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German Pages [288] Year 2014
Claudia Bade / Lars Skowronski / Michael Viebig (Hg.) NS-Militärjustiz im Zweiten Weltkrieg Disziplinierungs- und Repressionsinstrument in europäischer Dimension
Berichte und Studien Nr. 68 herausgegeben vom Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung e.V.
Claudia Bade / Lars Skowronski / Michael Viebig (Hg.)
NS-Militärjustiz im Zweiten Weltkrieg Disziplinierungs- und Repressionsinstrument in europäischer Dimension
V&R unipress
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Umschlagabbildung: Den Haag 1942, Prozess gegen Mitglieder der Widerstandsgruppe »Oranjegarde«, Luftwaffengericht. Quelle: NIOD Instituut voor Oorlogs-, Holocaust- en Genocidestudies, Amsterdam
1. Aufl. 2015 © 2015, V&R unipress in Göttingen / www.vr-unipress.de Alle Rechte vorbehalten Satz: Hannah-Arendt-Institut, Dresden Druck und Bindung: CPI buchbuecher.de GmbH, Birkach Printed in Germany ISBN 978-3-8471-0372-1 ISBN 978-3-8470-0372-4 (E-Book)
Inhaltsverzeichnis
Claudia Bade Die Wehrmachtjustiz im Zweiten Weltkrieg: Forschungsüberblick und Perspektiven. Eine Einführung I.
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Grundlagen der Wehrmachtjustiz: Neue Perspektiven auf Quellen und Forschung
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Peter Kalmbach Besatzungsgerichtsbarkeit und Besatzungsstrafrecht
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Michael Viebig Der Bestand »Reichskriegsgericht« im Militärhistorischen Archiv der Tschechischen Republik in Prag – ein bedeutender Aktenbestand für die Forschung zur nationalsozialistischen Justiz
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Maria Fritsche Männlichkeit als Forschungskategorie? Vom Nutzen gendertheoretischer Ansätze für die Militär- und Militärjustizgeschichte
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II. Deutsche Militärjustiz in Europa als Element der Besatzungspolitik
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Ryszard Kaczmarek Polen in Wehrmachtuniform: Fahnenflüchtige aus Oberschlesien in den Meldungen des SD und vor deutschen Gerichten 1940 bis 1945
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Christoph Brüll Die Wehrmachtjustiz in Belgien als Instrument der Besatzungspolitik
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Gaël Eismann Das Vorgehen der Wehrmachtjustiz gegen die Bevölkerung in Frankreich 1940 bis 1944. Die Eskalation einer scheinbar legalen Strafjustiz
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Inhaltsverzeichnis
Kerstin von Lingen Deutsche Militär- und Besatzungsjustiz in Italien 1943 bis 1945
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Magnus Koch Norwegen und die Wehrmachtjustiz. Eine Projektskizze
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III. Praxis der Wehrmachtjustiz und ihres Strafvollzugs
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Kerstin Theis »Das Ziel ist klar, ein 1918 wird das Ersatzheer nie erleben.« – Die Wehrmachtjustiz der Ersatztruppen an der »Heimatfront« während des Zweiten Weltkriegs
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Albrecht Kirschner »Asoziale Volksschädlinge« und »Alte Kämpfer«. Zu Handlungsmöglichkeiten der Wehrmachtrichter im Zweiten Weltkrieg
181
Detlef Garbe »Wenn der Wille nicht gebrochen werden könne …« Die Prozessstrategie des Reichskriegsgerichtes in Verfahren gegen Zeugen Jehovas und andere religiös motivierte Kriegsdienstverweigerer
193
Claudia Bade Deutsche Militärjuristen in Frankreich: Das Gericht des Kommandanten von Groß-Paris
213
Peter Steinkamp Lebens- und Gesundheitsbedingungen in den Feldstrafgefangenenabteilungen der Wehrmacht: Hungertodesfälle
229
Lars Skowronski Die Feldstraflager der Wehrmacht im Spiegel von Nachkriegsermittlungen deutscher Justizbehörden
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IV. Anhang Literaturverzeichnis Abkürzungsverzeichnis Autorinnen und Autoren
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Claudia Bade Die Wehrmachtjustiz im Zweiten Weltkrieg : Forschungsüberblick und Perspektiven. Eine Einführung
Der Freiburger Heeresrichter Werner Otto Müller - Hill schrieb am 11. April 1944 in sein Tagebuch : »Nächste Woche finden hier in Straßburg Sitzungen des Gerichts der Wehrmachtkommandantur Berlin, das dafür zuständig ist, gegen einige Offiziere statt, die unbedachte Kritik geäußert und die Niederlage vorausgesagt haben. Ich fürchte für sie das Schlimmste. Denn je schlechter für das Regime die Lage steht, desto drakonischer seine Abwehr nach innen. [...] Diese ganze Judikatur über die sogenannte ›Zersetzung der Wehrkraft‹ entfernt sich von dem ersten gesetzgeberischen Gedanken, der diese Strafbestimmung schuf, immer mehr. [...] Kritik am Führer war und ist eigentlich der Tatbestand des Heimtückegesetzes, das mit Gefängnis den bestraft, der öffentlich gehässige, ketzerische oder von niederer Gesinnung zeugende Aussagen über leitende Persönlichkeiten des Staates macht. Heute ist diese Kritik ›Zersetzung der Wehrkraft‹ und es rollen unzählige Köpfe dafür. Dass dies das Ende der Justiz ist, ist klar.«1 Diese Worte sind ungewöhnlich realistisch und aufrichtig für einen Wehrmachtrichter, besonders, weil er seinem Tagebuch anvertraute, dass an der ausufernden Spruchpraxis wegen »Zersetzung der Wehrkraft« unzweifelhaft »das Ende der Justiz« zu erkennen sei. Zwar wird aus Müller - Hills Worten deutlich, dass er keine grundsätzliche Kritik am »gesetzgeberischen Gedanken« des »Heimtückegesetzes« übte, doch verglichen mit den späteren, zumeist exkulpierenden Äußerungen und Schriften vieler Wehrmachtrichter sind die Tagebucheinträge dieses Juristen sehr klarsichtig und offen. Seine Äußerungen hätten, wenn sie aufgefunden worden wären, vermutlich selbst als »Zersetzung der Wehrkraft« gegolten. Sie blieben aber unentdeckt, wurden erst jüngst in einem schmalen Band veröffentlicht, und zeugen nun davon, dass zumindest einigen der damaligen Akteure doch bewusst war, was die Institution, der sie angehörten, anrichtete. Dies ist umso bemerkenswerter, als die frühe Geschichtsschreibung 1
Werner Otto Müller - Hill, »Man hat es kommen sehen und ist doch erschüttert«. Das Kriegstagebuch eines deutschen Heeresrichters 1944/45, München 2012, S. 29 f.
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zur Wehrmachtjustiz sehr von den apologetischen Intentionen ihrer Protagonisten geprägt war. Die historische Forschung zum Thema NS - Militärjustiz hat bereits selbst eine wechselvolle Geschichte hinter sich. Diese ist ein Beispiel dafür, wie schnell Geschichtsschreibung – vor allem, wenn sie von den ehemaligen Akteuren selbst abgefasst ist – zu Geschichtspolitik werden kann. Denn in den ersten Nachkriegsjahrzehnten ging es tendenziell um eine positive, rechtfertigende Bewertung der Wehrmachtjustiz und weniger um Fakten. Wie kaum einer anderen Gruppe von Akteuren der NS - Zeit ist es den ehemaligen Wehrmachtrichtern gelungen, über Jahrzehnte ihre Sicht und ihre Bewertung der eigenen Tätigkeiten während des Zweiten Weltkrieges im gesellschaftlichen Bewusstsein zu platzieren. Zwar entwickelte sich spätestens in den 1980er Jahren eine kritische und mehr an den Fakten interessierte Geschichtsschreibung, doch die apologetische Sicht auf die Institution der Wehrmachtjustiz und ihr Personal, wie sie sich seit Kriegsende durch die »Veteranen« etabliert hatte, blieb bis in die jüngste Zeit in der Öffentlichkeit wirkmächtig. Erst mit der Aufhebung der Urteile gegen die sogenannten Kriegsverräter durch den Deutschen Bundestag im Jahre 2009 verlor sie endgültig an Bedeutung. Aufgrund der nachhaltigen Wirkung muss diese Historiografie bei jeder Forschung zum Thema im Grunde immer »mitgedacht« werden. Sehr häufig findet die Geschichtsschreibung zur NS - Militärjustiz somit vor der Folie der apologetischen Literatur der 1950er bis 1970er Jahre statt. Dies ist auch in zahlreichen Beiträgen des vorliegenden Bandes noch spürbar. Die rechtfertigenden Schriften der späten 1940er und der 1950er Jahre,2 die größtenteils aus der Feder ehemaliger Wehrmachtjuristen stammten, aber zunächst in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen wurden, mündeten 1977 in die bekannte Monografie des ehemaligen Luftwaffenrichters Otto Peter Schweling »Die deutsche Militärjustiz in der Zeit des Nationalsozialismus«.3 Dieses noch heute als »Schweling / Schwinge« bezeichnete Werk war seinerzeit vom Münchner Institut für Zeitgeschichte ( IfZ ) in Auftrag gegeben worden und dann unter beträchtlicher Mitwirkung zahlreicher ehemaliger Akteure aus dem Kreis 2
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Als Beispiele seien genannt Karl Michel, Der Kriegsrichter von Paris, Wiesbaden 1949; Günther Moritz, Gerichtsbarkeit in den von Deutschland besetzten Gebieten 1939 –1945, Tübingen 1955; Hans Luther, Der französische Widerstand gegen die deutsche Besatzungsmacht und seine Bekämpfung, Tübingen 1957. Die beiden letzteren Publikationen, die in einer Reihe des Tübinger Instituts für Besatzungsfragen herausgegeben wurden, sind zwar nominell von einzelnen Autoren verfasst, dies aber unter tatkräftiger Mitarbeit zahlreicher ehemaliger Wehrmachtrichter. Vgl. Claudia Bade, »Als Hüter wahrer Disziplin ...« Netzwerke ehemaliger Wehrmachtjuristen und ihre Geschichtspolitik. In: Joachim Perels / Wolfram Wette (Hg.), Mit reinem Gewissen. Wehrmachtrichter in der Bundesrepublik Deutschland und ihre Opfer, Berlin 2011, S. 124 –139. Otto Peter Schweling, Die deutsche Militärjustiz in der Zeit des Nationalsozialismus. Bearbeitet, eingeleitet und herausgegeben von Erich Schwinge, 1. Auflage Marburg 1977.
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der Wehrmachtjustiz entstanden. Nach Einreichung des Manuskripts weigerte sich das IfZ unter Berufung auf ablehnende Gutachten allerdings, das unverkennbar apologetische Werk herauszugeben. So wurde es schließlich vom Marburger Rechtsprofessor und vormaligen Kommentator des NS - Kriegsstrafrechts Erich Schwinge nach Schwelings Tod vollendet und ohne die Mitwirkung des IfZ publiziert. Es blieb lange Zeit prägend und wurde in den Medien als »Standardwerk«4 bezeichnet, obwohl das Institut für Zeitgeschichte und besonders dessen Direktor Martin Broszat das Werk scharf verurteilten. Der langjährige Streit um dieses Buch hatte allerdings zur Folge, dass einige Jahre später das von Schwinge und seinen Mitstreitern produzierte Geschichtsbild kritisch in Frage gestellt wurde und es somit als eine Art Initialzündung für eine breite wissenschaftliche Aufarbeitung der NS - Militärjustiz gelten kann. Die erste kritische Auseinandersetzung damit leisteten Fritz Wüllner und Manfred Messerschmidt.5 Wenig später kamen die Forschungen von Norbert Haase, Detlef Garbe und Hans Peter Klausch hinzu, die nun frei von exkulpatorischen Absichten und jenseits von Schätzungen und Hochrechnungen auf empirischer Basis Erkenntnisse zum Funktionieren und Wirken der Wehrmachtjustiz als Teil des NS - Regimes vorlegten.6 Geschichtswerkstätten und einzelne Forscher untersuchten – ebenfalls auf empirischer Basis – die Tätigkeit von Kriegsgerichten vor Ort oder die Auswirkungen kriegsgerichtlicher Rechtsprechung auf Wehrmachtangehörige im Hinblick auf bestimmte Delikte.7 Somit existierte bereits Mitte der 1990er Jahre ein solider und grundlegender Forschungsstand, 4
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So beispielsweise im »Spiegel«. Vgl. den Artikel »›Der Kerl gehört gehängt!‹ – Die deutschen Militärrichter im Zweiten Weltkrieg«. In: Der Spiegel, Nr. 28 vom 10. 7. 1978, S. 36–49. Unter Berufung auf das Werk von Schweling/Schwinge lautete das Fazit des »Spiegels«: »Deutschlands Militärrichter waren besser als ihr Ruf. Sie hielten [...] weitgehend an dem normativen Rechtsdenken ihres Standes fest [...] und unterschieden sich grundsätzlich von denen, die man in der zivilen Justiz die Blutrichter Hitlers nannte« (ebd., S. 38). Manfred Messerschmidt/Fritz Wüllner, Die Wehrmachtjustiz im Dienste des Nationalsozialismus. Zerstörung einer Legende, Baden - Baden 1987; Fritz Wüllner, Die NS - Militärjustiz und das Elend der Geschichtsschreibung. Ein grundlegender Forschungsbericht, Baden - Baden 1991. Vgl. beispielsweise Norbert Haase, Das Reichskriegsgericht und der Widerstand gegen die nationalsozialistische Herrschaft. Katalog zur Sonderausstellung der Gedenkstätte Deutscher Widerstand, Berlin 1993; ders., »Gefahr für die Manneszucht«. Verweigerung und Widerstand im Spiegel der Spruchtätigkeit von Marinegerichten in Wilhelmshaven (1939 – 1945), Hannover 1996; Detlef Garbe, »In jedem Einzelfall ... bis zur Todesstrafe«. Der Militärstrafrechtler Erich Schwinge. Ein deutsches Juristenleben, Hamburg 1989; Hans Peter Klausch, Die Bewährungstruppe 500. Stellung und Funktion der Bewährungstruppe 500 im System von NS - Wehrrecht, NS - Militärjustiz und Wehrmachtstrafvollzug, Bremen 1995. Vgl. Günter Fahle, Verweigern, weglaufen, zersetzen. Deutsche Militärjustiz und ungehorsame Soldaten 1939 – 1945. Das Beispiel Ems - Jade, Bremen 1990; Fietje Ausländer (Hg.), Verräter oder Vorbilder? Deserteure und ungehorsame Soldaten im Nationalsozialismus, Bremen 1990; Michael Eberlein / Roland Müller (Hg.), Militärjustiz im Nationalsozialismus. Das Marburger Militärgericht. Hg. von der Geschichtswerkstatt Marburg, Marburg 1994.
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der allerdings abseits der wissenschaftlichen Community in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen wurde. Dennoch kam es in der Folge zu einer sich immer weiter ausdifferenzierenden Forschung. Christoph Rass, Birgit Beck, Magnus Koch sowie die österreichische Forschungsgruppe um Walter Manoschek – um nur einige beispielhaft zu nennen – publizierten ihre Untersuchungen zum Umgang der NS - Militärjustiz mit bestimmten Delikten oder Deliktgruppen, zum Wirken dieser Justiz speziell in Österreich sowie zur Wehrmachtgerichtsbarkeit nicht nur als Mittel zur Disziplinierung von Soldaten, sondern auch als elementarer Bestandteil des militärischen Gesamtsystems der Wehrmacht.8 Parallel zu der Entwicklung der Forschungslandschaft entstanden in den 1990er Jahren mit den neu gestalteten Gedenkstätten in Halle (Saale) und Torgau würdige Erinnerungsorte an die verbrecherischen Taten der NS - Militärjustiz.9 Seit 2007 existiert außerdem die Wanderausstellung »›Was damals Recht war...‹ Soldaten und Zivilisten vor Gerichten der Wehrmacht« der in Berlin ansässigen »Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas«, die seitdem bereits in zahlreichen Städten in Deutschland und Österreich gezeigt wurde und ihrerseits weitere Forschungen initiierte oder nach sich zog.10 Dokumentationsstätten und Ausstellungen, zuletzt die 2011 mit großem Aufwand eröffnete Gedenkstätte Esterwegen, die einen ihrer Schwerpunkte auf den Strafvollzug an kriegsgerichtlich Verurteilten setzt, sowie die Debatten im Deutschen Bundestag zur Aufhebung der Urteile gegen Deserteure und später gegen die sogenannten Kriegsverräter sind Anzeichen dafür, dass das Thema NSMilitärjustiz mehr und mehr auch in einer größeren Öffentlichkeit angekommen ist. Die Forschung ihrerseits hat klar gemacht, dass die Beschäftigung mit der Wehrmachtjustiz nicht mehr nur ein Randthema der Geschichtsschreibung zum NS - Regime und zum Zweiten Weltkrieg ist, sondern dass sie zu einer der »tra8
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Christoph Rass, »Menschenmaterial«: Deutsche Soldaten an der Ostfront. Innenansichten einer Infanteriedivision 1939–1945, Paderborn 2003; Birgit Beck, Wehrmacht und sexuelle Gewalt. Sexualverbrechen vor deutschen Militärgerichten 1939 – 1945, Paderborn 2004; Magnus Koch, Fahnenfluchten. Deserteure der Wehrmacht – Lebenswege und Entscheidungen, Paderborn 2008; Walter Manoschek (Hg.), Opfer der NS - Militärjustiz. Urteilspraxis, Strafvollzug, Entschädigungspolitik in Österreich, Wien 2003. Vgl. Norbert Haase / Brigitte Oleschinski (Hg.), Das Torgau - Tabu. Wehrmachtstrafsystem, NKWD - Straflager, DDR - Strafvollzug, Leipzig 1993; Michael Eberlein / Norbert Haase / Wolfgang Oleschinski (Hg.), Torgau im Hinterland des Zweiten Weltkriegs. Militärjustiz, Wehrmachtgefängnisse, Reichskriegsgericht, Leipzig 1999; Michael Viebig, Das Zuchthaus Halle/Saale als Richtstätte der nationalsozialistischen Justiz (1942 bis 1945). Hg. vom Ministerium des Innern des Landes Sachsen - Anhalt, Magdeburg 1998; Der ROTE OCHSE Halle (Saale). Politische Justiz 1933– 1945/1945 –1989. Katalog zu den Dauerausstellungen. Bearb. von Daniel Bohse und Alexander Sperk, hg. von Joachim Scherrieble, Berlin 2008. Ulrich Baumann / Magnus Koch (Hg.), »Was damals Recht war ...« Soldaten und Zivilisten vor Gerichten der Wehrmacht, Berlin 2008.
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genden Säulen« der kritischen Militärgeschichte geworden ist, wie Rass und Quadflieg formulieren.11 Dennoch ist sicher noch nicht die Zeit, eine abschließende Bilanz zu ziehen, denn viele Aspekte der NS - Militärjustiz sind noch nicht oder nur ungenügend erforscht. Aus diesem Grunde hat es seit 2007 einige Fachtagungen zum Themenfeld der NS - Militärjustiz gegeben, auf denen zahlreiche spezielle Aspekte beleuchtet wurden, die bis dato in der Forschung noch keine große Bedeutung besessen hatten.12 Dazu gehörten Untersuchungen zum Personal der Wehrmachtjustiz, Forschungen zur Weiterführung der Karrieren ehemaliger Akteure in der Bundesrepublik, die kulturellen Spiegelungen des Themas in der Nachkriegszeit, so z. B. in Spielfilmen, sowie eine generelle Historisierung durch die Untersuchung der Entschädigungs - und Rehabilitierungsfragen. Die Tagung, die dem vorliegenden Buch zugrunde lag, wollte weitere Akzente setzen. Sie beleuchtete einen Bereich, der in der kritischen Geschichtsschreibung bislang weitgehend unbeachtet geblieben ist und rückte damit ein Thema wieder in den Mittelpunkt des Erkenntnisinteresses, das interessanterweise in den frühen, exkulpatorischen Veröffentlichungen ein bedeutsamer Bestandteil der Bewertung der Wehrmachtjustiz durch die Protagonisten selbst war : Die Militärjustiz und somit auch die Besatzungsgerichtsbarkeit galt auch damals schon als wichtiges Element der Besatzungspolitik.13 Im Unterschied zu anderen Betrachtungen, die wie die Studien zur Desertion fast ausschließlich den deutschen Kontext in den Blick genommen haben, dokumentiert die erwähnte Wanderausstellung »›Was damals Recht war...‹ Soldaten und Zivilisten vor Gerichten der Wehrmacht« anhand von Fallbeispielen auch die Bedeutung der Wehrmachtjustiz für die Zivilbevölkerung in den besetzten Ländern Europas. Dabei verdeutlichte sie aber zugleich große Forschungsdesiderate zu diesem Aspekt sowie zu den unterschiedlichen Formationen des Wehrmachtstrafvollzugs innerhalb des Systems der Wehrmacht. Die Veranstalterinnen und Veranstalter der Dresdner Tagung wollten dazu beitragen, die erkannten Desiderate ein Stück weit zu überwinden. Das Verhalten der Institution Wehrmachtjustiz bzw. ihrer Akteure in den von der Wehrmacht besetzten europäischen Ländern galt noch zu Zeiten der »Forschungen« des Tübinger Instituts für Besatzungsfragen in den 1950er Jahren eher als Beleg für 11
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Vgl. Christoph Rass/Peter M. Quadflieg, Die Kriegsgerichtsbarkeit der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg: Strukturen, Handlungsweisen, Akteure. In: Albrecht Kirschner (Hg.), Deserteure, Wehrkraftzersetzer und ihre Richter. Marburger Zwischenbilanz zur NS - Militärjustiz vor und nach 1945, Marburg 2010, S. 39–57, hier 45. Vgl. die bereits erschienen Tagungsbände: Kirschner (Hg.), Deserteure; Peter Pirker / Florian Wenninger (Hg.), Wehrmachtsjustiz. Kontext, Praxis, Nachwirkungen, Wien 2010; Perels / Wette (Hg.), Mit reinem Gewissen. Vgl. die bereits erwähnten Schriften des Tübinger Instituts für Besatzungsfragen, z. B. Moritz, Gerichtsbarkeit, und Luther, Französischer Widerstand.
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die vorgebliche Ehrenhaftigkeit der Wehrmachtrichter und für die vermeintliche Unabhängigkeit der deutschen Kriegsgerichtsbarkeit von politischen Vorgaben durch die NS - Führung. Im Gegensatz dazu kann nunmehr, auch begründet durch aktuelle empirische Forschungen in verschiedenen Ländern, dieses Verhalten neu bewertet werden : In den verschiedenen Besatzungsgebieten hat die NS - Militärjustiz auf sehr unterschiedliche Weise zur Disziplinierung der eigenen und zwangsrekrutierten oder auch der mehr oder weniger freiwillig hinzugestoßenen Soldaten sowie zur Repression von Zivilisten in ganz Europa beigetragen und war somit eine »tragende Säule« des nationalsozialistischen Vernichtungskrieges. Das vorliegende Buch versammelt die Beiträge eines zweieinhalbtägigen Symposiums, das im Oktober 2011 im Dresdner Umweltzentrum unter dem Titel »Deutsche Militärjustiz im Zweiten Weltkrieg« stattgefunden hat. Die Veranstalter hatten es sich zur Aufgabe gemacht, das Thema NS - Militärjustiz erstmals systematisch in einen europäischen Rahmen zu stellen. Es konnten zahlreiche Expertinnen und Experten, teilweise auch aus dem europäischen Ausland, gewonnen werden, die bei sehr unterschiedlichen Forschungsständen in den jeweiligen Staaten darlegten, auf welche Weise die Wehrmachtjustiz in die Gesellschaften der besetzten Länder hinein wirkte und wie sie Macht - und Repressionsinstrument gegen die dortige Bevölkerung wurde – oder auch, wie sie gewissermaßen durch »Unterlassung« zum Motor anderer Repressionsmaßnahmen wurde. Abschließende Ergebnisse waren bei der Tagung, die auch einen öffentlichen Abendvortrag von PD Dr. Christoph Rass, Professor für Neueste Geschichte an der Universität Osnabrück, unter dem Titel »Täter im Fadenkreuz der Forschung. Biografien und Handlungsmuster von Wehrmachtjuristen« beinhaltete, zwar noch nicht zu erwarten. Die Beiträge bilanzierten aber Forschungsstände, boten Anregungen und benannten wichtige Fragen für eine intensive Auseinandersetzung mit Aspekten im Themenkreis Wehrmachtjustiz und Besatzungsherrschaft. Zudem konnten die Veranstalter auch der Idee gerecht werden, laufenden oder gerade abgeschlossenen Forschungsprojekten zu Thema Wehrmachtjustiz ein Forum zu bieten. Ihren Ausgang nahm die Tagung mit dem Forschungsprojekt »Lebensläufe und Spruchpraxis von Wehrmachtrichtern«, ein Projekt, das von 2010 bis 2012 am Hannah - Arendt - Institut für Totalitarismusforschung an der TU Dresden e. V. durchgeführt wurde. Es wurde vom Sächsischen Staatsministerium für Wissenschaft und Kunst ( SMWK ) gefördert, und zwar in einem Förderschwerpunkt der Sächsischen Akademie der Wissenschaften. Das Vorhaben führte erstmals auf empirischer Basis für den Bereich der Wehrmachtjustiz Täter - Biografien und die Spruchpraxis der Richterschaft in einer kollektivbiografischen Untersuchung zusammen. Zugleich beinhaltete das Projekt die Dokumentation möglichst vieler
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personenbezogener Daten zu den schätzungsweise insgesamt rund 3000 Wehrmachtrichtern. Die daraus entstandene Datenbank mit Angaben über mehr als 2000 Juristen wird in naher Zukunft im Dokumentations - und Informationszentrum ( DIZ ) Torgau und im Hannah - Arendt - Institut für weitere Forschungen nutzbar sein. Von Beginn an war geplant, im Laufe des Projektes über die Wehrmachtrichter eine Tagung zu veranstalten und Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen einzuladen, die sich ebenfalls mit dem Thema beschäftigen, um so zu einem Austausch zu gelangen. Auch dafür stellte das SMWK großzügig Mittel zur Verfügung. So entstand die Idee zu dieser Tagung, die zunächst im Hannah Arendt - Institut konzipiert wurde. Auch die ersten Gedanken zu einem Sammelband, der neue Forschungsergebnisse vorstellen sollte, wurden bereits in dieser frühen Phase entwickelt. Nach kurzer Zeit kam zudem der Entschluss auf, die genauere Planung und Organisation gemeinsam mit Kooperationspartnern zu leisten. Auf diese Weise wurde beschlossen, den Workshop des Hannah - Arendt Instituts mit einer »länderübergreifenden« Veranstaltungsreihe zu koppeln, die meist abwechselnd im DIZ Torgau und in der Gedenkstätte ROTER OCHSE Halle ( Saale ) durchgeführt wird. Diese 1999 gegründete Reihe mit dem ursprünglichen Titel »Das Reichskriegsgericht und seine Richtstätten« ist seit einigen Jahren nicht mehr nur auf die Geschichte des Reichskriegsgerichts und seiner Urteilspraxis reduziert, sondern befasst sich in der Regel mit der gesamten Wehrmachtjustiz in meist eintägigen Veranstaltungen mit jeweils bis zu acht Vorträgen. Im Jahr 2011 bot sich nun die Gelegenheit, Synergieeffekte zu schaffen und mit einem mehrtätigen Symposium ein größeres Publikum anzusprechen. Der Sammelband ist in drei Abschnitte gegliedert. Im ersten Abschnitt »Grundlagen der Wehrmachtjustiz« werden neue Perspektiven auf Quellen und Forschungen eröffnet. Zeit - und fachübergreifend skizzieren die Autoren hier allgemeine Grundlagen, die auch für die interdisziplinäre Erforschung der Militärjustiz und des Zweiten Weltkriegs von Bedeutung sind. Die drei Beiträge dieses Abschnitts sind zwar unterschiedlich ausgerichtet, gemeinsam ist ihnen aber, dass sie Impulse für den gesamten Band geben. Darüber hinaus ermöglichen sie Einblicke in die aktuelle Forschung und öffnen den Blick für zukünftige Vorhaben. Den Anfang macht der Bremer Jurist Peter Kalmbach, der – passend zur Europäisierung des Themas – einen Überblick über die Grundlagen der Besatzungsgerichtsbarkeit und das Besatzungsstrafrecht aus juristischer Sicht gibt. Er zeigt, wie die Grundlagen für die Verschärfung der anzuwendenden Strafgesetze sowie für die erweiterten Kompetenzen der Militärjustiz bereits lange vor Beginn des Krieges auf verschiedene Weise gelegt wurden. Die Wehrmachtjustiz als Institution konnte somit flexibel auf sich verändernde Anforderungen während des Krieges reagieren und je nach Bedarf bestimmte Fälle an sich ziehen oder, beispielsweise wegen mangelnder eigener Kapazitäten,
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an andere Instanzen abgeben. Kalmbach beschreibt, wie die NS - Militärjustiz mit ausländischen Zivilisten verfuhr – zunächst allgemein auf der Basis der Bestimmungen in der Kriegsstrafverfahrensordnung ( KStVO ) und der Kriegssonderstrafrechtsverordnung ( KSSVO ), und dann auch speziell durch unterschiedliche Erlasse, Verordnungen und Befehle in den verschiedenen Besatzungsgebieten. Er führt dies an Beispielen vor allem aus dem ost - und südosteuropäischen Raum aus. Dabei arbeitet er heraus, dass die Wehrmachtjuristen sich nicht nur in der Sowjetunion, sondern auch in Serbien und Griechenland trotz eigentlich vorhandener Zuständigkeiten das Heft des Handelns aus der Hand nehmen ließen. Die Folge waren Erschießungen von tausenden Zivilisten ohne jegliches Gerichtsurteil durch SS - und Polizeieinheiten, aber auch durch Wehrmacht und Geheime Feldpolizei. Michael Viebig, wissenschaftlicher Mitarbeiter der Gedenkstätte ROTER OCHSE Halle ( Saale ), führt in die äußerst heterogenen Bestände des Reichskriegsgerichts ( RKG ) im Militärhistorischen Archiv der Tschechischen Republik in Prag ein, die hierzulande immer noch viel zu wenig Beachtung finden. Angehörige des seit August 1943 in Torgau ansässigen RKG flohen im Frühjahr 1945 mit zahlreichen Unterlagen vor der Roten Armee in Richtung Tschechien. Viebig schildert, wie die Akten des RKG in den Bestand des Tschechischen Militärarchivs gelangten und auf welche Weise sie erschlossen und nutzbar sind. Schließlich erklärt er anhand prägnanter Beispiele, welche Aktenarten in diesem Bestand enthalten sind und wie diese von der Forschung genutzt werden können. Das Fazit ist, dass ein Archivbesuch in Prag für die Untersuchung des RKG und seiner Urteile sowie seines Personals, gerade aber auch für die weitere Erforschung der Urteilspraxis der NS - Militärjustiz gegen ausländische Zivilisten, unerlässlich ist. Maria Fritsche, Historikerin und Kulturwissenschaftlerin an der Universität in Trondheim, beschäftigt sich mit einer Dimension der Historiografie zur Wehrmachtjustiz, die bislang noch gar nicht oder nur am Rande Berücksichtigung fand : Sie zeigt auf, wie nützlich gendertheoretische Ansätze für die Erforschung der Militärjustiz sein können. In der neueren, kritischen Militärgeschichte sind diese Ansätze vor allem durch Thomas Kühne14 bekannt geworden. Bislang fand dies in der Forschung zur NS - Militärjustiz aber kaum eine Entsprechung. Fritsche zeigt nun, dass – angelehnt an Kühne – die Hinzunahme von Männlichkeit als Forschungskategorie angesichts der engen Verknüpfung von Militär und Maskulinität auch für die Forschungen zur Wehrmachtjustiz Wege zu neuen Erkenntnissen weist. So kann dieser Ansatz dafür nützlich sein, zu ergründen, warum beispielsweise Deserteure während der NS - Zeit besonders 14
Vgl. u. a. Thomas Kühne, Kameradschaft. Die Soldaten des nationalsozialistischen Krieges und das 20. Jahrhundert, Göttingen 2006.
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hart bestraft wurden. Fritsche verweist darauf, dass sowohl die Soldaten, die sich der Wehrmacht entzogen, als auch die Richter, die sie be - und verurteilten, in ihren Handlungen von geschlechtsspezifischen Normierungen geprägt waren. Das Bild des »harten Mannes« war im Nationalsozialismus sehr prägend und beeinflusste das Denken und Handeln der Wehrmachtführung und - richter. Die angesprochene, längst überfällige Europäisierung des Themas bietet der zweite Abschnitt der vorliegenden Publikation. Der Doyen der deutschen Forschung zur NS - Militärjustiz, Manfred Messerschmidt, hat in seiner umfassenden Studie zur Wehrmachtjustiz15 zwar auf ca. 60 Seiten auch die Kriegsgerichtsbarkeit gegen Zivilisten in den von der Wehrmacht besetzten Ländern anhand einiger Beispiele beschrieben, eine diesbezügliche empirische Forschung über das Wirken der Wehrmachtjustiz in den okkupierten Gebieten fehlt bislang aber. Die Unterschätzung ihres Einflusses auf die deutsche Besatzungspolitik ist vor allem auf die besondere Situation im Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion zurückzuführen, bei dem die Wehrmachtjustiz weitgehend ausgeschaltet war. Durch den »Kriegsgerichtsbarkeitserlass«16 übte sie nur mehr eine eingeschränkt - disziplinierende Funktion bei bestimmten Straftaten von Soldaten aus; Übergriffe auf Landesbewohner nahmen Hitler und die Wehrmacht Führung ebenso von der Strafverfolgung aus wie Taten von Landesbewohnern gegen die Wehrmacht – in letzteren Fällen wurden Freischärlertum, Widerstand usw. ohne jedes Verfahren meist direkt durch Erschießungen »erledigt«. Weitere Probleme stellen sich der Geschichtsschreibung dadurch, dass die Wehrmachtjustiz analog zu den unterschiedlichen Funktionen der Wehrmacht in den Besatzungsregimen auch sehr unterschiedliche Aufgaben in den jeweiligen besetzten Ländern wahrnahm – je nachdem, ob eine zivile oder eine Militärverwaltung eingesetzt war, und abhängig davon, wie Bevölkerung und besetztes Territorium in der NS - Rassenhierarchie und in den Plänen zur Neuordnung Europas verortet waren. Während es dazu für Polen und für Frankreich bereits erste empirische Forschungen gibt, können zu Belgien und Italien im vorliegenden Band erstmals Überblicke gegeben werden. Ein Forschungsprojekt in konkreter Planung existiert für Norwegen. Somit gibt dieser Teil des Bandes nach dem einleitenden Beitrag von Peter Kalmbach einen aktuellen Überblick über den Stand der Forschungen zur Besatzungsgerichtsbarkeit auch in den jeweiligen Ländern selbst. Der Oberschlesien - Experte Ryszard Kaczmarek, Historiker aus Kattowitz, gibt zunächst einen Einblick in die Geschichte der Entstehung der sogenannten 15 16
Manfred Messerschmidt, Die Wehrmachtjustiz 1939– 1945, Paderborn 2005, hier bes. S. 233– 296. Vgl. beispielsweise Felix Römer, »Im alten Deutschland wäre solcher Befehl nicht möglich gewesen«. Rezeption, Adaption und Umsetzung des Kriegsgerichtsbarkeitserlasses im Ostheer 1941/42. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 56 (2008), S. 53– 99.
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Deutschen Volksliste ( DVL ) und die Folgen, die ihre Einführung in den annektierten Gebieten Polens, hier vor allem in Ost - Oberschlesien, für die Bevölkerung und für die Wehrmacht hatte. Wer in der DVL geführt wurde, bekam die deutsche Staatsangehörigkeit in abgestuften Formen zuerkannt. Damit unterlagen die betroffenen Männer in der Regel der Wehrpflicht und wurden – auch gegen ihren Willen – zum Kriegsdienst herangezogen. In der Folge kam es – besonders in der zweiten Kriegshälfte – zu Fällen, in denen polnischstämmige Wehrmachtangehörige die Truppe verließen und somit als fahnenflüchtig galten. Der Sicherheitsdienst der SS ( SD ) informierte darüber in seinen Lageberichten – ein Beleg dafür, dass es sich aus Sicht der Wehrmacht wie auch des SD um ein nennenswertes Problem handelte. Kaczmarek zeigt an einem prägnanten Fall in einer dichten Beschreibung, wie sehr nicht nur die Wehrmachtangehörigen selbst, sondern zugleich ihre Familien und ihr gesamtes Umfeld von den Ermittlungen und den Urteilen einer unnachgiebigen Justiz betroffen waren. Das Wirken der NS - Militärjustiz in Westeuropa wird an den Beispielen Belgien und Frankreich konkretisiert. Während Christoph Brüll einen Überblick über die Wehrmachtjustiz als Instrument der Besatzungspolitik sowie auch zur Forschungslage in Belgien gibt, präsentiert Gaël Eismann auf der Grundlage empirischer Datenerhebungen ihre eigenen aktuellen Forschungen, die bislang erst in französischer Sprache veröffentlicht wurden. Christoph Brüll, Historiker an der Universität Lüttich, legt zunächst den Forschungsstand zum Thema dar und veranschaulicht den Aufbau der Besatzungsverwaltung in Belgien. In dieser habe es zwar Spannungen zwischen dem SD und der Militärverwaltung gegeben, laut Brüll kann aber nicht die Rede davon sein, dass die Militärverwaltung in allen Fällen »moderater« gehandelt habe als die SS bzw. der SD. Belgische und deutsche Justiz existierten in der Zeit der Besatzung nebeneinander, erfüllten aber unterschiedliche Aufgaben. Die Militärgerichte in Belgien waren Teile territorialer Einheiten der Feld - und Oberfeldkommandanturen. Sie verurteilten auch Wehrmachtangehörige, in viel höherem Maße aber belgische Zivilisten, vor allem wenn ein ( angeblicher ) Straftatbestand gegen die Wehrmacht vorlag. Brüll berichtet von jüngsten Forschungen, die in flämischer Sprache erschienen sind : Dimitri Roden hat tausende bislang unbeachteter Verfahrensakten entdeckt und analysiert.17 Dabei konnte er zeigen, dass die Militärgerichte wegen Sabotageakten, unerlaubten Waffenbesitzes und Landesverrats oft langjährige Zuchthausstrafen, aber auch Todesstrafen gegen Belgier verhängten. Am Fallbeispiel des Gerichtes der Oberfeldkommandantur Lüttich zeigt Brüll schließlich, dass belgische Anwälte, 17
Dimitri Roden, Van anhouding tot strafuitvoering. De werking van het Duitse gerechtelijke apparaat in bezet België en Noord - Frankrijk, 1940 - 1944. In: Bijdragen tot de Eigentijdse Geschiedenis, 22 (2010), S. 113 –160.
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die Angeklagte vor diesem Gericht verteidigten, bisweilen erfolgreich darin waren, mildere Urteile für ihre Mandanten zu erwirken. Gaël Eismann, Historikerin an der Universität Caen, zeigt in ihrem quellengesättigten Beitrag, dass auch in Frankreich die Gerichte der Feld - und Oberfeldkommandanturen, die dem Militärbefehlshaber in Frankreich unterstellt waren, einen integralen Bestandteil der Besatzungspolitik insgesamt bildeten. Sie weist anhand der im Bundesarchiv - Militärarchiv überlieferten Strafsachenlisten nach, dass – wie auch in Belgien – die deutsche Militärjustiz als Teil der Besatzungsverwaltung die Aufrechterhaltung der Sicherheit und Ordnung zum übergeordneten Ziel hatte. Dies hatte zur Folge, dass nicht nur hunderte Einzelpersonen, sondern auch ganze Widerstandsgruppen wegen Freischärlerei, unerlaubten Waffenbesitzes und wegen Sabotage zu hohen Haftstrafen oder zum Tode verurteilt wurden. Die Militärjustiz in Frankreich durchlief während der Besatzungsjahre einen fortwährenden Radikalisierungsprozess. Da sehr viele der von deutschen Militärgerichten verkündeten Todesurteile bis zur Befreiung Frankreichs auch vollstreckt wurden, lässt sich hier besonders deutlich der Zusammenhang von Wehrmachtjustiz und Repression in Bezug auf die Besatzungsherrschaft nachweisen. Anders als Frankreich und Belgien stellte Italien einen Sonderfall dar, denn das Land war bis 1943 Verbündeter des Deutschen Reiches und wurde erst danach zum Kriegsgegner. Kerstin von Lingen, Historikerin an der Universität Heidelberg und Spezialistin für Italien im Zweiten Weltkrieg, legt in ihrem Beitrag dar, dass die Forschung zum Wirken der Wehrmachtjustiz auch in Italien noch in den Anfängen steckt. Sie erläutert zum einen, dass Generalfeldmarschall Albert Kesselring, Oberbefehlshaber in Italien, durch gezielte Befehle das Einschreiten der Wehrmachtjustiz unterband, wenn es Übergriffe durch Wehrmachtangehörige auf italienische Zivilisten gab. Ähnlich wie zuvor im Krieg gegen die Sowjetunion, nahmen in Italien im Kampf gegen die Partisanen Gewalt und Exzesstaten durch die Aufhebung entsprechender Verbote zu, indem die Wehrmachtjustiz in bestimmten Fällen eben nicht eingriff, in denen sie hätte eingreifen und die Soldaten disziplinieren müssen. Im zweiten Teil ihres Beitrages zeigt von Lingen am Beispiel der sogenannten Operationszonen in Oberitalien, dass die dort installierten Sondergerichte ähnliche Kompetenzen erhielten, wie sie sonst in anderen besetzten Ländern üblicherweise Militärgerichte innehatten, nämlich die Aburteilung von Straftatbeständen, die sich gegen die Wehrmacht richteten, sowie die Verurteilung von einberufenen deutschsprachigen Südtirolern, denen eine Wehrdienstentziehung als Fahnenflucht ausgelegt wurde. Zum Schluss skizziert der Hamburger Historiker und Ausstellungskurator Magnus Koch, wie die seit Jahren in deutschen und österreichischen Städten präsentierte Wanderausstellung »›Was damals Recht war...‹ Soldaten und Zivilisten vor Gerichten der Wehrmacht« nun erstmals in Norwegen gezeigt werden soll.
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Ziel des zugleich avisierten Forschungsprojektes ist es, die Bedeutung der Wehrmachtjustiz in Norwegen herauszuarbeiten und ihre Geschichte zu vermitteln. Auch Koch skizziert zunächst die Grundlagen der Besatzungsverwaltung in Norwegen, die wiederum anders funktionierte als in Westeuropa oder Italien. Er schildert, dass nach bisherigem Forschungsstand eigentlich die SS - und Polizeigerichtsbarkeit größere Bedeutung für die Bekämpfung des Widerstandes in Norwegen besaß. Durch erste exemplarische Erhebungen im kooperativ angelegten deutsch - norwegischen Ausstellungs - und Forschungsprojekt ist allerdings festgestellt worden, dass sehr wohl signifikante Zahlen wehrmachtgerichtlicher Aburteilungen von Norwegern und Norwegerinnen zu ermitteln sind, die versuchten, sich gegen die Maßnahmen und Repressionen der Besatzer zu wehren. Alle Autorinnen und Autoren gehen in ihren Beiträgen auch darauf ein, was mit den europäischen Opfern der NS - Militärjustiz geschah, wenn sie nicht nur der Militärjustiz der Besatzer überantwortet wurden, sondern auch dem Strafvollzug. Sie berichten, in welche Zuchthäuser und Gefängnisse sie verbracht wurden, ob sie in ihrer Heimat verblieben oder ihre Strafe im Deutschen Reich verbüßen mussten. Der dritte Abschnitt des vorliegenden Sammelbandes richtet den Fokus auf verschiedene neuere Forschungen zum Thema Wehrmachtjustiz und Wehrmachtstrafvollzug, die vor allem die Praxis der Kriegsgerichtsbarkeit in den Blick nehmen. Die Beiträge sind zumeist sehr quellenorientiert und teilweise mikrohistorisch angelegt. Den Anfang machen Kerstin Theis und Albrecht Kirschner, die sich mit verschiedenen Aspekten der Gerichtsbarkeit des Ersatzheers beschäftigen. Die Passauer Historikerin Kerstin Theis präsentiert erstmals Ergebnisse ihrer jüngst abgeschlossenen Dissertation zur Wehrmachtgerichtsbarkeit des Ersatzheers am Beispiel eines Divisionsgerichtes im Wehrkreis VI ( der in etwa dem Gebiet des heutigen Bundeslandes Nordrhein - Westfalen entsprach ). Theis hat dafür die Unterlagen dieses Gerichtes systematisch erschlossen und analysiert; es ist eines der bestdokumentierten Heeresgerichte überhaupt. Sie lässt sich dabei von den Fragestellungen leiten, wie die Spruchtätigkeit des Gerichtes insgesamt ausgesehen hat und inwieweit die Gerichte der »Heimatfront« an der Ausgestaltung der propagierten nationalsozialistischen Volksgemeinschaft beteiligt waren. Zu ihren Ergebnissen zählt, dass die Wehrmachtrichter in ihrem Sample nicht nur verstärkt einem »Erziehungsauftrag« nachgingen, sondern dass ihr Handeln immer auch vor dem Hintergrund ihrer Erfahrungen des Ersten Weltkrieges zu sehen ist, als der damaligen Militärjustiz eine Mitschuld an der Niederlage vorgeworfen wurde. Verhandelt wurden in den kriegsgerichtlichen Verfahren daher nicht nur die verschiedensten Straftatbestände, sondern in einem übertragenen Sinne auch das Miteinander von Militär und Zivilgesellschaft an der »Heimatfront«.
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Der Marburger Historiker Albrecht Kirschner beschäftigt sich schon seit einigen Jahren mit dem Kriegsgericht seiner Stadt. In seinem Beitrag konzentriert er sich auf die Handlungsoptionen der Richter an diesem Gericht und kann daraus auch allgemeine Schlüsse ziehen. Er stellt fest, dass die Wehrmachtrichter trotz der erheblichen normativen Einschränkungen, denen sie unterlagen, große Handlungsspielräume besaßen, sowohl, was die Subsumtion einer Tat unter einen bestimmten Tatbestand anging als auch in Bezug auf das Strafmaß. Sie nutzten diese Spielräume zumeist nicht zugunsten der Angeklagten – bis auf wenige Ausnahmen, die Kirschner ebenfalls vorstellt. Er zeigt außerdem, dass sich die Durchdringung der Urteile mit NS - Ideologie nicht nur an drakonischen Strafmaßen, sondern auch an Verfahrenseinstellungen und anderen Rechtsanwendungen zeigte. Detlef Garbe, Direktor der KZ - Gedenkstätte Neuengamme in Hamburg, analysiert in seinem Beitrag die Prozessstrategie der Richter des RKG gegen Zeugen Jehovas, die aus religiösen Gründen den Kriegsdienst verweigerten. Ein derartiges Verhalten sanktionierte das Gericht auf Basis des § 5 KSSVO als »Zersetzung der Wehrkraft«. Als Regelstrafe dafür sah die Verordnung die Todesstrafe vor, nur bei »minder schweren Fällen« waren Ausnahmen gestattet. Fast die gesamte Kriegszeit hindurch galt die Anweisung, dass Verfahren gegen Zeugen Jehovas und andere religiös motivierte Kriegsdienstverweigerer ausschließlich vor dem Reichskriegsgericht als höchstem deutschen Wehrmachtgericht zu verhandeln seien. Garbe zeigt nun, wie schwer sich die Richter des RKG mit der Beurteilung dieser Tatbestände, genauer gesagt, mit der Vollstreckung der gefällten Todesurteile taten – allerdings nicht aus juristischen Gründen, sondern aus Unverständnis gegenüber der unbeugsamen Haltung der sich auf ihren Glauben und die Bibel berufenden Verweigerer. Inneres Widerstreben, gerade gläubige Menschen in den Tod zu schicken, zeigte sich hingegen nur bei wenigen Richtern. Innerhalb der Senate des RKG gab es verschiedene Ansichten, ob diese Zersetzungsfälle als »minder schwer« angesehen werden konnten – doch schließlich obsiegte die Vorgabe Hitlers, hier grundsätzlich keine mildernden Umstände walten zu lassen. Die Berliner Historikerin Claudia Bade präsentiert einen Ausschnitt aus ihren Forschungen zu den Richtern der Wehrmacht und knüpft dabei an die Beiträge von Kirschner und Garbe an. Zusätzlich bietet sie auch eine Analyse der biografischen Daten der Richter eines bestimmten Samples an, die sie mit der dort vorgefundenen Spruchpraxis kombiniert. Am Beispiel des Gerichtes des Kommandanten von Groß - Paris, dem größten Wehrmachtgericht im besetzten Frankreich, sucht sie Erklärungen dafür, weshalb eine Richterschaft, die zum größten Teil dem nationalkonservativen Spektrum zuzuordnen war, ausgerechnet in Paris eine sehr drakonische Urteilspraxis an den Tag legte. Im Gegensatz zum Beitrag von Gaël Eismann in diesem Band, untersucht Bade hier ausschließlich
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Verfahren gegen Deutsche ( Wehrmachtangehörige wie auch Zivilisten ) und analysiert sowohl Prozesse wegen Desertion als auch solche wegen sogenannter krimineller Delikte. Sie kommt zu dem Schluss, dass die Urteile beider Delikttypen darauf verweisen, wie die Wehrmachtrichter in Paris nationalsozialistische Strafnormen anwendeten, sobald aus ihrer Sicht ein tatsächliches oder scheinbares Interesse der Wehrmacht an Disziplinierung der Delinquenten vorlag. Dass sie dabei auch den Kriegszielen des Regimes dienten, war offensichtlich, auch wenn sie sich nicht als Vertreter der NS - Ideologie verstanden. Die Publikation wendet sich am Schluss des dritten Abschnitts dem Strafvollzug der Wehrmacht zu. Die beiden damit befassten Beiträge nutzen jeweils Quellenbestände, die für dieses Thema bislang nicht oder zumindest nicht systematisch ausgewertet worden sind. Beide Beiträge vereint, dass sie nicht den »normalen« Wehrmachtstrafvollzug beleuchten, sondern Sonderformationen, die dazu dienen sollten, die Verurteilten ( in der Regel waren dies Wehrmachtangehörige ) hart zu disziplinieren und die im Grunde schon aus der Wehrmacht Ausgestoßenen ihr zugleich als »Menschenmaterial« teilweise wieder zuzuführen. Peter Steinkamp, Medizinhistoriker an der Universität Ulm, analysiert anhand von überlieferten Obduktionsberichten, die bei der Heeressanitätsinspektion gesammelt wurden, eine Teilgruppe von Hungertodesfällen. Dabei handelt es sich um Sterbefälle von Soldaten, die Strafen in Feldstrafgefangenenabteilungen der Wehrmacht verbüßten. In diese Abteilungen wurden Verurteilte überwiesen, gegen die überwiegend kürzere Gefängnisstrafen verhängt worden waren. Die betroffenen Soldaten wurden vor allem an der Ostfront eingesetzt und mussten in der Regel Gräben ausheben, Befestigungen anlegen sowie andere schwere Schanzarbeiten verrichten. Da mittels Aufstellung der Feldstrafgefangenenabteilungen der Strafvollzug verschärft werden sollte, waren die Essensrationen wesentlich geringer und die Bewachung schärfer als in einem regulären Wehrmachtgefängnis. Kurze Zeit nach Aufstellung der Formationen traten – ab der zweiten Jahreshälfte 1942 – die ersten Hungertodesfälle auf. Steinkamp zeigt, dass die Obduzenten versuchten, in den Berichten andere Todesursachen als die eigentlich offensichtlichen zu nennen. Dennoch wird aus ihnen klar, wie schlecht die Ernährung der Strafgefangenen war, aber auch, dass sie oftmals trotz offensichtlicher Hungersymptome und sehr schlechter körperlicher Verfassung noch kurz vor ihrem Tod von den Truppenärzten wieder zurück in ihre Einheiten und zur »Arbeit« geschickt worden waren. Obwohl die Folgen dieser Behandlung und der desaströsen Versorgung der Gefangenen bei der Heeressanitätsinspektion bekannt waren, wurde die Ernährungslage nur sehr langsam verbessert. Der Historiker und Ausstellungskurator Lars Skowronski aus Landsberg bei Halle ( Saale ) untersucht in seinem abschließenden Beitrag die Feldstraflager der Wehrmacht und spiegelt die Geschehnisse anhand von Ermittlungs - und
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Strafverfahrensakten der Justiz der Bundesrepublik und der DDR wider. Seine Vorgehensweise ist dabei vor allem dem Umstand geschuldet, dass originäre Unterlagen der Wehrmacht zu diesen Straflagern weitgehend fehlen. Die Feldstraflager wurden 1942 in den Torgauer Wehrmachtgefängnissen aufgestellt; ihnen zugeteilt wurden Verurteilte, von denen angeblich eine Gefahr für die Disziplin der Truppe ausging. Deren Strafverbüßung setzte die militärische Führung aus und überwies sie stattdessen zur »Verwahrung« in Feldstraflager, die Wehrmachtjuristen auch als »KZ der Wehrmacht« galten. Bei den betreffenden Einrichtungen handelte es sich allerdings nicht um dauerhaft »befestigte« Lager. Vielmehr wurden sie nach Bedarf verlegt; ihre Insassen kamen auf unterschiedlichen Kriegsschauplätzen in Nord - und Osteuropa zum Einsatz. Die aus Torgau kommenden Straflagerverwahrten wurden per Schiff über die Ostsee transportiert und mussten in Finnland auf der Eismeerstraße einen Marsch von über 500 km bis jenseits des Polarkreises absolvieren. Auf diesem Weg misshandelten die Bewacher zahlreiche Verwahrte; eine unbekannte Zahl starb auf dem Transport und an den späteren Einsatzorten infolge von mangelhafter Ernährung, Krankheiten oder Erschießungen. Nach Ende des Krieges leiteten mehrere Staatsanwaltschaften Ermittlungen gegen Angehörige des Wachpersonals der Feldstraflager ein. Während in der DDR Verurteilungen von Tätern erfolgten, blieb es in der Bundesrepublik bei Vorermittlungen; die Verfahren wurden eingestellt, ohne dass die Verantwortlichen juristisch belangt worden wären. Die Herausgeberin und die Herausgeber hoffen, über die Bilanzierung der aktuellen Forschung zur Wehrmachtjustiz hinaus Fragestellungen für die weitere Erforschung zu benennen, zu weiteren Studien anzuregen und neue Impulse für zukünftige Arbeiten zu geben. Die Zahl der Forschungsdesiderate ist weiterhin beträchtlich : Beispielsweise fehlen noch Arbeiten zur theoretischen Verortung der Wehrmachtjustiz und den ihr zugeschriebenen Funktionen, zur Tätigkeit und Spruchpraxis der NS - Militärjustiz in anderen als den hier beschriebenen Ländern, zu verschiedenen Akteursgruppen und weiteren Formationen des Strafvollzugs – oder auch eine stärker vergleichende Forschung, die sich mit der Spruchpraxis und der institutionellen Verortung anderer Kriegsgerichtsbarkeiten in anderen Ländern und zu anderen Zeiten beschäftigt. Zum Schluss soll noch dem Hannah - Arendt - Institut ( HAIT ) und seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern für die umsichtige Durchführung der Tagung gedankt werden sowie dem DIZ Torgau / Stiftung Sächsische Gedenkstätten und der Gedenkstätte ROTER OCHSE Halle ( Saale ) / Stiftung Gedenkstätten Sachsen - Anhalt, die gemeinsam mit dem HAIT die Drucklegung dieses Bandes ermöglichten. Großer Dank gebührt den Förderern – dem Sächsischen Ministerium für Wissenschaft und Kunst für die Finanzierung der Tagung und der Lotto - Toto GmbH Sachsen - Anhalt für die großzügige Unterstützung der redaktionellen
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Arbeiten an der vorliegenden Publikation. Zu guter Letzt sei allen Autorinnen und Autoren für die Bereitschaft gedankt, mit ihren Vorträgen und Aufsätzen sowohl zur Tagung als auch zur Publikation beigetragen zu haben.
I. Grundlagen der Wehrmachtjustiz: Neue Perspektiven auf Quellen und Forschung
Peter Kalmbach Besatzungsgerichtsbarkeit und Besatzungsstrafrecht
1. Einleitung Das Besatzungsregime in den von der Wehrmacht okkupierten Gebieten gestaltete sich regional und temporär unterschiedlich. Zwischen 1939 und 1945 entstand eine Gemengelage von verschiedenen Justizorganisationen, die entweder Wehrmacht, Reichsjustizministerium, lokaler Zivilverwaltung oder der SS unterstanden. Daneben traten Exekutivmaßnahmen durch Streitkräfte und Sicherheitspolizei, die in Geiselerschießungen, Massentötungen und dem Abbrennen ganzer Landstriche bestehen konnten. Die folgende Abhandlung konzentriert sich auf die in den Besatzungsgebieten etablierten Justizorgane der Wehrmacht und deren gesetzliche Handhabungen, berücksichtigt aber, wo das Verständnis es erfordert, das Ineinandergreifen mit anderen Formen der Unterdrückung.
2. Vorlauf Die ab 1939 einsetzenden Verfolgungen von Zivilisten durch Kriegsgerichte und die stetige Mehrung sowie Verschärfung der anzuwenden Strafgesetze und Verordnungen fußten auf intensiven Vorbereitungen in der Friedensperiode des »Dritten Reiches«. Während des Jahres 1933 waren die organisatorischen Vorbereitungen für die Schaffung eines Gerichtswesens betrieben worden, das der Wehrmacht unterstehen sollte.1 Nach Aufnahme der Arbeit durch Militärgerichte im Januar 1934 weitete sich diese Justizorganisation stetig aus.2 Neben einen Instanzenzug aus
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Vgl. Peter Kalmbach, Wehrmachtjustiz, Berlin 2012, S. 22 f. Vgl. ebd., S. 31 f.
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einfachen Kriegsgerichten trat ab Oktober 1936 ein oberstes Wehrmachtgericht, das Reichskriegsgericht ( RKG ).3 Parallel gingen Planungen einher, die sowohl das formelle – also prozessuale – als auch das materielle Recht, das die Strafandrohungen enthielt, kriegsbereit und im Sinne der NS - Ideologie stringenter machen sollten. War bis Kriegsbeginn die Militärgerichtsbarkeit praktisch ausschließlich auf die Soldaten der Wehrmacht beschränkt, sollte sich dies in einem Konflikt radikal ändern. Die Neuerungen im Bereich des Wehrstrafrechts orientierten sich an den Erfahrungen mit der Gerichtsbarkeit der kaiserlichen Armee des Ersten Weltkrieges, die von führenden Militärjuristen meist als negatives Beispiel angesehen wurde. Insgesamt galt deren Rechtsprechung als zu milde und zu umständlich.4 Das neue NS - Wehrstrafrecht sollte nach Maßgabe seiner Urheber daher »einfach« in der Anwendung sowie »scharf und genau« in der Folge sein.5 Das Hauptaugenmerk lag bei allen Planungen zwar auf der Erhaltung der Schlagkraft der Wehrmacht durch strafrechtliche Ahndung von disziplinären Übertretungen und richtete sich somit auch weiterhin zuvorderst gegen deutsche Soldaten. Die Wehrmachtjustiz sah sich allerdings frühzeitig als Instrument des »totalen Krieges«, das auch jeden deutschen Zivilisten zu jeder Zeit den Strafdrohungen der Kriegsgesetze unterwerfen sollte.6 Den Kriegsgerichten sollte diesbezüglich die strafrechtliche Sicherung der inneren, der »seelischen« Geschlossenheit der Bevölkerung obliegen, um den Kampf - und Durchhaltewillen zu festigen und auf diese Weise die Wehrmacht zu unterstützen.7 Zunächst noch eher am Rande, sah man auch eine Zuständigkeit gegenüber Ausländern,8 soweit das Wehrstrafrecht als Teil einer »allumfassenden Abwehr [...] im Zeichen des totalen Krieges«9 anzusehen war. So wurden ab 1934 zunächst sehr vage erste Überlegungen disku-
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Vgl. Günter Gribbohm, Das Reichskriegsgericht. Die Institution und ihre rechtliche Bewertung, Berlin 2004, S. 5 f. Vgl. Hermann Böhme, Begriffe und Grundlagen des Wehrrechts. In : Zeitschrift der Akademie für Deutsches Recht ( ZADR ), 1 (1934), S. 170–171, hier 170 f.; Erich Schwinge, Die Entwicklung der Manneszucht in der deutschen, britischen und französischen Wehrmacht seit 1914, 2. Auflage Berlin 1941, S. 46 f.; Werner Jochmann ( Hg.), Adolf Hitler : Monologe im Führerhauptquartier 1941–1944. Die Aufzeichnungen Heinrich Heims, Hamburg 1980, S. 271. Vgl. Carl Rissom, Kämpferisches Recht. In : Zeitschrift für Wehrrecht ( ZWR ), 1 (1936/37), S. 5– 10, hier 7 und 10. Vgl. Glahn, Über das Wehrrecht. Entstehung, Begriff, Wesenszüge und Bedeutung. In : ZWR, 1 (1936/37), S. 161–167, hier 167. Vgl. Peter Kalmbach, »Kriegsbereit sein ...«. Die Justizorganisationen der Wehrmacht und die Vorbereitung des Zweiten Weltkrieges. In : Kriminalistik, 65 (2011), S. 680–683, hier 681. Vgl. Walter Heitz, Das Reichskriegsgericht. In : ZADR, 5 (1938), S. 7–9, hier 8, der das Thema »Ausländer und Wehrrecht« behandelt, aber sehr theoretisch und wenig wirklichkeitsnah angeht. Glahn, Das Wehrrecht. Grundsätzliches zu seiner planmäßigen Darstellung. In : ZWR, 2 (1937/38), S. 185–207, hier 188.
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tiert, wie Sabotage, sogenannte Zersetzungen und die Verleitung zur Fahnenflucht strafrechtlich zu regeln seien.10 Grundsätzlich ging man in der Militärjustiz davon aus, dass größere Unruhen durch Truppen niederzuwerfen seien und Militärgerichten die Funktion einer »Nachlese« zukommen solle.11 In der Zeit ab 1935 kam es darüber hinaus zu Diskussionen neuer Straftatbestände, die auch oder ausschließlich für ausländische Zivilisten in Kriegszeiten gelten sollten.12 Aus diesen Veränderungswünschen resultierten spätere Kriegsgesetze, die, wie die Kriegssonderstrafrechtsverordnung13 ( KSSVO ), gewichtigen Einfluss auf die strafrechtliche Behandlung von Landeseinwohnern nahmen. Weitere Grundüberlegungen machten frühzeitig deutlich, dass eine Militärgerichtsbarkeit, so sie sich gegenüber Landeseinwohnern eroberter Gebiete für zuständig erachtete, tendenziell hart zu sein hatte. Kriegsjustiz sollte sich nämlich in erster Linie auf die Verhängung der Todesstrafe stützen;14 für Wehrmachtangehörige galt insoweit allerdings noch eine Milderung, indem die Gerichte berücksichtigen sollten, ob der Verurteilte noch für eine Frontverwendung nützlich sein konnte. Dergestalt kam im Vergleich zu Zivilisten grundsätzlich eher die Verhängung von Freiheitsstrafen mit anschließender »Bewährung« in Betracht.15 Die Tendenz zur exzessiven Anwendung der Todesstrafe wird bei dem sogenannten Strafschärfungsparagraphen § 5a KSSVO16 besonders deutlich, der Kriegsgerichte – nicht hingegen zivile Strafgerichte – ab November 1939 in die Lage versetzte, bei jedem Verstoß gegen ein Strafgesetz auch auf die Todesstrafe zu erkennen, selbst wenn beispielsweise nur eine Geld - oder Gefängnisstrafe vorgesehen war.
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Vgl. Werner Schubert ( Hg.), Akademie für Deutsches Recht 1933–1945. Protokolle der Ausschüsse. Band VIII, Frankfurt a. M. 1999, S. 445 ( Tagung vom 28.2.1935); Böhme, Begriffe und Grundlagen, S. 170–171, hier 170 f. Vgl. Helmuth Mayer, Militärjustiz im neuzeitlichen Kriege. In : ZWR, 2 (1937/38), S. 329–356, hier 353 f. Vgl. Otto Senftleben, Wehrrecht und Strafrecht. In : Deutsches Recht, 5 (1935), S. 325–326, hier 315 f. RGBl. 1939 I, S. 1455. Vgl. Mayer, Militärjustiz, S. 329–356, hier 343. Vgl. Alwin Kunze, Zur Strafbemessung bei den Wehrmachtgerichten. In : ZWR, 2 (1937/38), S. 116–135, hier 134. Vgl. RGBl. 1939 I, S. 2131.
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3. Der Krieg beginnt Gemäß Wehrgesetz von 1935 waren die Forderungen der Wehrmacht mit Beginn des Krieges auf allen Gebieten – damit auch betreffend die Zuständigkeit ihrer Gerichte – vorrangig.17 Durch Einführung eines neuen Verfahrensrechts für die Kriegsgerichte machte die Militärführung von ihren Befugnissen umfangreich Gebrauch und regelte mit der Mobilmachung im August 1939 die Zuständigkeiten ihres Justizwesens in der Kriegsstrafverfahrensordnung ( KStVO ) neu.18 Zwar waren Verfahren gegen Ausländer in besetzten Gebieten auch von 1914 bis 1918 möglich gewesen, sie hatten sich inhaltlich jedoch an der preußischen Militärstrafgerichtsordnung von 1898 orientiert, die ein fünfköpfiges Richterkollegium und eine Verteidigung durch Rechtsanwälte zwingend vorsah.19 Die KStVO gestaltete das Verfahren für die deutsche Besatzungsmacht hingegen wesentlich »flexibler«. Der Gerichtshoheit der Wehrmacht unterstanden nunmehr nicht nur die deutschen Soldaten und ausländischen Kriegsgefangenen, sondern alle Zivilpersonen, die im »Operationsgebiet« der Wehrmacht einer Straftat beschuldigt wurden. Zum Operationsgebiet gehörte zunächst der unmittelbare Frontbereich; das Oberkommando der Wehrmacht ( OKW ) konnte darüber hinaus aber auch zeitweise ganze Landstriche, die bereits »befriedet« waren, zu solchen Gebieten erklären, um die Strafgewalt uneingeschränkt bei der Truppe zu behalten.20 Unabhängig vom Ort einer Tat waren die Militärgerichte bei jedem Fall von Sabotage, Spionage, von bewaffnetem Widerstand durch die Zivilbevölkerung und von »Zersetzung der Wehrkraft« zuständig.21 Außerdem konnten militärische Befehlshaber in besetzten Gebieten Verordnungen mit Gesetzeskraft erlassen, deren Straftatbestände ebenfalls nur von Kriegsgerichten abzuurteilen waren. So Kriegsgerichte gegen Ausländer einschritten, hatte nach Maßgabe der Militärjustiz der Abschreckungsgedanke im Vordergrund zu stehen. Nach dieser Logik mussten die »Urteile des Gerichts hart und unnachsichtig« sein, damit sie von der unterjochten Bevölkerung nicht »missverstanden« würden.22 17
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Das Wehrgesetz verfügte, dass grundsätzlich jeder männliche Deutsche der Wehrpflicht unterlag. Im Krieg sei darüber hinaus »jeder deutsche Mann und jede deutsche Frau zur Dienstleistung für das Vaterland verpflichtet« ( RGBl. 1935 I, S. 609). Vgl. RGBl. 1939 I, S. 1457. Vgl. Heinrich Dietz, Einführung in die Militärstrafgerichtsordnung, Berlin 1935, S. 26. Vgl. Werner Hülle, Die achte Durchführungsverordnung zur Kriegsstrafverfahrensordnung. In: ZWR, 7 (1942/43), S. 193–202, hier 193 f. Vgl. neben den Normierungen der KStVO hierzu Weber, Der Geltungsbereich des deutschen Strafrechts im Kriege. In : ZWR, 5 (1940/41), S. 315–325, hier 318 f. Johann Kisser, Fragen der Strafvollstreckung im Kriege. In : ZWR, 6 (1941/42), S. 337–348, hier 343.
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Die frühere Revisionsinstanz, das RKG, blieb, da ein Instanzenzug während des Krieges nicht mehr vorgesehen war, nunmehr als Tatgericht bestehen und nahm seine Tätigkeit als Sondergericht der Wehrmacht wahr. Es sollte insgesamt bei schweren Delikten zuständig und seine Kompetenz gegenüber Ausländern gegeben sein, wenn »eine einheitliche Abwehr wegen der Gefährlichkeit [...] ihrer Handlungen und der dahinter stehenden Organisation« dies erforderlich machte.23 Diese Einschätzung lief letztlich auf eine Konzentration des RKG auf die Bekämpfung organisierter Widerstandsgruppen durch die Wehrmachtjustiz hinaus. Dabei arbeitete es im Folgenden eng mit dem Volksgerichtshof zusammen.24 Ein weiterer Grund für eine derartige spezialisierte Tätigkeit des RKG mag auch darin begründet liegen, dass dieses Gericht in dem Ruf stand, hohe Strafen auszusprechen.25 Ab 1942 konnten auch Ausländer als »Volksschädlinge« verurteilt werden, und dies selbst dann, wenn sich die Tat im Ausland ereignet hatte.26 Die »Verordnung gegen Volksschädlinge« ( VVO )27 richtete sich dem Wortlaut nach nur gegen Deutsche, was durch die Rechtsprechung des RKG auch bestätigt wurde.28 Sie enthielt sowohl eigene Deliktbeschreibungen als auch Straferhöhungen für Tatbestände anderer Strafgesetze, wenn bestimmte Umstände vorlagen. Trotz dieser veränderten Anwendung billigte die Wehrmachtführung den beabsichtigten und nun folgenden exzessiven Rückgriff auf die Verordnung.29 War vor dem Krieg seitens der Militärjustiz überlegt worden, im Kriegsfall sowohl im In - wie im besetzten Ausland nur noch Wehrmachtgerichte zur Ahndung von Straftaten einzusetzen,30 sorgte man sich bald zunehmend um eine Entlastung der Wehrmachtjustiz. Nach der KStVO konnten von vornherein Verfahren umfangreich an zivile Strafgerichte abgegeben werden, wobei zwar in erster Linie deutsche Gerichte in Betracht kamen, es konnten aber auch bestehen gebliebene, einheimische Tribunale in besetzten Regionen genutzt werden. Grundsätzlich sollten entsprechend dort, wo nicht explizit Militärverwaltungen die gesamte Exekutive und Judikative übernommen hatten, Strafverfahren gegen Landeseinwohner möglichst nicht von Wehrmachtgerichten durchgeführt wer23 24 25 26 27 28 29 30
Walter Rehdans, Das Reichskriegsgericht im Kriege. In : ZADR, 8 (1941), S. 58–60, hier 58. Vgl. ebd. Vgl. Vermerk des Reichsministers der Justiz vom 11. 2. 1939 ( Bundesarchiv ( BArch ), R 3001/ 22301, Bl. 152). Vgl. Otto Blumenhagen, Anwendung der Volksschädlingsverordnung auf Auslandstaten von Ausländern. In : ZWR, 8 (1943/44), S. 397–398, hier 397. Vgl. RGBl. 1939 I, S. 1679. Vgl. Eduard Kern, Die sachlichrechtlichen Entscheidungen des Reichskriegsgerichts. In : ZWR, 8 (1943/44), S. 137–148, hier 145. Vgl. Blumenhagen, Volksschädlingsverordnung, S. 397–398. Vgl. Heinrich Dietz, Zur Wiedereinführung der Militärgerichtsbarkeit im Neuen Reich. In : Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft, 53 (1934), S. 271–297, hier 296.
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den.31 Im Frühjahr 1940 wurden die bislang bestehenden ausschließlichen Zuständigkeiten bei der »Wehrkraftzersetzung« gelockert und Übernahmemöglichkeiten durch deutsche Sondergerichte und den Volksgerichtshof geschaffen,32 und ab 1941 auch auf Fälle von Spionage ausgeweitet.33 Augenscheinlich machten Kommandeure, denen Kriegsgerichte unterstellt waren, umfangreich Gebrauch von der Gelegenheit, Verfahren an deutsche zivile Gerichte abzugeben; namentlich der Volksgerichtshof wurde derart herangezogen.34 Lediglich bei einem speziellen Tatbestand der »Wehrkraftzersetzung«, der Verleitung zur oder der Hilfe bei einer Fahnenflucht durch einen Zivilisten, sollten, weil militärische Aspekte im Vordergrund standen, die Wehrmachtgerichte die Verfahren stets gegen alle Beteiligten durchführen.35 Erleichterung verschafften sich die Militärjuristen bei einem wesentlichen Punkt des neuen Kriegssonderstrafrechts indes schon von Anbeginn des Zweiten Weltkrieges, nämlich bei aktiver widerständiger Haltung von Zivilisten, sogenannter Freischärlerei, die in § 3 KSSVO normiert war. Hier gab es innerhalb der Militärjuristenschaft eine nahezu unangefochtene Linie : Bewaffneter Widerstand sollte in erster Linie von Wehrmacht und Polizeieinheiten ohne Einschaltung der Justiz bekämpft werden, lediglich in begründeten Ausnahmefällen, wie etwa der Ergreifung Einzelner oder einer Verhaftung aufgrund einer Anzeige durch Denunzianten, sollten Kriegsgerichte mit der Ahndung beauftragt werden. Diese Auffassung schloss ausdrücklich ein, dass gefangengenommene einzelne Partisanen trotzdem ohne Verfahren exekutiert werden konnten und demnach eine Abgabe an die Militärjustiz durch den kommandierenden jeweiligen Offizier lediglich eine Frage der »Opportunität« sei.36 Derartige Standpunkte waren aus Sicht der Militärjustiz unter anderem dem Grundsatz geschuldet, dass deren Hauptaufgabe in der Disziplinwahrung der eigenen Soldaten lag und das Bestreben, militärische Verwaltungsstrukturen in besetzten Gebieten aufzubauen, dem Interesse folgte, diese »für die eigene Kriegführung dienstbar zu machen«37 – eine Justizorganisation hatte mithin rein taktischen bzw. strategischen Erwägungen zu folgen. Mit einer derartigen Einstellung konnte es für die Wehrmachtjustiz grundsätzlich kein Problem sein, Aufgaben, die der Sicherung dienten, an Truppe 31 32 33 34 35 36 37
Vgl. Ernst Schober, Strafgewalt über Ausländer im besetzten Gebiet. In : ZWR, 7 (1942/43), S. 504–512, hier 508. Vgl. RGBl. 1940 I, S. 787; Begründung zur 7. Durchführungsverordnung ( BArch, R 3001/22290, Bl. 311). Vgl. RGBl. 1941 I, S. 776. Vgl. Rehdans, Reichskriegsgericht, S. 59. Gesetzesdienst für die Wehrmachtgerichte, Sonderheft zu § 5 KSSVO, Berlin 1940 ( BArch, R 3001/22290, Bl. 628). Walter Schätzel, Freischärler. In : ZWR, 5 (1940/41), S. 209–240, hier 226. W. Totzek, Quartiervergütungen. Grundsätzliches zum Recht besetzter Gebiete. In : ZWR, 8 (1943/44), S. 105–110, hier 107.
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und Sicherheitspolizei abzugeben. Keiner störte sich daran, dass diese Haltung im Gegensatz zum kurz zuvor geschaffenen Verfahrensrecht der Wehrmacht stand. In § 1 KStVO war nämlich diesbezüglich festgelegt, dass Ausländer in keinem Fall »ohne gerichtliches Verfahren« bestraft werden durften.38 Die Kriegsgerichte wurden von der Wehrmacht als »Kameradengerichtsbarkeit« bezeichnet, da sie, neben einem Militärjuristen, aus zwei beisitzenden Soldaten zusammengesetzt waren, von denen einer denselben Rang wie der Angeklagte haben musste.39 Derartige Ansprüche galten nicht, wenn ein Verfahren gegen einen Ausländer geführt wurde, der insbesondere nicht als »Kamerad« angesehen werden sollte40 und dem entsprechend ein »Kameradschaftsrichter«41 verwehrt blieb.
4. Einzelne Besatzungsgebiete42 4.1 Ost - und mitteleuropäische Staaten
Erste umfängliche, wenngleich kurzzeitige Tätigkeiten von Wehrmachtgerichten gegenüber Landeseinwohnern ausländischer Gebiete, gab es in der Tschechoslowakei. In den ersten drei Oktoberwochen 1938 etablierte sich im Rahmen der Einverleibung des Sudetenlandes eine deutsche Militärverwaltung mit eigener Gerichtszuständigkeit. Zeitgleich begann indes der Aufbau einer NS - Zivilverwaltung, die neben der Sicherheitspolizei auch eine Strafjustiz umfasste, welche die Militärjustiz bald gänzlich ablöste.43 Nach der im Frühjahr 1939 erfolgten Okkupation der restlichen Tschechoslowakei wurden jeweils getrennte – zivile – Gerichtsorganisationen für Deutsche und Tschechen errichtet, die beide als zum Deutschen Reich gehörig angesehen wurden.44 Die Militärgerichte blieben nur bei Verfahren gegen Wehrmachtangehörige zuständig; selbst bei Fällen, in denen Tschechen deutschen Soldaten bei Fahnenfluchten halfen, wurden die deutschen
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§ 1 Abs. 4 KStVO, RGBl. 1939 I, S. 1457. Vgl. Werner Hülle, Die Stellung des Militärrichters und seine Aufgaben im künftigen Verfahrensrecht. In : ZWR, 2 (1937/38), S. 3–17, hier 6 f. Vgl. Werner Hülle, Die zehnte Durchführungsverordnung zur Kriegsstrafverfahrensordnung. In : ZWR, 9 (1944/45), S. 153–155, hier 154. Werner Hülle, Aufbau und Zusammensetzung der Militärgerichte. In : ZADR, 4 (1937), S. 296– 300, hier 299. Im Folgenden werden die Justizorgane einiger ausgewählter Besatzungsgebiete vorgestellt. Aus Gründen der Straffung und im Hinblick auf andere Beiträge in diesem Band wird auf die Darstellung etlicher Regionen und Länder verzichtet. Vgl. Freia Anders, Strafjustiz im Sudetengau 1938–1945, München 2008, S. 83 ff. Vgl. Bälz, Die deutsche Gerichtsbarkeit im Protektorat Böhmen und Mähren. In : Deutsches Recht, 10 (1940), S. 1401–1403, hier 1402 f.
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Zivilgerichte mit den Prozessen betraut.45 Zwischen September 1941 und Oktober 1942 waren vornehmlich Schnellgerichte der Sicherheitspolizei mit der Bekämpfung des tschechischen Widerstandes beauftragt. Nach einer zeitlichen Pause wurden dann ab September 1943 derartige Fälle nur noch ausnahmsweise an die deutsche ( zivile ) Strafjustiz übergeben, ansonsten allein durch Gewaltmaßnahmen der Polizei bekämpft.46 Während des Überfalls auf Polen praktizierte die Wehrmacht »rücksichtloses Durchgreifen« gegenüber Widerstandsakten der Bevölkerung. Sogenannte Freischärler sollten »im Kampf oder auf der Flucht« erschossen werden, ansonsten sollte eine sofortige standgerichtliche Verurteilung erfolgen.47 Zwar unterstand das besetzte Polen zunächst einer Militärverwaltung, jedoch etablierte man bereits während der Eroberungsphase schon deutsche Zivilstrafgerichte, die umgehend ihre Arbeit aufnahmen.48 Noch vor dem Ende der Militärverwaltung am 25. Oktober 1939 hatten diese zivilen Gerichte, deren Kern vornehmlich politische Sondergerichte bildeten, auch die Tätigkeit in Verfahren aufgenommen, die eigentlich in die alleinige Zuständigkeit der Wehrmachtjustiz fielen, darunter Spionage, Freischärlerei, »Zersetzung der Wehrkraft« und Verstöße gegen Wehrmachtsverordnungen.49 Gleichzeitig übernahmen Standgerichte der Sicherheitspolizei – ohne nennenswerte Gegenwehr der Justiz, aber mit Erlaubnis der Wehrmacht – Teile der Rechtsprechung und zogen in einem immer stärkeren Maße Verfahren an sich.50 In Belangen der Sicherung der Besatzungsmacht galt allein deutsches Reichsrecht, wobei die Strafbestimmungen gegen Partisanentätigkeiten noch durch eine Verordnung des militärischen Befehlshabers erweitert wurden, wonach allein schon der Besitz von Waffen mit der Todesstrafe zu ahnden sei und derartige Verfahren vornehmlich durch die Polizeistandgerichte geführt werden sollten.51 Insoweit ging bereits in den ersten Wochen des Krieges die Zuständigkeit der Militärgerichte aufgrund einer Vereinbarung zwischen Wehr-
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Vgl. Oberkommando des Heeres / Befehlshaber des Ersatzheers ( OKH / BdE ) vom 5. 5. 1942 (BArch, 3001/22291, Bl. 43 ff.). Vgl. Oldrich Sladek, Standrecht und Standgericht. Die Gestapo in Böhmen und Mähren. In : Gerhard Paul / Klaus - Michael Mallmann ( Hg.), Die Gestapo im Zweiten Weltkrieg. Heimatfront und besetztes Europa, Darmstadt 2000, S. 317–339, hier 331 f. Vgl. Schreiben des Oberkommandos des Heeres ( OKH ) betr. Freischärler vom 4. 11. 1939 (BArch, RH36/324, Bl. 59). Vgl. Weber, Geltungsbereich, S. 322. Vgl. Maximilian Becker, Konfrontation oder Kooperation ? Polizei und Justiz in den »eingegliederten« Ostgebieten. In : Wolfgang Schulte ( Hg.), Die Polizei im NS - Staat. Beiträge eines internationalen Symposiums an der Deutschen Hochschule der Polizei in Münster, Frankfurt a. M. 2009, S. 371–388, hier 374 ff. Vgl. ebd. Vgl. Albert Weh, Das Recht des Generalgouvernements. In : Deutsches Recht, 10 (1940), S. 1393–1401, hier 1393.
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macht und Polizei nahezu ausschließlich auf letztere über.52 Die zivilen Sondergerichte waren vor allem zuständig bei Verstößen gegen das Verbot, ausländische Sender zu hören, oder der Missachtung von Wirtschaftsgesetzen, außerdem bei politischen Äußerungen.53 Für eine Vielzahl von Verstößen drohte die Todesstrafe. So wurde bereits das Nichtabliefern von Ernteerzeugnissen mit der Höchststrafe geahndet.54 Im Weiteren gab es einige Unterschiede, da Teile Polens annektiert und andere Teile im sogenannten Generalgouvernement ( GG ) zusammengefasst wurden. Im GG blieb eine polnische Gerichtsbarkeit bestehen, war indes nur auf Fälle beschränkt, welche die deutschen Interessen nicht berührten. Sie stand vollständig unter der Leitung und Aufsicht der deutschen Gouvernementsverwaltung. Eine Zuständigkeit des Reichsjustizministeriums existierte im GG hingegen nicht.55 Es wurden jedoch trotzdem auch Fälle an den Volksgerichtshof sowie an das RKG abgegeben.56 Letzteres war jedoch bald derart überlastet, dass es zahlreiche Verfahren an den Volksgerichtshof weiterleitete,57 was wiederum einen Umfang annahm, dass gar die Gründung einer Zweigstelle des Volksgerichtshofes in Polen geplant war.58 Für deutsche Staatsangehörige im besetzten polnischen Gebiet existierte darüber hinaus noch eine eigenständige Gerichtsbarkeit, die aus »deutschen Gerichten« und »Obergerichten« bestand.59 So sich Handlungen in irgendeiner Weise gegen die deutsche Besatzung richteten, war ab 1940 auch reichsdeutsches Strafrecht anzuwenden.60 In den von Deutschland annektierten Gebieten unterstanden die Gerichte dem Reichsjustizministerium. Verfahren aus diesen Gebietsteilen, die sich gegen Polen richteten und in die Zuständigkeit des Volksgerichtshofes fielen, konnten von dort ab 1942 in die Zuständigkeit der Gestapo übergeben werden, wobei von dieser Praxis nach Wunsch des Reichsjustizministers »in großzügigster Weise« Gebrauch gemacht werden sollte.61 Des 52 53 54 55
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Vgl. ebd. Vgl. Jochen Thiesing, Ein Jahr deutsche Gerichte im Generalgouvernement. In : Deutsches Recht, 11 (1941), S. 980–981, hier 980. Vgl. Werner Präg / Wolfgang Jacobmeyer, Das Diensttagebuch des deutschen Generalgouverneurs in Polen 1939–1945, Stuttgart 1975, S. 522 ( Eintragung vom 13.7.1942). Vgl. Albrecht Wagner, Die Umgestaltung der Gerichtsverfassung und des Verfahrens - und Richterrechts im nationalsozialistischen Staat. In : Hermann Weinkauff, Die deutsche Justiz und der Nationalsozialismus, Teil I, Stuttgart 1968, S. 191–366, hier 343. Vgl. Becker, Konfrontation oder Kooperation ?, S. 379. Vgl. dazu auch den Aufsatz von Michael Viebig in diesem Band. Vgl. Präg / Jacobmeyer, Diensttagebuch, S. 502 ( Eintragung vom 5.6.1942). Friedrich Adami, Die Gesetzgebungsarbeit im Generalgouvernement. Ein Überblick über die bisher geleistete Aufbauarbeit. In : Deutsches Recht, 10 (1940), S. 604–617, hier 606. Vgl. Verordnung ( VO ) über die Wehrmachtgerichtsbarkeit gegen Zivilpersonen im Generalgouvernement vom 26.1.1940 ( BArch, RW 2/16, unpag.). Vgl. Niederschrift vom 21. 9. 1942 über Besprechung zwischen dem Reichsführer - SS und dem Reichsjustizminister ( BArch, R 3001/25029, Bl. 58 ff.).
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Weiteren existierten während des Krieges im »Wartheland« Standgerichte, die der Gauleitung unterstanden.62 Auch in den annektierten polnischen Gebieten galt ab Dezember 1941 die »Verordnung zur Strafrechtspflege gegen Polen und Juden in den besetzten Ostgebieten« ( kurz : »Polen - Strafrechtsverordnung«),63 die ebenso von den Wehrmachtgerichten angewendet wurde.64 Demnach konnte bei jeder »Straftat« der polnischen nichtjüdischen wie jüdischen Bevölkerung eine feindselige Haltung unterstellt und die Todesstrafe ausgesprochen werden. Die zivile Justiz konnte im Rahmen dieser Verordnung Standgerichte bilden. 4.2 Süd - und Südosteuropa
Bei Einmarsch der Wehrmacht in Jugoslawien im April 1941 lag die Zuständigkeit für die Unterdrückung von Widerstandsaktivitäten der Zivilbevölkerung bei der kämpfenden Truppe, die gemäß dem Verständnis ihrer Führung, jeden Verdächtigen »unverzüglich zu erschießen« oder im Falle der Waffenniederlegung ein Standgericht einzuberufen hatte.65 Kurz darauf ließ der Militärbefehlshaber Serbien durch Verordnungen verlauten, dass insbesondere Einrichtungen der Infrastruktur und Belange der Ernährung durch kriegsgerichtliche Zuständigkeiten zu sichern seien.66 Er folgte damit seiner Aufgabenstellung, die sich im Wesentlichen darin erschöpfte, die Wirtschaftskraft Serbiens auszunutzen.67 Im Juli 1941 kam es zu einer Verschärfung der Bestimmungen, wobei der Schwerpunkt auf der Bestrafung von Sabotageakten und dem Verbot der Beteiligung an Streiks lag.68 Die Todesstrafe war nun die regelmäßige Rechtsfolge. Im Sommer 1943 schließlich wurde das deutsche Strafrecht in Serbien eingeführt.69 Einheimische Strafverfolgungsbehörden, die weiterhin bestanden, mussten nun ausnahmslos jeden Verdacht an deutsche Stellen melden, wenn ein Bezug zur Wehrmacht oder zu deutschen Staatsangehörigen bestand. Überwiegend lag die repressive Gewalt allerdings bei den Kampftruppen von Wehrmacht und SS 62 63 64 65
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Vgl. ebd. RGBl. 1941 I, S. 759. Diese Verordnung wurde überall dort angewendet, wo Polen und Juden in Gerichtsverfahren verwickelt waren, speziell vor Sondergerichten im Altreich. Vgl. Darlegung der Rechtsauffassung des Oberkommandos der Wehrmacht ( OKW ) an Befehlshaber des Ersatzheeres u. a. vom 19.2.1944 ( BArch, RM 31/3335, Bl. 11). Vgl. Korpsbefehl XI. Armeekorps vom 27. 4. 1941. In : Wolfgang Schumann ( Hg.), Griff nach Südosteuropa, Berlin ( Ost ) 1973, S. 123 f.; sowie Befehl des Oberkommandos der 2. Armee vom 28.4.1941, ebd., S. 124 f. Vgl. VO - Blatt für das besetzte jugoslawische Gebiet, Nr. 1 von April 1941 ( BArch, RWD 23/3, unpag.). Vgl. Weisung Nr. 29 vom 17. 5. 1941. In : Walther Hubatsch ( Hg.), Hitlers Weisungen für die Kriegführung 1939–1945, 2. Auflage München 1983, S. 117 f. Vgl. VO - Blatt für das besetzte jugoslawische Gebiet, Nr. 14 vom 11.7.1941 ( BArch, RWD 23/3, unpag.). Vgl. VO - Blatt für das besetzte jugoslawische Gebiet, Nr. 55 vom 28.6.1943 ( ebd.).
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sowie bei den dort operierenden Einheiten der Sicherheitspolizei.70 Sühnemaßnahmen und Erschießungen von an bestimmten Orten Ergriffenen waren wesentlicher Teil der Besatzungspolitik.71 Die ab April 1941 besetzten Gebiete Griechenlands waren verschiedenen Befehlshabern der Wehrmacht unterstellt, die außer für rein militärische Aufgaben auch für die vollziehende Gewalt verantwortlich waren.72 Dabei bediente sich die Wehrmacht der griechischen Verwaltung und auch deren Polizeikräften, denen man teilweise die Verfolgung des griechischen Widerstands überließ.73 Im Juni 1941 wurde durch eine »Führerweisung« bestimmt, dass das von deutschen Truppen besetzte Griechenland auch nach Abschluss der Kämpfe weiterhin zur Gänze als Operationsgebiet einzustufen sei.74 Dadurch wurde eine Zuständigkeit des RKG nach Maßgabe der KStVO ausgeschlossen, für Verfahren waren ausschließlich Feldgerichte der Wehrmacht zuständig. Insgesamt trug die Besetzung Griechenlands durchweg Züge eines Vernichtungskrieges, und dieser Kriegsschauplatz war mit Waffengewalt und dem Einsatz von Kampf - und Polizeitruppen blutig zu »befrieden«. So wurden im Oktober 1941 im Zuge von Kampagnen gegen Partisanen Hunderte Gefangene erschossen; gegen lediglich vier von ihnen war zuvor ein Kriegsgerichtsverfahren in Gang gesetzt worden.75 Verordnungen und Tätigkeiten der Kriegsgerichte richteten sich vor diesem Hintergrund insbesondere auf die Herstellung der gewünschten Ordnung in Ballungsgebieten sowie auf die Sicherung der Wirtschaftskraft des Landes, während die Auseinandersetzung mit den Partisanen durch Verheerung ganzer Gebiete geführt wurde. Über das Verordnungsrecht wurde mit dem Einmarsch im April 1941 jede widerständige Haltung mit Strafe bedroht, das Unterschlagen von Ernteerzeugnissen und das Abreißen von Plakaten der Besatzungsmacht mit Sabotage gleichgestellt.76 Gleichzeitig ordneten die Deutschen eine Ablieferung aller Waffen innerhalb von 24 Stunden an, für alle späteren Funde drohte die Todesstrafe. Die Okkupanten führten das reichsdeutsche Strafrecht ein und über70 71 72
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Vgl. Manfred Messerschmidt, Die Wehrmachtjustiz 1933–1945, Paderborn 2005, S. 259 f. Vgl. ebd., S. 261 f. Vgl. Vaios Kalogrias / Stratos Dordanas, Deutsche Polizeibehörden im besetzten Griechenland. 1941–1944. In : Schulte, Polizei im NS - Staat, S. 425–450, hier 426 f.; Hagen Fleischer, Die deutsche Militärverwaltung in Griechenland. In : Wolfgang Benz / Johannes ten Cate / Gerhard Otto, Die Bürokratie der Okkupation. Strukturen der Herrschaft und Verwaltung im besetzten Europa, Berlin 1998, S. 63–92, hier 72 f. Vgl. Kalogrias / Dordanas, Deutsche Polizeibehörden, S. 425–450, hier 426 f. Vgl. Rainer Eckert, Vom Fall »Marita« zur »wirtschaftlichen Sonderaktion«. Die deutsche Besatzungspolitik in Griechenland vom 6. April 1941 bis zur Kriegswende im Februar / März 1943, Frankfurt a. M. 1992, S. 30. Vgl. Verwaltungsbericht des Befehlshabers Saloniki - Ägäis an den Wehrmachtbefehlshaber Südost vom 3.11.1941. In : Schumann, Südosteuropa, S. 152 f.; Eckert, Fall »Marita«, S. 165. Vgl. VO - Blatt für das besetzte griechische Gebiet, Nr. 1 von April 1941 ( BArch, RWD 23/1, unpag.).
