interaktionen, in denen Koevolutionsprozesse beschrieben sind, und womit der Aufbau ganzer Lebensgemeinschaften in ihrer Wechselwirkung und Abstimmung zu charakterisieren ist – von dem Biotop der Schwarzen Raucher bis hin zu den Pilz-Wurzelgeflechten unserer Laubwälder – macht dabei deutlich, dass die systematischen Kategorien an sich nur bedingt zu nutzen sind, um Adaptationsvorgänge und damit die Organisation der evolutionsbiologisch relevanten Größenbezie-
1
Vgl. http://www.idiv-biodiversity.de/ sowie http://www.bik-f.de/ (abgerufen am 15.6.2013).
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hungen zwischen Organismen abzubilden.2 Dabei wird denn auch deutlich, dass Organisationsprozesse nicht einfach in einem Nebeneinander, sondern nur in ihrer Verzahnung zu begreifen sind. Wie aber sind dann in einem derart umgedeuteten Geflecht von Wechselwirkungsbeziehungen die Größen zu kennzeichnen, die bestimmte Prozesse langfristig stabilisieren? Was sind die Elemente, die etwa in einem der Extrembiotope entlang der untermeerischen Vulkane des Mittelatlantischen Grabenbruchs als evolutionsbiologisch reaktible Einheiten zu verzeichnen sind? Inwieweit sind die geographisch weit voneinander entfernten Biotope in der Tat isoliert oder eben doch als ein Diversifizierungsgefüge eines vormals homogenen Biotopzusammenhanges zu kennzeichnen? Wie sind dann die verschiedenen Entwicklungen lokal abgestimmt oder gar konserviert worden? In all diesen Fragen geht es um Organisation von Lebensprozessen und die Bedeutung der Einheiten – Individuen, Populationen, Arten – aus denen sich diese Organisationen aufbauen.3 Wie sind hier – in einer evolutionsbiologischen Sicht – die Einheiten voneinander abzugrenzen, bzw. überhaupt als solche zu charakterisieren? Inwieweit sind in solchen Extrembiotopen Nischen zu bestimmen, die in unterschiedlicher Weise besetzt und in unterschiedlich organisierten Formen repräsentiert werden können? Leben erweist sich in dieser Perspektive als ein zunächst nur in seiner speziellen Konfiguration zu beschreibendes Reaktionsgefüge, das in seinen Komponenten zwar analytisch isoliert, in seiner Abstimmung aber in einer Weise aufeinander bezogen ist, die klassische Formen der Beschreibung von Organisation und Organismus, wie sie sich an Strukturbeziehungen (oder genetischen Programmen) darstellen lassen, in Frage stellt.4 Wie sind denn auch Gefüge zu beschreiben, in denen, wie bei den Flechten, zwei verschiedene Stämme – hier Pilze und Algen – in einer Weise aufeinander abge-
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C. L. Van Dover, The ecology of deep-sea hydrothermal vents, Princeton 2000; R. L. Peterson, H. B. Massicotte, L. H. Melville, Mycorrhizas: Anatomy and Cell Biology, Wallingford 2004. Vgl. W. Kunz, Do Species Exist? Principles of Taxonomic Classification, Wein heim 2012. Die Arbeit zeigt inwieweit auch die Organisation der „Art“ ein Resultat einer Evolution darstellt, es also neben dem einfachen taxonomischen Schematismus eine evolutionsbiologisch diversifizierte Organisation des für eine bestimmte Organisationsform kennzeichnenden Genpools darstellt. Vgl. hierzu auch die Diskussionen um das Konzept des selfish gene, das hier zwar nicht als Lösungsalternative ausgewiesen ist, aber die Spannbreite – und auch die zeitlich schon weiter zurückführende Linie – der Diskussionen markiert.
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stimmt erscheinen, dass sie als in sich bestehende Einheiten sogar einen eigenen systematischen Rang, eben als Flechten, erhielten?5 Sind diese Komposit-Organismen damit anders zu beschreiben als komplexe Organisationsformen, deren gegebenenfalls sehr viel differenziertere Gewebe aufeinander abgestimmt sind, wobei diese dann allerdings aus einer genetischen Linie erwachsen sind? Hier könnte man dann allerdings weiter ins Detail gehen und die Linien der Zellkern-DNA und der DNA von Organellen eingehender analysieren.6 Insgesamt eröffnen sich somit Aspekte einer Betrachtung in der Organisation von Lebensformen, die dann, wenn wir den Ansatz einer Exobiologie ernst nehmen sollten,7 in noch viel radikalerer Weise in Frage zu stellen sind. Begreifen wir Leben als das, was in einer historischen Linie erwachsen ist, fassen wir also das, was ein Organismus ist, im Sinne eines phylogenetischen Ereignisraumes, so haben wir es einfach. Wir definieren den Organismus historisch, fassen ihn als das, was über eine Unzahl von Schritten ausgehend von einem gemeinsamen Vorfahren entwickelt wurde. Das, was ein Organismus ist, wird dann im Verweis auf die erarbeiteten historischen Linien in den Einheitsraum eines Entwicklungsgeschehens rückgeblendet. Die Vielfalt der Organisationen ist damit kein Problem, da sie sich genealogisch in die so definierte Entstehungsfolge rückblenden lässt. Wir können derart zumindest beschreiben, in welchen Folgen sich Metazoen zurück zu einzellerartigen Wesen, den Ziliaten, entwickelten.8 Wir können vielleicht auch nachzeichnen, unter welchen Bedingungen ein Virus – als das biochemische Minimalprogramm eines Parasiten – entstehen konnte, und umschiffen so die Klippe der vormaligen Diskussion um die Qualität des viralen „Lebens“.9 Nur – wir erzählen so immer wieder nur eine Geschichte, analysieren aber nicht die Struktur dessen, was für uns organisch ist.
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Vgl. etwa K. Hausmann u. a., Extremophile – Mikroorganismen in ausgefallenen Lebensräumen, Weinheim 1995. H. Schöller, Flechten. Geschichte, Biologie, Systematik, Ökologie, Naturschutz und kulturelle Bedeutung, Frankfurt a. M. 1997. P. Ehrenfreund, Astrobiology – Future Perspectives, Dordrecht 2004. S. M. Adl u. a., „The new higher level classification of eukaryotes with empha sis on the taxonomy of protists“, in: The Journal of Eukaryotic Microbiology 52 (5)/2005; S. 399-451; D. H. Lynn, The Ciliated Protozoa: Characterization, Classification, and Guide to the Literature, New York 2008. G. Witzany (Hrsg.), Viruses: Essential Agents of Life, Dordrecht 2012.
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Strikt genommen geschieht dies noch nicht einmal in der synthetischen Biologie. Deren Strategie, eine minimal differenzierte Lebensform zu charakterisieren, vollzieht – wenn auch in technischer Hinsicht – nichts als eine nunmehr technisch geleitete weitere Evolution eines Formgefüges.10 Ausgehend von einer als einfach charakterisierten Zelle wird nach diesem Programm nun – sei es im experimentellen, sei es im theoretischen Arbeiten – immer mehr weggestrichen.11 Man reduziert die Komplexität des ohnehin schon Einfachen so zusehends weiter. Damit kann dann jeweils nachgeschaut werden, was an möglichen Funktionen solch eine reduzierte Zelle noch aufrechtzuerhalten in der Lage ist. Es kann von den in ihr charakterisierten Teilelementen so viel gestrichen werden, bis die derart reduzierte Reaktionsapparatur nicht mehr in der Lage ist, sich selbst zu erhalten. Dieser „Tod“ des Minimalorganismus markiert dann die Linie zwischen lebendig und unbelebt. Diese Linie ist aber einzig historisch, nicht analytisch gewonnen. Es ist eine Geschichte der Streichungen, die nachzuerzählen ist, die auf Grund der Erzählung dann gegebenenfalls noch zu variieren ist, so dass im Effekt der vielen dann möglicherweise zu erzählenden Geschichten die benannte Linie zwischen belebt und unbelebt zu oszillieren beginnt. Nur – begriffen ist damit noch nichts. Auch die Idee, das so gewonnene Modell des minimalen Lebens dann in den Rechner zu setzen und nunmehr im Modell die möglichen Kombinationen der identifizierten Elemente des vernetzten Ganzen darzustellen, sagt, analytisch, wenig aus. Es ist der Raum einer umfassenden Kombinatorik unter möglichst eingegrenzten Rahmenbedingungen, der hier durchmessen wird. Das, was sich dann darstellt, sind Systemkonfigurationen. Deren Summation kann eine Reihe möglicher Systemkennungen und damit eine Systematik des Organischen – im Sinne einer Art von Architektonik des Organismus12 – an die Hand geben.
