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German Pages 254 Year 2019
Alexander Graeff (Hg.) Okkulte Kunst
Image | Band 155
Alexander Graeff (Hg.)
Okkulte Kunst
Der Herausgeber dankt allen ideellen und finanziellen Förderern herzlich für die Realisierung der Anthologie.
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Inhalt Okkulte Kunst Geschichte – Systematik – Aktualität Alexander Graeff | 7
›Den‹ Okkultismus gibt es nicht Politische Transformation – geschichtsphilosophische Praxis – okkulte Kunst Christoph Wagenseil | 41
Hinauf in den Abgrund Inszenierung und Okkultismus der Amorspekulation im Florenz Lorenzo de’ Medicis, besonders in Giovanni Picos Commento Tobias Roth | 61
Heinrich Drebers Sappho und ihre Darstellungen als Selbstmörderin in der Kunst des 19. Jahrhunderts Carlos Idrobo | 89
Die Transformation des Mythos durch die Moderne Martin Weyers | 105
Gottes zerstreute Funken Jüdische Mystik bei Paul Celan Rüdiger Sünner | 127
Elemente der (lurianischen) Kabbala und okkulte Motive in Gustav Meyrinks Roman Der Golem Elizabeta Lindner Kostadinovska | 147
Schattenseiten, Doppelgänger Aspekte okkulter Denkfiguren in kunstpsychologischer Deutung Ute J. Krienke | 169
Okkulter Sound Über Narration von Hörbarkeit Dominik Irtenkauf | 195
Okkulte (Text-)Praktiken Animismus als Poetik in John Burnsides Romanen The Locust Room und Glister Anneke Lubkowitz | 223
Autorinnen und Autoren | 247 Abbildungsverzeichnis | 251
Okkulte Kunst Geschichte – Systematik – Aktualität Alexander Graeff
»Kunst ist eine Sache, deren Existenz von Theorien abhängig ist; ohne Kunsttheorien ist schwarze Malfarbe einfach schwarze Malfarbe und nichts anderes.«1 A rthur C. Danto »Wenn es um das Okkulte geht, gibt es ein populäres Mißverständnis: daß nämlich sich das Okkulte einer Entscheidung zur Irrationalität verdanke, daß also der Okkultist sich von allem, was Wissen und Vernunft heißen kann, abwende, um sich einer religiösen Phantasie, einer Mystik hinzugeben. Das aber kann schon deshalb nicht zutreffen, weil der Okkultist offenbar das Umgekehrte im Sinn hat: nämlich das Mystische dem Wissen zuzuführen und es darin zu erhalten.« 2 Thomas S teinfeld
Am 7. November 1919 hält der Kunsthistoriker Rudolf Bernoulli (1880-1948) einen Vortrag in der Deutschen Okkultistischen Gesellschaft zu Berlin mit dem Titel Okkultismus und bildende Kunst. Er beginnt mit den folgenden Worten: »Okkultismus und bildende Kunst scheinen in einem absoluten Widerspruche zu stehen, scheinen diametral entgegengesetzte Pole unserer Geisteswelt zu bilden; denn Okkultismus, wie schon der Name sagt, steht auf der dunklen Hälfte, der Nachtseite, während
1 | Danto 1991, S. 207. 2 | Steinfeld 2011b, S. 14.
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Alexander Graeff die Kunst auf der Sonnenseite wächst, die farbigen Erscheinungen der Welt wiederzugeben und zu verklären sucht und ihre Schönheit in strahlendem Lichte erscheinen läßt.« 3
Entgegen dem eher klassizistischen Kunstverständnis Bernoullis, der bei seinen, hier zitierten Ausführungen höchstens noch an den Impressionismus als ein Beispiel zeitgenössischer Kunst gedacht haben kann, will er den Okkultismus als dazu opponierende »Grenzwissenschaft« begreifen, die die »üblichen Erklärungsversuche des Weltganzen« übersteige, in dem sie als empirische Disziplin die »Wissenschaft von der Erforschung der ersten Ursachen« 4 verknüpfe mit der Naturwissenschaft. Er hebt hervor, dass der Okkultismus ein neues »System von Hypothesen« darstelle, das sich auch an jene Erscheinungen wage, die die »materialistisch-monistische Weltauffassung« sonst nicht imstande sei »in ihrem System unterzubringen«5. Auch wenn Bernoulli als Professor der Kunstgeschichte und Konservator der Graphischen Sammlung der Technischen Hochschule in Zürich offensichtlich noch nicht viel mitbekommen hatte von den umstürzlerischen Ideen der Expressionisten oder Futuristen, die sich ja gerade nicht der »Sonnenseite« der Kunst verschrieben hatten, versteht er den Okkultismus vor allem als eine progressive Bewegung in Wissenschaft und »Geisteswelt«. Mit der Idee einer »Erforschung der Kräfte, welche unter der Oberfläche der Welt liegen« berührt er eine Denkfigur, die anschlussfähig werden wird an Vorstellungen der Psychologie und Anthropologie ebenso wie an die der Sozialwissenschaften.
3 | Bernoulli 1919, S. 3. Trotz der Bezugnahme auf die bildende Kunst im hier hinführenden Beispiel – Bernoullis Vortrag –, verstehen sich Titel und Thema der vorliegenden Anthologie keinesfalls allein auf diese Besonderung beschränkt. Wenn im Folgenden von okkulter Kunst die Rede ist, bezieht sich diese Bezeichnung auf einen weiten Kunstbegriff, der ebenso bildende wie darstellende Künste, wie auch Musik und Literatur miteinschließt. 4 | Bernoulli 1919, S. 4. 5 | Bernoulli 1919, S. 5, 4.
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Abb. 1: Vorderseite der Broschüre zum Vortrag Okkultismus und bildende Kunst von Dr. Rudolf Bernoulli, gehalten in der Deutschen Okkultistischen Gesellschaft zu Berlin am 7. November 1919.
Trotz des genannten Unterschieds sieht Bernoulli aber auch »gewisse Linien«6, die Okkultismus und bildende Kunst verbinden. Bestimmte Themen seien es, die »die Aufmerksamkeit der Okkultisten und der bildenden Künstler 7 immer wieder angelockt haben«8. Er nennt Visionen, Mythen, Mystik, religiöse Gefühle und theologische Systeme. In diesen kultur- und religionsgeschichtlichen Beständen nämlich ließen sich Deutungen finden, die sich der Okkultismus allein von der Wortbedeutung her schon zum Gegenstand genommen habe, 6 | Bernoulli 1919, S. 6, 3. 7 | Aus Gründen der Lesbarkeit wurde für die gesamte Anthologie die männliche Form gewählt, nichtsdestoweniger beziehen sich die Aussagen immer auf alle Geschlechter. 8 | Bernoulli 1919, S. 34.
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Deutungen des Verborgenen, Geheimen, Dunklen. Das Interesse an, und die Faszination für diese Bestände scheint bei oberflächlicher Betrachtung also Okkultisten und Künstler zu verbrüdern. Es geht aber noch um mehr als um Faszination und Neugierde in Bezug auf nichtetablierte und deviante Kulturbestände der Geistesgeschichte, die Künstler bis heute inspirieren. Es geht auch um mentalitätsgeschichtliche Figuren des Denkens, die sich insgesamt im kulturellen Schaffen von Personen zeigen.9 Ein Zeitgenosse Bernoullis, der jüdisch-ungarische Dichter, Scherenschneider und Mystiker Eugen Mirsky (1896-1942), teilte die Auffassung, dass es sujetbezogene Verbindungen gebe zwischen Okkultisten und Künstlern. In seiner 1924 in Prag erschienenen Sammlung von Scherenschnitten mit dem Titel Okkulte Kunst schreibt er im Vorwort: »Hierzu müßten wir bemerken, daß der künstlerische Mensch wie auch das Medium ein und dasselbe seien, daß jedenfalls beide stark anormal, parapsychisch begabt seien und daß dementsprechend die Welt, die sie schildern, anders aussieht, als die Welt, die der Durchschnittsmensch erkennt. Nahezu in jedem bedeutendem Kunstwerke seit den ältesten Zeiten bis zur Gegenwart findet sich eine starke Mystik, eine okkulte Note, ein Geisterglaube, dessen Wurzeln tief in der Überzeugung der einzelnen Künstler verankert liegen.«10
Eugen Mirsky, der sich in Okkulte Kunst zu einer dem »Okkultismus verpflichteten Weltanschauung«11 bekennt und, aus dieser heraus, seine eigene Kunst als ›okkult‹ bezeichnet, war aller Wahrscheinlichkeit nach der erste, der die Wendung gebrauchte, und wie sie der vorliegenden Anthologie nun als Titel dient. Eugen Mirsky, dessen Mutter bereits Theosophin war und regelmäßig Prager Dichterinnen der Zeit zu literarischen Zirkeln einlud, schlug sich mit Gelegenheitsjobs und Stipendienbewerbungen durch.12 Er arbeitete unter an9 | Über das Kulturelle im Spannungsfeld von Dominanz und Devianz, wie es im Folgenden auch als begriffliche Basis der vorliegenden Anthologie Verwendung fand, schreibt Francois Jullien: »Ich würde daher eher sagen, dass es das Wesen des Kulturellen ausmacht, dass es sich in der Spannung – oder im Abstand – zwischen dem Vielfältigen und dem Einheitlichen entfaltet: dass es stets in einer doppelten, gegenläufigen Bewegung von Hetero- und Homogenisierung begriffen ist, dass es die Tendenz hat, sich zugleich anzugleichen und abzuheben, sich zu de-identifizieren und erneut zu identifizieren, sich konform zu verhalten und zu widersetzen; kurz: dass keine dominante Kultur existieren kann, ohne dass sich – sogleich – eine dissidente (underground, off- usw.) herausbildet.« Siehe Jullien 2017, S. 46f. 10 | Mirsky 1924, S. 6. 11 | Binder 2006, 461. 12 | Vgl. Binder 2006, S. 443ff.
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derem im Eisenwarenladen der Schwiegereltern von Max Brod (1884-1968), versuchte sich als Hellseher, veranstaltete Séancen und schrieb, unter anderem inspiriert von Gustav Meyrink (1868-1932), eifrig Prosa und Lyrik.13 Er widmete sich nicht nur in der Kunst dem Okkulten, sein gesamter Alltag war von der Vorstellung bestimmter »Eingriffe übersinnlicher Gewalten« geprägt. Für ihn stand fest, dass »alle Großen des Geistes in überwiegender Zahl jener Weltanschauung« zuzurechnen seien, die »wir heute als die ›okkulte‹ bezeichnen«14. Von gesellschaftlicher Akzeptanz dieser progressiven Einstellung konnte in seinem Fall jedoch keinesfalls die Rede sein. Man stellte dem selbsterklärten »Medium okkulter Kräfte«15 Diagnosen von Persönlichkeitsspaltung bis psychische Labilität, es folgten zeitlebens zahlreiche Psychiatrieaufenthalte.16 Die Wendung ›okkulte Kunst‹ zielt bei Mirsky auf eine Attribuierung seiner Kunst und Dichtung, die für ihn auf unbewusste, verborgene und anormale »Phänomene okkulter Natur« verweisen. In einem Wort: auf deviante Vorstellungen von Mensch und Welt. Auch Mirsky begreift, wie Bernoulli, den Okkultismus als progressive Denkbewegung, die sich dem »ganze[n] Kosmos« widme. Mit der Schrift Okkulte Kunst, der am 6. März 1923 ein Vortrag im Prager Volksbildungsverein Urania zum selben Thema vorausgegangen war, trat er selbstbewusst »den konservativ wissenschaftlich geschulte[n] Psychologe[n]«17 seiner Zeit entgegen. Das Beispiel Eugen Mirsky zeigt nicht nur das Interesse eines Akteurs der Moderne an den okkulten Traditionen – diesem Trend folgten viele Zeitgenossen –, sondern macht darüber hinaus eine bestimmte Weise explizit künstlerischer Thematisierung von inoffiziellen, verborgenen, devianten und dunklen Aspekten kultureller Tradierung deutlich.
13 | Mirsky verfasste 1918 ein Schauspiel mit dem Titel Golem, auf der Basis der berühmten Prager Golem-Legende rund um Rabbi Löw und stark inspiriert von Gustav Meyrinks 1915 erschienenen Golem-Romans. Vgl. Binder 2006, S. 457. Zur Bedeutung der Kabbala in besagtem Roman Meyrinks vgl. den Beitrag von Elizabeta Lindner Kostadinovska in diesem Band. 14 | Mirsky 1924, S. 6, 4. 15 | Binder 2006, S. 458. 16 | Vgl. Binder 2006, S. 460, 467. 17 | Mirsky 1924, S. 5, 3.
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Abb. 2: Schmutztitel des Buches Okkulte Kunst von Eugen Mirsky, Prag 1924.
D ie okkulte K unst der M oderne Die in dieser Anthologie versammelten Beiträge bestärken die allgemeine Auffassung, unter »Okkultismus« (von lateinisch ›occultus‹ = verborgen) einen unscharfen Sammelbegriff für verschiedene Phänomene, Praktiken, Methoden und Anschauungen zu verstehen, die durch eine (noch) nicht hinreichende Erkenntnis hinsichtlich ihrer Ursachen und Wirkungen gekennzeichnet sind und darüber hinaus häufig von einer metaphysischen Kraft als Ursache der Erscheinungen ausgehen. Der Begriff »okkult« wird oft gleichbedeutend mit »esoterisch«, mitunter auch mit »mystisch« oder »übersinnlich«, verwendet.18
18 | Vgl. Bauer/Wenisch 1995, S. 768.
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Die synonyme Verwendung von »okkult« und »esoterisch« liegt an einer inhaltlichen Gemeinsamkeit beider Vorstellungen: Viele esoterische Konzepte gehen – wie der Okkultismus – vom Wirken einer okkulten, unsichtbaren oder verdeckt agierenden Kraft aus. Der Begriff »okkult« steht dabei oft für die Überzeugung, dass es neben der sichtbaren Welt auch eine den menschlichen Sinnesorganen unzugängliche Welt gebe. Dies bezieht sich einerseits auf Welt im Modus von Wirklichkeit, andererseits aber auch auf nicht-sichtbare Teile bzw. Aspekte von Welt als soziale Realität. In diesem Sinne lässt sich mit Horst Stenger sagen, »daß esoterische Praxis stets eine okkulte Überzeugung voraussetzt. Es hieße aber auch, daß okkulte Überzeugungen und Tendenzen im Bewußtsein sehr vieler moderner Zeitgenossen verankert sind, ohne daß dies einen Ausdruck in einer dezidierten Hinwendung zu esoterischen Systemen finden würde«19, wie viele Akteure moderner Kunst deutlich machen. Der Begriff »Esoterik« (von griechisch ›esoterikós‹ = das Innere) wird hiergegen als Substratkategorie für deviante spirituelle und religiöse Systeme (Subkulturen) verstanden, die sich in der abendländischen Geschichte meistens parallel, allerdings selten völlig ohne Berührung mit den etablierten Religionen, später auch mit Wissenschaftsparadigmen, entwickelten.20 Der Okkultismus kann als progressive Wissenschaftstheorie und -praxis gedeutet werden. Sein Programm bestand in der Bereitstellung einer Alternative zur »offiziellen Wissenschaft« mit der gebräuchlichen Unterscheidung der Disziplinen in Geistes- und Naturwissenschaften. So schreibt auch Bernoulli, dass der Okkultismus in seiner Aufgabe als Grenzwissenschaft gerade diese disziplinäre »Kluft zu überbrücken« suche und hierfür »eigene Forschungsmethoden aufbringen«21 müsse. Diese Sichtweise war natürlich keine originelle Behauptung Bernoullis, sondern entsprach einer weit verbreiteten Vorstellung über den Okkultismus. So verstand der Theosoph und Okkultist Carl Kiesewetter (1854-1895), Autor zahlreicher Bestseller zum Okkultismus, bereits 1891 unter
19 | Stenger 1989, S. 120. 20 | Mit dieser Definition soll insbesondere auf Kocku von Stuckrad, der in Anlehnung an Anton Faivre richtungsweisende Arbeiten zum Phänomen »Esoterik« verfasst hat, verwiesen werden. Vgl. Stuckrad 2004, S. 10-15. Auch James Webb (1946-1980) verweist auf die Funktion des Okkulten als »Rejected knowledge« (zurückgewiesenes Wissen) und sieht Okkultismus und esoterische Traditionen als einen nichtetablierten Teil abendländischer Wissenskultur. Die zentrale Unterscheidung zwischen etabliertem und okkultem Wissen sieht Webb allerdings nicht in den Stoffen und Inhalten, also den Kulturbeständen selbst, sondern in den Begründungsstrukturen derselben. Vgl. Frenschkowski 2008, S. 9. 21 | Bernoulli 1919, S. 7, 5.
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Alexander Graeff »occulten Vorgängen alle jene von der offiziellen Wissenschaft noch nicht allgemein anerkannten Erscheinungen des Natur- und Seelenlebens, deren Ursachen den Sinnen verborgene, occulte, sind, und unter Occultismus die theoretische und praktische Beschäftigung mit diesen Thatsachen, resp. deren allseitige Erforschung. Der Occultismus ist somit nach meiner Auffassung nichts mehr und nichts weniger als ein Teil der An thropologie und der Naturwissenschaften überhaupt, dessen Konsequenzen der Philosophie zugute kommen.« 22
So vielfältig die esoterischen und okkulten Anschauungen seit Beginn der Neuzeit auch gewesen waren, sie alle verweisen auf eine soziale Funktion, die an einer Minderheiten-Mehrheiten-Problematik in Bezug auf Welterklärungssysteme sichtbar wird. Nicht zuletzt scheint es »der Trieb des Menschen nach Freiheit« zu sein, »aus der aller Okkultismus sprießt«23 – wie Gustav Meyrink besagte soziale Funktion in einem 1923 erschienenen Essay über Okkultismus andeuten will. Die Gemeinsamkeit der vielfältigen Anschauungen wird dabei in erster Linie durch Organisationsformen, Gesellungsmuster und sich überschneidende Personenkreise deutlich: Künstlerische Avantgarden ebenso wie Sozial- und Lebensreformer waren oft auch Mitglieder esoterischer Netzwerke und Anhänger des Okkultismus.24 Der Begründer der Anthroposophie Rudolf Steiner (1861-1925) etwa hielt um 1900 in München und Berlin eine Reihe von Vor22 | Kiesewetter 1891, S. XI. Auch in den eher gesellschaftspolitischen Sphären progressiven Denkens im Übergang des 19. zum 20. Jahrhundert gab es Berührungen mit Spiritismus und Okkultismus. Auch bekennende Sozialisten und Anarchisten setzten sich mit ihm auseinandersetzten, wie etwa die utopischen Texte eines Giovanni Rossi (1856-1943) belegen. Darin geht es nicht nur um Sozialismus, Anarchismus, Abschaffung der Geldsysteme oder um frühe Gedanken zur Polyamorie, Rossi setzt sich auch – durchwegs kritisch – mit den gängigen Wissenschaftsprogrammen der Zeit auseinander. Er reflektiert Darwins Evolutionstheorie ebenso wie auch den Spiritismus eines Allan Kardec (1804-1869). Vgl. Rossi 2018, S. 153. 23 | Meyrink 1923, S. 3. 24 | Vgl. Frenschkowski 2008, S. 12. Der erste, der im Okkultismus des 19. und 20. Jahrhunderts eine Befreiungsbewegung sah, und das Phänomen nicht nur ideen-, sondern auch sozialgeschichtlich betrachtete, war James Webb. In seiner zentralen Untersuchung Das Zeitalter des Irrationalen (1976) schreibt Webb: »Das Ziel […] ist es zu zeigen, dass in vielen solcher Definitionen von Frei und Unfrei die vordergründige Bedeutung des Wortes ›Freiheit‹ als unvermeidlichen Begleiter die Vorstellung von der persönlichen ›Befreiung‹ von den Bedingungen des Menschseins enthält, also eine Zurückweisung der Hilflosigkeit, der gegenseitigen Isolation und der Sterblichkeit des Menschen. Diese Befreiung ist von mystischer oder okkulter Natur.« Siehe Webb 2008, S. 481f.
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trägen, zu denen zahlreiche, an Theosophie und Esoterik interessierte Künstler erschienen. Christian Morgenstern, Alexej von Jawlensky, Marianne von Werefkin, Emil Nolde, Gabriele Münter und Wassily Kandinsky sind nur die bekanntesten. Sozial- und Lebensreformer, Ganzheitstheoretiker, Reformpädagogen, Okkultisten und Theosophen verband die Utopie eines neuen Menschen, in dessen Konzeption die progressiv-soziale Kraft okkulten Denkens in der Moderne schlummerte.25 Sie alle strebten nach dem Ziel, individuelles und gesellschaftliches Leben an die Anforderungen einer modernen Zeit anzupassen, ohne unkritisch und allzu fortschrittsgläubig mit der Kultur und ihren Problemen umzugehen. Das Ziel vieler Okkultisten wie Künstler war es, im lebenspraktischen und spirituellen Sinne, sich dem Verborgenen in der Welt und in der eigenen Psyche soweit zu nähern, bis es gelänge, das Okkulte zu bergen. Dabei handelt es sich um ein Motiv, das sowohl in der Psychologie eines Carl Gustav Jungs (»das Numinose«, »der Schatten«), in der Reformpädagogik einer Maria Montessori (»die unbekannte Größe des Kindes«), als auch schon im klassischen Bildungsidealismus eines Wilhelm von Humboldts (»die Geheimnisse der Welt«) als formale Denkfigur enthalten ist.26 Neben dieser ohnehin mit der abendländischen Kultur untrennbar verwobenen Denkfigur, stellen – dann auf einer explizit-inhaltlichen Ebene der Betrachtung – okkultesoterische Anschauungen gleichfalls kulturimmanente und nicht vernachlässigbare Phänomene der westlichen Hemisphäre dar.27 Diese Grundprämisse prägt alle in der vorliegenden Anthologie versammelten Beiträge, ganz gleich, welche Zeit der Kultur- und Kunstgeschichte sie behandeln.
25 | Vgl. Küenzlen 1997, S. 9. Die Denkfigur des neuen Menschen wurde übrigens auch in sozialistischen Umfeldern der Zeit aufgegriffen. 26 | Zum Numinosen vgl. Jung 1952, S. 15, 25; zum Schatten den Beitrag von Ute J. Krienke in diesem Band; zur unbekannten Größe des Kindes vgl. Montessori 1922, S. 13; zu den Geheimnissen in der Welt vgl. Humboldt 1793, S. 236. 27 | Vgl. Stuckrad 2004, S. 10. Entgegen der heute immer noch populären Auffassung, die Esoterik könne als Gegenbewegung zur Aufklärung verstanden werden, kann vor dem Hintergrund der aktuellen Esoterikforschung gerade das Gegenteil behauptet werden. Neugebauer-Wölk sieht in der Esoterik sogar »einer der Katalysatoren aufgeklärten Denkens«. Siehe Neugebauer-Wölk 2008, S. 27. James Webb vertrat Jahrzehnte zuvor die Gegenthese und prägte als Pionier der Okkultismus-Forschung damals den Diskurs maßgeblich. Er war überzeugt, dass im Ausgang des 18. Jahrhunderts auf die Entwicklungen der rationalistischen Philosophie und Wissenschaft eine »Flucht vor der Vernunft« folgte, die sich in Form einer irrationalen Reaktion auf die seiner Zeit veränderten Gesellschaftsmodelle dann im 19. und 20. Jahrhundert als Okkultismus zeigte. Vgl. Webb 2008, S. 34.
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Nicht nur die okkultistische, auch die künstlerische Praxis wurde als Verstehensprozess verstanden, dem die Bedeutung einer »Weltforschung«28 zukommt, wie es Rudolf Steiner in einem seiner Vorträge über Anthroposophie und Kunst 1923 ebenso zum Ausdruck brachte. Hiernach müsse »das Künstlerische zur Welterkenntnis überhaupt«29 hinzugefügt werden, so Steiner. Entgegen der Auffassung Bernoullis war für Steiner die Kunst der Moderne aber durchaus ein legitimer Weg, die unbewussten, nicht offensichtlichen und dunklen Aspekte von Welt und Mensch zu erforschen. Okkult an diesem »Forschen in der Dunkelheit«30 auf künstlerischem Wege wäre dann auf produktionsästhetischer Ebene der Anspruch, der moderne Künstler habe etwas darzustellen, was eigentlich nicht darstellbar ist. Dies nicht in dem Sinne, dass das Dargestellte nur inhaltlich etwas als ›okkult‹ Bezeichnetes abbildet, sondern dieses vermittelt durch die Aussage des Werkes extrapoliert. Okkulte Kunst illustriert nicht nur eine wie auch immer beschaffene, okkulte Kulturressource (z.B. den Baum des Lebens der Kabbala), sie exemplifiziert das eigentlich Inoffizielle, Unsichtbare und Negative in der Dialektik der Sichtbarkeit von Welt und der Darstellbarkeit von Kunst. Damit deckt sie auf, ›entschleiert‹, zeigt aber auch, dass ein ›okkulter Rest‹ zurückbleibt, der nicht entschleiert werden kann, weil sich Kunst auch ins Unvordenkliche zurückziehen kann. August Macke (1887-1914) verstand seine Malerei stellvertretend für viele seiner Kollegen als dialektischen Prozess zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem, als eine Arbeit am »Geheimnis« mit dem Ziel, eine sinnliche »Brücke vom Unfaßbaren zum Faßbaren«31 schlagen zu können. Mit dieser Auffassung war er nicht allein. Auch Wassily Kandinsky (1866-1944), dessen Weltbild durchdrungen war von der Vorstellung okkulter Kräfte32, greift besagte Dialektik auf: »Nicht alles ist sichtbar und faßbar, oder – besser zu sagen – unter dem Sichtbaren und Faßbaren liegt das Unsichtbare und Unfaßbare. Heute stehen wir an der Schwelle der Zeit, zu der eine – nur eine – in die Tiefe führende Stufe allmählich immer mehr hervortritt. Jedenfalls ahnen wir heute, in welcher Richtung unser Fuß die weitere Stufe zu suchen hat.« 33
Rezeptionsästhetisch betrachtet verlangt eine solche Kunst ihrem Betrachter ab, dass das Dargestellte nicht nur in dessen Auge entsteht, sondern zuallererst 28 | Steiner 1934, S. 8. 29 | Steiner 1934, S. 10. 30 | Bernoulli 1919, S. 8. 31 | Macke 1912, S. 54f. 32 | Vgl. Graeff 2013, S. 204ff. 33 | Kandinsky 1926, S. 153f.
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in dessen Vorstellung. So gesehen ist das Unsichtbare, Unfassbare und Verborgene in der Kunst – hinsichtlich Produktion und Rezeption – als Figur des Denkens per se enthalten. Laut Kandinsky entsteht das Kunstwerk nämlich auf »eine geheimnisvolle, rätselhafte, mystische Weise«34. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen lassen sich systematisch betrachtet folgende Symptome einer okkulten Kunst der Moderne extrahieren.35 Auch wenn im Fortgang dieser Einleitung insbesondere von der Kunst der Moderne die Rede sein wird, bedeutet dies nicht, dass die Beiträge in der vorliegenden Anthologie, die sich mitunter auch auf vormoderne Kunst und Literatur beziehen, nicht ebenso die Symptome zeigen könnten; insbesondere die Kunst der Renaissance, aber auch die Antikenrezeption der Neuzeit können als wegbereitende Bemühungen gelten, die auf für eine okkulte Kunst relevante Stoffe ebenso rekurrieren wie auch von der formalen Denkfigur des Okkulten getragen werden.
1. E xperiment, Prozess und Selbsterkenntnis Ein Schwerpunkt der okkulten Kunst ist das prozessuale, aber offene Experiment der künstlerischen Produktion im Kontext einer Erforschung von Selbst und Welt. Diese beiden Parameter bleiben ebenso offen gestaltbar, sowohl Welt als auch Selbst werden als alternierende Entitäten gedacht. Die Kunst erfuhr ab der Mitte des 19. Jahrhunderts eine Befreiung vom Prinzip der Nachahmung historistischer und vormoderner Ästhetiken. Diese ästhetische Freiheit korrespondierte mit dem sozialen Emanzipationswillen vieler Sozial- und Lebensreformer. Die freisinnige Bricolage aus Kunst, Leben und Transzendenz wurde zum entscheidenden Motiv innerhalb der Selbstinszenierung moderner Subjekte.36 Esoterische Anschauungen um 1900 künden gleichfalls von einem eher privatistischen Umgang mit Transzendenzerfahrungen einerseits37, dem Motiv einer meist durch eine Reihe von Initiationen bzw. Schlüsselerlebnissen markierten, graduellen Höher- oder Weiterentwicklung des Menschen andererseits. Auch Kandinsky denkt im oben angeführten Zitat an Stufen der Entwicklung. 34 | Kandinsky 1912, S. 136. 35 | In Anlehnung an Nelson Goodman wird hier bewusst von »Symptomen« gesprochen, nicht von Kriterien. Es soll nämlich nicht der Eindruck erweckt werden, es handele sich um ›objektive‹, beobachterunabhängige Eigenschaften von Kunstwerken mit bestimmter Aussage oder Identifikation. Es geht bei besagten Symptomen der okkulten Kunst allein um Deutungsparameter, um Hinweise auf bestimmte »Symbolprozesse« im Kontext von ästhetischer Intention und Interpretation. Vgl. Goodman 1997, S. 232ff. 36 | Vgl. Lyotard 1990, S. 37. 37 | Vgl. Luckmann 1991, S. 108.
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Der Wert der Selbsterkenntnis ist in zahlreichen esoterischen Traditionen zu finden; oft geht es um die Erkenntnis des Selbst mit dem Ziel, eine innere, als Geheimnis bezeichnete Wahrheit lesen, schauen, verstehen zu können.38 Selbsterkenntnis begegnet einem dabei als Grundprämisse einer Entwicklung des Menschen (Individuation). Eugen Mirsky denkt diesen Sachverhalt wie folgt: »Jedem jedoch, dessen Seele nach Licht und Wahrheit ringt, nach der Erkenntnis dieser gewaltigsten aller Daseinsfragen, können wir den Wahrspruch der überzeugten Okkultisten zurufen: Für die Anwendung eines irdischen Lebens kann es keinen erhabeneren Zweck geben, als die transszendetale [sic!] Natur des menschlichen Wesens zu beweisen versuchen, das zu einer weit erhabeneren Bestimmung berufen ist, als die phänomenale Existenz!« 39
Der Prozess des künstlerischen Experimentierens kann so gesehen auch als Transzendierungsprozess des Künstlersubjekts verstanden werden, als ein entlang von Grenzen verlaufendes, schrittweises Suchen nach dem Geheimnis des Schöpferischen an sich.40 Dieser Transzendierungsprozess ist vergleichbar mit dem initiatischen Weg des Neophyten durch ein esoterisches Einweihungssystem mit dem Ziel einer inneren Veredlung. Diese Gemeinsamkeit bezeugt die Kontinuität des Übermensch-Begriffes in der Moderne ebenso, wie die religiöse Seite des Blauen Reiters, Wassily Kandinskys »Epoche des großen Geistigen«, Arnold Schönbergs zu eigener Dichtung komponiertem Oratorium Die Jakobsleiter oder das Konzept des neuen Menschen am Bauhaus.41
38 | Vgl. Stuckrad 2004, S. 21. 39 | Mirsky 1924, S. 4f. 40 | Diese Suche ist ein Bildungsthema, wie ich es versuchte in Graeff 2013 am Beispiel Kandinskys zu zeigen. Das Erlernen eines schöpferischen Tuns an Welt mit dem Ziel einer möglichst allgemeinen Orientierung bzgl. des Umgangs mit Fremdem, Marginalem, Negativem, Unbestimmtem, Numinosem, Unerforschtem, Unbewusstem, Inoffiziellem, Verborgenem, schlichtweg mit dem Krisenhaftem während der Begegnung des Selbst mit der Welt, ist der Kerngedanke vieler bildungstheoretischen Überlegungen, z.B. der Wilhelm von Humboldts. Bei Humboldt lesen wir in Theorie der Bildung des Menschen vom »Geheimniss«, welches im »Fortschreiten bis zu diesem letzten Ziele« gesucht werden soll. Vgl. Humboldt 1793, S. 236. 41 | Vgl. Zelinsky 1983, S. 228.
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2. Welterkenntnis und Nähe zu den Wissenschaften Okkulte Kunst ist nicht nur erkenntnisstiftend im Hinblick auf das schöpferische Selbst, der beschriebene Veredlungsprozess führt bestenfalls auch zu erfahrungswissenschaftlichen Resultaten in Bezug auf Welt. Die Verquickung wissenschaftlichen Anspruchs im Okkultismus wie in der Kunst der Moderne gehörte zum guten Ton der Zeit. Auch Kandinsky forderte ungebrochen die »Notwendigkeit der Wissenschaft im allgemeinen, die aus einem un- oder außerzweckmäßigen Drang zu wissen frei herauswächst« 42 . Der Okkultismus – nicht nur im Sinne parapsychologischer Versuchsdesigns – konnte Sinnbild einer progressiven Wissenschaftskonzeption werden, insofern er manchen eine Möglichkeit zur Überwindung wissenschaftlicher Krisen galt: als experimentelle, praktische Natur- und Geisteswissenschaft.43 Nicht nur Rudolf Bernoulli, auch Künstler wie der Futurist Umberto Boccioni (1882-1916) oder Wissenschaftler wie William Crookes (1832-1919) oder Oliver Lodge (1951-1940) waren davon überzeugt, dass es für die »Suche nach bislang unsichtbaren Realitäten«44 eine entsprechende Forschungs- und Erkenntnismethode gebe. Abb. 3: Scherenschnitt mit dem Titel Okkulte Wissenschaft aus Eugen Mirskys Okkulte Kunst, Prag 1924, S. 23.
42 | Kandinsky 1926, S. 17. 43 | Vgl. Meedendorp 1995, S. 396. 44 | Henderson 1995, S. 14.
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Die Verschmelzung intentional nahe stehender Erkenntnisgebiete wie Wissenschaft, Kunst und Esoterik war den Akteuren besagter Milieus um 1900 keinesfalls unbekannt. Kunst und Wissenschaft teilen in ihrem experimentellen, erkenntnisstiftenden Feld eine Dialektik von Verborgenem und Geborgenem, von bereits Erforschtem und noch Unerforschtem; unterscheiden lassen sich Kunst und Wissenschaft ohnehin allein aufgrund »spezifischer Charakteristika von Symbolen«45, wie es Nelson Goodman in seinen Sprachen der Kunst (1968) konstatiert. Und das »Interesse an einem Symbol erreicht seinen Höhepunkt gewöhnlich im Augenblick des Erfassens, irgendwo in der Mitte auf dem Weg vom Obskuren zum Offensichtlichen«46, wie er weiter ausführt. Diese Vorstellung verbindet sich mit einer zentralen Anschauung esoterischer Provenienz: Die Dialektik von Verborgenem und Offenbartem. Esoterische Traditionen, und insbesondere ihre Techniken, sollen nicht nur eine Verbindung zwischen innerem Fühlen und äußerem Handeln herstellen, sondern sprechen sich für die Annahme verborgener Kräfte aus. Die okkulte Arbeit am schöpferischen Selbst besteht nun darin, diese metaphysischen Kräfte für das Leben der äußeren Handlungen zu akzeptieren, so dass, im Modus der Annahme, die Ambivalenz von Innen und Außen, Subjektivem und Objektivem, Aktivem und Passivem harmonisiert werden kann.47 Auf diese Weise lässt sich zuvor Verborgenes, Noch-Nicht-Bewältigtes bzw. NochNicht-Gewusstes bergen, bewältigen, lernen. Das Ziel der okkulten Arbeit ist daher nicht nur die »Zurückweisung der Hilflosigkeit, der gegenseitigen Isolation und der Sterblichkeit des Menschen«48, wie James Webb die mystische Befreiungsbewegung im Kontext des Okkultismus beschreibt, sondern auch eine Bildungsbewegung, die die Souveränität des Selbst gegenüber dem zuvor Okkulten kennzeichnet.49 Viele Künstler der Moderne suchten nach einer geeigneten Symbolsprache, die zwar künstlerisch, aber unterschwellig auch wissenschaftlich ausgerichtet war. Im Übergangsbereich vom Inoffiziellen zum Offiziellen, vom Verborgenen zum Geborgenen, fand ihre eigentliche künstlerische Tätigkeit statt. Die Funktion der Kunst um 1900 bestand darin, sich auf Grenzen und Übergänge 45 | Goodman 1997, S. 243. Das vollständige Zitat lautet: »Der Unterschied zwischen Kunst und Wissenschaft ist nicht der zwischen Gefühl und Tatsache, Eingebung und Folgerung, Freude und Überlegung, Synthese und Analyse, Empfindung und Reflexion, Konkretheit und Abstraktheit, Passio und Actio, Mittelbarkeit und Unmittelbarkeit oder Wahrheit und Schönheit, sondern eher ein Unterschied in der Dominanz bestimmter spezifischer Charakteristika von Symbolen.« 46 | Goodman 1997, S. 238f. 47 | Vgl. Stenger 1989, S. 124. 48 | Webb 2008, S. 481. 49 | Vgl. Stuckrad 2004, S. 21.
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zu konzentrieren. Denn die Grenzen und das Überschreiten dieser Grenzen ermöglichten ein Weiterstreben, den Prozess der Erkenntnis sowie die Entwicklung der Künstlerpersönlichkeit.
3. Subjektivismus und Devianz Okkulte Kunst verweist auf ein weiteres Symptom: Den okkult-inspirierten Künstlern ging es schwerpunktmäßig um die Verknüpfung der emotionalen und rationalen Modi des Subjekts während der Arbeit an den Grenzen des Herkömmlichen. Dabei wurde, wie es auch Rudolf Bernoulli in seinem Vortrag betont, die eigene Person selbst zum Thema gemacht. Die explizite Erwähnung des zu mehr Autonomie strebenden Subjekts der Moderne prägte bei manchem die Einsicht, die okkulten Phänomene als nicht mehr nur vorgefundene Entitäten, sondern auch als soziale Resultate, die im Wesentlichen intuitiver Vorstellungswelten der Subjekte angehören, zu betrachten. Hierin eingeschlossen waren immer auch psychologische Vorstellungen menschlicher Gefühlswelt sowie andere ›soft skills‹. Bernoulli schreibt über die Rolle der Intuition: »Die Intuition, das gefühlsmäßige Erkennen, spielt bei der Aufstellung der okkultistischen Hypothesen oft eine ausschlaggebende Rolle. Da aber der Okkultismus dieses Hypothesengebäude stets in der Tatsächlichkeit verankert, so korrigieren sich auffällige Irrtümer, die dabei mit unterlaufen, ganz von selbst.« 50
Das moderne Subjekt wandelte sich vom distanzierten Beobachter der okkulten Phänomene zum partizipierenden Gestalter der okkulten Phänomene. Man bediente sich bei psychologischen und ethnologischen Theorien. Entsprechende Debatten über Spiritismus und Okkultismus wurden kontrovers geführt. Am Ende des 19. Jahrhunderts glaubten berühmte Spiritisten wie Alexander Aksakow (1832-1903) noch an einen vom menschlichen Subjekt unabhängig agierenden Geist als Ursache der Phänomene. Andere dagegen, allen voran der Philosoph Eduard von Hartmann (1842-1906), vertraten mit der sogenannten Animismus-These die Auffassung, dass in der Psyche des Menschen nach der Ursache okkulter Phänomene gesucht werden müsse.51 Das im Spiritismus als 50 | Bernoulli 1919, S. 6. 51 | Das in der Okkultismusforschung als Animismus-Spiritismus-Kontroverse bezeichnete Ereignis beschreibt den Streit zwischen Hartmann und Aksakow. Hartmann fand für den Spiritismus ausschließlich psychologische Erklärungen, wohingegen Aksakow noch an den vor etwa 1880 vertretenen Theorien, vor allem an der Geisterhypothese festhielt. In seinem 1890 erschienenen Buch Animismus und Spiritismus gestand er zwar ein, dass die menschliche Psyche einen gewissen Anteil an den Phänomenen
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vom Medium als Fremdeinwirkung eines Geistes wahrgenommene Phänomen ging gemäß der animistischen Auffassung auf eine Art der »fabulation créatrice« (Bergson) eines autonom agierenden Selbst zurück.52 Gustav Meyrink, sicher in Kenntnis besagter Debatten, spitzte seine Aussage in Bezug auf die Freiheit als Ziel des Okkultismus wie folgt zu: »Ich habe gesagt, daß hinter dem Trieb zum Okkultismus der Hang zur Freiheit im Menschenherzen steht. Der Wunsch nach Freiheit ist in manchen […] so übermächtig, daß man ihn in das Wort fassen könnte: Ich will frei sein von Göttern und Gespenstern!« 53
Auch in den esoterischen Traditionen ist die konstruktiv-subjektive Erfahrung ein zentrales Merkmal, die freilich auch die Berufung auf außergewöhnliche und übersinnliche Bewusstseinszustände, die das Subjekt zu erfahren imstande sei, miteinschließt. Künstlerische Produktion um 1900 und die Praxis okkulter Anschauung haben gemein, dass ihre Methoden mehr als nur werkgerechte Betätigungen sind. Sie können als Denk- und Empfindungsweisen für die Erklärung von Subjekt und Welt gelten. Mit der Hervorhebung des Subjektiven im Werk, wird im sozialen Kontext der Gesellschaften jeweiliger Epochen ein weiteres Merkmal esoterischer Traditionen deutlich: Devianz. Viele der für Eugen Mirsky identitätsstiftenden, okkulten Bezüge seines Weltbildes zeichnen sich durch Abweichungen von bestehenden Konventionen aus. Die esoterischen Anschauungen, allen voran die der Hermetik, der Gnosis, der Alchemie, aber auch häretische Theologien der christlichen Religion verfolgten dabei das Ziel, sich von der hegemonialen Kultur abzugrenzen, sei dies von gängigen religiösen Lehrmeinungen oder wissenschaftlichen Anschauungen. Der Esoterik als Minderheitenposition geht es oft auch um eine »Ausgrenzung des Anderen«54 in der Form, dass die okkult-esoterischen Weltbilder als kulturkritisch, subkulturell und progressiv zu bezeichnen sind, wie wir bei Bernoulli und Mirsky exemplarisch gesehen haben. Es zeigt sich aber auch trage, Halluzinationen aber nicht ausreichten, um die »objektiven Wirkungen« okkulter Erscheinungen zu erklären. Vgl. Bauer 1995, S. 71. Mit Steffen Böhm et al. kann diese Kontroverse als Vorbedingung der Entdeckung des Unbewussten gelten. Böhm stellt heraus, dass die frühe Psychoanalyse in einer Kontinuität mit »okkultistischen und wissenschaftlichen Anwendungsweisen« stand und die animistische Auffassung im Okkultismus mit der Idee des Unbewussten insofern vergleichbar ist, dass es bei Hartmann »kein vom Menschen unabhängiges Bewusstsein« gebe und die okkulten Phänomene eben im »Unbewussten lokalisierte« Phänomene seien. Vgl. Böhm et al. 2009, S. 15f. 52 | Vgl. Gorsen 2007, S. 21. 53 | Meyrink 1923, S. 8. 54 | Stuckrad 2004, S. 22.
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im Fortschreiten der Moderne an aktuelleren Akteuren und esoterischen Vorstellungen.55 Kunst und Okkultismus können in einer soziologischen Deutung der Moderne somit als Entwicklungsmotoren eines allgemeinen Kulturpluralismus gelten, wenn gerade keine Trennung der esoterischen Anschauungen von der hegemonialen Kultur in der mentalitätsgeschichtlichen Deutung vorgenommen wird. Verbindendes Merkmal sind die Anlässe zur Befreiung von Zuständen gesellschaftlicher und religiöser Engeerfahrungen des 19. Jahrhunderts einerseits, und allzu rascher Fortschrittseuphorie andererseits. Der aus dieser pluralistischen Kultur56 heraus resultierenden künstlerischen Praxis lag eine Sichtweise zugrunde, die das Okkulte als zentralen Teil von Welt und Subjekt betrachtete. Die Aufgabe dieses Sets der vielfältigen Anschauungen bestand also schwerpunktmäßig im Bereitstellen alternativer Wege hinsichtlich weltanschaulicher Orientierungsparameter, aber insbesondere auch in Form von spezifischen Praktiken, die zur Erkenntnis über die zuvor okkulten Phänomene der Welt führen sollten.
D ie dunkle S eite der M oderne Auch wenn man, wie an der Biografie Eugen Mirskys gesehen, manch okkulter Vorstellung in gesellschaftlicher Perspektive sehr skeptisch gegenüberstand, zeigten nicht nur Kunsthistoriker wie Rudolf Bernoulli, Künstler wie Wassily Kandinsky oder Schriftsteller wie Gustav Meyrink ein großes Interesse am Okkultismus, auch Philosophen und Intellektuelle taten dies, etwa Traugott Konstantin Oesterreich (1880-1949), der mit seinen Schriften zum Okkultismus die Entwicklung der Parapsychologie in Deutschland maßgeblich prägte.57 Nach dem Zweiten Weltkrieg änderten sich diese Bewertungen aber radikal. Die bildende Kunst »der Sonnenseite«, wie sie Bernoulli noch verstehen wollte, wurde zur sarkastischen Maske. Gegen die Katastrophe des Zweiten Weltkrieges, des Holocausts und den Faschismus, der Europa durchzog, konnte auch die expressionistische Kritik am Status Quo der europäischen Gesellschaften nichts ausrichten. Das Dunkle war Alltag geworden, die Welt des schönen Scheins der Künste hatte ausgedient. Das musste Eugen Mirsky schmerzhaft am eigenen Leib erfahren. Nach der Okkupation der damaligen Tschechoslowakei durch deutsche Truppen im März 1939 war Mirskys Traum von der Künstlerkarriere abrupt zu Ende. Als 55 | Ein Beispiel hierfür ist die New Age-Bewegung. Vgl. Stenger 1989. 56 | Kocku von Stuckrad schreibt der Esoterik ebenso eine im Bereich der Religion pluralisierende Aufgabe zu. Vgl. Stuckrad 2004, S. 15ff. 57 | Vgl. z.B. Oesterreich 1920.
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Jude war er ständiger Diskriminierung ausgesetzt, seinen Lebensunterhalt konnte er gleich gar nicht mehr bestreiten. Am 10. Mai 1942 wollte er seinem Leben ein Ende setzen. Er ließ sich von einem deutschen Wachmann verhaften und erklärte diesem, Selbstmord begehen zu wollen, aber keinen Mut dazu zu haben. Auf dem Kommissariat gab er seine Ausweisdokumente ab und begann sich zu entkleiden. Nach einem kurzen Aufenthalt in einer Nervenklinik wurde er schließlich nach Theresienstadt deportiert und von den Nazis in einem Vernichtungslager ermordet.58 Ganz im Gegensatz zu den hehren Zielen vieler Okkultisten, die neue, progressive Grenzwissenschaft zum Wohle der Freiheit des Menschen einzusetzen, konnte auch diese, wie die Kunst, nichts ausrichten, ja sie selbst wurde nun in bestimmten Deutungen mit Antisemitismus, Rassismus und Faschismus vermengt. Nach dem Krieg und der Kapitulation Hitlers war die milde Bewertung des Okkultismus, eine »Metaphysik der dummen Kerle« zu sein, hiergegen hart geurteilt wurde, ihn pauschal als institutionellen Bundesgenossen des Nationalsozialismus zu denunzieren, was wissenschaftlich sicher nicht haltbar ist.59 Zum okkultismusfeindlichen Klima nach dem Zweiten Weltkrieg trug maßgeblich Theodor W. Adorno (1903-1969) bei. Mit seiner Polemik Thesen gegen den Okkultismus (1946/47) prägte er die Rezeption okkult-esoterischer Traditionen für Jahrzehnte. Dabei trifft Adornos Kritik nur einen Aspekt des Phänomens, nämlich die weltanschauliche Seite des Okkultismus, der als »Reflexbewegung auf die Subjektivierung alles Sinnes«60 den Erscheinungen der Welt einen essenzialistischen Wahrheitsgehalt zuschreibe, wie es im Übrigen andere religiöse und weltanschauliche Überzeugungen auch tun, und die von Adorno nicht berücksichtigt wurden. Ebenso nicht berücksichtigt wurden von ihm die Selbstbeschreibungen der Akteure jenes Phänomens, denen er vor allem als Sozialwissenschaftler mit mehr Unvoreingenommenheit hätte begegnen müssen. Für Carl Kiesewetter etwa stand fest, dass »der Occultismus weder eine christliche, noch eine buddhistische, noch überhaupt irgendeine religiöse Lehre«61 darstelle. Zutreffend ist Adornos Kritik dagegen aber hin58 | Vgl. Binder 2006, S. 470. 59 | Vgl. Webb 2008, S. 391. Bzgl. der Verbindung von Nationalsozialismus und »irrationalistische[r] und okkulte[r] Ideen aus dem Untergrund« schreibt Webb: »Wegen der Erfordernis einer wirkungsvollen Regierung wurden die Irrationalisten beinahe per definitionem von der Macht ausgeschlossen. Aber im privaten Glauben Hitlers, Himmlers und Rosenbergs blieb vieles vom Irrationalismus ihrer frühen Tage zurück, den sie jedoch grundsätzlich von der Ausübung ihrer Herrschergewalt zu trennen vermochten.« Siehe Webb 2008, S. 388f. 60 | Adorno 2003, S. 276, 274. 61 | Kiesewetter 1891, S. XII.
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sichtlich der Entwicklungen eines Marktes der spirituellen, religiösen und esoterischen Angebote, in dem einer »zum Produkt geronnen Welt […] ihr Produziertsein durch Menschen«62 vergessen wurde. Die Vorzeichen verschoben sich. Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte die Kunst jene progressive Aufgabe zu erfüllen, wie sie Bernoulli noch seiner Zeit dem Okkultismus zugeschrieben hatte. Keine Rede war mehr vom strahlenden Licht der bildenden Künste und ihrer Sonnenseiten. Jetzt konnte sie nur dann im gesellschaftlichen Diskurs bestehen, wenn sie kritisch war und die Grausamkeit der Geschichte, die Dialektik der Aufklärung sowie die Doppelbödigkeit der bürgerlichen Gesellschaft konsequent zum Thema hatte. Die Attribute verschoben sich. Das okkult-esoterische Denken inklusive seiner sozialen Funktion brachte neue Erscheinungen zu Tage. In Gestalt der New Age-Bewegung kündete nun das okkulte Denken eher von den Sonnenseiten des Lebens, die Kunst hingegen blieb dunkel. Unter ›New Age‹ wird gemeinhin eine Bewegung der 1980er Jahre verstanden, die sich von den USA aus im deutschsprachigen Raum durch zunehmende gesellschaftliche Breitenwirkung auszeichnete. Kerngedanke des New Age ist die Verbindung verschiedener wissenschaftlicher und esoterischer Anschauungen zu der Vorstellung eines neuen weltanschaulichen Paradigmas, das insbesondere durch ein ökologisches und spirituelles Bewusstsein gekennzeichnet ist. Der Begriff ›okkult‹ wurde von New-Age-Akteuren eher vermieden, stattdessen wurden andere Labels für verwandte Denkfiguren verwendet, z.B. ›spirituelle Evolution‹.63 Zentrales Ziel der New Age-Bewegung war die Transformation des individuellen Selbst als Mittel zur Reinigung des kosmischen Bewusstseins und zur Heilung der Welt, ein Motiv, das in ideengeschichtlicher Kontinuität steht mit der sozialreformerischen Befreiungsfunktion vieler okkult-esoterischen Bewegungen um 1900.64 Hinsichtlich der geforderten Transformation des Selbst und der Gesellschaft kann mit Horst Stenger festgehalten werden, dass der »spirituelle Weg zu anderen Kräften und Wirklichkeiten« dem Menschen dabei helfe, »sich von den Zwängen seines gesellschaftlich konditionierten Ichs zu befreien, das wahre Selbst zu verwirklichen und zu einer transformierten Gesellschaft beizutragen«65. Stenger unterscheidet auch – in Kenntnis der einseitigen Kritik Adornos – einen »theoriegeleiteten Okkultismus«, der »ernsthaft« auf der Suche sei und Theorien des Okkulten entwickele, die zu einem Kompetenzzuwachs bezüglich Selbst- und Weltreflexion führen, und einen »manipulativen Okkultismus«, dem es vor allem um die Konstatierung einer 62 | Adorno 2003, S. 274. 63 | Vgl. Webb 2008, S. 143f. 64 | Vgl. Küenzlen 1987, S. 207ff. 65 | Stenger 1989, S. 123.
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»Realität okkulter Dimensionen« ginge und mehr nach Bewältigungsstrategien für den Alltag mittels weltanschaulicher Ratschläge suche.66 Vor dem Hintergrund dieser Unterscheidung trifft Adornos Kritik also nur die manipulative Dimension des Okkultismus, die vor der Schablone eines säkularen, liberalen und egalitären Menschenbildes auch keine Besonderung mehr darstellt, da diese Dimension auf nahezu alle Religionen und Weltanschauungen zutrifft. Adorno lässt die Dimension eines theoriegeleiteten Okkultismus komplett außen vor. Horst Stenger dagegen geht mit seinen wissenssoziologischen Deutungen des New Age weit über die Vorstellung eines mystischen Befreiungsmomentes, wie es James Webb für das okkulte Denken gesehen hat, hinaus. Er kommt zu dem Schluss, dass eine »okkulte Dimension für ein stabiles kognitives Äquivalent eines anthropologisch konstanten Modus der Wirklichkeitserfahrung« verantwortlich gemacht werden kann. Okkultes Denken trägt damit ebenso zur Emanzipation moderner Subjekte bei wie die Denkfigur des Okkulten Teil alltäglicher Wahrnehmungs- und Reflexionsmodi des Subjektes sein kann. »Die Konstruktion sinn- und ordnungsstiftender Kategorien ist eine beständige menschliche Aufgabe und Leistung, auf kultureller wie auf individueller Ebene. Sich selbst die Welt zu geben und das Gegebene als ›maximale‹ Wirklichkeit zu nehmen bezeichnet den grundlegenden Vorgang, in dem ›Weltoffenheit‹ zu festen Strukturen verdichtet und Kontingenz in Komplexität umgewandelt wird. Die selbst›hergestellte‹, strukturierte und komplexe Wirklichkeit ›produziert‹ nun fortlaufend Phänomene und Handlungsbedingungen, die als nichtintendiert, ›naturhaft‹ oder ›außermenschlich‹ verursacht auf die Produzenten der Wirklichkeit zurückwirken und in eben diesem Modus erfahren werden – als unkontrollierbar. Wirklichkeitserfahrung bewegt sich also stets im Spannungsfeld zwischen Kontrollieren-Wollen und immer nur partiell […] erreichbarem KontrollierenKönnen. In dieser Erfahrung der Wirklichkeit erlebt sich das Subjekt mithin nicht nur als Gestalter, sondern auch als Objekt von Kräften, Einflüssen oder Mächten, die offenbar von außen Handlungsbedingungen setzen und Spielräume festlegen. Dieses anthropologische Strukturelement von Wirklichkeitserfahrung, das Objekterleben gegenüber einer Außenwelt, deren Ordnung undurchschaubar und gefährdet zugleich scheint und die sich stets von neuem den Kontrollversuchen entzieht, begründet eine ›okkulte Dimension des Alltagsbewußtseins‹.« 67
66 | Vgl. Stenger 1989, S. 130. Hier setzt auch Adorno an, wenn er schreibt: »Denn die Okkulten sind praktische Leute. Sie treibt nicht eitle Neugier, sie suchen Tips.« Siehe Adorno 2003, S. 278. 67 | Stenger 1989, S. 124.
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Adornos normative Bemühungen, der ›Kunst nach Auschwitz‹ bestimmte moralische Aufgaben zu unterstellen, um in gesellschaftlichen, säkularisierten und bildungsbürgerlichen Diskursen der Nachkriegszeit ernst genommen zu werden, verfehlten ihr Ziel nicht; vielleicht nicht unbedingt allein aufgrund von Adornos Kritischer Theorie, wohl aber im steigenden (Geschichts-)Bewusstsein und in Kenntnis der ›dunklen Seite der Moderne‹. Kunst und Kunstdiskurs der Nachkriegszeit wurden durchaus von kritisch-politischem Engagement begleitet. Die Nachkriegsavantgarde berief sich jedoch – entgegen ihrer Vorgänger – gerade nicht offen auf religiöse oder mystische Kulturbestände, sondern eher auf politische. Dennoch war das Denken des Unbestimmten, des Metaphysischen, des Mystischen und des Okkulten nicht verlorengegangen, nur war es nicht mehr sichtbar, sondern einmal mehr marginalisiert worden. Nachkriegskünstler und -schriftsteller wie Joseph Beuys (1921-1986), Paul Celan (1920-1970), Wolfgang Borchert (1921-1947) oder Sigmar Polke (1941-2010) sind vielleicht nur die bekanntesten Beispiele. Auch in der Literatur, der bis heute eine Emanzipationsfunktion sowie politisches Engagement zugesprochen wird68, gab es nach dem Krieg latente Spuren jenes Denkens, das Adorno so leidenschaftlich kritisierte. Max Frisch (1911-1991) etwa, einer der politisch engagiertesten Schriftsteller der Nachkriegszeit, notierte ab 1966 in seinem berühmt gewordenen Fragebogen zu Themenbereichen wie »Erhaltung des Menschengeschlechts«, »Hoffnung«, »Geld«, »Freundschaft«, »Heimat« oder »Tod« auch Fragen mit unverkennbar metaphysischer Dimension: z.B. »Möchten Sie unsterblich sein?«, »Haben Sie schon Tote geküsst?«, »Hoffen Sie auf ein Jenseits?« oder »Was bekräftigt Sie in Ihrer persönlichen Hoffnung: a. Zuspruch? b. die Einsicht, welchen Fehler Sie gemacht haben? c. Alkohol? d. Ehrungen? e. Glück im Spiel? f. ein Horoskop? g. dass sich jemand in Sie verliebt?«69 Die Suchbewegungen nach dem Zweiten Weltkrieg, eine Epoche, die gerne als ›Postmoderne‹ bezeichnet wurde und wird70, waren nicht nur vom Engagement politischer Provenienz geprägt, sie blieben ebenso durchdrungen von den unentscheidbaren Fragen des Lebens71, von metaphysischem Denken und jenem ›Feind‹, den James Webb wie Adorno als Grundübel der Moderne kennzeichneten: dem Gefühl – inklusive dessen Bedeutung für »irrationale Systeme«, vor allem aber für eine Deutung des Gefühls als »aktive Opposition zum Rationalen« 72 . Diese »irrationalen Systeme« hatten ihren Ursprung jedoch keinesfalls allein in der Opposition, auch wenn das progressive Denken 68 | Vgl. Hettche 2017, S. 42. 69 | Vgl. Frisch 2016, S. 31. 70 | Vgl. Bürger 2000, S. 7. 71 | Vgl. Foerster 1993, S. 73. 72 | Vgl. Webb 2008, S. 23.
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des frühen 20. Jahrhunderts das Motiv der Devianz als zentralen Teil ihres Programms (re-)produzierte. Vorrangig ging es gerade in Abgrenzung zur hegemonialen christlichen Jenseitsvorstellung um »Versuche, das schwankende soziale Gefüge wiederherzustellen« 73. Als Reaktion auf die nicht nur religiöse Orientierungen pluralisierenden Entwicklungen der New Age-Bewegung Ende der 1980er Jahre in Deutschland – auch künstlerische Positionen zeigten immer mehr New Age-Elemente74 –, räumte der Kunstpädagoge und Adorno-Schüler Helmut Hartwig bestimmte Fehldeutungen im Hinblick auf die Kontinuität des okkulten Denkens ebenso wie der Kunst in der Nachkriegszeit ein. In seinem Vortrag mit dem Titel Kunst und Okkultismus: New Age Kultur und die Notwendigkeit einige Unterscheidungen zu machen im Rahmen des Kongresses der International Society for Education through Art (InSEA) in Stockholm 1988 stellte er den Versuch an, mit einem bestimmten, kulturkritischen Mythos der Zeit aufzuräumen, den er mit den Schlagworten »Postmoderne – New Age – Ende der Aufklärung?« kennzeichnete. »Ich selbst habe seit 20 Jahren daran mitgearbeitet, daß soziologische und sozialwissenschaftliche Fragestellungen im Umgang mit Kunst und kultureller Praxis eine gewichtige Rolle spielen. Wir haben heiß gestritten um die Frage, was der Warencharakter der Kunst für die künstlerischen Produktionsweisen bedeutet. […] Wir haben auch dafür gearbeitet, dass der Kulturbegriff erweitert wird. Nicht mehr nur die Hochleistungen sollten den Namen Kultur verdienen, sondern alles, was die Menschen an Praxis entwickeln und entwickelt haben, um über den Arbeitszwang hinaus ihre Sinne, ihren Verstand und ihre Gefühle in Bewegung zu halten. Nein: ich muß mich korrigieren: von Gefühlen war damals keine Rede. Das war ein schmutziges Wort, das radikal unter Ideologieverdacht gestellt war. Und damit bin ich schon an der Grenze zur Gegenwart. Genau in dieses Loch, dort wo die Wünsche und Ängste unbestimmt sind und sich Sehnsüchte nach Sinn entwickeln, die sich nicht mit rationalen Strategien begrenzen lassen wollen, machen die aktuellen kulturellen Bewegungen ihre Angebote. Das aber ist traditionell auch ein Ort von Kunst.« 75
Für Helmut Hartwig waren die Denkfiguren des Okkultismus, der seiner Zeit in Gestalt der New Age-Bewegung in Erscheinung getreten war, nichts weniger als eine kulturelle Bewegung der Art, »wie Menschen leben und wie sie nach Sinndeutungen des Lebens suchen« 76. Diese Sinndeutungen durchdrangen nicht nur die damalige, zeitgenössische Kunst, sondern knüpften an 73 | Webb 2008, S. 37. 74 | Vgl. Szeemann 1985. 75 | Hartwig 1990, S. 6. Hervorhebungen dort. 76 | Hartwig 1990, S. 5.
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viel ältere kulturelle Bestände an wie Astrologie oder Kabbala, und sie schufen neue, synkretistische Gebilde wie die Neuropolitik eines Timothy Learys (1920-1996) oder die ökologische Quantenmystik eines Fritjof Capras. Hartwig verabschiedete sich von Adornos Polemik, wonach der Okkultismus bloß das »Symptom der Rückbildung des Bewußtseins« 77 sein sollte. Im Gegenteil, er hebt in seinem Vortrag aus dem Jahr 1988 endlich die subkulturelle Rolle des Okkultismus hervor. Hiernach seien kulturelle Bewegungen, wie er sie versteht, vor allem geprägt durch »ein gespanntes Verhältnis zur Tradition und zu den kulturellen Institutionen« 78. Gottfried Küenzlen hat 1987 mit seiner Studie zum kulturellen und gesellschaftlichen Hintergrund der New Age-Bewegung vergleichbare Momente herausgearbeitet. Auch er sieht in der Pluralisierung der Religion durch alternative Angebote des Weltanschauungsmarktes eine Emanzipationsfunktion der Gesellschaft. Zunächst geht er davon aus, dass seit der Aufklärung die auf ein Jenseits ausgerichtete, traditionelle Religion der »diesseitige[n] Freiheit« als »Emanzipationshindernis« galt, welches, wie Küenzlen hervorhebt, erst im 19. Jahrhundert eintrat. Ausgehend von dieser Beobachtung schlussfolgert Küenzlen, dass es aufgrund der säkularisierten, materialistischen und allein an Sachzwängen orientierten Auffassungen zu Defiziterfahrungen gekommen sei, die in dem Erstarken esoterischer und neureligiöser Angebote eine »Antwort auf die Ohnmachtsgefühle angesichts der übermächtigen Sachzwänge« gefunden zu haben scheinen. Aus der Vorstellung heraus, dass »Religion als Emanzipationshindernis schlechthin« 79 verstanden wurde, reagierten die im Sinne modernder Prinzipien geläuterten, eher vagabundierenden, pluralistischen, privatistischen und diesseitigen Religionsauffassungen mit diesem Wandel.80 Dies kann dabei jedoch nicht nur als kompensative Reaktion auf das spirituelle Vakuum des ausgehenden 18. und 19. Jahrhunderts verstanden werden, sondern gleichfalls als Bewegung, die einen »Orientierungsbedarf« deckt, der gerade »in der Krise der tradierten Sinnbestände« auf die eigenständige und freie »Suche nach tragenden Sinngebungen« 81 seitens moderner Subjekte setzt. Die okkulte Dimension des Alltagsbewusstseins, wie es Stenger nannte, verweist nicht nur auf einen Lebensentwurf, dem genuin okkult-esoterische Stoffe zugrunde liegen, sondern zeigt vielmehr, dass okkulte Denkmuster im intellektuellen Milieu und Bewusstsein um 1900 ebenso wie um 1980 noch fest verankert waren, ohne dass diese Verankerung immer zwingend einen expliziten
77 | Adorno 2003, S. 273. 78 | Hartwig 1990, S. 5. 79 | Küenzlen 1987, S. 191, 211, 216. 80 | Vgl. Luckman 1991, S. 127, 130ff. 81 | Küenzlen 1987, S. 204.
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Ausdruck in einem gesinnungsmäßigen Bekenntnis oder einer Mitgliedschaft in entsprechenden Gruppierungen gefunden hätte.
A k tualität des Tr anszendenten in der K unst Die allgemeinste Aussage einer okkulten Kunst ist, dass mittels ihrer Werke etwas Verborgenes explizit zum Thema gemacht wird. Das kann auf Werkebene als »Aussage« (Danto) bezeichnet werden, die mehr der Frage folgt, wie dieses Thema durch das Werk präsentiert wird, als der Frage nach dem Inhalt, dem Was.82 Das Werk ist nicht plakativ in dem Sinne, dass es nur etwas als ›okkult‹ Bezeichnetes abbildet. Okkulte Kunst polarisiert, zeigt Spannungsfelder, macht explizit. In Anlehnung an Nelson Goodman könnte man sagen: Ein ›okkultes Kunstwerk‹ exemplifiziert das Okkulte.83 Das heißt, das Kunstwerk wird zur beispielhaften Probe für das Verborgene, das Marginale, das Deviante, das Inoffizielle usw. – auf formaler Ebene (i). Ein ›okkultes Kunstwerk‹ thematisiert das Okkulte durch seine Exemplifikation aber noch auf anderen Ebenen. Das Okkulte wird vor dem Hintergrund dieser systematischen Überlegung als etwas verstanden, das leer und offen zugleich ist – und deshalb befüllt werden kann und befüllt wird. Es gibt zahlreiche Traditionen, Weltanschauungen und Philosophien, die diese Leere anreichern mit Inhalten. Dabei liefern einige dieser Traditionen nicht nur okkulte Stoffe für die ›leere Form‹, sondern haben das Okkulte bzw. die Leere ebenso explizit zum Thema. Das sind Bestände wie etwa die Kabbala, die Hermetik, die Gnosis oder auch der Animismus – alles Themen der Beiträge dieser Anthologie. Diese, und viele andere, sind Quellen auf der Ebene der Inspiration des Werkes (ii). Solche Bestände fungieren aber nicht nur hinsichtlich ihrer weltanschaulich-inhaltlichen Befüllung zwecks sinnstiftender Rückversicherung seitens der Individuen im Bereich der Künste. Als »kulturelle Ressourcen« – wie Francois Jullien das nennt, was in der vorliegenden Einleitung bisher als »kulturelle Bestände« bezeichnet wurde – »rufen [sie] denjenigen, der sich für sie interessiert, vielmehr dazu auf, sie zu reinvestieren, sie dadurch fruchtbar zu machen und ihnen eine neue Zukunft zu eröffnen – eine Zukunft, die es noch zu entdecken gilt«. Weder werden sie im Sinne einer kulturellen Tradierung
82 | Arthur C. Danto verdeutlicht allgemein dieses Wie der Darstellung in Danto 1991, S. 224. Hier heißt es: »Das Medium ist nicht die Botschaft, sondern die Form, in der die Botschaft überreicht wird, und dies wird von den Künstlern, die sich der Struktur der Medien bewußt geworden sind, als stilistisches Mittel benutzt.« 83 | Vgl. zum Begriff der Exemplifikation Goodman 1997, S. 59ff.
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»bewahrt«, noch »weitergegeben oder überliefert« 84. Auf dieser Metaebene (iii) fragen sich die Akteure im Falle der okkulten Kunst beständig: Was ist das Okkulte? Sie forschen und betreiben einen »theoriegeleiteten Okkultismus« ohne zwingend Antwort auf die Frage zu erhalten – ein ›Rest‹ bleibt okkult. Okkultismus, so gesehen, stellt eine kulturimmanente Denkfigur dar, die mit der Reinvestition genannter okkulter Traditionen beginnt und sich in gegenwärtigen künstlerischen Bewegungen zeigt. Nicht nur Werke okkulter Kunst zeigen diesen Forschungsgedanken, wenn auch im vorliegenden Falle explizit bezogen auf das Okkulte. »Ein Werk zu interpretieren heißt«, wie Arthur C. Danto schreibt, »eine Theorie anzubieten, worüber das Werk ist und was sein Sujet ist.« 85 Ein Künstler, dessen Intention es also ist, eine Kunst zu schaffen, die Verborgenes explizit zum Thema macht, wird eben in devianten und subkulturellen Traditionen einen vielfältigen Inspirationsschatz finden. Diese sind aber keinesfalls nur passive Inspirationsquellen, sondern immer auch mit dem Prozess des gegenwärtigen Kunstschaffens selbst verknüpft. Das Kunstwerk als Ergebnis dieses reinvestierenden Inspirations- und Schaffensprozesses bringt sowohl die beispielhafte Probe des Okkulten, als auch – wenn vorhanden – besagte inspirierende Traditionen immer symbolisch-komplex 86, eher indirekt, unpräzise, und je nach Formsprache mal mehr, mal weniger stark kodiert zum Ausdruck. Dadurch attribuiert sich die Kunst formal wie die inspirierende Ressource inhaltlich als ›okkult‹. Produktionsästhetisch kann eine okkulte Kunst als partikulare Alchemie des Künstlers verstanden werden, der mit seiner Welt (und Kultur) auf die Weise verbunden ist, dass er – wie der »›Reichtum‹ der Ressource« selbst – »stets ein Moment des Virtuellen und Grenzenlosen« 87 bewahrt. Vor dem Hintergrund des hier angewendeten Kulturbegriffes Francois Julliens kann eine solche Kunst dann auch nicht reduziert werden auf die Annahme einer Privatmythologie des Künstlers88, vielmehr ist sie politisch, weil sie auf eine noch nicht entdeckte Zukunft referiert. Sie verfolgt gerade nicht das Ziel, Produzent und Rezipient von der Welt zu lösen oder zu entlasten – wie es viele der inspirierenden, oft religiösen Ressourcen tun –, sondern fokussiert durch die nicht eindeutige Kodierung gerade das Gegenteil. Okkulte Kunst ist politisch insofern, dass ihre Werke immer im Spannungsfeld von Vergangenem und Zukünftigem, von Etabliertem und Progressivem, von Vielfältigem und Einheitlichem oszillieren. 84 | Jullien 2017, S. 67. Hervorhebung A.G. 85 | Danto 1991, S. 184. 86 | Vgl. Danto 1991, S. 159. 87 | Jullien 2017, S. 66f. 88 | Vgl. Szeemann 1985, S. 232.
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Die Untersuchung einer Kunst, die solche Denkräume eröffnet, ist längst nicht mehr nur ein Gegenstand der historischen Forschung. Zahlreiche Ausstellungen der letzten Jahrzehnte zeigen, dass das Verborgene in der Kunst auch in der gegenwärtigen Kunstpraxis und -vermittlung verstärkt eine Rolle spielt. Und auch Feuilleton und Kritik ziehen nach.89 Seit etwa Mitte der 1990er Jahre werden Kunst und Literatur verstärkt eine Neigung zu Metaphysik und Transzendenz unterstellt. Diese Unterstellung gründet sich dabei weniger auf religiöse Kontexte, als auf epistemologische und anthropologische. Auch die verwendeten Begriffe sind dabei – entgegen der Sprache der klassischen Moderne – seltener religiös geprägt. Statt »Gott« oder »Erlösung«, liest man »Authentizität«, »Spiritualität« oder »Ganzheitlichkeit«. Besagte Neigung wird aber eben nicht nur vonseiten der Rezeption bestätigt, auch die Künstler selbst werden nicht müde, ihre Kunst in einem metaphysischen Kontext zu deuten. Der erste, der sich diesen Kontexten widmete, war in Deutschland Veit Loers, der 1995 mit seiner kunsthistorischen Ausstellung Okkultismus und Avantgarde in der Frankfurter Kunsthalle Schirn und dem gleichnamigen Forschungskatalog den Anfang einer mittlerweile gängigen Forschung machte.90 Für die Kunst- und Literaturwissenschaft jenseits epochengeschichtlicher Dogmatik, aber vor allem für die Kultur- und Religionswissenschaft stellt eine solche Forschung heute nichts besonderes mehr dar, galt sie auch Mitte der 1990er Jahre noch als skurriles und zweifelhaftes Vorhaben. Ab 2000 folgten dann zahlreiche Publikationen zum Thema.91 Neben den historischen stellen die systematischen Arbeiten zum besagten Phänomen dieser Tage einen wirklich neuen Forschungsteil dar. Die vorliegende Anthologie will hier einen Beitrag leisten, ohne historische Quellen, Forschungen und Bezüge auszuklammern. Denn selbstverständlich sind die weltanschaulichen Kontexte als
89 | Einen sehr guten Überblick über die Rezeption des Okkulten in den Medien, in Feuilleton und in der öffentlichen Meinung gibt eine Studie des Kulturwissenschafters Thomas Steinfeld, der 2011 dem Okkultismus eine ganze Ausgabe der Neuen Rundschau (Heft 2/2011) widmete. Die darin versammelten Texte entstanden in einem 2009 stattgefundenen Seminar am Kulturwissenschaftlichen Institut der Universität Luzern. Fragestellung war, welche Rolle okkulte Denkweisen und esoterische Traditionen für die abendländische Kulturgeschichte bis heute gespielt haben und »in welchem Maße der Okkultismus eines der zentralen Motive der Moderne ist, in der Technik, in den Naturwissenschaften, in der Kunst, im gesellschaftlichen Leben, in der Wirtschaft«. Siehe Steinfeld 2011a, S. 8. 90 | Vgl. Loers 1995. 91 | Vgl. Kury 2000, Stockhammer 2000, Pytlik 2005, Wagner 2005, Dichter et al. 2007, Neugebauer-Wölk 2008 sowie Richter 2009.
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historische Inspirationsquellen von systematischen, kunst- und literaturwissenschaftlichen Analysen nicht zu trennen. Bei einem allgemeinen Transzendenz-Begriff, der weniger religiöse Überlegungen mit einschließt, stattdessen anthropologische und epistemologische fokussiert, bedient sich auch der Slawist Raoul Eshelman mit seinem ›Performatismus‹-Projekt – ein aktuelles Beispiel für eine systematische Herangehensweise im besagten Forschungsfeld. Eshelman konstatiert für die Kunst der späten ›Postmoderne‹, insbesondere für Literatur und Architektur, eine bestimmte Richtung, die einen Glauben an jene im Werk beschworenen Kräfte bei den Lesern simuliere. Diese Simulation des Glaubens an das Unwahrscheinliche und Fantastische, an andere Subjekte oder überindividuelle Kräfte stellt den Kerngedanken des sogenannten Performatismus dar. Die überindividuellen Kräfte zeigten sich dabei aber nicht zwingend als Gott oder Schicksal, sondern vor allem in Gestalt immanenter Werte und indirekter Transzendenz.92 Performatistische Kunst favorisiert demnach eine Hervorhebung des aktiven Subjekts in der Form, dass es nicht nur Produkt gesellschaftlicher Diskurse sei, die im Werk durch kritisches Bewusstsein wahrnehmbar werden sollen, sondern sich durch die Hervorhebung eines subjektivistischen Autors affirmativ erst an die individuelle, dann an die gesellschaftliche Umgebung ankoppele. Aber nicht nur Wissenschaftler beschäftigen sich dieser Tage mit der Thematik. Vor allem sind es Schriftsteller und Künstler, die sich zu Metaphysik und Transzendenz verschiedener Spielarten bekennen und den Diskurs bereichern. Ein weiteres, wenn auch auf den ersten Blick nicht allzu offensichtliches Beispiel innerhalb dieses Diskurses, das das Thema berührt, ist das Anthropozän-Projekt, das sich auf die Gegenwartskunst und -literatur ausgewirkt hat.93 92 | Vgl. etwa Eshelman 2000, Eshelman 2008 sowie Eshelman 2015. Das Konzept immanenter Transzendenz ist freilich kein Novum und auch keine Erfindung Eshelmans, auch wenn dieser das Konzept in seinen Ausführungen zum Performatismus als originär kennzeichnet und der Epoche der Postmoderne zuordnet. Eshelman übersieht, dass dieses Konzept bereits zentrales Programm vieler progressiver Bewegungen der Moderne gewesen war, seien dies künstlerische Positionen wie die etwa des Blauen Reiters, lebensreformerische Programme oder Anschauungen neureligiöser Provenienz. Kritisch ist zudem auch die objektive Setzung einer teleologisch bestimmten Rhythmik historischer Epochen zu beurteilen, wie sie Eshelman ohne Berücksichtigung kritischer Einlassungen zum Thema ›Postmoderne‹ (vgl. z.B. Bürger 2000, S. 185) vornimmt. 93 | Der erste, der den Begriff des Anthropozäns gebrauchte war der Meteorologe Paul Crutzen, der in seinem in der Zeitschrift Nature (Heft 415/2002) erschienenen Artikel Geology of mankind die These aufstellte, dass der Mensch durch die Eingriffe in die Natur in hohem Maße zum geologischen Faktor geworden sei, und dass es eine neue erdwissenschaftliche Epoche geben müsse, die diese anthropogene Einflussnahme be-
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Die grundlegende These dieses Ansatzes stammt diesmal nicht aus dem Inspirationsfeld esoterischer Traditionen oder dem New Age, sondern aus der Naturwissenschaft – und ist deswegen nicht weniger metaphysisch. Schließlich handelt es sich bei dem Anthropozän als einem neuen Erdzeitalter nicht um ein geologisch beobachtetes Phänomen, sondern allein um ein transzendentes Erkenntnismittel, das auf eine fiktive Zukunft verweist, um gegenwärtig Aussagen treffen zu können.94 Interessant ist, dass sich das Anthropozän genauso einem Erklärungsversuch des »Weltganzen« verpflichtet und ein neues »System der Hypothesen«95 präsentiert wie es Rudolf Bernoulli 1919 für dem Okkultismus behauptete. Das Motiv des progressiven Denkens scheint durch. Bisher wurden nicht nur Ausstellungen zur künstlerischen Aneignung des naturwissenschaftlichen Phänomens »Anthropozän« ausgerichtet96, auch in der Gegenwartslyrik fand das Anthropozän seinen Niederschlag.97 Metaphysik und Transzendenz sind wieder legitime Themen progressiver Gegenwartskunst und -literatur geworden, das Vorurteil in Bezug auf die historische Bedeutung des Okkultismus, auf das Thomas Steinfeld 2011 hingewiesen hatte, wurde durch zahlreiche Ausstellungen und Publikationen entkräftet, da man die Minderheiten-Mehrheiten-Problematik, die nichtetablierten Positionen im Feld der Weltanschauungen anhaften, erkannte. Gleichzeitig werden aber auch andere Vorzeichen sichtbar. Das Thema treibt nicht nur das progressive und politisch sensible Lager der Gegenwartskunst und -literatur um, auch Akteure eher konservativer und gegenwartskritischer Positionen prägen den Diskurs mit der Tendenz, den »religiösen Ursprung« etwa der Literatur hervorzuheben und ihren Bezug zur »Unendlichkeit« für gegenwärtige Literatur anschlussfähig zu machen. Dies gleichfalls nicht durch explizit religiöse Literatur, sondern vielmehr durch einen rückwärtsgewandten Blick auf vormoderne Anschauungen und künstlerische Positionen. Für den Schriftsteller Thomas Hettche etwa stand im Zentrum der Literatur »immer das Wunder, daß Wörter lebendig werden können. Und meist hat die Literatur gar nicht versucht, den religiösen Ursprung ihres Wunders der Erfindung zu kaschieren.
rücksichtige. Er nannte die Epoche, die »mit der Industriellen Revolution im späten 18. Jahrhundert begonnen« habe, Anthropozän. Vgl. Trischler 2016, S. 268ff. 94 | Vgl. Falb 2015, S. 10ff. 95 | Bernoulli 1919, S. 5. 96 | Vgl. Willkommen im Anthropozän. Unsere Verantwortung für die Zukunft der Erde (2014-2016) im Deutschen Museum sowie Das Anthropozän-Projekt (2013-2014) im Haus der Kulturen der Welt. 97 | Vgl. Bayer/Seel 2016.