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trugen dessen Anwendung den Kriegsgerichten. Zwar kündigten sie bereits zu diesem Zeitpunkt an, auch Streiks sowie Arbeitsminderungen unter Strafe zu stellen.77 Akut wurden derartige Drohungen aber erst einige Monate später, als es ab Oktober 1941 wiederholt zu Ausständen und Demonstrationen kam, an denen teilweise mehrere Zehntausend Griechen teilnahmen.78 1942 legte daher der Militärbefehlshaber fest, dass die Teilnahme an einem Streik mit Zuchthaus bis zu zwölf Jahren bestraft werden sollte und die Organisation einer Arbeitsniederlegung mit dem Tod.79 Nachdem es in der Folge weitere öffentliche Missbilligungen durch die griechische Bevölkerung gab – bis zu einer Demonstration am 5. März 1943 in Athen mit 250 000 Teilnehmern80 – wurden noch härtere Maßnahmen angeordnet. 1943 konnten sogar Firmeninhaber und Vorarbeiter zum Tode verurteilt werden, wenn einer ihrer untergebenen Arbeiter einen Sabotageakt verübte.81 Außerdem genügte nun allein die Teilnahme an einer Demonstration zur Verhängung einer Zuchthausstrafe, in manchen Fällen endeten entsprechende Verfahren gar mit Todesurteilen.82 4.3 Sowjetunion
Beim Angriff auf die Sowjetunion war die Wehrmachtjustiz in ihrer Zuständigkeit gegenüber Landeseinwohnern weitestgehend ausgeschaltet. »Schonungslos« sollte nach dem »Barbarossa - Erlass« hingegen die Truppe bei widerständiger Haltung einschreiten.83 Im Zweifel sollten Offiziere an Stelle eines Gerichts darüber befinden, ob Gefangene, denen eine derartige Haltung unterstellt wurde, zu erschießen seien.84 Bei Straftaten von Wehrmachtangehörigen gegen Einheimische bestand andererseits kein Verfolgungszwang; ein Verfahren war nur durchzuführen, wenn Belange der Truppendisziplin es erforderten.85 Während sich die Wehrmacht auf ihre operativen Spielräume zu konzentrieren hatte, sollte das eroberte Hinterland durch Reichskommissare in eine Zivilverwaltung überführt werden, die der wirtschaftlichen Ausbeutung diente.86 Die Sicherung oblag SS 77 78 79 80 81 82 83 84 85 86
Vgl. ebd. Vgl. Eckert, Fall »Marita«, S. 171 f. Vgl. VO - Blatt für das besetzte griechische Gebiet, Nr. 8 vom 28. 4. 1942 ( BArch, RWD 23/1, unpag.). Vgl. Eckert, Fall »Marita«, S. 171 f. Vgl. VO - Blatt für das besetzte griechische Gebiet, Nr. 10 vom 27. 12. 1942 ( BArch, RWD 23/1, unpag.). Vgl. ebd. Erlass über die Ausübung der Kriegsgerichtsbarkeit im Gebiet »Barbarossa« vom 13.5.941 (BArch, RH 13/60, Bl. 1). Vgl. ebd. Vgl. ebd. Vgl., Alfred Toppe, Besatzung und Militärregierungen besetzter Gebiete ( Foreign Military Studies der Historical Division ), 1949 ( BArch, ZA 1/1783, Bl. 22).
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und Polizeiformationen.87 Gemäß einer Regelung vom April 1941 gewährte die Wehrmacht in ihrem – künftigen – Hinterland an der Ostfront der Sicherheitspolizei umfangreiche Rechte, worunter auch die Bekämpfung aller »reichsfeindlichen Bestrebungen« fallen sollte.88 Neben die Sicherheitspolizei traten Bataillone der Ordnungspolizei, die insbesondere zur Absicherung der entsprechenden Landstriche stationiert wurden.89 Von Beginn des Feldzuges am 22. Juni 1941 an verübten Wehrmachteinheiten sowie Verbände von SS und Polizei exzessive Gewaltmaßnahmen, denen abertausende Zivilisten, denen man u. a. deutschfeindliche Gesinnung unterstellte, zum Opfer fielen.90 Dem brutalen Kampf gegen Partisanen fielen ganze Dorfgemeinschaften zum Opfer; er führte zu Exekutionen von bis zu 100 Geiseln für einen getöteten Deutschen.91 Die Ausschaltung der Wehrmachtjustiz ging über die weggefallene Zuständigkeit für Zivilisten meist noch hinaus : So tötete eine SS - Einheit nach einvernehmlicher Absprache mit dem zuständigen Wehrmachtkommandeur im Juli 1941 im Slucz - Tal 73 angebliche Freischärler.92 Nach dem Bericht des zuständigen Offiziers handelte es sich bei den Exekutierten allerdings um reguläre Angehörige der Roten Armee.93 Trotz ihrer offensichtlichen Uniformierung wurden sie als Partisanen eingestuft, denen man unterstellte, sie hätten von der Bevölkerung Lebensmittel erpresst. Als Kriegsgefangene, die sie nach ihrer Gefangennahme waren, hätte hingegen der Vorwurf des Diebstahls oder der räuberischen Erpressung durch ein Militärgericht überprüft werden müssen. Das »Nicht - Zuständig - Sein« der Kriegsgerichte lässt sich auch hinsichtlich ihrer Hilfsorgane drastisch darlegen : Die Geheime Feldpolizei ( GFP ) war ursprünglich als Ermittlungsdienst der Kriegsgerichte konzipiert.94 Als solcher musste sie Verdächtige nach Festnahme an das zuständige Kriegsgericht übergeben. Für den »Osteinsatz« galt hingegen, derartige Sondereinheiten für »Partisaneneinsätze« und Massenexekutionen zu verwenden; dergestalt lautete der nunmehrige »Generalauftrag der GFP [...] Aufspürung und Vernichtung von
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Vgl. ebd. OKH betr. Regelungen des Einsatzes der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes ( SD ) im Verbande des Heeres vom 28.4.1941 ( BArch, RH 22/12, unpag.). Vgl. Christopher Browning, Ganz normale Männer. Das Reserve - Polizeibataillon 101 und die »Endlösung« in Polen, 5. Auflage Reinbek bei Hamburg 2002, S. 25 f. Vgl. Manfred Oldenburg, Ideologie und militärisches Kalkül. Die Besatzungspolitik der Wehrmacht in der Sowjetunion 1942, Köln 2004, S. 42 ff. Vgl. Karl Schneider, Auswärts eingesetzt. Bremer Polizeibataillone und der Holocaust, Essen 2011, S. 231 f. und 244 f. Vgl. Bericht des Höheren SS - und Polizeiführers ( HSSPF ) Russland - Süd über eine »Säuberungsaktion« vom 28.7. bis 30.7.1941 ( BArch, R 70/ SU /18, Bl. 82 ff.). Vgl. ebd. Vgl. Denkschrift »Die Geheime Feldpolizei«, o. D. ( BArch, RW 5/283, Bl. 1 f.).
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Partisanenbanden«.95 So erschoss die GFP allein in den ersten sechs Monaten des Jahres 1942 wegen »deutschfeindlicher Betätigung« rund 12 000 Menschen.96 Die Exekutivgewalt der Wehrmacht im Gefechtsgebiet sollte bis maximal 50 Kilometer hinter die Front reichen.97 In den weiter dahinter liegenden Gebieten wurden Wehrmachtdienststellen, Sicherungstruppen, Feldpolizei und Gerichte lediglich dort eingerichtet, wo die Sicherung von Nachschubwegen sowie von Versorgungs - und Verkehrsknotenpunkten es aus militärischer Sicht notwendig machte. Auch hier galten indes die grundsätzliche Ausschaltung des Justizwesens gegenüber Einwohnern und stattdessen die Anwendung von »Kampfmaßnahmen mit der Waffe«.98 Daneben konnte statt der Einschaltung eines Kriegsgerichts vorrangig eine Sanktionsverhängung durch Wehrmachtoffiziere vorgenommen werden.99 Allein das Beschädigen eines Plakats konnte mit dem Tode geahndet werden. Insgesamt kamen »abgestufte« Maßnahmen zur Anwendung : Verwarnen, Prügeln, Inhaftieren, Exekutieren.100 Bei Diebstählen sprachen Ortskommandanturen häufig Strafverfügungen aus, die auf Gefängnisstrafen lauteten.101 Wurden letztlich doch Gerichte tätig, so waren die zuständigen Tribunale bei den Feldkommandanturen etabliert oder bei den Sicherungsdivisionen, denen auch Durchgangslager für Kriegsgefangene militärisch wie gerichtlich unterstellt waren.102 Allerdings lieferte die Wehrmacht sowjetische Kriegsgefangene bei dem Verdacht von Straftaten regelmäßig an die Gestapo aus, die sie in Konzentrationslager einwies.103 Nach der Eroberung weiter Teile der Sowjetunion im Jahre 1941 übergab die Wehrmacht große Gebiete an die durch das deutsche Ostministerium vorbereitete Zivilverwaltung. Dieses richtete zwei sogenannte Reichskommissariate ein : das Reichskommissariat Ostland mit Gebieten des Baltikums und Weißrusslands sowie das Reichskommissariat Ukraine in den westlichen und zentralen Teilen der Ukraine.104 In Lettland hatte es zunächst noch eine Militärverwaltung gege95 Heeresfeldpolizeichef beim OKH, Bericht vom 31.7.1942 ( BArch, RH 19 III /458, Bl. 179 ff.). 96 Ebd. 97 Vgl. Besprechung beim Generalquartiermeister am 16. 5. 1941 ( BArch, RH 20–16/1012, Bl. 66 ff.); Friedrich Wilhelm, Die Polizei im NS - Staat. Die Geschichte ihrer Organisation im Überblick, Paderborn 1997, S. 153. 98 Besprechung beim Generalquartiermeister am 16.5.1941 ( BArch, RH 20–16/1012, Bl. 66 ff.). 99 Vgl. Schneider, Auswärts eingesetzt, S. 245. 100 Vgl. ebd. 101 Vgl. Aktenbestand Strafverfügungen von Ortskommandanturen in den besetzten sowjetischen Gebieten, 1942 ( BArch, RH 36/605, unpag.). 102 Vgl. Schneider, Auswärts eingesetzt, S. 241. 103 Vgl. Reinhard Otto, Die Gestapo und die sowjetischen Kriegsgefangenen. Das Beispiel der Stapo- Stelle Nürnberg - Fürth. In : Paul / Mallmann ( Hg.), Gestapo im Zweiten Weltkrieg, S. 201– 221, hier 214 f. 104 Vgl. Andreas Zellhuber, »Unsere Verwaltung treibt einer Katastrophe zu ...«. Das Reichsministerium für die besetzten Ostgebiete und die deutsche Besatzungsherrschaft in der Sowjetunion 1941–1945, München 2006, S. 130 ff.
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ben, die von Juli bis September existierte,105 in Estland wurde sie im Dezember durch eine Zivilverwaltung abgelöst.106 Die deutsche Zivilverwaltung des Reichskommissariats Ostland baute eine eigenständige deutsche Strafjustiz auf, die jedoch nur wenige untere Gerichte, ein Obergericht und ein Sondergericht umfasste.107 Auch das Reichskommissariat Ukraine verfügte über eine eigene deutsche Justizorganisation.108 In beiden Verwaltungsgebieten bestanden Gerichtszweige für Deutsche sowie für Landeseinwohner.109 Eine landeseigene Justiz existierte in einem bescheidenen Rahmen und war zuständig für strafrechtliche Fälle, die die Belange der Besatzungsmacht nicht berührten.110 Diese Justizorganisationen waren als Teil der Reichskommissariatsverwaltungen dem Ostministerium untergeordnet; das Reichsjustizministerium übte keine Zuständigkeit aus. Wenn landeseigene Gerichte in Erscheinung traten, wurde mitunter Recht aus vorsowjetischer Zeit angewandt. Ansonsten galt deutsches Strafrecht, das nach Bedarf Anwendung fand.111
5. Strafvollstreckung Die Einrichtung von Besatzungsgerichtsbarkeiten führte rasch zu einem Anstieg der Zahl der Häftlinge in deutschem Gewahrsam. Bereits im Mai 1940 waren die Gefängnisse im GG sowie in den vormaligen polnischen und nun annektierten Gebieten überbelegt, so dass Häftlingstransporte ins Reich durchgeführt werden mussten112 – ein Zustand, der sich auch im weiteren Verlauf des Krieges nicht änderte.113 Wenn Kriegsgerichte Verurteilungen vornahmen, war grundsätzlich der militärische Vollzugsapparat zuständig. Die Wehrmacht organisierte ihre Hafteinrichtungen jedoch wie militärische Einheiten und richtete sie vornehmlich darauf aus, verurteilte Soldaten nach einer Teilverbüßung der Strafen wieder für die Front nutzbar zu machen.114 Dies schloss die Inhaftierung von Zivilisten
105 Vgl. Sven Jüngerkes, Deutsche Besatzungsverwaltung in Lettland 1941–1945. Eine Kommunikations - und Kulturgeschichte nationalsozialistischer Organisationen, Konstanz 2010, S. 108 f. 106 Vgl. Schneider, Auswärts eingesetzt, S. 220. 107 Vgl. Wagner, Umgestaltung, S. 344. 108 Vgl. Zellhuber, »Unsere Verwaltung treibt einer Katastrophe zu ...«, S. 120 f. 109 Vgl. Walter Adami, Die Rechtspflege in den besetzten Ostgebieten. In : ZADR, 11 (1944), S. 20– 24, hier 20 f. 110 Vgl. ebd., S. 22 f. 111 Vgl. ebd., S. 23. 112 Vgl. Arbeitseinsatz der Gefangenen. Bericht der Vollstreckungsabteilung des Reichsjustizministeriums, o. D. ( BArch, R 3001/21429, Bl. 311 f.). 113 Vgl. Präg / Jacobmeyer, Diensttagebuch, S. 661 ( Eintragung vom 26.5.1943). 114 Vgl. Organisation und Aufgaben des Wehrmachtstrafvollzugs vom 16.3.1943 ( BArch, RW 2/3, Bl. 1 ff.).
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weitestgehend aus. Ausländer sollten Freiheitsstrafen nach Möglichkeit in Einrichtungen der zivilen Justiz verbüßen.115 Dabei konnte auf die deutsche Besatzungsjustizverwaltung zurückgegriffen werden, wenn eine solche im jeweiligen Land existierte, oder auf die Strafvollzugsanstalten der Reichsjustizverwaltung in Deutschland. Während des Krieges konzentrierte die Justiz zu Freiheitsstrafen verurteilte Ausländer zunehmend auf einzelne Haftanstalten in Deutschland, wobei im weiteren Verlauf auch Änderungen der örtlichen Zuständigkeiten festzustellen sind. So waren etwa ab Mai 1942 von Wehrmachtgerichten verurteilte Dänen und norwegische Männer nach Hamburg - Fuhlsbüttel zu verbringen.116 Für Verurteilte aus dem Bereich des Militärbefehlshabers Frankreich waren zu dieser Zeit das Zuchthaus in Rheinbach und für Gefängnisstrafen die Haftanstalt in Saarbrücken zuständig.117 Grundsätzlich sollten Freiheitsstrafen von nur wenigen Monaten Dauer in den jeweiligen Heimatländern verbüßt werden.118 Holländer, die kriegsgerichtlich bestraft worden waren, übergab man zur Strafvollstreckung an den deutschen Generalstaatsanwalt in den Niederlanden, der für den Vollzug von Freiheitsstrafen entscheiden konnte, entweder auf einheimische Hafteinrichtungen zurückzugreifen oder den Delinquenten ins Reich abzuschieben.119 Freiheitsstrafen, die die Militärgerichte im Bereich des Militärbefehlshabers Belgien und Nordfrankreich ausgesprochen hatten, fielen zum Vollzug nur dann in den Zuständigkeitsbereich des deutschen Reichsjustizministeriums, wenn die Strafdauer drei Jahre überstieg.120 Gefängnisse, die im Bereich der Zivilverwaltungen in der Sowjetunion existierten, wurden von Angehörigen des Sicherheitsdienstes ( SD ) geführt.121 Auch die Freiheitsstrafen der deutschen Verurteilten wurden in den Reichskommissariaten selbst vollzogen und die Möglichkeit, deutsche Häftlinge zur Bewährung in der Wehrmacht einzusetzen, durch den Reichsminister für die besetzten Ost-
115 Vgl. OKH / BdE, Erlass vom 10.1.1942 ( BArch, R 3001/22291, Bl. 32 ff.). 116 Vgl. OKW betr. Übernahme der Strafvollstreckung bzw. des Strafvollzuges an durch Wehrmachtgerichte in den besetzten Gebieten verurteilte Soldaten bzw. Landeseinwohnern vom 13.5.1942 ( Hauptstaatsarchiv ( HStA ) Hannover, Nds. 711 Acc. 6/95, Nr. 129, Bl. 44 f.). 117 Vgl. ebd. 118 Vgl. Heeresmitteilungsblatt, Nr. 10, o. D, ( BArch, R 3001/25016, Bl. 108). 119 Vgl. Korrespondenz zwischen dem Reichsjustizministerium und dem Generalkommissar für Verwaltung und Justiz in den besetzten Niederlanden vom 30. 7. 1941 ( BArch, R 3001/21278, Bl. 348 ff.). 120 Vgl. Vermerk der Vollstreckungsabteilung im Reichsjustizministerium von Mai 1941 ( BArch, R 3001/21278, Bl. 325). 121 Vgl. Aktenvermerk BdE, Abgrenzung der Aufgabenbereiche der Dienststellen der Wehrmacht und der Dienststellen des HSSPF Russland - Süd vom 31. 10. 1942 ( BArch, R 70/ SU /18, Bl. 106 ff.).
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gebiete bestimmt.122 Von Wehrmachtkommandanturen genutzte Gefängnisse hingegen unterstanden in den Ostgebieten der Feldgendarmerie.123 Anfang 1944 verbüßten insgesamt 67 000 Gefangene aus Polen, Tschechien, Frankreich, Belgien und Holland Haftstrafen in Hafteinrichtungen des Reichsjustizministeriums auf dem Gebiete des Reiches.124 Etwa 10 000 von ihnen waren von Gerichten der Wehrmacht verurteilte Zivilisten aus den besetzten Gebieten.125 Vermutlich verhängten Wehrmachtgerichte insgesamt annähernd 10 000 Todesurteile gegen Ausländer.126 In Frankreich fällten Kriegsgerichte mindestens 3 000 Todesurteile gegen Landeseinwohner.127 Allein 1943 sprachen zivile Strafgerichte in Deutschland 282 Todesurteile wegen Widerstandshandlungen gegen die deutsche Besatzungsmacht aus.128 Hinzu kamen 66 Todesurteile wegen Sabotage und 39 wegen Waffenbesitzes im Gebiet des okkupierten Tschechien sowie 894 in den annektierten Ostgebieten, die vormals zu Polen gehört hatten.129 Bis Februar 1945 wurden an Ausländern 487 Todesurteile vollstreckt, die das RKG ausgesprochen hatte.130 Während des Jahres 1943 übergab das Reichsjustizministerium nach entsprechenden Verhandlungen mehrere tausend, vornehmlich polnische, aber auch russische und ukrainische Häftlinge an die SS zur Einweisung in Konzentrationslager.131 Die Überstellungen fanden im Rahmen der Vereinbarung »Vernichtung durch Arbeit« statt.132
122 Vgl. Reichsminister der Justiz an den Reichsminister für die besetzten Ostgebiete vom 21.1.1944 ( BArch, R 6/394, Bl. 3 ff.). 123 Vgl. Merkblatt über die Aufgaben der GFP, Feldgendarmerie und des SD, o. D. ( BArch, R 70/ SU/18, Bl. 110 f.). 124 Vgl. Bericht des Reichsjustizministers an das Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda, Die Lage des Strafvollzugs im Jahre 1944 ( BArch, R 3001/25016, Bl. 7 ff.). 125 Vgl. Reichsjustizministerium an OKW vom 12.9.1944 ( BArch, R 3001/21262, Bl. 153). 126 Vgl. Hans - Peter Klausch, Erschießen – Enthaupten – Erhängen. Hinrichtungsarten und Hinrichtungsorte der NS - Militärjustiz. In : Ulrich Baumann / Magnus Koch ( Hg.), »Was damals Recht war ...«. Soldaten und Zivilisten vor Gerichten der Wehrmacht, Berlin 2008, S. 79–94, hier 79. 127 Vgl. Manfred Messerschmidt, Das System Wehrmachtjustiz. Aufgaben und Wirken der deutschen Kriegsgerichte. In : ebd., S. 27–42, hier 39 f. 128 Vgl. Reichsjustizministerium, Die Strafrechtspflege im fünften Kriegsjahr von August 1944 (BArch, 3001/ 25016, Bl. 38 f.). 129 Vgl. ebd. 130 Vgl. Messerschmidt, Wehrmachtjustiz, S. 118. 131 Vgl. Nikolaus Wachsmann, Gefangen unter Hitler. Justizterror und Strafvollzug im NS - Staat, München 2006, S. 317. 132 Vgl. ebd.
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6. Vor dem Zusammenbruch Ab Sommer 1944 veränderten sich die Zuständigkeiten der Wehrmachtgerichtsbarkeit, vor allem gegenüber Ausländern, noch einmal gravierend. Nicht nur wegen des schrumpfenden Einflussbereichs Deutschlands spielte die Besatzungsgerichtsbarkeit eine stetig schwindende Rolle. Ab Juli 1944 bestimmte der sogenannte Terror - und Sabotage - Erlass, dass Widerstand, den Bewohner besetzter Gebiete leisteten, durch Truppen von Wehrmacht, Polizei und SS zu bekämpfen sei.133 Sollten trotz massiver Gewaltmaßnahmen Gefangene gemacht werden, so waren diese unverzüglich der Sicherheitspolizei zu übergeben.134 Eine kriegs bzw. standgerichtliche Ahndung kam nur noch in Betracht, wenn eine Abgabe an die Polizei nicht möglich schien. Ein wehrmachtgerichtliches Verfahren hatte indes stets auf ein Todesurteil zu erkennen, das auch unverzüglich zu vollstrecken war.135 Zwar agierte die Militärjustiz in dieser letzten Phase des Zweiten Weltkrieges aggressiver als zuvor, es fand jedoch auch eine Machtverschiebung zugunsten des SS - und Polizeiapparates statt. Das Reichsjustizministerium erhielt im Verlauf des Jahres 1944 die vorrangige Zuständigkeit bei der Verfolgung von Strafsachen mit einem politischen Hintergrund, so dass die Wehrmachtjustiz in dieser Hinsicht teilweise in eine Abhängigkeit mit untergeordneter Stellung geriet.136 Kriegsgerichtliche Verfahren fanden nun vornehmlich als Schnellprozesse im Rahmen von Standgerichtsverfahren statt – eine Entwicklung, die an Umfang zunahm, je näher das Ende des »Dritten Reiches« rückte.137 Nach einer Änderung des Verfahrensrechts im Sommer 1944 konnten Prozesse gegen Ausländer in bestimmten Fällen außerdem mit lediglich einem Richter durchgeführt und Urteile wegen Freischärlertum, Spionage oder Sabotage durch Beschluss des Gerichts für sofort vollstreckbar erklärt werden.138 Am 5. Februar 1945 bestimmte Hitler, dass Verfahren gegen Ausländer, die vor dem Volksgerichtshof zu verhandeln waren, künftig in Bayreuth durch dorthin ausweichende Strafsenate durchzuführen seien.139 Das Reichsjustizministerium baute noch im Sommer 1944 eine Strafanstalt im Elsass aus, in der vornehmlich ausländische Gefangene unterzubringen waren, 133 Vgl. OKW vom 22.8.1944 betr. Bekämpfung von Terroristen und Saboteuren in den besetzten Gebieten ( BArch, N 54/59, unpag.). 134 Vgl. ebd. 135 Vgl. Fernschreiben OKW an OB West u. a. vom 24.9.1944 ( BArch, R 6/399, unpag.). 136 Vgl. Peter Kalmbach, Eine »Hauptwaffe gegen Defaitismus«. Der Tatbestand der »Wehrkraftzersetzung« als Instrument der NS - Justiz. In : Neue Zeitschrift für Wehrrecht, 54 (2012), S. 25– 32 hier, 31 f. 137 Vgl. Kalmbach, Wehrmachtjustiz, S. 258 und 260. 138 RGBl. 1944 I, S. 145. 139 Vgl. Notiz des Reichministers Thierack vom 5.2.1945 ( BArch, R 3001/20302, Bl. 290).
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bei denen eine erhöhte Fluchtgefahr bestand.140 Diese hatten Zwangsarbeit unter besonders widrigen Bedingungen zu leisten. Die meisten hiervon Betroffenen waren Franzosen, Belgier, Holländer und Italiener.141 Im Herbst 1944 wurden alle im Deutschen Reich in Haft befindlichen Ausländer, die wegen besatzungsfeindlichen Verhaltens verurteilt worden waren, vom Reichsjustizministerium an den SD übergeben.142 Ab Ende 1944 wurden zahlreiche Haftanstalten geräumt, die Insassen zum Teil willkürlich getötet – ein Schicksal, das vor allem ausländische Gefangene betraf – oder zu lebensbedrohlichen Märschen gezwungen, um sie ins Reich zu bringen.143
7. Zusammenfassung Die deutsche Besatzungsgerichtsbarkeit kann nicht als monolithischer Block begriffen werden. Sie ist stets als Konglomerat des Handelns von Wehrmachtgerichten, örtlicher deutscher Zivilverwaltung, Reichsjustizministerium sowie SS- und Polizeikräften zu sehen. Der Wehrmacht oblag grundsätzlich das Primat, Regelungen über ihre Justizzuständigkeiten selbst zu entscheiden. Kompetenzen wurden hin - und hergeschoben, wobei die Wehrmacht weitgehend freiwillig Zuständigkeiten abgab, um eigene Justizkräfte zu entlasten. Auch landeseigene Gerichte wurden mit Verfahren betraut, wobei es sich jedoch in der Regel um Straftaten handelte, die nur marginal mit der Besatzungsmacht zu tun hatten. Neben den gerichtlichen Sanktionen sind außerdem die brutalen Maßnahmen von Wehrmachttruppen, SS und Polizei zu berücksichtigen, deren Anwendung strafrechtliche Verfolgung teils vollständig außer Kraft setzten und auf dem östlichen und südöstlichen Kriegsschauplatz die Militärgerichtsbarkeit nahezu gänzlich ausschalteten. Trotzdem verurteilten Wehrmachtgerichte mehrere Tausend ausländische Zivilisten zum Tode. Eine bislang unbekannte Zahl ausländischer Gefangener starb aufgrund der widrigen Haftbedingungen in Straflagern, Zuchthäusern und Gefängnissen.
140 Vgl. Bericht des Generalstaatsanwalts in Karlsruhe an den Reichsminister der Justiz vom 22.8.1944 ( BArch, R 3001/21262, Bl. 134). 141 Vgl. ebd. 142 Vgl. Schreiben des OKW betr. Straftaten nichtdeutscher Zivilisten in den besetzten Gebieten gegen die Sicherheit oder Schlagfertigkeit der Besatzungsmacht vom 24. 9. 1944 ( BArch, R 6/399, unpag.). 143 Vgl. Wachsmann, Gefangen, S. 363 f.
Michael Viebig Der Bestand »Reichskriegsgericht« im Militärhistorischen Archiv der Tschechischen Republik in Prag – ein bedeutender Aktenbestand für die Forschung zur nationalsozialistischen Justiz
1. Das Zuchthaus Halle und die Gedenkstätte ROTER OCHSE Halle (Saale ) Seit Mitte der 1990er Jahre gibt es in der Stadt Halle ( Saale ) die Gedenkstätte ROTER OCHSE Halle ( Saale ). Sie ist in einem Nebengebäude der seit 1842 in Betrieb befindlichen Justizvollzugsanstalt untergebracht. Von den Nationalsozialisten zunächst als Haftort für den Vollzug von Gefängnisstrafen und von Schutzhaft benutzt, diente der vier Gefangenenhäuser und eine Reihe weiterer Gebäude umfassende Komplex seit 1935 als Zuchthaus, das mit Kriegsbeginn neben deutschen Gefangenen zunehmend ausländische Häftlinge aufnahm. Schwere körperliche Arbeit in Anstaltsbetrieben sowie in Außenkommandos, die im Wasserstraßenbau und in der Rüstungsproduktion zum Einsatz kamen, prägte den Alltag der Gefangenen. Einen wichtigen Einschnitt in der Anstaltsgeschichte, der das Wesen des Nationalsozialismus und seiner Justiz wie kaum eine andere Maßnahme offenbart, bilden die Schließung des Lazarettgebäudes und dessen Umbau zu einer Hinrichtungsstätte im Jahr 1942. Im November desselben Jahres begannen die Exekutionen, zunächst ausschließlich vollzogen durch eine Guillotine und beschränkt auf Hinrichtungen für zivile Gerichte. Dies änderte sich im April 1943, als gemäß einer zwei Monate zuvor erfolgten Vereinbarung zwischen Oberkommando der Wehrmacht ( OKW ) und Reichsjustizministerium1 im Zuchthaus Halle erstmals Todesurteile von Wehrmachtgerichten vollstreckt wurden.2 Noch im selben Jahr ließ die Reichsjustizver1
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Rundschreiben des Oberkommandos der Wehrmacht ( OKW ) vom 18.2.1943 ( BArch, R 3016, Nr. 119, Bl. 22. Vgl. insbes. Lars Skowronski, Die Vollstreckung wehrmachtgerichtlicher Todesurteile. Rechtsgrundlagen, Praxis und quantitative Dimension. In : Albrecht Kirschner ( Hg.), Deserteure, Wehrkraftzersetzer und ihre Richter. Marburger Zwischenbilanz zur NS - Militärjustiz vor und nach 1945, Marburg 2010, S. 181–196. Statistik der Hinrichtungen in : Michael Viebig, Das Zuchthaus Halle / Saale als Richtstätte der nationalsozialistischen Justiz (1942 bis 1945), Magdeburg 1998, S. 193–226. Am 29. 4. 1943
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waltung eine Vorrichtung zum Erhängen installieren, die in der Folgezeit ausschließlich durch die Wehrmachtjustiz genutzt wurde.3 Bis zum 10. April 1945 starben in der Richtstätte des Zuchthauses Halle insgesamt 549 Männer, Frauen und Jugendliche. Fast genau die Hälfte dieser Hinrichtungen – 275 – gehen auf Todesurteile von Wehrmachtgerichten zurück, 211 davon allein auf das Reichskriegsgericht ( RKG ). Angehörige des Standortkommandos Halle erschossen im Sommer 1944 weitere 23 RKG - Verurteilte im Stadtforst Dölauer Heide, einem Waldstück unweit der Haftanstalt. Verwaltungstechnischer Hintergrund für die Exekutionen in Halle war die Verlegung des RKG im Sommer 1943 von Berlin nach Torgau. Der Landgerichtsbezirk Torgau gehörte damals zum Oberlandesgerichtsbezirk Naumburg, für den wiederum das Zuchthaus Halle als zentrale Richtstätte fungierte. Mit dem Entstehen der Gedenkstätte ROTER OCHSE Halle ( Saale ) Mitte der 1990er Jahre begann auch die Erarbeitung einer Opferstatistik und in Zusammenhang damit die Ermittlung der verurteilenden Gerichte. Inzwischen ist bekannt, dass in keiner anderen NS - Richtstätte der prozentuale Anteil von Hinrichtungen für Wehrmachtgerichte so hoch war, wie in Halle.4 Aus dem Umstand, dass hier vor allem für das RKG exekutiert wurde, resultierte die Notwendigkeit, die Unterlagen dieses Gerichtes auszuwerten.
2. Das Reichskriegsgericht Das RKG, gegründet am 1. Oktober 1936 in Berlin, war der Oberste Gerichtshof der Wehrmacht und damit erste und letzte Instanz in Hoch - und Landesverrats Sachen gegen Militärangehörige, zudem Berufungsinstanz für untergeordnete Wehrmachtgerichte. Mit Inkrafttreten der Kriegssonderstrafrechtsverordnung (KSSVO )5 und der Kriegsstrafverfahrensordnung ( KStVO )6 entfiel zu Beginn des Zweiten Weltkrieges die Aufgabe als Berufungsinstanz weitgehend. Nunmehr
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erfolgten die ersten drei Hinrichtungen für das Gericht der Division Nr. 464, Zweigstelle Leipzig. Die Art und Weise der Exekution wird in der Gedenkstätte durch den Abgleich von Vollstreckungsanordnungen und Sterbeunterlagen, zumeist durch Ärzte erstellte Todesbescheinigungen, ermittelt. Demnach ist der im Verfahrenskomplex des Reichskriegsgerichts ( RKG ) gegen die Mitglieder der »Roten Kapelle« am 18. 12. 1942 zum Tode verurteilte Chemiker Dr. - Ing. Hansheinrich Kummerow ( geb. 1903 in Magdeburg ) der erste Verurteilte, der in Halle durch den Strang exekutiert wurde. Die Hinrichtung datiert auf den 4.2.1944. Vgl. Skowronski, Vollstreckung, S. 190 f. Verordnung über das Sonderstrafrecht im Kriege und bei besonderem Einsatz vom 17. 8. 1938 (RGBl. 1939 I, S. 1455). Verordnung über das militärische Strafverfahren im Kriege und bei besonderem Einsatz vom 17.8.1938 ( RGBl. 1939 I, S. 1457).
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zählten neben Verfahren wegen Hoch - und Landesverrats auch Spionage, Feindbegünstigung, Kriegsverrat und vor allem viele Anklagen wegen »Zersetzung der Wehrkraft« ( was die Tatbestände von Wehrdienstverweigerung bis hin zur Selbstverstümmelung beinhaltete ) zum Kompetenzbereich des RKG. In enger Abstimmung mit dem Volksgerichtshof ( VGH ) teilte sich das Gericht mit diesem zudem die Aufgabe der Bekämpfung des deutschen und europäischen Widerstandes mit Mitteln der Justiz. Spätestens im Rahmen dieser Entwicklung geriet auch das RKG zu einem Terrorinstrument zur Aufrechterhaltung der NS Herrschaft. Mehr als 1 400 Todesurteile und eine Vielzahl hoher Haftstrafen sprechen ein deutliches Wort. Die Rechtsprechung des RKG war – auf Grund der Bedeutung dieses Gerichtshofes – gleichzeitig de facto rechtsetzend. Das RKG verfügte bei seiner Gründung über zwei Senate; gegen Ende des Krieges waren es fünf. Anklagebehörde war die Reichskriegsanwaltschaft ( RKA ), deren Leiter der Oberreichskriegsanwalt ( ORKA ). Gerichtsherr des Reichskriegsgerichts war dessen Präsident. Entscheidungen des RKG wurden in enger Abstimmung mit entsprechenden Rechtsstellen des OKW sowie der einzelnen Wehrmachtteile getroffen. Das RKG agierte zunächst in Berlin, ab Mitte August 1943 jedoch in Torgau. Daneben sind eine ganze Reihe von Verfahren an anderen Orten im damaligen Deutschen Reich zu konstatieren, Verfahren im besetzten Polen, in Norwegen und Ermittlungsvorgänge in nahezu allen von der Wehrmacht besetzten Ländern.7 In den letzten Kriegswochen – Ende April 1945 – hatte sich das RKG von seinem letzten Tätigkeitsort, der Zieten - Kaserne in Torgau, in Richtung »Alpenfestung« abgesetzt. Bestens dokumentiert im »Kriegsreisetagebuch« des RKG8 lassen sich die Details dieser Flucht, die Anfang Mai 1945 im Schloss Kundratice in Böhmen endete, gut rekonstruieren. Die nach einer Serie von Vernichtungsaktionen9 dort zurückgelassenen Unterlagen wurden bald darauf entdeckt und eine Überführung nach Prag veranlasst. Hier fanden sie später als »Bestand 39, Reichskriegsgericht« Eingang in das Militärhistorische Archiv der Tschechoslowakischen Volksarmee.
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Zur Rolle des RKG im Gefüge der Wehrmachtjustiz vgl. Michael Viebig / Lars Skowronski, Werner Lueben. Biografische Anmerkungen zu einem Richter am Reichskriegsgericht. In : Kirschner, Deserteure, S. 163–169, hier 166–168. Zu Struktur und Funktion des RKG vgl. auch Günter Gribbohm, Das Reichskriegsgericht. Die Institution und ihre rechtliche Bewertung, Berlin 2004, sowie Norbert Haase, Das Reichskriegsgericht und der Widerstand gegen die nationalsozialistische Herrschaft. Katalog zur Sonderausstellung der Gedenkstätte Deutscher Widerstand in Zusammenarbeit mit der Neuen Richtervereinigung, Berlin 1993. Militärhistorisches Archiv der Tschechischen Republik ( MHA ) Prag, Karton 13, Akte 3/1. Die Vernichtungsaktionen begannen bereits in Torgau. Vor der Vernichtung, die zumeist durch Verbrennen der Unterlagen erfolgte, wurden die betreffenden Akten in Listen erfasst, die wiederum – wenn möglicherweise auch unvollständig – in den Prager Unterlagen vorhanden sind.
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3. Beginn der Bestandsnutzung in Halle : Filmkopien der Staatssicherheit Für die Recherchen der Gedenkstätte ROTER OCHSE Halle ( Saale ) konnten zunächst unvollständige und teilweise schlecht lesbare Filmkopien aus einem ehemaligen Bestand des Ministeriums für Staatssicherheit ( MfS ) der DDR verwendet werden. Die Filme hatte das MfS in den Jahren 1986 bis 1988 im Rahmen von fünf Reisen in das Militärhistorische Archiv ( MHA )10 der damaligen Tschechoslowakischen Sozialistischen Republik ( ČSSR ) Prag angefertigt. Dem Abschlussbericht dieser Maßnahme zufolge sind dabei »insgesamt 1 483 Kartons Archivmaterial gesichtet und ausgewertet worden«,11 darunter »umfangreiche Materialien ( Urteile, Straflisten u. a.) des ehemaligen ›Reichskriegsgerichts‹ und anderer Militärgerichte, die auch wertvolle Angaben zu Personen enthalten, die wegen ihrer aktiven antifaschistischen Tätigkeit [...] verfolgt worden sind ( z. B. Angehörige der antifaschistischen Widerstandsorganisation Schulze - Boysen / Harnack )«.12 Den Zweck dieser umfangreichen Verfilmungsaktion beschreiben die Berichtsverfasser damit, die Dokumente seien »für die politisch - operative Arbeit des MfS, besonders für den Klärungsprozess ›Wer ist wer ?‹ sowie für die Fortsetzung der Erforschung und Aufklärung des antifaschistischen Widerstandskampfes von großer Bedeutung«.13 Die Verfilmung des Bestandes »Reichskriegsgericht« vollzogen Mitarbeiter des MfS bereits im April / Mai 1987. Der entsprechende Bericht der Hauptabteilung IX /11, angefertigt am 20. Mai 1987, zählt folgende Unterlagen auf : »Strafprozesslisten des RKG : 40 Bücher; Entscheidungen des RKG : 8 Ordner; Sammlung von Urteilen des RKG : 10 Kartons; Personalunterlagen und Schriftverkehr des RKG : 89 Kartons«.14 Der hier dargestellte Umfang verglichen mit den durch den Autor in den letzten Jahren gesichteten Unterlagen lässt den Schluss zu, dass das MfS damals alle in Prag befindlichen RKG - Unterlagen verfilmt hat. Darüber hinaus enthält der Abschlussbericht der gesamten Aktion den bemerkenswerten 10
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Korrekte Bezeichnung : Vojenský Ústředny Archiv ( VUA ). Im vorliegenden Beitrag wird die Abkürzung MHA sowohl für die Archivbezeichnung während der Existenz der Volksarmee der ČSSR als auch für das jetzige Archiv benutzt. Bericht über die Dienstreise einer Arbeitsgruppe zur Verfilmung von Archivmaterialien im Militärhistorischen Archiv der Tschechoslowakischen Volksarmee in Prag vom 29. 2. 1988 bis 22. 3. 1988 vom 28. 3. 1988 ( Der Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR ( BStU ), Archiv der Zentralstelle ( ZA ), MfS - Abt. X, Nr. 17, Mosaik - Akten, Bl. 94–96, hier 95). Ebd., Bl. 96. Ebd. Bericht über die Dienstreise einer Arbeitsgruppe zum Militärhistorischen Archiv der Volksarmee der ČSSR, Prag, zwecks Verfilmung von Archivmaterialen vom 21.4. bis 15.5.1987 ( BStU, ZA, Abt. X, 17, Mosaik-Akten, Bl. 56–60, hier 57).
Der Bestand »Reichskriegsgericht«
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Hinweis, das MfS habe aus den gesamten verfilmten Beständen (374 000 Aufnahmen aus Unterlagen von Gerichten, SS - Akten usw., festgehalten auf 537 Mikrofilmen ) »14 500 Personen ( ehemalige Angehörige der SS bzw. der Wehrmacht sowie wegen antifaschistischer Tätigkeit verurteilte Personen und Personen, gegen die Terrorurteile ergingen ) sofort karteimäßig erfasst und in das Karteiensystem der Hauptabteilung IX /11 aufgenommen.«15 Im Zuge der Überführung vieler Unterlagen dieser MfS - Abteilung in die Zuständigkeit des Bundesarchivs ist die Verbindung zwischen den verfilmten Unterlagen und den dazugehörigen Karteien, die in das Archiv des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik ( BStU ) gelangten, offenbar verlorengegangen. Tatsächlich standen für das MfS wohl die Auswertung der Unterlagen zu Zwecken der »Täterforschung« und die daraus resultierenden Entscheidungsmöglichkeiten bezüglich der ermittelten Personen im Vordergrund. Henry Leide resümiert jedoch die Aktenbeschaffung äußerst zutreffend mit folgenden Worten: »Die Sammelpraxis des MfS war von einem schier schrankenlosen Aktenhunger geprägt, dem allerdings kein gleichrangiges Verfolgungspotential gegenüberstand.« Zu Recht stellt Leide fest, dass »das damit erwachsene Potential zur stets reklamierten konsequenten Verfolgung von NS - Verbrechern [...] in einem geradezu grotesk geringen Maße genutzt ( wurde )«.16 Vor allem muss aus Sicht der durch die Wehrmachtjustiz Verfolgten festgehalten werden, dass nichts über irgendeinen Beitrag des MfS zur Klärung von Opferschicksalen überliefert ist.
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Bericht vom 28.3.1988, Bl. 96. Henry Leide, NS - Verbrecher und Staatssicherheit. Die geheime Vergangenheitspolitik der DDR, 2., durchgesehene Auflage Göttingen 2006, S. 190. Leide widmet den Verfilmungsvorgängen in der ČSSR einen längeren Abschnitt ( S. 186–190) und erwähnt dort, dass die »Staatssicherheit« der DDR bereits im April 1957 »aus tschechoslowakischen Archiven insgesamt 63 Kisten mit Teilaktenbeständen des ehemaligen Reichskriegsgerichts« erhalten habe ( S. 186). Es ist nicht bekannt, ob diese Originalunterlagen zurückgegeben wurden, und wenn nicht, wo sie sich heute befinden. Tatsächlich tauchen immer wieder vereinzelt Kopien von RKG - Dokumenten auf, die im Prager Bestand nicht ( mehr ) zu finden sind. Als Beispiel mag das Urteil des 2. Senats des RKG gegen den katholischen Priester Dr. Carl Lampert und 3 Andere ( Hauptverhandlung vom 14. bis 20. 12. 1943 in Halle / Saale ) gelten, das in Prag fehlt, als Kopie in einer Akte des Generalstaatsanwalts der DDR jedoch vorhanden ist ( BArch, DP 3, 2266). Der Generalstaatsanwalt erhielt die Kopie des Urteils im März 1986 vom Leiter des Dokumentationszentrums der Staatlichen Archivverwaltung im Ministerium des Innern der DDR, der die Exklusivität der Unterlagen noch hervorhob : Selbst Benedicta Maria Kempner habe in ihrem Buch »Priester vor Hitlers Tribunalen« vermerkt, »dass das Urteil gegen Lampert bisher nicht aufgefunden worden sei« ( ebd., Bl. 7). Kempners in München 1966 erschienenes Buch ist eines der frühesten Standardwerke über die Verfolgung von Christen im Nationalsozialismus.
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4. Bedeutung der Prager Akten Die in Prag verwahrten Unterlagen des RKG sind von außerordentlich großer Bedeutung für die internationale Forschung, kamen doch auch die Angeklagten aus nahezu allen europäischen Ländern, sogar aus offiziell neutralen Staaten, wie der Schweiz und Spanien. Die verschiedenen Listen der Anklagebehörde und der Senate des RKG, die Urteilssammlungen sowie die unterschiedlichen Sachakten der Gremien enthalten neben zahlreichen Informationen zu Strafverfahren gegen Angehörige der Wehrmacht und des Gefolges Angaben und Dokumente über Widerstandshandlungen und - gruppen sowie mehrere tausend ihnen zuzuordnende Personen. Bisher konnte dieser Informationspool nur in Ansätzen genutzt werden,17 offenbarte dabei aber sein enormes Potential für die Wissenschaft – und für die von dieser Justiz Betroffenen und ihre Angehörigen. So konnte beispielsweise der französische Historiker Auguste Gerhards mit Hilfe der in Prag verwahrten Unterlagen das Schicksal seines 1943 vom RKG zum Tode verurteilten Onkels klären18 und in Fortsetzung dieser Recherche gemeinsam mit der Gedenkstätte ROTER OCHSE eine fundierte Dokumentation zu allen im Zuchthaus Halle hingerichteten Elsässern und Lothringern erstellen.19 Für den im Jahr 1941 geborenen Frédéric Gasquet boten das Urteilsmanuskript des RKG sowie der dazugehörige Eintrag in die Strafprozessliste vor zehn Jahren zum ersten Mal konkrete Informationen über seinen Vater Gilbert Scemla, seinen Onkel Jean und seinen Großvater Joseph, die der 4. Senat unter Vorsitz Erich Lattmanns am
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Erstmals entstand mit der 1993 gezeigten Sonderausstellung der Gedenkstätte Deutscher Widerstand »Das Reichskriegsgericht und der Widerstand gegen die nationalsozialistische Herrschaft« eine ganze Exposition auf Grundlage der in Prag verwahrten Unterlagen. Vgl. Haase, Reichskriegsgericht. Umfassend greift die 2006 eröffnete Dauerausstellung der Gedenkstätte ROTER OCHSE Halle ( Saale ) auf Prager Unterlagen zurück. Vgl. Der ROTE OCHSE Halle ( Saale ), Politische Justiz /1933–1945/1945–1989. Katalog zu den Dauerausstellungen. Bearb. von Daniel Bohse und Alexander Sperk, Berlin 2008, S. 43–277. In großem Umfang verwendet die 2007 erstmals gezeigte Wanderausstellung »›Was damals Recht war ...‹ Soldaten und Zivilisten vor Gerichten der Wehrmacht« Informationen und Dokumente aus Prag. Vgl. Ulrich Baumann / Magnus Koch ( Hg.), »Was damals Recht war ... Soldaten und Zivilisten vor Gerichten der Wehrmacht, Berlin 2008. Seither nutzen verschiedene Projekte die in Prag verwahrten Unterlagen, so z. B. die Wanderausstellung »Justiz im Nationalsozialismus. Über Verbrechen im Namen des Deutschen Volkes. Sachsen - Anhalt«, die seit 2008 an den Gerichten des Bundeslandes Sachsen - Anhalt präsentiert und für jeden neuen Ausstellungsort ergänzt wird. Vgl. Michael Viebig / Daniel Bohse ( Bearb.), Justiz im Nationalsozialismus. Über Verbrechen im Namen des Deutschen Volkes, Sachsen - Anhalt. Begleitband zur Wanderausstellung, Magdeburg 2012. Auguste Gerhards, Theo Gerhards 1900–1943. Un Alsacien en résistance, Strasbourg 2003. Ders., Morts pour avoir dit NON. 14 Alsaciens et Lorrains face à la justice militaire nazie, Strasbourg 2007.
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20. Mai 1944 zum Tode verurteilt hatte.20 Nicht zuletzt trugen die aus den RKG Unterlagen gewonnenen Erkenntnisse bezüglich der wegen sogenannten Kriegsverrats verurteilten Soldaten 64 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges zur Aufhebung dieser Urteile durch den Deutschen Bundestag bei.21 Bedingt durch die Arbeit an der neuen Dauerausstellung der Gedenkstätte ROTER OCHSE Halle ( Saale ) erwies es sich als notwendig, Wissenslücken über die Tätigkeit des RKG mit Hilfe der Originalunterlagen zu schließen und qualitativ hochwertige Kopien zu beschaffen. Der Direktor des Archivs, Josef Žikeš, und der wissenschaftlicher Leiter, Dr. Július Baláž, standen diesem Ansinnen sehr aufgeschlossen gegenüber und unterstützten es in jeder erdenklichen Form. Als vorteilhaft erwies sich die Bestandskenntnis durch Zuzana Pivcová, die bereits zu Beginn der 1990er Jahre mit der Erarbeitung eines ersten Findmittels in tschechischer Sprache begonnen hatte. Durch einen Beitrag Norbert Haases erfuhr das deutsche Fachpublikum von der Bedeutung der Prager Unterlagen.22 Für eine breite Resonanz schien es jedoch noch zu früh zu sein. Aus der punktuellen Nutzung der Hinterlassenschaften des RKG durch die Gedenkstätte ROTER OCHSE für verschiedene Ausstellungen sowie biografische Forschungen entstand schließlich die Idee, den gesamten Bestand aufzuarbeiten und einer breiten Nutzung zugänglich zu machen. Vertieft wurde diese Intention durch den Sachverhalt, dass die Sammlung nie nach archivwissenschaftlichen Grundlagen erschlossen werden konnte. Das historisch – wahrscheinlich im Umfeld des überhasteten Aufbruchs des RKG – entstandene Durcheinander von Bestimmungs - , Verwaltungs - , Personal - und anderen Unterlagen, das Vorhandensein von Akten ohne erkennbare oder gar mit irreführenden Bezeichnungen sowie von Akten ohne oder nur mit fragmentarischen Inhaltsverzeichnissen, erlaubten es den tschechischen Kollegen nicht, den Bestand nach archivwissenschaftlichen Grundsätzen »umzusortieren«. Um ihn dennoch nutzbar zu machen, bedarf es eines umfangreichen Verzeichnisses, in dem nach Schlagworten und Namen gesucht werden kann. Die Gedenkstätte ROTER OCHSE Halle ( Saale ) arbeitet – wiederum mit großer Unterstützung der Prager Kollegen – an der Lösung dieses Problems.
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Frédéric Gasquet, La lettre de mon père, Paris 2006. Das Buch erschien im Juli 2014 in deutscher Sprache: Frédéric Gasquet, Der Brief meines Vaters. Eine tunesische Familie in der NaziHölle, Halle (Saale) 2014. Vgl. dazu u. a. Wolfram Wette / Detlef Vogel ( Hg.), Das letzte Tabu. NS - Militärjustiz und Kriegsverrat, Berlin 2007. Der Beschluss des Deutschen Bundestages erfolgte am 8.9.2009. Norbert Haase, Aus der Praxis des Reichskriegsgerichts. Neue Dokumente zur Militärgerichtsbarkeit im Zweiten Weltkrieg. In : Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte ( VfZ ), 39 (1991), S. 379– 411.
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5. Der Aktenbestand »Reichskriegsgericht« Der Prager Bestand gliedert sich im Wesentlichen in drei große Teile : Sachakten, Listen, Urteilssammlung. Im Beitrag werden sie kurz vorgestellt und die Recherchemöglichkeiten, die sich aus der Kombination der vorhandenen Quellen ergeben, an zwei Beispielen erläutert. Die Sachakten
Der Sachaktenbestand umfasst insgesamt 80 Kartons mit insgesamt 527 Einzelordnern, Einlegemappen usw. Er ist damit der größte Teil der Sammlung. Der Umfang der einzelnen Elemente beträgt teilweise nur wenige, teilweise bis zu 400 Blatt. Ein großer Teil der Akten stammt aus den Unterlagen des Bürodirektors am RKG, Willi Petters, geboren im Jahr 1891 in Arnsgrün bei Greiz / Thüringen. Eine der Akten enthält sogar seine persönlichen Gehalts - und Bankunterlagen. Petters bekleidete die gesamte Kriegszeit über das Amt des Bürodirektors, was eine gewisse Kontinuität bei der Sammlung und Zusammenstellung der Unterlagen garantiert. Der Sachaktenbestand lässt sich in drei wichtige Teile untergliedern : die Bestimmungsakten, die Schriftwechselakten sowie die Personalakten. Die sogenannten Bestimmungsakten23 sind dabei oft nach untergeordneten Sachthemen sortiert. So gibt es z. B. mehrere »Bestimmungsakten Disziplin und Rechtspflege«. Ebenso wie andere Bestimmungsakten enthalten diese jedoch häufig übergreifende Sammlungen von Rundverfügungen, Befehlen usw., die über die im jeweiligen Titel angegebenen Themen hinausgehen. Ebenfalls darin vorhanden sind Ausführungsbestimmungen, die Anordnungen, Dienstordnungen, Erlasse usw. enthalten. Diese wiederum waren dem RKG durch das OKW, den Oberbefehlshaber des Heeres, den Oberbefehlshaber der Kriegsmarine und den Reichsminister der Luftfahrt und Oberbefehlshaber der Luftwaffe »1.) zur Verordnung über das Sonderstrafrecht im Kriege und bei besonderem Einsatz und Verordnung über das militärische Strafverfahren im Kriege und bei besonderem Einsatz und 2.) zum Gnadenerlass des Führers und Reichskanzlers für die Wehrmacht aus Anlass der Mobilmachung« übermittelt worden. Die Bestimmungsakten hatte derjenige Offizier oder Beamte, der sie für seine Verwendung führte, laufend zu ergänzen. Je nach Dauer des Verbleibs der Person am RKG variieren Beginn und Ende der Sammlungen.24 Über die Ausführungsbestim23
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»Bestimmungsakten« waren die früheren »Generalia«, im Gegensatz zu den Verhandlungsakten, früher »Spezialia« genannt. Vgl. Rudolf Absolon, Die Wehrmacht im Dritten Reich, Band II, 30. Januar 1933 bis 2. August 1934, Boppard am Rhein 1971, Anm. 1471, S. 318. Karton 27 enthält allein vier verschiedene Exemplare dieser Sammlungen. An den aufgedruckten Prüfnummern lässt sich der Verbreitungsgrad der Dokumente innerhalb des RKG erahnen.
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mungen lassen sich insbesondere die Entwicklung der inneren Organisation des RKG und seines Geschäftsbetriebes sehr gut nachverfolgen. Die Schriftwechselakten enthalten die Korrespondenz zu einzelnen Strafverfahren – darüber hinaus ausführlich z. B. auch zur Winterübung HANSA25 und zum Verlust des Schlachtschiffes Tirpitz26. Interessant sind diese Akten u. a. wegen der hier fixierten Diskussionen über Veränderungen, gesetzliche Regelungen und Möglichkeiten der Beschleunigung von Strafverfahren, Debatten, die sowohl intern als auch mit der Wehrmachtrechtsstelle des OKW ( OKW WR ) und ähnlichen Gremien geführt wurden. In den Schriftwechselakten sind auch die jeweils neuesten Informationen zu einzelnen Sachthemen zu finden, die fragmentarisch ebenso in Bestimmungsakten »Disziplin und Rechtspflege« vorhanden sein können. So lässt sich z. B. hier die Entwicklung der Anwendung des sogenannten Nacht - und Nebel ( N.N.) - Erlasses sehr genau nachverfolgen,27 ebenso die Anwendung zahlreicher für Wehrmachtgerichte allgemein verbindlicher, ansonsten vorwiegend von zivilen Gerichten genutzter Verordnungen, wie die sogenannte Rundfunkverordnung,28 die Wehrkraftschutzverordnung29 ( insbesondere deren § 4 Verbotener Umgang mit Kriegsgefangenen ) und die sogenannte Polenstrafrechtsverordnung.30 Zu den Schriftwechselakten sind ebenfalls Briefbücher, Fernschreib - Unterlagen, Umlaufmappen ( die Informationen aus Schriftwechselakten ergänzen ) und die »Terminierungskartei«31 zu zählen.
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Darüber hinaus können anhand dieser Nummern gelegentlich die Inhaber der Sammlungen identifiziert werden. Da dieselben Prüfnummern auch in den Verteilerlisten der Urteile auftauchen bzw. auf den Deckblättern aufgedruckt sind, ist daraus noch detaillierter der Personenkreis zu recherchieren, der in ein Verfahren involviert war. Karton 27 beinhaltet die Akte 5/12, ( Prüfnummer 0024), Akte 5/13 ( Prüfnummer 0022 – OKGR Eichberg ), Akte 5/14 ( Prüfnummer 0061 – Heeresjustizinspektor Pistorius ) und Akte 5/15 ( Prüfnummer 0016). Die Sammlungen finden sich in mehreren Kartons. Karton 65, Akte 11/1, eine Akte über den Einsatz von Wehrmachtangehörigen im Spanienkrieg 1937. Karton 9, Akte 2/31 mit mehreren Teilakten. Sie befassen sich mit der eventuellen strafrechtlichen Verantwortung nach dem Untergang des Schlachtschiffes Tirpitz bei Tromsö / Norwegen am 12.11.1944. Beispielsweise in Karton 51, Akte 13/18, Karton 53, Akte 13/21, Karton 63, Akte 10/11. Verordnung über außerordentliche Rundfunkmaßnahmen vom 1. 9. 1939 ( RGBl. 1939 I, S. 1683). Verordnung zur Ergänzung der Strafvorschriften zum Schutz der Wehrkraft des deutschen Volkes vom 25. 11. 1939 ( RGBl. 1939 I, S. 2319). Die Verordnung wurde bereits am 11. 5. 1940 modifiziert ( RGBl. 1940 I, S. 769). Verordnung zur Strafrechtspflege gegen Polen und Juden in den eingegliederten Ostgebieten vom 4.12.1941 ( RGBl. 1941 I, S. 759). Karton 65, Akte 12/22. Etwa 300 derartige DIN - A - 5–Vorlagen aus dem Zeitraum 1.7.1944 bis 23. 3. 1945 enthalten Terminfestlegungen, ebenso jedoch Informationen über die Zusammensetzung des Gerichts, das Delikt, den Antrag des Anklagevertreters, Strafmaß, Verteidiger, gegebenenfalls Zeugen.
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Zahlreich vorhandenes Verwaltungsschriftgut beinhaltet Büroangelegenheiten zur Organisation des Geschäftsbetriebs, Unterlagen zur Einrichtung und Erhaltung von Luftschutzanlagen und diesbezügliche Übungen, Kraftfahrzeugunterlagen sowie detaillierte Kantinenunterlagen samt Lieferverträgen und Übersichten zu Lagerbeständen. Es sind gerade diese Unterlagen, die den Alltag solch einer Behörde nachvollziehbar werden lassen und durch die die vorherrschende, wohlorganisierte Banalität eine äußere Gestalt bekommt.32 Als wesentlicher Teil der Sachakten sind neben den Bestimmungs - und den Schriftwechselakten außerdem die Personalunterlagen zu bezeichnen.33 Dazu zählen : Personalakten, Personalnachweise, Personalnebenhefte, Beurteilungen, Kur - und Krankenpapiere, Offiziers - und Truppenstammrollen, Verzeichnisse von Unteroffizieren, Mannschaften und zivilem Personal, im weiteren Sinne auch Telefon - und Adressverzeichnisse, Dienstzimmerverzeichnisse sowie Wohnungsund Geburtstagslisten. Insgesamt 132 von 527 Einzelakten des Sachaktenbestandes enthalten »reine Personalsachen«, also Personalakten oder zumindest Zusammenstellungen von Personalpapieren. Darüber hinaus sind über diverse Kartons verteilt mehr als 200 Personalnachweise vorhanden, die sehr detailliert über die militärische und juristische Laufbahn der betreffenden Person Auskunft geben.34 Manche Personalakten sind sehr phantasievoll und wenig spartanisch angelegt und haben fast schon gestalterischen Wert, so die in eine alte Seekarte eingeschlagene Personalakte des Vizeadmirals Theodor Arps, geboren 1884 in Holstein.35 Andere Akten lassen Einblicke in tägliche Abläufe und Einschätzungen zu, die aus reinen Verfahrens - oder Verwaltungsakten nicht zu gewinnen wären,
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Für das Jahr 1942 findet sich beispielsweise ein Vertrag mit der Schweinemästerei Karl Blisse in Berlin - Wilmersdorf, der für einen festgelegten Betrag die Küchenabfälle des RKG – damals noch in Berlin - Charlottenburg ansässig – verwerten durfte. Nebenbei mästete Blisse für die Küche des Gerichts seit Oktober 1942 ein Schwein. Im Mai 1943 kaufte die Küche das inzwischen etwa vier Zentner schwere Tier finanztechnisch korrekt zum Schlachthofpreis zurück (Karton 10, Akte 2/14). Die Erfassung und punktuelle Auswertung eines Teils dieser Unterlagen ist in ein Projekt von Claudia Bade eingeflossen, zu dem 2014 eine Publikation mit dem Arbeitstitel »Lebensläufe und Spruchpraxis von Wehrmachtrichtern« geplant ist. Neben den Kartons, die ausschließlich Personalunterlagen enthalten, findet sich eine größere Sammlung von 58 Personalnachweisen in einem separaten Hefter in den dem Bürodirektor zuzuordnenden Dokumenten ( Karton 22, Akte 4/20). Manche dieser Unterlagen sind jedoch einzeln und ohne erkennbaren Zusammenhang abgelegt. Der Personalnachweis von RKG - Rat Erich Lorenzen beispielsweise befindet sich in einer Akte mit der Aufschrift »RKG. Wohnungs und Geburtstagliste der Offiziere, Beamten und Angestellten« ( Karton 10, Akte 2/29). Weitere Personalsachen zu ihm gibt es nicht. Karton 66, Personalakte Arps.
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z. B. ein über ein ganzes Jahr geführtes Tagebuch des Generalrichters Schreiber.36 Manches Einzelstück lässt jedoch auch den Gedanken zu, die Auswertung zunächst einem Psychologen zu überlassen : So begann der spätere Senatspräsident Otto Neumann im Jahr 1930 oder früher mit der Organisation der Formalitäten, die sein eigenes Ableben und die Bestattung betrafen. Nachdem er zunächst noch das Arrangement von Säbel und Stahlhelm auf seinem Sarg genau festgelegt hatte, entschied er sich 1931 – gemeinsam mit seiner Ehefrau – für eine Einäscherung. Dadurch änderte sich das Arrangement. Neumann erstellte eine später mehrfach geänderte Liste mit potentiellen Empfängern einer Benachrichtigung über seinen Tod und gab beizeiten den Text für eine Zeitungsanzeige vor, die nach seinem Ableben veröffentlicht werden sollte. In den folgenden Jahren änderte er seine Dienstbezeichnung in der Zeitungsanzeige und passte sie den Gegebenheiten an : aus »Oberregierungsrat« wurde schließlich »Oberkriegsgerichtsrat«. Nicht geändert wurde der Passus, wonach Neumann »nach kurzer Krankheit heute früh entschlief«.37 Woran und zu welcher Tagesstunde der inzwischen 85 Jahre alte Otto Neumann im November 1969 tatsächlich verstarb, ist bisher nicht bekannt. Die Listen
Für die Mehrheit der Personen, die vom RKG verurteilt worden sind, dürften die über 40 erhalten gebliebenen Strafprozesslisten ( StPL ) der verschiedenen Abteilungen der RKA sowie der Senate die umfangreichsten Rahmendaten der einzelnen Verfahren enthalten. Ergänzt werden die StPL durch mehrere Vollstreckungslisten ( VL ), eine Liste der beantragten Wiederaufnahmeverfahren sowie diverse Terminkalender der Senate. Bis auf die »Wiederaufnahmeliste« sind alle anderen Listen mehr oder weniger fragmentarisch überliefert. Für viele vom RKG verurteilte Personen sind die Listen die einzigen Unterlagen, die – wegen fehlender anderer Dokumente – überhaupt Informationen zu ihnen enthalten. Von größter Bedeutung sind sie vor allem bei Beschuldigten, deren Angelegenheiten am RKG geprüft, dann aber »an den Einsender zurück« oder an andere Gremien abgegeben wurden. Über die Listen lassen sich Wege und Instanzen genau verfolgen; sie gestatten es, dort gezielt weiter zu recherchieren, wo die beim RKG zu findenden Informationen enden. Zunächst werden in den StPL der Zeitpunkt des Eingangs der Ermittlungsakten und vor allem die Institutionen genannt, die eine Bearbeitung durch die
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Karton 19, Akte 3/49. Die Personalakte Schreibers befindet sich in Karton 70. Daneben hat er als Senatspräsident in zahlreichen Einzelunterlagen sowie der Urteilssammlung seine Spuren hinterlassen. Schnellhefter mit der Aufschrift »Bestimmungen für den Todesfall« ( Karton 38, Akte 9/60).
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Anklagebehörde des RKG beantragt oder veranlasst hatten. Dabei handelt es sich vorwiegend um Gerichte des Ersatz - und des Feldheeres, die Gestapo, Sondergerichte und den VGH. Aufgrund der engen Abstimmung mit dem VGH prüfte das RKG z. B. die Übernahme von Hoch - und Landesverratssachen ehemaliger politischer Aktivisten von KPD und SPD, die zwischenzeitlich bei der Wehrmacht Dienst taten. Bei Nicht - Übernahme des jeweiligen Falles wurde in den StPL vermerkt, an wen die Strafsache abgegeben wurde, manchmal sogar unter Angabe des dortigen Aktenzeichens und eines Resultates. Ansonsten enthalten die StPL neben diversen persönlichen Angaben der Beschuldigten ( Dienstgrade, Einheiten, Garnisonsorte, zivile Berufe ) das Datum der Anklageverfügung, der Hauptverhandlung und oft deren Ergebnis mit kurzem Tenor der Urteilsformel sowie Informationen zur Strafvollstreckung. Letztere werden vor allem durch die Angaben in den VL vervollständigt, wobei hier sicher die Vollstreckungsdaten und - orte die wichtigsten Informationen darstellen. Neben Hinrichtungsstätten finden sich in den VL die Namen von Zuchthäusern und Gefängnissen, sehr oft aber auch der Hinweis auf Übergabe des Verurteilten in den Verantwortungsbereich der Polizei, also die Einlieferung in ein Konzentrationslager. Um Entscheidungswege einzelner Strafverfahren nachvollziehen zu können, bieten die Terminkalender wichtige zusätzliche Informationen. In ihnen sind z. B. die Hauptverhandlungsorte enthalten, sofern nicht am jeweiligen Sitz des RKG (Berlin, Torgau ) selbst getagt wurde, zudem Verfahrensaussetzungen oder andere wichtige Details. Nur über den Terminkalender des 2. Senats für das Jahr 1944 ist beispielsweise feststellbar, wer in der Verhandlung gegen die katholischen Geistlichen Friedrich Lorenz (1897–1944) und Herbert Simoleit (1908–1944) die Urteilsverkündung vornahm, nachdem sich der zuständige Richter, Senatspräsident Werner Lueben (1894–1944), in der Nacht davor erschossen hatte.38 Für die Rekonstruktion der folgenden Entscheidungen war dieses Detail von einiger Bedeutung. Wesentliche Informationen enthält eine »Zuteilungsliste für Strafsachen«, in der insgesamt 939 Strafsachen aus dem Zeitraum 1. Oktober 1942 bis 19. April 1945 zusammengestellt sind. Auch aus dieser Liste erfährt man Daten von Hauptverhandlungen sowie die jeweiligen Verhandlungsorte. Hilfreich ist sie jedoch besonders durch in der Bemerkungsspalte notierte Namen von Widerstandsgruppen oder Ermittlungsbegriffe. So sind zusammenhängende, aber an gelegentlich weit auseinanderliegenden Tagen abgeurteilte Gruppen zu identifizieren, wie die französische Widerstandsorganisation Réseau Alliance ( bekannt auch als »Organisation Faye«, Verfahrenskomplex in Freiburg i. Brsg.) und die polnische Organisation »Eidechse«, deren einzelne Mitglieder sich zu Tarnzwecken Tiernamen gegeben hatten. 38
Vgl. Kapitel 6, Forschungsmöglichkeiten, »Stettiner Priester«.
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Die Listen, allen voran StPL und VL, bilden bei nahezu jeder Recherche zu (potentiellen ) Verurteilten die unverzichtbare Voraussetzung zum Erhalt eines Überblicks über ein ( mögliches ) Verfahren – und die damit verbundenen aktuellen Forschungsmöglichkeiten. Die Urteilssammlung
Die Sammlung ist unterteilt in »Urteile. Geheim« und »Urteile. Geheime Kommandosachen«; sie ist chronologisch sortiert und quartalsweise in Mappen abgelegt. Einigen Urteilen sind die Anklageverfügungen vorangestellt. Das MHA verfügt über eine Kartei der in der Sammlung auffindbaren Verurteilten. Für die Jahre 1936 bis 1941 sowie das erste Quartal 1943 weist der Bestand große Lücken auf, er muss jedoch auch für die anderen Zeiträume als lückenhaft bezeichnet werden. Dennoch enthält die Sammlung Informationen zu mehreren tausend Verurteilten. Zur Urteilssammlung sind auch sechs Kartons mit insgesamt 104 Strafsachen vorwiegend aus der Endphase des Krieges zu zählen. Diese sogenannten Senatsakten enthalten Unterlagen zu Verfahren, die in Torgau, einige jedoch auch in Wien und anderen Orten der damaligen »Ostmark« geführt worden sind. Sie lassen jedoch in vielen Fällen – offenbar wegen des nahenden Kriegsendes – keine gerichtlichen Entscheidungen mehr erkennen. Eine wichtige Untergruppe bilden zwei Mappen mit Urteilsmanuskripten. Diese handschriftlichen Dokumente enthalten die Zusammenfassung des zur Verurteilung führenden Sachverhaltes, den Strafantrag der Anklagebehörde, das Strafmaß und handschriftlich vom Präsidenten des RKG aufgetragene Bemerkungen zur Bestätigung der Urteile. In der Urteilssammlung lassen sich oft die dazugehörigen, später ausformulierten Urteile finden. Manchmal ist das Manuskript jedoch das einzige verbliebene Dokument aus einem ganzen Verfahren überhaupt oder es enthält zumindest in Einzelfällen konkrete Aussagen, wie im Fall Gasquet / Scemla beschrieben. Teilweise sind Urteile auch im Sachaktenbestand zu finden,39 häufig in den dort zugeordneten Personalunterlagen von Offizieren und Beamten.
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So befindet sich beispielsweise das Urteil des 1. Senats des RKG gegen den General der Infanterie Dietrich von Choltitz, ehemaliger Wehrmachtbefehlshaber von Paris, einschließlich Anklageverfügung ohne einzelne Aktenzuordnung in Karton 28. Der Vorgang enthält eine ganze Reihe wichtiger Dokumente im Kontext zu Choltitz’ Aufgaben bei der »Verteidigung« von Paris. Das Urteil des 3. Senats gegen den Oberschützen Fritz Jungmichel und die Kontoristin Frieda Moser ist in eine Bestimmungsakte zur Thematik »Disziplin und Rechtspflege« (Karton 64, Akte 9/20) und eine weitere Kopie in eine Akte ohne Titel ( Karton 65, Akte 12/2) eingeordnet.
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6. Forschungsmöglichkeiten Zwei Beispiele sollen an dieser Stelle die Möglichkeit der Rekonstruktion ganzer Vorgänge durch die Unterlagen des RKG illustrieren. Zunächst ist hier der Verfahrenskomplex gegen die sogenannten Stettiner Priester zu nennen, dem ab Februar 1943 eine Verhaftungsaktion der Gestapo vorausgegangen war. Diese hatte sich gegen mehr als 40 Personen aus der Stettiner Geistlichkeit gerichtet, denen wehrkraftzersetzende Äußerungen bei der Seelsorge in Wehrmachtlazaretten und Soldatenheimen, aber auch an Kriegsgefangenen unterstellt wurden. Einige standen sogar unter dem Verdacht der Spionage, denn im Einzugsbereich des Stettiner Dompropstes lagen auch die Insel Usedom und die dortige Heeresversuchsanstalt Peenemünde. Das Hauptaugenmerk der Gestapo richtete sich gleichwohl gegen den Provikar Dr. Carl Lampert (1894–1944), den Stellvertreter des Bischofs von Innsbruck, ehemaliger Häftling der Konzentrationslager Dachau und Sachsenhausen und nach Stettin strafversetzt. Im November 1944 ist Lampert gemeinsam mit zwei weiteren »Stettinern« im Zuchthaus Halle enthauptet worden.40 Gegen zehn Beschuldigte übernahm aus verschiedenen Gründen im Herbst 1943 das RKG die Verfahren. Die Ermittlungs - und Verfahrensakten selbst sind nicht mehr vorhanden. Zwar gibt es noch fast alle Urteile aus diesem Komplex, die einzelnen Verfahrensschritte und damit viele Details jedoch sind nicht mehr in Gänze zusammenzutragen. Zur weitgehenden Rekonstruktion tragen neben den Urteilen dennoch zahlreiche andere in Prag befindliche Unterlagen bei, so etwa die Strafprozesslisten, die Wiederaufnahmelisten, der Terminkalender des 2. Senats, die »Terminierungskartei« des RKG sowie Briefbücher. Letztere enthalten den Ein - und Ausgang von Schriftsätzen mit folgenden Betreff - Zeilen : Bestellung von Verteidigern, Berichterstattern und Beisitzern, Schriftverkehr der Verteidigung mit dem Gericht, Schriftverkehr mit übergeordneten Dienststellen ( OKW ), Aktenversand, Gutachterbestellung und Schriftverkehr mit der Gestapo. Ferner sind für die weitere Rekonstruktion dieses Verfahrenskomplexes noch die Personalunterlagen der beteiligten Beamten und Offiziere, Dienstreiseunterlagen ( Zeugenbefragungen ) sowie nicht zuletzt auch Aktenvernichtungs - Protokolle zu verwenden. Zahlreiche der in Prag aufbewahrten Dokumente fanden Eingang in das Verfahren zur Seligsprechung Carl Lamperts, eingeleitet Mitte der 1990er Jahre vom Bischof in Feldkirch / Vorarlberg, vollzogen im November 2011 durch Papst Benedikt XVI. Noch immer lassen selbst diese detailliert ausgewerteten Unter-
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Vgl. P. Gaudentius Walser, Dreimal zum Tod verurteilt. Carl Lampert – Ein Glaubenszeuge für Christus, Salzburg 1985; Wolfgang Knauft, »Fall Stettin« ferngesteuert, Berlin 1994; Richard Gohm ( Hg.), Selig die um meinetwillen verfolgt werden. Carl Lampert. Ein Opfer der Nazi Willkür, Innsbruck 2008.
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lagen im Rahmen der Forschung zu weiteren damals Verurteilten wichtige neue Erkenntnisse zu. Als zweites Beispiel sollen Überlegungen für ein Forschungs - und Ausstellungsprojekt zur Rechtsprechung des RKG gegen Polen skizziert werden. Bereits aus der Urteilssammlung sind folgende Kategorien unter den betroffenen Angeklagten zu identifizieren : – – – – –
Tätigkeit für den polnischen Nachrichtendienst in der Vorkriegszeit, Tätigkeit von Polen für den Nachrichtendienst der Sowjetunion, Tätigkeit für die polnische Widerstandsbewegung, Verfahren gegen polnische Kriegsgefangene, Verfahren gegen Wehrmachtangehörige polnischer Herkunft.
Die polnischen Angeklagten bilden – so die bisherige Einschätzung – die zweitgrößte nationale Gruppe nach den Deutschen unter den vom RKG abgeurteilten Personen. Um die Thematik umfassend darstellen zu können, sind in dem Prager Aktenmaterial bereits grundlegende Dokumente lokalisiert worden, die eine Einordnung von Strafverfahren gegen polnische Angeklagte oder der in den anderen Kategorien genannten Beschuldigten in das Spektrum aller vom RKG bearbeiteten Fälle zulassen. Dabei lässt sich aus den Unterlagen des RKG eine gezielte Herabwürdigung der Polen herauslesen, ebenso findet eine permanente Begründung und Betonung der Notwendigkeit strengster Bestrafung vor allem von Polen statt. Dazu gehören die in den Bestimmungsakten vorhandenen politischen Grundunterrichtungen für das Personal des RKG, wie z. B. der vom OKW von November 1939 bis Oktober 1940 initiierte Umlauf von »Aufzeichnungen über polnische Gräueltaten an den Volksdeutschen« in insgesamt drei Bänden.41 Ein weiteres deutliches Zeichen dieser Herabsetzung ist die regelmäßige Aufnahme von entsprechenden Verfahren in die turnusmäßig versandten »Zusammenstellungen wesentlicher Fälle von Landesverrat und Preisgabe von Staatsgeheimnissen« – eine Art Richterbriefe für Wehrmachtgerichte.42 Neben zahlreich vorhandenen Urteilen und den bereits für die Stettiner Priester grundlegend genannten Unterlagen und entsprechenden Listen sind für die hier aufgeworfene Problematik in anderen Akten statistische Angaben zu Verfahren in oder gegen Polen zu finden, ebenso Erfahrungsberichte von beteiligten Beamten und Offizieren und Informationen über Vollstreckungen in Polen,43 Rundschreiben zur Anwendung der sogenannten Polenstrafrechtsverordnung durch zivile und andere Wehrmachtgerichte, Berichte über Verfahren 41 42 43
Das Material gehört zu einer Akte mit dem Titel »Reichskriegsgericht. Außenpolitik. Fremde Staaten, Heere, Flotten, Dolmetscher« ( Karton 16, Akte 3/31). U. a. in Karton 23, Akte 4/26; Karton 37, Akte 9/43; Karton 48, Akte 12/1; Karton 51, Akte 13/18; Karton 53, Akte 13/20. Karton 55, Akte 13/27, Bl. 82–83.
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gegen polnische Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter vor zivilen ( Sonder - ) Gerichten und Lageberichte der Wehrmacht. Mit Hilfe der Unterlagen können nicht nur vorhandene Wissenslücken über den Justizterror gegen Polen geschlossen werden. Die Dokumente bieten darüber hinaus die Möglichkeit, zahlreiche Details, z. B. über die Tätigkeit wichtiger polnischer Widerstandsgruppen oder die Problematik der in Teilen Polens vorgenommenen Zwangsrekrutierungen, – wenn auch jeweils aus Sicht der Wehrmachtjustiz – zu erfahren. Abschließend sei noch einmal darauf verwiesen, dass das RKG das einzige Gericht der deutschen Wehrmacht gewesen ist, das während des Krieges nicht nur an vielen Orten Europas getagt, sondern vor allem mit den tausenden Verfahren an seinen Hauptsitzen in Deutschland und auch in Österreich die Widerstandsbewegungen in den besetzen Ländern mit großer Energie bekämpft hat. In den Unterlagen des RKG, die in Prag verwahrt werden, finden sich nicht nur die Urteile gegen viele dieser Widerstandskämpfer, Zwangsrekrutierten, zwischen die Räder der Kriegswirtschaft geratenen oder einfach um ihr persönliches Überleben kämpfenden Menschen eines ganzen Kontinents. Wir finden in den Akten des Gerichts auch grundlegende Entwicklungen der Wehrmachtjustiz, Entscheidungswege – und nicht zuletzt die Personalunterlagen der Täter. Die Bedeutung des Bestandes in Prag liegt daher auf der Hand : Wer auch immer die Tätigkeit einzelner deutscher Wehrmachtgerichte oder die Verfolgungsgeschichte kleiner oder großer, regional bedeutender oder ganzer nationaler Gruppen bearbeitet, wird bei der Suche nach Details hier fündig werden. Zudem sind durch die umfassende Auswertung der Unterlagen immer noch wesentliche Erkenntnisse über die Bedeutung der Justiz bei der »Aufrechterhaltung der Manneszucht« in der Wehrmacht zu gewinnen. Das gilt ebenso für die Beteiligung des RKG am Justizterror in den besetzten Ländern Europas sowie gegen deren Staatsangehörige, die sich in Deutschland befanden oder hierher verschleppt wurden.
Maria Fritsche Männlichkeit als Forschungskategorie ? Vom Nutzen gendertheoretischer Ansätze für die Militär - und Militärjustizgeschichte
Militär und Männlichkeit – diese Begriffe sind auch heute noch, trotz der weitgehenden Öffnung der Armeen für Frauen, eng miteinander verknüpft. Kaum eine Institution ist stärker männlich konnotiert als das Militär. Das Militär als »Schule der Nation«1 in Kombination mit der im 19. Jahrhundert in weiten Teilen Europas eingeführten allgemeinen Wehrpflicht formte die Körper und das Denken ganzer Generationen von Männern – der soldatische Habitus wurde nun auch im zivilen Bereich zum Merkmal idealer Männlichkeit.2 Das Thema Geschlecht bzw. Gender – definiert als »category imposed on a sexed body«3 – wurde in der Militärgeschichtsschreibung bislang nur am Rande, im Zuge der Etablierung der neuen kritischen Militärgeschichte, thematisiert. Auch in der Politik -, Wirtschafts - oder Justizgeschichte wurde ( und wird ) die Relevanz von Geschlecht als konstitutivem Element sozialer Beziehungen und Ausdruck von Machtverhältnissen allzu oft ignoriert.4 Ein Grund für die Vernachlässigung gendertheoretischer Fragestellungen ist, dass Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler verschiedenster Fachrichtungen den Begriff Geschlecht / Gender häufig mit dem Thema »Frau« gleichsetzen. Traditionelle Rollen - und Machtverteilung fortschreibend, wird Gender auf Weiblichkeit reduziert, mit sogenannten weichen Themen wie Familie, Soziales oder Kultur verknüpft und auf diese Weise gerne zu einem Randthema akademi1 2
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Vgl. Ute Frevert, Die kasernierte Nation. Militärdienst und Zivilgesellschaft in Deutschland, München 2001. Vgl. Wolfgang Schmale, Geschichte der Männlichkeit in Europa (1450–2000), Wien 2003, S. 199. Das 1996 von Raewyn ( früher : Robert ) Connell vorgestellte Konzept der »hegemonialen Männlichkeit«, das die weitere Männlichkeitsforschung nachhaltig beeinflusste, versucht analytisch zu fassen, wie das als »harte Männlichkeit« definierte Männlichkeitsideal im Laufe des 19. Jahrhunderts gesellschaftliche Dominanz erringen und seine Vormacht verfestigen konnte. Vgl Raewyn Connell, Masculinities, Cambridge 1996. Joan W. Scott, Gender. A Useful Category of Historical Analysis. In : The American Historical Review, 91/5 (1986), S. 1053–1075, hier 1056. Vgl. ebd., S. 1067–1069.
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schen Interesses erklärt. Die Kategorie Gender, wie Joan W. Scott bereits 1986 in ihrem Grundlagentext »Gender : A Useful Category of Historical Analysis« hervorhob, scheint vielen Historikerinnen und Historikern höchstens da relevant, wo es um die Beziehungen zwischen den Geschlechtern geht.5 In Bereichen, die von männlichen Akteuren dominiert werden, wie der Wirtschaft, Politik, Diplomatie oder eben dem Militär, und in denen – oberflächlich betrachtet – Geschlechterbeziehungen keine Rolle spielen, gilt Gender deshalb irrigerweise häufig als irrelevante Kategorie. Trotz der bahnbrechenden Studien des Sozialwissenschaftlers Klaus Theweleit, der als einer der Ersten Mitte der 1970er Jahre das Thema Männlichkeit aufgegriffen und die Wurzeln und die Wirkungsmacht des faschistischen Männerbildes analysiert hatte,6 trotz der Arbeiten von Thomas Kühne zur soldatischen Kameradschaft,7 oder der Studien von Karen Hagemann8 und Ute Frevert,9 die beide den Nexus von Militär, Nation und Geschlecht beleuchteten und dabei die Konstruktionsprozesse von Männlichkeitsidealen und deren Verwobenheit mit dem nationalen Staatsbürgertum aufzeigten, steht in den meisten Forschungsarbeiten zur Militär - und Militärjustizgeschichte eine tiefergehende analytische und empirisch fundierte Auseinandersetzung mit der Kategorie Geschlecht nach wie vor aus. Mann und Männlichkeit, darauf sei hier hingewiesen, sind nicht dasselbe : Der Begriff der Männlichkeit beschreibt Normen, idealtypische Vorstellungen, gesellschaftliche Leitbilder, die jedoch durch ihre Macht, zu definieren, was als männlich und unmännlich gilt, ganz reale Wirkung entfalten und das Denken und Empfinden individueller Männer und Frauen prägen. Männlichkeit ist, wie auch Weiblichkeit, immer im Plural zu denken – als eine Hierarchie von unterschiedlichen Geschlechterentwürfen, die um gesellschaftlichen Einfluss ringen. Die
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Vgl. ebd., S. 1057. Vgl. Klaus Theweleit, Männerphantasien, Frankfurt a. M. 1977. Vgl. etwa Thomas Kühne, »... aus diesem Krieg werden nicht nur harte Männer heimkehren.« Kriegskameradschaft und Männlichkeit im 20. Jahrhundert. In : Thomas Kühne ( Hg.), Männergeschichte – Geschlechtergeschichte. Männlichkeit im Wandel der Moderne, Frankfurt a. M. 1996, S. 174–192; ders., Kameradschaft. Die Soldaten des nationalsozialistischen Krieges und das 20. Jahrhundert, Göttingen 2006. Karen Hagemann, Venus und Mars. Reflexionen zu einer Geschlechtergeschichte von Militär und Krieg. In : Karen Hagemann / Ralf Pröve ( Hg.), Landsknechte, Soldatenfrauen und Nationalkrieger. Militär, Krieg und Geschlechterordnung im historischen Wandel, Frankfurt a. M. 1998, S. 13–48; dies., Home / Front. The Military, Violence and Gender Relations in the Age of the World Wars. In : Karen Hagemann / Stefanie Schüler - Springorum ( Hg.), Heimat - Front. Militär und Geschlechterverhältnisse im Zeitalter der Weltkriege, Frankfurt a. M. 2002, S. 1–41; dies., German Heroes. The Cult of the Death for the Fatherland in Nineteenth - Century Germany. In : Stefan Dudink / Karen Hagemann / John Tosh ( Hg.), Masculinities in Politics and War. Gendering Modern History, Manchester 2004, S. 116–134. Vgl. Ute Frevert, Soldaten, Staatsbürger. Überlegungen zur historischen Konstruktion von Männlichkeit. In : Kühne, Männergeschichte, S. 69–87; dies., Nation.
Männlichkeit als Forschungskategorie ?
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Soziologin Raewyn Connell, die das einflussreiche Konzept der »hegemonialen Männlichkeit« entwickelte, betonte nachdrücklich, dass Männlichkeiten in Relation und in einer Konkurrenzbeziehung zueinander stehen.10 Ein zentrales Themenfeld der Geschlechter - und Männlichkeitsgeschichte bildet denn auch die Frage, wie und warum ein bestimmtes Männlichkeitsideal zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt eine hegemoniale Position erringen kann ( und so das Denken und Handeln einer ganzen Gesellschaft zu beeinflussen vermag ), und welche Männlichkeiten im Kampf um die Vorherrschaft unterliegen. Geschlecht bzw. Männlichkeit als forschungsleitende Kategorie anzuwenden, bedeutet auch, neue Fragen zu stellen – Fragen, die bislang aufgrund der oben angesprochenen »Geschlechterblindheit« vieler Forschungsansätze nicht gestellt wurden. So hat erst die Perspektive auf die soziale Konstruiertheit von Geschlecht gezeigt, wie stark im NS - Staat das Denken und Handeln der politischen, militärischen und juristischen Eliten, aber auch der einfachen Soldaten vom hegemonialen Idealbild des »harten« Mannes, oder von dessen übersteigerter, nationalsozialistischer Version des stählernen, gefühlskalten, opferwilligen Soldaten beeinflusst wurde.11 Der Grund, wieso sich im Laufe des 19. Jahrhunderts in den meisten westlichen Gesellschaften gerade die Version der »harten Männlichkeit« als hegemoniale Norm durchsetzen konnte, lag zum einen im Erstarken der nationalistischen Strömungen, welche den disziplinierten, mutigen, physisch wie mental starken Mann, der bereit und imstande war, für seine Nation zu kämpfen und notfalls auch zu sterben, zum Leitbild erhob.12 Zum anderen konnten diese Wertvorstellungen erst durch die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht, die Schulpflicht und das sich im 19. Jahrhundert ausbreitende Pressewesen eine weite Verbreitung und Akzeptanz in der Bevölkerung finden.13 Da der militärische
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Vgl. Connell, Masculinities, S. 76–81; dies., Gender and Power. Society, the Person and Sexual Politics, Cambridge 1987, S. 183. Vgl. George L. Mosse, The Image of Man. The Creation of Modern Masculinity, New York 1998, S. 155–180; Ernst Hanisch, Männlichkeiten. Eine andere Geschichte des 20. Jahrhunderts, Wien 2005, S. 71–88; Anette Dietrich / Ljiliana Heise ( Hg.), Männlichkeitskonstruktionen im Nationalsozialismus. Formen, Funktionen und Wirkungsmacht von Geschlechterkonstruktionen im Nationalsozialismus und ihre Reflexion in der pädagogischen Praxis, Frankfurt a. M. 2013. Zur Ungleichzeitigkeit der Etablierung des Ideals »harter Männlichkeit« in Europa vgl. Christa Hämmerle, Zur Relevanz des Connell’schen Konzepts hegemonialer Männlichkeit für Militär und Männlichkeit / en in der Habsburgermonarchie (1868–1914/18). In : Martin Dinges ( Hg.), Männer – Macht – Körper. Hegemoniale Männlichkeiten vom Mittelalter bis heute, Frankfurt a. M. 2005, S. 103–121, hier 116–119. Vgl. etwa Frevert, Nation; Stefanie Schüler - Springorum, Vom Fliegen und Töten. Militärische Männlichkeit in der deutschen Fliegerliteratur, 1914–1939. In : Hagemann / Schüler - Springorum, Heimat - Front, S. 208–233. Für den britischen Raum : John Tosh, Manliness and Masculinities in Nineteenth - Century Britain. Essays on Gender, Family and Empire, Harlow 2005, S. 192–213. Für Österreich : Hanisch, Männlichkeiten, S. 17–123.