10 Vgl. D. A. Drubin u. a., „Designing biological systems“, in: Genes Dev. 21/2007, S. 242-254; M. Morange, „A new revolution? The place of systems biology and synthetic biology in the history of biology“, in: EMBO Rep. 10 (S1)/2009, S. S50-S53; N. Nandagopal, M. B. Elowitz, „Synthetic Biology: Integrated Gene Circuits“, in: Science 222/2011, S. 1244-1248. 11 Vgl. C. Lartigue u. a., „Genome transplantation in bacteria: Changing one spe cies to another“, in: Science 317/2007, S. 632-638; S. Rasmussen u. a. (Hrsg.), Protocells. Bridging Nonliving and Living Matter, Cambridge, Mass. 2008. 12 Ganz im Sinne der Fortschreibung des Architektonik-Kapitels in der Kritik der reinen Vernunft, in dem auch schon Kant auf die Insuffizienz eines jeden Sys tembegriffs hinweist.
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Nur, ist es dann so wie in der Mengenlehre, in der eine Reihe von Lösungsreihen in den entsprechenden Eigenschaftsräumen der bisher bekannten Funktionen einander zugeordnet sind. Ich kann dann über die Mächtigkeit von Teilmengen solch möglicher Lösungen, von ins Unendliche weiterführenden Iterationen der einmal getroffenen Konstellationen u. ä. sprechen. Ja, es ist möglich in diesem von der synthetischen Biologie unternommenen KombinatorenKalkül Untermengen von gleichartig Reagierenden zu bilden und neue, so bisher noch nicht formierte Formen zu postulieren und gegebenenfalls gar zu synthetisieren. Gewonnen ist so ein umfassendes Rüstzeug im Umgang mit Organizität.13 Was ein Organismus ist, ist damit etwas, was sich in dieser Maschinerie beschreiben lässt. Was dies dann aber an sich darstellt, bleibt offen. Entsprechend muss dann auch der Begriff selbst Interesse gewinnen. Schließlich ist er in solch einer Kombinatorik nur zu variieren, aber nicht zu definieren. Es gilt nun also danach zu fragen, was die verschiedenen Analysten und Synthetisierer letztlich tun, wenn sie immer neu variierte Systembedingungen beschreiben. Diese Bedingungen nun einfach zu öffnen, die einzelnen Faktoren ihrerseits als Funktionen zu umschreiben und diese gegebenenfalls auch noch miteinander zu verkoppeln, erlaubt es, ein immer komplexeres Gefüge von Systemverzahnungen zu erarbeiten. Allerdings weitet sich in solch einem Schematismus das vorgegebene Programm bloß aus. Ein ähnliches Problem ergab sich im Kontext der Rechentechnik im Umgang mit sogenannten neuronalen Netzen.14 Diese stellten gegenüber herkömmlichen Programmierungen, die anhand eines Kataloges bestimmte Einstellungsmuster vorgaben, eine Alternative dar. Hier wurde dem Rechner eine Eingabesituation vorgegeben, auf die er sich einstellte. Das geschieht in einem zweilagigen System, in dem in eine Eingangsebene ein Signal eingelesen wird, und zwar nicht in einer sequenziellen Folge, sondern direkt als Muster, das, transformiert nach Maßgabe der Reizdetektion, ein Bild im Rechner konfiguriert. Dies wird über Querverbindungen in eine Ausleseeinheit weitergereicht, in der nun nach Maßgabe der Einlesemodi ein Output differenziert wird. Insoweit sind dann bestimmte Signalein13 Vgl. S. A. Benner, M. A. Sismour, „Synthetic biology“, in: Nature Reviews Ge netics 6/2005, S. 533–543; K. Köchy, A. Hümpel (Hrsg.), Synthetische Biologie. Entwicklung einer neuen Ingenieurbiologie?, Dornburg 2012. 14 Vgl. hierzu H. Ritter, T. Martinetz, K. Schulten, Neuronale Netze. Eine Einfüh rung in die Neuroinformatik selbstorganisierender Netzwerke, Bonn 1991.
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heiten als solche identifiziert und können dann weiter bearbeitet werden. Ein Beispiel ist das automatische Erkennen von Schrauben auf einem Förderband, aus dem nun ein Robot nicht normgerechte und damit fehlerhafte Stücke herausgreift. Bei Produktionsumstellungen wird der Algorithmus der Ausleseeinheit gelöscht; neue Normteile werden über die Eingabeeinheit vorgegeben, so dass sich ein neuer Auslesemodus einstellt. Nach diesem operiert dann der Robot im Weiteren. Die Reizeingabesituation führte zu einer einfachen Repräsentation, die nun mit anderen Repräsentationen verglichen wurde – im Sinne eines einfachen Überblendens – und somit eine einfache Kategorienbildung in auf ein eingelesenes Bild passende und unpassende Reizeingaben ermöglicht. Das Problem liegt darin, dass ein einmal eingelesenes Bild nunmehr sehr enge Vorgaben für mögliche weitere Zuordnungen neu eingelesener Bilder einstellt. Das ist z. B. dann der Fall, wenn eine bestimmte Einstellungsvorgabe bei in unterschiedlichen Szenarien aufgestellten Maschinen variiert werden soll. Nach der vorab beschriebenen Methode ist ein vergleichsweise engmaschiges Raster vorgegeben. Günstig wäre es, gegenüber einer in Grenzen variierenden Umwelt, wenn diese feste Einstellung noch einmal variiert werden könnte, ohne die gesamten Systemvorgaben neu einstellen zu müssen. Die einfachste Lösung für solch ein Problem wäre, die einmal eingestellten Parameter noch einmal zu variieren. Dies ist die Grundidee der sogenannten Fuzzy-Technology.15 Die damit ermöglichte Fuzzifizierung der Systeme gab da, wo sonst definierte Werte in das System eingelesen wurden, bloß einen Parameterbereich ein, im dem einzelne Werte, mittels eines Zufallsgenerators, fortlaufend neu eingestellt wurden.16 Dabei wurde abgeglichen, ob bei Variation der Parameterbereiche die Repräsentationsbedingungen optimiert waren. Die Systeme konnten sich somit in einem vorgegebenen Rahmen noch einmal optimieren und in der dann gefundenen, jeweils auf die spezielle Situation passenden Kombinatorik stabilisieren. Was da geschah, ist – konzeptionell gesehen – mit den vorab beschriebenen Syntheseversuchen einer sich synthetisch nennen-
15 L. A. Zadeh, „Fuzzy sets“, in: Information and Control 8/1965, S. 338-353; ders., „Making computers think like people“, in: IEEE Spectrum, August/1984, S. 2632; ders., „Fuzzy logic = Computing with words“, in: IEEE Transactions of Cir cuits and Systems 4(2)/1996, S. 103-111; H.-J. Zimmermann, Fuzzy Technolo gien. Prinzipien, Werkzeuge, Potentiale, Düsseldorf 1993. 16 R. Seising, Die Fuzzifizierung der Systeme, Stuttgart 2005.
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den Biologie vergleichbar. Es geht um ein erstes Infrage-Stellen der festen Konturen einer Systemabstimmung: Diese erste Öffnung zeigt die Grenzen jeder systembezogenen Darstellung organischer Differenzierung. Zu fragen ist damit dann aber: Gibt es neben solch einem Programm der Öffnung der Konstellationen einer Systemarchitektur auch noch einen prinzipiell anderen Weg, der das Leben eben nicht als avanciertes System, sondern als spezifisch strukturiertes Gefüge möglicher Reaktibilität ausweist? Das wäre dann ein Begriff des Organismus, der sich nicht einfach aus der Systematik systemischen Denkens ableitet, sondern der umgekehrt das System als Moment in einer umfassend übergreifenden Strukturierheit charakterisiert, die eben nicht einfach auf – und seien es erweiterte – Systemgegebenheiten zurückzugreifen vermag.17 Die derzeitigen Lösungen im Modell, in einer zumindest visuellen Plausibilität, die vormalige Problematik der Begriffe des Organischen zu fassen, bleiben demgegenüber fragwürdig. Schließlich arbeiten diese visuellen Modelle mit der bloßen Passung, der Analogie zwischen dem im Modell Dargestellten und der in vivo registrierten Strukturiertheit.18 Sie zeigen damit auf, dass für die uns mögliche Einsicht in die Strukturiertheit von Teilreaktionen ein auch quantifizierendes Modell zur Verfügung steht. Dies ist in sich stimmig und kann uns auch im Weiteren Umgehen mit der im Modell erfassten Realität Leitlinien formieren. Und dies wird es auch so lange tun, bis wir gezwungen sind, die es konstituierenden Randbedingungen zu variieren. Eines dieser Modelle, das uns einen Handlungsraum verfügbar macht, ist die Operationalisierung unserer Kosmologie durch die Uhr, die uns die Konstellationen unseres Planetensystems in einer Weise verfügbar macht, dass wir nach ihr unsere Tageseinteilung und die Abstimmung von Handlungsabläufen auch über unser engeres Umfeld hinaus abstimmen können. Es ist diese Transformation einer Kosmologie, anhand derer wir uns auch selbst in unserem Existieren bemessen. Dabei gibt die Mechanik – oder mittlerweile auch nur die Elektronik – der Uhr keineswegs eine Miniatur, son-
17 Vgl. T. Cheung, Die Organisation des Lebendigen. Die Entstehung des biolo gischen Organismusbegriffs bei Cuvier, Leibniz und Kant, Frankfurt a. M., New York 2000. 18 O. Breidbach, „Imaging science: The pictorial turn in bio- and neurosciences“, in: O. Grau (Hrsg.), Imagery in the 21st Century, Cambridge, Mass. 2011, S. 111127.