Okkulte Kunst Heute aber, in der Begeisterung für die schlechte Unendlichkeit des Netzes, droht dieses Wunder in Vergessenheit zu geraten. Nichts wäre furchtbarer.« 98
Hettche dient an dieser Stelle als Beispiel eines Akteurs der etablierten Seite der Kultur, die nicht nur auf Erscheinungen der Gegenwart kritisch reagiert, sondern oft auch die vielfältigen Alternativen zum konventionellen Denken in Kunst und Kultur – ein bisschen wie Adorno nach dem Zweiten Weltkrieg – ablehnt.99 In seinem Essayband mit dem programmatischen Titel Unsere leeren Herzen (2017) reaktiviert Hettche einen Realismus zwar jenseits naiver Abbildbarkeit von Welt, der sich aber vorrangig dem widme, was »außer uns ist« und in einer objektiv gedachten Welt aufzufinden sei. »Ein Realismus wird hier beschworen, der darum weiß, daß alle Selbstreferenzen und Sprachspiele, wie Joseph Vogl es formuliert, durch die Vertikalachse des Real-Absoluten oder Absolut-Realen befestigt oder eben gedeckt sein müssen, sollen unsere Vorstellungen von Welt sich nicht im Konstruktivismus verlieren.«100
Es ist fraglich, ob Thomas Hettches Ausführungen, die die Tendenz zum Absoluten, zu Transzendenz und Metaphysik deutlich machen, zugleich aber auch »eine Zukunft, die es noch zu entdecken gilt« eröffnen. Fragwürdig ist auch, inwieweit sich dieses Beispiel mit den hier ausgeführten, systematischen Überlegungen zu einer okkulten Kunst deckt. Denn eindeutig ist bei Hettche nicht erkennbar, wie Jullien es forderte, dass in die Gegenwart reinvestiert werden soll statt sich am Versuch abzumühen, die Vergangenheit als bezaubernden Ort darzustellen. Den Konstruktivismus abzulehnen, um stattdessen im Deckmantel eines literarischen Realismus letztlich doch (wieder) ein Real-Absolutes zu fordern, erstickt nicht nur jede Offenheit im Feld der Literatur – der normative Zug dieses Vorgehens sucht indes auch keine Anknüpfung an eine Sensibilisierung für die devianten Aspekte von Welt –, sondern sichert gerade nicht den für Kulturen so zentralen »Moment des Virtuellen und Grenzenlosen«101. Der Anspruch, sich in der Literatur mit dem Transzendenten zu umgeben und das Metaphysische zu verhandeln ist unter diesem Vorzeichen dann nichts weiter als das müde Plakatieren einer Angst vor der Gegenwart und der noch zu ent98 | Hettche 2017, S. 134. 99 | Vgl. Hettche 2017, S. 59. Die alternativen Denkweisen der Avantgarden des 20. Jahrhunderts degradiert Hettche lapidar als »formale[n] Innenweltexerzitien«. 100 | Hettche 2017, S. 190f. Der Essay Wir Barbaren, aus dem an dieser Stelle zitiert wurde, ist in gekürzter Version auch in der ZEIT Nr. 46 am 9. November 2017 im Feuilleton erscheinen. 101 | Jullien 2017, S. 66f.
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deckenden Zukunft.102 Diversität, Mehrdeutigkeit, (stilistischer) Pluralismus, alles zentrale Eigenschaften der Kunst seit der Moderne, scheinen keinen Platz zu haben neben diesem Real-Absoluten; eine Rückkehr zu vormodernen Positionen der Kunst wird allzu deutlich. Konstruktivismus vor allem aber in seiner ethischen Dimension bedeutet immer, Multidimensionalität und Perspektivenabhängigkeit – eine Grundvoraussetzung für jeden kulturellen Pluralismus – einzufordern.103 Dass hegemoniale und oft etablierte Positionen aber nur das, was auch Hettche »beschwört«, fordern können, zeigt die lange Geschichte der Marginalisierung devianter Ausdrucksweisen und Anschauungen – unter anderem die des Okkultismus. Die vorliegende Anthologie vereint Beiträge zum hier skizzierten Phänomen einer okkulten Kunst. Die zum Teil sehr verschiedenen Zugänge zum Thema wurden vonseiten des Herausgebers bewusst offen gehalten für historische, systematische und essayistische Beiträge. Die Anthologie versteht sich als interdisziplinär insofern, dass sie nicht nur Wissenschaftler aus unterschiedlichen Disziplinen – Kunstgeschichte, Religionswissenschaft, Psychologie, Literaturwissenschaft, Philosophie – vereint, sondern auch künstlerische Positionen zu Wort kommen lässt. An der vorliegenden Anthologie beteiligten sich daher nicht nur Wissenschaftler, sondern ebenso Künstler sowie Personen mit Doppelqualifikation in Wissenschaft und Kunst. Die Beiträge stellen freilich nur eine Auswahl an denkbaren Überlegungen zum Thema dar; die Anthologie versteht sich nicht als monolithisches Projekt, das abschließende Thesen vorzulegen versucht, sondern vielmehr als atmosphärisches Herantasten an den Phänomenbereich und als essayistische Reflexion der relevanten Gegenstände.
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›Den‹ Okkultismus gibt es nicht Politische Transformation – geschichtsphilosophische Praxis – okkulte Kunst Christoph Wagenseil Die Wendung »Okkulte Kunst« kann zunächst auf die 1920er Jahre enggeführt werden; im Zentrum der im Folgenden angeführten Belegstellen steht Eugen Mirskys (Evžen Mirský; 1896-1942) Essay von 1924 mit dem Titel Okultní umění [Okkulte Kunst].1 Eine Ausstellung »›okkulter‹ Kunst« dagegen wurde 1931 in der Wichmannstraße 24 in Berlin gezeigt, »[u]nter dem Protektorat des Herrn Universitätsprofessors Dr. Verweyen (Bonn) und mit Unterstützung des Dozenten der Philosophie und Kunstwissenschaften Dr. Theod[or] Genthe (Berlin)« und von der Firma »Kunstraum G.m.b.H«2 initiiert. Der unmittelbar vor deren Ankündigung abgedruckte Aufsatz beschäftigt sich mit der »Bedeutung, die von [André] Breton und anderen Surrealisten dem Hellsehen, der Telepathie, mit einem Worte den metapsychischen Erscheinungen, beigelegt wird«3. 1 | Vgl. Mirský 1924. Dokumente zur Deportation und Ermordung Eugen Mirskys im Jahr 1942 finden sich auf https://www.holocaust.cz/en/database-of-victims/victim/ 109778-evzen-mirsky (Letzter Zugriff: 02.09.2018). 2 | Anonym 1931, S. 499 (»Kleine Mitteilungen«). Zu den Ausstellern zählten Heinrich Nüßlein, »Dr. h. c., in Ansehung seiner Fähigkeit, mit den Fingerspitzen Bilder von großer k[ü]nstlerischer Wirkung innerhalb weniger Minuten zu fertigen, ferner die Hamburger ›Farbhörer‹ Ed. und Carla Reimpelt, deren seltsamen Produktionen Universitätsprofessor Dr. Gg. Anschutz (Hamburg) in der Farbe-Ton-Forschung jahrelange Studien widmet«. Verheyen trug dazu vor über »Kunstschaffen im Lichte der parapsychologischen Forschung« und Genthe über »Wesen und Werte der Kunst und des k[ü]nstlerischen Schaffens und deren Bedeutung als hervorragenste Kulturfaktoren«. 3 | Servadio 1931, S. 497. Die genaue Autorenangabe lautet »Dr. Emilio Servadio (Rom)«, »mäßig gekürzte Übertragung aus dem Italienischen von J. Kasnacich«. »Anm. des Übersetzers«, S. 494: »Der Surrealismus bedeutet eine neuere Richtung in der französischen Kunst, die bestrebt ist, das Kunstwerk aus dem Unterbewußtsein, bei völliger
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Eine andere Belegstelle stammt von Frank Thiess: »Musik ist wörtlich genommen eine okkulte Kunst, eine verborgen-dunkle«4 in seiner Monographie Puccini. Versuch einer Psychologie seiner Musik von 1947. Einerseits wird mit der »dunklen« Erkenntnis auf (vorfreudianische) Konzepte einer Vermögenspsychologie in der Tradition Christian Wolffs und Alexander Baumgartens aufgebaut 5, andererseits ist seine Gleichsetzung mit dem »Okkulten« eine Rezeption ganz bestimmter Erzählungen des »Okkultismus« der Gegenwart durch Thiess. Spätestens die sogenannte Hermetikforschung sollte dann 1966 mit Frances A. Yates (1899-1981) den bereits zuvor von Künstlern, Okkultisten und anderen vollzogenen Einbezug der Renaissance in die eigenen Traditionserzählungen auf eine akademische Ebene hieven: »In der Renaissance sei durch die Theaterkonstruktion Giulio Camillos aus der Gedächtniskunst eine ›okkulte Kunst‹ geworden«6. Yates erklärte Western Esotericism zu einer »counter culture«; in der Nachfolge etablierte sich die These, dass diese – gerade dafür steht die Renaissance Pate – zunächst ein progressives, emanzipatorisches Potenzial entfaltet habe, und sich dieses aber irgendwann, d.h. entweder bereits vor 1800 gegen die Aufklärungsbewegung oder erst um 1900 im Fin de Siècle, umgekehrt habe in ein reaktionäres Projekt.7
Ausschaltung jeglicher Mitarbeit des Vorderhirns zu schaffen«; S. 498: »Wir wollen die weitere Entwicklung des Surrealismus abwarten«. 4 | Thiess 1947, S. 112. 5 | Vgl. zur Einführung Adler 1988. 6 | Rösche 2008, S. 150, paraphrasierend Yates 1991, S. 139 (Original: The Art of Memory, 1966). 7 | Vgl. Hanegraaff 2012, S. 328 (Anm. 268): »Yates’ idea that the reign of Elisabeth and Frederick V was a ›hermetic golden age‹ was central to her much-ciritized Rosicrucian Enlightenment […]. For the strong claim that [Isaac] Casoubon’s dating of the hermetica spelt the end of the Hermetic Tradition, because it ›shattered at one blow the build-up of Renaissance neoplatonism«, leading to a sharp distinction between a ›preCasoubon era‹ and a ›post-Casoubon era,‹ see Yates, Giordano Bruno, chapter 21, here 398«. Übers. C. W.: »Yates’ Idee, dass die Regierungszeit von Elisabeth und Frederick V. ein ›hermetisches Goldenes Zeitalter‹ gewesen sei, war zentral für ihr viel kritisiertes Buch Aufklärung im Zeichen des Rosenkreuzes […]. Für die starke Behauptung, dass [Isaac] Casoubons Datierung der Hermetica das Ende der hermetischen Tradition bedeutet habe, da sie ›auf einen Schlag das Gebäude des Renaissance-Neuplatonismus zerschlug‹, woraus eine scharfe Unterscheidung zwischen einer Ära vor und einer Ära nach Casoubon resultiert, siehe Yates, Giordano Bruno, Kapitel 21, hier S. 398«. Casoubon zeigte in De rebus sacris et ecclesiasticis exercitationes XVI (1614), dass die hermetischen Schriften nicht älter als die Bibel sind.
›Den‹ Okkultismus gibt es nicht
Allerdings deutet der Hinweis auf den Surrealismus bereits darauf hin, dass Yates zu viel Komplexität in ihren Thesen reduziert. Wenn man die Belegstellen Anfang des 20. Jahrhunderts umfassend sichtet, wird vielmehr deutlich, dass unterschiedliche weltanschauliche Akteure Geschichten des Okkulten schrieben und zu unterschiedlichen Narrativen eines »Okkultismus« verdichteten. Ihr jeweiliger moderner Mythos konnte im Okkulten ›Träger‹ einer anderen Zeit ausmachen, sei es eine reaktionär erträumte und verklärte Vergangenheit oder eine fortschrittliche Zukunft eines goldenen Zeitalters. Die Geschichtsschreibung des Okkulten war eines von vielen Betätigungsfeldern eines weltanschaulichen Wettbewerbes gesellschaftlicher Kräfte »links« und »rechts« des politischen Spektrums. Eine allgemeinere Voraussetzung hierfür ist allerdings die Akzeptanz phänomenologischen Denkens, also die Bereitschaft zu der Transferleistung, überhaupt etwas in einem anderen kulturellen Kontext »okkult« zu nennen – und jetzt noch in Absehung von der konkreten Aufladung des Begriffes –, dass eben diese Vokabel andere ältere Konzepte wie »magisch«, »abergläubisch«, »teuflisch« o. ä. ablöst. Eine andere Voraussetzung ist die Vorliebe, sich in teleologisch gedachten geschichtsphilosophischen Modellen zu bewegen, wie sie spätestens durch die Philosophie Hegels allgegenwärtig wurden und »der Geschichte« eine »Entwicklung« zuschrieben. So konnte bereits 1910 ein altphilologischer Aufsatz die Formel von der »okkulten Kunst« enthalten, nur dass es hier lediglich um die »griechische Literatur über die okkulte Kunst, aus den Zuckungen von Muskeln und Sehnen die Zukunft zu erraten« 8, geht. Ähnlich kann man die Formel in der Theologischen Literaturzeitung von 1953 finden, eine abwertende Rezension beschäftigt sich mit einem Autor, George Santayana (1863-1952), nach dem die »Wunder Jesu […] eine ›okkulte Kunst‹, ein ›Element natürlicher Magie‹«9 zeigten. Entscheidender aber ist ihre Verwendung in einem Artikel der antisemitischen Zeitschrift Der Weltkampf. Monatsschrift für Weltpolitik, völkische Kultur und die Judenfrage in aller Welt, herausgegeben von Alfred Rosenberg, in Bezug auf Rudolf Steiner, den Begründer der Anthroposophie, »seine okkulte Kunst bei der Wahl des Tages und des Ortes«10 (für den Baubeginn des ersten Goetheanum in Dornach) habe versagt. Allerdings geht es dem Autoren darum, dass Steiner selbst gar nicht darüber reflektierte, »worauf wir stolz sind, Arier genannt zu werden« – im vorgängigen Steiner-Zitat referiert jener den Einwand, »daß ja die Juden auch Arier seien« – und darum, dass 1917 der »Hochgradfreimaurer Theodor Reuß nach dem Sanatorium ›Monté Verita‹ in Ascona (Tessin) ein[en] 8 | Kretschmer 1910, S. 333. Inwiefern der hier rezensierte Autor ebenfalls bereits 1908 von »okkulter Kunst« spricht, wurde nicht geprüft. 9 | Oepke 1953, S. 611. 10 | Schwartz-Bostunitsch 1929, S. 270.
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›Anationale[n] Kongreß‹ einberufen habe, »zu welchem Freimaurer, Pazifisten, Theo- und Anthroposophen und andere Gesinnungspantscher eingeladen waren«11. Diese Art der Verschwörungsmythen ist auch heute wieder populär – und auch sie passen genauso wenig wie auf der anderen Seite der Surrealismus oder die extravagante Santayana-Lesart der Wunder Jesu zur (widerlegten) Yates-These. Genaugenommen lässt der in Rosenbergs Projekt erschienene Text eher vermuten, dass der Autor der Progressivitätsthese folgt, also dass diese »falschen Propheten« »Gesinnungspantscher« seien, weil sie progressiv gedeutet werden. Die weiteren Aspekte einer populären Rezeption der Yates-These, dass die Nazis eine Art »okkulte Kunst« betrieben hätten, hat also Ähnlichkeiten mit dem im antisemitischen Pamphlet des Gregor Schwartz-Bostunitsch anderen Akteuren Zugeschriebenen, nur dass dieser offensichtlich eher ein »anationales« Konzept in der von ihm vermuteten ›Verschwörung‹ annahm. Der vorliegende Beitrag möchte die Figur der »okkulten Kunst« als rekonstruktive gegenwärtige Kunstpraxis nachzeichnen und dabei insbesondere zwei Thesen widerlegen, die sich bedingen. Einerseits geht es um die negative Politisierung des Exotischen in der Annahme, dass der politische Rechtsextremismus des Nationalsozialismus insbesondere durch spezielle neureligiöse, und damit mitunter auch okkulte Phänomene begünstigt worden sei. Andererseits um ein bestehendes Missverständnis, die Rolle autoritären Denkens betreffend – und dementsprechend bezüglich der Begriffe »Mythos« und »Mythen« sowie »Geschichte« und »Geschichten«. Die bisherige grobe Sichtung von Belegstellen für die Wendung »okkulte Kunst« vor Yates zeigt zugleich, dass es sich – philologisch enggeführt – um ein spezifisches Phänomen des 20. Jahrhunderts handelt, das zunächst ›westliche Gesellschaften‹ betroffen hat. Im Unterschied zu anderen möglichen Ansätzen soll in diesem Ansatz die Rekonstruktion einer Tradition okkulter Kunst, wie sie von Anfang an dem Konzept innewohnt, nicht mit diesem gleichgesetzt werden. Es geht in der hier gewählten Perspektive gerade nicht darum, ob etwas in der Renaissance »okkulte Kunst« – in einem metaphysisch aufgeladenen Konzept eines empirisch gedachten »Phänomens« – darstellt, auch nicht, ob das historisch z.B. auf die Wunder Jesu bezogen werden sollte, und auch nicht, ob diese oder die Ergebnisse angesprochener antiker Orakeltechniken empirische Tatsachen darstellen. Entsprechend des methodischen Agnostizismus in der Religionswissenschaft seien diese Fragen hier übergangen. Zugleich gilt, dass seit Yates unter Western Esotericism eine Sammlung alternativer Traditionen innerhalb der ›westlichen Geschichte‹ verstanden werden, mit ihrem besonderen Höhepunkt zur Zeit der Renaissance, und dass Künstler unter der Prämisse gerade einer metaphysischen oder essenzialisti11 | Schwartz-Bostunitsch 1929, S. 260, 274.
›Den‹ Okkultismus gibt es nicht
schen Perspektive diese rekonstruierte Tradition fortschreiben und – man denke an George Santayana – universalisieren und internationalisieren. Hierher gehört ebenfalls, dass einige der oben angeführten Belege einen eher ›vormodernen‹ Kunstbegriff verwenden oder – um es weniger evolutionistisch auszudrücken – nicht denjenigen einer Ästhetischen Moderne.12 Gerade der Beleg aus dem Kontext der frühen nationalsozialistischen Bewegung ist in dieser Hinsicht ›unheimlich‹, da genau das, was Steiner hier nachgesagt wird, später während der nationalsozialistischen Diktatur Gang und Gebe war; nämlich eine Ausnutzung von unter »Massenpsychologie«13 verhandelten angeblichen ›Effekten‹, zum Beispiel durch eine bestimmte »Wahl des Tages und des Ortes«. Auch das kann nicht mehr als »vormoderner« Kunstbegriff bezeichnet werden. Es soll also im Folgenden ein Gang durch die Geschichte angedeutet werden, immer in Rücksicht auf die Konstruktion dieser Geschichtsschreibung im Medium moderner Konzepte von »okkulter Kunst«, und damit auch von »Okkultismus« und »Kunst«. Dabei soll es weniger darum gehen, chronologisch die Jahrhunderte abzuschreiten, sondern vielmehr aufzuzeigen, dass »okkulte Kunst« nur eine Episode in einer Reihe von historischen Amalgamisierungen des ›Devianten‹ darstellt, dass also in sich wiederholenden performativen Akten der Integration der ›Devianz‹ Marsilio Ficino und Frances A. Yates die gleiche Geste vollziehen, indem Hermes Trismegistos zur magia naturalis (»natürlichen Magie«) und indirekt zur vera religio (»wahren Religion«)14 bzw. der Hermetismus der Renaissance zum »Okkultismus« oder zum »Western Esotericism« gerechnet werden. Wie an diesem Beispiel deutlich wird, ist es die Rahmung, die sich erheblich unterscheidet. Es soll also zunächst um Rekonstruktionen der Antike um 1500 gehen, um diejenige des Religionsphilosophen Mircea Eliade (1907-1986) dann mit Darstellungen aus aktuellerer Forschung zu kontrastieren. Für den im Folgenden gewählten Blick auf Alphonse Louis Constant alias Éliphas Lévi (1810-1875) und die Mitte des 19. Jahrhunderts werden als historische Voraussetzungen wichtig: die von der Renaissance abgeleitete Idee des auch reformatorischen Prinzips ad fontes (»zu den Quellen«) und die damit 12 | Vgl. Bollenbeck 1999, S. 18ff. 13 | Vgl. Le Bon 1939, S. 2: »Das Zeitalter, in das wir eintreten, wird in Wahrheit das Zeitalter der Massen sein.« Hervorhebung im Original. 14 | Ficino, Ep. 1,123: »Wenn die Philosophie von allen als Liebe zur Wahrheit und Weisheit sowie als das Bemühen um diese beiden definiert wird, aber nur Gott selbst die Wahrheit und Weisheit selbst ist, folgt daraus, dass weder rechtmäßige Philosophie etwas anderes ist als wahre Religion [quam vera religio], noch dass rechtmäßige Religion etwas anderes ist als wahre Philosophie«, zitiert nach Tröger 2016, S. 2 (Anm. 5). Ficino rechnet Hermes explizit zur Philosophie.
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verbundene Suche nach ›geheimen Offenbarungen Gottes‹ in den allmählich entdeckten Zeugnissen anderer Kulturen, insbesondere in Indien und China, sowie die relativ spätere aufklärerische Adaption des abwertenden Konzepts der »Schwärmerei« von Martin Luther und dessen Bezug auf Strömungen insbesondere des Pietismus.15 Gerade letztere rezipieren in ihren »radikalen« bzw. separatistischen Varianten teilweise auch das, was Yates später Western Esotericism nennen sollte. Im 19. Jahrhundert stehen sich diejenigen gegenüber, die einerseits in ihren Schriftzeugnissen weiterhin Universalbeispiele jenes ›geheimen Wissens‹ (»occult sciences«16, okkulte Wissenschaften) versammelten und in den Bewegungen der Theosophie münden und andererseits diejenigen, die demgegenüber in Fortsetzung der Tradition der »Schwärmerei«-Kritik feststellen: »[t]he really attractive element in Theosophy is ›Occultism‹« und dieser sei ein gefährlicher Wahn (»a dangerous delusion«17). Daneben schafft es aber auch der Beitrag Occultism reconsidered unter Bezug auf Werke des Theosophen Alfred Percy Sinnett und des Romanautoren Lord Edward Bulwer-Lytton18 1882 in das Journal of Science and Annals of Astronomy, Biology, Geology, Industrial Arts, Manufactures and Technology.19 Man müsse zwischen »Okkultismus« und »Spiritualism« (Spiritismus) unterscheiden, »Mr. Sinnett« mache den wichtigen Hinweis, »that it is not this ›present task to make war on Spiritualism‹«, »[h]e admits the facts of Spiritualism, but he consents that its phenomena are manifestations which mediums can neither control nor understand«, demgegenüber stünde der Okkultist und so geht es schließlich um »relations of Occultism to Modern Science, or, as we prefer to call it, Open Science«20. Für spätere Jahre lassen sich Beiträge finden, die das bereits erwähnte Konzept der »Parapsychologie« mit »Okkultismus« gleichset15 | Vgl. Wagenseil 2010. 16 | Vgl. Salverte 1847, Jacolliot 1864, Hartmann 1893, Blavatsky 1895. 17 | Anonym 1885, S. 49, 57. Übers. C. W.: »Das wirklich attraktive Element innerhalb der Theosophie ist der ›Okkultismus‹«. 18 | Vgl. Sinnett 1881, auf der zweiten amerikanischen Auflage von 1885 wird er als der Autor von Esoteric Buddhism (1883) beworben; bei Zanoni (1842 erschienen, deutsch als Zanoni – Die Geschichte eines Rosenkreuzers zuerst bei der Theosophischen Central Buchhandlung Leipzig 1903) und A Strange Story (1862) handelt es sich um fiktive Romanstoffe. Bulwer-Lytton werden Mitgliedschaften in diversen Gruppierungen nachgesagt, die allerdings allesamt als widerlegt gelten. 19 | Vgl. Anonym 1882. 20 | Zitate in Anonym 1882, S. 404f. Übers. C. W.: »Es sei nicht die ›gegenwärtige Aufgabe, dem Spiritismus den Krieg zu erklären‹. Er gesteht die Fakten des Spiritismus zu, erklärt aber, dass deren Phänomene Manifestationen sind, welche die Medien weder kontrollieren noch verstehen können«; »Verbindungen von Okkultismus zur modernen Wissenschaft, oder, wie wir bevorzugen, es zu nennen, Offene Wissenschaft«.
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zen und dies in einem entsprechend affirmativen Sinn verstehen. Und damit mündet diese Genealogie in den Kontexten derjenigen Belegstellen »okkulter Kunst« vor Yates, um die es am Anfang gegangen war, beim Surrealismus auf der einen und bei der antisemitischen Zeitschrift des Nationalsozialisten Rosenberg auf der anderen Seite. Abschließend soll anhand einer Reflexion von Mythos- und Geschichtsbegriffen erörtert werden, warum die weltanschaulichen Rahmungen der betrachteten Autoren sich radikal unterscheiden.
R enaissancen und A ntiken : D er konservative M y thos des O kkultismus Mircea Eliade21 hatte ein Verständnis von Religionsgeschichte, das ein Gastbeitrag von Florin Turcanu in der heutigen rechtsextremen Zeitschrift Sezession von 2005 über sein Verhältnis zu Carl Gustav Jung folgendermaßen zum Ausdruck bringt: »Demnach muß die Religionsgeschichte die Ergebnisse der Jungschen Psychoanalyse genauso integrieren wie die der Ethnologie, um sich in eine ›Metapsychoanalyse‹ zu verwandeln. Diesen Begriff schuf Eliade 1952 in Ewige Bilder und Sinnbilder, um die Vision zu unterfüttern, daß der Religionsgeschichte eine ›Mission‹ zukomme. Sie verwandle sich also in eine ›geistigere Technik‹, die führe zu ›einem neuen Erwachen, zu einem Wiedererringen der archaischen Symbole und Archetypen, die, lebendig oder versteinert, in der religiösen Überlieferung der gesamten Menschheit vorhanden sind‹.« 22
Dass diese »Mission« in der speziellen Rezeption hinein in das Umfeld Götz Kubitscheks23 nicht nur von historischem Interesse ist, liegt nahe. Der Religionswissenschaftler Christoph Auffarth bestimmt Eliades »Methode« folgendermaßen: »Weder Kulturvergleich noch religionsinternes Kerygma [u.a. die christliche Predigt; Anm. C. W.] vermögen nach dieser Methode eine Religion zu beschreiben, sondern nur ein Einstimmen (Credo) in eine vor und hinter jeden einzelnen historisch faßbaren 21 | Zu Eliade und seinem politischen Hintergrund vgl. Ó Ceallaigh 2018 sowie MüllerSommerfeld 2004. 22 | Turcanu 2005, S. 4. 23 | Der Antaios-Verlag Götz Kubitscheks ist wahrscheinlich nach dem Zeitschriftenprojekt Antaios. Zeitschrift für eine freie Welt benannt, welche Mircea Eliade gemeinsam mit Ernst Jünger von 1959 bis 1971 herausgab. Ob der auch in Faivre 2010 zitierte Florin Turcanu freiwillig in der Sezession abgedruckt wurde, ist nicht bekannt.
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Christoph Wagenseil Religionen stehende archetypische Religion kann das Heilige und seine Hierophanien erkennen.« 24
Für Auffarth ist Eliades Betätigung das »Programm einer […] antimodernen, antichristlichen, antidemokratischen und antihistorischen Religion«25, die in diesem Sinne auch keinen Widerspruch zu Eliades Mitgliedschaft in der rumänischen Eisernen Garde darstellt, einer elitären faschistischen Organisation.26 Die Renaissance hatte dabei im frühen Eliade’schen Denken bereits eine Schlüsselrolle inne: »Seit hunderten von Jahren schien es, dass das östliche Christentum keine neuen historischen Formen mehr bilden kann. Die moderne Welt der Renaissance ging an diesem östlichen Christentum ignorierend und missachtend vorüber. Erst jetzt beginnt man den Sinn dieser christlichen Revolution zu verstehen, die ein neues Rumänien zu schaffen versucht, indem zuerst ein neuer Mensch, ein perfekter Christ geschaffen wird.« 27
Bereits Eliades Doktorarbeit 1929 beschäftigte sich mit Italian Philosophy from Marsilio Ficino to Giordano Bruno (»Italienische Philosophie von Marsilio Ficino bis Giordano Bruno«), er war zu dieser Zeit fasziniert, so äußerte er sich 1979 in einem Interview, »not only by the fact that through this philosophy of the Renaissance, Greek philosophy had been rediscovered, but also by the fact that Ficino had translated into Latin the Hermetic manuscripts, the Corpus Hermeticum«28. 24 | Auffarth 2013, S. 11 (Anm. 19). 25 | Auffarth 2013, S. 11. 26 | Vgl. Müller-Sommerfeld 2004, S. 83: »Zwar ist der italienische Faschismus Vorbild für Codreanu (für ihn geht in Rom die Sonne auf), und das nationalsozialistische Regime in Deutschland wirkt sich auf die Entwicklung seiner Organisation positiv aus, doch bildet sie keine ›Filiale des Nationalsozialismus‹, wie von ihren Gegnern behauptet, da sich keine nachweisbaren offiziellen Kontakte zur NSDAP nachweisen lassen«. Dementgegen heißt es bei Kissener/Scholtyseck 1999, S. 94: »Die SS unterstützte seit Kriegsbeginn immer offener die rumänische ›Eiserne Garde‹, die den faschistischen Idealen eher entsprach als die konservative Militärherrschaft des vom Auswärtigen Amt favorisierten Generals Ion Antonscu.« 27 | Eliade: O Revoluție Creștină (Buna Vestire, I, Nr. 100, 27, Juni 1937, S. 3) [Eine christliche Revolution], übersetzt von und zitiert nach Müller-Sommerfeld 2004, S. A77. 28 | Eliade/Rocquet, 1982, S. 31, zitiert nach Faivre 2010, S. 150. Übers. C. W.: »[Eliade war fasziniert] nicht nur von dem Umstand, dass durch diese Philosophie der Renaissance griechische Philosophie wiederentdeckt worden war, sondern auch durch den Umstand, dass Ficino die hermetischen Manuskripte ins Lateinische übersetzt hatte, das Corpus Hermeticum.«
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Während einerseits der moderne Mensch eine »displaced person« sei – »the anthropos does not really feel ›at home‹ in this world« (»der Mensch fühlt sich nicht wirklich ›zu Hause‹ in dieser Welt«) – und dies mal an der Renaissance als Vermittlerin auch der antiken Philosophien, mal am Protestantismus sowie der Aufklärung festgemacht wird, werden bestimmten Strömungen Aspekte des Archaischen und Mythischen zugeschrieben. Antoine Faivre zeigt 2010 allerdings, dass, obwohl Eliade »ontological myths« (»ontologische Mythen«) in den Religionen der Welt betont und wiederholt »initiatory journeys« (»initiatorische Reisen«) hervorhebt, er Entsprechendes aus Modern Western Esoteric Currents aber in seinem Werk nicht thematisiert.29 Mit diesen Vorbemerkungen zum Verständnis der Begriffe der Renaissance und des Okkulten bei Eliade sei nun seine Perspektive wiedergegeben, aus dem Aufsatz The Occult and the Modern World (zuerst 1974): »As it well known, all the beliefs, theories, and techniques covered by the terms occult and esoteric were already popular in late antiquity. Some of them – like for instance, magic, astrology, theurgy, and necromancy – had been invented or systemized some 2,000 years earlier, in Egypt and Mesopotamia. It is useless to add that most of these practices did not completely disappear during the Middle Ages. However, they did recover a new prestige, becoming highly respectable and en vogue in the Italian Renaissance.« 30
Es ist Eliade dabei offenbar wichtig, gerade Antiquität hervorzuheben. Es interessiert ihn konkret weder die real vorfindliche »okkulte« und »esoterische« Tradition des 19. Jahrhunderts und seiner Gegenwart noch dasjenige, was er aus der Zeit der Renaissance aufgreift; es hat lediglich eine Bedeutung als ›Träger‹ des »Archaischen«, und in der betonten zeitlichen Distanz spiegelt sich noch sein kulturpessimistisches Programm. Dessen Rolle lässt sich mit Hilfe eines Kontrasts der Zeitverständnisse erläutern. Isidor von Sevilla unterschied in seinen Etymologicae im fünften Buch De legibus et tempores (»Über die Gesetze und Zeiten«) sechs Weltzeitalter, welche Daten aus biblischen und kirchengeschichtlichen Kontexten mit we29 | Vgl. Faivre 2010, S. 156. 30 | Eliade 1976, S. 49. Übers. C. W.: »Wie allgemein bekannt, waren alle diese Glaubensvorstellungen, Theorien und Techniken, die mit den Begriffen okkult und esoterisch belegt werden, bereits im späten Altertum beliebt. Einige von ihnen – wie zum Beispiel Magie, Astrologie, Theurgie und Nekromantie – wurden ungefähr 2.000 Jahre früher in Ägypten und Mesopotamien erfunden oder systematisiert. Es ist unnötig zu ergänzen, dass die meisten dieser Praktiken im Mittelalter nicht völlig verschwanden. Wie auch immer, sie gewannen in der Italienischen Renaissance ein neues Ansehen zurück und wurden höchst respektabel und en vogue.«
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nigen Angaben zu römischen und persischen Staatsoberhäuptern korrespondieren ließ. Der Beginn des sechsten Weltzeitalter – im Jahr 5211 – wird an den Daten des Herrschaftsantritts des Augustus und der Geburt Jesu festgemacht. Griechische Antike wird dabei wie folgt synchronisiert: Homer wird Samuel zugeordnet, Sophokles und Euripides der Herrschaft des Xerxes, Platon und Gorgias derjenigen des Darius.31 Erst 1583 sollte Joseph Justus Scaliger in seinem Werk De emendatione temporum (»Über die Korrektur der Zeiten«) mit u.a. der Auswertung der 1546 aufgefundenen Fasti Capitolini, einer Liste der regierenden Konsuln Roms, die Chronologien im Stile Isidors mit der griechischen und römischen Geschichte in Einklang bringen. Ägypten, Sumer, Babylon oder die präkolumbianischen Kulturen konnten in ihrer Chronologie erst sehr viel später parallelisiert und integriert werden nach der jeweiligen Entzifferung ihrer Schriften bzw. ab dem 20. Jahrhundert teilweise auch durch archäologische Datierungsmethoden.32 Das christliche Konzept der Apokalypse ist dabei im Diskurs um 1500 mächtig. Und auch jene Weltzeitalter wurden so vorgestellt, dass sie mit einer Katastrophe enden sollen, so auch bei Marsilio Ficino: »Wir schlossen, dass die kommenden zwei Jahre so unglücklich sein würden, dass man gemeinhin annehmen wird, jenes letzte Ende der Welt stehe bevor, das bedeutet: die umfassendste und äußerste Katastrophe für das Menschengeschlecht«33. Zugleich sei aber die Gegenwart der Renaissance auch ein »Goldenes Zeitalter«: »Ficino bezeichnet die Gegenwart in Anlehnung an Platon als ein goldenes Zeitalter und begründet dies mit den kulturellen und technischen Errungenschaften der Zeit, wie etwa dem Wiederaufleben der liberales artes [sieben freie Künste; Anm. C. W.], der Erfindung der Druckpresse und – in eigener Sache – der Wiedererweckung der platonischen Philosophie. Damit repräsentiert dieser Brief [an Paul von Middelburg, 1492; Anm. C.W.] das kulturelle Selbstverständnis der Renaissance überhaupt […].« 34
In diesem Kontext steht auch Ficinos Aufwertung des Magiebegriffes: »Der Magier als Weiser und Priester, der die natürlichen Zusammenhänge des Kosmos versteht und zum Wohle des Menschen beeinflusst – dieser Topos ist in antiken Texten allenfalls angedeutet, in dieser Radikalität sowie engen Verwobenheit mit Neuplatonismus und Astrologie ein Novum. Marsilio Ficino ist daher als Diskursbegründer dieses Rezeptionsmusters einzuordnen; in De Amore [›Über die Liebe‹], besonders aber in De 31 | Vgl. Brehaut 1912, S. 116. 32 | Vgl. Wagenseil 2013. 33 | Ficino, Epistola 6,9 (»Papst Sixtus als Wiederbringer des Goldenen Zeitalter«), zitiert nach Tröger 2016, S. 374 (Anm. 100). 34 | Tröger 2016, S. 46.
›Den‹ Okkultismus gibt es nicht vita coelitus comparanda [›Über den Erwerb des Lebens aus den Himmeln‹] und der Apologia [›Verteidigung‹; Anm. C. W.] wertet er den Magiebegriff in einer Weise auf, die für spätere Autoren – auch für Rezeptionsmuster des 19., 20. und 21. Jahrhunderts zentral sein wird.« 35
Der Abstand dieses durch die Forschung rekonstruierten Ficino zu demjenigen Einbezug der Renaissance in die Weltanschauung Mircea Eliades lässt sich also folgendermaßen umreißen: Bereits Ficino rezipiert Quellentexte, die eigentlich »disparate Thematiken und Terminologien« aufweisen, und kann sie nur »unter erheblichen Deutungsverzerrungen als vermeintlich homogenes Quellenkorpus«36 synthetisieren. Mehr noch, er nennt einzelne Texte von Proklos z.B. in seiner Übersetzung »magisch«, obwohl die Schrift im Original keinerlei Magiebegriff enthält, »um einen antiken Text aufzuwerten – und ihn dadurch gleichzeitig interessanter, ja, wertvoller darzustellen«37. Die »heidnischen Meister«38, die Antike selbst, mussten erst aufgewertet werden in einem Projekt der Universalisierung und Synthetisierung der Wissensbestände, in einem religiösen wie philosophischen Sinn. Eliade wiederum wiederholt zwar die problematischen Aspekte dieser Vorgehensweise performativ identisch, d.h. er synthetisiert ebenfalls heterogene Quellentexte in einen neuen Korpus, macht dies aber in Hinblick auf einen ganz anderen Zweck. Radikal gesprochen haben das, was Ficino »magisch« nennt, und das, was Eliade »okkult« nennt, als Träger desjenigen, dem im jeweiligen weltanschaulichen Konzept eine Schlüsselrolle zukommt, inhaltlich nichts miteinander zu tun – und das obwohl es eine nicht unerhebliche gegenständliche Schnittmenge gibt.
35 | Otto 2011, S. 471. Die genannten antiken Andeutungen in Anm. 221 sind »Apuleius in seiner ersten Definition des magos« oder der eventuell pseudoepigraphische Brief des Apollonios an den Stoiker Euphrates. Daneben stehen Bezüge auf Zarathustrismus. 36 | Otto 2011, S. 465. 37 | Otto 2011, S. 471. [Venedig]: [Manutius], [1497] ist die Erstausgabe der »kleinen« Neuplatonisten in Ficinos Übersetzung, beginnend mit Iamblichos: De mysteriis Aegyptiorum, Chaldaeorum, Assyriorum (»Über die Mysterien der Ägypter, Chaldäer und Assyrer«). Der Proklos-Text heißt bei Ficino De sacrificio & magia (»Über Opfer und Magie«). Carl Gustav Jungs Exemplar wurde von der Foundation of the Works of C. G.Jung in Zürich digitalisiert (Sammlung »Alchemy, Magic and Kabbalah«). 38 | Während der Anfang von Albrecht von Eybs Ehebüchlein von Socrates phylosophus Ein natürlich meyster zu Athenas spricht ([Nürnberg: Anton Koberger, jn die sancti Galli 1472], Bl. 4a), heißt es auf dem ergänzten Titelblatt, Lage a1, des späteren Nachdruckes [Augsburg]: Johann Schobser, [14]95: »Hie fragt ein jüngling eine[n] heydnischen meyster Ob einem mann sey zü nemen ein eelich weib oder nit«.
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»O kkultismus « im engeren S inn : P rogressive M y then des O kkultismus Die bisherige dialektische Vorgehensweise lässt einen an diesem Moment noch etwas ratlos zurück, scheint doch der bisherige Befund bezüglich der Differenz von Ficino und Eliade zumindest indirekt die These zu bestätigen, dass insbesondere Neureligiöses – das wäre dann ein dem Eliade’schen System ähnliches Programm – den Nationalsozialismus entscheidend beeinflusst habe. Allerdings wurde auch bereits festgestellt, dass er das, was er im »Okkulten« interessant fand, nicht in dem ihm gegenwärtigen »Okkultismus« suchte. Es ist durchaus der Varianz in der Bestimmung des »Christlichen« in den tausenden Denominationen des Christentums, die jeweils unterschiedlich bestimmt und akzentuiert werden, vergleichbar. Diese Varianz ist bei den angedachten semantischen Feldern sogar noch gesteigert aufgrund der weitaus stärkeren Heterogenität in den Korpus integrierbarer »Heiliger Schriften« sowie der jeweiligen historischen Aufladungen der gewählten Begriffe zu buzzwords39. Diese entsprechend gesteigerte innere Diversifikation ist vielleicht die beste Veranschaulichung des Konzepts eines »leeren Signifikanten«40. Diese Worte schillern so sehr, dass sie sich nicht mehr als Begriffe eignen, dafür aber als Träger von Schlüsselelementen weltanschaulicher Systeme. So sei bezüglich der ›anderen‹ möglichen Lesart des Okkulten in der Moderne auf die Arbeit Julian Strubes verwiesen: »Folgt man der Argumentation der vorliegenden Arbeit, entstand Constants [auch bekannt als Éliphas Lévi; Anm. C. W.] Okkultismus aber eben nicht einfach infolge eines frühneuzeitlichen Diskurses über ›das Okkulte‹ oder auf der Grundlage damit verbundener ›esoterischer‹ Traditionen, sondern im konkreten Kontext der 1850er Jahre auf der Grundlage seiner neo-katholischen, sozialistischen Ideen.« 41
39 | Siehe Wikipedia: »A buzzword is a word or phrase, new or already existing, that becomes very popular for a period of time«. (»Ein buzzword ist ein Wort oder eine Phrase, neu oder bereits bestehend, welche in einer Periode sehr populär wird«). 40 | Zu dem Konzept von Ernesto Laclau innerhalb der Religionswissenschaft siehe zum Beispiel Emling 2013, S. 36 (Anm. 7): »In diesem Sinne erscheint es konsequent, sich der Tatsache bewusst zu werden, dass auch Religionswissenschaft ›ein leerer Signifikant‹ ([…]) zu sein scheint, der von unterschiedlichen Akteuren in unterschiedlichen Kontexten mit sich unter Umständen diametral entgegengesetzten Konzepten gefüllt wird.« 41 | Strube 2015, S. 14. Vgl. auch Wagenseil/Strube 2013.
›Den‹ Okkultismus gibt es nicht
Der eingangs erwähnte Surrealist André Breton (1896-1966) zeigt den Einfluss von Lévis Schriften insbesondere in seinem Arcane 17 von 1945.42 Doch auch bei Éliphas Lévi alias Alphonse Louis Constant (1810-1875) gilt es, eine Weltanschauung herauszuarbeiten. Strube wirft der bisherigen Forschung vor, entweder nur den Sozialisten oder nur den Okkultisten in den Blick genommen zu haben: »Stattdessen richtete die Forschung ihren Fokus auf die ›okkultistische‹ Tradition. Dieser Traditionszusammenhang wurde jedoch bisher nicht belegt, da stillschweigend davon ausgegangen wurde, dass Constants ›Okkultismus‹ nicht das Ergebnis zeitgenössischer Diskurse war, sondern entweder das Resultat einer Initiation oder der Entdeckung einer bereits vorhandenen Tradition beziehungsweise mehrerer ›esoterischer‹ Traditionen, die er in einem modernen Kontext ›synthetisierte‹. Dabei ist es besonders problematisch, dass die Forschung bisher ausgerechnet die Mitte des 19. Jahrhundert[s] unbeachtet ließ, die als entscheidendes Bindeglied für den Beleg eines solchen Traditionszusammenhangs notwendig wäre.« 43
»Okkult« und »arkan« als »wichtige[.] Schlagwörter religiöser Polemiken« des 16. Jahrhunderts haben sich, so Strube unter Rückgriff auf Hanegraaff, »im 18. Jahrhundert zu einer waste-basket category [›Mülleimer-Kategorie‹; Anm. C. W.] [entwickelt], der eine ähnlich ausgrenzende Bedeutung zukam, wie es bei ›Magie‹ schon seit der Antike der Fall gewesen ist« 44. Strube kritisiert aber auch im Folgenden die jüngeren Definitionen von »Okkultismus« durch die heutigen Religionswissenschaftler Hanegraaff und Pasi. Demnach seien »Okkultismus« »alle Versuche von Esoterikern, sich mit einer entzauberten Welt zu arrangieren, oder alternativ alle Versuche von Leuten im Allgemeinen, aus der Perspektive einer entzauberten säkularen Welt die Esoterik zu verstehen« 45 bzw. »[e]rstens der Versuch der Überwindung des Gegensatzes von Religion und Wissenschaft, zweitens die alternative oder sogar feindliche Positionierung zum Christentum, drittens eine ›spirituelle Verwirklichung des Individuums‹, und viertens eine polemische Abgrenzung von anderen ›heterodoxen Bewegungen‹, vor allem vom Spiritismus« 46 .
42 | Vgl. Strube 2015, S. 11 (Anm. 30). 43 | Strube 2015, S. 11. 44 | Strube 2015, S. 13. 45 | Hanegraaff 1996, S. 422, zitiert nach Strube 2015, S. 15. 46 | Strube 2015, S. 15, paraphrasierend Pasi 2006, 1366ff.
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Diesen mehr oder weniger starken Fortsetzungen der Konstruktion einer Kontinuität okkulter Tradition entgegen weist Strube in seiner Arbeit nach, dass »der Okkultismus von Eliphas Lévi unmittelbar auf dem neo-katholischen Sozialismus des Abbé Constant auf baute, und dass die retrospektive Trennung dieser zwei ›Persönlichkeiten‹ eine rein künstliche war, die den Blick auf den historischen Kontext nachhaltig verstellte«47. So führt Strube zunächst zu dem Sozialismus-Konzept Lévis bzw. Constants aus: »(1) die association universelle wurde als ultimative harmonische Einheit, als Königreich Gottes auf Erden, als radikaler Gegenentwurf zur Partikularisierung, zur ›Indifferenz‹ und zum ›Egoismus‹ der postrevolutionären Gesellschaft gedacht […]. (2) Damit ging das Ziel einer Synthese allen menschlichen Wissens einher, konkreter der Synthese aus Religion, Philosophie und Wissenschaft. (3) Dahinter stand der feste aufklärerische Glauben an den Fortschritt, an die progressive perfectibilité der Menschheit und, damit einhergehend, an ihre ›Regeneration‹. Man hat diesen Glauben später als ›Fortschrittsreligion‹ bezeichnet, deren Ziel ein ›panhumanitärer Kollektivismus‹ gewesen sei. Im Falle Constants erfolgte dabei ein expliziter Rückgriff auf den ›progressiven Traditionalismus‹ der Neo-Katholiken, dessen Paradox darin bestand, dass er in der Offenlegung der Tradition der Uroffenbarung den Schlüssel für den künftigen Fortschritt der Menschheit zu erkennen glaubte.« 48
Strukturell zwar Eliade ähnlich, aber in der weltanschaulichen Funktion völlig verschieden liegt gerade in den Zeugnissen der diversen als »Uroffenbarung« verhandelten Traditionen aus alter Welt bei Éliphas Lévi der Schlüssel zu einem sozialistisch geprägten Fortschrittsgedanken. Strube kommt daher auch zu einem noch unvertraut wirkendem Ergebnis: »Bei ›Okkultismus‹ handelt es sich nicht um eine homogene Strömung, sondern um ein hochgradig heterogenes diskursives Netzwerk, das auffällig stark von ›links‹ und ›progressiv‹ ausgerichteten Individuen geprägt gewesen zu sein scheint. Die obigen Betrachtungen haben gezeigt, dass dies zweifelsohne für viele französische Okkultisten gilt.« 49
47 | Strube 2015, S. 619. 48 | Strube 2015, S. 620 unter Rückgriff auf Salomon 1957, S. 56. 49 | Strube 2015, S. 624.
›Den‹ Okkultismus gibt es nicht
F a zit Jede Zeit verdient ihre Magier. An den Beispielen Marsilio Ficino, Éliphas Leví und Mircea Eliade wurde deutlich, dass das gemeinsame Verwenden bestimmter allgemein als semantisch nahestehend verstandener Begriffe des »Magischen« oder »Okkulten« der jeweiligen Einbettung in äußerst unterschiedliche weltanschauliche Konzeptionen entgegensteht. Grundsätzliche Kontinuität unterstellende Konstruktionen »okkulter Traditionen« mit den jeweiligen, diesen inhärenten Geschichtsphilosophien können dabei selbst nur dem Fehler erliegen, eine entsprechende weltanschauliche Einbettung implizit fortzuführen – möglicherweise unbewusst. Ähnliches gilt allerdings auch für diejenigen Zweige der Renaissance-Forschung, denen es gelingt, die Liebeskonzeption Ficinos völlig ohne Betrachtung des Magie-Begriffs zu behandeln50 – Entsprechendes gilt für manche Rezeption Eliades in der Religionswissenschaft oder, wie von Strube gezeigt, für die Erforschung der Geschichte des Sozialismus. Nach Artur Danto ist Geschichtsschreibung immer auch Geschichtsphilosophie – »history tells stories«51. Das mag trivial klingen, ist aber in seiner Bedeutung nicht zu unterschätzen. Denn es fügt der Geschichte immer einen mythischen Anteil hinzu. Bei Ficino war dieser Mythos eher ein progressiver: das Potenzial einer »natürlichen Magie« (magia naturalis) in der Frühen Neuzeit im Sinne des Erschließens und Nutzbarmachens von außerhalb der Offenbarung der ›Heiligen Schrift‹ liegendem Weltwissen, dessen Aufwertung zu einer Art »Uroffenbarung« dennoch einem Gedankengebäude dient, dass von demjenigen des viel späteren Éliphas Lévi weit absteht. Und es ist eben die Frage, ob nicht diese Einbettung in Weltdeutungssysteme das Entscheidendere ist, das auch die Rezeption mitprägt in Bezug auf diese ›alten‹ Autoren, und gerade nicht ihre eventuelle »okkulte« Praxis oder die Annahme eines kontingenten, mit sich selbst identischen empirischen Phänomens, zu dem von Proklos über Ficino, Lévi und Eliade Fährten führten. Gerade im Medium einer für »okkult« erklärten Kunst – das ist die andere Seite – würde diese Akzentverschiebung in Rezeption oder auch Produktion derselben bedeuten, dass diese Kunst eine Geschichte erzählen möchte. Und wie gezeigt wurde, handelt es sich um eine weltdeutende Geschichte, in der das »Okkulte« und »Magische« nicht nur als mehr oder weniger offene Metaphern auf etwas anderes verweisen, sondern zugleich der Künstler geschichtsphilosophisch im »Okkulten« und »Magischen« Zukünfte oder Vergangenheiten hineinlesen oder herausdeuten kann; und mehr noch: sie präsent werden lassen kann. Und insofern lässt sich auch nicht konstatieren, dass »Okkultis50 | Vgl. z.B. Tröger 2016. 51 | Danto 1974, S. 184.
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mus« und »okkulte Kunst« nur etwas seien, dass eine Rolle in der Entwicklung und Geschichte des Nationalsozialismus gespielt habe. Eine solche Annahme verklärt sie entweder zu einem Teufelspakt der Irrationalen oder in der apologetischen Version – oft mit tendenzieller Auslassung der faschistischen Bezüge – als konservative Variante eines ›romantischen‹ Kulturpessimismus, aber steigerbar bis hin zu einer autoritativen und antisemitischen, mit dem Mythos der Verschwörung aufgeladenen Erzählung. Und dieser konservative Mythos eines Okkultismus war es auch, an den Theodor W. Adorno in seinen Schriften dachte und als Form einer autoritär verkürzten »Halbbildung« beschrieb.52 Die Kritik am autoritären Charakter und seinem Hang, Geschichte als Verfall und Verschwörung zu erzählen, ist wieder aktuell geworden. Doch heute wie für die historische Situation vor 1933 bleibt es verkürzend, gerade in der Kritik reaktionärer Zustände einen reaktionären Mythos des Okkultismus zu rezipieren und damit ausgerechnet das Geschichtsschreibungsprojekt solcher Autoren fortzuführen – oder dabei auch noch anzunehmen, gerade solche alternativ-religiösen Milieus wären besonders für autoritäre Verführung anfällig, denn das waren damals die Religiös-Orthodoxen und andere auch. Autoritarismus ist kein Problem bestimmter Weltanschauungen, allerdings haben seine Aspekte immer schon Reformbewegungen angestoßen und neue Weltanschauungen hervorgebracht, liberalisierend oder das gerade nicht. Für die Forschung aber ist es fraglich, wie sinnvoll es ist, Kontinuitäten und weltanschauliche Passung suggerierende Geschichtsschreibungsprojekte fortzusetzen, welche okkulte Akteure in eine Weltgeschichte des Okkultismus einordnen, wo doch offensichtlich eine derartige Heterogenität dessen vorliegt, was an modernen Mythen über ›den‹ Okkultismus um 1900 kursierte. Und bereits diese moderne Mythen waren solche Geschichtsschreibungsprojekte, die sich als Austragungsort um die Gestaltung der Gegenwart durch Transformation anstrebende Bewegungen anboten. Es gibt ihn insofern gar nicht, ›den‹ Okkultismus, weder um 1900, noch in den phänomenologisch verkürzten Versatzstücken aus zahlreichen Religionen, die zu diesen und anderen Zeiten in die Geschichten derer eingingen, die am Okkulten den Fortgang der Zeit festmachen zu können glaubten. Ähnlich wie sich für den Religiösen im Wunder die Präsenz Gottes zeigt, suchten säkulare politisch-weltanschauliche Programme dieser Zeit nach Spuren des Hegelianischen »Weltgeistes« und manche aus den jeweiligen Lagern finden diese in der Praxis einer Geschichtsschreibung des Okkultismus. Demnach wäre es also entscheidender, die jeweiligen Weltanschauungen der Autoren hervorzuheben, anstatt sie einer dieser sozusagen 52 | Vgl. einführend zur Motivation der Kritischen Theorie Adorno 1993, zur »Halbbildung« Adorno 2003. Für einen aktuellen Ansatz, der das Konzept »Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit« nach Wilhelm Heitmeyer mit einer Aktualisierung der Kritischen Theorie verknüpft, siehe Schmid 2013.
›Den‹ Okkultismus gibt es nicht
»historiosophischen« Perspektiven unterzuordnen, die in ihrer progressiven Variante wie in ihren konservativen bis reaktionären Versionen trotz aller radikalen Unterschiede eines gemeinsam haben: Sie sind moderne Mythen.
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Hinauf in den Abgrund Inszenierung und Okkultismus der Amorspekulation im Florenz Lorenzo de’ Medicis, besonders in Giovanni Picos Commento Tobias Roth »Cantare d’amore non basta mai.«1 E ros R amazot ti
Die Qualifikation eines Kunstwerkes als okkult deutet auf die Ausrichtung auf ein Publikum in Form einer Ausgrenzung hin. Davon ausgenommen erscheint eine Art Spezialpublikum, das mithilfe eines Schlüssels reibungslos und vollständig das Werk entziffern kann; der darin enthaltene Inhalt beansprucht direkt proportional zum Grad seiner Verdunkelung Bedeutung. Diese Proportionalität wird in Texten der Renaissance immer wieder pauschal behauptet – was bereits aufhorchen lässt und einen prekären Konnex von Stilistik und Bedeutungserwartung impliziert. So spricht Giovanni Pico davon, dass es keine Mysterien gebe, deren stilistische Fassung nicht dunkel ist 2, und noch Pietro Aretino bezeichnet den Text der Bibel als genauso dunkel, wie er göttlich ist.3 Das Wissen soll dem profanum vulgus entzogen, zugleich aber erkennbar und vor allem tradierbar bleiben. Dies erzwingt eine Struktur und Stilistik, die auch von Profanen erkannt werden kann, sodass Versuche der Entschlüsselung ansetzen können. Wird dieser Akt des Entschlüsselns selbst zu einem Akt der Einweihung, ergibt sich die strukturelle Möglichkeit zu einem leeren Geheimnis, das immer impliziert bleibt, aber nie zum Vorschein kommt, da 1 | Übers. T. R.: Man kann nicht ausreichend von der Liebe singen. 2 | Vgl. Pico 1971, Bd.1, S. 2: »Hinc appellata mysteria, nec mysteria quae non occulta.« Übers. T. R.: »Diese werden Mysterien genannt, und es gibt keine Mysterien, die nicht auch dunkel (occulta) sind.« 3 | Aretino spricht von den »scritti sacri de la gran Biblia, i sensi de la quale sono tanto occulti quanto divini«. Siehe Aretino 2012, S. 130. Übers. T. R.: »heiligen Schriften der großen Bibel, deren Bedeutungen genau so dunkel (occulti) sind wie sie göttlich sind.«
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der Adept von sich ausgehend entschlüsseln muss. Die Vielfalt intrinsischer und extrinsischer Faktoren, aus denen das Werk gewoben ist, ordnet sich auf den entschlüsselnden Leser hin, dessen Lektürevorgang zwar die Komplexität der Werks reduziert, aber sie auch um Faktoren erweitern kann, da gerade das »dunkle« Werk Pareidolien4 kaum Determination entgegensetzt. Sodann findet der Entschlüsseler, mit dem Wort Friedrich Schlegels über das, was wir in der Antike finden, »vorzüglich sich selbst«5. Damit im Zusammenhang steht ein besonderer Anspruch an den Inhalt solcher Texte oder Werke, deren Struktur die doppelte Funktion der Ausgrenzung und Einweihung zu übernehmen hat.6 Ein Geheimnis beansprucht Kostbarkeit, ein Wissen, das Konsequenzen nach sich zieht, das nicht ohne weiteres geteilt werden kann. Darin ließe sich eine Begründung sehen, warum seit dem Einsatz der Überlieferung dessen, was sich als okkulte Dichtung ansprechen lässt, immer schon das Profane bloßer Belletristik transzendiert hin zu philosophischen, theologischen oder astrologischen Spekulationen. Damit sind also sowohl Praktiken der Kunst und der Gelehrsamkeit aufgerufen, die sich im Produzieren und Entschlüsseln von mystischen, okkulten oder ähnlichen Strukturen ergänzen, überschneiden und zu überbieten suchen. Mein Beitrag zu den Spekulationen des philosophisch-literarischen Kreises um Lorenzo de’ Medici im Florenz des späten 15. Jahrhunderts wird sich auf die Inszenierung solcher Überschneidungen und Überbietungen konzentrieren, genauer den Gestus des Kommentierens und Enthüllens in Texten von Marsilio Ficino (1433-1499) und Giovanni Pico della Mirandola (1463-1494). Gegenstand meiner Nachverfolgung sind in erster Linie die Texte Platons und seiner Schule, die von den genannten Florentinern – so die These – als Wissensträger von okkulter Struktur aufgefasst wurden. Was das neuplatonische Milieu von Florenz zu einer bedeutenden Etappe in der Geschichte einer okkulten Literatur werden lässt, ist der Umstand, dass sich in diesen kommen-
4 | »Pareidolien sind Sinnestäuschungen, bei denen der Wahrnehmung etwas zugefügt, d.h. zusätzlich zur Realität (daneben, para-) etwas hinein gehört oder hinein gesehen wird, z.B. Worte bei einem Geräusch oder Gestalten im Muster der Tapete. […] Pareidolien kommen ebenso wie Illusionen, von denen sie nicht scharf abgrenzbar sind, hauptsächlich bei Gesunden vor.« Siehe Tölle 1985, S. 169. 5 | Schlegel 1964, S. 44 (Athenäums-Fragment 151). 6 | Auch die aktuelle Esoterikforschung kennzeichnet, in Anlehnung an Anton Faivre, einerseits die Dialektik aus Verborgenem und Offenbartem, andererseits Devianz als zentrale Merkmale esoterischer Anschauung. Hier wird insbesondere auf Kocku von Stuckrad verwiesen, da seine Studien zur abendländischen Esoterik das hier nachgezeichnete Bild der Renaissance vor dem Hintergrund einer okkulten Kunst ebenso berühren. Vgl. Stuckrad 2004, S. 21f.
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tierenden Lektüren zugleich die Produktionsbedingungen und -legitimationen neuer okkulter Texte abzuzeichnen beginnen. Der Begriff des Okkulten seit der Moderne und die res occultae der Renaissance unterscheiden sich markant. Der Anwendungsbereich der letzteren fällt bedeutend weiter aus als der des erstgenannten und bezeichnet ein Spektrum von Disziplinen, die sich auf dem Gebiet der Philosophie, Astrologie und Theologie bewegen und überdies weite Teile der heute sogenannten Naturwissenschaften einschließen. Die res occultae sind ein fester Bestandteil humanistischer Lernkataloge und zählen mit Selbstverständlichkeit und ohne jeden Ruch von Geheimniskrämerei auch zu dem hohen Anspruch, den die Humanisten im Bereich der Fürstenerziehung stellen.7 Das Interesse an unsichtbaren, verborgenen Ursachen und Wirkungen im Bereich der unmittelbar vorliegenden Natur, in der Architektur des Kosmos und im Einfluss der Sterne auf die sublunare Weltgegend der Menschen ist enorm und nicht zuletzt ein Thema der medizinischen Forschung. Wie eng verkoppelt die Disziplinen noch sind, die heute in Philosophiegeschichte, Philologie, Medizin und Astrologie getrennt wären, lässt sich bereits am äußeren Umriss von Marsilio Ficinos De Vita libri tres ablesen. Was als medizinisches Werk auf der Basis der Humoralpathologie beginnt und bis in Details der Diätetik reicht, gipfelt schließlich in breit angelegte astrologische Spekulationen, die als Plotin-Kommentar formuliert werden. So lautet der Titel des dritten und letzten Buches: »Über das Leben, das wir vom Himmel erhalten, zusammengestellt mit den Kommentaren des Autors zu Plotin.«8 Zu dieser Gemengelage passt ebenso, dass Marsilio Ficino von Ausbildung und Selbstverständnis her Arzt war, zugleich aber Platon und unter anderem auch das Corpus hermeticum übersetzte – ohne seine Tätigkeiten in Widerspruch geraten zu sehen. Meine Überlegungen gehen in erster Linie von drei Texten aus, dem Symposion, Platons Gastmahl, dem De Amore Marsilio Ficinos, einem Kommentar zu ebenjenem Gastmahl, und dem Commento sopra una canzona d’Amore Gio7 | So fordert etwa Giovanni Pontano in seiner Programmschrift De Principe dringend die umfassende Ausbildung des Fürsten in Natur-, Geschichts- und okkulten Wissenschaften, vgl. Pontano 2003, S. 28: »Quid est enim, per Christum, tam necessarium quam multa scire atque ea tum in cognitione naturae et rerum occultarum, tum in memoria rerum praeteritarum et clarorum virorum exemplis posita.« Im weiteren Fortgang seines Brieftraktats versäumt Pontano auch nicht den Gemeinplatz zu berühren, dass die Wahrheit viele verschiedene Wege gehe und zumeist im Verborgenen (in latebris) lebe. Vgl. Pontano 2003, S. 76. Zu den Lernzielen im Falle Pontanos vgl. das Vorwort von Cappelli, bes. Pontano 2003, S. xliiif. 8 | Unter dem Titel Liber de Vita Coelitus Comparanda compositus ab eo inter Commentaria eiusdem in Plotinum, vgl. Ficino 1989, S. 244 und 247. Das dritte Buch De Vita war ursprünglich identisch mit Ficino Kommentar zu Plotins Enneade 4.3.11.
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vanni Picos, einem Kommentar zu einem Gedicht von Girolamo Benivieni.9 Die Überlegungen beziehen sich so auf einen in gewisser Weise beliebigen Höhenkamm von Texten, die im Rahmen einer inhaltlichen, ideengeschichtlichen Untersuchung des Amorbegriffs sicherlich wenig leisten könnten. Mir geht es aber entlang dieses Höhenkamms um die Entwicklung der Vermittlung, die das Thema erfährt, um die Entwicklung der Vermittlungsstufen und Hürden, die das Thema zugleich erhöhen und unzugänglicher machen, und so eine gegenstrebige Technik der Erzählung ausbilden, deren Begründung in der doppelten Aufgabe okkulter Schriften (Ausgrenzung und Einweihung) gesehen werden kann. Unter diesem Blickwinkel auf die Inszenierung von Verborgenheit, die vorher nicht da war, und auf die exegetische Produktion von Bedeutungen, die vorher nicht da waren, kann auch die begriffsgeschichtliche Problematisierung in Bezug auf die Entwicklung der res occultae in den Hintergrund treten. Es interessiert gleichsam die Arbeit der Beleuchter mehr als die Frage, welche res als heller oder dunkler klassifiziert werden. Eros/Amor ist in der Auffassung der Renaissance von vornherein in einer rätselhaften Zweieinigkeit gefasst, die mit der Doppelung in eine himmlische und eine irdische Venus verkoppelt ist. Eros/Amor ist einerseits eine kosmische Instanz, die durch seine sehnsuchtsvolle Anziehungskraft ganz buchstäblich die Formation und den Zusammenhalt der Welt verbürgt, andererseits die Regung eines Individuums in der Sozialität; stets aber bleibt er ausgerichtet auf das Schöne. Die Anziehungskraft des diesseitigen Schönen, z.B. im Leib eines Menschen, erscheint als bloßer Schatten einer überweltlichen, idealen Schönheit, deren Anziehungskraft die Seele des Menschen, über das Relais irdischer Schönheit, nach oben, d.h. zu Gott als dem Quell aller Schönheit, ziehen kann. Amor ist das Bindeglied, die Relation selbst, er ist eine Leidenschaft, die besitzen will. Er wird gefasst als eine Substanz, die immer auf ein anderes (schönes) Wesen gerichtet ist, und die als Mittler zwischen dem Sehnenden und dem Ersehnten, zugleich als Mittler zwischen den Göttern und Menschen erscheint. Es gibt einen Amor der Weltseele und einen der Einzelseele. Diese Gleichzeitigkeiten resultieren in Unklarheiten. Ob er ein Gott oder 9 | Das Symposion wird hier entlang der gebräuchlichen Stephanus-Paginierung mit der Sigle »St.« und im Wortlaut nach der Ausgabe Platon 1926 zitiert. Ficinos Kommentar De Amore wird mit der Sigle »FDA« nach der Ausgabe Ficino 2014 zitiert. Ficino selbst legte eine lateinische und eine italienische Fassung seines Textes vor, die mit den Ausgaben Ficino 1987 bzw. Ficino 2002 kritisch ediert vorliegen. Picos Commento wird mit der Sigle »PCB« nach der Ausgabe Pico 2001 zitiert. Eine kritische Ausgabe dieses Werkes liegt derzeit noch nicht vor. Picos Commento und seine Stellung zur Dichtungsund Exegesetradition im mediceischen Florenz, zu Picos eigener Sonettdichtung im Besonderen, ist auch Gegenstand meiner Dissertation, vgl. Roth 2017; dort finden sich auch weiterführende Hinweise zur Quellen- und Forschungslage.
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ein Dämon ist und wie seine Familienverhältnisse exakt zu bestimmen sind, bleibt ein Diskussionsgegenstand, der scheinbar keinen Abschluss verlangt; die verschiedenen, auch disparaten Potentiale und Deutungen, die so ins Spiel kommen, werden wiederum vom Bindeglied Amor gebündelt. Eine Umschreibung dieser Art könnte und müsste freilich noch viel weitere Kreise ziehen. Einschlägig für den Gang der Untersuchung aber erscheint mir folgendes: Dieser grobe Umriss des Amorbegriffs bestand in der Hauptsache aus zusammengestückelten Teilen der 50. Enneade Plotins in freier Übersetzung.10 Der Zugriff unserer drei Autoren lässt sich demgegenüber wie folgt charakterisieren: Platon nimmt natürlich nicht Bezug auf Plotin, sondern umgekehrt; Ficino hingegen würde in seinem Kommentar des Gastmahls Plotin in eigener Übersetzung als Lehrmeinung Platons ausgeben; Pico schließlich würde die enharmonische Verwechslung und schrittweise Synchronisierung von Platon und Plotin noch weiter steigern und eigene Thesen von den zitierten Thesen kaum unterscheiden. Der mehr literaturwissenschaftliche als philosophiegeschichtliche Zugang zu diesen Texten soll nun die Form des Sprechens über Amor genauer in den Blick nehmen. Als letzte Instanz dieses Sprechens über Amor steht, mit Platons Gastmahl, das Sprechen mit Amor selbst. Es soll gezeigt werden, wie nah das Werk des Mittlers Amor und das Werk des Mittlers Amors, des Philosophen, sich kommen können, und wie in dieser langsam über ihre Ufer tretenden Aufgabe Liebesdichtung und Liebesphilosophie parallel zu funktionieren beginnen und einander angenähert werden. Die Liebe als kosmische Kraft ist selbst schon eine Form der Kommunikation, der austauschenden Bewegung, und in den Texten, die über Amor sprechen, werden Behauptungen über Entschlüsselung und Verschlüsselung gleichermaßen laut. Entschlüsselung und Verschlüsselung scheinen geradezu in einem Verhältnis der Gleichzeitigkeit zu stehen. Kommentatoren wie Ficino oder Pico begegnen den Texten Platons unter der Prämisse eines höchst produktiven Missverständnisses: Seine Philosophie und seine Amorspekulation im Gastmahl erscheinen ihnen als Texte, die sich auf ein älteres Wissen beziehen, welches, wie sich später herausstellte, jünger war. Das Corpus Hermeticum, die Hymnen des Orpheus, aber auch die Bücher des Alten Testaments wurden in der langen Tradition kosmologisch tiefster Einsicht und Offenbarung vor Platon eingeordnet. Aus den Spekulationen über die urältesten Lehren und aus einigen wenigen Schlaglichtern Quellenliteratur entwarfen die Renaissancetheoretiker parallel dazu eine Vorstellung von der mündlichen Überlieferung des tiefsten Wissens und erklärten diese mündliche Überlieferung, handgreiflichste Form des tradere, als der schriftlichen Form überlegen, als substanziellste Mitteilung, die in letzter Konsequenz 10 | Vgl. Plotin 1960, Teilbd. A, S. 172-199.
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bruchlos an jene Tradition anschließt, die mit der direkten Ansprache Gottes an den Menschen begann.11 Entsprechend wurde Platon auch eine ganze ungeschriebene Lehre zugewiesen, deren Charakter als Geheimlehre natürlich die Begehrlichkeit der Exegeten besonders auf sich zog.12 Die Vorstellung, dass es sich auch bei der platonischen Lehre um eine Art Mysterienkult handelte, welcher der schrittweisen Einweihung bedurfte, wurde zudem durch Schriften wie die des Mittelplatonikers Apuleius befördert13, der zudem als Autor eines Teils der hermetischen Schriften angenommen wurde und dessen Metamorphosen mit ihrer verwirrenden narrativen Anlage bereits einen weit verbreiteten Präzedenzfall für eine »Hyperallegorisierung«14 des platonischen Textes abgaben. Um jede gelesene Zeile Platons schimmert ein gewisser Vorhof mündlicher Geheimlehre; eine Lesehaltung, deren Erwartung an den Effekt des Gelesenen auf das Leben schwer vorstellbar ist. Wie gut sich diese Vorannahmen in Platon entdecken lassen und wie fein sich etwa das Gastmahl dieser Erwartungshaltung öffnet, lässt sich bereits an der Struktur seiner Erzählung sehen. Nicht nur ist in der Situation des mündlichen Dialogs oftmals von eingeweihtem Wissen, Göttern, Mysterien und mündlichem Unterricht die Rede, besonders in Bezug auf den Unterricht von Sokrates bei Diotima (etwa 210 St.). Die Verlässlichkeit der Rede wird ständig mitbedacht und gipfelt in der Schau der völlig verlässlichen Rede selbst, nämlich der Unterredung von Göttern und Eros, der als allumfassender Mittler des Kosmos in Aktion ist. Das Gastmahl hat immer schon stattgefunden. Die Theatralität der Anlage des Textes geht weit über die Dialogform, die wechselnden Redner und Re11 | Hier kann eine Querverbindung zum Adam Kadmon in der Kabbala gezogen werden. Vgl. den Beitrag von Elizabeta Lindner Kostadinovska in diesem Band. 12 | Zu Reihenfolge- und Mündlichkeitsproblematiken vgl. Gaiser 1963 und Jeck 2004, S. 348. Die Spekulation über eine ungeschriebene Lehre Platons hatte bereits im Mittelalter begonnen, wurde aber in der Renaissance nur umso eifriger betrieben. Diese Idee ist eng verknüpft mit der orientalischen oder orientalisierten Tradition Platons, denn entlang der einschlägigen Anekdoten hatte Platon das Wissen seiner esoterischen und nicht niedergelegten Philosophie in Ägypten erworben. 13 | Von Apuleius ist auch bekannt, dass er seinen Stil radikal an die Textaufgabe anpasste und für seine philosophischen Abhandlungen und Lehrbücher etwa zur Logik oder zu Platon einen technischen Jargon bediente, was durchaus Giovanni Pico und seiner Handhabe des »Pariser Stils« ähnelt. Vgl. hierzu Schmutzler 1974, S. 40-44. Die Texte des Apuleius sind die ersten der römischen Antike, in denen eine »ernsthafte Rezeption platonischer Orientalia« sichtbar wird (Jeck 2004, S. 147); für sein Interesse besonders an persischen und ägyptischen Philosophemen, die Eingang in seinen Platonismus fanden, vgl. Jeck 2004, S. 150-152. 14 | Plotin 1960, Teilbd. B, S. 392.
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den, und die darin offen gelassene Verrechnung der Einzelaussagen zu einer Textaussage, hinaus. Das Gastmahl beginnt bereits mit der Aufforderung zur rekonstruktiven Auffaltung eines Sinns, der schon deshalb verborgen ist, weil das Geschehen vergangen ist. Rede und Gegenrede des Dialogs im Haus des Agathon sind tief eingeschachtelt: 1. Unter dem Namen Platons firmiert der vollständige Text, darin: 2. Apollodor unterhält sich mit einigen seiner Freunde, darin: 3. Aristodemos berichtet dem Apollodor, als dieser ein Kind war, vom Gastmahl, darin: 4. Die Reden des Gastmahls laufen vor Aristodemos ab u.a. befragt Sokrates Agathon, darin: 5. Bericht des Gesprächs von Sokrates und Diotima, darin: 6. Eros spricht mit Göttern und Menschen. Man könnte also sagen, dass sechs Gespräche gleichzeitig ablaufen, deren Staffelung und nicht zuletzt deren inhaltliche Aufstellung den Schluss nahelegen, dass die Wahrheit über den Eros in keinem dieser Gespräche enthalten ist. Die Struktur wird zusätzlich dadurch erschwert, dass gleich zu Beginn eine konkurrierende Überlieferung des Gastmahls durch einen gewissen Phönix eingeführt wird, die allerdings »an Deutlichkeit nicht weniger als alles zu wünschen übrig« (172 St.) ließ, wohingegen der Bericht des Apollodor seinerseits auf einer doppelten Quelle beruht: dem Bericht des Aristodemos und den anschließenden Nachfragen bei Sokrates selbst, der allerdings nichts hinzufügt, sondern nur fragliche Punkte bestätigt. Die Qualität des Folgenden ist erheblich verunsichert; nicht nur liegen diese Gespräche ein Lebensalter zurück, sondern auch die Erzählung des Phönix, die unbrauchbar scheint, geht auf den Bericht des Aristodemos zurück (173 St.). Damit ist von Anfang an in Szene gesetzt, dass in der großen Flüsterpost des eingeweihten Wissens nicht nur die Qualität des Sprechenden, sondern auch die Qualität des Hörenden maßgeblich ist. Und da ist der Faktor der Zeit, der im Gedächtnis waltet. Für die Exegeten, deren Technik heiligen Texten gegenüber intensiv, ja frenetisch am Wortlaut arbeitet, müssen einleitende Sätze wie »Selbstverständlich konnte sich Aristodemos nicht an alles, was da vorgetragen wurde, noch genau erinnern, so wenig wie ich mich an alles erinnere, was er erzählte.« (178 St.) oder »Auf die Rede des Phaidros aber seien einige andere gefolgt, deren er sich nicht mehr genau erinnerte, er überging sie.« (180 St.) einerseits zwar ein Problem darstellen, andererseits aber öffnen sie auch einen Spielraum. Die Interpretation kann über den Text hinausgehen, da der Text selbst über sich hinausgeht. Unter den theatralischen Mitteln Platons, den Text in Bewegung zu halten, erscheint mir auch erwähnenswert, dass der gesamte Bericht des Apollodor im
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Gehen stattfindet (173 St.); dass es sich bei der Zusammenkunft im Haus des Agathon um ein Fest im Nachgang eines Theatertriumphes des Gastgebers handelt (174 St.); dass dieses Fest erst von Alkibiades (212 St.) und dann von einer namenlosen Gruppe »Nachtschwärmer« (223 St.) gesprengt wird und in einen ordnungslosen Rausch mündet; und dass das Gespräch zwischen Sokrates, Agathon und Aristophanes noch bis ins Morgengrauen bei stetigem Trinken weitergeht und schließlich bei poetologischen Fragestellungen des Theaters angelangt, während unser Zeuge längst eingeschlafen war (223 St.). Um das, was es zu lehren gilt, sind Stufen errichtet, die der schrittweisen Einweihung bedürfen, Medien werden um die Wahrheit herum geschachtelt. Der Sinn steckt in diesen Schachteln wie die Lehre im Silen: Alkibiades leitet das Silenengleichnis geradewegs aus den Redegewohnheiten des Sokrates ab (221 St.). Silen ist in diesem Falle (neben dem Seitenhieb auf das Äußere des Sokrates) zuallererst eine rhetorische Strategie, die allerdings den Bereich der Rhetorik dahingehend überschießt, als sie nicht auf Überzeugung, sondern auf Wahrheitsfindung abzielt. In der Renaissance würde man eher nicht Silen sagen, sondern: poetico velo, poetici velamenti, Schleier.15 Eros ist im Gespräch des Gastmahls nicht nur Mittler, sondern auch ein Dichter, der andere zu Dichtern (196 St.), und ein Philosoph, der andere zu Philosophen machen kann (204 St.), sein Wirken ist eine Verbindung stiftende Unterredung (202 St.). Das bedeutet, dass Gegenstand und Erforschung zueinander in einem metonymischen Verhältnis stehen, das System ist durch Proportion geschlossen. In der Kommunikation/Spekulation über Amor steht für den Erkenntnisinteressierten aber nichts weniger als die Funktionsweise des Kosmos auf dem Spiel. Die Erkenntnis des Amor stellt eine derart weitreichende Erkenntnis dar, dass auch diejenigen christlichen Exegeten ein frommer Schauder durchläuft, die nicht zuletzt Platon in einer Tradition der Eingemeindung in christliche Denkfiguren lesen.16 Für die Umarbeiter in der Renaissance gibt es eine ganze Reihe trittfester Punkte, die die Überblendung verschiedener mystischer 15 | Eine ähnlich der Metapher des Schleiers gelagerte und weit verbreitete Redeweise ist die cortex verborum, die Rinde der Wörter, die ebenso auf ein Verhältnis von Hülle und Kern abzielt. Vgl. hierzu Blum 2008, S. 47ff. Pico verwendet das Bild des Silen als Emblem wahrheitsgerichteter Rhetorik in seinem poetologischen Brief an Ermolao Barbaro. Vgl. Barbaro/Pico 1998, S. 48. 16 | Ficino belegt diese Tradition und setzt sie fort, wenn er im Widmungsbrief seiner Platonica Theologia an Lorenzo de’ Medici das Zeugnis des Augustinus anführt, der die Nähe Platons zur christlichen Doktrin bereits festgestellt hatte: »Wenig muss sich verändern, und aus den Platonikern werden Christen«. Siehe Ficino 2001, S. 10: »asserueritque Platonicos mutatis paucis christianos fore.« Ebenso mit Augustinus argumentiert vgl. Pico 2009, S. 52.