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Disziplinierungsprozess nun nahezu alle Männer erfasste, welche die während ihrer Militärzeit aufgesogenen Vorstellungswelten und Ideale ins zivile Leben mitnahmen, militarisierte sich die zivile Gesellschaft zusehends. Nicht nur im militaristischen Preußen, sondern auch in anderen Staaten, wie etwa in Großbritannien, wurde Männlichkeit zunehmend militärisch konnotiert : »governed by a public, military code – one geared to action and combat.«14 Diese zeitgenössischen Diskurse idealer Männlichkeit fanden auch ihren Niederschlag in gesetzlichen Normen, militärischen Verordnungen sowie der Spruchpraxis der Militärgerichte und durchdrangen so das Leben individueller Menschen. Dabei muss herausgestrichen werden, dass auch Frauen eine zentrale Rolle in der Konstruktion von Männlichkeiten spielen – sei es, indem sie als Mütter und Erzieherinnen Männlichkeitsnormen weitervermitteln, sei es, dass sie als Mitglieder der Gesellschaft diese hochhalten und damit deren Dominanz stärken.15 Welche neuen Erkenntnisse verspricht nun aber eine gendertheoretische Perspektive auf die Wehrmachtjustiz, ihre Akteure und ihre Opfer ?16 Wie lässt sich die Kategorie Männlichkeit nutzbringend in die Erforschung der NS - Militärjustiz einbeziehen ? Diese Fragen werde ich im Folgenden diskutieren und dabei aufzeigen, wie eng Geschlecht mit der sozialen und der politischen Ebene verwoben ist. Die besondere Härte, mit der Deserteure in der NS - Zeit bestraft wurden, lässt sich nicht allein mit der menschenverachtenden nationalsozialistischen Ideologie oder mit militärischen Gehorsamsprinzipen erklären.17 Vielmehr ist das Feindbild des Deserteurs, das die nationalsozialistischen Eliten in »Großdeutschland« propagierten, auch ein Ausdruck wirkmächtiger männlicher Leitbilder, welche die Vorstellungen der Verfolger von »richtigem« männlichem Verhalten prägten. Der gegen Deserteure, Selbstverstümmler oder Kriegsdienstverweigerer gerichtete Hass der Wehrmachtrichter lässt sich nur verstehen, wenn wir uns klar werden, wie enorm der Einfluss der alle Lebensbereiche durchdringenden hegemonialen Norm »harter Männlichkeit« zu dieser Zeit war. Die Begriffe, mit denen in der NS - Zeit Deserteure und Männer, die »nicht soldatisches« Benehmen zeigten, diffamiert wurden, illustrieren, dass sowohl deren innere Haltung ( etwa durch die Charakterisierung als treuebrüchig, ehrlos,
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Sonya O. Rose, Fit to Fight but Not to Vote ? Masculinity and Citizenship in Britain 1832–1918. In : Stefan Dudink / Karen Hagemann / Anna Clark ( Hg.), Representing Masculinity. Male Citizenship in Modern Western Culture, New York 2007, S. 131–150, hier 141. Raewyn Connell / James W. Messerschmidt, Hegemonic Masculinity : Rethinking the Concept. In : Gender & Society, 19/6 (2005), S. 829–859, hier 848. Vgl. etwa Magnus Koch, Fahnenfluchten. Deserteure der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg. Lebenswege und Entscheidungen. Paderborn 2008. Vgl. Maria Fritsche, Proving One’s Manliness. Masculine Self - perceptions of Austrian Deserters in the Second World War. In : Gender & History, 24/1 (2012), S. 35–55, hier 36.
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als Verräter oder Feigling ) als auch deren äußere Haltung als defizitär betrachtet wurde. So verweisen beispielsweise bildhafte Beschreibungen wie »Schwächling« oder »Schlappschwanz«, die sich in Befehlen oder Gerichtsakten finden lassen, explizit auf fehlende Muskelkraft und Potenz.18 Die im April 1943 von Großadmiral Karl Dönitz, dem Oberbefehlshaber der Kriegsmarine, aufgestellte Forderung an die Kriegsgerichte, »das Versagen solcher treulosen Schwächlinge [gemeint sind Deserteure ] allein an der bis zum Tode getreuen Einsatzbereitschaft aller anständigen Soldaten ( zu ) messen«,19 verdeutlicht, wie geschlechtsspezifische Normierungen das Denken der Wehrmachtführung prägten. Das argumentative Gegensatzpaar von »treulosen Schwächlingen« und »anständigen Soldaten« beschreibt den ( deutschen ) Soldaten als physisch stark und mental gefestigt; zudem setzt es den damals häufig verwendeten Begriff der Anständigkeit mit unbedingter Loyalität (»bis zum Tode getreu«) gleich. Der Loyalität dieser Soldaten stellt Dönitz die »Treuelosigkeit« des Deserteurs gegenüber Volk, »Führer« und Kameraden entgegen, wobei sich die als moralische Schwäche charakterisierte Untreue auch in einer äußerlich erkennbaren körperlichen Schwäche (»Schwächling«) zu widerspiegeln scheint. Bei der Gleichsetzung der äußeren mit der inneren Haltung handelt es sich um eine Denkfigur, wonach sich im ( männlichen ) Körper die geistige und emotionale Haltung manifestiert. Schon in der griechischen Antike diente die gezielte sportliche Betätigung dem Zweck, bestimmte Wertvorstellungen in den Körper einzuschreiben – ein trainierter, gesunder Körper repräsentierte einen »vortrefflichen Geist«.20 Im 19. Jahrhundert wurde die disziplinäre »Zurichtung« des männlichen Körpers zum wesentlichen Bestandteil der militärischen Ausbildung, durch die der Wille des einzelnen Soldaten gebrochen und seine physischen Kräfte kanalisiert werden sollten. Mit der Disziplinierung des Körpers und Geistes sollten unkontrollierte Aggressionsausbrüche, die sich auch gegen die staatliche Macht richten konnten, verhindert und der Soldat lenkbar gemacht werden.21 In dieser Vorstellungswelt verkörperte der Deserteur die Antithese zum guten Soldaten, weil er sich der totalen Kontrolle entzog und damit den Herrschaftsanspruch der kontrollierenden Befehlsmacht in Frage stellte. Weil in den zunehmend militarisierten westlichen Gesellschaften des späten 19. Jahr-
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Vgl. etwa Manfred Messerschmidt / Fritz Wüllner, Die Wehrmachtjustiz im Dienste des Nationalsozialismus. Zerstörung einer Legende, Baden - Baden 1987, S. 92. Erlass des Oberbefehlshabers der Kriegsmarine vom 27.4.1943. Zit. nach Rudolf Absolon, Das Wehrmachtstrafrecht im 2. Weltkrieg. Sammlung der grundlegenden Gesetze, Verordnungen und Erlasse, Kornelimünster 1958, S. 78. Vgl. Tanja Scheer, Griechische Geschlechtergeschichte, München 2011, S. 33. Vgl. Anna Clark, The Rhetoric of Masculine Citizenship. Concepts and Representations in Modern Western Political Culture. In : Dudink / Hagemann / Clark ( Hg.), Representing, S. 3–22, hier 4.
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hunderts Gefühlskontrolle und Pflichttreue mehr und mehr zum Maßstab idealer Männlichkeit wurden, wurde der Deserteur, der seinem »Eigensinn« folgte, häufig als »feige« und »unmännlich« charakterisiert – eine Zuschreibung, die es ein Jahrhundert zuvor noch nicht gegeben hatte. Unter der nationalsozialistischen Herrschaft kam es zu einer Radikalisierung des Ideals der »harten« Männlichkeit. Die Wehrmachtsführung, der bereits ein Offizier, der sich »in Stille von Zweifeln erfassen lässt« als »wankelmütig und dadurch wertlos«22 galt, interpretierte die Fahnenflucht als ultimative Auflehnung gegen die Staatsmacht und ihre Ideologie. Der bereits zitierte Erlass von Dönitz23 verweist auf die Diskrepanz zwischen Wunsch - und Fehlverhalten : Demnach zeichnet sich der ideale Soldat ( und Mann ) durch seine Bereitschaft aus, bereitwillig für den »Führer« und sein Volk zu sterben. Nachdem der Deserteur dieses Opfer verweigerte, sollte ihm, wie die Formulierung »an der bis zum Tode getreuen Einsatzbereitschaft aller anständigen Soldaten messen« illustriert, das Leben als Strafe für seine Unzulänglichkeit abverlangt werden. Diese Sichtweise teilten viele Wehrmachtrichter. Das in Verfahrensakten der NS - Militärjustiz gebetsmühlenartig wiederholte Argument, wonach eine harte Bestrafung des Angeklagten aus Rücksicht auf die Erhaltung der »Manneszucht« unumgänglich wäre, illustriert aber auch, wie sehr die von den Nationalsozialisten propagierte Männlichkeitsnorm als bedroht empfunden wurde und deshalb auch mit Zwang durchgesetzt werden musste. Der deutsche Begriff der Manneszucht, ein militärischer Terminus, der im 18. Jahrhundert populär wurde, impliziert viel mehr als männliche Disziplin. Manneszucht umschreibt sowohl den Disziplinierungsprozess, dem die Männer während ihrer militärischen Ausbildung und ihres Wehrdienstes unterworfen werden, als auch dessen Endresultat, nämlich der disziplinierte und gefühlskontrollierte Mann, der Befehle kritiklos ausführt. Als Mittel zur wirksamen Durchsetzung der Manneszucht und der dauerhaften Verankerung in den Köpfen der Soldaten, fungierten die körperliche Ertüchtigung, das Exerzieren, die regelmäßige Belehrung über Pflichten und wünschenswertes Verhalten, Sanktionen und Belobigungen, eine klare militärische Hierarchie sowie die Abgrenzung vom zivilen Bereich und das Leben in einer ausschließlich männlichen Gemeinschaft.24 Doch auch der Begriff der Manneszucht war einer Entwicklung unterworfen und wurde von den Nationalsozialisten radikalisiert. Manneszucht, wie sie in der
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Verfügung des Chefs des Heerespersonalamtes Nr. 300/45 geheim Ag P 2/ Chefgr. 1a über die Erziehung und Haltung des Offiziers. Zit. nach Rudolf Absolon, Die Wehrmacht im Dritten Reich, Band VI, 19.12.1941 bis 9.5.1945, Boppard am Rhein 1995, S. 400. Vgl. Erlass des Oberbefehlshabers der Kriegsmarine vom 27. 4. 1943. Zit. nach Absolon, Wehrmachtstrafrecht, S. 78. Vgl. etwa Frevert, Nation.
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Sprache der Wehrmacht und Wehrmachtjustiz verwendet wurde, verknüpfte militärische mit nationalsozialistischen Werten : Härte, Selbstkontrolle, Virilität, Mut, die Bereitschaft, sein Leben für das deutsche Volk zu opfern und absolute Loyalität zum Führer, welche sich durch kritiklose Gefolgschaft auszeichnete.25 Mit dem vage formulierten Passus, dass »strafbare Handlungen gegen die Manneszucht oder das Gebot des soldatischen Mutes [...] mit dem Tode zu bestrafen« seien, versuchte der Gesetzgeber diese Vorstellungen von einem »idealen« männlichen Verhalten notfalls auch mit Gewalt durchzusetzen.26 Ein Deserteur, der seine Einheit eigenmächtig verließ, verstieß also nicht nur gegen die militärische Ordnung, sondern legte damit auch seine Missbilligung der geltenden männlichen Normen offen. Er galt den Befehlshabern und Militärrichtern in NS - Deutschland als besonders gefährlich, weil er mit seiner Entziehung das Herrschaftssystem, das sich auf diese Normen stützte, untergrub. Um die herrschende Männlichkeitsnorm zu bestätigen und damit gleichzeitig den Zusammenhalt der Männergruppe zu stärken, wurde der Deserteur demonstrativ aus der Gruppe ausgeschlossen und seiner Männlichkeit symbolisch beraubt. Nicht nur die Abnahme von Rangabzeichen, Orden oder Schulterklappen diente diesem Zweck, sondern auch die Zuschreibung femininer Charakteristiken und das Absprechen männlicher Tugenden.27 Als ultimative Demütigung männlichen Selbstbewusstseins ist Heinrich Himmlers Aufruf zu werten, der im Januar 1945 »die deutschen Frauen und Mädchen« aufforderte, »Drückebergern [...] statt Mitleid Verachtung entgegenzubringen und hartnäckige Feiglinge mit dem Scheuerlappen an die Front zu hauen«.28 Das hier gezeichnete Bild, in dem Frauen einen Deserteur oder Verweigerer mit einem Putzlappen disziplinieren, sollte den Mangel an männlicher Stärke und Ehrgefühl des schimpflich Gejagten demonstrativ zum Ausdruck bringen. Um die Verwobenheit von Macht und Männlichkeit, wie sie etwa hier in der Frage der Manneszucht kurz skizziert wurde, sichtbar zu machen, aber auch die Wirkmächtigkeit von Männlichkeitsnormen und ihre Grenzen sowie die Ver-
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Vgl. Mosse, Image, S. 155–180. Annette Timm hat auf den hohen Stellenwert von Virilität und männlicher Potenz im nationalsozialistischen Denken verwiesen. Eine aktive männliche (Hetero )Sexualität galt als Garant für männliche Kampfkraft und damit auch für die militärische Stärke der Nation. Vgl. Annette Timm, Sex with a Purpose. Prostitution, Venereal Disease and Militarized Masculinity in the Third Reich. In : Journal of the History of Sexuality, 11/1 (2002), S. 223–255. Vgl. Erste Verordnung zur Ergänzung der Kriegssonderstrafrechtsverordnung ( KSSVO ) § 5a, vom 1.11.1939. In : RGBl. 1939 I, S. 2131. Vgl. Absolon, Wehrmacht, S. 567. Zit. nach Stefanie Reichelt, »... Feiglinge mit dem Scheuerlappen an die Front zu hauen !« Münchner Frauen im Konflikt mit Wehrmacht - und Sondergerichtsbarkeit. In : Sybille Krafft (Hg.), Zwischen den Fronten. Münchner Frauen im Krieg und Frieden 1900–1950, München 1995, S. 342–359, hier 350.
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knüpfung von Männlichkeit mit anderen gesellschaftlichen Strukturkategorien wie Ethnizität, Klasse, Religion oder regionaler Zugehörigkeit herauszuarbeiten, gilt es, die Frage des Geschlechts auf verschiedenen Ebenen zu beleuchten.29 Thomas Kühne hat drei Hauptforschungsgebiete der Männlichkeitsgeschichte ausgemacht :30 Erstens die Ebene der Diskurse – also die Frage, wie Männlichkeitskonzepte konstruiert und wirkmächtig werden, in welchem Verhältnis sie zu konkurrierenden gruppen - oder milieuspezifischen Männlichkeitsvorstellungen stehen und wie sie sich diesen gegenüber behaupten bzw. die Oberhand gewinnen. Zweitens die Ebene der sozialen Praxis, d. h. die Frage, wie und durch wen Männlichkeitsnormen im täglichen Leben durchgesetzt werden, wie diese Normen durch die Praxis des »doing gender« reproduziert, aber auch modifiziert werden. Hier gilt es auch die Konfliktfelder zu analysieren, die entstehen, wenn sozial, religiös, ethnisch oder regional unterschiedlich geprägte Männlichkeitsideale um Einfluss konkurrieren. Und drittens die Ebene der subjektiven Erfahrung, die Frage also, wie individuelle Männer ihr Mannsein erfahren, welches Selbstbild sie von sich entwickeln, wie sie mit konkurrierenden Männlichkeitsidealen umgehen, und wie stark die dominante Männlichkeitsnorm das Alltagsleben und die Identität von Individuen prägt. Zweifellos ist eine scharfe Trennung der einzelnen Ebenen kaum möglich, denn insbesondere die Bereiche der diskursiven Konstruktion und der sozialen Praxis, die in kontinuierlichem Wechselspiel Normen produzieren und bestätigen, sind eng miteinander verknüpft. Aufschlüsse über die diskursive Konstruktion von Männlichkeiten lassen sich z. B. über die Untersuchung von Mediendiskursen, politischen Programmen und Reden, Gesetzen, politischen und juristischen Beschlüssen und Erlassen, militärischen Verordnungen oder Gesetzesauslegungen von Militärjuristen gewinnen. Einblicke in die soziale Praxis von Männlichkeiten können gerichtliche Verfahrensakten, medizinische Gutachten, Anordnungen und Vorschriften von Befehlshabern, aber auch die Auswertung von Druckwerken, Zeitungsartikeln, Filmen und Radiosendungen geben. Doch wie könnte eine Untersuchung dieser beiden Ebenen in der Forschungspraxis konkret aussehen ? Nehmen wir das Beispiel eines zeitgenössischen, vom Militärstrafrechtler Erich Schwinge verfassten Gesetzeskommentars aus dem Jahre 1943. Schwinge, der im Nachkriegsdeutschland als Universitätsprofessor und Rektor der Universität Marburg lange Zeit sehr erfolgreich den Mythos von der »sauberen« und »widerständigen« Wehrmachtjustiz in der Öffentlichkeit propagieren konnte, war 29 30
Jürgen Martschukat / Olaf Stieglitz, Geschichte der Männlichkeiten, Frankfurt a. M. 2008, S. 26. Thomas Kühne, Männergeschichte als Geschlechtergeschichte. In : Kühne, Männergeschichte, S. 7–30, hier 23.
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im Krieg als Wehrmachtrichter tätig.31 Während der NS - Zeit verfügte Schwinge als Verfasser von Kommentaren zum Militärstrafgesetzbuch ( MStGB ) und zur 1938 erlassenen Kriegssonderstrafrechtsverordnung ( KSSVO ), die sowohl Pflichtlektüre für die Studenten der Rechtswissenschaften waren, als auch von vielen Wehrmachtjuristen als Hilfe bei der Urteilsfindung und Strafzumessung herangezogen wurden, über großen Einfluss. Schwinges Gesetzeskommentare bewegen sich daher an der Schnittstelle zwischen der Konstruktion von Männlichkeitsnormen und deren Einschreibung durch die soziale Praxis. In seinen Ausführungen zum § 69 MStGB, die den Tatbestand der Fahnenflucht erörtern, widmet sich Schwinge zuallererst dem »Wesen der Straftat«, wobei sein Fokus auf der Einschätzung des Wesens des »Straftäters« liegt: »Erfahrungsgemäß rekrutieren sich die Fahnenflüchtigen zum größten Teile aus psychopathischen Minderwertigen, deren Anteil an der Gesamtzahl der Verurteilten sich nach ärztlichen Schätzungen zwischen 50 bis 90 v. H. bewegt. Das Hauptkontingent stellen die Gruppen der Stimmungslabilen und Willensschwachen ( Haltlosen ), daneben spielen auch die Hysterischen und Phantasten eine Rolle. [...] Durchweg handelt es sich hier um Menschen, die sich in die militärische Ordnung schlecht einzufügen vermögen, leicht verzagen und auf Grund ihrer seelischen Struktur ganz besonders zu Fahnenflucht und u. E. [ unerlaubter Entfernung ] neigen. Nachsicht ist diesen Elementen gegenüber nicht am Platze.«32
In diesem Text entwirft Schwinge den »Tätertyp« des Deserteurs, der spezifische charakterliche ( und scheinbar medizinisch belegbare ) Mängel aufweist. Schwinges Kommentar konstruiert Männlichkeitsnormen, indem er auf medizinische und politische Diskurse rekurriert und diese im juristischen Diskurs rezipiert und weiterführt. Indem der Autor den Charakter des Deserteurs als krankhaft definiert, setzt er ihn in Opposition zur Masse der »guten« Soldaten. Gleichzeitig stellt er die Behauptung auf, dass in der Regel nur jene Männer, welche der männlichen Norm ( nämlich die Fähigkeit, sich in die militärische Ordnung einzufügen ) nicht entsprechen, desertieren. Die Desertion wird also nicht als Widerstand gegen eine Autorität oder als Ausdruck einer Unzufriedenheit mit dem militärischen System präsentiert, sondern als Beweis für inhärente geistige oder charakterliche Mängel, welche den Deserteur als abnormal und unmännlich kennzeichnen. 31
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Vgl. u. a. Erich Schwinge, Verfälschung und Wahrheit. Das Bild der Wehrmachtgerichtsbarkeit, Tübingen 1988; ders., Wehrmachtgerichtsbarkeit eine Terrorjustiz ? Gedanken zu einem Urteil des Bundessozialgerichts, Bonn 1993. Zur Person Schwinge siehe u. a. Detlef Garbe, »In jedem Einzelfall ... bis zur Todesstrafe«. Der Militärstrafrechtler Erich Schwinge : ein deutsches Juristenleben, Hamburg 1989, oder aktueller Claudia Bade, »Als Hüter wahrer Disziplin ...«. Netzwerke ehemaliger Wehrmachtjuristen und ihre Geschichtspolitik. In : Joachim Perels / Wolfram Wette ( Hg.), Mit reinem Gewissen. Wehrmachtrichter in der Bundesrepublik und ihre Opfer, Berlin 2011, S. 124–143. Militärstrafgesetzbuch nebst Kriegssonderstrafrechtsverordnung, erläutert von Erich Schwinge, 5. neubearbeitete Auflage Berlin 1943, S. 174.
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Interessant ist, wie stark die Charakterisierung des Deserteurs auf die Gefühlsebene abzielt. Alle angeführten negativen Bewertungen verweisen in der einen oder anderen Weise auf die Unfähigkeit, Emotionen zu kontrollieren. Nicht die Ratio, sondern das Gefühl bestimmt nach Meinung Schwinges die Handlungsweise dieser unbotmäßigen Männer, wodurch sie eindeutig als unmännlich erkennbar sind. Zwischen den Zeilen scheint hier die Angst der Autorität durch, Menschen, die ihren Gefühlsinstinkten folgen, nicht kontrollieren zu können : »Stimmungslabile« und »Willensschwache« schwanken in ihren Gefühlen und sind unfähig, konstante Leistung und Disziplin zu erbringen. »Hysterische« und »Phantasten« bergen die Gefahr, in ihre eigenen Vorstellungswelten zu entweichen, in denen gesellschaftliche Normen nicht gelten und etablierte Hierarchien umgeworfen werden. Gegen den Strich gelesen, können aus dieser Auflistung charakterlicher Mängel auch jene Werte abgeleitet werden, die die Nationalsozialisten als erstrebenswert erachteten. Als idealer Soldat ( und Mann ) galt, wer sich in die militärische Ordnung gut einzufügen vermochte und auch in aussichtslosen Situationen seinen Auftrag ohne Zögern oder Kritik ausführte; er sollte seine Gefühle stets unter Kontrolle haben, willensstark sein und nüchtern denken.33 Über die negative Charakterisierung des Deserteurs schrieb dieser Gesetzeskommentar also zugleich adäquates männliches Verhalten fest. Indem der Text die diesen Normen nicht entsprechenden Verhaltensweisen als abnormal beschreibt und mit Sanktionen bedroht, wie der Passus »Nachsicht ist diesen Elementen gegenüber nicht am Platze« verdeutlicht, unterstreicht er die Definitionsmacht der herrschenden Elite und droht, die von ihr als wünschenswert eingestuften Werte, falls notwendig, auch mit Gewalt durchzusetzen. Freilich genügt die Androhung von Gewalt nicht, um eine Machtposition auf längere Dauer zu behaupten. Wie T. J. Jackson Lears in seinen Ausführungen zu Antonio Gramscis Konzept der kulturellen Hegemonie betont, muss eine wirkungsvolle Herrschaft auf breitem Konsens aufbauen : Die regierenden Eliten müssen die untergeordneten Gruppen von der Richtigkeit ihrer Wertvorstellungen, Normen und Intentionen überzeugen, um ihre Herrschaft zu sichern.34 Gramsci betrachtete die Massenmedien der 1930er Jahre – Presse, Radio und Kino – sowie die Schulpflicht als die wirkungsvollsten Instrumente um die breite Masse der Bevölkerung von der Legitimität der Herrschaftselite und den von ihr 33
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Die Haltung des Wehrmachtoffiziers war nach der ( oben erwähnten ) Verfügung des Heerespersonalamtes »ausgerichtet nach den einfachen nationalsozialistischen und soldatischen Grundsätzen. Dazu gehören Einsatzbereitschaft, Pflichterfüllung, Treue und Kameradschaft. Der Offizier ist gehorsam. Erhaltene Befehle führt er ohne Kritik oder inneren Widerspruch aus.« Zit. nach Absolon, Wehrmacht, S. 400. Vgl. T. J. Jackson Lears, The Concept of Cultural Hegemony. Problems and Possibilities. In : The American Historical Review, 90 (1985), S. 567–593, hier 569.
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vertretenen Werten zu überzeugen. Auch die Nationalsozialisten nutzten die Massenmedien in hohem Maße, um ihre Vorstellungen von Männlichkeit geschickt zu bewerben und zu popularisieren. Durch Kinofilme, Landserhefte, Abenteuerromane, Ratgeber, Radiosendungen und die Jugenderziehung fand das glorifizierte Ideal des »stahlharten« Mannes, welches Aspekte des älteren und breit verankerten Ideals soldatischer Männlichkeit nutzbar machte und bestätigte, breite Akzeptanz in der Bevölkerung. Die Mehrheit der Gesellschaft identifizierte sich mit der propagierten nationalen Männlichkeitsnorm und viele Männer strebten danach, diesem Ideal nahe zu kommen, um als männlich zu gelten. Dennoch darf nicht übersehen werden, dass der Einfluss des nationalsozialistischen Männlichkeitsideals keineswegs ein totaler war.35 Gerade ältere Vorstellungen soldatischer Männlichkeit, die zwar dem NS - Ideal ähnelten, aber nicht immer identisch waren, entfalteten weiterhin eine nachhaltige Wirkung und standen so in teilweiser Konkurrenz zu den von den Nationalsozialisten propagierten Idealen.36 Forschungstechnisch sind die diskursive Produktion von Männlichkeit und ihre Umsetzung in der Praxis für Historiker und Historikerinnen relativ unkompliziert zu untersuchen. Die subjektive Erfahrung von Männlichkeit hingegen, die dritte Ebene der Männlichkeitsforschung, stellt sowohl methodisch als auch quellentechnisch die größte Herausforderung dar, denn sie verlangt einerseits nach Egodokumenten, wie etwa Briefen und Tagebüchern, die entweder kaum oder nur lückenhaft überliefert sind und zudem selten systematisch erfasst oder archiviert wurden. Andererseits sind bei den überlieferten Egodokumenten gerade Zeugnisse von Angehörigen unterer sozialer Schichten nur sehr spärlich vertreten, wodurch die Erfahrungen und Selbstdeutungen etwa von Knechten oder Arbeitern, welche selten schriftliche Zeugnisse hinterließen, besonders schwer zu erforschen sind. Aus diesem Grund stellen lebensgeschichtliche Interviews eine unschätzbar wichtige Quelle dar. Biographische Interviews sind im Bereich der Opfer der Militärjustiz zudem häufig die einzigen erhaltenen Dokumente, die nicht von den Verfolgungsinstitutionen produziert wurden. Dennoch bedarf gerade die Produktion und Auswertung mündlicher Quellen besonderer methodischer Sorgfalt. Durch die lange Zeitspanne zwischen dem Erlebten und dem Erinnern werden Erfahrungen und Selbstbilder um - oder neu gedeutet, wie dies Peter Fritzsche in seiner jüngsten Studie zum Berliner Arbeiter Franz Göll, dessen zeitgenössische Tagebucheinträge er mit seinen im Alter ver35
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Connell selbst bezweifelt, dass das nationalsozialistische Männlichkeitsideal aufgrund der relativen Kürze der NS - Herrschaft jemals eine hegemoniale Stellung erringen konnte. Vgl. Raewyn Connell, Masculinity and Nazism. In : Dietrich / Heise, Männlichkeitskonstruktionen, S. 37–42, hier 39. Vgl. etwa Kim Wünschmann, Männlichkeitskonstruktionen jüdischer Häftlinge in NS - Konzentrationslagern. In : ebd., S. 201–219.
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fassten Memoiren verglichen hat, anschaulich illustrierte.37 Die Analyse von lebensgeschichtlichen Interviews oder anderen, rückblickend verfassten Egodokumenten, kann deshalb nur eingeschränkt Antworten auf die Frage geben, wie das männliche Selbstverständnis einer Person zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt aussah. Geschlecht ist veränderlich und unterliegt einem permanenten Konstruktionsprozess. Sehr wohl aber können ( mündliche und schriftliche ) Selbstzeugnisse, sofern sie in ihrem gesellschaftlich - strukturellen Entstehungszusammenhang und in Kombination mit normativen Quellen gelesen werden, erhellende Aufschlüsse darüber geben, wie »Subjektbildung und ›individuelle‹ Erfahrungen historischer Akteure in zeitgenössische Dispositive verwoben sind.«38 Am Beispiel von Interviews mit Verfolgten der NS - Militärjustiz versuchte ich etwa herauszuarbeiten, wie kulturell dominante Männlichkeitsvorstellungen Leben und Selbstbild individueller Männer prägten.39 Zudem sollte untersucht werden, wie diese Personen in der Auseinandersetzung mit teilweise konkurrierenden regional -, klassen - oder religionsspezifischen Männlichkeitsvorstellungen ihre spezifische Identität entwickelten.40 Die Untersuchung zeigte den prägenden Einfluss des sozialen Milieus auf die Formierung der männlichen Identität.41 Obwohl die interviewten Männer, unabhängig von ihrer sozialen Herkunft oder ihrer Religionszugehörigkeit, im Großen und Ganzen sehr ähnliche männliche Tugenden hochhielten – Tugenden, die weitgehend identisch mit den Werten traditioneller »harter« Männlichkeit waren –, betonten sie im Gespräch jeweils unterschiedliche Aspekte ihrer Männlichkeit. So stellten Männer, die dem Bürgertum oder einem politisierten proletarischen Milieu entstammten, besonders ihre Rationalität und Selbstbestimmung heraus. Intelligenz und Autonomie waren in ihrem Selbstverständnis offensichtlich eng verbunden und wurden als zentrale Elemente ihrer männlichen Identität präsentiert. Männer aus dem ländlich - bäuerlichen Milieu wiederum unterstrichen häufig ihre Zähigkeit, ihre Leidensfähigkeit und ihre Empathie. Ihre Selbstdarstellungen reflektierten auch den starken Einfluss von Religion und christ-
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Vgl. Peter Fritzsche, The Turbulent World of Franz Göll. An Ordinary Berliner Writes the Twentieth Century, Cambridge, MA 2011. Martschukat / Stieglitz, Geschichte, S. 63. Vgl. Fritsche, Manliness. Die lebensgeschichtlichen Tiefeninterviews wurden im Zuge des Forschungsprojektes »Österreichische Opfer der NS - Militärjustiz« durchgeführt. Die Forschungsergebnisse wurden publiziert in : Walter Manoschek ( Hg.), Opfer der NS - Militärjustiz. Urteilspraxis, Strafvollzug, Entschädigungspolitik in Österreich, Wien 2003. Das Thema der Männlichkeit bzw. männlichen Identität wurde in den Interviews nicht direkt angesprochen. Vgl. Fritsche, Manliness, S. 46–48.
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lichen Männlichkeitsvorstellungen, die bei den anderen sozialen Gruppen deutlich weniger stark ausgeprägt waren. Die Untersuchungsergebnisse, die hier nur sehr kursorisch wiedergegeben werden können,42 belegen die enorme Wirkkraft der hegemonialen Männlichkeitsnorm, welche diese Männer offenbar nachhaltig und bis zur Gegenwart beeinflusste. Die Untersuchung zeigte, dass das traditionelle Ideal »harter« Männlichkeit die ersten drei Lebensjahrzehnte dieser Männer offensichtlich in einer Weise prägte, dass sie sich auch viele Jahre später, als dieses Ideal durch die Pluralisierung der gesellschaftlichen Männlichkeitsbilder und Umwälzungen in den Geschlechterverhältnissen längst seine hegemoniale Position eingebüßt hatte, seinem Einfluss nicht entziehen konnten. Zugleich distanzierten sich die meisten interviewten Deserteure vom nationalsozialistischen Männlichkeitsideal, indem sie etwa ihre Nichtkonformität herausstrichen, auf ihr Defizit an militärischen und männlichen Qualitäten hinwiesen oder Kritik an militärischen oder nationalsozialistischen Werten äußerten. Eine solche Distanzierung ist sicherlich auch ein Ergebnis des über die Jahrzehnte gewonnenen Erfahrungszuwachses; sie verweist aber auch auf die mögliche nachhaltige Wirkung gesellschaftlicher und politischer Umbrüche. So finden sich in den Selbstdarstellungen der interviewten österreichischen Männer durchaus Spuren jener nach 1945 eifrig geführten Diskussion um die österreichische Identität, die eng mit der Insistenz österreichischer Eliten, dass Österreich keinerlei Schuld an den Verbrechen des NS Regimes trage, verwoben war.43 Dieser rasch nach Ende des Zweiten Weltkriegs einsetzende Opferdiskurs ging einher mit der Propagierung eines neuen Männerbildes, das den Österreicher als kultiviert, harmonisch und unmilitärisch konstituierte.44 Dieses in der Nachkriegszeit durch die Medien massiv beworbene Männlichkeitsmodell blieb nicht ohne Wirkung auf das Selbstbild der befragten Männer, wie ihre Abgrenzung vom Typus »harter« Männlichkeit nationalsozialistischer Prägung illustriert. In der NS - Zeit hochgehaltene männliche Werte wie Gefühlskälte, Pflichteifer, absolute Loyalität und Todesmut definierten die interviewten Männer nun als explizit »deutsch« und lehnten sie ab, weil sie ihrer eigenen, »österreichischen« Männlichkeit nicht entsprachen. 42 43
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Ausführlich dazu ebd. Zur Frage der österreichischen Identität und dem Opferdiskurs vgl. Emil Brix, Zur Frage der österreichischen Identität am Beginn der Zweiten Republik. In : Günter Bischof / Josef Leidenfrost ( Hg.), Die bevormundete Nation. Österreich und die Alliierten 1945–1949, Innsbruck 1988, S. 93–104; Ernst Bruckmüller / Walter Manoschek, Verschmähte Erbschaft. Österreichs Umgang mit dem Nationalsozialismus 1945 bis 1955. In : Reinhard Sieder / Heinz Steinert / Emmerich Tálos ( Hg.), Österreich 1945–1995. Gesellschaft, Politik, Kultur, Wien 1996, S. 94– 106, hier 96–98; Peter Utgaard, Remembering and Forgetting Nazism. Education, National Identity and the Victim Myth in Postwar Austria, New York 2003. Maria Fritsche, Homemade Men in Postwar Austrian Cinema. Nationhood, Genre and Masculinity, New York, Oxford 2013.
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Wie weiter oben erwähnt, blieben aber die bis weit über die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts hinaus einflussreichen Attribute »harter« Männlichkeit Referenzpunkt. Die Männer reklamierten diese Tugenden für sich, um auf diese Weise ihre Männlichkeit, die ihnen durch die Diffamierung als Deserteure ja häufig abgesprochen wurde, zu unterstreichen. Die Komplexität und Widersprüchlichkeit der geschlechtlichen Identität soll an einem Beispiel veranschaulicht werden. Johann T. ( Jahrgang 1923), in Wien als Sohn tschechischer Handwerker geboren und aufgewachsen, erzählte im Interview, wohl auch um seine Distanz zur Wehrmacht argumentativ zu untermauern, wie er während seiner Ausbildungszeit massiv schikaniert worden war, weil er rein äußerlich nicht dem Bild eines strammen Soldaten entsprach – er war übergewichtig.45 Im Bestreben, aus ihm einen »echten« Mann zu machen, der dem Ideal militärischer Männlichkeit näher kam, schikanierten ihn seine Ausbilder und trieben ihn zu körperlichen Höchstleistungen an. So musste er häufig zusätzliche Runden auf der Aschenbahn laufen oder so viele Liegestütze machen, bis seine Hände vom rauhen Untergrund bluteten. Die Erfahrungen während der Ausbildungszeit, die er als »einen Gräuel« bezeichnete, bewogen ihn nach eigenen Angaben dazu, während seiner restlichen Wehrdienstzeit möglichst im Hintergrund zu bleiben und nicht aufzufallen. Johann, so zumindest seine rückblickende Deutung, zeigte keinerlei Ambitionen, dem nationalsozialistischen Männlichkeitsideal näher zu kommen oder Karriere zu machen. Er sagte von sich : »Ich war nie tapfer, ich hab immer geschaut, dass ich mich irgendwo hinten herumtreiben kann, wo es nicht so scharf hergeht.« Und dennoch beschloss er seine Erzählung von den durchlittenen Schikanen mit einem Satz, in dem Genugtuung, ja möglicherweise sogar Stolz mitschwang : »Es war natürlich ein Gräuel, aber ich muss sagen, ich hab von der Rekrutenausbildung ein wunderbares Zeugnis gehabt : ›Hart gegen sich selbst!‹« Eine Bestätigung der eigenen Härte – und damit eine Bescheinigung seiner Männlichkeit – zu erhalten, erfüllte offensichtlich auch einen Mann wie Johann, der während des Interviews seine Kritik an den militärischen Idealen deutlich zum Ausdruck brachte und ohne Scham seine körperlichen Defizite ansprach, mit Stolz, und dies noch Jahrzehnte später. Das Beispiel hilft zu veranschaulichen, welche Wirkung gesellschaftlich verankerte Männlichkeitsideale ausüb( t )en, so dass sie Angehörigen aller sozialen Schichten als Maßstab von Männlichkeit gelten. Es zeigt, wie auch Männer, die angesichts der Diskrepanz zwischen ihrem eigenen Ich und dem kulturellen Leitbild diesem vielleicht skeptisch gegenüberstehen, es dennoch als Norm akzeptieren. Einerseits, weil alternative Männlichkeitsformen nicht vorstellbar 45
Interview mit Johann T., Wien, am 30.7.2001. Interviewer : Maria Fritsche, Hannes Metzler.
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scheinen,46 und andererseits, weil sie soziale Anerkennung finden, wenn sie sich anstrengen, dem Ideal näherzukommen.47
Schluss Männlichkeitsgeschichte, um es auf den Punkt zu bringen, vermag zu zeigen, »wie soziokulturelle Hierarchien qua Geschlecht konstituiert werden«.48 Denn nur, wenn wir den Blick für den Einfluss geschlechtsspezifischer Normierungen und Vorstellungen auf Individuen schärfen, können wir verstehen, wie militärische Hierarchien funktionieren und wie Männer dazu gebracht werden, diese Hierarchien als selbstverständlich zu akzeptieren, Befehlen zu gehorchen, ihr Wohlergehen und mitunter ihr Leben zu opfern oder andere Menschen zu töten. Eine Geschlechterperspektive verspricht Aufschluss darüber, wie Vorstellungen von Männlichkeit das Denken und Handeln etwa der Wehrmachtjuristen prägten, die diesen Idealen normative Form verliehen, sei es durch Gesetzesentwürfe, Auslegung von Gesetzen, Urteilspraxis oder Strafbemessung. Zudem schärft die Einbeziehung von Geschlecht als Forschungskategorie den Blick für die vielfältigen Wechselbeziehungen zwischen dem Machtanspruch von Eliten und den gesellschaftlich verankerten Männlichkeitsvorstellungen, welche, wie John Tosh betonte, zumeist identisch sind mit jenen männlichen Normen und Praktiken, die von der politisch dominanten Klasse hochgeschätzt werden.49 Sie vermag zu zeigen, wie Herrschaftseliten ihre Macht zu erhalten suchen, indem sie etwa konkurrierende Männlichkeitsvorstellungen ausgrenzen oder aber vereinnahmen. Nicht zuletzt muss auch jede »Militärgeschichte von unten«, die sich mit den Erfahrungen der breiten Masse der nicht an der Herrschaft teilhabenden Menschen auseinandersetzt, fragen, welche Rolle Männlichkeitsdiskurse und die aus ihnen resultierenden Normen in deren Sozialisierung sowie in der Disziplinierung und Bestrafung von nichtkonformen Individuen spielten. Die Einbeziehung der Kategorie Geschlecht macht sichtbar, wie normative Diskurse das Selbstbild und die individuellen Erfahrungen der Menschen prägen und so produktiv werden. Dabei ist zu erinnern, dass der Einfluss von Männlichkeitsnormen niemals ein totaler ist – oder sein kann. Denn einerseits steht das normative Ideal, auch wenn es hegemonial agiert, stets in Konkurrenz zu anderen, milieu - und regionalspezi46 47 48 49
Vgl. Scott, Gender, S. 1068. Vgl. John Tosh, Hegemonic Masculinity and the History of Gender. In : Dudink / Hagemann / Tosh, Masculinities, S. 41–58, hier 44, 47. Martschukat / Stieglitz, Geschichte, S. 29. Vgl. Tosh, Hegemonic Masculinity, S. 48.
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Maria Fritsche
fischen Männlichkeitsvorstellungen; andererseits begrenzen familiäre und soziale Prägungen und Erfahrungen den Einfluss der hegemonialen Norm. Eine Analyse von Egodokumenten, kombiniert mit einer Auswertung von normativen Texten und dominanten Diskursen kann wertvolle Aufschlüsse geben, wie Individuen ihre Handlungsspielräume ausloten und in einem kontinuierlichen Aushandlungsprozess zwischen konkurrierenden Männlichkeitsvorstellungen ihre eigene geschlechtliche Identität gestalten. Auf diese Weise lässt sich erkunden, wie und bis zu welchem Punkt sich Individuen den an sie herangetragenen Forderungen entziehen konnten, und wann ihr Verhalten in Konflikt mit den Herrschaftseliten geriet. Die Frage, wie geschlechtliche Normierungen konstruiert, verändert und angeeignet werden, auf welche Weise sie die Macht von Eliten nicht nur verkörpern, sondern auch stützen, aber auch, wo diese Normen an Grenzen stoßen, soll keineswegs das alleinige Forschungsinteresse einer kritischen Militär - und Justizgeschichte sein. Doch aufgrund der Erkenntnismöglichkeiten, welche eine reflektierte Geschlechterperspektive eröffnet, sollte Geschlecht, wie im übrigen auch andere gesellschaftliche Strukturkategorien, stets in die Fragestellungen miteinbezogen werden, um durch diese Multiperspektivität dem Ziel, die Komplexität der Geschichte analytisch zu erfassen, näher zu kommen.
II. Deutsche Militärjustiz in Europa als Element der Besatzungspolitik
Ryszard Kaczmarek Polen in Wehrmachtuniform : Fahnenflüchtige aus Oberschlesien in den Meldungen des SD und vor deutschen Gerichten 1940 bis 1945
1. Oberschlesier in der deutschen Wehrmacht – Anmerkungen zu Rechtsgrundlagen und Rekrutierungspraxis Als rund fünf Wochen nach Beginn des Überfalls der Wehrmacht auf Polen die letzten polnischen Truppen am 6. Oktober 1939 kapituliert hatten, setzte die NS Führung unverzüglich ihr Vorhaben fort, den östlichen Nachbarstaat von der Landkarte zu tilgen. Im Zuge dessen annektierte das Deutsche Reich große westpolnische Gebiete und bildete daraus neue Verwaltungseinheiten bzw. gliederte sie bereits bestehenden an. Durch einen Erlass vom 8. Oktober 19391 entstanden als neue territoriale Gebilde die Reichsgaue Westpreußen ( ab 9. November 1939 Reichsgau Danzig - Westpreußen ) und Posen ( ab 29. Januar 1940 Reichsgau Wartheland ), während andere vormals polnische Gebiete den preußischen Provinzen Ostpreußen und Schlesien2 zugeschlagen wurden. Nach dem zwangsweisen Anschluss an das Reich gerieten die »angegliederten Ostgebiete« zum Schauplatz einer rassistisch motivierten Germanisierungspolitik, die unter den Schlagworten »Rückdeutschung« und »völkische Flurbereinigung« die Beseitigung aller polnischen Einflüsse erbringen sollte.3 Ziel war es, durch umfang1
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Erlass des Führers und Reichskanzlers über Gliederung und Verwaltung der Ostgebiete ( RGBl. 1939 I, S. 2042 f.). Die Maßnahmen betrafen die polnischen Woiwodschaften Schlesien, Posen und Pommern sowie Teile der Woiwodschaften Kielce, Lodsch und Warschau. Aus den übrigen von der Wehrmacht besetzten polnischen Gebieten wurde per Erlass vom 12. Oktober 1939 das Generalgouvernement ( GG ) gebildet, das de jure allerdings nicht zum Gebiet des Deutschen Reiches zählte. 1941 wurde eine neue selbstständige Provinz Oberschlesien gebildet. Vgl. hierzu allgemein Czesław Madajczyk, Die Okkupationspolitik Nazideutschlands in Polen 1939–1945, Berlin ( Ost ) 1987, hier S. 479–519; Martin Broszat, Nationalsozialistische Polenpolitik 1939–1945, Frankfurt a. M. 1965, hier S. 112–127; Johannes Frackowiak, Die »Deutsche Volksliste« als Instrument der nationalsozialistischen Germanisierungspolitik in den annektierten Gebieten Polens 1939–1945. In : ders. ( Hg.), Nationalistische Politik und Ressentiments. Deutsche und Polen von 1871 bis zur Gegenwart, Göttingen 2013, S. 181–220.
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reichen Bevölkerungsaustausch und weitgehende Repressalien eine den nationalsozialistischen Vorstellungen von »Volkstumspolitik« entsprechende Bevölkerungsstruktur zu schaffen. In Ost - Oberschlesien, das Deutschland im Zuge der Niederlage im Ersten Weltkrieg 1922 an Polen abgetreten hatte, waren rund 2,5 Millionen Menschen – bis dahin polnische Staatsbürger – von dieser Politik betroffen. Auch hier sollte die Bevölkerung soweit möglich »rückgedeutscht«, der Rest vertrieben werden. In ihren Überlegungen unterteilten die NS- Behörden die Einwohner Ost - Oberschlesiens in drei Gruppen : Deutsche, nationalbewusste Polen ( vor allem jene, die an den schlesischen Aufständen zwischen 1919 und 1921 mitgewirkt hatten ) sowie die sogenannte Zwischenschicht.4 Ziel einer zur Jahreswende 1939/1940 durchgeführten »polizeilichen Einwohnererfassung« war es, die Zugehörigkeit der Befragten zu einer der Gruppen festzustellen. Unter dem Eindruck der herrschenden Propaganda, von angedrohten Zwangsmaßnahmen usw. erklärten sich 97 Prozent der Bevölkerung bei dieser Gelegenheit für deutsch.5 Die Erhebung bildete ebenfalls den ersten Schritt hin zum Dienst von Ost - Oberschlesiern in der Wehrmacht. Bereits im ersten Halbjahr 1940 folgten darauf die Wehrerfassung, Musterungen sowie erste Einberufungen. In einer Zeit militärischer Erfolge und vergleichsweise geringer personeller Verluste der Wehrmacht gab es zu dieser Praxis noch keinen zwingenden Grund. Der Vorgang ist allerdings umso bemerkenswerter, da zu diesem Zeitpunkt – in der zweiten Jahreshälfte 1940 – bei den Betroffenen eine wesentliche Voraussetzung für die Wehrdienstleistung nicht erfüllt war, nämlich der Besitz der deutschen Staatsangehörigkeit. Während das »Wehrgesetz« vom 21. Mai 1935 in § 1 bestimmte, dass »jeder deutsche Mann [...] wehrpflichtig«6 ist, blieb die Frage der Staatsangehörigkeit für die Ost - Oberschlesier wie auch für die Einwohner in den anderen »eingegliederten Ostgebieten« bis ins Jahr 1941 hinein ungelöst. Abhilfe schaffte erst die »Verordnung über die Deutsche Volksliste und die deutsche Staatsangehörigkeit in den eingegliederten Ostgebieten« vom 4. März 1941.7 Mit diesem Instrument ordneten die Besatzer Deutsche und »Rückdeutschungsfähige« in vier Kategorien (»Abteilungen«) ein. Ausschlaggebend für die Eintragung in eine der Abteilungen war dabei neben der Abstammung des Betreffenden ebenfalls dessen Haltung und Bekenntnis zu Deutschland vor dem 1. September 1939. In die Abteilungen 1 und 2 fanden solche Personen Eingang, die sich auch in der Zeit der Zugehörigkeit zu Polen offen zum 4
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Zur Zusammensetzung und Stärke der drei Gruppen vgl. Madajczyk, Okkupationspolitik, S. 502. Vgl. zuletzt auch Ryszard Kaczmarek, Niemiecka polityka narodowościowa na Górnym Śląsku (1939–1945) ( Die deutsche Volkstumspolitik in Oberschlesien [1939–1945]). In : Pamięć i Sprawiedliwość, 2/2004, S. 115–138. Vgl. Madajczyk, Okkupationspolitik, S. 503. RGBl. 1935 I, S. 609–614, hier 609. RGBl. 1941 I, S. 118–120.
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Deutschtum bekannt hatten – etwa durch Mitgliedschaft in einer entsprechenden Organisation – oder es sich ohne öffentliche Zurschaustellung – beispielsweise im privaten Raum – bewahrt hatten.8 Die Angehörigen beider Abteilungen erhielten unabhängig vom Datum ihrer Eintragung in die Deutsche Volksliste (DVL ) rückwirkend zum 26. Oktober 1939 die deutsche Staatsangehörigkeit zuerkannt. »Personen überwiegend deutscher Herkunft und prodeutscher Gesinnung, die ›Bindungen zum Polentum eingegangen waren‹; ferner ›in der Regel‹ die große Zahl der ›als deutsche Volkszugehörige anzuerkennenden Personen kaschubischer, masurischer, slonzakischer und oberschlesischer Abstammung‹«9 wurden in die Abteilung 3 aufgenommen. Diese zahlenmäßig größte Gruppe der DVL bekam die deutsche Staatsangehörigkeit unter dem Vorbehalt des Widerrufs innerhalb von zehn Jahren verliehen. Die lediglich unverbindliche Aussicht auf die Staatsangehörigkeit auf Widerruf erhielten die in die Abteilung 4 Eingetragenen (»aktiv verpolte Deutschstämmige« bzw. »polonisierte Deutsche«).10 Einer Statistik des »Reichskommissars für die Festigung deutschen Volkstums« vom Januar 1944 zufolge waren von den insgesamt rund 2,5 Millionen Einwohnern Ost - Oberschlesiens rund 1,3 Millionen in die DVL eingetragen.11 Allein 875 000 von ihnen entfielen auf die Abteilung 3 und bildeten damit die sogenannte Zwischenschicht, jene Gruppe, in der sich die historischen Brüche Oberschlesiens und seine Zugehörigkeit zu verschiedenen Staaten deutlich widerspiegelten.12 Viele der betreffenden Personen sprachen polnisch, sie pflegten polnische, deutsche und / oder schlesische Traditionen und waren hinsichtlich ihrer nationalen Identität oftmals unentschieden. Durch die Zuerkennung der deutschen Staatsangehörigkeit unterlagen die im wehrfähigen Alter befindlichen Männer der DVL - Abteilung 3 aber, ebenso wie jene der Abteilungen 1 und 2, uneingeschränkt der Wehrpflicht, sodass sie zum Kriegsdienst für das Deutsche Reich herangezogen werden konnten. Im Kontext der enormen Verluste an der Ostfront, besonders ab 1942, war die Wehrmacht nicht bereit, auf dieses Personalreservoir zu verzichten. Angedeutet hatte sich dies – wie bereits erwähnt – schon 1940 mit Einberufungen von Ost - Oberschlesiern, ungeachtet der einer Klärung harrenden Staatsangehörigkeitsfrage. Diese Praxis fand in der Folge dergestalt ihre Fortsetzung, dass auch Männer Kriegsdienst leisteten, für die noch gar keine DVL - Eingruppierung vorlag. Zum Teil erhielten
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Zu den Merkmalen der Kategorien vgl. auch Broszat, Polenpolitik, S. 119 f. Ebd., S. 119. Ebd., S. 120. Die Statistik ist abgedruckt bei Broszat, Polenpolitik, S. 125. Bezugnehmend auf ein aus Oktober 1942 datierendes Schreiben des Gauleiters von Oberschlesien Fritz Bracht (1899–1945) an Martin Bormann (1900–1945), den Leiter der Parteikanzlei der NSDAP, beziffert Madajczyk die Stärke der DVL - Abteilung 3 mit 1 050 000 Personen. Vgl. Madajczyk, Okkupationspolitik, S. 501.
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bereits länger dienende Soldaten den Status als Angehörige der Abteilung 3 nachträglich, um so ihren Dienst zu legalisieren.13 Als »Deutsch - Polen« bezeichnet bzw. mit dem Vermerk »Deutsch. Reich a[ uf ] W[ iderruf ] DVL 3 ( Polen )«14 in der Spalte »Staatsangehörigkeit« ihres Wehrpasses gekennzeichnet, leisteten im Sommer 1943 über 70 000 Ost - Oberschlesier Dienst in der Wehrmacht. Über 3 000 von ihnen waren zu diesem Zeitpunkt bereits in einem Krieg gefallen, für den sie völkerrechtswidrig und zum Teil gegen ihren Willen rekrutiert worden waren. Bis 1945 wurden Schätzungen der polnischen Widerstandsbewegung zufolge insgesamt ca. 200 000 Angehörige der DVL - Abteilung 3 aus Oberschlesien zur Wehrmacht einberufen, zusätzlich zu ca. 50 000–60 000 Angehörigen der DVL - Abteilungen 1 und 2. Im Folgenden sollen Formen resistenten Verhaltens der »Polen in Wehrmachtuniform« sowie die Reaktionen der Besatzer darauf mit Mitteln der Sonder- und Militärjustiz anhand bislang noch nicht in diesem Zusammenhang analysierter Quellen schlaglichtartig dargestellt werden.
2. Fahnenflüchtige der Wehrmacht in den Meldungen des Sicherheitsdienstes ( SD ) der SS Bereits während der ersten Masseneinberufungen zur deutschen Wehrmacht in Oberschlesien 1940 begannen die SD - Stellen das Phänomen der Fahnenflucht in der Provinz Schlesien zu überwachen.15 Mit Fortgang des Krieges widmeten sie dem Thema wachsende Aufmerksamkeit. Die Mehrheit der entsprechenden Meldungen, die sich heute im Staatsarchiv Kattowitz befinden, datieren auf die Einberufungswellen nach der Schlacht von Stalingrad, also aus den Jahren 1943 und später. Erhalten sind sowohl umfangreiche Berichte aus einzelnen Landkreisen, als auch zahlreiche Meldungen von Vertrauensmännern, die das Ausmaß der Desertion schilderten. Die in den Unterlagen enthaltenen Informationen lassen sich in verschiedene Kategorien unterteilen : Anzahl der Fahnenflüchtigen aus einzelnen Ortschaften und Landkreisen, Beschreibung der Gründe der Fahnenflucht, sowie, daraus folgend, Möglichkeiten der Fahndung und zur Bekämpfung des Problems. 13 14
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Vgl. ebd., S. 505. Zbigniew Mazur / Aleksandra Pietrowicz / Maria Rutowska ( Hg.), Raporty z ziem wcielonych do III Rzeszy (1942–1944) ( Berichte aus den dem Dritten Reich eingliederten Gebieten [1942– 1944]), Poznań 2004, S. 112. Quellenkritisch ist dabei zu beachten, dass der dem Militärstrafgesetzbuch ( MStGB ) bzw. der Kriegssonderstrafrechtsverordnung ( KSSVO ) entlehnte Begriff der Fahnenflucht in den SD Berichten neben der Fahnenflucht im engeren Sinn auch zahlreiche weitere Erscheinungsformen, dem Dienst in der Wehrmacht fernzubleiben, bezeichnet ( z. B. Nichtbefolgen des Einberufungsbefehls, Fernbleiben von der Musterung ).
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Aus den Berichten des Jahres 1943 ergibt sich, dass es in dieser Zeit zu einer qualitativen Änderung der Versuche, sich dem Wehrdienst zu entziehen, kam. In den ersten zwei Kriegsjahren, die für die Wehrmacht noch erfolgreich verliefen, wurde Fahnenflucht fast nicht verzeichnet. Häufig weigerten sich Oberschlesier jedoch, die deutsche Staatsangehörigkeit anzunehmen und wollten somit der Einberufung entgehen. Ab 1943 blieben derartige Versuche allerdings mehrheitlich erfolglos. Ein erwähnenswertes Beispiel dafür ist in einem SD - Bericht aus Kattowitz zu finden : »Bei dem Ortstermin der DVL - Zweigstelle Kattowitz - Land in Verbindung mit der Kommission wurde ein in einer Mischehe lebender Pole in die Abteilung 3 aufgenommen. Wenige Minuten später erklärte er, dass er doch nicht in die DVL aufgenommen werden wollte. Auf Befragen, weshalb er so plötzlich seinen Entschluss geändert habe, nachdem er noch kurz zuvor erklärte, Deutscher werden zu wollen, antwortete der Betreffende, dass er Pole sei und dies auch bleiben wolle. Auf den Hinweis, dass seine Frau doch Oberschlesierin sei und sie doch in die DVL aufgenommen werden wollte und nach Vorhaltungen seiner Frau, dass er doch Rücksicht auf sie nehmen müsse erklärte er, dass er – wenn es schon sein müsste – in die Abteilung 4 aufgenommen werden wollte. Davon wich er auch nicht ab, als ihm der Vorsitzende – Reg[ ierungs - ]Rat Schultz – die Unmöglichkeit eines solchen Ansinnens vor Augen führte. Auf Befragen der Ehefrau, wie sie sich das sonderbare Verhalten des Mannes erklärte, gab diese an, dass er Angst vor der Einberufung habe und deshalb lieber in die Abteilung 4 aufgenommen werden möchte.«16
Die Einführung der DVL und der Bedarf der Wehrmacht an Rekruten hatte bereits ab 1941 für die Mehrheit der Oberschlesier die Ablehnung der Wehrdienstleistung äußerst schwierig gemacht. Um den Dienst in der Wehrmacht zu vermeiden, bestand allerdings zu Beginn der Rekrutierungswellen noch die Möglichkeit, sich auf die kriegswichtige Arbeit, z. B. unter Tage in einer Kohlengrube, zu berufen. Schon 1942 erkannte die Wehrmacht jedoch keine sogenannten Reklamationen bzw. Abstellungen für diesen Bereich mehr an. Betroffene ergriffen daraufhin immer radikalere Maßnahmen. Sie fügten sich entweder selbst Verletzungen zu (»Selbstverstümmelung«) oder versuchten Beweise für chronische Krankheiten zu erbringen. Dies schlug sich auch in den Statistiken und Berichten zur Effektivität der oberschlesischen Schwerindustrie nieder : »Die zunehmende Gestellungsverweigerung in der Zwischenschicht nimmt verhältnismäßig größere Formen an. Die Krankenmeldungen auf den Zechen und Werken steigen ungeheuer. Während z. B. in der letzten Januar - Woche 1943 auf einer Grube ( Emanuelssegengrube ) nur 52 sich krank meldeten, stieg die Krankenzahl in der Woche vom 1. bis 7. 2. 1943 auf 93 Personen und in der Woche
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SD - Bericht, Kattowitz, vom 20. 3. 1943, ( Archiwum Państwowe w Katowicach [ Staatsarchiv Kattowitz; APKat ], Służba Bezpieczeństwa Naczelnego Dowódcy SS, Kierownictwo Oddziału w Katowicach [ Sicherheitsdienst des Reichsführers SS, SD Leitabschnitt Kattowitz ], Nr. 140/11, Bl. 122 ff.).
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vom 8. bis 15.2.1943 auf sogar 117 Personen.«17 Ähnliches hielt auch eine weitere Meldung fest : »Einem anderen Bericht zufolge sollen sich Männer, die mit der Einberufung rechneten, vielfach im letzten Moment krank melden. Dies soll besonders unter den Privatversicherten bei den einzelnen Krankenkassen Schule gemacht haben, da es sich angeblich herumgesprochen haben soll, dass für die Privatpatienten nicht die verschärften vertrauensärztlichen Bestimmungen gelten sollen. Man will durch diese Krankmeldung Zeit gewinnen und versuchen, in der Zwischenzeit etwas anderes zu kurbeln.«18 Beurlaubte Soldaten berichteten von ihren Kriegserlebnissen und schilderten die tatsächliche Lage an der Ostfront, die sich drastisch von der Propaganda der »Wochenschau« unterschied. Ohne Beachtung der drohenden Repressionen, überredeten daher viele Familien ihre Männer zur Fahnenflucht. Hierzu lassen sich zahlreiche Meldungen finden. Ein typisches Beispiel zeigt sich in einem Bericht aus dem überwiegend polnisch bevölkerten Kreis Pless : »In Tannendorf im Kreise Pless versuchte die Schwester eines Soldaten, diesen mit den Worten zurückzuhalten : ›Fahre nicht mehr in die Kompanie zurück, bleibe hier, die Russen sind schon in Warschau.‹«19 Der einfachste und am häufigsten gewählte Weg zur Desertion, wenn sie nicht an der Front passierte, war der Verbleib des Soldaten am Wohnort nach Ablauf des Urlaubs, also die Umsetzung des Entschlusses, nicht zu seinem Truppenteil zurückzukehren. Aufgrund der Informationen von Vertrauensmännern konnten die deutschen Behörden oft die Verstecke der Flüchtigen in den Wäldern, auf Bauernhöfen usw. ausfindig machen, wovon die SD - Berichte sehr häufig zeugen : »Ein besonderer Fall wird aus Loslau berichtet, wonach ein Fronturlauber am Tage vor seiner Abreise feldmarschmäßig in der Nacht in den umliegenden Wald gegangen ist, seine gesamte Ausrüstung dort hinlegte und seit dieser Zeit verschwunden ist. Der Karabiner war jedoch weder zu Hause noch an der bezeichneten Stelle aufzufinden.«20 Zu beobachten war dieses Phänomen vor allem in jenen Landkreisen, die als mehrheitlich von polnischer Bevölkerung bewohnt galten : Teschen, Rybnik und Pless. Aus Pless hieß es 1943 sogar, die Desertion in die Wälder weise fast einen Massencharakter auf : »Nach dem Bericht eines Eisenbahners in Sohrau sollen sich in den Wäldern um Pless, besonders in der Gegend von Kobier, eine Menge Wehrmachtsverweigerer aufhalten, die über gestohlene Munition, Radiogeräte und Fahrräder verfügen sollen. Am Tage gehen sie zur Bevölkerung um Lebensmittel betteln, üben Diebstähle aus, während in der
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SD - Bericht, Pless, vom 22.2.1943 ( ebd., Bl. 90). SD - Bericht, Kattowitz, vom 20.3.1943 ( ebd., Bl. 122). SD - Bericht, Pless, vom 28.5.1943 ( ebd., Bl. 37). SD - Bericht, Rybnik, vom 28.5.1943 ( ebd., Bl. 38).
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Nacht sich alle in den Wäldern zusammen trafen. Die Staatspolizei ist hiervon benachrichtigt worden.«21 Teilweise gelang es, die Deserteure festzunehmen, was in der Regel eine kriegsgerichtliche Verurteilung und nicht selten die Verhängung der Todesstrafe zur Folge hatte : »Seit Bestehen des Wehrmeldeamtes Rybnik ( Ende 1939) liegen bei dem Wehrmeldeamt Rybnik rund 35 Fälle vor, in denen zur Wehrmacht einberufene Dienstpflichtige dem Gestellungsbefehl nicht nachgekommen sind. Seit Übernahme des Wehrmeldeamtes Rybnik durch Oberstleutnant K. vor etwa 2 Jahren, sind es etwa 8–10 Fälle, seit Herbst vorigen Jahres etwa 3–4 Fälle, die in den vorgenannten 35 mit enthalten sind. In etlichen Fällen sind die Flüchtigen verraten worden bzw. inzwischen erschossen.«22 Die Motive zur Fahnenflucht, welche sich in den SD - Berichten niederschlagen, sind vor allem Angst vor der Ostfront und Furcht vor dem Dienst in der Wehrmacht allgemein, die ab 1943 immer mehr Niederlagen erlitt. Bezüglich der Provinz Oberschlesien wird verhältnismäßig selten Patriotismus – z. B. in Form der Bereitschaft zur Mitwirkung in der polnischen Widerstandsbewegung – als Grund für die Fahnenflucht genannt. Zumindest sind derartige Meldungen in der Minderheit, was allerdings auch aus einem Mangel an Wissen des SD in diesem Bereich resultieren kann. Sehr oft erwähnen die Berichte pauschal die Aktivitäten der Untergrundbewegung, die diese unternahm, um Desertionen zu fördern, ohne jedoch näher auf konkrete Maßnahmen einzugehen.23
3. Das Sondergericht Kattowitz Die erst in jüngster Vergangenheit ausgewerteten Berichte des SD aus der Provinz Oberschlesien erlauben relativ genaue Einblicke in das Ausmaß der Einberufungen zur Wehrmacht und in die Reaktionen vieler Betroffener, die sich in Fahnenflucht äußerte. Sie informieren jedoch nicht über die Anstrengungen der deutschen Stellen zur Fahndung nach Deserteuren und die Art und Weise ihrer Bestrafung. Zur Beantwortung derartiger Fragen können die im Staatsarchiv Kattowitz verwahrten Akten des Sondergerichts Kattowitz herangezogen werden. Zwar wurden festgenommene Deserteure von Kriegsgerichten abgeurteilt, deren Akten im Allgemeinen nicht in Staatsarchiven überliefert sind. Nicht wenige in
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SD - Bericht, Rybnik, vom 9.3.1943 ( ebd., Bl. 112). SD - Bericht, Rybnik, vom 6.4.1943 ( ebd., Bl. 179). Vgl. z. B. SD - Bericht, Pless, vom 28.5.1943 ( ebd., Bl. 37).
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diesem Zusammenhang entstandene Dokumente fanden jedoch Eingang in die Akten des Sondergerichts, dessen Unterlagen in großer Zahl erhalten blieben.24 Warum wurden diese Materialien bis zum heutigen Tag in den sowieso nur vereinzelt vorhandenen Publikationen zur Zwangsrekrutierung von Oberschlesiern nicht berücksichtigt ? Ursächlich hierfür waren wohl die Annahme, dass ein Sondergericht sich mit dem militärischen Straftatbestand der Desertion nicht befasste sowie der oft unterschätzte Anteil von Helfern bei der Fahnenflucht. Nach genauerer Betrachtung des Bestandes, der zahlreiche Akten zu Verfahren wegen Hilfeleistung für Deserteure durch Familienmitglieder oder Bekannte umfasst, trat jedoch klar zu Tage, dass darin sehr wohl umfangreiche und aussagekräftige Unterlagen vorhanden sind. Jede Aktenmappe beinhaltet Unterlagen wie Zeugenaussagen und andere Dokumente der an der Sache beteiligten Institutionen sowie auch Materialien der Kriegsgerichte, die eng mit den Sondergerichten zusammenarbeiteten. Sehr oft haben Kriegsgerichte Verfahren vor dem Sondergericht Kattowitz ausgelöst : Nach dem Verhör des Deserteurs sorgten sie dafür, dass dort Ermittlungen gegen die Fluchthelfer eingeleitet wurden und im Zuge dieser Ermittlungen leiteten sie die Namen der betreffenden Personen sowie Abschriften von Unterlagen aus dem Militärgerichtsverfahren an die Justizbehörden in Oberschlesien weiter. Beispielhaft sollen hier die Verfahren gegen den 22 - jährigen Kanonier Karl Heinz Gaida, geboren 1920 in Bielschowitz ( heute Ruda Ślaska ), und seine Fluchthelfer dargestellt werden.25 Die Sache gelangte auf Initiative des Feldgerichts des Kommandeurs der 21. Flak - Division nach Kattowitz. Das in Frankfurt a. M. ansässige Kriegsgericht übersandte seine Unterlagen mit dem Ersuchen dorthin, Ermittlungen gegen mehrere Personen einzuleiten, die Gaida bei der Desertion unterstützt hatten. Die erhaltenen Schriftstücke erlauben die Rekonstruktion von fast zwei Jahren im Leben eines Oberschlesiers, der als deutscher Soldat dem wehrmachtgerichtlichen Verfahren unterstand. Aus den ersten Dokumenten, datierend vom September 1942, geht hervor, dass sich Gaida während der Vernehmung durch den Untersuchungsführer Oberkriegsgerichtsrat der Luftwaffe Dr. Mayer zu Gründen und Vorgehensweise bei seiner Fahnenflucht genau erklärte. Zuerst habe er sich bei seinem Vorgesetzten Urlaub besorgt, was er mit der Notwendigkeit begründete, seinen Eltern, die einen 160 Morgen großen Bauernhof besaßen, bei der Ernte helfen zu müssen. Zu Hause habe er dann beschlossen, nicht an die Front zurückzukehren. Um dies zu erreichen, wollte Gaida eine Krankheit vortäuschen : »Schon bevor der 24
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Vgl. Alfred Konieczny, Pod rządami wojennego prawa karnego Trzeciej Rzeszy. Górny Śląsk 1939–1945 ( Unter dem Kriegsstrafrecht des Dritten Reiches. Oberschlesien 1939–1945), Warszawa 1972. Untersuchungsakten Karl - Heinz Gaida ( APKat, Sąd specjalny w Katowicach [ Sondergericht Kattowitz ], Nr. 134/691, unpag.).
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Urlaub zu Ende ging, hatte ich in meinem Angstzustand verdünnte Salzsäure getrunken, um krank zu werden und [ in ] die ärztliche Behandlung zu kommen. Ich dachte auf diese Weise um die geforderte Bescheinigung des Ortsbauernführers herumkommen zu können, da ich annahm, dass die Batterie, wenn sie erführe, dass ich krank geworden sei, eine solche nicht mehr verlangen würde. Die Salzsäure hatte aber außer Übelkeit und geringer Schmerzen keine besonderen Nachwirkungen.«26 Nach dem misslungenen Vergiftungsversuch und dem Erreichen seines Urlaubsendes rückte Gaida von dem Entschluss, dem Dienst in der Wehrmacht fernzubleiben, nicht ab. Mit Hilfe von Verwandten und Bekannten besorgte er sich Zivilkleidung und übernachtete mehrere Tage in verschiedenen Häusern. In einem dieser Quartiere kam der flüchtige Soldat in Kontakt mit der polnischen Widerstandsbewegung : »Danach war ich etwa 8 Tage bei Wieteze selbst in Bielschowitz untergebracht. Dieser gab mir einen abgestempelten, aber noch nicht ausgefüllten Fingerabdruck. Es handelt sich dabei um Formulare der Polizei zur Einwohnererfassung. Wo er es her hat, weiß ich nicht. Diesen Ausweis füllte ich im Frühjahr 1942 auf den Namen Bolislaus Kubien, geb. 13.2.1921 in Brzezinka aus. Während meines Aufenthaltes bei Wieteze erzählte mir dieser von einer polnischen Geheimorganisation und fragte mich, ob ich ihr beitreten wollte. Ich habe ihm gleich geantwortet, ich hätte eine Schande begangen, eine zweite würde ich nicht noch auf mich nehmen.«27 Trotzdem bekam Gaida die gefälschten Dokumente von der Untergrundorganisation und konnte sich drei Monate bei einer polnischen Familie in Birkenau (Brzezinka ) bei Myslowitz verstecken. Erst danach wurde er während eines Besuchs bei einer anderen Familie festgenommen. Hierüber berichtete der 22 - Jährige im Ermittlungsverfahren wie folgt : »Als ich am nächsten Morgen vor dem Haus stand und sah, dass zwei Gendarmeriebeamte auf Fahrrädern sich näherten, lief ich in das Haus. Ich wollte die [ Frau ] Hajost warnen, weil sie verbotenerweise am Getreidemahlen war. Die Beamten schöpften Verdacht und kamen ins Haus. Ich hätte noch Zeit gehabt davonzulaufen, habe das aber nicht getan, weil ich endlich den unerträglichen Zustand beenden wollte. Frau Hajost schickte mich auf den Boden, wo ich mich verstecken sollte. Auf ihr Drängen ging ich zwar hinauf, blieb aber vor der Tür stehen. Nach einiger Zeit rief sie mich zurück und sagte, sie hätte mich als ihren Bruder ausgegeben. Als die Beamten mich fragten wie ich heiße, sagte ich Hajost. Sie forderten mich daraufhin auf, mich auszuweisen. Ich zeigte den Fingerabdruckausweis, der auf den Namen Kubien lautete. Da der von mir angegebene Name und der Name auf dem Ausweis nicht übereinstimmten, sagten sie mir auf den Kopf zu, ich hätte gelogen. Ich erhielt darauf von einem der beiden Beamten Ohrfeigen. Als ich versuchte, den Ausweis zu zerreißen, schlugen beide auf mich ein und traten mich auch gegen den Magen. [...] Als ich den Beschäftigungsnachweis ebenfalls zerreißen wollte, forderten mich die Beamten auf, den Ausweis hinzulegen. Als ich
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Ebd. Ebd.
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trotzdem auch diesen Ausweis zu zerreißen begann, machte einer von den Beamten von seiner Schusswaffe Gebrauch. Ich wurde am Geschlechtsteil und Oberschenkel getroffen. Es ist möglich, dass ich mit den Beamten polnisch gesprochen habe.«28
Den entsprechenden Protokollen zufolge änderte Gaida mehrmals seine Aussagen und gab immer neue Namen an, beharrte jedoch darauf, dass er der polnischen Widerstandsbewegung nicht beitreten wollte. Letztendlich erkannte ihn das Kriegsgericht29 am 21. Oktober 1942 der Desertion für schuldig : »Der Angeklagte wird unter Freisprechung im übrigen wegen unerlaubter Entfernung und wegen Fahnenflucht zu einer Gesamtstrafe von 4 Jahren 2 Monaten Zuchthaus und zum Verlust der Wehrwürdigkeit verurteilt. 7 Wochen der erkannten Strafe sind durch die Untersuchungshaft verbüßt.«30 Die dreiseitige Urteilsbegründung schloss mit der Erklärung, dass das Gericht in diesem Fall von der Todesstrafe absah : »Da die Tat im Felde begangen ist, kann als Strafe nur die Todesstrafe oder lebenslängliches oder zeitiges Zuchthaus in Frage kommen. Das Feldkriegsgericht hat die Todesstrafe nicht für geboten gehalten, vielmehr eine Zuchthausstrafe als ausreichende Sühne angesehen.«31 Da Informationen über die Tat und deren juristische Sanktionierung in der Regel den Unterlagen des Kriegsgerichtes entstammen, wäre an dieser Stelle unser Wissen erschöpft. Hier ergibt sich jedoch die seltene Gelegenheit, nicht nur das Schicksal des Angeklagten weiter zu verfolgen, sondern auch etwas über das Vorgehen der deutschen Behörden gegen die beteiligten Fluchthelfer zu erfahren, da die Sache nicht mit der Verurteilung des Soldaten endete. Ein neuer Handlungsstrang im Fall Gaida entstand, als die Akten im April 1943 an das Kattowitzer Sondergericht gelangten, verbunden mit der Empfehlung, Ermittlungen gegen die beteiligten Helfer einzuleiten. Das letztlich wegen Begünstigung zur Fahnenflucht geführte Verfahren betraf ein Dutzend Personen, die Gaida in den Verhören benannt hatte. Das Schicksal der verdächtigten Personen stellt sich sehr unterschiedlich dar. Anton Jonkisch, einer der Helfer, befand sich während der Ermittlungen in Schutzhaft, war jedoch wegen Mitgliedschaft in der polnischen Widerstandsbewegung angeklagt. Er bestätigte diese Tatsache, gab auch zu, dass er dem Deserteur Hilfe geleistet hatte, beschrieb allerdings dessen Verhalten anders als Gaida selbst :
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Untersuchungsakten Karl - Heinz Gaida ( APKat, Sąd specjalny w Katowicach [ Sondergericht Kattowitz ], Nr. 134/691, unpag.). Das Gericht urteilte in folgender Besetzung : Vorsitzender Richter : Kriegsgerichtsrat der Luftwaffe Foerster, militärische Beisitzer : Hauptmann Korinth (3. Res. Flak Abt. 291), Gefreiter Rollfink (3. Res. Flak Abt. 291), Vertreter der Anklage : Oberkriegsgerichtsrat der Luftwaffe Dr. Mayer, Urkundsperson : Gefreiter Weinkötz ( Stab 5. Flak - Div.), ebd. Untersuchungsakten Karl - Heinz Gaida ( APKat, Sąd specjalny w Katowicach [ Sondergericht Kattowitz ], Nr. 134/691, unpag.). Ebd.
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»Über meine Zugehörigkeit zur polnischen Geheimorganisation habe ich auch mit Gaida gesprochen. Das war als er einmal mich fragte, ob ich ihm Papiere besorgen könne. Ich erzählte ihm also, dass ich einer polnischen Geheimorganisation angehöre und dass ich mit jemandem, der in dieser Organisation etwas zu sagen habe, sprechen werde, ob keine Möglichkeit besteht, ihm durch die Geheimorganisation weiterzuhelfen. Gaida war damit einverstanden und fragte mich bei dieser Gelegenheit, ob er nicht auch dieser Organisation beitreten könne. Er sagte noch, dass Deutschland sowieso den Krieg verlieren werde und dass er sich bis zu dieser Zeit verstecken würde. Ich sagte dem Gaida, dass er sich bei mir so lange nicht aufhalten könne, denn der Krieg werde bestimmt noch lange dauern. Über seine eventuelle Mitgliedschaft zur Geheimorganisation, sagte ich dem Gaida, werde ich noch mit jemandem sprechen. Ich sprach dann über Gaida mit dem Karl Witecy aus Bielschowitz. Dieser war Gruppenleiter unserer Organisation. Witecy sagte, dass man den Gaida unterstützen müsse, denn er sei ein geflüchteter deutscher Soldat und es im Interesse der polnischen Sache sei, wenn Gaida zur Truppe nicht zurückkehrt. Witecy lehnte eine Mitgliedschaft des Gaida zur Organisation ab.«32
Das weitere Schicksal von Jonkisch ist unbekannt, höchstwahrscheinlich gelangte er in ein Konzentrationslager. Ein anderer Helfer Gaidas, sein Cousin Georg Kwasnok, war in der Zwischenzeit an der Ostfront gefallen, sodass er für die Hilfeleistung bei der Fahnenflucht nicht mehr bestraft werden konnte. Da der Deserteur sich zuerst an ihn gewandt hatte, war er zu Beginn der Ermittlungen der wichtigste Verdächtige. Auch seines Vaters Gerhard Kwasnok konnte die Gestapo nicht habhaft werden, weil dieser kurz zuvor verstorben war. Letztendlich wurden zwei Frauen angeklagt : die 51 - jährige Witwe Gertrude Kwasnok aus Bielschowitz und die zwei Jahre ältere Gertrud Kutta aus Königshütte, beide Angehörige der Abteilung 3 der DVL. Die Frauen wurden festgenommen und im Kattowitzer Gefängnis inhaftiert; nach langandauernden, siebenmonatigen Ermittlungen erging das Urteil. Bezogen auf den Charakter der Sondergerichte, die nach dem Willen der NS - Führung vor allem schnell urteilen sollten, sind nicht nur die Dauer, sondern ebenfalls die Genauigkeit des Verfahrens sowie der dafür betriebene Aufwand bemerkenswert. Einer der Rechtsanwälte, die Gertrude Kwasnok verteidigten, forderte, Karl Heinz Gaida als Zeuge zu laden. Gertrude Kwasnok verneinte die Frage, ob sie Gaida bei sich zu Hause empfangen hätte, obwohl der dies zwei Mal selbst ausgesagt hatte – sowohl während des Prozesses, als auch im Januar 1944 in der Haft. Das Gericht kam dem Ersuchen der Verteidigung nach und leitete ein Verfahren ein mit dem Ziel, den Aufenthalt Gaidas festzustellen und diesen nach Kattowitz zu überführen. Seine Strafe verbüßte er in einem der sogenannten Emslandlager, dem Strafgefangenenlager III Brual - Rhede, wie man einem Schreiben des Vorsitzenden des Sondergerichts Kattowitz vom 11. Januar 1944 entnehmen kann. Ein Antrag auf Verlegung des Häftlings nach Kattowitz wurde mit der Mitteilung beschieden, dass Karl - Heinz Gaida in der Zwischenzeit in das Wehrmacht32
Ebd.
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gefängnis Torgau - Fort Zinna verlegt worden sei. Von dort aus sollte er in einer Bewährungseinheit zum Frontdienst kommen. In einem Schreiben bestätigte die Gefängnisleitung, dass Gaida Insasse der Torgauer Anstalt sei und stimmte seiner Teilnahme an dem Prozess in Kattowitz zu. Gleichzeitig drängte sie jedoch auf einen möglichst frühen Termin, da »G[ aida ]. nach Abschluss der Ausbildungszeit, die etwa in 3 Wochen beendet ist, zu einer Feldeinheit abgestellt wird«.33 Der Bitte der Wehrmacht folgend setzte das Gericht einen zeitnahen Verhandlungstermin an. Der Prozess fand am 24. März 1944 statt. Das Protokoll des Sondergerichts Kattowitz belegt, dass Gaida im Gerichtssaal anwesend war : »Der Zeuge sagt zur Sache : Ich heiße Karl Gaida, bin 22 Jahre alt, Kanonier z. Zt. in Torgau. Die Angeklagten sind meine Tanten. Nach Belehrung sagte der Zeuge zur Sache aus.«34 Leider gelangte eine detaillierte Niederschrift dieser Aussage nicht zu den Akten. Jedoch blieb Gaidas Auftritt vor dem Sondergericht Kattowitz keineswegs folgenlos. Gertrude Kwasnok, die sich konsequent weigerte, sich schuldig zu bekennen und abstritt, dem Flüchtigen Hilfe geleistet zu haben, wurde nach der Gegenüberstellung mit Gaida freigesprochen und aus der Haft entlassen. Gertrud Kutta befand das Gericht hingegen der Beihilfe zur Fahnenflucht für schuldig und verhängte eine Strafe von 1 Jahr und 6 Monaten Zuchthaus, die sie in Cottbus verbüßte.
4. Patriotismus oder Anpassung ? Wir wissen leider nicht, wie groß das Ausmaß der Fahnenflucht unter den Soldaten der Abteilung 3 der DVL aus Oberschlesien war. Sicher erreichte sie nie den Charakter eines Massenphänomens. Aus einer Meldung des Oberpräsidiums der Provinz Oberschlesien vom Juli 1943 ist ersichtlich, dass von 71 000 Einberufenen aus der Abteilung 3 der DVL nur 157 geflohen waren und weitere 151 die Eidesleistung verweigerten.35 Wegen der als erhöht eingeschätzten Desertiongefahr dieser Personengruppe erteilte allerdings das Oberkommando der Wehrmacht 1943 die Weisung, in die Wehrpässe der Betreffenden die Bezeichnung »Pole« einzutragen, um Vorgesetzte zu warnen. Zudem bestand ein Verbot, diese Soldaten in solchen Einheiten zu verwenden, aus denen sie leicht überlaufen oder auf dem Seeweg die neutralen Staaten erreichen konnten.36 33 34 35
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Ebd. Ebd. Bericht des Oberpräsidiums der Provinz Oberschlesien, »Dringende Volkstumsfragen« vom 19. 7. 1943 ( APKat., Naczelne Prezydium w Katowicach [ Oberpräsidium Kattowitz ], Nr. 117/ 140, Bl. 96). Konrad Ciechanowski, Pobór Polaków z Pomorza Gdańskiego do armii niemieckiej i zmilitaryzowanych oddziałów roboczych w latach II wojny światowej ( Die Einberufung von Polen aus
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Die Mehrheit der Soldaten dachte allerdings nicht an Fahnenflucht, sondern ans Überleben. Dem polnischen Historiker Józef Chlebowczyk zufolge betrachteten sich die Personen der Abteilung 3 und 4 der DVL als Menschen zweiter Kategorie, sie sahen somit auch kein besonderes Bedürfnis, sich auf deutscher Seite hervorzutun.37 Aus ihrer Sicht war es besser, nicht aufzufallen. Man versuchte weder patriotisch zu sein, denn dies hätte gewisse Gefahren mit sich gebracht, noch mit dem Feind zu kollaborieren, denn dazu fehlte es an Überzeugung und Motivation. Leitlinie in ihrem Verhalten war – vereinfacht und zusammenfassend gesagt – sich anzupassen und zu überleben. Da die Schicksale und Lebensbahnen dieser Soldaten sehr kompliziert waren, ist es schwierig, ihre Haltung zum Dienst in der Wehrmacht eindeutig zu klassifizieren. Das Spektrum reichte von polnischem Patriotismus, was oft die Ablehnung des Wehrdienstes und die Fahnenflucht nach sich zog, über Anpassung, wo die Entscheidung über eine Fahnenflucht erst unter dem Eindruck der deutschen Niederlagen an den Fronten getroffen wurde, bis hin zur extremen Kollaboration. Die Unterlagen des Sondergerichts Kattowitz eröffnen die Möglichkeit, das Problem sowohl aus der Perspektive der Betroffenen, als auch aus der Sicht der deutschen Justiz zu betrachten. Auf Seiten übergeordneter Justizbehörden existierte die Vorgabe, Deserteure und ihre Helfer hart zu bestrafen und Todesurteile zu verhängen bzw. Einweisungen in KZ zu veranlassen. Bei den Gerichten vor Ort ist dagegen zu erkennen, dass der Anspruch auf schnelle Verfahrensdurchführung in solchen Sachen nicht in jedem Fall der Realität entsprach, und dass auch hier das Gebot der genauen Prüfung der Sache gelten konnte. Bei Analyse der Gerichtsakten entsteht der Eindruck, dass die Durchführung der Verfahren sowie die Urteilsfindung nur oberflächlich von NS - Idee und rassistischen Denkfiguren durchdrungen waren. Als Vollstrecker der Idee – vor allem in Person der beteiligten Juristen – traten nicht nur überzeugte Nazis in Erscheinung. Vielmehr richteten auch »kleine Deutsche«, die nicht unbedingt die herrschende Ideologie befürworteten und die nicht immer der nationalsozialistischen Weltanschauung anhingen, über Deserteure. In vielen Fällen handelte es sich bei den Juristen wohl um Opportunisten, die ohne Zweifel die neue Situation akzeptiert hatten. Ihr Wissen um die Rassenfrage war nicht umfangreich und schlug sich kaum in den Urteilen nieder. In mehreren Fällen stoßen wir bei den Richtern des Sondergerichts Kattowitz eher auf Anhänger des juristischen Positivismus, den sie während ihres Studiums bzw. Referendariats kennengelernt hatten und der ideologische Motive ablehnte. Oft nutzten die deutschen Richter die
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Pomerellen zur Wehrmacht und zu militärischen Arbeitseinheiten in den Jahren des Zweiten Weltkrieges ). In : Stutthof, Zeszyty Muzeum, 6 (1985), S. 45–72, hier 53 f. Józef Chlebowczyk, Nad Olzą. Śląsk Cieszyński w wiekach XVIII, XIX i XX ( An der Olsa. Teschener Schlesien im 18., 19. und 20. Jahrhundert ), Katowice 1971, S. 222.
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Rassengesetze nur im Hinblick auf deren normativen Charakter, rassistische Argumentationsstränge finden sich in den Urteilsbegründungen hingegen sehr selten. In Urteilen gegen deutsche Kriminelle, die von den gleichen Gerichten gefällt wurden, scheint oft ein größerer Widerwille gegen den »Verbrecher« durch als in den Begründungen zu den Desertionsfällen. Einen wichtigen Aspekt, auf den hier abschließend hingewiesen werden soll, bildet auch die voneinander abweichende Sichtweise auf die sogenannte Rassenfrage auf dem Gebiet des Altreichs ( in den Grenzen vor 1938) im Vergleich mit dem nach der Besetzung Polens durch Deutschland annektierten oberschlesischen Territorium. Im Altreich war die rassistische Kategorisierung für die Richter eindeutig geklärt; hier verlief eine Trennlinie zwischen »Deutschblütigen« und Menschen ohne bürgerliche Rechte. Im Gegensatz dazu funktionierte diese klare, jedem Deutschen seit den 1930er Jahren bekannte Separierung in der Provinz Oberschlesien nicht, da der nationale Status der dort ansässigen Bevölkerung in den ersten Kriegsjahren unentschieden blieb. Erst später, im Laufe von Gerichtsverfahren, wurde anerkannt, dass die Oberschlesier denselben Status wie Deutsche aus dem Altreich genießen durften. Diese außergewöhnliche, durch Juristen praktizierte Gleichsetzung mit den Deutschen fand jedoch in Oberschlesien im politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bereich keine Entsprechung.
Christoph Brüll Die Wehrmachtjustiz in Belgien als Instrument der Besatzungspolitik
1. Einleitung In den historischen Untersuchungen zum deutschen Terror - und Verfolgungsapparat im besetzten Belgien und Nordfrankreich ist die Wehrmachtjustiz gegen Landeseinwohner noch kaum in den Blick der Forschung geraten. Konsultiert man das jüngste einschlägige Nachschlagewerk, den 2008 erschienenen »Dictionnaire de la Seconde Guerre mondiale en Belgique«, findet man unter dem Schlagwort »Justice allemande« einen knappen, zweispaltigen Eintrag der Brüsseler Historikerin Céline Vanderpelen - Diagre mit einem einzigen bibliographischen Verweis auf eine Brüsseler Lizenzarbeit aus dem Jahr 2004.1 In der Zeitschrift des Brüsseler Studienzentrums für Krieg und moderne Gesellschaft (CEGES / SOMA) erschien dann 2010 ein rechtshistorischer Artikel, in dem sich der Genter Historiker Dimitri Roden im Rahmen der Forschungen für seine Dissertation erstmals ausführlich mit der Organisation der deutschen Justiz in Belgien befasste.2 Die älteren Darstellungen von Wolfram Weber zur »inneren Sicherheit« und Albert de Jonghe zu den Konflikten zwischen Militärverwaltung und SS behandeln die Kriegsgerichte nur kursorisch, da sie ihren Fokus auf den besser dokumentierten und – gerade auch im Fall der Judenverfolgungen – aktiveren Polizeidiensten haben.3 Allen genannten Veröffentlichungen ist jedoch gemein, 1
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Céline Vanderpelen - Diagre, Justice allemande. In : Paul Aron / José Gotovitch ( Hg.), Dictionnaire de la Seconde Guerre mondiale en Belgique, Brüssel 2008, S. 240; Tamara Altman, Les criminels de droit commun jugés par les conseils de guerre allemands durant la Seconde Guerre mondiale en Belgique. Etude qualitative et quantitative sur base des Personalakten de la prison de Saint - Gilles, unveröffentl. Lizenzarbeit in Geschichte, Université libre de Bruxelles, Brüssel 2004. Dimitri Roden, Van aanhouding tot strafuitvoering. De werking van de Duitse gerechtelijk apparaat in bezet België en Noord - Frankrijk, 1940–1944. In : Bijdragen tot de Eigentijdse Geschiedenis, 22 (2010), S. 113–160. Wolfram Weber, Die innere Sicherheit im besetzten Belgien und Nordfrankreich 1940–1944, Düsseldorf 1978; Albert de Jonghe, De strijd Himmler - Reeder om de benoeming van en HSSPF
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dass sie einerseits die These von der Militärjustiz als einem »wichtigen Repressionsmittel« in den Händen der Besatzer aufstellen, dass sie andererseits jedoch auf die mangelnde wissenschaftliche ( und damit auch empirische ) Aufarbeitung des Themas hinweisen. Während sich dieser Beitrag die aufgestellte These durchaus zu eigen macht, wird auch er die Forderung nach Aufarbeitung nicht empirisch einlösen können. Es handelt sich um einen Überblick in Gestalt einer vorwiegend institutionengeschichtlichen Bestandsaufnahme, die sich in weiten Teilen auf die erwähnten Forschungen von Roden stützt und sich an ein mit der deutschen Besatzungspolitik in Belgien weniger vertrautes Publikum richtet. Dabei wird an mehreren Stellen deutlich, dass zahlreiche Fragen von der Forschung bisher noch nicht angegangen worden sind. Zunächst werden der Aufbau der Besatzungsverwaltung und die »Politik des geringsten Übels« der belgischen Behörden geschildert; daran schließt eine Schilderung zu Aufbau und Funktionieren der Militärgerichtsbarkeit an; zuletzt wird das Fallbeispiel des Gerichts der Oberfeldkommandantur ( OFK ) 589 in Lüttich herangezogen. Eine kurze Bemerkung zum Zeitraum : Der Aufsatz behandelt die Zeit zwischen der Errichtung der Militärverwaltung unter dem Militärbefehlshaber Belgien und Nordfrankreich ( MBB ), Alexander von Falkenhausen (1878–1966), und dem Chef der Militärverwaltung, Eggert Reeder (1894–1959), im Mai / Juni 1940 bis hin zu ihrer Aufhebung am 18. Juli 1944. Die danach unter Führung des Kölner Gauleiters Josef Grohé (1902–1987) eingerichtete Zivilverwaltung wird nicht thematisiert, was angesichts ihrer kurzen Existenz – die Befreiung Brüssels erfolgte Anfang September 1944 – und der damaligen chaotischen Umstände kein Manko sein sollte, auch wenn die Militärgerichtsbarkeit als solche offensichtlich bis zum bitteren Ende funktionierte.