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dern eben nur ein Modell der in ihr abgebildeten Kosmologie. Das Modell ist konsistent in den verschiedenen Realisationsformen – mechanisch und elektronisch – darstellbar und gibt uns doch weder einen Begriff von unserem Planetensystem noch letztlich gar einen Begriff von Zeit. Letztere wird von ihr vielmehr nur in einem für uns praktikablen Sinne skaliert und so als eine uns eigene Kulturzeit konstituiert.19 Solch ein Verhältnis zwischen Analyse, Abbildung, Modell und Handlungsausrichtung – und damit möglicher Synthese – ist hier noch vergleichsweise einfach nachzuzeichnen, wohingegen im Kontext der Vorstellungen des Organischen, wo wir ja bisher noch kein wirklich schlüssiges Modell eines Organismus vorliegen haben (sondern immer wieder nur Modelle von dessen Realisationen), etwas in dieser Weise noch nicht einmal im Ansatz verfügbar ist. Zu fragen ist dann auch, ob das Problem, dass sich in den vorliegenden Modellen der Organismus immer nur als System begreifen lässt, nicht auch darauf hinweist, dass ein eigener Begriff des Organismus zumindest in operationaler Hinsicht eben nicht konturiert ist. Damit ist also in einem ersten Schritt zu einer systematischen Analyse dessen, was ein Organismusbegriff leisten könnte, danach zu fragen, wie er in den Wissenschaften gebraucht wird und wurde. Darzustellen ist die Geschichte eines Umgangs mit diesem Begriff, in dem Linien zu kennzeichnen sind, in denen der momentane Begriffsgebrauch erwachsen ist. Solch ein Ansatz kann sich erweitern um eine Phänomenologie des Organischen, um so die Frage nach der Möglichkeit einer Systematisierung des Organischen in einem eigenen Begriff des Organismus zumindest in ihrem Ansatz sub stantiierter zu gestalten.
II. Problemexemplifizierung Hier nun können zunächst nur im Ansatz – und dabei auch wiederum nur exemplarisch – einzelne der auch innerbiologisch diskutierten Linien angerissen und in der aus ihnen erwachsenden Perspektivierung diskutiert werden. 19 Vgl. hierzu O. Breidbach, „Zeit-Dimension und Verzeitlichung. Das Maß der Wissenschaften“, in: M. Gamper, H. Hühn (Hrsg.), Zeit der Darstellung. Ästheti sche Eigenzeiten in Kunst, Literatur und Wissenschaft, Hannover 2014, S. 345-368.
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1) Da ist zum einen eine Linie einer physiologischen Fassung des Organischen aufzuweisen, in der sich der Pragmatismus der Müller-Schule des 19. Jahrhunderts fortschreibt.20 Dies ist eine Denkweise, in der, in direkter Abgrenzung zu dem tradierten morphologischen Denken, Struktur und Strukturbeziehungen in linear zu beschreibende Reaktionsgefüge aufgelöst werden sollten, die dann aber wieder als einander überlagernd dargestellt wurden. Auf verschiedenen Ebenen der biowissenschaftlichen Analyse waren so Funktionalitäten als Resultat einer – evolutiv verstandenen – Ausweitung vorgegebener Entwicklungsgrundlinien (und zwar in den Schrittfolgen einer physiologisch detektierbaren Komplexitätssteigerung) begriffen. Die Darstellung des Organismus, als eines sich derart in Reaktionsfolgen konstituierenden Gefüges, war dann auch in die strukturelle Darstellung zu übersetzen. Ein morphologisches Merkmal war einerseits als Resultat eines physiologisch nachzuzeichnenden Aufbauprozesses, andererseits war es als Teil einer es nutzenden Reaktion zu beschreiben. Damit wäre dann etwa ein Zahn nicht nur als an sich zu bestimmende Gestalt zu betrachten, sondern als in (genetisch bestimmten) physiologischen Reaktionen erwachsenes Gebilde. Dabei ist er dann aber für das ihn besitzende Individuum auch die Voraussetzung dafür, ganz bestimmte Nahrungsressourcen für diesen Organismus zu erschließen. Er ist also als Moment eines physiologischen Reaktionsgefüges, als Ausdruck einer Entwicklung, die ein bestimmtes physiologisches Programm – wie die Nutzung von Fleisch als Nahrung – ermöglichte und andererseits aber eben auch das Resultat einer Ontogenese, die ihn entstehen und in Abhängigkeit von den verfügbaren Ressourcen zur Ausbildung kommen ließ. In dieser Hinsicht kann man dann in den verschiedenen Ansätzen über die Physiologie der 1890er Jahre hinaus auch in der Morphologie ein entsprechendes Umgehen mit der Analyse des tierischen Merkmalbestandes nachzeichnen. Aufzuweisen ist eine Vielfalt von Ansätzen, wie sie von Gegenbaur und seinen Schülern,21 in der vergleichenden Phylogenese von Naef über Hennig bis in die Konzeptionen der modernen
20 L. Otis, Müller’s Lab, New York, Oxford 2007; B. Lohff, „Gab es eine JohannesMüller-Schule?“, in: R. Stolz (Hrsg.), Wissenschaft und Bildung, Alma mater Jenensis. Studien zur Hochschul- und Wissenschaftsgeschichte 7/1991, S. 169183. 21 L. K. Nyhart, Biology Takes Form: Animal Morphology and the German Univer sities, 1800–1900, Chicago 1994.
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molekularen Genetik (Homeobox etc.) getragen wurde.22 Hier war letztlich in den vielschichtig erscheinenden, in der Essenz aber seriellen Notationen der als Kommandoeinheiten verstandenen Gene die direkte Lösung der Gegenbaur’schen Vorstellungen einer sich komplex abstimmenden Funktionalität in einem sich entwickelnden Organismus formulierbar. Damit bleibt auch der Grundansatz der artificial life-Forschung, der zufolge eine Kombinatorik des Bekannten dazu genutzt werden kann, komplexere in sich selbstbestimmte und selbst-regulatorische Strukturen zu erschaffen, in diesem Kontext beschreibbar.23 Hieran setzen hinwiederum Vorstellungen an, die ihrerseits die Gene als Regulationseinheiten, und damit als Strukturen fassen, die dann gegebenenfalls auch als direkt topologische Strukturen in der Organisation zellulärer Abstimmungsprogramme beschrieben werden. So wird eine Proteinsequenz zu einer Hardware, die in den verschiedenen Verteilungsmustern deren Funktionalität in unter schiedlicher Weise auszuschreiben erlaubt. Das sind zum einen Vorstellungen, die in der Verteilung von Regulationseinheiten über mehrere Chromsomen oder auch in deren Verteilung über einzelne Chromosomen Organisationsprozesse beschreiben, in denen Ableseverhalten und Auslesemöglichkeiten der genetischen Informationen optimiert und demnach evolviert werden können.24 Gleichsam plakativ greifbar ist dies in einer vergleichenden Betrachtung der Gesamtentwicklung des pflanzlichen Genoms, in der darzustellen ist, wie sich Teilsequenzen der genetisch selbständigen Plastiden und Mitochondrien zusehends in den Kern verlagern.25 Hier geht es um eine höhere Effizienz des Steuerungsverhaltens. Organizität im
22 O. Breidbach, „Post-Haeckelian comparative biology – Adolf Naef’s idealistic morphology“, in: Theory in Biosciences 122/2003, S. 174-193; C. Hübner, „Hox genes, homology and axis formation: The application of morphological concepts to evolutionary developmental biology“, in: Theory in Biosciences 124/2006, S. 371-396. 23 Vgl. C. Adami, Introduction to Artifical Life, New York, Berlin 1998. 24 S. C. R. Elgin, L. Workman, Chromation Structure and Gene Expression, Oxford 2000; K. Scherer, J. Jost, „Gene and genon concept: Coding versus regulation“, in: Theory in Biosciences 126/2007, S. 65-113. 25 F. Hellwig, V. Goremykin, K. I. Hirsch-Ernst, S. Wölfl, „The chloroplast genome of Nymphaea alba: Whole-genome analyses and the problem of identifying the most basal angiosperm“, in: Molecular Biology and Evolution 21 (7)/2004, S. 1445-1454.