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Traditionen und Systeme ermöglichen. Aber, fast noch wichtiger, gibt es auch eine Reihe nicht ganz so trittfester Punkte, die den interpretatorischen Eifer der Eingemeindung antreiben, etwa der schrittweise ascensus zu Gott, die Unsterblichkeit der Seele, oder die Fluxustheorie der Wesenheiten, nach der die Schöpfung in Kaskaden sich abdimmender Teilhabe am Göttlichen aus dem Schöpfer fließt. Das Geschaffene wendet sich daraufhin in Liebe zu dem Schöpfer, der es liebt, zurück und strebt seinem Ursprung zu: In Amor, in seiner Erhebungs- und Mittlerfunktion, fallen der Gott der Liebe und die Liebe Gottes zusammen. Amor wird zur entscheidenden Strukturkohärenz im komplexen und gestaffelten Prozess der Erschaffung und Bewegung des Kosmos. »In Ficinos und Picos System beginnt sich das ganze griechische Pantheon um Venus und Amor zu drehen.«17 In der Beschreibung dieser Vorgänge verfilzen christliche und heidnische Bildfelder völlig. So werden heidnische Götter zuweilen mit Engeln gleichgesetzt18, was noch unmittelbar einleuchten mag. Gerade bei Pico aber werden die Überblendungsvorgänge auf immer wildere assoziative, analogiemagische Denkbewegungen aufgesockelt – sodass etwa Christus mit den Hoden des Caelus, der von Saturn kastriert worden war, gleichgesetzt, oder die Lesbia Catulls mit Moses parallelisiert wird.19 Das System und der Begriff des Amor, in die so viel Hoffnung investiert wird, öffnet sich in einen bodenlosen Abgrund, denn das letztgültige, geoffenbarte Wort ist nicht überliefert. Die Renaissance schüttelt die letzte Schachtel und es klingt nichts, was natürlich noch lange nicht heißt, dass die Schachtel leer ist. Solche Offenbarung schriftlich zu überliefern ist mithin verboten. Eine lebendige Überlieferung ist nicht auffindbar, also bedarf es der verstärkten interpretatorischen Arbeit am überlieferten Text, dessen Textkonstitution wenig bedacht und häufig überschätzt wird; die Prämissen dieser Arbeit strukturieren sich nach den Bedürfnissen des Interpreten und nicht nach den Angeboten des Textes. Platons Text sitzt in Ficinos Kommentar wie die Fliege im Bernstein. Ficino inszeniert zwar eine Art ›Reenactment‹ des Gastmahls, die theatralisch-mündlichen Strategien der Mittelbarkeit werden aber allmählich abgelenkt und abgelöst von skriptural-intertextuellen. Ficino lässt sich zudem auf die Verunsicherung des Inhalts bei Platon nicht ausdrücklich ein. Die theatralischen Mittel werden unter »velo« zusammengefasst, die Technik der Distanzierung des Inhalts wird unter die philosophische Manier der Alten subsumiert, in Rätseln von den geheimen Mysterien zu sprechen. Ob damit aber die von Platon inszenierte Kette der mündlichen Überlieferung gemeint ist oder eine metapho17 | Wind 1981, S. 52. 18 | Vgl. FDA, S. 12. 19 | Vgl. PCB, S. 114, 204ff.
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risch-okkulte Qualität der Sprechweise in den Reden, um die es letzten Endes geht, bleibt offen. Das Rätsel wird einfach weitergegeben. Gleich zu Beginn wird allerdings eine neue Performance beschrieben: Im Anschluss an die seit 1.200 Jahren unterbrochene Tradition, den Geburts- und zugleich Todestag Platons am 7. November zu feiern, richtet Lorenzo de’ Medici 1468 in seiner Villa in Careggi wieder ein solches Fest aus.20 Neun musische Gäste werden geladen. Nachdem die Tafel aufgehoben ist, wird das ganze Gastmahl Platons vorgelesen, es ist also, wenn auch mit keiner Zeile vertreten, vollständig in der erzählten Welt des Buches anwesend. Sodann werden per Los sieben Gäste aufgerufen, die sieben Reden des Gastmahls auszulegen. Schon dadurch, dass die Rede des Alkibiades in den Reigen der Reden eingehegt wird, tritt die Verlaufsform zurück, indem die theatralische Dimension der Störung unterbunden ist; in der gleichen Richtung könnte man auch die Verlegung von einem Stadthaus in ein Landhaus deuten. Der Raum ist abgeschlossen. Und auch der Text Ficinos, der sich aus den Reden zusammensetzt, ist ungleich kohärenter und einheitlicher als die Reihung unterschiedlicher, wechselseitig korrektiver und in aufsteigender Folge platzierter Reden bei Platon es war. Die vielleicht bedeutendste Verschiebung oder Neuerung in Ficinos Text gegenüber dem Text Platons besteht darin, dass nun über einen Text und einen bestimmten Text gesprochen wird, was bei Platon nicht der Fall war. Zwar erscheinen dort Dichter als Lieferanten des Mythos, aber sie erscheinen in das Gedächtnis und die Mündlichkeit eingelagert. Die Figuren dieses neuen Gastmahls sprechen Prosa, und zwar nicht nur so wie es Molières Monsieur Jourdain in Entzücken versetzt, sondern regelrechte Traktatsprosa, die kein Bemühen um die literarische Stilisierung von Mündlichkeit erkennen lässt. Die spezifische Form eines ›stilistischen Okkultismus‹ mit Verschachtelung, Verschleierung und Vermittlung aber kommt nun dadurch ins Spiel, dass die Behauptung des Textes, in ihm sei ein bestimmter Text zum Gegenstand gemacht, nur die halbe Wahrheit ist. Es geht um eine Vielzahl von Texten, die aufeinander bezogen werden. Wie man erst durch die Reden des Apollodor und des Aristodemos hindurch in das Haus des Agathon gelangt, gelangt man nun durch die Schriften des Neoplatonismus und auch einiger Autoren der christlichen Mystik in die Schrift Platons hinein. Längenwachstum zeigt eine unverkennbare Dynamik.21 Ficinos Text ist doppelt so lang wie der Platons. 20 | Vgl. FDA, S. 9. 21 | In seinem Brief I.7 an Cosimo de’ Medici begründet Ficino unter dem Titel Excusatio prolixitatis die Länge des Kommentars gerade aus der Kürze des zu kommentierenden Textes, hier in Bezug auf eine Auslegung des Hohelieds durch Laurentius Pisanus in 18 Büchern: Länge (prolixus) ist bedingt durch extreme Kürze (brevissimus) eines verrätselten Textes (nodus), das Verhältnis scheint geradezu proportional. Vgl. Ficino
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Eine in diesem Sinne besonders eigentümliche Operation vollzieht Ficino zu Beginn des 11. Kapitels der 6. Rede22: Indem die Figur, Tomaso Benci, vorgibt, Platon auszulegen, zitiert sie unmarkiert eine lange Passage aus Ficinos Übersetzung des Gastmahls.23 Die Textpassage ist also auf zwei Ebenen zugleich präsent, Vorlage und Auslegung fallen ineinander oder behaupten zumindest ihre jeweilige Durchlässigkeit. Der Text Platons wird geradezu mit der Fähigkeit ausgestattet, den Zeitraum seit seiner Entstehung zu überspringen und direkt in der Unterhaltung des Jahres 1468 anwesend zu sein – noch direkter als in der Lesung des Textes vor den Reden. Soll das aber heißen, dass der Text, in der Blüte seiner Selbstidentität als prophetische, kosmologische Rede im Grunde gar keiner Auslegung bedarf? Ich glaube, ganz im Gegenteil. In dem Maße, wie Platon für Ficino alles durchdringt 24, gibt es bei ihm wie auch bei Pico den Refrain der Uneigentlichkeit von Platons Rede, die als Schleier vor einem Inhalt gefasst wird. Indem das Zitat als Kommentar ausgegeben wird, wird die Kraft des Textes, sich selbst zu entschleiern, zugleich behauptet und ihrerseits verschleiert. Mit den Behauptungen eines solchen Schleiers ist eine Schnittmenge zwischen Ficino und Pico berührt, über die in Frage stehenden Texte hinaus. Der erste Satz des Proömiums von Ficinos Parmindes-Kommentar lautet etwa folgendermaßen: »Es war die Art des Pythagoras, Sokrates und Platon, göttliche Geheimnisse mit Bildern und Hüllen zu verdecken, seine Weisheit gegen die Anmaßung der Sophisten bescheiden zu verhehlen, ernst zu scherzen und ausgesprochen absichtsvoll zu spielen.«25 Noch weiter geht Ficino in seiner 1990, S. 29: »respondeo ob hoc ipsum cogi Laurentium fore prolixum, quia Salomon brevissimus fuit: quanto enim magis Salomonis nodus implicatus est, tanto pluribus ad explicandum opus est machinis.« Übers. T. R.: »darauf antworte ich, dass Laurentius in dem Maße überlang war, in dem Salomon äußerst kurz war: je mehr nämlich durch das Rätsel Salomons nahegelegt und impliziert wird, umso ausführlichere Auslegungen werden nötig sein.« 22 | Vgl. hierzu Paul Richard Blums Ausführungen im Vorwort FDA, S. xiii. 23 | Vgl. FDA, S. 122f. 24 | Vgl. hierzu FDA, S. xxiv. 25 | Ficino 2012, S. 32: »Pythagorae Socratisque et Platonis mos erat ubique divina mysteria figuris involucrisque obtegere, sapientiam suam contra sophistarum iactantiam modeste dissimulare, iocari serio et studiosissime ludere.« Zu dieser Angewohnheit gehört auch die Vermischung vieler Themengebiete, die zum Teil auf kunstvolle Anmut, zum Teil auf direkte Nachahmung der Natur zurückgeführt wird, ebd.: »Praeterea consuetudo fuit Pythagoreorum Platonisque plures invicem materias, partim more naturae, partim ratione gratiae, opportune miscere.« (Übers. T. R.: Darüber hinaus war es der Brauch der Pythagoreer und Platons, vielerlei verschiedene Gegenstände, sei es nach Art der Natur, sei es aus Gründen der Anmut, gefällig zu vermischen.)
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Theologia Platonica, die 1482 im Druck erschien; dort heißt es im 17. Buch, dass die ersten vier Akademien in der Nachfolge Platons, darin übereinstimmten, »dass sämtliche Schriften Platons dichterisch seien«26. Die Texte sind also »in höchstem Maße […] auslegungsfähig und -bedürftig«27, es wirkt eine stete Unterstellung von Dissimulation, deren Funktion ein Schutzmechanismus war und ist, da die gebotenen, aber verschleierten Inhalte nicht einfach nur gute Philosophie darstellen, sondern göttliche Geheimnisse. Paul Richard Blum hat darauf hingewiesen, dass dieses Deutungsmuster, das zudem auf der Suche nach einem zusammenhängenden System ist, bereits in der Spätantike wirksam war, wenn es etwa galt, Platon christlich umzudeuten, und dass es die »Neuplatoniker einschließlich Ficino sind, die in seine Lehre hineingeheimnissen.«28 Ganz ohne Grund geschah das nicht. Im zweiten Brief Platons an Dionysios, einem Text, welcher der Renaissance als authentisch galt, wenn auch späterhin Zweifel laut wurden, heißt es etwa über das ursprüngliche Erste: »Wenn ich dich darüber aufzuklären suche, so kann das nur in rätselhaften Andeutungen geschehen, damit für den Fall, dass der Brief etwa abhanden kommen und aus seiner Verborgenheit im Meere oder zu Lande von irgend jemand hervorgeholt werden sollte, der Leser es nicht verstehe.«29 Diese Aussage ist zwar eindeutig auf die spezifische Situation des Briefverkehrs zugeschnitten, ließ sich aber leicht generalisieren. Der Nutzen einer solchen Generalisierung für die Interpretation ist nicht zu unterschätzen: Der Verschiebung oder Neuerfindung von Schwerpunkten und der Zusammenschmelzung verschiedener Inhalte in der Interpretation muss die Behauptung einer metaphorischen Verschiebungsbewegung im zu interpretierenden Text selbst vorausgehen, um die Operation zu legitimieren.30 26 | Ficino 2006, S. 44: »quod scripta Platonis omnino poetica esse arbitrantur«. 27 | FDA, S. xx. 28 | FDA, S. xxif. 29 | Platon 1921, S. 26 30 | Mit besonderem Fokus auf Pico und die Bedeutung und Funktion des verborgenen Mysteriums vgl. Sudduth 2008, S. 68f.: »to actualize his syncretistic vision, it was necessary for Pico to affirm (1) a level of meaning beneath the surface of the texts whose ideas he tried to reconcile and unify and (2) an interpretive method for deriving these hidden truths from the texts. Pico’s syncretistic project relies heavily on the concept of ›mystery‹. The truth is concealed in various ways and must be recovered by means of principles of allegorical interpretation. This principle of truth concealment is crucial to Pico’s syncretistic approach, for the surface meaning of the texts Pico handles either underdetermines the truths he wishes to deduce or presents otherwise prima facie irreconcilable inconsistencies.« Übers. T. R.: »um seine synkretistischen Vorstellungen deutlich zu machen, war es für Pico nötig, 1) eine Bedeutungsebene unter der Oberfläche jener Texte zu behaupten, die er zu versöhnen und zu verbinden suchte, und
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Ähnliche Stellen finden sich auch bei Pico, auch dort wird der Grundzug einer metaphorischen Drift in den Text hineingelegt, um den Zugriff des Interpreten freizustellen. Die Wirkungskraft dieser Ermächtigung findet einen Schlussstein in einer Behauptung, die das Dunkel der letztendlichen Aussage, auf die die Interpretation überhaupt zielt, begründet: Das Verbot, das ergründete Wissen zu teilen. Mit diesem Verbot ist die Autorität des Interpreten auf einer Stufe mit der des Textes, als Eingeweihte. Der Interpret gibt das Verbot weiter; er selbst ist der Sphäre des Verbots enthoben. Die Herren aus Florenz tun so, als kämen sie geradewegs vom großen Mysterium aus Eleusis. Es ist ein Teil der Pose des ganzen Milieus. Pico zieht diese Kreise weiter und weiter. So heißt es bei ihm etwa am Beginn des Widmungsbriefs des Heptaplus an Lorenzo de’ Medici, im Rahmen einer Argumentation, die hebräisches und griechisches Wissen gleichermaßen auf ägyptisch-urälteste Quellen zurückführt, dass Moses dem Brauch der Alten folgte, entweder gar nicht über religiöse Themen zu schreiben oder nur verschleiert 31, um gleich darauf zu Platon zu kommen: »Platon selbst verbarg seine Lehre unter der Decke der Allegorie, hinter Schleiern aus Mythen, mathematischen Bildern, und unverstehbaren Zeichen, deren Bedeutung entflieht.«32 In der berühmten Oratio de hominis dignitate33 sagt Pico, dass es nur erlaubt ist, von den geheimen Mysterien »im Rätsel«, sub aenigmate, zu 2) eine Interpretationsmethode aufzustellen, um an diese versteckten Wahrheiten in den Texten zu gelangen. Picos synkretistisches Projekt hängt stark von seinem Konzept von ›Mysterium‹ ab. Die Wahrheit ist in vielfältiger Weise verborgen und muss auf dem Weg allegorischer Interpretation zu Tage gefördert werden. Dieses Prinzip der Wahrheitsverbergung ist zentral für Picos synkretistische Herangehensweise, denn die Oberflächenbedeutung der Texte, mit denen Pico umgeht, untergraben entweder diejenigen Wahrheiten, die er ableiten möchte, oder zeigen auf den ersten Blick unversöhnliche Widersprüche.« 31 | Pico 1971, Bd.1, S. 2. 32 | Ebd: »Plato noster ita involucris ænigmatum, fabularum velamine, mathematicis imaginibus, & subobscuris recedentium sensuum indiciis sua dogmata occultavit«. 33 | Diese Rede über die Menschenwürde (der Titel ist nachträglich) erlangte ihre Berühmtheit besonders durch die Vermittlung von Jacob Burckhardt und dann Eugenio Garin, die ihren Rang als Programmtext der Renaissance hervorhoben, und in ihr eine dezidiert moderne Aufwertung des Individuums erblickten; demgegenüber ist die (ebenso dezidiert) mittelalterliche Kosmologie und Heilsarchitektur des Textes zu betonen und eben sein funktionaler Ort in der scholastischen Disputatio der 900 Thesen (vgl. Anm. 37). Erwähnenswert ist, dass die Prämisse und Eröffnung dieser Rede »Magnum miraculum est homo« (Ein großes Wunder ist der Mensch) als Zitat des Hermes Trismegistos eingeführt wird: aus dem Dialog Asclepius, der seinerzeit fälschlich Apuleius zugeschrieben wurde. Vgl. Holzhausen 1997, Bd.1, S. 259.
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sprechen, damit sie gleichzeitig editos et non editos sind, »öffentlich und nicht öffentlich«34. In den Conclusiones nongentae, deren Einleitungsrede die Oratio ursprünglich sein sollte, beginnt die erste These über die Hymnen des Orpheus reichlich paradox mit der Behauptung, man dürfte über die Hymnen gar nicht reden, »fas non est in publicam explicare«, deshalb müsse man zur rätselhaften Verkürzung greifen35; dieselbe Redeverweigerung prägt auch die zehnte These über Hermes Trismegistos.36 Die Dunkelheit der Auslegung reagiert auf die poetische Dunkelheit der Hymnendichtung: wie die Auslegung auf »correspondentia« und einen »Weg der versteckten Analogien«37 abhebt, so erklärt Pico selbst, dass das Gebäude seiner 900 Thesen durch eine verdunkelte Verkettung wirksam werde.38 Die völlige Erkenntnis im Zeichen Amors wird schließlich mit der völligen Lichtlosigkeit gleichgesetzt: die sechste These secundum propriam opinionem über die Lehre Platons lautet: »Laut Orpheus hat Amor keine Augen, weil er über dem Intellekt steht.«39 Die Rede von der poetischen Einkleidung und Verschleierung ist in den Texten des Jahres 1486 allgegenwärtig. In der Oratio heißt es über Orpheus, »[j]edoch hat Orpheus (entsprechend der Gewohnheit der alten Theologen) die 34 | Zu dieser paradoxen Formulierung vgl. Wind 1981, S. 22. 35 | Vgl. Pico 1995, S. 120. Diese Aussage ist in ihrer Paradoxie direkt proportional zur Großartigkeit des Projekts. Pico schrieb die 900 Thesen im Sommer 1486 in Florenz, nach seinem Studienaufenthalt in Paris, und begab sich im Herbst 1486 nach Rom, um dort eine öffentliche Diskussion seiner Thesen zu erwirken. Pico hatte die Thesen, sein Debüt, in Rom bei Eucharius Silber alias Franck drucken lassen und dem Heiligen Stuhl, in dessen Räumlichkeiten und Kontext die Diskussion stattfinden sollte, zur Prüfung vorgelegt. An dieser Disputation sollte die akademische Öffentlichkeit ganz Europas teilnehmen. Die eingesetzte Kommission aber untersagte die Diskussion und begutachtete 13 der Thesen als häretisch und gegen die Orthodoxie, woraufhin Pico eine Apologie verfasste und ebenfalls drucken ließ. Mit Breve vom 6.6.1487 wurde Pico der Häresie angeklagt und musste sich schließlich nach Frankreich absetzen. Picos Thesengebäude besteht aus zwei Teilen: Thesen, die entlang der Meinung anderer gebildet sind (400 in acht Abschnitten), und Thesen, die entlang der eigenen Meinung gebildet sind (500 in 11 Abschnitten). Die Themen sind in aufsteigender Folge geordnet, in doppeltem Kursus: ausgehend von der traditionellen Theologie und Philosophie über die neueren, exotischen Themen zweimal gipfelnd in den Texten des Orpheus, des Hermes und der Kabbala. 36 | Vgl. Pico 1995, S. 54. 37 | Pico 1995, S. 122: »viam secretae analogiae«. 38 | So in der Apologia, zitiert nach Pico 1995, S. vi: »semper occulta quaedam est concatenatio«. Übers. T. R.: »denn immer wirkt in ihnen eine dunkle (occulta) Verkettung«. 39 | Pico 1995, S. 94.
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Geheimnisse in seinen Lehren mit der Hülle von Mythen derart überzogen und unter einem Schleier von Poesie so sehr verborgen, dass, wer seine Hymnen liest, denken möchte, dahinter stecke nichts als Märchen und die reinsten Flausen.«40, und im Commento schließlich sprechen die »antiken Theologen der Heiden unter einem sagenhaften Schleier«41. Die Lektürehaltung bestimmt im Vorgriff die Schreibhaltung, das Interesse am okkulten Wissen findet seinen Gegenstand überall. Die enge Koppelung von Lesen und Schreiben in verwirrenden Vermittlungskaskaden bestimmt den Grundriss des Commento. Die Schrift kommentiert eine Canzone von Girolamo Benivieni, die es sich vom Titel ab, Canzona d’Amore composta per Hieronymo Benivieni cittadino fiorentino secondo la mente e opinione de’ Platonici 42, zum Gegenstand gemacht hatte, die Platoninterpretation aus Ficinos De Amore ins Gedicht zu bringen.43 Benivienis Canzone umschreibt die Amorkosmologie und -symptomatik Ficinos dabei in einer Stilistik, die deutlich in der petrarkistischen Tradition des 15. Jahrhunderts steht und rhetorische Strategien Petrarcas unversehens zur Deckung mit dem titelgebenden Philosophem zu bringen scheint. Bereits in Benivienis Dichtung vollzieht sich also dieselbe rekursive Schleife wie im philosophischen Diskurs: Die Bildfelder Petrarcas werden wiederverwendet und dabei stillschweigend mit neuen, wuchernden Bedeutungen aufgeladen, die erst in einem Kommentar explizit gemacht und gewichtet werden können. Es handelt sich bei Picos Commento zur Canzone also auch um einen multigenerischen Kommentar des Kommentars des Kommentars des Gastmahls. Dass Picos Text letzten Endes auf das Gastmahl zielt, wird aus einigen Bemerkungen deutlich, mit denen Pico seinen Commento als eine Vorarbeit zu zwei Texten ausweist: namentlich zu einem Kommentar des Gastmahls 44 und zu 40 | Pico 2009, S. 74: »Sed (qui erat veterum mos theologorum) ita Orpheus suorum dogmatum mysteria fabularum intexit involucris et poetico velamento dissimulavit, ut, si quis legat illius hymnos, nihil subesse credat praeter fabellas nugasque meracissimas.« Im Anschluss an diese Stelle führt Pico die großen interpretatorischen Schwierigkeiten aus, die diese Texte ihm bereitet hätten, zumal sich niemand außer ihm mit diesen Texten beschäftigt habe – die Sprungschicht zwischen theologia und fabella ist also erheblich dünn. 41 | PCB, S. 108. 42 | Übers. T. R.: Canzone über die Liebe, vom Florentiner Bürger Girolamo Benivieni entlang der Überzeugungen und Meinungen der Platoniker verfasst. 43 | Benivieni und besonders die genannte Canzone sind in letzter Zeit Gegenstand einiger sehr guter Studien gewesen, verwiesen sei im Kontext der vorliegenden Überlegungen besonders auf Zorzi Pugliese 1986, Zorzi Pugliese 1994, Huß 2008 und Leporatti 2012. 44 | In einem Brief an Domenico Benivieni vom 10.11.1486, vgl. Garin 1942, S. 94.
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einem größer angelegten Werk, von dem offenbar nur der Titel je zu Papier gebracht wurde, der Poetica Theologia 45. In diesem Titel wird die Aufwertung der dichterischen Rede als privilegiertem Medium des okkulten, verdunkelten und verschleierten Sprechens über die Mysterien des Kosmos und des Amor ebenso deutlich wie in dem Umstand, dass Pico mit dem Kommentar eines Gedichtes in Konkurrenz zu einem philosophischen Kommentar tritt. Ficino wie auch Pico verarbeiten und vermischen zwar alles, was ihnen an Liebesspekulation zur Verfügung steht und eine bestimmte, an ihre Konzepte von orphischer Weisheit anschlussfähige Struktur und nicht zuletzt Diktion aufweist, beispielsweise die dunklen Gedichte eines Guido Cavalcanti, aber Pico lässt in dieser Dynamik entschieden mehr Raum für Dichtung: Bereits Ficino hatte in De Amore auf Cavalcantis berüchtigte Canzone Donne me prega hingewiesen, bei Pico erscheint diese Canzone aber als gleichberechtigter Träger von Wissen neben der Philosophie. In Picos Kommentar erscheinen eine ungeheure Zahl theologischer wie philosophischer Gewährsmänner, aber auch ein Homer beschließt in sich »alle geistige Betrachtung«46. Zur Erläuterung besonders kniffliger Rätsel Amors werden nicht mehr Platon und Plotin, in denen »die völlige und absolute Erkenntnis der himmlischen Liebe«47 zu finden ist, oder Dionysios Areopagita, das »Haupt der christlichen Theologen«48, herangezogen, sondern Catull und Properz.49 Eine solche Aufwertung der Dichtung ist an sich noch nichts Neues, bereits bei Petrarca50 findet sich ihre Annäherung an die Theologie und die Überlegung zum Wert besonders dunkler poetischer Stellen. In einem Brief an seinen Bruder, einen Kartäusermönch, aus dem Jahr 1349 verteidigt Petrarca die Dichtung und hebt dabei ihre Eigenschaft als (kostbares, aber verdächtigtes) Gefäß hervor: »Der Theologie ist die Poesie jedenfalls nicht abträglich. Wenig fehlt, und ich sage, die Theologie sei Poesie über Gott. Christus wird bald Löwe, bald Lamm, bald Wurm geheißen. Was ist das, wenn nicht Poesie? […] Achte auf die Inhalte, und wenn diese wahr und gesund sind, nimm sie in jeder beliebigen Sprachgattung (jedem Stil) auf. Die eine
45 | Vgl. Pico 2009, S. 6 sowie PCB, S. 170. 46 | PCB, S. 142. 47 | PCB, S. 128. 48 | PCB, S. 24. 49 | Vgl. PCB, S. 204, 86. 50 | Und nach ihm und in seiner Nachfolge auch bei Boccaccio, vgl. Curtius 1954, S. 233.
Hinauf in den Abgrund und gleiche Speise einmal im Tongefäß zu loben und ein andernmal im Goldgefäß zu verschmähen, passt sich für einen Dummkopf oder einen Heuchler.« 51
Die Definition des Dichterischen leitet sich hier schlichtweg in der Uneigentlichkeit der Rede ab, eine offene Begriffsfassung, die der Dichtung weite Gebiete einverleibt. Wenn die Verschiebungsarbeit der Dichtung so weit geht, dass die Inhaltsstruktur nicht mehr klar in den Bereich der nichtdichterischen Rede zurück verschoben werden kann, und von Bedeutung nur noch Bedeutsamkeit übrig bleibt, wird der Gesang dunkel. Aber auch der trobar clus, die Manier der dunklen, unverständlichen Dichtung, hat seinen Sinn, wie Petrarca im dritten Buch seiner Invektive Contra medicum ausführt: er gibt dem Denken eine angenehme Mühe auf, deren Ziel oder Verlauf nicht beschrieben wird, und trainiert, durch den verlängerten Aufenthalt beim Text, das Gedächtnis.52 Was sich bei Pico nun bei aller Nähe der Formulierungen und auch des Ausgangspunktes, der humanistischen Hermeneutik, geändert hat, lässt sich vielleicht als eine Verlagerung des Interesses vom Schleier auf das Verschleierte beschreiben. Während Petrarca die Funktion der Meditation über den trobar clus geradezu selbstzweckhaft in der angenehmen Mühe gegenüber dem Schleier der poetischen Sprache sah, geht es bei Pico um das, was verschleiert wird. Ob die ausgiebig theoretisierte und durchgeführte Hebung des Schleiers durch Texte wie den Commento aber zu seinem Ziel und der erhofften Fülle gelangt, wird in letzter Konsequenz im Text nicht erscheinen, da es verboten ist, so große Geheimnisse in der Schrift niederzulegen. Der Commento entstand 1486 gleichzeitig mit den 900 Thesen, auf der Höhe von Picos Concordia-Gedanken, entlang dessen die großen Autoren wie Platon und Aristoteles, aber letzten Endes alle Autoren miteinander kombinierbar sind und in ihren Aussagen einen gemeinsamen Fluchtpunkt besitzen. 51 | Vgl. Petrarca 2005, Bd.1., S. 540ff. In Petrarcas Brief X.4 begegnet die einschlägige Kopplung einer Parallelitätsbehauptung zwischen Theologie und Dichtung mit der Auslegung eines poetischen Textes, nämlich Petrarcas eigener erster Ekloge. Die Art und Weise, wie Petrarca im Brief seine erste Ekloge auslegt, lässt allerdings deutlich werden, dass der Text nicht in der Art gelesen werden kann, wie Petrarca ihn verstanden wissen möchte, wenn ihm nicht der Kommentar des Autors beigefügt ist, da die Relationierung des bukolischen Codes z.B. zu Klarnamen von Figuren in der Ekloge selbst keinerlei Anhaltspunkte besitzt. Indem Petrarca seinen eigenen Text einer Musterexegese unterzieht, vollzieht er also einerseits das Scheitern des poetischen Textes vor seinem Deutungsanspruch, inszeniert aber zugleich die Überlegenheit des Kommentars als Träger der Wahrheit gegenüber dem Text als Verschlüsseltem; ein Zug, auf den ich später in Bezug auf Picos hebräische Quellen noch zu sprechen kommen werde. 52 | Vgl. Petrarca 2003, S. 108ff. In der Schmähschrift Contra medicum ist auch vom poetischen Schleier und seiner Schutzfunktion die Rede.
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Des Novalis »Zauberstab der Analogie«53 ist hier ausgewachsen zu einer Midashand der hermeneutischen Anschlussfähigkeit. Im Mythos wurde Midas der Wunsch erfüllt, dass alles, was seine Hand berührte, zu Gold werden soll. Der Commento besteht aus drei Büchern. Der allgemeine Einleitungsteil, in dem die Amor-Kosmologie entworfen wird, mithilfe derer die Canzone funktioniert, überwiegt den eigentlichen Stellenkommentar und die schrittweise Auslegung der Canzone bei weitem. Die Kosmologie weicht hier zwar nur in Details von Ficino ab, allerdings sind diese Abweichungen, zuweilen mit maliziösen Formulierungen gesalzen, der Grund dafür, dass der Commento erst recht spät und von diesen Seitenhieben gereinigt in den Druck kam. Wie sehr der Text für Pico selbst Vorarbeit und Steinbruch war, lässt sich etwa daran ablesen, dass ganze Passagen (wenn auch in einer anderen Sprache) 1488/89 im Heptaplus, einer vielfachen Auslegung der ersten Verse der Genesis, wieder auftauchen. In dieser Operation scheint ein Begriff von Religion auf, der von einer generösen Praxis der Mystik und Theurgie beeinflusst ist, denn der Commento war von Pico, nach dem Zeugnis Benivienis, mit dem Vorsatz geschrieben worden, die Sache »als Platoniker und nicht als Christ« zu behandeln.54 Vor dem gemeinsamen Fluchtpunkt Amor wahrt Pico im Commento die Selbstinszenierung des Eingeweihten, der durch seinen Text, »öffentlich und zugleich nicht öffentlich«, nur eine Anleitung zur Selbsteinweihung geben kann. In diesem Punkt koinzidieren Verschleierung und Entschleierung im mystischen Text. Es ist eine merkwürdige, rezeptionsästhetische Prämisse: Die Texte sollen überliefert, d.h. einer unbekannten Zukunft überantwortet werden, sie sollen aber nicht die scharfe Spezifik ihrer Ansprache an Eingeweihte verlieren. Sie sollen, mit einem Wort, nicht verstanden werden und zugleich die höchste Wahrheit, d.h. das absolut Einleuchtende, in sich beschließen. Das könnte man als orphisches Selbstverständnis bezeichnen. Wie dieses Selbstverständnis durch den Akt der Lektüre auf die Schriften Platons projiziert wird, wird an einer Stelle deutlich, in der Pico die Unmittelbarkeit der Erkenntnis durch die Lektüre schildert. Diese Erkenntnis ist personal und exklusiv, sie entsteht durch insistente Lektüre, und sie löst neue Texte aus. Es erscheint ihm seltsam, dass eine bestimmte Bedeutung »sowohl Marsilio Ficino als auch jeder andere, von den Worten Platons ergriffen, nicht verstanden hat. Und davon ist mein Gewissen Zeuge, dass ich das allererste Mal, als ich das Gastmahl las, an dieser Stelle nicht vorher aufgehört hatte, seine Worte zu lesen, bis mir im Geiste die Wahrheit erschien, welche ich sowohl in meinem Kommentar über das Gastmahl als auch in meiner Poetischen Theologie ausführlicher entfalten werde.« 55 53 | Novalis 1953, S. 412. 54 | Vgl. Garin 1942, S. 94. 55 | PCB, S. 188.
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Indem die Wahrheit aufleuchtet, erscheint die Exegesetechnik optimal auf den Text eingestimmt, der orphische Leser Pico entdeckt den orphischen Autor Platon: der orphische Leser Pico wird selbst zum orphischen Autor und rückt die Preisgabe seines Ertrags in die Ferne. Gleich im Anschluss an den knappen Bericht von diesem Lese- und Erkenntniserlebnis, lässt Pico die Lücke in seinem Text klaffen. Er lässt ein Rätsel, »nodo«, das die Bildsprache des Orpheus aufgegeben hat, bewusst offen und überantwortete es dem Leser. Die Art und Weise, wie er den Leser zu Mitarbeit bzw. Selbsteinweihung auffordert, ist einschlägig. Nicht nur wechselt er per Zitat (Markus 4,9 und Matthäus 11,15) in das Lateinische, sondern überschreitet den Text auf die Dimension des Akustischen hin: »ich will dieses Geheimnis nicht weiter entdecken et qui habet aures audiendi audiat (wer Ohren hat zu hören, der höre).«56 Hier werden Kulturen und Medien exemplarisch überkreuzt, und während dieser Überkreuzung wird der Leser auf die Existenz eines neuen velo gestoßen, mit dem er sich zu beschäftigen hat, und in dessen Machart und textueller Inszenierung offenbar die Spur zu finden ist, die zur Antwort auf das Rätsel des Orpheus führt. Die Staffelung von verschiedenen Instanzen der Schriftlichkeit und Mündlichkeit ist hier allerdings nicht wie bei Platon theatralisch angelegt, sondern, noch stärker wie bei Ficino, intertextuell. Gleich nachdem uns Pico mit den Worten Jesu zu Orpheus geschickt hat, beschreibt er die erleuchtende Kraft des Amor, welche die Seele über den vegetativen Körper hinausreißen kann, wiederum in Worten des mündlichen Unterrichts über Amor selbst. Wie bei Platon das Gespräch des Eros mit den Göttern enthalten war, gibt es nun hier das Gespräch der Seele mit der himmlischen Venus: »[D]er Liebende kann die geliebte himmlische Venus sehen und, von Angesicht zu Angesicht mit ihr, über ihren göttlichen Anblick nachdenken«57. Vederla e udirla: Sie sehen und sie hören. Das ist die erste Stufe der Überwindung des Irdischen. Die zweite wird sogleich mit in Aussicht gestellt, sie besteht in Umarmung, Vereinigung und Kuss mit ebenjener himmlischen Venus – dieser Kuss ist ein zweiter Tod, der alles auslöscht. Nachdem diese Theorie des Aufstiegs und Todeskusses entworfen ist, wird sie in den Schriften der Alten wiedergefunden, im Alten Testament, im Hohelied. Überall, wo geküsst wird, ist plötzlich dieser Kuss gemeint, natürlich auch, wenn Platon Agathon küssen lässt. Der echtes Leben spendende Todeskuss, der mystische mitah bi-neshikah, wird zugleich in die paradoxe Rhetorik der Verse Benivienis hinübergespielt, die es eigentlich zu kommentieren galt. In einer Art Fundamentwechsel wird die Tradition der Liebesdichtung, die Benivieni mit Lexik und Rhetorik für seine Canzone versorgt, unterschlagen und durch eine in56 | PCB, S. 190. 57 | PCB, S. 190.
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haltliche Dimension heiliger Mysterien ersetzt. Diese Bedeutungsebene wird vom Kommentar in den Text hineingetragen – als Geheimnis, das ohne den Kommentar kaum sichtbar geworden wäre. Der Mund bleibt das Zentrum, aber die Sprache hört irgendwann auf. Was die Kommunikationsarbeit des Commento zudem von vornherein erschwert, ist einerseits der strukturelle Mangel der Schrift und der Umstand, dass auch noch die falsche Sprache verwendet wird. Zwar bleibt zu vermerken, dass der Commento einem volkssprachigen Text gilt und zugleich das einzige volkssprachige Prosawerk Picos darstellt, also auf beiden Seiten eine Dynamik der Aufwertung zu verzeichnen ist. Aber mit mündlichem Unterricht auf Hebräisch käme man, nach Pico, der Sache schon näher. Die Gründe hierfür hängen, soweit sie Pico ausführt, in engem Zusammenhang mit der Aufwertung des gesprochenen Wortes und der spezifisch verschleierten Sprechweise der Poesie. Es geht einerseits um die Ankettung einer Tradition, die bis zur längst vergangenen Offenbarung Gottes zurückreicht, und andererseits um den ontologischen Status der Sprachzeichen.58 Das Hebräische wird von Pico darüber hinaus mit dem Sonderstatus einer »ersten, ursprünglichen Sprache« ausgestattet, die nicht auf Konvention beruht, sondern auf einer »significatio naturalis«, und ihre virtus nur behält, wenn sie nicht übersetzt wird. Im Hebräischen erscheinen die Klänge und Zeichen der Realität, dem Wesen der Dinge näher, sie sind selbst natura, die eine magische Wirksamkeit entfaltet. Wenn es eine lingua prima et non casualis gibt, so lautet eine der Thesen, dann ist es das Hebräische.59 Der Bereich der erlaubten, weißen Magie, die sich heute in zahlreiche Bereiche der Naturwissenschaften übersetzen ließe60 und die kontrollierte Kommunikation des Menschen mit dem Kosmos, die naturanaloge Überführung von Potenzen in Aktualitäten61 und die Vereinigung von Getrenntem zum Gegenstand hat, ist gekoppelt an die Wirksamkeit der Stimme und der Worte, die sie spricht.62 Das radikale Auseinandertreten von Schleier und Inhalt, das die Technik der Kommentare bestimmte, scheint hier, nicht minder radikal, zusammengefallen. 58 | Vgl. Pico 1995, S. xxviiiff. 59 | Vgl. Pico 1995, S. 76. 60 | Vgl. Pico 1995, S. 116, die #3 der Conclusiones Magicae: »Magia est pars practica scientiae naturalis.« Übers.: T. R.: Die Magie ist der praktische Teil der Naturwissenschaften. 61 | Vgl. Pico 1995, S. 118, die #5 und #10 der Conclusiones Magicae. 62 | Vgl. Pico 1995, S. 118, die #19 der Conclusiones Magicae: »Ideo voces et verba in magico opere efficientiam habent, quia illud in quo primum magicam exercet natura, vox est Dei.« Übers. T. R.: Stimmen und Worte haben im Werk der Magie insoweit Wirkungskraft, als sie die Stimme Gottes, deren erstes magisches Werk die Natur ausübt, sind.
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Aus der hebräischen Tradition können die Autoren der Renaissance zudem ein wichtiges Element zur Aufwertung ihrer kommentierenden Tätigkeit entlehnen, namentlich die Konzeption der doppelten Thora und zweifach überlieferten Offenbarung. Diese beiden Überlieferungsstränge der Thora stehen zueinander wie (poetischer, schriftlicher) Haupttext und (gelehrter, mündlicher) Kommentar; die mündliche Überlieferung wird schließlich wiederum schriftlich niedergelegt und in einer verschriftlichten Diskussion kommentiert, Mischna und Gemara formieren sich als Talmud. Diese Tradition ist es, die Pico als Kabbala bezeichnet, sie ist für ihn »wahre Auslegung des durch Moses empfangenen und von Gott übergebenen Gesetzes. Ihre weitere Überlieferung geschah jedoch nicht schriftlich, sondern mündlich«63, und die Priorität des hebräischen Wissens als urältestem ist damit verbürgt. Diese Struktur, die nun schon mehrmals beschrieben worden ist, ließ sich in Platon entdecken und in diesem Sinne deuten, Platon galt als Schüler der Hebräer.64 Eine literarische Stilisierung verschiedener vermittelnder Instanzen ließ sich auch im More Nevuchim, dem Führer der Unschlüssigen, des Mose ben Maimon wiederfinden, dessen hoher Stellenwert in Mitteleuropa bereits lange Tradition hatte.65 Der dreibändige Thorakommentar des andalusischen Gelehrten nimmt die Form eines Briefes an den Schüler Joseph ben Jehuda Ibn Aknin an, der den durch räumliche Trennung unterbrochenen mündlichen Unterricht fortsetzen soll66, und eröffnet mit dem Topos des in den heiligen Worten verschleierten und verborgenen Wissens, das nun aus dem Dunkel und aus den Gleichnissen herausgeholt werden soll. Ein ›okkulter Schlüssel‹ dient der gekonnten Aufdeckung und Relationierung von verschiedenen Bedeutungsebenen in den einzelnen Worten.67 Wer den richtigen hermeneutischen Schlüssel nicht besitzt, steht vor einem Textgebilde, das schweigt, bzw. sogar den konträren Effekt hat anstelle der Einsicht in die eigentliche Weisheit.68 Die Verschlüsselung erfüllt also wiederum selbst ihre Schutzfunktion. 63 | Jeck 2004, S. 279. 64 | Vgl. PCB, S. 114. 65 | Wie verbreitet das Werk war, lässt sich auch daran erkennen, dass sich in Picos Bibliothek gleich drei Exemplare des More Nevuchim befanden. Vgl. Blum 2008, S. 51. 66 | Vgl. Maimon 1972, Bd.1, S. 1f. Zur Bedeutung der Briefform und zu den Biographien der beteiligten Figuren vgl. Maimon 1972, Bd.1, S. xxviiiff. 67 | Vgl. Maimon 1972, Bd.1, S. 3ff. 68 | Nicht im Haupttext steht, worauf es ankommt, sondern im Kommentar. Vgl. Maimon 1972, Bd.1, S. 4: »Ein solcher wird durch die wörtliche Auffassung des Schriftwortes und dadurch, dass er, weil er nun einmal entweder aus eigener Einsicht oder durch Belehrung von anderer Seite immerfort an den wörtlichen Bedeutungen dieser homonymen, metaphorischen und zweifelhaften Wörter festhält, in Unruhe versetzt und verbleibt darüber in Ungewissheit und Ratlosigkeit.«
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Auch gegenüber diesen literarischen Strukturen und den in ihnen inszenierten Übergänglichkeiten sprachlicher Medien werden die Punkte sichtbar, an denen Pico konzeptionelle Adapter etwa zwischen die hebräische, die orphische und die christliche Mystik setzen konnte; bereits die narrative Ausweisung der Barrieren und dunklen Zonen konnte Analogien nahelegen. So wird es möglich, dass Pico auf einer Seite seiner Rede über die Menschenwürde gleichzeitig den Pentateuch, den Koran, die Illias, Platon, Empedokles und Pythagoras zusammenzieht, um sie zu einer umfassenden (und phantasierten) Genealogie zu ordnen und sie alle auf bis dahin ungedachte Weise zu integrieren: Entlang seines Gedankens der concordia scheint alles zu einer einzigen Kommentarliteratur zusammenzufließen, die auf das magnum miraculum Mensch und seine Beziehung zu Gott ausgerichtet ist. Der Kommentar wird indessen zum Behälter der eigentlichen Bedeutung des poetischen Offenbarungstextes, und wird so, obwohl sekundärer Text, zum primären Träger der Weisheit. Diese große Erzählung hat für Pico Anfang und Kern in der Figur des Moses, »der fast heranreicht an die volle Quelle hochheiliger und unaussprechlicher Erkenntnis, an deren Nektar die Engel sich berauschen«69. Denn Moses war es, der »nicht nur das Gesetz, das er in fünf Büchern aufgezeichnet der Nachwelt hinterließ, sondern er auch des Gesetzes geheimere authentische Erläuterung auf dem Berg aus Gottes Hand empfangen hat. Jedoch sei ihm von Gott geboten worden, dem Volk zwar das Gesetz bekanntzumachen, seine Auslegung aber weder niederzuschreiben noch vor dem Volke auszubreiten. Vielmehr solle er selbst sie nur dem Jesus Nave, dann jener der Reihe nach den anderen, die ihm im Amt des Hohenpriesters folgten, mit der Verpflichtung zu strengem Schweigen offenbaren. […] Die tieferen Mysterien dagegen und die unter der Hülle des Gesetzes und unter einem Mantel nüchterner Wörter sich verbergenden Geheimnisse erhabenster Göttlichkeit dem Volk bekanntzumachen, was anderes hätte dies bedeutet, als das Heilige Hunden vorzuwerfen und Perlen auszustreuen unter die Schweine?« 70
In bestimmten poetischen Texten ist das mystische Wissen um den Kosmos und die Magie gültig gebündelt und sie werden so auch wirksam in den Werken der Magie. So heißt es in den Conclusiones zu Orpheus: »So wie die Hymnen Davids sich wundersam für das Werk der Kabbala gebrauchen lassen, so lassen sich die Hymnen des Orpheus für die wahrhaftige und erlaubte Magie benutzen.« 71 Die Poesie, in der Fülle ihrer langen Aufwertung entlang etwa des prophetischen furor, erscheint hier wie eine Art Maximalsprache – deren Wort69 | Pico 2009, S. 26. 70 | Pico 2009, S. 66. 71 | Pico 1995, S. 122.
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bedeutung völlig zurücktreten kann vor ihrer magischen Wirksamkeit. Dass Pico grundlos von einer fabelhaften Überlieferungssituation in Bezug auf die orphischen Hymnen ausgeht, fällt hier kaum ins Gewicht, denn auf die Bedeutung kommt es nicht so sehr an. Die Dunkelheit und Unschärfe der Zeichen, der velo selbst, wird mit der efficacia ausgestattet, und zwar völlig unabhängig vom Verständnis des Lesers, vor dem ihr eigentliches Mirakel ja in erster Linie verborgen werden musste. Es ist vielmehr die musikalische und klangliche Dimension der Dichtung, die hier in Anschlag gebracht wird: »Bedeutungslose Stimmen/Zeichen haben in der Magie mehr Kraft als bedeutende, und den Sinn dieser These kann derjenige verstehen, der die Tiefe der vorhergehenden These ergründet hat.« Und diese vorhergehende These lautete: »Jegliche Stimme hat in der Magie soviel Kraft, wie sie nach der Stimme Gottes geformt ist.« 72 Und die folgende These bekräftigt noch einmal, dass Namen, insoweit sie Einzelnes bezeichnen, keinerlei Wirkung besitzen – es sei denn, sie sind hebräisch oder aus dem Hebräischen abgeleitet. Im Zuge der Thesen zur Magie wird überdies auch das Trägermaterial der Dichtung gehoben: die Buchstaben der Schrift.73 Sie stehen unter den Zahlen der Kabbala und über den Schriftzeichen der Magie: Sie stehen also in der Mitte und können an beiden Extremen teilhaben. Die Buchstaben nehmen so die kosmische Position des Menschen ein – die strukturelle Mitte, die Pico so oft als Ort des Menschen und der umfassenden Teilhabe am Ganzen verherrlicht hat.74 Auch Amor selbst, um wieder einen Bogen zurück zu Platon zu schlagen, ist die Mitte und der Mittler. 72 | »Non significativae voces plus possunt in magia, quam significativae, et rationem conclusionis intelligere potest, qui est profundus ex praecedenti conclusione.« und »Quaelibet vox virtutes habet in magia, in quantum Dei voce fermatur.« Beide Pico 2009, S. 120. 73 | Vgl. Pico 2009, S. 120. 74 | Vgl. PCB, S. 55: »Die Natur des Menschen, gleichsam Band und Knoten der Welt, ist auf die mittlere Stufe des Universums gesetzt und hat wie jedes Mittlere teil an den Extremen. Solchermaßen hat der Mensch aufgrund verschiedener seiner Teile Gemeinschaft und Übereinstimmung mit allen Teilen der Welt, aus welchem Grunde man ihn Mikrokosmos, d.h. eine kleine Welt, zu nennen pflegt.« oder Pico 2009, S. 8: »Ich Gott habe dich den Menschen in die Mitte der Welt gesetzt, damit du dich umsehen und bequem alles betrachten kannst, was in der Welt ist.« Ebenso wird Pico noch im Heptaplus argumentieren und es dort in seiner Spekulation, entlang derer die Mitte Mensch totalen Zugriff auf die Totalität des Kosmos erreichen kann, so weit treiben, dass er die Schöpfungshierarchie umkehrt: Der Mensch ist dann nicht mehr ein kleiner Kosmos, sondern der Kosmos ein großer Mensch. Vgl. hierzu PCB, S. xvii-xix. Die Mittelstellung des Menschen war bereits vom hermetischen Asclepius, dessen Zitat die Oratio eröffnet, gefeiert worden und zwar gerade auf Grund des Vorzugs der Liebe, die diese kosmische Position besonders prägt. Vgl. Holzhausen 1997, Bd.1, S. 260: »Alle übrigen We-
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Dieses maximal aufgewertete Verhältnis einer bestimmten Art zu dichten, zu sprechen und einer bestimmten Art Wissen zu speichern lässt sich allerdings auch umkehren, d.h. eine bestimmte Stilistik des okkulten Schreibens lässt sich für die Produktion neuer Texte nutzbar machen. Auch die Texte der Alten, die mit dem höchsten Wissen befasst sind, können in das System der imitatio, der dichterischen Nachahmung, eingespeist werden. Dass der Konnex zwischen dunkler Stilistik und erleuchtendem Inhalt so fest fixiert wird, dass er zu einer Kippfigur werden kann, scheint in Sätzen wie der eingangs zitierten Gleichung aus dem Heptaplus auf: »Diese werden Mysterien genannt: und es gibt keine Mysterien, die nicht dunkel sind.« 75 Das heißt, der hohe Inhalt kann und darf nur in dunklem velo erscheinen, das heißt aber auch, dass der dunkle velo den hohen Inhalt nicht nur anzeigt, sondern auch verbürgt. Edgar Wind hatte bereits den Verdacht geäußert: »Pico hatte an diesen okkulten Autoren kein unmittelbares, sondern ein rein poetisches Interesse: sie schulten seine Phantasie in fremdartiger Metaphorik.« 76 Viel deutet auf ein Spiel um eine leere Mitte hin: Die dunkle Sprache, die das Mysterium verbürgt, ist gekoppelt an eine Stilistik, die sich erlernen und nachahmen lässt. Die Sprache der Behandlung schult sich an der Sprache des Gegenstandes, sie borgt von ihm bestimmte Muster des Erzählens, fügt andere Muster, neue Inhalte hinzu. Das Handwerkszeug für die Ermächtigung eines einzelnen Autors zum zugleich autoritativen wie dunklen Sprechen, gerade in der Poesie, ist bereitet, und ich vermute, dass die Umzirkelung und Reflexion von Arealen des Okkulten, des Unsagbaren hier bereits auf hohem Niveau vorliegt und sich über die Moderne bis in die Gegenwart nachverfolgen lässt. Im Vergleich mit Petrarca habe ich oben behauptet, dass sich das Interesse vom Schleier auf das Verschleierte verlagert habe, um nun mit einer Aufwertung der Dichtung und des Schleiers zu enden. Dieser scheinbare Widerspruch wird auflösbar, wenn man die magische Wirksamkeit der Worte ernst nimmt und sie als grundlegend okkulte Behauptung stehen lässt. Die magische Wirksamkeit und Erkenntniskraft, das Verschleierte, ist im Schleier selbst zu finden, wenn der Eingeweihte ihn richtig anpackt, richtig ausspricht, richtig liest. Zudem lässt sich, als Spur aus Picos nicht realisiertem Projekt, eine Dynamik wiederum der Kippbildlichkeit erahnen, die es bei Petrarca noch nicht gegeben hat. Denn gegenüber Petrarcas Formel »Theologie ist Poesie über Gott« (theologiam poeticam esse de Deo) erscheint der Titel von Picos ungeschriebener Poetica sen, mit denen sich der Mensch in der himmlischen Ordnung verwandt weiß, verpflichtet er sich durch das Band der Liebe; er verehrt den Himmel. In solcher Weise ist er also an dem glücklicheren Ort der Mitte angesiedelt, dass er die Wesen, die unter ihm stehen, liebt, selbst aber von denen, die über ihm stehen, geliebt wird.« 75 | Pico 1971, Bd.1, S. 2: »Hinc appellata mysteria, nec mysteria quae non occulta.« 76 | Wind 1981, S. 62f.
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Theologia in verschiedene Richtungen auflösbar: Poesie kann sowohl Gegenstand der theologischen Spekulation, Poesie kann aber auch Ausdrucksform und Medium dieser Spekulation werden. Diese Vervielfältigung des Sinns, die auf eine immer noch zerfasertere Vervielfältigung des Sinns hindeutet, je weiter die Interpretationsbewegung sich der ursprünglichen Wahrheit zu nähern vorgibt, dürfte ganz nach Picos Geschmack sein. Von Picos Abschied von der Poesie, einem festen Vorurteil auch noch der neuesten Pico-Forschung 77, kann jedenfalls, zumindest 1486 und im Grunde bis zum Heptaplus 1488/89 vor diesem Hintergrund keine Rede sein. Dichtung ist ein Herzstück des ›concordischen‹ und orphischen Gebäudes Picos und erst im Abschied von diesem, in den 1490ern, in seinen letzten Lebensjahren, könnte die Dichtung mit zurückgelassen worden sein. Vor diesem Hintergrund erscheint zudem das von Lelio Gregorio Giraldi kolportierte Gerücht überaus plausibel, dass Giovanni Pico Michele Marullo bei den Hymni naturales geholfen hat.78 Und sei es nur, um den Autor mit orphischem Selbstverständnis und prophetischem Selbstbewusstsein auszustatten. Marullos Hymnen an Planeten und antike Gottheiten sind Gebilde von schillernder, dunkler Poesie, in denen kein Gramm Christentum mehr zu spüren ist.79 Diese Gedichte sind der Versuch des Florentiner Humanismus, durch einen salto mortale zurück in das poetische und epistemologische Paradies einen, in dem Sinne okkulten Text zu erzeugen, der auf einer Stufe steht mit Orpheus, Hermes und Moses, und den Kommentargestus hinter sich gelassen hat: primäre Produktion eines poeta vates, der aus der Ästhetik und Literarizität dieses Spiels keinen Hehl machen muss.
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77 | Exemplarisch sei hier Albano Biondi genannt, vgl. Pico 1995, S. ixf. 78 | Vgl. Giraldi 2011, S. 38ff. 79 | Diese Abwesenheit wurde umso deutlicher wahrgenommen und etwa von Erasmus scharf kritisiert, während gleichzeitig die Hymnen für die Lektüre an Universitäten empfohlen wurden – auf Grund ihrer Stilistik. Hier wird das Auseinandertreten von Schleier und Verschleiertem also zu einer Volte in doktrinären Zwistigkeiten. Vgl. zu Marullos Hymnen und der Kritik des Erasmus Roth 2014, S. 139f.
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Heinrich Drebers Sappho und ihre Darstellungen als Selbstmörderin in der Kunst des 19. Jahrhunderts Carlos Idrobo »ganz im Ernst, ich wär lieber tot! Herzzerreißend geschluchzt hat beim Abschied sie damals, als sie zu mir so sprach: ›O wie schrecklich ist unser Los,‹ ›Sappho! Wirklich, nur ungern verlaß ich dich!‹ Ihr erwiderte drauf ich dies: ›Zieh getrost nun hinaus, an mich‹ ›denk bisweilen! Du weißt, wie umsorgt du warst.‹ ›Oder nicht? Nun, so will ich dich‹ ›dran erinnern (weil du’s vergißt),‹ ›wieviel Glück und wie Schönes wir hier erlebt.«1 S appho
Keine andere historische Figur ist so sehr von unterschiedlichen Interpretationen, Verdrehungen und Fiktionen geprägt wie die frühgriechische Lyrikerin Sappho von der Mittelmeerinsel Lesbos des 7. vorchristlichen Jahrhunderts. So wenig ist von ihren Werken erhalten, dass wir nur ›Fragmente einer Sprache der Liebe‹ vorliegen haben: dialogische Lieder über vertraute Menschen und Götter, etwa über Aphrodite. Über Jahrhunderte hinweg hat Sappho, die Lyrikerin aus der Hafenstadt Mytilene auf Lesbos, eine bemerkenswerte Rezeption erfahren. Man findet sie in unterschiedlichen Versionen: sei es als Vorsteherin einer Schule für Brautjungfern, als Leiterin eines Mädchenpensionats (eine Erfindung von Ulrich von Wilamowitz), als Musiklehrerin für Mädchen aus Lesbos und Ionien, als Kultleiterin und Priesterin der Mysterien rund um die Göttin Aphrodite, als Muse, als Dichterin, einmal »queer«, dann wieder »straight«, als Mutter, Ehe1 | Sappho 1991, S. 75 (Fragment 94, 5. Buch).
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frau und Liebhaberin – sogar als Päderastin und Sexlehrerin hat man sie gedeutet. Die verschiedenen Spekulationen über das Leben Sapphos und ihre Welt könnten heterogener nicht sein. Holt Parker schreibt: »Every age creates its own Sappho. […] [She] ceases to be an author and becomes a symbol. She is recreated in each age to serve the interests of all who appropriate her, whether friend or enemy.« 2
Was Parker aufzeigt, sind die ›double Standards‹ in der Interpretation Sapphos und die Tendenz der Interpreten, eine Biographie der Dichterin aus dem fragmentarischen Werk zu erfassen, auch wenn sie fast völlig der Nachwelt vergessen war. Dieses (psychologische) Verfahren, die Biografie eines Künstlers durch seine Werke zu entziffern, und das auch Parker auf Sappho anwandte, erreichte seinen höchsten Zenit in der Psychoanalyse des 20. Jahrhunderts. Tatsache ist, wir wissen fast gar nichts über Sappho und das Leben auf der antiken Insel Lesbos, und auch nicht, ob sie eher jung oder an Altersschwäche gestorben ist. Es gibt keine zuverlässigen Zeugnisse über ihr Leben, die antiken Quellen sind voller Vermutungen und Fiktionen. Parker diskutiert diese Problematik sehr ausführlich und weiß nur einen einzigen, schlichten Fakt herauszustellen: Sappho war Dichterin – und in dieser Rolle weder wichtiger noch unwichtiger als andere Dichter und Dichterinnen ihrer Zeit, der Zeit davor und danach. Was hingegen die Rezeption ihrer poetischen Fragmente zeigt, ist, dass sie immer isoliert von anderen Dichtern behandelt wurde, fast so, als ob das, was sie geschrieben hat, nicht auch im Werk anderer Dichter aufzufinden wäre: »There is no theme, no occasion, in Sappho that we do not find in other poets.«3 Warum gibt es diese erwähnten biographischen Fiktionen? Parker lädt dazu ein, die fiktiven Verdrehungen ihrer Biografie zu beseitigen, um letztlich ein noch spannenderes Bild von der Welt Sapphos rekonstruieren zu können. Nach Parker wäre dies ein Bild, in dem »Sappho is not serving as priestess to girls, [but] attending a banquet with friends«, ein Bild, »where women as well as men are concerned with love and politics and where Sappho is no longer a schoolmistress but a poet.«4 2 | Parker 1996, S. 149f. Übers. C. I.: »Jedes Zeitalter schafft seine eigene Sappho. […] [Sie] hört auf, eine Autorin zu sein und wird zum Symbol. In jedem Zeitalter wird sie wiedererschaffen, um den Interessen derer zu dienen, die sie sich aneignen, ob Freund oder Feind.« 3 | Parker 1996, S. 180. Übers. C. I.: »Bei Sappho gibt es kein Motiv, kein Ereignis, das wir nicht auch bei anderen Dichtern finden.« 4 | Parker 1996, S. 183. Übers. C. I.: »Sappho gilt nicht als Priesterin für Mädchen, [sondern] sie nimmt an einem Bankett mit Freunden teil«, »wo Frauen und Männer sich
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Wir sehen, dass die aktuelle Sappho-Forschung wichtige Fortschritte gemacht hat, um die erwähnten unnötigen Vermutungen in der Rezeption der sapphischen Fragmente zu demontieren. Interessant aber erscheint, gerade die unterschiedlichen Versionen Sapphos zu erforschen. In der Tat wäre eine Geschichte der Spekulationen um die Dichterin ein monumentales Werk und müsste viele Bände umfassen. So eine Untersuchung würde aber zeigen, dass Sappho nicht nur zum Symbol wurde, sondern als Motiv ein Gradmesser der jeweiligen Epochen fungieren kann, sowie eine Projektionsfläche für verborgene, genderbezogene Fragen und Fantasien darstellt.5 Deutlich werden die Unterschiede zwischen den belletristischen bzw. dichterischen und den akademischen Fiktionen von ihr.6 Eine der literarischen Fiktionen hat die Malerei des 19. Jahrhunderts fasziniert: Die wohl bekannteste Legende von Sapphos Selbstmord, dem Sturz vom leukadischen Felsen. Im Folgenden soll dieses Motiv unter Berücksichtigung des Ölgemäldes Sappho (1870) des deutschen Landschaftsmaler Heinrich Dreber (1822-1875) diskutiert werden. Das Bild unterscheidet sich von anderen Sappho-Darstellungen durch drei zentrale Merkmale: 1. die Darstellung der Dichterin als Rückenfigur, 2. die Entsagungsgeste Sapphos und 3. die paradigmatische Beziehung von Subjekt und Landschaft, die keinen Hinweis gibt auf die mentale Situation der Figur, die ja vor der Entscheidung steht, sich umzubringen.
mit Liebe und Politik beschäftigen, und wo Sappho weniger eine Schulmeisterin ist als eine Dichterin.« 5 | In ihrer sorgfältigen Untersuchung argumentiert Benigna Gerisch, wie der Selbstmordversuch auch in der Suizidforschung als ›weiblich‹ gedeutet wird. Auf der einen Seite wird der Suizid bei Männern als logisch und konsequent interpretiert, auf der anderen Seite ist der aus Liebe vollzogene Selbstmord mit Dummheit verkoppelt und wird als weibliches und irrationales Phänomen deklariert. Vgl. Gerisch 2001, S. 69f. sowie Gerisch 1996, S. 91. Jenseits des hier dargestellten Blickwinkels lassen sich auch allgemein im Kontext des Okkulten genderbezogene Untersuchungsgegenstände ausmachen. Die kulturwissenschaftliche Forschung eines Verhältnisses zwischen Okkultismus und Geschlecht steht in Deutschland allerdings erst am Anfang. Die erste Konferenz zu diesem Thema fand im Juni 2017 an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg statt. 6 | Ein interessantes Beispiel etwa ist Charles Baudelaires Vision von Lesbos in Les Fleurs du mal (1875).
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D as M otiv des S elbstmords S apphos in der K unst des 19. J ahrhunderts Es ist die Epistel Nr. 15 Sappho an Phaon aus dem Heroides des römischen Dichters Ovid, die der Figur das dramatische Element ihrer Entscheidung verleiht, nämlich sich wegen einer nicht erwiderten Liebe zum hübschen Fährmann Phaon vom leukadischen Felsen zu stürzen.7 In England fanden die Episteln des Ovid großen Anklang dank der englischen Ausgabe von Jacob Tonson aus dem Jahr 1680. Darin war auch die Gedicht-Adaption von Sir Carr Scrope Sappho to Phaon enthalten. In etwa 30 Jahren erreichte das Buch insgesamt acht Auflagen. Alexander Pope, der bekannte englische Dichter, übersetzte das gleiche Gedicht 1707 in vollem Umfang.8 1793 griff Alessandro Verri das Motiv auf und beschrieb es in seinem Roman Le Avventure di Saffo, poetessa di Mitilene.9 Dank des großen Erfolgs des Romans mit 15 Auflagen ist das Bild Sapphos als Selbstmörderin popularisiert worden. Die verschiedenen Auflagen dieses Romans, aber auch andere Texte über Sappho, enthalten nicht selten Illustrationen von ihr in verschiedenen Szenen, je nachdem, welche Version der Sappho gerade bevorzugt wurde. Hunderte Illustrationen, Zeichnungen, Gemälde und Skulpturen sind Beweis der großen Begeisterung der Kunst vor allem des 18. und 19. Jahrhunderts für die Lyrikerin aus Mytilene.10 Während der zweiten Hälfte des 18. und für das ganze 19. Jahrhundert war die Dichterin ständig anwesend in der europäischen Kunst. Sei es als Dichterin, als Muse, als Geliebte von Frauen oder von Phaon, oder schlicht als Porträtvorlage für Frauen, die als Sappho posierten. Vor allem aber ist es die Sturzszene, die häufig vertreten ist. Berühmte Darstellungen sind etwa die Radierung Sappho (vor 1796) von Johann Joseph Freidhoff (nach Vorlage Johann August Nahls d. J.), die Gemälde Sappho à Leucate (ca. 1800) von Pierre-Narcisse Guérin und Sappho à Leucate (1801) von Antoine-Jean Gros, das Aquarell Sapho se précipitant dans la mer (1840) und das Gemälde La mort de Sapho (1848), beide von Théodore Chassériau; Gustave Moreau malte zwischen 1869 und 1876 mehrmals die Szene von Sappho am Abgrund. Er zeigte insbesondere Interesse an Sappho als sterbender Dichterin. Des Weiteren ist die Karikatur La mort de Sapho (1841-43) von Honoré Victorin Daumier erwähnenswert, denn hier versucht Eros selbst die Dichterin vom Felsen hinabzustoßen. Charakteristisch bei fast all diesen Darstellungen sind die Profilansicht und die Lyra am Körper, die Sappho bis zur letzten Sekunde ihres 7 | Vgl. Ovidius 1995, S. 319. Die Echtheit des Sappho-Briefes ist umstritten. 8 | Vgl. Pope 1993, S. 339f. 9 | Vgl. Most 1996, S. 12. 10 | Auch der französisch-schweizerische Bildhauer James Pradier erschuf 1852 eine Serie von Silberstatuetten mit dem Sappho-Motiv. Vgl. Reynolds 2003, S. 77.
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Lebens spielt. Bei diesen Sappho-Bildern wird die Lyra zur Erkennungsmarke, um die dargestellte Frau als Lyrikerin zu identifizieren.11 Margaret Reynolds sieht die zahlreichen Darstellungen von Sapphos Tod als Straflektion an der Rolle der intellektuellen Frau. Das mag vielleicht übertrieben klingen, zeigt aber, wie viele männliche Kunstschaffende über die Jahrhunderte von dieser Szene fasziniert waren, und, laut Reynolds, so die kulturellen Tendenzen der Zeit widerspiegeln. Sei es bei Gros oder bei Chassériau, Sappho wird, Reynolds zufolge, zur Hysterikerin im Sinne von Jean-Martin Charcot. Die Hysterie wurde in dieser Zeit zum Paradigma einer problematisierten Weiblichkeit stilisiert. Bis in die Mitte des 17. Jahrhunderts gingen Ärzte noch davon aus, dass die Gebärmutter, wenn sie nicht regelmäßig mit Sperma gefüllt werde, im Körper der Frau umherwandere und sich letztlich im Gehirn festsetze. Hysterie wurde hiernach als Neurose des weiblichen Zeugungsapparats betrachtet.12 Die erstaunlich große Faszination für das tragische Schicksal der Dichterin in der Kunst des 19. Jahrhunderts, meistens als Variation des Motivs einer verlassenen Frau, lässt sich auch durch die zahlreichen Darstellungen der Sappho als Selbstmörderin fassen. Reynolds spricht von mehr als tausend Zeichnungen und Gemälden13 und verknüpft die Problematik einer suizidalen Deutung Sapphos mit noch einer weiteren: Die Sappho-als-Selbstmörderin-Bilder waren möglicherweise geprägt von den Theorien des Erhabenen als Suche nach Liminalität bzw. Grenzsituationen. An der Schwelle zwischen Leben und Tod sei hiernach auch eine riskante Anmut zu finden. Daher ist das Bild des Abgrunds, an dem die Dichterin steht, das passende Szenario für eine potentielle Grenzerfahrung: »Sappho poised on the edge of a cliff, between sea and sky, between earth and heaven, is a liminal image. She is at a point of transition, or many transitions: between life and death, between culture and nature, between past, present and future.«14 Entscheidend ist, dass Reynolds in Anlehnung an Jacques Lacan (19011981) sowohl die Bilder der Sappho als Selbstmörderin, als auch die mit Sappho als Figur der weiblichen jouissance (Genießen) als das gleiche Phänomen beschreibt, nämlich als Impuls der Verschlingung. Thematisch betrachtet ist hier die Auflösung des Selbst durch den Tod des Subjekts und die hierauf folgende Verwesung des Körpers gemeint. Es geht um die liebende Erfahrung des 11 | Vgl. Reynolds 2003, S. 71. 12 | Vgl. Reynolds 2003, S. 68ff. 13 | Vgl. Reynolds 2003, S. 76. Viele dieser Darstellungen sind verschollen. 14 | Reynolds 2003, S. 74. Übers. C. I.: »Sappho am Rand einer Klippe, zwischen Meer und Himmel, zwischen Erde und Himmelreich, ist ein Grenzbild. Sie ist am Übergang, oder an vielen Übergängen: zwischen Leben und Tod, zwischen Kultur und Natur, zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.«
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Genießens – im Gegensatz zum Begehren –, wobei die Grenzen verschwinden, also ein Einhüllen bzw. Verbergen in der Sexualität oder im Körper des Anderen. Ikonografisch wird so die Verschmelzung der Figur mit bzw. Vertiefung in die Landschaft angedeutet, ein Phänomen, das sich nicht ausschließlich auf die erwähnten Bilder beschränkt, und auch nicht unbedingt mit dem Todesmotiv zu tun hat, wie es die Argumentation Reynolds aber impliziert. Die Verschmelzung ist beispielsweise an der Farbauswahl oben genannter Künstler zu sehen und in Einzelfällen auch durch weiche Konturlinien zwischen Figur und Landschaft dargestellt. So wird eine Entsprechung der Farbpalette der Kleidung mit den Bildelementen der Landschaft wie Himmel, Meer und Felsen suggeriert, wie etwa bei Gros’ Sapho à Leucate (1801), bei Chassériaus Sapho (1848), bei Moreaus La mort de Sapho (1876) und bei Ary Renans Sapho (1893). Bei letztem Werk sind auch Bildelemente, die später bei Max Ernst (1891-1976) auftauchen, erkennbar.
B ildinterpre tation : H einrich D rebers S appho (1870) Eine außergewöhnliche Sappho-Darstellung dieser Zeit ist das Gemälde Sappho von Heinrich Dreber. Das Bild wurde zwischen 1864 und 1870 im Auftrag des Grafen Adolf Friedrich von Schack nach einer Skizze aus dem Jahr 1859 angefertigt. Betitelt wurde es als Felsenküste im Sturm, mit Sappho.15 Die kunstgeschichtliche Forschung nimmt an, Dreber habe sich von der landschaftlichen Situation bei einer Theaterinszenierung des Trauerspiels Sappho (1818) von Franz Grillparzer inspirieren lassen.16 Es ist auch möglich, dass ihm die Lieder Sapphos Nr. 1 (Ode an die Aphrodite) und Nr. 31 aus den Übersetzungen von Emanuel Geibel bekannt waren.
15 | Drebers Berliner Zeichnung Sappho (1864/68) stellt die Szene des Sprungs noch prägnanter als das Gemälde dar, denn hier ist Sappho direkt am Abgrund platziert. 16 | Vgl. Schöne 1940, S. 86, Heilmann 1987, S. 229 (Kat.-Nr. 53) sowie Thimann 2011, S. 76.
Heinrich Drebers Sappho und ihre Darstellungen als Selbstmörderin
Abb. 4: Heinrich Dreber: Sappho (1870); Öl auf Leinwand.
Bildkomposition und Landschaft Wie fast alle oben genannten Darstellungen ist Drebers Bild auch im Hochformat gemalt, was charakteristisch für ein Porträt ist; trotzdem ist die Dominanz der Landschaft bemerkenswert. Aber anders als die bereits erwähnten anderen Bilder, die zumeist das Motiv im Sonnenuntergang oder am Abend darstellen, sind in Drebers Bild der Himmel und das Meer in hellen Farben dargestellt. Es wird wegen der Lichtverhältnisse und der Schattenprojektion vermutlich ein Nachmittag dargestellt.17 Die Horizontlinie ist genau in der Mitte der Bildstruktur angesetzt und teilt die Komposition zwischen Himmel und Erde auf. Die vertikale Achse hingegen verleiht dem Bild eine Gegenüberstellung des Meeres als denkbarem Todesraum und dem Land mit Tempel als Sym17 | Graf Schack schreibt, das Bild sei »im vollen Lichte des Mittags« dargestellt. Zitiert nach Ruhmer/Gollek/Heilmann 1969, S. 97.
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bol des Weiterlebens. Für den Menschen der Antike war der maritime Raum dem Reich des Hades (Unterwelt) nicht gegenüber gestellt, beide wurden als Behälter der Toten gedacht.18 Das Meer verschlingt die Körper und die Dinge und versinnbildlicht das Risiko, zu ertrinken. Es herrschte also eine negative Wahrnehmung des Meeres (póntos) als Reich des Leidens und des Wanderns vor, wie sie schon in der Odyssee Homers zu finden ist.19 Zudem erscheint das Meer von zweifelhafter Gestalt, da seine Grenzen verschwimmen.20 Es sind Formlosigkeit, Unvorhersehbarkeit und Unbeständigkeit des Meeres, die die negative, aber respektvolle Bedeutung nahelegen. Émile Benveniste zufolge geht ›póntos‹ (Meer oder Weg) zurück auf das Sanskritwort ›panthah‹ und bedeutet ›schwieriger Übergang‹.21 Im Bild Drebers ist das Meer, von oben gesehen, eine ruhige Unermesslichkeit, die zugleich verbindet und trennt. Im Gegensatz dazu zeigt das Land mit dem Tempel die Sicherheit und die Sphäre der Lebenden, die sehnsüchtig auf die Rückkehr der Seefahrer warten. Montiglio zufolge war die Figur des wandernden Liebhabers mit seiner Suche nach dem verlorenen Objekt der Liebe unbekannt für die archaische, klassische und die hellenistische Dichtung (Sappho, Anakreon, Meleagros).22 Das heißt, der Liebhaber ist unbeweglich und verharrt in Erwartung an Land. Das Motiv der verlassenen Frau, die auf ihren zur See gefahrenen Liebhaber wartet, tritt auch in Werken von Zeitgenossen Drebers wie Arnold Böcklin (Villa am Meer, 1864) und Anselm Feuerbach (Iphigenie I und II, 1862 und 1871) auf.23 Beim sorgfältigen Blick erkennt man einen schmalen Weg, der zum Felsen links und weiter zum Tempel rechts führt. Räumlich gesehen ist dies ein Scheideweg, auf dem sich die Figur bald auf ihrem Weg befinden wird. Bis zum letzten Moment ermöglicht dieser Pfad die Rückkehr zum Tempel. Der drohende Untergang Sapphos wird somit noch prägnanter gestaltet, gerade weil er noch nicht geschehen ist und auch zukünftig verborgen bleibt. Wegen dieser Darstellung ist der oben erwähnte Verschlingungsimpuls nicht unmittelbar 18 | Vgl. Serghidou 1991, S. 65. 19 | Vgl. Montiglio 2005, S. 7, 24, 75. 20 | Vgl. Buxton 1994, S. 97ff. 21 | Vgl. Benveniste 1966, S. 296ff. Darüber hinaus ist der Rhythmus des Meeres sehr interessant: Die Wellen scheinen sich mit unterschiedlichen Tempi zu bewegen, wenn sie aufeinanderprallen. Trotzdem verweisen sie auf einen Rhythmus, der Form hervorbringt. Siehe auch die Konzeption des Rhythmus bei Benveniste als angenommene Form dessen, was in immerwährender Bewegung bleibt. Vgl. Benveniste 1966, S. 332ff. 22 | Vgl. Montiglio 2005, S. 235. Laut Montiglio erscheint der wandernde Liebhaber erst in den Romanen der Spätantike. 23 | Siehe auch Drebers Iphigenie (1871) und Gebirgseinöde mit der Büßenden Magdalena (1864/72).