2. Der Aufbau der Besatzungsverwaltung und die »Politik des geringsten Übels« der belgischen Behörden Im Juni 1940 wurde nach einigen Wendungen – u. a. das Statut der Niederlande und Luxemburgs betreffend – eine Militärverwaltung in Belgien und Nordfrankreich errichtet.4 Die Eingliederung der beiden französischen Départements
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te Brussel (1942–1944). Eerste deel : de Sicherheitspolizei in België. In : Bijdragen tot te Geschiedenis van de Tweede Wereldoorlog, 3 (1974), S. 16–62. Vgl. Benoît Majerus, Administration militaire allemande. In : Aron / Gotovitch, Dictionnaire, S. 6–13; ders., Von von Falkenhausen ( Ludwig ) zu von Falkenhausen ( Alexander ). Die deutsche Verwaltung Belgiens in den zwei Weltkriegen – Brüche, Kontinuitäten und Lernprozesse. In : Günter Kronenbitter / Markus Pöhlmann / Dierk Walter ( Hg.), Besatzung. Funktion und Gestalt militärischer Fremdherrschaft von der Antike bis zum 20. Jahrhundert, Paderborn 2006, S. 131–
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Nord und Pas - de - Calais hatte zunächst wirtschaftliche Gründe, wobei ideologische Motive nicht ganz beiseitegelassen werden können, so z. B. das in der damaligen »Westforschung« diskutierte »germanische Volkserbe in Wallonien und Nordfrankreich«. Zum Militärbefehlshaber wurde der 62 - jährige General der Infanterie Alexander von Falkenhausen ernannt, ein Neffe des deutschen Militärbefehlshabers während des Ersten Weltkriegs, Ludwig von Falkenhausen (1844– 1936). Zwei Faktoren bestimmten die Errichtung der Militärverwaltung : das sehr negative Bild, das die Besetzung während des Ersten Weltkriegs sowohl bei den Belgiern als auch bei den Deutschen hinterlassen hatte, und die tatsächliche oder vermeintliche Drohung mit der Errichtung einer Zivilverwaltung, die als wesentlich härter als eine Militärverwaltung galt. In der Terminologie von SS - Vordenker Werner Best war die Militärverwaltung als »Aufsichtsverwaltung« konzipiert, d. h. das Gebiet sollte unter Beibehaltung der belgischen Verwaltungsstrukturen so reibungslos wie möglich geführt und die Wirtschaft in die deutschen Kriegsanstrengungen integriert werden.5 Über das endgültige Schicksal Belgiens – z. B. über eine von Hitler und einigen »Westforschern« angedachte Spaltung zwischen Flandern und Wallonien – sollte nach Kriegsende entschieden werden. Die dem Oberkommando des Heeres ( OKH ) unterstehende Militärverwaltung war in zwei Stäbe unterteilt : in den Kommandostab unter Bodo von Harbou – dem u. a. die Abwehr, die Feldgendarmerie, die Geheime Feldpolizei ( GFP ), aber auch Grenzschutzregimenter unterstanden – und den Verwaltungsstab unter dem Chef der Militärverwaltung, Eggert Reeder, im Range eines SS Gruppenführers, der bis dato Regierungspräsident von Köln gewesen war. Etliche seiner Mitarbeiter stammten aus den Reihen der Kölner Administration, wo sie seit November 1939 mit den Vorbereitungen eines Besatzungsregimes für Belgien betraut gewesen waren – bekanntes Beispiel ist der Generalreferent Reeders, Oberregierungsrat Franz Thedieck (1900–1995), seit 1931 Reichsbeauftragter für Eupen - Malmedy und nach 1949 Staatssekretär im Ministerium für Gesamt-
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133; ders., Vorstellungen von der Besatzung Belgiens, Luxemburgs und der Niederlande (1933– 1944). In : Jörg Echternkamp / Stefan Martens ( Hg.), Der Zweite Weltkrieg in Europa. Erfahrung und Erinnerung, Paderborn 2007, S. 35–43; Francis Balace / José Gotovitch, Militärverwaltung. In : Francis Balace ( Hg.), Jours de Chagrin I, Brüssel 1991, S. 81–101; Marc Van Den Wijngaert (Hg.), België tijdens de Tweede Wereldoorlog, Antwerpen 2004; Nico Wouters, De Führerstaat. Overheid en collaboratie in België (1940–1944), Tielt 2006; Etienne Verhoeyen, La Belgique occupée. De l’an 40 à la libération, Brüssel 1994. Best führte seine Ideen dazu in einem Aufsatz aus, der in einer völkischen Zeitschrift veröffentlicht wurde, während er Chef der Abteilung Verwaltung beim Militärbefehlshaber in Frankreich war : Werner Best, Die deutsche Militärverwaltung in Frankreich. In : Reich – Volksordnung – Lebensraum, Band 1, 1941, S. 29–76.
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deutsche Fragen.6 Genannt sei auch der Kulturreferent Franz Petri (1903–1993), Historiker und einer der führenden »Westforscher«, in den 1950er und 1960er Jahren Professor und Direktor am Institut für Geschichtliche Landeskunde der Rheinlande in Bonn. Der Verwaltungsstab bestand neben dem Präsidialbüro aus der Verwaltungs - und der Wirtschaftsabteilung. Auf den unteren Ebenen war die Militärverwaltung in OFK, die eine oder mehrere Provinzen umfassten, und Feldkommandanturen ( FK ) gegliedert. Mit der Einsetzung des SS - Führers Richard Jungclaus (1905–1945) als Referent für Volkstumsfragen im April 1942 machten Himmler und Heydrich ihren Einfluss auch in Belgien stärker geltend – eine Präsenz von Sicherheitspolizei und Sicherheitsdienst ( Sipo - SD ) gab es schon seit dem Beginn der Besatzung mit einem Beauftragten des Chefs der Sipo - SD, der formal auch der Verwaltungsabteilung unterstand.7 Die deutschen Polizeibehörden interessierten sich natürlich für politische Delikte und waren eigentlich gegenüber der Militärverwaltung, beispielsweise bei Verhaftungen, meldepflichtig – in etlichen Fällen wurde dies jedoch ignoriert. Dass es zu Spannungen mit der Militärverwaltung kam, ist unbestritten. Diese machten sich u. a. an der Personalie Thedieck fest. Andererseits ist die über lange Zeit hartnäckig verbreitete Darstellung einer »gemäßigten« Militärverwaltung gegenüber einer brutalen SS - Politik nach den jüngsten Forschungen unhaltbar.8 Sie beruhte hauptsächlich auf den Selbstdarstellungen Falkenhausens und Reeders während ihres Prozesses vor dem Kriegsgericht in Brüssel 1950/51, die umso glaubwürdiger schienen, als die militärische Führung der Militärverwaltung sich vor allem aus preußisch - konservativen Kreisen rekrutiert hatte, die dem Nationalsozialismus tatsächlich oder vermeintlich reserviert gegenübergestanden hatten. Im Zusammenspiel mit dem Mythos von der »sauberen Wehrmacht«, der zumindest teilweise auch die westeuropäische Sicht auf den Zweiten Weltkrieg dominierte, hielt sich diese Auffassung bis in die 1990er Jahre. Nur wurde das Wichtigste dabei übersehen : zwischen Militärverwaltung und SS gab es immer dann Spannungen, wenn Maßnahmen der SS die »öffentliche Ruhe und Ordnung« zu stören drohten. Doch die Ziele und Methoden der SS, ob bei der Bekämpfung des Widerstands oder bei der Judenverfolgung, wurden nie in Frage gestellt oder gar behindert, wie Insa Meinen es in ihrer Darstellung zur Judenverfolgung in Belgien sehr prägnant herausgearbei-
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Vgl. Christoph Brüll, Franz Thedieck (1900–1995) – »Zeitgenosse des Jahrhunderts«. In : Historisch - Politische Mitteilungen, 20 (2013), S. 341–370. Benoît Majerus, La SIPO - SD en Belgique. Une police faible ? In : Vingtième Siècle. Revue d’histoire, 3/2013, S. 43–54. Vgl. beispielsweise Marc Van den Wijngaert, Bestuur en politiek : het minste kwaad. In : ders., België, S. 45–65; ders., Repressie, terreur en deportatie. In : ebd., S. 153–172.
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tet hat.9 Dabei wird deutlich, wie sehr auch die Historiographie diese Selbstdeutung der Protagonisten übernommen hat.10 Nebenbei bemerkt : es existierten ebenso Spannungen zwischen der Militärverwaltung und dem Wirtschafts - und Rüstungsamt des Oberkommandos der Wehrmacht ( OKW ), das eigenständig agierte; desgleichen bestanden Konflikte mit Luftwaffe und Marine, die sich immer wieder erfolgreich dem Wirken der Militärverwaltung entzogen. Wenden wir uns nunmehr kurz den »Besetzten« zu : König Leopold III., der die militärische Kapitulation vom 28. Mai 1940 auch als Ende des Krieges für Belgien erachtete, war zwar in Belgien geblieben, trat jedoch öffentlich nicht mehr in Erscheinung. Die Regierung, die nach Frankreich gegangen war, durchlitt nach der französischen Niederlage zunächst eine Phase der Resignation, bevor sie im Oktober 1940 nach London gelangte, um dort den Kampf gegen Deutschland fortzusetzen. Erste Gesprächspartner der deutschen Besatzer waren daher die Generalsekretäre, d. h. die höchsten Beamten der verschiedenen Ministerien.11 Ihre Zusammenarbeit mit der Militärverwaltung beruhte auf zwei Rechtsgrundlagen : dem am Tag des deutschen Angriffs, dem 10. Mai 1940, erlassenen Gesetz zur Kontinuität der staatlichen Macht und einem Gesetz aus dem Jahr 1935, das die Beamten verpflichtete, im Falle einer Besetzung an ihrem Platz zu bleiben. Am 12. Juni 1940 unterzeichnete das Kollegium der Generalsekretäre ein Protokoll mit der Militärverwaltung. Unter Billigung einiger der höchsten Magistrate des Landes übten sie damit das Recht der Ausfertigung von Beschlüssen mit Gesetzeskraft aus, wobei ihnen politische Maßnahmen selbstverständlich verboten waren. Dieses Abkommen steht am Beginn dessen, was die Forschung seit dem 1971 erschienenen Standardwerk »L’an 40. La Belgique occupée« als »la politique du moindre mal« – »die Politik des geringsten Übels« bezeichnet.12 Der Kreis der Generalsekretäre, dessen personelle Zusammensetzung sich mehrmals ändern sollte, was den Anteil von Kollaborateuren und deutschfreundlichen Beamten naturgemäß steigerte, bemühte sich mit seinem Wirken, die öffentliche Ordnung aufrechtzuerhalten. Die Illusion von Gleichrangigkeit, der sich die Generalsekretäre hingaben, frappiert, waren doch Gewalt, Zwangsarbeit und Wirtschaftskollaboration an der Tagesordnung; ganz zu schweigen von ihrer pas9
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Insa Meinen, Die Shoah in Belgien, Darmstadt 2009; Rudi Van Doorslaer / Emmanuel Debruyne / Frank Seberechts / Nico Wouters, La Belgique docile. Les autorités belges et la persécution des Juifs en Belgique durant la Seconde Guerre mondiale, 2 Bände, Brüssel 2007. Gerade das Buch von Wolfram Weber ( Die innere Sicherheit ) wirkt heute in weiten Teilen apologetisch, da sich der Verfasser häufig auf die Aussagen der Führung der Militärverwaltung während des Prozesses stützt und diese viel zu selten kritisch hinterfragt. Joeri N. M. E. Michielsen, The »nazification« and »denazification« of the courts in Belgium, Luxembourg and the Netherlands. The Belgian, Luxembourg and Netherland courts and their reactions to occupation measures and measures from their governments returning from exile, Maastricht 2004; Wouters, Führerstaat, S. 19–26. Jules Gérard - Libois / José Gotovitch, L’an 40. La Belgique occupée, Brüssel 1971.
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siven Kollaboration bei den Judenverfolgungen. Die Generalsekretäre reizten somit das Kollaborationsverbot in Artikel 115 des belgischen Strafgesetzbuches aus. Dieses Agieren geriet ab 1941 immer wieder in die Kritik, einerseits durch die Hohe Magistratur ( Kassationshof ), andererseits durch die Exilregierung in London. Erstere entzog sich dem deutschen Einfluss, so gut es ging, was ihr in jedem Fall besser als dem Hohen Rat in den Niederlanden gelang. Aktive Kollaboration der höchsten Gerichte wie in Vichy - Frankreich hat es nicht gegeben – es kam mehrfach zu Krisen zwischen Kassationshof, dem Generalsekretär im Justizministerium und der Militärverwaltung.13 Die juristische und historische Einordnung des Verhaltens der Generalsekretäre ist bis heute umstritten, wobei in der jüngeren Historiographie, nicht zuletzt aufgrund eines gestiegenen Interesses an der Frage der Wirtschaftskollaboration, die kritischen Einschätzungen dominieren.
3. Der Aufbau und das Funktionieren der Militärgerichtsbarkeit a ) Belgisches oder deutsches Recht ?
In der Verwaltungsabteilung der Militärverwaltung existierten zwei Gruppen, die direkt mit der öffentlichen Ordnung und dem Recht betraut waren : Die Gruppe »Polizei«, die nicht nur die Aktivitäten der belgischen und nordfranzösischen Polizeidienste überwachte, sondern auch Daten zu allen Personen sammelte, die mit deutschen Polizeidiensten in Kontakt kamen, und die Gruppe »Justiz«, die die belgischen und nordfranzösischen Justizbehörden überwachte.14 Zwischen der deutschen Justiz in Gestalt der Kriegsgerichte, und dem belgischen Gerichtsapparat gab es zunächst eine klare Trennung. Die deutschen Militärgerichte sollten sich mit allen Straftaten befassen, die sich gegen die Besatzer richteten, während die belgischen Gerichte für die »gewöhnliche« belgische Rechtspflege zuständig blieben. Diese Trennung fand sich auch in einem Abkommen bezüglich der belgischen Ermittlungsbehörden vom 12. Juni 1940, das auf ähnlichen Bestimmungen aus dem Ersten Weltkrieg und aus der Zeit der Rheinlandbesetzung beruhte.15 Um das Prinzip des non bis in idem zu respektieren, wurde ein Informationsaustausch zwischen Behörden notwendig. – Im Fall von Rechtsbrüchen deutscher Soldaten oder zum Nachteil der deutschen Armee war der Ermittlungsbericht dem zuständigen Kriegsgericht zu
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Michielsen, Nazification, S. 55–68 und 70–89; Verhoeyen, Belgique, S. 81–117. Roden, Aanhouding, S. 115. Das Folgende bei Herman Van Goethem, La convention de La Haye, la collaboration administrative en Belgique et la persécution des Juifs à Anvers, 1940–1942. In : Cahiers d’Histoire du Temps Présent, 17 (2006), S. 117–198, hier 153–158.
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übergeben; im Zweifel entschied der Prokurator des Königs, der in der deutschen Rechtsterminologie in etwa dem Oberstaatsanwalt an einem Landgericht entspricht.16 – Im Fall von Taten, die gegen deutsche Verordnungen, nicht aber gegen belgisches Recht verstießen, war der Ermittlungsbericht nicht dem Prokurator auszuhändigen, da nur die deutschen Kriegsgerichte zuständig waren. – Im Fall von Taten, die sowohl gegen deutsche Rechtsbestimmungen ( Verordnungen und das Militärstrafgesetzbuch ( MStGB )) verstießen, als auch in Belgien unter Strafe standen, war der Ermittlungsbericht dem Prokurator zu übergeben, der dann über den Fortgang der Prozedur im Rahmen des belgischen Justizwesens entschied. Allerdings kam es – gerade in ländlichen Gegenden – vor, dass die Polizeibehörden sich sofort an die Besatzungsbehörden wandten. Zunächst sah es also so aus, als ob die Befugnisse der deutschen Gerichte beschränkt bleiben sollten. Bald jedoch traten zwei Konfliktpunkte auf, die bis 1944 nie endgültig gelöst wurden nämlich zum einen die Frage nach der Zuständigkeit bei Straftaten, die sich nicht eindeutig gegen die Besatzer richteten, die jedoch auch nach belgischem Recht strafbar waren. Dazu gehörten Diebstahl, Hehlerei, Schwarzmarktdelikte, vor allem aber unerlaubter Waffenbesitz, der 1943 noch an belgische Gerichte verwiesen wurde, um im April 1944 exklusive deutsche Angelegenheit zu werden.17 Zum anderen zählte dazu die Frage, ob belgische Gerichte auch auf der Grundlage von deutschem Recht urteilen sollten. Letztere wurde von den belgischen Gerichten fast durchgehend verneint; eine deutsche Bestimmung musste formell durch die Generalsekretäre in belgisches Recht eingeführt werden. Letztlich führten diese Zustände zu fast permanenten Eingriffen der Besatzer in den belgischen Rechtsgang – was zwar gegen die Haager Landkriegsordnung verstieß, aber mit einer sehr weiten Auslegung von »gegen die Besatzer gerichteten« Straftaten willkürlich begründet wurde. Altman behandelt fast dreihundert Fälle von »droit commun«,18 die von Kriegsgerichten abgeurteilt wurden. Eine Autonomie der belgischen Justiz gab es damit nicht mehr.19 16 17
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Zur deutschen Rechtsterminologie in Belgien steht eine Datenbank zur Verfügung (www. rechtsterminologie.be; 12.12.2013). Weber, Sicherheit, S. 149; Francis Balace, Le pays de Liège en temps de guerre : un palais très occupé. In : Bruno Demoulin ( Hg.), Liège et le palais des princes - évêques, Brüssel 2008, S. 113– 127, hier 124. Unter »droit commun« ( Gemeines Recht ) versteht man die juristische Behandlung aller Rechtsstreitigkeiten, für die keine Sondergerichtsbarkeit vorgesehen ist. Im belgischen Kontext ist beispielsweise ein Gericht Erster Instanz ein Gericht »de droit commun«, im Gegensatz zu Arbeitsgerichten, Handelsgerichten oder auch der internationalen Gerichtsbarkeit. Roden, Aanhouding, S. 116–117; Altman, Criminels, S. 27.
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Ein Beispiel : Im Oktober 1941 informierte der Generalsekretär des Justizministeriums die Generalprokuratoren ( höchste Staatsanwälte bei Appellationshöfen und auf nationaler Ebene ), dass sich die deutsche Polizei aller Fälle annehmen werde, in denen – wie es schwammig hieß – »deutsche Interessen« berührt würden. Dazu teilte man allen Ermittlungsbehörden einen deutschen Offizier zur Kontrolle zu. Um ein wenig Spielraum zu erhalten und damit den deutschen Forderungen nach Übertragung der Akten zu entgehen, erklärte sich die Magistratur bereit, politische Delikte genau wie gemeinrechtliche Delikte zu behandeln. Vergeblich, wie der Historiker Rudi Van Doorslaer konstatiert : Die deutschen Polizeibehörden »nehmen weiterhin alle Akten an sich, die sie interessieren und [ halten ] ohne Prozess jene Verdächtigen fest, die in belgischen Gefängnissen schmachten«.20 Gefängnisaufenthalte ohne Prozess beruhten auf der am 4. Februar 1941 eingeführten »Sicherheitshaft«, die bei Verdachtsfällen ein einwöchiges Festhalten ohne Ermittlungsverfahren vorsah, auch wenn die Sipo - SD das der Haftnachweiszentrale melden musste. Wenn hier auch Fristen vorgesehen waren, bedeutete dies de facto die Möglichkeit, Personen »bis auf Weiteres« festzusetzen. Immer häufiger führten solche Maßnahmen die Betroffenen in ein KZ. Besatzungspolitisch markierte bereits diese Entscheidung das Ende der Dominanz der GFP zugunsten der Sipo - SD.21 Die GFP diente als Ermittlungsorgan für die Kriegsgerichte, denen ein Festgenommener nach sieben Tagen überstellt werden musste, um einen Haftbefehl zu erwirken.22 Dies sollte nicht darüber hinweg täuschen, dass die GFP, die sich im Übrigen radikalisierte, eindeutig Teil des deutschen Terrorapparates war und auch als solcher von den »Besetzten« wahrgenommen wurde. b ) Die Kriegsgerichte
Vom Sommer 1940 an organisierte sich die deutsche Militärjustiz in Belgien und Nordfrankreich. Oberster Gerichtsherr war der MBB von Falkenhausen selbst. Die Struktur der Wehrmachtjustiz war dabei mit der Verwaltungsstruktur identisch, d. h. es gab Kriegsgerichte für die fünf Oberfeldkommandanturen : Brüssel, Gent, Mons, Lüttich und Lille. Dazu kamen eigene Kriegsgerichte für die Feldkommandanturen von Antwerpen, Lille, Hasselt und Namur. An der Spitze stand der jeweilige örtliche Befehlshaber, z. B. Günther von Hammerstein - Equord (1877–1965) in Brüssel oder Georg Bertram (1882–1953) und später Bernhard
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Rudi Van Doorslaer, La police belge et le maintien de l’ordre en Belgique occupée. In : Lode Van Outryve / Yves Cartuyvels / Paul Ponsaers ( Hg.), Les polices en Belgique : histoire socio - politique du système policier de 1794 à nos jours, Brüssel 1991, S. 123–144, hier 131. Roden, Aanhouding, S. 123–124; Weber, Sicherheit, S. 44–47. Weber, Sicherheit, S. 34.
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von Claer (1888–1953) in Lüttich. Der lokale Gerichtsherr musste alle Urteile bestätigen, bei denen die Strafe weniger als fünf Jahre betrug; war das Strafmaß höher, kam diese Aufgabe von Falkenhausen zu. Im Laufe der Besatzung wurden Zweigstellen der Kriegsgerichte in Arlon, Valenciennes, Arras, Charleroi und Brügge errichtet, die jedoch der Hauptstelle unterstanden, deren Platzkommandant alle Urteile bestätigen musste.23 Die Grundlagen der Rechtsprechung bildeten das deutsche Militärstrafgesetzbuch, das deutsche Strafgesetzbuch und die Verordnungen des MBB oder sogar der Orts - und Festungskommandanten. Die Kriegsgerichte waren in verschiedene Abteilungen gegliedert ( im Fall der OFK 672 Brüssel bis zu acht ). Jeder Abteilung stand ein Volljurist mit »Befähigung zum Richteramt« vor, der über einen Gerichtsschreiber ( Feld - oder Heeresjustizinspektor ) verfügte. Die Organisation der täglichen Arbeit wurde zumeist vom dienstältesten ( Ober - )Kriegsgerichtsrat geleistet, der formal dem Platzkommandanten unterstand. Er verteilte u. a. die eingehenden Strafsachen unter den Abteilungen. Neben den Gerichten des Heeres bestanden SS - und Polizeigerichte, die Gerichte der Kriegsmarine sowie das Feldgericht des Befehlshabers des Luftgaus Belgien und Nordfrankreich. Deren personelle Zusammensetzung und institutionelle Zuständigkeit sowie Jurisprudenz können an dieser Stelle nicht ausgeführt werden, da sie von der Forschung bisher noch nicht behandelt worden sind. Zurück zu den Kriegsgerichten der Feld - und Oberfeldkommandanturen. Die genaue Zahl der Menschen, die mit ihnen während der Besatzungszeit in Berührung kamen, ist unbekannt. Im Kriegsopferdienst des belgischen Sozialministeriums sind kürzlich 10 000 Akten aufgetaucht, auf denen die Forschungen von Dimitri Roden beruhen. Er geht von mindestens 16 000 Angeklagten für die Zeit von 1940 bis 1944 aus. Dabei handelt es sich augenscheinlich nur um Landeseinwohner, Angehörige der Wehrmacht werden nicht verzeichnet.24 Weber hingegen zitiert aus dem ersten Jahresbericht der Militärverwaltung für den Berichtszeitraum von Mai 1940 bis Mai 1941, wonach hier bereits 12 162 Verfahren anhängig gewesen seien. Davon betrafen 2 150 Verfahren Wehrmachtangehörige; 10 012 Verfahren richteten sich gegen Belgier bzw. Nordfranzosen. In 4 891 Fällen kam es zu einem Urteil. Zwölf Todesurteile wurden verhängt, sieben gegen Landeseinwohner, fünf gegen Wehrmachtangehörige. 1 224 Verurteilungen betrafen Sabotage und »deutschfeindliche Kundgebungen«. In seinem ersten Jahresbericht präzisierte MBB von Falkenhausen, diese Zahlen seien in Bezug auf die Bevölkerungszahl eher als niedrig zu betrachten.25 Für den Zeitraum zwischen Juni 1940 und Februar 1941 beruft sich Messerschmidt auf den Bericht des Kommando 23 24 25
Roden, Aanhouding, S. 128–131. Ebd., S. 113 f. Weber, Sicherheit, S. 34–35.
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und Verwaltungsstabs der Militärverwaltung, der 6 398 Verfahren verzeichnet. Darin sind fünf Todesstrafen, 126 Zuchthaus - und 2 745 Gefängnisstrafen enthalten.26 Genauere Zahlen für die weitere Besatzungszeit bis 1944 sind nicht überliefert. Ebenso fehlen genaue Zahlen und Angaben zu den Auswirkungen des NN Erlasses vom 7. Dezember 1941 auf die Tätigkeit der Kriegsgerichte in Belgien und Nordfrankreich.27 Gruchmann geht von 7 000 Westeuropäern aus, die von dieser Abschreckungsmaßnahme gegen den zunehmenden Widerstand betroffen waren.28 Christine Somerhausen zählt mindestens 225 belgische Gefangene, denen vor dem Volksgerichtshof in Berlin im Rahmen von NN - Verfahren der Prozess gemacht wurde. Sie verweist zudem auf mindestens 258 weitere Exekutionen in diesem Rahmen in Dortmund, Köln, Wolfenbüttel und Brandenburg Görden.29 Laut Messerschmidt war die Militärjustiz in Belgien nicht imstande, die von Hitler und der Wehrmachtführung geforderte Schnelligkeit der Urteile zu gewährleisten, so dass der MBB viele Fälle ins Reich abgab, wo die Betroffenen wiederum häufig an die Gestapo übergeben und als Schutzhäftlinge in verschiedene KZ verbracht wurden. Messerschmidt spricht von 3 500 Belgiern, die infolge des NN - Erlasses ins Reich gelangten.30 Hierzu dürften auch jene Belgier zählen, die das Reichskriegsgericht als Angehörige der von der Abwehr zerschlagenen Widerstandsorganisation Luc - Marc aburteilte.31 Kam es aber zum Prozess vor einem Kriegsgericht, war die angewandte Prozedur diejenige, die schon im August 1939 in verschiedenen Bestimmungen festgelegt worden war. Das Kriegsgericht bestand aus einem Vorsitzenden Richter, der Berufsrichter oder zumindest Volljurist sein musste, und zwei Beisitzern. Bemerkenswert erscheinen mehrere Punkte : Einzig zugelassene Verhandlungssprache war deutsch, sodass fast alle Prozesse mit Übersetzern organisiert wurden und nur die belgischen Anwälte zugelassen waren, die deutsch beherrschten. 26 27 28
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Manfred Messerschmidt, Die Wehrmachtjustiz 1933–1945, Paderborn 2005, S. 250. Weber, Sicherheit, S. 95–101. Lothar Gruchmann, Nacht - und - Nebel - Justiz 1942–1944. Die Mitwirkung deutscher Strafgerichte an der Bekämpfung des Widerstands in den besetzten westeuropäischen Ländern 1942–1944. In : Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 29 (1981), S. 342–396, hier 395. Christine Denuit - Somerhausen, Le décret Nacht und Nebel de décembre 1941 et les prisonniers politiques belges : une première approche. In : Cahiers d’Histoire de la Seconde Guerre mondiale, 16 (1994), S. 17–40, hier 27. Messerschmidt, Wehrmachtjustiz, S. 252. Ebd., S. 122–125. Der Prozess und die Hinrichtungen der Luc - Marc - Mitglieder sind dokumentiert in der Gedenkstätte ROTER OCHSE Halle / Saale. Dazu auch Michael Viebig, Das Zuchthaus Halle / Saale als Richtstätte der nationalsozialistischen Justiz (1942 bis 1945), Halle ( Saale ) 1998, S. 92–97 und 225–226; Guy Weber, Scouts résistants de la cité ardente, Dinant 1992. Der Verfasser dankt Michael Viebig sehr herzlich für die Überlassung weiteren Quellenmaterials, das es zukünftigen Nachforschungen erlauben wird, den Weg dieser belgischen Widerstandsgruppe noch präziser zu rekonstruieren.
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Die Kriegsgerichtsräte wechselten von Verfahren zu Verfahren von der Richter zur Anklägerrolle hin und her. Die belgischen Verteidiger besaßen vor Prozessbeginn keinen Zugang zu den Akten.32 Urteile fielen mit Stimmenmehrheit und mussten begründet werden. Es bestand auch die Möglichkeit des Verfahrensabschlusses durch Strafverfügung bei Strafen unter sechs Monaten Freiheitsentzug bzw. Bußgeldern. Dabei gab es keine Hauptverhandlung; Angeklagter und Verteidigung wurden nicht gehört. Meistens akzeptierten die Betroffenen diese Entscheide, da andernfalls das Risiko einer höheren Strafe bestand. Die meisten Fälle betrafen hier das Gemeine Recht.33 Wie bereits erwähnt, bedurften die Urteile der Kriegsgerichte der Bestätigung durch den jeweiligen Gerichtsherrn, der verpflichtet war, dazu ein Rechtsgutachten einzuholen. Dieses wurde von einem Militärjuristen angefertigt. Altman hat für 350 Fälle von Gemeinem Recht festgestellt, dass acht bis zehn Tage bis zur Entscheidung vergingen, die zumeist das ergangene Urteil bestätigte. Bei Gefängnisstrafen wurde im Bestätigungsbescheid auch der Ort der Verbüßung der Haftstrafe festgelegt. Sehr willkürlich gingen verschiedene Gerichtsherren dabei mit der Anrechnung der Untersuchungshaft auf die Haftstrafe um.34 c ) Haftorte
In belgischen Gefängnissen wurden für die Verurteilten der Kriegsgerichte sogenannte »deutsche Sektionen« geschaffen. Zentrales Wehrmachtgefängnis war St - Gilles in Brüssel.35 Weitere Haftanstalten waren die Zitadelle von Huy, das von SS und Sipo betriebene berüchtigte Lager Breendonk, das Gefängnis von Forest und die Festung Merksplas bei Antwerpen. Allerdings waren zur Jahresmitte 1942 alle Kapazitäten ausgereizt, so dass zahlreiche Verurteilte der Organisation Todt überstellt wurden, um in Frankreich am Bau des Atlantikwalls mitzuwirken. Nicht zufällig betraf diese Maßnahme vor allem diejenigen, die versucht hatten, sich der Verpflichtung zum Arbeitseinsatz im Reich zu entziehen.36 Die am 5. Juli 1942 vom OKH ergangene Weisung, alle Verurteilten, deren Reststrafe noch mindestens drei Jahre betrug, ins Reich zu überstellen, wenn der Betroffene im Falle einer Neuauflage der Kampfhandlungen im Westen eine Gefahr darstellen könnte, engte den Spielraum des MBB bei der Entscheidung über den Ort der Strafvollstreckung noch weiter ein.37 Im März 1943 wurde die Reststrafenfrist nochmals drastisch auf neun Monate gesenkt. Vor 1942 war eine Überstellung 32 33 34 35 36 37
Roden, Aanhouding, S. 136; Altman, Criminels, S. 25–27 und 29–31. Ebd., S. 27–28. Roden, Aanhouding, S. 139–141. Weber, Sicherheit, S. 78; Roden, Aanhouding, S. 142. Ebd., S. 142–144. Ebd., S. 145–146; Weber, Sicherheit, S. 118.
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nach Deutschland nur in ausgewählten Fällen von Verurteilungen wegen Feindbegünstigung oder im Fall von besonderen militärischen Interessen erfolgt. Die meisten Betroffenen gelangten über Aachen in Haftanstalten nach Bochum oder Wolfenbüttel. Im Gegensatz zu den NN - Gefangenen oder den Opfern der SS und Sipo - Willkür bestand für sie die Möglichkeit der Haftentlassung nach Verbüßung von mindestens zwei Dritteln der Strafe. Wie man sich denken kann, war die Zahl der Gnadengesuche an den MBB, aber auch an das belgische Königshaus hier besonders hoch.38 d ) Todesurteile
Die Zahl der an Belgiern vollstreckten Todesurteile kann man nur schätzen. Für die beiden zum Befehlsbereich gehörenden französischen Départements Nord und Pas - de - Calais geht man von 408 Hinrichtungen aus.39 1970 gaben zwei belgische Historiker auf sehr lückenhafter Quellengrundlage die Zahl für Belgien mit mindestens 898 Opfern an.40 Dabei differenzierten sie aber nicht zwischen vollstreckten Todesurteilen, im Gefängnis Umgekommenen und Geiselerschießungen.41 Die Zahl der Geiselerschießungen ist allerdings mittlerweile belegt : 240 (1942 : 18, 1943 : 98, bis 10.7.44 : 124).42 Nur als Randbemerkung: diese letzte Zahl ist tief symbolisch; sie spiegelt den zunehmenden Widerstand und die gewaltsame Repression in Belgien wider. Im Rahmen der justiziellen Verfolgung von deutschen Tätern und Kollaborateuren nach dem Krieg wurden in Belgien – als Erwiderung auf die Zahl deutscher Exekutionen – genau 240 Todesstrafen vollstreckt – die letzte an SS - Offizier Philipp Schmitt, dem Kommandanten der Lager Breendonk und Mecheln. Für manche Zeiträume gibt es jedoch verlässliche Zahlen. So ergingen im 3. und 4. Quartal 1940 sieben Todesurteile; für den gleichen Zeitraum des Jahres 1941 sind 48 Todesurteile verzeichnet. Obwohl die Urteilsgründe in den Straflisten normalerweise nicht auftauchen, sind sie für den letzteren Zeitraum bekannt: Zwölf Urteile wurden wegen Spionage gefällt, eines wegen Zuwiderhandelns 38 39 40
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Roden, Aanhouding, S. 148–152. Ebd., S. 155. Roden verweist auf eine Schätzung des Centre d’Histoire et de Mémoire du Nord Pas - de - Calais. Jean Vanwelkenhuyzen / Frans Selleslagh, Statistiques des Belges exécutés par l’ennemi. In : Bulletin [ du ] Centre de Recherches et d’Etudes historiques de la Seconde Guerre mondiale, 2 (1970), S. 17–33. Roden, Aanhouding, S. 155. Zur Geiselfrage vgl. Verhoeyen, Belgique, S. 545–553. Messerschmidt, Wehrmachtjustiz, S. 252; Pieter Lagrou, Eine Frage der moralischen Überlegenheit ? Kriegsverbrecherprozesse gegen Deutsche in Belgien, 1944–1951. In : Norbert Frei ( Hg.), Transnationale Vergangenheitspolitik. Der Umgang mit deutschen Kriegsverbrechern in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg, Göttingen 2006, S. 326–350; Christoph Brüll, Belgien im Nachkriegsdeutschland. Besatzung, Annäherung, Ausgleich 1944–1958, Essen 2009, S. 292.
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gegen eine Verordnung des MBB, zwei wegen Feindbegünstigung, eines wegen unerlaubten Waffenbesitzes, 19 wegen Landesverrats, acht wegen Verbrechens gegen das Sprengstoff - Gesetz, fünf aufgrund bolschewistischer Umtriebe.43 Verglichen mit Frankreich scheinen der MBB und seine ihm unterstellten Gerichte also in diesem Zeitraum etwas umsichtiger vorgegangen zu sein.44 Bei den Urteilen wegen bolschewistischer Umtriebe handelt es sich höchstwahrscheinlich um Verurteilungen unter Anwendung eines OKW - Erlasses für den Militärbefehlshaber in Frankreich ( MBF ) vom 16. September 1941 zur »rücksichtslosen Ausrottung kommunistischer Unruheherde«, den von Falkenhausen auf die beiden französischen Départements in seinem Bereich ausweitete, wie er überhaupt Verordnungen für das besetzte Frankreich sehr oft für seinen Befehlsbereich übernahm.45 In einer Weisung von Falkenhausens vom 2. Oktober 1941, in der er »Sühnemaßnahmen« gegen »Kommunisten als intellektuelle Urheber von Straftaten« erwähnte, befahl er zugleich, dass die Oberfeld - und Feldkommandanten die Zustimmung für solche Maßnahmen bei ihm persönlich einzuholen hatten. Es ist mithin anzunehmen, dass er auf diese Weise noch eine gewisse Kontrolle über die Erschießungen behalten wollte. Am 26. November 1941 legte der MBB Richtlinien für die Geiselauswahl und - behandlung vor; insgesamt wurden somit auch in Belgien bei kommunistischen Aktivitäten verstärkt Geiselerschießungen und polizeiliche Maßnahmen angewendet.46 Sabotageakte hingegen wurden weiterhin an Kriegsgerichten abgeurteilt.47 Laut Weber bestand hier jedoch der Wille, die tatsächliche Zahl nicht bekannt werden zu lassen. Für den Zeitraum bis Januar 1941 lassen sich 141 abgeurteilte Sabotageakte feststellen; die Zahl der nachher bekannt gewordenen Fälle liegt jedoch bei 380.48
4. Fallbeispiel Lüttich Warum Lüttich ? Es handelt sich um eine OFK, über die wir etwas mehr wissen, da zwei Rechtsanwälte 1945 ein Buch über ihre Erfahrungen vor deutschen Kriegsgerichten veröffentlichten.49 Dem Buch von Cassian Lohest und Gaston Kreit kommt große Bedeutung zu, weil es neben selbstreflexiven Elementen in seiner Wiedergabe der deutschen Bestimmungen und ihrer Anwendung sehr
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Angaben nach Messerschmidt, Wehrmachtjustiz, S. 242 f. Ebd., S. 250 f. Ebd., S. 245. Ebd., S. 251. Ebd. Weber, Sicherheit, S. 54–55. Cassian Lohest / Gaston Kreit, La défense des Belges devant le Conseil de Guerre allemand, Lüttich 1945.
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genau ist. Es erlaubt einige Einblicke in das Funktionieren des Kriegsgerichts der OFK 589 in Lüttich aus der Sicht der »Besetzten«. Ein Vergleich mit dem Kriegsgericht in einer flämischen Stadt, z. B. dem Gericht der OFK Gent, wäre sicher hilfreich, um eindeutigere Aussagen treffen zu können. Ich möchte an dieser Stelle keine Fallanalyse bieten; viele Fälle sind in dem erwähnten Buch beschrieben, die dazugehörigen Prozessakten sind allerdings bisher noch nicht gesucht und erforscht worden. Zudem gilt Lüttich als eine, wenn nicht als die Hochburg des Widerstands, was der Stadt eine gewisse Symbolkraft verleiht. Einige Zahlen : Im Gerichtsbezirk Lüttich gab es zwischen 1940 und 1944 212 Attentate, 187 größere Sabotageakte und 1 955 Diebstähle mit Gewaltanwendung.50 Nachdem die Militärverwaltung am 29. Juli 1941 – das Datum, kurz nach dem Angriff auf die Sowjetunion, ist natürlich kein Zufall – Richtlinien zur Bekämpfung innerer Unruhen verkündet hatte, worin die Kriegsgerichte zu härterer Gangart aufgefordert wurden, verurteilte das Kriegsgericht am 28. August 1941 acht von elf Angeklagten wegen zweier Sprengstoffanschläge zum Tode. Laut Weber machte die Kollaborationspresse überdeutlich, dass hier ein Exempel statuiert werden sollte.51 Im Folgenden möchte ich stichwortartig die Beobachtungen zum Lütticher Kriegsgericht darstellen, die Lohest und Kreit formulierten. Es handelt sich gewissermaßen um Rohmaterial, das weiterer Ergänzung und Analyse bedarf. Zunächst ist zu sagen, dass sich am 28. Januar 1941 in Lüttich ein Komitee zur Verteidigung von Belgiern vor deutschen Kriegsgerichten konstituierte.52 Triebfeder war der Bâtonnier, d. h. der Vorsitzende der Anwaltskammer, Jules Musch, der schon während des Ersten Weltkrieges zahlreiche Lütticher vor deutschen Kriegsgerichten vertreten hatte. Dem Komitee gehörten elf Rechtsanwälte an, darunter die beiden Autoren Cassian Lohest und Gaston Kreit, aber auch Auguste Buisseret, der in der Nachkriegszeit belgischer Innenminister wurde. Voraussetzung für die Mitwirkung im Komitee war eine ausreichende Kenntnis der deutschen Sprache, um vor Gericht plädieren zu können. Dieses Engagement war nicht ungefährlich. So beschuldigte im November 1941 ein nicht näher genannter Richter das Komitee, Widerstandshandlungen vorzunehmen. Buisseret wurde 1942 auf Verlangen der Deutschen entfernt, drei Mitglieder wurden 1943 als Widerständler zum Tode verurteilt, wenn auch nicht direkt im Zusammenhang mit ihrer Tätigkeit vor Gericht. Die belgischen Anwälte empfanden den Umgang der deutschen Richter und Anklagevertreter mit ihnen zumeist als »korrekt«. Die Anwälte beobachteten, dass ständig sechs Kriegsgerichtsräte aktiv gewesen seien ( ca. 15 für die gesamte 50 51 52
Balace, Pouvoir, S. 124–125. Weber, Sicherheit, S. 65. Lohest / Kreit, Défense, S. XIII und 8–11.
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Besatzungszeit ), und sie bestätigen die Alternanz zwischen Richter und Ankläger. Einer der Richter, Kriegsgerichtsrat d. R. Dr. Ernst Rosga ( geb. 1901), war derart gefürchtet, dass selbst der Chef der Lütticher Gestapo, Graff, ihn als »Blutrichter« bezeichnete.53 Leider ist von Rosga nicht überliefert, wann und wie lange er in Lüttich tätig war; bekannt sind aber die Namen von acht weiteren Richtern, die an dem Gericht eingesetzt waren.54 Kriegsgerichtsrat d. R. Herbert Wagner, geboren 1889 in Meerane und Rechtsanwalt von Beruf,55 wurde im Juni 1940 zur Wehrmacht eingezogen und war in der Folge an verschiedenen Gerichten des Ersatzheers sowie von Feldkommandanturen in Frankreich und Belgien tätig. Er stieß im September 1943 zum Gericht der OFK 589. Zwei der Lütticher Heeresrichter waren bereits vor Kriegsbeginn als Berufsrichter zur Wehrmachtjustiz gelangt und nicht erst im Rahmen ihrer Einberufung. Sie waren zugleich auch die beiden jüngsten der namentlich bekannten Richter : Kriegsgerichtsrat Horst Badorrek, geboren 1906 in Rastenburg, war von Dezember 1943 bis Mai 1944 beim Gericht der OFK 589, »Alter Kämpfer« und bereits seit 1936 bei der Heeresjustiz. Vor seiner Tätigkeit in Lüttich war er an der Ostfront Divisionsrichter und galt als »energischer Richter«. Sein Vorgesetzter sagte über ihn, er zeige »richterliches Können und Verständnis für die Belange der Truppe«.56 Oberkriegsgerichtsrat Dr. Karl Krautwig, geboren am 5. November 1904 in Köln, war nach Einsätzen in Köln und in Lille von April bis Oktober 1944 in Lüttich stationiert. Die Spruchpraxis dieser Richter am Lütticher Gericht ist im Einzelnen noch nicht erforscht. In ihren Erinnerungen verwiesen Lohest und Kreit darauf, dass sie unter den gegebenen Umständen Redefreiheit besessen hätten. Ein Problem war hingegen, dass sie ihre Mandanten bei politischen Vergehen in keinem Fall tadeln wollten, auch wenn dies zu einer Strafmilderung hätte führen können. Nach eigener Einschätzung gelang es ihnen, in 15 bis 20 Prozent der Verfahren eine mildere Strafe als die von der Anklage geforderte zu erreichen.57 Dies betraf beispielsweise Spionagefälle, in denen unter Berufung auf die Artikel 29 ff. der Haager Land53 54
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Balace, Pouvoir, S. 123. Außer den hier erwähnten Richtern waren dies Oberkriegsgerichtsrat d. R. Otto Hebauer ( geb. 1891), der mindestens im Herbst 1942 am Gericht der OFK 589 beschäftigt war, Oberstabsrichter Josef Altenburg ( geb. 1885) sowie die Kriegsgerichtsräte d.R., Georg Heinrich ( geb. 1886) und Ferdinand Schwarz ( geb. 1884), die jeweils mindestens im Sommer 1941 ihren Dienst am Gericht in Lüttich versahen. Oberfeldrichter Heinz Menge, ( geb. 1886), seit 1940 an verschiedenen FK - Gerichten im besetzten Frankreich, war von August 1943 bis Januar 1944 am Gericht der OFK 589 tätig. Der Verfasser dankt Claudia Bade sehr herzlich für die biographischen Angaben. Herbert Wagner starb am 11.4.1952 in München. Beurteilung über Kriegsgerichtsrat Badorrek, Gericht der 206. Infanterie - Division, durch den Armeerichter des Panzer - Armeeoberkommandos 3 vom 5. 12. 1943 ( BArch, Pers 6/254043, Bl. 106). Lohest / Kreit, Défense, S. 10.
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kriegsordnung Todesurteile abgewendet werden konnten. Auch versuchten sie mehrfach erfolgreich, die Richter bei Prozessen wegen »deutschfeindlicher Kundgebungen« zu milderen Urteilen zu bewegen, da sie diesen begreiflich gemacht hätten, dass »ihre Empfindlichkeit in dieser Angelegenheit lächerlich war«.58 Überhaupt attestierten sie den Kriegsgerichten eine gewisse Sorge um eine objektive Beweisführung. Kam es jedoch zu Gegenüberstellungen mit Angehörigen von GFP oder Gestapo, wurden deren Aussagen systematisch bevorzugt.59 Die Entwicklung der Urteilspraxis findet ebenfalls Erwähnung. Dabei stand zunächst § 91b Reichsstrafgesetzbuch ( RStGB ) im Mittelpunkt, der die Todesstrafe wegen »Feindbegünstigung« vorsah und zu einer Art »Allzweckwaffe« wurde. Sahen bestehende Verordnungen bezüglich der inkriminierten Handlungen zu leichte Strafen vor, oder war eine Rechtsgrundlage für die Bestrafung einer Tat gar nicht vorhanden, so konnte das Gericht jederzeit § 91b RStGB anwenden.60 Mit der Zeit stellten die Anwälte eine Zunahme von Strafverfügungen fest, vor allem aus Gründen der Überlastung des Gerichts.61 Weitaus dramatischer waren Entwicklungen, die man als Einmischung der Sipo oder ihrer Helfer aus den Reihen der kollaborierenden Rexisten62 bezeichnen könnte. In diese Kategorie gehörten zum Beispiel das Festhalten von Personen, die ihre Haftstrafe verbüßt hatten, die Beeinflussung von Richtern, der Entzug von Akten und das plötzliche Verschwinden von Häftlingen. Die jeweiligen Kriegsgerichte teilten den Rechtsanwälten auf Nachfrage lakonisch mit, es gäbe »keine Auskunft«. Lohest und Kreit sollten erst später verstehen, dass »›keine Auskunft‹ Dachau, Buchenwald oder Bergen - Belsen bedeutete«.63
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Ebd., S. 6 f. Ebd., S. 13. Ebd., S. 5 f. Ebd., S. 15 f. Rexisten waren die Mitglieder der in den 1930er Jahren entstandenen Rex - Partei von Léon Degrelle (1906–1994). Hatten die Führer der antiparlamentarischen und korporatistischen Partei in den Gründungsjahren eine gewisse Distanz zu Deutschland gehalten, wählte Degrelle jedoch nach Kriegsbeginn rasch die Kollaboration, die ihn und zahlreiche fanatische Mitglieder letztlich zum Engagement in Wehrmacht und SS führte. Vgl. Martin Conway, Collaboration in Belgium. Léon Degrelle and the rexist movement : 1940–1944, New Haven 1993. Lohest / Kreit, Défense, S. 22 f.; Balace, Pouvoir, S. 125.
Gaël Eismann Das Vorgehen der Wehrmachtjustiz gegen die Bevölkerung in Frankreich 1940 bis 1944. Die Eskalation einer scheinbar legalen Strafjustiz
Der Militärbefehlshaber in Frankreich ( MBF ) war das Herzstück des deutschen Okkupationsapparates. Er verfügte im besetzten Frankreich – ausgenommen die Departements Nord und Pas de Calais sowie Elsass und Lothringen – über das Monopol der vollziehenden Gewalt. Folglich war er allein für die »Aufrechterhaltung der Ordnung und Sicherheit« im besetzten Frankreich verantwortlich und hatte die Aufgabe, alle nicht - deutschen Zivilisten zu verfolgen, die gegen die weiterhin gültige Rechtsordnung und gegen die deutschen Verordnungen verstoßen hatten. Die Dienststellen des MBF sahen allerdings schon früh ihren Einfluss schwinden, da zahlreiche Instanzen des Reiches eigene Dienststellen in Frankreich einrichteten und versuchten, die exekutiven Befugnisse des MBF einzuschränken. Schon 1940 kam es zur Konkurrenz zwischen dem MBF und der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes ( Sipo - SD ). Offiziell verlor der MBF jedoch erst im Juni 1942 mit der Einsetzung eines Höheren SS und Polizeiführers ( HSSPF ) die Zuständigkeit für die Polizei. Die im kollektiven Gedächtnis verankerte und von der historischen Forschung oft bestätigte These, dass die Verantwortung für die Eskalation der Repression und des Terrors, der von den Deutschen in Frankreich ausgeübt wurde, allein den Vertretern der Sipo - SD zuzuschreiben sei, scheint jedoch nicht zuzutreffen. In dem vorliegenden Aufsatz werden die Untersuchungen von Ulrich Herbert, Ahlrich Meyer und Regina Delacor,1 die dieses Bild von einer gewissermaßen »anständigen« Militärokkupation in Frankreich als erste in Zweifel gezogen
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Ulrich Herbert, Best. Biographische Studien über Radikalismus, Weltanschauung und Vernunft, 1903–1989, Bonn 1996; Ahlrich Meyer, Die deutsche Besatzung in Frankreich 1940–1944. Widerstandsbekämpfung und Judenverfolgung, Darmstadt 2000; Regina Delacor, Attentate und Repressionen, Ausgewählte Dokumente zur zyklischen Eskalation des NS - Terrors im besetzten Frankreich 1941–42, Stuttgart 2000.
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haben, fortgesetzt.2 Die systematische Analyse der juristischen Praktiken der Gerichte im Zuständigkeitsbereich des MBF ist meines Erachtens ein geeigneter Weg, die Verantwortlichkeiten für die Radikalisierung der deutschen Machtausübung in Frankreich unter einem neuen Blickwinkel aufzuzeigen. Aufgrund der leider nur lückenhaft zur Verfügung stehenden Quellen wirft die Analyse der juristischen Praktiken der Gerichte des MBF allerdings eine Reihe methodologischer Probleme auf.
1. Forschungsdesiderate und methodologische Probleme Die Rechtsprechung der deutschen Militärjustiz gegen die Einwohner der besetzten Gebiete ist bis heute von der historischen Forschung weitgehend vernachlässigt worden. Obgleich der deutsche Okkupationsapparat gerade die von der Wehrmachtjustiz durchgeführten Strafverfolgungen im besetzten Frankreich und die hohe Zahl der verhängten Todesstrafen als Instrument der Einschüchterung nutzte,3 hielt sich in der Literatur lange der Mythos einer deutschen Militärjustiz, die »Widerstand geleistet« hätte.4 Erst durch die frühen Arbeiten von Otto Hennicke5 und Manfred Messerschmidt6 wurde diese Auffassung widerlegt. Doch nur zwei Autoren, Günther Moritz7 und Jürgen Thomas,8 haben sich bis heute
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Die hier zusammenfassend dargelegten Untersuchungsergebnisse stammen aus meiner Dissertation, von der eine überarbeitete Fassung 2010 beim Verlag Éditions Tallandier erschienen ist : Gaël Eismann, Hôtel Majestic. Ordre et sécurité en France occupée 1940–1944, Paris 2010. Wenn man den regelmäßig von den Abteilungen des MBF ( BArch, RW 60/928–948) erstellten Registern Glauben schenken darf, wurden zwischen Februar 1941 und Anfang Mai 1944 fast 4 000 Franzosen von den Militärgerichten des MBF für Verbrechen und Delikte mit vermuteten politischen und militärischen Motiven verurteilt. Taten mit wirtschaftlichen Motiven werden in meiner Untersuchung aus Gründen, auf die ich im Folgenden noch einmal zurückkomme, nicht berücksichtigt. Vgl. Otto Peter Schweling, Die deutsche Militärjustiz in der Zeit des Nationalsozialismus. Bearbeitet, eingeleitet und herausgegeben von Erich Schwinge, Marburg 1977. Otto Hennicke, Über den Justizterror in der deutschen Wehrmacht. In : Zeitschrift für Militärgeschichte, 4 (1965), S. 715–720. Manfred Messerschmidt, Die Wehrmacht im NS - Staat. Zeit der Indoktrination, Hamburg 1969, S. 361–390; ders., Deutsche Militärgerichtsbarkeit im Zweiten Weltkrieg. In : Hans J. Vogel / Helmut Simon / Adalbert Podlech ( Hg.), Die Freiheit des Anderen. Festschrift für Martin Hirsch, Baden - Baden 1981, S. 111–142; Manfred Messerschmidt, Karl Sack. Opposition und Militärjustiz. In : Stephan Dignath ( Hg.), Dr. Karl Sack. Ein Widerstandskämpfer aus Rosenheim. Bekenntnis und Widerstand, Bad Kreuznach 1985, S. 62–66; Manfred Messerschmidt / Fritz Wüllner, Die Wehrmachtjustiz im Dienst des Nationalsozialismus. Zerstörung einer Legende, Baden - Baden 1987; Manfred Messerschmidt, Die Wehrmachtjustiz 1933–1945, Paderborn 2005. Günther Moritz, Die deutsche Besatzungsgerichtsbarkeit während des zweiten Weltkrieges, Tübingen 1954.
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näher mit dem Vorgehen der deutschen Militärjustiz gegen die Einwohner der besetzten Gebiete beschäftigt. Im Mittelpunkt der Untersuchungen von Günther Moritz stehen allerdings hauptsächlich juristische Aspekte und er ging kaum auf die Praktiken der deutschen Militärgerichte im besetzten Europa ein. Jürgen Thomas interessierte sich dagegen in seiner 1990 veröffentlichten Studie für die strafrechtliche Verfolgung der Widerstandsbewegungen in den von Deutschland besetzten westeuropäischen Gebieten. Aufgrund der Auswahl der von ihm ausgewerteten Aktenbestände ist seine Arbeit jedoch problematisch. Da er keinen Zugang zu den Beständen des Zentralen Staatsarchivs der DDR in Potsdam hatte, welches seinerzeit einen Teil der Akten der Gerichte des MBF aufbewahrte, fußt seine Arbeit hauptsächlich auf Gerichtsunterlagen, die vor der Wiedervereinigung in der Zentralnachweisstelle des Bundesarchivs ( ZNS ) in Aachen - Kornelimünster aufbewahrt wurden. Allerdings befanden sich dort vor allem die Akten der Marinegerichte.9 Man nahm damals an, dass der überwiegende Teil der Unterlagen der Heeresgerichte, also auch die des MBF, bei Kriegsende verloren gegangen sei. Um das Fehlen geeigneter Quellen auszugleichen, griff Jürgen Thomas seinerzeit – ohne jedoch immer die gebotene Distanz zu wahren – auf Berichte von Zeitzeugen und ehemaligen Mitarbeitern des MBF zurück und übertrug deren Aussagen über vergleichsweise maßvolle Urteile einiger Richter des Gerichtes des Kommandanten von Groß - Paris auf die Situation insgesamt.10 Die Dokumente des MBF, die regelmäßige Statistiken zu den von den Gerichten seines Zuständigkeitsbereichs verhängten Urteilen enthalten, wertete er hingegen nicht aus. Im Gegensatz zu Thomas standen mir für meine Untersuchung zusätz-
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Jürgen Thomas, Wehrmachtjustiz und Widerstandsbekämpfung. Das Wirken der ordentlichen deutschen Militärjustiz in den besetzten Westgebieten 1940–1945 unter rechtshistorischen Aspekten, Baden - Baden 1990. Es ist richtig, dass seit der deutschen Wiedervereinigung die sehr lückenhaften Archivbestände der früheren Bundesrepublik, die weitgehend aus Unterlagen von gegen deutsche Soldaten angestrengten Verfahren bestanden, anhand der Gerichtsunterlagen ergänzt wurden, die von der früheren DDR in Potsdam aufbewahrt worden waren. Doch gibt es, im Gegensatz zu den Beständen der Marinegerichte, insgesamt nur wesentlich weniger überlieferte Akten der Heeresgerichte bzw. des MBF. Die erhaltenen Unterlagen für die jeweiligen Verfahren sind teils vollständig, teils beschränken sie sich jedoch auf das Protokoll der Hauptverhandlung, zum Teil ergänzt durch die Urteilsbegründung. Der Autor stützt sich insbesondere auf die mündlichen und schriftlichen Aussagen von Ernst Roskothen, der während der Besatzungszeit Kriegsgerichtsrat am Militärgericht des Kommandanten von Groß - Paris war. In seinen Memoiren ( Groß - Paris 1941–1944. Ein Wehrmachtsrichter erinnert sich, Tübingen 1989) bescheinigt sich Roskothen selbst Opferbereitschaft, Unparteilichkeit, Unabhängigkeit, Respekt gegenüber dem Gegner, Menschlichkeit, Patriotismus und Pflichtbewusstsein. In der Nachkriegszeit haben zahlreiche Zeugenberichte von Franzosen, die als Anwälte oder als Angeklagte mit Roskothen während der Besatzungszeit zu tun hatten, diese Selbsteinschätzungen insgesamt bestätigt. Fraglich ist allerdings, inwieweit diese Aussagen ein vollständiges Bild der Tätigkeiten und Praktiken dieses Richters ergeben.
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liche Quellen zur Verfügung, auf denen alle folgenden Ausführungen beruhen.11 Thomas’ Arbeit ergibt letztlich im Wesentlichen einen Katalog der von den Marinegerichten ausgesprochenen Urteile, die allerdings für die uns interessierende Frage wenig aussagekräftig sind, da den Gerichten der operativen Truppen im besetzen Frankreich im Vergleich zu denen des MBF eine nur subsidiäre Zuständigkeit zukam.12 Auch fehlt eine chronologische Perspektivierung der von den deutschen Militärgerichten praktizierten repressiven Strafjustiz. Obgleich die überlieferten Quellen keine vollständige und umfassende Studie der juristischen Praktiken der Militärgerichte des MBF erlauben, ergibt eine systematische Auswertung der verfügbaren Bestände meiner Auffassung nach nichtsdestoweniger bereits ein recht genaues Bild dieser Praktiken und ihrer Entwicklung bei der Mehrzahl der deutschen Militärgerichte in Frankreich.13 Auf der Basis der vorgenommenen Auswertung lassen sich bei der Eskalation der von 11
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Die Lageberichte des Kommandostabs des MBF ( BArch, RW 35/4 bis 8, 10, 12, 14, 16, 289, 27, 26, 30) enthalten eine Rubrik »Exekutive und Gerichtswesen«, in der quantitative Angaben über die von den Gerichten des MBF verkündeten Urteile zu finden sind. In der Regel werden dort die vom MBF bestätigten Todesurteile aufgeführt, mit Nennung der jeweiligen Hauptanklagepunkte, der vollstreckten Todesstrafen, der bis zur Entscheidung des ObdH noch ausgesetzten oder von ihm umgewandelten Todestrafen, der Gefängnis - oder Zuchthausstrafen von mehr als 5 Jahren, auch hier mit Angabe der jeweiligen Hauptanklagepunkte, und schließlich der aufgehobenen Urteile. Diese Berichte liefern ein zeitlich versetztes Gesamtbild der vom MBF ausgeübten Justiz. Der Lagebericht des Kommandostabs für die Monate April und Mai 1942 ( BArch, RW 35/16) liefert zusätzlich eine zusammenfassende, tabellarische Auflistung ( Gesamtzahlen bis zum 31.7.1941, ab diesem Datum monatliche Listen bis zum 31.5.1942) der vom MBF seit Juni 1940 verkündeten und vollstreckten Todesurteile. Das Bundesarchiv - Militärarchiv verfügt darüber hinaus über die »Bestätigungslisten« mit den vom MBF verkündeten und bestätigten Urteilen für die Jahre 1942 bis 1944. Sie enthalten für jedes Urteil die folgenden Angaben : Name des Angeklagten, Datum der Urteilsverkündung, Name des zuständigen Gerichts, Art und Maß der jeweils verhängten Strafe, Datum der Bestätigung oder Aufhebung der Urteile und gegebenenfalls die im zweiten Urteil verhängte Strafe. Das Bundesarchiv - Militärarchiv besitzt zudem die »Allgemeinen Listen« für die Jahre 1940 bis 1944, die zumindest eine gewisse Abhilfe für das Fehlen der »Bestätigungslisten« der beiden ersten Jahre der Besatzung darstellen. Sie enthalten eine Gesamtaufstellung der im Zuständigkeitsbereich des MBF durchgeführten gerichtlichen Verfahren und Handlungen : Strafanträge, Anklageerhebung, Datum der Prozesse. Es mangelt allerdings an detaillierten Angaben. Bis Anfang 1941 nennen diese Register im Allgemeinen weder die Anklagepunkte noch, soweit es zum Prozess kam, die verkündeten Urteile. Laut Erlass des OKH vom 11. 8. 1940 fiel die Strafverfolgung von Zivilisten, die der Verletzung deutscher Verordnungen verdächtigt wurden, in den ausschließlichen Zuständigkeitsbereich der Militärgerichte des MBF. Die Gerichte der kämpfenden Truppe hatten allerdings in ihrem Operationsgebiet in Ausnahmefällen eine nachrangige Zuständigkeit, soweit es sich um direkt gegen die Truppe gerichtete Angriffe oder um eine ernste Bedrohung der Sicherheit handelte (BArch, RW 35/330). Die verfügbaren Quellen sind zu heterogen und lückenhaft für eine systematische und vollständige Darstellung der von den Gerichten des MBF ausgeübten bei der Verfolgung von »Vergehen gegen die öffentliche Ordnung und Sicherheit«. Doch ergibt die Auswertung der zugänglichen quantitativen Daten ( siehe Anm. 11) nichtsdestotrotz ein Gesamtbild dieser Rechtsprechung. Alle Quellen belegen die gleichen Entwicklungen.
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den deutschen Militärgerichten ausgeübten Unterdrückungspolitik im besetzten Frankreich vier Etappen unterscheiden.
2. Juni 1940 bis Sommer 1941. Eine maßvoll - repressive Strafjustiz Obwohl bis zum Sommer 1941 die Aufrechterhaltung der Ordnung, die polizeiliche Verfolgung sowie die gerichtliche Verfolgung weitgehend Aufgabe der französischen Behörden war, blieben die Dienststellen des MBF auf diesem Gebiet nicht untätig. Die von den Deutschen verhängten Strafen bei angenommenen oder reellen Bedrohungen der Sicherheit der Besatzungsmacht waren damals hauptsächlich gerichtlicher Natur, das heißt, die von den Deutschen im besetzten Frankreich ausgeübte Repression vollzog sich noch weitgehend »im legalen Gewand«. Berücksichtigt man die Gesamtheit aller Verfahren in diesem Zeitraum, so stellen die Monate Oktober bis Dezember 1940 den Höhepunkt der Tätigkeiten der deutschen Militärgerichte dar.14 Die Gerichtsbarkeit über die Angehörigen der Besatzungsarmee wie auch über die Zivilbevölkerung im besetzten Gebiet lag bei den Feldkriegsgerichten. Diese Gerichte arbeiteten auf den drei Hauptebenen des militärischen Besatzungsapparates, d. h. den Feldkommandanturen, den Militärverwaltungsbezirken und dem MBF.15 Gemäß der Kriegsstrafverfahrensordnung ( KStVO )16 fanden die Verfahren im Prinzip unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt, lediglich in Anwesenheit des oder der Beschuldigten, eines Anklägers und dreier Richter – darunter ein Jurist, der den Vorsitz bei der Gerichtsverhandlung führte, und zwei Soldaten. Die KStVO verweigerte dem Angeklagten den Anspruch auf einen Verteidiger, außer bei Delikten, auf welche die Todesstrafe stand, und entzog ihm die Möglichkeit, das Urteil später anzufechten. Das militärische Strafverfahren war 14 15
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Vgl. Thomas J. Laub, After the Fall. German Policy in Occupied France, 1940–1944, Oxford 2010, S. 107. Die deutsche Militärverwaltung im besetzen Gebiet Frankreichs war auf regionaler Ebene in vier, später in fünf Militärverwaltungsbezirke gegliedert ( Bezirk A : Nord - West - Frankreich mit Sitz in Saint - Germain en Laye, Bezirk B : Süd - West - Frankreich mit Sitz in Angers, Bezirk C : Nord - Ost - Frankreich mit Sitz in Dijon, Bezirk D : Bordeaux, und schließlich der Bezirk des »Kommandanten von Groß - Paris«, in dessen Zuständigkeitsbereich ab März 1941 die Stadt Paris und das Departement »Seine« fielen ), auf der Ebene der Departements und Cantons in Feldkommandanturen und Kreiskommandanturen. Mit Ausnahme der Kreiskommandanturen gab es in jeder dieser Verwaltungseinheiten ein dem MBF unterstelltes Militärgericht. Der MBF verfügte damit über insgesamt etwa 40 Militärgerichte auf der Departement - Ebene, weiterhin über vier, später fünf Militärgerichte auf regionaler Ebene, von denen Personen, deren erste Verurteilung vom MBF aufgehoben worden war, erneut abgeurteilt wurden. KStVO vom 17. 8. 1938, in Kraft getreten am 26. 8. 1939, anschließend bis 1945 mehrfach ergänzt. Sie enthielten alle Rechtsmittel um die Verfahren zu beschleunigen und gaben dem Militärstrafrecht eine immer ideologischere Ausrichtung.
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geheim, und der Verteidiger hatte erst nach Abschluss der Beweisaufnahme und Anklageerhebung das Recht, mit dem Beschuldigten zu sprechen. Die Anklageschrift war im Übrigen auch das einzige Dokument, das er einsehen konnte, denn die Verfahrensakten selbst wurden dem Anwalt nicht übermittelt. Die Rolle der Gerichtsherren übernahmen Kommandeure, auf regionaler Ebene zumeist die Feldkommandanten. Der Gerichtsherr besaß die Befugnis, Urteile aufzuheben oder zu bestätigen, allerdings mussten schwere Strafen vom Chef des Militärverwaltungsbezirks oder sogar vom MBF oder vom Oberbefehlshaber des Heeres (ObdH ) bestätigt werden. Daneben hatte er ebenfalls das Recht, allen Militärjuristen, die mit der Beweisaufnahme oder der Anklage beauftragt waren, Weisungen zu erteilen. Nur die formale Unabhängigkeit des Richters während der Verhandlung blieb erhalten. Die Militärgerichte der Feldkommandanturen (FK ) wendeten ausschließlich das deutsche Strafrecht an. Es war ihre Aufgabe zu entscheiden, ob eine Angelegenheit nach deutschem Recht von ihnen selbst oder von einem französischen Gericht zu verhandeln war. Die französische Staatsanwaltschaft hatte die Pflicht, Hinweise, Anzeigen und Verfahren bezüglich Verbrechen oder Delikten, die gegen Mitglieder oder Einrichtungen der Wehrmacht verübt worden waren, an die deutschen Militärgerichte weiterzugeben. Dasselbe galt für Verstöße gegen Verordnungen, die zur Sicherheit der Wehrmacht erlassen worden waren, und schließlich auch mehr und mehr für alle Vergehen, die allgemein als Verstöße gegen die Belange der Besatzungsmacht eingestuft wurden.17 Allerdings hatten die Gerichte der FK Weisung, nur die folgenschwersten Angelegenheiten vor Gericht zu bringen, und mussten der Militärverwaltung die Fälle melden, bei denen für Angeklagte Sicherungshaft angeordnet wurde, mit dem Ziel, möglicherweise »unangemessene« Verfahren zu vermeiden.18 Die volle Härte der deutschen Rechtsprechung und Strafjustiz setzte keineswegs erst mit dem Beginn des bewaffneten Widerstandes im besetzten Frankreich nach dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion ein. Zwischen Juni 1940 und Ende Juli 1941, also zu einer Zeit, die vom Großteil der deutschen Beobachter noch als friedlich und ungefährlich eingeschätzt wurde, verhängten die Gerichte des MBF in Frankreich 162 Todesurteile gegen Zivilisten, von denen 42 vollstreckt wurden.19 In den ersten Monaten des Jahres 1941 ging die deutsche Militärjustiz dann mit wachsender Strenge gegen alle diejenigen vor, die von der Besatzungsmacht der Kategorie »Partisanen einer Anglo - Gaullistischen Bewegung« zugeordnet wurden, und klagte sie der Feindbegünstigung20 an, worauf die 17 18 19 20
BArch, RW 35/635. Rundschreiben des Oberstkriegsgerichtsrats beim MBF an alle Gerichte seines Zuständigkeitsbereiches vom 21.3.1941 ( BArch, RW 35/213). BArch, RW 35/16. Dies war ein Tatbestand, der entsprechend dem internationalen Recht eigentlich nur Anklagen gegen jene Personen erlaubte, die gegenüber dem »Dritten Reich« durch eine Loyalitätspflicht
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härtesten Strafen standen. Bei den hier untersuchten Fällen, das heißt, bei den vom MBF bestätigten Urteilen beziehungsweise bei Verfahren, in denen einer der Angeklagten zu mindestens fünf Jahren Haft verurteilt wurde, übersteigt die Anzahl der von den Militärgerichten verhängten Todesstrafen wegen Delikten, die als Bedrohung der Sicherheit der Besatzungsmacht galten, im Mai 1941 zum ersten Mal die der Haftstrafen, die bis zu diesem Zeitpunkt die Mehrheit der verhängten Strafen ausgemacht hatten. Die gerichtlichen Instanzen des MBF traten schon in den ersten Monaten der Besatzung – also noch vor dem Beginn des bewaffneten Widerstandes im besetzten Frankreich – härter auf als in Belgien.21 Spätere Vergleiche sind aufgrund der unterschiedlichen Formen der Widerstandsaktionen in den beiden besetzten Ländern schwer möglich. Zwar wurden auch im Einzugsbereich des Militärbefehlshabers für Belgien und Nordfrankreich ( MBB ) die Strafen von den militärischen Besatzungsbehörden verhängt, doch gab es dort, da die Zahl der Bevölkerung etwa halb so groß war wie die im Verantwortungsbereich des MBF, bis Ende 1941 »nur« ca. 50 Todesurteile gegen die Zivilbevölkerung,22 d. h. etwa sechs Mal weniger.23 Vergleicht man die von den Gerichten des MBF verhängten Todesurteile vor und nach Beginn des bewaffneten Widerstandes im besetzten Frankreich, so scheint die deutsche Militärjustiz anfangs noch eine gewisse Zurückhaltung geübt zu haben. Dieser Umstand wirft eine Reihe von Fragen auf : Kann man von einem gewissen »Widerstreben« oder gar von »passivem Widerstand« des Justizapparates gegenüber den übergeordneten Instanzen des MBF oder des OKH
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gebunden waren, was naturgemäß nicht auf die Bevölkerungen der besetzten Gebiete zutreffen konnte. Vgl. Thomas, Wehrmachtjustiz, S. 198 f. Demgegenüber heißt es im § 161 des deutschen MStGB : »Ein Ausländer oder Deutscher, der in einem von deutschen Truppen besetzten ausländischen Gebiet gegen deutsche Truppen oder deren Angehörige oder gegen eine auf Anordnung des Führers eingesetzte Behörde eine nach den Gesetzen des Deutschen Reiches strafbare Handlung begeht, ist ebenso zu bestrafen, als wenn diese Handlung von ihm im Reichsgebiet begangen wäre.« Wenn man den von der Délégation générale du gouvernement français dans les territoires occupés ( DGTO ) an die Waffenstillstandskommission gerichteten Beschwerden und dem »Stand der in der Besatzungszone zwischen dem 1.10.1940 und dem 31.12.1941 verkündeten Todesurteile« ( Archives Nationales – AN, F 60/1485) Glauben schenkt, erscheint es hingegen, dass die Gerichte des MBB ( Militärbefehlshaber Belgien ) in den Departements Nord und Pas - de - Calais besondere Strenge zeigten, da sie hinsichtlich der Anzahl der zwischen Oktober und Dezember 1940 verkündeten Todesstrafen hinter den Departements Finistère und Seine an dritter Stelle liegen. Ludwig Nestler / Friedel Schulz ( Hg.), Europa unterm Hakenkreuz. Belgien, Luxemburg, Niederlande (1940/1944). Dokumentenauswahl und Einleitung von Ludwig Nestler, Berlin 1990, S. 72. Im Lagebericht des Kommandostabs des MBF für die Monate April und Mai 1942 werden für den Zeitraum Juni 1941 bis Dezember 1941 322 verkündete Todesurteile angegeben ( BArch, RW 35/16).
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sprechen, die auf härtere Maßnahmen drängten ?24 Welches waren die Auslöser und Mechanismen der später einsetzenden Radikalisierung ? Welche eventuellen Entscheidungs - und Handlungsspielräume gab es auf der Ebene der verschiedenen Instanzen ? Im Rahmen der Richtlinien, die sie zu einer strengen, aber angemessenen Strafjustiz aufforderten,25 verfügten die Militärrichter des MBF damals durchaus über einen gewissen Handlungsspielraum, vorausgesetzt, sie wichen nicht von der Kriegssonderstrafrechtsverordnung ( KSSVO ) ab, deren Härte bei der Mehrheit der deutschen Militärrichter Zuspruch fand.26 Obgleich die Listen der bestätigten Urteile unvollständig sind, deuten die Angaben darauf hin, dass nur eine relativ geringe Anzahl der Urteile der Gerichte der FK aufgehoben wurde. Durch die Qualifizierung des jeweiligen Delikts bzw. durch die Zulassung strafmildernder Umstände konnten die Militärrichter die Schwere einer Tat bestimmen und unterschiedlich harte Urteile verhängen, ohne dabei den vorgegebenen legalen Rahmen zu verlassen. Die Urteilspraxis der Gerichte des MBF zeigt je nach Art der behandelten Delikte eine flexible Handhabung, die ebenfalls die Entwicklung des politischen Kontextes im besetzten Frankreich berücksichtigte. So bezeugt z. B. das Schicksal der wegen Feindbegünstigung Angeklagten eine schnell restriktiver werdende Auslegung des Strafrechts. Gemäß § 91b, Art. 1 RStGB musste das Verbrechen der Feindbegünstigung prinzipiell mit Todesstrafe oder mit lebenslänglichem Zuchthaus bestraft werden. Im Falle geringfügigen Schadens für das Reich oder seine Alliierten – § 91b, Art. 2 –, konnte jedoch eine mildere Strafe ausgesprochen werden. Dass bei diesen Delikten bis Anfang 1941 befristete Zuchthausstrafen überwogen, erklärt sich dadurch, dass die Richter in den meisten Fällen letztgenannten Artikel geltend machten. Das änderte sich ab März 1941 : die Mehrheit der verhängten Urteile lautete nunmehr gemäß § 91b, Art. 1 entweder auf Todesstrafe oder auf lebenslanges Zuchthaus. Aufgrund der Lückenhaftigkeit der überlieferten Gerichtsunterlagen des MBF lässt sich nur erahnen, wie die Richter des MBF die Qualifizierung der Taten handhabten. Einige scheinen von ihren Handlungsspielräumen Gebrauch gemacht zu haben, um disproportionierte Strafen zu vermeiden. So lehnte das Gericht der Feldkommandantur 518 ( Nantes ), das am 22. Januar 1941 einen der Gewalttat gegen einen deutschen Soldaten angeklagten französischen Zivilisten 24
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Vgl. insbesondere die strafrechtlichen Bestimmungen des MBF für Spionage oder Gewalttaten gegen die Wehrmacht, die im Erlass vom 10. 10. 1940 ( veröffentlicht im Verordnungsblatt des Militärbefehlshabers in Frankreich ( Vobif Nr. 11) sowie für »Unerlaubten Waffenbesitz«, die im Erlass vom 10.5.1940 ( Vobif Nr. 1) verfügt wurden ( AN, AJ 40/406). Schreiben des OKH an die Leiter der deutschen Militärverwaltungen in Frankreich und Belgien vom 3.9.1940 ( BArch, RW 35/211). Vgl. Roskothen, Groß Paris, S. 166.
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verurteilte, die von der Anklage geforderte Todesstrafe unter Anwendung einer Verordnung vom 10. Mai 1940 ab.27 Der Richter berücksichtigte den friedlichen Kontext, der eine andere rechtliche Auslegung anwendbar machte, und wandelte die Anklage zum weniger schwerwiegenden Straftatbestand der Körperverletzung nach Reichsstrafgesetzbuch. Der Zivilist erhielt eine Strafe von achtzehn Monaten Gefängnis.28 Doch scheinen solche Beispiele eher eine Ausnahme darzustellen. Während dieser ersten Phase der Besatzung, die übereinstimmend als »friedlich« eingestuft wurde, war es letztlich der ObdH, der sich für eine gewisse Zurückhaltung bei den Urteilen einsetzte, die von den Gerichten des MBF, zunehmend von den zentralen Instanzen des Majestic ( dem Sitz des MBF in Paris) unter Druck gesetzt, verhängt wurden. Zwischen Oktober 1940 und Juni 1941 begnadigte der ObdH nachweislich mehr als 60 Prozent der von den deutschen Militärgerichten zum Tode verurteilten französischen Staatsangehörigen.29
3. Sommer 1941 bis Juni 1942. Deutliche Verschärfung der repressiven Strafjustiz Im Sommer 1941 zeichnete sich eine Radikalisierung der Repressionspolitik des MBF ab, gekennzeichnet durch die Massenexekution von Geiseln, später durch den Beginn der Deportationen, aber auch durch die Verschärfung der von den Gerichten verhängten Strafen. Eine wichtige Rolle bei der zunehmenden Verschärfung spielten die sich nach dem Attentat vom 22. August 1941 auf den Marineverwaltungsassistenten Alfons Moser in Paris30 häufenden Anschläge auf
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Diese Verordnung, die im ersten Verordnungsblatt der deutschen Militärverwaltung in Frankreich veröffentlicht wurde, informierte die Bevölkerung, dass Personen in deren Besitz sich Waffen, Munition, Handgranaten, Sprengstoff und jede andere Art von Kriegsmaterial befanden, mit der Todesstrafe zu rechnen hatten, in weniger schwerwiegenden Fällen mit Zuchthausoder Gefängnisstrafen. Sie drohte außerdem an, dass alle Personen, die Gewalttaten gegen die deutsche Wehrmacht oder einen ihrer Angehörigen begingen, mit dem Tode bestraft würden. Mit dieser Bestimmung wurde eine mögliche Einstufung der Straftat als Körperverletzung, auf die im deutschen Strafgesetzbuch »nur« drei Jahre Haft standen, de facto stark eingeschränkt. Siehe Vobif Nr. 1 ( AN, AJ 40/406). BArch ZNS, Akte K 645. Es handelt sich dabei um eine frühere Signatur der Akte. Dieser Hinweis betrifft alle hier zitierten Dokumente, die bis 2005 in der ZNS aufbewahrt und dann in das Bundesarchiv - Militärarchiv in Freiburg überführt wurden. Dort erhielten sie neue Signaturen. »État des condamnations à mort prononcées en zone occupée entre le 1. 10. 40 et le 31. 12. 41« (AN, F 60/148). Am 21.8.1941 erschoss in Paris ein Kommunist in der Metrostation Barbès - Rochechouart den deutschen Marineverwaltungsassistenten Alfons Moser. Es handelte sich um den ersten politischen Mordanschlag, der im besetzten Frankreich auf Initiative der kommunistischen Partei verübt wurde, nachdem diese im Anschluss an den Überfall Deutschlands auf die Sowjetunion,
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deutsche Soldaten. Allerdings sollte die These eines sich etablierenden Zyklus von Attentat und Repression nicht die Bedeutung eines anderen Ereignisses verdecken, nämlich des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion am 21. Juni 1941, das die Vorstellungen des MBF im Hinblick auf die Bekämpfung des Widerstandes entscheidend veränderte. Die erste bekanntgewordene Ermordung eines deutschen Soldaten im August 1941 hatte einschneidende Veränderungen im Hinblick auf die Qualifizierung der verschiedenen Delikte zur Folge. Die Verfolgung von Verstößen gegen die »Bestimmungen über Waffenbesitz« überstiegen in den untersuchten Fällen seither deutlich die Verfahren wegen »Feindbegünstigung« und erreichten im Monat Oktober bis dahin unbekannte Ausmaße.31 Die Verstärkung der Gerichtsaktivitäten schlug sich dann auch in einer Verschärfung des Strafmaßes nieder.32 Nach den Lageberichten des Kommandostabes wurden im Zeitraum von zehn Monaten, von August 1941 bis Ende Mai 1942, 493 Todesurteile gegen die Zivilbevölkerung verhängt ( gegenüber 162 im Laufe der 15 vorangegangenen Monate ); 377 davon wurden vollstreckt ( gegenüber 42 im Laufe der 15 vorangegangenen Monate ).33 Nahezu 44 Prozent der verurteilten Personen in den hier untersuchten Fällen erhielten die Todesstrafe.34 Die Verschärfung der von den Gerichten verhängten Strafen war das Ergebnis einer zunehmend restriktiveren Auslegung der Gesetze und Verordnungen. Bis dahin endeten Prozesse wegen illegalen Waffenbesitzes in der Regel mit Gefängnis - oder Zuchthausstrafen. Ab Anfang Oktober 1941 wurden für dieses Delikt vermehrt Todesurteile verhängt, Strafen die ab Anfang Januar 1942 dann bei den von mir untersuchten Fällen schon fast zur Regelstrafe wurden. Während zwischen Juni 1940 und Juli 1941 noch knapp 25 Prozent der von den Gerichten des MBF verhängten Todesurteile vollstreckt worden waren, stieg die Vollstreckungsquote zwischen August 1941 und Mai 1942 auf fast 80 Prozent.35 Die Verantwortung, die den bei den Gerichten des MBF tätigen Militärjuristen bei der Radikalisierung der Justiz zukam, ist schwer einzuschätzen. Die geringe Dichte der nutzbaren Quellen macht jeden Versuch eines abschließenden Befundes problematisch und man muss sich hier – wie so oft und mit aller Vorsicht –
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den Anordnungen der kommunistischen Internationale folgend, zum bewaffneten Kampf gegen die Besatzungsmacht übergegangen war. BArch ZNS, RW 35/ G, MBF. Vgl. Abb. 1. Vgl. Abb. 2. BArch, RW 35/16. Es sei daran erinnert, dass es sich in dieser Untersuchung lediglich um Personen handelt, die im Rahmen von Verfahren verurteilt wurden, bei denen mindestens einer der Angeklagten mit wenigstens fünf Jahren Freiheitsentzug bestraft wurde. Vgl. BArch, RW 35/16. Diese Zahlen werden weitgehend durch die von der DGTO erstellten Statistiken bestätigt, denen zufolge im Zeitraum August bis Dezember 1941 nur noch 17 Prozent der Todesstrafen in Zuchthausstrafen umgewandelt wurden ( AN, F 60/1485).
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auf die von den Dienststellen des Majestic erstellten Statistiken verlassen, die allerdings keine genauen Angaben über die Verfahren enthalten. Die Verringerung des Handlungsspielraums der lokalen und regionalen Justizbehörden des MBF seit Ende des Sommers 1941 ist unbestreitbar. Mit dem Überfall auf die Sowjetunion verloren die Gerichte des MBF weitgehend die relative Autonomie, die sie bis dahin genossen hatten. Da die höchsten Militärbehörden des Reiches, in Frankreich stellvertretend der MBF, eine Zunahme des kommunistischen Widerstandes befürchteten, übten sie nunmehr wachsenden Druck auf die deutschen Militärrichter aus und drängten sie zu erbarmungslosen Strafen für alle Delikte, die als »Feindseligkeit gegenüber der Besatzungsmacht« qualifiziert werden konnten – eine Maßnahme, die sich insbesondere gegen die Kommunisten richtete. Dies geschah von nun an mit einer Reihe von Erlassen und allgemeinen Bestimmungen, durch die die Richter zu einer Verschärfung der Rechtsprechung veranlasst werden sollten.36 Besonders schränkte der Nacht - und - Nebel (NN - )Erlass vom Dezember 1941 ihren Entscheidungsspielraum erheblich ein.37 Ergänzt wurden die allgemeinen Verfügungen durch die von OKH und OKW regelmäßig verbreiteten »Richtlinien für die Verfolgung von Vergehen«.38 Sie forderten zu einer immer restriktiveren Auslegung der jeweils anzuwendenden strafrechtlichen Bestimmungen auf, z. B. durch prinzipielle Abweisung mildernder Umstände. Bei Nicht - Berücksichtigung dieser Vorschriften war mit Aufhebung der Urteile zu rechnen.39 Am 6. Februar 1942 versammelte der ObdH in
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Schon am 8.8.1941, d. h. noch vor der Ermordung des Marineverwaltungsassistenten Moser in Paris, übermittelte der ObdH neue »Richtlinien für die Bekämpfung innerer Unruhen in Belgien und Frankreich«, um damit die Schlagkraft der repressiven Strafjustiz und den damit verbundenen Einschüchterungseffekt zu erhalten. Er bestand darin auf der Notwendigkeit einer einheitlichen und rasch handelnden Militärjustiz, mit klaren Zielvorstellungen, die auf jedweden »Formalismus« verzichtet und bei angespannter Lage auch mit härtesten Strafen gegen die Zivilbevölkerung vorgeht. Die Richtlinien für den Kampf gegen die »kommunistische Aufstandsbewegung in den besetzten Gebieten«, die der deutschen Militärverwaltung in Frankreich in Form eines vom 16. 9. 1941 datierten Erlasses von General Keitel ( Keitel - Befehl ) zugestellt wurde, enthält ebenfalls einen Abschnitt über die Ausübung der Militärjustiz. Die Besatzungsbehörden sind darin aufgefordert, dem außergerichtlichen Terror den Vorrang zu geben und sich erbarmungslos zu zeigen, wenn sie ausnahmsweise von diesem Prinzip abweichen. Nach dem von Hitler am 7. 12. 1941 unterzeichneten Erlass sollten vor Ort nur noch Widerstandskämpfer vor Gericht gestellt werden, deren Verurteilung zum Tod gesichert erschien und »umgehend«, spätestens acht Tage nach der Verhaftung, verkündet und vollstreckt werden könnte. Alle anderen sollten nach Deutschland überführt und dort der deutschen Justiz überstellt werden. Um den Einschüchterungseffekt des Verfahrens zu verstärken, sollten alle Anfragen über das Schicksal der Deportierten abgewiesen werden ( AN, AJ 40 1356). Thomas, Wehrmachtjustiz, S. 93. Von Jürgen Thomas aufgezeichnete Aussage von Ernst Roskothen. Siehe auch Roskothen, Groß- Paris, S. 230–232. Schon am 12. Mai 1941 hatte der MBF alle Militärgerichte informiert, dass er sich fortan die Bestätigung aller Urteile vorbehalte, die auf Grundlage des Artikels 2 des § 91b des RStGB für »Feindbegünstigung« nur zeitlich begrenzte Zuchthausstrafen verhängt
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Berlin Beamte der Militärverwaltungen in Belgien und Frankreich, um ihnen mitzuteilen, dass Hitler von ihren Militärgerichten größere Strenge erwarte.40 Am 19. Februar 1942 verlangte das OKW vom MBF die gewissenhafte Einhaltung der Bestimmungen des Erlasses vom 16. September 1941 bezüglich der Verfolgung kommunistischer Umtriebe durch die Gerichte seines Zuständigkeitsbereiches.41 Wenige Monate später, am 5. Mai 1942 erhielten der MBB und der MBF eine neue Mahnung des OKH, wonach sich Generalfeldmarschall Keitel überrascht gezeigt habe, dass es den Urteilen gegen Bewohner der besetzten Gebiete Frankreichs und Belgiens an der nötigen Härte mangele. Keitel erwarte, dass die Richtlinien in Zukunft streng beachtet würden und wies die Gerichte an, ihre Rechtsprechung fortlaufend zu überprüfen.42 Die an die Gerichtsherren der wichtigsten Militärgerichte in den besetzten Gebieten adressierte Mitteilung empfahl, die Anklagevertreter anzuweisen, häufiger die Todesstrafe zu fordern und weiterhin alle Urteile für Straftaten, die Gegenstand des Erlasses und dennoch nicht mit dem Tode bestraft worden waren, zu überprüfen. Die zentralen Dienststellen des Majestic begnügten sich nicht damit, die von den höchsten militärischen Instanzen des Reiches gestellten Forderungen an die gerichtlichen Instanzen weiterzuleiten.43 Mehrfach verschärften sie die strafrechtlichen Bestimmungen auf eigene Initiative.44 So veröffentlichte der MBF am 15. August 1941, d. h. einen Monat vor dem Erlass des ObdW bezüglich der »kommunistischen Aufstandsbewegung« in den besetzten Gebieten, eine Bekanntmachung an die Bevölkerung, in der die Todesstrafe für jedwede Person, die sich kommunistischer Umtriebe schuldig macht, angedroht wurde.45 Die Kriegsgerichte in Frankreich waren seither aufgefordert, mit größter Strenge die Bestimmungen, die der MBF als »Erlass gegen Kommunisten« bezeichnete, anzuwenden – was de facto darauf hinauslief, ihnen das Zubilligen mildernder Umstände bei solchen Verfahren zu untersagen.46 Im darauffolgenden Monat
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hätten ( BArch, RH 36/325). Ohne dass er formal abgeändert worden wäre, kamen nur noch die strengsten Bestimmungen des § 91b des RStGB zur Anwendung. Albert de Jonghe, La lutte Himmler - Redder pour la nomination d’un HSSPF à Bruxelles, 2è partie. In : Cahiers d’Histoire de la Seconde Guerre Mondiale, 4 (1976), S. 5–152, hier 117. Institut d’histoire du temps présent ( IHTP ), Microfilms série A, bobine 110, H2/647. Vgl. OKH, 447/42g – H.R. IIIb. In : Joseph La Martinière, Les N.N. Le décret de la procédure Nacht und Nebel, 2. Auflage Paris 1989, S. 52. Vgl. Zusätze zu den »Richtlinien für die Bekämpfung innerer Unruhen in Belgien und Frankreich« vom 25. 8. 1941 ( BArch, RH 36/187); sowie Rundschreiben des Chefs der Abt. III Kst MBF an alle deutschen Militärgerichte seines Zuständigkeitsbereichs vom 28. 9. 1941 ( BArch RW 35/540). Vgl. Vobif Nr. 53, Verordnung vom 4.2.1942, die die Verordnung bezüglich des Schutzes gegen Sabotageakte abänderte, sowie die Mitteilung des MBF an die DGTO vom 4. 8. 1941 ( AN, F 60/1485). BArch, RW 35/213. Lagebericht der Abteilung Ia des Generalstabs des MBF für die Monate August und September 1941 ( BArch, RW 35/8).
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erfuhr die Bevölkerung von der Verschärfung der Verordnung vom 10. Mai 1940 bezüglich Waffenbesitzes, worauf nun grundsätzlich die Todesstrafe stand.47 Nicht zuletzt ist auch eine Zunahme der Aufhebungen von als »unzureichend« bewerteten Urteilen der lokalen Gerichte festzustellen.48 Die entsprechenden Fälle verhandelten wenige Wochen später Gerichte der Militärbezirke; die Strafen wurden systematisch verschärft. Der MBF, der dem Konflikt mit Vichy und Berlin in der Frage der Geiselpolitik aus dem Weg gehen wollte und deshalb für eine unerbittliche, aber scheinbar legale Militärstrafjustiz eintrat, machte sich diese neuen Richtlinien umso bereitwilliger zu eigen, als er damit den Nachweis einer eigenständigen Repressionspolitik erbringen konnte. Die Gerichte des MBF hatten jedoch keineswegs ihren gesamten Handlungsspielraum verloren und ihre Mitverantwortung an der Eskalation des Justizterrors sollte nicht unterschätzt werden. Der zunehmende Druck, der von außen auf die Militärgerichtsbarkeit ausgeübt wurde, ließ die Gewalttätigkeit der repressiven Strafjustiz Ende 1941 eine neue Schwelle überschreiten. Doch hatte sich diese Entwicklung bereits im Juli 1941 abgezeichnet.49 Die in erster Instanz verkündeten Urteile auf lokaler Ebene fielen insgesamt wesentlich strenger aus, als vor dem Sommer 1941 und die – gemessen an den zentralen Richtlinien – deutlich milderen Urteile wurden immer häufiger aufgehoben. Eine Systematik ist dabei nicht zu erkennen. Nur wenige Gerichte reagierten zumindest mit passivem Widerstand auf den Druck der zentralen Instanzen. Am 5. Dezember 1941 verurteilte das Gericht der FK 591 ( Nancy ) vier französische Zivilisten, die gemäß Artikel 1 des § 91b RStGB der Feindbegünstigung schuldig gesprochen worden waren, zu lebenslangem Zuchthaus. Sie waren angeklagt, kommunistische Flugblätter verteilt zu haben. Das Gericht erklärte ausdrücklich, sich nicht auf Artikel 2 des § 91b berufen, und damit die Strafe nicht mildern zu können, da unzweifelhaft fest stehe, dass dieses Vergehen dem Reich ernstlich schade.50 Zur Legitimation einer immer gnadenloseren Justiz berief man sich von nun ab auf die außergewöhnlichen Umstände des totalen Krieges, in dem die Strafe als Exempel, als Mittel zur Einschüchterung zu dienen hatte. Die vor Gerichte des MBF gestellten Zivilisten scheinen seitdem weniger auf Grund ihrer individuellen Schuld, als im Hinblick auf die Kriegsnotwendigkeiten abgeurteilt worden zu sein. Manche Richter des MBF schienen es somit vorzuziehen, den vermuteten Erwartungen der Gerichtsherren vorzugreifen, um so eine Aufhebung ihrer Urteile zu vermeiden : Sie verhängten zunächst hohe Strafen, waren aber bereit,
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Mitteilung des MBF vom 12.9.1941 ( BArch, RW 35/213). BArch ZNS, RW 35/ G, MBF. Vgl. Abb. 2. BArch ZNS, Akte Z 750.