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Sinne einer strukturellen Rückkopplung funktioneller Steuerungseinheiten wird damit auf mehreren Ebenen konturierbar.26 Dabei ist natürlich zu berücksichtigen, dass auch Organismen im klassischen Verständnis immer als Elemente einer spezifischen Lebensgemeinschaft zu verstehen sind, auf die hin sie adaptiert und in der sie lebensfähig sind. Tiefseefische können wir nicht einfach an die Oberfläche bringen. Varietäten von Höhlenfischen, die eine hohe Toleranz hinsichtlich des Salzgehalts des Wassers besitzen, sind nicht einfach in den Außenbereich ihrer Höhle zu versetzen oder vice versa. Die verschiedenen Formen sind nur in ihrem Habitat lebensfähig. Auch dies muss zu denken geben – und zwar im Blick auf unsere Vorstellungen von der Regulationsfähigkeit und der Abgrenzung der zu betrachtenden Organisationsbegriffe. Die Frage wird so allerdings kaum gestellt, oder wenn, in einem eher mythischen Kontext einer kaum mehr explizierbaren Gaia-Welt, wie sie in der einfachen Brechung zuletzt im Film Avatar kommuniziert wurde.27 2) Solche Überlegungen um die Organisation und die Organisationsmöglichkeit werden dann speziell in der Frage nach der Übergangsphase von Anorganik zu Organik virulent. Die zentralen hier zu benennenden Begriffe sind dabei schon in diesem Satz gefallen. Damit stellt sich die Frage a): Gibt es eine klare Abgrenzung dieser beiden Sphären? Weiter die Frage b): Was sind die Kriterien zu solch einer Abgrenzung,28 und schließlich die Frage c) im Blick auf mögliches extraterrestrisches Leben: Sind diese Bedingungen als strukturelle Bedingungen von den spezifischen Eigenarten des Planeten Erde zu lösen,29 in denen sich auch die technischen Verfahren etwa eines Craig Venter bewegen, der ja nichts anderes macht, als im Sinne einer negativen Organologie aus einem vorhandenen Organisationsbestand immer weitere Teilmomente zu streichen und dies – wie oben schon beschrieben – so lange zu tun, wie sich der so erhaltene Restorganismus an sich und in sich stabilisiert? 26 W. Martin, E. V. Koonin, „Introns and the origin of nucleus-cytosol compart mentalization“, in: Nature 440/2006, S. 41-45. 27 J. Lovelock, Gaia: A New Look at Life on Earth, Oxford 2000; R. Bondì, Blu come un’arancia. Gaia tra mito e scienza, Torino 2006. 28 S. Rasmussen u. a., „Transitions from non-living to living matter“, in: Science 303/2004, S. 963-965; J. Hacker, M. Hecker (Hrsg.), Was ist Leben? [= Nova Acta Leopoldina NF 116], Stuttgart. 2012. 29 P. Ward, Life as We Do Not Know It: The NASA Search for (and Synthesis of) Alien Life, New York 2005; I. Gilmour, M. A. Sephton, An Introduction to Astro biology, Cambridge, Mass. 2004.
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3) Und zum Letzten wird dann auch im Kontext eines Verständnisses evolutiver Prozesse der Begriff des Organismus thematisch.30 Ist doch in dem Problemfeld der Entstehung von Komplexität in einem Organismus, eben auch in der spezifischen Abstufung von Geweben, Zellen und variierenden ontogenetischen Differenzierungsstufen sowie aber auch in der Abfolge interagierender und sich damit beeinflussender Organismen, zu fragen, wie sich organische Organisationen in dieser Komplexität formieren und dabei in ihren Details abstimmen.31 Eine Idee ist, die Komplexität einer in sich abgestimmten Organisation in Teilbereiche aufzulösen, die sich zunächst in sich bestimmen. Kirschner und Gerhart verweisen auf solche Kompartimentierungen und finden in deren Abstimmung aufeinander auch strukturelle Freiräume in einem Organisationsgefüge.32 Sie besprechen etwa Baldwin und dessen Vorstellungen, über Verhaltensweisen Umwelt-Toleranzwerte zu optimieren;33 und letztlich verweisen sie auf Schmalhausen,34 der im Konzept der Reaktionsnorm, in der Reaktionen differenziert einzustellen sind, den Phänotyp und damit die explizite Ausprägung von Organisation funktionell aufeinander abgestimmter Reaktionen in den Fokus seines Interesses stellte. Da ist dann a) Organisation als Überlagerung von funktionellen Strukturen – in deren Entwicklung, b) die Frage nach der Spezifität des Organischen und c) die Frage der Freiheitsgrade in einer differenziert kompartimentierten Systematik von Reaktionsgefügen darzustellen. Im Weiteren ist diese – selektiv und pointiert gestaffelte – Ideenfolge zu untersetzen und zu substantiieren. 30 Vgl. S. J. Gould, The Structure of Evolutionary Theory, Cambridge, London 2002. 31 P. Clayton, Emergenz und Bewusstsein. Evolutionärer Prozess und die Grenzen des Naturalismus, Göttingen 2008; J. Greve, A. Schnabel (Hrsg.), Emergenz. Zur Analyse und Erklärung komplexer Strukturen, Berlin 2011; A. Stephan, Emer genz. Von der Unvorhersagbarkeit zur Selbstorganisation, Paderborn 2005. 32 M. Kirschner, J. Gerhart, The Plausibility of Life: Resolving Darwin’s Dilemma, Yale 2005. 33 E. Crispo, „The Baldwin effect and genetic assimilation: reviviting two mecha nisms of evolutionary change mediated byphenotypic plasticity“, in: Evolution 61/2007, S. 2469-2479. 34 I. I. Schmalhausen, Die Evolutionsfaktoren. Eine Theorie der stabilisierenden Auslese, Stuttgart 2009.
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III. Lösungsansätze a) Organisation als Überlagerung von funktionellen Strukturen Damit ist zunächst die Auflösung von Gestaltungen in Funktionsbeziehungen ermöglicht, die gegebenenfalls über mehrere Ebenen vernetzt sind, und in diesen somit aus einer vereinfachenden seriellen Fassung herausgenommen erscheinen. Dabei werden Gestaltungen in solcher Verzahnung als eigenständige Einheiten von gegebenenfalls nur temporärer Bedeutung greifbar:35 Das gilt in der modernen molekularen Genetik, in der Strukturausprägungen als Resultate eines Entwicklungsprogramms interpretiert werden, über die Reaktionsräume nach bestimmten Gesetzmäßigkeiten angelegt sind, die sich einer direkten Selektion der einzelnen in den späteren Reaktionsräumen verspannten Reaktionsschichtungen vorsetzen. Dies ist die vielleicht etwas abstrakte Bestimmung der Ergebnisse einer als Evo-Devo beschriebenen Auffassung, in der sich die Evolution von Ontogeneseprogrammen nicht einfach als eine Sequenz von Funktionsentscheidungen, sondern als ein komplexes pattern-formation-Gefüge darstellt, in dem die Sequenz selbst Bedeutung gewinnt.36 Und das in verschiedener Hinsicht – beispielhaft herausgegriffen sei hier die segmentierte Organisation der Insektengestalt – die diese als ein patchwork von Differenzierungsgrundvorgängen ausweist, deren basale Formen immer wieder neu überlagert werden, so dass sich schließlich aus dem Gefüge solcher übereinander geschichteten Regulationskaskaden ein Muster von Wechselwirkungsgefügen aufbaut, in dem Gestalt eine ganz eigene Bedeutung gewinnt.37 Zu finden sind dynamische Interaktionen, die im Modell des Gradienten in eine sequentiell abzuarbeitende Architektur überführt scheinen, die augenscheinlich immer mehr als solch bloße Abfolgen umzeichnet. 35 Vgl. hierzu O. Breidbach, „Concepts of morphology. Some historical remarks“, in: O. Breidbach, F. Vercellone (Hrsg.), Concepts of Morphology, Milano, Udine 2008, S. 9-25. 36 S. B Carroll, Endless Forms Most Beautiful: The New Science of Evo Devo and the Making of the Animal Kingdom, New York 2005; L. Olsson, U. Hoßfeld, O. Breidbach, „Preface: From evolutionary morphology to the modern synthesis and ‚evo-devo‘: Historical and contemporary perspectives“, in: Theory in Biosci ences 124/2006, S. 259-263. 37 Vgl. A. Lawrence, The Making of a Fly: The Genetics of Animal Design, Oxford 1992.