Heinrich Drebers Sappho und ihre Darstellungen als Selbstmörderin
am Werk, wie Reynolds behauptet, zu erkennen, denn die Verschmelzung wird bloß angekündigt. Sowohl die leicht nach Vorne geneigte Körperhaltung der Figur, die den Gang in Richtung Felsen andeutet, als auch die Farbkorrelation der hellen Kleidungsfarben mit Himmel und Meer verstärken diese Wirkung. Dreber macht mit der Bildkomposition die Negation des Lebens (Selbstmord, Tod) gerade explizit durch die Nicht-Darstellung des Gemeinten. Vor dem Hintergrund dieser Deutung mutet Drebers Bild ›okkult‹ an, da er in der Dialektik von Leben und Tod, Hell und Dunkel, etwas zeigt, was nicht dargestellt wird, und so auf etwas Verborgenes aufmerksam macht, ohne inhaltlich im engeren Sinne etwas ›Okkultes‹ zu bezeichnen.24
Sappho als Rückenfigur Ein ästhetisch dezisives Merkmal des Bildes ist die Inszenierung der Sappho als Rückenfigur. Obwohl man sie teilweise im Halbprofil sieht, trägt die Figur die charakteristischen Züge dieser typisch romantischen Personendarstellung. Dreber war einer der wenigen, der die Lyrikerin als Rückenfigur gemalt hat.25 Das Interieur-Aktbild Sappho (Jeune fille dans un intérieur pompéien) aus dem Jahr 1867 von Charles Gleyre zeigt die Dichterin vollständig nackt und in Rückenansicht, sich vorbereitend, zu Bett zu gehen.26 Bildlich näher an Dreber, sowohl hinsichtlich des Stils, als auch bezüglich der Gestaltung von Kleidungsfarben und Landschaft, ist das Ölgemälde Sappho (1862) von Arnold Böcklin.27 Bei Dreber ist jedoch klar, dass es sich nicht um eine Staffagefigur handelt – trotz der relativ geringen Größe der Rückenfigur im Vergleich zur Landschaft. Stattdessen fungiert die Rückenfigur als Stimmungsträger28 im Sinne von Caspar David Friedrich (1774-1840). Der Unterschied besteht darin, dass es sich nicht um eine Betrachterin im Bild handelt, denn die Szene deutet schon eine Trennung zwischen Rückenfigur und Landschaft an – wie bei Friedrichs Mönch am Meer (1808). Nicht nur ist die Sappho durch ihre Trauer teilweise abwesend innerhalb der Landschaft, als Rückenfigur verhüllt sie zudem auch ihr Gesicht und zeigt mit dieser Geste die Unerträglichkeit des Ver24 | Zur Explizitmachung des Okkulten in der Kunst siehe auch die Einleitung von Alexander Graeff in diesem Band. 25 | Möglicherweise war Dreber sogar der erste, der Sappho in einer Skizze von 1859 als Rückenfigur inszenierte. 26 | Es ist heute immer noch üblich, solche Darstellungen als erotische Bilder zu interpretieren. Nacktheit ist aber keinesfalls gleichbedeutend mit Erotik. 27 | Böcklin und Dreber pflegten zwischen 1850 bis 1857 eine Freundschaft. Vgl. Thimann 2011, S. 65. Böcklin malte auch 1862 das Porträt Sappho und um 1888 das Bild Sappho (Kalypso) – in beiden Bildern ist das Motiv der verlassenen Frau zentral. 28 | Vgl. Wilks 2005, S. 43ff.
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lassenseins. Ohne ihren Namen wird sie schnell zur anonymen Trauernden. Auf diese Weise kann sich der Betrachter nur teilweise mit der Rückenfigur identifizieren. Darüber hinaus weicht sie von der Temporalität einer innehaltenden Rückenfigur bei Friedrich ab, denn ihre Körperhaltung deutet eine Bewegung nach Vorne an, als ob sie im dargestellten Moment einen Schritt aus dem Erwarten heraus macht. Aber solange sie auf der oben erwähnten vertikalen Achse bleibt, erlebt sie etwas, das man schon bei einigen Rückenfiguren Friedrichs sehen kann, nämlich eine Grenz- und Schwellensituation. Im Unterschied zu Friedrich aber wird diese hier weniger räumlich ausgestaltet, sondern eben zeitlich. Das ist das Besondere bei Drebers Sappho: die räumliche und zeitliche Schwelle sind unterscheidbar. Räumlich gesehen steht die Figur nicht direkt vor der Grenzsituation ›Abgrund‹, sondern ist nur wenige Schritte davor. Zeitlich gesehen befindet sie sich bereits in der außergewöhnlichen Temporalität der Entscheidung, sich der endgültigen Abwesenheit (dem Tod) zu ergeben. Diese zeitliche Schwelle öffnet einen Spielraum von Lebensund Todesmöglichkeiten. Es ist nicht grundsätzlich der Raum, der diese Möglichkeiten anbietet, sondern die Zeit.
Sapphos Geste als Entsagung von Kunst und Leben Das Gemälde verleiht der fiktiven Geschichte Sapphos eine besondere, zeitliche Spannung, die aus der Entscheidungssituation resultiert. Die eindrucksvolle Entsagungsgeste der rechten Hand ist hier dezisiv. Sollte sich Dreber tatsächlich von einer Theaterinszenierung Grillparzers für die Darstellung der Landschaft inspirieren lassen haben, ist ein ähnlicher Ursprung denkbar für die Geste Sapphos, die sehr theatralisch wirkt. In der Vorderansicht erinnert sie tatsächlich an die Geste ›schmerzhafter Erinnerung‹ des britischen Schauspielers Henry Siddons. Sein Buch Practical Illustrations of Rhetorical Gesture and Action (1822) war wiederum eine Adaptation von Ideen zu einer Mimik (1785), ein Buch des damaligen Direktors des Nationaltheaters zu Berlin und Philosophen der Berliner Aufklärung Johann Jakob Engel. Die Geste zeige laut Siddons die Spannung des Gedächtnisses und das Überreizen von unerträglichen Erinnerungen.29
29 | Vgl. Siddons 1822, S. 61: »… he suddenly turns round from the spot where he had first been stationed, seeking as it were, with one hand reversed, to endeavour to push away this miserable and painful recollection.« Übers. C. I.: »… er drehte sich plötzlich auf der Stelle um, wo er zuerst stand, und versuchte, mit seiner umgedrehten Hand, diese elende und schmerzhafte Erinnerung wegzuwischen.«
Heinrich Drebers Sappho und ihre Darstellungen als Selbstmörderin
Abb. 5: Henry Siddons: Practical Illustrations of Rhetorical Gesture and Action. London 1822, Platte XI: Painful recollection: King Lear.
Sapphos Geste erzählt aber noch mehr: Die Ablehnung der Lyra kündigt an, keine Lyrik mehr zu komponieren. Anders gesagt, sie zeigt eine Trennung von Kunst und Leben. Die am Opferstein der Aphrodite abgestellte Lyra wird nicht mehr gespielt. Michael Thimann schreibt: »Die heilige Kunst der Poesie ließe sich in dieser Perspektive als eine lebenslange Bürde verstehen, der sich die Dichterin nur durch den Tod entziehen kann.« 30
Die Bürde wäre aber zugleich die unmögliche Erfüllung der Leere, die der Abwesende hinterlassen hat.
30 | Thimann 2011, S. 76.
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E xkurs: Das symbolische Andere und die Unerfüllbarkeit seiner Leere Was heißt diese Entsagung von der Tätigkeit des künstlerischen Schaffens im Sinne der Abwesenheit des Liebesobjekts? Roland Barthes Fragment »Der Abwesende« ist diesbezüglich erhellend.31 Die Abwesenheit realisiert sich in einem Diskurs, den das liebende Subjekt unaufhörlich mit dem Anderen führt; in dieser Gestalt wird es bald zur aktiven Praxis und daher zu einem symbolischen Modus des Alltäglichen, der zugleich ermögliche, das Weggehen des Geliebten zu ertragen und dessen möglichen Tod fernzuhalten – zumindest so lange, wie es geht. Hinter diesem Phänomen sieht Barthes die Entstehung des symbolischen Anderen durch das sogenannte Fort-da-Spiel. In diesem Spiel von Verschwinden (Weggehen) und Wiederkommen wird in der psychoanalytischen Deutung das Begriffspaar ›Absenz und Präsenz‹ wirksam. Hiernach weisen beide eine Zusammengehörigkeit auf und sind jeweils an Leere und Fülle gebunden. In Jenseits des Lustprinzips (1920) beschreibt Sigmund Freud das Spiel seines anderthalb Jahre alten Enkelkindes mit einer Holzspule an einem Bindfaden. Das Kind wirft den Gegenstand über den Rand seines Bettes und sagt »o-o-o-o« (fort), danach zieht es ihn am Faden wieder zurück. Beim Erscheinen der Holzspule sagt das Kind jedes Mal »da«.32 Die ganze Szene könne laut Barthes als eine Verarbeitung der Abwesenheit der Mutter betrachtet werden. Sie wandert, sie ist abwesend; das Kind bleibt zurück und wartet, aber die Mutter kommt nicht zurück. Was hier geschieht, ist ein Wiederfinden des Abwesenden im Symbolischen. Der Entstehungsprozess des symbolischen Anderen verrät ein Sich-Überzeugen von der Anwesenheit des schon längst Verschwundenen. Das symbolische Andere ist die Erscheinung des unsichtbaren Dagewesenen, dem explizit Verborgenen des Spiels. Barthes’ Referenz auf Goethes Werther im gleichen Fragment erklärt einen wichtigen Aspekt: »Der Liebende, der nicht manchmal vergißt, stirbt an Maßlosigkeit, Ermattung und Gedächtnisüberreizung (wie Werther).«33 Nicht nur ist der Selbstmörder derjenige, der nie zu vergessen lernte oder vergessen konnte; er wird auch des Aufrecht-Erhaltens des Diskurses überdrüssig, denn die Distanz zum Anderen ist nicht mehr ertragbar. Das Andere wird zum Leib ohne Fleisch. Und so äußert sich das Subjekt, dass dies ihm zu wenig sei, und es ihm nicht ausreiche. Durch die Klage nach Körperlichkeit vollzieht sich das Ende der Ausgestaltung der Abwesenheit. Wir erkennen die Geste des lieben-
31 | Barthes 1984, S. 27f. 32 | Vgl. Freud 1975, S. 224ff. 33 | Barthes 1984, S. 28.
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den Subjekts: die Leere ist da, der Abgrund spricht nun von der Abwesenheit des Geliebten.
Das Paradigmatische an der Beziehung von Landschaft und Subjekt Die Entsagungsgeste der Sappho offenbart einen wichtigen Punkt für die Bildinterpretation. Unabhängig davon, ob es um eine konkrete, nicht erwiderte Liebe zu einem Mann oder einer Frau geht, oder vielleicht nur um eine Vielzahl an Erfahrungen von Verlassenheit, die Geste versinnbildlicht den zentralen Moment, in dem die Ausarbeitung der Abwesenheit abbricht – im Sinne von Roland Barthes. Das Bild stellt das Ende der künstlerisch-kreativen Tätigkeit Sapphos dar und eröffnet den Tod als Möglichkeit. Ein weiteres entscheidendes Merkmal des Bildes Drebers ist eine paradigmatische Beziehung zwischen Subjekt und Landschaft. Ein sorgfältiger Vergleich mit anderen Sappho-Darstellungen als Selbstmörderin wie bei AntoineJean Gros, Théodore Chassériau oder Gustave Moreau scheint zu bestätigen, dass auch bei ihnen die dunklen Farbtöne des Himmels oder des Meeres, sowie der Sonnenuntergang oder die Nachtszenerie der Verzweiflung der Dichterin entsprechen. Drebers Gemälde wirkt dagegen inkongruent. Die südländische Landschaft spiegelt nicht die geistig trauernde Grundstimmung der Figur wider. Außer der Ähnlichkeit der Farben des Gewandes der Sappho mit denen des Himmels und des Meeres, gibt es keine andere Übereinstimmung. Die helle Landschaft mit zahlreichen Feldblumen steht in direkter Opposition zu der unsichtbaren geistigen Finsternis der in Traurigkeit versunkenen Figur. Das explizit Verborgene im Bild wird somit durch die ausdrucksvolle Rückenfigur mitten in einer heiteren Landschaft inszeniert. Der Maler schafft so Bemerkenswertes: Mit klarer, klassizistischer Bildsprache spricht er trotz der weitestgehend hellen Farben eine dunkle Thematik aus. Der helle Nachmittag nimmt so das Selbstverschwinden als Möglichkeit vorweg. Die oben erwähnte zeitliche Schwelle zwischen Leben und Tod erscheint nun wie eine angstvolle Zeit zwischen Helligkeit und angekündigter Dunkelheit. Wir erkennen, dass hier in erster Linie eine Ästhetik des Okkulten – nichts anderes als die ideengeschichtliche und künstlerische Bearbeitung eines Trendthemas der Moderne34 – vorbereitet wird, und dass eine solche nicht unbedingt mit einer dunklen Farbtonalität oder anderen obskuren Mitteln zu tun haben muss. Drebers Bild zeigt genau das durch die Helligkeit seiner Darstellung, die der Szene gerade erst ihren zentralen Charakter verleiht. Die sapphische Entscheidungsgeste steht zwischen einer schmerzhaften Verzweiflung (»ich kann es nicht mehr«) und einer ruhigen Bestimmung (»ich will es nicht mehr«). Es ist, als ob Sapphos Entscheidung zum Selbstmord eine Art Hand34 | Vgl. Loers 1998.
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lung extremer Klarheit wäre. Liegt nicht darin zugleich das Ironische und das Unverständliche dieses Phänomens, das uns immer verblüfft, weil Sich-demTod-zu-ergeben auch als ein selbstbewusster Akt erscheinen kann? Das Gemälde Drebers unterscheidet sich jedenfalls dadurch von anderen Sappho-Darstellungen der Zeit, dass es einen Spielraum eröffnet, in dem das tragische Schicksal nicht zwingend stattfinden muss. Und so liegt der von Künstlern wie Dreber ästhetisierten Moderne auch ein existenzieller Gedanke zugrunde: Der Tod ist immer möglich, aber ebenso auch das Leben.
L iter atur Barthes, Roland: Fragmente einer Sprache der Liebe. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1984. Barthes, Roland: Fragments d’un discours amoureux. In: Ouvres Complètes. Tome III. Paris: Ed. du Seuil, 1977. Benveniste, Émile: Problèmes de linguistique générale I. Paris: Gallimard, 1966. Buxton, Richard: Imaginary Greece. The context of Mythology. Cambridge: Gallimard, 1994. Freud, Sigmund: Jenseits des Lustprinzips (II). In: Studienausgabe Bd. III. Psychologie des Unbewußten. Frankfurt a.M.: Fischer, 1975. Gerisch, Begnigna: »Sterbe ich vor meiner Zeit, nenn’ ich es noch Gewinn«. Weiblichkeit und Suizidalität. Eine quellenkritische Sichtung traditioneller Erklärungsmodelle. In: Freytag, Regula/Giernalczyk, Thomas (Hg.): Geschlecht und Suizidalität. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2001. S. 68-80. Gerisch, Benigna: Suizidalität bei Frauen. Eine kritische Analyse der vorliegenden Erklärungsmodelle zur Suizidalität. Dissertation. Hamburg, 1996. Greene, Ellen (Hg.): Re-reading Sappho. Reception and Transmission. Berkeley: University of California Press, 1996. Heilmann, Christoph (Hg.): »In uns selbst liegt Italien«. Die Kunst der Deutsch-Römer, München: Hirmer, 1987. Loers, Veit (Hg.): Okkultismus und Avantgarde. Von Munch bis Mondrian 1900-1915. Frankfurt a.M.: Edition Tertium, 1998. Montiglio, Silvia: Wandering in Ancient Greek Culture. Chicago: University of Chicago Press, 2005. Most, Glenn W.: Reflecting Sappho. In: Greene, Ellen (Hg.): Re-reading Sappho. Reception and Transmission. Berkeley: University of California Press, 1996. S. 11-35.
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M y thos und F r agment Das Filmporträt Love & Mercy (2014) ist auch ein Film über eine Wahrnehmungskrise: Es handelt sich um die Geschichte des Beach Boys-Songschreibers Brian Wilson, der 1966 mit seinem geplanten Album Smile einen musikalischen Meilenstein setzen wollte, damals jedoch an seinen Psychosen scheiterte.1 Während die anderen Beach Boys ihrem Bandnamen gemäß der kalifornischen Variante des Dolce Vita zugetan waren, blieb der Außenseiter Wilson lieber zuhause am Flügel, den Boden darunter zum Zweck der Inspiration mit Sand bedeckt.2 1966 war der nicht zuletzt durch ausgiebigen LSD-Konsum religiös gewordene Wilson der simplen Akkorde seiner vormaligen Surfmusik überdrüssig geworden, um zum Schrecken der übrigen Bandmitglieder an einem komplexen Konzeptalbum zu arbeiten. Das Werk sollte mit einem Konzertbesucher beginnen, der sich angesichts eines entfremdeten Publikums in Abendgarderobe zunehmend in Visionen verliert, die ihn durch diverse Zeitalter der Menschheitsgeschichte und schließlich zu Gott führen; er sieht Königreiche, Ideen, Existenzen und Institutionen fallen wie Dominosteine, erlebt Musik, die sich in einen trompetenden Schwan verwandelt, um schließlich im Lied des Universums Gott zu finden – in einem Kinderlied.3 Den hohen Ambitionen, die der Künstler mit seinem Konzeptalbum verband, das Einsicht in Schicksal und Bestimmung des Menschen sowie ein popmystisches Lächeln vermitteln sollte, vermochte die ordnende Gestaltungskraft, die bei einer jeden künstlerischen Arbeit Ideen und Einfälle zu einem organischen Ganzen zusammenwachsen lässt, nicht zu folgen. Es gelang Wilson nicht, die zahllosen 1 | Vgl. Doggett 1998, S. 94. 2 | Vgl. Siegel 1998, S. 82. 3 | Vgl. Siegel 1998, S. 85f.
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fragmentarischen Einfälle zu einem Werk zusammenzufügen.4 Die zahllosen Bandaufnahmen und miniaturhaften Tonfolgen wollten sich nicht zu einer Komposition fügen. Was als bahnbrechendes Werk gedacht war, musste Fragment verbleiben. Das Werk sollte erst 40 Jahre später in Gestalt des Albums Smile (2004) fertiggestellt werden. Diese Anekdote aus der Popgeschichte scheint mir geeignet, die Frage nach der Rolle des Mythos in der Gegenwartskunst und die Schwierigkeit einer künstlerischen Annäherung an das Transzendente und Okkulte zu veranschaulichen. Die Moderne ist gelegentlich als Krise beschrieben worden, etwa in der Streitschrift Verlust der Mitte des Kunsthistorikers Hans Sedlmayr (18961984).5 Beklagt wird darin die schwindende Geltung des einstmals sinn- und kulturstiftenden christlich-religiösen Weltbildes. Die von Sedlmayr ausgemachte Kulturkrise steht dabei in engem Zusammenhang mit einem Verlust des Mythos im Sinne einer das ganze Sein umfassenden, religiös motivierten Weltdeutung. An die Stelle einer ganzheitlichen Wirklichkeitskonstruktion trete stattdessen seit der Romantik, und verstärkt in der Moderne, eine fragmentierte Darstellung von Wirklichkeit. Am Beispiel des Werkes von Lucas Cranach werde ich das künstlerische Selbstverständnis dieses Renaissancemenschen zu rekonstruieren versuchen, um im darauf folgenden Teil (wiederum beispielhaft, unter Bezugnahme auf die Maler Francis Bacon und Emil Schumacher) aufzuzeigen, inwiefern die Zerstörung des Mythos im Sinne einer allgemeinverbindlichen Orientierung an metaphysischen Vorstellungen der modernen Kunst insofern eingeschrieben ist, als dass erst diese einen vor dem Hintergrund des wissenschaftlichen Weltbildes zeitgemäßen künstlerischen Transzendenzbezug ermöglicht. In diesem Sinne soll der Essay zeigen, dass also gerade eine »okkulte Kunst« im spezifischen Sinn modern ist. Was soll im Folgenden aber unter »Mythos« verstanden werden? Und welche Relevanz hat der so aufgefasste Mythos für die heutige Kunst? Die Geschichte der Mythosdefinitionen ist so alt wie die der Mythentheorien, auf die hier nicht näher eingegangen werden kann.6 Festzuhalten ist, dass bis heute kein verbindlicher Mythenbegriff existiert.7 Wird der Mythos als eine aus religiösem oder kultisch-rituellem Zusammenhang nicht herauszulösen4 | Vgl. Doggett 1998, S. 91f. 5 | Vgl. Sedlmayr 1948. 6 | Vgl. Segal 2007 und Jamme 1991. 7 | Assmann/Assmann 1998, S. 179: »Fruchtbarer als die Definition eines notwendigerweise immer zu engen Mythos-Begriffs erscheint die Unterscheidung mehrerer Mythos-Begriffe. Wenn man in dieser Vielfalt nach einem gemeinsamen Nenner sucht,
Die Transformation des Mythos durch die Moderne
de kulturelle Erscheinungsform aufgefasst, macht die Rede von einem mythischen Aspekt moderner oder zeitgenössischer Kunst wenig Sinn. Möchte man den Mythenbegriff aber für vielfältige kulturelle Phänomene öffnen, und geht man von einer weiten Definition aus, büßt der Begriff dagegen seine Aussagekraft ein. So hat Robert Segal vorgeschlagen, Mythos als »eine Geschichte über etwas Bedeutendes« 8 zu definieren. Dem Vorzug eines solchen sehr offenen Mythosbegriffs steht zum einen das Problem gegenüber, Bedeutsamkeit bewerten zu wollen, zum anderen wird außer Acht gelassen, ob die Form und Erzählweise ihrem bedeutsamen Thema gerecht wird. Schließlich wird jede Geschichte, die überhaupt weitererzählt wird, offensichtlich von jemandem als bedeutsam genug empfunden, um eine Erzählung zu rechtfertigen – und vom Zuhörer, um sie anzuhören. Innerhalb des vorliegenden Textes scheint mir eine thematische Beschränkung sinnvoll. Als mythisch soll hier eine Kunst dann bezeichnet werden, sofern sich im bildnerischen Werk eine Annäherung an das Okkulte oder Transzendente vollzieht. Analog zu »absoluten Metaphern«, die sich nach Hans Blumenberg auf Daseinsbereiche beziehen, die sich der wissenschaftlichen Erforschbarkeit entziehen, der Welt jedoch eine Struktur geben, indem sie »das nie erfahrbare, nie übersehbare Ganze der Realität repräsentieren«9, ließe sich in der bildenden Kunst von absoluten Symbolen sprechen. Für Goethe konnte sich das Symbol auf Totalität beziehen, da ihm alles Einzelne miteinander verwoben schien.10 Und schließlich versteht sich das Symbol seiner Herkunft nach (symbolon) bereits als Fragment, das auf ein Ganzes verweist.11 Fragmentierung ist daher im Grunde bereits im Ursprung dieses Begriffs angelegt. Sofern sich Sinnbilder auf existentielle Fragen oder das Weltganze beziehen, berühren sie den Bereich des Religiösen, ohne jedoch darauf beschränkt zu sein. Das traditionelle Medium der »absoluten Metapher« im Sinne Blumenbergs ist der Mythos, dessen Sinnbilder sich auf eben jenen Bereich des Okkulten, des Nichterfahrbaren, des Nichtverfügbaren und (begrifflich) Nichterfassbaren beziehen. In diesem Sinn ist hier die Rede von mythischer Kunst. Die Fragmentierung der Kunst und des einstmals homogenen Mythos führt, wie ich anhand von Werken von Francis Bacon, Emil Schumacher und Rainer Maria Rilke beispielhaft aufzeigen werde, keineswegs zu einer bloßen Zerstörung, vielmehr ergeben
könnte man ihn bestimmen als den einer Gruppe vorgegebenen Fundus an Bildern und Geschichten.« 8 | Segal 2007, S. 12. 9 | Blumenberg 1960, S. 20. 10 | Vgl. Goethe 1998, sowie Kurz 2009, S. 75: »Da für Goethe alles quasi-organisch miteinander zusammenhängt, kann ein Teil die Totalität darstellen.« 11 | Vgl. Lurker 1991.
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sich gerade durch dieses Stilmittel Möglichkeiten eines schöpferischen Sehens (bzw. Lesens) seitens des Betrachters. Will man diesen Prozess als krisenhaft beschreiben, bietet sich die Option eines erst durch die Moderne eingeleiteten schöpferischen Umgangs mit den Fragmenten des Mythos als Lösung an. An die Stelle des kollektiven Mythos tritt der mündige Betrachter, der im Akt der schöpferischen Betrachtung zum Kooperationspartner des Künstlers gerät, indem er eingeladen ist, das im Bild angelegte Fragment imaginär weiterzuentwickeln, zu ergänzen oder zu vervollständigen. Einen gänzlich anderen Ansatz als Segal haben Jan und Aleida Assmann in ihrem Mythos-Beitrag im Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe gewählt.12 Dort tritt an die Stelle einer verbindlichen Definition die Bestimmung einer Reihe von sieben unterscheidbaren Verwendungsweisen des besagten Begriffs. Hier ist es vor allem der literarische (oder besser: poetische) Mythos, von dem sich sinnvollerweise im Zusammenhang mit Kunst sprechen lässt. Ein poetischer Mythos beansprucht weder unveränderliche Form, noch wird ein absolutistischer Wahrheitsanspruch erhoben. Im Gegenteil, der Mythos in Kunst und Poesie lädt geradewegs dazu ein, von Künstlern und Betrachtern immerzu weitergedacht, ergänzt und verwandelt zu werden. Das hat der literarische bzw. poetisch-künstlerische Mythos mit Open-SourceSoftware gemeinsam: Beide verstehen sich in ihrer Offenheit als Einladung zur Weiterentwicklung. Im Falle des Mythos in der Kunst liegt allerdings kein offenzulegender Code vor – dieser ist erst in langwierigem Umgang mit im obengenannten Sinne mythischer Kunst zu entwickeln.
»Wie Fliegen an einer Wand« – der Mensch im Werk von Francis Bacon Große Sammlungen, in denen die künstlerischen Erzeugnisse unterschiedlicher Epochen und Kulturen auf bewahrt werden, ermöglichen Reisen jenseits der Beschränkungen, die uns Raum und Zeit üblicherweise auferlegen. Das geistige Durchleben von Ländern und Kontinenten vollzieht sich in Minuten, der Flug durch Jahrhunderte erfolgt mit dem Durchschreiten von Ausstellungssälen; hinter der nächsten Tür mag uns ein flämischer Meister oder eine sumerische Gottheit, der Geruch nach frischer Ölfarbe oder eine verschlüsselte Botschaft aus Vor- oder Frühzeit erwarten. Während ich zur Jahreswende 2016/2017 über die an dieser Stelle präsentierten Überlegungen zur Kunst nachdachte, ergab sich durch einen spontanen Ausstellungsbesuch eine Gegenüberstellung zweier Künstler, wie sie unter12 | Vgl. Assmann/Assmann 1998, S. 179.
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schiedlicher kaum sein könnten. Anhand einer vergleichenden Betrachtung lässt sich aufzeigen, was mit dem Auf bruch der Moderne verloren, aber auch, was gewonnen wurde13 – und schließlich, wohin es heute künstlerisch gehen könnte. An jenem Tag gaben mir beide Künstler in all ihrer Unterschiedlichkeit förderliche Impulse. Die Rede ist von dem britischen Maler Francis Bacon (1909-1992) und dem deutschen Renaissancemaler Lucas Cranach der Ältere (1472-1553). Zu den maßgeblichen Bildern, die meine künstlerische Entwicklung bereits in den späten 1980er Jahren beeinflusst haben, gehören die Drei Studien zu Figuren am Fuß einer Kreuzigung, 1944 von Francis Bacon gemalt: Deformierte organische Wesen in schmerzhafter Verkrümmung, die einer religiösen Bildtradition entwachsen sind, diese jedoch geradezu in ihr Gegenteil verkehren, indem nicht länger von dem durch metaphysische Hoffnung gelinderten Schmerz des Gläubigen Zeugnis abgelegt wird; vielmehr tritt hier das Thema des sich als biologisches Wesen begreifenden Menschen in den Vordergrund, dessen Unversehrtheit einer stetigen Bedrohung ausgesetzt ist. Bacon schreibt: »Ich war schon immer sehr berührt von Bildern, die mit Schlachthäusern und Fleisch zu tun hatten. Für mich gehören sie sehr stark zu dem ganzen Thema der Kreuzigung. […] Ich glaube, diese Bilder verdeutlichen eine Situation, die für mich der Realität der Kreuzigung sehr, sehr nahe kommt. Ich weiß, dass für religiöse Menschen, für Christen, die Kreuzigung eine völlig andere Bedeutung hat. Aber für mich als einen Nichtgläubigen war sie eben ein Akt menschlichen Verhaltens, des Verhaltens eines Wesens einem anderen gegenüber.«14
In seinen späteren Werken tritt die stark deformierende Darstellungsweise zurück, die bizarren Formgebilde machen Figuren mit menschlichen Gesichtern und Gliedmaßen Platz, verwischt, verzerrt, wie in stetiger Bewegung begriffen. Ein schmales Repertoire von Zeichen verweist auf modernes Leben – Glühbirne, Anzug, Zeitung, Armbanduhr, immer bloß angedeutet und doch den Menschen eindeutig als Vertreter einer weiter gefassten Gegenwart ausweisend. Bei seinen malerischen Versuchen über die menschliche Figur (zahlreiche Bilder werden lediglich als »Studie« betitelt, was hier nicht etwa eine handwerkliche Vorübung kennzeichnen soll) gelingt dem Künstler die Vermeidung eines Übermaßes an Individualisierung und vertrauter Mimetik zugunsten einer auf Wesentliches reduzierten Aussage über die menschliche 13 | Anknüpfend an Walter Benjamin, demzufolge dem Verlust von Aura bzw. Kulturwert der Gewinn des Ausstellungswertes gegenübersteht vgl. Benjamin 2010. 14 | Francis Bacon zitiert nach Sylvester 1983, S. 25. Zu Bacons Abneigung gegenüber Religion siehe ebd., S. 136.
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Existenz. Aus organischen Formen werden menschliche Wesen, ausgesetzt in entleerte Bildräume, als bestünde die Aufgabe des Künstlers im Unterbinden jeglicher Illusionen, Utopien und Heilslehren: die Kunst, ein Ort, an dem sich der Mensch als auf sich selbst zurückgeworfen erfährt. An einem Pastell von Degas15, das eine sich nach dem Bade abtrocknende Frau in Rückenansicht zeigt, begeistert Bacon die Verletzlichkeit offenlegende Art und Weise, wie am oberen Ende des Rückgrats die Schulterknochen beinahe aus der Haut hervortreten.16 Kontinuierlich begleitet den Künstler das Gefühl von Sterblichkeit. Seine Aufgabe sieht er im Wegnehmen jener Schutzschirme, mit denen sich der zivilisierte Mensch die nackte Realität vom Leibe zu halten sucht.17 Große Kunst bestehe, wie im Ateliergespräch verlautbart wird, immer darin, »die Schleier, die sich im Laufe der Zeit über das Faktische legen, herunterzureißen.«18 Dabei erhofft sich Bacon von der Malerei, in Abgrenzung zu Fotografie und illustrativer Kunst, eine unmittelbare Wirkung auf das Nervensystem, die sich nicht über den Umweg einer Geschichte vollzieht.19 Die Malerei der Moderne versteht sich vielfach nicht länger als im Dienste von Religion und Mythologie, oder als Literatur vermittelnd; Malerei wird selbst zur Poesie, die mit großer Unmittelbarkeit wirken will, indem sie sich auf sich selbst besinnt, unter Vermeidung von Strategien, die, da bloß von der Sprache geborgt, ihrem Wesen fremd bleiben müssten. Die Bildwirklichkeit emanzipiert sich gleichermaßen von der sprachlichen, wie auch von der vertrauten sichtbaren Welt, nur umso tiefer mit den eigenen Mitteln in die unverschleierte Wirklichkeit vorzudringen. »Ein Bild sollte die Neuschöpfung eines Ereignisses sein, und nicht etwa die Illustration eines Objekts […].« 20
Gelegenheit, eine größere Anzahl von Gemälden dieses Künstlers zu betrachten, bot sich mir in der Stuttgarter Staatsgalerie, als ich an zwei Nachmittagen die Schau Francis Bacon. Unsichtbare Räume 21 besuchen konnte. Ich war gespannt, wie sich die erneute Begegnung mit diesem Künstler nach so vielen Jahren gestalten würde, nachdem ich über Jahrzehnte hinweg von ihm immer nur vereinzelt Originale zu sehen bekommen hatte. War mir das Menschenbild dieses Künstlers insbesondere bei meinem ersten Besuch zunächst als 15 | Edgar Degas: Nach dem Bad (1903), National Gallery, London. 16 | Vgl. Sylvester 1983, S. 48. 17 | Vgl. Sylvester 1983, S. 80, 84. 18 | Bacon im Time-Interview mit Hugh Davies, zitiert nach Davies/Yard 1986, S. 110. 19 | Vgl. Sylvester 1983, S. 59. 20 | Bacon im Time-Interview, zitiert nach Davies/Yard 1986, S. 109. 21 | Vgl. Conzen 2016.
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von stark neurotischen Zügen durchsetzt erschienen, lernte ich bald wieder malerische Qualität und strenge Bildordnung seiner Arbeiten schätzen, in der jegliche Ablenkungen und Belanglosigkeiten ausgeblendet werden. In ihrer strengen Reduktion auf Menschliches kam mir diese Malerei nun wieder wie ein Wahrnehmungsfilter vor, der den Blick auf die conditio humana freigibt.
L ucas C r anach und der A pfel der E ris Im Anschluss an meine zweite Wiederbegegnung mit dem Werk von Francis Bacon verbrachte ich zwei Stunden mit ziellosem Schlendern durch Ausstellungsräume, in denen altmeisterliche Kunst präsentiert wird. Hier, wo die bedeutendsten Schätze der Kunst früherer Epochen ein stilles Pensionärsdasein führen, ohne je den Anschein von Relevanz im Hinblick auf aktuelle Menschheitsprobleme zu erwecken, endete auch die Hektik der Besucherströme, die von einer Armee uniformierter Aufseher von allzu vertraulichem Kontakt mit den kostbaren Exponaten ferngehalten werden müssen. In gleichsam mikrokosmischer Raumzeit ereignete sich an diesem Samstagnachmittag ein unvermittelter Sprung von der Moderne zurück in eine Epoche, in der die Kunst noch gänzlich durch eine mythisch-religiöse Symbolik bestimmt war. Ich fand mich wieder in den Symbolwelten einer Gesellschaft, die zwar bereits den Mythos zu reflektieren begonnen, sich gleichwohl dessen Herrschaftsbereich noch nicht gänzlich entzogen hatte. Anders als die Welt der gotischen Kathedralen, der das Nachdenken über Mythen und Symbole fremd war, weil das Denken selbst mythisch-symbolisch wurzelte, findet sich das geistige Umfeld Lucas Cranachs bereits ergriffen von der konkurrierenden Kraft erwachender emanzipierter Vernunft in Gestalt von Humanismus und Reformationsgedanken – eine Kunst zwischen den beiden Welten von Mythos und Säkularisierung, gerade in jenem denkwürdigen Moment festgehalten, in dem sich beide Kräfte eine Zeit lang die Waage hielten – Ansatzpunkt und mögliches Vorbild vielleicht für eine erneute Versöhnung divergierender Perspektiven? In der unmittelbar aufeinander erfolgten Einlassung auf je einen klassischen und einen modernen »Meister« wird der Wandel, den unser Menschenbild erfahren hat, mit Deutlichkeit greif bar. Kann Bacon als einer jener Künstler gelten, in deren Werken die existentielle Situation des modernen Menschen schonungslos auf den Punkt gebracht wird, hat sich Cranach insbesondere mit seinen zahlreichen mythologisch motivierten weiblichen Aktdarstellungen tief in unserem kulturhistorischen Gedächtnis verankert. So sehr eine verkürzende Gegenüberstellung dieser beiden Künstler gewisse Zufälligkeiten und individuelle Besonderheiten in stärkerem Maße ins Licht rücken mag, als dies einer systematischen Darstellung angemessen wäre, scheint mir die darin vollzogene Erkenntnis für die heutige Situation geeignet, in der sich Künstler und
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Rezipienten befinden. Im Vergleich zwischen der von Vernunft und humanistischem Selbstbewusstsein geschliffenen mythisch-religiösen Wahrnehmung, von der die Werke des Renaissance-Malers Zeugnis ablegen, und den existenziellen Erschütterungen des modernen Künstlers, drängen sich zwei rückblickende Fragen sowie eine vorausweisende auf, aus deren Zusammenspiel sich vielleicht eine neue Wahrnehmungsweise ergeben könnte: Was haben wir verloren? Was haben wir erreicht? Und schließlich: Was könnten wir gewinnen? Abb. 6: Lucas Cranach der Ältere (Werkstatt): Das Urteil des Paris (um 1530), Öl auf Holz.
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Abb. 7: Lucas Cranach der Ältere: Judith mit dem Haupt des Holofernes (um 1530), Mischtechnik auf Lindenholz.
An jenem Tag faszinierten mich in der Galerie alter deutscher Meister vor allem zwei Gemälde von Lucas Cranach d. Ä., die in einem der stillen Museumssäle darauf warteten, dass die Begegnung mit einem schauenden Bewusstsein die zu Farbe geronnenen Ideen zu neuem Leben erweckt. Bei einem der Werke handelte es sich um eine Darstellung des Parisurteils; ferner fesselte mich eine an derselben Wand präsentierte Judith mit dem abgeschlagenen Haupt des Holofernes. Vor diesen Bildern geriet mir die beglückende Wirkung vollkommener Malkunst zum Anlass einer schmerzlichen Erkenntnis über das, was wir verloren haben, gleich einem Transportmittel, das auf unwegsamer Strecke nicht länger geländetauglich ist, dessen Verlust gleichwohl schmerzt, nachdem es sich über Jahrhunderte bewährt hatte. Unter dem Einfluss jener Verwirbelungen des Zeitstroms, denen wir uns in den Schutzräumen der Gemäldegalerien genüsslich aussetzen, erreicht uns die beflügelnde Wirkung dieser Kunst gelegentlich noch heute, durchsetzt mitunter von der leidvollen
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Erkenntnis, dass diese Ausdrucksform nicht länger die unsrige sein kann. Die Geschichte vom Urteil des Paris ist schnell erzählt (auch wenn in der Bewertung von Mythen stets zu bedenken ist, dass ein jedes in der verkürzten Nacherzählung unterschlagene oder historisch verlorengegangene Detail möglicherweise eine zusätzliche Erkenntnisdimension eröffnen könnte). Paris obliegt die undankbare Aufgabe, im Streit dreier Göttinnen zu entscheiden, welche die schönste sei. Verschiedentlich ist, insbesondere aus feministischer Sicht, die Trivialität der Situation beanstandet worden: ein Schönheitswettbewerb mit drei Kandidatinnen, die vor dem Mittel der Bestechung nicht zurückschrecken22 – passabler Stoff für Heftromane und Reality-TV-Shows. Während Athene der vermeintlich neutralen Ein-Mann-Jury Weisheit bietet, lockt Hera mit Mut (bzw. daraus resultierender weltlicher Macht), Aphrodite aber mit Helena, die als schönste unter den Sterblichen gilt. Der jugendliche Heros entscheidet sich für Letztere. Jedoch hat die Sache einen Haken: Helena ist bereits die Gemahlin des Königs Menelaos. Der absehbare Konflikt wird letztlich die Zerstörung Trojas nach sich ziehen und Paris somit sein Schicksal erfüllen, denn als Kind war der trojanische Königssohn ausgesetzt worden, nachdem seiner Mutter ebendies geweissagt worden war. Bis hierher könnte man versucht sein, den Mythos auf das Motiv schicksalhafter Unausweichlichkeit, gewürzt mit einem Schuss Tugendlehre zu verengen. Schließlich obliegt dem Helden die Entscheidung zwischen einem geistigen (Weisheit) und einem weltlichen Wert (Mut bzw. Macht) – sofern er eben nicht doch lieber sein Glück in der Liebe zur schönsten lebenden Frau suchen will. Jedoch deuten sich bei eingehender Betrachtung durchaus tiefere Bedeutungsebenen an, auch wenn diese sich mangels ausführlicher Überlieferung im Nebel der Geschichte verlieren.23 Denn abgesehen vom unwürdigen Streit erweisen sich jene Göttinnen, die bei Cranach in gleich dreifacher Ansicht dem Auge zu gefallen suchen, als eindeutig identisch und daher gleichermaßen schön, wie drei verschiedene Ansichten ein und desselben Modells – oder eben ein und derselben Göttin, die unter verschiedenen Namen unterschiedliche Aspekte ihrer selbst verkörpert. Zudem sind uns weitere symbolischmythologische Zutaten überliefert, wie etwa jener (Zank-)apfel, den Eris, die Göttin der Zwietracht unter die dreieinige Schönheit warf, wodurch besagter Streit seinen Ausgang nahm. Weitere Motive gehen auf Geschichten des frühen Mittelalters zurück, in denen wiederum auf älteres Erzählgut bis hin zu keltischen Mythen zurückgegriffen wird. Darin ist die Rede von einem Ritter24, der im Wald auf eine von einem Stein flankierte Quelle stößt, Sinnbild für die 22 | Vgl. Jane Harrison in Campbell 1992, S. 185. 23 | Der Stoff ist uns bezeichnenderweise vor allem von den Satirikern überliefert. Vgl. Lukian 1981, S. 302-310. 24 | Chrétien de Troyes: Yvain, um 1170. Vgl. Klinkert 2011, S. 65ff.
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Polarität des Männlich-Weiblichen, in dem das Weibliche auf kaum merkliche Weise und doch mit der Kraft der Beharrlichkeit wie Wasser den (männlichen) Stein formt. Als der Ritter diesen mit dem heiligen Nass in Berührung bringt, meldet sich die Natur mit Macht zu Worte. Es kommt zu verheerenden Unwettern. Die Kräfte des Chaos walten, um die blühende Natur erneut dem Schlund des Ungeformten einzuverleiben, dem diese sich mühsam entrungen hatte. Nachdem sich die Elemente wieder beruhigt haben, kommt es zur Begegnung mit der Hüterin der Quelle, einer lokalen Repräsentation der allgegenwärtigen, alles verkörpernden Göttin.25 Nachweislich hat Cranach bei seinen Darstellungen des Parisurteils auf Romane zurückgegriffen, in denen der griechische Held in Gestalt eines Ritters agiert, dem im Traum der Götterbote Hermes mit den drei Göttinnen erscheint.26 Abb. 8: Lucas Cranach der Ältere: Das Urteil des Paris (1530), Öl auf Rotbuchenholz.
25 | Ausführlicher dargestellt in Weyers 2012, S. 54f. 26 | Vgl. Bonnet/Kopp-Schmidt 2014, S. 172.
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Während die Stuttgarter Version Paris als schlafenden Jüngling zeigt, scheint der Held auf der Karlsruher Variante soeben aus dem Schlaf erwacht.27 Die Quelle gerät zu einem Symbol des Erwachens: Hier lässt Cranach seinen Akteur angelehnt an einen Stein schlafen, während dort der sichtbar gereifte, erwachende Held auf jenem Stein sitzend dargestellt wird, unter dem nun unverkennbar eine Quelle entspringt.28 Vor dem Hintergrund humanistischer Werte, wie sie am Wittenberger Hof diskutiert wurden, sieht sich Paris (und mit ihm der zeitgenössische Edelmann, denn sowohl er als auch Hermes sind in Rüstungen des 16. Jahrhunderts gekleidet) vor die Wahl zwischen vita contemplativa (Athene), vita activa (Hera) und der vita voluptuaria (Aphrodite) gestellt.29 Athene, die in diesem Fall also für die wollüstige Hingabe stünde, verkörpert demzufolge eine Lebensoption, die sich dem Sinnlichen anvertraut, gleichwohl in neuplatonischer Sicht nicht von der moralisierenden Abwertung geprägt ist, die bis heute oftmals mit dem Begriff der Wollust verbunden wird. Noch Novalis preist sie im Sinne einer sich christlichen Tugendlehren entziehenden Lebenskraft 30, während Marsilio Ficino in der vita voluptuaria ein Ideal sehen wollte, das es zu pflegen und mit den beiden anderen, Weisheit und Heldenmut, in Gleichgewicht zu bringen gelte.
27 | Oder träumt er hier noch, und wir mit ihm? Handeln die Bilder auch von Schlaf und Wachzustand als Hinweise auf unterschiedliche Perspektiven von Wahrheit und Wirklichkeit? Oder beziehen sich Schlafen und Wachen auf die unterschiedlichen Entwicklungsstufen, die typischerweise mit verschiedenen Lebensaltern verbunden werden? Schließlich ist der schlafende Paris als Jüngling dargestellt, der anscheinend aufgewachte mit Bart – vielleicht eine Reminiszenz an den Helden der in den früheren, bis zum keltischen Mythos zurückreichenden Fassungen glaubt, kurz eingeschlummert zu sein, während tatsächlich Jahrzehnte vergangen waren? 28 | Aufwachend (Karlsruhe) hat er sein Schwert gezückt, dass eben noch in seiner Scheide steckte (Stuttgart). Im Zücken des Schwertes ist noch ein Hauch des ursprünglichen Mythos präsent. In einer antiken Vasenmalerei wird Paris noch nicht als galanter Jüngling, sondern fliehend, vor dem unverhüllten Antlitz der Göttin in Furcht und Schrecken versetzt. Vgl. hierzu Joseph Campbell, der sich hier wiederum auf Jane Harrison bezieht, in Campbell 1992, S. 187. Zum Topos des schrecklich-schönen unverhüllten Anlitzes der Göttin (und des durch sie verkörperten mysterium tremendum et fascinans) vgl. auch meine Darstellung des Aktaion- bzw. Narcissus-Mythos in Weyers 2017, S. 91. 29 | Vgl. Bonnet/Kopp-Schmidt 2014, S. 172. 30 | »Himmlischer, als jene blitzenden Sterne, dünken uns die unendlichen Augen, die die Nacht in uns geöffnet. Weiter sehn sie, als die blässesten jener zahllosen Heere – unbedürftig des Lichts durchschaun sie die Tiefen eines liebenden Gemüths – was einen höhern Raum mit unsäglicher Wollust füllt.« Siehe Novalis 1999, S. 151.
Die Transformation des Mythos durch die Moderne »Paris entschied sich für die Lust, Herkules wählte das Heldentum, und Sokrates zog die Weisheit vor. Alle drei wurden von den Gottheiten, die sie verschmäht hatten, bestraft und ihr Leben endete im Unglück.« 31
Glück hingegen wird diesem Neuplatoniker zufolge aus einem Gleichgewicht der psychischen Kräfte geschmiedet, von dem keine zu vernachlässigen sei.32 Entscheidend im Hinblick auf Cranachs Darstellung ist nun wohl, dass die drei Entscheidungsmöglichkeiten eben in Form gleichartig gestalteter antiker Göttinnen in paragonenhafter Abfolge aufscheinen, wie drei Ansichten ein und desselben göttlichen Leibes, und daher zumindest dem Anschein nach Gleichwertigkeit beanspruchend: Drei Lebensoptionen als Facetten der Göttin, Sinnbild möglicher Begegnung mit dem weiblichen Prinzip. Eine weitere, verborgene Sinndimension eröffnet sich, sofern man den Gründen nachgeht, die dazu geführt haben mögen, dass sich im Gemälde der Apfel der Eris in eine Glaskugel verwandelt hat. Offenbar hat das antike Thema hier auch durch alchemistische Bezüge grundlegende Umdeutung erfahren. Cranach, der in Wittenberg eine Apotheke betrieben hat (allerdings ohne selbst diesen Beruf auszuüben) und möglicherweise auch dort mit alchemistischen Experimenten in Kontakt kam, kannte vermutlich das Herworst-Manuskript, in dem der Motivkomplex des Parisurteils als alchemistische Illustration verwendet wird.33 Dargestellt ist offenbar eine der letzten Vorstufen auf dem Weg zum Stein der Weisen, verkörpert durch eben jene gläserne Kugel, die Hermes (Merkur) dem Paris offenbart34 – Verheißung eines geistigen Veredelungsprozesses, der sich nicht nur in den Symbolen der Alchemie, sondern auch in der Malerei vollzieht, aufgefasst als ein sublimierender Schmelztiegel, indem die Handfertigkeit und Geisteskraft des Künstlers aus Ölen und Pigmenten der Sinnlichkeit und dem unverhüllten Antlitz der Göttin zu neuer Strahlkraft verhelfen. Wie sich der Zankapfel in lichtes Kristall verwandelt, so transformiert die befleckte Seele in der Seligkeit: Erneute Manifestation der Einheit des Guten, Schönen und Wahren, bevor sich dieser Dreiklang in der Moderne fragmentieren wird.35 31 | Aus einem Brief an Lorenzo de Medici, zitiert nach Schneider 2009, S. 80. 32 | Vgl. Schneider 2009, S. 80. 33 | Fast alle Autoren gehen über den alchemistischen Zusammenhang hinweg, ausführlich hingegen dargestellt ist dieser bei Helmut Nickel, bezogen auf die (in dieser Hinsicht besonders ergiebige) Version im Metropolitan Museum vgl. Nickel 1982, S. 127. 34 | Vgl. Nickel 1982, S. 126f. 35 | Schließlich werden Ästhetik und Ethik heute kaum mehr metaphysisch begründet. Nicht länger auf absoluten, religiösen Wahrheiten gründend, muss auch die Schönheit als relativ erscheinen. Während die relativen Wahrheiten heutiger Weltanschauung oftmals mit schmerzlicher Erkenntnis in Zusammenhang gebracht werden (wie es sich etwa in der Redewendung von der »schonungslosen Wahrheit« spiegelt), gilt das Schö-
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Das Motiv weiblicher Schönheit, wie es uns etwa in Cranachs Parisurteil begegnet, kann in sublimierter Weise aufscheinen, da ein Überschießen der erotischen Energie durch Einbindung in eine Malerei höchster Subtilität vermieden wird. Erst die malerische Qualität ermöglicht dem Motiv den Anschein pulsierender Lebendigkeit bei gleichzeitiger Präsenz der Öle und Pigmente. Der Schein des göttlich-schönen Leibes wird erzeugt, nicht um Fleisch, sondern um Kunst zu werden, transformiert und eingebunden in eine Bildwirklichkeit, die nicht verleugnet, dass ihre Herkunft eine malerische ist. Anders gesagt: Die Frage danach, auf welcher Seite der Grenze zwischen surrogathaftem Kitsch und vergeistigender Sinnlichkeit wir uns befinden, wird nicht in der Schönheit des Motivs, sondern in seiner malerischen Bewältigung entschieden. Der französische Philosoph und Schriftsteller Hippolyte Taine (1828-1893) bemängelte in seiner 1907 in Jena erschienenen Philosophie der Kunst eine »zu starke Herrschaft der reinen Begriffe« in Deutschland, die »für die Sinnlichkeit des Auges« keinen Raum gelassen habe.36 Nicht eine Vorherrschaft der Begriffe jedoch, sondern eine Zurücknahme naturalistischer Bildwirkung zugunsten einer malerischen Sinnlichkeit ist es, die bei gleichzeitiger Schematisierung der Leibdarstellung Cranachs eine Sublimierung des weiblichen Eros ermöglicht, ohne einem allzu voyeuristischen Bildinteresse nachzukommen.37 Dass Cranachs schematisch abstrahierende Darstellung des nackten Körpers keineswegs einem Unvermögen geschuldet ist, das deutsche Renaissancemaler hinter deren italienischen Zeitgenossen qualitativ zurückfallen lässt, wie Generationen von Kunsthistorikern glaubten, wurde unlängst nachgewiesen. Die Schematisierung folgt einem bewusst konzipierten Bildprogramm, mit der sich der Reformationskünstler von den Werken eines Tizian oder Giorgione abzugrenzen verstand.38 Eben jene malerische Qualität, deren Verlust etwa Anita Albus beklagt 39 – und die zugleich als Ästhetizismus ohne begleitende Ethik sich stets der Gefahr ne als »schöner Schein«, das Gute als zweckdienliche soziale Übereinkunft. Seit der Aufklärungsepoche wird eine entsprechende Entwicklung der Menschheit in ähnlichen Dreischritten konzeptionalisiert, so z.B. bereits in Schillers Briefen zur ästhetischen Erziehung des Menschen (1795). Vgl. Schiller 2000. 36 | Dort S. 218, hier zitiert nach Maaz 2011, S. 32 37 | Allerdings ist zu berücksichtigen, dass die erotisierende Wirkung von Cranachs Akten auf dessen Zeitgenossen mutmaßlich von ungleich höherem Maße war, als es sich unser heutiges Auge vergegenwärtigt. 38 | Cranach brachte den verwandten Topos der Quellnymphe aus Italien mit, um ihn im Umfeld seiner reformatorischen Heimat einer grundlegenden Wandlung zu unterziehen. Vgl. Müller 2008, S. 164. 39 | Vgl. Albus 1997.
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ausgesetzt sehen müsste, zum bloßen Selbstzweck zu geraten –, ist es auch, die in dem benachbarten Bild die verstörende Obszönität des abgeschlagenen Kopfes gerade soweit erträglich macht, dass sich der Betrachter weder verstört abwenden möchte noch hinsehend einem gewalttätigen Voyeurismus anheimfällt. Die mit der Darstellung brutaler Gewalt einhergehenden Affekte werden von der Schönheit der Gestaltung aufgefangen, unser Blick auf deren subtilere Qualitäten gelenkt, die in anderen Bildwerken oft im Getöse der Affekte untergehen. Auf diese Weise gelingt es dem Maler, ein größtmögliches Spektrum Wirklichkeit einzubinden, einschließlich Tod, Leid und Eros, und damit jener Impulse, deren emotionale Kraft die erstrebte harmonisierende Wirkung andernfalls zu unterlaufen drohte. Im Gegensatz zum Hyperrealismus, bei dem das Ideal der bestmöglichen Sinnestäuschung den Wesenszug der Darstellung als künstlerisches Medium verschleiert, der Inhalt also das Medium unsichtbar macht, wirken hier Form und Inhalt untrennbar ineinander, sind geradezu als identisch zu bezeichnen. Auch im Gemälde des Renaissancemalers scheint sich, wie im Naturalismus, ein Fenster in eine fiktive Welt zu öffnen, und doch behaupten sich die dargestellten Landschaften und Figuren zugleich als malerische Wirklichkeit, ihre beziehungsreichen Geflechte von Form und Farbe vermögen das malerische Objekt in einen Schwebezustand zwischen Realität und Fiktion zu versetzen. Die erotisierende Wirkung des Aktes, wie auch die Grausamkeit des abgeschlagenen Hauptes werden abgemildert, indem das Aufmerksamkeit beanspruchende Objekt einer formalen Assimilierung unterzogen, und der Malerei gleichsam einverleibt wird. Auf diese Weise wird eine übermächtig pornografische Wirkung genauso vermieden wie eine der Gewalt. Wo sich im Parisurteil unter dem auf höchster Sublimierungsstufe vollziehenden erotischen Interesse, gleich einer Zwiebelschale, Schicht um Schicht weitere Bedeutungsebenen auftun, ist die Judith höfisches Porträt und Femme fatale zugleich; eine Frau, die ihre Verführungskunst einsetzt, um einen grausamen Feldherren mit drastischen Mitteln außer Gefecht zu setzen. Der Maler zeigt hier erneut eine antike Gestalt in zeitgenössischer Aufmachung und zugleich das Portrait einer vornehmen Dame. Vordergründig lässt sich das Gemälde als Zeugnis einer Auftragskunst bewerten, die sich die eitle Lust am eigenen Bildnis zunutze macht und dabei zusätzlichen Reiz aus Kostümierung und biblischem Rollenspiel bezieht. Der außenstehende Betrachter indes, vor dessen Auge der Aspekt porträthafter Inszenierung angesichts der dargestellten blutigen Szenerie zurücktritt, wird sich eher von der Charakterstärke Judiths angezogen fühlen. Als weibliche Personifizierung des Schrecklich-Schönen überschreitet sie menschliches Maß, indem sie zusammenbringt, was unvereinbar scheint, eine Qualität, die sie meiner Wahrneh-
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mung nach beinahe in den Stand einer Göttin erhebt40 – und ist doch zugleich Abbild einer lebenden Frau, in deren Augen mit ihren kunstvoll aufgetragenen Glanzlichtern sich das Interieur der Außenwelt spiegelt und aus denen zugleich eine sublime Innenwelt zu sprechen scheint. Nirgends ist die Verbindung von Schönheit und Grausamkeit vollendeter aufgezeigt worden, nirgends wurde der fromme Glaube an die Einheit des Schönen, Wahren und Guten auf betörendere Weise verwirrt.
M y thos im A uge des B e tr achters Cranach malte seine Bilder in seiner Wittenberger Werkstatt, einem durchorganisierten Handwerksbetrieb 41; Bacon erzeugte sie aus dem Chaos seines Ateliers in einem Londoner Arbeiterviertel. 1998 in der Hugh Lane Municipal Gallery of Modern Art in Dublin unter der Aufsicht von Archäologen nachgebaut42, legen die wirren Utensilien seiner Malleidenschaft bis zum heutigen Tage Zeugnis von einer äußeren Verwahrlosung ab, die in größtmöglichem Gegensatz zu der strengen Ordnung seiner Bildwerke steht, jene jedoch möglicherweise erst hervorzubringen ermöglichte. In einem Ateliergespräch mit dem befreundeten Kunstkritiker David Sylvester stellte dieser unter Zustimmung des Künstlers fest, ein chaotisches Umfeld erleichtere vermutlich das Kunstschaffen. »Wenn Malerei oder Schreiben einen Versuch darstellt, Ordnung in das Chaos des Lebens zu bringen, und der Raum, in dem man arbeitet unordentlich ist, könnte das, glaube ich, als ein Ansporn wirken, Ordnung zu erzeugen.« 43
Lässt sich die Malerei Cranachs als künstlerisches Spiegelbild einer Welt erfahren, in der wie in den mittelalterlichen Städten Immanenz und Transzendenz, Leben, Leid und Tod in Form von Kathedrale, Markt und Galgenberg eine nicht hinterfragte göttlich-kosmische Ordnung repräsentieren, geht der moderne Künstler hingegen das Wagnis ein, aus dem Scherbenhaufen der Vergangenheit eine neue Welt zu erschaffen. Die fragmentierte Wahrnehmung ist dabei stets ambivalenter Natur. Sie trägt die Gefahr des Orientierungsverlustes und 40 | Man denke z.B. an die hinduistische Göttin Devi, die als Durga das mütterlichschöpferische Prinzip verkörpert, als Kali, »die Schwarze«, hingegen das zerstörerische, alles verschlingende Prinzip der Zeit. Vgl. Zimmer 1997, S. 249 [Glossar]. 41 | Vgl. Löber/Cranach-Stiftung 1998. 42 | Edwards/Ogden 2001, S. 120. 43 | Übersetzung M. W., zitiert nach dem Dokumentarfilm von Michael Blackwood: Francis Bacon and the Brutality of Fact (1985).
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infolgedessen eines regressiven Rückfalls in die Welt des Ungestalteten stets in sich, genauso aber die Verheißung einer neuen Welt, die mit den Mitteln der Kunst erst noch mühsam geschaffen werden muss. Nicht zufällig vollzieht sich der Akt der Vernichtung und der anschließenden malerischen Neuschöpfung nirgends radikaler, als in der Analogie zu Zerstörung und Wiederauf bau der zerbombten deutschen Städte seit den fünfziger Jahren. Auf überzeugende Weise lässt sich die Evolution einer neuen malerischen Welt, mit einer unmittelbar aus der Malerei selbst entwickelten Formensprache, die schließlich eigenwillige zeichnerische Kürzel für Naturhaftes findet, im Werk des informellen Malers Emil Schumacher (1912-1999) nachvollziehen. Vor allem in dessen Spätwerk, in dem malerisch simulierte Naturvorgänge in bis dahin nicht dagewesener Vitalität direkt durch den impulsiven Auftrag von Farbe zum Ausbruch kommen. Der Kunsthistoriker Thorsten Rodiek44 hat die Vorgehensweise des Malers mit der des Dichters Robert Musil verglichen, dessen »aus den Nähten geratenes Schreiben«45 nicht nur einen Verstoß gegen den von Vollendungswillen getragenen, klassischen Werkbegriff darstellt, sondern sich darüber hinaus mit einem weiteren Problem, dem Medium der Schrift selbst, konfrontiert sieht: »Musil konnte sich nicht im linearen, fortschreitenden Medium der Schrift ›aussprechen‹. Das zeigt sich schon daran, dass er vorzüglich nicht hintereinander, sondern lieber übereinander, untereinander, nebeneinander, quer durcheinander schrieb, jedenfalls auf den von ihm so genannten ›Schmierblättern‹, auf die er mit viel produktiv-anarchischer Lust Satzentwürfe, Satzfetzen, oft Worte nur hinwarf: ›Solange man in Sätzen mit Endpunkten denkt‹, schrieb sich schon der junge Musil in sein Tagebuch, ›lassen sich gewisse Dinge nicht sagen – höchstens vage fühlen.‹ Allerdings hat er dann diese Entwürfe einem äußerst strengen Bearbeitungsprozess – fast eher einem Verwerfungsprozess – unterzogen. Er musste ja Sätze schreiben, musste das Kunststück vollbringen, seine ›unendlichen Perspektiven‹ in endlichen Sätzen unterzubringen.« 46
Wo Malerei und Dichtung, die sich den traditionellen Ordnungskriterien von Wiedererkennbarkeit und Einhaltung logisch-zeitlicher Strukturen verweigern, gelegentlich mit der Kritik konfrontiert sehen, bloß einen Bereich diffuser Emotionen und regressiver Ungestalt zu erkunden, wird hier gleichsam der Spieß umgedreht, dem Auf brechen herkömmlicher Erzählmuster wird eine Erweiterung unseres Erkenntnishorizontes zugetraut. Notwendige Voraussetzung einer gelungenen Neugeburt von Ordnung aus den zu Fragmenten 44 | Vgl. Rodiek 2013, S. 30. 45 | Pekar 1990, S. 22. 46 | Pekar 1990, S. 22f.
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zerschlagenen, tradierten Konzepten ist in jedem Falle eine Offenheit für den Einbruch des Unverfügbaren. Erst im Loslassen festgefahrener Denkmuster vollzieht sich das moderne Denken. Im Angesicht des Nichts oder der eben darauf zustrebenden Gestaltlosigkeit eines chaotischen Seinszustandes reagieren wir zunächst mit abwehrender Haltung. Angesichts der Schrecknisse von Zerfall und Auflösung fühlt sich mancher getrieben, dem Gestaltlosen mit Gestaltung zu begegnen. Goethe etwa, der wie kaum ein anderer beide Rollen beherrschte, die dem Künstler zuweilen zugeschrieben werden47, jene des introspektiven Innenweltreisenden genauso wie die des Tatmenschen und des zum nützlichen Mitglied der Gesellschaft gebildeten Wilhelm Meister, verdankte seine Schaffenskraft nicht zuletzt seiner Angst vor dem Abgrund der Formlosigkeit: Das Werk als Rettungsboje im chaotischen Meer des Gestaltlosen, Zufälligen und Okkulten. Goethe und Bacon – so gegensätzlich diese beiden Künstler anmuten, so sehr verbindet sie das Interesse am Lebendigen, als dasjenige, welches sich gegenüber der Tendenz zum Formlosen zu behaupten hat. Leben bedeutet Gestalten. Darin gründet die Sympathie des Künstlers mit dem Lebendigen, dem er im Werk Raum und Gestalt zu verleihen sucht. Erst in der Moderne entwickeln sich mit Kubismus, Abstraktion und Traumlogik die bildnerischen und erzählerischen Mittel, um die Welt nicht länger als eine Ansammlung einzelner, voneinander abgetrennter Objekte zu begreifen, wie in der klassischen oder naturalistischen Malerei. Die zahllosen Brüche und Schnittstellen, zunächst als Unvollkommenheiten wahrgenommen, können sich im günstigen Fall als Eingangstore zu einer umfassenderen Erfahrungswirklichkeit erweisen. Gewährt die vollendete Form in ihrer erstarrten Ewigkeit Schutz vor Unendlichkeit, ist die offene Form eine dynamische, im Zustand des Werdens befindliche, das Unvollendete eine Einladung an Unendlichkeit – und sei es bloß in Form von Weitergestaltung. Vielleicht wird sogar jene Erlebensweise, die individuelle Erkenntnis wie keine andere überschreitet und die wir gewöhnlich eher mit mittelalterlichen Heiligen verbinden, nämlich die der Mystik, erst durch das Fragment sagbar. Kunst geriete dann zu einem Medium transrationaler Erkenntnis, wie von Gisela Dischner als die »Hölderlin-Linie der Moderne«, von Rilke über Georg Trakl, Stefan George und Paul Celan bis Nelly Sachs beschrieben: Moderne Kunst als eine zeitgemäße Ausprägung »initiatischer Dichtung« im Sinne eines Ausdrucks von Erlebnissen, die die Form sprengen.48 Eine solche künstlerische Form teilt sich nicht mühelos mit, sie will erarbeitet werden. Auch hält sie keine religiösen Heilslehren bereit. Dafür belohnt sie den Leser und Betrachter, indem sie ihn 47 | Zum naiven und sentimentalischen Dichter vgl. Schiller 1879. 48 | Vgl. Dischner 2005, S. 36, 240. Siehe hierzu ausführlicher in Dischner 1996 und Dischner 1999.
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in die Mündigkeit entlässt, indem das mythische Sinnbild nicht länger unhinterfragt mitgetragen wird, sondern im Bewusstsein des Rezipienten lebendig weiterwirkt. Die Fragmentierungen in der Kunst der Moderne lassen sich möglicherweise auch als Analogien zu einer gebrochenen Wahrnehmung und den daraus hervorgegangenen Bruchlinien der Persönlichkeit begreifen.49 Gerade in den Brüchen aber eröffnet sich die Gelegenheit außerordentlicher Erfahrung; an die Stelle des tradierten Kollektivmythos tritt persönlicher Ausdruck, bis dieser zurückweicht, damit sich ein überindividueller Eindruck vollziehen kann. In der Kunst wird gestalthaft manifest, was eben noch gestaltlose Unbestimmtheit war; eine Wahrnehmung fernab jener traditioneller Mythen und Symbole lässt die sinnliche Welt in einem neuen Licht erscheinen. Ähnlich beschreibt Heidegger das Offene im Verborgenen des Werkes: »Was die Dichtung als lichtender Entwurf an Unverborgenheit auseinanderfaltet und in den Riss der Gestalt vorauswirft, ist das Offene, das sie geschehen lässt und zwar dergestalt, dass jetzt das Offene erst inmitten des Seienden dieses zum Leuchten und Klingen bringt. Im Wesensblick auf das Wesen des Werkes und seinen Bezug zum Geschehnis der Wahrheit des Seienden wird fraglich, ob das Wesen der Dichtung, und das sagt zugleich des Entwurfes, von der Imagination und Einbildungskraft her hinreichend gedacht werden kann.« 50
Die fragmentierte und subjektbezogene Wahrnehmung der Romantik, die Auflösung der strengen Satzstruktur mit einer scharfen Differenzierung von Subjekt und Objekt in der modernen Dichtung51, das Auf brechen herkömmlicher Strukturen von Raum, Zeit und Logik im Surrealismus – sie alle dienen dort, wo sie klug angewandt werden, letztlich nicht der Zersetzung oder avantgardistischen Selbstinszenierung, sondern der Erzeugung eines Erfahrungsraums, in dem sich das Element des Unbekannten, Nichtverfügbaren und Okkulten entfalten kann. Das Bild des Popkomponisten Wilson, der vor einem Regal mit Aufzeichnungen unzähliger musikalischer Einfälle auf Inspiration wartet 52, die aus der Vielzahl der Fragmente eine Komposition formen wird, kann zugleich als Sinnbild für die heutige Situation von Künstler und Betrachter gleichermaßen gelten: Die Kunst ist nicht am Ende. Unzählige Möglichkeiten zeichnen sich ab. In der Frage also, wie viel Welt-Äußeres sich als Weltin49 | Vgl. den Beitrag von Ute J. Krienke in diesem Band. 50 | Heidegger 2012, S. 60. 51 | Vgl. Dischner 2005, S. 36. 52 | Vgl. Meyer-Pröpstl, Christian: ›Love & Mercy‹ – Das Klangbild eines bröckelnden Ichs. [Filmbesprechung]. ZEIT ONLINE vom 10. Juni 2015 auf www.zeit.de/kultur/ film/2015-06/love-and-mercy-brian-wilson-beach-boys (Letzter Zugriff: 12.06.2018).
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nenraum bezeichnen lässt, ist das letzte Wort noch nicht gesprochen. Hier ist die Kunst dem Diskurs überlegen, sie kann als Möglichkeit vorauswerfen, was faktisch einholen zu wollen ein philosophisch höchst zweifelhaftes Anliegen wäre. In der Kunst darf sich die Einheit der Welt – in mythischer Sprache: die Hochzeit von Himmel und Erde – risikolos vollziehen. Mensch und Kosmos, Figur und Raum, Menschliches, Animalisches und Pflanzliches dürfen sich als ein organisches Ganzes erleben. Es erkennt sich als zusammengehörig, was sich allzu lang als abgespaltener Teil erfuhr. Kunst in diesem Sinne darf als eine Einladung verstanden werden, sich vorübergehend in imaginären Welten zu verlieren, in Räumen, die irgendwo oder auch nirgends auf uns warten, von uns selbst erschaffen, indem wir sie bereisen.
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Gottes zerstreute Funken Jüdische Mystik bei Paul Celan Rüdiger Sünner
D as G eheimnis der B egegnung Die Gedichte des jüdischen Dichters Paul Celan begleiten mich schon seit meinem Germanistikstudium an der Freien Universität Berlin in den frühen 1980er Jahren. Damals war vor allem die Todesfuge in aller Munde, Celans wortgewaltigen Verse über die Shoah. Celan wurde als der Dichter angesehen, der für dieses traumatische Ereignis angemessene poetische Worte fand. Doch je länger ich mich mit dem Werk beschäftigte, desto mehr Facetten enthüllten sich, Celan schrieb etwa auch Liebesgedichte, z.B. Corona: »Mein Aug steigt hinab zum Geschlecht der Geliebten: wir sehen uns an, wir sagen uns Dunkles, wir lieben einander wie Mohn und Gedächtnis, wir schlafen wie Wein in den Muscheln, wie das Meer im Blutstrahl des Mondes […].«1
Wenn ich in den Raum solcher Gedichte eintrat, traf ich immer auch auf eine große Weite und Kühnheit des Imaginierens. Gerade die dunklen Metaphern luden ein, unermessliche Innenwelten zu betreten, so wie uns Mythen einladen, staunend Himmelsräume und Unterwelten zu befahren. Keine naiven Paradiese, aber doch unendliche Traumlandschaften, die auch Verheißungen für unterschwellige Sehnsüchte bereithalten. Da war nichts so, wie in der Alltagssprache oder im abstrakten Jargon der Wissenschaft. Sondern ein Zittern, eine Glut, unbekannte Flugbahnen der Fantasie öffneten sich, es schien um alles zu gehen, um letzte Fragen, große Gefühle, Leidenschaften, Rätsel, Ängste, 1 | Celan 2003, S. 39.
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Erschütterungen, um das Staunen. Eigentlich um die aufregende Enthüllung, dass die uns umgebende Welt nichts ist als ein großes Geheimnis. Dichtung, so sagt Celan in seinem Text Meridian, stehe im »Geheimnis der Begegnung«2 und in der Rede zum Bremer Literaturpreis (1958) nennt er sie eine »Flaschenpost«, die vielleicht irgendwann einmal »an Herzland«3 gespült werden könnte.
B ruch der G efässe In Celans Werk sind auch spirituelle Töne wahrnehmbar: Gedichttitel wie Psalm, Aus Engelsmaterie, Die Ewigkeit und Am weißen Gebetriemen weisen daraufhin4, ebenso Begriffe wie »Gott«, »Absaloms Grab«, »Gethsemane« oder »Tempeltiefen« in anderen Werken.5 Auch für den christlichen Mystiker Meister Eckhart hat sich der Dichter interessiert, was die drei letzten Gedichte im Band Lichtzwang belegen, wo Eckharts negative Theologie von Gott als ein »Nichts« durchscheint.6 Während der Einsicht in Celans Bibliothek im Deutschen Literaturarchiv Marbach entdeckte ich dessen tiefe Faszination für Traditionen der jüdischen Mystik, vor allem für die Kabbala und die von Martin Buber überlieferten chassidischen Geschichten.7 Es war speziell die durch Gershom Scholem vermittelte Lurianische Kabbala, die Celan intensiv studierte und deren Gedanken und Bilder auch in seine Sprache einflossen.8 Der Mystiker Isaac Luria (1534-1572), dessen Grab Celan in Safed (Israel) besuchte, hatte nach der Vertreibung der Juden aus Spanien 1492 eine Neuinterpretation der Kabbala vorgelegt, die – laut Scholem – dieser traumatischen Erfahrung gerecht zu werden versuchte.9 Bereits um 1000 n. Chr. waren in Spanien tausende Juden getötet worden, im 14. Jahrhundert sorgten immer mehr Verbote für weitere Diskriminierungen. So war es Juden nicht mehr gestattet, ihr Viertel am Karfreitag zu verlassen, Waffen zu tragen, gesellschaftliche Positionen zu besetzen, in denen Macht über Christen ausgeübt werden konnte. Die Konversion von Muslimen oder Christen zum Judentum wurde mit 2 | Celan 1988, S. 55. 3 | Celan 1988, S. 39. 4 | Vgl. Celan 2003, S. 132, 251, 245, 49, 345, 289, 240 und 185. 5 | Vgl. Celan 2003, S. 126, 359, 360 und 361. 6 | Vgl. Celan 2003, S. 304f. 7 | Im Celan-Nachlass des Deutschen Literaturarchivs in Marbach finden sich viele Bücher von Martin Buber und Gershom Scholem sowie auch eine Auswahl aus dem Sohar, dem Hauptbuch der Kabbala. 8 | Vgl. den Beitrag von Elizabeta Lindner Kostadinovska in diesem Band. 9 | Vgl. Scholem 1967, S. 267ff.
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dem Tode bestraft, ebenso Eheschließung und Geschlechtsverkehr mit Juden, die damals schon bestimmte Abzeichen tragen mussten und in enge Quartiere gesperrt wurden. Dass es darin zu Problemen mit der Hygiene kommen konnte, wurde als Bestätigung des Vorurteils benutzt, Juden seien schmutzig und würden Brunnen und Gewässer der Christen vergiften. Schnell waren damit auch Sündenböcke für die aufkommende Pest gefunden, was zu weiteren Pogromen führte. Dass eine kleine jüdische Oberschicht in Ermangelung anderer Berufschancen im Geldgeschäft tätig war und zu den Finanzberatern der verschuldeten spanischen Könige gehörte, schürte Gefühle sozialen Neides, nach dem Vorurteil, die Juden seien reich und von Natur aus Wucherer. Solche Ressentiments führten dazu, dass Isabella von Kastilien und Ferdinand II. von Aragon 1492 ein Dekret erließen, wonach alle Juden innerhalb von vier Monaten bei Androhung der Todesstrafe Spanien verlassen mussten.10 Über die Zahlen gibt es in der Forschung unterschiedliche Auffassungen. Wahrscheinlich kamen ca. 20.000 Juden bei den Vertreibungen ums Leben, etwa 100.000 gingen ins Exil u.a. nach Portugal, Nordafrika, Ägypten, in die Levante und den Nahen Osten. Auch die Mutter von Isaac Luria gehörte zu diesen sephardischen Juden, von denen sich einige in Safed niederließen, wo sie ihre spirituellen Traditionen zu bewahren versuchten. Luria meditierte nächtelang über bestimmten Stellen aus dem Sohar, dem bedeutendsten Schriftwerk der Kabbala, und interpretierte sie völlig neu.11 Die bedrängende Frage, warum Gott so viel Gewalt zulassen konnte, führte zu seiner radikalen Einschränkung. Ursprünglich als reines, das ganze Universum ausfüllendes »Urlicht« gedacht, wurde Gott nun zu einem Wesen, das sich zu Beginn der Schöpfung in sich zurückgezogen habe (»Zimzum«), um sich nicht zu sehr in die Entstehung der Welt einzumischen. Diese sollte in relativer Eigenständigkeit erfolgen, womit aber auch die Möglichkeit von Übel und Verfehlung angelegt wurde. Diesbezüglich unterstreicht Celan sich z.B. eine Stelle in Gershom Scholems Buch Von der mystischen Gestalt der Gottheit: »Die Wurzel alles Bösen liegt damit letzten Endes in der Schöpfung selbst«12 . Die Lichtstrahlen, die die Gottheit aussendet, um die ersten entstehenden Seinsformen – die »Sephiroth« oder »Gefäße« – zu unterstützen, sind trotzdem so mächtig, dass die Gefäße zerbrechen. Die Schöpfung beginnt mit einer Katastrophe, mit dem »Bruch der Gefäße« (»Schvirat ha-Kelim«). Diese zerbersten in Millionen von Scherben (»Qliphoth«), in denen noch Reste von Funken gefangen sind, die sich in alle Himmelsrichtungen verlieren. Eher ein kos10 | Vgl. Wenzel 2013, S. 20, 23, 30ff., 34, 58f. und 48ff. 11 | Vgl. Necker 2008, S. 29. 12 | Anstreichung in Celans Exemplar von Gershom Scholems Von der mystischen Gestalt der Gottheit, Studien zu Grundbegriffen der Kabbala. Zürich 1962, S. 78 (CelanNachlass, Deutsches Literaturarchiv Marbach).
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mischer Unfall als der Liebesakt eines allmächtigen Schöpfers: ein dunkles, destruktives Ereignis, das wie ein Vorbote noch kommender Tragödien wirkt. Celan mag dieses abgründige Szenario gefallen haben, das auch angesichts der Schrecken der Shoah zu bestehen vermag: eine »versehrte Theologie«13, die die Frage nach dem Grauen nicht mehr naiv oder ängstlich ausklammert. Was ist das für ein Gott, der solche Dinge zulässt? Celan unterstreicht sich Stellen in dem erwähnten Buch von Scholem, die vom »verborgenen Gesicht Gottes« handeln, spricht in dem Gedicht Zürich, Zum Storchen von »Gottes umröcheltem Wort« oder schreibt in dem Gedicht Psalm: »Niemand knetet uns wieder aus Erde und Lehm, niemand bespricht unsern Staub. Niemand. Gelobt seist du, Niemand. Dir zulieb wollen wir blühn. Dir entgegen. Ein Nichts waren wir, sind wir, werden wir bleiben, blühend: die Nichts-, die Niemandsrose […].«14
H ochhebung der gefallenen F unken Dennoch sagt Celan in einem Gespräch mit Franz Büchler: »Lyrik ist Mystik«15. Was meinte er damit? Celan war kein frommer Kabbalist oder Chassidim, der durch die strenge Einhaltung religiöser Gebote ein gottesfürchtiges Leben zu führen versuchte. Gegenüber seiner Pariser Wohnung in der Rue de Montevideo befand sich eine große Synagoge, deren frommes Treiben der Dichter eher mit Ironie kommentierte.16
13 | Koelle 1997, S. 397. 14 | Celan 2003, S. 126. 15 | Celan zitiert nach Büchler 1964, S. 92 sowie Koelle 1997, S. 173. 16 | Vgl. Celan 2001, S. 88 (Kommentar 3 zum Brief Nr. 66) und Eisenreich 2010, S. 59.