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anschließend eingereichte Gnadengesuche zu befürworten.51 Doch obgleich es immer schwieriger wurde, sich dem Druck der Gerichtsherren zu widersetzen, bestand diese Möglichkeit weiterhin. Ein am 16. Oktober 1941 vom Gericht der Feldkommandantur 560 in Besançon wegen Waffenbesitzes zu zehn Jahren Zuchthaus Verurteilter wurde vom gleichen Gericht – trotz Aufhebung des ersten Urteils – erneut zu derselben Strafe verurteilt. Als die Strafe abermals vom Gerichtsherrn aufgehoben wurde, erhöhte man sie in einem dritten Verfahren, allerdings nur um zwei weitere Jahre Haft.52 Ungeachtet der in der ersten Hälfte des Jahres 1942 von Seiten der zentralen Instanzen des Reiches weiterhin anhaltenden Kritik wegen immer noch zu großer Nachgiebigkeit, ist die Radikalisierung der repressiven Strafjustiz, die seit Ende des Sommers 1941 im besetzen Frankreich ausgeübt wurde, offensichtlich. In Belgien, wo sich die Aktionen des Widerstandes allerdings weniger direkt gegen die Besatzungsmacht richteten, lässt sich keine vergleichbare Eskalation bei der Entwicklung der Strafjustiz feststellen.53
4. Juni 1942 bis Januar 1943. Weitere Radikalisierung der Strafjustiz im Zuge der zunehmenden polizeilichen Repression Mit der Einsetzung eines Höheren SS - und Polizeiführers ( HSSPF ) im besetzten Frankreich wurde eine steigende Anzahl von Gefangenen der Kontrolle der deutschen Militärgerichte entzogen. Die in der Forschung allgemein verbreitete These besagt, dass seit Juni 1942, dem Zeitpunkt, zu dem der HSSPF seine Tätigkeit aufnahm, die vor deutsche Militärgerichte gebrachten Anklagen wegen »feindseliger Aktivitäten gegen das Reich« immer seltener geworden wären. In diesen Fällen seien nun Internierungsmaßnahmen und Deportationen angeordnet worden, über die allein die Dienststellen der Sipo - SD entschieden.54 Doch obgleich durch 51 52 53 54
BArch ZNS, RW 35, Gericht des MV Bez C, NO Fk, doc RW 55/7488. Allg. Liste, Nr. 1916 ( BArch ZNS, RW 35/ G, MBF ). Nestler / Schulz, Belgien, Luxemburg, Niederlande, S. 72. Diese in den Memoiren der früheren Verantwortlichen des deutschen Repressionsapparates propagierte These, die auch von einigen französischen Rechtsanwälten ( z. B. von Franck Souron, der von den Deutschen als Verteidiger von vor Wehrmachtgerichten angeklagten Franzosen zugelassen war, vgl. AN, 72 AJ 260) vertreten wurde, hat sich in der gesamten wissenschaftlichen Literatur durchgesetzt. Vgl. Michel de Boüard, La répression allemande en France de 1940 à 1944. In : Revue d’Histoire de la Deuxième Guerre Mondiale, 54 (1964), S. 63–90, hier 73; Hans Umbreit, Auf dem Weg zur Kontinentalherrschaft. In : Bernhard R. Kroener / Rolf - Dieter Müller / Hans Umbreit ( Hg.), Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Band 5/1, Stuttgart 1988, S. 3–348, hier 183; Thomas, Wehrmachtjustiz, S. 107; Livre - Mémorial des déportés de France arrêtés par mesure de répression et dans certains cas par mesure de persécution, 1940– 1945. Hg. von der Fondation pour la Mémoire de la Déportation, Paris 2004, hier insbes. Band I, S. 686, 1013, 1233, 1330.
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die Polizeimaßnahmen die Bedeutung der Justiz des MBF schwand, führte dies keineswegs zu einem Nachlassen der repressiven Strafjustiz in der zweiten Hälfte des Jahres 1942. Es ist davon auszugehen, dass die Zahl der von der Sipo - SD administrativ und ohne jeglichen Prozess internierten Personen seither die Zahl der von der Besatzungsmacht verhafteten und von Militärgerichten verurteilten Personen bei weitem überstieg.55 Dennoch ging die Anzahl der gerichtlich entschiedenen Angelegenheiten insgesamt nicht zurück, sondern blieb auf dem Stand der Vormonate.56 Die Strafjustiz zeigte sich nun eher noch erbarmungsloser als bisher und hielt mit der Eskalation der von der Sipo - SD ausgeübten polizeilichen Gewalt Schritt. Den Listen mit den Urteilsbestätigungen des MBF zufolge, wurden in den acht Monaten vom 1. Juni 1942 bis Ende Januar 1943 insgesamt 458 Todesurteile gegen die nicht - deutsche Zivilbevölkerung verhängt,57 im Vergleich dazu 493 Todesurteile im Laufe der zehn vorangegangenen Monate.58 Bei fast 57 Prozent der verurteilten Personen, deren Verurteilung durch den MBF bestätigt wurde, lautete das Urteil seit diesem Zeitpunkt auf Todesstrafe, gegenüber »nur« 44 Prozent im vorangegangenen Zeitraum.59 Der Anteil der Exekutionen bei den verhängten Todesurteilen überschritt 80 Prozent und erreichte schließlich fast 90 Prozent. Gleichzeitig lässt sich ein Wandel bei den Definitionen der verfolgten Delikte feststellen. Während die Delikte Waffenbesitz und Feindbegünstigung seit dem Herbst 1941 die Mehrheit der abgeurteilten Straftaten in den hier untersuchten Fällen ausmachte, nahm ihre Häufigkeit nach Juni 1942 ab. Dagegen stieg insbesondere die Anzahl der Verfahren wegen Freischärlerei an, ohne dass dies mit einer Intensivierung des bewaffneten Widerstandes in Verbindung gebracht werden könnte.60 Die Verantwortung, die den Gerichten des MBF bei dieser Entwicklung zukam, ist nur schwer einzuschätzen. Gesichert scheint jedoch, dass die Kontrolle und der Druck der höheren Militärdienststellen auf die Militärrichter keineswegs
55
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Die am 28. März 2013 von Thomas Fontaine an der Universität von Paris I vorgelegte Doktorarbeit ( Déporter. Politiques de déportation et répression en France occupée, 1940–1944) stellt diesen Umstand außer Zweifel. Allerdings sind bisher keine glaubwürdigen Statistiken verfügbar, die genauere Aussagen über die Anzahl der nicht aufgrund ihrer Rasse verfolgten Personen erlauben, die im besetzten Frankreich während des zweiten Halbjahrs 1942 Opfer der von der Sipo - SD organisierten Repression wurden. Vgl. Abb. 2. BArch ZNS, RW 35/ G, MBF. BArch, RW 35/16. BArch ZNS, RW 35/ G, MBF. Vgl. Abb. 1.
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nachließen.61 Verstärkt wurde dieser Druck nunmehr noch durch die Einflussnahme der Sipo - SD, deren Ausmaß allerdings ebenfalls nicht genau zu bestimmen ist. Wie sich insbesondere aus den wiederholten Mahnungen, »sich an die geltenden Befehle zu halten«, entnehmen lässt, hatten die Richter des MBF ihren Handlungsspielraum jedoch nicht völlig verloren.62 Einzelne Gerichte reagierten weiterhin nur mit einer gewissen Unwilligkeit auf den Druck der zentralen Dienststellen, so z. B. das Gericht der Feldkommandantur 723 ( Caen ), das am 27. Oktober 1942 vom OKGR beim MBF wegen unzureichender Anwendung des geltenden Strafrechts aufgefordert wurde, sich an die Befehle zu halten.63 Andere Gerichte widersetzten sich weiterhin dem von den Gerichtsherren oder deren Sachverständigen ausgeübten Druck, wenn diese bereits verhängte Urteile wieder aufhoben. Diese vereinzelten Beispiele für Milde blieben jedoch die Ausnahme, wenn man die Gesamtheit der durch den MBF bestätigten Gerichtsurteile betrachtet. Sie erhellen dann auch, gewissermaßen im Kontrast, die schwere Verantwortung eines Großteils der deutschen Militärrichter, die sich an den von den Dienststellen des Sipo - SD betriebene Radikalisierung der polizeilichen Strafmaßnahmen orientierten und dabei gelegentlich sogar über die Erwartungen der vorgesetzten Dienststellen hinausgingen. Dies lässt sich daran erkennen, dass es sich, zum ersten Mal seit Beginn der Besatzung, bei nahezu 25 Prozent der vom MBF aufgehobenen Urteile um Todesstrafen handelte.64 Dass die Militärgerichte des MBF an Bedeutung verloren, steht außer Zweifel, doch ging es dabei letztlich eher um den quantitativen Anteil an der von den Deutschen gegen die verschiedenen Formen des Widerstandes ausgeübten Repressionspolitik, nicht aber um deren Inhalt und Wesen. Natürlich entstanden mit der Besetzung Südfrankreichs am 11. November 1942,65 mit der Verstärkung der Widerstandsaktivität der Résistance und der 61
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Rundschreiben des MBF vom 27.10.1942 bezüglich der Strafverfolgung wegen Waffenbesitzes (Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes – PA - AA, Deutsche Botschaft Paris ( DBP )/2467). Siehe außerdem das vom Leiter der Sektion III ( Gericht ) des Kommandostabs des Distrikts A der Militärverwaltung an alle Gerichte seines Zuständigkeitsbereiches adressierte Schreiben vom 30.10.1942 ( BArch, RH 36/326). Ebd. Oberkriegsgerichtsrat beim MBF an das Gericht der FK 723 ( Caen ) vom 27. 10. 1942 ( BArch, RH 36/326). BArch, ZNS, RW 35/ G. In der südlichen Zone übte der MBF nicht die »Rechte der Besatzungsmacht« aus. Die Zone war zur Operationszone unter der direkten Kontrolle des Kommandanten des Heeresgebietes Südfrankreich ( KHSF ) erklärt worden. Die Aufrechterhaltung der französischen Souveränität war allerdings nur eine Fassade. Schon ab dem 1.8.1943 wurde der KHSF mit seinen Abteilungen inoffiziell dem MBF unterstellt, der in die südliche Zone »Verbindungsstäbe« entsandte. Diese etablierten sich bald in jedem Departement und übten dort ähnliche Funktionen aus wie die FK in der nördlichen Zone. Auch der HSSPF macht seine Ansprüche geltend : die Befugnisse des Sipo - SD wurden offiziell auf die neu besetzte Zone ausgeweitet.
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Landung der Alliierten völlig neue Situationen mit entsprechenden Auswirkungen auf die repressiven Praktiken der deutschen Besatzer. Diese, und insbesondere der wachsende Einfluss der Polizeigewalt, hatten jedoch keineswegs das Ende der durch die Militärgerichte ausgeübten Strafjustiz zur Folge.
5. 1943/1944. Höhepunkt des Justiz - Terrors Von 1943 an – mit dem Aufkommen des Maquis66 – und vor allem dann im Jahre 1944, änderte sich das Wesen der von den deutschen Behörden ausgeübten Repression, denn diese übernahmen nun teilweise die an der Ostfront angewandten Methoden. Der Terror traf immer größere Kreise der Bevölkerung, blieb allerdings in seinem Ausmaß weit hinter den Gewalttaten zurück, die die Bevölkerung in Osteuropa zu ertragen hatte. Die zentralen politischen und militärischen Behörden des Reiches schienen die Wahrung einer dem Anschein nach legalen Strafjustiz im besetzten Frankreich schrittweise aufgeben zu wollen. Die Opfer der deutschen Repression wurden nun bei gemeinsamen Operationen von Polizei und Wehrmacht festgenommen, und zwar in solchen Gebieten, die aus Sicht der Besatzer von »terroristischen Banden« unsicher gemacht wurden. Die inhaftierten Personen wurden jedoch nicht mehr von den Militärgerichten verurteilt, sondern zumeist direkt nach Deutschland in Konzentrationslager geschickt.67 Die Annahme, dass die Gerichte des MBF aufgrund dieser neuen Gegebenheiten nicht weiter an deutschen Gewalttaten im besetzten Frankreich beteiligt gewesen wären, wird allerdings von den Quellen widerlegt. Im Vergleich zur ersten Jahreshälfte 1943, in der es weniger Verfahren gab,68 verdoppelte sich für die hier untersuchten Fälle seit der zweiten Hälfte des Jahres 66
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Der »Maquis«, nach der Befreiung Frankreichs als Symbol des Widerstands gefeiert, entstand ursprünglich nicht aus der Widerstandsbewegung, sondern aus Personengruppen, die schon ab Dezember 1942 die Zwangsarbeit in Deutschland verweigerten und in abgelegenen Gebieten untertauchten, insbesondere in der Bretagne und in Südfrankreich. Ab Frühjahr 1943 bemühte sich die organisierte Widerstandsbewegung, die Maquisarden einzugliedern. Der Begriff selbst bezeichnet ursprünglich den Buschwald ( macchie ) in Mittelmeerländern, in dem sich häufig »Gesetzlose« aufhielten. Für den Widerstand wird der Begriff synonym verwendet. Seit Anfang 1943 wurden in Frankreich weit weniger als 5 Prozent der von der Sipo - SD verhafteten Personen den deutschen Militärgerichten überstellt. Während die Sipo - SD zirka 35 000 von seinen Dienststellen im Laufe des Jahres 1943 vorgenommene Verhaftungen meldete ( Hans Luther, Der französische Widerstand gegen die deutsche Besatzungsmacht und seine Bekämpfung, Tübingen 1957, S. 266), verzeichnen die Listen der vom MBF bestätigten Urteile nur knapp 1 000 Personen, die wegen Widerstandsaktivitäten von den Gerichten seines Zuständigkeitsbereichs verurteilt wurden. Dieser relative Rückgang bezeugt allerdings keineswegs größere Milde der deutschen Justiz bzw. ihrer Praktiken. Die in der ersten Hälfte 1943 verhängten Todesstrafen betrugen proportional
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1943 die Anzahl der Verfahren und Urteile der Gerichte des MBF und entsprach somit in ihrer weiteren Entwicklung durchaus der Radikalisierung des von den Besatzern bis zum militärischen Rückzug in Frankreich ausgeübten Terrors.69 Die Deutschen stellten mit wachsender Sorge fest, dass der Maquis im Verlauf der zweiten Hälfte des Jahres 1943 immer stärkeren Zulauf erhielt und die Aktivitäten des Widerstands zunahmen. Die Sicherheit der Besatzungsmacht schien nun zum ersten Mal ernsthaft bedroht zu sein, zumal man eine baldige alliierte Landung erwartete. Die Tätigkeit der deutschen Militärgerichte nahm daher aufs Neue zu. Da die französische Justiz nach Meinung der Militärverwaltung gegen »Terroristen« zu lax vorging, wurden der französischen Gerichtsbarkeit immer mehr Verfahren, die den Widerstand betrafen, entzogen. Der zusätzliche Arbeitsanfall für die Gerichte des MBF und die dadurch notwendige Beschleunigung der Verfahren führte zu einer neuen Verschärfung der Strafjustiz. Die Zahl der verhängten Todesstrafen stieg deutlich an und erreichte im August 1943 eine mit dem Ende des Jahres 1942 vergleichbare Höhe.70 Doch verdecken diese Zahlen eine im Vergleich zur strafrechtlichen Repression von Dezember 1941 bis Dezember 1942 sehr viel grausamere Realität : In den hier untersuchten Fällen handelt es sich seither bei nahezu 65 Prozent der ausgesprochenen Urteile um Todesstrafen – ein bisher noch nie erreichter Anteil, der dann ab August 1943 konstant weiter anstieg. Innerhalb von sechs Monaten bestätigte der MBF 461 Todesurteile.71 Wenn man den Angaben des deutschen Botschafters in Paris vertrauen darf, wurden nahezu 95 Prozent dieser Todesurteile dann auch vollstreckt.72 Insbesondere die Verurteilungen wegen Freischärlerei nahmen, im Vergleich zu den Verurteilungen wegen anderer Delikte, exponentiell zu.73 Im Laufe der ersten Monate 1944 erreichte das Ausmaß der von den Gerichten des MBF behandelten Fälle und Verurteilungen einen neuen, traurigen Höhepunkt.
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73
weiterhin mehr als 55 Prozent der insgesamt im Zusammenhang mit Widerstandsaktivitäten bestätigten Urteile. Verfahren wegen »Freischärlerei«, »Feindbegünstigung« und »Spionage«, die mit solchen wegen »unerlaubten Waffenbesitzes« zu den häufigsten Delikten gehörten, endeten fast immer mit der Todesstrafe. Während der Anteil der Urteilsaufhebungen, die vom MBF ausgesprochen wurden, erkennbar von 12 auf 14 Prozent anstieg, handelte es sich bei fast 40 Prozent der zwischen Februar und Juni 1943 vom MBF aufgehobenen Urteile um Todesurteile. Nichtsdestoweniger bestätigte der MBF die große Mehrzahl der verhängten Todesstrafen, denn der Anteil der ausgeführten Urteile blieb mit nahezu 90 Prozent unverändert. Vgl. Abb. 2. Ebd. Tätigkeitsbericht der Sektion Ia des Kommandostabs für den Monat Juli 1943 ( BArch, RW 34/27; RW 35/26). Zwischen dem 17.3.1943 und dem 16.4.1944 monatlich vom MBF an die deutsche Botschaft in Paris gelieferte Liste mit den, von den Gerichten des MBF seit 1942 verkündeten und gegebenenfalls vollstreckten Todesurteilen. ( PA - AA, DBP, 2456 und 2457). Vgl. Abb. 1.
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Noch nie war in den hier untersuchten Fällen die Anzahl der von den Gerichten geführten Verfahren so hoch.74 Bei 70 Prozent der Verfahren wurde in dieser Zeit wegen Freischärlerei verurteilt, eine Qualifizierung, auf die die deutschen Militärrichter seit Februar 1944 fast automatisch zurückgriffen. Unerbittlicher als je zuvor verhängten die Gerichte des MBF im Zeitraum von vier Monaten fast 600 Todesurteile.75 Letztere machten dabei nun fast 85 Prozent der verhängten Strafe aus.76 Und 95 Prozent dieser Urteile wiederum wurden anschließend auch vollstreckt.77 Es besteht kein Zweifel, dass die Initiative für die Eskalation des Justiz - Terrors von den zentralen militärischen Dienststellen ausging. Am 25. Januar 1944 forderte der MBF die Militärgerichte seines Verantwortungsbereichs auf, eine schnellere, von bürokratischen Hindernissen befreite Gerichtsbarkeit zu praktizieren, um die Aburteilung und Exekution der für terroristische Attentate Verantwortlichen zu beschleunigen.78 Einen Monat später wies das OKH die Gerichte des MBF an, möglichst häufig Gebrauch von einem Erlass zu machen, den das OKW am 8. Februar 1944 herausgegeben hatte. Gemäß diesem waren die wegen Spionage und Sabotage verhängten Todesstrafen sofort zu vollziehen, ohne auf die Bestätigung des Urteils durch den Gerichtsherren zu warten.79 Auch wenn die Eskalation der Strafjustiz also im Wesentlichen als eine Folge der von den zentralen Behörden erlassenen Befehle zu verstehen ist, scheint diese Spruchtätigkeit von den Gerichten des MBF mit großer Härte umgesetzt worden zu sein. Dies lässt jedenfalls ein vom 8. März 1944 datiertes Rundschreiben des MBF erkennen, das offensichtlich dazu bestimmt war, gewisse Exzesse der deutschen Richter zu unterbinden.80 Zwar bekräftigt es die Notwendigkeit, den Terrorismus weiterhin zu bekämpfen, doch ordnete der MBF zugleich auch an, die Anwendung des kurz zuvor ergangenen Rundschreibens vom 25. Januar auszusetzen. Er nennt weiterhin eine Reihe von Bedingungen, die bei der Anwendung des Erlasses des OKW vom 8. Februar 1944 zu beachten seien. Es gehe darum, zu vermeiden, so der MBF in seiner Begründung, dass von den Gerichten »politisch unliebsame Fehlgriffe« begangen würden.81 Betrachtet man jedoch die im Laufe der letzten Monate der Besatzung verhängten und vollstreckten Strafen, wird
74 75 76 77 78 79 80 81
Vgl. Abb. 2. Vgl. ebd. Ebd. PA - AA, DBP, 2456 und 2457. Rundschreiben des MBF an die Gerichte seines Zuständigkeitsbereiches vom 25.1.1944 ( BArch, RW 35/551). OKH an den Chefrichter beim MBF vom 26.2.1944 ( ebd.). Rundschreiben des MBF an die Gerichte seines Zuständigkeitsbereichs vom 8.3.1944 ( ebd.). Ebd.
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offensichtlich, dass in den gerichtlichen Instanzen des MBF Widerstände gegen eine erbarmungslose Gerichtsbarkeit wohl eher die Ausnahme waren. Um das Gesagte noch einmal zusammenzufassen : Im letzten Jahr der Besatzung erreichte der von der Justiz ausgeübte Terror in Frankreich einen neuen Höhepunkt. Folgt man der einschlägigen Sekundärliteratur, scheint Frankreich diesbezüglich einen Einzelfall im besetzten Westeuropa darzustellen, wo man – im Gegensatz zu Osteuropa – bis zum Ende der Besatzungszeit insgesamt eine dem Anschein nach legale Strafjustiz aufrechterhalten hatte.82
Schluss Die Analyse der von den Deutschen durchgeführten, repressiven Strafverfolgung führt dazu, die Verantwortung der Dienststellen des MBF im Hinblick auf die Eskalation der Gewaltausübung durch die deutsche Besatzungsmacht in Frankreich neu zu bewerten. Die deutschen Militärgerichte begleiteten fast ausnahmslos und ohne Vorbehalte die sich in Etappen vollziehende Radikalisierung der deutschen Besatzungsmethoden, die nicht nur durch die Zentralbehörden in Berlin, sondern auch vom Majestic selbst gefördert wurde. Die Militärjuristen verfügten über einen zwar begrenzten, jedoch durchaus realen Handlungsspielraum. Dabei praktizierten sie eine manchmal von ihren vorgesetzten Dienststellen als zu milde gewertete, insgesamt jedoch unerbittliche Rechtsprechung. Die anhaltende Erosion der polizeilichen Gewalt des MBF zugunsten der Sipo SD ging nicht etwa mit einer Aussetzung der Strafverfolgungen durch die Militärgerichte einher. Obwohl immer weniger Verhaftete den Militärgerichten zugeführt wurden, nahm der Justiz - Terror weiterhin zu und erreichte Anfang 1944 seinen Höhepunkt. Zum Abschluss dieser Studie muss noch auf ihre Grenzen eingegangen werden. Die bis heute nur lückenhaft zur Verfügung stehenden Unterlagen der Militärgerichte des MBF lassen viele Fragen unbeantwortet. Dazu gehört unter anderem auch die Frage der differenzierten rechtlichen Behandlung, die die Besatzer den von ihnen definierten Feindkategorien im besetzten Frankreich zuteilwerden ließen, insbesondere den Juden, den Kommunisten und den Gaullisten. Zum Stand unserer Kenntnis über die Akten der Militärgerichte des MBF gibt es allerdings auch gute Nachrichten. Es hat sich ergeben, dass ich nach dem Abschluss meiner Dissertation, aus der diese Untersuchungsergebnisse entnommen sind, die Spur zumindest eines Teils der Akten der Militärgerichte des MBF, die man bisher vernichtet oder verloren glaubte, wiederfinden konnte. Das Archiv des Bureau des archives des victimes des conflits contemporains 82
Vgl. beispielsweise Thomas, Wehrmachtjustiz.
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(BAVCC – Archiv der Opfer zeitgenössischer Konflikte ) in Caen, das zum Zuständigkeitsbereich des Service historique de la défense ( SHD ) – der Historischen Abteilung des Verteidigungsministeriums – gehört, besitzt einen ( bis vor Kurzem ) noch nicht inventarisierten Bestand mit mehreren tausend Gerichtsakten, die von den deutschen Militärgerichten während des Zweiten Weltkriegs angelegt wurden. Allerdings geht es bei der Mehrheit dieser Akten um Angelegenheiten des Gemeinrechts und nur wenige betreffen Rechtsfälle im Zusammenhang mit dem Widerstand. Es handelt sich nichtsdestoweniger um einen reichen, wenngleich heterogenen und leider unvollständigen Bestand, dessen geplante Auswertung aber sicher erlauben wird, die von den Deutschen in den Jahren 1940 bis 1945 ausgeübte strafrechtliche Repression genauer zu erfassen, ob in Frankreich oder im Reich selbst. Dieser Fundus, der sowohl für Familien von großem Interesse sein könnte, die in der einen oder anderen Weise von dieser Form der Repression im »legalen Gewand« betroffen waren, wie auch für die historische Forschung, in der die von der Justiz ausgeübte Repression auch heute noch ein relativ unbearbeitetes Gebiet darstellt, war bis 2009 weder inventarisiert noch ausgewertet. In Zusammenarbeit mit Alain Alexandra, dem Direktor des BAVCC, haben wir, unterstützt durch eine Forschungskooperation zwischen dem »Centre de Recherche en Histoire Quantitative«, dem ich selbst angehöre und dem Deutschen Historischen Institut in Paris, ein Inventar dieses Gerichtsakten - Fundus als Datenbank erstellen lassen. Diese Datenbank enthält sowohl Angaben zur von dem jeweiligen Strafverfahren betroffenen Person ( Aktenzeichen sowie alle persönlichen Daten ) wie auch zu den damit in Zusammenhang stehenden relevanten soziologischen und rechtlichen Gegebenheiten.83 Das Geheimnis des Schicksals der Gerichtsakten des MBF wurde mit der Entdeckung dieses Fundus zwar nicht gelüftet, doch hoffen wir, in ihm neue Puzzle - Steine zu finden, die unser Wissen ergänzen.
83
Vgl. Gaël Eismann / Corinna von List, Les fonds des tribunaux allemands (1940–1945) conservés au BAVCC à Caen. De nouvelles sources et de nouveaux outils pour écrire l’histoire de la répression judiciaire allemande pendant la Seconde Guerre mondiale ? In : Francia. Forschungen zur westeuropäischen Geschichte, 39 (2012), S. 347–378.
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Gaël Eismann
Abb. 1: Von Militärgerichten des MBF am häufigsten verhandelte Straftatbestände März 1941 – April 1944 (Anteil an der Gesamtzahl von 2 623 Anklagen [nicht eingeschlossen solche wegen Beihilfe oder solche mit mehreren Anklagemotiven], die in Verfahren erhoben wurden, in denen zumindest einer der Angeklagten zu mindestens fünf Jahren Haft oder zum Tode verurteilt wurde. Quelle: Gaël Eismann, in Jean-Luc Leleu, Atlas de la France dans la Seconde Guerre mondiale, Fayard, 2010, S. 196. Allgemeine Listen und Bestätigungslisten der von den Gerichten des MBF verhängten Urteile (BArch, RW 60/928-948).
Abb. 2: Von Gerichten des MBF wegen Gefährdung der Sicherheit der Besatzungsmacht verhängte Strafen (Verfahren, in denen einer der Angeklagten zu mindestens fünf Jahren Haft oder zum Tode verurteilt wurde. Auf die Gesamtzahl von 3 693 verurteilten Personen entfallen 2 110 Todesstrafen, 1 305 Haftstrafen und 271 Freisprüche. In sieben Fällen ist das Urteil nicht bekannt. Quelle: Verfahren vor den Gerichten des MBF (BArch, RW 60/928-948).
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Kerstin von Lingen Deutsche Militär - und Besatzungsjustiz in Italien 1943 bis 1945
Die Tötung von Zivilpersonen in Gebieten, die von Deutschland im Zweiten Weltkrieg besetzt waren, ist in der deutschen Öffentlichkeit nach 1945 wenig thematisiert, geschweige denn gerichtlich geahndet worden, wie die Debatte um die Ausstellung »Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941–1944« des Hamburger Instituts für Sozialforschung von 1995 bis 1999 deutlich gezeigt hat.1 In dieser Ausstellung ging es um Kriegsverbrechen der Wehrmacht an der Ostfront und auf dem Balkan, die in der Forschung schon seit Jahrzehnten aufgegriffen wurden, allerdings kaum Eingang in die öffentliche Wahrnehmung der Bundesrepublik gefunden hatten.2 In der öffentlichen Kontroverse um die Inhalte der Ausstellung wird jedoch häufig übersehen, dass unter »Kriegsverbrechen« nicht nur die Tat selbst zu verstehen ist, sondern damit noch eine weitere Dimension beschrieben wird : die völlige Untätigkeit der deutschen Militärjustiz bezüglich der Ahndung von Kriegsverbrechen der eigenen Truppen. Es erscheint lohnend, bei der Analyse der Gewalt gegen Zivilisten in den besetzten Gebieten Europas die Rolle der Kontrollinstanzen in den Besatzungsgebieten, insbesondere die der Militärjustiz, einer genaueren Betrachtung zu unterziehen, um die Frage nach ihrer Mitwirkung an der Repression der Zivilbevölkerung zu thematisieren.3 1 2
3
Christian Hartmann / Johannes Hürter / Ulrike Jureit ( Hg ), Verbrechen der Wehrmacht. Bilanz einer Debatte, München 2005. Manfred Messerschmidt, Die Wehrmacht im NS - Staat. Zeit der Indoktrination, Hamburg 1969; Christian Streit, Keine Kameraden. Die Wehrmacht und die sowjetischen Kriegsgefangenen 1941–1945, Stuttgart 1978; Helmut Krausnick / Hans - Heinrich Wilhelm, Die Truppe des Weltanschauungskrieges. Die Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD 1938–1940, Stuttgart 1978. In den letzten Jahren sind bereits zahlreiche Studien erschienen, die herausgearbeitet haben, dass auch im Westen kein »sauberer Krieg« von der Wehrmacht geführt wurde. Vgl. Peter Lieb, Konventioneller Krieg und Weltanschauungskrieg ? Kriegführung und Partisanenbekämpfung in Frankreich, 1943/1944, München 2007; Kerstin von Lingen, Kesselrings letzte Schlacht. Kriegsverbrechen, Vergangenheitspolitik, Wiederbewaffnung : der Fall Albert Kesselring, Paderborn 2004; Ahlrich Meyer, Die deutsche Besatzung in Frankreich 1940–1944. Widerstands-
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Beispielhaft soll hier das seit 1943 besetzte Italien betrachtet werden. Italien stellt einen sehr komplexen Sonderfall dar, trafen hier doch mehrere Faktoren zusammen, die sich zu einer komplizierten Gemengelage verdichteten. Vormals Hauptverbündeter des Deutschen Reiches, änderte sich die Situation 1943 grundlegend : Italien wurde zum »besetzten Ausland«. Die Landung der Alliierten auf Sizilien im Juli 1943, die darauffolgende Absetzung Benito Mussolinis (1883– 1945) und die Bemühungen der Nachfolgeregierung unter Marschall Pietro Badoglio (1871–1956) um einen Separatfrieden mit den Alliierten, nahm die Reichsregierung zum Anlass, den ehemaligen Achsenpartner militärisch zu besetzen. Als am 8. September 1943 der italienische Waffenstillstand bekannt gegeben wurde, marschierte die Wehrmacht in Italien ein, um die Frontlinie von den Reichsgrenzen fern zu halten, während zeitgleich Mussolini in Oberitalien eine neue faschistische Republik, die »Repubblica Sociale Italiana« ( RSI ) ausrief.4 Oberbefehlshaber der Wehrmacht in Italien war, nach einer kurzen Übergangszeit, in der Feldmarschall Erwin Rommel (1891–1944) Oberitalien befehligte, für ganz Italien Feldmarschall Albert Kesselring (1885–1960). Zum Höchsten SS und Polizeiführer in Italien wurde Obergruppenführer Karl Wolff (1900–1984) ernannt. In der Folge bestand ab September 1943 ein dreigeteiltes Besatzungsgebiet : Gebiete unter Militärverwaltung, sogenannte dem Reich angegliederte »Operationszonen« sowie ein Restgebiet unter italienischer Verwaltung existierten parallel nebeneinander. In allen drei Verwaltungseinheiten galten unterschiedliche Kompetenzen für Wehrmacht, SS und Verwaltungsstäbe, die sich jedoch auf dem Gebiet der Justiz vielfach überschnitten. Die Einrichtung der Militärverwaltung im September 1943 durfte mit Rücksicht auf Mussolinis Kollaborationsregime in Oberitalien nicht offen als solche benannt werden und verlief kontrovers;5 der faktische Militärbefehlshaber, zunächst General Joachim Witthöft (1887–1966), dann ab Oktober 1943 General Rudolf Toussaint (1891–1968), führte daher den Titel »Bevollmächtigter General der deutschen Wehrmacht in Italien«.6 Die Militärverwaltung bestand aus einem
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bekämpfung und Judenverfolgung, Darmstadt 2000; Carlo Gentile, Wehrmacht und Waffen - SS im Partisanenkrieg : Italien 1943–1945, Paderborn 2012. Die Literatur hierzu ist sehr umfangreich; als Überblick über die Repressal - und Unterdrückungsmaßnahmen nach dem 8. September 1943 vgl. Gerhard Schreiber, Deutsche Kriegsverbrechen in Italien. Täter, Opfer, Strafverfolgung, München 1996. Lutz Klinkhammer, Zwischen Bündnis und Besatzung. Das nationalsozialistische Deutschland und die Republik von Salò 1943–1945, Tübingen 1993, S. 76–82. Hans Umbreit, Die deutsche Herrschaft in den besetzten Gebieten 1942–1945. In : Bernhard R. Kroener / Rolf - Dieter Müller / Hans Umbreit, Organisation und Mobilisierung des deutschen Machtbereichs. Kriegsverwaltung, Wirtschaft und personelle Ressourcen 1942–1944/45 ( Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Band 5.2), Stuttgart 1999, S. 3–274, hier 72; Maximiliane Rieder, Deutsch - italienische Wirtschaftsbeziehungen. Kontinuitäten und Brüche 1936– 1957, Frankfurt a. M. 2003, S. 277.
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Netz aus Feldkommandanturen ( Padua, Turin, Ferrara, Parma, Genua, Brescia, Bologna, Mailand, Alessandria, Massa - Carrara ), denen wiederum lokale Einheiten unterstellt waren, um Verwaltung und Wirtschaft Italiens zu überwachen. Ab Februar 1945 übernahm der Höchste SS - und Polizeiführer Karl Wolff auch die Position des Chefs der Militärverwaltung und verfügte damit fortan über eine enorme Machtfülle.7 Hitler befahl neben der Einrichtung einer Militärverwaltung zusätzlich am 10. September 1943 für die direkt ans Reich angrenzenden Territorien die Einrichtung der Operationszonen »Alpenvorland« ( bestehend aus den Provinzen Bozen, Trient, Belluno ) sowie »Adriatisches Küstenland« ( Provinzen Triest, Laibach ).8 Geführt wurden die Operationszonen von zwei unmittelbar dem »Führer« unterstellten »Obersten Kommissaren«, dem bisherigen Gauleiter von Tirol - Vorarlberg, Franz Hofer (1902–1975), und dem Gauleiter von Kärnten, Friedrich Rainer (1903– vermutlich 1950). Mit dieser Ernennung unterstrich Hitler die Sonderstellung der Operationszonen im politischen Gefüge des Dritten Reichs und machte Kompetenzabgrenzungen zur Militärverwaltung der Wehrmacht im restlichen besetzten Ober - und Mittelitalien deutlich.9 Im Unterschied zu anderen besetzten Ländern Europas, wie etwa Belgien oder Frankreich, die ebenfalls von Militärbefehlshabern verwaltet wurden, gab es also in Italien noch zusätzlich zwei sogenannte Operationszonen, die verwaltungstechnisch dem Reich angegliedert waren, was faktisch einer Annexion gleichkam. Die Besetzung hatte umfangreiche Folgen für die italienische Bevölkerung : Die italienische Armee wurde entwaffnet, 620 000 Soldaten als »Italienische Militärinternierte« ( kurz : IMIs ) sowie weitere, willkürlich aufgegriffene Zivilisten zur Zwangsarbeit ins Reich verschleppt.10 Im Verlauf der Besatzungsjahre kam es zudem, vor allem in Mittelitalien, zu einem systematischen Krieg gegen italienische Zivilisten, vorgeblich, um militärische Ziele zu erreichen und der Gefahr von Partisanenüberfällen entgegen zu treten. Die Forschung hat inzwischen herausgearbeitet, dass den Okkupanten der Anfangsverdacht von »Deutschfeindlichkeit« oder »Partisanentätigkeit« genügte, um ohne Gerichtsverfahren Zivilisten willkürlich zu erschießen und ganze Dörfer dem Erdboden gleichzuma-
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Umbreit, Herrschaft, S. 74; Rieder, Wirtschaftsbeziehungen, S. 347. Ausführlich zur Errichtung der Operationszonen vgl. Michael Wedekind, Nationalsozialistische Besatzungs - und Annexionspolitik in Norditalien, 1943–1945, München 2003, hier S. 75–99; Karl Stuhlpfarrer, Die Operationszonen »Alpenvorland« und »Adriatisches Küstenland« 1943– 1945, Wien 1967. Wedekind, Besatzungs - und Annexionspolitik, S. 4. Gerhard Schreiber, Die italienischen Militärinternierten im deutschen Machtbereich 1943– 1945. Verraten, verachtet, vergessen, München 1990; Gabriele Hammermann, Zwangsarbeit für den »Verbündeten«. Die Arbeits - und Lebensbedingungen der italienischen Militärinternierten in Deutschland 1943–1945, Tübingen 2002; Zu den Zahlen vgl. Schreiber, Kriegsverbrechen, S. 40.
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chen.11 Zwischen 1943 und 1945 kamen auf diese Weise ungefähr 10 000 Zivilisten zu Tode, ohne dass die deutsche Militärjustiz gegen die Täter – deutsche Soldaten – eingeschritten wäre.12 Die Konflikte der Besetzten mit den Besatzern schlugen sich vielfach in Gerichtsakten nieder, die von Verfahren wegen Diebstahls und Schwarzmarktvergehen über »Entziehung vom Militärdienst / Arbeitsdienst« bis hin zu »Eintritt in eine Partisanenformation« zeugen. Aufgrund der desolaten Quellenlage gibt es keine verlässlichen Zahlen über die Opfer deutscher Strafjustiz während der Besatzungszeit in Italien. Die Wehrmacht führte nach dem Kriegsaustritt des italienischen Verbündeten zum September 1943, besonders aber seit Frühjahr 1944 einen Defensiv - oder Rückzugskrieg, der durch Sabotageaktionen der Widerstandsbewegung Resistenza behindert wurde. Auf die Aktionen der Resistenza aus dem Hinterhalt, die der Wehrmacht erhebliche Probleme bereiteten,13 reagierten die Deutschen mit brutalen »Sühnemaßnahmen«, die das Ergebnis eines konzertierten Zusammenspiels verschiedener Stäbe und Verantwortungsträger waren : Der »Oberbefehlshaber Südwest«, Feldmarschall Albert Kesselring, als in den Operationsgebieten verantwortlicher Kommandeur, der Militärbefehlshaber bzw. »Bevollmächtigte General der deutschen Wehrmacht«,14 General Rudolf Toussaint ( ab Juli 1944 abgelöst von Karl Wolff ) als Territorialbefehlshaber mit vielfältigen Aufgaben und Abhängigkeiten, sowie der Höchste SS - und Polizeiführer, SS - Obergruppenführer Karl Wolff, der gemeinsam und zugleich in gewisser Rivalität mit dem »Bevollmächtigten General« das nicht zu den Operationsgebieten zählende okkupierte Territorium sicherte, vor allem also Mittel - und Oberitalien.15 Dazu kamen Stäbe des deutschen Botschafters bei der RSI, Rudolf Rahn (1900–1975), der faktisch vom Auswärtigen Amt den Auftrag erhalten hatte, Mussolinis neue Republik diskret zu steuern,16 sowie Stäbe des Befehlshabers der Sicherheitspolizei ( BdS ) in Verona inklusive diverser Abteilungen der Gestapo, SiPo und des SD. Im Folgenden wird dieser Beitrag zum einen auf die Militärjustiz gegen Wehrmachtangehörige sowie zum anderen auf die Besatzungsjustiz gegen Zivilisten fokussieren und dabei beispielhaft die Sondergerichte der »Operationszonen« in 11 12 13
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Schreiber, Kriegsverbrechen, passim. Zu den Zahlen vgl. Giorgio Rochat, Una ricerca impossibile. Le perdite italiane nella seconda guerra mondiale. In : Storia Contemporanea, 201 (1995), S. 687–700, hier 691. Gerhard Schreiber, Partisanenkrieg und Kriegsverbrechen der Wehrmacht in Italien 1943 bis 1945. In : Repression und Kriegsverbrechen. Die Bekämpfung von Widerstands - und Partisanenbewegungen gegen die deutsche Besatzung in West - und Südeuropa , Berlin 1997. S. 93– 129, hier 114. Rieder, Wirtschaftsbeziehungen, S. 277. Schreiber, Partisanenkrieg, S. 95. Carlo Gentile / Lutz Klinkhammer, Gegen die Verbündeten von einst. Die Gestapo in Italien 1943 bis 1945. In : Gerhard Paul / Klaus - Michael Mallmann ( Hg.), Die Gestapo im Zweiten Weltkrieg. »Heimatfront« und besetztes Europa, Darmstadt 2000, S. 521–542, hier 521.
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den Blick nehmen. Dabei ist eine empirische Aufarbeitung zwar nicht in dem Maße möglich, wie es wünschenswert wäre, jedoch lassen sich Grundstrukturen im besetzten Oberitalien aufzeigen und die Rolle der deutschen Gerichtsbarkeit als Instrument der Besatzungspolitik diskutieren.17
1. Militärjustiz gegen Soldaten : Ahndung von Verbrechen gegen Zivilisten ? Die Schwierigkeiten, die sich aus einem Partisanenkrieg im Hinterland für den regulären Krieg an der Front ergaben, sind in der Forschung hinreichend thematisiert worden.18 Im Zweiten Weltkrieg erlangte die Problematik in den besetzten Gebieten besondere Bedeutung, da der Krieg im rückwärtigen Gebiet in erheblichem Ausmaß Truppen band, die an der Front fehlten. Viele europäische Widerstandsbewegungen sind infolgedessen von den Alliierten unterstützt worden, um durch Sabotage im Hinterland den Zusammenbruch der deutschen Fronten zu beschleunigen. Dabei ist erkennbar, dass mit zunehmender Ausweglosigkeit der militärischen Lage die deutsche Führung immer radikalere Befehle erließ, um die »Partisanenfrage« zu lösen. Diese Befehle blieben nicht ohne Auswirkung auf die Militärjustiz.19 Neuere Forschungen haben ergeben, dass es für die Kriegsgerichte in Italien ein Verfolgungsverbot hinsichtlich Verbrechen an Zivilisten gab, das im Kern auf einen OKW - Befehl bzw. eine »Führerweisung« von 1942 zurückging und deutschen Soldaten diesbezüglich weitgehend Straffreiheit zusicherte.20 17
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Gerald Steinacher, Das »Sondergericht für die Operationszone Alpenvorland« 1943–1945. In : ders. ( Hg.), Südtirol im Dritten Reich. NS - Herrschaft im Norden Italiens, 1943–1945, Innsbruck 2003, S. 259–273, hier 271. Schreiber, Kriegsverbrechen; zum Überblick über andere Kriegsschauplätze vgl. Hannes Heer / Klaus Naumann ( Hg ), Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941–1944, Hamburg 1995; Rolf - Dieter Müller / Hans - Erich Volkmann ( Hg ), Die Wehrmacht. Mythos und Realität, München 1999; Wolfram Wette / Gerd R. Ueberschär ( Hg ), Kriegsverbrechen im 20. Jahrhundert, Darmstadt 2001. Vgl. Jörn Axel Kämmerer, Kriegsrepressalie oder Kriegsverbrechen ? Zur rechtlichen Beurteilung der Massenexekutionen von Zivilisten durch die deutsche Besatzungsmacht im Zweiten Weltkrieg. In : Archiv des Völkerrechts, 37 (1999), S. 283–317. Die folgenden Überlegungen basieren auf einem Gutachtenauftrag für die Staatsanwaltschaft Stuttgart (2007/2009), das zusammen mit dem Strafrechtler Prof. Henning Radtke ( Hannover ) erstellt wurde, dem an dieser Stelle noch einmal für die anregende gemeinsame Arbeit gedankt wird. Zu den historisch argumentierenden Teilen des Gutachtens vgl. Kerstin von Lingen, Partisanenkrieg und Wehrmachtjustiz. Italien 1943–1945. In : Zeitschrift für Genozidforschung, 8 (2/2007), S. 8–40. Das sich auf die Waffen - SS beziehende Gutachten von 2010 wurde in Auszügen unter folgendem Titel veröffentlicht : Henning Radtke / Kerstin von Lingen / Christopher Theel : Straffreiheit durch Führerbefehl ? Die Rechtswirkung von Führerbefehlen nach nationalsozialistischem Rechtsverständnis am Beispiel des Umgangs der SS - und Polizeigerichtsbarkeit mit im Rahmen der sog. »Bandenbekämpfung« begangenen Tötungsdelikten«.
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Es stellt sich also die Frage, wie in Italien geltendes Militärrecht durch zusätzliche Befehle und Anweisungen ergänzt wurde. Hierbei ist es unerlässlich, Richtlinien zur Partisanenbekämpfung an der Ostfront in die Analyse einzubeziehen.21 Oberbefehlshaber Kesselring lehnte sich dabei begrifflich eng an die Vorgaben des Führerhauptquartiers an, die Züge des rassisch - ideologisch motivierten nationalsozialistischen »Weltanschauungskampfes« trugen. So stammte die Formulierung »Auch gegen Frauen und Kinder«, die in Kesselrings Befehl vom 17. Juni 1944 auftauchte und später noch ausführlicher betrachtet werden wird, beispielsweise nicht aus der Feder der Operationsabteilung in Italien, sondern aus einem OKW - Befehl vom 16. Dezember 1942, der für die Sowjetunion die »Partisanenfrage« regeln sollte und hernach auch im besetzten Italien Gültigkeit erlangte. Zur Militärjustiz in der Wehrmacht gibt es inzwischen umfangreiche Forschungen, so dass an dieser Stelle auf die Darstellung von Strukturen und normativen Grundlagen der Kriegsgerichtsbarkeit weitgehend verzichtet werden kann.22 Kämpfte ein Soldat im Frontkampf nach den z. B. in der Haager Landkriegsordnung festgeschriebenen Regeln, so existierten für den Einsatz gegen Partisanen keine vergleichbaren Vorschriften.23 Zumeist regelten Befehle und Anordnungen der militärischen Führung das Vorgehen der Wehrmacht gegen Partisanen (»Banden«). Materiell - rechtlich behandelte die Kriegssonderstraf-
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In : Zeitschrift der Savigny - Stiftung für Rechtsgeschichte, Germanistische Abteilung, 129 (2012), S. 214–266. Grundlage des radikalen Vorgehens der Wehrmacht im Ostkrieg, insbesondere bei der Partisanenbekämpfung, war zunächst der Kriegsgerichtsbarkeitserlass, der am 13.5.1941 in der Vorbereitungsphase des »Unternehmens Barbarossa« vom OKW herausgegeben wurde. Vgl. dazu grundlegend und den aktuellen Forschungsstand zusammenfassend Felix Römer, »Im alten Deutschland wäre solcher Befehl nicht möglich gewesen«. Rezeption, Adaption und Umsetzung des Kriegsgerichtsbarkeitserlasses im Ostheer 1941/42. In : Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte (VfZ ), 56 (2008), S. 53–99. Grundlegend hierzu die Studien zur Wehrmachtjustiz von Messerschmidt, Haase und anderen. Vgl. Manfred Messerschmidt, Die Wehrmachtjustiz 1933–1945, Paderborn 2005; Detlef Garbe, »In jedem Einzelfall ... bis zur Todesstrafe«. Der Militärstrafrechtler Erich Schwinge, Ein deutsches Juristenleben, Hamburg 1989; Manfred Messerschmidt / Fritz Wüllner, Die Wehrmachtjustiz im Dienste des Nationalsozialismus. Zerstörung einer Legende, Baden - Baden 1987; Norbert Haase, »Gefahr für die Manneszucht«. Verweigerung und Widerstand im Spiegel der Spruchtätigkeit von Marinerichtern in Wilhelmshaven (1939–1945), Hannover 1996; Norbert Haase / Gerhard Paul ( Hg ), Die anderen Soldaten. Wehrkraftzersetzung, Gehorsamsverweigerung und Fahnenflucht im Zweiten Weltkrieg, 2. Auflage Frankfurt a. M. 1997. Der Partisanenkampf als Abweichung von einer soldatischen Norm des Krieges ist erst in den letzten Jahren von der Forschung bearbeitet worden.Wichtige Impulse hierzu lieferten vor allem die Arbeiten Thomas Kühnes, vgl. ders, Kameradschaft. Die Soldaten des nationalsozialistischen Krieges und das 20. Jahrhundert, Göttingen 2006; ders., Der nationalsozialistische Vernichtungskrieg und die »ganz normalen« Deutschen. Forschungsprobleme und Forschungstendenzen der Gesellschaftsgeschichte des Zweiten Weltkriegs. In : Archiv für Sozialgeschichte, 39 (1999), S. 580–663.
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rechtsverordnung ( KSSVO ) den Umgang mit militärgerichtlich abzuurteilenden Partisanen (»Freischärlern«). Den Frontsoldaten wurde dies durch die auf der Rückseite des Soldbuchs abgedruckten »10 Gebote« bekannt gemacht.24 In Bezug auf die Partisanenfrage hieß es dort unmissverständlich, dass ein überführter Partisan nur dann hingerichtet werden durfte, wenn er zuvor von einem Gericht zum Tode verurteilt worden war. Befolgte ein deutscher Soldat diesen Grundsatz nicht, drohte ihm selbst ein Kriegsgerichtsverfahren. Nachdem Hitler seit Dezember 1941 als Oberster Befehlshaber der Wehrmacht die höchste militärische Instanz darstellte, kam es zu einer verhängnisvollen Dynamik, indem geltendes Militärrecht durch parallel erlassene, politisch begründete »Führerbefehle« faktisch außer Kraft gesetzt wurde. In seiner »Kampfanweisung für die Bandenbekämpfung im Osten« vom 16. Dezember 1942 hatte Hitler scharfes Vorgehen gegen Partisanen und »Partisanenhelfer« zur »Pflicht« des Soldaten erklärt und vorsorglich nachgeschoben, »Rücksichten« gleich welcher Art seien ein »Verbrechen gegen das deutsche Volk und die Soldaten an der Front«. In seinem Befehl räumte Hitler jegliche Bedenken und etwaige Skrupel schon im Vorfeld aus und erklärte umgekehrt die Beachtung internationaler Rechtsnormen zum Verbrechen.25 Der Befehl wurde zunächst für die Ostfront und den Balkan erlassen, galt aber nach 1943 auch in Italien, wie die Weitergabe des Befehls im Armeeoberkommando ( AOK ) 14 belegt.26 In Hitlers Befehl vom 16. Dezember 1942 heißt es unter Ziffer 2 wörtlich : »Kein in der Bandenbekämpfung eingesetzter Deutscher darf wegen seines Verhaltens im Kampf gegen die Banden und ihre Mitläufer disziplinarisch oder kriegsgerichtlich zur Rechenschaft gezogen werden. Die Befehlshaber der im Bandenkampf eingesetzten Truppen sind dafür verantwortlich.«27 Ein solcher »Führerbefehl« hatte nach dem während der nationalsozialistischen Herrschaft maßgeblichen Rechtsverständnis gesetzesgleiche Wirkung.28 Dieser Befehl stellte faktisch alle Soldaten der deutschen Wehrmacht straffrei, die sich Übergriffe auf Zivilisten schuldig machten. Wesentlich ist auch der Zusatz, der den Offizier selbst haftbar machte, sollte er ihm untergebene Soldaten wegen der Misshandlungen oder Tötungen von Zivilisten anzeigen. Damit waren die bisherigen Sanktionsmög24 25 26 27 28
Vgl. Soldbuch, »10 Gebote für den deutsche Soldaten« ( BArch Ludwigsburg, JAG 260 ( Strafverfahren Kesselring ), Exhibit 69). Schreiber, Kriegsverbrechen, S. 97. Anlagen zum Ic Tätigkeitsbericht für die Zeit vom 21.11.1943 bis 23.1.1944, hier : Behandlung gefangener Saboteure, Agenten und Bandenangehöriger, 28.11.1943 ( BArch, RH 20–14/83). Hitlers »Kampfanweisung für die Bandenbekämpfung«, 16. 12. 1942. In : Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem IMT Nürnberg, Nürnberg 1949, S. 128. Radtke / von Lingen / Theel, Straffreiheit, S. 220; Manfred Messerschmidt, Rechtswissenschaft und Nationalsozialismus. Gesetzpositivismus oder Unrechtsgestaltung ? In : ders., Militarismus, Vernichtungskrieg und Geschichtspolitik. Zur deutschen Militär - und Rechtsgeschichte, Paderborn 2006, S. 117–128, hier 127.
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lichkeiten für den Kommandeur im Hinblick auf eventuelle Kriegsverbrechen faktisch außer Kraft gesetzt und das Zusammenrufen eines Feldkriegsgerichts erheblich erschwert. Während die Richtlinien zur Partisanenbekämpfung durch Hitler radikalisiert und durch die Truppenführer auf den verschiedenen Kriegsschauplätzen bereits umgesetzt worden waren, existierten jedoch gleichzeitig sogenannte Merkblätter der Wehrmachtführung weiter. Obwohl der genannte Hitlerbefehl noch Gültigkeit besaß, nahm das OKW mit dem Merkblatt 69/2 eine Neuregelung der »Bandenbekämpfung« vor, dessen Bestimmungen zum 1. April 1944 in Kraft traten.29 Darin ist festgehalten, dass für Unternehmungen gegen »bandenverdächtige Dörfer« und Zivilisten ein Befehl der Division nötig war, die Aktionen also geplant, besprochen und angeordnet werden mussten wie reguläre militärische Einsätze, und dadurch bei Abweichung vom Befehl auch der Militärrechtsprechung unterstanden. Die Tötung von Frauen und Kindern ist, anders als im »Führerbefehl«, nicht erwähnt. In der Diktion erinnert das Merkblatt eher an die erwähnten »10 Gebote«. Trotz dieser Neuregelungen wurde jedoch die Weisung Hitlers als höherwertig betrachtet.30 Diesen Befund stützen auch zeitgenössische juristische Kommentare : Im Kommentar zum Strafrecht von 1936 wurde festgehalten, dass der »Führerwille Ausdruck des Willens der Volksgemeinschaft« sei, was den Vorrang einer »Führerweisung« begründete.31 Der »Führerbefehl« geriet so zum Dreh - und Angelpunkt eines »gesetz - und rechtsverdrängenden«, in Theorie und Praxis auf Hitler ausgerichteten, »neuen völkischen ›Rechts‹«, wie Messerschmidt bilanziert.32 Die deutsche Führung verschärfte auch in Italien angesichts wachsender Bedrohung der Nachschublinien durch Sabotagetätigkeit im Hinterland im Frühjahr 1944 die Richtlinien.33 Es kam dabei in der Befehlskette von Hitler über Feldmarschall Kesselring als Oberbefehlshaber in Italien bis hin zur Ebene der Armeekorps zu einer Radikalisierung der Kriegsführung. Um eine effektive Koordination des »Banden - Abwehrkampfes« zu erreichen, hatte Hitler zunächst versucht, Kompetenzen zu bündeln und am 19. Januar 1944 entschieden, dass Kesselring, »falls die Lage dies erfordert, uneingeschränktes Verfügungsrecht 29 30
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»Nur für den Dienstgebrauch ! Bandenbekämpfung ( gültig für alle Waffen )« vom 6. 5. 1944, S. 69–72 ( im Folgenden zitiert als Merkblatt 69/2) ( BArch, RHD 6/69/2). Messerschmidt, Wehrmachtjustiz, S. 275; Auch Christian Thomas Huber hat herausgearbeitet, dass eine »Führerweisung« einfache gesetzliche Verordnungen, wie sie in der KSSVO oder dem MStGB geregelt waren, grundsätzlich brach. Vgl. Christian Thomas Huber, Die Rechtsprechung der deutschen Feldkriegsgerichte bei Straftaten von Wehrmachtsoldaten gegen Angehörige der Zivilbevölkerung in den besetzten Gebieten, Marburg 2007, S. 189. Franz Gürtner / Roland Freisler, Das neue Strafrecht. Grundsätzliche Gedanken zum Geleit, Berlin 1936, S. 25. Messerschmidt, Rechtswissenschaft, S. 127. Tagebuch Kesselring London, S. 41 ( BArch, N 750 [ Kesselring ]/2).
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über alle im italienischen Raum befindlichen [...] Kräfte aller Wehrmachtteile und der Waffen - SS« haben sollte.34 Konkret sah die »Arbeitsteilung« zwischen der Heeresgruppe C der Wehrmacht und der SS dann so aus, dass die AOK in Italien weiterhin für die Partisanenbekämpfung in den Operationsgebieten ( Front ) und in den Küstenstreifen verantwortlich zeichneten, auch wenn sie die Durchführung der Aktionen an Luftwaffenformationen oder die SS delegierten.35 Die vom OKW am 6. April 1944 erlassenen »Richtlinien zur Bekämpfung der Partisanenbewegung« setzte Kesselring am Tag darauf in folgenden Formulierungen um : »Bei Überfällen ist ohne Rücksicht sofort zu schießen« und »Zu scharfes Durchgreifen wird bei der derzeitigen Lage niemals Grund zur Strafe sein«.36 Am 13. April findet sich im Tätigkeitsbericht eines Kriegstagebuchs ( KTB ) die Formulierung, dass »schlappe und unentschlossene Führer zur Rechenschaft gezogen« würden, »da sie die Sicherheit ihrer unterstellten Truppe und die Achtung vor der deutschen Wehrmacht« gefährdeten.37 Trotz der genannten »Arbeitsteilung« wurde darauf geachtet, für die Wehrmacht - sowie SS - und Polizeigerichtsbarkeit stets zwei separate, wenn auch meist gleichlautende Befehle zu verschicken, um die Eigenständigkeit beider Institutionen zu unterstreichen.38 Nachdem die Wehrmacht Rom am 4. Juni 1944 aufgeben musste, begann der Rückzug durch Mittelitalien. In dieser Situation erließ Kesselring kurz nacheinander zwei sogenannte »Bandenbefehle«; auch hierin ist das Fortwirken des Hitlerbefehls erkennbar.39 In seinem Partisanenkampfbefehl vom 17. Juni 1944 sicherte Kesselring jedem absolute Deckung zu, »der über das bei uns übliche Maß an Zurückhaltung hinausgeht«.40 Der Begriff »Deckung gewähren« ergibt in 34
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Kriegstagebuch ( KTB ) des OKW, Verfügung OB Südwest vom 21.11.1943; Kriegstagebuch der Seekriegsleitung, 1939–1945, Teil A, Band 53 : Januar 1944. Hg. von Werner Rahn / Gerhard Schreiber / Hansjoseph Maierhöfer, Berlin 1995, S. 330. Schreiber, Partisanenkrieg, S. 98. Grundsätzliche Befehle Januar–Juli 1944, OB Südwest Ia, 7. 4. 1944 ( BArch, RH 18 X /35) und KTB des OKW, Band IV, S. 486 f. Abt. Ia, AZ II /26, Nr. 6994/44, Pag. S. 272 ( BArch, RH 31 VI /8). Radtke / Lingen / Theel, Straffreiheit, S. 255. In einem Fernschreiben des Hauptamtes SS - Gericht von 1944 heißt es : »SS - und Polizeigerichtsbarkeit sowie Wehrmachtsgerichtsbarkeit bleiben jedoch im Übrigen wie bisher getrennt«. Vgl. Hauptamt SS - Gericht, Ia, gez. Dr. Reinecke, an den SS - Richter beim Reichsführer - SS in Berlin vom 25.10.1944, mit der Bitte um Weiterleitung an das OKW in Jüterbog, in : SS - Führer - Personalakte Karl Wolff ( BArch Berlin, ehem. BDC, Filmrolle SSO 010 C ). Vgl. auch die übrigen Dokumente in dieser Personalakte von Karl Wolff sowie Ruth Bettina Birn, Die Höheren SS - und Polizeiführer, Düsseldorf 1986, S. 131, Anmerkung 143. Kesselring sagte später vor Gericht aus, er habe den Hitlerbefehl als »Rahmenerlass« aufgefasst, vgl. Freiwillige Aussage des Kriegsgefangenen LD 1573 Albert Kesselring, London, 4. 10. 1946, Seite 8 ( BArch Ludwigsburg, JAG 260, Exhibit 2). OB Südwest / Ia T Nr. 0402/44gKdos vom 17.6.1944, Anl. Z. KTB / Bev. Gen 20.6.1944 ( BArch, RH 31 VI /10). Vgl. auch Kesselrings Befehl vom 17.6.1944 ( BArch, N 422/15, S. 38).
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dem verwendeten Kontext lediglich dann Sinn, wenn er sich auf den Ausschluss einer disziplinarischen oder kriegsgerichtlichen Verfolgung bezieht. Kesselrings Befehle wurden stets auf dem normalen Dienstweg an die ihm untergeordneten Divisionen weitergegeben. So findet sich in den Akten ein nahezu identischer Befehl des Befehlshabers der 14. Armee, General Joachim Lemelsen (1888–1954).41 Kesselring selbst versicherte seine Truppenführer zudem in einem Zusatzbefehl weitgehender Handlungsfreiheit bei den »Bandenunternehmungen«, besonders bei Festsetzung der »Repressalquote«.42 Hiermit ist die völlig willkürliche Bestimmung einer Anzahl von Zivilisten gemeint, die als »Sühne« für Übergriffe auf deutsche Soldaten ohne jegliches Gerichtsverfahren erschossen werden konnten. Der Kesselringbefehl galt auch für die Waffen - SS.43 Zudem wurde der »Führerbefehl« durch Aufnahme in Divisions - oder Korpsbefehle weiterverbreitet und auch dort auf die Verfahrenshemmung hingewiesen.44 Am 1. Juli 1944 verpflichtete Kesselring seine Soldaten erneut auf hartes Durchgreifen,45 gab aber gleichzeitig die Order an seine Soldaten aus, dass Plünderer und Vergewaltiger an Ort und Stelle erschossen würden. Der ergänzende Befehl entsprang vor allem militärischem Kalkül – nur eine disziplinierte Truppe konnte die Abwehrschlachten in Italien überstehen. Der Disziplinfrage wurde größte Aufmerksamkeit geschenkt. Im Sommer 1944 gab es einige Standgerichtsverfahren wegen Vergehen gegen die »Manneszucht«, während für den gleichen Zeitraum kein einziges Verfahren wegen Ermordung von Zivilisten aktenkundig ist.46 In einem weiteren Befehl wies Kesselring seine Truppen an, mit den Erschießungen von Frauen, Kindern und Greisen »aufzuhören«.47 Dieser Befehl, der das Zusammentreten von Feldkriegsgerichten zur Untersuchung solcher Übergriffe sowie kriegsgerichtliche Untersuchungen »besonders krasser, in der Vergangenheit liegender Vorfälle« beinhaltete, wird nur verständlich, wenn in der Zeit vorher angeordnete Erschießungen von »Frauen, Kindern und Greisen« stattgefunden hatten, die gerade nicht einer kriegsgerichtlichen Verfolgung unterlagen.48 41 42 43 44
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AOK 14, Anlagen zum KTB 1a Nr. 4, 1.7.1944–30.9.1944 ( BArch, RH 20–14/42). AOK 14, Kesselring zur Bandenlage, 8.8.1944 ( BArch, RH 20–14/116). Anschreiben des Chefs Hauptamt SS - Gericht, Günther Reinecke, 13. 2. 1943, sowie anliegende Abschrift des Befehls vom 16.12.1942, Blatt 1 und 2 ( BArch, NS 19/2175). Selbst in SS - Kampfanweisungen ist der Wortlaut zu finden, vgl. Anlagen zum Ic Tätigkeitsbericht vom 1. 5. 1944–31. 7. 1944 ( BArch, RH 24–75/22), darin : Erlass des SS - und Polizeiführers Mittelitalien, SS - Oberführer und Oberst der Polizei, Bürger, vom 8.6.1944. Befehl Kesselrings vom 1.7.1944 ( BArch, N 422/15, S. 37). Schreiber, Kriegsverbrechen, S. 98. Erlass Kesselrings vom 24.9.1944 ( BArch, N 422/15). Unveröffentlichtes Gutachten Henning Radtke / Kerstin von Lingen, »Gutachten über die Frage des Eintritts der Verfolgungsverjährung in Bezug auf die Begehung von als Mord ( § 211 StGB ) zu wertenden Tötungsdelikten von Angehörigen der Waffen - SS auf dem Kriegsschauplatz Italien im Jahr 1944«, Stuttgart 2009, S. 24.
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Diese Kurskorrektur wirkte sich jedoch nicht auf die Praxis der Feldkriegsgerichte in Italien aus : Eine Aufhebung des »Führerbefehls« war nur durch Hitler selbst möglich. Auch als Generaloberst Heinrich von Vietinghoff - Scheel (1887–1952) Kesselring Ende Oktober 1944 als Oberbefehlshaber ablöste, änderte sich nichts an dieser Praxis. Erkennbar wird die Blockade von oben an einem Briefwechsel Vietinghoffs mit Himmler vom November 1944. Auf die Beschwerden Vietinghoffs über das Vorgehen der 16. SS - Panzer - Division und einer Forderung nach Bestrafung der Verantwortlichen für Übergriffe auf italienische Zivilisten antwortete Himmler kühl mit einem Verweis auf die NS - Hierarchie : »würde es mich interessieren, woher Sie die Information beziehen, dass die Führeranweisung nicht mehr gültig sein soll, denn davon ist hier im Führerhauptquartier nichts bekannt«.49 Strikte Kontrollen durch die NS - Führung, nicht zuletzt durch den Reichsführer - SS persönlich, verhinderten eine Umgehung des Hitlerbefehls bis zuletzt. Es hat daher bis zur Kapitulation am 2. Mai 1945 keine deutschen Militärgerichtsverfahren wegen Kriegsverbrechen an Zivilisten in Italien gegeben. In einem Vortragsvermerk des Chefs des Wehrmachtrechtswesens von Ende Mai 1945 gab das OKW, bereits in Abwicklung begriffen, ein letztes Mal die Argumentationslinie vor, indem bilanziert wurde : »Jeder Befehl [ des Führers ], gleich welchen Inhalts, war für sie [ die Soldaten ] bindendes Gesetz. Seine Ausführung durften sie auch dann nicht verweigern, wenn sie glaubten, dadurch ein allgemeines oder militärisches Verbrechen oder Vergehen zu begehen. Der Führerbefehl enthob sie jeder strafrechtlichen Verantwortung.«50 Damit war die Grundlage für die Entlastungsstrategie in den nach 1945 zu erwartenden Strafverfahren gelegt, aus der sich wiederum die völlige Verdrängung aus der öffentlichen Kriegserinnerung in der Bundesrepublik zumindest partiell erklären lässt. Für die Praxis der Militärjustiz in den besetzten Gebieten, hier bezogen auf Italien, ergibt sich damit ein faktischer Zustand der Straffreiheit für die Tötung von Zivilisten, da die Ahndungsmöglichkeit für derartige Straftaten blockiert war. Allerdings schließt diese Verfahrenshemmung nicht aus, dass es zu kriegsgerichtlichen Verfahren wegen Plünderungen oder Vergewaltigungen gekommen ist; laut Tätigkeitsberichten der Armeerichter wurden diese Delikte angeblich »empfindlich geahndet«, um die Disziplin der Truppe zu sichern. Mit Blick auf den Kriegsschauplatz Italien lässt sich allerdings nur bestätigen, dass entsprechende Meldungen, etwa von Gräueltaten der Division »Hermann Göring« während des sogenannten Bandenunternehmens vom 10. bis 13. April 1944 in Italien
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Klinkhammer, Bündnis, S. 516 f. Zit. nach BArch, RH 19/10–60, Blatt 30 ff., Himmler an Vietinghoff, vom 13.11.1944. Chef Wehrmachtrechtswesen, Vortragsvermerk vom 16. 05. 1945 für Chef OKW, Flensburg (BArch, RW 2/ v. 48, ( I ) D 1501/45); analysiert bei Messerschmidt, Rechtswissenschaft, S. 127.
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durch die Deutsche Botschaft zwar weiter gereicht wurden, jedoch für die Truppe folgenlos blieben.51 Eine Überprüfung der Tätigkeitsberichte der Kriegsgerichte für den Bereich, in dem auch die Division »Hermann Göring« operierte, bestätigt diesen Befund. So vermerkt der Armeerichter des AOK 14, in dessen Zuständigkeitsbereich sich das Massaker von Civitella mit 220 Toten ereignet hatte, in seinem Bericht für April bis Juni 1944 : »Feldkriegsgerichtliche Verfahren nach § 13 a KStVO sind in der Berichtszeit überhaupt nicht gemeldet worden; die Kommandeure haben offensichtlich eine Scheu, solche durchzuführen.«52 Für den Bereich des benachbarten AOK 10 verzeichnete der zuständige Armeerichter Wolfgang Christ ebenfalls kein einziges Strafverfahren gegen deutsche Soldaten wegen Gewalttaten gegen die Zivilbevölkerung, bei sonstiger reger Spruchtätigkeit (128 Verfahren im Berichtszeitraum Mai bis Juli 1944, u. a. wegen Trunkenheit, »Zersetzung der Wehrkraft«, Unzucht unter Männern, Ungehorsams, Plünderung, Fledderei, Urkundenfälschung, Kraftfahrzeugunfällen und unvorsichtiger Behandlung von Waffen ).53 Es muss in diesem Zusammenhang noch einmal darauf hingewiesen werden, dass Gerichte der Wehrmacht und der SS seit Beginn des Zweiten Weltkrieges nicht nur für die Ahndung von Verbrechen und Vergehen der eigenen Truppen, sondern auch für die Aburteilung von Zivilisten in den besetzten Ländern zuständig zeichneten. In den bereits zitierten Berichten der Armeerichter findet diese Tätigkeit jedoch nur einen punktuellen statistischen Niederschlag; die Gerichtsakten sind verschollen. Bekannt ist etwa, dass im Januar 1944 vor dem Gericht der 10. Armee die Todesstrafe gegen zwei Italiener wegen Wehrmittelbeschädigung erging, Details sind jedoch nicht überliefert.54 Im Tätigkeitsbericht für den Zeitraum vom 1. Mai bis 31. Juli 1944 findet sich sogar nur der summarische Satz : »Im Übrigen sind weitere Todesstrafen, Zuchthaus - und Gefängnisstrafen gegen italienische Landeseinwohner wegen Straftaten, die sich gegen die deutsche Wehrmacht richteten, verhängt worden.«55 Seit Sommer 1944 befand sich die Oberaufsicht für die gesamte Militärjustiz im besetzten Italien bei der SS, da Obergruppenführer und General der Waffen - SS Karl Wolff, zusätzlich zu sei-
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Deutsches Konsulat Florenz an die Deutsche Botschaft und Dienststelle des Reichsbevollmächtigten für Italien, Fasano ( Rudolf Rahn ), Lagebericht vom 16.5.1944 über »Aktion der Division Herman Göring zur Bekämpfung von Rebellen«, Aufstellung der Opferzahlen und materiellen Schäden ( Deutsches Historisches Institut Rom, Archiv, Nachlass Gerhard Wolf ( N 9), Nr. 7, Bl. 57). Tätigkeitsbericht Armeerichter AOK 14, April–Juni 1944, vom 7. 8. 1944 ( BArch, RH 20– 14/125). Tätigkeitsbericht Armeerichter AOK 10, 1.5.–31.7.1944, o. Dat. ( BArch, RH 20–10/265). Tätigkeitsbericht Armeerichter AOK 10, 18. 10. 1943–19. 2. 1944, o. Dat. ( BArch, RH 20– 10/251). Tätigkeitsbericht Armeerichter AOK 10, 01.05. - 31.07.1944, o. Dat. ( BArch, RH 20–10/265).
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ner Funktion als Höchster SS - und Polizeiführer, Rudolf Toussaint als »Bevollmächtigten General der Deutschen Wehrmacht in Italien« ablöste. Die Aburteilung von Straftaten italienischer Zivilisten im Hinterland der Front oblag damit vor allem SS - Gerichten wie dem SS - und Polizeigericht XXXI in Verona, das ab Dezember 1943 tagte.
2. Besatzungsjustiz gegen Zivilisten am Beispiel der Sondergerichte in den oberitalienischen Operationszonen Ist die Wehrmachtjustiz gegen die eigenen Soldaten in Italien noch vergleichsweise gut erforscht, so stellt sich das Forschungsfeld der Verfahren gegen italienische Zivilisten vor deutschen Gerichten in Italien weitgehend als terra incognita und großes Forschungsdesiderat dar. Neben den Gerichten von Wehrmacht und SS existierten innerhalb der Operationszonen Sondergerichte als Teil des deutschen Justizapparates. Unter dieser Bezeichnung bildete der NS - Staat bereits im März 1933 besondere Gremien, die gängige juristische Verfahrensweisen hinsichtlich der Prozessdauer, wie Beweisaufnahme und Rechte der Angeklagten außer Kraft gesetzt hatten.56 Gerichtliche Abläufe wurden auf Kosten prozessualer Garantien und durch Verdichtung von Straftatbeständen radikal vereinfacht. Die Ausdehnung der Kompetenzen der Sondergerichte zu Kriegsbeginn erhöhte den Anteil an der gesamten Spruchtätigkeit der deutschen Justiz erheblich. Roland Freisler bezeichnete sie als »Standgerichte der inneren Front«.57 Für die in den Operationszonen »Alpenvorland« sowie »Adriatisches Küstenland« eingerichteten Sondergerichte ist zu konstatieren, dass diese im Unterschied zu jenen im Altreich zusätzliche Aufgabenbereiche übertragen bekamen. Erste Studien, insbesondere zum Sondergericht Bozen sind bereits vorhanden. Neuere Funde von Häftlingspersonalakten aus dem Reichsgebiet ergänzen die vorliegenden Ergebnisse, so dass im Folgenden schwerpunktmäßig die Sondergerichte der Operationszonen als Teil der Besatzungspolitik analysiert werden sollen. Verfahren in Italien wurden auf Weisung der Höheren SS - und Polizeiführer eingeleitet, unterstanden also der SS - Aufsicht. Die Sondergerichte in den Operationszonen arbeiteten mit Personal aus Innsbruck und Graz, das die Verfahren »nach freiem Ermessen« und so schnell wie möglich durchführen sollte. In der Praxis lief dies, so Wedekind, auf »martialische Schnellprozesse« hinaus, in denen Beweisaufnahme und Verhandlung auf ein Minimum verkürzt waren; zudem gab
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Zu den Sondergerichten allgemein vgl. Jürgen Zarusky, Gerichte des Unrechtsstaates. Neuere Untersuchungen zur Rechtsprechung im Dritten Reich. In : Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte, 22 (2000), S. 503–518. Steinacher, Sondergericht, S. 260.
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es keine Revisionsmöglichkeit.58 Anklage erhob der Staatsanwalt beim Sondergericht, der zudem auch jederzeit in die Arbeit anderer Gerichte eingreifen oder Berufungsverfahren an sich ziehen konnte, wenn er rechtliche Bedenken ausmachte oder ihm die Entscheidung im öffentlichen Interesse zu liegen schien.59 Zur Anklage kamen insbesondere Verfahren gegen als Partisanen verdächtigte Personen sowie Verstöße gegen die Nahrungsmittelbewirtschaftung.60 Aus dem Kompetenzbereich der Wehrmachtgerichte übernahmen die Sondergerichte Tatbestände wie Spionage, Freischärlerei, Landesverrat und schwere Wehrmittelbeschädigung. Die Wehrmachtgerichte ordneten sich auf Beschluss des OKW im Oktober 1943 Hofers Sondergerichten unter und behielten sich lediglich solche Fälle vor, in denen die Wehrmacht ein »wirklich dringendes Interesse an der Aburteilung« hatte – das betraf alle Fälle, bei denen es um Fahnenflucht ging.61 Nur punktuell haben sich Unterlagen zur Spruchtätigkeit der Wehrmachtgerichte erhalten. So ist etwa ein Fall überliefert, bei dem ein 35 - jähriger Italiener im Dezember 1943 vom Feldkriegsgericht der Militärkommandantur Görz wegen unerlaubten Waffenbesitzes und Unterschlagung von Gütern aus italienischen Heeresbeständen zu zwei Jahren und sechs Monaten Gefängnis verurteilt worden war, nachdem er die Aufforderung zur Ablieferung der Waffen nach dem italienischen Kriegsaustritt missachtet hatte.62 Hier fällt auf, dass der Prozess nach der Kompetenzabgrenzung zwischen Sonder - und Wehrmachtgerichten stattfand. Man darf annehmen, dass ähnliche Fälle später nur noch vor den Sondergerichten Bozen und Triest verhandelt wurden. Zusätzlich nahmen die Sondergerichte die Aufgaben von Appellationsgerichtshöfen für noch bestehende italienische Gerichte wahr, was jenen die Anrufung des Kassationsgerichtshofs in Rom bald unmöglich machte.63 Das Sondergericht Bozen nahm eine herausgehobene Position unter den Sondergerichten beider Operationszonen ein. Es war zuständig »für strafbare Handlungen, bei denen ein deutscher Staatsangehöriger als Täter, Mitschuldiger oder Verletzter beteiligt ist« oder »deutsche Interessen berührt werden«.64 Gauleiter Hofer legte zudem fest, dass der Staatsanwalt beim Sondergericht darüber zu entscheiden habe, wann deutsche Interessen betroffen seien.65 Damit war eine
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Wedekind, Besatzungs - und Annexionspolitik, S. 301. Ebd., S. 303. Ebd., S. 301. Steinacher, Sondergericht, S. 263. Urteil vom Dezember 1943 ( Sächsisches Staatsarchiv ( SächsStA ) Chemnitz, Bestand 30071, Sig. 11434). Wedekind, Besatzungs - und Annexionspolitik, S. 302. Steinacher, Sondergericht, S. 261. Ebd.
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beachtliche politische Machtfülle in der Hand der Staatsanwaltschaft Bozen konzentriert.66 Den Posten des Leitenden Staatsanwalts in Bozen versah Karl Stettner, der dieses Amt auch für das Sondergericht Innsbruck ausfüllte und zwischen beiden Dienstorten pendelte. Bozen wurde demzufolge getreu dem Vorbild des Innsbrucker Gerichts aufgebaut. Es gab 13 Richter am Sondergericht Bozen,67 den Vorsitz führte Oberlandesgerichtsrat Karl Wolf, der diese Position auch am Sondergericht Innsbruck innehatte ( nicht zu verwechseln mit dem Höchsten SS und Polizeiführer, Karl Wolff ).68 Das Sondergericht Bozen verhandelte vorwiegend Fälle des Widerstandes gegen die deutsche Besatzung, darunter Bildung oder Mitgliedschaft in einer bewaffneten Partisanengruppe, »Verbrechen des Aufstandes«, deutschfeindliche Propaganda, Abhören feindlicher Radiosender oder Verbreitung »gegnerischer Schriften«, Nichtbefolgung des Einberufungsbefehls, jedoch auch Schleichhandel, Schwarzschlachten und Plünderung.69 Das Gericht verkündete drakonische Urteile : Auf die Mitgliedschaft in einer Partisanengruppe stand die Todesstrafe, Mitwisser und Helfer wurden in der Regel mit mehreren Jahren Zuchthaus bestraft. Auch für alle anderen Vergehen war eine Zuchthausstrafe vorgesehen. Erkannte das Gericht auf »Plündern«, ergab dies dem Wortlaut des § 1 der »Volksschädlingsverordnung« ( VVO ) zufolge die Höchststrafe. Die Auswertung der wenigen überlieferten Akten stützt die Hypothese von der Sonderjustiz als Werkzeug der Besatzungsmacht, analysiert man erste Studien von Gerald Steinacher zusammen mit neuen Aktenfunden. Es handelt sich jedoch allenfalls um fragmentarische Aussagen, die hier getroffen werden können. Zum einen liegt den Erkenntnissen ein kleiner Aktenbestand des Sondergerichts Bozen zugrunde, der sich heute im Landesarchiv Bozen befindet.70 Zum anderen haben sich in der Überlieferung der Haftanstalt Coswig bei Dessau 34 Akten von Sondergerichts - Verurteilten lokalisieren lassen, die die vorhandenen Befunde an wichtiger Stelle ergänzen und hier erstmals ausgewertet werden. Dennoch lassen sich Tendenzen der Rechtsprechung ablesen.
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Wedekind, Besatzungs - und Annexionspolitik, S. 303. Dies waren u. a. OLGR Karl Wolf, LGDir Herwig Sprung, OLGR Hugo Erlacher, LGPräs Heinrich von Eccer, OLGR Alfred Vogl, OLGR Rudolf Penz, OLGR Josef Mitsche, OLGR Hans Schödl, OLGR Richard Staffler, LGDir Karl Neubauer, Richter Peter Bogner; vgl. Steinacher, Sondergericht, S. 261; Wedekind, Besatzungs - und Annexionspolitik, S. 303. Steinacher, Sondergericht, S. 261. Wedekind, Besatzungs - und Annexionspolitik, S. 304. Es handelt sich um rund 20 Fälle; Steinacher hat jedoch aufgrund überlieferter Aktennotizen einen Gesamtbestand von 400 Verhandlungen für das Jahr 1944 sowie 200 Verhandlungen für das Jahr 1945 ( bis zur Auflösung des Sondergerichts am 25. 4. 1945) errechnet. Im Vergleich zum Sondergericht Innsbruck, wo im gleichen Zeitraum nur 152 bzw. 39 Verfahren geführt wurden, zeigt sich der politische Charakter des Bozener Sondergerichts als Werkzeug der Operationszonen deutlich. Vgl. Steinacher, Sondergericht, S. 271.
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Der Bozener Bestand zeigt eine Schwerpunktbildung in drei Kategorien : Verurteilungen als »Volksschädling«, wegen »Verbrechen des Aufstandes« sowie wegen »Nichtbefolgung des Einberufungsbefehls«.71 Das »Verbrechen des Aufstandes« wurde in Bozen sechsmal verhandelt und meinte gemeinhin bewaffneten Aufstand. Maßgebliche Norm zur Aburteilung dieses Tatbestandes war für das Sondergericht Bozen § 68 des österreichischen Strafgesetzes ( öStG ). Insbesondere beim Verdacht auf Mitgliedschaft in einer Partisanengruppe griff das Gericht auf diese Vorschrift zurück. Besonders häufig urteilte das Bozener Sondergericht auf der Grundlage der VVO, die es ermöglichte, sehr verschiedene Delikte strafverschärfend abzuurteilen. Formuliert wurde meist, der »Volksschädling« habe seine Taten unter Ausnutzung des Kriegszustandes begangen.72 Nach der Verordnung konnte bei »Plünderungen«, »Verbrechen bei Fliegergefahr« sowie »gemeingefährlichen Verbrechen« auf mehrjährige Zuchthaus oder Todesstrafe erkannt werden, wenn dies das »gesunde Volksempfinden« erforderte.73 Den Pflichtverteidigern war es lediglich gestattet, dem Verurteilten oder seinen Angehörigen bei der Abfassung von Gnadengesuchen zu helfen.74 Gerade mit den Urteilen zur Wehrpflicht wird die Funktion der Sondergerichte in den Operationszonen als politisches Terrorinstrument erkennbar. Mit Verordnung vom Januar 1944 hatte Hofer die Wehrpflicht erheblich erweitert und völkerrechtswidrig auch auf italienische Staatsbürger in der Operationszone ausgedehnt.75 Hintergrund dessen war – sehr verkürzt dargestellt – die komplexe Italienisierungspolitik der faschistischen 1930er Jahre, als deutschstämmige Südtiroler vor die Wahl gestellt worden waren, entweder die italienische Staatsbürgerschaft anzunehmen oder ins Deutsche Reich auszuwandern, also die Heimat zu verlassen. Im Jargon der Zeit unterschied man demnach in »Dableiber« oder »Optanten für das Reich«.76 Während viele Optanten zunächst in Richtung Österreich auswanderten und dann nach 1943 mit der Wehrmacht nach Südtirol zurückkehrten, erkannten die »Dableiber« nach 1943 den Vorteil der italienischen Staatsbürgerschaft, der sie formal vor dem Militärdienst in der
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Steinacher, Sondergericht, S. 263. Ebd., S. 264; vgl. Hans Wüllenweber, Sondergerichte im Dritten Reich. Vergessene Verbrechen der Justiz, Frankfurt a. M. 1990. In den Akten des Sondergerichts Bozen taucht der Tatbestand des volksschädigenden Verhaltens zehnmal auf, u. a. in den Urteilsbegründungen wegen »Plünderung oder Diebstahlversuch« (6 Fälle ), »Mord / Mordversuch« (2 Fälle ), »Gewalttätigkeit in der Öffentlichkeit« (1 Fall ) und »Wilderei« (1 Fall ), vgl. die Statistik bei Steinacher, Sondergericht, S. 264. Pflichtverteidiger waren in Bozen Fritz Egger, Luis Sand, Ernst Vinatzer, Josef Reinisch, G. Azzariti, vgl. ebd., S. 268. Ebd., S. 264. Vgl. Karl Stuhlpfarrer, Umsiedlung Südtirol 1939–1940, 2 Bände, München 1985; Klaus Eisterer/ Rolf Steininger ( Hg.), Die Option. Südtirol zwischen Faschismus und Nationalsozialismus, Innsbruck 1989.
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Wehrmacht befreite. Das Aufeinandertreffen beider Fraktionen führte ab Herbst 1943 zu erheblichen Konflikten innerhalb der deutschsprachigen Minderheit in Südtirol. Gauleiter Hofers Germanisierungsstrategie zielte besonders auf die Gruppe der »Dableiber« ab. Dies spiegelte sich auch in der Rechtsprechung wider : Vier überlieferte Fälle zur Wehrdienstverweigerung aus Bozen belegen, dass das Argument der Angeklagten, als italienische Staatsbürger seien sie nicht zum Einrücken in die Wehrmacht verpflichtet, abgeschmettert und in allen vier Fällen auf Todesstrafe erkannt wurde; in zwei Fällen kam es jedoch zu einer Begnadigung zu »verschärfter Einzelhaft in einem Lager«.77 Wehrdienstverweigerung war ein Delikt, das insbesondere aus dem Gadertal bei Bruneck ( Provinz Bozen ) in größerem Umfang bekannt war, da dort die meisten Südtiroler wohnten, die für einen Verbleib bei Italien gestimmt hatten. Die Ignorierung des Gestellungsbefehls muss hier als Form politischen Widerstands gewertet werden. Dementsprechend reagierte auch die Justiz unter politischen Gesichtspunkten : die Staatsanwälte plädierten in den genannten Fällen im Juli 1944 selbst auf Begnadigung, weil man »die antideutsche Stimmung dort durch Hinrichtungen nicht weiter anheizen« wollte.78 Die Begnadigung wurde hier also nicht aufgrund juristischer Erwägungen, sondern aus politischem Kalkül und mit dem Ziel der »Befriedung« und Beruhigung der Bevölkerung ausgesprochen. Die Verurteilten des Sondergerichts Bozen wurden sodann zur Verbüßung ihrer Strafen über Innsbruck in die Gefängnisse München - Stadelheim, Graz, Landsberg am Lech oder das Strafgefangenenlager im hessischen Rodgau - Dieburg eingewiesen.79 Die Urteilsgründe der in der Haftanstalt Coswig bei Dessau verwahrten Gefangenen ähneln denen der im Bozener Bestand enthaltenen Akten, insbesondere die Disziplinierungsabsicht gegenüber italienisch - stämmigen Südtirolern ist erkennbar. Im Einzelnen haben sich in den Häftlingspersonalakten von Coswig neun Strafsachen des Sondergerichts Bozen erhalten, dazu kommen noch sieben Fälle des Sondergerichts Belluno, 14 aus Trento, drei aus Rovereto und ein Fall aus Verona. 33 der 34 Verfahren sind also in Hofers »Operationszone Alpenvorland« zu verorten. Zudem fällt auf, dass im Juli und August 1944 besonders viele Häftlinge nach Coswig verbracht wurden. Dies lag vermutlich daran, dass der BdS Verona im Juni 1944 die sogenannte »Gefängnisaktion« startete.80 In dieser wurden zum einen Gerichtsverfahren beschleunigt abgeschlossen, zum anderen bereits verur77 78 79 80
Steinacher, Sondergericht, S. 264. Überliefert sind die Fälle Richard Reitsamer, Paul Mischi, Siegfried Dapunt; Reitsamer wurde hingerichtet. Ebd., S. 266. Insbesondere im Gadertal seien »Gerüchte der Freiwilligkeit des Wehrdienstes nicht auszurotten«. Ebd., S. 269. Gentile / Klinkhammer, Gegen die Verbündeten, S. 536.
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teilte Häftlinge bestimmter Fallkategorien erfasst und für den Transport ins Reich vorbereitet. Ziel war es, italienische Gefängnisinsassen zur Zwangsarbeit ins Reich zu verschleppen; zudem sollten insbesondere Häftlinge erfasst werden, die wegen Wehr - und Arbeitsdienstverweigerung, Schwarzmarktgeschäften und Beteiligung an Streiks zur Verantwortung gezogen worden waren. Auch daran ist eine Disziplinierungsabsicht erkennbar. Insgesamt erbrachte die »Gefängnisaktion« aus Italien bis zur Einstellung der Aktion im November 1944 die Zahl von 2 000 deportierten Gefängnisinsassen.81 Betrachtet man nun die Coswiger Fälle, so scheint fast, als habe man in diesen beiden Monaten ( Juli / August 1944) noch einmal besonders viele Gerichtsverfahren abgeschlossen und die italienischen Angeklagten zu Haftstrafen von mehr als einem Jahr verurteilt, denn erst dieses Strafmaß rechtfertigte eine Deportation zur Zwangsarbeit.82 Es darf vermutet werden, dass die Disziplinierungsabsicht durch einen erhöhten Arbeitskräftebedarf der deutschen Rüstungswirtschaft noch verstärkt wurde, der in der zweiten Jahreshälfte 1944 besonders in den Bereichen Chemische Industrie und Luftrüstung spürbar war. Ob die »Gefängnisaktion« jedoch ursprünglich nicht doch aus Gründen der Disziplinierung der zunehmend widerständigen Bevölkerung in den oberitalienischen Provinzen geschah, lässt sich aufgrund der fragmentarischen Aktenüberlieferung nicht abschließend klären. Die Analyse der Fallakten aus Coswig ergibt nun folgendes Bild : Neun Gefangene wurden vom »Sondergericht für die Operationszone Alpenvorland« aus Bozen oder Meran über Dieburg zur Strafverbüßung nach Coswig überstellt. In allen neun Fällen finden sich die aus den wenigen überlieferten Bozener Akten typischen Straftatbestände, vor allem Diebstahl. So wurde ein Strafgefangener aus dem Coswiger Häftlings - Konvolut vom Sondergericht Bozen als »Volksschädling« verurteilt, nachdem er im März 1944 die durch einen Bombentreffer zerstörte Virgl - Bergbahn bei Bozen ausgeschlachtet und aus den zerstörten Triebwagen Motoren - Öl entwendet hatte.83 Ein Gärtnergehilfe, ebenfalls unter Anwendung der VVO des Diebstahls angeklagt, kam nach einem Urteil vom Juni 1944 nach Coswig.84 So geschah dies auch bei den anderen Verurteilten, die jeweils unter Anwendung der VVO lange Zuchthausstrafen erhielten. 81
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Zu den Zahlen vgl. ebd.; für einen generellen Überblick vgl. Andrea Ferrari / Paolo Nannetti, Carcere e deportazione. Bologna 1943–1945. In : Brunello Mantelli ( Hg.), Deportati, Deportatori, Tempi, Luoghi. Il libro dei deportati, Vol. 2, Milano 2010, S. 555–619. Diese These stützt z. B. ein Fall aus den Coswiger Akten, bei der ein Kutscher wegen »Übertretung der Polizeistunde« im Juli 1944 zu 18 Monaten Zwangsarbeit verurteilt worden war, vgl. Verfahren gegen Alfonso C. ( Landeshauptarchiv Sachsen - Anhalt ( LHASA ) Dessau, Z 259, Nr. 400). Sondergericht ( SG ) Bozen, Verfahren gegen Robert R., März 1944 ( LHASA, Dessau, Z 259, Nr. 2184). SG Bozen, Verfahren gegen Arnold D., Juni 1944 ( LHASA, Dessau, Z 259, Nr. 510).