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Und dann zeigen sich auch verschiedene Lösungen von daraus entstehenden Gestaltungen. Diese Verschiedenheiten machen es erforderlich zu überdenken, inwieweit solche Organizität an Entitäten im Sinne von Individuen gebunden ist, oder sich etwa wie in der Mykorhizza der Pilze eine Art syncytielles Gefüge von verschiedenen Individuen verschiedener Arten bildet, die in ihren jeweiligen individuellen Konfigurationen variieren aber durchaus einzelne Genbestände austauschen. So sind sie dann im expliziten Sinne stammübergreifend organisiert; und so wird ein Wald zu einem eigenen Organismus. Wobei aber einzelne Baumriesen ein Austauschgeflecht erster Ordnung geformt haben können, das – im Kontext Baum-Pilz – Gestalt gewinnt. Hier ist dann auch Evo-Devo anders und zwar nicht einfach genetisch als evolutionäre Sequenz darzustellen. Es sind eben ganz verschiedene Artlösungen evolviert, die selbst in den Formationen ihrer Ordnungen evolutiv interagieren; eine neuere Arbeit von Kunz über die Formation des Artbegriffes zeigt dies auf. Kommen wir da weiter mit der Idee einer Kombinatorik des Bekannten? In Sichtung der Artificial-life-Literatur kommen mir hier Bedenken, wie immer nur in den Variationen eines Screenings Organizität nach vorgegebenen Randbedingungen als artificial life abgestimmt, in sich selbst ausbuchstabiert, aber nicht in einer ihr eigenen Organisiertheit begriffen wird. Das gilt bis auf die Modell ebene, in der – etwa in der Robotic – Strukturen nebeneinander gesetzt, kombiniert und kompiliert werden.38 Das Neue ist dann die Erweiterung des Bekannten, so etwa bei Ralf Der und Nyhardt Ay, die in einer Ausweitung der Kombinatorik klassischer systemtheo retischer Ansätze – zumindest in deren mathematischer Struktur – einen Weg sehen, die vorgegebenen Denkmuster zu erweitern.39 Sie verbleiben aber in einer Systematik des Systematischen im oben dargestellten Sinne. Die Signifikanz eines solch verengten Organisationskonzeptes zeigt sich in der an ihm möglichen Variabilität. Hier ist das Denken – wie es mir scheint – in einer Sackgasse. Die bloße Forderung nach einem Mehr an Komplexität, der Ausbau der Kombinatorik über verschiedene Ebenen hängt dabei – auch in der Analytik – an einer Art von Skaleninvarianz-Modell, das ich 38 Vgl. S. Nolfi, D. Floreano, Evolutionary Robotics:The Biology, Intelligence, and Technology of Self-Organizing Machines, Cambridge, Mass. 2000. 39 N. Ay, R. Der, M. Prokopenko, „Guided self-organization: Perception-action loops of embodied systems“, in: Theory in Biosciences 131/2012, S. 125-127.
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im Weiteren im Kontext der Endosymbiose-Theorien dingfest machen möchte.40 Die Frage der Alternativlösungen, in denen dann etwa der Schwarm als Lösung solcher Organisationsschichtungsprobleme offeriert wird, greift nicht.41 Hier sind die einzelnen Einheiten in einer bestimmten Weise programmiert, die sich für den Schwarm als erfolgreich erwiesen hat, weil in den einfachen Interaktionen die so gesteuert sind, komplexere Gesamtverhaltensmuster evoziert werden, die so in der Tat nicht auf der Ebene der einzelnen reflektorischen Bestimmung, wohl aber in der Interaktion auf verschiedenen aneinander ansetzenden Abstimmungen zu zeichnen sind. Das mag wie im Plot von Lems Der Unbesiegbare erscheinen, wo die Schwarmintelligenz schlicht in der Bündelung elektromagnetischer Induktionsvorgänge bestand, die konkurrierende intelligente Systeme einfach unterdrückten.42 Das kann im Fischschwarm in einer über das Seitenlinienorgan abgestimmten, reflektorisch organisierten, doch äußert rasch ablaufenden Bewegungskoordination bestehen; oder bei der Heuschrecke in dem „Kommando“, einfach in der Luft zu bleiben, da die Individuen einer Art durch die Winde sowieso von a nach b verfrachtet werden und es nur gilt, oben zu bleiben.43 Auf der anderen Seite wird auch in der Ausweitung der Komplexität einer Systemreaktion keine prinzipiell neue Ebene der Reaktionssteuerung erreicht; wohl können sich mehr Freiheitsgrade einfügen lassen, womit das Gesamtsystemverhalten sehr viel breiter aufgestellt ist, und die einzelnen Funktionsbezüge in einen loseren Bezug gesetzt werden können – wir kennen das in der Organisation über chemische Reaktionskomplexe hinweg etwa im Bereich der Synapsen, die so etwa in den Abstimmungen der Reaktionskaskaden der Neuropeptide durchaus nebeneinander aufgebaut sind und
40 G. I. McFadden, „Primary and secondary endosymbiosis and the origin of plas tids“, in: Journal of Phycology 37/2001, S. 951-959. 41 Vgl. http://lydiapintscher.de/uni/schwarmintelligenz.pdf (abgerufen am 20.6. 2013). 42 S. Lem, Der Unbesiegbare, Frankfurt a. M. 1967. 43 J. Buhl u. a., „From disorder to order in marching locusts“, in: Science 312/2006, S. 1402-1406; M. L. Anstey u. a., „Serotonin mediates behavioral gregarization underlying swarm formation in desert locusts“, in: Science 323/2009, S. 627630.
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sich wechselseitig abfangen.44 Dies gilt für Zellen in einem Gewebe, für die Schichtungen eines Gewebeverbandes, bis hin zu den Interaktionen in einer Population; oder auch über Verhaltenskompensationen, wie sie sich im Extrem bei Split-Brain-Patienten aufweisen lassen. Das sind Patienten, deren Hirnhemisphären durch eine Läsion getrennt sind, so dass die dort jeweils nur in einem Hirnbereich organisierten Funktionsareale nicht mehr physiologisch gekoppelt sind. Die Patienten behelfen sich dadurch, dass sie Dinge benennen, und so über die akustischen Bahnen die direkte Trennung unterlaufen, oder auch indem sie Dinge so im Sehfeld positionieren, dass diese für beide physiologisch zunächst entkoppelt erscheinenden Hirnhälften greifbar sind. Das visual cueing ersetzt hier die direkte innerneuronale Kommunikation im Hirngewebe.45 All das zeigt, dass Komplexität nicht einfach als Vergrößerung, als immer weitere Anlagerung von Neuem, zu beschreiben ist, sondern sich in dieser komplexen pattern formation zusehends Valenzen neben- und übereinander legen, in denen eine klare Funktionsschichtung verschwimmt.46 Diese Überlagerung einer offen gehaltenen Strukturiertheit, die gegebenenfalls in dieser Offenheit noch ontogenetisch bestimmt ist, trägt insoweit eine Geschichte und ist auch potentielles Motiv weiterer sich an ihr anlagernder Geschichten. Das Beispiel des Autostaus mag in der einfachsten Fassung, in diesem Falle in einem schon seriell Komplexität generierenden Modell, aufzeigen, wie hier durch eine einfache Überlagerung von Ereignissen, die sich in diesen bildenden Transienten möglicher Ab-
44 H. G. Heinzel, H. Böhm, D. Weigeldt, „Die Kooperation neuraler Netzwerke als Grundlage für die Flexibilität rhythmischer Bewegungen“, in: Verh. Dtsch. Zool. Ges. 86/1993, S. 165-176; J. M. Weimann u. a., „Modulation of oscillator interac tions in the crab stomatogastric ganglion by crustacean cardioactive peptide“, in: Journal of Neuroscience 17/1997, S. 1748-1760; H. Dircksen, „Crustacean bioac tive peptides“, in: A. J. Kastin (Hrsg.), Handbook of Biologically Active Peptides, New York 2013, S. 209-221. 45 R. W. Sperry, „Brain bisection and mechanisms of consciousness“, in: J. C. Eccles (Hrsg.), Brain and Conscious Experience, Heidelberg 1966, S. 298-313; R. W. Sperry, „Mental unity following surgical disconnection of the cerebral hemi spheres“, in: The Harvey Lectures Series 62/1968, S. 293-323. 46 G. R. Bock, J. A. Goode (Hrsg.), Complexity in Biological Information Process ing, New York 2001; L. Boi, „When topology meets biology ‚for life‘: Remarks on the way in which topological form modulates biological function“, in: L. Boi, C. Bartocci, C. Sinigaglia (Hrsg.), New Trends in Geometry, and Its Role in the Natural and Living Science, London 2008.