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Man hat ihn manchmal als »atheistischen Mystiker«17 beschrieben, der tiefe Zweifel über die Realität des Transzendenten wohl nie verlor. Celan redet auch selten von Gott, sondern der zentrale kabbalistische Terminus bei ihm ist die Idee von der »Restitution aller Dinge« durch die »Hochhebung der gefallenen Funken.«18 Das göttliche Urlicht in seiner gloriosen Ganzheit gibt es nicht mehr, kann es so nach Auschwitz nicht mehr geben. Aber die von Schalen umhüllten und somit »okkult« verborgenen Funken – so erzählt es Isaac Luria – sind immer noch da. Auch Martin Buber spricht davon in eindringlichen Bildern, etwa in seinem Buch Die Legende des Baal-Schem, in dem sich Celan folgende Stelle unterstrich: »Überall sind die Funken eingetan. Sie hängen in den Dingen wie in versiegelten Brunnen, sie ducken sich in den Wesen wie in zugemauerten Höhlen, sie atmen Bangigkeit aus und Dunkel ein, sie warten; und die im Raume wohnen, schwirren wie lichttolle Falter um die Bewegungen der Welt umher, schauend, in welche sie einkehren könnten, durch sie gelöst zu werden. Alle harren sie der Freiheit.«19 So etwas konnte den Mystiker in Celan berühren sowie der Auftrag der Kabbala, dass der spirituelle Mensch diese Funken aufzuspüren, einzusammeln und zusammenzufügen habe. Wenn Celan in seinen Gedichten vom »singbaren Rest«, vom »Schimmer des Urlichts« oder vom »hohen Lied, in den harten Februarfunken verbißner, halbzerstrümmerter Kiefer« spricht, wird dies deutlich.20 Das Unscheinbare, scheinbar Nichtige, das Verborgene, das wir so oft übersehen, besitzt hiernach auch einen Glanz, den man nicht auf den ersten Blick sieht, aber den die Dichtung freizulegen imstande ist. Auch andere Gedichtzeilen können dies verdeutlichen: »DIE LEHMIGEN OPFERGÜSSE, von Schnecken umkrochen: das Bild der Welt, dem Himmel entgegengetragen auf einem Brombeerblatt.«
17 | Firges 1999, S. 31. 18 | Anstreichung in Celans Exemplar von Gershom Scholems Die Jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen. Frankfurt a.M. 1957, S. 340 (Celan-Nachlass, Deutsches Literaturarchiv Marbach). 19 | Anstreichung in Celans Exemplar von Martin Bubers Die Legende des Baalschem. Frankfurt a.M. 1918, S. 25 (Celan-Nachlass, Deutsches Literaturarchiv Marbach). 20 | In den Gedichten Singbarer Rest, Die freigeblasene Leuchtsaat und Schädeldenken in Celan 2003, S. 182, 252 und 203.
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Rüdiger Sünner »[…] Verlorenes findet in den Karstwannen Kargheit, Klarheit.« »FADENSONNEN über der grauschwarzen Ödnis. Ein baumhoher Gedanke greift sich den Lichtton: es sind noch Lieder zu singen jenseits der Menschen.« »KROKUS, vom gastlichen Tisch aus gesehn: zeichenfühliges kleines Exil einer gemeinsamen Wahrheit, du brauchst jeden Halm.« 21
S terbegeklüf t und S teinblick »Einsammeln« wollte Celan auch die »Seelenfunken« seiner ermordeten Eltern und die anderer Holocaust-Opfer, indem er seine Gedichte, z.B. die Todesfuge, als deren einziges Grabmal bezeichnete. Der Kommandant von Auschwitz, Rudolf Höß, hat beschrieben, wie das »Aschenmehl« der in den Krematorien Verbrannten zur nahen Weichsel gefahren wurde, wo man es langsam in die Strömung einrührte, bis sich die Partikel restlos darin aufgelöst hatten.22 Nichts sollte von den Getöteten übrig bleiben, sie hatten nicht einmal ein Grab, wurden also ein weiteres Mal geschändet und umgebracht. In ihrem eindrucksvollen Buch Textgräber hat Uta Werner herausgearbeitet, wie Celans Gedichte auch Versuche sind, die »gefallenen Funken« der Ermordeten in den z.T. von geologischen Metaphern durchsetzten Textlandschaften seiner Lyrik zu retten, um ihnen doch noch eine Ruhestätte zu schaffen.23 Und zwar 21 | Alle Zitate in Celan 2003, S. 288, 336, 179 und 368. 22 | Vgl. Höß 1963, S. 171f. 23 | Vgl. Werner 2002, S. 7ff. In einem Brief an Ingeborg Bachmann nennt Celan die Todesfuge »ein Grab […] meine Mutter hat nur dieses Grab«. Siehe Bachmann/Celan 2009, S. 127.
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in der Sprache ihrer Mörder. Gerade die Hermetik der Verse – so Werner – schaffe einen besonderen Tiefenraum, in dem die körperlichen und seelischen Reste der Opfer auf liebevolle Weise geborgen wären, wie z.B. in dem Gedicht Schneebett: »Augen weltblind, im Sterbegeklüft: Ich komm […] Das Schneebett unter uns beiden, das Schneebett. Kristall um Kristall, zeittief gegittert, wir fallen, wir fallen und liegen und fallen. Und fallen: Wir waren. Wir sind. Wir sind ein Fleisch mit der Nacht. In den Gängen, den Gängen.« 24
In Celans Gedichten ist oft die Rede von Grüften, Kalkspalten, »Worthöhlen«, »Wortaufschüttungen«, »Wortsand«, unter denen »flockige Haarsterne« und »erdige Münder« versunken sind. Hegte er, der vierzehn Fachbücher für Geologie besaß, auch deshalb ein so großes Interesse für diese Wissenschaft, weil sie ihm geheimnisvolle Metaphern für seine »Textgräber« bot? Poetische Worte wie »Gletscherstuben«, »Erzflimmer«, »Quelltuff«, »Karstwannen« als Wohnstätten für die gefallenen Funken, letzte Behältnisse im Verborgenen, Unterirdischen, wo die Würde der Bestatteten von keinem mehr angetastet werden konnte? Das Wunder geologischer Formen interessierte Celan auch während seiner zahlreichen Aufenthalte in der Bretagne, z.B. Felsen, Klippen oder die zahlreichen Menhire aus der Urzeit. Er sieht im Stein das »Andere, Außermenschliche, mit seinem Schweigen gibt er dem Sprechenden Richtung und Raum, er muß, wie er da emporsteht und hinüberreicht, seine Ferne, seine Nähe nimmt, muß er geistige Relevanz haben. Man kann sich ihm anvertrauen, man kann mit seinem fragenden Wort zu ihm gehen.«25 Besonders eine gewaltige Steinsäule hatte es dem Dichter angetan, der Menhir von Kerloas, den Celan ebenfalls in einem Gedicht verewigt. Er bezeichnet ihn als »Graugestalt«, als »Steinblick, mit dem uns die Erde hervortrat, menschlich, auf Dunkel-, auf Weißheidewegen.«26 Auch im »augenlosen« Stein wohne ein »göttlicher Funke«, wie leblos er auch scheinen mag. Er ist 24 | Celan 2003, S. 100. 25 | Celan 2005, S. 868. 26 | Im Gedicht Le Menhir in Celan 2003, S. 150.
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»versiegelt« und »zugemauert«, wie Buber sagt, aber in ihm wartet etwas auf die Erlösung durch unseren Blick. So etwas ist in dem Gedicht Die hellen Steine zu spüren, ein Liebesgedicht an Celans Frau Gisèle Celan-Lestrange, in dem sich die Schwere von Steinen in Schwebekraft zu verwandeln scheint: »DIE HELLEN STEINE gehn durch die Luft, die hellweißen, die Lichtbringer. Sie wollen nicht niedergehen, nicht stürzen, nicht treffen. Sie gehen auf, wie die geringen Heckenrosen, so tun sie sich auf, sie schweben dir zu, du meine Leise, du meine Wahre –: ich seh dich, du pflückst sie mit meinen neuen, meinen Jedermannshänden, du tust sie ins Abermals-Helle, das niemand zu weinen braucht noch zu nennen.« 27
Nelly Sachs hatte ein feines Gespür für solche spirituellen Töne in der Dichtung ihres Freundes Paul Celan. Ihre Haltung zur jüdischen Mystik war ganz ähnlich wie seine: »Ich glaube an die Durchschmerzung, an die Durchseelung des Staubes als an eine Tätigkeit, wozu wir angetreten«, schrieb sie: »Ich spüre die Energie des Lichtes, die den Stein in Musik auf brechen läßt.« Nelly Sachs bekennt sich zur »chassidischen Mystik«, weil deren Bilderwelt ihrem inneren Erleben Ausdruck verleihen könne.28 In großer Bewunderung nannte sie Celans Gedichtband Sprachgitter dessen Sohar, in dem er mit »kristallenen Buchstabenengeln« arbeite wie das heilige Buch der Kabbala.29 Diese »Durchseelung« des Kleinsten findet sich ebenso in Celans Verhältnis zur Botanik. Er war ein ausgesprochener Kenner von Fauna und Flora und 27 | Celan 2003, S. 147. 28 | Vgl. Grittner 1999, S. 172. 29 | Vgl. Celan/Sachs 1993, S. 23.
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besaß auch auf diesem Gebiet viele Fachbücher. Der mit dem Dichter gut befreundete Germanist Gerhart Baumann hat in seinen Erinnerungen an Paul Celan beschrieben, wie fasziniert dieser z.B. von den Hochmooren des Schwarzwaldes gewesen war, durch die er – auch in Begleitung von Martin Heidegger – gewandert sei.30 Hier verband sich Celans Interesse für Geologie und Botanik. Die Moore seien dem Dichter dunkle Tagebücher der Erdgeschichte und Reservate des Versunkenen gewesen, aus deren abgründigen Tiefen aber auch geheimnisvolle Pflanzenwunder emporblühen konnten: »[A]us dem Lagg stehen die Sabbatkerzen nach oben«31, wie es im Gedicht Hochmoor heißt. Celan – so Baumann – habe bei solchen Spaziergängen gerne seltene Pflanzennamen notiert, um sie später in seine Gedichte einzubauen, etwa Pfeifengras, Sonnentau, Engelwurz, Kratzdistel, Siebenstern, Glockenheide, Kugelblume, Steinsamen, Wundklee. Auch hier »gefallene Funken« in der Welt des Kleinen, Unscheinbaren: Lichtspuren, zarte Anmutungen, verschwiegene Kostbarkeiten inmitten von schwarzen Gewässern, aus denen sonst nur verkohlte Strünke hervorragen. Celan kannte das Lied Die Moorsoldaten der KZ-Häftlinge von Esterwegen/Börgermoor, die mit ihrem Spaten das Moor kultivieren mussten: sicherlich auch ein Assoziationsfeld für Zonen des Dunklen, Abgründigen, dem Tode Geweihten, an deren Rand sich aber noch winzige Lebens- und Hoffnungsspuren behaupten können.
D ie L iebesmystik der K abbal a Vor allem Liebe und Erotik zählten zu den Bereichen, in denen für Celan noch Restfunken des »göttlichen Urlichtes« glühen konnten. 1960 schenkte er seiner Geliebten Brigitta Eisenreich das Buch Liebesmystik der Kabbala (1956) von Georg Langer mit der eindringlichen Bitte, es unbedingt zu lesen. Darin finden sich Passagen, die zeigen, dass in der Kabbala geistige und sinnliche Liebe nicht voneinander getrennt werden.32 Es wird etwa der Rabbiner Eliahu di Vidas aus Safed zitiert, der sagt, dass derjenige nie die Liebe zu Gott erreichen werde, der nicht auch die leidenschaftliche körperliche Liebe kennengelernt habe. Die »Durchgottung des Leibes« ist hier wichtiger als der Weg der Askese, ein Zug, der sich bereits im erotischen Ton des Hohen Liedes in der Bibel findet. Die sexuelle Verbindung wird in bestimmten Traditionen jüdischer Mystik als Parallele zur Vereinigung mit dem Göttlichen gesehen, als »heilige Hochzeit«. »Du warst, als ich Dir begegnete, beides für mich: das Sinnliche und das Geistige. Das kann nie auseinandertreten«, schreibt Celan 1957 an Ingeborg 30 | Vgl. Baumann 1986, S. 51f. 31 | Celan 2003, S. 335f. 32 | Vgl. Langer 1956 S. 122.
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Bachmann, als er eine erneute Affäre mit ihr beginnt.33 In Scholems Buch Von der mystischen Gestalt der Gottheit unterstreicht der Dichter Stellen, die vom »Zaddik«, einer im Chassidismus hoch geachteten Figur des »Rechtschaffenen« handeln, von dem es heißt, dass seine zeugende Kraft auch von großer Bedeutung für seine Heiligkeit sei.34 Scholem macht darauf aufmerksam, dass vom Gott der Bibel, anders als von den Göttern der Mythen, nicht gesagt wird, dass er zeuge, sondern dass er schaffe. »Er entfaltet keine sexuelle Aktivität. Der Zaddik der Kabbala tut aber in der Vereinigung mit der Schechina gerade dies.«35 Mit Schechina ist in der Lurianischen Kabbala die weibliche Seite Gottes gemeint. Ein Widerklang dieser Gedanken mag sich in Celans Gedicht Aus Engelsmaterie finden: »AUS ENGELSMATERIE, am Tag der Beseelung, phallisch vereint im Einen – Er, der Belebend-Gerechte, schlief dich mir zu, Schwester –, aufwärts strömend durch die Kanäle, hinauf in die Wurzelkrone: gescheitelt stemmt sie uns hoch, gleich-ewig, stehenden Hirns, ein Blitz näht uns die Schädel zurecht, die Schalen und alle noch zu zersamenden Knochen: vom Osten gestreut, einzubringen im Westen, gleich-ewig […]« 36
Mehrere Motive der Kabbala sind hier in einem wortgewaltigen poetischen Kosmos verdichtet. Die »phallische Vereinigung im Einen« meint den Gleichklang von sexueller und spiritueller Vereinigung, den erotischen Akt als auch kosmisches Ereignis. Das Hinaufströmen in die »Wurzelkrone« spielt auf das zentrale Symbol der Kabbala, den Sephiroth-Baum an, der sowohl die Weltachse als auch den Bau des Menschen verkörpert. Er reicht vom Bereich des Göttlich-Geistigen über den Intellekt, die Emotionen bis in die Sphären von Libido 33 | Vgl. Bachmann/Celan 2009, S. 64. 34 | Anstreichungen in Celans Exemplar von Gershom Scholems Von der mystischen Gestalt der Gottheit. Zürich 1962, S. 101 und 103 (Celan-Nachlass, Deutsches Literaturarchiv Marbach). 35 | Scholem 1962, S. 103. 36 | Celan 2003, S. 251.
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und Unterbewusstsein. Ein umgedrehter Baum, dessen Wurzel oben ist, im Reich Gottes, der auch der »obere Zaddik«, der »Belebend-Gerechte«, genannt wird. Von dort aus strömt sein Samen nach unten in die physisch-materielle Welt, ins Reich der »Schechina«, die in der Kabbala hoch angesehen ist und von Celan oft als »Schwester« angerufen wird. Der Beischlaf mit ihr wird als ein »Zurechtnähen« der »Schädel, Schalen, Knochen« verstanden, ein Bezug zu den Scherben des göttlichen Urlichtes nach dem »Bruch der Gefäße«. Nur ein »Blitz« ist von diesem Urlicht noch vorhanden, aber er reicht für den heiligen Akt des »Tikkun«, in dem der Mensch versucht, die isolierten Lichtfunken (»Engelsmaterie«) zusammenzufügen. Dies ist die spirituelle Weisheit »vom Osten gestreut, einzubringen im Westen«: das Erbe des osteuropäischen Chassidismus, das der Dichter Celan dem Westen zu vermitteln sucht. In Langers Buch gefiel Celan wohl auch, dass die Kabbala bereits das Interpretieren von Bildern der Thora als erotisches Spiel auffasst: die darin vorkommenden Metaphern werden wie Geliebte angesehen, die sich mal in ihrer ganzen Schönheit zeigen, dann auch wieder verbergen.37 Der Leser – so heißt es – schleiche wie der Geliebte ums Haus der Geliebten (der Metapher), um immer wieder neue Blicke von ihr zu erhaschen. Diese öffne wohl einen Spalt in der Tür, aber nur kurz, um dann wieder im Dunkel des Hauses zu verschwinden. So halte sie die Liebeskraft wach. Celan mag diese poetische Botschaft zugesagt haben, in der Dichtung, Erotik und Spiritualität zu einer inspirierenden Einheit verschmelzen, zu einem Spiel wechselnder Befruchtungen jenseits enger dogmatischer oder moralischer Vorstellungen.
M ut ter R ahel weint nicht mehr Die für die Kabbala wichtige Figur der »Schechina«38 wurde von Gott dem leidenden Volk Israel in Form einer mütterlichen oder schwesterlichen Gestalt zur Tröstung geschickt. Sie ist etwas völlig anderes als die Jungfrau Maria im Christentum, nämlich ein wirklicher Teil des Göttlichen, dessen weibliche Seite. Das Bild der »Schechina« berührt auch Celans Verhältnis zu seiner Mutter. Gegenüber dem strengen, dem Zionismus nahestehenden Vater, war sie die »Leise«, »Sanfte«, »lautlos Heilende«, wie es in frühen Gedichten heißt.39 Sie brachte den Jüngling früh mit Literatur zusammen, lehrte ihn »den leisen, den deutschen, den schmerzlichen Reim«40. Als sie 1942 von der SS in 37 | Vgl. Langer 1956, S. 31f. 38 | Vgl. den Beitrag von Elizabeta Lindner Kostadinovska in diesem Band. 39 | In Espenbaum und in Die Mutter, lautlos heilend, aus der Nähe in Celan 2003, S. 30 und 373. 40 | In dem Gedicht Nähe der Gräber in Celan 2003, S. 17.
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einem Steinbruch Transnistriens ermordet wurde, brach für den 22-jährigen eine Welt zusammen. Dies umso mehr, als seine Eltern sich geweigert hatten, mit ihm vor den Nazis in ein Versteck zu flüchten, worauf Celan sie im Streit verließ. Bei seiner Rückkehr am nächsten Tag waren sie schon deportiert worden.41 Da es andere Bekannte geschafft hatten, ihre Eltern wieder aus den Güterwagen herauszubekommen, machte sich Celan zeitlebens schwere Vorwürfe, Vater und Mutter im Stich gelassen zu haben. Gleichzeitig erhöht er die tote Mutter zur Inspiratorin für seine Lyrik. Ihr Geist wird zur Muse, die ihm »schlank von Gestalt, ein schmaler, mandeläugiger Schatten, Mund und Geschlecht umtanzt von Schlummergetier« inmitten »splitternder Stunden« immer wieder »empordunkelt«42 . Nach dem Tod der Mutter schafft sich Celan mit der Dichtung einen neuen tragenden Raum. Er nennt ihn das »Mutterwort«, das ihn führt.43 In Celans Lyrik finden sich viele Metaphern, die die Dimension des Weiblich-Mütterlichen umkreisen. Das Ziel dieser Dichtung ist oft das Mitleiden, Mitweinen, Mitfühlen, die äußerste Empathie, so wie es die »Schechina« tut, wenn sie mit dem Volk Israel ins Exil geht. Sie wird in der mystischen Tradition des Judentums mit vielen schillernden Bildern umschrieben: als Braut, Königin, Schwester, Tochter, Rose, »Schöne, die keine Augen mehr hat« (wegen des vielen Weinens), als »Feld der heiligen Apfelbäume«, das in der Liebesnacht befruchtet wird, als »Mutter Rahel«44: »NAH, IM AORTENBOGEN, im Hellblut: das Hellwort. Mutter Rahel weint nicht mehr. Rübergetragen alles Geweinte. Still, in den Kranzarterien, unumschnürt: Ziw, jenes Licht.« 45 41 | Vgl. Felstiner 1997, S. 52. 42 | Im Gedicht Vor einer Kerze in Celan 2003, S. 73. 43 | Vgl. Felstiner 1997, S. 29. 44 | Vgl. Gershom Scholems Von der mystischen Gestalt der Gottheit. Zürich 1962, S. 135-191. Anstreichungen zu »Mutter Rahel« in Celans Exemplar auf S. 140 (CelanNachlass, Deutsches Literaturarchiv Marbach). 45 | Celan 2003, S. 253f.
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Celan kritzelte dieses Gedicht während eines Psychiatrieaufenthaltes in ein Fachbuch für Anatomie, aus dem er Informationen über die Aorta und die Herzkranzgefäße entnahm. Erste Schübe von Wahn und Paranoia setzten ihm zu und er versuchte, seine psychischen Probleme auch über das Schreiben in den Griff zu bekommen. In Gershom Scholems Buch Von der mystischen Gestalt der Gottheit las er, dass die »Schechina« dem Volk Israel auch manchmal in Form eines »überirdischen Lichtglanzes« (hebräisch »Ziw«) erscheine.46 Eine tröstende Information für den psychisch und physisch Leidenden. Auch »Ziw« ist ein Restfunken des Urlichtes, der aber von der weiblichen Seite Gottes ausstrahlt. Celan streicht sich bei Scholem weitere Stellen zum speziellen Lichtcharakter der »Schechina« an, die anders klingen, als das der Finsternis entgegengesetzte Logos-Licht des Johannes-Evangeliums. Denn das Schechina-Licht ist nur ein »Abglanz […] vom verborgenen Urlicht«, die »Tochter des Lichtes«47, das sich in den Staub senkt und Hoffnung spendet. Kein schneidendes Herrschafts-Licht, das streng Licht von Dunkel, Ja von Nein trennt, sondern eines, das auch Schatten integriert, gemäß Celans Gedicht Sprich auch du: »[…]Sprich – Doch scheide das Nein nicht vom Ja. Gib deinem Spruch auch den Sinn: gib ihm den Schatten. Gib ihm Schatten genug, gib ihm so viel, als du um dich verteilt weißt zwischen Mittnacht und Mittag und Mittnacht. Blicke umher: sieh, wie’s lebendig wird rings – Beim Tode! Lebendig! Wahr spricht, wer Schatten spricht […].« 48
Die »Schechina« verkörpert ein weiches und vorübergehend Kraft gebendes Trost-Licht. Sie kennt alles Elend der Welt und tritt in manchen chassidischen Geschichten auch in Lumpen auf. Celan könnte sie in dem Gedicht Chymisch 46 | Vgl. Felstiner 1997, S. 307 und Scholem 1962, S. 143. 47 | Anstreichungen in Celans Exemplar von Gershom Scholems Von der mystischen Gestalt der Gottheit. Zürich 1962, S. 162 (Celan-Nachlass, Deutsches Literaturarchiv Marbach). 48 | Celan 2003, S. 85.
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gemeint haben, wenn er dort von einer »großen, grauen, wie alles Verlorene nahen Schwestergestalt« spricht, die »Schweigen, wie Gold gekocht«, in ihren »verkohlten Händen« trägt.49
D er D ichter und der A bgrund »Der Denker sagt das Sein. Der Dichter nennt das Heilige.« Dieser Satz von Martin Heidegger aus seiner Antrittsvorlesung Was ist Metaphysik? (1929) vermag gut zu umschreiben, woraus die lebenslange Anziehung zwischen ihm und Paul Celan bestand.50 Vor ihrer ersten Begegnung in Freiburg 1967 hatten beide schon jahrelang mit großem Interesse die Texte des jeweils anderen gelesen und miteinander korrespondiert. Celan kannte Heideggers Rektoratsrede von 1933, in der dieser seine Begeisterung für das Dritte Reich bekundet hatte. Aber dies hielt ihn nicht ab, vieles in dessen Philosophie zu bewundern. Sicher zog ihn vor allem Heideggers spirituell anmutende Sprache an, die sich z.B. in dem Satz ausdrückt, wonach der Dichter das »Heilige« nennt. Für Celan wie für Heidegger war Sprache mehr als ein abstraktes Zeichensystem, das lediglich Informations- und Kommunikationszwecken dient. Gedichte waren »Geschenke«, man erhielt sie nur, wenn man die Geduld hatte, auf den »Zuspruch« und die »Winke« der Sprache zu hören.51 Johanna Junk hat in einer Studie versucht, Brücken zwischen Heidegger und der Kabbala zu schlagen, die in eine ähnliche Richtung gehen.52 Heidegger kannte die Kabbala – wenn überhaupt – nur durch die Schriften von Jakob Böhme und Friedrich Wilhelm Schelling. Aber seine Sprachphilosophie weist doch gewisse Ähnlichkeiten zu kabbalistischen Vorstellungen auf. Für beide ist Sprache nichts von Menschen Gemachtes, sondern verweist auf einen »Abgrund« vor allen Worten, aus denen diese sich erst speisen. Auf eine »heilige Ursprache«, in der die Namen und das Wesen der Dinge verbunden sind. Diese erreiche nur der Dichter, indem er die konventionellen Worte zerbricht. Durch das »Zerbrechen des Wortes«, so Heidegger, kehrt das »verlautende Wort […] ins Lautlose zurück, dorthin, von wo es gewährt wird: In das Geläut der Stille.«53 Auch wenn Celan sich gelegentlich über Heideggers seltsame Sprachfügungen lustig machte, so kann man doch diesen Akt des Worte-Zerbrechens vor allem in seiner Spätlyrik mit Händen greifen. Ob er dadurch – wie Heidegger hoffte – zum unverstellten Urgrund eines »reinen Seyns« gelangte, ist eher 49 | Vgl. Celan 2003, S. 134. 50 | Vgl. Lemke 2003, S. 223. 51 | Vgl. Lyon 2006, S. 74 und 76ff. 52 | Vgl. Junk 1998. 53 | Junk 1998, S. 38.
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zu bezweifeln. Doch er stimmte dem Philosophen zu, dass eine auf technischwissenschaftliche Verfügung der Welt reduzierte Sprache nicht ausreiche, um das Abgründige der Existenz zu fassen. Das Wesen eines echten Bildes, so glaubten Celan und Heidegger, bestehe eben nicht aus einem Abbilden, sondern ermögliche, etwas Neues zu sehen. Heidegger spricht von »erblickbaren Einschlüssen des Fremden in den Anblick des Vertrauten.«54 Beide verehrten diesbezüglich Hölderlin, der wie kaum ein anderer Dichter das »Heilige« benannt habe, das uns lehre, den Blick für den unheimlichen Grund unserer Existenz offen zu halten. Eine solche Erfahrung des »Heiligen« – so Heidegger – »ent-setze« uns und gebe den Blick auf das »Entsetzliche« frei.55 Die entscheidende Differenz zu Celan ergibt sich aber daraus, dass Heidegger lebenslang öffentlich zum Entsetzlichen der Shoah schwieg. Es gibt auch kein Wort von ihm zur Rassenideologie der Nazis und deren Opfern. Empathielos klingt die einzige Bemerkung, die sich in Heideggers Werk zum Holocaust findet: »Ackerbau ist jetzt motorisierte Ernährungsindustrie, im Wesen das Selbe wie die Fabrikation von Leichen in Gaskammern und Vernichtungslagern, das Selbe wie die Blockade und Aushungerung von Ländern, das Selbe wie die Fabrikation von Wasserstoff bomben.«56 Einzig in einem privaten Brief an Karl Jaspers bekundete Heidegger am 8. April 1950 »Scham«, an der NS-Bewegung mitgewirkt zu haben.57 Celan kannte diese Stelle nicht und wusste auch nichts über Heideggers 1937 in den Schwarzen Heften geäußerten Antisemitismus, wo der Philosoph von der »zähen Geschicklichkeit des Rechnens und Schiebens und Durcheinandermischens« spricht, »wodurch die Weltlosigkeit des Judentums gegründet wurde«58. Celan aber war in Kenntnis von Heideggers Rektoratsrede, in der der Philosoph von der »Herrlichkeit und Größe dieses Auf bruchs« sprach, vom »geschichtlichen geistigen Auftrag des deutschen Volkes«, das zur »Bewahrung seiner erd- und bluthaften Kräfte«59 aufgerufen sei. Trotz dieser Aussagen fuhr Celan in den Schwarzwald und wollte Heidegger sogar, wie er seinem Freund Jean Daive mitteilte, »verzeihen«, wenn dieser sein Schweigen über seine Verfehlungen brechen würde.60 Doch Celans »Hoffnung auf eines Denkenden
54 | Aus Heideggers Hölderlin-Aufsatz …dichterisch wohnet der Mensch. Zitiert nach Lyon 2006, S. 102. 55 | Vgl. Lemke 2003, S. 226. 56 | Trawny, 2015, S. 111 (Anm. 24). 57 | Vgl. Heidegger/Jaspers, 1990, S. 200f. 58 | Trawny 2015, S. 34. 59 | Heidegger 2000, S. 108, 112 und 117. 60 | Vgl. Daive 2009, S. 161.
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kommendes Wort im Herzen«61 blieb enttäuscht. Heidegger reagierte ausweichend, worauf Celan ihm in einem Briefentwurf vorwarf, »daß Sie durch ihre Haltung das Dichterische und, so wage ich zu vermuten, das Denkerische, in beider ernstem Verantwortungswillen, entscheidend schwächen.«62
L ichtge winn aus D istel ähnlichem In einem Gedicht mit dem Titel Bahndämme, Wegränder, Ödplätze, Schutt scheint in wenigen Zeilen aufzublitzen, was Celan u.a. an der Lurianischen Kabbala so faszinierte: »Lichtgewinn, meßbar, aus Distelähnlichem: einiges Rot, im Gespräch mit einigem Gelb. Die Luftschleier vor deinem verzweifelten Aug. Das letzte reitende Sandkorn […]« 63
Man sieht einen für Lyrik dieser Zeit eher unüblichen Schauplatz vor sich: verlassene Gleise, die ins Nirgendwo führen, an deren Rand unscheinbares Gestrüpp blüht, weggeworfene Flaschen, Abfallreste, Schmutz. Eine fahle Stimmung des Öden, Traurigen, in der sich niemand länger aufhalten möchte. Der Dichter schon. Er beugt sich hinunter, sieht genauer hin und entdeckt gerade an der Rändern des sonst Üblichen eine ganze Welt. Farben sind hier »im Gespräch«, Sandkörner können »reiten«. Selbst aus der stacheligen Distel blitzen einzelne Lichtspuren hervor. Auch wenn nach Auschwitz Gott nur noch ein »verborgenes Gesicht« hat, auch wenn wir nicht mehr in naiver Glaubensherrlichkeit schwelgen können, so gibt es doch noch funkelnde Reste überall zu entdecken. Dazu müssen Vorurteile überwunden, und nicht mehr allzu schnell zwischen schön und hässlich, erhaben und profan unterschieden werden. Ist nicht ein Künstler, der so denkt, mit einer besonderen Überlebenstechnik ausgerüstet? Celan war es nicht. Seine letzten Jahre waren düster und tragisch, man kann sich fragen, ob er nicht im »distelähnlichen« Gestrüpp seines Leben verlorengegangen ist. Im April 1970 springt er nachts vom Pont 61 | Im Gedicht Todtnauberg in Celan 2003, S. 282. 62 | Celan zitiert nach France-Lanord 2007, S. 218. 63 | Celan 2003, S. 112.
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Mirabeau in die Seine und ertrinkt. Der letzte Briefwechsel mit seiner Geliebten Ilana Shmueli enthüllt auf erschütternde Weise, wie es ihm von Monat zu Monat schlechter ging.64 Wegen eines Mordanschlags auf seine Frau und eines Selbstmordversuchs war er jahrelang in psychiatrischer Behandlung und lebte getrennt von Gisèle und dem gemeinsamen Sohn Eric. Durch den vielen Gebrauch von starken Psychopharmaka leidet er an Gedächtnisverlust und Gefühlen von innerer Leere. Ein Trommelfellriss erzeugte ein Tinnitusgeräusch im Ohr, zu dem inneren Lärm gesellte sich äußerer, der von einer zu lauten Straße in die Wohnung dringt. Zum Abdichten der Fenster fehlt dem Dichter das Geld. Eine letzte Lesung in Stuttgart verläuft negativ: das Publikum sperrt sich gegen seine letzten, immer hermetischer werdenden Gedichte. Eine Eskalation von Problemen, Depressionen, beruflichen Fehlschlägen und privaten Katastrophen, die am Ende einen völlig verzweifelten Mann in den Suizid treiben. Die Auslöser dafür waren vielschichtig. Celans Tagebücher, die möglicherweise Aufschluss über viele psychische Probleme geben könnten, sind durch Witwenverfügung bis zum Jahre 2020 gesperrt. Man kann aber aus seiner Lebensgeschichte, den Briefwechseln und Gedichten Indizien für den Sturz dieses so begabten Dichters ablesen. Neben dem Trauma durch den Holocaust und dem Tod seiner Eltern, für die er sich mitschuldig fühlte, setzten ihm wohl auch harte Zeiten in rumänischen Arbeitslagern zu. Dann folgten in Deutschland neben Ruhm und Ehre auch antisemitische Anfeindungen. Celan gewann die beklemmende Erkenntnis, dass in den Feuilletons und auf den Germanistik-Lehrstühlen Menschen saßen, die im Dritten Reich völkische Ideologie propagiert hatten oder sogar in der SS waren. Entscheidend war dann die sogenannte Goll-Affäre, die sich über viele Jahre hinzog: die immer wieder neu verbreiteten Anschuldigungen von Claire Goll, Celan habe einfach aus den Gedichten ihres Mannes Yvan Goll abgeschrieben. Obwohl diese Vorwürfe widerlegt wurden65, trieben sie einen Stachel ins Fleisch, der nie mehr herausging. Man hatte dem jüdischen Dichter nicht nur Heimat und Eltern genommen, sondern versuchte auch noch, die neue Basis seines Lebens – seine Dichtung – zu zerstören. Celans erster Selbstmordversuch im Januar 1967 erfolgte einige Tage später, nachdem er Claire Goll zufällig im Pariser Goethe-Institut begegnet war, was vermutlich zeigt, welch enorme Erschütterung diese Frau in ihm auslösen konnte.66 Trotz alledem bleibt seine Dichtung ein vielfältiges Reservoir voller Geheimnisse und Schönheiten. Viele ergreifende Bilder der jüdischen Mystik spiegeln sich darin, der »Bruch der Gefäße«, die »Schechina«, die »gefallenen Funken«, die Hochschätzung der spirituellen Erotik, die Arbeit des Einsam64 | Vgl. Celan/Shmueli 2004. 65 | Vgl. Celan 2000. 66 | Celan/Celan-Lestrange 2001, S. 291 (Kommentar 1 zum Brief Nr. 475).
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melns der Scherben dieser Welt in einen ästhetischen Raum, in dem sie noch einmal glänzen können. Celan, dessen Beziehung zu Gott einmal als »hadernde Hiobshaltung« beschrieben wurde67, fand in diesen Mythen einen zeitgemäßen poetischen Blick auf die Welt und ihre Abgründe, ohne den Lichtfunken Hoffnung ganz aufgeben zu müssen. Vielleicht altern seine Verse deshalb nicht und sie ächzen auch nicht nur unter der Last der Shoah, auch wenn deren Echo oft mitschwingt. Immer noch können sie zu Augenöffnern werden, uns mit Visionen und Durchblicken beschenken: unsere Trägheit, unsere vorgefassten Wahrnehmungsstrukturen und unsere eingefrorenen Gefühle etwas mehr zu dehnen. Die Spiritualität seiner Gedichte besteht vor allem daraus, immer wieder – wie er selbst sagte – »Geheimnisse der Begegnung« zu ermöglichen. Begegnungen mit der Natur, mit Menschen, mit Geschichte und auch mit zeitgemäßen Fragen nach Gott. »Das Gedicht will zu einem Andern, es braucht dieses Andere, es braucht ein Gegenüber. Es sucht es auf, es spricht sich ihm zu. Jedes Ding, jeder Mensch ist dem Gedicht, das auf das Andere zuhält, eine Gestalt dieses Anderen. Die Aufmerksamkeit, die das Gedicht allem ihm Begegnenden zu widmen versucht, sein schärferer Sinn für das Detail, für Umriß, für Struktur, für Farbe, aber auch für die ›Zuckungen‹ und die ›Andeutungen‹, das alles ist, glaube ich, keine Errungenschaft des mit den täglich perfekteren Apparaten wetteifernden (oder miteifernden) Auges, es ist vielmehr eine aller unserer Daten eingedenk bleibende Konzentration. ›Aufmerksamkeit‹ – erlauben Sie mir hier […] ein Wort von Malebranche zu zitieren –, ›Aufmerksamkeit ist das natürliche Gebet der Seele.‹« 68
L iter atur Bachmann, Ingeborg/Celan, Paul: Herzzeit. Briefwechsel. Herausgegeben und kommentiert von Bertrand Badiou, Hans Höller, Andrea Stoll und Barbara Wiedemann. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2009. Baumann, Gerhart: Erinnerungen an Paul Celan. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1986. Büchler, Franz: Heute und morgen. In: Neue deutsche Hefte 11 (1964). S. 9196. Celan, Paul: Der Meridian und andere Prosa. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1988. Celan, Paul/Sachs, Nelly: Briefwechsel. Herausgegeben von Barbara Wiedemann. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1993.
67 | Vgl. Silbermann 1993, S. 35. 68 | Celan 1988, S. 55f.
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Celan, Paul: Die Goll-Affäre, Dokumente zu einer »Infamie«. Herausgegeben und kommentiert von Barbara Wiedemann. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2000. Celan, Paul/Celan-Lestrange, Gisèle: Briefwechsel. Herausgeben und kommentiert von Bertrand Badiou und Barbara Wiedemann. Bd. 2, Kommentar. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2001. Celan, Paul: Die Gedichte. Kommentierte Gesamtausgabe in einem Band. Herausgegeben und kommentiert von Barbara Wiedemann. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2003. Celan, Paul/Shmueli, llana: Briefwechsel. Herausgegeben von Ilana Shmueli und Thomas Sparr. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2004. Celan, Paul: »Mikrolithen sinds, Steinchen«. Die Prosa aus dem Nachlass. Herausgegeben von Barbara Wiedemann und Bertrand Badiou. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2005. Daive, Jean: Unter der Kuppel. Erinnerungen an Paul Celan. Basel: Urs Engeler Editor, 2009. Eisenreich, Brigitta: Celans Kreidestern. Ein Bericht. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2010. Felstiner, John: Paul Celan. Eine Biographie. München: C.H. Beck, 1997. Firges, Jean: Vom Osten gestreut, einzubringen im Westen. Jüdische Mystik in der Dichtung Paul Celans. Annweiler am Trifels: Sonnenberg, 1999. France-Lanord, Hadrien: Paul Celan und Martin Heidegger. Vom Sinn eines Gesprächs. Freiburg, Berlin, Wien: Rombach, 2007. Grittner, Sabine: Aber wo Göttliches wohnt. Die Farbe »Nichts«. Mystik-Rezeption und mystisches Erleben im Werk der Nelly Sachs. St. Ingbert: Röhrig Universitätsverlag, 1999. Heidegger, Martin: Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis) (1936-1938). Gesamtausgabe Bd. 65. Frankfurt a.M.: Klostermann, 1989. Heidegger, Martin/Jaspers, Karl: Briefwechsel 1920-1963. Herausgegeben von Walter Biemel und Hans Saner. Frankfurt a.M.: Klostermann, 1990. Heidegger, Martin: Reden und andere Zeugnisse eines Lebensweges (19101976), Gesamtausgabe 1. Abt./Bd.16. Frankfurt a.M.: Klostermann, 2000. Höß, Rudolf: Kommandant in Auschwitz. Autobiographische Aufzeichnungen. Herausgegeben von M. Broszat. München: DTV, 1963. Junk, Johanna: Metapher und Sprachmagie. Heidegger und die Kabbala. Bodenheim: Syndikat, 1998. Koelle, Lydia: Paul Celans pneumatisches Judentum, Gott-Rede und menschliche Existenz nach der Shoah. Mainz: Grünewald, 1997. Langer, Georg: Die Liebesmystik der Kabbala. München: Barth, 1956. Lemke, Anja: Konstellation ohne Sterne. Zur poetischen und geschichtlichen Zäsur bei Martin Heidegger und Paul Celan. Paderborn: Fink, 2003.
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Lyon, James K.: Paul Celan and Martin Heidegger. An Unresolved conversation 1951-1970. Baltimore: The John Hopkins University Press, 2006. Necker, Gerold: Einführung in die lurianische Kabbala: Frankfurt a.M.: Suhrkamp/Verlag der Weltreligionen, 2008. Scholem, Gershom: Die Jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1967. Scholem, Gershom: Von der mystischen Gestalt der Gottheit. Studien zu Grundbegriffen der Kabbala. Zürich: Rhein-Verlag, 1962. Silbermann, Edith: Begegnung mit Paul Celan. Aachen: Rimbaud, 1993. Trawny, Peter: Heidegger und der Mythos der jüdischen Weltverschwörung. Frankfurt a.M.: Klostermann, 2015. Wenzel, Jürgen: Die Vertreibung der Juden aus Spanien im Jahr 1492. Norderstedt: BoD, 2013. Werner, Uta: Textgräber. Paul Celans geologische Lyrik. Paderborn: Fink, 2002.
Elemente der (lurianischen) Kabbala und okkulte Motive in Gustav Meyrinks Roman Der Golem Elizabeta Lindner Kostadinovska
D er mystische V organg In Meyrinks Roman Der Golem (1913/14) sind zahlreiche Elemente der lurianischen Kabbala enthalten.1 Wegen dieser, aber auch anderer Motive meist mystischer Provenienz, sowie das explizite Thematisieren negativer und als verborgen geltender Denkfiguren der Kabbala in Bezug auf einen Sinn des Lebens, können diese Elemente als okkult bezeichnet werden. Obgleich die kabbalistischen mit den anderen esoterischen Elementen durch die literarische Form des Textes vermischt eingebracht sind, ist doch die okkulte Grundidee dieser wichtigen Strömung innerhalb der jüdischen Mystik deutlich erkennbar und bestimmend für die Handlung des Romans.2 In seinem Essay An der Grenze des Jenseits (1923) schreibt Gustav Meyrink selbst über die Verbindungen der Mystik mit dem seiner Zeit so modernen Okkultismus: »Der Weg des Mystikers mündet nicht ein in den des Okkultisten, wohl aber fließt der Strom ›Okkultismus‹ zuletzt in den Ozean der Mystik. […] Forschen wir nach der Wurzel, aus der aller Okkultismus sprießt, so kommen wir zu dem Schlusse: der Trieb des Menschen nach Freiheit ist es, der all das bewirkt. Freilich, wer tiefer schürft, der findet den Urgrund, aus dem die letzte Erkenntnis quillt: Philosophie, Mystik, Einswerden mit dem Geiste.« 3 1 | Die hier erwähnte Interpretation der Kabbala geht auf den Rabbiner Isaak Luria (1534-1572) zurück, der als Begründer der neuzeitlichen Kabbala gilt. 2 | Zur lurianischen Kabbala vgl. den Beitrag von Rüdiger Sünner in diesem Band. 3 | Meyrink 1923, S. 3f.
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Der Protagonist des Romans, Athanasius Pernath, geht diesen Weg des Mystikers, der in der Deutung der Kabbala der eines Gerechten, eines Auserwählten, Weisen und Eingeweihten darstellt. Er führt hiernach nicht nur durch körperliches und seelisches Leiden im Diesseits, um im Jenseits das ewige Leben zu erlangen, ebenso führt der Weg auch – und hier wird die Berührung mit dem Okkultismus deutlich – durch das Verborgene und Geheimgehaltene der Schöpfung, der Sprache und des Selbst noch während des irdischen Daseins. Bevor im Folgenden Pernaths Weg mit den Elementen der Kabbala nachgezeichnet wird, soll zunächst noch kurz auf eine nicht unproblematische, frühe Rezeption des Textes im Kontext der kabbalistischen Deutung eingegangen werden. Bei Beate Rosenfeld heißt es 1934 nämlich: »Durch Übernahme hebräischer Termini, die oft mit einem neuen Inhalt erfüllt werden, und Übernahme von Zitaten und Erzählungen aus Bibel und Talmud, die in mystischem Sinn ausgedeutet werden, sucht Meyrink eine kabbalistische Sphäre zu schaffen, in der nun auch Golem seinen Platz hat. Doch handelt es sich mehr um jenen Pseudokabbalismus, der alles Geheimwissen unter dem Namen Kabbala begreift. Tatsächlich sind Meyrink für einzelne kabbalistische Dinge pseudokabbalistische Quellen nachzuweisen, so z.B. für die Ausführungen Hillels über den mystischen Ursprung des Tarock, Papus, Die Kabbala und Papus, Le tarot des Bohemiens.« 4
Obwohl die zahlreichen Elemente der Kabbala im Roman zum Teil verändert, um okkulte Motive erweitert und literarisch kodiert sind, und sie der Autor darüber hinaus in andere Kontexte stellte, kann man die Handlung insgesamt keinesfalls als »pseudokabbalistisch« bezeichnen. Rosenfelds Interpretation folgt einer sehr vereinfachten Sicht auf den Roman. Eine genauere Analyse bekräftigt dagegen die These, dass nur wenige Elemente, die man vor dem Hintergrund bestimmter Moden der Zeit als »pseudo« bezeichnen könnte, nur jene sind, die die Kabbala mit dem Tarot verknüpfen. Im Roman werden okkulte Erlebnisse beschrieben: Athanasius Pernath, der im Prager Ghetto lebt und als Antiquitäten-Restaurator arbeitet, wird mystischen und auf den ersten Blick ihm unerklärbaren Geschehnissen ausgesetzt. Die Menschen in seiner Nachbarschaft sind dabei immer Teil dieses mystischen Vorgangs und unterstützen ihn auf dem Weg zur Erkenntnis und Erlösung. Seine Erkenntnis ist vor allem eine soziale. Jene Disziplin, die diese unerklärlichen Geschehnisse zum Forschungsgegenstand hat, ordnet Meyrink der Mystik unter, empfindet sie aber zugleich auch als notwendigen Bestandteil des Menschenlebens und als ein Bindeglied zwischen dem irdischen Erlebnis und den Tiefen der Mystik und der Philosophie. Deshalb kritisiert
4 | Rosenfeld 1934, S. 164 (Anm. 31).
Elemente der (lurianischen) Kabbala und okkulte Motive
Meyrink auch den negativen Ruf, der dem Okkultismus mitunter anhaftet.5 Vielmehr unterstreicht er die Wichtigkeit des Okkultismus in seiner Funktion, ganz unterschiedliche kulturelle Bestände zusammenzubringen und zu systematisieren, wenn er sagt: »Aber im Gebiete des Okkultismus gibt es auch was anderes als bloße Mediumschaft, es gibt etwas, was wir Magie oder Beherrschung nennen könnten, dann etwas, was wie Freundschaft mit unsichtbaren Wesen aussieht, und außerdem eine Entwicklungsmöglichkeit gewisser seelischer Fähigkeiten, die über das gewöhnliche Maß indischer Eigenschaften weit hinausragen.« 6
Die Entwicklungsmöglichkeiten seelischer und geistiger Fähigkeiten des Menschen waren nicht nur die Basis zahlreicher hermetischer, neuplatonischer oder heidnisch-magischer Vorstellungswelten seit der Antike, auch viele okkulte und theosophische Bewegungen in Meyrinks Zeit hatten diese zur Grundlage, die sich dabei nicht selten auf kabbalistische Lehren stützten. Pernaths Weg der Erlösung ereignet sich im Lichte der Symbolik der lurianischen Kabbala. Es beginnt mit der verlorenen Harmonie (»Zimzum«) und dem Exil (»Bruch der Gefäße«), es folgen körperliche und seelische Leiden und die Wiederherstellung der verlorenen Harmonie (»Tikkun«); währenddessen geschehen um Pernath herum verschiedene mystische Ereignisse, der äußeren Geschichte aber entspricht das Exil der Seele in ihren Wanderungen von Wiederverkörperung zu Wiederverkörperung, von Seinsform zu Seinsform.7 Dieses Exil Pernaths hat Meyrink im Roman als symbolische Wiederholung des Vorgangs, den der Kabbalist Isaak Luria (1534-1572) als den »Bruch der Gefäße« bezeichnete, dargestellt. In diesem Prozess kommt es zur mythischen Vermischung des Guten und des Bösen – ein Vorgang, bei dem die Harmonie der Schöpfung verlorengeht und nach dem sich alle Dinge verändern: »Nichts aber ist mehr dort, wo es sein sollte. Alles steht irgendwo anders. Ein Sein aber, das nicht an seinem Orte ist, ist im Exil. Und so ist denn alles Sein von jenem Urakt ein Sein im Exil und bedarf der Rückführung und Erlösung.« 8
Im Roman sind deutliche Anspielungen auf den »Bruch der Gefäße« und das Exil vorhanden. Als Pernath sich im »Zimmer ohne Zugang« befindet, sieht er viele zerbrochene Gegenstände, die die abgefallenen Bruchstücke der kabbalistischen Schalen symbolisieren: 5 | Meyrink 1923, S. 2. 6 | Meyrink 1923, S. 8f. 7 | Vgl. Scholem, 1960, S. 156. 8 | Scholem 1960, S. 151.
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Elizabeta Lindner Kostadinovska »Ich durchstöberte die Zimmerecke, die jetzt im stumpfen Morgenlichte lag: Scherben, dort eine rostige Pfanne, morsche Fetzen, ein Flaschenhals. Tote Dinge und doch so merkwürdig bekannt.« 9
Die mangelnde Erinnerung, die Pernath keinen Bezug zur Realität mehr ermöglicht und seinen »Golemzustand« begründet, empfindet er als Exil: »[...
] ich war wahnsinnig gewesen, und man hatte Hypnose angewandt, hatte das Zimmer verschlossen, das die Verbindung zu jenen Gemächern meines Gehirns bildete, und mich zum Heimatlosen inmitten des mich umgebenden Lebens gemacht.«10
Hier wird deutlich, dass der Protagonist eine ›okkulte Erfahrung‹ gemacht hat, die ihm aber nicht dabei half, zu sich selbst zu finden. Und auch im erwähnten Okkultismus-Essay äußert sich Meyrink skeptisch gegenüber ähnlichen, okkulten Praktiken seiner Zeit. Auch der Protagonist wird daher die Hypnose ablehnen und den anderen Weg gehen, den mystischen Weg des Lebens, der sich in seinen gerechten Handlungen vollzieht und in seiner Hingabe zum Geistigen besteht. Im ersten Kapitel wird durch den Übergang vom Traum in die wirklichen Ereignisse im Prager Ghetto ein Hintergrund geschaffen, der einen atmosphärischen Raum eröffnet, in dem die Möglichkeit auch der Entfaltung des Bösen literarisch gegeben ist: Im Ghetto herrscht eine ungeheure dunkle Macht, die Menschen sind verängstigt, haben destruktive Gedanken, es kommt zu Gewalttaten. Manche der seltsamen Gestalten, die dort leben, verstärken die Unheimlichkeit der Geschehnisse: die Figuren Rosina, Aaron Wassertrum und Loisa. Die Häuser des Prager Ghettos wirken auf den Protagonisten boshaft und lassen ihm die Umgebung düster erscheinen: »Unter dem trüben Himmel sahen sie [die Häuser] aus, als lägen sie im Schlaf, und man spürte nichts von dem tückischen, feindseligen Leben, das zuweilen von ihnen ausstrahlt, wenn der Nebel der Herbstabende in den Gassen liegt und ihr leises, kaum merkliches Mienenspiel verbergen hilft.«11
Mit diesen Merkmalen stellt das jüdische Ghetto eine Parallele zum Urraum dar, der in der lurianischen Kabbala als der Raum, in dem die richtenden Gewalten Gottes zurückgelassen wurden, aufgefasst wird. Im Akt des »Zimzum« (Selbstbeschränkung Gottes) zieht sich Gott in sich selbst zurück, damit die Erschaffung jenes Urraums möglich wird, und die richtenden Gewalten, die 9 | Meyrink 1913/14, S. 110. 10 | Meyrink 1913/14, S. 57. 11 | Meyrink 1913/14, S. 32.
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sich vorher in Harmonie befanden, erfüllen nun den Raum. Wie in der älteren Kabbala, ist auch bei Luria »die richtende Gewalt« die Trägerin des Bösen, deswegen wird dieser Prozess von ihm als »Reinigung des göttlichen Organismus von den Elementen des Bösen«12 aufgefasst. In der kleinen Welt des Prager Ghettos, wo das Böse verwurzelt ist, soll vor einigen Jahrhunderten auch eine Nachahmung der Schöpfung Gottes von Rabbi Löw ausgeführt worden sein. Wie in der Legende, so wurde auch im Roman, ein Golem erschaffen. Hillel, ein Archivar, den Pernath kennenlernt und in dessen Tochter Mirjam er sich verliebt, deutet im späteren Handlungsverlauf den Golem als Verkörperung von Rabbi Löws Geist. In dieser Gestalt erscheint er als eine irdische Parallele zum Adam Kadmon, dem kabbalistischen Urbild des Menschen: »Im Urraum bilden sich die Urbilder allen Seins, jene von der Struktur der Sephiroth bestimmten Formen des Adam Kadmon, des Gottes, der in die Schöpfung als Schöpfer eintritt.«13
Die Parallele zur Figur des Adam Kadmon im Roman ist auch durch seine Bedeutung in der lurianischen Kabbala motiviert. Er erscheint als Verkörperung der Seele des Golemschöpfers mit der symbolischen Funktion, die unvollständige Seele Pernaths zu unterstützen. In dem Verweis auf Adam Kadmon sind zwei wichtige Elemente aus der lurianischen Kabbala zugegen: wie bereits erwähnt wurde, der »Bruch der Gefäße« und der »Tikkun« – beides geistige Prozesse, die sich aber im Irdischen, im Sozialen vollziehen. »Der Bruch der Gefäße« symbolisiert im Sohar14, dem »Buch des Lichtes« (oder »des strahlenden Glanzes«), den Mangel an Harmonie zwischen dem Männlichen und dem Weiblichen, der sich im Urraum als dämonische Macht ein eigenes Dasein schafft.15 Die Rückführung der Harmonie ist nun hiernach nur durch den Wiederaufbau der Gefäße möglich, der durch das strömende Licht des Adam Kadmons beginnt. Dieser Prozess wird »Tikkun« oder Restitution genannt. Sein
12 | Scholem 1960, S. 148f. 13 | Scholem 1960, S. 150. 14 | Die Kabbalisten beriefen sich auf zwei wichtige Textsammlungen: »1) Sepher Jezira, ›das Buch der Ausgestaltung‹, das in symbolischer Form die Geschichte der Genesis enthält: Maassch bercschit; 2) Der Zohar, ›das Buch des Lichtes‹, das in gleichfalls symbolischer Form alle die esoterischen Lehren enthält, deren Synthese unter dem Namen ›Geschichte des himmlischen Wagens‹, Maassch merkaba, bekannt ist.« Siehe Papus 1910, S. 64. 15 | Vgl. Scholem 1960, S. 151.
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Ziel ist die Trennung der göttlichen Welt von der des Bösen und kann nur durch die Menschen vollzogen werden.16 Denn der Mensch »Adam« erscheint in der Welt als Spiegelung des Urbildes, des Adam Kadmon, und sein Sündenfall »wiederholt auf der anthropologischen Ebene jenen Vorgang, den der Bruch der Gefäße auf der theosophischen darstellt. […] Das Herbeiführen des Tikkun und des ihm entsprechenden Weltenstandes ist aber nichts anderes als der Sinn der Erlösung. In ihr wird, von der geheimen Magie der menschlichen Tat bewirkt, alles an seinen Ort gebracht, die Dinge aus ihrer Vermischung erlöst und dadurch in den Sphären des Menschen und der Natur aus ihrem Verfallensein an die dämonischen Gewalten befreit […].«17 Die Bedeutung der Suche nach Pernaths Erlösung für die Handlung des Romans wird deutlich, denn alles Handeln des Protagonisten ist vom Prozess des »Tikkun« gezeichnet. Eine wichtige Rolle in diesem Prozess spielt der Golem, der in veränderten Gestalten und in symbolischen Situationen den Weg zur Erlösung des Protagonisten kennzeichnet.18
D ie G estalten des G olem Die Figur des Golems entfernt sich im Verlauf des Romans von der ursprünglichen Gestalt, die der Golem in vielen Sagen einnimmt, nur wenige Elemente wiederholen sich: das Ghetto, die Altneusynagoge und die bedrohte und unterdrückte jüdische Bevölkerung.19 Meyrink lässt den Golem unterschiedliche Formen annehmen, die verschiedene Bedeutungen in sich einschließen. Die zentrale Rolle des Golems im Roman ist die des Doppelgängers Pernaths. Die kabbalistische Funktion des Golems dagegen zeigt sich im Golemzustand Adams, der für die lurianische Auffassung der Seelenwanderung eine bedeutende Rolle spielt. Der Roman beginnt mit dem Kapitel »Schlaf«, ein Zustand in dem das Bewusstsein ruht, und wie schon in vielen Mythen und Sagen heißt es auch in Meyrinks Roman, dass im Schlaf der Geist und die Seele den Körper verlassen:
16 | Vgl. Scholem 1960, S. 154. 17 | Vgl. Scholem 1960. S. 155f. Scholem gebraucht hier den Begriff ›theosophisch‹ allgemein und im eigentlichen Wortsinne als ›göttliche Weisheit‹ und verweist mit ihm nicht etwa auf die Theosophie der Okkultistin Helena Petrovna Blavatsky (1831-1891). 18 | Ergänzend sei hier auf die Darstellung des kosmosophisch-wissenschaftlichen Modells Lurias verwiesen in Grözinger 2005, S. 619ff. 19 | Vgl. Bloch 1920.
Elemente der (lurianischen) Kabbala und okkulte Motive »Langsam beginnt sich meiner ein unerträgliches Gefühl von Hilflosigkeit zu bemächtigen. […] Habe ich freiwillig den Widerstand aufgegeben, oder haben sie mich überwältigt und geknebelt, meine Gedanken? […] Wer ist jetzt ›ich‹, will ich plötzlich fragen; da besinne ich mich, dass ich doch kein Organ mehr besitze, mit dem ich Fragen stellen kann; dann fürchte ich, die dumme Stimme werde wieder aufwachen und von neuem das endlose Verhör über den Stein und das Fett beginnen.« 20
Der Zustand des Protagonisten erinnert auch an den Golem. Dieser ist stumm und eine Stimme steuert seine Gedanken. In den Sagen erscheint er als Knecht und Diener, gesteuert durch die Stimme seines Schöpfers. Die Beziehung des Schöpfers zum Geschöpf, in diesem Fall vom Rabbi zum Golem, ist ähnlich wie die von Gott zu Adam. Solange diese Beziehung besteht, die Seele des Menschen mit Gott in Verbindung bleibt, herrschen Harmonie und Einheit.21 In diesem Zustand aber wird die Frage nach der Erkenntnis aufgeworfen und die Suche nach dem Ich beginnt, ein Vorgang, der in der Tora mit dem Sündenfall und dem Essen der Frucht vom Baum der Erkenntnis symbolisiert wird.22 Im Roman folgt auf das Erscheinen des Golems ein Mord, von dem man glaubt, der Golem hätte ihn begangen: »Mord auf Mord wird es jetzt in der Judenstadt geben! Ich kenne das. Der Golem zieht eine unheimliche Gefolgschaft hinter sich her.«23 Weil die Trennung des Golem von seinem Herrn eine Parallele zur Sünde Adams darstellt, ist der Golem ein Gleichnis für den Ausbruch des Bösen in der Welt: »Die Golemschöpfung hat Gefahren, ja sie ist, wie alles Großschöpferische, sogar lebensgefährlich – aber nicht vom Golem, nicht aus den von ihm ausgehenden Kräften kommen diese Gefahren, sondern vielmehr aus dem Menschen selber: nicht das Produkt der Schöpfung entwickelt in irgendeiner Art von Verselbstständigung gefährliche Kräfte, sondern die im Hersteller selber durch den Prozeß hervorgerufene Spannung ist gefährlich.« 24
Die Verselbstständigung des Golems hat hiernach fatale Folgen, aber trotzdem ist sie eine Notwendigkeit, wie die Erkenntnis selbst, die der erste Schritt zur Erlösung des Pernath darstellt. Da Pernath keinen Zugang zu seiner Innenwelt bekommt, benötigt er der Romanlogik nach die Präsenz einer höheren Autorität, damit er zu sich selbst zurückfinden kann. Auf dem Weg zur Erlösung wird Pernath folglich von 20 | Meyrink 1913/14, S. 11. 21 | Vgl. Scholem 1977, S. 63. 22 | Vgl. Maier 1972, S. 360f. 23 | Meyrink 1913/14, S. 118. 24 | Scholem 1960, S. 245.
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Hillel unterstützt. Hillel ist die veränderte Figur des Rabbi Löw. Zu Beginn des bevorstehenden Bewusstwerdens Pernaths, das auch als »Belebung« des Protagonisten gedeutet werden kann, ist also der »kabbalakundige« Hillel anwesend; ihre Beziehung ähnelt der Beziehung, die zwischen Schöpfer und Geschöpf, zwischen Rabbi und Golem besteht. Bei Rosenfeld heißt es daher auch: »Literarisch genommen ist Hillel ein moderner Nachkomme jener geheimnisvollen Helfer und Führer der romantischen Dichtungen, die den Helden durch die Wirrnisse wunderbarer Erscheinungen und die Anfechtungen des Lebens geleiten.« 25
Wie wir oben gesehen haben ist die Beziehung zwischen Pernath und Hillel eine für Kabbalisten typische Lehrer-Schüler-Beziehung. Diese deckt sich auch mit der Beschreibung bei Papus, dass zu »den heiligen Mysterien der Kabbala« nur der zugelassen werden dürfe, der »in jeder Beziehung volles und festes Vertrauen seinem Lehrer und dessen Lehren entgegenbringt«26. Hillel erscheint hier wie ein Rabbiner, der die rituelle Schöpfung eines künstlichen Menschen ausführt. Die Vorstellung von der schöpferischen Kraft des Menschen, die der Schöpfungskraft Gottes gleicht, ist der Ursprung der Golemsage: »Rabba sagte: Wenn die Gerechten wollten, so könnten sie eine Welt schaffen, denn es heißt (Jes. 59:2): Denn eure Sünden machen eine Scheidung zwischen euch und euerem Gott. […] Die Buchstaben des Alphabets, um wieviel mehr die des Gottesnamens und gar die der ganzen Tora, die ja das Instrument Gottes bei der Schöpfung war, haben geheime, magische Gewalt.« 27
Auch im kabbalistischen Buch der Schöpfung, im Sefer Jezira28, ist die Macht und die schöpferische Kraft der einzelnen Buchstaben sowie die Bedeutung der Zahlen dargestellt. In dem Sinne spielt das Buch eine zentrale Rolle in der Golemschöpfung bei Meyrink, denn es ist »als theoretische Anleitung zum Verständnis des Auf baus der Schöpfung vorgetragen« und es ist sehr wahrscheinlich, dass es »einen Schlüßel für magische Praktiken bilden sollte«29. In Meyrinks Roman deuten einige Stellen auf einen rituellen magischen Vorgang hin, der durch die Beziehung zwischen Hillel und Pernath aufgezeigt wird.30 Hillel ist somit der geistige Führer Pernaths, ihre Beziehung zeichnet 25 | Rosenfeld 1934, S. 164 (Anm. 33). 26 | Papus 1910, S. 57. Die Schüler-Lehrer-Asymmetrie gehört zu einem zentralen Merkmal vieler esoterischer Systeme des Abendlandes. Vgl. Stuckrad 2004, S. 21f. 27 | Scholem 1960, S. 218f. 28 | Vgl. den Beitrag von Rüdiger Sünner in diesem Band. 29 | Scholem 1960, S. 222. 30 | Vgl. Meyrink 1913/14, S. 78, 82.
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sich durch den Einfluss aus, den Hillel auf Pernaths geistiges und körperliches Befinden hat. Wieder vergleichbar mit dem Einfluss, den der Rabbi auf den Golem hat, wenn er ihn den »Schem« (hebräisch für »Name«) aus dem Mund entfernt und ihn so zum Schlafen bringt. Der »Schem ist ein Symbol für die geistige Abhängigkeit des Golems von seinem Schöpfer«31. Die Funktion des Schems bei Meyrink übernimmt wieder Hillel: »Schemajah Hillel fuhr mir mit der Hand über die Augen. Genau wie vorhin unten in seinem Zimmer. Und weggewischt war alles. Sogar der Wunsch weiter zu forschen. […] Dann fuhr Schemajah Hillel ein drittes Mal mit der Hand über meine Augen, und ich schlummerte ein.« 32
Auch die Beziehung des Marionettenspielers Zwakh zu seinen Puppen macht eine Gestalt des Golems bei Meyrink deutlich.33 Der Protagonist beginnt zu erkennen, was die »rätselhaften Geschöpfe, die rings um mich wohnten, in ihrem innersten Wesen« ausmacht: »sie treiben willenlos durchs Dasein, von einem unsichtbaren magnetischen Strom belebt«34. Diese »leblose Materien«, die darauf warten, belebt zu werden, in dem Unsichtbares sichtbar, Verborgenes aufgedeckt wird, bilden eine Analogie zum Ursprung des hebräischen Wortes »golem«, das den Zustand Adams, bevor er beseelt wurde, bezeichnet (Psalm 139:16), aber später auch in seiner talmudischen Bedeutung als das »Ungestaltete, Halbfertige, Unbeseelte«35 wiedergegeben wurde. Der »okkulte« Golem besitzt keine praktischen Funktionen oder Rollen, am Ende wird er wieder zu Staub zurückverwandelt. Das Ritual Hillels bestand also hauptsächlich aus Zauberformeln und rituellem Gehen, denn man zerstört der Sage nach das Geschöpf wieder, indem man zuvor vorwärts, jetzt aber rückwärts geht und dabei die Alphabete ebenso rückwärts spricht: »Die Eingeweihten, die diese Prinzipien der Permutation und Kombination kennen und verstanden haben, können umgekehrt vom Text aus rückwärts gehen und das ursprüngliche Gewebe der Namen rekonstruieren. All diese Metamorphosen der Namen haben eine doppelte Funktion. Sie dienen einerseits dazu, der Tora jenen Aspekt zu verleihen, unter dem sie als eine Mitteilung, als eine Botschaft Gottes an den Menschen erscheint, die ihm und seinem Verstand zugänglich ist. Anderseits weisen diese Prozesse auf das geheime Wirken der göttlichen Macht hin, das nur an dem Gewande kenntlich ist, das
31 | Meyer 1975, S. 24. 32 | Meyrink 1913/14, S. 84f. 33 | Vgl. Meyrink 1913/14, S. 48. 34 | Meyrink 1913/14, S. 42. 35 | Meyer 1975, S. 10.
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Besagtes Ritual sollte letztlich Pernath beim Erinnern helfen, denn wie ihn Hillel belehrt, sind Wissen und Erinnerung dasselbe. Das Geschöpf muss daher zu seiner Vergangenheit zurückfinden und fördert so auch die Rückkehr der gegenwärtigen Gedanken: »Ich zwang mich, in verkehrter, aber ununterbrochener Reihenfolge zu überlegen […]«. Es folgt der Vergleich: »So, wie ich zurückfinden könnte in die Tage meiner Jugend, wenn ich in der Fibel das Alphabet in verkehrter Folge vornähme von Z bis A, um dort anzugelangen, wo ich in der Schule zu lernen begonnen – so, begriff ich, müßte ich auch wandern können in die andere ferne Heimat, die jenseits allen Denkens liegt.«37 Die Belebung Pernaths ist durch die Erweckung seines aktualen Bewusstseins und die gewonnene Erkenntnis erreicht, er lernt, sein Lebensziel kennen: die Wiederherstellung der verlorenen Harmonie. Mit Pernaths anschließendem tiefen Schlaf (nachdem Hillel mit der Hand über seine Augen fuhr), ist die rituelle Golemschöpfung und seine Rückverwandlung vollendet. Pernath ist nun bereit, den mystischen Weg zu gehen, der ihn auf der nächsten Stufe zu seinem »Selbst« führt, ins »Zimmer ohne Zugang«.38
D ie S eelenwanderung und das B uch ’I bbur Die Seelenwanderung, die einen zentralen Bestandteil der lurianischen Kabbala bildet, wirkt auf verschiedene Weisen und auf unterschiedlichen Ebenen in Meyrinks Roman. Pernaths Bildungs- bzw. Selbstfindungsprozess vollzieht sich nämlich durch Seelenwanderung. Entgegen der Behauptung Rosenfelds, es gäbe kein Buch ’Ibbur 39, ist »’Ibbur« doch aber ein gängiger Terminus der hebräischen Mystik und bedeutet »Seelenschwängerung«, d.h. Zugesellung einer zweiten Seele zu einer bereits vorhandenen.40 Die Übertragung der im jüdischen Kalenderwesen angedach36 | Scholem 1960, S. 63. Vgl. dazu auch Rosenfeld 1934, S. 11. 37 | Meyrink 1913/14, S. 84. 38 | Vgl. Meyrink 1913/14, S. 102. 39 | Vgl. Rosenfeld 1934, S. 164 (Anm. 31). 40 | Die Kabbala kennt eigentlich zwei Termini, die »Seelenwanderung« bezeichnen. Der ältere »Gilgul« und der jüngere »’Ibbur«. Ihre Bedeutungen änderten sich im Laufe der Zeit, aber beide wurden im Bezug auf die Seelenwanderung verwendet. Es existiert auch ein »Buch von den Seelenwanderungen«, das Sefer Gilgulim; es wurde von Lurias Schüler Chajim Vital verfasst, und enthält auch Äußerungen Lurias über die Seelenwanderung. Vgl. Scholem 1977, S. 219, 232 und 226.
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ten »Schwängerung« auf eine Art von Seelenwanderung ist bereits durch die kabbalistische Schule von Nachmanides (1194-1270) belegt.41 Scholem erläutert den Begriff folgendermaßen: »Sod ha-’ibbur ist im Talmud die Bezeichnung für einen mit der Astronomie zusammenhängenden Sachverhalt: den Ausgleich der Mond- und Sonnenjahre durch ›Schwängerung‹ (’ibbur) des Mondjahres. Die Kabbalisten scheinen ihn im Sinn von ›Übergang‹ von einem Körper zum anderen benutzt zu haben. Es können aber auch andere Bedeutungsnuancen hineinspielen: auch die mystische Erleuchtung der Frommen durch den Influxus von oben wird als ›Schwängerung‹ bezeichnet.« 42
»’Ibbur« bedeutet nicht nur, dass sich die Seelenwanderung bei der Empfängnis oder der Geburt vollzieht, sondern auch in Situationen, »in denen der Mensch im Laufe seines Lebens, etwa in besonderen, bedeutenden Momenten, eine andere Seele, gleichsam in Schwängerung (’Ibbur) seiner eigenen Seele, empfängt«43. In der lurianische Kabbala wurde die Seele Adams vor dem Fall als eine große Seele begriffen, in der alle menschlichen Seelen vorhanden sind.44 Wie bereits oben angedeutet war »Adam Kadmon« der eine Gedanke, die Idee Gottes für die Schöpfung des irdischen Menschen. Es war das Urbild des Menschen, dessen Form Urbild aller Formen war: »Denn die Form des Menschen schließt alle Dinge in sich, und alles was besteht, hat nur durch sie Bestand.«45 Und der Mensch wurde nach dem Bilde Gottes, in seinem »Zelem« geschaffen, was zunächst nur eine geistige Erscheinung ist, die den noch seelenlosen Körper Adams bewohnen wird. Gemäß dieser Lehre werden Menschen nach dem »Bruch der Gefäße« mit niedrigen Seelen geboren, da sie aber ursprünglich mit anderen Seelen eine Einheit bildeten, streben sie zu ihrer ursprünglichen Ganzheit und besitzen die Fähigkeit, die höheren Seelenstufen zu erreichen – wenn sie dafür würdig sind.46 Wenn sie sich durch Sünden verunreinigen, müssen sie solange wandern, bis sie in allen ihren Teilen restituiert sind. Die »gleichstämmigen Seelen« sind durch Anziehungskraft verbunden, die als »Sympathie der See-
41 | Vgl. Ogren 2009, S: 147f. 42 | Scholem 1977, S. 298. 43 | Scholem 1977, S. 219. 44 | Vgl. Scholem 1977, S. 227. 45 | Sohar III 135. Hier zittert nach Bischoff 1913, S. 40. 46 | Auch das Motiv des stufenweisen Aufstiegs gehört zu den gängigen Merkmalen esoterisch-initiatischer Traditionen im Abendland. Vgl. Stuckrad 2004, S. 21 sowie die Einleitung von Alexander Graeff in diesem Band.
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len« bezeichnet wurde. Ihr Ziel besteht darin, sich durch die Wanderung in »’Ibbur« zu reinigen und wieder zu verbinden.47 Der Golemzustand Adams, der als Motiv in Meyrinks Roman zu finden ist, stammt aus der lurianischen Version der Lehre von der Seelenwanderung: »Diese Aggada [= Sage] erzählt, als Adam noch leblos, als bloßer Golem dalag, habe ihm Gott alle Gerechten gezeigt, die von seinem Samen kommen würden. Alle waren von seinem Körper abhängig, einige ›hingen an seinem Kopf, einige an seinen Haaren, an seinem Hals, einige an seinen beiden Augen und seiner Nase, an seinem Mund und seinen Armen‹.« 48
Dass es sich bei der Beseelung des Golems um ein wichtiges Ereignis handelt, wird Pernath schon bei dem symbolischen Schöpfungsritual deutlich gemacht. In seinem Golemzustand wird ihm seine zukünftige Berufung angedeutet, nämlich dass er bereit ist, einer der Gerechten zu werden, denn von nun an sei er »geschwängert vom Geiste des Lebens«49. Erneut wird das Element der kabbalistischen Seelenwanderung deutlich.
D ie B egegnung mit dem »S elbst« Das Ritual der Golemschöpfung Pernaths und die Prophezeiung desselben als Auserwählter folgt der astrologisch-kabbalistischen Deutung, dass alle 33 Jahre eine Seele auf niedriger Stufe bereit ist, durch den Empfang einer Seele auf höherer Stufe, erlöst zu werden. Und genau das geschieht nun mit Pernath, glaubt man Hillel: »Er hat sich mit Kabbala befasst und meint, jener Erdklumpen mit den menschlichen Gliedmassen sei vielleicht nichts anderes als ehemaliges Vorzeichen, ganz so wie in meinem Fall der bleierne Kopf. Und der Unbekannte, der da umgehe, müße das Phantasie- oder Gedankenbild sein, das jener mittelalterliche Rabbiner zuerst lebendig gedacht habe, ehe er es mit Materie bekleiden konnte, und das nun in regelmäßigen Zeitabschnitten – bei den gleichen astrologischen Sternstellungen, unter denen es erschaffen worden – wiederkehre, vom Triebe nach stofflichem Leben gequält.« 50
Der Vorgang kennzeichnet die angestrebte Einheit, die Erkenntnis Pernaths über sich selbst. Es ist die Selbsterkenntnis, die am Ende des dunklen Weges 47 | Vgl. Scholem 1977, S. 231. 48 | Bischoff 1913, S. 226. 49 | Meyrink 1913/14, S. 85. 50 | Meyrink 1913/14, S. 53.
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auf den Suchenden wartet. Bei Meyrink ist dieser dunkle Weg des Protagonisten zu sich selbst symbolisch durch die »zahllosen Gänge, die scheinbar ohne Zweck und Ziel unter dem Ghetto hinführen«51 zu verstehen. Da erwarten ihn Stufen hinauf und hinab, Dunkelheit, tiefe Finsternis, Schlamm und Erde, erstickender Geruch. Doch dann steigt Pernath nach oben, und das ganz im Sinne der lurianischen Kabbala, denn beim Aufstieg vom »niedrigsten Prinzip« bis »zum erhabensten Grad der Existenz«, »findet man alle Abstufungen, gleich wenn man aus dem Dunkel durch Halbdunkel zum Lichte geht; und umgekehrt durchläuft man von den erhabensten Stufen der geistigen Existenz bis zu den materiellsten physischen alle Abschwächungen der Lichtstrahlung, so wie wenn man vom Licht durch die Dämmerung zur Finsternis übergeht«52 . Der Weg zum Selbst vollzieht sich hiernach durch den Aufstieg der Seele zum Göttlichen in der Symbolik der Kabbala. Pernath erreicht sobald »im ganzen acht Stufen«53, die nach Oben führen – ein direkter Verweis auf den Aufstieg der Seele zum Göttlichen in der Symbolik der Sephiroth. Der Begriff bezeichnet die zehn göttlichen Emanationen im kabbalistischen Lebensbaum. Die ersten acht Stufen der Sephiroth, die der Suchende von unten nach oben steigt, führen auf die Sephira (Einzahl von Sephiroth) »Bina«, die Verstand und Einsicht symbolisiert. Danach erreicht er ein Gemach, »das vom grellen Mondschein erfüllt war«. Das ist das »Zimmer ohne Zugang«, Pernath findet es »ungefähr in der Höhe eines dritten Stockwerks, denn die Häuser gegenüber hatten nur zwei Etagen und lagen wesentlich tiefer«54. Pernath findet sich schließlich vor dem Hintergrund des Baums des Lebens in der höchsten Welt der Urschöpfung ein, welche die drei höchsten Sephiroth enthält: die bereits erwähnte »Bina«, »Chockmah«, die für Weisheit steht, und schließlich »Kether«, die Krone und Ursephira, aus der alle anderen hervorgegangen sind. Hier befindet sich auch die Seele des Rabbi, denn nach dem kabbalistischen Glauben heißt es: »Erst der Kabbalist und mystisch Erleuchtete hat seine eigentlich menschliche Bestimmung erfüllt.«55 Diese Seele vereinigt sich nun mit der verwandten Seele Pernaths und bildet mit ihm sein »Zelem« (Bild) und sein »›Ezem« (Selbst).56 Symbolisch gesehen sind alle Bedingungen für die Begegnung Pernaths mit dem eigenen Selbst erfüllt. Es ist aber bloß ein Doppelgänger, der den Kabbalisten als das eigene Selbst erschienen ist und mit dem Begriff »Zelem« gleichgesetzt wird: 51 | Meyrink 1913/14, S. 103. 52 | Papus 1910, S. 49f. 53 | Vgl. Meyrink 1913/14, S. 104. 54 | Meyrink 1913/14, S. 106. 55 | Scholem 1977, S. 235. 56 | Vgl. Scholem 1977, S. 265.