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Von besonderem Interesse sind in den Häftlingsakten die Fälle von Wehrdienstverweigerung. Ein 22 - jähriger Schuhmacher aus dem Gadertal war verurteilt worden, weil er zusammen mit vier weiteren Angeklagten dem Gestellungsbefehl nicht Folge geleistet hatte, da er annahm, die Werbung sei »nur freiwillig«.85 Das Sondergericht Bozen unter Vorsitz von Landgerichtspräsident Heinrich von Eccer sah aufgrund der »geringen Intelligenz« und »Schwerfälligkeit« des Angeklagten von der Todesstrafe ab und verurteilte ihn zu sechs Jahren Zuchthaus. Das weitere Schicksal der anderen vier Verurteilten ist der Akte nicht zu entnehmen. Die Ähnlichkeit zu dem weiter oben aus den Bozener Akten bereits beschriebenen Fall der Wehrdienstverweigerung aus dem Gadertal ist jedoch augenfällig. Ein 21 - jähriger Sägewerksarbeiter aus der Nähe von Trento kam im Mai 1944 zusammen mit 14 anderen Angeklagten vor das Bozener Sondergericht.86 Die Gruppe war wegen § 68 öStG (»Verbrechen des Aufstandes«) angeklagt, denn die Verdächtigen hätten sich »als Mitglieder einer Partisanengruppe unter Ausnutzung der außergewöhnlichen Kriegsverhältnisse [...] zusammengerottet, um der Obrigkeit Widerstand zu leisten«. Fünf Beschuldigte verurteilte das Gericht unter dem Vorsitzenden Richter Wolf zum Tode, sah bei zehn zumeist jugendlichen Angeklagten von der Höchststrafe jedoch ab, da sie unter falschen Versprechen zu den Partisanen gelockt worden seien. Der zu einer Haftstrafe verurteilte Sägewerksarbeiter gelangte nach Coswig. Hinweise auf die anderen neun Mitverurteilten enthält seine Akte nicht. So unterschiedlich die Verurteilungsgründe sind, so deutlich zeichnet sich doch ein Bild ab, das den systematischen Einsatz von Sondergerichten in der zweiten Kriegshälfte zum bestimmenden Merkmal der NS - Justiz gegenüber »Fremdvölkischen« machte. Als vorsichtiges Fazit lässt sich formulieren, dass die Sondergerichte, die zunächst als besondere Strafkammern an den Landgerichten gebildet worden waren, aus Sicht der nationalsozialistischen Strafverfolgung das geeignete Instrument darstellten, um das Kriegsstrafrecht im Reich und den Besatzungszonen zu radikalisieren. Dies galt insbesondere für die Operationszonen, hierbei wiederum stärker in Hofers Befehlsbereich (»Alpenvorland«), die faktisch annektiert waren und wo man politisch durch radikale Gauleiter ein Exempel statuieren wollte und beabsichtigte, den »wahren Kern« des NS - Strafrechts dort deutlicher hervortreten zu lassen.87 Die Spruchtätigkeit der Sondergerichte in den Operationszonen Oberitaliens unterschied sich daher von der 85 86 87
SG Bozen, Verfahren gegen Antonio A., Juli 1944 ( LHASA, Dessau, Z 259, Nr. 26). SG Bozen, Verfahren gegen Lino D., Mai 1944 ( LHASA, Dessau, Z 259, Nr. 437). Ich danke Christopher Theel, Dresden, für diesen Hinweis. Vgl. Georg Dahm, Der Tätertyp im Strafrecht. In : Festschrift der Leipziger Juristenfakultät für Dr. Heinrich Siber zum 10. April 1940, Band I, Leipzig 1941, S. 183–246, hier 187; Christopher Theel, Deutsche Militärgerichtsbarkeit im Zweiten Weltkrieg. Versuch über einen Vergleich zwischen Wehrmacht und Waffen SS, Dresden 2007 ( unveröffentlichte Magisterarbeit ), S. 41.
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Praxis der Sondergerichte in anderen besetzten Gebieten. Gerade die Rechtsprechung gegen Südtiroler durch NS - Gerichte legt den Schluss nahe, hier sollten politische Ziele der NS - Annexionspolitik vorweggenommen werden, indem Südtiroler – bei rigoroser Disziplinierung der Rebellen – bewusst bereits als »gleichwertige« Reichsdeutsche ( und genauso hart wie etwa Deutsche vor dem »Volksgerichtshof«) behandelt wurden. Somit müsste man die Sondergerichte in Südtirol nicht nur als Instrumente der NS - Besatzungspolitik, sondern als einen Sonderfall verstehen, der auf die herausgehobene Stellung dieser Region und ihre Zukunft hindeutet. Zieht man zudem in Betracht, dass die Strafverbüßung in Zuchthäusern im Reich mit Zwangsarbeit verbunden war, ist die Spruchpraxis der Sondergerichte der Operationszonen als Strafverschärfung wie auch Disziplinierungswerkzeug der Besatzungsmacht erkennbar. Italien war unter deutscher Besatzung, wie gesehen, in mancherlei Hinsicht ein Sonderfall, und es wirkte sich zudem radikalisierend aus, dass die geschilderten Maßnahmen alle in die Endphase der NS - Herrschaft fielen. Denkt man etwa an die erwähnte »Gefängnisaktion« der Gestapo, steigerte sich das Maß der Radikalisierung ein weiteres Mal. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Dreiteilung des Besatzungsgebiets für italienische Zivilisten88 ab Herbst 1943 bedeutete, dass – verglichen mit anderen Gebieten unter Militärverwaltung in Westeuropa – aufgrund der Verschleppung von Kriegsgefangenen, Zivilisten und Häftlingen aus italienischen Gefängnissen für einen italienischen Staatsbürger eine gewissermaßen dreifache Gefahr bestand, in die Mühlen der NS - Justiz oder gar direkt in den Strafvollzug oder das Lagersystem zu geraten. Am schwierigsten war die Lage sicher in den Operationszonen und hier insbesondere für Angehörige der Südtiroler deutschsprachigen Minderheit, die vor 1943 für die italienische Staatsbürgerschaft optiert hatten und nun wegen des Einberufungsbefehls in Konflikt mit der Besatzungsmacht gerieten – die Gruppe der sogenannten »Dableiber« stand offenbar im Fadenkreuz Gauleiter Hofers und seiner Sondergerichte in der Operationszone »Alpenvorland«, wie man anhand der ersten Auswertung des zitierten Bestands konstatieren kann. Einmal zum Strafvollzug im Reich verurteilt, kehrten viele von ihnen nicht wieder zurück. An den Urteilen etwa zur Wehrdienstverweigerung ist erkennbar, dass die Spruchtätigkeit in den Operationszonen sich stetig radikalisierte. Gerade an den »Dableibern« ließe sich also die Disziplinierungsabsicht von Besatzungsjustiz noch um ein irrationales Motiv erweitern, das auch in anderen Bereichen des NS - Herrschaftssystems mit zunehmender Ausweglosigkeit des Krieges nach innen wie nach außen angewandt wurde ( etwa in der Justiz gegen Deserteure ), nämlich Rache.
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Ausgenommen von diesem Fazit sind das Schicksal der 600 000 IMIs, sowie die Judendeportationen aus Italien.
Magnus Koch Norwegen und die Wehrmachtjustiz. Eine Projektskizze
Ein Heeresgericht verurteilte den norwegischen Forstarbeiter Inge Björnes im Mai 1943 in Trondheim zum Tode.1 Björnes, 1917 in Kvam / Nord - Norwegen geboren, hatte einem deutschen Besatzungssoldaten bei dem Versuch geholfen, über die norwegisch - schwedische Grenze zu fliehen. Björnes und dessen mitangeklagte Frau Alvhild sagten vor dem Feldgericht aus, dass sie in Geldschwierigkeiten waren, als der fahnenflüchtige Wehrmachtssoldat Heinz Pigorsch eines Nachmittags an der Tür ihres Hauses klopfte. Für einen geringen Geldbetrag überließ das Ehepaar dem Soldaten ein Paar Skier, half mit Verpflegung aus und zeigte Pigorsch den Weg Richtung Grenze. Der später wegen Fahnenflucht zum Tode verurteilte Pigorsch benannte das Ehepaar Björnes und vier weitere Norweger nach seiner Verhaftung als Fluchthelfer. Alvhild Björnes erhielt eine zweijährige Gefängnisstrafe; der zunächst mit der Höchststrafe belegte Inge Björnes wurde zu zehn Jahren Zuchthaus begnadigt und nach Hamburg verschleppt. Am 22. Mai 1944 starb er als Häftling des Zuchthauses Fuhlsbüttel an Tuberkulose.2 Dieser Fall aus der Zeit der deutschen Besatzung in Norwegen steht stellvertretend für viele andere Verfahren, die Gerichte von Heer, Marine und Luftwaffe zwischen 1940 und 1945 dort führten. Einige dieser Verfahren sorgten sogar dafür, dass das Wirken der Wehrmachtjustiz bereits vergleichsweise früh einer größeren Öffentlichkeit in Deutschland bekannt wurde. Hans Filbinger, der wohl 1
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Dieser Fall ist in einer Gefangenenakte dokumentiert. Vgl. Staatsarchiv Hamburg, 242–1 II Abl. 12, Nr. 35. Darüber hinaus ist das Schicksal von Björnes beschrieben in der Begleitpublikation zur Hamburger Wanderausstellung »Deserteure und andere Verfolgte der NS - Militärjustiz«, vgl. Detlef Garbe / Magnus Koch / Lars Skowronski unter Mitarbeit von Claudia Bade, Deserteure und andere Verfolgte der NS - Militärjustiz : Die Wehrmachtgerichtsbarkeit in Hamburg. Texte, Fotos und Dokumente, Hamburg 2013. Zu den während des Krieges in Hamburg inhaftierten norwegischen Häftlingen vgl. Christoph Bitterberg, »... dass sich die Tätigkeit der genannten Geistlichen nur auf die reine Seelsorge zu erstrecken hat«. Die norwegischen Seemannspastoren und Hiltgunt Zassenhaus im Spiegel der deutschen Strafvollzugsakten. In : Hilfe oder Handel ? Rettungsbemühungen für NS - Verfolgte. Hg. von der KZ - Gedenkstätte Neuengamme, Bremen 2007, S. 109–121.
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Magnus Koch
bis heute namhafteste deutsche Militärjurist, hatte während seiner Zeit als Marinerichter in Norwegen Urteile gefällt, die ihn Ende der 1970er Jahre letztlich seine politische Laufbahn als Ministerpräsident von Baden - Württemberg kosteten.3 An Todesurteile aus dieser Zeit wollte er sich zunächst gar nicht erinnern; später wurde deutlich, dass er in unterschiedlichen Positionen an solchen beteiligt war.4 Aber dies allein war nicht der Grund, sich gemeinsam mit Maria Fritsche (Universität Trondheim ) näher mit dem Wirken der Wehrmachtjustiz in Norwegen zu beschäftigen. Die Auseinandersetzung mit der Tätigkeit der deutschen Militärgerichtsbarkeit im besetzten Europa steckt, wie die Tagung in Dresden demonstrierte, erst in den Anfängen. Ausgangspunkt für das hier vorzustellende Forschungs - und Ausstellungsprojekt war die Recherchearbeit an der Wanderausstellung »›Was damals Recht war ...‹ – Soldaten und Zivilisten vor Gerichten der Wehrmacht«, die im Jahre 2007 in Berlin eröffnet wurde.5 Die Ausstellung legt einen Schwerpunkt auf Fallgeschichten deutscher Soldaten, welche die Wehrmachtjustiz vor allem wegen Fahnenflucht oder »Wehrkraftzersetzung« verurteilt. Zugleich werden aber auch die Verfolgungswege von Menschen vorgestellt, die als Angehörige von Widerstandsorganisationen aus ganz Europa vor deutsche Militärgerichte gerieten.6 Im Laufe der Recherchen konnte Forschungsergebnissen nachgegangen werden, die Norwegen als einen wichtigen Ort innerhalb des Strafsystems der Wehrmachtjustiz zeigten. So waren im »Strafgefangenenlager Nord« oder im auch »Einsatzkommando Viking« genannten Zwangsarbeitseinsatz – in einer Vielzahl von Barackenlagern entlang der Eismeerküste – Häftlinge im Einsatz, die von den Emslandlagern aus hierher verschickt worden waren.
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Filbingers Rolle als Marinerichter in Norwegen hatte erstmals 1972 das Magazin »Der Spiegel« öffentlich gemacht. Im Februar 1978 machte der Dramatiker Rolf Hochhuth Filbingers Tätigkeit während des Krieges erneut zum Gegenstand der öffentlichen Diskussion; er nannte den CDU Politiker einen »furchtbaren Juristen«. Filbingers Unterlassungsklagen setzten Recherchen im Bundesarchiv in Gang. Bis August 1978 tauchten vier von ihm mitverantwortete Todesurteile auf. Vgl. Wolfram Wette ( Hg.), Filbinger – eine deutsche Karriere, Springe 2006. Eine vollständige Auswertung der bis dahin gefundenen Gerichtsakten findet sich bei : Heinz Hürten / Wolfgang Jäger / Hugo Ott, Hans Filbinger – der »Fall« und die Fakten. Eine historische und politologische Analyse, Mainz 1980. Zum Projekt siehe http ://www.stiftung - denkmal.de/ ausstellungen / was - damals - recht - war.html; 21. 3. 2014; sowie die Begleitpublikation Ulrich Baumann / Magnus Koch ( Hg.), »Was damals Recht war ...« Soldaten und Zivilisten vor den Gerichten der Wehrmacht, Berlin 2008. Vgl. die Beispiele von Maria Kacprzyk, Krystyna Wituska und Theodore Gerhards in : ebd., S. 166, 174; sowie die seit der Wiener Station zusätzlich gezeigten Fallgeschichten von David Holzer, den Brüdern Pasterk und Karl Lauterbach. In : Thomas Geldmacher u. a. ( Hg.), »Da machen wir nicht mehr mit«. Österreichische Soldaten und Zivilisten vor Gerichten der Wehrmacht, Wien 2010, S. 94–102, 126–137, 188–202.
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Die Ausstellung »Was damals Recht war« wandert nun seit mehr als sieben Jahren durch die Bundesrepublik. Von Beginn an existierte die Idee, das Thema nicht auf den deutschen Raum allein zu beschränken, zumal die Spruchpraxis der Wehrmachtgerichte als Phänomen mit Auswirkungen für alle europäischen Länder zu sehen ist. Nach mittlerweile drei österreichischen Stationen der Wanderausstellung boten sich aus inhaltlichen und organisatorischen Gründen Städte in Norwegen als nächste Ausstellungsstation an. Ursächlich dafür ist unter anderem die gute Materiallage. So sind Akten der Marinejustiz vergleichsweise zahlreich erhalten; es ist anzunehmen, dass die Materiallage hinsichtlich der relativ großen Zahl in Norwegen stationierter Einheiten der Kriegsmarine wie auch der Gebirgsjäger ( häufig aus den österreichischen Wehrkreisen stammende Einheiten ) überdurchschnittlich sein dürfte.7 Im Folgenden möchte ich die wichtigsten, wenngleich nur sehr vorläufigen Erkenntnisse über das Wirken der Wehrmachtjustiz in Norwegen zusammenfassen, sowie kurz die Arbeiten zu einem derzeit in Vorbereitung befindlichen Forschungs - und Ausstellungsprojekt vorstellen. Am 9. April 1940 marschierte die Wehrmacht in Norwegen ein. Die Kämpfe dauerten rund zwei Monate.8 Nach einer kurzen Übergangszeit unmittelbar nach Ende der Kampfhandlungen setzte die NS - Führung einen sogenannten Staatsrat unter dem Reichskommissar Josef Terboven9 (1898–1945) ein. Die Reichsregierung äußerte sich nie klar, wie die Zukunft des besetzten Landes aussehen sollte; möglich erscheint, dass sie Norwegen nach dem »Endsieg« der Wehrmacht als Teil in ein »Germanisches Großreich« einzugliedern gedachte.10 Für die hier besonders interessierende Frage der Justizpraxis im besetzten Norwegen lassen sich folgende zentrale Maßnahmen zusammenfassen : Zunächst oblag es allein der Wehrmachtjustiz, strafrechtlich gegen Landeseinwohner vorzugehen, die gegen deutsche Gesetze und Verordnungen des Reichskommissars verstoßen hatten. Darüber hinaus waren die Wehrmachtgerichte selbstverständlich auch für die Verfolgung von Straftaten der eigenen Soldaten sowie der 7
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Vgl. Hinweise in den grundlegenden österreichischen Forschungsarbeiten des Forscherteams um Walter Manoschek und Maria Fritsche : Walter Manoschek ( Hg.), Opfer der NS - Militärjustiz. Urteilspraxis – Strafvollzug – Entschädigungspolitik in Österreich, Wien 2003; Maria Fritsche, Entziehungen. Österreichische Deserteure und Selbstverstümmler in der Deutschen Wehrmacht, Wien 2004. Zu der mit dem Tarnnamen »Weserübung« versehenen Operation vgl. Hans - Martin Ottmer, »Weserübung«. Der deutsche Angriff auf Dänemark und Norwegen im April 1940, München 1994. Terboven, seit 1923 NSDAP - Mitglied, hatte im selben Jahr am Hitler - Putsch in München teilgenommen. Seit 1929 fungierte er als Gauleiter von Essen und wurde 1930 in den Reichstag gewählt. 1935 erfolgte die Ernennung zum Oberpräsidenten der Rheinprovinz, 1936 die Beförderung zum SA - Obergruppenführer, Am 24. April 1940 wurde er Reichskommissar für das besetzte Norwegen. Terboven nahm sich am 8. Mai 1945 an seinem Dienstsitz bei Oslo das Leben. Vgl. http ://www.historisches - centrum.de / index.php ?id=287; 8.4.2014. Vgl. http ://www.dhm.de / lemo / html / wk2/ kriegsverlauf / norwegenbes / index.html; 5.12.2013.
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Magnus Koch
Kriegsgefangenen zuständig. Mit Verordnung vom 17. September 1941 – und ausdrücklicher Billigung des Militärs – übertrug der Reichskommissar allerdings weitreichende Kompetenzen für Strafverfahren gegen Norweger von der Wehrmachtjustiz auf die SS - und Polizeigerichtsbarkeit.11 Für zwei anschließende Verordnungen übernahm die Wehrmacht sogar selbst die Initiative. So unterbreitete das Oberkommando der Wehrmacht ( OKW) im Herbst 1941 Vorschläge für eine Verschärfung der Strafpraxis gegen Landeseinwohner, »die sich unmittelbar oder mittelbar gegen die deutsche Wehrmacht oder die Sicherheit des Landes vergehen«.12 Diese Anregungen mündeten im Januar 1942 in eine weitere Verordnung, durch die die SS - und Polizeigerichtsbarkeit nahezu ausschließlich für die Aburteilung von Zivilisten zuständig wurde und somit an die Stelle der Militärgerichte trat.13 Im Februar 1943 übertrug die Wehrmacht schließlich auch die Befugnisse für Verfahren gegen die in Norwegen inhaftierten Kriegsgefangenen an die SS Gerichte.14 Gleichzeitig behielt sich die deutsche Militärjustiz weiterhin vor, dann aktiv zu werden, wenn unmittelbare militärische Belange berührt waren. Wie anhand des Beispiels Inge Björnes’ und der anderen norwegischen Angeklagten im oben kurz geschilderten Verfahren gezeigt, urteilten Wehrmachtgerichte auch nach der Abgabe von Kompetenzen an die SS - und Polizeigerichtsbarkeit weiterhin gegen norwegische Zivilisten. Die Übereinkunft der Administration Terbovens, oder genauer, der formal dem Höheren SS - und Polizeiführer in Norwegen unterstellten SS - und Polizeigerichte mit der Wehrmacht, ließen Handlungs - und Deutungsspielräume offen. Wann ein militärischer Belang vorlag, darüber wird es sicherlich von Fall zu Fall unterschiedliche Auffassungen gegeben haben. Doch bisher ist nicht einmal die zahlenmäßige Dimension der Spruchpraxis der Wehr11
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Vgl. Robert Bohn, Die Instrumentarien der deutschen Herrschaft im Reichskommissariat Norwegen. In : ders. ( Hg.), Die deutsche Herrschaft in den »germanischen« Ländern 1940–1945, Stuttgart 1997, S. 71–109, hier 99; vgl. außerdem grundlegend : Bianca Vieregge, Die Gerichtsbarkeit einer »Elite«. Nationalsozialistische Rechtsprechung am Beispiel der SS - und Polizei Gerichtsbarkeit, Baden - Baden 2002; Geraldien von Frijtag Drabbe Künzel, Rechtspolitik im Reichskommissariat. Zum Einsatz deutscher Strafrichter in den Niederlanden und in Norwegen 1940–1944. In : Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte ( VfZ ), 48 (2000), S. 461–490; Arnim Lang, Strukturelemente der Besatzungsherrschaft in Norwegen 1940–1945, Potsdam 1996. OKW an Wehrmachtbefehlshaber Norwegen, 31. 10. 1941, zit. nach Bohn, Instrumentarien, S. 99. Zu den Hintergründen dieser Abgabe von Zuständigkeiten an das SS - und Polizeigerichts Nord vgl. Bohn, Instrumentarien, S. 96 f. Materiellrechtlich waren auch für diese Form der Sonderjustiz ebenfalls die Bestimmungen des Militärstrafgesetzbuches ( MStGB ), sowie der Kriegssonderstrafrechtsverordnung ( KSSVO ) maßgeblich. Die Kriegsstrafverfahrensordnung (KStVO) regelte die Verfahrensfragen. Vgl. Robert Bohn, Reichskommissariat Norwegen. »Nationalsozialistische Neuordnung« und Kriegswirtschaft, München 2000, S. 95 f.; allgemein zu Einbindung und Funktion der SS - und Polizeigerichtsbarkeit in das deutsche Herrschaftssystem in Norwegen vgl. Bohn, Instrumentarien, und Frijtag Drabbe Künzel, Rechtspolitik.
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machtgerichte bekannt. Dies gilt sowohl für Urteile gegen Landeseinwohner und Kriegsgefangene als auch für solche gegen Wehrmachtsangehörige in Norwegen. Zudem sind über Qualität und Quantität der politischen Sonderjustiz der SS systematische Einzeluntersuchungen nicht vorhanden, so dass auch diesbezüglich keine relationalen Aussagen möglich sind. Gleichzeitig gibt es durchaus prominente, wenn auch in der Literatur weit verstreute, Beispiele der Tätigkeit der Wehrmachtgerichte in Norwegen oder gegen Norweger andernorts.15 Grundsätzliche Klarheit herrscht hingegen über die Dimension der Spruchtätigkeit der Wehrmachtgerichte insgesamt, wenn diese auch lediglich auf fundierten Schätzungen beruhen. Weit mehr als 20 000 Soldaten und Zivilisten verloren durch Todesurteile deutscher Militärgerichte ihr Leben. Dabei konnte jeglicher Verstoß gegen die von der NS - Führung festgelegten rechtlichen Bestimmungen als politisches Delikt gewertet werden und insbesondere Fahnenflucht galt im Militärstrafrecht als politische Straftat schlechthin. Allein auf dieses »Verbrechen« entfielen über 20 000 Todesurteile, wovon rund 15 000 vollstreckt wurden.16 Etwa 3 000 Personen starben als »Wehrkraftzersetzer«, weil sie sich z. B. enttäuscht über den Kriegsverlauf, den politischen Alltag im NS - Staat oder etwa das missglückte Attentat auf Adolf Hitler am 20. Juli 1944 äußerten. Sogar entwendete Feldpostpäckchen oder das Auflesen fremder Habseligkeiten von der Straße nach den Bombardierungen durch die Alliierten wurde vielen zum Verhängnis. All dies galt nicht mehr nur als individuelles Fehlverhalten, sondern als Verbrechen an der »Volksgemeinschaft«. Wer zum »Volksschädling« und »Zersetzer« erklärt wurde, war des Todes. Ebenfalls kaum bekannt ist ein weiterer Aspekt der Besatzungsgeschichte in Norwegen, der aus Sicht der Militärjustiz jedoch äußerst bedeutsam ist : Das besetzte Land im Norden Europas war in das überaus komplexe Strafvollstreckungssystem der Wehrmacht mit seinen Gefängnissen, Feldstrafgefangenenabteilungen, Feldstraflagern, »Bewährungs - «Einheiten usw. eingebunden. Für Norwegen sind dabei die bereits kurz angesprochenen »Strafgefangenenlager Nord« besonders bedeutsam, die zwar dem Reichsjustizministerium unterstanden, in die allerdings hauptsächlich von Kriegsgerichten Verurteilte gelangten. Da die Militärjustiz mit Zuchthaus bestrafte Soldaten – meist ergingen die Urteile wegen Fahnenflucht oder »Zersetzung der Wehrkraft« – aus der Wehrmacht aus-
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Vgl. Norbert Haase, Das Reichskriegsgericht und der Widerstand gegen die nationalsozialistische Herrschaft, Ausstellungskatalog. Hg. von der Gedenkstätte Deutscher Widerstand, Berlin 1993, S. 170–189; Thomas Geldmacher, »Auf Nimmerwiedersehen !« Fahnenflucht, unerlaubte Entfernung und das Problem, die Tatbestände auseinanderzuhalten. In : Manoschek, Opfer der NS - Militärjustiz, hier S. 133–194, passim; Jürgen Thomas, Wehrmachtsjustiz und Widerstandsbekämpfung. Das Wirken der ordentlichen deutschen Militärjustiz in den besetzten Westgebieten 1940–1945 unter rechtshistorischen Aspekten, Baden Baden 1990, S. 155 f. Vgl. Manfred Messerschmidt, Die Wehrmachtjustiz 1933–1945, Paderborn 2005, S. 396 f.
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stieß, erfolgte die Strafvollstreckung in Anstalten der Reichsjustizverwaltung. Zumeist wurden sie in den Lagerkomplex im Emsland verbracht.17 Die Haftbedingungen dort waren von mörderischer Arbeit im Moor, unzureichender Ernährung und Bekleidung sowie Demütigungen und Misshandlungen seitens der Wachmannschaften geprägt. Als sogenannte Verwahrung wurde die Haft nicht auf die eigentliche Strafzeit angerechnet; diese sollte erst nach Kriegsende beginnen. Insgesamt saßen in den Lagern Esterwegen, Brual - Rhede, Börgermoor, Aschendorfermoor, Walchum und Neusustrum zwischen 25 000 und 30 000 kriegsgerichtlich Verurteilte ein. Mindestens 780 von ihnen starben hier während des Krieges an Hunger, Krankheiten und Misshandlung.18 Allein im August und September 1942 ließ das Reichsjustizministerium 2 100 größtenteils militärgerichtlich verurteilte Häftlinge aus den Emslandlagern in die sogenannten Strafgefangenenlager Nord transportieren. Sie wurden hier im »Einsatzkommando Viking« der Organisation Todt u. a. für »kriegswichtige Bauarbeiten« eingesetzt, und zwar unter Verhältnissen, »die ungleich schwerer«19 waren als der Vollzug in den festen Strafvollzugseinrichtungen im Reichsgebiet. Dieser Einsatz folgte den Prinzipien der »Vernichtung durch Arbeit«.20 Insgesamt lag die Zahl der nach Norwegen verbrachten, straflagerverwahrten Soldaten vermutlich bei 3 160, dazu zählen auch in Norwegen Verurteilte. Die Zahl der Häftlinge, die durch Kälte, Krankheiten und Gewaltakte der Wachmannschaften umkamen, war in diesen Außenkommandos der Emslandlager besonders hoch; 814 von ihnen starben zwischen 1942 und 1945 in den Lagern, rund 1 300 wurden über Narvik zur sogenannten Bewährungstruppe überstellt, lediglich 164 konnten die alliierten Truppen bei Kriegsende befreien.21 Auch dieser Komplex der Geschichte des Strafvollzugs im Zweiten Weltkrieg ist erst ansatzweise erforscht. Zudem sind nur wenige Zeitzeugenberichte vorhanden.22 Das gleiche gilt im Übrigen für 17
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Vgl. Dokumente bei Erich Kosthorst / Bernd Walter ( Hg.), Konzentrations - und Strafgefangenenlager im Dritten Reich : Beispiel Emsland, Zusatzteil Kriegsgefangenlager. Dokumentation und Analyse zum Verhältnis von NS - Regime und Justiz, 3 Bände, Düsseldorf 1983/1985, vgl. dabei insbesondere Band 1, S. 946–973; Elke Suhr, Die Emslandlager. Die politische und wirtschaftliche Bedeutung der emsländischen Konzentrations - und Strafgefangenenlager 1933– 1945, Bremen 1985. Insgesamt wurden ca. 80 000 KZ - Häftlinge und Strafgefangene und zwischen 100 000 und 180 000 Kriegsgefangene in den Lagern inhaftiert. Bis zu 30 000 Menschen, überwiegend sowjetische Kriegsgefangene, kamen in den Moorlagern um. Vgl. http ://www.gedenkstaette - esterwegen.de; 5.12.2013. Reichsjustizministerium an das OKW, zit. nach Nikolaus Wachsmann, Gefangen unter Hitler. Justizterror und Strafvollzug im NS - Staat, München 2006, S. 271. Vgl. ebd., S. 270–272. Vgl. Messerschmidt, Wehrmachtjustiz, S. 335 f. Vgl. Horst Schluckner, Sklaven am Eismeer. In : Fietje Ausländer ( Hg.), Verräter oder Vorbilder? Deserteure und ungehorsame Soldaten im Nationalsozialismus, Bremen 1990, S. 14–40; ders., Ans Ende der Welt, Leipzig 2004; Karl - Heinz Hoffmann, Am Eismeer verschollen. Erinnerun-
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Berichte von Insassen der ebenfalls zum Teil in Norwegen stationierten Feldstraflager, häufig auch bezeichnet als »Konzentrationslager der Wehrmacht«.23 In Feldstraflager überstellten die Gerichte solche Soldaten, die sie zu »unverbesserlichen Wehrmachtschädlingen« oder »Trägern wehrfeindlichen Geistes« erklärt oder die sich in anderen Formen des Haftsystems der Wehrmacht nicht »gebessert« hatten. In den Feldstraflagern sollte die zu verrichtende Arbeit bei schlechterer Ernährung noch härter sein als in den anderen Strafvollstreckungseinrichtungen der Wehrmacht.24 Auch in Norwegen ist zu den genannten Aspekten der deutschen Besatzungspolitik bisher kaum geforscht worden.25 Aus diesem Grund trafen Anfragen bei einschlägigen Forschungsinstitutionen insgesamt auf positive Resonanz. Derzeit bestehen Absprachen mit der Universität Trondheim sowie dem Falstadsenteret, einer Menschenrechtsbildungsstätte auf dem Gelände eines während der deutschen Besatzung von der SS betriebenen Internierungslagers in der Nähe von Trondheim.26 Sondierungsgespräche gab es ebenfalls mit dem Widerstandsmuseum bzw. dem Verteidigungsmuseum in Oslo27 sowie dem Holocaust - Dokumentationszentrum ( HL - Senteret ).28 Als Ergebnis der Gespräche, insbesondere mit der Universität Trondheim und dem Falstadsenter, wurde vereinbart, ein dreistufiges Forschungs - und Ausstellungsprojekt auf den Weg zu bringen. Erster Schritt soll die grundlegende Sichtung und Erschließung von Quellen für die weitere Arbeit sein; diese Grundlagenforschung stellt die Basis für eine Publikation dar, die den Stand der Forschung zusammenfasst. Als dritter Schritt – gleichzeitig Höhepunkt und Abschluss des Projektes – werden sodann die Ergebnisse auch in Form einer Wanderausstellung einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Inhaltlich sind für das Forschungs - und Ausstellungsprojekt folgende Ziele formuliert :
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gen aus der Haftzeit in faschistischen Strafgefangenenlagern in Nordnorwegen, Berlin ( Ost ) 1988. Fritz Hodes, Die Strafvollstreckung im Kriege. In : Zeitschrift für Wehrrecht ( ZWR ), 4 (1939– 40), S. 402–409, hier 407; Hans - Peter Klausch, Weitgehend unerforscht : Die Konzentrationslager der Wehrmacht. In : Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung, 35 (1993), S. 31–42. Klausch, Konzentrationslager. Zu einzelnen Hinweisen vgl. Gunnar Mellbye, Fra de tyske krigsdomstolers virksomhet in Norge under okkupasjonstiden. In : Tidsskrift for Rettsvitenskap, 58 (1945), S. 162–180; Trond Risto Nilssen, »Kommando Nord« – myrsoldatene i Nord - Norge 1942–1945. In : Historie, 1 (2001), S. 28–36; Berit Nökleby / Olav Riste, Norway 1940–1945 : The resistance movement, Oslo 1994. Vgl. http ://www.falstadsenteret.no; 5.12.2013. Vgl. http ://mil.no / culture - attractions / museums / Pages / museums.aspx; 5.12.2013. Vgl. http ://www.hlsenteret.no ; 5.12.2013.
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1. Aufbau einer Datenbank zur Bilanz der Spruchtätigkeit der in Norwegen stationierten Wehrmachtgerichte, und zwar sowohl gegenüber Landeseinwohnern als auch den eigenen Soldaten bzw. Angehörigen des Gefolges sowie gegenüber Kriegsgefangenen; Erfassung von Todesurteilen gegen Norweger, die auch außerhalb der Landesgrenzen verurteilt worden sind. Voraussetzung dafür ist die Sichtung von Akten aus deutschen, norwegischen, österreichischen und tschechischen Archiven – im Militärhistorischen Archiv der Tschechischen Republik in Prag befinden sich bekanntlich die meisten der überlieferten Verfahrensakten des Reichskriegsgerichts.29 2. Empirische Untersuchung der faktischen Zuständigkeit von Wehrmachtgerichten für die unterschiedlichen Personengruppen. Hier stellen sich folgende Fragen : Bei welchen Delikten gab es Ausnahmen von der vermeintlichen Regel, d. h. bei welchen Delikten verurteilten Wehrmachtgerichte weiterhin norwegische Zivilisten ? Welche Konjunkturen, Brüche oder Abweichungen (Phasen des Krieges, regionale Besonderheiten innerhalb Norwegens, Unterschiede in der Spruchpraxis der Gerichte der einzelnen Waffengattungen ) lassen sich in der Spruchpraxis feststellen ? Für die Beantwortung wird zumindest eine stichprobenartige Auswertung der Akten der SS - und Polizeigerichtsbarkeit in Norwegen notwendig sein, die vollständig im Reichsarchiv in Oslo überliefert sind. 3. Eingehende Recherche beispielhafter Biographien, die das Spektrum der Verstöße von Soldaten und Zivilisten gegen das Militärstrafgesetzbuch sowie gegen Verordnungen und Erlasse der Besatzungsmacht aufzeigen. 4. Charakterisierung der Spruchpraxis in Norwegen tätiger Wehrmachtgerichte, Heranziehung von Forschungen zu anderen Gerichten für eine vergleichende Bewertung. 5. Biographische Recherchen zu den in Norwegen eingesetzten Richtern und Gerichtsherren; Herausarbeitung von Handlungsmustern, Typiken, Abgrenzungen gegenüber anderen Befunden im thematischen Feld. 6. Bilanzierung der Folgen der Spruchpraxis : Formen und Bedingungen des Strafvollzugs bzw. der Straflagerverwahrung in und außerhalb Norwegens (deutsche Soldaten, Kriegsgefangene und Norweger ); Versuch einer Rekonstruktion der Erfahrungsgeschichte von wehrmachtgerichtlich Verurteilten in Norwegen; Aufzeigen der Wege norwegischer Häftlinge durch Zuchthäuser, Gefängnisse und Konzentrationslager in ganz Europa ( Hamburg - Fuhlsbüttel, Sonnenburg, Sachsenhausen, Flossenbürg usw.). 7. Erstellung einer Topographie des Strafvollzugs insbesondere in Nord - Norwegen als Verschickungsort der Häftlinge aus den Emslandlagern (»Einsatzkommando Viking«) aber auch der Feldstraflager. Da viele Lagerstandorte nicht 29
Siehe den Beitrag von Michael Viebig in diesem Band.
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mehr rekonstruierbar sind, muss zur Sicherung historischen Wissens ein Oral- History - Projekt in Nord - Norwegen durchgeführt werden. 8. Recherche der Nachgeschichte der Wehrmachtjustiz in Norwegen : Was wurde aus den Tätern, was aus den Opfern ? Wie und aus welchen Gründen erinnerten sich Norweger und Deutsche wie an die Spruchpraxis der Wehrmachtgerichte ?30 9. Einordnung der Befunde in übergeordnete Forschungsparameter : Was charakterisiert die Rolle der Wehrmachtjustiz in Norwegen im Verhältnis zu der in anderen besetzten Ländern ? Welche Rolle spielt sie im Zusammenhang mit den Maßnahmen der Besatzungsherrschaft insgesamt ? Methodisch und theoretisch wird sich das Projekt an alltagsgeschichtlichen Fragestellungen orientieren. Dabei wird es zentral sein, die gedankliche Engführung von Täter - Opfer - Dichotomien zu überwinden. Neben den systematisch quantitativen Dimensionen des Forschungsprojektes geht es in einer qualitativen Perspektive um das Herausarbeiten der Vielfältigkeiten des Verhaltens, der Motive, wie der biographischen Hintergründe der von der Wehrmachtjustiz Verfolgten. Wo nutzten Angeklagte, Richter und Gerichtsherren Handlungsspielräume ? Welche Auswirkungen hatten diese ? Wo dienten Verstöße gegen geltende Verordnungen und Bestimmungen eigenen Interessen ? Wie wurden Freiräume gesucht und erkämpft und wie sahen diese aus ? An welchen Stellen im historischen Prozess gingen die Akteure ( strategische ) Allianzen mit der Besatzungsmacht ein ?31 In welchen Situationen halfen Landeseinwohner deutschen Soldaten, wann und warum denunzierten sie diese, z. B. bei Fluchtversuchen über die Grenze ins neutrale Schweden ? Insgesamt wird es auch darum gehen, anhand der Spruchpraxis von Wehrmachtgerichten das vielfältige Spektrum sozialer Praxis im Besatzungsalltag aufzuzeigen.32
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Vgl. hier stellvertretend die Arbeiten von Susanne Maerz, Die langen Schatten der Besatzungszeit. »Vergangenheitsbewältigung« in Norwegen als Identitätsdiskurs, Berlin 2008; Claudia Lenz, Haushaltspflicht und Widerstand. Erzählungen norwegischer Frauen über die deutsche Besatzung 1940–1945 im Lichte nationaler Vergangenheitskonstruktionen, Tübingen 2003. Zur jüngeren Diskussion um Kollaboration und Widerstand in Norwegen und Europa vgl. Arnd Bauerkämper, Das umstrittene Gedächtnis. Die Erinnerung an Nationalsozialismus, Faschismus und Krieg in Europa seit 1945, Paderborn 2012; Nicola Karcher, Die Nasjonal Samling während der deutschen Okkupation Norwegens 1940–1945. Nationalismus versus Pangermanismus. In : Jahrbuch für Antisemitismusforschung, 16 (2007), S. 195–216; Robert Bohn ( Hg.), Vergangenheitspolitik und Erinnerungskulturen im Schatten des Zweiten Weltkriegs. Deutschland und Skandinavien seit 1945, Essen 2008. Vgl. Alf Lüdtke, Einleitung : Herrschaft als soziale Praxis. In : ders. ( Hg.), Herrschaft als soziale Praxis. Historische und sozial - anthropologische Studien, Göttingen 1991, S. 9–53; ders., People Working : Everyday Life and German Fascism. In : History Workshop Journal, 50 (2000), S. 75– 92; ders., »Fehlgreifen in der Wahl der Mittel«. Optionen im Alltag militärischen Handelns. In : Mittelweg 36, 12 (2003), S. 61–75. Für das Konzept der Kriegserfahrung vgl. Klaus Latzel, Vom
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Die Geschichte der deutschen Besatzung zwischen 1940 und 1945 stößt in Norwegen bis heute auf ungebrochenes Interesse. Mit dem Forschungsvorhaben soll eine weitere Lücke im Wissen um diesen historischen Abschnitt geschlossen werden. Das deutsch - norwegische Gemeinschaftsprojekt hat insofern eine »Beziehungsebene«, indem es Wissen und Institutionen vernetzt und gleichzeitig Kenntnisse über und Verständnis für die historischen Überlieferungen beider Länder – über die jeweiligen Wissenschafts - Communities hinaus – aufbereitet und vermittelt. Das Projekt soll sich in ein Gesamtmosaik weiterer dringend benötigter Studien über das Wirken der Wehrmachtjustiz in den besetzten Ländern Europas einfügen. Die am Ende des Projekts geplante Wanderausstellung soll in mindestens acht norwegischen Städten gezeigt werden. Der Abschluss des Projekts ist für Ende 2018 terminiert und auch ein Eröffnungsort ist bereits ins Auge gefasst : die Räume des ehemaligen U - Boot - Bunkers Dora in Trondheim, eines riesigen Betonkolosses, den die Kriegsmarine errichten ließ, um die Stadt zu einer großen Militärbasis auszubauen. Diese Hinterlassenschaft der deutschen Besatzer beherbergt heute das Stadtarchiv, ein Museum sowie weitere Institutionen.
Kriegserlebnis zur Kriegserfahrung. Theoretische und methodische Überlegungen zur erfahrungsgeschichtlichen Untersuchung von Feldpostbriefen. In : Militärgeschichtliche Mitteilungen, 56 (1997), S. 1–30.
III. Praxis der Wehrmachtjustiz und ihres Strafvollzugs
Kerstin Theis »Das Ziel ist klar, ein 1918 wird das Ersatzheer nie erleben.« – Die Wehrmachtjustiz der Ersatztruppen an der »Heimatfront« während des Zweiten Weltkriegs
Bei einer unerlaubten Entfernung eines Soldaten im Sommer 1940 verhängte Ferdinand Bordfeld, Richter am Gericht der Division Nr. 156 in Köln, die Mindeststrafe von einem Jahr Gefängnis. Strafmildernd verwies er darauf, dass der Angeklagte aufgrund seiner Zugehörigkeit zum Ersatzheer »zur Zeit der Tat keinen eigentlichen Truppendienst mitmachte und so einer Versuchung [... zur Straftat, KT ] in der Heimat leichter unterlegen« sei.1 Damit implizierte der Richter, dass der 27 - jährige Schütze sich nicht von der Truppe entfernt hätte, wäre er zum Tatzeitpunkt im Feldheer gewesen. Überspitzt ließe sich hieraus ableiten, dass Angeklagte in einem Verfahren der Ersatzheer - Justiz mit milderen Urteilen rechnen konnten als etwa bei Feldgerichten an der Ostfront – aber war dem wirklich so ? Zu wenig ist noch erforscht, ob und worin sich die Rechtspraxis der Feld - von der Ersatzheer - Justiz unterschied. In einem ersten Schritt sollen daher die Spezifika des Ersatzheers und seiner Gerichte ergründet werden. Zum besseren Verständnis sind deren spezielle Ausgangslage und der Erfahrungshintergrund des Ersten Weltkriegs unabdingbar. Hieran anschließend werden ausgewählte, zentrale Merkmale der Rechtspraxis der Divisionsgerichte Nr. 156 und 526 im Ersatzheer vorgestellt und die Personallage an den Gerichten skizziert. Die Ausführungen beruhen auf Teilergebnissen einer Anfang 2013 abgeschlossenen Dissertation zu den Militärgerichten des Ersatzheers am Beispiel der beiden genannten Divisionen während des Zweiten Weltkriegs.2
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Strafsache C III 501/40 ( Bundesarchiv / Militärarchiv Freiburg ( BArch ), RH 26/156G, 768/688, unpag.). Die Dissertation ist am Historischen Seminar der Ludwig - Maximilians - Universität München und der Universität zu Köln entstanden, eingebunden in den Forschungsverbund »NS - Justiz im Krieg«. Die Monographie wird voraussichtlich Ende 2014 im Oldenbourg - Verlag München (Studien zur Zeitgeschichte) publiziert werden. Vgl. zum Forschungsverbund ausführlicher Hans-Peter Haferkamp/Margit Szöllösi-Janze/Hans-Peter Ullmann (Hg.), Justiz im Krieg. Der Oberlandesgerichtsbezirk Köln 1939–1945, Berlin 2012.
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1. Was ist das Ersatzheer ? Zeitgenössisch galt das Ersatzheer propagandistisch aufgeladen als »Rückgrat« der Wehrmacht.3 Dies hing mit den fünf wichtigen Aufgaben zusammen, welche die Ersatztruppen im Zweiten Weltkrieg innerhalb der Wehrmacht übernahmen. Das Ersatzheer bildete, erstens, die Rekruten und den Offiziersnachwuchs aus. Es führte, zweitens, den Feldeinheiten neues Personal zu und betreute, drittens, die beurlaubten, erkrankten oder verwundeten Wehrmachtangehörigen während ihrer Regeneration oder ihres Urlaubs. Im Verbund mit dem Personalkreislauf gehörte jeder Soldat den Ersatztruppen daher zumindest für eine gewisse Zeit an. Weitere wichtige Tätigkeitsbereiche bezogen sich, viertens, auf den zivilen Luftschutz im »Heimatkriegsgebiet«4, etwa bei Aufräumarbeiten nach Luftangriffen, sowie, fünftens, auf das Sicherungs - und Bewachungswesen, in dem Angehörige der Ersatztruppen zum Beispiel Gefangenenlager, kriegswichtige Brücken und Materiallager beaufsichtigten oder Baumaßnahmen absicherten. Seine Bezeichnung mag zunächst auf eine vermeintliche Randständigkeit schließen lassen, doch das Ersatzheer stand auf derselben Hierarchieebene wie das Feldheer und besaß im Zweiten Weltkrieg die Befehlsgewalt über knapp ein Viertel aller Soldaten.5 Die Aufgabenfülle des Ersatzheers bedeutete für dessen Justiz eine breite personelle Zuständigkeit. Ihr unterstanden nicht nur sämtliche Mitglieder der Ersatztruppen, sondern auch militärische Verwaltungsbeamte in der Heimat und das sogenannte Wehrmachtgefolge, welches sich unter anderem aus dem Küchen- und Wachpersonal, den in der Wehrmacht tätigen Frauen, Arbeitern und dem Zollgrenzschutz zusammensetzte. Die Gerichte bearbeiteten überdies die Strafsachen von Kriegsgefangenen, ab 1940 von Mitgliedern der Organisation Todt und fallweise von Zivilisten in den besetzten Gebieten, wie Belgien und Frankreich, die unter deutscher Militärverwaltung standen. Damit beschäftigten sich die Gerichte indes keineswegs ausschließlich mit den »Hinterbänklern« und »Randphänomenen« jenseits der Front. Gelang einem 3 4
5
Vgl. hierzu exemplarisch Burkhart Müller - Hillebrand, Personnel and Administration ( Project 2a ), Study P - 005, 30.8.1948 ( BArch ZA /1/1777, S. 92). Der zeitgenössische, propagandistisch konnotierte Begriff »Heimatkriegsgebiet« bezog sich laut einer militärischen Definition des Oberkommandos der Wehrmacht aus dem Jahr 1939 auf den »Teil des Kriegsgebiets, der nicht zum Operationsgebiet des Heeres, dem Marinefestungsgebiet und dem Wehrmachtverwaltungsgebiet gehört«, vgl.Schreiben des Chef der Heeresrüstung, Nr. 1215/39 g HR III vom 28.2.1939 ( BArch, RH 14/30, Bl. 111). Vgl. Bernhard R. Kroener, Die personellen Ressourcen des Dritten Reiches im Spannungsfeld zwischen Wehrmacht, Bürokratie und Kriegswirtschaft 1939–1942. In : ders./ Rolf - Dieter Müller / Hans Umbreit ( Hg.), Organisation und Mobilisierung des deutschen Machtbereichs. Kriegsverwaltung, Wirtschaft und personelle Ressourcen 1939–1941, Stuttgart 1988, S. 703– 1003, hier 816. Das Ersatzheer besaß im Vergleich zu den Feldtruppen mit der Wehrkreisebene jedoch eine zusätzliche, übergeordnete Befehlsstelle.
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Soldaten etwa die Flucht ins rückwärtige Heeresgebiet, so ging die Strafsache in der Regel an das zuständige Gericht des Ersatzheers über. Die überlasteten Feldgerichte gaben ermittlungsintensive oder komplizierte Fälle aufgrund fehlender Ressourcen inmitten des Kriegsgeschehens zudem oft an ihre Ersatzeinheiten ab. Der vergleichsweise größere Umfang der Ermittlungsakten und Urteile der Feldheerjustiz allgemein spricht ebenfalls dafür, dass die Dienststellen im Ersatzheer den Strafsachen mehr Zeit widmen konnten.6 Kennzeichnend ist für die »Heimatheer« - Justiz darüber hinaus, dass die Richter mehr Fälle von Entfernungsdelikten bearbeiteten und in diesem Deliktbereich auf höhere Strafmaße im Vergleich zu ihren Kollegen im Feldheer entschieden.7 Ein erster Erklärungsansatz hierfür ist, dass die Wehrmachtangehörigen in den Reservetruppen im Vergleich zu den Frontverbänden mehr Gelegenheiten besaßen, sich von ihrer Einheit zu entfernen – sei es etwa während eines Urlaubs oder eines Aufenthalts im Lazarett oder ganz grundsätzlich aufgrund der Heimatnähe.8 Das regionale Personalprinzip der Wehrmacht 9 sah vor, dass die Rekruten in der Regel in Stammverbände unweit ihres Geburts - oder Wohnorts einberufen wurden. Es war deshalb nicht unüblich, dass Rekruten ihre Ausbildung oder Soldaten ihren Dienst in der Ersatzeinheit unweit ihres sozialen Umfelds absolvierten. Eine weitere Erklärung ist neben der Abgabepraxis der Feldheer - Gerichte, dass Desertionsfälle vor dem Erfahrungshintergrund des Ersten Weltkriegs unter besonderer Beobachtung und Strafverfolgung im Ersatzheer standen und deshalb häufiger geahndet wurden. Die Gerichte und Truppenvorgesetzten sollten den Rekruten und langjährigen Soldaten deshalb gerade während ihrer Zeit bei den Ersatztruppen den Disziplinierungsrahmen der Militärjustiz nachdrücklich aufzeigen, um dem »Massendelikt« der unerlaubten Entfernung vorzubeugen und abschreckend zu wirken.10 Angesichts des Spektrums an Tätigkeiten und der skizzierten breiten sozialen Repräsentativität der Ersatztruppen verwundert es, dass sich die Geschichtswissenschaft bislang kaum eingehend mit ihrer Gerichtsbarkeit beschäftigt hat.11 Dies liegt vermutlich in der Entwicklung des Forschungsinteresses zur Wehr6 7
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Vgl. Kristina Brümmer - Pauly, Desertion im Recht des Nationalsozialismus, Berlin 2006, S. 144. Vgl. Benjamin Ziemann, Fluchten aus dem Konsens zum Durchhalten. Ergebnisse und Perspektiven der Erforschung soldatischer Verweigerungsformen in der Wehrmacht 1939–1945. In : Rolf - Dieter Müller / Hans - Erich Volkmann ( Hg.), Die Wehrmacht. Mythos und Realität, München 1999, S. 589–613, hier 597 f. Ebd. Vgl.Walter Hedler, Aufbau des Ersatzwesens der Deutschen Wehrmacht, Berlin 1938, S. 137. Vgl. hierzu demnächst ausführlicher die Monographie der Autorin. Ausnahmen bilden in Bezug auf das Justizwesen die wichtigen Studien von Michael Eberlein / Roland Müller et. al., Militärjustiz im Nationalsozialismus. Das Marburger Militärgericht. Hg. von der Geschichtswerkstatt Marburg, Marburg 1994; Walter Manoschek ( Hg.), Opfer der NS Militärjustiz. Urteilspraxis – Strafvollzug – Entschädigungspolitik in Österreich, Wien 2003; Christoph Rass, »Menschenmaterial«. Deutsche Soldaten an der Ostfront. Innenansichten einer
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machtjustiz seit spätestens Mitte der 1990er Jahre begründet. Dieses Interesse galt zunächst dem Unrechts - und Terrorcharakter der Rechtspraxis sowie der Makroperspektive der militärjustiziellen Strukturen. Vor dem Hintergrund zahlreicher geschichtspolitischer Debatten standen zudem überwiegend Fragestellungen zur Opfer - Perspektive und zu Verweigerungsformen im Fokus.12 Stark verzögert rückte daher erst in jüngerer Zeit das Ersatzheer ins Blickfeld der Forschung, als diese zunehmend den Kriegsschauplatz »Heimatfront« insgesamt und die »Volksgemeinschaft« untersuchte.13 Das Fallbeispiel der folgenden Ausführungen bilden zwei der größten Spruchkörper des Ersatzheers auf lokaler Ebene : die Gerichte der Divisionen Nr. 156 und Nr. 526. Sie gehörten zum Wehrkreis VI, der ungefähr die Fläche des heutigen Nordrhein - Westfalens umfasste. Im Kriegsverlauf waren eine Hauptgeschäftsstelle und mindestens eine Zweigstelle an wechselnden Orten stationiert, darunter in Thorn / Westpreußen, Maastricht und Spa in Belgien sowie in Aachen, Köln, Düren und Wuppertal. Als die Wehrmacht das Ersatzheer im Oktober 1942 umorganisierte, übernahm das Gericht der Division Nr. 526 den Verantwortungsbereich und Teile des Personals der 156er - Division.14 Die Verbände der Division Nr. 526 kamen im Herbst 1944 als »Walküre« - Einheit
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Infanteriedivision 1939–1945, Paderborn 2003. Diese Arbeiten stützen sich auch auf ErsatzheerAkten. Aufgrund ihrer jeweiligen Fragestellungen gehen sie dabei indes nicht dezidiert auf Spezifika der Ersatztruppen ein. Im Hinblick auf die Personal - Koordination haben Martin van Creveld, Kampfkraft. Militärische Organisation und Leistung 1939–1945, 4. Auflage Graz 2009 sowie Bernhard R. Kroener wichtige Beiträge geliefert, vgl. ders., »Menschenbewirtschaftung«. Bevölkerungsverteilung und personelle Rüstung in der zweiten Kriegshälfte (1942–1944). In : ders./ Rolf - Dieter Müller ( Hg.), Organisation und Mobilisierung des deutschen Machtbereichs. Kriegsverwaltung, Wirtschaft und personelle Ressourcen 1942–1944/45, München 1999, S. 777–1001. Jüngst auch Andreas Kunz, Junge Soldaten in der Wehrmacht. Struktur - und organisationsgeschichtliche Betrachtungen. In : Ulrich Herrmann / Rolf - Dieter Müller ( Hg.), Junge Soldaten im Zweiten Weltkrieg. Kriegserfahrungen als Lebenserfahrungen, Weinheim 2010, S. 81–112. Mit quellenkritischen Einschränkungen, aber als eine der ersten Publikationen, die das Ersatzheer behandeln, vgl.Victor W. Madej, German Army Order Battle. The Replacement Army 1939–1945, Allentown 1981. Zeitgenössisch als Auftragsstudie der Wehrmacht, vgl. Hedler, Aufbau. Daneben existieren wichtige Spezialstudien zu lokalen Fallbeispielen und Deliktbereichen, allerdings ohne Differenzierung zwischen Feld - und Ersatzheer. Eine konzise Zusammenfassung der Militärjustiz - Forschung findet sich bei Peter M. Quadflieg / Christoph Rass, Die Kriegsgerichtsbarkeit der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg : Strukturen, Handlungsmuster und Akteure. In : Albrecht Kirschner ( Hg.), Deserteure, Wehrkraftzersetzer und ihre Richter. Marburger Zwischenbilanz zur NS - Militärjustiz vor und nach 1945, Marburg 2010, S. 39–57, hier 39–45. Als Überblick zum Forschungsstand vgl. Ian Kershaw, »Volksgemeinschaft«. Potenzial und Grenzen eines neuen Forschungskonzepts. In : Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte ( VfZ ), 59 (2011), S. 1–17; sowie exemplarisch die von Jörg Echternkamp herausgegebenen Bände 9.1 und 9.2, Die deutsche Kriegsgesellschaft 1939–1945, der Reihe »Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg«, München 2004 und 2005. Ausführlich zu den einzelnen Standorten der Division Nr. 156/526 vgl. Georg Tessin, Verbände und Truppen der deutschen Wehrmacht und Waffen - SS im Zweiten Weltkrieg, Osnabrück
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gegen alliierte Luftangriffe in den Niederlanden zum Einsatz, während das Gericht bis April 1945 weiter im Rheinland agierte. Die Quellensituation ist für beide Institutionen angesichts der ansonsten eher rudimentären Überlieferung von Unterlagen der Wehrmachtgerichte als ausgesprochen gut zu bezeichnen.15 Da die Ersatzheer - Gerichte als Aktensammelstellen im Krieg fungierten, besitzen sie auch eine überlieferungshistorische Bedeutung.16 Rund 4 700 bis dato unverzeichnete Verfahrensakten und beinahe alle Strafsachlistenbücher des Fallbeispiels, d. h. die jährlichen Geschäftsregister, sind im Bundesarchiv - Militärarchiv verwahrt und wurden für das Promotionsprojekt systematisch ausgewertet.17 Für beide Gerichte lassen sich fast 14 000 Strafsachen und Vorgänge nachweisen, welche sie zwischen September 1939 und April 1945 bearbeiteten.18 Im Kriegsverlauf waren hier in unterschiedlicher Fluktuation insgesamt 105 Richter und sechs Gerichtherren mit acht Vertretern tätig. Jede Dienststelle beschäftigte zwischen drei und neun Richter, beaufsichtigt von einem zusätzlichen dienstaufsichtsführenden »Haupt« - Richter und dem Gerichtsherren sowie dessen Vertretern, die Einheiten der Divisionen befehligten. Die Urkundsbeamten sowie vornehmlich weibliche Schreibkräfte vervollständigten den Personalstock. Die Gerichte wie auch die Truppenverbände selbst waren in der Kriegsgesellschaft vor Ort durchaus präsent. Die Soldaten hielten sich aufgrund ihrer Stationierung inmitten des »Heimatkriegsgebiets« auf, sei es während ihrer Ausbildung, Dienstausübung oder Freizeit. Die hier untersuchten Gerichte bezogen stets zivile Gebäude in zentraler, städtischer Lage und waren nicht etwa abgeschirmt auf dem Kasernengelände untergebracht. Anders als etwa Ersatzheer Gerichte in Magdeburg und Hamburg tagte das hier untersuchte Divisionsgericht nur in Einzelfällen in Kasernen, wenn etwa inhaftierte Beschuldigte aus gesundheitlichen Gründen nicht zum regulären Verhandlungsort transportiert werden
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1977–1997, hier Band 7, S. 97–102 ( Division Nr. 156), Band 11, S. 75–87 ( Division Nr. 526). Der Sitz des Kölner Gerichts der Division Nr. 156 war 1939 etwa in der Volksgartenstraße, 1940 in einem ehemaligen Hotel in der Belfortstraße, 1943 am Stadtgarten in der Spichernstraße. Das Wuppertaler Gericht saß 1943 nahe des Elberfelder Rathauses am Schlageterplatz ( heute Neumarkt ). Vgl. die Verfahrensakten im Bundesarchiv - Militärarchiv ( Bestände Pers 15, RH 26/156G und RH 26/526G ). Vgl. zur Überlieferungsgeschichte Thomas Menzel, Die Bestände der ZNS im Bundesarchiv Militärarchiv. Die Konzeption für das weitere archivische Vorgehen. In : Mitteilungen aus dem Bundesarchiv, 1 (2007), S. 88–98; Fritz Wüllner, Die NS - Militärjustiz und das Elend der Geschichtsschreibung. Ein grundlegender Forschungsbericht, Baden - Baden 1991, S. 129–152. Vgl. Wüllner, NS - Militärjustiz, S. 132–134, der auch die einschlägigen Verfügungen zitiert. Bundesarchiv - Militärarchiv, Bestände Pers 15, RH 26/156G und RH 26/526G. Der Wert beruht auf ersten Ergebnissen der Dissertation der Verfasserin, ermittelt anhand einer Vollerhebung aller verfügbaren einschlägigen Verfahrensakten und Strafsachlisten der Divisionsgerichte.
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konnten.19 Mit steigendem Ressourcenmangel brachten die Verantwortlichen die Gerichte zudem in zivilen Einrichtungen oder sogar Hotels unter und nutzten diese als Verhandlungsorte. So tagte das Maastrichter Gericht 1942 häufig in einem Jesuitenkloster. Das Gericht in Spa saß im Hotel »Belle Vue«. Die Aachener Dependance hatte ein Jahr später ihren Sitz in einem Priesterseminar, wohingegen das Wuppertaler Gericht ab Herbst 1944 ein Schulgebäude im Stadtteil Elberfeld mitbenutzte. Verhandlungen fanden außerdem bereits in der frühen Kriegsphase oft auf dem Wege der Rechtshilfe ( § 9 KStVO ) in den Sitzungssälen der ordentlichen Justiz statt, etwa im Oberlandesgericht Köln oder im Amtsgericht Düren.20
2. Prägekraft des Ersten Weltkriegs und Rahmenbedingungen »Das Ziel ist klar, ein 1918 wird das Ersatzheer nie erleben.« – so äußerte sich der Chef des NS - Führungsstabs, General Georg Ritter von Hengl, in einer Rede im Juli 1944. Er rief den anwesenden Ersatzheer - Offizieren damit eine gängige Leitlinie der Wehrmachtführung in Erinnerung, die als Vorgabe insbesondere an die Ersatztruppen und ihre Gerichte adressiert und in Befehlen wiederholt propagandistisch aufgegriffen wurde.21 Die Erfahrung der Kriegsniederlage 1918 im Verbund mit der Rezeption der »Dolchstoßlegende« und dem Topos einer »versagenden Heimat«, die den Kriegseinsatz der Soldaten weder anerkannt noch ausreichend unterstützt habe, prägten weite Teile des öffentlichen Diskurses der Zwischenkriegszeit und nicht zuletzt auch die Nationalsozialisten, die Wehrmacht und ihre Militärrichter entscheidend.22 Mehr noch, die Generation der Weltkriegsteilnehmer konstruierte diese Topoi aktiv mit. Die Diskussionen kreisten in der Weimarer Zeit unter anderem darum, die Militärjustiz habe im Ersten Weltkrieg vor allem Desertionsfälle und Vergehen an der »Heimatfront« nur sehr 19
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Exemplarisch der Fall E VIII 92/42 ( BArch, RH 26/156G, 731/257). Zur Militärjustiz des Ersatzheers in Magdeburg und Hamburg vgl. Lars Skowronski, NS - Militärgerichte auf dem Gebiet des heutigen Landes Sachsen - Anhalt – Eine Spurensuche. In : Justiz im Nationalsozialismus : Über Verbrechen im Namen des Deutschen Volkes – Sachsen - Anhalt, Begleitband zur Wanderausstellung, Magdeburg 2008, S. 44–53; Detlef Garbe / Magnus Koch / Lars Skowronski unter Mitarbeit von Claudia Bade, Deserteure und andere Verfolgte der NS - Militärjustiz : Die Wehrmachtgerichtsbarkeit in Hamburg, Texte, Fotos und Dokumente, Hamburg 2013. Vgl. die angegebenen Tagungsorte und Anschriften in der Korrespondenz der Verfahrensakten in : BArch, Pers 15, RH 26/156G und RH 26/526G. Zit. aus : Chef des NS - Führungsstabs des Heeres und General der Gebirgstruppen [ Georg Ritter von Hengl ], Vortrag bei der Tagung in Sonthofen [ o. D., Juli 1944] ( BArch, RH 14/12, Bl. 9–22, hier 19). Vgl. zur Wirkmächtigkeit des »Doppeltraumas 1918«, der Dolchstoßlegende und »Heimatfront« - Propaganda aus der Fülle an Studien exemplarisch Ulrich Herbert, Was haben die Nationalsozialisten aus dem Ersten Weltkrieg gelernt ? In : Gerd Krumeich ( Hg.), Nationalsozia-
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nachlässig und milde verfolgt, dadurch versagt und die Kriegsniederlage mit verschuldet. Im Verbund mit der 1920 erfolgten Abschaffung der Militärjustiz produzierten diese Vorwürfe und Erfahrungen jedoch gerade bei den Richtern im Ersatzheer das Gefühl eines gesteigerten Rechtfertigungsdrucks und einer persönlich empfundenen Defensivlage. Symptomatisch ist in diesem Kontext bereits der wehrmachtinterne Sprachgebrauch, aber auch die Praxis anderer NS - Stellen. Sie versuchten nach Möglichkeit, in ihren Befehlen, Verfügungen und Korrespondenzen weder Komposita mit »Ersatz« noch mit der verpönten »Etappe« zu verwenden. So griffen die Gerichtsherren und Richter im untersuchten Fallbeispiel stattdessen eher auf Begriffspaare mit »Reserve«, »Ergänzung« oder »Heimat« im Schriftverkehr und ihren Urteilssprüchen zurück. Eine Wehrmacht Publikation erklärte 1941, woran dies lag : »Im heutigen deutschen Sprachgebrauch hat das Wort Ersatz keinen guten Klang. Daran ist der Weltkrieg schuld, in dem wir auf alle möglichen guten Dinge verzichten und an ihrer Stelle weniger gute oder minderwertige hinnehmen mussten, wobei wir das Minderwertige dann ›Ersatz‹ zu nennen pflegten. Wenn wir daher den Begriff Ersatzheer richtig verstehen wollen, müssen wir auf die ursprüngliche Bedeutung des Wortes ›ersetzen‹ zurückgreifen, was [...] nichts anderes hieß, als ›eine vorhandene Lücke ausfüllen‹.«23 Und auch in ihren Entscheidungen nahmen die Juristen durchaus Bezug zum Ersten Weltkrieg, wie etwa der Richter Max Gruhn, als er im Oktober 1941 eine Gefängnisstrafe wegen Zersetzung der Wehrkraft ideologiegeprägt und mit strafverschärfender Intention begründete : »[...], denn in dem schweren Existenzkampf, der unserem Vaterlande aufgezwungen ist, gilt es vor allem, auch die Heimat intakt zu erhalten und mit allen Mitteln zu verhindern, dass Zustände eintreten könnten, wie sie 1918 bestanden haben. Es müsste das Vertrauen in die Heimat bei unseren vor dem Feinde stehenden Soldaten stark erschüttern, wenn sie wüssten, dass zu Hause Männer, die k. v. [ kriegsverwendungsfähig, K. T.] sind, herumlaufen, weil sie durch Bestechung unzuverlässiger Elemente ihre Einziehung zu verhindern wissen, und dass diese Taten nicht die entsprechende Sühne finden.«24
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lismus und Erster Weltkrieg, Essen 2010, S. 21–32; Boris Barth, Dolchstoßlegenden und politische Desintegration. Das Trauma der deutschen Niederlage im Ersten Weltkrieg 1914–1933, Düsseldorf 2003; Ute Daniel, Zweierlei Heimatfronten. Weibliche Kriegserfahrungen 1914 bis 1918 und 1939 bis 1945 im Kontrast. In : Bruno Thoß / Hans - Erich Volkmann ( Hg.), Erster Weltkrieg – Zweiter Weltkrieg. Ein Vergleich. Krieg, Kriegserlebnis, Kriegserfahrung in Deutschland, Paderborn 2002, S. 391–409; Gerd Krumeich, Die Dolchstoß - Legende. In : Étienne François / Hagen Schulze ( Hg.), Deutsche Erinnerungsorte, Band I, München 2001, S. 585–599. Ernst Fallner, Ausbildung im Ersatzheer. In : Stellvertretendes Generalkommando VII. A. K. (Hg.), Die feldgraue Heimat. Ersatzheer und Heeresrüstung im Dienste der Front, München 1941, S. 2–15, hier 2. Strafsache II 13/41 vom 11.10.1941 ( BArch, RH 26/156G, Box; 791, Akte 928, Bl. 36).
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Die Angst der NS - Führung, die Zustimmung der Bevölkerung zum Krieg und die Moral der Truppe könnten, ähnlich wie im Ersten Weltkrieg, umschlagen und sich gegen Militär und Machthaber richten, stellte die Wehrmachtjustiz und das Ersatzheer je nach Kriegsphase unter erhöhte Beobachtung seitens der übergeordneten Ebenen, wie etwa des Oberkommandos des Heeres ( OKH ), der Heeresrechtsabteilung und des Befehlshabers des Ersatzheers ( BdE ). Dafür spricht zum einen die Fülle an Verordnungen des OKH25, die gesondert an die Ersatztruppen erging. Zum anderen mussten die Ersatzheer - Gerichte bei mehr übergeordneten Stellen Tätigkeitsberichte einreichen und insgesamt mehr Kontrollen durchlaufen als die Feldgerichte. Letztere hatten, um nur ein Beispiel herauszugreifen, etwa keinen Oberstkriegsgerichtsrat im Dienstaufsichtsbezirk auf regionaler Ebene über sich, der die Gerichte regelmäßig prüfte. Die Ernennung Heinrich Himmlers zum BdE nach dem gescheiterten Umsturzversuch vom 20. Juli 1944 gestaltete diese Situation für die Ersatzheer - Gerichte noch komplexer. Nicht nur die Zahl der Direktiven wuchs mit seinem Amtsantritt, sondern auch die Eingriffe in die Rechtspraxis : Himmler und sein Stellvertreter Hans Jüttner rügten gerichtliche Entscheidungen oder wiesen diese – in einem höheren Maße als ihre Vorgänger – zur Neuverhandlung an.26 Einen Tag nach dem Attentatsversuch äußerte Himmler seine Grundüberzeugung im Hinblick auf das Ersatzheer, nämlich, dass »gerade [... dieses ] die Möglichkeit und damit die Verpflichtung zur engsten Zusammenarbeit mit der Partei und ihren Gliederungen [ habe ]«.27 Über den kompletten Kriegsverlauf ist indes das Bemühen der beiden Gerichte zu erkennen, ihre Angelegenheiten möglichst intern und abgeschirmt von den zivilen Behörden zu regeln. Sie versuchten deshalb auch in der ersten Kriegshälfte, Strafsachen, die zwischen Zivilisten und Wehrmachtangehörigen vorgefallen waren, an sich zu ziehen. Intention war es, dadurch nicht nur den eigenen Zuständigkeitsbereich abzustecken, sondern auch Deutungshoheit über die sozialen Beziehungen und Verwerfungen an der »Heimatfront« oder zumindest einen Anteil hieran zu gewinnen.28 Rechtshilfe nahmen sie bei zivilen Stellen – jenseits der strikt durchreglementierten Vorschriften und Kooperationsvereinbarungen im Strafvollzug29 – meist nur in Anspruch, wenn es etwa darum ging, 25 26
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Vgl. exemplarisch die gesammelten Direktiven in den Akten BArch, RH 14/24, RH 14/25 und RH 14/26. Prozentual differieren die Aufhebungsquoten bei Friedrich Fromm (1,4 Prozent ) und Heinrich Himmler (2,3 Prozent ) um fast einen Prozentpunkt. Dieser Befund beruht auf den ausgewerteten Strafsachlisten - Büchern für die Gerichte der Divisionen Nr. 156 und 526. Schreiben des Chefs der Heeresrüstung und Befehlshaber des Ersatzheeres [ Chef HRüst u BdE, Heinrich Himmler ], Stab / NSF Nr. 6105/44 vom 21.7.1944 ( BArch, RH 14/12, unpag.). Exemplarisch hierfür seien die Strafsachen B IV 261/40 ( BArch, RH 26/156G, 737/337) und III 67/41 ( ebd., 785/867) genannt. Zum Strafvollzug im Nationalsozialismus vgl. Nikolaus Wachsmann, Gefangen unter Hitler. Justizterror und Strafvollzug im NS - Staat, München 2006; Hans - Peter Klausch, Die Sonder-
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Gebäude zu nutzen oder bei Ermittlungen infolge eigener Kapazitätsmängel zivile Zeugen zu vernehmen. Zu Kriegsbeginn hatte BdE Generaloberst Friedrich Fromm als grundlegende, handlungsleitende Maximen für die Ersatzheer - Gerichte bereits Disziplin, Schnelligkeit, Erziehung und Abschreckung formuliert und sich dabei auf die Lehren des Ersten Weltkriegs bezogen, als er anwies : »Im Kriege ist [... die ] eiserne Aufrechterhaltung [ der Disziplin ] die Voraussetzung für den Endsieg. [...] In dem totalen Krieg, den wir zu führen haben, sind Front und Heimat nicht voneinander zu trennen. Soldatischer Geist und soldatischer Wille müssen Front und Heimat in fester unerschütterlicher Disziplin zu einem unlösbaren Ganzen verbinden. [...] In allen Fällen [ von Disziplinverstößen ] wird sofortiges Durchgreifen und eine schnelle und scharfe Bestrafung den erzieherischen Wert und den Abschreckungsgedanken am besten erfüllen.«30 Stärker noch als bei den Feldtruppen, so eine bereits angedeutete Ausgangsthese, legten die Richter und Truppenkommandeure deshalb Wert darauf, dass die Soldaten die Mittel und Reichweite der Militärjustiz im Ersatzheer nachdrücklich vermittelt bekamen, ehe sie ihren Frontdienst antraten oder zu ihren Einheiten im Feldheer zurückkehrten. In regelmäßigen Abständen besuchten die Richter deshalb auch die ihnen zugewiesenen Verbände und hielten Vorträge über das Militärstrafrecht und darüber, wie das Gericht Straftaten der Truppenmitglieder geahndet hatte. Mit dem spätestens ab Herbst 1941 virulenten Personalmangel, den Verlustzahlen und dem rasant steigenden Ressourcenbedarf der Wehrmacht besaß zwar die Frage Priorität, ob der Angeklagte noch für den Wehrdienst in Frage komme bzw. wann er wieder einsatzfähig sei. Dem entsprach auch das abgestufte Sanktions - , Strafaussetzungs - und frontnahe Strafvollstreckungssystem der Wehrmacht, in dem die Verbüßung von Strafen zunehmend zur »Frontbewährung« bis Kriegsende ausgesetzt wurde, damit der Verurteilte möglichst rasch wieder in den Kreislauf der Kriegsmaschinerie gelangte.31 Aber dennoch firmierten gerade im Ersatzheer auch die Erziehung als Strafzweck und die »Erziehungsfähigkeit« als zentraler Entscheidungsparameter am Gericht – analog zu den Ausbildungsaufgaben der Ersatztruppen. Bei der Strafzumessung etwa stand für die Richter oft die Frage im Vordergrund, ob der Angeklagte aufgrund seiner Verfehlungen noch militärisch erziehbar sei und die Strafe einen erzieherischen Eindruck auf ihn machen werde. Dabei maßen die Richter der militärischen Erziehung zumeist eine größere Bedeutung bei als der
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abteilungen, Strafeinheiten und Bewährungstruppen der Wehrmacht. In : Kirschner, Deserteure, S. 197–216. Schreiben des Chefs HRüst u. BdE [ Friedrich Fromm ], Allgemeines Heeresamt / Amtsgruppe Heerwesen ( AHA / Ag H ) Nr. 1822/39 g vom 25.11.1939 ( BArch, RH 53–7/ v.218b, Bl. 161–162, hier 161). Zu den Personalverhältnissen ab 1941 vgl. Müller - Hillebrand, Personnel, S. 38; Kroener, Ressourcen, S. 865.
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familiären, vormilitärischen Sozialisierung des Angeklagten.32 War das Gericht von der »Erziehungsfähigkeit« überzeugt, waren durchaus »Gerichtskarrieren« von Beschuldigten möglich, die sich teilweise bis zu fünf Mal im Laufe ihrer Dienstzeit vor dem Divisionsgericht verantworten mussten.33
3. Rechtspraxis Die Wehrmachtjustiz war unter anderem darum bemüht, all jene Vorkommnisse strafrechtlich zu verfolgen, die nach Meinung der Militärs und Richter drohten, die Disziplin, Kampfkraft und Moral der Truppe zu unterlaufen und dadurch den Kriegsverlauf zu gefährden. Hierunter fassten sie vorrangig Entfernungs - und Zersetzungsdelikte sowie Fälle von Ungehorsam. Das Gericht agierte dabei stets in einem engen Austausch mit den Truppenvorgesetzten und orientierte sich an deren Tatberichten und Beurteilungen des Beschuldigten. Diese Beurteilungen waren zumeist erst nach dem Vorfall, also unter dem unmittelbaren Eindruck des Geschehenen, abgefasst worden. Sie fanden oft wortgetreuen Eingang in die Rechtsentscheidungen, was ein Indiz für ihren hohen Stellenwert ist. Die Richter gingen hier mitunter auch strategisch vor, da sie die Urteile den Truppenvorgesetzten zur Kenntnisnahme übermittelten, wenn es sich etwa um größere Fälle mit mehreren Angeklagten, schwerwiegende Vorkommnisse oder um Straftaten handelte, die in der Einheit für Aufsehen gesorgt hatten. Das Gericht stellte so sicher, dass die Truppe erfuhr, wenn eine Aburteilung in ihrem Sinne, den die Stellungnahme des Vorgesetzten oft darlegte, erfolgt war. Wenn der Truppenvorgesetzte eine harte Bestrafung forderte, wich der Richter nur selten davon ab, sondern griff Bestandteile des Positionspapiers in seiner Begründungsformel strafverschärfend auf.34 Eine zentrale Variable für die Rechtspraxis ist – mit Rekurs auf die Erfahrungen des Ersten Weltkriegs – in der Kategorie »Ansehen der Wehrmacht« zu sehen, welche die Richter vielseitig in ihren Urteilsbegründungen einsetzten. Grundannahme der Wehrmachtführung und Militärjustiz war es, dass die Bevölkerung ihr Bild von der Wehrmacht nicht vorrangig über die Frontsoldaten generierte, sondern über die Truppenverbände des Ersatzheers, die vor Ort in der Alltagssphäre der Zivilisten stationiert waren und denen sie damit im persönlichen Kontakt täglich begegneten. Das »Ansehen der Wehrmacht« sollte deshalb nicht durch deviante soldatische Verhaltensweisen oder eine vermeintlich als zu 32 33 34
Exemplarisch C III 7/40 ( BArch, RH 26/156G, 724/167); I 62/42 ( ebd., 802/1029); III 153/44 (BArch, RH 26/526G, 1471/517). Rund sechs Prozent der Angeklagten standen mindestens zwei Mal vor Gericht; knapp ein Prozent wurde drei bis fünf Mal verurteilt. Symptomatisch etwa die Strafsache III 114/43 ( BArch, RH 26/526G, 1483/718).
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milde interpretierbare Rechtspraxis gefährdet werden. Denn das Auftreten der Soldaten in der Öffentlichkeit galt der Wehrmacht als Anhaltspunkt für den Zustand der Disziplin innerhalb des militärischen Verbands und zugleich als Gewähr dafür, dass die Kriegsstimmung der Bevölkerung nicht wie 1918 zu Ungunsten des Militärs umschlug. Die Kategorie findet sich in den Urteilen deshalb nicht nur als zentrales, schützenswertes Rechtsgut wieder, sondern auch als Tatbestandsmerkmal und insbesondere als Strafschärfungsgrund – ähnlich, wie Christian Thomas Huber es etwa auch für die militärgerichtliche Rechtspraxis bei Straftaten gegen Zivilisten in den besetzten Gebieten festgestellt hat.35 Die Richter ermittelten den Grad der »Öffentlichkeit«, unter dem die Tat erfolgt war, und bemaßen den hieraus resultierenden Schaden für die Außenwirkung der Wehrmacht. So fiel ein Urteil bei ähnlich gelagerten Tatumständen oft schärfer aus, wenn der Vorfall sich öffentlich zugetragen hatte, etwa in einem Lokal oder auf offener Straße, als in einer eher privaten Zweier - Konstellation auf dem Kasernengelände. Den Angeklagten war die Wirkmächtigkeit des Images durchaus bewusst und manche machten es sich auch zu Eigen – allerdings oft nicht mit dem erhofften Effekt. So nutzte der Soldat Paul K. die Stationierung seiner Truppe inmitten der Kriegsgesellschaft nahe Aachen dazu, sich vor einem zwanzig Kilometer langen Übungsmarsch im Oktober 1942 zu »drücken«, wie er aussagte.36 Er suggerierte wiederholt, er habe eine Beinverletzung, die ihn stark hinken ließ. Sobald er während des Marsches Zivilisten erblickte, etwa in einer vorbeifahrenden Straßenbahn oder vor Geschäften im Ort, ließ er sich auf den Boden fallen und rief lautstark um Hilfe. Waren die Zivilisten außer Sichtweite, beteiligte sich K. wieder regulär an dem Marsch. Während der Angeklagte die Hilfeversuche seiner Kameraden abwehrte, äußerte er dabei gegenüber einer Gruppe von Frauen, die die Szene beobachtet hatte, wie es im Urteil hieß : »Zunächst habe er sich in Russland die Knochen kaputt schießen lassen und jetzt würde er in der Heimat geschunden und gequält [...]. Die Frauen schimpften darauf den Unteroffizier S. aus und forderten ihn auf, [ den Angeklagten ] K. mit einem Auto zur Kaserne zu schaffen.« Das Gericht wertete als ausschlaggebenden Strafgrund eben dieses Verhalten des Angeklagten vor der Bevölkerung und nicht etwa das Simulieren einer Krankheit oder die mögliche Schädigung der Truppenmoral, da »der Angeklagte [...] durch sein Verhalten wiederholt das Ansehen der Wehrmacht bei der Zivilbevölkerung aufs gröblichste geschädigt [ habe ]« und verurteilte den unbe-
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Vgl. Christian Thomas Huber, Die Rechtsprechung der deutschen Feldgerichte bei Straftaten von Wehrmachtssoldaten gegen Angehörige der Zivilbevölkerung in den besetzten Gebieten, Marburg 2007, S. 100–104. Hubers Studie hat methodische Schwächen und daraus resultierende Fehlschlüsse, liefert aber gerade im Hinblick auf die Begründungssystematik neue Erkenntnisse. Strafsache C 165/42 ( BArch, RH 26/156G, 736/325, Bl. 35).
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straften, 19 Jahre jungen Schützen wegen »Zersetzung der Wehrkraft« zu einer sechsmonatigen Gefängnisstrafe.37 Die Richter im Ersatzheer waren so mit einer Fülle des alltäglichen Lebens an der »Heimatfront« konfrontiert. Zu denken ist hier etwa an Zersetzungsdelikte, bei denen sich die Soldaten gegenüber Zivilisten kritisch bis abfällig über den Krieg, das NS - Regime und die Wehrmacht äußerten, oder an Eigentumsdelikte, bei denen Ortsbewohner zu den Geschädigten oder Abnehmern von Hehlerware zählten. Erweitern lässt sich die Aussage auf Gewalt - und Sexualstraftaten bis hin zu Verkehrsdelikten. Auch bei Entfernungsdelikten handelten die Richter die geduldeten Umgangsformen zwischen Soldaten und Zivilisten aus, etwa zur Art und zum Umfang von Hilfeleistungen der Bevölkerung gegenüber flüchtigen Wehrmachtangehörigen. Auch in den bei den Richtern oft unbeliebten, weil arbeitsaufwändigen Kriegswirtschafts - und Devisenvergehen thematisierte das Gericht wiederholt die zulässigen Formen von Handels - und Tauschbeziehungen zwischen Soldaten und Zivilisten, und versuchte auf diese Weise, Rahmenbedingungen für das Zusammenleben im Kriegsalltag zu definieren und implementieren. Etwas über ein Drittel der vor Gericht verhandelten Strafsachen machten Entfernungsdelikte aus, gefolgt von Eigentumsvergehen mit rund 24 und Ungehorsam mit fast zehn Prozent. Fälschungs - , Gewalttaten und »Diverses« lagen prozentual mit jeweils etwa sechs Prozent dicht beieinander.38 Entgegen der forcierten NS - Propaganda gegenüber Zersetzungsdelikten nahmen diese am gerichtlichen Geschäftsanfall im Sample unter fünf Prozent ein. Auffällig ist, dass die Gerichte Zersetzungssachen zumeist nicht aburteilten, sondern häufig einstellten, zuständigkeitsbedingt an andere Gerichte abgaben oder auf Freispruch entschieden.39 Die Freispruch - Quote ist mit zehn Prozent vergleichsweise hoch, wie aber auch der Anteil an Zuchthaus - und Todesstrafen wegen »Zersetzung der Wehrkraft« ( vgl. Tab. 1 und 2).40 Das Gericht ahndete jene Straftaten zwar im Vergleich durchschnittlich am strengsten, aber eben nicht in dem Maße, dass jede gemeldete Strafsache auch in einem Strafentscheid endete. Das Beispiel zeigt, dass die Wehrmachtjustiz in den einzelnen Deliktbereichen vielschichtig agierte und einen hohen Verwaltungsaufwand betrieb, oft aufgrund von Aktenabgaben oder infolge unklarer Zuständigkeiten. Nicht alle Meldungen und Anzeigen zu 37 38
39 40
Ebd., Zitate auf Bl. 36. Unter »Diverses« wurden u. a. Volltrunkenheit und Verkehrsdelikte subsumiert. Kriegswirtschaftsverbrechen (3,5 Prozent ), Sexualdelikte (2 Prozent ), o. A. (1,7 Prozent ), Amtsdelikte (0,3 Prozent ) und Verrat (0,1 Prozent ) vervollständigen die Deliktstruktur. Die Strafentscheidquote bei Zersetzungsdelikten lag bei 43 Prozent; Einstellungen und Abgabequote je fast ein Drittel; Freispruchquote rund zehn Prozent. Die Verurteilungen in der Zersetzungsdeliktgruppe weisen einen Spitzensatz von 25 Prozent Zuchthausstrafen und 9 Prozent Todesurteile auf. Die übrigen Werte der Bearbeitungswege verteilen sich auf »Erledigung auf andere Art« (2 Prozent ) und »ohne Angabe« (1 Prozent ).
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Die Wehrmachtjustiz der Ersatztruppen
einem besonders geächteten und propagandistisch - ideologisch besetzten Straftatbestand, wie es die »Zersetzung der Wehrkraft« war, mussten mithin zwangsläufig eine Verurteilung zur Folge haben. Kam es aber zu einer Verurteilung, dann schöpfte das Gericht hier nicht den gesamten Strafrahmen aus, sondern blieb in seinen Entscheidungen mehrheitlich weit oberhalb der möglichen Mindeststrafen. Tabelle 1: Erledigungsarten des Gerichts gegenüber Zersetzungsdelikten Urteilsspruch Strafverfügung Freispruch Abgabe zur disziplinaren Erledigung Einstellung gemäß § 20 KStVO Einstellung gemäß § 46 KStVO Einstellung gemäß § 47 KStVO Abgabe an andere Stelle Erledigung auf andere Art o.A.
Anzahl 159 9 52 0 3 113 14 164 11 6 531
% 29,94 1,69 9,79 0,00 0,56 21,28 2,64 30,89 2,07 1,13 100,00
Tabelle 2: Verhängte Strafarten bei Zersetzungsdelikten41 Sanktionsart Gefängnis Zuchthaus Todesstrafe geschärfter Arrest gelinder Arrest Geldstrafe Festungshaft Rangverlust Einweisung in eine Heil-/Pflegeanstalt
41
Anzahl 118 59 20 4 0 10 0 22 2 235
% 50,21 25,11 8,51 1,70 0,00 4,26 0,00 9,36 0,85 100,00
Die höhere Anzahl der Strafarten hängt mit der Rechenweise zusammen, Strafmaße, die in einem Verfahren gegen mehrere Angeklagte ausgesprochen wurden, separat zu zählen.
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4. Die personelle Gemengelage an den Gerichten Wer aber war an den Gerichten eigentlich tätig ? Ein abschließender Blick auf das Personal verstärkt den Eindruck der skizzierten Defensive des Ersatzheers, insbesondere auf der Ebene der Richterschaft und des Offizierskorps, was wehrmachtintern auf ein negatives Image und Ranking des Ersatzheers schließen lässt. So war es in den Feldtruppen während der ersten Kriegsmonate in einem derart starken Maße Usus, schlecht beurteilte oder unliebsame Frontoffiziere und Richter an das Ersatzheer abzuschieben, dass ein Befehl des Oberbefehlshabers des Heeres diese Praxis im Dezember 1939 unterband. Er verwies darauf, dass ungenügende Offiziere erst recht nicht für das Ersatzheer geeignet seien, aufgrund des hohen Stellenwerts, den die Wehrmacht der dortigen Ausbildung und Disziplinierung zuschrieb.42 Trotzdem blieb das Ersatzheer bei dem Gros der Richterschaft und Offiziere verpönt, bisweilen sogar unbeliebt und unerwünscht. Nach außen propagierte die Wehrmacht zwar stets gezielt das Bild eines einheitlichen Heeres, protegierte und förderte aber gleichzeitig den Heldenkult um die Frontkämpfer, etwa mittels eines differenzierten Systems an Ordensverleihungen und Ehrenzeichen, und ging in ihren Außendarstellungen selten gesondert auf das Ersatzheer ein. Dem militärischen Ehrenkodex wiederum zufolge war es die Lebensaufgabe eines jeden Wehrmachtangehörigen, sich vor dem Feinde im Kampfgeschehen zu bewähren, was der Dienst im Ersatzheer jedoch verwehrte. Bei einem Teil des untersuchten Personals war die Versetzung an das Ersatzheer Gericht daher lediglich als eine Erholungsphase für den nächsten Fronteinsatz und als kurze berufliche Zwischenstation akzeptiert, was die ohnehin schon problematische Personalfluktuation an den Gerichten verstärkte.43 Ein Teil der Richter empfand die Versetzung auch als Makel, Diskriminierung und Degradierung, die sie in ihren Versetzungsgesuchen und Beschwerden monierten. Diese Richter reagierten eher mit Unverständnis gegenüber jenen Kollegen, die sich wiederum dezidiert um eine Versetzung an ein Gericht des Ersatzheers bemüht hatten. Deren positive Bewertung des Postens hatte zumeist private Gründe, seien es etwa gesundheitliche Probleme oder der Wunsch, nahe dem familiären Umfeld oder in einer vermeintlich »ruhigeren« Dienststelle zu arbeiten.43
42 43
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Vgl. Befehl des Oberbefehlshabers des Heeres Walther von Brauchitsch, Nr. 6600/39 PA (2) Ia vom 12.12.1939 ( BArch, RH 53–7/ v. 709, unpag.). Zur Personalfluktuation in der Wehrmachtjustiz siehe Christoph Rass / René Rohrkamp, Dramatis Personae. Die Akteure der Wehrmachtjustiz. In : Ulrich Baumann / Magnus Koch (Hg.), »Was damals Recht war ...«. Soldaten und Zivilisten vor Gerichten der Wehrmacht, Berlin 2008, S. 95–112. Der Richter Heinrich Hehnen ( Division Nr. 526) ist hierfür ein Beispiel. Seine Biographie ist Bestandteil der Berliner Wanderausstellung »Was damals Recht war«, vgl. die Kurzbiographie im Begleitband : Baumann / Koch, Recht, S. 214.