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stimmungen außer Phase setzen. Das Resultat solchen Entgleitens aus engen Funktionskreisen produziert im Freiland den Stau. Damit haben wir eine erste Näherung für einen momentan zu diskutierenden Organisations- und Organismusbegriff, der sich eben nicht einfach auf solche Abstrakta wie Emergenz und Komplexität zurückzieht, sondern sie in der realen Überlagerung von Freiheitsgraden ausliest und demnach nicht einfach in der Schichtung, sondern in der Historizität der diese Schichtungen bestimmenden Reaktionsfolgen Freiheitsgrade formuliert sieht, in denen sich das Systematische des Systems in einer neuen Weise abfangen lässt. Wir können nun fragen: Wie organisiert sich da etwas? Was heißt es, dass sich Kompartimentierungen einziehen oder gegebenenfalls auflösen? Das pflanzliche Genom gibt hier ein einfaches Beispiel.47 Ist in der Evolution höherer Pflanzen doch zu beobachten, wie sich Momente des genetisch selbständigen Plastiden- und Mitochondriengenoms zusehends in den Kern verlagern. Hier geht es anscheinend um eine höhere Effizienz des Steuerungsverhaltens, was zeigt, wie hier, auch auf der Ebene der chemischen Reaktionskomplexe, topologische Organisation bedeutsam ist. Auch hier bekommt so Organizität Konturen. Dies zeigt ferner, dass es eben nicht immer einfach nur um Öffnungen, sondern um ein Nebeneinander von Öffnungen und Schließungen geht. Dieses Offen-Sein, auch zum Zuwachsen, zeichnet eine konsequent historische Sicht aus, die dann Organisationen nicht im Sinne einer Skalierung von Komplexitätsschichtungen bestimmt, sondern in deren Historizität und der darin gegebenen Perspektivierung zu bewerten sucht. Beschreiben, wie hier zu denken ist, wird, in seiner kritischen Funktion, in der Analyse des zunächst aus den methodischen Zwängen einer vergleichenden Molekulargenetik erwachsenen Postulats von Luca deutlich.48 Dieser erscheint als Kind der Zwänge einer logischen Analyse. Diese hat die Vielfalt einer als Varianz begriffenen Antwort in der Fortschreibung von Organisationsbeziehungen immer auf einen gemeinsamen Grund rückgekoppelt und da47 Vgl. M. K. Basu u. a., „Evolutionary dynamics of introns in plastid-derived genes in plants: saturation nearly reached but slow intron gain continues“, in: Molecular Biology and Evolution 25/2008, S. 111-119. 48 C. Woese, „The universal ancestor“, in: PNAS 95/1998, S. 6854-6859; N. Glans dorff, Y. Xu, B. Labedan, „The last universal common ancestor: Emergence, constitution and genetic legacy of an elusive forerunner“, in: Biology Direct 3 (29)/ 2008, S. 1-35; D. L. I. Theobald, „A formal test of the theory of universal common ancestry“, in: Nature 465/2010, S. 219-222.
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mit einen Baum der logischen Entscheidungsprozesse naturalisiert, der – mit Aristoteles – in einzelnen Bereichen zu radiieren vermag, an sich aber in der einfachen Folge immer neuer Spezifikationen fortzuschreiten scheint. So ist die Annahme methodisch notwendig. Dieses Postulat resultiert aus der Konsequenz, dass zwei Dinge immer in Bezug auf ein Drittes verglichen werden, aus dem sie als entstanden zu denken sind. Zwei Momente einer Genealogie sind demnach immer auf einen ihnen gemeinsamen Ursprung bezogen, ansonsten funktioniert der Vergleich nicht. Schließlich wird A mit C nur dadurch vergleichbar, dass es auf ein ihnen gemeinsames x – als genealogischen Vorlauf – bezogen werden kann. Der invertierte Entscheidungsbaum ist dann der Stammbaum, der aber – logisch notwendig – einen allen Ästen gemeinsamen Stamm notwendig macht. Da ist das Postulat von Luca schlicht die Konsequenz eines derartigen Vorgehens. Die eingehende Analyse des Übergangsfeldes von Organik und Anorganik straft diese Logik nun allerdings ab. Zu postulieren ist nicht ein einfacher klar von einem gemeinsamen Vorfahren ausgehender Weg in der Entstehung von Organismen, sondern ein Nebeneinander von Reaktionen. Wobei diese sich auch immer wieder verzahnen und sich, haben sie sich in einer Form etabliert, dann in der gewonnenen Struktur forttragen lassen. Dabei werden in einem sich fortlaufenden Überheben eines ersten autoregulativen Reaktionsgefüges immer weiter kompartimentierte Raumschichtungen in der Verteilung chemischer Reaktionskomplexe entstehen.49 Bis sich schließlich in diesem Gefüge, in diesem Nebeneinander eine Organisation ausweist, in der nun ihrerseits Kompartimentierungen möglich sind.50 So speist sich aus dem Auswachsen eines einfachen Reaktionsraumes ein letztlich direkt abgegrenzter, im Weiteren dann gegebenenfalls lipidumschlossener Raum innerkompartimentaler Reaktionen. Fangen diese sich in diesem Rahmen selbst auf, indem sie weitere Reaktionsbereiche inkorporieren und in den Grundmodus der schon etablierten innerkompartimentalen Interaktion einbinden, so erwächst so etwas wie eine einfache Assimilation. In dieser kann sich das etablierte Gefüge in fortlaufender Variation der Teilkomponenten fortschreiben und so eine Organi49 Vgl. S. Kauffman, The Origins of Order: Self-Organization and Selection in Evolution, Oxford 1993. 50 Vgl. G. Wagner, M. D. Laubichler, „Character identification in evolutionary bio logy: The role of the organism“, in: Theory in Biosciences 119/2000, S. 20-40.
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sation entstehen lassen, die nicht mehr nur als ein einfaches System aufzuaddierender Teilfunktionen zu beschreiben ist. Damit gewinnen wir das Modell einer sich fortschreibenden Organisation, das nun dem einfachen Modell eines logischen Entscheidungsbaumes entgegengesetzt werden kann. Schließlich findet sich die Folge der Verzweigungen übersetzt in die Folge der Segmentierungen; und so wird die Endosymbiose zu einem Modell einer rekursiven Fixierung eines an sich einfachen Organisationsmodells für die Strukturierung des Organismus. Ich melde hier Diskussionsbedarf an. Der Überganz von diesen Szenarien der Lebensentstehung zur Exobiologie ist dann eher phantasielos, da uns die Strukturbestimmungen fehlen, in denen die hier aufgewiesene Differenzierungsstrategie auch losgelöst von den spezifischen – und seien es extreme – Bedingungen des terrestrischen Evolutionsgeschehens zu explizieren erlaubt. b) Spezifität des Organischen Und so kann man noch einmal fragen, was unterscheidet eigentlich einen Kristall und einen Blaualgenhaufen – wie er sich dann in Stromatolithen auch anorganisch absetzt?51 Auch ein Kristall gibt einen Ansatz zur weiteren Kristallisation – die Golgi-Färbung funktioniert so52: Außenbedingungen optimieren die Ressourcennutzung eines sich derart reproduzierenden Kristallisationsprozesses. Im Resultat entstehen Kompartimente schlicht aus der selektiven Erschöpfung des Materials, mit der sich bestimmte Reaktionszonen voneinander abgrenzen. Gegebenenfalls formen sich derart auch Dendriten, die als anorganische Formationen eine fraktale Geometrie besitzen – im Sinne einer Einbindung des immer Gleichen in immer größere Zusammenhänge.53
51 Zu Stromatolithen, versteinerten Stromatophoren, d. h. Kalk abscheidenden Blau algengemeinschaften siehe: C. W. Stearn, „Stromatoporoidea, 1926-2000“, in: Journal of Paleontology 75/2001, S. 1079-1089. 52 N. Strausfeld, „The Golgi method: Its application to the insect nervous system and the phenomenon of stochastic impregnation“, in: N. J. Strausfeld, T. A. Miller (Hrsg.), Neuroanatomical Techniques: Insect Nervous System, New York, Heidelberg, Berlin 1980, S. 132-205. 53 Vgl. J. Jost, „External and internal complexity of complex adaptive systems“, in: Theory in Biosciences 123/2004, S. 69-88.