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Elizabeta Lindner Kostadinovska »Wenn es in Genesis 1:27 heißt: ›Gott schuf den Menschen in seinem Zelem, im Zelem Gottes schuf er ihn‹, so bezieht sich das zweimalige Zelem eben auf das des Menschen und das des Engels seines Gestirns, der die Gestalt dieses Menschen hat.« 57
Das Selbst wird in der kabbalistischen Deutung mit einem persönlichen Engel, einem Dämon, dem Schatten, Doppelgänger oder Spiegelbild verglichen. All diesen Ausprägungen des Selbst ist gemeinsam, dass sie »nichts anderes als das himmlische Urbild« und den »himmlische[n] Doppelgänger des Menschen«58 bedeuten. Nach einer Theorie Chajim Vitals (1543-1620), einem Schüler Isaak Lurias, ist die Beziehung zwischen Selbst und Zelem symbolisch zu verstehen, als eine Art Verdopplung der Person in der geistigen Welt, als ein »Astralleib«, der »als Mittleres zwischen der Seele und dem Körper« fungiert; Scholem nennt diese Auffassung des Zelems auch eine »okkulte Erfahrung«59. Der Astralleib, der um den menschlichen Körper als eine Art ätherische Kopie des Menschen erscheint, ist ein gängiges Motiv der Theosophie und auch des Okkultismus in der Zeit Meyrinks. Im bereits erwähnten Essay An der Grenze des Jenseits referiert Meyrink auch auf Paracelsus und dessen Vorstellung über die zwei Leiber des Menschen, den elementarischen und den siderischen (fluidischen).60 Trotz der kollektiven Bedeutung von »’Ibbur« für die Einzelseele, bleibt die Individualität des Menschen nach der Schwängerung erhalten. Die Vereinigung der gleichstämmigen Seelen bedeutet, dass der Suchende das Ziel erfüllt und die Erlösung erreichen kann. In diesem Sinne ist bei Meyrink der Name Habal Garnim zu deuten als ein Name für den Auserwählten, dessen Seele die Ganzheit aus allen ihren Seelenfunken erreicht hat und sein Selbst bzw. Zelem bilden kann. Rosenfeld schreibt, dass »Habal Garmin« bei Meyrink für die Bezeichnung für das »Selbst« als Doppelgänger stehe, das eine »individuelle Seele (die im Gegensatz zu den übrigen Seelenteilen nicht der Seelenwanderung unterworfen ist)«61. Und auch aus den Worten Hillels wird die in diesem Kapitel erläuterte Bedeutung des Selbst deutlich: »Schon so mancher, werden Sie sagen, ist sich selbst begegnet […]. Aber dann war’s eben nur eine Spiegelung des eigenen Bewusstseins und nicht der wahre Doppelgänger: nicht das, was man ›den Hauch der Knochen‹, den ›Habal Garnim‹ nennt, von dem es
57 | Scholem 1977, S. 260. 58 | Scholem 1977, S. 259. 59 | Scholem 1977, S. 265. 60 | Vgl. Meyrink 1923, S. 12f. 61 | Rosenfeld 1934, S. 166 (Anm. 41).
Elemente der (lurianischen) Kabbala und okkulte Motive heißt: Wie er in die Grube fuhr, unverweslich im Gebein, so wird er auferstehen am Tage des Letzten Gerichts.« 62
Nach diesem wichtigen Ereignis, die Begegnung mit dem Selbst, verwandelt sich Pernaths Angst vor dem Unbekannten in eine Vision, die von rätselhaften Botschaften erfüllt ist, und ihn an seine Aufgabe erinnern soll. Ein rätselhaftes Wesen, das anstatt eines Kopfes einen Nebelballen hat, streckt die Hand aus nach Pernath und bietet ihm rote, bohnengroße Körner an.63 Die Körner symbolisieren den Ausbruch des Bösen in der Welt: »Die ›notwendige Krise, die die Ausscheidung des Bösen aus Gott selbst zum Ziele hatte, wird, so sicher sie Lurias wahre Meinung wiedergibt, […] nur selten offen dargelegt, […]. Andere begnügen sich mit dem uralten Hinweis auf das Gesetz des Organismus, auf das Samenkorn, das platzt und stirbt, um Weizen zu werden. Die Gewalten des Gerichts sind hiernach wie Samenkörner, die auf das Feld des Tehiru [= Glanz] ausgesät sind und in der Schöpfung aufgehen, aber eben nur in der Metamorphose des Bruchs und des Sterbens der Urkönige‹.« 64
Die Körner stehen für die Versuchung, ob Pernath das Böse akzeptieren wird, und somit seine ihm auferlegte Prophezeiung erfüllen würde. Er weiß, dass seine Entscheidung nicht nur Konsequenzen für sein eigenes Leben haben wird, sondern für die gesamte Menschheit: »Ich fühlte dumpf: eine ungeheure Verantwortung lag auf mir – eine Verantwortung, die weit hinausging über alles Irdische –, wenn ich jetzt nicht das Richtige tat.« Und dann sieht er das Symbol der verlorenen Harmonie, die wieder hergestellt sein sollte, wobei er ja selbst eine entscheidende Rolle gespielt hat: »Zwei Waagschalen, jede belastet mit dem Gewicht des halben Weltgebäudes, schweben irgendwo im Reich der Ursachen, ahnte ich – auf welche von beiden ich ein Stäubchen warf: die sank zu Boden.« Bevor er seine Entscheidung trifft, sieht er wie die menschlichen Antlitze seiner Vorfahren als Totenmasken an ihm vorüberziehen, »durch Jahrhunderte heran, bis die Züge mir bekannter und bekannter wurden und in ein letztes Gesicht zusammenflossen: das Gesicht des Golem, mit dem die Kette meiner Ahnen abbrach.«65 Am Ende treffen wir wieder auf den Golem und »die tiefere Bedeutung […] liegt wohl darin, daß im Golem das Vergangene und Ererbte verkörpert sein soll«66. Aber gleichzeitig steht er auch für das Exil und für den neuen An62 | Meyrink 1913/14, S. 122. 63 | Vgl. Meyrink 1913/14, S. 153f. 64 | Scholem 1960, S. 151. 65 | Meyrink 1913/14. S. 154f. 66 | Rosenfeld 1934, S. 165.
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fang, der durch die erneuerte Schöpfung in der unteren Welt als höchstes Ziel den »Tikkun« (Harmonie) hat. Die Gestalt des Golem sollte Pernath zuletzt erinnern, dass er der Auserwählte ist und am Ende eigentlich er allein stehen sollte – wenn er die richtige Entscheidung trifft: »Ich hob den Arm, wusste noch immer nicht, was ich tun sollte, und – schlug auf die ausgestreckte Hand des Phantoms, dass die Körner über den Boden hinrollten.«67 Mit dieser Geste wiederholt Pernath in der unteren Welt den Vorgang, der in der oberen Welt geschehen ist, er bestätigt, dass der »Bruch der Gefäße« in dieser Perspektive eine Notwendigkeit, und der Tikkun der eigentliche und der einzige Weg ist. Der »Bruch der Gefäße«, der jetzt in der unteren Welt geschieht, überträgt sich symbolisch auf die vom Ungewitter eingestürzte steinerne Brücke, die »Jahrhunderte gestanden, jetzt in Trümmern lag«. »Seltsam: – Eingestürzt! Vielleicht gerade in der Stunde, wo ich die Körner – nein, nein, nicht daran denken.«68
D as W eibliche als P rinzip im G öt tlichen und I rdischen Die mehrmals erwähnte symbolische Parallele zur Schöpfung, teilweise in der Gestalt des Golems, überträgt sich auch auf die Bedeutung eines weiblichen Prinzips in der Kabbala. Im Roman sind drei verschiedene Frauenfiguren dargestellt, die durch Mirjam, Angelina und Rosina vertreten werden. Meyrink versucht diese drei Frauen nach ihren äußeren und inneren Merkmalen in den kabbalistischen Auffassungen der »Schechina« (die göttliche Gegenwart in der Welt) zu personifizieren. Die Schechina wurde in der Kabbala als weiblich gesehen. Die wichtigste Bedeutung hat das Weibliche jedoch in der Wiedervereinigung des Weiblichen mit dem Männlichen, zwei Aspekte einer Sache, die ebenso nach dem »Bruch der Gefäße« auseinander geraten war. »Es ist die Trennung des Baums des Lebens von dem der Erkenntnis, aber auch die des Lebens vom Tod, es ist das Losreißen der Frucht vom Baume, an dem sie haften sollte, es ist auch das Auspressen der Säfte und Gewalten des Gerichtes aus der heiligen Frucht der Schechina, die in diesem Zusammenhang tiefsinnig ausgedeutet werden.«
Wie oben erwähnt ist das weibliche Prinzip in der Schechina dargestellt, die ins Exil tritt. Das ist das Moment der Trennung des Männlichen vom Weiblichen:
67 | Meyrink 1913/14, S. 156. 68 | Meyrink 1913/14, S. 158.
Elemente der (lurianischen) Kabbala und okkulte Motive »Das Exil der Schechina, oder mit anderen Worten, die Trennung des männlichen und dem weiblichen Prinzips in Gott, wird großenteils als die zerstörende Aktion der menschlichen Sünde und deren magischer Sinn. Die Sünde Adams wiederholt sich in jeder anderen Sünde.«
Die Wiedervereinigung dieser zwei Prinzipien ist nun das höchste Ziel der Kabbalisten, denn wie die Trennung durch die Sünde hervorgerufen wurde, so ist die Wiedervereinigung nur durch die Handlung des Einzelnen möglich, durch sein Gebet und seine guten Taten: »Die Wiedervereinigung Gottes mit seiner Schechina ist der Sinn der Erlösung.«69 Diese symbolische Vereinigung als der Sinn der Erlösung findet man auch in Meyrinks Roman wieder. Die Gestalt des Hermaphroditen ist das Symbol dieser Vereinigung und zugleich das Ziel Pernaths: »Das Buch Ibbur erschien vor mir, und zwei Buchstaben flammten darin auf: der eine, der das erzene Weib bedeutete, mit dem Pulsschlag, mächtig, gleich einem Erdbeben –, der andere in unendlicher Ferne: der Hermaphrodit auf dem Thron von Perlmutter, auf dem Haupte die Krone aus rotem Holz.« 70
Die Erscheinung der weiblichen Figuren im Roman folgt der Reihenfolge des Geschehens. Pernaths Aufstieg von der niedrigen Seelenebene auf die eines Gerechten bestimmt auch seine Wahrnehmung der Frauenfiguren im Roman. Die drei verschiedenen Frauenfiguren, die durch Rosina, Angelina und Mirjam vertreten werden, verkörpern jeweils eine Weise der Schechina. Die erste Frau, der Pernath im Roman begegnet, ist die rothaarige Rosina. Sie wohnt in Pernaths Haus und allein ihre Präsenz weckt bei ihm Abscheu.71 Sie ist die Tochter des boshaften Trödlers Aaron Wassertrum, und dementsprechend ist auch Rosina vom Bösen bestimmt. Zusammen mit Loisa quält sie den taubstummen Jaromir.72 Die Figur der Rosina ist eine Personifizierung der Schechina in ihrer »linken Seite«. Im Sohar wird die Macht der »linken Seite« in der Schechina entsprechend als das Böse gedeutet. Das steht im Zusammenhang mit Rosina: Wegen der Präsenz des Bösen in ihrer Familie ist eine Wandlung zum Guten in ihrer Person nicht möglich. Sie ist für das Böse vorbestimmt:
69 | Alle drei Zitate in Scholem 1960, S. 145. 70 | Meyrink 1913/14, S. 85 (Hervorhebung im Original). 71 | Vgl. Meyrink 1913/14, S. 12f. 72 | Vgl. Meyrink 1913/14, S. 18.
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Elizabeta Lindner Kostadinovska »Wenn diese Mächte der Linken überhandnehmen, was vor allem ein Resultat der menschlichen Verfehlungen und Sünden ist, so wandelt sich die Schechina zur Vollzieherin jener richtenden Gewalten, die dann in sie eintreten.« 73
Die zerstörerische Macht, die in Rosina verankert ist, zeigt sich vor allem in ihrer vulgär-erotischen Erscheinung, die eine gleichzeitig anziehende und abstoßende Auswirkung auf andere Personen hat. Durch ihre Eigenschaft vertritt sie den ihr feindlichen Gegenpart der Weisheit, der, in der Kabbala als das »hurerische Weib« bezeichnet, für die negative Schechina steht. Dieser Gedanke entwickelt sich im Sohar weiter und »das hurerische Weib« wird hier mit Lilith gleichgesetzt. Die Figur der Lilith gilt als eine Art weiblicher Dämon und ist bekannt für die jüdischer Folklore entstammenden Idee, sie sei die erste Frau Adams gewesen. In mittelalterlichen kabbalistischen Schriften des 13. Jahrhunderts taucht die Lilithfigur wieder auf und erhält schließlich eine besondere Bedeutung in der lurianischen Kabbala.74 In diesem Sinne könnte Rosina auch als Lilithfigur betrachtet werden. Als Pernath Angelina begegnet, der zweiten Frau, ist er von ihrer Schönheit begeistert. Sie ermöglicht Pernath kurze Einblicke in seine verlorene Vergangenheit und weckt bei ihm Sehnsucht und Liebesgefühle, die aber bald wieder verschwinden. Denn Pernath lernt Hillels Tochter Mirjam, die dritte Frau, kennen und in ihrer Frömmigkeit entdeckt er eine tiefere Bedeutung für sein Leben. Diese zwei Frauenfiguren entsprechen den anderen beiden Formen der Schechina, die in der Kabbala die »obere« und die »untere« Schechina genannt werden. Die »obere Schechina« entspricht demnach der Mirjam. Pernaths Seelenschwängerung und Erlösung ist nur durch eine weibliche Figur möglich: »Als obere Schechina oder Bina ist sie das Weibliche als voller Ausdruck der ungebrochenen Schöpferkraft, als etwas Empfangendes zwar, das aber spontan und ununterbrochen zum Gebärenden wird, da der Strom des ewig fließenden göttlichen Lebens in es eintritt.« 75
Nicht nur diese allgemeinen Merkmale des Weiblichen sind entscheidend in der Personifizierung der oberen Schechina in Mirjam, auch Mirjams innere Werte entsprechen dieser: Sie glaubt an Wunder und weiß, dass die höhere geistige Strömung, die das Göttliche ist, über sie vermittelt werden kann, und sie verliert den Glauben daran nicht.76 Mit dieser Einstellung Mirjams ist das
73 | Scholem 1977, S. S. 184. 74 | Vgl. Patai 1978, S. 229f. 75 | Scholem 1977, S. 169. 76 | Vgl. Meyrink 1913/14, S. 173.
Elemente der (lurianischen) Kabbala und okkulte Motive
Empfangen des Göttlichen und die Hingabe an das Göttliche deutlich zu erfahren und entspricht der oberen Schechina, denn »[w]as von Bina aus- und fortströmt, war ja noch immer Gott und nichts als Gott in seiner entfaltenden Einheit; nicht so aber in der unteren Schechina: von ihr strömt die ungefilterte Kraft Gottes nur noch in sich selbst zurück, prozediert nicht weiter, und was aus ihr austritt, ist nicht mehr Gott, sondern Kreatur.« 77
Die untere Schechina wird als Angelina dargestellt, die das Bild der Verführerin und des Materiellen verkörpert, was bei Scholem als »Kreatur« bezeichnet wurde. Denn die untere Schechina entspricht der letzten Sephira; sie ist bloß eine Vermittlung der schöpferischen Gotteskraft im Irdischen, weswegen sie sich auch unterscheidet in ihrer »Herrlichkeit« von der oberen Schechina.78 In diesem Sinne können wir die zwei Frauenfiguren gegenüberstellen, denn Angelina kann blenden und verführen, aber aus kabbalistischer Sicht nichts Wertvolles in ihrer Persönlichkeit finden. Diese Täuschung erfährt Pernath: »Wie war Angelina doch so vollständig anders, als sie bisher in meiner Einbildung gelebt hatte! – Als sei sie erst heute für mich in die Gegenwart gerückt!« 79 Diese Charakteristik der oberen Schechina, die im Roman in Mirjam personifiziert wird, bekommt ihre volle Geltung in der Erlösung Pernaths, die als »heilige Hochzeit« beschrieben werden kann. Die Wiedervereinigung Gottes mit seiner Schechina ist in der Symbolik der »heiligen Hochzeit« vorhanden. Im Roman ist die Vereinigung des Männlichen und Weiblichen im Hermaphroditen symbolisiert. Er ist das, wonach Pernath strebt und das, was seine Handlungen bestimmt. Seine Vereinigung mit Mirjam ist die Erfüllung seines Lebensziels, das für ihn die Erlösung darstellt. Im ewigen Leben vereinigt erheben sich Pernath und Mirjam über das Prager Ghetto, leben fortan in einem Haus mit prächtigem Garten, an dessen Tor das Symbol des Hermaphroditen abgebildet ist: »Das Flügeltor ist der Gott selbst: ein Hermaphrodit aus zwei Hälften, die die Türe bilden: die rechte weiblich, die linke männlich.« 80 Dieses Bild ist aus dem Sohar inspiriert: »Das Weibliche erstreckt sich nach seiner eigenen Region, ehe es sich der Region des Männlichen verbindet. Nachdem es sich von seiner eigenen Region geschieden hat, kommt es sich ihm zu verbinden von Angesicht zu Angesicht. Wenn sie sich dann verbinden, erscheinen sie als ein Körper wahrhaftig. Daraus folgt, dass das Männliche allein nur als ein halber Körper erscheint und ebenso das Weibliche; erst wenn sie sich ver77 | Scholem 1977, S. 170. 78 | Vgl. Scholem 1977, S. 170. 79 | Meyrink 1913/14, S. 183. 80 | Meyrink 1913/14, S. 278.
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Elizabeta Lindner Kostadinovska binden, werden sie zur Einheit. Und wenn sie sich zur Einheit verbunden, freuen sich alle Welten, weil von einem vollkommenen Körper alle Segen empfangen.« 81
D ie W iederholung des mystischen V organgs Im letzten Kapitel des Romans erfährt der Leser, dass eine andere Person all die Ereignisse um Pernath nur geträumt hat. Die Beziehung zwischen dieser ominösen Person und Pernath ist durch einen Hut hergestellt, den er zufällig vertauscht und der ihn symbolisch Anteil an Pernaths Leben schenkt.82 Für diese Person hat der Hut eine ähnliche Funktion wie das Buch ’Ibbur für Pernath: Die Begegnung mit seinem Doppelgänger und die Vorstellung, für die Erlösung auserwählt zu sein. Als er Athanasius Pernath erblickt, stellt er fest: »Mir ist als sähe ich mich im Spiegel, so ähnlich ist sein Gesicht dem meinigen.«83 Auf diese Weise wiederholt sich nach 33 Jahren der selbe mystische Vorgang, in dem die Seelenfunken durch ’Ibbur nach ihrer Einheit streben, um eine andere Seele mit verwandten Seelenfunken zu finden. Damit bekräftigt Meyrink am Ende des Romans noch einmal die kabbalistische Bedeutung, die ihm vor allem durch die Elemente der lurianischen Kabbala und die symbolischen Verwandlungen des Golems verliehen wurden. Der vorliegende Essay, der ein erweiterter Auszug der 2005 vorgelegten Magisterarbeit an der Universität Regensburg Die Metamorphosen des Golem als mystischer Vorgang in Gustav Meyrinks Roman ›Der Golem‹ ist, hat die Deutung einiger Elemente der Kabbala in Meyrinks Roman vorgelegt. Für Meyrink und viele seiner Zeitgenossen war die Beschäftigung mit »okkulten Überlieferungen« nicht nur ein Trend, sondern eine ernstzunehmende Wissenschaft. Okkultismus, Theosophie, Anthroposophie und Esoterik befragten dabei fortwährend auch die kabbalistische Tradition, wie der Verweis auf esoterische Akteure wie etwa Papus in diesem Text belegt. In der Kabbala äußerte sich die Selbsterkenntnis des Menschen, seine Erlösung oder Erleuchtung durch die Wiedervereinigung des männlichen und des weiblichen Prinzips. Auch Meyrinks Lebensweg erscheint, genau wie der seines Protagonisten, als einer der Selbsterkenntnis. Nicht nur studierte er die Kabbala, sondern auch Theosophie, Buddhismus und Freimaurerei. Zur literarischen Darstellung eines für die abendländische Esoterik typischen Einweihungsweges wählte er in seinem Roman Der Golem die Elemente der Kabbala, unter besonderer Verwendung jener aus der lurianischen Lehre. Der Weg des Protagonisten führt durch dessen 81 | Sohar, S. 140 (Hervorhebungen im Original). 82 | Carl Gustav Jung nimmt in seinem Buch Psychologie und Alchemie (1944) Bezug auf diesen vertauschten Hut bei Meyrink. Vgl. Meyer, 1975, S. 211. 83 | Meyrink 1913/14, S. 280.
Elemente der (lurianischen) Kabbala und okkulte Motive
Golemzustand hindurch schließlich zur Erkenntnis. Als Auserwählter erfüllt er zugleich die messianische Periode von 33 Jahren, nach der zwei Menschen in göttlicher Vereinigung dem Prager Ghetto entsteigen, um ihr höchstes Ziel zu erlangen: das ewige Leben. Auf Meyrinks Grabplatte erinnert eine Inschrift an eben dieses Ziel: »VIVO – ich lebe!«
L iter atur Bischoff, Erich: Die Elemente der Kabbalah. Erster Teil. Berlin: Barsdorf, 1913. Bloch, Chajim: Der Prager Golem. Von seiner »Geburt« bis zu seinem »Tod«. Berlin: Harz, 1920. Grözinger, Karl-Erich: Jüdisches Denken. Band 2: Von der mittelalterlichen Kabbala zum Hasidismus. Frankfurt a.M.: Campus, 2005. Maier, Johann: Geschichte der jüdischen Religion. Von der Zeit Alexanders des Großen bis zur Aufklärung. Mit einem Ausblick auf das 19./20. Jahrhundert. De Gruyter: Berlin, 1972. Meyer, Sigrid: Golem. Die literarische Rezeption eines Stoffes. Bern, Frankfurt a.M.: Lang, 1975. Meyrink, Gustav: An der Grenze des Jenseits. Meister Leonhard (1923). Leipzig: Roller, 1990. Meyrink, Gustav: Der Golem (1913/14). München: Ullstein, 2003. Ogren, Brain: Renaissance and Rebirth: Reincarnation in Early Modern Italian Kabbalah. Leiden: Brill, 2009. Papus [Gérard Encausse]: Die Kabbala. Übersetzung von Julius Nestler. Leipzig: Altmann, 1910. Patai, Raphael: The Hebrew Goddess. New York: Discus Books, 1978. Rosenfeld, Beate: Die Golemsage und ihre Verwertung in der deutschen Literatur, Breslau: Priebatsch, 1934. Scholem, Gershom: Von der mystischen Gestalt der Gottheit. Studien zu Grundbegriffen der Kabbala. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1977. Scholem, Gershom: Zur Kabbala und ihrer Symbolik. Zürich: Rhein-Verlag, 1960. Sohar: Das heilige Buch der Kabbala. Nach dem Urtext herausgegeben von Ernst Müller. München: Diederichs, 1998. Stuckrad, Kocku von: Was ist Esoterik? Kleine Geschichte des geheimen Wissens. München: Beck, 2004.
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Schattenseiten, Doppelgänger Aspekte okkulter Denkfiguren in kunstpsychologischer Deutung Ute J. Krienke
Die Redewendung »Wo Licht ist, ist auch Schatten« verweist in ihrem alltäglichen Gebrauch auf zwei konträre und unvereinbare Bewertungen. Auf emotionaler Ebene werden dabei »Licht« und »Schatten« mit individuellen Erfahrungen in Verbindung gebracht, und auf kognitiver Ebene »automatisch«1 bewertet. Ohne genau auszusagen, was »Schatten« bedeutet, wird mit der Redewendung vor einer unbestimmten Gefahr gewarnt. Auf diese Weise wird nicht nur der Schatten in einen besonderen Fokus gerückt, sondern auch etwas Negatives angedeutet und gleichzeitig semantisch verschleiert. Der Schatten befindet sich in dieser Deutung der negativen Seite des bewerteten Sachverhaltes vor dem Hintergrund einer dualistischen Sicht zugeschrieben. Ähnlich dem Gebrauch von »okkult«, wird also auch »Schatten« auf kollektiver Ebene tendenziell pejorativ verwendet und wirkt durch kulturelle Tradierung wieder zurück auf individuelle »belief systems«2 . Dass Schatten auch Schutz, zum Beispiel vor UV-Strahlung und Hitze bieten kann, scheint der negativen Bewertung dabei keinen Abbruch zu tun. Die individuelle bzw. kollektive Verankerung einer solchen Bewertung kommt durch die folgenden Möglichkeiten zustande: 1. durch stetige Wiederholung einer bestimmten Erfahrung3, 2. durch eine bestimmte Erfahrung mit 1 | »Automatische Gedanken« wie sie im Sinne der Kognitiven Verhaltenstherapie verstanden werden, treten in einer konkreten Situation auf Basis von unbewussten Grundüberzeugungen unmittelbar emotionsauslösend und handlungsleitend auf, ohne der Reflexion ausreichend zugänglich zu sein. Die Reaktionen auf diese automatischen Gedanken laufen sehr schnell und ebenso unbewusst ab, sodass diese Verhaltensweisen zu Automatismen werden. Vgl. z.B. Ellis 2012, S. 24. 2 | Nach Albert Ellis sind »belief systems« abstrakte innere Konzepte, die Denken, Handeln und Fühlen bestimmen. Vgl. Ellis 2012, S. 30f. 3 | Subjektive Erfahrungen werden im Gehirn als »handlungsleitende innere Bilder in Form bestimmter Aktivierungs- und Interaktionsmuster zwischen besonders ›interak-
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hoher emotionaler Beteiligung, 3. durch die wiederholte sprachliche Mitteilung einer bestimmten Erfahrung4 und 4. durch die hochemotionale sprachliche Mitteilung einer bestimmten Erfahrung. Psychologisch betrachtet hat diese negative Bewertung weitreichende Konsequenzen, denn Menschen haben die Tendenz, zu vermeiden, was sie aus Erfahrung oder nach für sie glaubhafter Mitteilung als negativ bewerten. Bei starker emotionaler Beteiligung kann es dazu kommen, dass der Einfluss des »belief systems« derart stark ist, dass neue Informationen nicht integriert, als »Trugbild« verworfen werden, und dysfunktionales Vermeidungsverhalten weiterhin bestehen bleibt.5 Die Psychotherapie besitzt diesbezüglich ein weites Arbeitsfeld und wendet sich gerade den Konsequenzen negativer Bewertungen zu, wie sie sich in Begriffen wie »Schatten« oder »okkult« zeigen.6 Mit dem vorliegenden Beitrag soll der Versuch unternommen werden, »Schatten« als einen exemplarischen Zugang zu okkulten Denkfiguren in Psychologie und Literatur zu deuten. »Okkult« soll in diesem Kontext auf Phänomene unbewusster, verborgener und ›schattenhafter‹ Provenienz verweisen. Insbesondere werden dabei auch die intertextuellen Ähnlichkeiten zwischen psychologiegeschichtlichen und literarischen Quellen interessieren. Kunst, Literatur und Psychologie haben sich in der Geschichte seit der Romantik immer wieder gegenseitig inspiriert; vor allem Literatur und Psychologie der Moderne
tionsfreudigen‹ Zellen« als neuronale »Verschaltungsmuster« generiert, abgespeichert und »zur Aufrechterhaltung der inneren Ordnung des Gesamtsystems« genutzt sowie »zur Bewältigung neuer Probleme und Herausforderungen« eingesetzt. Vgl. Hüther 2009, S. 36. 4 | Die subjektiven Erfahrungen werden über sprachlichen Austausch mit den Erfahrungen anderer vermischt, gehen so als kulturell tradierte, kollektive Bewertungen in das »kollektive Gedächtnis« ein und können zu Werkzeugen der Gestaltung äußerer Welt (Weltbilder) sowie eigener Entwicklungsbedingungen (Menschenbilder) werden. Vgl. Hüther 2009, S. 37. 5 | Vgl. Hüther 2009, S. 77. Dem dysfunktionalen Verhalten liegen nach Ellis »irrational ideas« bzw. »irrational beliefs« zugrunde. Vgl. Ellis 2012, S. 30f. Nach Aaron T. Beck kommt es aufgrund »(halbbewusster, automatisierter) verzerrter Informationsauswahl« zu »kognitiven Störungen« wie »willkürliche Schlussfolgerungen, überstarkes Generalisieren, Bedeutungsübertreibungen«. Beck zitiert nach Jaeggi 1999, S. 358. 6 | Dies gilt insbesondere für Formen der Kognitiven Verhaltenstherapie. Die RationalEmotive Verhaltenstherapie nach Albert Ellis und die Akzeptanz- und Commitment-Therapie nach Steven Hayes betonen gleichsam die Selbstakzeptanz, die Akzeptanz anderer und des Lebens. Vgl. Ellis 2012, S. 132. Für einen umfassenden Überblick vgl. Krienke 2018.
Schattenseiten, Doppelgänger
wären ohne gegenseitige Befruchtung nicht denkbar.7 Sehr eindrücklich zeigt sich das schon weit vor Freuds Psychoanalyse in Peter Schlemihls wundersame Geschichte (1813), in der Adelbert von Chamisso (1781-1838) den physikalischen Schatten seines Protagonisten Peter Schlemihl mit dessen Seele parallelisiert, um den inneren Konflikt mit unliebsamen Eigenschaften, verborgenen Wünschen und Leidenschaften zu symbolisieren. In der Psychologiegeschichte taucht das Thema dann später vor allem beim Freud-Schüler Carl Gustav Jung (1875-1961) auf, der ein spezielles »Schatten«-Konzept entwickelte. In seiner Analytischen Psychologie erscheint der Schatten sowohl in einer kollektiven als auch in einer individuellen Dimension. Der Schatten eines Menschen wird dabei als »zweites Ich« oder gelegentlich auch als »Doppelgänger« verstanden, der einem jenseitigen Ort entstammt und mit Finsternis assoziiert wird. Dem Gegenteil von Schatten, »Licht«, weist Jung das Persönlichkeitskonzept der »Persona« zu. Die Persona lässt sich wiederum als Maske verstehen, durch die sich unliebsame Eigenschaften der Persönlichkeit verbergen lassen.8 Um die soziale Dimension dieses Verbergens durch die Maske anzusprechen, bietet sich mit Eric Berne der Vergleich der Persona mit sozialen Rollen an.9 Ungeachtet dessen, wie gut das Verbergen durch die Maske im sozialen Gefüge gelingt, können dann doch auch verborgene Eigenschaften zum Beispiel aus Unachtsamkeit oder durch emotionalen Druck zu Tage treten. In einem solchen Fall empfinden die Betroffenen oft Scham und Angst, die sie motivieren, die Persona unbedingt wieder herzustellen und eilig die »Schat-
7 | Freuds Entwicklung der Psychoanalyse als Methode der Psychotherapie verdankt sich nicht zuletzt seiner Liebe zur Literatur, denn sie war für Freud »eine primäre Quelle der Inspiration und seiner geistigen Kreativität und Produktivität«, da sie »kraft ihrer größeren Nähe zum Unbewußten an psychische Schichten rührt, welche dem rationalen Diskurs der Wissenschaft unzugänglich bleiben müssen«. Siehe Lohmann 1998, S. 129. 8 | Der deutlichste Ausdruck dieses Verbergens hinter einer »freundlichen« Maske ist die Maskerade des Clowns, der seit dem 16. Jahrhundert als närrischer Pausenfüller oder Störenfried bei Bühnenstücken auftauchte; einer Zeit, in der die berühmten Figuren Harlekin, Pierrot und Pulcinella eine besondere Symbolik in der Kunst besaßen und eine Ambivalenz zwischen dem fröhlichen Abbild der Maske und dem Verborgenen dahinter – listig, tückisch, bedrohlich oder melancholisch – bedeuteten. In der Commedia dell’arte, die ab 1570 fast überall in Europa erfolgreich war, diente das »Schauspiel der Masken […] von Anbeginn als Zerrspiegel schwervereinbarer, notgedrungen koexistierender Bräuche, Regionen, Generationen und Geschlechter, der Ober- wie der Unterschicht, der Städte und des Landes«. Siehe Kellein 1995, S. 10-15. In der Literatur wird dieses Thema etwa auch in Henry Millers Das Lächeln am Fuße der Leiter (1948) deutlich. 9 | Vgl. Berne 2013, S. 64.
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tenseiten« erneut zu verbergen.10 Je stärker die Identifikation mit der jeweiligen Rolle ist, desto unbedingter ist auch ihre »Verteidigung«, und folglich stärker die Abwehr schattenhafter Impulse.
I n den S chat ten gestellt : J ungs und K asts »S chat ten «-K onzep t Basierend auf Jungs Ausführungen, in den »Schattenseiten« der menschlichen Psyche nicht nur Negatives zu sehen, konzipierte Verena Kast einen psychotherapeutischen »Schatten«-Ansatz.11 Sie wendet sich dabei explizit »unangenehmen« Emotionen (insbesondere Ärger und Eifersucht) sowie allgemein »Schattenseiten« zu, um letztlich im sozialen Gefüge funktionalere Gestaltungs- und damit Handlungsoptionen zu ermöglichen. Kasts Ansatz fokussiert den Effekt von Maskierung und »Verschattung« auch im Kontext sozialer Beziehungen. Dies geschieht nach psychoanalytischer Auffassung durch unbewusst ablaufende, psychische Abwehrmechanismen, wie z.B. Projektion. Hiernach wird die Wahrnehmung unbewusster Schattenseiten abgewehrt und meist auf eine andere Person projiziert. Kast formuliert diesen Sachverhalt wie folgt: »Da der eigene unbekannte Schatten immer auch unheimlich ist, verwandelt die Projektion des Schattens die Umwelt in unser eigenes unbekanntes, unheimliches Gesicht.«12
Jung setzte sein »Schatten«-Konzept erstmals in Wandlungen und Symbole der Libido (1912) auseinander. Darin befasste er sich mit dem »Schattenbruder« aus E. T. A. Hoffmanns Elixieren des Teufels (1815/16). Wie Freud ließ sich also auch Jung von literarischen oder künstlerischen Darstellungen von Schattengeschwistern oder unheimlichen Doppelgängern inspirieren.13 Bereits Sigmund Freud verwendete nämlich »Schatten« im Zusammenhang mit dem Prozess der Introjektion14, bei dem »Aspekte einer Person oder eines Objekts in das 10 | Vgl. Kast 2010, S. 10. 11 | Vgl. Kast 2010 sowie Kast 1998. Um die Bedeutung von Jungs »Schatten«-Konzept auch im Rahmen aktueller psychotherapeutischer Anwendung zu verstehen, bietet Kasts Arbeit eine zentrale Grundlage, wenn auch einige ihrer Deutungen unter aktuellen sozialpsychologischen und genderwissenschaftlichen Aspekten kritisch zu hinterfragen sind. 12 | Kast 2010, S. 31. Dies hat nach Kast schwerwiegende Folgen, da eine konstruktive Auseinandersetzung mit den Problemen dann nicht mehr möglich sei und stattdessen ein Zirkel aus Angst und Aggression einsetze. Vgl. ebd. 13 | Vgl. diesbezüglich auch Rank 1925. 14 | Vgl. Freud 1921.
Schattenseiten, Doppelgänger
eigene Selbst aufgenommen werden«, und es so »zur Konstituierung und Differenzierung einer inneren Welt sowie zur Umformung des Ichs«15 kommt. An anderer Stelle schreibt Freud diesbezüglich: »Der Schatten des Objekts fiel so auf das Ich, welches nun von einer besonderen Instanz wie ein Objekt, wie das verlassene Objekt, beurteilt werden konnte.«16
In dieser Aussage lässt sich eine typische Psychodynamik von sogenannten »Täter-Introjekten« wiedererkennen und weist besonders auf eine oft starke Tendenz zur Selbstabwertung und Selbstbestrafung bei Personen, die dies in früher Kindheit oder auch im Erwachsenenalter über längere Zeit von anderen erdulden mussten, hin.17 Die Verwendung des Schatten-Begriffs zur Beschreibung dieser intrapsychisch negativ wirksamen Introjektionen liegt vor dem Hintergrund der literarischen Inspirationsquellen Freuds nahe. Jung kritisierte an seinem Lehrer Freud, dass dieser die Schattenseiten derart minutiös erforschte, sodass er glaubte, sie damit vollständig erklären zu können. Jung wandte ein, dass man den Menschen aber nicht nur von der Schattenseite ausgehend erklären könne.18 Seine Sichtweise geht damit über die medizinischpsychoanalytisch defizitäre Betrachtungsweise hinaus und lässt sich dagegen ressourcenorientiert deuten. Bei grundsätzlicher (oder psychotherapeutisch unterstützer) Offenheit gegenüber den eigenen Schattenseiten können die vor der eigenen Wahrnehmung bisher verborgenen Verhaltensweisen im Spiegel der entgegengebrachten Reaktionen sichtbar und damit bewusst gemacht werden. Dann erst besteht die Chance, die eigenen »blinden Flecken« zu erkennen, zu akzeptieren und auf dieser Basis zu verändern.19 Folgt man Jungs Persönlichkeitskonzept, bleiben Teile des Schattens der Person selbst immer verborgen.20 Dies geht mit der Vorstellung einher, dass das Selbst nie vollständig erkannt werden kann. Rolf Breuer macht diese Eigenschaft des Schattens in seinem Aufsatz über Samuel Becketts Romantrilogie deutlich:
15 | Chodorow 2001, S. 19. 16 | Freud 1916/17, S. 341. 17 | An dieser Stelle wird verzichtet, auf die Psychotraumatologie dezidiert einzugehen, da diese nicht Gegenstand der vorliegenden Arbeit ist. Das Beispiel wurde verwendet, da der Prozess der Introjektion in dieser Disziplin häufig beschrieben wird. 18 | Jung paraphrasiert nach Kast 2010, S. 10. 19 | Die Akzeptanz bezieht sich auf die Annahme der Existenz dessen, was verändert werden soll, um es begreifbar, handhabbar und veränderbar zu machen, und ist nicht zu verwechseln mit »Hinnehmen« oder »Gutheißen«, wie es leider oft in Therapien missverstanden wird und entsprechend starke Widerstände erzeugt. 20 | Vgl. Kast 2010, S. 9.
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Ute J. Krienke »Selbsterkenntnis […] ist als absolute und vollständige unmöglich, weil ja das Mehrvon-sich-Wissen gleichzeitig das, wovon man mehr wissen will, erweitert, und zwar in genau dem Maße, in dem das Ich mehr über sich selbst entdeckt.« 21
Der psychologischen Forschung sowie verschiedenen Formen der Kognitiven Verhaltenstherapie dient eine konstruktivistische Grundhaltung für die Analyse und den Abbau dysfunktionaler Verhaltensweisen. Dafür ist ein gewisses Erkenntnisvermögen nötig, das auf der Fähigkeit beruht, von emotionalen Erfahrungen zu abstrahieren. Dann können Emotionen als »wirksame Sensoren« für das Denken und damit auch für Erkenntnisse aus dem Unbewussten dienen, die dann in das gesamte System aus Erfahrungen und Vorstellungen integriert werden und neue Handlungsmöglichkeiten bieten können.22 Der Schritt ›aus sich selbst heraus‹ und der Perspektivwechsel 23 sind psychisch äußerst schwierig; besonders bei psychischer Belastung erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass Schattenseiten sichtbar werden. Vor dem Hintergrund von Jungs Ausführungen kann der Einfluss negativer Emotionen als etwas Erschreckendes, Fremdes, als etwas Okkultes wahrgenommen werden, unter dessen ›Bann‹ man dann möglicherweise steht.24 Eine Möglichkeit, sich diesen negativen Emotionen nicht auszusetzen, bietet die psychische Abwehr mittels der bereits beschriebenen Projektion. Der Schatten wird dann als weniger ›okkult‹ wahrgenommen, indem eine unangenehme, vielleicht auch gefährliche Eigenschaft einer anderen Person identifiziert wird, die dann weniger bedrohlich erscheint als ein ›unheimliches namenloses Etwas‹. Das heißt aber nicht, dass dies weniger konfliktreich wäre. Im Gegenteil, durch Projektionen, gegen die sich die andere Person meist heftig wehrt, werden Konflikte oft ausgelöst oder verstärkt.
21 | Breuer 1981, S. 155. Breuer bezieht sich hier auf Heinz von Foersters konstruktivistischen Ansatz und auf die Annahme, dass es keine Objekte ohne Betrachter, also auch keine objektive Erkenntnis gibt, da der Betrachter selbst Teil des betrachteten Gegenstandes ist. Vgl. Foerster 1973, S. 40. 22 | Vgl. Greenspan 1999, S. 46ff. 23 | Die Wahrnehmung von Inkongruenz (zwischen subjektiver Erfahrung und Selbstbild) im Sinne Carl Rogers’ ist eine wichtige Grundvoraussetzung für die Veränderung von Einstellungen und Verhaltensweisen. Dabei kommt es nach Rogers zur Bedrohung des (bestehenden) Selbstkonzeptes durch die zu integrierenden neuen Informationen. Vgl. z.B. Linster 1999, S. 244. 24 | Eine Parallelisierung von »Unbewusstem« und »Übersinnlichem« nehmen Böhm et al. vor. Sie belegen die meditative Versenkung des Analysanden in der Psychoanalyse und die Annahme eines unbewussten Selbst aus der okkultistisch interpretierten Experimentalpsychologie des 19. Jahrhunderts. Vgl. Böhm et al. 2009, S. 36.
Schattenseiten, Doppelgänger
Eine weitere Form der Schattenabwehr ist neben der Projektion das »Delegieren des Schattens«25, wodurch Personen im sozialen Umfeld dazu gebracht werden, die Schattenseiten des Delegierenden zu zeigen. So können sich zum Beispiel bei missbilligter und verborgener Wut die Teilnehmenden einer Gemeinschaft selbst als friedfertig empfinden, weil ein »Sündenbock«26 stellvertretend ihre Wut ausagiert. Darüber hinaus kann ein bewusster Versuch der Schattenabwehr zu einer gegenteiligen Wirkung führen, wenn in der Kommunikation eine Doppelbotschaft insofern erzeugt wird, dass bei gegenteiliger verbaler Aussage der unbewusste Körperausdruck den Schatten zeigt. Eine extreme Form hiervon ist als psychische Abspaltung des Schattens bekannt, die Otto Rank (1884-1939) in einer Studie aus dem Jahr 1925 anhand zahlreicher literarischer Bespiele einen (psychischen) Doppelgänger nannte. Er versuchte, den Abspaltungsprozess durch starke Schuldgefühle zu erklären.27 Ab einem gewissen Grad könne das Ich die Verantwortung für das von ihm selbst verurteilte Handeln nicht mehr übernehmen und es kann zur Abspaltung des entsprechenden Persönlichkeitsanteils kommen. Da dieses Handeln nicht mehr als zur eigenen Person dazugehörig empfunden wird, wird das Handeln des Doppelgänger-Ichs vergessen, wodurch die Person mit ihren Aussagen und Handlungen für andere Menschen unberechenbar erscheint. Wurden auf diese Weise Aggression und destruktive Anteile abgespalten, kann sich die Person bedroht fühlen. Der Schatten wird nun als von Außen kommend wahrgenommen, das Selbst aber wird idealisiert. Ein Doppelleben entsteht.
D arstellung des S chat tens in der L iter atur : F lucht und Tr ansformation Das Thema des Schattens zeigt sich bereits in der Literatur des 19. Jahrhunderts, etwa in Die Reiseschatten. Von dem Schattenspieler Luchs (1811) von Justinus Kerner, in den Elixieren des Teufels (1815) von E. T. A. Hoffmann, in Die Brüder Karamasow (1880)28 von Fjodor Dostojewski, in Dr. Jekyll und Mr. Hyde 25 | Kast 2010, S. 33. 26 | Der kritischen Auseinandersetzung mit dem »Sündenbock«-Thema wurde in der Psychoanalyse und insbesondere in der Psychoanalytischen Gruppendynamik besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Vgl. z.B. Ammon 1979, S. 171. 27 | Vgl. Rank 1925. Kast hält bei diesem Prozess auch Schamgefühle für relevant. Vgl. Kast 2010, S. 33. 28 | Otto Rank zitiert Dostojewskis Die Brüder Karamasow in seiner psychoanalytischen Studie: »Du bist die Verkörperung meiner selbst, übrigens nur einer Seite von mir, […] meiner Gedanken und Gefühle, aber nur der allerscheußlichsten und dümmsten. […]
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(1886)29 von Robert Luis Stevenson und im bereits erwähnten Kunstmärchen Peter Schlemihls wundersame Geschichte (1813) von Adelbert von Chamisso.30 Nach einer »sehr beschwerlichen Seefahrt«31 lernt Peter Schlemihl in Flensburg den reichen Kaufmann Thomas John kennen, in dessen Garten er einem geheimnisvollen grauen Herrn begegnet, der ihm im Tausch gegen seinen Schatten einen nie versiegenden Sack Gold verspricht. Schlemihl willigt in den Handel ein, merkt aber bald, dass er ohne Schatten in der Flensburger Gesellschaft nicht mehr akzeptiert ist, verliert seine Geliebte an einen Rivalen, die er ohne Schatten nicht heiraten darf. Er fordert also vom grauen Herrn seinen Schatten zurück, der stattdessen aber Schlemihls Seele verlangt und sich so als Teufel offenbart. Als Anreiz erhält Schlemihl seinen Schatten leihweise »vom Feinde« zurück, wenn er seine Anwesenheit währenddessen duldet: »Ich will Ihnen Ihren Schatten auf die Zeit unserer Gesellschaft leihen, und Sie dulden mich dafür in Ihrer Nähe; […] Ich will Ihnen gute Dienste leisten. Sie lieben mich nicht, das ist mir leid. Sie können mich darum doch benutzen. Der Teufel ist nicht so schwarz, als man ihn malt.« 32
Der Teufel will ihm damit zeigen, welch hohes gesellschaftliches Ansehen ihm der Schatten verleiht; Schlemihl willigt widerwillig und gierig zugleich ein. Der innere Konflikt zwischen »Verführung« und »strengem Willen« treibt ihn zum Kampf; er setzt sich gegen den Teufel zur Wehr. Der Versuch, seinen »geborgten« Schatten zu entführen, scheitert und er muss erkennen, dass er dem Teufel nicht entkommen kann, der ihn am Schatten festhält.33 Er bestaunt die Ehrfurcht, die seinem Schatten und seinem Reichtum entgegengebracht wird und macht sich so vom Teufel abhängig.34 Hier wird das Ringen um den Erhalt des hohen (moralisch-gesellschaftlichen) Anspruchs an sich selbst, und damit auch um die Aufrechterhaltung Du bist ich selbst, nur mit einer anderen Fratze, du sprichst gerade das, was ich denke«. Siehe Rank 1925, S. 19. 29 | Die Schilderung des Spaltungsmechanismus ist bei dieser Geschichte besonders eindrücklich. Vgl. Kraft 2008b, S. 29. 30 | Eine Form, die sich im Kontext der sogenannten Schauerromantik entwickelte, war das Kunstmärchen, mit dem der Versuch angestellt wurde, die als »okkult« gedeuteten Motive der Märchen, Sagen und Mythen wieder aufleben zu lassen. Vgl. Apel 1987. 31 | Chamisso 1813, S. 17. 32 | Chamisso 1813, S. 62f. 33 | Der Teufel hält ihm bei der Gelegenheit den Spiegel vor: »ich finde es ganz natürlich, daß Sie alle Ihre Vorteile, List und Gewalt geltend zu machen suchen«. Siehe Chamisso 1813, S. 65. 34 | Vgl. Chamisso 1813, S. 64.
Schattenseiten, Doppelgänger
des Idealbildes von sich selbst deutlich, was gerade durch das Bangen um den eigenen Schatten erschwert wird.35 So werden sowohl Jungs Persona- und Schatten-Konzepte als auch die eingangs beschriebenen kognitiven Theorien anschlussfähig. Der Teufel konstatiert schließlich: »daß Sie übrigens die allerstrengsten Grundsätze haben und wie die Ehrlichkeit selbst denken, ist eine Liebhaberei, […] – Ich denke in der Tat nicht so streng als Sie; ich handle bloß, wie Sie denken.«
Die »strengen Grundsätze« lassen sich nach Jung der Persona oder nach Ellis den »irrational beliefs« (da die Grundsätze hier nicht umsetzbar sind) zuordnen. Der Teufel wird zum Ausagierenden der Schattenseiten Schlemihls. So könnte der Teufel, vor allem aber dessen Handeln, als Schattenprojektion Schlemihls interpretiert werden. Schlemihl sitzt verzweifelt vor einer Höhle im Gebirge, in die er sich bei erneutem Verlust seines Schattens zurückziehen könnte. Seine Entscheidung steht fest: »nachdem ich meine Liebe hingeopfert, nachdem mir das Leben verblaßt war, wollt’ ich meine Seele nicht, sei es um alle Schatten der Welt, dieser Kreatur verschreiben.« 36
Nachdem er also auf seinen Schatten verzichtet und damit gehofft hatte, den lästigen Teufel loszuwerden, ermahnt dieser ihn, dass er und Schlemihl über das »Goldsäckchen« stets verbunden seien. Als Schlemihl sich nun beunruhigt nach dem Befinden des Herrn John erkundigt, zieht der Teufel dessen Leichnam aus der Hosentasche. Entsetzt wirft Schlemihl das Säckchen in den Abgrund und beschwört den Teufel »im Namen Gottes« sich nicht wieder vor ihm sehen zu lassen, worauf der Teufel verschwindet.37 Schlemihl ist erleichtert und träumt in der Nacht von den Menschen, die ihm nahe stehen, von Freunden und seiner Geliebten, von Liedern und Freude. Und alle waren ohne Schatten. Doch aus den nur noch seltenen Begegnungen mit Menschen muss er die Erkenntnis ziehen, dass sie ihn ohne Geld und Schatten meiden. Daraufhin geht er »traurigen Herzens«38 immer tiefer in die Wälder und findet neuen Lebenssinn im Studium der Natur. »Durch frühe Schuld von der menschlichen Gesellschaft ausgeschlossen, ward ich zum Ersatz an die Natur, die ich stets geliebt, gewiesen, die Erde mir zu einem reichen 35 | Freud nannte das Vorbild und ideale Selbstbild, das eine Person von sich selbst entwirft, »Ich-Ideal«. Vgl. Häcker 2004, S. 428. 36 | Beide Zitate Chamisso 1813, S. 65, 64. 37 | Vgl. Chamisso 1813, S. 66f. 38 | Chamisso 1813, S. 69.
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Ute J. Krienke Garten gegeben, das Studium zur Richtung und Kraft meines Lebens, zu ihrem Ziel die Wissenschaft.«
Im weiteren Wortlaut dieses Zitates beschreibt Chamisso einen okkult anmutenden Prozess, den die Psychologen und Psychiater folgender Generationen unter verschiedenen Gesichtspunkten untersucht und beschrieben haben: »Es war nicht ein Entschluß, den ich faßte. Ich habe nur seitdem, was da hell und vollendet im Urbild vor mein inneres Auge trat, getreu mit stillem, strengem, unausgesetztem Fleiß darzustellen gesucht, und meine Selbstzufriedenheit hat von dem Zusammenfallen des Dargestellten mit dem Urbild abgehangen.« 39
Schlemihl folgt (halbbewusst) einer vagen Vorstellung, einer Idee. Jegliches Tun, dass diese Idee bestätigt, stärkt seine Selbstzufriedenheit, was wiederum das Bild der Vorstellung verfestig und das Streben zur Idee hin so lange verstärkt40, bis diese scheinbar erreicht wird. Er muss dann feststellen, dass trotz des umfassenden Forschens seine Erkenntnis nur fragmentarisch bleiben kann. Er lebt fortan »als privatisierender Gelehrter«. Um sich besser zu fühlen, raucht er Tabak und wird von einem »treuen Pudel« begleitet, der ihn »doch menschlich empfinden ließ«41. Das Märchen endet hier noch nicht. Bei einer Wanderung in den »eisigen Norden« muss Schlemihl vor einem Eisbären fliehen, stürzt ins Meer und verliert das Bewusstsein. Schwer erkrankt findet er sich schließlich in einem Hospital (»Schlemihlium«) wieder, das sein treuer Diener Bendel mit Schlemihls Vermögen in seinem Namen gegründet hat. Nach seiner Genesung kehrt Schlemihl nach Hause zurück, wo er von seinem Pudel freudig empfangen wird und alles »in alter Ordnung«42 vorfindet. Im Kunstmärchen über Peter Schlemihl und seinen Schatten zeigt Chamisso durch die Parallelisierung des Schattens mit der Seele, dass die schattenhaften Persönlichkeitsanteile sowohl zur individuellen als auch zur sozialen Konstitution einer Person gehören. Mit Vorgriff auf Goethes Faust (1829) könnte der Pudel, der als Mephisto auch Faust erscheint, für den (verwandel39 | Beide Zitate Chamisso 1813, S. 71. 40 | Diese »Verstärkung« ist hier je nach Betrachtungsgegenstand im Sinne der »Operanten Konditionierung« (Skinner zitiert nach Häcker 2004, S. 664) bzw. des »Instrumentellen Lernens« (Thorndike zitiert nach Häcker 2004, S. 546) zu verstehen, da die Selbstzufriedenheit – meist begleitet von angenehmen Gefühlen –, handlungsleitend für Schlemihl geworden ist und die angenehmen Gefühle damit als »Verstärker« für sein beharrliches Streben zur Zielerreichung dienen. 41 | Chamisso 1813, S. 74f. 42 | Chamisso 1813, S. 78.
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ten) Schatten Schlemihls stehen. Dann wäre aus der Negativ-Projektion des Schattens eine positive Projektion geworden. Und doch bleibt für die Auseinandersetzung mit den Schattenseiten am Ende allein die Kontemplation, der Rückzug vom Sozialen. Möchte man diesen Rückzug vermeiden, muss der Schatten als etwas Nicht-Veräußerbares akzeptiert werden. Dies fasst Chamisso wie folgt zusammen: »Du aber, mein Freund, willst du unter den Menschen leben, so lerne verehren zuvörderst den Schatten, sodann das Geld. Willst du nur dir und deinem bessern Selbst leben, oh so brauchst du keinen Rat.« 43
Das Motiv einer Flucht in die Kontemplation findet sich auch in Eduard von Hartmanns (1842-1906) Philosophie des Unbewußten (1869). Um den »Plackereien des wachen Lebens« einigermaßen begegnen zu können, empfiehlt Hartmann eine Form der ästhetischen Kontemplation, die durch »Kunstgenuß«44 erreicht werden soll. Am Ende des 19. Jahrhunderts wird sich der allein auf Kontemplation und sozialen Rückzug zielende Umgang mit dem Schatten aber grundlegend ändern. Nun kommt es zu extremeren Darstellungen der Schattenseiten, wie Mord und Vergewaltigung; jetzt tauchen auch deutlicher Doppelgänger-Motive auf. In Dr. Jekyll und Mr. Hyde etwa wird dem freundlichen und in der ›feinen‹ Gesellschaft angesehenen Dr. Jekyll der nächtlich agierende Mörder Mr. Hyde zur Seite gestellt.45 Die in der Literatur dargestellten Schattenseiten korrespondieren im Übergang des 19. zum 20. Jahrhundert mit den einschneidenden politisch-historischen Ereignissen. Den Schriftstellern der Zeit ging es sowohl um Emotionsausdruck als auch um die Flucht in Extreme, in literarische ›Alpträume‹, die denen der unfassbaren Realität gegenübergestellt wurden.46 Das Unfassbare zeigte sich aber nicht nur in Gestalt der Weltkriege oder des europäischen Faschismus, sondern auch in Form technologischen Fortschritts, der bereits ab der Mitte des 19. Jahrhunderts unaufhaltsam eingesetzt hatte. Dieser Welt literarisch gerecht zu werden, wurde zur zentralen Motivation der Moderne. Jetzt gilt es, dem Schatten direkt zu begegnen, der nicht mehr hinreichend hinter der Maske des 19. Jahrhunderts verborgen werden kann. Der Versuch, ein posi-
43 | Chamisso 1813, S. 78f. 44 | Hartmann 1869, S. 344. Zur Rolle Hartmanns in der sogenannten Animismus-Spiritismus-Kontroverse mit Alexander Aksakow (1832-1903) vgl. die Einleitung von Alexander Graeff in diesem Band. 45 | Vgl. Kast 2010, S. 33. 46 | Vgl. Bollenbeck 1999, S. 34ff.
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tives Selbstbild aufrecht zu erhalten, stürzt jene, die bereit sind, sich mit dem Schatten zu konfrontieren, in ausweglose Krisen.47 Ein Beispiel für diese These ist der Maler und Zeichner Alfred Kubin (18771959).48 Als Reaktion auf eine Schaffenskrise als bildender Künstler schuf er 1908 in nur 12 Wochen seinen einzigen Roman Die andere Seite (1909), in dem er seine persönlichen Konflikte literarisch austrägt.49 Kubin lässt seinen Protagonisten, einen Zeichner, in ein Traumreich reisen, das seine Schattenseiten symbolisiert.50 Er projiziert seine Ängste und Wünsche in dieses schattenhafte Traumreich. Dass Kubin in seiner Kunst, Literatur wie Illustration, seine eigene psychische Verfasstheit thematisiert hat, wird im Briefwechsel mit Hermann Hesse (1877-1962) deutlich, den beide Künstler zwischen 1928 und 1952 führten. Offenbar schien Kubin jeden Verlust, jede Enttäuschung, jede Krise durch einen neuen literarischen bzw. künstlerischen Produktionsschub auszubalancieren, statt angesichts der ihn ängstigenden Welt zu resignieren. So schreibt er 1940 an Hesse: »Anlass zur Klage ist immer da. Aber diese schlimme gehemmte Zeit brachte mir auch die fruchtbarste Schaffensperiode seit manchem Jahr. Wie ich Ihnen im vorigen Spätherbst schon einmal geschrieben habe, fand ich in meinem Suchen nach Ausdruck mein Glasperlenspiel […] – langsam, stellt sich dann doch öfters der alte Schwung ein – vor allem ein Vergessen der heutigen Zeit mit ihrem so elenden Inhalt – hilft mir aber wieder hinweg über viel, das meinem Schädel unfaßbar erscheint. Ja, dieser alte Schädel, der viele Gedächtnislücken völlig überraschend aufweist, ganz grotesk gegen seine exakte 47 | Susan Sontag bezeichnete diese Ambivalenz der modernen Kunst als »Schocktherapie […], durch die unsere Sinne verwirrt und gleichzeitig geöffnet werden.« Siehe Sontag 1965, S. 352. 48 | Kubin war einer der bedeutendsten Illustratoren des 20. Jahrhunderts. Er wurde 1909 von Wassily Kandinsky für die Neue Künstlervereinigung München (N.K.V.M.) gewonnen und war Gründungsmitglied der Gruppe Der Blaue Reiter. Er zeichnete freie Bilderfolgen mit Titeln wie Am Rande des Lebens, Die verschiedenen Ebenen, Masken, Rauhnacht, Dämonen und Nachtgesichte oder Schemen und erhielt Illustrationsaufträge von E. T. A. Hoffmann, Edgar Allan Poe, Annette von Droste-Hülshoff, Nikolai Gogol, Thomas Hardy und Franz Kafka, in welchen er seine eigenen Schattenseiten mit denen der Textvorlagen verband. Vgl. Michels 2008, S. 320ff. Für die Märchen aus dem Unbewußten von Oskar A. H. Schmitz schrieb C. G. Jung ein Vorwort. Kubin besorgte die Illustrationen zum Buch. Vgl. Schmitz 1932. 49 | »Die Angst war Kubins Produktionsmittel, unverzichtbar bis zuletzt. Noch kurz vor seinem Tod soll er dem Arzt, der ihn über sein Befinden beruhigen wollte, gesagt haben: ›Nehmen Sie mir meine Angst nicht, sie ist mein einziges Kapital.‹« Siehe Michels 2008, S 324. 50 | Vgl. Kubin 1909, S. 11.
Schattenseiten, Doppelgänger Arbeit von früher. Nehme ich alles in allem – so ist es mir doch jetzt lieber wie früher – das Getriebene des Jüngeren wich einer ruhigen Besonnenheit – […].« 51
Hesse bestätigt ihn wie folgt: »Je mehr der Mensch in der Hölle lebt, desto nötiger braucht er eine Melodie, einen Vers, ein Bild, eine Erinnerung an alles, was im Moment vernichtet scheint und es doch nicht ist.« 52
Die therapeutische Funktion des Malens hatte Hesse ab 1916 im Rahmen seiner eigenen Psychoanalyse erfahren, für die er sich nach dem Tod seines Vaters entschied. Für ihn ist im Gegensatz zu Kubin die Malerei jedoch kein »Austragungsfeld von Problemen und Konflikten«53. Während Kubin sich durch die literarische Gestaltung bedrohlicher Erinnerungen von diesen zu befreien suchte, erachtete Hesse den Protest gegen das Vergessen von Vergänglichkeit und Tod als eine der wichtigsten Aufgaben des Dichters.54 1942 beschrieb Hesse den Entstehungsprozess zahlreicher Gedichte in einem weiteren Brief an Kubin so: »In Ihren Zeichnungen liebe ich nicht nur die dichtende Seele und die lebendige, nie zur Bravour gewordene Meisterschaft des Künstlers, ich empfinde sie außerdem oft als mir nah verwandt. Ähnlich wie viele meiner Gedichte entstanden sind: meist in schlafloser Nacht, wie die Vertiefung eines Knaben in sein Spiel, zugleich voll Gefühl der Schwäche, Hinfälligkeit, Trostbedürftigkeit und eines stillen inneren Glückes – so ähnlich denke ich mir, wenn es auch nicht im Bett und des Nachts ist, die Geburt vieler Ihrer Blätter. Es wird da aus dem Besessen- oder Bezaubertsein von einem Inhalt, einem Bild und einem Eingesponnensein in das Gewebe der Linien und Strichlagen etwas erzeugt, was man so nicht wollen und beabsichtigen kann, ein Spiel so ernst, wie nur echtes Spiel sein kann, und ein Ernst so spielerisch, daß die Schwere verschwindet und ein Schweben entsteht wie bei einer Seifenblase.« 55
Ein weiterer Dichter, der sich explizit dem Schatten zuwandte, war Gustav Meyrink (1868-1932). In seinem Essay An der Grenze des Jenseits (1923) spricht sich Meyrink für einen Okkultismus aus, der für ihn nicht nur in seinen belle51 | Kubin zitiert nach Michels 2008, S. 231. Hervorhebungen durch Michels. Mit »mein Glasperlenspiel« spielt Kubin auf sein Publikationsprojekt Abenteuer einer Zeichenfeder (1941) an. Vgl. Michels 2008, S. 232. 52 | Hesse zitiert nach Michels 2008, S. 331. 53 | Michels 2008, S. 329. 54 | Vgl. Michels 2008, S. 324. 55 | Hesse zitiert nach Michels 2008, S. 261.
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tristischen Arbeiten von großer Bedeutung war, sondern auch ein dezidiertes Forschungsfeld der oft tabuisierten individuellen und kollektiven Schattenseiten darstellte.56 Er kritisierte zudem ein einseitiges Weltverständnis, das nur die wissenschaftlichen Errungenschaften in den Vordergrund stelle, aber jene Phänomene, die gemeinhin als »okkult« bezeichnet werden, verneine.57 Als Gegenentwurf zum rein mechanistischen Weltbild führt er, wie die Okkultisten seiner Zeit auch, den Arzt und Alchemisten Paracelsus (1493-1541) an. Meyrink zitiert ihn in seinem Essay ohne jegliche Quellenangabe, aber in verblüffender Übereinstimmung mit Carl Kiesewetters (1854-1895) Ausführungen über Paracelsus. Sehr wahrscheinlich ist, dass Meyrink Kiesewetters Geschichte des neueren Occultismus (1891) gelesen hatte und so auf Paracelsus gestoßen war. Kiesewetter deutet Paracelsus’ Vorstellung vom Menschen als dreifaches Wesen: seinem Elementleibe nach sei er ein materielles, seinem Geiste nach ein ätherhaftes und seiner Seele nach ein göttliches. Meyrink zitiert dies auch und fährt fort: »der Geist ist der Herr, die Imagination das Werkzeug und der Körper der bildsame Stoff.«58 Interessant für die psychologische Deutung im Hinblick auf innerpsychische sowie künstlerische Prozesse ist das aktive Moment der Imagination. Die psychische Aktivität des Imaginierens stellt an sich bereits einen schöpferischen Prozess dar, der eine ähnlich therapeutische Wirkung haben kann, wie diejenige, die am Beispiel von Kubin und Hesse gezeigt wurde. So ist das kreative (Um-)Gestalten von belastenden Emotionen und Vorstellungen mittels Imagination eine bewehrte Methode in der Psychotherapie, z.B. in Form der Rational-Emotiven Imagination nach Albert Ellis, die mit der Veränderung negativer Emotionen durch »innere Bilder« arbeitet.59 Der Vorgang des schöpferischen Prozesses interessierte bereits Freud im Zusammenhang literarischen Schaffens. In Der Dichter und das Phantasieren (1908) geht er zunächst der Frage nach, woher der Dichter die Stoffe für seine Geschichten nimmt, damit es gelingt, Leser »zu ergreifen« und in »Erregungen« zu versetzen.60 Vergleichbar mit nächtlichen Träumen, die es nach Freuds Wunscherfüllungstheorie ermöglichen, die in der sozialen Reali-
56 | Vgl. auch den Beitrag von Elizabeta Lindner Kostadinovska in diesem Band. 57 | Vgl. Meyrink 1923, S. 13f., 16. 58 | Meyrink 1923, S. 17 sowie Kiesewetter 1891, S. 60. Vgl. auch Paracelsus in Astronomia magna: oder Die gantze Philosophia sagax der grossen und kleinen Welt (1571) zitiert nach Kiesewetter 1891, S. 59. 59 | Vgl. Ellis 2012, S. 36f. Zur kreativen Anwendung dieser Methode vgl. Krienke 2018, S. 120. 60 | Vgl. Freud 1908, S. 157.
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tät nicht umsetzbaren Wünsche zu erfüllen61, greife der Dichter auf bekannte Stoffe zurück und behandele diese ähnlich wie es spielende Kinder tun.62 In diesem Spiel erschaffe der Dichter seine »eigene Welt« oder bringe »die Dinge seiner Welt in eine neue, ihm gefällige Ordnung«63. In der Regel verzichten aber Erwachsene auf das Spiel und so auch auf den damit verbundenen Lustgewinn. Um diesen Verlust zu kompensieren, nutzen sie nach Freuds Deutung eher das Phantasieren und Tagträumen in einem spielerischen Sinne. Der Dichter überforme nun diese Kompensation durch sein literarisches Schaffen und bediene sich bewusster Umgestaltungsmethoden. Damit wird die Möglichkeit der unbewussten Umgestaltung im Traum einem bewussten Handeln zugänglich gemacht. Bezüglich der Wunscherfüllungstheorie bezog sich Freud im Übrigen auch auf die bereits erwähnte Philosophie des Unbewußten von Eduard von Hartmann. Hartmann hatte allein das Kunsterlebnis als Fluchtmöglichkeit vor den »Plackereien des wachen Lebens«64 betrachtet, den Traum aber nicht als Möglichkeit hierfür gesehen. Freud dagegen sieht in den bewussten Umgestaltungsmethoden (Imaginieren, Phantasieren) einen adäquaten Umgang mit den sonst projizierten oder abgespalteten (bei Jung: »schattenhaften«) Phantasien.65 Es scheint also, als ließen sich daher gerade schöpferisch tätige Menschen von den Schattenseiten inspirieren; sie durchdringen diese und riskieren dabei, sich in ihnen zu verlieren. In diesem Spannungsfeld können Künstler und Dichter als »exemplarisch Leidende«66 bezeichnet werden. 61 | Vgl. Freud 1908, S. 163 sowie Freud 1900, S. 64. An letzterer Stelle verglich Freud das »Vorstellen« im Traum mit dem in der Psychose und vermutete vor diesem Hintergrund einen »Schlüssel zu einer psychologischen Theorie des Traumes und der Psychose«. 62 | Systematische Vergleiche mit spielenden Kindern sind insbesondere auch aus der sogenannten Objektbeziehungstheorie bekannt, in der ein intermediärer Erfahrungsbereich beschrieben wird, der immer mit einer Befreiung von Druck (Entlastung) einhergeht. Vgl. Winnicott 2008, S. 67. 63 | Freud 1908, S. 158. In Totem und Tabu (1912/13) bezeichnete Freud das kindliche Spiel als motorische Halluzination, da Kinder aufgrund mangelnder Möglichkeiten zur Umsetzung ihrer Wünsche auf die Wunscherfüllung durch Imagination und Darstellung im Spiel zurückgreifen. Vgl. Freud 1912/13, S. 134f. 64 | Hartmann 1869, S. 344. 65 | Vgl. Freud 1908, S. 168. Dies geschehe z.B. im modernen psychologischen Roman durch die Personifizierung verschiedener Konfliktströmungen des Dichters in mehreren Helden. Vgl. Freud 1908, S. 165. Für die jungianisch-psychoanalytische Praxis wurde eine ähnliche Spaltung in Träumen, allerdings in Helden und »Schatten-Figuren«, beschrieben. Vgl. Henderson 1968, S. 120. 66 | Sontag 1962, S. 94.
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Während die Psychoanalyse als wissenschaftliche Methode dazu dient, das Verborgene zu entschleiern, indem sie nach den Schatten sucht, besitzen Dichter und Künstler dagegen Mittel, ihn zu zeigen, das Verborgene darzustellen.67 Nach heutigem psychoanalytisch-kunstpsychologischen Verständnis kann das entstehende Kunstwerk dem Künstler als »Container« für sowohl bewusste Absichten als auch unbewusste, okkulte Anteile dienen.68 »In diesen ›Container‹ kann ein Künstler schwer erträgliche Konflike und innere Spannungen ›externalisieren‹, sie außerhalb seines Körpers, seiner Psyche und seines Geistes in einer selbst gestalteten Form materiell unterbringen.« 69
Kraft vergleicht Kunst in diesem Zusammenhang mit einer Fremdsprache und mit dem Phänomen, nachdem sich manche Menschen über bestimmte Themen in der Fremdsprache differenzierter ausdrücken können als in ihrer Muttersprache. So können auch schambesetzte Phantasien und Wünsche, die sonst hinter der Persona verborgen geblieben wären, mit Hilfe von Kunst und Dichtung kodiert werden, wodurch dann auf Produktions- und Rezeptionsseite ein ästhetischer Lustgewinn möglich wird.70 Durch künstlerischen Ausdruck und die anschließende Rezeption wird das Unerträgliche erträglich, das Verborgene sichtbar, das Schattenhafte erhellt – ohne dass das Unerträgliche, das Verborgene und das Schattenhafte gänzlich verschwindet.71 Mit Susan Sontags Vorstellung des Künstlers als exemplarisch Leidender kann vor dem Hintergrund der bisher ausgeführten Überlegungen der schöpferische Prozess, der auf die Schattenseiten führen kann, auch als symbolischer Prozess der Sublimierung von Angst und Scham im Gegensatz zur Projektion oder Abspaltung beschrieben werden. Bereits Rank verwies auf eine »Illusionsebene«, die dem Spiel und der Kunst gleichermaßen innewohne, 67 | Der Bezug zum »Verborgenen«, einer möglichen okkulten Denkfigur, wird neben der Nennung im Schatten-Kontext (vgl. Henderson 1968, S. 119) vor allem dadurch deutlich, dass auch die Psychoanalyse fruchtbare Anstöße aus dem Okkultismus des 19. Jahrhunderts erhielt. Vgl. Böhm et al. 2009, S. 15. 68 | Vgl. Schneider 1999, S. 11ff. sowie Kraft 2008a, S. 6. 69 | Kraft 2008a, S. 6. 70 | Vgl. Freud 1908, S. 168. Freud ging hier, entsprechend den theoretischen Grundlagen seiner Zeit, ausschließlich von der Sublimierung triebhafter Energien (Kultur als Verzicht auf direkte Triebbefriedigung) und damit entsprechend konflikthafter Aspekte von Kunstwerk und Künstler aus. Kreativität wurde erst in späteren kunstpsychologischen Studien erforscht. Vgl. Kraft 2008b, S. 25f. 71 | Vgl. Kofman 1986, S. 228ff. Als vergleichbar dialektischen Prozess sehen auch die Maler Wassily Kandinsky und August Macke ihre bildende Kunst. Vgl. Graeff 2013, S. 184.
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und die im menschlichen Seelenleben ihren Ausgangspunkt habe. Dem Individuum sei mit Hilfe dieser Illusionsebene ein künstlicher Raum geboten, in dem es sich symbolisch ausleben könne, um dadurch negative Emotionen vermeiden zu können, die an sein reelles Leben geknüpft sind. Diese Ebene ermögliche so ein inneres ›Scheinleben‹, ohne dass sich das Individuum der Illusion als solche bewusst werden muss.72 Der Künstler entscheidet – auch im Rahmen seiner psychischen Verfasstheit –, wie intensiv er sich durch seine Schatten inspirieren oder gefangen nehmen lässt. Gelingt dem Künstler die Umgestaltung des Schattens nicht, kann es ebenso zur Abspaltung des Schattens kommen, die seinen Schaffensprozess blockiert. Sowohl Produktion als auch Rezeption eröffnen so gesehen auch einen Raum, in dem die dargestellten Perspektiven und Deutungen als ›andere Realitäten‹ geradezu vorausgesetzt erscheinen. Literatur ist dabei nicht nur ein Paradebeispiel für doppelte Fiktionalität 73, sondern im Verlauf der Geschichte des 20. Jahrhunderts auch als »doppelt« in dem Sinne zu verstehen, dass sie psychologische, psychoanalytische und psychologiegeschichtliche Überlieferungen explizit thematisiert. Und mehr: Manche Autoren hatten die psychologischen Gedanken Freuds oder Jungs derart verinnerlicht, dass sie ihr eigenes Autorenselbst vor dem Hintergrund psychoanalytischer Konzepte begriffen. Die Literatur von Fernando Pessoa (1888-1935) illustriert dies besonders anschaulich. Er verfasste seine Werke unter zahlreichen Heteronymen und beschrieb ausführlich die Prozesse der Transformation seines Autorenselbst.74 Hierbei wird auch die psychologische und psychologisierende Sprache Pessoas deutlich. Jeder seiner Träume etwa repräsentiere die Träume anderer Personen, die statt seiner träumen. »Um erschaffen zu können, habe ich mich zerstört; so sehr habe ich mich in mir selbst veräußerlicht, daß ich in mir nicht anders als äußerlich existiere. Ich bin die Bühne, auf der verschiedene Schauspieler auftreten, die verschiedene Stücke aufführen.« 75
Der von Pessoa markierte Zustand ähnelt formal dem sogenannten »tertiären Denkprozess«, der eine Ich- bzw. Identitätsdiffusion zur Folge hat, wobei die Grenzen zum Emotionalen und Unbewussten verschwimmen. Die »Grenzen 72 | Vgl. Rank 1932, S. 120. Hesse beschrieb Ähnliches in einem Brief vom März 1943 an Kubin: »Im übrigen lebe ich sehr außerhalb der sogenannten Wirklichkeit, die ja auch wenig Zauber hat, und sehe zuweilen diese ›Wirklichkeit‹ wie ein halb kühnes, halb ungekonntes surrealistisches Bild an.« Siehe Hesse zitiert nach Michels 2008, S. 274. 73 | Vgl. Breuer 1981, S. 132. 74 | Die wichtigsten Heteronyme für Pessoa waren Alberto Caeiro, Ricardo Reis, Álvaro de Campos, Bernardo Soares, Charles James und Alexander Search. 75 | Pessoa 1982, S. 61.
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der bisherigen Ich-Organisation und -Abgrenzung werden aufgelöst, neue Zusammenhänge zwischen den verschiedenen Vorstellungsinhalten und Bewußtseinsebenen hergestellt und die Ich-Strukturen in neuer Weise koordiniert« 76. Mit der besagten Ich-Diffusion ging bei Pessoa offenbar auch der Verlust der emotionalen Ebene einher. Fast zweieinhalb Jahre nachdem er über die Multipersonalität seines Autorenselbst schrieb, beklagte er, dass er nicht mehr wisse, wie man fühle. Er sei zum »Schatten« seiner Selbst geworden. An zwei Stellen wird dies deutlich: »Weil ich so häufigen Umgang mit Schatten hatte, habe ich mich selbst in einen Schatten verwandelt – in das, was ich denke, in das, was ich fühle, in das, was ich bin. Die Sehnsucht nach dem normalen Menschen, der ich nie gewesen bin, ist in die Substanz meines Wesens eingegangen.« »Im Gegensatz zu dem Peter Schlemihl aus der deutschen Erzählung habe ich dem Teufel nicht meinen Schatten, sondern meine Substanz verkauft. Ich leide darunter, nicht leiden zu können. Lebe ich oder tue ich nur so, als ob ich lebe.« 77
Diese Selbstaussage könnte nach psychopathologischer Diagnostik durchaus als Depersonalisationserleben gedeutet werden.78 Schon im Herbst 1931 beschrieb er die zwingende literarische Umsetzung seiner Gefühle, ohne darauf Einfluss nehmen zu können: »Was ich fühle, wird, ohne daß ich es wollte, gefühlt, damit aufgeschrieben werden kann, daß es gefühlt worden ist.« 79 Trotz des Depersonalisationserlebens, kann aber möglicherweise durch die literarische Produktion eine Verstärkung der potenziellen Wahnstimmung verhindert werden und lässt sich deshalb in seiner identitätsstiftenden Funktion von der Pathologie abgrenzen. Obwohl psychische Krisen und kreatives Schaffen in psychopathologischen Analysen von literarischen Quellen oft zusammen gedacht wurden, muss mit heutigem Kunst- und Psychologiever76 | Ammon 1979, S. 137f. Ammon betont an dieser Stelle auch, dass Kuby 1966 die Rolle des Vorbewussten in kreativen Prozessen hervorgehoben und die schöpferische Tätigkeit von der Pathologie differenziert habe. 77 | Beide Zitate Pessoa 1982, S. 190f. 78 | Depersonalisation bezeichnet laut ICD-10 einen Zustand, der u.a. bei einer Wahnstimmung auftaucht. »Die Betroffenen klagen meist über ein Gefühl von entfernt sein, von ›nicht richtig hier‹ sein. Sie klagen z.B., darüber, dass ihre Empfindungen, Gefühle und ihr inneres Selbstgefühl losgelöst seien, fremd, nicht ihr eigen, unangenehm verloren oder dass ihre Gefühle und Bewegungen zu jemand anderen zu gehören scheinen, oder sie haben das Gefühl, in einem Schauspiel mitzuspielen.« Siehe Dilling 2014, S. 200. 79 | Pessoa 1982, S. 155.