Die Wehrmachtjustiz der Ersatztruppen
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In den Reihen des Personals an den Divisionsgerichten findet sich somit eine spannende Gemengelage.45 Über die Hälfte der insgesamt rund 120 Richter und Gerichtsherren gelangte aufgrund von Verwundungen, Krankheiten und / oder Altersgründen zur Schonung an eines der beiden Ersatzheer - Gerichte.46 Dies mündete in Generationskonflikte zwischen den älteren Mitgliedern, die zumeist bereits im Ersten Weltkrieg im Heeresjustizwesen tätig gewesen waren, und den jüngeren, nach 1900 geborenen Richtern, die ihre Ausbildung vermehrt im Nationalsozialismus durchlaufen hatten und ab 1942/43 an die Gerichte gelangten. Das Ersatzheer war für sie häufig Teil der Ausbildung, indem sie hier ihre Assessoren - Tätigkeit ausübten, oder ihre erste Stelle im Anschluss an die Assessoren - Prüfung erlangten. Darüber hinaus ebbte die Praxis, unliebsame Richter und Kommandeure von der Front auf einen Posten im Ersatzheer zu verbannen, nicht vollständig ab. Ein Teil des Personals war daher beinahe als »querulatorisch« zu bezeichnen : Offiziere, die etwa als zu ambitioniert oder auflehnend galten oder gar selbst disziplinarisch / militärgerichtlich wegen Vorfällen belangt worden waren und deshalb für ihre Feldeinheit untragbar geworden waren und an das Ersatzheer überstellt wurden.48 »Hardliner« runden das Personaltableau ab; sie sind vor allem in jenen Richtern und Gerichtsherren zu erblicken, die ab zirka 1943 nach ihrem Einsatz an der Ostfront zur Division Nr. 526 kamen.47 Ihre Erfahrungen und ihre Art der Rechtsprechung trugen mit dazu bei, dass die Zahl der Verurteilungen und die Strafmaße am Gericht anstiegen und die Urteilspraxis sich somit radikalisierte. Der Ausgang eines Verfahrens hing deshalb häufig davon ab, welche Personen - Konstellation in der Verhandlung tagte und welcher Generation diese angehörte.49 Konflikte bargen etwa das Gerangel um Expertise bei der rechtlichen Behandlung des Wehrmachtgefolges oder junger 45
46
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49
Aufgrund von Überlieferungslücken lassen sich nur Aussagen zu den Gerichtsherren und Richtern treffen. Es sind nur selten Personalunterlagen von den Urkundsbeamten des Fallbeispiels überliefert. Dokumente zu den übrigen Verwaltungsmitarbeiterinnen und - mitarbeitern fehlen nach bisherigem Kenntnisstand vollständig. Beispiel Richterschaft : 45 Prozent wegen Verwundung und / oder Krankheit; mindestens 19 Prozent aus Altersgründen; 12 Prozent erste Dienststelle; 5 Prozent untragbar in alter Dienststelle; 19 Prozent o. A. Ein Beispiel hierfür ist etwa der Richter Alexander Jänz, der an seiner früheren Feld - Dienststelle als Unruheherd galt. Clemens Naendrup und Willi Glasebock mussten sich vor einem Gericht des Ersatzheers für Straftaten ( militärischer Ungehorsam, Betrug ) verantworten, die sie während ihrer aktiven Soldatenzeit begangen hatten. So etwa Gerichtsherr Generalleutnant Hans Bergen und Richter Friedrich Wenz. Zu den Personen finden sich Fallbeispiel - Ausführungen in der Dissertation, die hier aus Platzgründen nicht wiedergegeben werden können. Inwiefern auch der Aspekt in der Rechtspraxis relevant ist, dass ein Teil der Richter aus gesundheitlichen und Altersgründen ungewollt nicht mehr selbst aktiv an der Front dienen konnte, wird derzeit noch untersucht. Interessant ist etwa die Frage, ob Richter, die einen Dienst im Feldheer favorisiert hätten, entsprechend rigider gegen Angeklagte vorgingen, die versucht hatten, sich dem Wehrdienst zu entziehen.
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Angeklagter sowie Fälle von Ungehorsam und unbefugten Tragens von Orden und Ehrenzeichen, da diese Deliktbereiche einerseits die militärischen Hierarchien betrafen und andererseits häufig um Fragen von Respekt und Ehre kreisten.
5. Fazit Die Ersatzheer - Gerichte besaßen im Zweiten Weltkrieg eine wichtige Scharnierfunktion zwischen der Wehrmachtführung, den Einheiten im Feldheer und der Zivilbevölkerung an der »Heimatfront« – einhergehend mit den vielen Berührungspunkten, die aus der Aufgabenfülle der Ersatztruppen für die Gerichte resultierten. Ihre zentrale Aufgabe war es nicht nur, den notwendigen Unterwerfungsdruck innerhalb des Militärs zu erzeugen, Straftaten zu ahnden und mit zu gewährleisten, dass die Wehrmacht im Krieg handlungsfähig blieb. Die »Erziehung« der Anklagten war vielmehr ebenfalls bedeutsam. Eine hohe Prägekraft besaßen dabei unter anderem die skizzierte spezielle Ausgangslage für das Ersatzheer und der Erfahrungshintergrund des Ersten Weltkriegs. Die Gerichte waren darüber hinaus sehr darum bemüht, das lokale »Ansehen der Wehrmacht« zu schützen und auf das Verhalten der Wehrmachtangehörigen und Zivilisten im Kriegsalltag einzuwirken. Tagtäglich verhandelten die Richter und Gerichtsherren neu, welche Normverletzungen sie vor Ort tolerierten, welche Mitglieder sie in die Wehrgemeinschaft inkludierten und welche sie vorübergehend oder endgültig mittels der Todesurteilspraxis ausschlossen und wen sie in den Strafvollzug überführten. Die Wehrmachtrichter agierten dabei keineswegs willkürlich, sondern rückgekoppelt an die bestehenden Rechtsnormen und Verordnungen sowie innerhalb der personal, situativ und lokal geprägten Kontexte, die ein Bündel an Faktoren für den Ausgang eines Verfahrens bedeuteten. Entscheidend konnte etwa auch sein, welcher Straftatbestand zu welcher Kriegsphase unter einem besonderem Strafverfolgungsdruck und der individuellen Bewertung der Richter und Gerichtsherren stand. So rekurrierte der Richter im zitierten Eingangsbeispiel zwar strafmildernd auf die Zugehörigkeit des Angeklagten zum Ersatzheer, um seine Entscheidung für die Mindeststrafe zu begründen. Er führte aber im nächsten Satz gleichzeitig aus, dass »die Disziplin schärfste Ahndung derartiger Disziplinwidrigkeiten [ erfordere ]«.50 Im September 1940 verstand der zitierte Richter unter der Abschreckungsstrafe in jenem Fall, im unteren Teil des Strafrahmens zu bleiben. Im weiteren Kriegsverlauf und je nach Gerichtszweigstelle, Richter und Gerichtsherr hätte die Strafbemessung aber auch weit höher ausfallen können. 50
Strafsache C III 501/49 ( BArch, RH 26/156G, 768/688, unpag.).
Albrecht Kirschner »Asoziale Volksschädlinge« und »Alte Kämpfer«. Zu Handlungsmöglichkeiten der Wehrmachtrichter im Zweiten Weltkrieg
Die Kriegsgerichte des NS - Regimes urteilten während des Zweiten Weltkriegs überwiegend sehr hart. Bis weit in die 1980er Jahre finden sich aber in apologetischen Publikationen über die NS - Justiz bzw. die NS - Militärjustiz immer wieder Passagen über »milde« bzw. »nachsichtige« Urteile aus der Praxis der Wehrmachtgerichte.1 Einige der dort angeführten Einzelfälle scheinen nicht zwingend beschönigend oder gar sinnentstellend dargestellt. Abgesehen von teilweise fehlenden, unzuverlässigen oder ungenauen Quellenangaben ist aber der Stellenwert solcher Urteile jenseits der individuellen Auswirkungen in Bezug auf die Gesamtheit meist weit übertrieben. Trotzdem verweisen diese Urteile auf ein bedeutendes Faktum, nämlich darauf, dass die Richter, die tausende von Todesurteilen fällten, durchaus Handlungsspielräume hatten. Im Folgenden will ich einige dieser Handlungsmöglichkeiten sowie anschließend deren Nutzung in der Praxis des Marburger Feldkriegsgerichts aufzeigen.2 Dabei kann ich keinen Anspruch 1
2
Vgl. z. B. Otto Peter Schweling, Die deutsche Militärjustiz in der Zeit des Nationalsozialismus. Hg. und bearbeitet von Erich Schwinge, 2. Auflage Marburg 1978, beispielsweise S. 258 f., 291, 293, 380, 384, 386. Insgesamt liegen im Bestand BArch, Pers. 15 zu knapp 1300 kriegsgerichtlichen Verfahren des Marburger Feldkriegsgerichts Unterlagen vor, wobei die Überlieferung zum Gericht der Division Nr. 409 mit Unterlagen zu über 1 050 Verfahren weit umfangreicher ist als jene zum Gericht der Division Nr. 159. Der Umfang und die Qualität dieser Unterlagen ist sehr unterschiedlich : Sie reichen von einem Dokument, wie z. B. einer gerichtlichen Einstellungsverfügung, bis hin zu umfangreichen Ermittlungsakten. Hinweise auf Verfahren des Marburger Gerichts gehen insbesondere auch aus den Beständen BArch, RW 11–II, BArch, R 3001, Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden ( HHStAW ), Abt. 458a, Hessisches Hauptstaatsarchiv Marburg ( HStAM ), 327/1 und Unterlagen des Standesamtes Schwarzenborn hervor. In diesen Überlieferungen von beispielsweise Sterbeurkunden, Hinrichtungslisten, Parteiausschlussverfahren, Strafsachenlisten finden sich entsprechende, auf die Gerichtstätigkeit verweisende Vermerke. Für eine umfassende Erforschung und Bewertung des Gerichts sind darüber hinaus 120 Sachakten und Strafsachenlisten aus dem Bestand BArch, RW 60 relevant. Eine erste Analyse, die damals Pioniercharakter hatte, wurde aus den Reihen der Geschichtswerkstatt Marburg 1994 vorgelegt : Michael Eberlein / Roland Müller/Michael Schöngart/Thomas Werther, Militär-
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Albrecht Kirschner
auf Vollständigkeit erheben, weder was die juristischen Möglichkeiten, noch was die Rechtspraxis in Marburg betrifft. Dies betrifft auch die Bewertung der individuellen Nutzung der Handlungsmöglichkeiten durch einzelne Richter. Im Oktober 1939 – das genaue Datum und der Grund hierfür sind nicht bekannt – wurde das ursprünglich zur 9. Division gehörende Gießener Feldkriegsgericht nach Marburg verlegt.3 Das Marburger Kriegsgericht war ein relativ kleines Gericht des Ersatzheeres, das vor allem in Mittelhessen tätig war. Es bestand unter verschiedenen Bezeichnungen4 bis zum 28. März 1945, dem Tag der Befreiung Marburgs durch die US - Army. Die mehrfachen Umgruppierungen hatten im Falle Marburgs nicht zur Folge, dass der konkrete Gerichtsstandort geändert, das Personal abrupt abgezogen oder die allgemeinen oder Verfahrensakten neu angelegt wurden.5 Da das Gericht zudem keine Spezialzuständigkeiten besaß6 und ( fast ) die gesamte Kriegszeit tätig war, eignet es sich gut, um den Alltag eines Gerichts des Ersatzheeres zu analysieren. Im angegebenen Zeitraum führte das Marburger Kriegsgericht ca. 6 300 Strafverfahren in eigener Zuständigkeit durch und überwachte mehr als 500 disziplinarische Bestrafungen nach § 16a Kriegsstrafverfahrensordnung ( KStVO ).7
3
4
5 6
7
justiz im Nationalsozialismus. Das Marburger Militärgericht. Hg. von der Geschichtswerkstatt Marburg e. V., Marburg 1994. Eine weitere Studie, die auch das Thema dieses Aufsatzes in den Blick nimmt, wird derzeit durch den Verfasser erarbeitet. Mit der Generalmobilmachung vom 26. 8. 1939 wurde die 9. Division an die Westgrenze des Deutschen Reiches verlegt. Die verbliebenen Ersatztruppen wurden unter der Dienststelle »Kommandeur der Ersatztruppen IX« zusammengefasst und ein entsprechendes Gericht eingerichtet. Im November 1939 wurde aus der Dienststelle »Kommandeur der Ersatztruppen IX« die 159. Division gebildet, die im Januar 1940 zur Division Nr. 159 umgruppiert wurde. Als diese Division zum 1. September 1942 nach Frankreich verlegt wurde, übernahm die in Kassel aufgestellt Division Nr. 409 z. B. V. unter Wegfall des Zusatzes z. B. V. deren Funktion als Kommandobehörde der in diesem Bereich stationierten Truppenteile. Aufgrund dieser Kontinuitäten ordne ich die Analyse im Folgenden auch einem einzigen Gericht zu, nicht, was formal korrekter wäre, mehreren Gerichten. Die ab 1. September 1942 bestehende militärgerichtliche Zuständigkeit für die Sonderabteilung IX H in Schwarzenborn und für das Kriegsgefangenenstammlager ( Stalag ) IX A in Ziegenhain fällt etwas aus dem Rahmen. Sie beruht auf der allgemeinen räumlichen Zuständigkeit des Gerichts, was hier nicht weiter ausgeführt werden kann. § 16a KStVO wurde mit der 5. Durchführungsverordnung zur KStVO am 11.11.1939 eingefügt. Vgl. RGBl. 1939 I, S. 2264. Die neue Bestimmung regelte, dass bei ausreichend klarer Sachlage und relativ geringer Schuld des Täters sowie bei geringen Folgen der eigentlich kriegsgerichtlich zu verfolgenden Tat der Disziplinarvorgesetzte ermächtigt wird, das Verfahren disziplinarisch zu erledigen ( § 16a Abs. 1 KStVO ). Der Disziplinarvorgesetzte musste dann dem Gerichtsherrn bzw., wie in Marburg geschehen, dem damit vom Gerichtsherrn beauftragten Kriegsgericht, eine entsprechende Meldung vorlegen ( § 16a Abs. 2 KStVO ). Wurde die disziplinarische Erledigung als nicht sachgerecht bewertet, musste ein kriegsgerichtliches Verfahren eingeleitet werden ( § 16a Abs. 3 KStVO ).
Zu Handlungsmöglichkeiten der Wehrmachtrichter
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1. Unabhängigkeit der Richter : Grundsätzliches Die Kriegsrichter waren dem Gesetz nach, also formal »unabhängig«.8 Diese in der KStVO festgehaltene richterliche Unabhängigkeit wurde jedoch durch den Aufbau der Militärjustiz strukturell wieder in Frage gestellt : Da ist zunächst die Unterstellung der Richter unter den Gerichtsherrn, den militärischen Befehlshaber, anzuführen. Erst durch dessen Bestätigung wurde ein Urteil rechtskräftig.9 Zudem waren die »richterlichen Militärjustizbeamten« nicht nur als Richter am Gericht tätig, sondern – in anderen Verfahren – als Anklagevertreter oder richterliche Gutachter über Urteile anderer Kriegsrichter. In diesen Funktionen waren sie ihrem Vorgesetzten, dem Gerichtsherrn – befehlsmäßig und weisungsgebunden – unterstellt. Darüber hinaus existierten mehrere Kontroll - und Lenkungsinstrumente über die Tätigkeit der Richter. Zu nennen sind zum einen die Instanz des Oberstkriegsgerichtsrats im Dienstaufsichtsbezirk, der die Urteile kontrollierte, ferner die mehr oder weniger regelmäßig stattfindenden Richterbesprechungen, die sowohl in Berlin beim Oberkommando des Heeres als auch in Kassel beim Oberstkriegsgerichtsrat des Dienstaufsichtsbezirks 2 stattfanden, sowie die vom Reichsjustizministerium herausgegebenen Richterbriefe, die ab Oktober 1942 als Leitlinien für eine regimekonforme Rechtsprechung dienen sollten.10 Eine wirkliche Unabhängigkeit der Richter, wie wir sie aus dem demokratischen Rechtsstaat kennen, war damit ausgeschlossen.11 Im Stab einer Division, deren Kommandeur auch der Gerichtsherr war, war die Abteilung III – das Kriegsgericht – die juristische »Expertenstelle«, die ihren Chef beriet und damit auch beeinflusste. So konnten die Kriegsrichter »ihren« Gerichtsherrn bei juristischen Fragen, beispielsweise bei Subsumtion und Strafmaß, durchaus beeinflussen und sich einen Spielraum öffnen. Oberfeldrichter Heinrich Hehnen steht in diesem Zusammenhang für die Abmilderung von Urteilen : Als leitender Richter der Division 526 trat er offensichtlich häufig für Strafmilderungen der an seinem Gericht gefällten Urteile ein, indem er darauf hinwirkte, dass die Strafen nicht als Gefängnishaft, sondern als Arrest vollzogen werden sollte. Im Herbst 1944 warfen ihm vorgesetzte Stellen der Heeresjustiz vor, die Vorgaben der politischen und militärischen Führung nicht umzusetzen. Hehnen verlor deshalb seine Funktion als leitender Richter und wurde an ein Militärgericht in Hagen ver-
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Vgl. § 7 Abs. 2 KStVO ( RGBl. 1939 I, S. 1457, hier 1459). Vgl. §§ 76, 77 und 79 Abs. 2 KStVO. Adressaten dieser Richterbriefe waren vor allem die Richter der allgemeinen Justiz, sie waren jedoch auch in der Militärjustiz verbreitet. Vgl. z. B. für das Reichskriegsgericht BArch, M 1014, Akte 4, und die fast komplette Sammlung des Gerichts der Division Nr. 177 ( Wien ) ( BArch, RH 14, Nr. 28, 3. Teilband ). Vgl. auch Heinz Boberach ( Hg.), Richterbriefe. Dokumente zur Beeinflussung der deutschen Rechtsprechung 1942–1944, Boppard am Rhein 1975. Vgl. Manfred Messerschmidt, Die Wehrmachtjustiz 1933–1945, Paderborn 2005, S. 93 f.
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setzt.12 Ganz anders verhielt sich Oberfeldrichter Karl Everts, der seit Oktober 1941 am Gericht der Division Nr. 177 in Wien eingesetzt war und Anfang 1944 dort zum Divisionsrichter aufstieg. Er stand für eine brutale Verfolgung von Selbstverstümmlern, die er mit großem Aufwand ermittelt und wahrscheinlich zum Teil mittels Folter zu Geständnissen brachte. In über einem Drittel der 90 von ihm bearbeiteten Fälle beantragte er die Todesstrafe.13
2. Handlungsspielräume Eine wichtige Möglichkeit für Richter, in ihrer Entscheidungsfindung Handlungsspielräume zu nutzen, war das Strafmaß. Stellte ein Kriegsrichter fest, dass die Tathandlungen für Fahnenflucht »im Felde« vorlagen, dann konnte er nach § 70 Militärstrafgesetzbuch ( MStGB ) eine Strafe zwischen 1 und 15 Jahre, lebenslanges Zuchthaus oder die Todesstrafe verhängen. Die Todesstrafe war für Fahnenflucht also keineswegs zwingend, sie war noch nicht einmal die einzige Regelstrafe. Der Erlass Hitlers für die Strafzumessung bei Fahnenflucht vom April 1940 verdeutlichte den Kriegsrichtern diesen Sachverhalt insofern, als mit ihm klar gestellt wurde, dass es Fälle gäbe, in denen die Todesstrafe nicht angemessen sei – z. B. bei jugendlichem Leichtsinn oder schwierigen häuslichen Verhältnissen.14 Auch bei der Subsumtion von Tathandlungen unter eine Strafnorm bestanden Handlungsmöglichkeiten. Als Beispiel hierfür kann wiederum die Desertion herangezogen werden : Unerlaubte Entfernung unterschied sich von Fahnenflucht insbesondere in der Absicht der Tathandlung : Hatte der Beschuldigte bzw. der Angeklagte die Absicht, sich vorübergehend dem Wehrdienst zu entziehen, dann lag eine unerlaubte Entfernung vor. Hatte er aber die Absicht, sich dauerhaft vom Militär zu entfernen, stellte dies den Tatbestand der Fahnenflucht dar.15 Diese Absicht war häufig nicht in den Tathandlungen selbst zu erkennen und unterlag damit der Einschätzung des Ermittlers oder Richters. Das Opportunitätsprinzip besagt, dass ein Verfahren dann eingestellt werden kann, wenn zwar eine strafbare Tathandlung vorliegt, aber z. B. die Schuld des Täters gering ist. Diese Regelung kannte mit §§ 46 Abs. 1 und 47 KStVO auch die NS - Militärjustiz im Krieg. Vom Marburger Feldkriegsgericht wurde diese Möglichkeit der Einstellung eines Verfahrens kaum genutzt. 12 13 14 15
Vgl. Ulrich Baumann / Magnus Koch ( Hg.), »Was damals Recht war ...«. Soldaten und Zivilisten vor Gerichten der Wehrmacht, Berlin 2008, S. 214 f. Vgl. ebd., S. 216 f. Vgl. Art. II der Richtlinien des Führers und Obersten Befehlshabers der Wehrmacht für die Strafzumessung bei Fahnenflucht vom 14.4.1940. In : H.Dv. 3/1, Berlin 1940, S. 15. Vgl. §§ 64 und 69 MStGB.
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Mit § 1 Abs. 3 KStVO wurde den Kriegsrichtern ein »pflichtgemäßes Ermessen« bei offenen Verfahrensfragen eingeräumt. Dieser Ermessensspielraum ist auf dieser Ebene an sich nicht typisch für das NS - Rechtssystem, sondern findet sich auch in unserem rechtsstaatlichen Rechtssystem wieder. Entscheidend ist hierbei die Frage, wie diese Möglichkeit genutzt wurde, ausschlaggebend also ist die Praxis, auf die ich weiter unten zurückkommen werde. Eine kriegsspezifische Entscheidungsmöglichkeit wurde den Richtern mit § 20 KStVO zugesprochen. Damit konnte das Ermittlungsverfahren bis Kriegsende ausgesetzt werden, wenn z. B. keine »unehrenhafte Gesinnung« erkennbar sei und »militärische Belange nicht gefährdet werden«.16 Beide Kriterien stellten nicht unbedingt hart nachweisbare Fakten dar : Richter bewerteten die Umstände entsprechend ihres Eindrucks, meist nach Aktenlage. Zwar war im Nationalsozialismus die Tätertypenlehre am deutlichsten wirksam, sie war aber nicht wirklich NS - spezifisch : In den Zeiten davor und danach, teils auch heute noch, war sie durchaus virulent, jedoch nie so wirkmächtig, wie unter dem NS - Regime. Nach der Tätertypenlehre können Angeklagte auch dann verurteilt werden, wenn die Tat an sich nicht ausreichend nachgewiesen ist, aber dem Angeklagten als Typ diese Tat zuzutrauen sei.17 Beispielhaft können Sinti und Roma, zeitgenössisch als »Zigeuner« bezeichnet, angeführt werden : Ein angeblicher Wandertrieb hält sie nirgendwo lange, so das Klischee. Entfernte sich also ein Sinto oder Rom von seiner Wehrmachtseinheit, so war unabhängig von der tatsächlichen Absicht von einer dauerhaften Entfernung auszugehen, da eine solche Person sich nach den rassistischen Vorurteilen angeblich der militärischen Disziplin nicht unterordnen konnte – ein Tätertyp des Fahnenflüchtigen. Mit der Verkehrung des Analogieverbots in ein Analogiegebot tritt klar die nationalsozialistische Rechtsauffassung hervor : Während der Rechtsstaat nur bestimmte, ausdrücklich benannte Tathandlungen unter Strafe stellt, beschlossen die Nationalsozialisten 1935 eine Änderung des § 2 Reichsstrafgesetzbuch (RStGB ).18 Demnach musste eine als Straftat angesehene Tathandlung auch dann bestraft werden, wenn sie nicht ausdrücklich strafbedroht ist. Wenn das »gesunde Volksempfinden« dies erfordere, sollte, so das NS - Recht fürderhin, einfach die nächstliegende Strafnorm analog angewendet werden. Hiermit waren im Sinne der NS - Ideologie fundamentale rechtsstaatliche Grundsätze gebrochen worden. Die Anwendung dieser Norm ist mir aus der Praxis der Wehrmachtjustiz nicht 16 17
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Nr. 4 Abs. 1, Ziffer 1 der ersten Durchführungsverordnung zur KStVO ( RGBl 1939 I, S. 1477). Näheres zur Tätertypenlehre mit weiteren Angaben im Exkurs zum Tätertypenstrafrecht in Albrecht Kirschner, Wehrkraftzersetzung. In : Wolfgang Form / Wolfgang Neugebauer / Theo Schiller ( Hg.), NS - Justiz und politische Verfolgung in Österreich 1938–1945. Analysen zu den Verfahren vor dem Volksgerichtshof und dem Oberlandesgericht Wien, München 2006, S. 405– 748, hier 504–512. Vgl. Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuchs vom 28.6.1935 ( RGBl. 1935 I, S. 839).
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bekannt. Das war auch insofern nicht wirklich nötig, als man sich für den Kriegsfall anderweitig vorbereitet hatte. In der Kriegssonderstrafrechtsverordnung (KSSVO ),19 besonders § 5 KSSVO, sind sowohl die Straftatbestände als auch die jeweiligen Strafrahmen außerordentlich offen gehalten. Wer sich dem Wehrdienst entzog, sollte »Wehrkraftzersetzung« begangen haben, und zwar nicht nur über ( relativ ) bestimmte Tathandlungen, wie »Selbstverstümmelung« oder »Täuschung«, sondern auch »auf sonstige Weise«. Zwar wird hier als Regelstrafe die Todesstrafe festgelegt, aber der minder schwere Fall öffnete den Strafrahmen von einem Tag Gefängnis bis zur Todesstrafe. § 5 KSSVO stellte eine der typischen terroristischen Normen des NS - Rechts dar, die den Richtern große Freiräume in alle Richtungen gab.20 Schließlich ist noch eine Metaebene von Handlungsspielräumen zu erkennen, die über die beschriebenen Mechanismen teils erhebliche Auswirkungen auf die Gerichtstätigkeit hatte. Die Wehrmacht war bekanntlich nicht die außerhalb des NS - Regimes stehende, gar oppositionelle Institution, die manche Apologeten in ihr gerne erkennen.21 Sie war vielmehr ein Teil und eine tragende Säule des Regimes. Das zeigte sich auch an zwei Punkten bezüglich der Kriegsgerichtsbarkeit : Zum einen wurden die Kriegsgerichte mit § 1 Abs. 1 KStVO auf die politische Zielsetzung des NS - Regimes hinsichtlich des Kriegszwecks eingeschworen. Dort heißt es, dass das vereinfachte kriegsgerichtliche Verfahren nicht nur zur Sicherung der Wehrmacht eingeführt wurde – genauer ausgedrückt der Kampfkraft der Wehrmacht; gängige Funktion der Militärjustiz in allen größeren Armeen. Dem Wortlaut der Verordnung nach diente es auch der Sicherung des Kriegszwecks. Dieser bestand in der Vernichtung des europäischen Judentums, der Ausschaltung der politischen Gegner sowie der Unterjochung Europas unter das nationalsozialistische Deutschland. Angenommen, diese Vorgabe wurde auch umgesetzt, wäre ernsthaft zu prüfen, ob nicht alle Urteile der Feldkriegsgerichte als nationalsozialistisches Unrecht zu bewerten sind. Zum anderen erfolgte nach dem gescheiterten Versuch in den 1930er Jahren, ein eigenes Strafgesetzbuch für die Wehrmacht in Kraft zu setzen, die »Gleichschaltung« mit der Neufassung des 19 20 21
Verordnung über das Sonderstrafrecht im Kriege und bei besonderem Einsatz ( Kriegssonderstrafrechtsverordnung ), vgl. RGBl. 1939 I, S. 1455. Näheres zu § 5 KSSVO mit weiteren Angaben in Kirschner, Wehrkraftzersetzung, hier S. 405– 425 und 744–748. Vgl. beispielsweise Ernst Roskothen, Groß - Paris 1941–44. Ein Wehrmachtrichter erinnert sich. 3. Auflage Tübingen 1989, S. 176 f.; Franz W. Seidler, Die Militärgerichtsbarkeit der Deutschen Wehrmacht 1939–1945, München 1991, S. 37; sowie prominent und meinungsbildend Schweling / Schwinge, Die deutsche Militärjustiz. Deutliche Kritik an letzterem Werk in Manfred Messerschmidt / Fritz Wüllner, Die Wehrmachtsjustiz im Dienste des Nationalsozialismus. Zerstörung einer Legende, Baden - Baden 1987;Michael Stolleis, »Hart, aber gerecht«. Die Wehrmachtsjustiz im Dienste des Nationalsozialismus. In : ders., Recht im Unrecht. Studien zur Rechtsgeschichte des Nationalsozialismus, 2. Auflage Frankfurt a. M. 2006, S. 221–232.
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MStGB vom 10. Oktober 1940. In der Begründung dazu heißt es ausdrücklich, die »alten Normen« sollten im Geiste des Nationalsozialismus angewandt werden.22 Ich komme nun zu einigen Beispielen für die konkrete Umsetzung dieser Handlungsmöglichkeiten durch die Richter des Marburger Feldkriegsgerichts. Der erste Fall steht hier für den »asozialen Tätertyp« des »Verbrechers«. Wolfgang F. war in seiner Jugend mehrfach wegen kleinerer Delikte – Veruntreuung, Diebstahl und Betrug – verurteilt worden. Deshalb wurde er im Mai 1942 nicht zu einer regulären Einheit eingezogen, sondern zur Sonderabteilung XII Grafenwöhr. Die dortige brutale Disziplinierung veranlasste ihn, zu fliehen. Er schlug sich mit illegalen Radioreparaturen und mit erneuten Betrügereien durch. Mehreren Frauen versprach er die Ehe und bekam von diesen Geldbeträge und Wertstücke ( insgesamt RM 1 900,– und eine Uhr ). Am 28. September 1944 wurde er zum Tode verurteilt. Begründend führte der Richter aus : »Als Strafe kann in dem vorliegenden Falle bei Berücksichtigung aller in Betracht kommenden Umstände einzig und allein die Todesstrafe in Frage kommen. Wer in einer Zeit, da das Deutsche Volk in einem Kampf auf Leben und Tod steht, seine soldatischen Pflichten derart vergisst, wie es der Angeklagte getan hat, stößt sich selbst aus der Volksgemeinschaft aus. Sein Vorleben und insbesondere seine früheren Straftaten lassen erkennen, dass es sich bei ihm um einen zum Verbrechen neigenden, asozialen Menschen handelt.«23 Diese Begründung zeigt, wie gut die nationalsozialistische Ideologie an sozialdarwinistisch - autoritäre Weltsichten anknüpfen konnte : Ein paar geringfügige Vorstrafen machten F. zum »asozialen« Tätertypen des »Verbrechers«, der sich durch seine Flucht vor der Brutalität und dem Drill der Sonderabteilung abseits der propagierten »Volksgemeinschaft« stellte. F. galt dem Gericht als wertloser Mensch, bei dem es sich nicht einmal lohnte, die finale Strafart zu diskutieren. Ähnlich ideologisch aufgeladen erscheint der Umgang des Marburger Feldkriegsgerichts in folgendem Fall : Friedrich H., so stellte das Gericht fest, kehrte aus einem Wochenendurlaub nicht zu seiner Truppe zurück. Stattdessen erschwindelte er sich mit falschen Angaben zur Kameradschaft mit kurz zuvor umgekommenen Soldaten bei deren Angehörigen Essen und einige Zigaretten. Wegen Bettelns vorbestraft, musste er, so die Richter, besonders schwer bestraft werden. Da er zudem seine Taten in Uniform begangen hatte, und er somit den Kriegszustand ausgenutzt habe, wurde er wegen unerlaubter Entfernung und
22 23
Vgl. Begründung der Verordnung über die Neufassung des MStGB vom 10. 10. 1940 ( BArch ZNS, Bestand WR, Ordner II ). Urteil StL III 262/44 des Gerichts der Division 409, Zweigstelle Marburg, S. 3. ( BArch, Gericht der Division Nr. 409, Nr. 746).
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Betruges als »Volksschädling« zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt.24 Feldkriegsgerichtsrat Ludwig Daudt nutzte hier das Instrument der »Volksschädlingsverordnung« ( VVO ), um gegen einen sogar teilweise geständigen Soldaten ein möglichst hohes Strafmaß zu erzielen. Mit § 4 der VVO wurde der Strafrahmen für nahezu alle Delikte bis zur Todesstrafe geöffnet, »wenn dies das gesunde Volksempfinden wegen der besonderen Verwerflichkeit der Straftat erfordert.«25 Irgendwelche eindeutig begrenzenden genauen Definitionen sind nicht vorgegeben : Es lag faktisch im »pflichtgemäßen Ermessen« hier des Kriegsrichters, diese Norm »im Geist der nationalsozialistischen Rechtsanwendung« umzusetzen oder eben nicht. Helmut L., Jahrgang 1926, kam bereits mit 16 Jahren mit der Justiz in Konflikt und wurde wegen Arbeitsverweigerung und diverser kleinerer Diebstähle 1943 zu fünf Monaten Gefängnis verurteilt. Im Alter von 17 Jahren zur Wehrmacht eingezogen, fiel er wiederum auf, indem er die Sperrstunde überschritt. Dafür erhielt er drei Tage Arrest. Kurz darauf war er erneut unerlaubt in der Stadt Siegen unterwegs und wurde per Strafverfügung zu sechs Wochen geschärftem Arrest verurteilt. Diese Strafe wurde zur Frontbewährung ausgesetzt. L. war immer noch nicht volljährig. Bevor er zur Front abgestellt wurde, teilte er seiner Mutter mit, dass er »keine Lust auf das Militär« mehr habe und machte sich erneut aus der Kaserne davon. Seine Mutter, zu der er gegangen war, rief einen Unteroffizier herbei, um ihren Sohn wieder zur Wehrmacht bringen zu lassen. Dieser Verhaftung entzog sich Helmut L. jedoch. Schließlich doch festgenommen, gab er vor Gericht zu, nicht die Absicht gehabt zu haben, zur Wehrmacht zurück zu kehren – einer der seltenen klaren Fälle von Fahnenflucht. Das Marburger Gericht verurteilte ihn zum Tode – trotz seiner Jugend.26 Hätte der Richter gewollt, hätte er die Strafe mit dem Jugendgerichtsgesetz27 oder unter Anwendung des »Führererlasses« vom April 1940 mit der Begründung, die Tat sei jugendlichem Leichtsinn geschuldet, leicht mildern können. Trotzdem wurden wiederum die Vorstrafen herangezogen, um den Angeklagten zum »Asozialen« zu stempeln, der sich an keine Ordnung und Disziplin gewöhnen könne. Den offensichtlichen Handlungsspielraum nutzt der Richter nicht. Damit steht 24 25 26 27
Vgl. Urteil StL I 54/42 des Gerichts der Division 409, Zweigstelle Marburg. ( BArch, Gericht der Division Nr. 409, Nr. 787). Vgl. § 4 Verordnung gegen Volksschädlinge vom 5.9.1939 ( RGBl. 1939 I, S. 1679). Vgl. Urteil StL III 199/44 des Gerichts der Division Nr. 409, Zweigstelle Marburg. ( BArch, Gericht der Division Nr. 409, Nr. 209). Nach § 50 MStGB war zwar dem Grundsatz nach eine Anwendung des Jugendgerichtsgesetzes ausgeschlossen, jedoch tauchten in der konkreten Rechtspraxis immer wieder Fragen auf, inwieweit dieser Grundsatz anzuwenden sei. Vgl. z. B. Erich Schwinge, Militärische Ehrenstrafen bei jugendlichen Soldaten. In : Zeitschrift für Wehrrecht ( ZWR ), Band 6 (1941/42), S. 543–545; Werner Hülle, Das neue Jugendstrafrecht in der Wehrmachtgerichtsbarkeit. In : ZWR, Band 8 (1943/44), S. 437–446, insbesondere 438 f.
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auch dieses Urteil dafür, dass ungenutzte Handlungsspielräume Menschenleben kosten konnten. Dass sich rassistische Klischees aber auch zugunsten des Angeklagten auswirken konnten, erlebte Johannes J. bei seiner Verurteilung vom 13. April 1943 wegen unerlaubter Entfernung zu vier Jahren Gefängnis. An der Ostfront geriet J. mit seiner Truppe im September 1942 in verlustreiche Gefechte und war beim Sammeln der Einheit nicht unter den Anwesenden. Im Gegensatz zur Annahme des Kompanieführers, der von J.s Tod ausging, war dieser in sowjetische Kriegsgefangenschaft geraten. Nach etwa vier Wochen konnte er von dort fliehen und kam mit Güter - und Fronturlauberzügen bis Berlin. Von dort lief er ins hessische Friedberg zu seiner Familie. Spät abends am 6. Januar 1943 traf er dort ein, verbrachte die Nacht bei seiner Frau und seinen drei Kindern. Am folgenden Vormittag meldete er sich beim Wehrmeldeamt Friedberg. Während der Ermittlungen stellte sich heraus, dass Johannes J. aus einer Sinti - Familie stammte und nach einem Rassegutachten des Reichsgesundheitsamtes als »Halbzigeuner« zu gelten habe. Zwar wurde er noch während des Ermittlungsverfahrens aus der Wehrmacht ausgeschlossen, aber da er als regulärer Wehrmachtsoldat desertiert war, blieb das Marburger Kriegsgericht zuständig. Angeklagt wurde J. wegen Fahnenflucht. Dem folgte das Gericht indes nicht. Vielmehr glaubte es der Version J.s, dem – in den Worten des Gerichts – als »Halbzigeuner das Herumwandern nichts ausmache«, dass er nur seine Familie wieder sehen und sich dann stellen wollte. Trotz der relativ langen Abwesenheitsdauer von Ende September 1942 bis Januar 1943 nahm das Gericht eine unerlaubte Entfernung und nicht Fahnenflucht an. »Bei der Bemessung der Strafe war strafmildernd zu berücksichtigen, dass der Angeklagte sich unverzüglich nach seinem Eintreffen in Friedberg gemeldet hat, und dass er ein des Lesens und Schreibens unkundiger Halbzigeuner ist.«28 Rassistische Klischees wirkten sich hier strafmildernd aus. Abgesehen davon, dass dieses Verfahren eines der außerordentlich seltenen, bekannten Verfahren gegen einen Sinto ist, hat der Richter des Marburger Kriegsgerichts seine Handlungsspielräume zugunsten von Johannes J. genutzt. Bataillonskommandeur Major A. begrüßte gegen Kriegsende einige in seine Heereseinheit überstellte Luftwaffensoldaten mit der Bemerkung, dass für diese nun das »Soldatentum des weißen Hemdkragens« ein Ende habe. Als Heeressoldaten, die die Hauptlast des Krieges tragen würden, so A. in Anspielung auf die Vorstellung von Luftwaffensoldaten als »Weiße - Kragen« - Soldaten, dürften sie nun keine Scheu mehr vor dem Dreck haben. Die Begrüßungsrede stieß einem Major A. unterstellten Offizier übel auf. Er denunzierte seinen Vorgesetzten, sodass der Oberbefehlshaber der Luftwaffe, Hermann Göring, Strafantrag 28
Urteil StL II 11/43 des Gerichts der Division Nr. 409, Zweigstelle Marburg, S. 4 ( BArch, Gericht der Division Nr. 409, Nr. 275).
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wegen »Zersetzung der Wehrkraft« gegen Major A. stellte. Der Marburger Ermittlungsrichter fand heraus, dass A. seit 1932 Mitglied der NSDAP, also »Alter Kämpfer«, und im Zivilleben hauptamtlicher Kreisstellenleiter der Partei war. In seinem Ermittlungsbericht an den Gerichtsherrn vertrat der Richter folgenden Standpunkt : »Der Beschuldigte ist bisher dienstlich günstig beurteilt. Sein Schwiegersohn ist Angehöriger der Luftwaffe, seine Tochter Luftwaffenhelferin. Er selbst ist Pg. seit 1932 und Kreisstellenleiter. Man wird daher dem Beschuldigten glauben müssen, dass er nicht daran gedacht hat, die Luftwaffe, die Schöpfung des dritten [ sic !] Reichs, in der allgemeinen Achtung herabzuwürdigen.«29 »Wehrkraftzersetzung« liege nicht vor, Beleidigung der Wehrmacht oder der Luftwaffe wohl auch nicht. Der Ermittlungsrichter empfahl daher die Einstellung des Verfahrens. Der Gerichtsherr folgte dieser Empfehlung insofern, als er in seinem Bericht an den zuständigen Befehlshaber des Ersatzheeres und Chef der Heeresrüstung ebenfalls nahe legte, das gerichtliche Verfahren einzustellen. A. sollte mit 14 Tagen Stubenarrest disziplinarisch bestraft und von der Kommandeursstellung abgelöst werden, sobald geeigneter Ersatz zur Verfügung stehe. Einem schneidigen Offizier und NSDAP - Funktionär verzieh man offensichtlich deutlich mehr, als einem einfachen Soldaten. Die letztendliche Entscheidung in dieser Sache geht aus den überlieferten Unterlagen nicht hervor. Möglicherweise liegt hier einer der seltenen Fälle einer Verfahrenseinstellung nach § 46 KStVO vor ( Anwendung des Opportunitätsprinzips wegen geringer Schuld des Täters ). Etwa drei Prozent aller Strafverfahren strengte das Marburger Feldkriegsgericht gegen Offiziere an;30 dies entsprach etwa dem Anteil der Offiziere in der Wehrmacht. In diesen Verfahren bestätigt sich eine Privilegierung des Führungspersonals der Wehrmacht : Gefreiter Sch. befand sich zur Genesung in einem Marburger Reservelazarett. Als er am 2. Oktober 1942 in der Küche eine kleine Zwischenmahlzeit zubereiten wollte, wurde er darauf hingewiesen, dass eine derartige Nutzung der Küche von Kriegsverwaltungsinspektor31 M. erst kurz zuvor untersagt worden war. Obwohl sich der Gefreite ausnahmsweise die Mahlzeit noch zubereiten durfte, kritisierte er das verhängte Verbot. Als Sch. der mehrfachen Aufforderung, die Küche zu verlassen, nicht nachkam, versuchte M. den Gefreiten mit Gewalt hinaus zu werfen. Das misslang, da sich Sch. am Kochkessel festhielt. Nach einigen Minuten und weiteren Aufforderungen verließ Sch. schließlich den Raum. Gegen beide wurde Tatbericht, die militärische Form der 29
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Gericht der Division 409, Zweigstelle Marburg, vom 13.2.1945 an den Chef der Heeresrüstung Befehlshaber des Ersatzheeres zum Verfahren StL III 22/45. ( BArch, Gericht der Division Nr. 409, Nr. 660). Verfahren gegen Generale und Admirale waren nach § 14 Abs. 5 KStVO in der Regel an das Reichskriegsgericht abzugeben; entsprechend findet sich kein einschlägiges Verfahren beim Marburger Feldkriegsgericht. Dieser Rang wies ihn als Wehrmachtsbeamten im Range eines Offiziers aus.
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Anzeige, eingereicht : Der Gefreite Sch. wurde wegen Widersetzung ( in Form von Nötigung zur Unterlassung einer Diensthandlung ) nach §§ 96 und 107 MStGB zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt. Das Verfahren gegen den Kriegsverwaltungsinspektor M. wegen Misshandlung Untergebener wurde hingegen vor Erhebung der Anklage mit der Begründung eingestellt, dass Sch. als Lazarettinsasse nicht der Untergebene des Wehrmachtbeamten M. sei und eine Körperverletzung bzw. Beleidigung ebenfalls ausscheide.32 Vom Sachverhalt zu schließen fast eine Lappalie, erscheint das Ergebnis bemerkenswert : Während die Widersetzung des Soldaten als gerichtlich bestrafungswürdig bewertet wurde, verneinte man jegliche strafrechtliche Relevanz der körperlichen Übergriffe des Kriegsverwaltungsinspektors – aus meiner Sicht eine klare Privilegierung des Letzteren.33 Dass die Tätigkeit des Marburger Feldkriegsgerichts trotz aller zu verzeichnenden Verschärfung der Rechtsprechung auch gegen Kriegsende kein ideologisch aufgeladener Selbstläufer, sondern Ergebnis bewusster Entscheidungen war, zeigen unter anderem eine ganze Reihe von Aussetzungen und Einstellungen von Verfahren für die Kriegszeit.34 Die Begründungen hierfür deuten auf eine realitätsnahe Einschätzung der von Truppenoffizieren vorgelegten Tatberichte : Das Verfahren gegen drei Soldaten, die die sowieso schon beschwerlichen Reiseverbindungen von Mühlhausen in Thüringen nach Marburg nutzten, um sich einige Tage Auszeit bei Verwandten eines der Soldaten zu gönnen, wurde trotz eigenhändiger Änderung des Dienstreisescheins ( sonst : Urkundenfälschung ) mit folgender Begründung ausgesetzt : »Art der Tat, Persönlichkeit der Beschuldigten und Höhe der zu erwartenden Strafe rechtfertigen die Aussetzung des Verfahrens.«35 Diese Art von Vermerken erscheint in den überlieferten Unterlagen schematisch, fast formelhaft. Sicherlich bestand gegen Kriegsende ein Interesse daran, die Reihen der Wehrmachtseinheiten nicht noch weiter auszudünnen, jedoch wurde hier eine gemeinschaftliche unerlaubte Entfernung in Verbindung mit
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Vgl. Urteil StL II 10/42 des Gerichts der Division 409, Zweigstelle Marburg ( BArch, Gericht der Division Nr. 409, Nr. 879). Inwieweit hier die militärische Hierarchie der Wehrmacht relevantes Schutzgut sein sollte, muss mangels ausdrücklicher Hinweise dahin gestellt bleiben. Jedenfalls scheinen diese Verfahren auch nicht zur Ideologie der Wehrgemeinschaft ( im Sinne einer militärischen Volksgemeinschaft ) zu passen, die unterschiedslose Gleichbehandlung aller Wehrmachtsangehörigen proklamiert. Vgl. beispielsweise Theo München, Das Volk als Wehrgemeinschaft, Berlin 1942, S. 19; Fritz Schnell, Das Antlitz der Wehrmacht. Berlin 1939, S. 41 ff., dabei insbesondere 48 ff.; Wilhelm Stuckart / Rolf Schiedermair, Rasse und Erbpflege in der Gesetzgebung des Dritten Reiches, 4. Auflage Leipzig 1943, S. 25 f. Für insgesamt 56 derartige Verfahrensaussetzungen nach § 20 KStVO und 31 Verfahrenseinstellungen sind für das Marburger Gericht Unterlagen jenseits von Listen überliefert. Vermerk zum Verfahren StL I 309/45 des Gerichts der Division Nr. 409, Zweigstelle Marburg vom 12.3.1945 ( BArch, Gericht der Division Nr. 409, Nr. 563).
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Urkundenfälschung nicht wirklich als die Disziplin der Truppe gefährdend bewertet – gemessen an der allgemeinen Kriegslage sicherlich realistisch. Allein zwischen Januar und März 1945 wurden 19 Verfahren mit derartigen Begründungen in Marburg ausgesetzt; diese werden durch sieben Verfahrenseinstellungen flankiert. Wenn die Gerichte wollten, konnten sie die Form der Einstellung des Verfahrens bis nach Kriegsende durchaus zugunsten der Beschuldigten nutzen – vor dem Hintergrund der katastrophalen Kriegslage seit Herbst 1944 eine elegante Form der faktischen Nichtverfolgung. Ob es unter den mindestens 163 nicht beendeten Verfahren des Marburger Feldkriegsgerichts auch Fälle bewusster Verfahrensverschleppung gibt, muss angesichts fehlender Hinweise offen bleiben. Allein das Marburger Kriegsgericht hat aber bei mehr als 90 ( überlieferten ) Urteilen und Strafverfügungen aus dem Jahr 1945 diese Möglichkeiten nicht genutzt. Auch wenn die Spruchtätigkeit des Feldkriegsgerichts Marburg nicht umstandslos verallgemeinert werden kann – es war eben doch nur ein Feldkriegsgericht aus der preußischen Provinz –, so ergibt sich aus den angeführten Beispielen doch eine deutliche Tendenz, die ich in vier abschließenden Thesen zuspitzen möchte : 1. Die Richter hatten weit reichende Handlungsspielräume. 2. Sie haben diese Handlungsspielräume im Positiven, vor allem jedoch im Negativen genutzt – im Sinne des NS - Regimes, insbesondere der Wehrmacht. 3. Nicht nur das Strafmaß – besonders die knapp 100 in Marburg gefällten Todesurteile – macht die Urteile zu NS - Unrecht. Die nationalsozialistische Durchdringung der Wehrmachtjustiz zeigt sich auch an Verfahrenseinstellungen, Aussetzungen von Verfahren, Subsumtionen und weiteren Rechtsanwendungen. 4. Vor diesem Hintergrund müssen die meisten Urteile der Wehrmachtgerichte als nationalsozialistische Unrechtsurteile bewertet werden – vereinzelt zu verzeichnende Ausnahmen bestätigen die Regel. Wir müssen also nicht das Reichskriegsgericht, das Gericht der Wehrmachtkommandantur Berlin oder das Zentralgericht des Heeres heranziehen, wenn wir die nationalsozialistisch durchdrungene Kriegsgerichtsbarkeit betrachten wollen. Es genügt, die Tätigkeit des in der preußischen Provinz tätigen Marburger Feldkriegsgerichts genau zu analysieren.
Detlef Garbe »Wenn der Wille nicht gebrochen werden könne ...« Die Prozessstrategie des Reichskriegsgerichtes in Verfahren gegen Zeugen Jehovas und andere religiös motivierte Kriegsdienstverweigerer
»Mit reinem Gewissen« – so haben Joachim Perels und Wolfram Wette ihren 2011 veröffentlichten Sammelband betitelt, der über das Wirken der ehemaligen Wehrmachtrichter nach 1945, ihre Selbstrechtfertigungen, Netzwerke und Einflussnahmen vor allem auf den Aufbau der bundesdeutschen Justiz informiert. 1 Das Zitat mit seiner Inanspruchnahme eines ungetrübt reinen Gewissens ist einem zwei Jahre nach Kriegsende niedergeschriebenen Memorandum von Admiral Max Bastian entnommen,2 der von 1939 bis Ende 1944 als Präsident und Gerichtsherr dem Reichskriegsgericht ( RKG ) vorstand. In seinen 1956 abgefassten Lebenserinnerungen widmete er sich ausführlich dem »Problem« der Bibelforscherverfahren, da die Urteilspraxis des RKG mit der Verhängung von Hunderten Todesurteilen gegen die ausschließlich religiös motivierten Kriegsdienstverweigerer aus dem Kreis der kleinen christlichen Glaubensgemeinschaft der Zeugen Jehovas wohl auch seiner Ansicht nach besonderer Rechtfertigung bedurfte. Anders als bei Verfahren wegen Desertion, Spionage und Kriegsverrats, bei denen sich die ehemaligen Wehrmachtrichter in der frühen Bundesrepublik sicher waren, dass diese Verurteilungen auch im Nachkriegsdeutschland politisch und juristisch gebilligt wurden, stießen die Todesurteile gegen Kriegsdienstverweigerer nicht nur in Kirchenkreisen oder der linken antimilitaristischen Bewegung auf Unverständnis. So wurde 1949 bei den Beratungen im Parlamentarischen Rat über die Aufnahme des Rechts auf Kriegsdienstverweigerung ins Grundgesetz auf die drakonische Urteilspraxis der Wehrmachtjustiz in den Fällen der sich auf das Gewissen und den Glauben berufenden Verweigerer Bezug
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Joachim Perels / Wolfram Wette ( Hg.), Mit reinem Gewissen. Wehrmachtrichter in der Bundesrepublik und ihre Opfer. Berlin 2011. Memorandum von Max Bastian, in Rastatt in französischer Internierungshaft niedergeschrieben, vermutlich 1947 ( Archives de l’Occupation francaise en Allemagne et en Autriche, Colmar, AJ 4043 p. 134).
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genommen;3 Carlo Schmid, Vorsitzender der SPD - Fraktion im Parlamentarischen Rat, erklärte im Rückblick : »Bibelforscher, Quäker, Mennoniten. [...] sollten ihre Gewaltlosigkeit bekunden können ohne Furcht vor dem Richtblock.«4 Der Legitimationsbedarf sollte auch Erich Schwinge veranlasst haben, in dem 1977 von ihm herausgegebenen Werk von Otto Peter Schweling über »Die deutsche Militärgerichtsbarkeit in der Zeit des Nationalsozialismus« einen mehrseitigen Auszug aus Bastians Erinnerungen zu eben dieser Frage abzudrucken.5 Fünf Jahre später – inzwischen hatte die Filbinger - Affäre zu einer ersten kritischen Debatte in der Öffentlichkeit über Hitlers Kriegsrichter geführt – veröffentlichte Generalmajor a. D. Jürgen Schreiber, langjähriger Bundesvorsitzender des »Verbandes deutscher Soldaten e. V.« und Präsident des »Ringes Deutscher Soldatenverbände«, in der »Wehrwissenschaftlichen Rundschau« unter dem Titel »Wehrmachtjustiz und Kriegsdienstverweigerung« einen Beitrag, in dem er behauptete, die Rechtsprechung des RKG gegenüber Verweigerern habe sich »durch Umsicht und eine geringe Bereitschaft zur Verhängung von Todesurteilen«6 ausgezeichnet. Schreiber, der sich 26 - jährig 1952 mit einer historischen und rechtsvergleichenden Untersuchung zur Frage der Kriegsdienstverweigerung promoviert hatte und von 1959 bis 1968 als Schriftleiter der »Neuen Zeitschrift für Wehrrecht« tätig war, konnte bei dieser Frage auch auf den »Sachverstand« seines Vaters zählen. Denn Kurt Franz Schreiber war als Generalrichter der Wehrmacht auch am RKG tätig.
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Parlamentarischer Rat, Verhandlungen des Hauptausschusses, Band I, S. 545 f. (43. Sitzung vom 18. 1. 1949). Die Unterlagen, Protokolle und Berichte der Kriegsdienstverweigerer - Diskussion von 1945 bis 1949 sind zusammengestellt in : Heinz Janning, Untersuchungen zur Entstehungsgeschichte des Grundrechts auf Kriegsdienstverweigerung, Band 2 ( Diplomarbeit, im Selbstverlag veröffentlicht ), Bremen 1981. Zit. nach Gerd Bucerius, Verweigerung und Gewissen. Das Grundgesetz wurde gegen seine Väter ausgelegt. In : Die Zeit Nr. 52 vom 23.12.1977, S. 4. Otto Peter Schweling, Die deutsche Militärgerichtsbarkeit in der Zeit des Nationalsozialismus. Bearbeitet, eingeleitet und herausgegeben von Erich Schwinge, 2. Auflage Marburg 1978, S. 399–402. Jürgen Schreiber, Wehrmachtjustiz und Kriegsdienstverweigerung. In : Wehrwissenschaftliche Rundschau, 31 (1982), S. 145 f.
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1. Kriegsdienstverweigerung im »Dritten Reich« – Rechtliche Bestimmungen, »Führer« - Wille und die Fügsamkeit des Reichskriegsgerichts Im »Dritten Reich« galt der Wehrdienst als »Ehrendienst am deutschen Volk«7. Eine Ausnahmeregelung für Kriegsdienstverweigerer aus religiösen oder anderen Gewissensgründen war im Wehrrecht nicht vorgesehen.8 Auch wurde nach der am 16. März 1935 verkündeten Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht Militärdienstverweigerern nicht die Möglichkeit eingeräumt, in einen waffenlosen Dienst, wie den Sanitätsdienst, auszuweichen. Das Militärstrafrecht sah ausdrücklich die volle Strafbarkeit auch bei Handlungen aus religiösen Motiven vor.9 Diese Gesetzesbestimmung, die sich nach den Worten des führenden Kommentarwerkes von Erich Schwinge »insbesondere gegen Sekten und Pazifisten« richtete, räumte der militärischen Gehorsamspflicht den »unbedingten Vorrang« vor einer »Gewissenspflicht« und anderen persönlichen Erwägungen ein.10 Der ministerielle Gesetzeskommentar von Georg Dörken und Werner Scherer beschränkte die Erläuterung zu diesem Paragraphen auf einen bezeichnenden Satz : »Die Vorschrift, dass Religions - oder Gewissensüberzeugungen nicht von der Einhaltung der staatlichen Normen befreien, dient nur der Belehrung; sie versteht sich bei dem Totalitätsanspruch des Staates von selbst.«11
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So der Wortlaut der einleitenden Formel ( § 1 Abs. 1) des Wehrgesetzes vom 21.5.1935, Reichsgesetzblatt ( RGBl.) 1935 I, S. 609. Das Wehrgesetz ( § 14) kannte nur zwei Wehrpflichtausnahmen : Neben den »völlig untauglichen Dienstpflichtigen«, die nach der Ausmusterung aus dem Wehrpflichtverhältnis ausschieden, waren nur die »Dienstpflichtigen römisch - katholischen Bekenntnisses, die die Subdiakonatsweihe erhalten haben«, also die angehenden Priester, im Frieden von der Heranziehung zum aktiven Wehrdienst befreit. Im Gegensatz zu den katholischen Priesteramtskandidaten waren die angehenden evangelischen Geistlichen nicht der Pflicht zur Wehrdienstleistung enthoben. Die Leitung der evangelischen Kirche legte auf eine solche Klausel keinen Wert; ihr galt der Militärdienst als ein patriotisches Gebot. Auch die in Opposition zu den nationalsozialistischen Deutschen Christen stehende Bekennende Kirche versicherte in einer Akklamation zu der »mit Freude und Dankbarkeit« vernommenen Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht : »Mit ungeteilter freudiger Hingabe werden, wie in vergangenen Jahren, die jungen Theologen vereint mit allen Volksgenossen Heeresdienst leisten.« ( Schreiben der vorläufigen Leitung der Deutschen evangelischen Kirche vom 4. 4. 1935 an den Reichswehrminister, Bundesarchiv [ BArch ], RH 15/262, Bl. 17). § 48 MStGB : »Die Strafbarkeit einer Handlung oder Unterlassung ist dadurch nicht ausgeschlossen, dass der Täter nach seinem Gewissen oder den Vorschriften seiner Religion sein Verhalten für geboten erachtet hat.« Militärstrafgesetzbuch, erläutert von Erich Schwinge, Kommentare zum Deutschen Reichsrecht, Band 1, Berlin 1936, S. 115–116. Georg Dörken / Werner Scherer, Das Militärstrafgesetzbuch und die Kriegssonderstrafrechtsverordnung mit Erläuterungen, 4. Auflage Berlin 1943, S. 40.
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Da das Militärstrafgesetzbuch ( MStGB ) von 1872, durch Novellierungen vom 23. November 1934 und vom 16. Juli 1935 den »neuen Erfordernissen« angepasst, eine besondere Strafnorm für Kriegsdienstverweigerung nicht kannte, wurde die Ablehnung der Wehrdienstleistung in der Vorkriegszeit nach den Strafbestimmungen für Fahnenflucht ( §§ 69, 70 MStGB ) und die Verweigerung des Fahneneides als »militärischer Ungehorsam« ( § 92 MStGB ) abgeurteilt. Die Strafen bewegten sich zumeist zwischen ein und zwei Jahren Gefängnis. Mit Kriegsbeginn veränderte sich die Situation entscheidend. Die am 26. August 1939, dem Tag der Mobilmachung, in Kraft getretene »Kriegssonderstrafrechtsverordnung« ( KSSVO ) fasste unter dem neu eingeführten Straftatbestand der »Wehrkraftzersetzung« auch die Kriegsdienstverweigerung. § 5 Abs. 1 Ziff. 3 bestimmte, dass wegen »Zersetzung der Wehrkraft« mit dem Tode bestraft wird, »wer es unternimmt, sich oder einen anderen durch Selbstverstümmelung, durch ein auf Täuschung berechnetes Mittel oder auf andere Weise der Erfüllung des Wehrdienstes ganz, teilweise oder zeitweise zu entziehen«.12 Zwar ermöglichte der Absatz 2 die Annahme eines »minder schweren Falles« und damit die Zuerkennung einer Zuchthaus - oder Gefängnisstrafe, aber nach den 1940 herausgegebenen »Grundsätzen« des RKG waren die Voraussetzungen für eine Absenkung des Strafmaßes in Kriegsdienstverweigerungsfällen regelmäßig nicht gegeben : »Gegen den hartnäckigen Überzeugungstäter ( Bibelforscher ) wird wegen der propagandistischen Wirkung seines Verhaltens im Normalfall nur die Todesstrafe angezeigt sein.«13 Die Zuständigkeit für Prozesse gegen Kriegsdienstverweigerer lag seit Kriegsbeginn grundsätzlich beim RKG. Auch als mit der Siebenten Durchführungsverordnung zur »Kriegsstrafverfahrensordnung« ( KStVO ) vom 18. Mai 1940 »Zersetzungsfälle [...] ohne Ausnahme«14 den Feldkriegsgerichten zur Entscheidung zu überantworten waren, verfügte das Oberkommando der Wehrmacht ( OKW ) in einem Erlass vom gleichen Tag, dass abweichend von der allgemeinen Regelung Verfahren dann an das RKG abzugeben seien, wenn »der Täter nach seinem Gewissen oder den Vorschriften seiner Religion sein Verhalten für geboten erachtet hat ( § 48 MStGB. Beispiele : Ernster Bibelforscher, Jünger Jehovas, Adventist usw.)«.15 Unter der Gesamtzahl aller Fälle von »Wehrkraftzersetzung«, die in den ersten Kriegsmonaten vor dem obersten Wehrmachtgericht zur Verhandlung kamen, 12 13 14 15
Verordnung über das Sonderstrafrecht im Kriege und bei besonderem Einsatz ( KSSVO ) vom 17.8.1938, RGBl. 1939 I, S. 1455. Rechtsgrundsätze des RKG zu § 5 KSSVO. Sonderheft von »Gesetzesdienst für die Wehrmachtgerichte«. Hg. vom OKW, Berlin 1940, S. 5. Siebente Verordnung zur Durchführung und Ergänzung der Verordnung über das militärische Strafverfahren im Kriege und bei besonderem Einsatz vom 18.5.1940, RGBl. 1940 I, S. 787. OKW, Erlass vom 18.5.1940 ( BArch, R 3001/22296, Bl. 442).
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nahmen die Verfahren gegen kriegsdienstverweigernde Zeugen Jehovas und einige Mitglieder anderer Glaubensgemeinschaften einen sehr großen Anteil ein. Das RKG sah sich mit dem Auftreten von religiösen Dienstverweigerern einem »Phänomen« gegenüber, das es aus seiner bisherigen Spruchpraxis nicht kannte. Bereits in den ersten Kriegswochen fällten die Senate des RKG etliche Todesurteile. Im Anschluss an die Urteilsbestätigung erfolgte – zumeist zwei bis vier Wochen nach dem Richterspruch – die Vollstreckung durch Enthauptung in einer Richtstätte der Reichsjustizverwaltung; anfangs ausschließlich in der Strafanstalt Berlin - Plötzensee.16 Während die Wehrmachtjustiz um der von ihr angestrebten Abschreckung willen ansonsten darauf bedacht war, die verhängten Urteile regelmäßig öffentlich bekanntzugeben, kamen schon bald Bedenken auf, ob eine solche Vorgehensweise auch im Fall der Aburteilung von religiösen Dienstverweigerern angebracht und zweckmäßig sei. Das Oberkommando des Heeres verfügte am 17. Oktober 1939, dass »Nachrichten über Vollstreckungen derartiger Todesurteile [...] nicht plakatiert werden« sollten. Weiter wurde bestimmt : »Eine Mitteilung hierüber soll in den Zeitungen nicht erfolgen. Die Angehörigen der zum Tode Verurteilten können [ !] von der Vollstreckung verständigt werden.«17 Der Präsident des RKG verwies einige Monate später erklärend darauf, dass eine Urteilsveröffentlichung »vom feindlichen Ausland nur zu einer gegen Deutschland gerichteten Propaganda ausgenützt würde, die Bibelforscher aber durch diese Veröffentlichung nicht abgeschreckt, sondern in ihrem Fanatismus als Märtyrer gestärkt würden«.18 Als die Zahl der Bibelforscherverfahren in den folgenden Wochen weiter anstieg und in nur einem Monat, im November 1939, allein gegen Zeugen Jehovas wegen glaubensbedingter Kriegsdienstverweigerung genauso viele Todesurteile gefällt wurden, wie sie das RKG im gesamten Vorjahr in allen dort zur Verhandlung gekommenen Verfahren ausgesprochen hatte (1938 : 15 Todes-
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Am 3.7.1940 ordnete das Reichsjustizministerium an, dass zukünftig die vom RKG erlassenen Todesurteile in der neueingerichteten »Richtstätte« im Zuchthaus Brandenburg - Görden zu vollstrecken seien ( BArch, R 3001/21315, Bl. 234). Die ersten nachweisbaren Hinrichtungen von Zeugen Jehovas in Brandenburg fanden im September 1940 statt. Nachdem das RKG im August 1943 seinen Amtssitz von Berlin nach Torgau verlegt hatte, ließ es die Urteile fortan zumeist im näher gelegenen Halle ( Saale ) vollstrecken. Oberkommando des Heeres / Befehlshaber des Ersatzheeres, Erlass vom 17. 10. 1939 ( BArch, RH 53–6/76, Bl. 139). Tätigkeitsbericht des Präsidenten des RKG an den Chef des OKW vom 30.5.1940 ( Militärhistorisches Archiv der Tschechischen Republik [ MHA ], Prag, Karton 61, Akte 6/3, Bl. 235–240, hier 238). Der Bericht ist erstmals auszugsweise abgedruckt in : Norbert Haase, Das Reichskriegsgericht und der Widerstand gegen die nationalsozialistische Herrschaft. Katalog zur Sonderausstellung der Gedenkstätte Deutscher Widerstand in Zusammenarbeit mit der Neuen Richtervereinigung, Berlin 1993, S. 49.
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urteile, zumeist wegen Landesverrates ),19 wuchs offenbar bei den Reichskriegsgerichtsräten ein Gefühl des Unbehagens. Nicht wenige von ihnen waren einem eher konservativen Rechtstraditionen verhafteten Denken verpflichtet.20 Nach den Erinnerungen von Harald Poelchau, damals Gefängnispfarrer in BerlinPlötzensee mit konspirativen Verbindungen zum Widerstand, habe sich das RKG »1939 bis 1940 nur schwer entschließen können, die Todesurteile an Bibelforschern vollstrecken zu lassen«.21 Bereits in den ersten Tagen nach Kriegsbeginn war das RKG in dieser Frage bei Hitler vorstellig geworden. Am 11. September übermittelte Oberreichskriegsanwalt Walter Rehdans der verunsicherten Richterschaft die Entscheidung des Obersten Befehlshabers, der es abgelehnt habe, aus religiösen Gründen handelnden Kriegsdienstverweigerern eine »Sonderstellung« einzuräumen. Hitler habe die Auffassung vertreten, dass »die Sektierer [...] im Kriegsfalle, also in einer Notzeit des Vaterlandes, ihre persönliche Überzeugung einem höheren ethischen Zweck gegenüber zurückstellen« müssten.22 Wie einem Schreiben des Chefs des OKW, Generaloberst Wilhelm Keitel, zu entnehmen ist, fanden auch in den folgenden Wochen und Monaten noch weitere Vorsprachen bei Hitler in dieser Angelegenheit statt. Am 1. Dezember 1939 teilte Keitel mit : »Der Führer hat entschieden : Allein in Polen seien mehr als zehntausend anständige Soldaten gefallen, viele tausend Soldaten seien schwer verwundet worden. Wenn er von jedem deutschen Mann, der wehrfähig ist, dieses Opfer fordern müsse, sehe er sich nicht in der Lage, bei ernsthafter Wehrdienstverweigerung Gnade walten zu lassen. Dabei könne kein Unterschied danach gemacht werden, aus welchen Beweggründen der einzelne den Wehrdienst verweigere. Auch Umstände, die sonst strafmildernd in Betracht gezogen würden oder die bei einer Gnadenentscheidung eine Rolle spielten, könnten hier keine Berücksichtigung finden. Wenn also der Wille des Mannes, der den Wehrdienst verweigere, nicht gebrochen werden könne, müsse das Urteil vollstreckt werden.«23
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Vgl. Reichskriegsgericht, Wehrstrafrechtsstatistik für das Kalenderjahr 1938 ( BArch, RW 2/ v. 258, Bl. 5). Von den 47 vom September bis Dezember 1939 in Berlin - Plötzensee Hingerichteten waren 39 kriegsdienstverweigernde Zeugen Jehovas, vgl. OKW ( Hg.), Kriegs - Kriminalstatistik für die Wehrmacht. Zusammenfassung der kriminalstatistischen Ergebnisse des ersten Kriegsjahres, Berlin 1941 ( BArch, RW 6/ v.129 D ). Detailliert zu den Zahlen der vom RKG wegen Kriegsdienstverweigerung ausgesprochenen Todesurteile vgl. Detlef Garbe, Zwischen Widerstand und Martyrium : Die Zeugen Jehovas im »Dritten Reich«, 4. Auflage München 1999, S. 373–376; Marcus Herrberger ( Hg.), Denn es steht geschrieben : »Du sollst nicht töten !« – Die Verfolgung religiöser Kriegsdienstverweigerer unter dem NS - Regime mit besonderer Berücksichtigung der Zeugen Jehovas (1939–1945), Wien 2005, S. 384–424 (»Opferliste«). Vgl. Haase, Reichskriegsgericht, S. 14; Detlef Garbe, »In jedem Einzelfall ... bis zur Todesstrafe«. Der Militärstrafrechtler Erich Schwinge – Ein deutsches Juristenleben, Hamburg 1989, S. 104– 108. Harald Poelchau, Die letzten Stunden. Erinnerungen eines Gefängnispfarrers, aufgezeichnet von Graf Alexander Stenbock - Fermor. Neudruck der 1949 erschienenen Ausgabe, Köln 1987, S. 34. Max Bastian, Lebenserinnerungen (1956), S. 56 ( BArch, N 192/1). Chef OKW, Schreiben vom 1.12.1939 ( BArch, RH 53–6/76, Bl. 168).
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Mit diesem »Führerwort« war die allgemeine Richtung für die Handhabung der Verweigererfälle vorgegeben. Keitel erhielt noch im gleichen Monat eine detaillierte »Zusammenstellung der beim Reichskriegsgericht anhängigen Strafverfahren wegen Kriegsdienstverweigerung ( ernste Bibelforscher )«.24 Im Januar 1940 unterrichtete der Präsident des RKG bei einer Besprechung seine Senatspräsidenten von der Auffassung der politischen und militärischen Führung zum Problem der »Ernsten Bibelforscher« – und das RKG folgte der ausgegebenen Grundlinie. Unter Hinweis auf die »höheren Staatsnotwendigkeiten« und das »geschriebene Recht« schickten die Reichskriegsgerichtsräte fortan Kriegsdienstverweigerer zuverlässig mit den Mitteln der Justiz in den Tod. Wie stark dabei nationalsozialistisches Gedankengut übernommen wurde, zeigt eine Stellungnahme des Oberreichskriegsanwalts Rehdans vom 14. Mai 1940 : »Wer jetzt noch beim Eintreten seines Volkes in den entscheidenden Kampf um sein Leben, die Beteiligung an diesem Kampfe in irgendeiner Form und mit gleichviel welchen Gründen [ sic !] verweigert, ist mit den schärfsten Mitteln zu bekämpfen und zu vernichten. [...] Recht ist nach nationalsozialistischer Ansicht, was dem Volk und der Wehrmacht nutzt.«25 Manches deutet allerdings auf ein fortwährendes inneres Widerstreben zumindest bei einigen der Richter hin. Zu nennen ist hier etwa der Reichskriegsgerichtsrat Hans - Ulrich Rottka, der im September 1942 aus der Reichskriegsanwaltschaft abgezogen wurde und Anfang 1944 endgültig aus der Wehrmachtjustiz ausschied, weil er – besonders hinsichtlich der Bibelforscherverfahren – eine humanere Auffassung vertrat und sich nach eigenen Angaben gegen den Todesurteil - Automatismus wandte.26 Die folgenden, der Kriegskriminalstatistik für das erste Kriegsjahr entnommenen Zahlen zeigen den Umfang der Verweigerungsfälle und ihren hohen Anteil
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Der Präsident des RKG übermittelte die Zusammenstellung mit Schreiben vom 27. 12. 1939 an die Rechtsabteilung des OKW. Diese bestätigte am 2. 1. 1940, dass der Chef OKW die Zusammenstellung eingesehen habe ( MHA Prag, Karton 64, Akte 11/25, Bl. 53c ). Dem Kollegen Michael Viebig, Gedenkstätte ROTER OCHSE Halle ( Saale ), ist für die Vermittlung diverser Unterlagen aus den Prager Beständen zu danken. Der Oberreichskriegsanwalt an den Präsidenten des RKG, 14. 5. 1940 ( MHA Prag, Karton 64, Akte 11/25, Bl. 87–89). Vgl. Norbert Haase, Die Richter am Reichskriegsgericht und ihre Nachkriegskarrieren. In : Perels / Wette ( Hg.), Mit reinem Gewissen, S. 200–219, hier 203; Haase, Reichskriegsgericht, S. 24 f., 72 f. Rottka gehört damit – wie die Senatspräsidenten am RKG Friedrich Neuroth ( im September 1942 in den Ruhestand versetzt, vgl. ebd., S. 71) und Werner Lueben ( Selbsttötung am 28. 7. 1944 kurz vor von ihm zu verkündenden Todesurteil gegen Stettiner Geistliche ) – zu der kleinen Minderheit von Wehrmachtrichtern, die nach dem Stand der bisherigen Forschung im »Dritten Reich« wahrscheinlich aus Gewissensgründen ihre Mitwirkung an einer zunehmend verbrecherischen Justiz aufkündigten.
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an den Todesurteilen.27 Von 1087 zwischen dem 26. August 1939 und dem 30. September 1940 geführten Verfahren wegen »Zersetzung der Wehrkraft« ( § 5 KSSVO ) waren 152 Bibelforscherverfahren (14 Prozent ); von den insgesamt 117 wegen »Wehrkraftzersetzung« gefällten Todesurteilen ergingen 112 gegen Zeugen Jehovas (95,7 Prozent ).28 In nur 40 der wegen Kriegsdienstverweigerung geführten Bibelforscherverfahren wurde kein Todesurteil verhängt, d. h. drei von vier Fällen endeten mit einem Todesurteil. Von den erkannten Todesurteilen wiederum wurde lediglich etwa jedes fünfte nicht bestätigt oder im Gnadenwege aufgehoben. Admiral Bastian sah in einem am 30. Mai 1940 dem Chef des OKW erstatteten Tätigkeitsbericht Anzeichen einer seit Kriegsbeginn anhaltenden »Massendienstverweigerung« der Bibelforscher, wobei allerdings zumeist ältere Jahrgänge in Erscheinung getreten seien.29 In den folgenden Jahren ( Juni 1940 bis Kriegsende ) erreichte die Zahl der wegen Kriegsdienstverweigerung vor dem RKG geführten Verfahren nicht mehr den Stand des ersten Kriegsjahres mit seiner hohen Einberufungsquote. Nach den im Militärhistorischen Archiv der Tschechischen Republik in Prag verwahrten, allerdings unvollständigen Aktenverzeichnissen des RKG, die die hohe Quote der Todesurteile bestätigen, wurde gegen 289 Angeklagte in 316 Verfahren wegen Wehrdienstverweigerung verhandelt; 196 (62 Prozent ) dieser Prozesse endeten demnach mit einem Todesurteil. Gegen diejenigen, die ihre Entscheidung widerriefen, wurden elf Zuchthaus - und 96 Gefängnisstrafen ( insgesamt 33,9 Prozent ) verhängt. Freisprüche erfolgten in zwölf Verfahren (3,8 Prozent ), in einem Fall wurde eine Arreststrafe ausgesprochen (0,3 Prozent ).30 Bezieht man andere Quellen mit ein, so ist davon auszugehen, dass vor dem Reichskriegsgericht insgesamt annähernd 500 Verfahren wegen Kriegsdienstverweigerung geführt wurden, von denen sich nach den Forschungen von Marcus 27
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OKW, Kriegs - Kriminalstatistik für die Wehrmacht, S. 9, 15. Außer den »Bibelforscherverfahren« wurden die anderen Deliktgruppen, die unter die Strafbestimmung § 5 KSSVO fielen, wie die Zersetzungsäußerungen, die Selbstverstümmelungen oder die Dienstpflichtentziehungen auf andere Weise nicht gesondert statistisch ausgewiesen. Von den fünf nicht gegen Zeugen Jehovas ausgesprochenen Urteilen ergingen mindestens vier ebenfalls gegen Kriegsdienstverweigerer ( d. h. nahezu alle Todesurteile wurden nach Ziff. 3 des § 5 KSSVO gefällt ), und zwar gegen den Adventisten Gustav Psyrembel ( RKG - Urteil 29.2.1940; vollstreckt am 30.3.1940), den evangelischen Christen Hermann Stöhr ( RKG - Urteil 16.3.1940; vollstreckt am 21. 6. 1940) und die Angehörigen der katholischen Christkönigsgesellschaft Michael Lerpscher ( RKG - Urteil 2.8.1940; vollstreckt am 5.9.1940) und Josef Ruf ( RKG - Urteil 14.9.1940; vollstreckt am 10.10.1940). Vgl. Norbert Haase, Aus der Praxis des Reichskriegsgerichts. Neue Dokumente zur Militärgerichtsbarkeit im Zweiten Weltkrieg. In : Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte ( VfZ ), 39 (1991), S. 379–411, hier 390 f. Vgl. Franz W. Seidler, Fahnenflucht. Soldat zwischen Eid und Gewissen, München 1993, S. 128 f.
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Herrberger allein 406 gegen Zeugen Jehovas richteten. Gegen sie verhängte das RKG 287 Todesurteile, von denen es 233 vollstrecken ließ.31 Zu den Kriegsdienstverweigerern, die nach Todesurteilen des RKG hingerichtet wurden, zählen ferner sechs Adventisten, vier Angehörige anderer religiöser Minderheiten, acht katholische Christen, unter ihnen auch ein katholischer Priester, der österreichische Pater Franz Reinisch, sowie auf evangelischer Seite der ehemalige Sekretär des Internationalen Versöhnungsbundes Hermann Stöhr, ferner einige Personen mit politischen, pazifistischen oder unbekannten Motiven.32 Nach Todesurteilen wegen Spionage und Landesverrats stellten die Fälle wegen »Zersetzung der Wehrkraft«, darunter mehrheitlich wegen Kriegsdienstverweigerung, die drittgrößte Gruppe in der Gesamturteilsbilanz des RKG dar.33
2. Gnadenlose Justiz, verwehrte Milderungsgründe und verbaute Auswege In den Verfahren gegen Kriegsdienstverweigerer dominierte eindeutig das vermeintliche Staatswohl, generalpräventive Gesichtspunkte bestimmten den Urteilstenor. Vor »allen anderen Erwägungen« müsse den »Kriegsnotwendigkeiten« stets der Vorrang eingeräumt werden, so befand das RKG in einem Urteil vom 3. Mai 1940 : »Diese erfordern aber, dass ein Deutscher, der in einem Augenblick schwerster Not für Volk und Reich die Wehrdienstleistung, gleichgültig aus welchen Gründen, abgelehnt [ hat ] und bei dieser Ablehnung trotz eindringlichster Belehrung verbleibt, keine Milde findet. Nur die Todesstrafe vermag die erforderliche abschreckende Wirkung auszuüben. Sie ist in dem Abwehrkampf Deutschlands ein Gebot der Notwehr.«34 Das RKG ließ selbst gegen Jugendliche keine Gnade walten. Den Fall des 17-jährigen Bremer Zeugen Jehovas Otto Bruser wertete das Gericht in seiner Verhandlung vom 23. März 1944 wegen seiner Jugendlichkeit zunächst als »minder schwer« und verurteilte den Angeklagten deshalb zu zehn Jahren Zuchthaus. Da der Gerichtsherr Max Bastian das Urteil jedoch nicht bestätigte, stand Bruser nur zwei Wochen nach seinem 18. Geburtstag erneut vor den Richtern. Am 25. Mai 31 32
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Vgl. Herrberger, Kriegsdienstverweigerer, S. 234 f. Vgl. Detlef Garbe, »Du sollst nicht töten«. Kriegsdienstverweigerer 1939–1945. In : Norbert Haase / Gerhard Paul ( Hg.), Die anderen Soldaten. Wehrkraftzersetzung, Gehorsamsverweigerung und Fahnenflucht im Zweiten Weltkrieg, 2. Auflage Frankfurt a. M. 1997, S. 85–104, hier 93–96; Karsten Bredemeier, Kriegsdienstverweigerung im Dritten Reich. Ausgewählte Beispiele, Baden - Baden 1991, S. 109 ff. Vgl. Übersicht über die in der Zeit vom 26.8.1939 bis 7.2.1945 beim RKG ergangenen und vollstreckten Todesurteile in : Haase, Praxis, S. 389. RKG, StPL ( HLS ) III 25/40, Urteil v. 3. 5. 1940. In : Entscheidungen des Reichskriegsgerichts, Band II, 1. Heft, Berlin 1940, S. 63 f.
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1944, zwei Monate nach der ersten Verhandlung, lautete das Urteil nunmehr auf Todesstrafe. Zur Begründung verwiesen die Richter darauf, dass Bruser, obgleich er in der Haft »dem verderblichen Einfluss Gleichgesinnter entzogen« wäre, »bei seiner Weigerung geblieben« sei. Infolgedessen müsse ihn – so das Gericht – »jetzt die volle Schärfe des Gesetzes treffen«.35 Drei Wochen später wurde der junge Kriegsdienstverweigerer im Zuchthaus Halle hingerichtet. Der Zwillingsbruder Otto Brusers, Ludwig, mit diesem gleichzeitig einberufen, erhielt in einem abgetrennten Verfahren am 14. Juni 1944 ebenfalls die Todesstrafe. Ludwig Bruser erklärte jedoch seine Bereitschaft zur Wehrdienstleistung und wurde in einem Wiederaufnahmeverfahren am 26. September 1944 zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt, abzubüßen in einer Strafeinheit. Ludwig Bruser gilt seitdem als vermisst.36 Zunächst noch strittig war in der Spruchpraxis des RKG in Verfahren gegen religiöse Dienstverweigerer die Frage, inwieweit vom Absatz 2 des § 5 KSSVO, der Annahme eines »minder schweren Falls«, Gebrauch gemacht werden sollte. Hier war eine Klärung insbesondere für die Fälle erforderlich, in denen ein Strafausschluss oder eine Strafmilderung aufgrund § 51 Reichsstrafgesetzbuch (RStGB ) ( verminderte Zurechnungsfähigkeit ) in Betracht kam. In den Verfahren wegen glaubensbedingter Kriegsdienstverweigerung spielte dies nicht zuletzt deshalb eine größere Rolle, weil die Verteidigung unter Hinweis auf das aus einer Gewissensnot erwachsene Handeln und die dadurch eingeschränkte »Bestimmbarkeit des Willens« oftmals die Herbeiziehung eines psychiatrischen Gutachtens beantragte, um auf diese Weise ihre Mandanten vor der drohenden Hinrichtung zu bewahren. Obgleich aus der Sicht der Juristen und Psychiater religiöse Überzeugungen, die in der Kriegführung etwas Verabscheuenswertes und zutiefst Verwerfliches erblickten, an Geisteskrankheit grenzten und »religiöse Dienstverweigerer« neben den »Friedensaposteln und Freiheitsschwärmern« zu den »wirklichkeitsfremden und verschrobenen Psychopathen«37 gerechnet wurden, haben die Gutachter vergleichsweise selten auf Zubilligung des § 51 RStGB plädiert. Zwar wurden Strafmilderungsgründe in der Regel verneint, doch gab es hinsichtlich dieser Frage keine einheitliche Haltung durch die Senate des RKG. So betonte der 2. Senat in einem Verfahren vom 24. Januar 1940, in dem er »zugunsten des Angeklagten« von einer verminderten Zurechnungsfähigkeit im Sinne
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RKG, StPL ( RKA ) I 5/44, Urteil vom 25. 5. 1944, zit. nach Norbert Haase, »... dem Gebot der Stunde Rechnung tragen«. Torgau und das Reichskriegsgericht (1943–1945). In : Norbert Haase/ Brigitte Oleschinski ( Hg.), Das Torgau - Tabu. Wehrmachtstrafsystem, NKWD - Speziallager, DDR - Strafvollzug, Leipzig 1993, S. 45–60, hier 54. Zutreffend verweist Norbert Haase darauf, dass damit der ersten, bis zum Erreichen des 18. Lebensjahres erfolgten Inhaftierung der Charakter einer »Beugehaft« zukam. Vgl. Herrberger, Kriegsdienstverweigerer, S. 138. Helmut Ziemann, Die Stellung der Psychopathen im Militärstrafrecht, Rheinhausen 1941, S. 41.
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des § 51 Abs. 2 RStGB ausging, dass lediglich aufgrund der besonderen Umstände des Einzelfalles von der Regelstrafe abgegangen worden sei. Denn prinzipiell könne « Kriegsdienstverweigerung nicht als minder schwer beurteilt werden [...], solange sich nicht der Täter ernsthaft und ohne Vorbehalt zur Leistung des Kriegsdienstes bereit erklärt hat«.38 Mit seiner Entscheidung vom 3. Mai 1940 bekannte sich der 3. Senat unter Vorsitz von Karl Schmauser hingegen zu einer grundsätzlichen, faktisch ausnahmslosen Zurückweisung von Strafmilderungsgründen : »Die Frage, ob ein minder schwerer Fall anzunehmen ist, ist nicht von der Person des einzelnen Täters aus, sondern in erster Reihe vom Standpunkt der Allgemeinheit, vor allem von den Kriegsnotwendigkeiten aus, zu beurteilen.«39 Dies bedeute, so der 3. Senat weiter, dass bei »hartnäckigen« Dienstverweigerern »nur die Verhängung der härtesten Strafe« imstande sei, »den Strafzweck zu erreichen«. Gegen diese Auffassung wandte sich in der »Zeitschrift für Wehrrecht« der Professor für Strafrechtslehre, Eberhard Schmidt, denn eine Prüfung strafmildernder Aspekte fordere selbstverständlich die Berücksichtigung subjektiver, sich aus der Person des Beschuldigten ergebender Momente, »diese Frage [ sei ] sehr wohl ›von der Person des einzelnen Täters‹ aus zu beurteilen«,40 die Schuldfrage dürfe nicht von vornherein als belanglos erklärt werden. Dieser auf der früheren Rechtsprechung des Reichsmilitärgerichtes und der klassischen Strafrechtslehre fußende Widerspruch, wonach sich die Strafhöhe nicht nur am begangenen »Unrecht« zu orientieren habe, sondern auch nach Maßgabe der »Schuld« erfolgen müsse, wurde vom Senatspräsidenten Schmauser zurückgewiesen. In seiner Replik41 verwies dieser im Hinblick auf die »Irrtümer und Missverständnisse Schmidts« darauf, dass der Verweigerer sich über einen längeren Zeitraum mit den Folgen seiner Haltung auseinandersetze, die ihm zudem zwischen Festnahme und Hauptverhandlung auch »immer wieder eindeutig vor Augen geführt« würden. Wenn ein Wehrdienstverweigerer »trotz Kenntnis der ihm drohenden Todesstrafe u. U. monatelang unbeirrbar an seiner Weigerung« festhalte, bekunde er damit eine »so außergewöhnliche Bestimmtheit des Willens«, dass von einer 38 39 40
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RKG, StPL ( HLS ) II 4/40, Urteil vom 24. 1. 1940. In : Entscheidungen des Reichskriegsgerichts, Band II, 2. Heft, Berlin 1942, S. 65 f.; vgl. auch Deutsche Justiz, 102 (1940), S. 939. RKG, StPL ( HLS ) III 25/40, Urteil vom 3.5.1940. In : Entscheidungen des Reichskriegsgerichts, Band II, 1. Heft, Berlin 1940, S. 63 f. Eberhard Schmidt, Die materiellrechtlichen Entscheidungen des Reichskriegsgerichts. In : Zeitschrift für Wehrrecht ( ZWR ), 6 (1941/42), S. 308–327, hier 325. Zur Beurteilung der oftmals überschätzten Kritik Schmidts an der Rechtsprechung des RKG vgl. Detlef Garbe, Abschreckungsjustiz im Dienste der Kriegsführung. Die Wehrmachtgerichtsbarkeit und ihr Beitrag zur Stabilisierung des NS - System. In : Kritische Justiz, 21 (1988), S. 352–358, hier 356 f. Karl Schmauser, Minder schwerer Fall und verminderte Zurechnungsfähigkeit bei Verweigerung des Wehrdienstes nach § 5 Abs. 1 Nr. 3 KSSVO. In : ZWR, 7 (1942/43), S. 132–141, hier 133.
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erheblichen Minderung der »Bestimmbarkeit seines Willens« nicht ausgegangen werden könne. Nach Ansicht Schmausers sollte das Gericht selbst dann, wenn psychiatrische Gutachter bei einem Kriegsdienstverweigerer zu der Überzeugung gelangten, dass eine verminderte Zurechnungsfähigkeit zu attestieren und die Voraussetzungen des § 51 Abs. 2 RStGB gegeben seien, grundsätzlich nicht von der Möglichkeit einer Strafmilderung Gebrauch machen. Schmausers Ausführungen bedeuteten nicht weniger als die Stellung der Kriegsdienstverweigerer unter ein – durch die faktische Suspendierung der gesetzlichen Strafmilderungsmöglichkeiten nach § 5 Absatz 2 KSSVO gekennzeichnetes – Ausnahmerecht. Kurz nach dem erwähnten Urteil des 3. Senats, das zu der geschilderten Kontroverse geführt hatte, plädierte Oberreichskriegsanwalt Walter Rehdans in seiner Stellungnahme an den Präsidenten des RKG vom 14. Mai 1940 dafür, »Wiederaufnahmeanträge, die lediglich mit dem sogenannten Umfall, d. h. der Bereiterklärung, nunmehr den Wehrdienst bedingungs - und restlos erfüllen zu wollen, begründet sind, hinfort regelmäßig mit dem Antrag an den Senat zu geben, den Wiederaufnahmeantrag nicht zuzulassen«.42 Sein Votum in dieser Frage war eindeutig, auch der Widerruf der Kriegsdienstverweigerung, »der sog. Umfall«, begründe »die Annahme eines minderschweren Falles regelmäßig nicht«.43 Weitere zwei Wochen später teilte Präsident Bastian dem Chef des Oberkommandos der Wehrmacht, Generaloberst Keitel, mit, dass »das Reichskriegsgericht in der Bewertung der Glaubwürdigkeit einer Überzeugungsänderung [...] zu einer wesentlich schärferen Auffassung gekommen [ sei ], nachdem wiederholt Bibelforscher eine solche Umkehr widerrufen haben, einer ( Steinacher ) sogar noch nach Begnadigung durch den Führer [...] sich wieder zu seiner ursprünglichen Wehrdienstverweigerung bekannt hat«.44 Im Laufe des Jahres 1940 verschärfte sich, wie dem Tätigkeitsbericht von Admiral Bastian zu entnehmen ist, der Kurs des RKG weiter. Die Senate des RKG seien nunmehr dazu übergegangen, bei wiederholter Sinnesänderung Wiederaufnahmeanträge abzulehnen.45 Generaloberst Keitel würdigte in einer Stellungnahme vom 10. Juni 1940, in der er noch einmal sein Verständnis für die seelischen Belastungen des Justizpersonals bekundete, die Spruchpraxis des Reichskriegsgerichtes in Bibelforscherverfahren. Unter Verweis auf das allmähliche Absinken der Zahl der Strafsachen gegen Kriegsdienstverweigerer stellte er mit Genugtuung fest, »dass die Weisungen, die der Führer gegeben hat, auch hier zum gewünschten Erfolg geführt haben«. Zur Belobigung und Bestärkung der 42 43 44 45
Der Oberreichskriegsanwalt an den Präsidenten des RKG, 14. 5. 1940 ( MHA Prag, Karton 64, Akte 11/25, Bl. 87–89, hier 87 Rs ). Ebd. ( Hervorhebung im Original ). Tätigkeitsbericht des Präsidenten des RKG an den Chef OKW vom 30. 5. 1940 ( MHA Prag, Karton 61, Akte 6/3, Bl. 235–240, hier 238). Vgl. Haase, Praxis, S. 391.