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Natürlich fehlt solchen Strukturen die Rekombinationsmöglichkeit, setzen wir Mutabilität als Kriterium von Organisation (im Sinne von Lebensform) an, so sind natürlich solche vereinfachenden Überlegungen auszuschließen, es sei denn, wir fassen Mutabilität allgemein als eine selektive und begrenzte Veränderung im Reaktionspotenzial oder im Reaktionsgefüge eines evolvierenden Systems.54 Dann können Störungen, Variationen insgesamt, in einer gleichen Weise beschrieben werden: Die Idee einer spezifischen Eingrenzung von Information auf bestimmte Informationsstränge entfiele dann. Wir hätten ein in sich abgestimmtes, aus sich agierendes System, was so jedoch nicht in einer vereinfachenden Systemtheorie (im Sinne eines Ein- und Ausgangsfunktionen korrelierenden Beschreibungsansatzes) dargestellt werden könnte. c) Freiheitsgrade in einer differenziert kompartimentierten Systematik von Reaktionsgefügen Schließlich ist nach dem Vokabular zu fragen, in dem eine Konsolidierung von Variationen auf verschiedenen strukturellen Ebenen zu beschreiben ist. Kimuras Theorie einer neutralen Evolution gab hier einen Beschreibungshintergrund, der nun aber nicht einfach aufzunehmen ist, ist doch die Betrachtung in der Ebene einer individuellen Verteilung und selektiven Verkopplung auf eine neue Art der Interaktionsbeschreibung angewiesen, die sich zwar statistisch approximieren, aber nicht letztlich auflösen lässt.55 Bleiben wir auf Ebene der Beschreibung, so finden wir, wie sich in der Gewebeorganisation eine Vielfalt funktioneller Ausprägungen in einem Nebeneinander ermöglicht, und sogar in einem Gewebe selbst derart Adaptibilitäten ausgeformt werden können. So ist ein Muskel mit seinem Nebeneinander von schnellen und langsamen Fasern auf einen bestimmten Bewegungstyp hin trainierbar, was entsprechend jeweils ein Mehr des einen Muskelfunktionstyps zur Folge hat, womit sich dann das einmal eingeschlagene Verhalten weiter konsolidiert.
54 Vgl. W. Martin, „Early evolution without a tree of life“, in: Biology Direct 6 (36)/2011, S. 1-25; N. Lane, J. F. Allen, W. Martin, „How did LUCA make a living? Chemiosmosis in the origin of life“, in: Bioessays 32/2010, S. 271-80. 55 M. Kimura, The Neutral Theory of Molecular Evolution, Cambridge 1983.
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Die genetische Variabilität in der Gewebedifferenzierung führt über die Regulation der Komplexität von Merkmalsbeständen durch Umweltbedingungen bis hin zur umgebungsbedingten Expression von Sexualität. Ein zentrales Beispiel für eine von vornherein auf solche Umweltvariation gesteuerte Organisation bietet das Säugerhirn, das umweltbedingt strukturiert werden kann:56 Beispiele bilden die Prägung, die Effekte visueller Deprivation und die schon einmal benannten Variationen von Reaktionen durch die Modulation und Rekombination bestimmter Grundbewegungsmuster in verschiedenen Verhaltenskontexten. Dies geschieht nun in einem Nebeneinander verschiedener Organismen, die so, in Wechselwirkung und Konkurrenz zueinander, ein Verhaltensprofil und damit ihre Effektivität konsolidieren. Zu beschreiben haben wir damit eine Stufung vom Organismus – als individuelle Einheit – bis hin zum Organismus im Sinne eines Verbundes von Individuen. Wie benannt, gibt es hier verschiedene Lösungsansätze der Evolution (und nicht nur soziale Insekten), die eben auch in ihrer Differenziertheit zu kennzeichnen sind. So ist die Flechte eine Kombination aus Pilz und Alge, beide geben Besonderheiten auf, bleiben aber jeweils Pilz und Alge. Lebensfähig sind sie nach einer Phase x nur noch in der wechselbestimmten Gestalt und erobern mit ihr dann aber Lebensräume, die dem einzelnen Organisationstyp verschlossen bleiben. Es sind also ganze Gefüge, in denen wir Organismus zu denken haben. Die Konturen der sich hier abzeichnenden neuen Morphologie – die sich in der Wechselbestimmtheit in ihrer akuten diachronen und synchronen Interdependenz umzeichnen lässt, sind hier nur grob diagnostisch umrissen, nicht aber selbst als Theorie formuliert.57 Wobei solch eine Morphologie den Ansatz zu bieten hat, Organizität neu und wegführend von den Verengungen einer geo-morphen Anschauung zu denken. Zu zielen ist auf einen konsequent 56 Hierzu generell L. C. Katz, C. J. Shatz, „Synaptic activity and the construction of cortical circuits“, in: Science 274/1996, S. 1133-1138; S. M. Catalanom, C. J. Shatz, „Activity-dependent cortical target selection by thalamic axons“, in: Science 281/ 1998, S. 559-562; M. Majdan, C. J. Shatz, „Effects of visual experience on activitydependent gene regulation in cortex“, in: Nature Neuroscience 9/2006, S. 650659; M. Majdan, C. J. Shatz, „Effects of visual experience on activity-dependent gene regulation in cortex“, in: Nature Neuroscience 9/2006, S. 650-659. 57 Vgl. zum mathematischen Ansatz O. Breidbach, J. Jost, „On the gestalt concept“, in: Theory in Biosciences 125/2006, S. 19-36; vgl. auch G. Scholtz, „Deconstruct ing morphology“, in: Acta Zoologica 91/2010, S. 44-63.
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interaktiv beschriebenen Reaktionsabgleich der den zu betrachtenden Reaktionsraum konstituierenden Elemente. Organisch nennen wir darin das Gesamtgefüge der diesen Reaktionsraum in einer Verzahnung stabilisierenden Reaktionsschichtung. Dieses ist nun aber nicht einfach nur eine erweiterte Theorie dynamischer Systeme – die wir so in ihrer mathematischen Grundlage ja auch noch nicht verfügbar haben. Umgekehrt könnte eine Reflexion über die Spezifität des Organischen – im Sinne einer umfassenden, jeweils verzahnt rückwirkenden Verkopplung interagierender Teilprozesse – zu einem Ansatz führen, die Theorie komplexer Dynamiken aus den Engführungen eines Systembegriffs, der eine an sich konstituierte Architektur voraussetzt, zu lösen und die Strukturierung der sich in den Interaktionen formierenden Teilprozesse selbst als eine Architekturgenese verständlich zu machen. Die hier analysierte Struktur wird aber nicht vorgegeben, sie konstituiert sich im Gefüge der Wechselwirkungen ihrer Elemente. Wobei auch Letztere als solche erst durch die möglichen Wechselwirkungen miteinander in eine Einheit geraten. So ist das, was hier entsteht, ein Wechselwirkungsgefüge, das in seinen fortlaufenden, in seinem Vorlauf immer wieder neu den Nachlauf ausrichtenden Strukturen stets nur temporär, lokal und auch über verschiedene Relationsräume hinweg verzahnt zu denken ist. Insoweit kann die abstrakte Darstellung einer möglichen Theorie dann am Problemexposé dieses Textes ansetzen. So offen diese dabei auch gezeichnet ist, inauguriert ist damit ein Vorgehen, das wesentlich anders ist als der Versuch einer Minimalsystematik des Lebendigen im Versuch einer subtraktiven Zytologie der synthetischen Biologie. Komplexität bedeutet in diesem Sinne dann auch nicht einfach Kompliziertheit, sondern Überlagerung von Reaktionsgefügen, und zwar nicht einfach als deren Addition, sondern als eine in solcher Überlagerung erwachsende umfassende Verschiebung auch von Rückkopplungen in einem Gefüge, das sich so als Reaktionsraum aber eben überhaupt erst konstituiert. Die Idee der bloßen Verzahnung von Wirkschichtungen skizziert nur ein erstes Schema des hier Avisierten. So könnte sich, im Begriff des Organischen operationalisiert, in der Idee einer Strukturbestimmtheit des Organischen eine dynamische Theorie der Komplexität abzeichnen, die dieser Schichtung in der Überlagerung und der Zeitversetzung von Wirkschichtungen Rechnung trägt. So wäre dann aus dem Organismus-Begriff eine umfassendere Theorie interagierender Wirkschichtungen erwachsen, in der sich eine Systemtheorie, auch als Theorie offener Systeme nach klassischem Dehttps://doi.org/10.5771/9783495817476 .
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sign, als Teilmenge, aber eben nicht als konzeptionell ausrichtende Strukturvorgabe, wiederfände. In diesem Sinne wären dann auch in einer dies auf sich nehmenden, umfassend ansetzenden synthetischen Biologie wirklich neue Ansätze zu finden, die die subtraktive Zytologie sensu Venter schlicht vermissen lässt.