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ständnis konstatiert werden, dass die Pathologie nicht per se Teil künstlerischer Identität ist.80 Die psychoanalytischen Deutungen literarischer Produktionen des 20. Jahrhunderts machen aber auch jenseits der Frage nach der etwaigen Verwobenheit von Kunst und Pathologie deutlich, dass sich Kunst und Psychologie gegenseitig befruchtet haben. Für Anton Ehrenzweig (1908-1966) etwa beginnt jede Produktion eines Kunstwerks in einem »schizoiden« 81 Anfangsstadium, in dem die Persönlichkeit des Künstlers, vergleichbar mit dem Zustand der Ich-Diffusion, gebrochen sein müsse. Er müsse dann aber fähig sein, diesen Zustand zu ertragen, ohne die quälende Angst (vor abgespaltenen, unbewussten Schattenseiten) zu empfinden. In einer zweiten »manischen« Phase werde zunächst durch vorbewusste Auswahl- und Ordnungsprozesse eine Substruktur des Werkes geschaffen, die der Gebrochenheit des Autors noch gerecht wird. In der dritten »depressiven« Phase werden dann die zahllosen unund vorbewussten Verstrebungen, die die Elemente des Werkes miteinander verbinden, in die Gesamtstruktur integriert und damit das Werk vollendet.82 Ohne die Möglichkeit eines Ausdrucks des Noch-Nicht-Integrierten (Phase 1 und 2) kann die »Schatten«-Projektion unter gewissen Bedingungen zur Produktion ›sichtbarer Schatten‹ führen, die sich psychisch durch Verwechslungen, Verkennungen und Wahrnehmungsverzerrungen bis hin zu Halluzinationen ausdrücken können.83 Das Gefühl, das jemand anwesend ist, nicht bloß als Ahnung, sondern als eindeutige Sinneswahrnehmung – Oliver Sacks nennt dieses Phänomen »gefühlte Präsenz« 84 –, kann solch eine Wahrnehmungsverzerrung sein. Besonders häufig tritt dieses Phänomen unter besonderer Anspannung, in unbekannter oder gefährlicher Umgebung, im Dunkeln oder auch in Situationen der Isolierung und Erschöpfung auf. Dieses Phäno-
80 | Mit den Beschreibungen von Kraft und Schneider wurde dargelegt, dass mit dem Kunstschaffen ein »Containing« belastender Spannungen möglich ist. Vgl. Kraft 2008a, S. 6. Zentrale Rolle spielen dabei aber auch die jeweiligen individuellen und situativen Umstände, inwieweit ein (eventuell im Schaffensprozess induzierter) Spannungszustand pathologische Ausprägungen annimmt oder nicht. 81 | Die Verwendung psychopathologischer Begriffe für die Beschreibung des schizoiden Ausgangsstudiums und der folgenden Phasen kann hier verwirren. Es sollen vielmehr psychische Zustände beschrieben werden. Eine psychopathologische Diagnose erfordert neben der Überprüfung weiterer Kriterien die Feststellung einer »Störung mit Krankheitswert« im Sinne des ICD-10. 82 | Vgl. Ehrenzweig 2008, S. 80f. 83 | Diese Wahrnehmungsstörungen sind klar von Freuds motorischen Halluzinationen im Kontext der imaginativen Wunscherfüllung abzugrenzen Vgl. Freud 1912/13, S. 134f. 84 | Sacks 2015, S. 320f.
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men wurde als »okkult« bezeichnet 85, kann aber auch als »Schatten« gedeutet werden: »Der Schatten, der uns verfolgt, hat etwas im Sinn, führt etwas im Schilde.«86 Peter Schlemihl begegnet ebenso dem Schatten auf umgekehrte Weise. Er sieht einen anderen Schatten, dem seinen nicht unähnlich und will ihn fangen. Der ›herrenlose‹ Schatten aber flieht vor ihm und vermittelt ihm das Gefühl, eine reelle körperliche Person zu sein.87 Vergleichbare Phänomene treten laut Sacks häufiger in überwachen Zuständen auf, die durch bestimmte Formen von Angst, Drogen oder Schizophrenie ausgelöst werden, aber auch bei neurologischen Störungen auftreten können. Dies korrespondiert wiederum mit Ehrenzweigs »manischer« Phase des künstlerischen Produktionsprozesses, da aus psychopathologischer Sicht in der Manie ein verringerter Schlaf bedarf herrscht. Auch Meyrink beschreibt diese gefühlten Präsenzen im bereits erwähnten Okkultismus-Essay und beruft sich erneut auf Paracelsus: »Wenn diese Wesen genug verdichtet sind, um gesehen zu werden, so erscheinen sie wie ein gefärbter Schatten. Sie haben kein eigenes Leben, ahmen aber das Leben desjenigen nach, welcher sie hervorruft, wie der Schatten den Körper nachahmt. Sie werden in der Umgebung […] von Menschen erzeugt, die in der Einsamkeit ungeregelte Gewohnheiten angenommen haben.« 88
Ein entsprechendes Zitat findet sich auch bei Kiesewetter bzw. Paracelsus. In Von der Gebärung des Menschen (1520-24) schreibt letzterer: »Der Spiritus oder Liquor vitae formt sich gleich dem Schatten an der Wand nach dem äußeren Menschen und ist dessen innerer Schatten. Aber er besitzt Empfindung; er gibt die Bildung, das Wesen und die Natur aller Glieder; er ist das edelste im materiellen Menschen. Wie sich jemand im Spiegel sieht, so sieht sich die Natur in ihm.« 89
F a zit In der Gegenwartsliteratur stellt sich nunmehr die »andere Seite« und der »Schatten« deutlicher als Selbstanteil eines Protagonisten dar, weniger als explizite Doppelgänger- bzw. Schatten-Figur. Und auch der Dualismus bestehend aus Traum und Realität löst sich auf; psychologische und okkulte Phä85 | Vgl. z.B. auch Jungs Arbeiten zu Synchronizität, Akausalität und Okkultismus in Jung 2001. 86 | Sacks 2015, S. 320f. 87 | Vgl. Chamisso 1813, S. 52f. 88 | Meyrink 1923, S. 20. 89 | Paracelsus zitiert nach Kiesewetter 1891, S. 60.
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nomene werden vermischt. In Nacht des Orakels (2003) von Paul Auster etwa laufen auf verschiedenen Ebenen okkulte Themen zusammen. Der Protagonist Sidney Orr, ein Schriftsteller, verliert seine Schreibhemmung durch ein scheinbar magisches Notizbuch.90 Ähnlich Pessoa beschreibt Auster im weiteren Verlauf ein ›doppeltes Bewusstsein‹, wodurch Sidney Orr sich einerseits in der realen Wohnung eines Freundes befindet und gleichzeitig im literarischen Abbild dieser Wohnung, das er in der Geschichte, an der er gerade schreibt, ausgearbeitet hat. Orr spürt, wie der Protagonist seiner Geschichte Nick Bowen, der Lektor des Manuskriptes mit dem Titel Nacht des Orakels ist, hinter ihm steht und die Hand auf seine Schulter legt während er schreibt (»gefühlte Präsenz«).91 Im weiteren Verlauf sieht er sich als Opfer okkulter Ereignisse92 und befürchtet, sich in seinem Manuskript zu verlieren (»exemplarisch Leidender«).93 Bald steht er im Bann dieser Wahnidee und löst auch in seinem sozialen Umfeld Panik aus, vor allem bei seiner Ehefrau. Die Erlebnisebenen von Sidney Orr vermischen sich mit denen seines Protagonisten, dem Lektor Nick Bowen, der durch seine Tätigkeit eine weitere Ebene der Erzählung – »die Geschichte innerhalb der Geschichte«94 – erzeugt. Die Verwirrung wird noch dadurch verstärkt, das der Titel von Austers Buch dem Titel des Manuskriptes in der Geschichte entspricht. Aus Angst vor ebenfalls okkulten Ereignissen95 und der persönlichen Zukunft verhält sich Bowen im Sinne einer ›selbsterfüllenden Prophezeiung‹. Er flieht aus seinem bisherigen Leben, verlässt seine Ehefrau und irrt im Folgenden ziellos umher wie in einem Traum. Märchenmotive wie »der glitzernde Palast«96 in Kansas City verstärken diesen Eindruck. In seinem zurückgelassenen Leben steigert sich die Ehefrau in eine Projektion hinein, um einen Grund für den Verlust ihres Mannes zu finden. Er ist für sie zum externalisierten Schatten geworden.
90 | »Ich kann nicht sagen, ob ich es bin, der das Notizbuch benutzt, oder ob das Notizbuch mich benutzt.« Siehe Auster 2003, S. 198. 91 | Vgl. Auster 2003, S. 27. 92 | Das Geschäft »Paper Palace«, in dem er das magische Notizbuch gekauft hat, verschwindet und taucht an anderer Stelle wieder auf. Als er dort das letzte Buch im Angebot kaufen möchte, verlangt der Inhaber des Geschäfts 10.000 Dollar. Vgl. Auster 2003, S. 245. Dieser Handel erinnert stark an Schlemihls Geschichte, allerdings sind die Schattenanteile bei Auster stärker verteilt und nicht nur einer Figur zugeschrieben. 93 | Vgl. Auster 2003, S. 197. 94 | Auster 2003, S. 78. 95 | Er wird fast von einem herabfallenden Wasserspeier erschlagen, kurz nachdem er sich eingesteht, dass seine Ehe gescheitert ist. Vgl. Auster 2003, S. 36f. 96 | Auster 2003, S. 80ff.
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In allen angeführten Quellen befruchten sich Psychologie und Literatur gegenseitig. Im Fortschreiten des 20. Jahrhunderts zeigte sich mitunter die Psychologisierung der Künste und der Künstler. Wie bei Paul Auster gesehen, kann nun die Literatur auch eine mögliche Psychose beschreiben. Aber auch in der durch gesellschaftliche Emanzipationsprozesse vorangetriebenen Psychoanalyse werden nun verstärkt Kunst und Literatur zum Gegenstand genommen. So gesehen erzeugt Kunst einen Raum, in dem der Rezipient etwas deuten kann. Das Werk ist letztlich also immer abhängig von einem anderen, der es interpretiert. Die beschriebene »gefühlte Präsenz«, die während der Produktion eine Rolle spielen kann, verwandelt sich im weiteren Prozess in eine feste Vorstellung, eine (Wahn-)Idee, in einen ›okkulten Schatten‹, der weiter befüllt werden kann, bis er irgendwann vielleicht (be-)greif bar wird. Das Kunstwerk aber bleibt »Projektionsfläche«, ein »Schatten«, der befüllt werden will, ein Symbol, das multidimensional gedeutet werden kann.97
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Okkulter Sound Über Narration von Hörbarkeit Dominik Irtenkauf
Ob Musik mit ihren Mitteln etwas erzählen kann, darüber streiten sich die Geister. Die Diskussion konzentriert sich auf die Frage, ob Musik eigene quasi-sprachliche Mittel besitzt, um Geschichten zu erzählen. Die angesprochene Frage spitzt das Thema noch zu, weil bei »okkultem Sound« nicht allein Klang eine Rolle spielt. Darüber hinaus interessiert, welchen Anteil okkulte Vorstellungen oder auch eine – wenn man es so nennen möchte – »okkulte Medientheorie« bei der Narration nehmen. Okkulte Medientheorie ist eine Behelfswendung, sie verweist auf selbstreflexives Schreiben, das Geisterbeschwörungen, Kabbalistik oder Astralreisen nicht allein als Praktiken in gewissen Milieus wahrnimmt, sondern eine medientheoretische Reflexion daran anknüpft. Das Schreiben, Malen und Gestalten selbst wird thematisiert.1 Astralreisen etwa implizieren dann nicht die Fähigkeit, den eigenen Körper zu verlassen, sondern stellen Mnemotechniken dar, insofern sie Technologien, die noch nicht existieren, imaginieren und geographisches Orientierungswissen umsetzen. Die Vieldeutigkeit des Geist-Phänomens lässt sich an dieser Stelle nicht vollständig erfassen: in Bezug auf das Feld okkulter Kunst interessieren aber paranormale Phänomene mit Geistern. Die philosophischen Implikationen verlangen nach einer eigenen Arbeit. Ein aktuelles Beispiel für die Frage nach Narration in und durch Musik ist der Sammelband Musik und Narration (2015) von Frédéric Döhl und Daniel Martin Feige. Im Spannungsfeld zwischen Hörbarem und Narration bewegt sich okkulter Sound. Das Attribut »okkult« birgt eine weitreichende Begriffsgeschichte.2 In diesem Kontext interessieren sowohl Bezüge zu Strömungen
1 | Der Herausgeber weist in der Einleitung der vorliegenden Anthologie auch auf die Selbstreflexivität von okkulter Kunst hin. 2 | Vgl. den Beitrag von Christoph Wagenseil in diesem Band.
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Dominik Ir tenkauf
aus dem Forschungsfeld westlicher Esoterik wie auch eine popkulturelle Politur, die sich als okkult inszeniert. Zunächst sind die Bestandteile des Untersuchungsgegenstandes zu erläutern, denn Sound lässt eine Vielzahl von Deutungen zu und bedeutet mitunter sehr Unterschiedliches. Zusätzlich eröffnet ein Sprechen über Sound weitere Schwierigkeiten, denn unter einer Albumveröffentlichung zum Beispiel kann man ein besonderes oder ein gewöhnliches Beispiel von okkultem Sound verstehen. Besonders wäre in diesem Kontext eine Auseinandersetzung mit okkultem Inhalt und Form auf verschiedenen Ebenen zu verstehen, während sich das gewöhnliche Beispiel allein mit der Darstellung von okkulten Symbolen begnügt. Wie nun Sound mit Musik zusammenhängt, ist Forschungsgegenstand nicht nur der Sound Studies. Die Sound Studies thematisieren Produktion, Verteilung und Rezeption von Sound. Zum Sound gibt es eine weitreichende Debatte und verschiedene Definitionsversuche. Ich folge der Definition von Roger Behrens.3 Behrens verortet den Sound als »Design der Musik«. Das Gemachtsein von Musik wird dadurch deutlich in den Fokus genommen. Des Weiteren hängt die Vorstellung von okkultem Sound natürlich auch stark von einer bestimmten Ansicht in Bezug auf das Okkulte ab. Wenn ein spezifisches Musikalbum abgespielt und dieses als »okkult« bezeichnet wird, setzt dies einen hermeneutischen Vorgang voraus. Warum »okkulter Sound« auf Musik konzentriert wird, hat die Bewandtnis, dass Musik eine alltägliche Erfahrung vieler Menschen darstellt und dadurch ein wissenschaftlicher Diskurs in greif bare Nähe rückt. Diese Nähe bedeutet nicht, dass Wissenschaftlichkeit verlorengeht, sondern spricht einen Ansatz der Cultural Studies an: Alltagspraktiken von Menschen rücken in den Fokus. Kulturelle Güter wie Musik werden durch Praxis und Theorie kontextualisiert. Die Praxis hier wäre, Musik zu hören, zu komponieren, zu performen, zu verbreiten, zu beurteilen und fortzusetzen. Theoretisch interessiert, wie Alltagspraktiken zu subversiven Strategien ummodelliert werden. Bezogen auf das hier untersuchte Thema passt dieses Erkenntnisinteresse nicht ganz. Hier interessieren viel eher die illusionären Interpretationen okkulter Vorstellungen in zeitgenössischer Popund Rockmusik. Die Illusion wird von Behrens in mehreren Publikationen in Verbindung mit (Pop-)Kultur gebracht. Er formuliert dies auf dem Hintergrund der Kritischen Theorie: »Illusion meint zunächst Schein; erst in der Kulturindustrie verwandelt sich dieser Schein in Trug, beziehungsweise wird die Besonderheit des ästhetischen Scheins, etwa im Sinne des Vor-Scheins oder auch Erkenntnischarakters der Kunst (die aufscheinende
3 | Vgl. Behrens 2008, S. 167-184.
Okkulter Sound Wahrheit, der Gehalt) durch eine illusorische, gleichsam spektakuläre Verblendung in der Bewusstseinsindustrie aufgehoben.« 4
Diese Einlassung ist stark von einer Skepsis gegenüber massenkulturellen Produktionszusammenhängen geprägt, dadurch etwas einseitig. Die Illusion besitzt sprachpragmatisch einen negativen Einschlag. Im Kontext der Vorstellung eines Zauberers im Varieté kann die Illusion neue Perspektiven aufzeigen. Wenn sich jedoch Kultur allein in Kunst aussprechen, kritisch auf gesellschaftliche Prozesse reagieren und Bewusstsein über Kultur als Ware anregen soll, dann ist Illusion eine Vorspiegelung falscher Werte. Illusion spielt neben der Atmosphäre eine wichtige Rolle bei der Analyse okkulter Kunst.5 Insofern okkulter Sound als Musik begriffen wird, ist diese Musik stets in einen Produktionszusammenhang gebettet, der nicht nur künstlerische Aspekte betrifft, sondern ebenso soziale Funktionen erfüllt, wie auch die ökonomische Basis für eine musikalische Produktion berücksichtigt werden muss: »›Sound‹ ist als soziales Verhältnis zu begreifen, sowohl in seiner objektiven Materialität wie auch in seinem subjektiven Ausdruck. Im Vordergrund steht dabei die Dialektik des Sounds, die zunächst zu tun hat mit dem Widerspruch von Wesen und Erscheinung, der für einen materialistischen Begriff von Welt grundlegend ist: Sound ist Erscheinung, und als solche scheint der Sound zugleich das Wesen musikalischer oder allgemein-klanglicher Phänomene zu sein.« 6
Zum sozialen Verhältnis addiert sich die Atmosphäre. Ich verstehe hier Atmosphäre, wie sie Gernot Böhme in seinem vielbeachteten Buch Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik expliziert. Seine Einlassungen auf die alltagssprachliche Verwendung des Ausdrucks Atmosphäre liefert eine willkommene Grundlage für eine Erörterung des Attributs »okkult« in Verbindung mit dem Ausdruck Atmosphäre: »Der Ausdruck Atmosphäre ist dem ästhetischen Diskurs keineswegs fremd. Vielmehr taucht er sogar häufig, fast zwangsläufig in Eröffnungsreden zu Vernissagen, in Kunst4 | Behrens 2003b, S. 55. 5 | Austin Osman Spare geht in seiner Kunst wie auch in seinen essayistischen Texten immer wieder auf die Methode der »Suggestion« ein. Diese Methodik verschafft Spare einen Zugang zu sonst schwer erreichbaren Inhalten. Die »Suggestion« nimmt stellenweise in dem komplexen mystischen System Spares eine Funktion von Illusion an. Es erübrigt sich, anzufügen, dass es sich hierbei nicht um einen abschätzigen Gebrauch von Illusion handelt. Vgl. Spare 1990. 6 | Behrens 2008, S. 175.
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Dominik Ir tenkauf katalogen und Laudationes auf. Da mag von der mächtigen Atmosphäre eines Werkes die Rede sein, von atmosphärischer Wirkung oder einer mehr atmosphärischen Darstellungsweise. Man hat den Eindruck, daß mit Atmosphäre etwas Unbestimmtes, schwer Sagbares bezeichnet werden soll, und sei es auch nur, um die eigene Sprachlosigkeit zu verdecken. […] Auch damit wird in andeutender Weise auf ein Jenseits dessen, wovon man rational Rechenschaft geben kann, gewiesen, und zwar mit Emphase, als finge dort das Eigentliche, das ästhetisch Relevante an.« 7
Dieses Unbestimmte, schwer Sagbare findet sich auch im Diskurs der okkulten Kunst. Okkult leitet sich bekanntlich von der lateinischen Vokabel occultus für verborgen ab. Seit der Antike haben sich Lehren mit exklusivem Zugang zu schwer erklärlichem Wissen ausgestattet, wie es unter anderem Kocku von Stuckrad gezeigt hat.8 Im Gegensatz zu diesem klassischen Verständnis von Okkultismus, der entsprechende Lehren aus allen Welten und Zeiten sammelt, integriert und sich bis in die Literatur des 20. Jahrhunderts fortsetzt, soll hier »okkult« einerseits als unbekannt und vage, andererseits als Prozess der Materialkunde, des Musik-Designs, der bewussten Auseinandersetzung mit der Materialität von Klang verstanden werden. Das Studium diverser Tonträger, die im folgenden als Beispiele okkulten Sounds diskutiert werden, zeigt, dass nicht allein ein Bezug zu einer Geheimlehre den okkultistischen Bezug herstellt, sondern dass vielmehr ein Prozess abläuft, der sich mit dem Material beschäftigt. Das ästhetische Surplus besteht klar in der Herausforderung, etwas zu ›vertonen‹, das sich außerhalb des gewöhnlichen Hörbereichs befindet. Atmosphäre in okkultem Sound zu untersuchen scheint vielversprechend, weil Böhmes Ausführung auf den Charakter okkulter Inhalte zutrifft: Das ästhetisch Relevante finge »jenseits dessen, wovon man rational Rechenschaft geben kann«, an. Das lässt natürlich einen gewissen Spielraum, weil auch bei Kunst ohne Bezug zu okkulten Vorstellungen und damit zu verborgenen Inhalten, etwas nicht versprachlicht werden könnte. Mancher Betrachter mag auch schlicht Probleme haben, ästhetische Eindrücke in Worte fassen zu können. Hiervon aber abgesehen, interessiert Musik in der Formation »okkulter Sound« als bewusst ideologisierte Klangproduktion zwischen Markt, Kunst, Geräusch und Atmosphäre. Ideologisierend ist hier eine intensive Textbegleitung von Musik – Roger Behrens bezieht die Ideologie einerseits auf die erwähnte Illusion in der Popmusik, die dem Konsumenten Versprechen einer Welterfahrung gibt, dabei über die Einbindung in spätkapitalistische Produktions- und Vermarktungsabläufe – das Moment der »Kulturindustrie« in der Kritischen Theorie – hinwegtäuscht, andererseits die Mythen, die unterschiedliche Popmusikstile konzeptionell unterstützen. Die Frage, ob okkulter Inhalt 7 | Böhme 2013, S. 21 (Hervorhebung im Original). 8 | Vgl. Stuckrad 2004.
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Musik zu okkultem Sound macht oder ob okkulter Sound eine ganz bestimmte Art des Musizierens, des Komponierens, der Performance, des Inhalts nach sich zieht, soll im Folgenden diskutiert werden.
D imensionen von S ound Susanne Binas-Peißendörfer schätzt die methodische Passgenauigkeit des Sound-Begriffes als wenig vielversprechend ein: »Dennoch dürfte die Anziehungskraft des Soundbegriffs vor allem in seinem vagen, atmosphärischen und derzeit (noch) mit viel Prestige (Rösing) aufgeladenen Charakter bestehen. […] Sounds werden als transparent, hell oder klar bezeichnet und verweisen somit auf Aspekte visueller Wahrnehmung. Sounds ›klingen‹ dumpf, spitz, beißend, weich, süß oder sanft und greifen hierbei Körper-Erfahrungen auf, taktile Sinneseindrücke oder Sinneseindrücke unserer Geschmacksnerven. Gläserne, kantige, raue, hölzerne oder mulmige Sounds gründen auf der Beschaffenheit bestimmter Materialien.« 9
Sie ergänzt noch, dass unter »Sound« häufig im Popmusikjournalismus wiederkehrende Elemente der Musik einer bestimmten Band gefasst werden. Das würde bezogen auf das hier behandelte Thema bedeuten, dass eine sich selbstkennzeichnende okkulte Band in jedem Musikstück auch okkulte Bezüge aufweist. Hier schließt sich bereits das nächste Problem an: Was bedeutet »okkult« im akustischen Kontext? Es sind verschiedene Antworten möglich: 1. Klänge, deren Ursprung ungeklärt ist und deshalb »okkult« genannt werden können; 2. eine Musik-Ware, die mit okkulter Politur im Segment des Rocks und Metals verkauft wird; 3. eine künstlerisch anspruchsvolle Auseinandersetzung mit Okkultismus und Sound; 4. eine experimentelle Erkenntnismethode für Produzent und Rezipient okkulten Sounds. Betrachten wir zunächst das Problem des Sound-Begriffes, bevor die Dimensionen des Kompositums ›okkulter Sound‹ geklärt werden sollen. In Rekurs auf aktuelle Forschungen in den Sound Studies10 soll »Sound« als ein Konglo9 | Binas-Preisendörfer 2008, S. 206. 10 | In Bezug auf das essayistische Schreiben sind besonders die Werke von Holger Schulze hervorzuheben. Er entwirft im Spannungsfeld zwischen Kulturwissenschaften und Literatur eine kulturell-anthropologische Perspektive auf das bewusste Hören
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merat aus Klang, Kultur und Kult verstanden werden. »Klang« bezeichnet dabei den Anteil von Instrumentierung und Gesang, »Kultur« die Kontextualisierungen des Sounds und »Kult« den Anteil von Mythologie, Image, Ideologie und Vermarktungsstrategien. Ein so bezeichneter ›okkulter Sound‹ hingegen zeichnet sich durch Ambivalenz aus, die Gernot Böhme in Bezug auf die von ihm vorgeschlagene Ästhetik der Atmosphäre ebenso anspricht. Wer okkulten Sound produzieren möchte, wird definierte Parameter in sein Stück integrieren, um dieses als okkult präsentieren zu können. Insofern die Inszenierung dieses Sounds im Mittelpunkt steht. Das hängt mit der Erzeugung von Atmosphären zusammen. Die Atmosphäre dient einem Wohlgefühl, einem Insidertum, einer Kennerschaft, einem Feingeschmack oder im Kontext der okkulten Kunst einer Einweihung in die nur einigen Wenigen zugängliche Lehre. Das Attribut okkult impliziert eine Verdeckung, die jedoch in einer ästhetischen Ökonomie Popularitätswerte erreichen kann und dadurch vermarktbar ist. Die Moden in der bildenden Kunst wechseln schnell und, kauft ein bedeutender Sammler bestimmte Kunstwerke auf, die zum Beispiel als »okkult« kategorisierbar wären und auf dem Markt gehandelt werden, dann könnte das Etikett »okkult« zu Gewinnen führen. Behrens zeigt in seinen Analysen zur Popkultur relativ deutlich, dass auch vermeintlich widerständige und subversive Kunstbewegungen zur Ware werden können.11 Ähnlich charakterisiert Böhme die ästhetische Ökonomie: »Als ästhetische Ökonomie ist eine bestimmte Entwicklungsphase des Kapitalismus zu bezeichnen, in der sich die fortgeschrittenen westlichen Industrienationen gerade befinden. Es ist jener Zustand, in dem die ästhetische Arbeit einen großen Teil der überhaupt geleisteten Arbeit nicht mehr der Herstellung von Waren, sondern ihrer Inszenierung dient – oder der Herstellung von Waren, deren Gebrauchswert selbst in ihrer Verwendung zur Inszenierung – von Menschen, von Öffentlichkeit, von Firmenimage usw. – liegt. Es ist die Phase des Hochglanzkapitalismus, in der man Urlaub in Malls und Center-Parks macht, in der die Werbung nicht mehr Waren, sondern Lebensstile suggeriert und in der der Realitätsabzug mehr und mehr durch medienvermittelte Imagination ersetzt wird.«12 von Musik und anderen Geräuschen. Hinzu kommt Kodwo Eshun, der mit seinem Buch More Brilliant than the Sun eine zugleich wissenschaftlich informierte wie literarisch anspruchsvolle Arbeit über Popmusik und zu den politischen Implikationen eines afrofuturistischen Zugangs zu Musik bietet. Wichtig ist auch Jens Gerrit Papenburgs Brückenschlag zwischen Popmusiktheorie und Musikwissenschaft. Vgl. Eshun 1999 und Papenburg 2008. 11 | Vgl. alle genannten Bücher von Behrens. 12 | Böhme 2013, S. 45.
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Eine andere Möglichkeit des Hörens von okkultem Sound wäre die Überlegung, ob die Beschäftigung mit okkulten Inhalten einen formalen Ausdruck im Akustischen nach sich zieht, der auch von Hörern dann als ›okkult‹ wahrgenommen und gedeutet werden kann. Letzteres reicht in einen experimentellexplorativen Bereich, der in den Sound Studies zunehmend als zukunftweisend verstanden wird. In Holger Schulzes Sammelband Gespür – Empfindung – Kleine Wahrnehmungen. Klanganthropologische Studien (2012) kommen Künstler zu Wort, die durch aktive Beeinflussung der Forschung im Feld, das Ergebnis mit ihrem persönlichen Einsatz prägen. Zum Beispiel das Biwakieren, das Orientierung im Gelände verschafft.13 Während die Autorin Susanne Nemmertz ihre Erkundung des noch unbekannten Gebiets schildert, zeichnet sie ihre Orientierung im Raum auf, fotografiert die einzelnen Schritte und reflektiert über diese theory in practice. Ähnlich verhält es sich mit dem Terrain der okkulten Kunst in Bezug auf Sound: Erst in der hörenden Lektüre distinkter Artefakte lässt sich herausfinden, welche Umsetzung okkultes Kunstverständnis im Sound erfährt. In Erinnerung an die Definition des Sound-Begriffes als ein Konglomerat aus Klang, Kultur und Kult kann hier auch Gernot Böhmes Vorstellung von »Atmosphären« anschlussfähig gemacht werden: »[Atmosphären] sind Räume, insofern sie durch die Anwesenheit von Dingen, von Menschen oder Umgebungskonstellationen, d.h. durch deren Ekstasen, ›tingiert‹ sind. Sie sind selbst Sphären der Anwesenheit von etwas, ihre Wirklichkeit im Raume.«14
Marcus S. Kleiner weist in Bezug auf Poptheorie hin, dass hier die Gefahr des engagierten Schreibens bestünde, d.h. man könnte sich im Eifer für die Sache zu sehr dem Gegenstand annähern.15 Kritische Distanz ist nicht allein Wesensmerkmal wissenschaftlichen Arbeitens, auch im Journalismus empfiehlt sich die Distanz zum Berichtsthema. Die Form des Essays ermöglicht die Präsentation interessanter Einblicke in ein Feld, das sich durch tägliche Aktualisierung möglicherweise einer Hypothese entwindet. Häufig zeigt sich das Feld der Popmusik gegenüber der Theorie indifferent. Ein zentrales Beispiel der Indifferenz gegenüber Analysen wird an einer Reihe von Buchveröffentlichungen deutlich, die sich mit okkulten Einflüssen diverser Popmusikstile auseinandersetzen. Dayal Patterson etwa legte auf Deutsch zwei umfangreiche Bücher zum Black Metal vor. Es sind Kompilationen von verschiedenen Interviews, die er über die Jahre als Musikredakteur geführt hat. Am Rande wird auf die mythischen, (anti-)religiösen 13 | Vgl. Nemmertz 2012. 14 | Böhme 2014, S. 32. 15 | Vgl. Kleiner 2012.
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und kulturellen Einflüsse der Musiker eingegangen. Eine umfangreiche Analyse der selbstproduzierten Mythen bleibt aus. Die Cultural Studies nehmen sich Fragen der Hegemonie an, besonders interessiert in Bezug auf das vorgestellte Thema die Motivation, okkulten Inhalt oder okkulte Methode für den Sound zu wählen. Zugespitzt gefragt: Wer produziert okkulten Sound? Wer erschafft okkulte Kunst? Trifft möglicherweise Böhmes Feststellung zu, die er bezüglich atmosphärischer Kunst formuliert? »Das Atmosphärische gehört zum Leben, und die Inszenierung dient der Steigerung des Lebens. Dann aber, nach Feststellung der Legitimität von Selbstinszenierung, hat die Kritik der ästhetischen Ökonomie das Wort. Gemessen an den elementaren Bedürfnissen des Lebens und Überlebens, gemessen an der Tatsache, daß weltweit diese Bedürfnisse nicht befriedigt werden können, offenbart sich der Kapitalismus westlicher Industrienationen als Verschwendungsökonomie. Die Produktion von ästhetischen Werten, Verpackung, Design, Styling, von Produkten, die lediglich dem Glanz und der Selbstinszenierung dienen, ist Luxusproduktion. Sie befriedigt nicht elementare Bedürfnisse, sondern reizt beständig die Gier nach Lebenssteigerung.«16
Vielleicht brauchen okkulte Kunst, okkulter Sound, okkulte Musik eine kritische Enthüllung ihres Zustandekommens? Der Begriff der Atmosphäre schafft hierbei eine Brücke aus Analyse und Fantasie, aus Produktions- und Rezeptionsästhetik, worauf Böhme selbst hinweist. Zudem führt er zu einer anzutreffenden Atmosphäre noch aus, dass sie umfassend sei, da sie zumeist einen Raum, ein Gespräch oder ein Werk erfüllt: »Der Grund dafür ist vor allem darin zu suchen, daß es sich bei Atmosphären um Totalitäten handelt: Atmosphären sind über alles ergossen, sie tönen das Ganze der Welt oder eines Anblickes, sie lassen alles in einem bestimmten Licht erscheinen, fassen die Mannigfaltigkeit von Eindrücken in einer Stimmungslage zusammen.«17
Das heißt, man kann über Atmosphären nur vage sprechen, sie sind stark subjektiv geprägt. Böhme fügt an, dass durch das Sprechen über Atmosphären dieselben bis zu einem gewissen Grad aber doch objektiv werden würden. Von der Subjektivität betrachtet, wird man (passiv) in eine Stimmung versetzt. »Atmosphären sind dem Subjekt als ergreifende Mächte gegeben« von der Produktionsästhetik her betrachtet, konstatiert er eine Vielzahl an möglichen untersuchbaren Kategorien. Atmosphären sind machbar: Er führt die Bühnengestaltung an, die den Zuschauer in eine atmosphärisch verdichtete Welt entführen kann: 16 | Böhme 2013, S. 46f. 17 | Böhme 2013, S. 102f.
Okkulter Sound »Wir können miteinander darüber reden, was für eine Atmosphäre im Raum herrscht. Das lehrt uns, daß es eine Intersubjektivität gibt, die nicht in einem identischen Objekt ihren Grund hat. Wir sind es durch das herrschende naturwissenschaftliche Denken gewohnt, anzunehmen, daß Intersubjektivität in Objektivität gründet, daß also die Feststellung des Vorliegens und die Bestimmtheit von etwas von der subjektiven Wahrnehmung unabhängig sind und an einen Apparat delegiert werden können. Die QuasiObjektivität von Atmosphären zeigt sich dagegen darin, daß wir uns sprachlich über sie verständigen können.«18
Böhme konstatiert, dass man zur vergleichbaren Wahrnehmung eines Bühnenbilds in »bestimmte Wahrnehmungsweisen einsozialisiert« werden solle. Bezieht man diese Vorgabe auf okkulte Kunst beziehungsweise auf okkulten Sound, heißt das, dass gewisse »Wahrnehmungsweisen« auch in Bezug auf okkulten Sound eingeübt sein müssten, um diesen als solchen identifizieren zu können. Dazu wäre Voraussetzung, dass der Rezipient okkulten Inhalt erkennt oder, wenn okkulter Sound vor allem durch Form bedingt ist, Kenntnis von dieser Formensprache haben muss. Diese Kenntnis betrifft beide Seiten: das Schaffen von Atmosphären gehört genauso zum Handwerk wie das SichBewusst-Machen der Atmosphären. Ähnlich argumentiert der so genannte Spekulative Realismus, der Sprachskepsis mit einer Ontologie der Dingwelt verbindet.19 Letztlich wird die Perspektive von den Dingen ausgerichtet: Der Mensch erfindet und forscht, doch ist geleitet von der materiellen Umgebung, mehr noch, er ist bestimmt von einer je persönlichen Dingwelt, die ihn umgibt, die ihn beschäftigt, die ihn beeinflusst, die ihn im Umkehrschluss fetischisiert und die er selbst auch stets fetischisiert. Bezogen auf die eigene Schreibsituation heißt das, eine Quod18 | Böhme 2013, S. 104. 19 | Der spekulative Realismus ist vor allem ein Begriff der Blogosphäre. Darunter werden Philosophen wie Ray Brassier, Nick Land, Quentin Meillassoux und Graham Harman gefasst. Eine Kernaussage dieser philosophischen Strömung ist ein post-kantianischer Ansatz, der die Abhängigkeit des Denkens vom Sein und vice versa als anthropozentrisch kritisiert. Die Autoren unterscheiden sich in ihren Ansätzen, für das hier behandelte Thema ist die so genannte objektorientierte Philosophie von Graham Harman am interessantesten: In der Philosophie sind Objekte bislang vorwiegend in Bezug auf die Wahrnehmung des Menschen untersucht worden, am ehesten wurde noch in der Naturund Tierschutzethik auf außermenschliche Perspektiven Bezug genommen. Harmans Ansatz ist von einem Panpsychismus gekennzeichnet: »The comet itself, the monkey itself, Coca-Cola itself, resonate in cellars of being where no relation reaches« (Harman 2007). Dieser Ansatz wäre mit dem Begriff der Atmosphäre zusammenzuführen, um inhärente Verhältnisse des Menschen zu Dingen der okkulten Weltsicht nachzuzeichnen und zu sehen, inwiefern Bedeutung generiert, inszeniert oder gar simuliert wird.
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erat-demonstrandum-Argumentation der mich prägenden Dinge zu führen. Ich erkläre im Grunde das, was sich mir aus meiner Lektüre erschließt; aus diesem hermeneutischen Zirkel der Argumente entkomme ich nicht. Einer Grundannahme zu folgen, zieht eine Linie nach sich. Der erwähnte Artikel von Susanne Nemmertz zum Biwakieren bezweifelt eine solche Linie. Vielleicht geht es auch ohne Abgrenzungen, eher umkreisend? Die kreisende Denkform ist hinreichend essayistisch erprobt und bietet daher eine gute Grundlage, um in unerforschtes Terrain vorzustoßen.20 Die Sound Studies sensibilisieren für die unausgesprochenen Versuche, Gedanken zu einem Thema zu fassen. In Bezug auf okkulte Kunst werden diese unendlichen und doch begrenzten, weil eben fragmentarisch gebliebenen Prozesse von Kreativität von größerer Bedeutung sein. Wenn im Tenor der europäischen Esoterikforschung als nicht zur Gänze bekannte Wissensströme und Traditionen angesprochen werden21, dann wäre es möglicherweise auch ein Gewinn, die Schattenseiten (die nicht gern gezeigt werden) der ›Okkulten Kunst‹-Forschung anzusprechen. Wird von okkultem Sound gesprochen, gilt laut Ausschlusskriterium, dass es einen Sound darüber hinaus gibt, der nicht okkult klingt, denn Sound ohne akustische Wirkung ist wohl denkbar, aber wenig praktikabel. Sound klingt jedoch nicht nur, er ›kulturt‹ und ›kultet‹ auch – entsprechend desjenigen Konglomerats, das in diesem Text als »Sound« begriffen werden soll. Von okkultem Sound zu schreiben, macht nur Sinn, wenn das ›okkult‹ Signifikante hörbar ist. ›Okkult‹ in Bezug auf Sound zu verwenden, so dass dieses Okkulte dann nicht gehört werden kann, öffnet skurriler Spekulation die Tür. Wenn ›okkult‹ nun dem Wortsinn nach ›verborgen‹ bedeutet, so könnte okkulter Sound über eine Atmosphäre verfügen, die nur entfernt etwas mit Musik zu tun hat. Die Entfernung äußert sich in klanglichen Details, die zum Beispiel am Rande des musikalischen Spektrums zu verorten sind. ›Noise‹ ist der Begriff für ein solches Phänomen. Noise ist eine kommunikative Störung. Noise ist jedoch auch ein Genre, das der Erklärung bedarf. Kai Ginkel erläutert in seiner Dissertation Noise. Klang zwischen Musik und Lärm in einer ethnographischen Erkundung die Eigenheiten des Noise-Genres: »Als Musikstil bezeichnet Noise eine stark geräuschaffine Art der vorrangig elektronischen Musik. Empfunden wird Noise oft als klanglich barsch, mitunter als aggressiv 20 | Das kreiselnde Schreiben beginnt bei Montaigne, den man auch als den Begründer modernen essayistischen Schreibens bezeichnet. Im Essay tritt ein persönlicher Bezug auf, der als Ausgangspunkt für ein freies und doch thematisch konzentriertes Schreiben genutzt wird. Kreiselnd bezeichnet hier das Kreisen um das Ich und verdankt sich vor allem dem selbstreflexiven Schreiben der Romantiker. 21 | Ein aktuelles Beispiel wäre Magee 2016.
Okkulter Sound und penetrant. […] Alle Spielarten von Noise verbindet tendenziell das Kakophone, die starke Verzerrung, Verfremdung sowie das Rauschen als buchstäbliche wall of sound. Auch Feedbacks, also Rückkopplungen, werden gern in das Klanggeschehen integriert und wirken auf Außenstehende enervierend. Die Aneinanderreihung und Überlappung von Geräuschtexturen steht oftmals im Vordergrund, während Melodie und nachvollziehbarer Rhythmus tendenziell marginalisiert werden.« 22
Mit dem Genre verbindet sich eine aufruf bare thematische Ausrichtung, eine subkulturelle Ästhetik, die Ginkel in seinem genannten Buch extensiv beschreibt. Interessant in Bezug auf okkulten Sound ist vielmehr die Frage, was mit einer okkulten Sound-Atmosphäre geschieht, wenn sie sich klanglich Richtung Noise bewegt. Dazu müsste zunächst geklärt werden, was denn die Atmosphäre einer okkulten Musik ausmacht oder ob sich eher der Begriff des Soundscapes anbietet, den Raymond Murray Schafer entwickelt hat: eine definierte Umgebung besitzt einen identifizierbaren Klangcharakter, wobei verschiedene Faktoren zum Gesamteindruck beitragen. Er unterscheidet grob zwischen urbaner und ländlicher Soundscape. Der Vorteil dieses durch Schafer näher definierten Begriffs ist, weit zu sein, ohne in Beliebigkeit abzudriften. Schafer versteht unter Soundscape einen immersiven Begriff von Klangwahrnehmung.23 Zentral ist Schafers Gedanke eines Akustikdesigns, der auch von Böhme in seiner Ästhetik der Atmosphären genannt wird.24 Schafer geht von der bewussten Gestaltung des klanglichen Umfelds aus und zeichnet Beschreibungen von Naturgeräuschen in Literatur und Mythos nach. In Bezug auf okkulten Sound rückt der Fokus auf die Geräusche, die Akkorde, die Noten, die eine Musik okkult machen. Böhmes und Schafers Frage nach der Gestaltung von Atmosphäre oder Soundscape könnte auch ein Licht auf okkulten Sound werfen. Leider liefert Schafer in seinem Buch zur Soundscape nur Umrisse, d.h. man müsste noch empirisch erforschen, welche Klänge sich in einem okkult definierten 22 | Ginkel 2017, S. 58f. (Hervorhebung im Original). 23 | Vgl. Schafer 2010, S. 336-419. Der gesamte Teil IV des Buches beschäftigt sich mit dem Akustikdesign. Im Teil III (S. 212-333) beschäftigt sich Schafer mit der Analyse von Sound. Er problematisiert die Kategorisierungen von Sound, auch welche Repräsentationssysteme wie geeignet sind für die schriftliche Wiedergabe von Klang. Letztlich geht es beim Akustikdesign um den Ausschluss unliebsamer Töne. Das steht dem Ansatz von Ginkel 2017 diametral entgegen. Noise als bewusst eingesetztes Erkenntnismoment in der Wahrnehmung der Umwelt. 24 | Vgl. Böhme 2013, S. 101ff. Bei Böhme bezieht sich das Akustikdesign mehr auf die Kunst und Technologie, Atmosphäre(n) bei Kunstwerken oder Installationen herzustellen. Das Besondere hierbei scheint zu sein, dass Atmosphäre nicht nur wahrgenommen wird, sondern als Produktionszusammenhang erlernbar ist.
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Milieu einstellen könnten. An dieser Stelle ist eine Trennung zwischen zwei Ebenen wichtig: Inhalt und Klang. Inhalte aus okkulten Lehren zum Beispiel, wie es Autoren des frühen 20. Jahrhunderts wie Gustav Meyrink oder Franz Spunda in ihren Romanen umsetzten, können zu verschiedener Musik hinzugezogen werden. Meyrink, der Mentor des jungen Spunda, kann als geeignetes Beispiel dienen: »Von Gustav Meyrink […] ist bekannt, dass er sowohl auf dem genuin visionären Aspekt seines Schaffens bestand – d.h. auf einer dem Autor zuteil werdenden, von ihm erfahrenen, aber nicht völlig steuerbaren Begnadung mit paranormalen Einsichten – als auch eine übernatürliche, magische Wirkung der so entstandenen Texte auf den Leser postulierte, eine Art von suggestivem Bann. (Was daran Inszenierung und Selbstmystifikation ist, steht hier nicht zur Debatte.) Der Autor tritt in dieser Auffassung ›als autonomes Subjekt zurück und wird zum ausgewählten Medium, das einen tieferen kosmischen Sinn ausformen darf‹.« 25
Die Diskussion, ob Musik erzählen kann, und wenn, auf welche Weise, wurde bereits angesprochen. In Bezug auf den Okkultismus ist in der klassischen Musik an Alexander Skrjabin zu denken, der Klangfarben mit okkulter Symbollehre verbindet.26 In verschiedenen Musikgenres der Popmusik findet man ebenfalls Bands mit okkulten Inhalten, die zuweilen austauschbar scheinen: Entweder werden Inhalte der Kabbala, des Spiritismus, der Astrologie oder der Sexualmagie als Textinhalte in den Lyrics und im Artwork der Alben verhandelt, oder die Bands entscheiden sich für Science-Fiction-Inhalte. Bands, die innerhalb ihrer Lauf bahn einen solchen Wandel vollzogen haben, sind gar nicht so selten – man denke an Arcturus (Norwegen), Manes (Norwegen), Samael (Schweiz), Tiamat (Schweden), aber auch Bands aus anderen Genres, wie die Fields of the Nephilim (England), die den okkult-mystischen Anstrich bis zu einem gewissen Grad auf den Alben präsentierten, aber in ihren Soloprojekten von dieser Beschäftigung zurücktraten. Die Texte lösten sich von sumerischer Mythologie, Thelema27 und Ritualmagie, machten alltägliche Themen wie Selbstzweifel, Depression und ähnlichen psychologischen Sujets Platz. Die eigentliche Analyse dieser Themen findet nicht in Fachbüchern statt, sondern in der Fachpresse, die im monatlichen Rhythmus auf den okkultistischen Gehalt solcher Musik eingeht. An anderer Stelle habe ich auf den häufigen Mangel an Theorie und Meta-Bewusstsein in solchen Artikeln hingewiesen.28 25 | Fackelmann 2016, S. 50. 26 | Vgl. Schibli 1983, S. 280-350. 27 | »Thelema« ist die Bezeichnung für eine neue religiöse Bewegung, die sich im Wesentlichen auf die Schriften Aleister Crowleys beruft. Vgl. Ludwig 2005. 28 | Vgl. Irtenkauf 2014b.
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Kritische Analyse wird meist durch bildliche Rede und anekdotisches Wissen ersetzt. Eine ernstzunehmende Analyse okkulten Sounds integriert kulturelles Wissen, performative Orientierung – wie zuvor beim Biwakieren vorgestellt – und eine kritische kulturwissenschaftliche Einschätzung des Artefakts. Kurzum, einen zu untersuchenden Sound als okkult wahrzunehmen, setzt voraus, dass der Hörer die Parameter erkennen kann. Für einen Laien erschließt sich diese Wahrnehmung nicht unbedingt sofort. Der Gestus mancher Musiker, okkulten Sound als Offenbarungswissen zu präsentieren – wie es die schwedischen Bands Dark Funeral oder Dissection tun – fügt dem akustischen Erlebnis keine Qualität hinzu. Was sich verändert, ist die Kontextualisierung der eigenen Musik. Indem die Musik als okkult bezeichnet wird, gewinnt sie im Szenediskurs eine zusätzliche narrative Dimension. Diese Dimension expliziert zum Beispiel Dayal Patterson in seinen zwei umfangreichen Büchern zum Black-Metal-Phänomen. In Black Metal. Evolution of the Cult – Die Mythen, die Musik und ihre Macher geht Patterson intensiv auf die Bandgeschichten ein. Eine (kritische) Bestandsaufnahme der inhaltlichen Bezüge dieses Subgenres fehlt leider. Vorwiegend bestehen Pattersons Bücher aus Interviews mit den Musikern, die sich auf Nachfrage auch zu okkulten Themen äußern. Der japanische Musiker Hirai von der Band Sigh zum Beispiel führt hierin an, er habe sich mit »zum Beispiel beschwörende[n] Mantras«29 beschäftigt. Zudem führt der Musiker aus, wie die Komposition des Songs »The Curse Of Izanagi« in seiner künstlerischen Perspektive okkulte Bezüge aufweist. Er weist auf gewisse unerklärliche Vorfälle in Bezug auf die Veröffentlichung des Stückes hin. Ein Großteil der Musik mit okkultem Bezug verhandelt rituelle Magie, häufig in Anlehnung an »Szene«-Vorbilder wie Aleister Crowley, Austin Osman Spare, Anton S. LaVey oder Gerald Gardner.30 Allen gemein ist der Sinn fürs Außergewöhnliche und eine gewisse Neigung für Show-Präsentationen. Sie alle eint das Interesse an Methoden der Inszenierung und die Frage nach dem Wahrheitsgehalt okkulter Phänomene. Die Annahme einer Existenz von Geistern etwa wird unterschiedlich bewertet: Während in Europa Geister in einer Erzählung die Zuordnung zur phantastischen Literatur nahelegen, ist in manchen afrikanischen Geschichten die Geistererscheinung nicht Teil eines phantastischen Genrebegriffs, sondern Ausdruck einer Beziehung zu den Ahnen.31 29 | Patterson 2017, S. 618. 30 | LaVey ist der Begründer der First Church of Satan, Gardner ein wichtiger Initiator der modernen Hexenbewegung, insbesondere Wicca. 31 | Christian Hoffmann weist in seiner Monographie Phantastische Literatur aus Afrika auf diesen Umstand hin. Die Voraussetzungen von Welt in Kunstwerken hängen von der Kultur ab, in der sie verfasst werden. Was trivial klingen mag, entwickelt in nicht wenigen Fällen politisches Konfliktpotenzial, da die Gründe für eine Nichtbeachtung
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Legt man die Äußerung des japanischen Musikers Hirai zugrunde, dann geht er davon aus, dass sich in seiner Kunst eine Reihe von Effekten, die mit den Wirkungen eines Schadenszauber vergleichbar seien, zeigten. Für die okkulte Kunst ließe sich ein solches parapsychologisches Verständnis mit experimenteller Ästhetik verbinden, in dem Sinne, dass außergewöhnliche Erfahrungen in einer Atmosphäre gemacht werden, die dem okkulten Sound zugerechnet werden kann. Okkult ist, wie bereits angeklungen, eine »weitfächerige« Vokabel, die zwar nicht alles, aber mehrere unterschiedene Definitionen in sich birgt. An dieser Stelle zeigt sich die kreative Seite okkulten Sounds – indem das Ziel »okkulter Sound« während der Komposition definiert wird. Der oder die Musiker suchen quasi die Komponenten der Komposition, die für die Realisation eines imaginierten »okkulten Sounds« ihrer Meinung nach am angemessensten sind. Viele Musikgruppen aus dem Rock- oder Heavy-Metal-Feld könnten aufgrund der inhaltlichen Beschäftigung mit dem Okkultismus dem okkulten Sound zugeordnet werden. Ein Beispiel wäre die Band Therion aus Schweden. Seit dem Album Lepaca Kliffoth (1995) schreibt Thomas Karlsson die Texte; Karlsson ist Mitglied im Orden Dragon Rouge32, der seinen Mitgliedern einen synkretistischen Mix aus verschiedenen Okkultismen anbietet. Karlsson veröffentlicht in regelmäßiger Folge Buchpublikationen zu kabbalistischen, magischen und mythologischen Themen. Konsequent tragen auch Stücke und Alben von Therion mitunter die Titel von Karlssons Buchpublikationen. Therion kleiden die Texte mit okkultem Inhalt in ein Subgenre von Heavy Metal, symphonisch durch Keyboardeinsatz und dem Genre Heavy Metal durch entsprechende, verzerrte Gitarren und schnelle Drumbeats als zugehörig identifizierbar. Dietmar Elflein hat in seiner Dissertation Schwermetallanalysen (2010) entsprechende Parameter aufgeführt, die eine musikwissenschaftliche
zum Beispiel afrikanischer Literatur und Musikgruppen wesentlich mit dem ökonomischen Machtgefälle zwischen nördlicher und südlicher Hemisphäre zu tun hat. Der Afrofuturismus versucht, durch ästhetische und politische Visionen die Dominanz weißen Kulturschaffens und nordweltlicher Ökonomie zu brechen. Das hier benutzte Verb weist bereits auf den kämpferischen Charakter dieser kulturellen Bewegung hin. Die Cultural Studies nehmen sich aus einer Selbstdefinition heraus dieser marginalisierten Phänomene an. Rainer Winter versammelt in einem neueren Band mehrere Zukunftsperspektiven, die als gedankliche Anregung zur weiteren Beschäftigung der hier nur angerissenen Themen genutzt werden können. Vgl. Winter 2011. 32 | Der Orden beschäftigt sich mit einem Synkretismus aus einer modernen Interpretation der Kabbala, goetischer Magie und altorientalischer wie alchimistischer Symbolik. Vgl. Pasi 2007.
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Identifikation von Metalsongs möglich machen.33 Das ästhetische Gesamtpaket der Musik von Therion präsentiert eine Atmosphäre, die wir in Rekurs auf die Überlegungen Gernot Böhmes als okkult bezeichnen können, zumal die Albentitel Buchtiteln des Okkultautors Kenneth Grant entsprechen. »Nightside Of Eden« heißt ein entsprechender Song der Band, über Lepaca Kliffoth schreibt Karlsson in seinem Buch Kabbala, Qlipoth und die goetische Magie.34 So heißt das Therion-Album aus dem Jahr 1995. Das Album war für die Band ein wichtiger Schritt in Richtung symphonischen Metals. Ihr Sound – verwendet im musikjournalistischen Sinne als Gesamteindruck durch ein Album oder mehrere Alben in Folge – entfernte sich vom gutturalen Death Metal früherer Tage und nahm eine Zwischenstufe an. Der bereits erwähnte Dietmar Elflein weist in seinem Buch zur Sprache des Heavy Metals auf die Probleme hin, die eine Parallelisierung von Musik und Sprache oder die Annahme einer Sprache der Musik mit sich bringt.35 Zumindest der Titeltrack des Albums Lepaca Kliffoth nimmt durch einen stark hymnischen und repetitiven Refrain den Eindruck eines Rituals an. Mehr noch wird bei einem Konzert der Band auf eine entsprechende Atmosphäre Wert gelegt. Böhme führt in seinem Buch das Stage-Design an, leider aber lässt er sich nur in einem Nebensatz auf Rock- oder Popmusik ein. Die Symbolik der Heavy Metal-Kultur wird im Sammelband Metal Matters. Heavy Metal als Kultur und Welt ausführlich beleuchtet: »[…] Metal [ist] eine Kultur, die sich auf spezifische, und auf radikalere, tatsächlich aber noch nicht ganz erfassbare Weise verweigert. Die Herausgeber verdanken viel einem von den Cultural Studies geprägten Verständnis gegenüber Populärkultur. Und insofern erscheint es uns auch sinnvoll, die Cultural Studies als ein Instrument zu begreifen, den liminalen Status von Heavy Metal zu erfassen.«
Dies integriert eine kritische Analyse der »kulturellen Formation Heavy Metal«36, auch in Bezug auf das Konzept eines okkulten Sounds. Das Stage-Design bietet die Grundlage für die Analyse. 33 | Elflein identifiziert verschiedene musikalische Einflüsse in den Genres der Metalmusik. Er spricht vom Traditionsstrom, in den sich die Musiker begeben. Den Begriff hat er von Assmann übernommen und er geht auf den Assyriologen Leo Oppenheim zurück. Der Traditionsstrom hat dabei mit Erinnerung(en) zu tun, und Elflein argumentiert, dass zum Beispiel ein Lied von Iron Maiden als dem Metal zugehörig erkannt wird, wenn »Erinnerungen von ähnliche[n] bereits gehörte[n] Musiken [sic!] und deren Bezeichnung mit Heavy Metal« vorhanden sind. Vgl. Elflein 2010, S. 15. 34 | Vgl. Karlsson 2011. 35 | Vgl. Elflein 2010, S. 26ff. 36 | Beide Zitate in Nohr/Schwaab 2010, S. 14.
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B öhmes »A tmosphäre « als me thodischer Z ugang Gernot Böhme beschreibt in seinen Essays zur neuen Ästhetik (1995) Atmosphäre als »Grundbegriff einer neuen Ästhetik« wie auch als »ihren zentralen Erkenntnisgegenstand.«37 Durch die Fokussierung der ästhetischen Erfahrung auf die Atmosphäre ist nach Böhme eine Erweiterung der ästhetischen Erfahrungen möglich, denn er konstatiert, dass in der klassischen Ästhetik lange Zeit gewisse Bereiche der Kunst von ästhetischer Betrachtung ausgeschlossen wurden. Der Atmosphärenbegriff hat den Vor- und Nachteil, dass er eine den Raum ausfüllende Konnotation besitzt, ja das Volumen annimmt, das er beschreibt: die Atmosphäre eines Abends füllt diesen Abend ganz aus, während die Atmosphäre eines Raumes auch diesen umfasst. Von Vorteil ist eine solche Betrachtung, da durch die Atmosphäre ein Feld beschrieben werden kann, in dem der Betrachter selbst inbegriffen ist. Die Schilderung der Atmosphäre erfolgt, indem der Betrachter sich selbst in diesem Setting begreift. Es ist an dieser Stelle naheliegend, an der bestehenden Populärmusikforschung mit einer Erweiterung hin zu den Sound Studies anzuknüpfen. Gernot Böhme hat sich an der Kantianischen Ästhetik abgearbeitet und daraus eine Ästhetik der Atmosphäre entwickelt. Es ist ihm durchaus zuzustimmen, dass letztere im ästhetischen Diskurs eher vage auftaucht, jedoch nicht zufriedenstellend analytisch erfasst wurde. Sein Ansatz dient als Ausgangspunkt, transformiert sich in der Analyse dann eher in die Richtung, die Rolf F. Nohr und Herbert Schwaab in ihrem Sammelband vorgeben: Cultural Studies als die argumentativ organisierte Frage nach der Manipulation von Macht und Vorstellung. Okkulte Kunst bedient sich einer analysierbaren Illusion: laut dem Wortsinn verborgen, aber zugleich erkennbar zu sein. Es wurde bereits angedeutet, dass Musiker zuweilen unter okkultem Sound nicht verborgenen Klang imaginieren, sondern eigene Kompositionen mit entsprechendem Inhalt. Der Inhalt ist eine mehr oder minder individuelle Interpretation okkultistischer oder esoterischer Lehren, einzelner Okkultisten, Künstler und Schriftsteller. Zudem erweitert sich der Blick auf ästhetische Phänomene, das Spektrum wird größer. Böhme führt weiter aus: »Vor allem aber wird nun die außerordentliche Begrenztheit der bisherigen Ästhetik deutlich, denn es gibt ja sehr viel mehr Atmosphären, um nicht zu sagen unendlich viele: die heitere Atmosphäre, die ernste, die schreckliche, die bedrückende Atmosphäre, die Atmosphäre des Grauens, die Atmosphäre der Macht, die Atmosphäre des Heiligen und des Verworfenen. Die Mannigfaltigkeit der sprachlichen Ausdrücke, die hier zur Verfügung stehen, deutet darauf hin, daß es ein sehr viel komplexeres Wissen von Atmosphären gibt, als die ästhetische Theorie ahnen läßt. Insbesondere aber ist ein außer37 | Böhme 2013, S. 34.
Okkulter Sound ordentlich reicher Schatz an Wissen um Atmosphären im Praxiswissen der ästhetischen Arbeiter zu vermuten.« 38
›Image‹ nicht nur im Wortsinne als Bild, sondern als Lehnwort aus dem Englischen, das für eine Inszenierung des Künstlers als eine Persona steht, verstanden, spielt im Kontext des okkulten Sounds eine bedeutende Rolle. Ein Beispiel hierfür wäre der sogenannte Occult Rock, der Elemente aufgreift, die Ende der 1960er die britische Band Black Sabbath entwickelt hat. Inspiriert von Horrorfilmen und den sich abzeichnenden Konflikten im Kalten Krieg schufen sie eine Rockmusik, die bewusst ›schwer‹ klingen soll, sowohl inhaltlich wie auch formal-akustisch. Auch ›schwer‹ ist eine Metapher, eine Behelfsvokabel, um einen Klangeindruck zu beschreiben, der von Mensch zu Mensch je verschieden wahrgenommen und ausgedrückt wird. Bis zu einem gewissen Grad kann aber Intersubjektivität erzeugt werden, indem sich die Hörenden darüber austauschen, wie der Status Quo einer gewissen Musikrichtung wohl aussehen könnte. Es gibt Journalisten und Fans, die monatlich den Veröffentlichungsrhythmus verfolgen und entsprechende Überblicke erstellen. Was dabei mehr ins Gewicht fällt, ist die Wiederholung als Bestandteil einer Identitätskonstruktion. Sowohl in der Populärmusik (und darüber hinaus) wie auch im Okkultismus bestehen verschiedene Traditionsströme, in die sich die Interpreten einfügen, daran arbeiten oder möglicherweise auch dagegenstellen. In der Musik etwa die Subgenres und verschiedenen Musikrichtungen, die sich stellenweise überlappend auf die gleichen Ursprungsinterpreten beziehen, mehr noch: eine zu ermittelnde Liste von Inhaltsstoffen für dieses oder jenes Subgenre vorschreiben. Jedenfalls liegt dem Zusammenspiel von ›okkult‹ und Sound stets eine Setzung zugrunde.39 Allein durch seine Materialität ist kein Gegenstand okkult, er wird es erst durch die Einbindung in eine symbolisierende Kontextualisierung und das entsprechende Urteil, das ein Subjekt über den Gegenstand spricht. Erst durch die inszenierte Umgebung, die Atmosphäre, wird ein Sound in der Analyse ›okkult‹. Okkulter Sound im Kontext einer okkulten Kunst ist in ein Warensystem integriert, aus dem sich ästhetische Entscheidungen entwickeln. Sie lassen sich vor dem Hintergrund eines kontinuierlichen Produktionszusammenhanges erklären. In Bandinterviews zeigt sich – trotz der starken Diversifikation populärer Musikstile seit den 1950er Jahren – eine mehr oder minder bewusste
38 | Böhme 2013, S. 35. 39 | Davon abgetrennt ist die Debatte um okkulte Sounds in der Natur, die selbstverständlich auch in popkulturellen Kontexten neu auftauchen kann. In Geistergeschichten z.B. wird der eigentlichen Natur von unbekannten Geräuschen nachgegangen, sie verunsichern und machen Angst. Vgl. Sawicki 2016 und Lovecraft 2014.
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Auseinandersetzung mit bestehender Ideengeschichte, popkultureller Tradition und Innovation wie auch weltanschaulicher Ideologie.40 Die französische Band Aluk Todolo veröffentlichte im Jahr 2012 das Album Occult Rock – es ist ein instrumentelles Album. Die Stücke sind mit römischen Ziffern nummeriert. Als Anhaltspunkt auf inhaltlicher Ebene kann das Cover-Artwork dienen: Es zeigt mehrere Bergspitzen. Die Musiker scheinen den Titel nicht ausschließlich auf das Occult-Rock-Genre zu beziehen. Das Gebirge besteht ebenfalls aus »rock« (Felsen). Zudem besitzen Berge einen wichtigen geopoetologischen Ort in der Topologie okkulter Lehren.41 Kann durch diese inhaltliche Einbettung die auf Occult Rock präsentierte Musik als okkulter Sound bezeichnet werden? Gegenfrage: An welchen Orten wird auf welche Weise über die Musik von Aluk Todolo gesprochen? Das erfordert eine umfassende Diskursanalyse, eine Darstellung der Medienberichte, der Selbstaussagen, der Musikgeschichte in diesem Stil und zuguterletzt der Atmosphären auf den jeweiligen Alben der Band. Der Vergleich all dieser Quellen könnte eine Ahnung vom okkulten Sound geben, wie ihn Aluk Todolo realisiert. Dieser unterscheidet sich von den bereits erwähnten Therion, insofern nicht explizit Okkultismen zitiert werden. Der Titel allein verweist auf das Okkulte. Möglicherweise drückt das Foto auf dem Cover eine weitere okkulte Dimension aus: ein nebelverhangener Berggipfel. Die Ikonographie ist aus der Romantik, rosenkreuzerischen Darstellungen mystischer Aufstiegswege oder daoistischer Malerei mit Bezug zum Aufenthaltsort der Unsterblichen bekannt. Eine Referenz aus der bildenden Kunst wären die Gemälde des Künstlers Nicholas Roerich, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts Gemälde mit Motiven aus dem Himalayagebirge kreierte.42 Der Titel des Albums fokussiert die Interpretationsbreite auf ein Thema, nämlich okkulten Rock bzw. okkulten Felsen. Nun kann dieser Albumtitel das Attribut ›okkult‹ als Metapher verwenden. Eine Metapher transportiert das metaphorisierte Wort in ein anderes
40 | Vgl. Williams 1983, S. 9-44. Williams Interesse an Popkultur ist vor allem durch politische Gründe geprägt. Die Cultural Studies behalten sich Interventionen vor, aus wissenschaftlichen Erkenntnissen politische Forderungen abzuleiten. Das »Einmischen« gehört elementar zu dieser Art Forschung. Vorliegender Beitrag übernimmt bewusst nicht alle Implikationen einer solchen Perspektive. 41 | Zur Bedeutung von Bergen im Black Metal vgl. Irtenkauf 2014a. 42 | Der hier aufgeführte Bildkontext findet sich in Büchern zu Nicholas Roerich. Ein anderer Zugang findet sich in einem schmalen Buch zum Genre Bergmetal, das ein inhaltliches Motiv – Berge – zur Kennzeichnung eines neuen Stils anführt. Heilige bzw. unheilige Berge, die man als Mensch besser nicht herausfordert. Vgl. Decter 1989. Roerich gründete gemeinsam mit seiner Frau Helena die theosophische Vereinigung Agni Yoga oder »Lebendige Ethik«.
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Bedeutungsfeld. Bei Aluk Todolo ist dies einerseits die auf diesem Album präsentierte Musik, andererseits der dargestellte Berg. Das Attribut ›okkult‹ fügt in diesem Kontext noch weitere semantische Aspekte hinzu. Das Genre, das Aluk Todolo bedienen, unterhält in Teilen seiner Vertreter eine enge Verbindung zum Okkultismus.43 Ob das Genre Black Metal generell mit okkultem Sound in Verbindung gebracht werden kann, steht auf einem anderen Blatt. Eine solche Typologisierung fällt schwer, zu verschieden sind die Konzepte und Haltungen der Musiker. An Einzelbeispielen lässt sich jeweils aufzeigen, wie okkulte Theoreme, Symbole und Inhalte verwendet werden. Den Inszenierungsstrategien zum Trotz erscheint in regelmäßiger Folge Literatur, die Black Metal mit Okkultismus in enge Verbindung bringen möchte. In der Forschung werden manche dieser Bücher als Quellen herangezogen. Vor allem das Buch Lords of Chaos des US-amerikanischen Musikers und Autors Michael Moynihan und des norwegischen Journalisten Didrik Søderlind wird gerne zitiert.44 Das ist insofern problematisch, da es zumindest für wissenschaftliches Niveau zu sehr an einer eigenen Mythenbildung partizipiert. Besonders die Charakterzeichnungen der Realpersonen in Skandinavien, die an der Weiterentwicklung des Black Metals wesentlich beteiligt waren, scheinen teilweise problematisch als Grundlage für eine seriöse Recherche. Eine andere Verwischung der analytischen Grenzen erfolgt in der vorwiegend im angloamerikanischen Raum praktizierten Black Metal Theory: im Begleitbuch Hideous Gnosis zum ersten Symposium in New York werden Black-Metal-Alben mit französischer Philosophie oder Positionen der Scholastik zusammengebracht, großteils ohne eine Meta-Reflexion der Gleichsetzung von Black-Metal-Musik mit Philosophemen.45
O kkulter S ound ohne S ymbolmarker In Anlehnung an Böhmes Atmosphären-Begriff soll nun gefragt werden, welche Parameter okkulten Sound ausmachen. György Ligetis Soundtrackbeitrag zu Stanley Kubricks 2001: A Space Odyssey (1968) bietet sich aus verschiedenen Gründen als Beispiel an. Das Setting dieser Musik, die Unterstützung der jeweiligen Filmszene – ein unbekanntes Objekt im Kosmos – hinterlässt einen Eindruck der Fremdheit. Das Objekt ist außerirdischen Ursprungs und die Musik unterstreicht diesen Eindruck. Wie macht sie das? Es könnte musikwissenschaftlich argumentiert werden, mit Kompositions- und Harmonielehre – und insbesondere der Transzendierung 43 | Thacker 2011. 44 | Vgl. Moynihan/Søderlind 2008. 45 | Vgl. Masciandaro 2010.
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klassischer Konzepte ihrer Grundlagen in der Neuen Musik, welche in der Science Fiction zum typischen Sound wird.46 Was jedoch in der AtmosphärenDefinition nach Böhme zentraler ist, sind die sinnlichen Eindrücke, die durch eine informierte und in diesen Dingen erfahrene Sicht zu Tage treten. Der Auszug aus Ligetis Requiem kann insofern als okkulter Sound gelesen werden, als dass er zu Illustrationszwecken einer Szene eingesetzt wird, die ein ungelöstes oder in anderen Worten vages bzw. oszillierendes Ereignis darstellt. Es ist nicht klar, was dieser schwarze flache, steinähnliche Gegenstand im Kosmos in der Eingangsszene zu bedeuten hat – erst eine Untersuchung des Materials, der Herkunft, der Funktion, des Gebrauchswertes, der Symbolik wird den Gegenstand in bestehende Bedeutungsstrukturen einordnen können. Ähnlich verhält es sich in einer Gespenstergeschichte, in der unbekannte Geräusche auftauchen, die auf etwas in der Dunkelheit, im Verborgenen hinweisen. Erst weitere Nachforschungen können das vage Ereignis klären. Wenn es jedoch unklar bleibt, wird ›okkult‹ weiter zutreffend sein. Diese Unklarheit kann zur starken Position ausgebaut werden, zum Beispiel, wenn die Musik verlassen und in das Feld des Noise übergegangen wird. Noise kann hier einerseits als ein Genre bezeichnet werden, die Geräusche aus der Umwelt, selbst »komponierte« Geräusche und Fragmente von Musik zu einem Stück zusammenschweißen, das intentional verstören und Erwartungen zerstören möchte.47 Okkulte Kunst als intentional zu definieren, lässt sich nur begrenzt auf okkulten Sound übertragen.48 Wie jedes Kunstwerk ist Musik bis zu einem gewissen Grad offen interpretierbar. Sicher gibt es kulturell vereinbarte oder durch Tradition und Konvention sich abzeichnende Verbindungen zwischen Stimmungen oder Atmosphären und der inhaltlichen Zuschreibungen. Welche Musik klingt traurig? Erhebend? Freudig? Gut? Böse? Dunkel? Welche Musik klingt okkult? Subjektivistische und zugleich durch den Dialog über sich selbst intersubjektive Kunst eröffnet ein weites Spektrum an Interpretationsmöglichkeiten. Das Interessante an der Selbst- und Fremdbestimmung als Werk der okkulten Kunst sind die zentralen Parameter, wie man sie behelfsweise nennen könnte, d.h. die Symptome, die einen Urheber wie Betrachter dazu veranlassen können, von okkulter Kunst zu sprechen. Ob überhaupt diese Parameter einer 46 | Zur Neuen Musik vgl. z.B. Vogt 1982. 47 | Für eine ausführliche Genregeschichte und einen analytischen Zugriff auf diesen Musikstil vgl. Ginkel 2017. 48 | Arthur C. Danto interessiert sich in The Abuse of Beauty vor allem dafür, ab wann etwas Kunst ist und welche Zuschreibungsprozesse vor sich gehen, dass eben ein Urinal zur Kunst erklärt werden kann. Vgl. Danto 2003.
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okkulten Kunst auch auf den okkulten Sound zutreffen, hängt stark von den Signalmarkern ab, die im Kunstwerk verankert werden. Wie kann ein Hörer nun okkulten Sound erkennen? Hierbei ist zu bedenken, dass in gewissen Genres bereits ein Reden über Okkultes üblich ist, in anderen wird es entweder marginalisiert oder nicht beachtet. Zunächst wird ein möglicher Hörer nur undeutliche Spuren von okkultem Sound als solche wahrnehmen oder auch nicht, weil ein Hörer, der ein Beispiel okkulten Sounds rezipiert, nicht unbedingt eine Ahnung von Okkultismus besitzt. Er kann die Musik hören, ohne das Wissen um Okkultes. Durch das Wissen um das ästhetische Urteil ›okkult‹ müsste ein Surplus hinzukommen. Das könnte hörpragmatische Erkenntnisgewinne bringen: Wer okkult hört, wird achtsamer bezüglich seiner Weltwahrnehmung. Oder besitzt das Hören okkulter Musik neurologische Vorteile, die in der Musiktherapie genutzt werden könnten? Im Verbund mit den Texten und dem Artwork könnte okkulter Sound einen hohen Anschauungscharakter besitzen, d.h. er könnte ein komplexes Thema aus dem Traditionsstrom des Okkultismus, der Weisheitslehren, der Kunst anschaulich präsentieren und vor allem hörbar machen. Okkulter Sound könnte als eine methodische Herangehensweise von Musikern an Geräusche, Klänge und Komposition verstanden werden. Wenn als ›okkult‹ das bezeichnet wird, das verborgen und noch unaufgeklärt ist, dann könnte hörbarer okkulter Sound Musik sein, die eben diese bislang ungehörten Klänge aufgreift und zu Kompositionen verarbeitet. Die Einzelanalyse zeigt, dass sich okkulter Sound als eine vergleichsweise vage Bezeichnung erweist. Das Attribut ›okkult‹ assimiliert verschiedene Bedeutungen und je nach Kontext liegt der Fokus der Urheber okkulten Sounds auf der Performance bzw. Bühnenshow, auf dem Inhalt oder auf einer erkenntnisstiftenden Funktion, durch das Hören der Musik könne ein Prozess initiiert werden, hergeleitet aus einem Synkretismus aus verschiedenen okkulten Traditionen.49
U nmöglichkeiten zu denken : okkulter S ound Okkulter Sound stellt ein Angebot dar, entweder die formale oder die inhaltliche Seite zu beachten. Okkulter Sound stellt an die Hörer den Anspruch, die okkulten Elemente als Lücken im Hören wahrzunehmen. Weist das Artwork oder die Show auf Bezüge zu Okkultem hin, schließt das nach Ansicht der Urheber auch die Musik mit ein. Aber wie sollte okkulter Rock, Metal oder Dub klingen? Ein kritischer Beobachter dieser Stile bemerkt gewisse thematische Vorlieben, die in Rekurs auf eine bestehende Tradition, aber auch unter As49 | Diese Traditionen werden in der Esoterikforschung ausführlich beschrieben, vgl. z.B. Stuckrad 2004.
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pekten einer Innovation und Abgrenzung zu den Mitbewerbern ausgewählt werden. In den Popular Culture Studies wird in diesem Kontext gerne von einer »Occulture« gesprochen. Christopher Partridge führt in The occult World (2015) einige Beispiele für vom Okkultismus beeinflussten Popmusik an. Im Bereich Black Metal nennt er ebenfalls Therion, die mit dem Dragon-Rouge-Orden kooperieren wie auch Dissection, die einen eigenen Orden mit Namen »Misanthropic Luciferian Order« (MLO, später »Temple of the Black Light«) gegründet haben.50 Eindeutig lassen sich diese Gruppen der »Occulture« zuordnen. Andere genannte Musiker betreffen die in entsprechenden Szenen bekannten Current 93 und Genesis P-Orridge, die sich mit Aleister Crowleys und Austin Osman Spares magischen Systemen beschäftigten. Partridge zitiert auch einen Aufsatz von Granholm, aus dem hervorgeht, dass einige Black-Metal-Bands einen Orden mit dem Titel »Luciferian Flame Brotherhood« beziehungsweise »Serpent Flame Brotherhood« mit dem folgenden Ziel gegründet haben: »The aim of this fraternity is ›not to become an initiatory order in itself, but to direct the musical expressions of the occult to align them with ritual magical practice‹«51. Der Kontakt zum Orden geschieht über Musiker der skandinavischen Bands Ofermod oder Ondskapt. Sie veröffentlichen in regelmäßiger Folge neue Alben; die Texte scheinen sich nicht sonderlich vom Gros der okkultinspirierten Themen des Subgenres zu unterscheiden. Ondskapt bedeutet auf Deutsch »böse«, was den Eindruck eines konventionellen Verständnisses von Metalmusik verstärkt.52 Auf Ondskapts Album Dödens Evangelium (2005) finden sich Songtitel wie »The Fire Of Hel«, »Beast Of Death« oder »Witch«. Die klangliche Ausgestaltung orientiert sich am Black Metal, wie er zu Beginn der 1990er Jahre in Skandinavien aufgenommen und global vertrieben wurde. Was ist okkult daran? Ondskapt geben auf ihrer Webseite eine Erklärung, das Official manifest of Ondskapt und beschreiben darin, dass die Welt vor die Hunde gehe und dass das Böse inzwischen zur Mode geworden sei. Ondskapt nimmt sich von dieser Nivellierung aus und statt okkulter Lehren führen sie eher lebenspraktische Überlegungen an, etwa wie man dem Teufel gerecht 50 | Philip Akoto führt in Akoto 2006 einige Hintergrundinformationen zu dem MLO an. Der Orden ist stark an den mittlerweile durch Suizid verstorbenen Bandleader von Dissection gekoppelt. In einem synkretistischen Zugang stellt sich der MLO gegen eine aus der christlichen Tradition gespeiste Satansfigur und setzt dem eine hohe, zumindest verbal ausgestaltete Gewaltbereitschaft und elitäre Menschenverachtung entgegen. Bei Trummer 2011 findet man über das ganze Buch verstreut historische Herleitungen der Teufelsfigur, die auch in die Thesen des MLO-Ordens fließen. 51 | Granholm 2013, S. 20. Übersetzung D.I.: »Das Ziel der Bruderschaft ist es nicht, ›selbst ein Einweihungsorden zu werden, sondern die musikalischen Ausprägungen des Okkulten mit ritueller magischer Praxis in Einklang zu bringen.‹« 52 | Vgl. Trummer 2011.
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werden könne. Diese Zeilen ähneln stark den Maximen, die Anton S. LaVey mit seiner Satanischen Bibel (1969) entworfen hatte – das heißt eine libertäre Lebensphilosophie, die auf Selbstverwirklichung und hedonistische Befriedigung im Namen Satans abzielt. Satan gilt LaVey als eine Art Projektionsfläche in der Popkultur der 1960er Jahre. Einen guten Einblick in diese Lebenskunst und die nicht ganz unumstrittene Person LaVey gibt die ins Deutsche übersetzte Biographie The Devil’s Avenger. Eine Biographie von Anton Szandor LaVey von Burton H. Wolfe aus dem Jahr 1974.53 In Bezug auf Ofermod, der anderen beteiligten Band, ist vor allem Michayah Belfagor hervorzuheben, der als Kopf der Gruppe bezeichnet werden kann, und der eine längere Pause von der schwedischen Band mit seiner Beschäftigung mit okkulten Praktiken begründete. Nach Durchführung von sogenannten Astralreisen schreibt er nun die Texte für die Band. Okkulter Sound wird hier zum poetologischen Prinzip. Er liefert die Erklärung für die Atmosphäre, die seine Erlebnisse in der okkulten Sphäre in die Musik transferieren soll. Dadurch wird die Musik von Ofermod okkulter Sound. Was geschieht nun, wenn eine Band aus einem anderen Musikstil wie zum Beispiel die Waliser Skindred einen der Songs mit ›okkulten Lyrics‹ nehmen, ihn instrumentell interpretieren, dabei jedoch den Text durch ein politisches Statement gegen den Rechtspopulismus der Gegenwart austauschen? Das wäre ein spannendes Experiment: Skindred sind für Samples im Metal-Bereich bekannt; sie übernehmen charakteristische Teile von Songs und fügen sie in ihr eigenes politisch-kritisches Programm ein. Die okkultistische Grundlage des Textes und der Komposition bleiben: in dem Fall die Trance nach der Astralreise. Für den Hörer wird das jedoch nicht erkennbar – der Text weist politischen Inhalt auf, und selbst wenn das Stück originalgetreu nachgespielt wird, so könnten andere Bands aus dem Genre mit vergleichbarem akustischem Muster gezeigt werden, die sich nicht als okkult verstehen. Wie kann etwas also wie okkulter Sound klingen, wenn es gar nicht okkult ist? Die Signifikation erfolgt nicht über die Akustik. Sie erfolgt über die Ideen hinter dem Höreindruck. Die Definition bestimmt der Urheber; der Rezipient nimmt diese an oder lehnt ab. Okkulter Sound kommt nach dieser Lesart nur zustande, wenn beide, der Urheber des Sounds und der Hörer des Sounds, miteinander kommunizieren. Timothy Morton veröffentlichte 2007 seine Schrift Ecology without Nature und argumentiert darin, dass die menschlichen Vorstellungen der Natur häufig einen effektiven Schutz derselben verhindern. Denkt man dieses Modell weiter, so dividiert sich der Mensch aus der Natur heraus und das, was verborgen und nicht klar erkennbar ist, liegt einerseits im Dunklen (Morton spricht 53 | Vgl. Wolfe 2007.