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Autorinnen und Autoren
Olaf Breidbach, 1957–2014, war Philosoph, Biologe und Wissenschaftshistoriker. Er promovierte 1982 über Hegel und 1984 über Käfer. 1989 erfolgte die Habilitation in Zoologie. Von 1995 bis 2014 war er Inhaber des Lehrstuhls für Geschichte der Naturwissenschaften an der Universität Jena, Direktor des Institutes für Geschichte der Medizin, Naturwissenschaft und Technik und Direktor des Museums „Ernst-Haeckel-Haus“. Seine Forschungsschwerpunkte lagen in der Geschichte der Hirnforschung, der Theorie der Geschichte der Wissenschaften, der Systemtheorie, der Wissenschaftskultur um 1800, Fragen der Wissenschaftspopularisierung und Wissenschaftswahrnehmungen sowie der Naturphilosophie. Wichtige Veröffentlichungen: Die Materialisierung des Ichs (1997), Deutungen. Zur philosophischen Dimension der internen Repräsentation (2001), Radikale Historisierung (2011), Neuronale Ästhetik (2013) und Geschichte der Naturwissenschaften, Bd. 1: Die Antike (2015). Tobias Cheung ist seit 2007 Privatdozent am Institut für Kulturwissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Wissenschaftsgeschichte, der Kulturgeschichte und Philosophie der Lebenswissenschaften, der Erkenntnistheorie, der vergleichenden Literaturwissenschaft und in Ostasien-Studien mit einem Schwerpunkt auf Japan. Zu seinen Veröffentlichungen zählen unter anderem Die Organisation des Lebendigen. Die Entstehung des biologischen Organismusbegriffs bei Cuvier, Leibniz und Kant (2000), Charles Bonnets Systemtheorie und Philosophie des Organischen (2005), Res vivens. Agentenmodelle organischer Ordnung 1600–1800 (2008), Transitions and Borders between Animals, Humans and Machines 1600–1800 (Hrsg., 2010) und Organismen. Agenten zwischen Innen- und Außenwelten 1780–1860 (2014).
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Georg Toepfer
John Dupré ist Professor für Philosophie und Wissenschaftstheorie an der University of Exeter und Direktor des dortigen „Center for Genomics in Society“. Seine Hauptarbeitsgebiete liegen in der Philosophie der Biologie, Philosophie der Sozialwissenschaften und Allgemeinen Wissenschaftstheorie. Wichtige Publikationen: The Disorder of Things. Metaphysical Foundations of the Disunity of Science (1993), Humans and Other Animals (2002), Human Nature and the Limits of Science (2003), Darwins Vermächtnis. Die Bedeutung der Evolution für die Gegenwart des Menschen (2005), Processes of Life (2012). Mathias Gutmann ist promovierter Biologe und Philosoph und Professor für Technikphilosophie an der Universität Karlsruhe (KIT). Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen der Technikphilosophie, der Anthropologie und der Wissenschaftstheorie. Publikationen (Auswahl): Erfahren von Erfahrungen. Dialektische Studien zur Grundlegung einer philosophischen Anthropologie (2004), Lebewesen verstehen (2014). Gottfried Heinemann ist seit 1990 außerplanmäßiger Professor für Philosophie an der Universität Kassel. Forschungsschwerpunkte: antike Philosophie, Naturphilosophie, Metaphysik. Veröffentlichungen u. a.: Zeitbegriffe (als Hrsg., 1986); Studien zum griechischen Naturbegriff, Teil I: Philosophische Grundlegung: Der Naturbegriff und die „Natur“ (2001). Hans Werner Ingensiep, Biologe und Philosoph, lehrt seit 2003 als Professor für Philosophie und Wissenschaftsgeschichte an der Universität Duisburg-Essen am Institut für Philosophie und in den Biowissenschaften. Die Arbeitsschwerpunkte liegen in der Biophilosophie, Bioethik und Wissenschaftsgeschichte der Biologie. Wichtige Publikationen: Geschichte der Pflanzenseele. Philosophische und biologische Entwürfe von der Antike bis zur Gegenwart (2001), Kant Reader (Hrsg. mit Heike Baranzke und Anne Eusterschulte, 2004), Der kultivierte Affe. Philosophie, Geschichte und Gegenwart (2013). Kristian Köchy, Biologe und Philosoph, ist seit 2003 Professor für Theoretische Philosophie an der Universität Kassel. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen in den Bereichen der Philosophie der Biologie, der Naturphilosophie, der Geschichte der Biologie sowie der Biohttps://doi.org/10.5771/9783495817476 .
Einleitung
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ethik, derzeit mit einem Schwerpunkt auf der Entwicklung eines Programms der Integrativen Biophilosophie. Wichtige Publikationen: Ganzheit und Wissenschaft (1997), Perspektiven des Organischen (2003), Biophilosophie zur Einführung (2008), Synthetische Biologie (Hrsg. zus. m. Anja Hümpel, 2012), Zwischen den Kulturen. Plessners ‚Stufen des Organischen‘ im zeithistorischen Kontext (Hrsg. zus. m. Francesca Michelini, 2015). Ulrich Krohs ist seit 2012 Professor für Philosophie mit Schwerpunkt Wissenschaftstheorie und Naturphilosophie an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster und Sprecher des dortigen Zentrums für Wissenschaftstheorie. Er arbeitet vor allem zur Philosophie der Biologie, zur analytischen Technikphilosophie, sowie zur allgemeinen Wissenschaftsphilosophie. Er ist Mitherausgeber des Journal for General Philosophy of Science. Wichtige Publikationen: Eine Theorie biologischer Theorien: Status und Gehalt von Funktionsaussagen und informationstheoretischen Modellen (2004), Philosophie der Biologie (Hrsg. zus. m. Georg Toepfer, 2005), „Convenience experimentation“, in: Studies in History and Philosophy of Biological and Biomedical Sciences (2012). Maureen O’Malley ist Inhaberin einer Forschungsprofessur an der Universität Bordeaux. Ihr Forschungsschwerpunkt ist die Philosophie der Mikrobiologie, insbesondere mikrobieller Modellsysteme. Sie hat zahlreiche Aufsätze in wichtigen Zeitschriften und das folgende Buch veröffentlicht: Philosophy of Microbiology (2014). Martin F. Meyer lehrt seit 1995 als wissenschaftlicher Mitarbeiter Philosophie an der Universität Koblenz-Landau. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Antike Philosophie, Historische Epistemologie und Historische Anthropologie. Monographien: Platons epistemologische Handlungstheorie (1994), Aristoteles und die Geburt der biologischen Wissenschaften (2015), Illustrierte Geschichte der Philosophie (2016). Herausgeberschaften: Geschichte des Dialogs (2006), Kulturgeschichte der Scham (2009), Kulturgeschichte der Botanik (2013). Ernst Müller, Philosoph, ist seit 2001 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Literatur- und Kulturforschung (Berlin). Arbeitsschwerpunkte: Begriffsgeschichte, Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte. Wichtige Publikationen: Kunstreligion und ästhetische https://doi.org/10.5771/9783495817476 .
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Religiosität. In den Philosophien von der Aufklärung bis zum Ausgang des deutschen Idealismus (2004), (Hrsg.) Begriffsgeschichte im Umbruch (2005), (zus. m. Falko Schmieder), Begriffsgeschichte und historische Semantik (2016). Stefano Poggi studierte Philosophie, Literatur und Geschichte in Florenz, Habilitation 1981. Professor für Geschichte der Philosophie an der Universität Rom, La Sapienza und danach an der Universität Florenz. Wichtigste Publikationen: I sistemi dell’esperienza. Logica, psicologia e teoria della scienza da Kant a Wundt (1977), Gli istanti del ricordo. Memoria e afasia in Proust e Bergson (1991), Il genio e l’unità della natura. La scienza della Germania romantica, 1790– 1830 (2000), La logica, la mistica e il nulla. Una interpretazione del giovane Heidegger (2006), L’io dei filosofi e l’io dei narratori. Da Goethe a Proust (2011), L’anima e il cristallo. Alle radici dell’arte astratta (2014). Marianne Schark ist Biologin und Philosophin. Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen in der Ontologie, der Philosophie der Biologie und der Bioethik. Wichtige Publikationen: Lebewesen versus Dinge. Eine metaphysische Studie (2005), „Wie aktuell ist Kants Auflösung des Naturteleologie-Problems?“, in: Uwe Meixner und Albert Newen (Hrsg.), Logical Analysis and History of Philosophy/Philosophiegeschichte und logische Analyse, Bd. 14, Special Issue: Final Causes and Teleological Explanations (Gast-Hrsg.: Dominik Perler und Stephan Schmid), Paderborn 2011, S. 125-154; „Synthetic Biology and the Distinction between Organisms and Machines“, in: Environmental Values 21 (2012), Special Issue: Synthetic Biology, S. 19-43. Georg Toepfer, Biologe und Philosoph, ist seit 2012 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Berliner Zentrum für Literatur- und Kulturforschung. Seine Arbeitsschwerpunkte sind die Geschichte und Philosophie der Biologie, zurzeit insbesondere die kulturellen Bezüge des biologischen Wissens. Wichtige Publikationen: Zweckbegriff und Organismus. Über die teleologische Beurteilung biologischer Systeme (2004), Philosophie der Biologie (Hrsg. zus. m. Ulrich Krohs, 2005), Historisches Wörterbuch der Biologie. Geschichte und Theorie der biologischen Grundbegriffe (3 Bde., 2011).
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