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auch von einer »dark ecology«54), andererseits in der Zukunft, die noch nicht vollständig erkannt werden kann. Okkulter Sound mag dann das sein, was außerhalb des Menschen geschieht und er versucht, in der Kunst dieses Außen einzufangen. Erkenntnis fordert Haltung, Handlung und Änderung. In diesem Sinne könnte man den okkulten Sound auch in Algernon Blackwoods Erzählung Die Weiden aufspüren. Der Ich-Erzähler vermeint eine Intelligenz hinter den im Wind wiegenden Weiden wahrzunehmen.55 Er sucht nach wissenschaftlichen Erklärungen, seine Stimmung trägt zur Unklarheit der Szenen bei. Ein leiser Klang wird vermutlich von Uferpflanzen heranwehen, vage nur und nicht zur Gänze deutbar. Ich frage mich, ob dieser Mensch möglicherweise Bedeutung in ein Phänomen liest, das einfach einfach ist. Oder anders formuliert in Rekurs auf Kants Fragen: Was können wir wissen? Wenn wir in Kontakt mit einer Natur kommen, die sich unserer Wahrnehmung widersetzt, die eventuell die biologischen Grundlagen unserer Philosophie gefährdet, dann entsteht vielleicht okkulter Sound, weil wir etwas hören, das wir nicht kennen, das wir nicht einordnen können und das uns vielleicht Angst macht. Die Zukunft macht aber nur dann Sinn, wenn die Hoffnung auf Neues nicht enttäuscht wird. Es gilt also, weiter im Dunkeln zu forschen.
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54 | Morton 2007. Morton beschäftigt sich mit der Literatur der englischen Romantik. Für ihn hat diese wesentlich zur Ausformung einer »environmental language« beigetragen. Interessant für den vorliegenden Beitrag ist Mortons Auseinandersetzung mit R. Murray Schafers »soundscape«-Begriff, den er als eine Form von romantischer Wahrnehmung einschätzt (vgl. Morten 2007, S. 42f.). Es gehe um eine holistische Klangwahrnehmung, bei der »der Sound der Dinge der Art und Weise entspricht, wie sie den Sinnen erscheinen« (S. 43, Übersetzung D. I.). Sollte der Sound eine unklare Quelle haben, dann müsse man diese zunächst obskure Quelle erklären und in Welt integrieren; oder, wenn der Sound keine erkennbare Quelle besitze, sei diese außerhalb der Welt. 55 | Vgl. Blackwood 2007.
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Okkulte (Text-)Praktiken Animismus als Poetik in John Burnsides Romanen The Locust Room und Glister Anneke Lubkowitz
H ypnotische Te x te : A nimismus und K unst Wenn Literaturkritik und -wissenschaft sich den Romanen des 1955 geborenen schottischen Autors John Burnside widmen, ist eine häufige Verwendung von Adjektiven wie »haunting«1, »mesmerising«2 und »slippery«3 auffällig. Diese Schlagwörter geben einen Leseeindruck wieder, der von Beunruhigung geprägt ist. Sie suggerieren, dass dem Text eine Macht innewohnt, die den Leser in ihren Bann zieht, von ihm Besitz ergreift, ihm die Kontrolle entzieht. Dabei sind gerade die Partizipien »haunting« und »mesmerising« von Bedeutung: Zwar sind sie dem Register der Literaturkritik, die diese fesselnde Eigenschaft eines Textes als Qualitätsmerkmal kennt, nicht fremd. Darüber hinaus weisen sie jedoch auf einen Diskurs hin, der sich um den Kontrollverlust des menschlichen Subjekts formt, den des Okkulten, Irrationalen, Unheimlichen.4 Eine Auseinandersetzung mit diesen Themen lässt sich in Burnsides Lyrik und Prosa auf inhaltlicher Ebene ebenso wiederfinden wie in seinen poetologischen Äußerungen, in denen Begriffe wie »alchemy« und »spirit« eine tragende Rolle einnehmen.5 In diesem Zusammenhang ist auch folgende charakteristische Aussage zu verstehen: »[W]hat the job of poetry might be in the 21st century is taking everyday experience, almost the banal, and rediscovering in it a kind of essential life.« 6 Folgt man diesem Wortlaut, ist es naheliegend, zur 1 | Griffiths 2008. 2 | Ferguson 2008, S. 27. 3 | Bracke 2011, S. 1. 4 | Vgl. Stenger 1989, S. 124. 5 | Burnside 2000, S. 259, 261. 6 | Burnside/Dósa 2003, S. 14 (Hervorhebung im Original).
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Untersuchung von Burnsides Texten jenen Teilbereich des oben skizzierten Begriffsfelds zurate zu ziehen, der die Belebt- und Beseeltheit von Gegenständen zum Thema hat und sich über den Titel eines seiner Gedichte mit dem aus der Anthropologie stammenden Konzept des Animismus identifizieren lässt.7 Während sich dieser Terminus auch im Umweltdiskurs, auf den sich der Autor immer wieder bezieht 8, finden lässt, ist es insbesondere seine Fruchtbarmachung in Kunsttheorie und Ästhetik, die eine Untersuchung seiner Romane im Hinblick auf eine animistische Poetik nahelegt. Eng verknüpft mit den Anfängen der Ethnologie im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts erlebten Animismus-Theorien eine Hochkonjunktur, wurden im Verlauf des 20. Jahrhunderts jedoch aufgrund ihrer rassistisch-kolonialistischen Implikationen zunehmend und zurecht als problematisch wahrgenommen. Für die Entwicklung und Verbreitung des Begriffs war der Anthropologe E. B. Tylor mit seinem Werk Primitive Culture (1871) bestimmend. Er beschrieb Animismus als einen in indigenen Kulturen verbreiteten Glauben an Geisterwesen, die Objekte der nichtmenschlichen Umwelt beseelten9, und deutete diesen als aus einer Fehlinterpretation der Welt resultierende frühe Entwicklungsform der Religion.10 Dass Tylor seine Religionstheorie zu einem Zeitpunkt erarbeitete, an dem sich in Europa Bewegungen wie der Spiritismus oder Okkultismus wachsender Beliebtheit erfreuten, ist bezeichnend, umso mehr die Geste, mit der er sich von der Bewegung distanzierte.11 Tylor verortet sich mit seinen Überlegungen in einer materialistisch-rationalistischen Denkweise, die von der Leblosigkeit der Materie ausging und von einer Rhetorik der Abgrenzung vom Okkulten begleitet wurde. Aus dieser Perspektive war der Glaube an Geister und beseelte Dinge nur als kognitives Phänomen zu erklären, weshalb sich neben der Anthropologie vor allem die Psychologie für den Animismus interessierte.12 Wie die Faszination für das Okkulte in der europäischen Kultur der Jahrhundertwende belegt und der Soziologe Bruno Latour auf provokante Weise gezeigt hat13, ist die Moderne in ihren Praktiken selbst jedoch nie gänzlich den von Tylor vertretenen kartesianischen Trennungen gefolgt.14 Im Rahmen der kritischen Auseinandersetzung mit der Moderne wird deshalb auch ein Verständnis des Animismus im Sinne eines Metabegriffs als
7 | Vgl. Burnside 2002a, S. 16. 8 | Vgl. u.a. Burnside/Dósa 2003, S. 10ff. 9 | Vgl. Tylor 1871, S. 386. 10 | Vgl. Tylor 1871, S. 105, 28. 11 | Vgl. Tylor 1871, S. 385. 12 | Vgl. u.a. Freud 1922 sowie Piaget 1926. 13 | Vgl. Pytlik 2005, S. 12. 14 | Vgl. Latour 2008, S. 122.
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»Spiegel und negativer Horizont«15 der Moderne möglich. Animismus wäre damit also zuallererst als Mittel einer negativen Selbstkonstitution der Moderne zu sehen.16 Auch die Anthropologie definiert Animismus heute zunehmend unabhängig von Tylor und als gleichberechtigtes Alternativmodell zur NaturKultur-Dichotomie des modernen Denkens, wie die Studien von Tim Ingold, Nurit Bird-David, Eduardo Viveiros de Castro und Philippe Descola veranschaulichen.17 Ihre unterschiedlichen Ansätze formieren sich um die Beschreibung von Praktiken, in denen Subjektivität bzw. Kultur die gemeinsame Grundlage von Menschen und Nicht-Menschen bilden, Bewusstsein also in einer Vielzahl äußerer Erscheinungsformen bzw. »Naturen« vorausgesetzt wird.18 Ein wichtiges Beschreibungskriterium bietet die bereits 1958 von A. Irving Hallowell angeregte und von Bird-David weitergeführte Ausdehnung des Personenbegriffs auf nichtmenschliche Wesen (»other-than-human persons«19), die Beziehungen und Interaktionen in den Mittelpunkt eines respektvollen Miteinanders stellt.20 Für das Projekt einer Neudefinition des Animismus ist auch das Aufgreifen des Konzepts durch den Umweltdiskurs seit den 1970er Jahren von Bedeutung. Vertreter der Umweltphilosophie wie Gregory Bateson und Paul Shepard, die von einer Entfremdung westlicher Kulturen von der Umwelt ausgehen und deren Zerstörung auf die anthropozentrische Subjekt-ObjektDichotomie zurückführen, sehen im Animismus ein Alternativmodell, das einen respektvollen Umgang mit der Umwelt ermöglicht.21 Die hierin deutlich werdende Tendenz zur aus der Romantik bekannten Idealisierung eines noch in Harmonie mit der Umwelt lebenden »vormodernen Anderen« muss allerdings ebenso kritisch bewertet werden wie Tylors Erhebung »zivilisierter« über »primitive« Völker.
15 | Franke 2011, S. 21 (Hervorhebungen im Original). 16 | Vgl. Franke 2011, S. 21. 17 | Vgl. Bird-David 1999, Ingold 2002, Viveiros de Castro 2004, Descola 2005. Zu einer Zusammenfassung der Revision des Animismusbegriffs einschließlich einer Darstellung der Kontroversen zwischen den einzelnen Positionen vgl. Albers/Franke 2012a. 18 | Vgl. hierzu insbesondere Viveiros de Castro 2004; Descola 2005. Animismus bleibt dabei weitestgehend eine von der Anthropologie oder den Religionswissenschaften vorgenommene Fremdbeschreibung. Wie David Chidester in seinem Artikel zum Animismus in der Encyclopedia of Religion and Nature feststellt, wird er von den indigenen Gruppen, auf die er angewandt wird, oft abgelehnt. Andererseits führt Chidester auch Beispiele an, in denen Animismus im Kampf um politische Anerkennung als Selbstbezeichnung verwendet wird. Vgl. Chidester 2005, S. 87. 19 | Hallowell 1958, S. 63 (Hervorhebung im Original). 20 | Vgl. Hallowell 1958; Bird-David 1999. 21 | Vgl. Bateson 1972; Shepard 1967; Harvey 2006.
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Versucht man, aus der Vielzahl an Deutungsmöglichkeiten im Hinblick auf einen neuen Animismusbegriff ein Substrat zu ziehen, könnte man diesen als Metakonzept für Denkweisen und Praktiken beschreiben, welche die Dualismen, die das moderne Denken prägen, wie Seele und Körper, Kultur und Natur, Selbst und Welt, Subjekt und Objekt, Mensch und Ding, Leben und Tod als Kontinuitäten behandeln. Wer sich mit dem Animismus auseinandersetzt, stößt, wie Irene Albers und Anselm Franke in der Einleitung ihrer umfassenden interdisziplinären Anthologie zu diesem Thema festgestellt haben, unweigerlich auf »[b]elebte Materie, beseelte oder sozialisierte Natur, handelnde Dinge, Geister, Verwandlungen.« Es geht also vor allem um »Kosmologien […], in denen ›Natur‹ oder ›Dinge‹ subjektiviert und sozialisiert werden.«22 Wenn Dingen auf diese Art Handlungsmacht und Intentionalität zugeschrieben wird, lässt sich eine Verbindung zum Okkulten herstellen, das der Soziologe Horst Stenger in seiner Untersuchung der New Age-Bewegung aus der menschlichen Erfahrung heraus definiert, die Außenwelt nicht kontrollieren zu können, ihr ausgeliefert zu sein, kurz: dem »Objekterleben gegenüber der Außenwelt.«23 Die Lebendigkeit und die Wirkungsmacht von Kunstwerken, die Kunsttheorie und Ästhetik stets interessiert haben, ist in den letzten Jahren immer häufiger mit Animismus in Verbindung gebracht worden.24 Bereits Freud hatte Kunst als den einzigen Ort, an dem Animismus im modernen Denken überlebt, beschrieben25, und laut Anselm Franke, der in Berlin und Wien Ausstellungen über den Animismus kuratiert hat, impliziert dieser »Reservat«Charakter zweierlei26: Wie die Wortwahl der eingangs erwähnten Rezensionen suggeriert, komme die ästhetische Erfahrung zum einen animistischen Praktiken näher, als es naturalistisch-moderne Denkweisen erlauben würden. Kunst »ereignet sich nämlich irgendwo zwischen Objekt und Subjekt, im Akt einer Begegnung«27. Die sprichwörtliche Lebendigkeit von Kunstwerken, die den Blick der betrachtenden Person fesselt und sie zum Erstarren bringt (»Medusa-Effekt«28), veranschaulicht diese Beobachtung. Zum anderen tauchten verdrängte animistische Inhalte und Themen in Kunstwerken wieder auf.29 Franke erläutert das emanzipatorische Potenzial des Animismus in der künstlerischen Darstellung durch die Auflösung der Hegemonie des Subjekts – der 22 | Beide Zitate in Albers/Franke 2012b, S. 7. 23 | Stenger 1989, S. 124. 24 | Vgl. Mitchell 2008; Gell 1998; Pfisterer/Zimmermann 2005. 25 | Vgl. Freud 1922, S. 120f. 26 | Vgl. Franke 2011, S. 27. 27 | Franke 2011, S. 27. 28 | Mitchell 2008, S. 54. 29 | Vgl. Todorov 1992, S. 142.
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Animismus müsse als »Kippfigur« begriffen werden, als ein Repräsentationsmodell also für das Verhältnis von Mensch und Welt, Subjekt und Objekt, in dem »aktiv und passiv, Figur und Hintergrund«30 austauschbar seien. In einer Relektüre der Sprachautonomie in Raymond Roussels Poetik und ihrer literarischen Rezeption hat die Romanistin Irene Albers diese Überlegungen auch auf das Verhältnis von Animismus und Literatur übertragen und die Frage nach »spezifisch ›animistischen Poetiken‹« und der sie kennzeichnenden Verfahren gestellt31, die hier in der Analyse von Burnsides Romanen The Locust Room (2001) und Glister (2008) neu aufgegriffen werden soll.
D ie B efreiung des G egenstands : F otogr afie als D ingspr ache In Burnsides Roman The Locust Room findet der junge Protagonist Paul über die Fotografie einen Weg, seine Beziehung zur nichtmenschlichen Umwelt neu zu entwerfen. Während Paul sich immer weiter aus dem von ihm als prätentiös empfundenen akademischen Leben in Cambridge zurückzieht, indem er beispielsweise der isolierten Arbeit in einer Forschungsstation für Insekten nachgeht, vollzieht sich seine künstlerische Entwicklung. Dieser Prozess wird begleitet von Reflexionen über Fotografie, Kunst und Ästhetik, welche die Wahrnehmung in den Mittelpunkt stellen. Wie folgende zentrale Überlegung über die Funktion der Kunst veranschaulicht, werden seine Theorien oft von einer Rhetorik des Mystischen oder Okkulten begleitet: »It was more that the essential creative act was one of seeing, and making seen […]. Until Orpheus sang, the animals were mere objects, named and forgotten and shrouded in the contempt bred of familiarity; afterwards, however, they were new, they had become strange. They were themselves once again, and not the creatures men had taken for granted. […] In the myth of Orpheus, Paul saw the key to the argument that anything could be an art, so long as it performed this Orphic function, this liberation of the thing […] from its object-state, from its deadening familiarity, from the fixity of its name and supposed definition […].« 32 30 | Franke 2011, S. 20. 31 | Albers 2012b, S. 247. 32 | Burnside 2002b, S. 175. »Vielmehr war der wesentliche kreative Akt einer des Sehens und Sichtbarmachens. Bevor Orpheus sang, waren die Tiere reine Objekte, benannt und vergessen und verdeckt von der Verachtung, die von Vertrautheit erzeugt wird; danach jedoch waren sie neu, sie waren fremd geworden. Sie waren wieder sie selbst und nicht die Geschöpfe, die der Mensch als selbstverständlich betrachtet hatte. Im Mythos von Orpheus sah Paul den Schlüssel zu der Behauptung, dass alles Kunst
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Über den antiken Mythos des Orpheus, der durch Gesang zum Leben erwecken kann, wird künstlerische Verfremdung hier als ein Akt der Belebung oder Beseelung des Dargestellten präsentiert. Dies offenbart ein animistisches Anliegen: Das Bekannte, Vertraute wird hier mit einem anthropozentrischen Blick unter der Hegemonie des Subjekts identifiziert, der Dinge, sogar Tiere, zu leblosen, seinem Zweck untergeordneten Objekten degradiert. Dieser Objektstatus wird mit Tod, Unbeweglichkeit, Eingrenzung und Gefangensein in Verbindung gebracht. Die Verfremdung durch die Kunst ermöglicht es in dieser Theorie, diesen Objektstatus aufzubrechen und Betrachten und Betrachtet-Werden auf einer Ebene zu verorten − so wie die heterodiegetische Erzählperspektive, die über Paul in der dritten Person, also als Objekt, spricht und gleichzeitig über die Fokalisierung seine Gedanken und Gefühle vermitteln kann. Ein solcherart modelliertes Verhältnis zwischen künstlerischem Subjekt und Gegenstand erlaube »a meaningless, almost involuntary communion with the things as they happened to be«33. Diese Befreiung wird nicht als ein Akt der Beseelung durch die Künstler, die ihre Subjektivität in das Kunstwerk einwirken lassen (im Sinne von Ruskins »pathetische[m] Betrug«34), inszeniert, sondern als ein Sich-selbst-Offenbaren des Gegenstands, bei dem ihre Rolle darauf beschränkt bleibt, die Schicht oder Hülle – »shrouded« verweist auf »shroud«, das Leichentuch – der oberflächlichen Vertrautheit zu entfernen. Diese Schicht wird mit Namen, Bezeichnungen, mit Sprache assoziiert. Dem scheint die Annahme zugrunde zu liegen, dass die Benennung etwa mithilfe von taxonomischen Einteilungen die Dinge immer weiter voneinander – und nicht zuletzt von der benennenden Person – trennt, sodass die Beziehungen, Zusammenhänge und Verbindungen zwischen ihnen, die in der von Paul angestrebten Verbindung mitklingen, aus dem Bewusstsein verschwinden.35 Vor allem kann der Akt des Benennens als Aneignung verstanden werden, welche die Abhängigkeit des Objekts vom Subjekt betont, da das Objekt nur benannt werden, aber nicht selbst benennen kann. Wenn hier von einer Besein konnte, solange es nur diese orphische Funktion erfüllte, diese Befreiung des Dings von seinem Objekt-Status, von seiner abstumpfenden Vertrautheit, von der Festgefügtheit seines Namens und seiner vermeintlichen Definition.« (Übers. A. L.) 33 | Burnside 2002b, S. 176. »Eine bedeutungslose, fast unwillkürliche Verbundenheit mit den Dingen, wie sie eben waren.« (Übers. A. L.) 34 | Ruskin 1906, S. 201. 35 | Die Darstellung von solchen als oberflächliche Täuschung beurteilten Trennungen zwischen »Geist und Materie, von Subjekt und Objekt, von Mensch und Natur« bringt Stenger in Verbindung mit dem zeitgenössischen Okkultismus, der sich etwa im Kontext von New-Age-Lehren finden lässt. Vgl. Stenger 1989, S. 122. Interessant in dem Kontext sind auch die konzeptionellen und personellen Verbindungen zwischen der New Age- und der Ökologie-Bewegung.
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freiung des Dings die Rede ist, erinnert dies an Bruno Latours Projekt eines »Parlaments der Dinge«36 und weist damit implizit auf das Problem politischer wie ästhetischer Repräsentation des Nichtmenschlichen hin. Die menschliche Sprache kann deshalb als unzureichendes Medium gesehen werden, Dingen eine Stimme zu verleihen, ihnen im Kunstwerk einen Raum zu schaffen, weil diese sich ihrer eben nicht bedienen können, also in ihr immer nur das Besprochene, das heißt passiv, leblos bleiben. Pauls Versuch, die Fotografie als für dieses Vorhaben besser geeignete Kunstform zu legitimieren, lässt sich in den Diskurs von der Fotografie als »Selbstabbildung der Natur« einordnen37, der sich aus dem indexikalischen Aspekt des fotografischen Prozesses ergibt.38 So entwerfen in der Theorie über Fotografie Formulierungen wie »nicht von Menschenhand geschaffen«39 und »bildliche Sprache der Dinge«40 die Vision dieser Kunstform als einer den Dingen eigenen, vom Menschen unabhängigen »Sprache«. Auf diesen Index- oder Spur-Charakter der Fotografie verweist in The Locust Room nicht zuletzt die Verwendung von sprachlichen Bildern, die Hülle und Fotografie in Zusammenhang bringen, wie der Blick auf zwei weitere Textpassagen zeigt. Zum einen wiederholt sich das Motiv der abgestreiften Haut oder Hülle in der Beschreibung der Insekten, die Paul vorzugsweise fotografiert: »He particularly liked to watch as they shed their skins […], eventually emerging as new, quite perfect version […], leaving the ghost of its old form behind.«41 Die Wahl der Metapher des Geistes für die abgeworfene Haut ist hier durchaus schlüssig, denn beide Konzepte teilen die Gleichzeitigkeit von An- und Abwesenheit, wenn man einen Geist als die Wiederkehr eines Verstorbenen, also die Präsenz einer für immer abwesenden Person und die beim Wachstum abgeworfene Haut als eine Exuvie versteht, ein Element also, das einmal zu einem Körper gehört hat und daher über seine Materialität mit ihm verbunden, gleichzeitig jedoch von ihm räumlich getrennt ist. So kann man auch einen Bezug herstellen zur Anwendung des Begriffs der Exuvie in der Anthropologie auf menschliche Haare und Fingernagelreste, die etwa Alfred Gell in seiner anthropologischen Kunsttheorie als Teile einer jenseits der Körpergrenzen verteilten Persönlichkeit deutet.42 36 | Vgl. Latour 2001; Latour 2008. 37 | Vgl. Albers 2001, S. 236. 38 | Vgl. u.a. Barthes 1985, S. 91f.; Sontag 1979; Stiegler 2006. 39 | Barthes 1985, S. 92. 40 | Stiegler 2006, S. 337. 41 | Burnside 2002b, S. 168f. »Er beobachtete besonders gerne, wie sie sich häuteten, […] schließlich als neue, quasi vollendete Version […] zum Vorschein kommend, den Geist ihrer alten Gestalt hinter sich lassend.« (Übers. A. L.) 42 | Vgl. Gell 1998, S. 104.
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Die Verbindung von Hülle, Geist und Fotografie findet sich auch in Balzacs berühmter Annahme wieder, dass die Fotografie eine der unzähligen »Spektralschichten« (spectres) des Fotografierten abschäle.43 Balzacs Bild greift spiritistische Auffassungen der Seele als »Umhüllung, der fluidische oder geistige Körper dieses Ich«44, auf und erinnert auch an Gells Verständnis der Exuvie. Dies impliziert eine enge, materielle Verknüpfung von Abbild und Abgebildetem, sodass durch den Akt der Fotografie eine Änderung am Fotografierten erfolgt. Letztlich scheint auf solche Vorstellungen auch in dieser Textpassage in The Locust Room angespielt zu werden: »The moths moved about in their private light, like spirits, and if Paul’s plan was successful, if he managed to take the picture he wanted, it was their spirits, not their physical presence that he would – not capture, like an anthropologist capturing a pygmy’s soul, but reveal, the way beauty is revealed in a magic trick, or a circus act. It was a form of magic he was after now, a form of alchemy.« 45
Auch das Motiv des fotografischen Seelenraubs, das hier thematisiert wird, ist der Kunst- und Literaturgeschichte bekannt.46 Die Anspielung auf ein solches fotografisches Einfangen kritisiert hier implizit die kolonialistische Perspektive, die sich mit dem anthropozentrischen Blick in Verbindung bringen lässt, wie er in der zuvor betrachteten Passage als Verhüllung des Gegenstands beschrieben wurde. Als Gegenentwurf wird hier erneut das Konzept der Enthüllung aufgegriffen. Zieht man in Betracht, dass das Morphem »-veal« dem Lateinischen »velum« für »Schleier« entlehnt ist und sich damit aus den gleichen Bedeutungskomponenten zusammensetzt wie sein deutsches Äquivalent »enthüllen«, erkennt man die Hülle oder Schicht des vertrauten Blicks, die das Kunstwerk durch Verfremdung entfernt, wieder. Auch hier wird also jene Befreiung, die gleichzeitig eine Beseelung ist, beschrieben, die das OrpheusZitat referiert. Fotografie als Enthüllung bedeutet also auf der einen Seite, dass durch das Beiseiteziehen des Schleiers der alten Sichtweise die Lebendigkeit des Fotografierten sichtbar wird. Auf der anderen Seite wird das Foto selbst 43 | Vgl. Nadar 1978, S. 23. 44 | Aksákow 1894, S. XXXII. 45 | Burnside 2002b, S. 174. »Die Motten bewegten sich in ihrem eigenen Licht, wie Geister, und wenn Pauls Plan erfolgreich war und er es schaffen würde, das Bild zu machen, das er wollte, waren es ihre Geister, nicht ihre körperliche Anwesenheit, die er nicht wie ein Anthropologe, der die Seele eines Pygmäen einfängt, einfangen, sondern enthüllen würde, so wie Schönheit enthüllt wird in einem Zaubertrick oder einem Zirkuskunststück. Es war eine Art Magie, auf die er jetzt aus war, eine Form von Alchemie.« (Übers. A. L.) 46 | Vgl. Warner 2006, S. 190.
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zur Hülle, zum Geist des Fotografierten, das sich auf diese Art als Spur des Referenten präsentiert. Die Verwendung von Begriffen wie Magie, Verwandlung oder Alchemie für die Fotografie, die Paul anstrebt, weist darauf hin, dass Kunst hier nicht als etwas gedacht wird, das aus dem Nichts (bzw. aus dem gottähnlichen künstlerischen Subjekt) erschaffen wird, sondern etwas bereits Bestehendes nur verändert, so wie es Balzacs Spektralschichten suggerieren. Kunst fungiert in diesem Verständnis nicht als Gegensatz zu Natur, sondern vielmehr als Teil von ihr.47 Dies wird nicht zuletzt dadurch unterstrichen, dass der mit Alchemie verglichene Prozess des Fotografierens in Bezug gesetzt wird zur »natürlichen« Metamorphose der Insekten. Das Foto wird so zu einer Exuvie, einer materiellen Spur des Gegenstands, den es abbildet. Diese materielle Kontinuität ermöglicht einen Austausch zwischen Fotograf und Fotografiertem, der über das Wort »communion« hier als Partizipation, Verbundenheit, aber auch Kommunion im religiösen Sinn verstanden werden kann und so gewissermaßen eine Sprache ohne Zeichen impliziert.
U nheimliche K ippmomente : B eschreibung und B egegnung Das offensichtlich Paradoxe an Burnsides Roman ist, dass das Medium für diese Reflexionen über Fotografie, welche die Sprache als unzureichend erklären, die Sprache selbst ist. In Pauls Vorstellungen figuriert Sprache nur als Fixierhilfe, die über Definitionen und Taxonomien die Dinge, die sie beschreibt, in Konventionalität einsperrt. Das Potenzial des uneigentlichen Sprechens, über Tropen eine Vielfalt an Bedeutungen zu erzeugen, das dabei weit davon entfernt ist, genau zu bezeichnen, bleibt in Pauls Theorie unberücksichtigt. Dennoch ist es eben dieser Aspekt der Sprache, der Burnsides Romane kennzeichnet. Die Frage, wie sich der Text der Aufgabe widmet, das sprachlich nicht Fassbare sprachlich wiederzugeben, lässt sich am besten durch ein weiteres Textbeispiel beantworten, in dem ein Waldgebiet in Pauls Heimat beschrieben wird. Gleich zu Beginn wird der Ort als piktische Kultstätte vorgestellt48, und die unheimliche Atmosphäre, die diese Assoziation erzeugt, wird in der Beschreibung beibehalten: »Out there, you could find the ashes of a stranger’s fire, still warm sometimes, amongst the autumn leaves, or sodden with two days‹ rain; out there, you might find a strange 47 | Stiegler fasst dieses Verständnis der Fotografie wie folgt zusammen: »Die Photographie ist in dieser Deutung ›Spur des Realen‹ und eingebunden in ein Zeichenhandeln.« und »Dementsprechend ist die Photographie als kulturelles Phänomen Teil der Natur.« Siehe Stiegler 2006, S. 343, 345 (Hervorhebungen im Original). 48 | Vgl. Burnside 2002b, S. 61.
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Anneke Lubkowit z bone hidden amongst the bedsprings in a midden; somewhere across a summer’s afternoon – somewhere close by, but not so close that you could trace it to its source – you might hear the small cry of a wounded animal that could just as easily have been a child; at such times you would stop dead in your tracks, all of a sudden, and you would be aware that you were being watched, though no one else was visible.« 49
Die Wiederholung von Wörtern und einzelnen Lauten, die syntaktischen Parallelismen und die Verbindung von Sätzen durch Semikola erzeugen hier einen fast trancehaften Rhythmus, der eine Atmosphäre von Bedeutsamkeit schafft, anstatt einzelnen Objekten und Ereignissen eine konkrete Bedeutung zuzuweisen. Die Passage beschreibt bzw. bezeichnet nicht, wie es ist, sondern sagt vielmehr, wie es nicht ist – durch Indefinitpronomina wie »nobody«, »no one else« und das Adverb »not«, welche die Entstehung eines klaren, visualisierbaren Bildes verhindern müssten und doch die Vorstellungskraft antreiben. Das Unbestimmbare, Unbekannte ist nie weit vom Unheimlichen entfernt, wie die Beziehung zwischen »stranger« und »strange bone« zeigt. Das Schwanken zwischen widersprüchlichen Angaben, wie in »close by, but not so close« und »a wounded animal that could […] have been a child«, schafft ein Gefühl von Unsicherheit, von Kontrollverlust. Auch wenn hier einzelne Bilder und Szenen aufgezählt werden, sind es nicht sie, die beschrieben werden sollen, sondern etwas Umfassenderes: Wie Umberto Eco festgestellt hat, werden Aufzählungen und Listen von Eigenschaften oft gerade dann herangezogen, wenn etwas dem Wesen nach Unbestimmbares, Rätselhaftes oder Unbekanntes beschrieben werden soll, durch die das eigentlich Gemeinte umkreist wird.50 Diese besondere Art der Aufzählung kann also ebenso als Strategie gedeutet werden, sich dem sprachlich nicht Fassbaren anzunähern. Eine solche poetisch verfremdete Beschreibung scheint folglich selbst auszuführen, was Paul der Fotografie zuschreibt. Sie umgeht das Fixieren des Dargestellten in einer festen Bezeichnung und lässt es stattdessen unergründlich und unberechenbar erscheinen, was den Eindruck von Intentionalität oder Handlungsmacht erweckt, wie es das in der Revision des Animismus49 | Burnside 2002b, S. 62. »Dort draußen konntest du Aschereste vom Feuer eines Fremden finden, manchmal noch warm zwischen dem Herbstlaub oder durchtränkt von zwei Tagen Regen; dort draußen konntest du einen befremdlichen Knochen finden, versteckt zwischen den Bettfedern in einem Abfallhaufen; irgendwo mitten an einen Sommernachmittag – irgendwo in der Nähe, aber nicht so nah, dass du seinen Ursprung zurückverfolgen konntest, mochtest du den schwachen Ruf eines verletzten Tieres hören; in solchen Momenten würdest du wie angewurzelt stehen bleiben und dir würde plötzlich bewusst sein, dass du beobachtet wurdest, obwohl niemand sonst zu sehen war.« (Übers. A. L.) 50 | Vgl. Eco 2009, S. 15.
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Begriffs diskutierte Konzept der nichtmenschlichen Person impliziert. Dies wird besonders deutlich in dem »all of a sudden«, das den bereits misstrauisch gewordenen Leser geradezu aufschrecken lässt, nicht zuletzt da das wiederholte »you« diesen in den Text mit einzubeziehen scheint. Die Beschreibung schwenkt in dem Moment wie Frankes Kippfigur um, in dem das »you« nicht mehr die Rolle des den Wald Beobachtenden und Beschreibenden, sondern des Beobachteten innehat. Der Handlungsträger, das Subjekt tauscht den Platz, wie der plötzliche Übergang vom Aktiv zum Passiv in »you were being watched« treffend illustriert. Der Spaziergänger im Wald wird mit einem Mal zum Objekt (»stop dead«), überwältigt von der Übermacht eines fremden Blickes, der nur der Umgebung, also dem Wald selbst, zugeordnet werden kann. Hier wird also die Hierarchie zwischen Beschreiben und Beschrieben-Werden unterlaufen51, die durch die Konstruktion eines bestimmten Blickwinkels entsteht, der das Gesehene zu einer Landschaft formt.52 Wie der genaue Blick auf diesen Ausschnitt zeigt, gestaltet sich die Beschreibung eher als das Erzählen einer Begegnung, als eine Interaktion, an der Betrachter und Landschaft gleichermaßen teilhaben. Die Begegnung stellt auch ein zentrales Konzept in der von Paul konzipierten Ästhetik dar, das im Kontext eines Katalogs für eine Fotografie-Ausstellung vorgestellt wird. Unter dem Titel »The Encounter« heißt es dort ganz ähnlich wie in Frankes Überlegungen zum Animismus der Kunst: »[A]n awareness is involved both of the subject and the self – one almost becomes the other.«53 Die Verwendung der Präposition »of« lässt hier nicht nur die Deutung als Bewusstsein für den Gegenstand, sondern auch als Bewusstsein des Gegenstands zu. Sowohl die hierin deutlich werdende Ambivalenz in der Verortung von Subjektivität als auch der Vergleich des Fotografierens mit der Verwandlung, der an das Motiv der Insektenmetamorphose anknüpft, legen es nahe, dies als einen Entwurf des Animismus als ästhetisches Programm zu lesen, das, wie die vorangehenden Überlegungen zu zeigen versucht haben, auch im Roman als Ganzes wirksam wird und sich bis hinein in die Ebene der sprachlichen Gestaltung umgesetzt findet.
S timmen aus dem Te x t : L esen als animistische P r a xis Ein direkter Bezug zwischen Animismus und Literatur wird an anderer Stelle angedeutet, und zwar über den Prozess des Lesens. Am Ende des Romans wird eine unbenennbare geisterhafte Präsenz, die Paul wahrnimmt, wie folgt 51 | Vgl. James 2012, S. 607. 52 | Vgl. Cosgrove 2003, S. 24. 53 | Burnside 2002b, S. 29.
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evoziert: »[T]his presence resembled more the sense of words that arose from a text, when you read it to yourself, hearing the music of it in a quiet place at the back of your mind.«54 Dieses übersinnliche Wesen, für das auch die Bezeichnungen »spirit« und »phantom«55 Anwendung finden, wird hier mithilfe eines Alltagsphänomens umschrieben. Gleichzeitig lässt der aufgerufene Kontext von Geisterbeschwörungen oder Geisterbesessenheit das Lesen als Belebung von Wörtern und das damit verbundene Hören von Stimmen im Kopf als magische oder animistische Praxis erscheinen. Diese Verbindung von Lesen und Animismus wird nicht zuletzt auch dadurch nahegelegt, dass ein ganz ähnlicher Vorgang in Burnsides Gedicht Animism geschildert wird: »[E]very small erasure/in the snow/was dreamed to life/as something you could hear.«56 Das Lesen von Spuren im Schnee lässt sich hier über die Analogie von Schnee und Papierseite sowie die Erwähnung einer aufgeschlagenen Bibel in der ersten Strophe57 mit dem Lesen eines Textes in Verbindung bringen. Auch die ausradierte oder gelöschte Stelle, als die »erasure« übersetzt werden kann, erinnert an das Verfassen eines Textes.58 Noch deutlicher wird dieser Bezug in Burnsides 2008 erschienenem Roman Glister, der die Literatur selbst als Kunstform in den Mittelpunkt stellt. Der jugendliche Protagonist Leonard ist ein obsessiver Leser, der mehr als einmal 54 | Burnside 2002b, S. 271. »Diese Präsenz ähnelte eher dem Sinn von Wörtern, die einem Text entstiegen, wenn man ihn für sich las, ihre Musik in einem stillen Winkel am Rande seines Bewusstseins hörte.« (Übers. A. L.) 55 | Burnside 2002b, S. 271. 56 | Burnside 2002a, S. 16, V. 15ff. »Jede kleine Auslöschung/im Schnee/wurde zu Leben geträumt/als etwas, das du hören konntest.« (Übers. A. L.) 57 | Vgl. Burnside 2002a, S. 16, V. 5ff. 58 | Eine Parallele zwischen Lesen und Animismus zieht auch der Philosoph und Ethnologe David Abram in seiner Monographie The Spell of the Sensuous (1997), in der er den für den Umweltdiskurs wegweisend gewordenen Begriff »more-than-human world« prägt, der sich auch bei Burnside finden lässt (vgl. Burnside/Dósa 2003, S. 14). Während Abrams Ansatz, den Prozess des Lesens in der engen Verknüpfung von Visuellem und Akustischem als Animismus zu beschreiben und mit dem Lesen von Spuren zu verbinden, durchaus eine interessante Perspektive eröffnet, ist seine Gegenüberstellung von oralen und schriftlichen Kulturen, die für Erstere ein unmittelbareren Zugang zur und für Letztere eine Entfremdung von der Natur annimmt, problematisch. Schlussendlich vollzieht er die für den Umweltdiskurs typische Idealisierung eines kulturell Anderen, die Tylors kategorische Trennung zwischen »uns« und »ihnen« nur mit einem positiven Vorzeichen versieht, nicht aber wirklich infrage stellt. Burnside dagegen scheint die Problematik einer solchen Idealisierung, wenn er ihr auch nicht immer entkommt, wenigstens zu einem gewissen Maße mitzureflektieren, wie etwa in dem Interview mit Attila Dósa deutlich wird. Vgl. Burnside/Dósa 2003, S. 13.
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Wirklichkeit und Fiktion verwechselt. Dass das Einzige, was er ebenso liebt wie Bücher, das Stück verwilderte Land am Stadtrand ist, auf dem früher die Chemiefabrik stand, deren Substanzen noch immer die Umgebung vergiften, ist hier bezeichnend.59 Seine Erkundungen auf dem ehemaligen Fabrikgelände, die letztlich als Versuche gedeutet werden können, eine bedeutungsvolle Beziehung zur Umwelt aufzubauen, werden von Bildern des Lesens begleitet. So bewundert Leonard beispielsweise den mysteriösen Schmetterlingsforscher, den er nur »Moth Man« nennt, »a guy who can read the landscape«60, während er selbst in Naturführern in der Bibliothek die Namen der Pflanzen und Tiere nachschlagen muss, die er sieht. Auch wenn Leonard tatsächlich einmal mit einer Jugendgang auf dem alten Fabrikgelände auf die Jagd geht61, ist es eher eine kriminalistische Perspektive, die das Motiv des Spurenlesens vorantreibt. Bei dem Versuch, das Rätsel um das Verschwinden von Jungen aus der Stadt aufzuklären, stößt der Polizist Morrison an einem Tatort auf »a collection of evidence that someone […] could have read like a book«62, und Leonard beschreibt den Fund eines Hinweises in seinen eigenen Ermittlungen mit den Worten: »I get the first real clue. That’s what the world does, sometimes: it gives you a gift, pure and simple; other times, it gives you a clue. Which is like a gift that you have to work for. Though you could say that the world is full of clues, if only you know how to read them.«63 Die Entstehung von Bedeutung wird hier als Wechselspiel von Mensch und Umwelt entworfen: Dass die äußere Welt ein Geschenk oder eine Gabe machen kann bzw. dass der Mensch sich das Verständnis eines Hinweises erarbeiten muss und dann belohnt wird, schreibt der Umwelt eine gewisse Handlungsmacht zu und betont die Abhängigkeit des Menschen von ihr. Bezieht man dieses Verhältnis auf den Akt des Lesens zurück, lässt sich »clue« mit einem oder mehreren Buchstaben und »gift« mit dem entsprechenden Laut und letztlich der sich aus einer Laut- und Buchstabenfolge ergebenden Bedeutung gleichsetzen. Im Gegensatz zur phonetischen Alphabetschrift, in der die Verbindung von Bild und Laut bzw. Wort und Bedeutung als arbiträr, nur auf Konventionen gestützt, gilt, stellt das Spurenlesen 59 | Vgl. Burnside 2009, S. 60. 60 | Burnside 2009, S. 122 (Hervorhebung im Original). »[…] jemand, der die Landschaft lesen kann« Siehe Burnside 2011, S. 141 (Hervorhebung im Original). 61 | Burnside 2009, S. 106ff. 62 | Burnside 2009, S. 27. »[…] eine Häufung von Indizien, die jemand […] wie ein offenes Buch gelesen hätte« Siehe Burnside 2011, S. 35. 63 | Burnside 2009, S. 191. »[…] bekomme ich meinen ersten Anhaltspunkt, meine erste Spur. So ist die Welt eben: Manchmal schenkt sie dir schlicht und ergreifend etwas, manchmal gibt sie dir nur einen Anhaltspunkt. Was wie ein Geschenk ist, das man sich erknobeln muss. Allerdings könnte man auch behaupten, die Welt sei voller Anhaltspunkte, wenn man sie nur verstehen könnte.« Siehe Burnside 2011, S. 216.
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eine direkte Verbindung zum Verursacher der Spur her: Abdrücke im Boden, Federn und Haare sind physische Folgen der Anwesenheit der jeweiligen Lebewesen. Nach dem gleichen Prinzip funktioniert die kriminalistische Spurensuche: Leonard findet die Armbanduhr, die einer der verschwundenen Jungen immer getragen hat und die somit auf ihn verweist. Nichtsdestotrotz wird in dieser Passage in Glister der Schluss von dem Hinweis auf die Bedeutung als mehretappige Spurensuche, als eine Kette von Hinweisen beschrieben, ähnlich wie das Nachverfolgen nebeneinander stehender Buchstaben ein Wort mit einer bestimmten Bedeutung ergibt. Zuerst sieht Leonard Morrison, dann findet er den »Schrein«, den Morrison errichtet hat und den er zunächst als Grab identifiziert64, denn es stimmt, etwas ist dort vergraben: Die genaue Inspektion befördert die Armbanduhr zutage, die an sich aber immer noch nichts erklärt. Erst durch das Lesen der Inschrift der Uhr – »To Mark from Auntie Sall«65 – versteht Leonard endlich: »Mark Wilkinson isn’t buried here, but this is where his ghost has remained, because this is where what he most loved was broken.« 66 Das Bild des Geistes, aber auch die Armbanduhr, die getragen und abgestreift wird wie eine Haut, lässt sich im gleichen Kontext wie die zuvor angestellten Überlegungen zu Spuren und Exuvien verstehen und führt somit das Lesen der Inschrift auf das Lesen einer Spur zurück und schließlich auf eine besondere Beziehung mit der Umwelt: So wie John, der Bibliothekar, Leonard beibringt, Melville richtig zu lesen67, zeigt ihm der Moth Man, wie die Landschaft richtig zu lesen ist, sodass Leonard letztlich zu der als animistisch beschreibbaren Erkenntnis gelangt, dass alles zusammenhängt, in einem ständigen Werden begriffen und in dem Sinne lebendig ist.68
G eschichten mit E igenleben : A nimistisches E rz ählen Ebenso wie das Lesen wird in Glister das Erzählen selbst zu einem zentralen Thema. So warnt Leonard im Prolog:
64 | Vgl. Burnside 2009, S. 195. 65 | Burnside 2009, S. 198 (Hervorhebung im Original). »Für Mark von Tante Sall« Siehe Burnside 2011, S. 224 (Hervorhebung im Original). 66 | Burnside 2009, S. 198. »Mark Wilkinson liegt hier zwar nicht begraben, doch ist sein Geist an diesem Ort geblieben, denn hier wurde zerbrochen, was er am stärksten liebte.« Siehe Burnside 2011, S. 224. 67 | Vgl. Burnside 2009, S. 86. 68 | Vgl. Burnside 2009, S. 2, 129. Vgl. auch Burnside 1997, S. 205; Abram 1997, S. 190.
Okkulte (Text-)Praktiken »It’s a story that has a life of its own, as far as I can see. A truth of its own, too, though not a truth anybody could tell. It’s always shifting, always slipping out of reach. John the Librarian told me once about the idea somebody came up with, the ›unreliable narrator‹ idea. He thought that was pretty funny. As if a story was a collection of facts, as if the story we are living is just one fact after another […]. What I think is, it’s the story that’s unreliable, not the narrator – and I don’t believe there’s such a thing as ›the author‹ at all. There’s just a story that goes on forever.« 69
Hervorgehend aus den vorangegangen Überlegungen lässt sich hier die These aufstellen, dass im Bild der Geschichte mit Eigenleben nicht einfach nur der Topos von der unmittelbaren Wahrheit des Erzählten wiederholt, sondern ein Konzept animistischen Erzählens entwickelt wird, dem die Darstellungsweise des Romans in weiten Teilen folgt. Es ist hier erneut das Kunstwerk, die Erzählung, die mit einem eigenen Leben, einem eigenen Willen ausgestattet, dargestellt wird. Damit wird betont, dass sie nicht von einem bestimmten Subjekt abhängig ist, wie etwas später bemerkt wird: »anybody who likes can do the telling.« 70 An die Stelle des schöpferischen Subjekts, des Geschichtenerzählers tritt das Konzept eines Mediums, dessen sich die Geschichte nur bedient. Über den Verweis auf einen unzuverlässigen Erzähler wird diese Vorstellung durch den selbstreferentiellen Rückgriff auf die Literaturwissenschaft unterstrichen, für die es eine Selbstverständlichkeit ist, den Erzähler eines Textes, in diesem Falle Leonard, als Teil oder narrative Funktion dieses Textes und nicht als dessen Verursacher zu verstehen. Nicht zuletzt aus diesem Grund setzt Leonard hier Erzählung, also Kunst, und Leben gleich. Indem Leonard das Konzept des unzuverlässigen Erzählers71 aufgreift und es gleichzeitig verwirft – nicht der Erzähler ist unzuverlässig, sondern die Erzählung, wie er behauptet –, gerät 69 | Burnside 2009, S. 3. »So wie ich es sehe, hat diese Geschichte ein eigenes Leben. Auch eine eigene Wahrheit, die allerdings nicht jedermann erkennt. Ständig verändert sie sich und entgleitet uns. John, der Bibliothekar, erzählte mir einmal von dieser Idee, die irgendwer gehabt hat, die Idee vom ›unzuverlässigen Erzähler‹. Er fand sie ziemlich lustig. Als wären Geschichten Ansammlungen von Tatsachen, als wäre die Geschichte, die wir leben, bloß eine Aneinanderreihung von Tatsachen […]. Vielmehr glaube ich, dass die Geschichte und nicht der Erzähler unzuverlässig ist – außerdem glaube ich nicht, dass es überhaupt so etwas wie den einen Autor gibt. Es gibt nur eine Geschichte, die immer weitergeht.« Siehe Burnside 2011, S. 9. 70 | Burnside 2009, S. 3. »[J]eder, der mag, kann das Erzählen übernehmen.« Siehe Burnside 2011, S. 9. 71 | Während Wayne C. Booth bei seiner Einführung des Terminus diesen als einen Erzähler, dessen Rede und Handlungen nicht den Normen des Textes bzw. des impliziten Autors entsprechen, definiert (vgl. Booth 1961, S. 158f.), findet man auch die den Normativitätsbegriff problematisierendere Auseinandersetzungen mit dem Konzept,
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seine Aussage in Konflikt mit dem Eindruck, dass Leonard selbst ein Beispiel für einen unzuverlässigen Erzähler darstellt. Leonards Zurückweisung der Autoreninstanz kann auch als Lektüreanleitung zu einem textimmanenten Interpretieren verstanden werden. Wichtig ist hier, dass durch die Anspielung auf eine literaturwissenschaftliche Kategorie tatsächlich der Anschein erweckt wird, dass der Text mehr weiß als Leonard, denn dieser übergeht die narratologischen Implikationen der Vorstellung vom unzuverlässigen Erzähler und setzt sich ausschließlich mit ihrer metaphorischen Übertragung auf das Leben und seine Gesetzmäßigkeiten auseinander. Während Leonard den Begriff des Erzählers dazu nutzt, sein animistisches Konzept vom Leben zu erläutern, das als ewig fortwirkendes Prinzip alles verbinde und in dem Tod nicht das Verschwinden eines Individuum bedeute, sondern nur Verwandlung, kann hier auch eine Theorie vom autonomen, lebendigen Kunstwerk Text erkannt werden. Aber nicht nur weil er weniger weiß, als der Text erzählt, gerät Leonard in den Verdacht unzuverlässigen Erzählens, sondern auch, weil die Position, von der aus er erzählt, eine eigentlich unmögliche ist: »This place where I am has been given many names […]. Heaven, Hell, Tir Na Nog, the Dreamtime.« 72 Diese Bezugnahme auf Jenseitsvorstellungen legt die Deutung nahe, dass Glister von einem Toten erzählt wird. Während die Geschichte in der Logik des hier verwendeten Bildes ein Eigenleben hat, ist ihr Erzähler tot und vollendet damit die Umsetzung seiner Theorie von der Geschichte ohne Erzähler. Dank des Reservat-Charakters der Kunst kann sich der Leser gewissermaßen im Animismus üben und für die Länge des Romans an Geister bzw. die Lebendigkeit des als leblos Gedachten glauben, um die sich angeblich selbst erzählende Geschichte lesen zu können. Das wiederum hieße, selbst zum Medium zu werden und die Geschichte von sich Besitz ergreifen zu lassen, Stimmen zu hören – etwa die Stimmen, die aus den Buchstabenreihen zu einem sprechen. Gleichzeitig wird die Instanz des Erzählers, die eine menschliche Stimme simuliert, als erzählerisches Mittel, als Fiktion entlarvt: Kein Erzähler eines Romans ist je wirklich lebendig gewesen. Dennoch zögert der Leser, wenn er wie etwa Ansgar Nünnings Aufsatz Unreliable, Compared to What? Towards a Cognitive Theory of Unreliable Narration. Prolegomena and Hypotheses. Vgl. Nünning 1999. 72 | Burnside 2009, S. 2. »Der Ort aber, an dem ich bin, hat viele Namen, je nachdem, welche Geschichten man glaubt: Himmel, Hölle, Tir Na Nog oder Traumzeit.« Siehe Burnside 2011, S. 8. Tír na nÓg ist die »Anderswelt« der irisch-keltischen Mythologie, »Traumzeit« war ein Versuch der Übersetzung des Wortes alcheringa der Aranda in Zentralaustralien durch den Anthropologen Francis James Gillen im 19. Jahrhundert. Die Aborigines verwenden diese Übersetzung heute selbst, obwohl sie sich als nicht treffende Übersetzung herausstellte – alcheringa bedeute eher »ewig«, »ungeschaffen«. Vgl. Swain 1993, S. 21.
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direkt mit der Vorstellung konfrontiert wird, die Erzählstimme sei die eines Toten. Die Grundlage der erzählenden Literatur offenbart sich hier also als die Bereitschaft des Lesers, in einer narrativen Funktion einen Menschen zu sehen, den toten Gegenstand Text zum Leben zu erwecken. Der im doppelten Sinne tote Erzähler in Glister deckt somit nicht nur den Animismus auf, der die Rezeption des Textes erst ermöglicht, sondern knüpft auch an spiritistische und okkulte Bezüge an. Nicht nur wegen der Behauptung, sie werde von einem Toten erzählt, ist die Geschichte mit Eigenleben ein Beispiel für »gespenstische Rede« 73. Monika Schmitz-Emans hat als Merkmal für eine solche Erzählweise genannt, dass »die Instanz des unzuverlässigen Erzählers eine Doppelung des Berichts erzeugt« 74. Eine solche geisterhafte Doppelung ist immer auch ein Infragestellen des erzählenden Subjekts, das sich plötzlich als Objekt begegnet, also ebenfalls eine Möglichkeit, den Absolutheitsanspruch des anthropozentrischen Subjekts zu unterminieren.75 Eine solche Doppelung bzw. Vervielfältigung der Lesarten ist in Glister unverkennbar, nicht zuletzt weil mehrere Kapitel aus der Perspektive anderer Figuren erzählt werden. Bereits im Prolog wird angedeutet, dass Leonards Geschichte mehrfach wiedergegeben wird, es verschiedene Versionen gibt. Tatsächlich gibt der Roman selbst unterschiedliche Ansätze vor, das Erzählte zu deuten. Eine Lesart würde ausgehend von dem aus Morrisons Sicht geschilderten Fund der ersten Jungenleiche die Handlung eines Kriminalromans oder Thrillers erkennen, in dem erzählt wird, wie ein Serientäter aufwendig inszenierte Morde an Jugendlichen begeht. Eine zweite Lesart ergibt sich aus dem Prolog und dem letzten Drittel des Romans. Darin spricht das vermeintliche Opfer Leonard von einem Prozess der Erkenntnis oder Erleuchtung, für dessen Vollendung er durch den Glister – »[a] door? A portal?« 76 – geht. Aus dieser Sicht stellt sich der Moth Man als Erlöser dar, der einige Menschen aus der Hölle der Innertown rettet, indem er sie büßen lässt für das Verursachen der mit der Chemiefabrik zusammenhängenden Umweltkatastrophe.77 Wichtig ist dabei, dass der autodiegetische Erzähler selbst zwischen diesen beiden Erzählweisen schwankt. Matias Martinez und Michael Scheffel bezeichnen diesen Sonderfall des unzuverlässigen Erzählens als »[m]imetisch unentscheidbares Erzählen«, was bedeutet, dass »der Eindruck der Unzuverlässigkeit hier nicht nur teilweise und vorübergehend 73 | Schmitz-Emans 2005, S. 229. 74 | Schmitz-Emans 2005, S. 233. 75 | Zum Motiv des Doppelgängers in psychologischer Deutung vgl. den Beitrag von Ute J. Krienke, im Kontext kabbalistischer Deutungen bei Gustav Meyrink den Beitrag von Elizabeta Lindner Kostadinovska, beide in diesem Band. 76 | Burnside 2009, S. 251, sowie auch Burnside 2011, S. 280. 77 | Vgl. Burnside 2009, S. 249.
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entsteht, sondern unaufgelöst bestehen bleibt und sich in eine grundsätzliche Unentscheidbarkeit bezüglich dessen, was in der erzählten Welt der Fall ist, verwandelt.« 78 Diese Unentscheidbarkeit bezieht sich vor allem auf Elemente des Übernatürlichen. So könnte es sich bei dem Erzähler im Prolog um einen Geist handeln, aber auch um einen etwa durch Drogen veränderten Bewusstseinszustand. Ebenso ließen sich animistische und fantastische Tendenzen in den Passagen über den lebendigen Leonard, der in der Innertown lebt, auch dem Einfluss eines Rauschmittels bzw. einer durch die Schadstoffe aus der Chemiefabrik hervorgerufen Veränderung der Psyche zuschreiben. Ein weiteres Beispiel hierfür sind die Begegnungen Leonards mit einem Doppelgänger. Die erste findet statt, kurz nachdem Leonard durch die Auswirkungen eines berauschenden Tranks ein animistisches Bewusstsein, eine Verschmelzung mit der Umwelt, erlebt hat 79, die zweite, kurz bevor er in den geisterhaften Zustand des Prologs überwechselt, in dem dieses Bewusstsein dauerhaft ist. Insbesondere im letztgenannten Beispiel wird deutlich, dass hier auf die Vielfalt der Lesarten angespielt wird, denn während Leonard eine spirituelle Erfahrung beschreibt, erkennt er in seinem Doppelgänger ein Mordopfer – »the shape of a body, or carcass maybe, like those sides of meat you see in the butcher’s shop«80 und realisiert: »the boy is me, only it’s me in some parallel version of the story« 81. Diese Aufspaltung des Selbst spiegelt eine zentrale Idee Burnsides wider, die in seinen Romanen, aber auch in poetologischen Aufsätzen und Interviews unter der offenbar aus dem Kontext der New-Age-Spiritualität entliehenen Formel »to live as a spirit« 82 auftaucht.83 In seinem Essay Strong Words beschreibt er dieses Konzept, wie folgt: »There is no doubt that, as persons, we live in a set place and time (we belong to a culture and a society); as spirits, however, we also live in eternity, and are stateless. […] Our response to the world is essentially one of wonder, of confronting the mysterious 78 | Martinez/Scheffel 2009, S. 103 (Hervorhebungen im Original). 79 | Vgl. Burnside 2009, S. 129. 80 | Burnside 2009, S. 253. »[…] die Umrisse eines Körpers […], eines Kadavers vielleicht, ähnlich den Fleischhälften, die man beim Schlachter hängen sieht.« Siehe Burnside 2011, S. 283. 81 | Burnside 2009, S. 254. »[D]er Junge bin ich, nur ist er mein Ich in einer parallelen Version der Geschichte.« Siehe Burnside 2011, S. 284. 82 | Burnside 2000, S. 259 (Hervorhebung im Originaltext). Vgl. auch Burnside/Dósa 2003, S. 13. 83 | Vgl. dazu Christoph Bochingers Kapitel über den Begriff der Spiritualität im Christentum und in New-Age-Lehren insbesondere im englischsprachigen Raum in Bochinger 1994, S. 378ff. Zur Auseinandersetzung Burnsides mit dem Christentum vgl. Burnside/ Dósa 2003.
Okkulte (Text-)Praktiken with a sense, not of being small, or insignificant, but of being part of a rich and complex narrative.« 84
Wichtig ist in diesen Ausführungen, dass der Mensch nicht grundsätzlich immer auch als spirit existiert, sondern erst durch einen bestimmten Prozess diesen Zustand erreichen kann: »[W]e are not born with a spirit […], but it is our peculiar gift to live as spirits, by an imaginative (or magical, or alchemical) process: an inventio, by which we create ourselves from moment to moment.«85 Hier findet sich also das Motiv der Alchemie, der Verwandlung wieder, das schon in Bezug auf The Locust Room thematisiert worden ist. So wie die Fotografie eine Dopplung, Vervielfältigung des Fotografierten erzeugt, führt die von Burnside imaginierte Verwandlung dazu, dass sich zu der person mit ihren »zivilisatorisch-gesellschaftlichen Zwängen« 86 noch der von diesen befreite spirit gesellt. Zieht man diese Überlegungen in Betracht, ist es durchaus möglich, eine solche Verwandlung auch in der Handlung von Glister nachvollzogen zu sehen: Im Prolog distanziert sich das erzählende Ich von seinem Vorgänger: »In that story, my name is Leonard« 87, und es hat jene als animistisch beschreibbare Erkenntnis gewonnen, die Burnsides spirit auszeichnet und die ihm, bevor es die letzte Wandlung durchläuft, fehlte. Dorrit Cohn bezeichnet eine solche Hervorhebung der Trennung von erzählendem und erzählten Ich zur Betonung einer kognitiven Entwicklung als »Dissonant Self-Narration« 88. Das Verschmelzen des erzählenden und erzählten Ichs, wie es für den übrigen aus Leonards Perspektive erzählten Teil von Glister charakteristisch ist, nennt sie dagegen »consonant« 89. Das im Prolog deutlich werdende dissonante Verhältnis könnte man als Echo der Aufspaltung in spirit (erzählendes Ich) und person (erzähltes Ich) lesen. In dem konsonant erzählten Teil scheint Leonard dagegen nur als person zu agieren (abgesehen von den Passagen, in denen er 84 | Burnside 2000, S. 259. »Es besteht kein Zweifel, dass wir als Personen zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort leben (wir gehören zu einer Kultur und einer Gesellschaft); als Spirits leben wir jedoch in der Ewigkeit und sind staatenlos. […] Unsere Reaktion auf die Welt ist im Wesentlichen eine der Verwunderung, in der wir dem Geheimnisvollen mit dem Gefühl begegnen, nicht klein zu sein oder unbedeutend, sondern Teil einer reichen und komplexen Erzählung zu sein.« (Übers. A. L.) 85 | Burnside 2000, S. 259 (Hervorhebungen im Original). »Wir werden nicht mit einem Spirit geboren […], aber es ist unsere besondere Gabe als Spirits zu leben, durch einen imaginativen (oder magischen oder alchemistischen) Vorgang: eine inventio, durch die wir uns ständig selbst erschaffen.« (Übers. A. L.) 86 | Stenger, S. 121. 87 | Burnside 2009, S. 1 (Hervorhebung A. L.). 88 | Cohn 1978, S. 145. 89 | Cohn 1978, S. 155.
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sein Bewusstsein erweitert und auf den Doppelgänger trifft). Auf eine Entwicklung oder Verwandlung, wie sie das dissonante Verhältnis von erzählendem und erzähltem Ich im Prolog impliziert, spielt auch die Symbolik um die Figur des Moth Man an, der als Magier beschrieben wird.90 Die Metamorphose der Insekten, die er vorgibt zu erforschen, findet sich im Drapieren seiner Opfer wiederholt, die einbandagiert und aufgehängt sind wie Schmetterlingspuppen.91 Der Ausschnitt aus Burnsides Essay veranschaulicht anhand von Ausdrücken wie »imaginative« und »create ourselves«, dass der alchemistische Transformationsprozess des Selbst, den Burnside hier entwirft, eng verbunden ist mit Vorstellungskraft und Kunst. Wie bereits herausgestellt wurde, ist Kunst der Ort, an dem Subjekt-Objekt-Beziehungen neu verhandelt werden können. Ob auf der Seite der künstlerischen Produktion, in dem es durch fremde Einflüsterungen zum Medium wird, oder der Rezeption, in der es in den Bann einer Wirkungsmacht gerät, wenn sein Blick plötzlich erwidert wird oder es mit einem Mal im Geist fremde Stimmen hört: Das Konzept eines autonomen Subjekts wird durch das lebendige Kunstwerk bedroht, indem es in ein Objekt verwandelt wird bzw. Objekt- und Subjekteigenschaften gleichzeitig bestehen bleiben. Damit wird also gewissermaßen auch eine Doppelung vollzogen. Ein Beispiel hierfür lässt sich in der Aufspaltung Leonards im Prozess des Geschichtenerzählens sehen: Als Erzähler und Figur der Erzählung spaltet Leonard sich in erzählendes Subjekt und erzähltes Objekt. Dies kommt in den Doppelgänger-Passagen besonders pointiert zum Ausdruck und trägt zu einer weiteren Verunsicherung des Leseerlebnisses bei, das ohnehin schon durch die unaufgelöste Überlagerung verschiedener Versionen einer Geschichte und den unzuverlässigen Erzähler von Kontrollverlusten geprägt ist. Wie auch in The Locust Room reflektiert die auf inhaltlicher Ebene verhandelte Kunstform den Text, der Text die Kunstform. Faktuales und Fiktives vermischen sich in der erzählten Welt, werfen diese Unsicherheit zurück in die Welt des Lesers. Durch das Ausstellen der Fiktionalität durch Selbstreflexivität hält der Text dem skeptischen Leser den Spiegel vor: Die ästhetische Erfahrung des Lesens, die dem Textverständnis zugrundeliegt, entlarvt sein Handeln als bereits animistisch. So fungiert das Verhältnis von Mensch und Kunstwerk als Modell für eine neue Beziehung von Mensch und Umwelt. Literatur als Kunstform wird bei Burnside ebenso wie Fotografie also insofern als »okkulte Praxis« entworfen und umgesetzt, als sie Stengers »okkulten Alltag« konzentriert und zurückwirft und so wiederum im besten Fall im Leser selbst Reflexion her-
90 | Vgl. Burnside 2009, S. 128ff. 91 | Vgl. Burnside 2009, S. 26, 24.
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vorruft. Hier stellt Kunst den zentralen Anlaufpunkt dafür dar, »wie ›andere Wirklichkeiten‹ in der Alltagswirklichkeit ›realisiert‹ werden«92 können.
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Okkulte (Text-)Praktiken
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Anneke Lubkowit z
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Autorinnen und Autoren
Dr. Alexander Graeff (*1976), Schriftsteller und Philosoph; arbeitet auch als Herausgeber, Kurator sowie Dozent für Ethik, Ästhetik und Pädagogik. Er studierte Wirtschafts-, Ingenieur-, Erziehungswissenschaften und Philosophie in Karlsruhe und Berlin. Promotion über Wassily Kandinsky als Pädagoge. Er veröffentlichte zahlreiche philosophische sowie belletristische Texte. Grundlage seiner philosophischen Arbeiten ist eine pluralistisch-konstruktivistische Weltauffassung; seine Themen sind meist deviante und marginalisierte Phänomene der Geschichts-, Religions- und Sozialwissenschaften. Alexander Graeffs belletristische Arbeiten (Prosa, Lyrik) sind surreal. Er scheut sich nicht vor literarischen Mischformen und transdisziplinärem Arbeiten. Seine wissenschaftlichen Studien sowie kuratorischen und publizistischen Aktivitäten suchen die Verbindung von Literatur, Kunst, Bildung und Philosophie. Alexander Graeff lebt in Berlin und Greifswald. Christoph Wagenseil (*1980) hat in Marburg Deutsche Sprache und Literatur, Religionswissenschaft und Philosophie studiert und leitet dort die Geschäftsstelle des Religionswissenschaftlichen Medien- und Informationsdienstes REMID e. V., von dem er auch einer von drei Vorsitzenden ist. Zwischen 2007 und 2014 hat er im Projekt »Übersetzungsliteratur im deutschen Frühhumanismus« an der Universität Marburg gearbeitet. Seine zahlreichen Veröffentlichungen haben Religionsstatistik, religiöse Gegenwartskultur und Western Esotericism zum Gegenstand. Für REMID hält er Vorträge und Workshops, interviewt Fachkolleginnen und -kollegen zu religions- oder weltanschauungsbezogenen Forschungsthemen und archiviert religionsbezogene »graue Literatur« für Verein und Auf bereitung durch die Forschung. Dr. Tobias Roth (*1985), Autor, Übersetzer und Philologe; er studierte Sprachund Literaturwissenschaft sowie Kunstgeschichte an der Universität Freiburg und Europäische Literaturen an der Humboldt Universität zu Berlin. 2013 bis 2016 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Berliner Sonderforschungsbereich »Transformationen der Antike« an der Humboldt Universität. Promotion
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Okkulte Kunst
zur volkssprachigen Lyrik Giovanni Pico della Mirandolas. Seit seinem Lyrikdebüt Aus Waben (2013) legte er zahlreiche eigene Titel, Herausgaben sowie Übersetzungen aus dem Italienischen, Lateinischen und Französischen vor. Er ist Gründungsgesellschafter und Herausgeber im Verlag Das Kulturelle Gedächtnis und lebt in München. Dr. Carlos Idrobo (*1979); Schwerpunkte seiner akademischen Interessen sind Themen der Psychologie, Philosophie und Kunst ab dem 19. Jahrhundert. 2004 absolvierte er ein Psychologiestudium an der Universidad del Valle (Kolumbien) und schloss mit einer Diplomarbeit über die narrative Konstruktion von Identitäten ab. 2008 folgte ein Master of Arts in Philosophie an der Universidad de los Andes (Kolumbien) und eine Arbeit über die Heideggersche Interpretation der Aristotelischen Phronesis. 2017 Abschluss der Promotion im Fachbereich Kunstgeschichte an der Universität Greifswald zum Thema Abwesenheit, Zeit und Wandermotive in der deutschen Kunst des 19. Jahrhunderts. Als Luca Idrobo betätigt er sich parallel zu seiner wissenschaftlichen Forschung auch als Fotograf. Eine Herausforderung seiner Arbeit besteht darin, Wissenschaft und Kunst zu verbinden. Carlos Idrobo lebt aktuell in Finnland. Martin Weyers (*1964) arbeitet als freischaffender Künstler (Malerei, Zeichnung, Druckgraphik) mit Atelier in Ludwigshafen am Rhein. Er geht in seiner künstlerischen Arbeit sowie in Vorträgen und Essays über Kunst, Symbole und Mythos der Frage nach, wie eine zeitgemäße künstlerische Annäherung an Transzendentes aussehen könnte. Auf der Suche nach den Möglichkeiten einer Erneuerung traditioneller künstlerischer Bildsprachen studierte er Europäische Kunstgeschichte, Philosophie und Psychologie an der Universität Heidelberg, um sich anschließend ganz der freien Kunst zuzuwenden. Seit 2008 entsteht eine Serie von Gemälden, inspiriert von regelmäßigen Exkursionen in die Mohave-Wüste (USA). Neben seiner Ausstellungstätigkeit tritt er als Veranstalter und Moderator von Symposien auf, so etwa in seiner Funktion als Vorsitzender der wissenschaftlichen Gesellschaft für Symbolforschung e. V. Symbolon und als »Mythological RoundTable® Director« der Joseph Campbell Foundation New York, für die er ein weltweites Netzwerk von Mythologie-Studiengruppen betreut. Dr. Rüdiger Sünner (*1953), Filmemacher und Sachbuchautor; er studierte Musikwissenschaft, Philosophie und Germanistik an der Freien Universität zu Berlin sowie Film an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin. Promotion über Ästhetische Szientismuskritik bei Adorno und Nietzsche. Er veröffentlichte zahlreiche Dokumentationsfilme, Bücher und Aufsätze u.a. über den Mythenmissbrauch der Nazis (Buch und Dokumentarfilm Schwarze Sonne, 1996), die deutsche Romantik sowie über spirituelle und religiöse
Autorinnen und Autoren
Orientierungen von Künstlern und Schriftstellern wie Joseph Beuys (Buch und Dokumentarfilm: Zeige deine Wunde, 2015), Paul Celan (Dokumentarfilm: Gottes zerstreute Funken, 2017) und Rainer Maria Rilke (Buch und Dokumentarfilm: Engel über Europa, 2018). Seine Betätigungen als Schriftsteller und Filmemacher suchen die Verbindung zwischen Kunst, Religion und Psychologie, sie verstehen sich als Suchbewegungen im Feld aufgeklärter Spiritualität der Gegenwart. Rüdiger Sünner lebt in Berlin. Elizabeta Lindner Kostadinovska (*1971); Studium der Germanistik und Slawistik in Skopje und Regensburg sowie 1999 DAAD-Semesterstipendium für das Studium an der Universität Dresden. Seit 2006 lebt sie in Berlin als freie Literaturübersetzerin, Autorin, Künstlerin und Kuratorin. Seit 2007 ist sie Chefredakteurin der deutsch-makedonischen Online-Zeitschrift SlovoKult::Literatur/a. Von 2008 bis 2015 war sie zuständig für die deutschsprachige Literatur im Verlag Blesok (Skopje). Neben zahlreichen Prosa- und Lyrikübersetzungen ins Makedonische u.a. Thomas Bernhard, Clemens J. Setz und Paul Celan, schreibt sie selbst Gedichte, Kurzgeschichten und Essays – seit 13 Jahren ausschließlich auf Deutsch. Für ihre Übersetzungen bekam sie zahlreiche Auszeichnungen und Preise u.a. 2014 den makedonischen Übersetzungspreis Grigor Prličev für die Übertragung der Gedichte Paul Celans ins Makedonische. Ute J. Krienke (*1977) studierte Psychologie an der Freien Universität Berlin. Nach ihrem Diplom-Abschluss arbeitete sie als Psychologin in verschiedenen Kliniken. Seit 2011 ist sie in der klinischen Forschung des Evangelischen Krankenhauses Bethanien in Greifswald tätig und veröffentlichte seither zahlreiche wissenschaftliche Artikel zu den Themen Bipolare Störungen, Abhängigkeitserkrankungen sowie kreative Prozesse in der Psychotherapie. Zudem wirkte sie an einem Artikel im medizinischen Therapie-Handbuch (Sauerbruch 2018) über Bipolare Störungen mit. Seit ihrer Approbation arbeitet Krienke neben ihrer Forschungstätigkeit als Psychologische Psychotherapeutin mit dem Schwerpunkt Verhaltenstherapie, außerdem als Dozentin für Psychologie sowie als Ausbilderin für Rational-Emotive Verhaltenstherapie und Gesprächsführung. Sie beschäftigt sich darüber hinaus mit psychoanalytischer Gruppendynamik und Kunstpsychologie. Dominik Irtenkauf (*1979), Journalist und Essayist, studierte Germanistik, Komparatistik und Philosophie an der Universität Münster. Er arbeitet als Themenredakteur für Stadtgeflüster Interview und freier Journalist u.a. für das Legacy-Magazin, für Pop. Kultur und Kritik sowie Telepolis. 2010 Mitarbeit im Projekt »Semiotik des Heavy Metal« der Universität Wuppertal. 2017 von der Kulturstiftung des Bundes geförderte Recherche zu Metal in Afrika mit Studienreise nach Botswana und Namibia. Seine zahlreichen Veröffentlichungen
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Okkulte Kunst
stellen oft Hybridformen aus Journalismus und Literatur dar. Sein Forschungsschwerpunkt liegt im Bereich der interdisziplinären Ästhetik zu den Themen »Grenzen und Geist(er)«. Momentan schreibt er an einem Buch über »Extreme Metal« aus ethnographischer Sicht. Dominik Irtenkauf lebt in Münster. Anneke Lubkowitz (*1990) hat in Berlin und Edinburgh Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft und Englische Philologie studiert. Seit 2015 promoviert sie an der Humboldt Universität zu Berlin über heimgesuchte Natur-Räume in der britischen Gegenwartsliteratur. Sie ist Mitgründerin der Literaturzeitschrift Sachen mit Wœrtern und hat in verschiedenen Zeitschriften Essays, Artikel und Rezensionen zu literaturbezogenen Themen veröffentlicht. Zuletzt erschien ihr Essay Falling through the map (SuKuLTuR, 2018). Derzeit arbeitet sie an einem Sammelband zur literarischen Psychogeografie, der 2019 bei Matthes & Seitz erscheinen wird.
Abbildungsverzeichnis
Cover: Alexander Gehring: Kabinett. Aus der Serie Messages from the Darkroom, Fotografie, 2011. © Alexander Gehring. Abb.1: Vorderseite der Broschüre zum Vortrag Okkultismus und bildende Kunst von Dr. Rudolf Bernoulli, gehalten in der Deutschen Okkultistischen Gesellschaft zu Berlin am 7. November 1919. Privatbesitz von Alexander Graeff. Abb. 2: Schmutztitel des Buches Okkulte Kunst von Eugen Mirsky, Prag 1924. © Staatsbibliothek zu Berlin/Preußischer Kulturbesitz. Abb. 3: Scherenschnitt mit dem Titel Okkulte Wissenschaft aus Eugen Mirskys Okkulte Kunst, Prag 1924, S. 23. © Staatsbibliothek zu Berlin/Preußischer Kulturbesitz. Abb. 4: Heinrich Dreber: Sappho (1870), Öl auf Leinwand. Sammlung Schack München. © akg images. Abb. 5: Henry Siddons: Practical Illustrations of Rhetorical Gesture and Action. London 1822, Platte XI: Painful recollection: King Lear. University of Toronto – Robarts Library. © archive.org, Openlibrary No. OL7135649M. Abb. 6: Lucas Cranach der Ältere (Werkstatt): Das Urteil des Paris (um 1530), Öl auf Holz. © Staatsgalerie Stuttgart, Inv.-Nr. L 1255. Abb. 7: Lucas Cranach der Ältere: Judith mit dem Haupt des Holofernes (um 1530), Mischtechnik auf Lindenholz. Staatsgalerie Stuttgart. © akg images. Abb. 8: Lucas Cranach der Ältere: Das Urteil des Paris (1530), Öl auf Rotbuchenholz. © Staatliche Kunsthalle Karlsruhe.
Kunst- und Bildwissenschaft Julia Allerstorfer, Monika Leisch-Kiesl (Hg.)
»Global Art History« Transkulturelle Verortungen von Kunst und Kunstwissenschaft 2017, 304 S., kart. 34,99 € (DE), 978-3-8376-4061-8 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4061-2
Horst Bredekamp, Wolfgang Schäffner (Hg.)
Haare hören – Strukturen wissen – Räume agieren Berichte aus dem Interdisziplinären Labor Bild Wissen Gestaltung 2015, 216 S., kart., zahlr. farb. Abb. 34,99 € (DE), 978-3-8376-3272-9 E-Book kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation ISBN 978-3-8394-3272-3
Heike Engelke
Geschichte wiederholen Strategien des Reenactment in der Gegenwartskunst – Omer Fast, Andrea Geyer und Rod Dickinson 2017, 262 S., kart. 32,99 € (DE), 978-3-8376-3922-3 E-Book: 32,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3922-7
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Kunst- und Bildwissenschaft Burcu Dogramaci, Katja Schneider (Hg.)
»Clear the Air«. Künstlermanifeste seit den 1960er Jahren Interdisziplinäre Positionen 2017, 396 S., kart., zahlr. z.T. farb Abb. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3640-6 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3640-0
Astrit Schmidt-Burkhardt
Die Kunst der Diagrammatik Perspektiven eines neuen bildwissenschaftlichen Paradigmas 2017, 372 S., kart., zahlr. Abb. 39,99 € (DE), 978-3-8376-3631-4 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3631-8
Gerald Schröder, Christina Threuter (Hg.)
Wilde Dinge in Kunst und Design Aspekte der Alterität seit 1800 2017, 312 S., kart., zahlr. z.T. farb. Abb. 36,99 € (DE), 978-3-8376-3585-0 E-Book: 36,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3585-4
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de