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Richter in ihrer unnachgiebigen Haltung fand der Chef des OKW die folgenden Worte : »Das Gericht hat durch sein scharfes Zupacken viele andere Wehrpflichtige vor der Begehung so schwerer Taten bewahrt. Damit hat sich das Reichskriegsgericht um den Erhalt der Wehrkraft des Volkes ein Verdienst erworben und zugleich – bewahrend und verhütend – menschlich viel Gutes getan.«46 Für die Verweigerer waren damit sämtliche Auswege verbaut, Angebote, ersatzweise einen Arbeits - oder Sanitätsdienst zu verrichten, wurden von den Richtern regelmäßig zurückgewiesen.47 Mit Nachsicht konnte ein Angeklagter nur dann rechnen, wenn er seine Verweigerungshaltung vollkommen aufgab und sich bedingungslos zum Kriegsdienst bereit erklärte.48 Nachdrücklich versuchten die Richter bei den Angeklagten einen solchen Entschluss herbeizuführen, wobei die Motive für die zumeist intensiven Bemühungen vielschichtig gewesen sein mögen. Neben dem Bestreben, auf diese Weise Angeklagte »vor dem Todesurteil bewahren« zu können, stand wohl auch das Verlangen nach Gewissensberuhigung, um den Strafausspruch schließlich in dem Bewusstsein fällen zu können, nichts unversucht gelassen zu haben. Für die Richter ging es, wie später von Schweling / Schwinge behauptet wurde, auch darum, »dieser Fälle menschlich Herr zu werden«.49 Wenn trotz aller Einwirkungsversuche die Angeklagten nicht bereit waren, ihre Haltung aufzugeben, so trugen sie in den Augen ihrer Richter auch allein die Verantwortung für die auf sie dadurch zukommenden Folgen. Da die zahlreichen Todesurteile gegen religiöse Kriegsdienstverweigerer das von ehemaligen Wehrmachtrichtern bis in die Gegenwart propagierte Selbstbild einer zwar harten, aber »maßvollen« Militärjustiz beeinträchtigten, sind verschiedene Wege beschritten worden, um jene Urteile zu rechtfertigen bzw. zu entschuldigen. Als Entlastungsargumente wurden unter anderem genannt : das stete Bemühen der Richter, die »Angeklagten umzustimmen«, die den Verweigerern noch unmittelbar vor der Urteilsvollstreckung eingeräumte »Gelegenheit, ihre Haltung zu revidieren«, die Machtlosigkeit gegen eine »Führerentscheidung« und der Verweis darauf, dass Kriegsdienstverweigerer auch im demokratischen Ausland seinerzeit kriegsgerichtlich abgeurteilt worden seien, wobei beim letzten Argument verschwiegen wird, dass sich das Strafmaß dort durchweg auf Freiheitsstrafen beschränkte.50
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Der Chef des OKW, Schreiben vom 10.6.1940 ( MHA Prag, Karton 65, Akte 13/17, Bl. 28). Vgl. Entscheidungen des Reichskriegsgerichts, Band II, 1. Heft, Berlin 1940, S. 36–38; Band II, 3. Heft, Berlin 1943, S. 145. Die vom OKW erlassenen »Richtlinien für Strafverfahren gegen ernste Bibelforscher usw.« (Institut für Zeitgeschichte [ IfZ ], MA 333, 657687–89), bestimmten, dass für eine Wiederaufnahme die Abgabe einer »glaubhaften« Erklärung Voraussetzung sei, in der sich der Betreffende verpflichte, »in vollem Umfange Wehrdienst zu leisten«. Schweling, Militärgerichtsbarkeit, S. 194. Vgl. Haase, Praxis, S. 381, 392 f.
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3. Richter und Gefängnisseelsorger und ihre Versuche, Verweigerer zum Widerruf zu bewegen Im August 1942 teilte der Präsident des RKG, Admiral Bastian, seinen Senatspräsidenten mit, dass er eine formale Lockerung der Richtlinien erwäge, fügte aber zugleich hinzu, dass dies unter keinen Umständen zu einer Milderung der sachlichen Beurteilung der Kriegsdienstverweigerer und ihres »vom Standpunkt der Kriegsführung aus durchaus verbrecherischen Verhaltens« führen dürfte. Zur nunmehr in der Frage der Zulassung von Wiederaufnahmeanträgen mit einer »Aufhebung der starren Grenze« modifizierten Position des RKG führte Bastian aus : »Wir haben uns jedoch mit Rücksicht auf die eigenartige Kategorie dieser Menschen – es handelt sich in den allermeisten Fällen um keine Verbrechernaturen im kriminellen Sinne, sondern um verrannte und verkrampfte Naturen, die auf Grund einer falschen Erziehung oder sonstigen Beeinflussung von außen in religiöse Irrgänge hineingetrieben worden sind – dazu entschlossen, eben dieser Eigenart dieser Menschen Rechnung tragend bei ihnen die Wiederaufnahmeanträge zuzulassen, sie in einem neuen Verfahren zu einer Gefängnisstrafe zu verurteilen, wenn sich der Umfall als echt erwies, und sie zum Beweis ihrer bedingungslosen wehrwilligen Gesinnung unter Aussetzung der Strafe an die Front zu senden.«51
Wohl zur Vermeidung von Missverständnissen hielt Bastian es für erforderlich, darauf hinzuweisen, dass es keineswegs Sentimentalitäten seien, die seinen Standpunkt bestimmten, sondern er nach einer Möglichkeit suche, »der Wehrmacht in ernstester Kriegszeit auch noch in letzter Stunde einen brauchbaren Kämpfer mehr zuzuführen bzw. zu erhalten«.52 Dass diese Bemühungen auch noch nach der Hauptverhandlung fortgeführt wurden und das Gericht den Verweigerern bis zur Urteilsbestätigung oder sogar bis zu dem – wohl zuweilen aus diesem Grunde herausgezögerten – Vollstreckungstermin die Möglichkeit einräumte, durch einen Widerruf ein Wiederaufnahmeverfahren zu erwirken,53 zeigt die Janusköpfigkeit einer Richterschaft, bei der die Verhängung eines drakonischen Urteils und gleichzeitig die Absicht, das Opfer doch noch »zur Besinnung« zu bringen, nicht im Widerspruch standen. Der Unbeirrbarkeit der meisten religiösen Kriegsdienstverweigerer, die, vor die Wahl zwischen Tod und Soldatendienst gestellt, darin für sich keine Alter51 52
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Der Präsident des RKG, Schreiben vom 17. 8. 1942 an die Senatspräsidenten ( MHA Prag, Karton 65, Akte 13/17, Bl. 236–238, hier 237). Ebd., Bl. 238 Rs ( Hervorhebung im Original ). Vgl. auch Fritz Hodes, Die Strafvollstreckung im Kriege, ZWR, 4 (1939/40), S. 402–409. Nach Hodes gehörte die »personelle Stärkung der Wehrmacht« auch zu den »wichtigsten Richtlinien für die Strafvollstreckung« ( ebd., S. 402 f.). Vgl. Schweling, Militärgerichtsbarkeit, S. 195; Günther Weisenborn, Der lautlose Aufstand. Bericht über die Widerstandsbewegung des deutschen Volkes 1933–1945, Neudruck Frankfurt a. M. 1974, S. 88; Bastian, Lebenserinnerungen, S. 39, 57 f.
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native zu erkennen vermochten, begegneten viele der Richter mit völligem Unverständnis. Sie sahen in den Verweigerern Fanatiker, die um ihres Glaubens willen »ins eigene Unglück liefen«. Um Verweigerer zu einem Sinneswandel zu bewegen, wandten die Angehörigen des RKG zahlreiche Methoden an. Neben »besonders eingehenden« Bemühungen der im Untersuchungsverfahren tätigen Richter – Oberreichskriegsanwalt Rehdans sprach von einer »bevorzugten Behandlung« und »stundenlangen Bemühungen der Untersuchungsführer«54 – und entsprechenden Zuspruchsversuchen, bei denen sich die Untersuchungsrichter – wie Gerichtspräsident Max Bastian berichtete – »die denkbar größte Mühe«55 gaben, wurden vor allem Gefängnispfarrer gebeten, den Kriegsdienstverweigerern aufzuzeigen, dass der Wehrdienst »mit den Vorschriften, Weisungen und Tatsachen der Bibel nicht im Widerspruch«56 stünde. Die besondere Tragik des Auftrages und Tuns der Seelsorger spiegelt sich darin, dass sie das Leben von Kriegsdienstverweigerern, zu denen man sie in die Zellen schickte, nur dann zu retten vermochten, wenn sie deren Glaubensüberzeugung brachen. Die nervenaufreibende Zwangssituation, in der diese Gespräche stattfanden, verdeutlicht ein Bericht des Standortpfarrers Werner Jentsch über seine Begegnung mit dem 19 - jährigen Bernhard Grimm im Zuchthaus Brandenburg - Görden. Jentsch suchte den jungen Zeugen Jehovas in der Nacht vor der für den 21. August 1942 anberaumten Hinrichtung in dessen Zelle auf : »Laut kriegsgerichtlicher Maßnahme durfte er, noch notfalls in der letzten Nacht, einen Zettel schreiben und darauf seine Bereitschaft zum Kriegsdienst und zur Eidesleistung bekunden. Er hätte sein Leben retten können, und unser Gespräch war praktisch die letzte Chance, ihn umzustimmen. Wir haben Text um Text in der Heiligen Schrift ernstlich durchgenommen. Er wollte sich alles noch einmal überlegen. Dann ließ ich ihn allein mit seinem Herrn. Als ich in den frühen Morgenstunden wiederkam, war er ganz reif und klar, er unterschrieb den Zettel nicht.«57 Auf Fürsprache des Jentsch verbundenen Reichskriegsgerichtsrates Rottka, der im September 1940 – als Senatsrichter unerwünscht – zur Reichskriegsanwaltschaft versetzt worden war,58 vermittelte Senatspräsident Alexander Kraell einen Gesprächstermin bei Admiral Bastian, so dass sich für Jentsch die Möglichkeit bot, dem Gerichtspräsidenten das Problem der Kriegsdienstverweigerung aus 54 55 56 57 58
Der Oberreichskriegsanwalt an den Präsidenten des RKG, 14. 5. 1940 ( MHA Prag, Karton 64, Akte 11/25, Bl. 87–89, hier 88). Bastian, Lebenserinnerungen, S. 57. Ebd. Vgl. auch das Kapitel »Einwirkungsversuche« in : Herrberger, Kriegsdienstverweigerer, S. 168–176. Werner Jentsch, Christliche Stimmen zur Wehrdienstfrage, Kassel o. J. [1952], S. 182. Vgl. Haase, Praxis, S. 411; ders., Reichskriegsgericht, S. 72.
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theologischer Sicht vorzutragen.59 Jentsch unterbreitete den Vorschlag, sowohl den religiösen Kriegsdienstverweigerern als auch den mit deren Aburteilung befassten Juristen eine kirchlich - dogmatische Abhandlung über die biblischen Texte zum Themenkreis Krieg und Frieden in die Hand zu geben. Mit Bastians Einverständnis entwarf Jentsch 1943 auf Wunsch des im gleichen Jahr zum Oberreichskriegsanwalt ernannten Kraell eine Broschüre für die geistliche Betreuung der »Kriegsdienst - und Eidverweigerer«.60 Diese in Briefform gehaltene Schrift, deren zweiter Entwurf 1944 zur Verbreitung gelangte, sollte dem »Angefochtenen helfen, vom Studium des Wortes Gottes her eine gründliche Überprüfung seines Standpunktes vorzunehmen«.61 Das »bedrückende Bild«, so urteilte Admiral Bastian im Rückblick, habe jedoch auch diese Denkschrift, die Jentsch 1952 unter dem Titel »Christliche Stimmen zur Wehrdienstfrage« als Broschüre veröffentlichte,62 »nicht zu ändern«63 vermocht. Die Richter am RKG griffen zu subtileren Formen der Einwirkung. So wurde mit dem Vollzug juristischer Sanktionen gegen die Familien gedroht oder diese auch in die Wege geleitet. Dazu zählten der Entzug des Sorgerechts und die Wegnahme der Kinder.64 Des Weiteren wurde versucht, bereits Verurteilte durch Hinzuziehen von Familienangehörigen doch noch zu einem Sinneswandel zu bewegen.65 Dies geschah in der Hoffnung, dass in der direkten Konfrontation mit den Ehefrauen, Kindern oder anderen Verwandten und in Situationen, die letzten Abschiedsszenen gleichkamen, die Betreffenden sich »erweichen« lassen würden. Der angestrebte »Erfolg« stellte sich jedoch nur selten ein.
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Vgl. Werner Jentsch, Ernstfälle. Erlebtes und Bedachtes, Moers 1992, S. 191 ff.; Bredemeier, Kriegsdienstverweigerung, S. 165 f. Nach dem Bericht von Jentsch hatte die Anfertigung der Broschüre »mehr oder weniger getarnt zu geschehen, da die ganze Sache ja praktisch als eine Auflehnung gegen den ›Führerbefehl‹ verstanden werden musste« ( Jentsch, Wehrdienstfrage, S. 13). Nachdem die Schrift im zweiten Entwurf im Sommer 1944 fertiggestellt war, sei sie »heimlich in den Kellern des Gefängnisses von Zelle zu Zelle gewandert« ( ebd.). Jentsch, Wehrdienstfrage, S. 13. Das bei Jentsch sehr positiv gezeichnete Bild von den Richtern am RKG (»Männer, die nicht mit ruhigem Gewissen zusehen konnten«) und die Darstellung einer demnach beinahe als Widerstandshandlung anmutenden Tat haben dazu geführt, dass dieser Vorgang in der einschlägigen Literatur immer wieder zu Entlastungszwecken benutzt worden ist. So hat sich beispielsweise Jürgen Schreiber 1988 auf den Bericht von Jentsch gestützt, um »den Behauptungen von Messerschmidt - Wüllner von der Brutalität und Gnadenlosigkeit der Kriegsgerichte« entgegenzutreten ( Jürgen Schreiber, Wehrmachtjustiz – Anmerkungen zu den »Enthüllungen« von Messerschmidt - Wüllner. In : Neue Zeitschrift für Wehrrecht, 30 (1988) 3, S. 100–106, hier 104). Bastian, Lebenserinnerungen, S. 57. So beispielsweise im Fall der Familie Appel aus Süderbrarup ( Schleswig - Holstein ), dargestellt in Garbe, Zeugen Jehovas, S. 208 f. Berichte über derartige Einwirkungsversuche sind beispielsweise veröffentlicht in : Jahrbuch der Zeugen Jehovas. Hg. von der Wachtturm Bibel - und Traktat - Gesellschaft, Wiesbaden 1974, S. 122; ebd., Selters ( Taunus ) 1989, S. 119; Der Wachtturm, 1.3.1987, S. 22.
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4. Innere Kämpfe, Gewissensnöte und Glaubenszuversicht Eine Haltung, die lieber den Tod hinnahm als »umzufallen« und die in Erwartung des bei Standhaftigkeit zu gewärtigenden Endes eine psychische Extrembelastung oft über Monate lang bedeutete, verweist auf eine ganz außergewöhnliche Tiefe und Ernsthaftigkeit der getroffenen Gewissensentscheidung. Für viele der religiösen Kriegsdienstverweigerer, insbesondere für die Zeugen Jehovas, gab es anscheinend etwas noch Schlimmeres als den Tod auf Erden. Die Verweigerungshaltung beizubehalten und keinen »Kompromiss« zu schließen, wurde von den Zeugen Jehovas als Sieg über die »satanischen Mächte« empfunden, da sie durch die Bewahrung ihrer »Lauterkeit« auch in schwierigsten Zeiten ein Zeichen dafür setzen wollten, dass die Gewalt Satans, des Teufels, die Kraft des Glaubens nicht zu brechen vermag. Ihr ganzes Streben zielte deshalb darauf, durch ihre Standhaftigkeit »zur Rechtfertigung des Namens Jehovas beizutragen«. Die Bemühungen der Richter, sie zur Kriegsteilnahme zu bewegen, galten ihnen somit als Versuch, »die treuen Zeugen Gottes in die Falle zu locken«.66 Von der Schwere des inneren Kampfes zeugen die Briefe, die Verweigerer im Angesicht des Todes an ihre Angehörigen richteten. Im letzten Brief, den Johannes Harms an seinen im KZ Sachsenhausen einsitzenden Vater schrieb, heißt es : »Das [ Wider - ]Stehen wird einem Zeugen Jehovas nicht so leicht gemacht. So ist auch mir immer noch die Möglichkeit gegeben, mein irdisches Leben zu retten, um das wirkliche Leben zu verlieren. Ja sogar angesichts des Schafotts wird dem Zeugen Jehovas nochmals Gelegenheit gegeben, seinen Bund zu brechen. [...] Mein lieber Vater, im Geiste rufe ich dir zu, bleibe auch du treu, wie ich mich bemühe, treu zu sein, dann werden wir uns wiedersehen.«67 Wie man den Abschiedsbriefen entnehmen kann, bedeutete die Hinrichtung für viele kriegsdienstverweigernde Zeugen Jehovas eine Art Erlösung, denn nun war der ungeheure seelische Druck genommen; auf ihnen lastete nicht mehr die Frage, ob sie standhaft bleiben und die »Prüfung« bestehen würden. Die inneren Kämpfe und Anfechtungen, vor allem hervorgerufen durch die Gedanken an die Familie und die Not, die man seinen Liebsten bereiten würde, hatten nun ein Ende. Ein Zeuge Jehovas fasste seine Empfindungen in die Worte : »Ach, könnte ich aber in dieser Welt nach der Verleugnung unseres Herrn Jesus Christus noch
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»Beantwortung einiger Fragen. Mitteilungsblatt der deutschen Verbreitungsstelle des W. T.«, Juli 1942. Die Abkürzung »W. T.« im Namen dieser im Untergrund hergestellten Druckschrift steht für »Wachtturm«, dem Organ der Zeugen Jehovas. Vgl. Garbe, Zeugen Jehovas, S. 390 ff. Johannes Harms, Schreiben vom 9. 11. 1940 an seinen Vater Martin Harms, zit. nach Günter Heuzeroth / Sylvia Wille, Die unter dem lila Winkel litten. Die Verweigerung der Zeugen Jehovas und ihre Verfolgung. In : Verfolgte aus religiösen Gründen. Hg. von der Universität Oldenburg, Oldenburg 1985, S. 167–210, hier 204 f.
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einmal glücklich werden ? – Nie ! [...] Die Entscheidung ist gefallen. Alles Schwere, alles Leid ist überwunden !«68 Diejenigen Kriegsdienstverweigerer, die dem auf ihnen lastenden Druck nachgaben und sich schließlich zum Wehrdienst bereit erklärten, wurden unter Zubilligung eines »minder schweren Falles« der »Wehrkraftzersetzung« in der Regel zu Gefängnisstrafen von ein bis drei Jahren verurteilt. Auf eine Gefängnisstrafe erkannten die Wehrmachtrichter, da diese die Aussetzung zur »Feindbewährung« und damit die Überstellung des Kriegsdienstverweigerers zur »tätigen Reue« in eine frontnahe Strafformation der Wehrmacht ermöglichte.69 Die harten Bedingungen und die gefahrvollen Kriegseinsätze, denen die Strafbataillone ausgesetzt waren, führten dazu, dass die Zahl der Opfer auch unter jenen Kriegsdienstverweigerern hoch war, die unter dem Druck der Kriegsgerichte ihre Verweigerungshaltung aufgegeben und sich schließlich zum Militärdienst bereitgefunden hatten. Erst gegen Kriegsende wurde die alleinige Zuständigkeit des RKG für Verfahren gegen Zeugen Jehovas und andere religiöse Dienstverweigerer aufgehoben. In einem Bericht vom 7. Juni 1944 teilte der Präsident des RKG dem Chef des OKW mit, dass sich beim obersten Wehrmachtgericht in der Frage der Strafverfahren gegen »Ernste Bibelforscher« eine feststehende Rechtsprechung herausgebildet habe, die es möglich erscheinen lasse, das Reichskriegsgericht von der Durchführung derartiger Verfahren in Zukunft zu entlasten. Anfang September 1944 verfügte das OKW eine entsprechende Regelung. Den Feldkriegsgerichten wurde zur Sicherstellung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung ein Merkblatt »Richtlinien für Strafverfahren gegen ernste Bibelforscher usw.« zugestellt, das auch ausführlich auf die Frage des Widerrufs einging : »Erklärt der Wehrpflichtige vor der Bestätigung des Todesurteils, er sei nunmehr bereit, in vollem Umfange Wehrdienst zu leisten, und erscheint dieser Widerruf glaubhaft, so wird das Urteil aufgehoben. Zuvor wird er in der Regel nochmals richterlich gehört, um festzustellen, ob der Widerruf auf einer wirklich inneren Umstellung beruht oder nur aus Angst vor der Vollstreckung des Todesurteils erklärt wurde. Das neue Urteil lautet dann in der Regel auf eine Gefängnisstrafe von 1 bis 3 Jahren.«70
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Zit. nach Helmut Gollwitzer / Käthe Kuhn / Reinhold Schneider ( Hg.), Du hast mich heimgesucht bei Nacht. Abschiedsbriefe und Aufzeichnungen des Widerstandes 1933–1945, München 1954, S. 342. In einem Schreiben vom 15. 8. 1944 erklärte der Chef OKW unter Verweis auf die wehrmachtgerichtliche Praxis, bei Widerruf der Kriegsdienstverweigerung die Vollstreckung der Strafe regelmäßig »zur Feindbewährung« auszusetzen, dass bei Bibelforschern »die Erfahrung mit der Strafaussetzung gut« sei ( IfZ, MA 333, 657692). »Richtlinien für Strafverfahren gegen ernste Bibelforscher usw.« ( IfZ, MA 333, 657687–89). Vgl. auch Manfred Messerschmidt / Fritz Wüllner, Die Wehrmachtjustiz im Dienste des Nationalsozialismus. Zerstörung einer Legende, Baden - Baden 1987, S. 110 f.
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An der grundsätzlichen Ausrichtung, dass »ein Wehrpflichtiger, der hartnäckig an seinem ablehnenden Standpunkt« festhielt, wegen »Zersetzung der Wehrkraft« und der »Verletzung der Treuepflicht gegenüber seinem Volk« zum Tode zu verurteilen war, änderte sich bis zum Kriegsende nichts. Auch bei Verfahren vor Feldkriegsgerichten blieb als einzige Alternative zur Hinrichtung der bedingungslose und glaubwürdige Widerruf und die uneingeschränkte Bereitschaft zum Kriegsdienst. Blieben die Verweigerer bei der von ihnen eingenommenen Haltung, so verwirkten sie ihr Leben und die Richter konnten – um das eingangs erwähnte Zitat des ehemaligen Präsidenten des RKG Max Bastian wieder aufzunehmen – noch später ihren Todesstrafen - Automatismus im Rückblick »mit reinem Gewissen« rechtfertigen.
Claudia Bade Deutsche Militärjuristen in Frankreich : Das Gericht des Kommandanten von Groß - Paris
Der ehemalige Kriegsgerichtsrat Ernst Roskothen (1907–1997) veröffentlichte im Jahr 1977 die Erinnerungen an seine Zeit als Kriegsrichter am Gericht des Kommandanten von Groß - Paris. Sie erschienen allerdings nicht als »klassischer« Erinnerungsbericht, sondern in Romanform.1 Roskothens Alter Ego in diesem Roman, Leutnant Amels, ist ein frankophiler, sympathischer und oft zweifelnder, dem Nationalsozialismus reserviert gegenüber stehender Wehrmachtsoffizier, der eher zufällig Wehrmachtrichter wird und fast ausschließlich von heldenhaften französischen Patrioten berichtet, die von ihm, Amels, vor dem Schafott gerettet wurden. Nebenbei verdeutlicht er, dass auch er Todesurteile habe fällen müssen. Gegen Ende des Romans lässt Roskothen Amels, nunmehr schon in Kriegsgefangenschaft, in sein Tagebuch schreiben : »Ich bin müde, möchte schlafen, und die vielen Paragraphen möchten’s auch. Sie wie ich sind abgegriffen, abgenutzt und abgehetzt : Schwert ward oft zu scharf geschliffen Und gewetzt.«2 Fast einsichtig erscheinen diese Zeilen – und stehen damit eigentlich der exkulpatorischen Intention des Romans entgegen. Denn das Schwert dieses Gerichtes wurde wahrlich scharf geschliffen, wie die Aktenüberlieferung zeigt, und zwar sowohl gegen Wehrmachtangehörige als auch gegen Franzosen. Nach bisherigen Erkenntnissen war fast die Hälfte derjenigen Urteile des Gerichtes, die dem Militärbefehlshaber in Frankreich ( MBF ) zur Bestätigung oder Aufhebung zuge1 2
Ernst Roskothen, Groß - Paris Place de la Concorde 1941–44. Ein Wehrmachtsrichter erinnert sich, Bad Dürrheim 1977. Ebd., S. 310.
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leitet werden mussten, Todesurteile.3 Die Höchststrafe erging dabei vor allem wegen Tatbeständen wie Freischärlerei, Feindbegünstigung, Spionage, unerlaubten Waffenbesitzes sowie wegen Desertion und »Zersetzung der Wehrkraft«.4 Es handelt sich dabei um mindestens 850 Todesurteile, die vor allem von 1941 bis einschließlich 1944 durch die Richter dieses Pariser Besatzungsgerichtes gefällt wurden. Angesichts einer solchen Bilanz gilt es, Antworten auf die Fragen zu finden, ob und auf welche Weise sich Spruchpraxis und Zusammensetzung des Richterkorps bedingten, und wie es möglich war, dass eine Gruppe von Wehrmachtjuristen, die in ihrer Mehrheit der nationalsozialistischen Ideologie nicht vorbehaltlos nahe stand, eine solch unerbittliche Urteilspraxis ausübte.5
1. Besatzung NS - und Wehrmachtführung entschieden sich nach der Besetzung Frankreichs im Mai 1940 für die Einrichtung einer Militärverwaltung, da es für das nationalsozialistische Deutschland – das zu diesem Zeitpunkt alle Anstrengungen auf eine siegreiche Beendigung des Krieges gegen England richtete – am wichtigsten erschien, erst einmal für Ruhe, Sicherheit und Ordnung zu sorgen. Besatzung und wirtschaftliche Ausbeutung des Landes sollten mit einem Minimum an Aufwand erfolgen. Dafür war der Waffenstillstand eine Lösung, die beiden Kriegsgegnern nützte : Die französische Seite erhielt eine scheinbare Souveränität durch die Installierung des Vichy - Régimes in der unbesetzten Zone Frankreichs; die deutsche Seite die Gewissheit, in der Zusammenarbeit mit französischen Dienststellen die Kontrolle zu behalten.6
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Bestätigungen durch den Militärbefehlshaber wurden bei den Gerichten, die dem MBF unterstellt waren, nur dann notwendig, wenn das Strafmaß mehr als fünf Jahre Haft betrug. Alle anderen Urteile unterlagen der Bestätigung durch den jeweiligen Gerichtsherrn des urteilenden Gerichtes. Eine ausführlichere Analyse der Spruchtätigkeit dieses Gerichtes wird demnächst in einer Publikation der Autorin vorliegen, die voraussichtlich 2014 erscheinen wird ( Arbeitstitel : Lebensläufe und Spruchpraxis von Wehrmachtrichtern ). Alle Zahlen und Erkenntnisse über die Urteilspraxis und die Richter des Gerichtes des Kommandanten von Groß - Paris in diesem Beitrag sind meinen Forschungen im Rahmen dieses Projektes entnommen. Gerade in dieser Härte der Mehrheit der Wehrmachtrichter werden m. E. die verbindenden Elemente zwischen bürgerlich - deutschnationalen Eliten und nationalsozialistischer Weltanschauung deutlich. Zu den NS - Militärrichtern zwischen Weltanschauung und Funktionsträgerschaft vgl. Claudia Bade, »Nur mit der Todesstrafe gerecht gesühnt« – Aufstieg und sanfter Fall eines Wehrmachtrichters. In : Totalitarismus und Demokratie, 7 (2010) 2, S. 239–259. Vgl. zum Verhältnis zwischen Vichy und der deutschen Besatzungsmacht Henry Rousso, Vichy. Frankreich unter deutscher Besatzung, München 2009, hier S. 18–22 und 42–50; Ulrich Herbert, Best. Biographische Studien über Radikalismus, Weltanschauung und Vernunft 1903– 1989, 3. Auflage Bonn 1996, hier S. 251.
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Der MBF war die zentrale Institution der Besatzungsverwaltung. Er verfügte über einen für die rein militärischen Besatzungsaufgaben zuständigen Kommandostab sowie über einen Verwaltungsstab, der die Aufsicht über die französischen Behörden und Dienststellen ausübte und die Wirtschaft im Sinne der Besatzungsmacht kontrollierte. Dem Kommandostab unterstanden die Besatzungstruppen sowie die örtlichen Befehlsstellen einschließlich der Feldkommandanturen ( FK ). Der Verwaltungsstab war in eine Abteilung Verwaltung und eine Abteilung Wirtschaft unterteilt. Leiter der ersten Abteilung war bis 1942 Werner Best (1903–1989),7 der den Begriff der »Aufsichtsverwaltung« schuf.8 Das bedeutete, dass Polizei, Justiz und allgemeine Behörden weiterhin in französischer Hand verblieben, jedoch immer jeweils von Dienststellen des MBF bzw. der Abteilung Bests beaufsichtigt werden sollten. Sicherheitspolizei ( Sipo ) und Sicherheitsdienst ( SD ) verfügten in den ersten beiden Jahren der Besatzungszeit nur über kleine Kommandos; stattdessen war die Geheime Feldpolizei ( GFP ) die wichtigste polizeiliche Stütze des Militärbefehlshabers. Daneben sind noch die französischen Polizeikräfte zu nennen. Ihre Beteiligung an den sicherheitspolizeilichen Aktivitäten der deutschen Besatzer, genauer gesagt, ihre Kollaboration, war ein wichtiger Bestandteil der Bestschen »Aufsichtsverwaltung«, da so die französischen Behörden mit in die Verantwortung gezogen werden konnten. Hauptaufgabe des MBF im Zuge der Ausübung der vollziehenden Gewalt war die Aufrechterhaltung von Sicherheit und Ordnung.9 Zu diesem Zweck erließ er in den besetzten Gebieten zahlreiche Befehle und Erlasse sowie Merkblätter zur Rechtspflege, die die juristische Basis der Polizei - und Sicherheitsmaßnahmen bildeten. Die französische Justiz existierte weiterhin parallel; die französische Staatsanwaltschaft ermittelte eigenständig, wenn es um Straftaten von Franzosen ging. Sobald jedoch Belange der Wehrmacht berührt waren, mussten die Fälle der Wehrmachtjustiz übergeben werden. Dem Militärbefehlshaber unterstanden territorial drei Militärverwaltungsbezirke sowie der Kommandant von Groß Paris. Den Bezirken wiederum waren auf regionaler Ebene mehrere Oberfeld und Feldkommandanturen ( OFK und FK ) sowie Kreiskommandanturen unterstellt. Die Kommandanturen waren gemeinsam mit Sipo und SD für die »innere Sicherheit« in den jeweiligen Gebieten zuständig und waren – in Zusammen-
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Zur Tätigkeit von Best in Frankreich vgl. Herbert, Best, S. 251–322. Vgl. Werner Best, Die deutsche Militärverwaltung in Frankreich. In : Reich – Volksordnung – Lebensraum, Band 1, 1941, S. 29–76. Zur Repressionspolitik der deutschen Militärverwaltung in Frankreich sowie zur Kriegführung und zum Partisanenkrieg sind in den letzten Jahren zahlreiche Veröffentlichungen in deutscher Sprache erschienen. Vgl. dazu beispielhaft Ahlrich Meyer, Die deutsche Besatzung in Frankreich 1940–1944. Widerstandsbekämpfung und Judenverfolgung, Darmstadt 2000; Peter Lieb, Konventioneller Krieg oder NS - Weltanschauungskrieg ? Kriegführung und Partisanenbekämpfung in Frankreich, München 2007.
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arbeit mit dem Präfekten – zugleich verantwortlich für die Aufsicht über die französische Verwaltung einschließlich der Gendarmerien. Den FK unterstanden zudem die im besetzten Frankreich tätigen Wehrmachtgerichte, die somit genauso zur deutschen Besatzungspolitik in Frankreich gehörten wie die »Geiselpolitik«, die Repressionen gegen die Zivilbevölkerung und der Kampf gegen die Partisanen; sie waren ein integraler Bestandteil der Militärverwaltung.10 Neben den in Frankreich befindlichen Divisionsgerichten, die sich meist nur zeitweise im Einflussbereich des Militärbefehlshabers aufhielten und die de facto überwiegend die von Angehörigen der operativen Truppen begangenen Delikte aburteilten, waren im besetzten Territorium für die Aufrechterhaltung von »Sicherheit und Ordnung« hauptsächlich die Gerichte der OFK und FK sowie das Gericht des Kommandanten von Groß - Paris zuständig. Dieses Gericht war das größte der Wehrmachtgerichte im besetzten Frankreich und bestand aus zwei Abteilungen – den Abteilungen A und B. Im Jahre 1944, kurz vor der Auflösung des Gerichtes, waren in der Abteilung A fünf Heeresrichter tätig, während es in der Abteilung B 21 Richter gab, also etwa vier Mal so viele. Der Rechtsprofessor, Gesetzeskommentator und ehemalige Heeresrichter Erich Schwinge (1903–1994) bekräftigt in der Einleitung zu Roskothens Roman, dass der Verfasser Handlungen abzuurteilen hatte, »die die Belange der Wehrmacht schwer geschädigt hatten oder schädigen konnten (Spionage, Feindbegünstigungen anderer Art und Terrorakte )«.11 Die dort tätigen Richter hätten, so Schwinge, »den ihnen anvertrauten Interessen der militärischen Sicherheit angemessen Rechnung getragen« und »bei alledem doch auch immer an die vor ihnen stehenden Menschen gedacht, das heißt, sie human, fair und gerecht behandelt«.12 Diese Aussagen möchten den Eindruck vermitteln, dass die Richter der Abteilung, in der Roskothen tätig war ( der Abteilung B ), allein Sabotageakte von Franzosen abzuurteilen gehabt und diese Urteile schweren Herzens und notgedrungen gefällt hätten. Die Aufgaben beider Abteilungen waren zunächst auch tatsächlich relativ klar voneinander getrennt : Während die Abteilung A Strafsachen gegen Wehrmachtangehörige, das Gefolge sowie auch deutsche Zivilisten verhandelte, war die Abteilung B für Franzosen, ausländische Zivilisten und Staatenlose zuständig. Naturgemäß unterschieden sich daher auch die Tatbestände, die in beiden Abteilungen zur Verhandlung gelangten, da sich auch die Taten von Wehrmachtangehörigen und Franzosen in der Regel unterschieden. Die Richter der Abteilung A urteilten mithin überwiegend Eigentumsdelikte und Wirtschaftsvergehen sowie Delikte ab, die nur von Militärangehörigen begangen 10
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Was bei Meyer und Lieb eher beiläufig Erwähnung findet, hat Gaël Eismann erstmals empirisch aufgearbeitet. Vgl. Gaël Eismann, Hôtel Majestic. Ordre et sécurité en France occupée (1940– 1944), Paris 2010. Roskothen, Groß - Paris, S. VII. Ebd.
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werden konnten ( z. B. Gehorsamsverweigerung, Misshandlung von Untergebenen, Ungehorsam usw.). Vor allem aber richteten sie über die Entziehungsdelikte wie unerlaubte Entfernung und Fahnenflucht. In den Verfahren der Abteilung B hingegen überwogen jene Straftatbestände, die vor allem von Landeseinwohnern begangen wurden bzw. begangen werden konnten, wie beispielsweise unerlaubter Waffenbesitz, Nichtablieferung oder Verteilung deutschfeindlicher Flugblätter, Feindbegünstigung, Spionage und Freischärlerei. Nicht so eindeutig verhält es sich mit dem Tatbestand der »Zersetzung der Wehrkraft« : Diese Fälle – die Angeklagten waren meist Wehrmachtangehörige – kamen in beiden Abteilungen zur Verhandlung. Demgegenüber führten die Richter der Abteilung B in der zweiten Hälfte der Besatzungszeit auch Verfahren größeren Umfangs wegen Wirtschaftskriminalität und Korruption durch, bei denen die Beschuldigten Deutsche waren. Die Abteilung B war in der Realität also »durchlässiger«, als es die Memoirenliteratur suggeriert.
2. Urteilspraxis Die Datenanalyse weist auf einige ausgeprägte Aspekte der Urteilstätigkeit des Pariser Kommandanturgerichtes hin.13 Vor allem fällt bei einem Blick in die überlieferten Strafsachenlisten in Bestätigungssachen des MBF eine große Menge an Todesurteilen gegen Franzosen und Französinnen auf – sie wurden wegen Freischärlerei, Feindbegünstigung, Sabotage und unerlaubten Waffenbesitzes mit der Höchststrafe belegt. Viele Urteile ergingen gegen Widerstandsgruppen von 20 oder mehr Personen. Zieht man außerdem die im Freiburger Militärarchiv überlieferten Verfahrensakten und Urteile dieses Gerichtes hinzu,14 so sticht hervor, dass im Vergleich zu anderen Wehrmachtgerichten hier recht viele Verfahren gegen deutsche Zivilisten durchgeführt wurden, was notwendigerweise auch in Verbindung mit der Tätigkeit zahlreicher Geschäftsleute, Vertreter nationalsozialistischer Organisationen sowie Kulturschaffender im besetzten Paris zu sehen ist.15 Die folgenden Ausführungen nehmen die Urteile gegen Reichsdeutsche – 13
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Die Quellengrundlage für die Datenanalyse bilden vor allem die im Bundesarchiv - Militärarchiv überlieferten Verfahrensakten des Gerichtes sowie die als Ersatz für die verloren gegangenen Strafsachenlisten fungierenden »Bestätigungslisten« sowie die »Allgemeinen Listen« des MBF (BArch, Pers 15/7392 bis Pers 15/7758 und BArch, RW 60/928 bis RW 60/931). Zu betonen ist allerdings, dass die überlieferten Verfahrensakten fast ausschließlich Verfahren gegen Deutsche bezeugen, während die »Bestätigungslisten« und die »Allgemeinen Listen« Auskunft über alle Verurteiltengruppen geben. Vgl. zur Atmosphäre im besetzten Paris aus zeitgenössischer, literarischer Sicht die Pariser Tagebücher von Ernst Jünger sowie die Aufzeichnungen von Felix Hartlaub. Vgl. Ernst Jünger, Strahlungen, Tübingen 1949; Felix Hartlaub, Kriegsaufzeichnungen aus Paris, Frankfurt a. M. 2011. Aus heutiger, literarischer Sicht vgl. dazu Klaus Harpprecht, Arletty und ihr deutscher
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Wehrmachtangehörige wie auch Zivilisten – in den Blick.16 Interessieren soll dabei, auf welche Weise sich die Situation im streng reglementierten ( militärischen ) Besatzungsalltag auf die Angehörigen der Besatzernation auswirkte, aber auch, welche Freiräume sich diese nahmen. Eng damit verknüpft ist die Frage nach der Reaktion des Richterkorps an diesem Ort auf nonkonforme, abweichende Verhaltensweisen von Soldaten und deutschen Zivilisten. Sicherlich lag der Zweck der Besatzungsgerichte in Frankreich in erster Linie darin begründet, für Sicherheit und Ordnung im Interesse der Wehrmacht zu sorgen und Aktionen von französischen Frauen und Männern zu bestrafen, die sich gegen die Besatzungsmacht richteten. Aber wie ist das harte Durchgreifen derjenigen Wehrmachtrichter zu erklären, die in den Verhandlungen nicht gegen Saboteure oder Freischärler zu urteilen hatten, sondern juristische Schritte gegen fahnenflüchtige Soldaten oder korrupte deutsche Geschäftsleute unternahmen ? Auffällig sind an dem Pariser Gericht vor allem die zahlreichen Urteile gegen Fahnenflüchtige – besonders ab dem Spätherbst 1942 und vor allem ab Januar 1943. Darunter waren viele Todesurteile, die in der Hälfte aller Fälle auch vollstreckt wurden. Doch kamen auch andere von Deutschen begangene Straftatbestände vor das Gericht des Kommandanten von Groß - Paris; neben Fahnenfluchtfällen waren dies vor allem Verfahren wegen »Zersetzung der Wehrkraft«, Diebstahls und militärischen Diebstahls, Plünderung, »widernatürlicher Unzucht zwischen Männern« sowie zahlreiche Fälle von Schwarzhandel, Betrug, Hehlerei und Untreue. Die Richter sprachen kriegsgerichtliche Urteile aber auch sehr häufig in disziplinarischen Angelegenheiten wie Ungehorsam und Volltrunkenheit. Quantitativ am häufigsten sind Urteile wegen Desertion, »Zersetzung der Wehrkraft«, Diebstahls und Amtsanmaßung vertreten. Die Höchststrafe verhängten die Pariser Richter gegen deutsche Wehrmachtangehörige, das Gefolge sowie deutsche Zivilisten vor allem bei Fahnenflucht ( in 48 von 77 Fällen, also in zwei Drittel aller Fälle ),17 Diebstahl und »Zersetzung der Wehrkraft« ( jeweils ca.
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Offizier. Eine Liebe in Zeiten des Krieges, Frankfurt a. M. 2011. Dieses Buch handelt von der Liebesaffäre der französischen Schauspielerin Arletty mit dem deutschen Luftwaffenrichter Hans Jürgen Soehring (1908–1960). Vgl. auch den Aufsatz von Gaël Eismann in diesem Band, in dem sie auf die Spruchtätigkeit der Gerichte des MBF gegen die französische Zivilbevölkerung explizit und auf statistischer Basis eingeht. Das Verhältnis von Todesstrafen zu anderen Strafmaßen bei einer Anklage wegen Fahnenflucht übertrifft damit sogar die Zahlen von Kristina Brümmer - Pauly, die als Sample einen Aktenbestand genutzt hat, der nur aus Fahnenfluchtfällen besteht – weshalb die Anzahl der Todesurteile hier auch wesentlich höher liegt, als es bei der Gesamtschau der Spruchtätigkeit eines »normalen« Divisionsgerichtes der Fall wäre. Vgl. Kristina Brümmer - Pauly, Desertion im Recht des Nationalsozialismus, Berlin 2006, S. 137; Christoph Rass, »Menschenmaterial« : Deutsche Soldaten an der Ostfront. Innenansichten einer Infanteriedivision 1939–1945, Paderborn 2003, S. 276–307, hier 283 f.
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20 Prozent der Urteile zu diesen Tatbeständen waren Todesurteile ) sowie bei schwerem Raub (10 der 11 Urteile hier waren Todesurteile ). Allein bei diesen vier Straftatbeständen ergingen 85 Todesurteile, wobei nicht bekannt ist, wie viele davon vollstreckt wurden. Es handelt sich zwar um weit weniger Todesurteile als bei den Delikten, wegen derer Franzosen verurteilt wurden, doch zeigt sich hier, wie unnachgiebig dieses Besatzungsgericht auch die deutschen Angeklagten disziplinieren und bestrafen wollte. Unter den überlieferten Verfahrensakten aus Paris befinden sich 44 Strafsachen wegen Desertion, geführt gegen insgesamt 46 Wehrmachtangehörige. Die Höchststrafe erging gegen 34 Angeklagte, wovon 27 hingerichtet wurden, also fast 80 Prozent. Wie hoch die Vollstreckungsquote bei diesem Gericht insgesamt lag, ist nicht überliefert. Es erscheint zunächst ungewöhnlich, dass die FK - und Bezirks - Gerichte so viele Fahnenfluchtsachen zu bearbeiten hatten. Dies lag wohl nur zu einem geringeren Teil daran, dass in Paris die Möglichkeiten für flüchtige Soldaten, Unterschlupf zu finden, größer waren als anderswo. Weitere Erklärungen finden sich bei einem Blick in die Akten. Viele der Deserteure waren vorbestraft, also bereits von anderen Heeresgerichten verurteilt worden, und zwar sowohl wegen »krimineller« Delikte als auch wegen unerlaubter Entfernung, manchmal sogar Fahnenflucht. Das Pariser Gericht fungierte mithin in diesen Fällen als eine Art »zweite Instanz« : Zuweilen waren die Urteile vor den in Fahnenfluchtfällen eigentlich zuständigen Divisionsgerichten vom jeweiligen Gerichtsherrn ( noch ) nicht bestätigt worden und mussten daher an einem anderen Gericht nochmals verhandelt werden. Und dies geschah dann – wenn die Einheit des Deserteurs in Frankreich stationiert war – häufig in Paris.18 Zudem wurden Verhandlungen wegen Fahnenflucht häufig am Ort des Aufgreifens des Delinquenten geführt.19 In ganz Frankreich, besonders aber in Paris, spürten Einheiten der Feldgendarmerie oder der GFP zahlreiche Deserteure auf und brachten sie nach Paris, denn hier am Sitz der Militärverwaltung befand sich ohnehin das meiste Personal. Aus den Urteilsbegründungen wird der Grund ersichtlich, warum es zu einer »Flut« an Prozessen gegen Deserteure kam : Im November 1942 rückte die Wehrmacht auch in den bis dahin unbesetzten Süden Frankreichs ein. Diese Aktion »spülte«
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Ein Beispiel : Das Gericht des Kommandanten von Groß - Paris verurteilte einen Deserteur am 3. 3. 1941 zum Tode; das Urteil wurde eine Woche später vollstreckt. Der Betroffene war zwei Monate zuvor – ebenfalls wegen Fahnenflucht – vom zuständigen Gericht der 297. Infanteriedivision ( ID ) zu 7 Jahren und 6 Monaten Zuchthaus verurteilt worden. Dieses Urteil war aber durch den Gerichtsherrn aufgehoben worden, weil er die Todesstrafe für angebracht hielt. Die Urteilsbegründung vom 3. 3. 1941 hält fest, dass das Gericht der 297. ID im Anschluss an die Urteilsaufhebung das Gericht des Kommandanten von Groß - Paris um Aburteilung ersucht hatte ( BArch, Pers 15/7524). Aus diesem Grund kam es auch an Gerichten des Ersatzheers sehr häufig zu Verhandlungen gegen Deserteure. Vgl. dazu den Aufsatz von Kerstin Theis in diesem Band.
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ganz nebenbei auch verschiedene Deserteure, die sich dort aufhielten, in die Fänge der Feldpolizei und somit der Wehrmachtjustiz.20 Die Soldaten waren meist schon lange Zeit vor ihrer Ergreifung »von der Truppe« geflohen und besaßen aus diesem Grunde ihre Uniformen nicht mehr. So konnten die Richter vielfach argumentieren, dass die Deserteure sich zweifellos dauerhaft der Wehrmacht hatten entziehen wollen – und genau dieses Tatbestandsmerkmal der Absicht zur dauerhaften Entziehung unterschied erst die Tatbestände der unerlaubten Entfernung und der Fahnenflucht. Da zudem der Aufenthalt in der unbesetzten Zone als Flucht ins Ausland galt, wurde meist nach der »Hitler - Richtlinie« von 1940 auf Fahnenflucht erkannt und die Todesstrafe ausgesprochen.21 Der Strafrahmen bei Desertionen sah keineswegs nur die Todesstrafe vor, und zwar weder nach den §§ 69 und 70 Militärstrafgesetzbuch ( MStGB ) noch nach Hitlers »Richtlinie des Führers und Obersten Befehlshabers der Wehrmacht für die Strafzumessung bei Fahnenflucht« vom 14. April 1940.22 Allerdings waren mit dieser Richtlinie bestimmte Kriterien vorgegeben, nach denen ein Todesurteil »geboten« war, nämlich dann, wenn ein Deserteur aus »Furcht vor persönlicher Gefahr« gehandelt oder sich »während der Fahnenflucht verbrecherisch betätigt« hatte sowie bei dem Versuch, sich ins Ausland abzusetzen. In der Praxis jedoch zeugen die Urteilsbegründungen davon, dass die Richter sich zwar immer auf diese normativen Grundlagen bezogen, sie aber zugleich in starkem Maße auch eine völlige Abwertung des Charakters des Deserteurs vornahmen. Die Angeklagten wurden dabei häufig stark herabgesetzt, indem der Richter sie als »haltlose Psychopathen« bezeichnete oder ihnen vorwarf, sie hätten sich selbst aus der Volksgemeinschaft ausgeschlossen und daher ihr »Recht auf Leben verwirkt«.23 In einem Fall bezog sich der Richter sogar auf die angeblich zu milde Kriegsgerichtsbarkeit 1918 und begründete damit sowohl die allgemein notwendige Härte »gegenüber willensschwachen Elementen« sowie speziell in diesem Verfahren das Todesurteil gegen einen »moralisch ziemlich haltlosen« Menschen.24 Die beiden Beisitzer in dem Verfahren befürworteten einen Gnadenerweis. Der verurteilende Richter jedoch verweigerte seine Zustimmung und schrieb in seiner Stellungnahme : »Die Erhaltung des Lebens eines derartigen
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So z. B. der Obergefreite Hermann D., der ein knappes Jahr nach seiner Flucht gefasst, zum Tode verurteilt und im Oktober 1943 hingerichtet wurde ( BArch, Pers 15/7438). Die Richtlinie des Führers und Obersten Befehlshabers der Wehrmacht für die Strafzumessung bei Fahnenflucht vom 14. 4. 1940 beinhaltete den Passus : »Die Todesstrafe ist im allgemeinen angebracht bei wiederholter oder gemeinschaftlicher Fahnenflucht und bei Flucht oder versuchter Flucht ins Ausland.« Amtliche Fußnote zu § 70 MStGB vom 10.10.1940 ( RGBl. 1940 I, S. 1353). Verordnung über die Neufassung des MStGB vom 10.10.1940 ( ebd., S. 1347). Beide Zitate aus einem Urteil vom 22.1.1943 ( BArch, Pers 15/7579). Beide Zitate aus einem Urteil vom 19.3.1943 ( BArch, Pers 15/7587).
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Schwächlings ist offenbar für die Volksgemeinschaft nicht nur wertlos, sondern eher eine Belastung.« Allein die Tatsache, dass der Delinquent aus der Perspektive des Richters ein »Schwächling« war, genügte, um sein Leben als nicht erhaltenswert zu bezeichnen – und entsprechend zu handeln. Der Soldat wurde vier Tage nach dem Urteil erschossen.25 Bei den in Paris lebenden reichsdeutschen und staatenlosen Zivilisten, die in den Focus des Pariser Gerichtes gerieten, handelte es sich vielfach um Menschen, die während der 1930er Jahre aus unterschiedlichen Gründen aus Deutschland emigriert waren, aber auch um Vertreter verschiedener NS - Organisationen oder von Wirtschaftsunternehmen. Diese machten im Auftrag des Reiches oder der Wehrmacht Geschäfte in Frankreich. Unter ihnen befanden sich z. B. Beschäftigte des Pariser Büros einer Berliner Nachrichtenagentur, Angestellte einer Propaganda - Abteilung oder der Geschäftsführer einer Kraftfahrzeug - Ankaufsfirma. Typische Straftatbestände, wegen derer diese Zivilisten vor das Kriegsgericht kamen, waren Unterschlagung, Untreue und Devisenvergehen, aber auch andere Wirtschaftsdelikte. Teilweise wurden empfindlich hohe Strafen ausgesprochen, manchmal kamen die Angeklagten aber auch mit niedrigen Strafmaßen davon. Wurde wegen Wirtschaftsdelikten auf die Höchststrafe erkannt, so kam neben der Kriegswirtschaftsverordnung oder anderen Verordnungen zumeist zugleich die »Volksschädlingsverordnung« ( VVO )26 zur Anwendung. Zudem sind einige Fälle zu verzeichnen, bei denen die Militärjustiz auf Wehrdienstentziehung erkannte und die Angeklagten dementsprechend wegen »Zersetzung der Wehrkraft« verurteilte. Emigranten – in einem Fall sogar ein ehemaliger deutscher Staatsangehöriger, dem die Nazis die Staatsbürgerschaft entzogen hatten – sahen sich mit dem Vorwurf konfrontiert, sie seien ja seit Jahren wehrpflichtig und hätten sich durch die Emigration der Wehrpflicht entzogen.27
3. Das Richterkorps in Paris : Die Akteure und ihre Handlungsoptionen In der Datensammlung aller Wehrmachtjuristen, die im Rahmen meines Forschungsprojektes erstellt wurde und die mittlerweile mehr als 2 000 Personen umfasst, sind 78 Heeresrichter verzeichnet, die im Laufe des Krieges in einer der beiden Abteilungen des Gerichtes des Kommandanten von Groß - Paris ihren Dienst taten. Die Dauer ihrer Tätigkeit bei dem Gericht variierte allerdings stark. Während einige Richter lediglich ein paar Wochen Dienst bei diesem Gericht
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Ebd. Verordnung gegen Volksschädlinge vom 5.9.1939 ( RGBl. 1939 I, S. 1679). So z. B. in : BArch, Pers 15/7467 ( hier jedoch »nur« 4 Monate Gefängnis wegen »Zersetzung der Wehrkraft«), Pers 15/7477, Pers 15/7550, Pers 15/7666 ( jeweils vollstreckte Todesurteile ).
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leisteten, verbrachten andere einen Großteil der gesamten Besatzungszeit dort.28 Von den 78 Richtern waren nur elf aktive Heeresrichter, 55 der Pariser Militärjuristen versahen als Reserve - oder Ergänzungsrichter ihren Dienst, hatten also einen anderen Beruf, bevor sie zur Wehrmacht eingezogen wurden, von zwölf sind genaue Informationen nicht überliefert. Die Berufe der 55 Ergänzungsrichter im Zivilleben waren unterschiedlich : Während 32 als Richter oder Staatsanwälte bis zu ihrem Dienst in der Wehrmacht bereits an »zivilen« Gerichten tätig gewesen waren, gab es neun, die zuvor als Rechtsanwälte und Notare tätig waren. Zwei der in Paris tätigen Ergänzungsrichter waren Universitätsprofessoren, einer war vor dem Krieg Beamter der Oberfinanzdirektion in Breslau und ein weiterer Ministerialdirigent im Auswärtigen Amt. Von den übrigen ist der Beruf nicht bekannt. Interessant ist ein Blick auf die Altersstruktur der in Paris eingesetzten Richter. Von den 78 erwähnten Richtern wurden elf zwischen 1881 und 1890 geboren und 34 zwischen 1891 und 1900. Im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts waren hingegen nur wenig mehr als die Hälfte davon, nämlich 19, geboren worden. Drei weitere gehörten zum Jahrgang 1911 und jünger, bei elf Personen ist das Geburtsjahr nicht bekannt. Die Mehrheit dieser Richter war also noch im 19. Jahrhundert geboren worden; die meisten von ihnen hatten am Ersten Weltkrieg als Frontsoldat teilgenommen. Ihre juristische Ausbildung hatten sie in der Kaiserzeit oder der Weimarer Republik erhalten und waren im Jahr des deutschen Einmarsches in Paris zwischen 40 und 69 Jahre alt. Die Zahl der Juristen der sogenannten »Kriegsjugendgeneration«,29 die während des Ersten Weltkriegs Kinder oder Jugendliche gewesen waren, war also mit insgesamt 22 Personen wesentlich geringer. Diese Altersstruktur ist durch die hohe Anzahl der Ergänzungsrichter erklärlich, denn dies waren Juristen mit Berufserfahrung. An den Ersatzheergerichten war die Altersstruktur ähnlich, auch hier versahen zahlreiche ältere Richter ihren Dienst. Doch es erstaunt im Hinblick auf die eben angedeutete Spruchpraxis des Pariser Gerichtes ein wenig, dass gerade diese größere Zahl älterer Juristen mit eher deutschnationaler Sozialisation für die in Paris getätigte drakonische Urteilspraxis verantwortlich war. Wie alle Kriegsrichter besaßen auch die des Gerichtes des Kommandanten von Groß - Paris Handlungsspielräume, die sich bei der Untersuchung der 28
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An Gerichten des Feld - und des Ersatzheers gab es generell eine hohe Binnenfluktuation im Richterkorps. Vgl. Christoph Rass / René Rohrkamp, Dramatis Personae. Die Akteure der Wehrmachtjustiz. In : Ulrich Baumann / Magnus Koch ( Hg.), »Was damals Recht war ...« Soldaten und Zivilisten vor Gerichten der Wehrmacht, Berlin 2008, S. 95–112, hier 104 f. Der Publizist Sebastian Haffner beschrieb die Generation der zwischen 1900 und 1910 Geborenen als die »eigentliche Generation des Nazismus«; vor allem das Kriegserlebnis der deutschen Schuljungen während des Ersten Weltkrieges habe die Nationalsozialisten hervorgebracht. Vgl. Sebastian Haffner, Geschichte eines Deutschen. Die Erinnerungen 1914 bis 1933, München 2008, S. 23.
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Urteile verdeutlichen lassen. Bereits § 5 der Kriegssonderstrafrechtsverordnung (KSSVO), welcher die Tatbestandsmerkmale für die »Zersetzung der Wehrkraft« lieferte, war nicht nur eine explizit nationalsozialistische Strafnorm, sondern auch bewusst vage formuliert.30 Die KSSVO wies für den Regelfall der hier zusammengefassten Delikte die Todesstrafe aus, das Gericht konnte aber in minder schweren Fällen auch auf Zuchthaus - oder Gefängnisstrafen erkennen. Es lag also im Ermessen des Richters zu entscheiden, ob es sich um einen minder schweren Fall handelte oder nicht. Lag eine Desertion vor, versuchten Richter bisweilen die Fahnenflucht als unerlaubte Entfernung zu deuten, um ein milderes Strafmaß zu erzielen, etwa wenn der Angeklagte seine Uniform noch nicht abgelegt hatte.31 In einem solchen Fall interpretierten sie das Behalten der Uniform derart, dass der Soldat sich noch nicht völlig oder dauerhaft von der Wehrmacht losgelöst hatte und somit keine Fahnenflucht vorlag. In einem anderen Desertionsfall versteckte sich ein Soldat in Paris bei einer Prostituierten und erhielt von ihr Lebensmittel und Unterkunft.32 Dies wurde von dem Richter als – strafbare – »Zuhälterei« interpretiert und damit war aus der Sicht des Gerichtes der »Beweis« gegeben, dass der Soldat sich nach seiner Flucht »verbrecherisch betätigt« hatte. Dies ergab eine unmittelbare Auswirkung auf das Strafmaß, denn bei »verbrecherischer Betätigung« konnte das Gericht nach der bereits erwähnten Hitler - Richtlinie von 1940 ein Todesurteil verhängen. So geschah es; das Urteil wurde drei Tage später vollstreckt. Die Handlungsoptionen der Richter zeigten sich jedoch noch in einem ganz anderen Bereich als dem der »politischen« Fälle, denn auch Eigentumsdelikte und militärische Diebstähle wurden sehr unterschiedlich bewertet. Zwar hing das Strafmaß bei Diebstählen und Unterschlagungen nicht nur vom urteilenden Richter oder dem Schuldspruch, sondern auch vom Warenwert ab. Jedoch können auch vergleichsweise milde Strafen aufschlussreich sein. Um ein Beispiel zu nennen : Ein Oberleutnant entwendete Ende 1941 aus Beutegutbeständen mehrere Meter Fesselballonseide, nachdem er den Verwalter des Bestandes dazu angestiftet hatte, sie ihm zu verkaufen. Da er den Stoff für sich selbst verwenden wollte, galt dies als »Anstiftung zum militärischen Diebstahl« sowie als Hehlerei; er erhielt dafür eine Strafe von nur vier Wochen geschärftem Stubenarrest.33 Der Oberleutnant hatte jedoch die Ballonseide nicht einfach weggenommen, sondern
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Verordnung über das Sonderstrafrecht im Kriege und bei besonderem Einsatz ( Kriegssonderstrafrechtsverordnung ) vom 17.8.1938 ( RGBl. 1939 I, S. 1455). Vgl. BArch, Pers 15/7558. Das Urteil lautete hier auf 12 Jahre Zuchthaus wegen unerlaubter Entfernung in Tateinheit mit verschiedenen Eigentumsdelikten. Außerdem kam hier allerdings § 4 der VVO zur Anwendung, was die hohe Zuchthausstrafe für die unerlaubte Entfernung erklärt. Vgl. BArch, Pers 15/7500. BArch, Pers 15/7552.
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wollte dafür bezahlen, damit galten hier gewissermaßen »mildernde Umstände«, auch wenn Beutegut entwendet wurde. Der Stubenarrest als Strafmaß ist sicher auch damit zu erklären, dass es sich bei dem Angeklagten um einen Offizier handelte. In einem anderen Fall stahl ein junger Soldat aus dem Spind eines Kameraden ein Portemonnaie, in dem sich 100 Francs befanden. Er rührte das Geld nicht an, wurde trotzdem überführt und zu einem Jahr und sechs Monaten Gefängnis verurteilt.34 Der Richter wertete die Jugend des Angeklagten als strafmildernd – sogenannter »Kameradendiebstahl« galt eigentlich als besonders verwerflich –; und dennoch erscheint die Strafe in unseren Augen relativ hoch. Doch hier wurde im Bestätigungsverfahren verfügt, dass erst einmal nur sechs Wochen als geschärfter Arrest vollstreckt, die Reststrafe zur Bewährung ausgesetzt werden sollte. Es war nicht nur am Pariser Gericht eine gängige Praxis, formal eine etwas höhere, der Abschreckung dienende Strafe zu verhängen, dann aber die Höhe der zu vollstreckenden Strafe mit Hilfe der Bestätigungsverfügung zu verringern, um so die Folgen für den Soldaten abzuschwächen. Ganz anders lag ein Fall von Diebstahl, der für den Angeklagten die Höchststrafe nach sich zog. Ein Gefreiter wurde mit seiner Einheit Anfang Januar 1942 in Homburg / Saar zum Bewachen von für die Ostfront gesammelten Wintersachen abkommandiert, wo er am 5. Januar 1942 sieben Paar Wollsocken stahl.35 Das Urteil erging am 16. Januar; die Tat wurde nach der erst wenige Tage zuvor veröffentlichten »Verordnung des Führers zum Schutz von Wintersachen für die Front vom 23. Dezember 1941« beurteilt – demnach stand auf eine solche Tat die Todesstrafe.36 Allerdings hätte der Richter dies auch als militärischen Diebstahl werten können, wie es in solchen Fällen dutzendfach geschehen ist. Der Angeklagte versicherte, seine Einheit habe in der Kaserne kein Radio gehabt, er habe somit nicht gewusst, dass darauf die Todesstrafe stand. Er habe dies erst einige Tage später erfahren – eine Einlassung, die der Richter auch mit dem Hinweis auf den »Verbotsirrtum« mit mildernden Umständen hätte belegen können. Das tat er nicht, sondern befand : »Der Angeklagte hat nicht aus Not, sondern aus unbeherrschter Habgier gehandelt. Als Wache sollte er gerade die Bekleidungsstücke betreuen, an denen er sich [...] schamlos bereicherte. [...] Ihm war bekannt, dass jene Gaben durch den Opfersinn des ganzen deutschen Volkes zusammengebracht waren [...]. Nur aus solcher asozialen Gesamthaltung, aus seinem minderwertigen Charakter ist sein Verbrechen zu erklären. Die Tat des Angeklagten entspricht und entspringt seiner niedrigen Gesinnung.« Mit anderen Worten :
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BArch, Pers 15/7483. BArch, Pers 15/7541. Verordnung des Führers zum Schutz der Sammlung von Wintersachen für die Front vom 23.12.1941 ( RGBl. 1941 I, S. 797).
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Juristische Belange spielten bei der Beurteilung des Vorganges letztlich keine Rolle; einmal mehr berief sich der zuständige Richter auf die »Tätertypenlehre«.37 Sei zuletzt noch ein ähnlicher Fall von Willkürjustiz im Zusammenhang mit Wirtschaftsvergehen genannt, diesmal gegen einen Zivilisten. Der Geschäftsführer eines Unternehmens, das für die Wehrmacht in Paris Autos erwarb, veruntreute über einige Jahre hinweg größere Geldbeträge, indem er beispielsweise Provisionen für einen Angestellten kassierte, der schon lange nicht mehr bei ihm beschäftigt war.38 Zwar war der § 266 RStGB im Mai 1933 novelliert worden (»im Kampfe gegen Schiebertum und Korruption«), aber selbst in dieser Fassung stand auf Untreue in besonders schweren Fällen höchstens eine Zuchthausstrafe von fünf Jahren. Der Richter wendete in diesem Fall allerdings den § 4 VVO an und verhängte ein Todesurteil.39 Das Urteil beruhte auf dem umfangreichen Geständnis des Angeklagten über seine Veruntreuung von Reichsgeldern in Millionenhöhe. Während des Prozesses war sein Gesundheitszustand äußerst schlecht; er hatte nicht mehr lange zu leben. Zudem war er seit 1930 Mitglied der NSDAP, aber dies alles war für das Gericht kein Grund für eine Strafmilderung. Es habe ein besonders schwerer Fall vorgelegen, da »die Tat das Wohl des Volkes geschädigt« habe, denn es wurden ja Reichsgelder veruntreut. Auch wenn der materielle Schaden hier tatsächlich sehr hoch war, wird in der Urteilsbegründung noch auf etwas anderes abgehoben : »Ein großer moralischer Schaden liegt insofern vor, als das Ansehen des deutschen Kaufmanns in Frankreich erheblich geschädigt worden ist.« Doch das Todesurteil wurde eben nicht wegen der besonderen Schwere der Tat ausgesprochen, sondern weil der Täter aus der Sicht des Richters »ein typischer Schieber« sei. Es heißt in der Urteilsbegründung : »Nach der ganzen Art und Weise, wie der Angeklagte bei seinen Schiebergeschäften vorgegangen ist, und wie er versucht hat, das Vermögen durch Scheingeschäfte verschwinden zu lassen, fordert das gesunde Volksempfinden die Todesstrafe.« Der Gerichtsherr bestätigte das Urteil, allerdings wurde es erst Monate später
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Die »Lehre vom Tätertyp« wurde von dem Kieler Strafrechtler Georg Dahm und anderen Vertretern des sogenannten »Neuen Rechtsdenkens« entworfen und stellte die Persönlichkeit bzw. das »Wesen« des Täters in den Mittelpunkt. Demnach sollte er einem sogenannten Täterbild zugeordnet werden, das dem Gesetzgeber bei Formulierung der Gesetze vor Augen stand. Vgl. Georg Dahm, Der Tätertyp im Strafrecht. In : Festschrift der Leipziger Juristenfakultät für Dr. Heinrich Siber zum 10. April 1940, Band I, Leipzig 1941, S. 183–246; Detlef Garbe, »In jedem Einzelfall ... bis zur Todesstrafe«. Der Militärstrafrechtler Erich Schwinge. Ein deutsches Juristenleben, Hamburg 1989, S. 22 f. Vgl. BArch, Pers 15/7414. Alle folgenden Zitate zu dem Fall stammen aus dieser Akte. Im § 4 der VVO heißt es : »Wer vorsätzlich unter Ausnutzung der durch den Kriegszustand verursachten außergewöhnlichen Verhältnisse eine sonstige Straftat begeht, wird unter Überschreitung des regelmäßigen Strafrahmens mit Zuchthaus bis zu 15 Jahren, mit lebenslangem Zuchthaus oder mit dem Tode bestraft, wenn dies das gesunde Volksempfinden wegen der besonderen Verwerflichkeit der Straftat erfordert.« ( RGBl. 1939 I, S. 1679).
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durch Erschießen vollstreckt, da der Verurteilte noch in anderen Verfahren gegen weitere Beschuldigte in diesem Unterschlagungskomplex aussagen musste. Unterschrieben hat das Urteil übrigens der eingangs erwähnte Ernst Roskothen, der sich nach 1945 als besonders humanen Kriegsrichter darstellte.40 Gerade § 4 der VVO bot sehr weite Ermessenspielräume, ebenso der Begriff des »gesunden Volksempfindens«.41 Wer diese Verordnung bei Gericht in Anwendung brachte, legte die Rechtsprechung meist uneingeschränkt im Sinne der nationalsozialistischen Führung aus.
4. Fazit Ulrich Herbert beschrieb in seiner Best - Biografie , dass die unterschiedlichen politischen und weltanschaulichen Vorstellungen der konservativen Protagonisten der Militärverwaltung in Frankreich und das völkische Denken der Verwaltungsabteilung unter Werner Best nicht ernsthaft miteinander in Konflikt gerieten.42 Die verschiedenen Wertesysteme hätten sich an vielen Punkten überschnitten, auch wenn es für gleiches Handeln oft unterschiedliche Motive gab. Für die konservativen Militärs stellten demnach die traditionelle deutsche Großmachtpolitik und soldatische Vorstellungen von der »Anständigkeit« gegenüber als gleichrangig empfundenen Gegnern die Grundlagen ihres Denkens und Handelns dar. Ähnliches lässt sich auch für die im besetzten Paris tätige Richterschaft feststellen, die in der Mehrheit einem ähnlichen weltanschaulichen Milieu entstammte wie die gesamte Wehrmachtspitze in Frankreich. Vielleicht lassen sich damit Erklärungsmuster finden, warum die überwiegend nationalkonservative Richterschaft eine solch drakonische Spruchpraxis wie in Paris zu verantworten hat. Ich möchte dies anhand ihrer hier dargestellten Spruchtätigkeit sowohl bei eher »politisch« gewerteten als auch bei »kriminellen« Delikten verdeutlichen und zusammenfassen.
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Roskothen beschrieb sich 1946 in einer Bescheinigung für einen Kollegen, der ebenfalls beim Gericht des Kommandanten von Groß - Paris tätig gewesen war, als »wegen humaner Amtsführung als Kriegsgerichtsrat in Paris 1941 bis 1944 auf bes. Befehl der frz. Regierung vorzeitig aus der Kriegsgefangenschaft entlassen.« Vgl. Bescheinigung für Erich Eckardt vom 6. 3. 1946 (Staatsarchiv Hamburg, 241–2, A 3456, unfol.). Ein guter Überblick über die rechtswissenschaftliche Diskussion unter NS - Juristen zu diesem Thema findet sich bei Paul Schrader, »Gesundes Volksempfinden« im rechtswissenschaftlichen Diskurs der NS - Zeit. In : »Verbotener Umgang mit Kriegsgefangenen«. Verfahren am Landgericht Halberstadt 1940–1945. Hg. von der Heinrich - Böll - Stiftung Sachsen - Anhalt / Gedenkstätte ROTER OCHSE Halle ( Saale ), Halle 2012, S. 31–38. Vgl. zum Methodenstreit der Rechtswissenschaftler aus Kiel und Marburg Garbe, Einzelfall, S. 21–30. Herbert, Best, S. 270 f.
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1. Das massive Auftreten von Desertionen, aber auch die harte Urteilspraxis gegenüber Deserteuren ist sicher in einem gewissen Maße situativ zu erklären: Aufgrund der besonderen Situation in Frankreich mit der zeitweiligen Teilung in einen besetzten und einen unbesetzten Teil des Landes ergaben sich für Soldaten mehr Fluchtgelegenheiten als anderswo. Die Zeiträume der Entziehungen waren länger, da die Wehrmachtangehörigen in den unbesetzten Teil Frankreichs wechseln und sich so dem Zugriff der Feldpolizei entziehen konnten. Aber allein schon die geschilderte Menge an Desertionsfällen brachte aus der Sicht der Wehrmacht einen hohen Disziplinierungsbedarf mit sich. Und da die Fahnenflucht als die schärfste Form der Entziehung aus der Wehrmacht galt, war die Urteilspraxis doch auch von den persönlichen und ideologischen Prägungen der Richter abhängig. So wurde das Argument des »Treuebruchs« und des »Verrates« besonders häufig von Richtern der älteren Generation angewandt, die als ehemalige Frontsoldaten des Ersten Weltkriegs mit dem Bild eines der Militärjustiz unterstellten »Versagens« im Ersten Weltkrieg vertraut waren. Diese hatte nach Meinung der damaligen Generalität nicht hart genug durchgegriffen und somit zur deutschen Niederlage im Ersten Weltkrieg beigetragen. Als »Treuebruch« werteten die Militärjuristen die Tatsache, dass die durch die Vereidigung besiegelte Treue zum Vaterland und zu Adolf Hitler, durch den Deserteur gebrochen wurde.43 Aus dem ursprünglich rein militärischen Tatbestand wurde so ein politischer. Die Sichtweise, Deserteure in erster Linie als »Feiglinge« zu sehen und für die Beurteilung des Delinquenten die Lehre vom »Tätertyp« anzuwenden, war somit gleichermaßen offen für beide weltanschauliche Hintergründe : Das Urteil konnte entweder aus völkischer Sicht oder aus konservativ - militärischer Sicht zustande gekommen sein – das Ergebnis blieb doch dasselbe. Die Militärjuristen betrachteten Desertion nicht als Rechtsgutverletzung, sondern als Ausdruck einer »verwerflichen« oder »verräterischen« Gesinnung. 2. Auch Wirtschaftsvergehen und Korruption mussten aus Sicht der Wehrmacht hart bestraft werden, denn einerseits stand hier das sogenannte »Ansehen der Wehrmacht« auf dem Spiel. Andererseits hatten aber die Wehrmacht und ihre Akteure ( also auch das Richterkorps ) darauf zu achten, dass die Hauptprofiteure der Besatzung die Wehrmacht und der nationalsozialistische Staat bzw. die Volksgemeinschaft insgesamt waren, aber eben nicht der einzelne Volksgenosse. So konnten sich die Truppen Raub - und Beutegut in ihre Bestände
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Vgl. zum Thema Desertion als »Treuebruch« Manfred Messerschmidt, Die Wehrmachtjustiz 1933–1945, Paderborn 2005, S. 173–199; Magnus Koch, Fahnenfluchten. Deserteure der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg – Lebenswege und Entscheidungen, Paderborn 2008; Maria Fritsche, Entziehungen. Österreichische Deserteure und Selbstverstümmler in der deutschen Wehrmacht, Wien 2004.
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einverleiben – dies galt als »Leben aus dem Land«. Doch ein einzelner Soldat, der Beutegut selbstständig und eigenmächtig an sich nahm, musste dafür mit hohen Strafen rechnen. Im Sommer 1944 veröffentlichte die Wehrmachtführung spezielle Erlasse zur Bekämpfung der Korruption.44 In einer Richtlinie des »Chefs der Personellen Rüstung und nationalsozialistischen Führung der Luftwaffe« vom September 1944 wird ausdrücklich klargestellt : »Korruption zersetzt die Wehrkraft«.45 Der nationalsozialistische Staat habe sich die Sauberkeit im Wirtschaftsleben zum Ziel gesetzt und handle gemäß dem Grundsatz »Gemeinnutz geht vor Eigennutz«. Auf mehreren Seiten wird vor den Gefahren der Korruption für den »Volkskörper« gewarnt. Es werden Beispiele für Vergehen genannt, die juristisch als Korruption geahndet werden können – und diese reichten vom »Erwerb bezugsbeschränkter Erzeugnisse« bis hin zur »Betätigung als übler Schieber«. Alles ist so formuliert, dass sich sowohl überzeugte Nationalsozialisten hier wiederfinden können als auch Juristen, die einfach »im Wehrmachtinteresse den Stier bei den Hörnern packen« wollen. Mit anderen Worten : Im Interesse der Truppe und der Volksgemeinschaft konnten nationalkonservative und nichtnationalsozialistische Richter wie Ernst Roskothen Todesurteile wegen Untreue unter Verwendung nationalsozialistischer Strafnormen fällen, ohne zugleich auch allen anderen nationalsozialistischen Zielen folgen zu müssen. Ohne viel Federlesens wandten diese Männer NS - Strafnormen wie die VVO oder den § 5 KSSVO an, da hier aus ihrer Sicht gewisse verfahrensrechtliche Standards und eine formale Gesetzesbindung noch gegeben waren. Mehr noch: Durch die Distanz, die viele der in Paris tätigen Richter zur nationalsozialistischen Ideologie zeigten, hoben sie sich aus ihrer ( eigenen ) Sicht von den Männern des SD ab. Ungeachtet ihrer drakonischen Urteilspraxis diente ihnen diese Distanz nach 1945 zugleich zur Selbstrechtfertigung und Selbstreinwaschung.
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Vgl. Rudolf Absolon ( Bearb.), Wehrmachtstrafrecht im Zweiten Weltkrieg. Sammlung der grundlegenden Gesetze, Verordnungen und Erlasse, Kornelimünster 1958, S. 82–89. Dieses und die folgenden Zitate aus : Richtlinie des Chefs der Personellen Rüstung und nationalsozialistischen Führung der Luftwaffe vom 6. 9. 1944. In : Absolon, Wehrmachtstrafrecht, S. 85–89.
Peter Steinkamp Lebens - und Gesundheitsbedingungen in den Feldstrafgefangenenabteilungen der Wehrmacht : Hungertodesfälle1
Die quellenmäßige Grundlage für die hier zu beschreibenden Hungertodesfälle von Wehrmachtstrafgefangenen bildet vor allem eine umfassende Sammlung von Obduktionsberichten, die von September 1939 bis Spätsommer / Herbst 1944 von Pathologen des Heeres über von ihnen durchgeführte Leichenöffnungen angefertigt wurden.2 Diese Sammlung von rund 218 000 Obduktionsprotokollen befindet sich im Bundesarchiv - Militärarchiv Freiburg im Aktenbestand RH 12–23 der Heeressanitätsinspektion,3 wohin diese Anfang des 21. Jahrhunderts vom Krankenbuchlager4 Berlin abgegeben worden war. Im Rahmen der wie von allen anderen Beratenden Fachärzten beim Heeressanitätsinspekteur auch vom Beratenden Pathologen geforderten Anstrengungen zum Sammeln kriegsärztlicher Erfahrungen5 waren sämtliche Beratenden Pathologen des Feld - und Ersatzheeres angewiesen,6 die in ihrem Zuständigkeitsbereich angefertigten Obduktionsberichte an die eigens hierfür eingerichtete 1
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Dieser Beitrag stellt eine eigens gekürzte und leicht überarbeitete Fassung der entsprechenden Abschnitte eines zum Zeitpunkt der Manuskripterstellung in Vorbereitung begriffenen längeren Buchbeitrages des Autors dar : Peter Steinkamp, Patientenschicksale und ärztliches Handeln im Zweiten Weltkrieg. In : Cay - Rüdiger Prüll / Philipp Rauh / Peter Steinkamp ( Hg.), Krieg und medikale Kultur. Patientenschicksale und ärztliches Handeln im Zeitalter der Weltkriege [erscheint voraussichtlich Göttingen 2014]. Vgl. allgemein zu Leichenöffnungen bei der Reichswehr und der Wehrmacht Dv[ Dienstvorschrift ] 59 : Vorschrift für Sanitätsoffiziere über das Verfahren bei der gerichtlichen Leichenschau und Leichenöffnung, Berlin 1934 ( Bundesarchiv ( BArch ), RHD 8/59). Zur Heeressanitätsinspektion vgl. Alexander Neumann, »Arzttum ist immer Kämpfertum.« Die Heeressanitätsinspektion und das Amt »Chef des Wehrmachtsanitätswesens« im Zweiten Weltkrieg (1939–1945), Düsseldorf 2005. Vgl. zu den ursprünglich drei westdeutschen Krankenbuchlagern W[ aldemar ] Schönleiter, Die Kriegsopferversorgung, 2. neubearbeite Auflage Stuttgart 1965, S. 35–38. Vgl. Heeressanitätsinspekteur ( HSanIn ), Beratender Pathologe und Pathologisch - anatomisches Institut / Institut für allgemeine und Wehrpathologie, Militärärztliche Akademie, ( Kriegs - )Pathologische Richtlinien, o. D. ( BArch, RH 12–23/559). Vgl. ebd., Richtlinien und Merkblätter, 1939–1943 ( BArch, RH 12–23/591).
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Sammelstelle7 für Leichenöffnungsbefundberichte der Militärärztlichen Akademie in Berlin zu schicken. In dieser dem Beratenden Pathologen beim Heeressanitätsinspekteur unterstehenden Stelle wurden die Sektionsberichte gesichtet und nach Todesursachen kategorisiert. Es waren jedoch keineswegs nur durch Waffeneinwirkung ums Leben gekommene Soldaten, also sogenannte Gefallene im engeren Sinn, obduziert worden. Vielmehr wurden ebenso an organischen Krankheiten und an Infektionen Verstorbene, bei Unfällen aller Art tödlich Verunglückte sowie durch Suizid ums Leben Gekommene, ja selbst natürlichen Todesursachen Erlegene, sprich, an allen nur denkbaren Todesursachen Verstorbene untersucht. Obduzierte Hungertodesfälle finden sich vor allem in der mit »L« bezeichneten Kategorie der Sammlung. Diese Todesursachenkategorie war seinerzeit als »Ernährungsstörungen und Erschöpfungsschäden« mit letalem Ausgang bezeichnet worden. Die dort einsortierten Obduktionsberichte weisen gegenüber sämtlichen anderen Todesursachenkategorien der Sammlung eine zeitliche Besonderheit auf : Die in ihr abgelegten frühesten Berichte stammen nicht, wie sonst üblich, aus den Anfangstagen des Zweiten Weltkrieges im September 1939, sondern datieren aus der Zeit ab dem September 1941, einem Vierteljahr nach Beginn des deutschen Angriffs auf die Sowjetunion. Zwar wurde diese Teilsammlung ebenfalls – wie die der anderen Todesursachenkategorien – bis etwa zum Herbst 1944 fortgeführt, jedoch finden sich darin erhebliche Lücken, wie an den fortlaufenden Nummern der Obduktionsberichte ohne Weiteres zu erkennen ist. Die höchste noch vorhandene laufende Nummer lautet 1901. Dennoch beträgt die Gesamtzahl der dort vorhandenen Berichte keineswegs knapp zweitausend. Heute sind lediglich noch 566 Berichte vorhanden, womit über drei Viertel aller ursprünglich dort aufgenommenen Berichte als verloren gegangen gelten müssen. Dies könnte am ehesten durch eine Vielzahl bereits während des Krieges entnommener und dann nicht mehr in die Sammlung zurücksortierter Obduktionsberichte zu erklären sein. Vor allem am Beginn der Teilsammlung, zwischen September und Dezember 1941, klaffen erhebliche Lücken, die erst ab dem Bericht mit der laufenden Nummer 484 nicht mehr ganz so augenfällig, wenn auch immer noch vorhanden sind. Da bis zu erwähnter Nummer 484 sämtliche elf noch erhaltenen Obduktionsberichte dieser Kategorie ausschließlich verhungerte sowjetische Kriegsgefangene betreffen, liegt die Vermutung nahe, dass die zeitgenössischen Entnahmen der Obduktionsberichte vor allem dazu dienten, den plötzlichen Massenanfall von Hungertodesfällen unter diesen Gefangenen 7
Vgl. zur Tätigkeit der Sammelstelle, insbesondere nach ihrer Verlegung von Berlin nach Gießen 1943, Sigrid Oehler - Klein / Alexander Neumann, Die Militarisierung der Medizin an der Universität Gießen und ihre Beziehungen zu den Sanitätsinspektionen von Heer und Luftwaffe im Zweiten Weltkrieg. In: Mitteilungen des Oberhessischen Geschichtsvereins Gießen, 89 (2004), S. 95–188, hier 151–159.
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im letzten Quartal des Jahres 1941 zu untersuchen.8 Möglicherweise war deren Massensterben sogar der eigentliche Anlass dafür, die Kategorie »Ernährungsschäden und Überlastungsstörungen« erstmals mit Obduktionsberichten zu füllen. Folgende Gruppen von Hungertoten lassen sich in dieser Teilsammlung unterscheiden : – 194 Kriegsgefangene ( ab September 1941 obduziert : 167 sowjetische Gefangene, 15 Italiener, 5 Franzosen, 4 Serben, je ein Brite, Belgier, Niederländer ) = 34,1 Prozent aller erhaltenen obduzierten Hungertodesfälle, – 75 Wehrmachtstrafgefangene, vor allem Angehörige von Feldstrafgefangenenabteilungen und Feldstraflagerverwahrte = 13,25 Prozent, – 46 in Stalingrad Eingekesselte ( Obduktionszeitraum : Mitte Dezember 1942 – Mitte Januar 1943) = 8,13 Prozent, – 24 Häftlinge eines in Belgien errichteten Konzentrationslagers ( Obduktionszeitraum November 1942 – Mai 1943) = 4,24 Prozent, – 228 »Sonstige« ( darunter fielen insbesondere Schwerstverwundete und Schwerstkranke, v. a. mit Infektions - und Krebserkrankungen ) = 40,28 Prozent; darin enthalten sind auch 18 Fälle schwerster psychischer Ausnahmezustände, beispielsweise »Katatonie« ( Antriebsstörungen ) und »Stupor« (Starre des gesamten Körpers bei sonst wachem Bewusstsein ) = 3,18 Prozent. Todesfälle verhungerter Wehrmachtstrafgefangener9 sind erst ab der zweiten Jahreshälfte 1942 in der Sammlung »L« der Obduktionsberichte dokumentiert. Das Auftreten der ersten Hungertodesfälle unter den Strafgefangenen ab diesem Zeitpunkt erklärt sich im Wesentlichen aus der Entstehungsgeschichte der Feldstrafgefangenenabteilungen und Feldstraflager,10 denen diese Männer angehörten. Seit 1942 setzte eine Verschärfung des Strafvollzuges in der Wehrmacht ein. Am 2. April 1942 hatte Hitler, der seit Ende 1941 auch Oberster Befehlshaber der Wehrmacht war, eine »Neuregelung« der Strafvollstreckung an gerichtlich verur8
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Zum Massensterben sowjetischer Kriegsgefangener in deutscher Hand 1941/42 vgl. Christian Streit, Keine Kameraden. Die Wehrmacht und die sowjetischen Kriegsgefangenen 1941–1945, Neuausgabe, Bonn 1991, S. 128–190. Vgl. Manfred Messerschmidt, Die Wehrmachtjustiz 1933–1945, Paderborn 2005, S. 350–366. Eine umfassende wissenschaftliche Untersuchung der Wehrmachtstrafgefangenen, namentlich der Angehörigen der Feldstrafgefangenenabteilungen und der Feldstraflagerverwahrten, stellt allerdings nach wie vor ein Desiderat der historischen Forschung dar. Vgl. Ulrich Baumann / Magnus Koch ( Hg.), »Was damals Recht war ...« Soldaten und Zivilisten vor Gerichten der Wehrmacht, Berlin 2008, S. 192–196. Vgl. zu den Feldstraflagern und Feldstrafgefangenenabteilungen Maria Fritsche, Entziehungen. Österreichische Deserteure und Selbstverstümmler in der Deutschen Wehrmacht, Wien 2004, S. 136–141; Hans - Peter Klausch, Die Sonderabteilungen, Strafeinheiten und Bewährungstruppen der Wehrmacht. In : Albrecht Kirschner ( Hg.), Deserteure, Wehrkraftzersetzer und ihre Richter. Marburger Zwischenbilanz zur NS - Militärjustiz vor und nach 1945, Marburg 2010, S. 197–216.
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teilten Soldaten angeordnet, die sich bis dahin auf die Wehrmachthaftanstalten beschränkt hatte : »Die Strafvollstreckung im Kriege muss sich den wechselnden Erfordernissen der Kriegslage alsbald anpassen. [...] Die Bewährungsmöglichkeiten der Ostfront müssen in Zukunft noch mehr als bisher genutzt werden. Vor allem muss erreicht werden, dass Verurteilte, die nicht der kämpfenden Truppe angehören, soweit irgend möglich durch Versetzung Gelegenheit zur Bewährung vor dem Feinde erhalten. – Manche Verurteilte werden auch künftig nicht oder nicht sofort bei der kämpfenden Truppe eingesetzt werden können. Haltlosen Elementen, die damit rechnen, muss durch Schärfung und Abstufung des Strafvollzuges der Anreiz genommen werden, sich durch Strafverbüßung dem Fronteinsatz zu entziehen. Zu diesem Zwecke sind sofort Feldstrafgefangenen - Abteilungen aufzustellen, die im Operationsgebiet, möglichst im Einsatzgebiet der kämpfenden Truppe, unter gefahrvollen Umständen zu härtesten Arbeiten heranzuziehen sind.«11
Damit war bereits vorgegeben, was im September des gleichen Jahres durch das Oberkommando der Wehrmacht im Detail für die in Aufstellung befindlichen Feldstrafgefangenenabteilungen nochmals festgeschrieben wurde : »a ) Arbeitseinsatz : Einsatz zu härtesten Arbeiten unter gefahrvollen Umständen im Operationsgebiet, möglichst im Einsatzgebiet der kämpfenden Truppe ( z. B. Minenräumen, Aufräumen von Leichenfeldern gefallener Feinde, Bunker - und Stellungsbau usw.). – b ) Arbeitszeit : täglich – auch an Sonn und Feiertagen – nach Möglichkeit mindestens 10 Stunden, in den Feldstraflagern 12 bis 14 Stunden. – c ) Bewachung : Das Stammpersonal ist verpflichtet, bei jedem Versuch der tätlichen Widersetzung, Aufwiegelung oder Flucht sofort von der Waffe Gebrauch zu machen. Vorheriger Warnruf ist nicht erforderlich. Um Fluchtversuche zu verhindern, werden sowohl in der Unterkunft wie auf den Marschwegen und Arbeitsplätzen bestimmte Zonen festgelegt, bei deren Betreten ohne Haltruf sofort scharf zu schießen ist. – d ) Arreststrafen : Als Arreststrafe wird in der Regel strenger Arrest verhängt. – e ) Vergünstigungen : Alle 6 Wochen ( in den Feldstraflagern alle 2 Monate ), Absendung und Empfang je eines Briefes. Ausnahmen nur in dringenden Familien - , Geschäfts - und Rechtsangelegenheiten. [...]. – f ) Unverbesserliche Straflagerverwahrte : Die Entscheidung über die Überweisung an die Polizei [ gemeint : Einlieferung in ein Konzentrationslager; P. S.] trifft auf Vorschlag des Führers des Feldstraflagers der Vorgesetzte mit den Disziplinarbefugnissen mindestens eines Divisionskommandeurs.«12
Bei allen diesen, letztlich bewusst schwere Gefahren für Leib und Leben der Strafgefangenen mit einkalkulierenden Maßnahmen ist zusätzlich zu berücksichtigen, dass es sich bei den Delikten, um derentwillen diese Männer verurteilt worden waren, häufig nur um Bagatelldelikte handelte. Gelegentlich wurden in den Obduktionsberichten von verhungerten Wehrmachtstrafgefangenen neben dem Strafmaß (häufig nur ein halbes bis eineinhalb Jahre Freiheitsstrafe ) auch die Straftatbestände erwähnt, wenn der Obduzent diese von der Truppe mitge11 12
Allgemeine Heeresmitteilungen des Oberkommando des Heeres ( OKH ) vom 1942, S. 193, Nr. 340, 8.4.1942. 10. Mob. - Sammelerlass vom 7. 9. 1942, Nr. 25, S. 9 f. (BArch, RW 60/59). Vgl. hierzu auch Rudolf Absolon, Sammlung wehrrechtlicher Gutachten und Vorschriften, 16 (1978), S. 91–95.
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teilt bekommen hatte. So finden sich beispielsweise sogenannte Wachverfehlungen ( häufig durch Einschlafen während nächtlicher Wachen oder auch nur wegen kurzen Ablegens der Waffe auf Wache zur Verrichtung der Notdurft ), militärischer Diebstahl ( in der Regel durch Unterschlagung oder Wegnahme von Ausrüstungsgegenständen ), unerlaubte Entfernung ( häufig nur durch unerlaubte Umwege bei dienstlichen Reisen oder bei der Rückkehr nach dem Urlaub ) oder Versuche, Urlaub oder Lazarettaufenthalte verlängert zu bekommen. Letztere werteten Kriegsgerichte dann als zeitweise Wehrdienstentziehung. In der Beurteilung der Hungertodesfälle von Wehrmachtstrafgefangenen durch die Obduzenten überwog noch bis weit ins Jahr 1943 hinein ein »Nichtwahrhabenwollen« bei der Benennung der tatsächlichen Todesursache. Zumindest in der Vorgeschichte stellte der Obduzent häufig eine wohl als vertretbar erachtete klinische Vermutungsdiagnose, darunter Intoxikationen, Coronarerkrankungen, schwere Infekte oder gar Epilepsie, in Einzelfällen vermutete der Obduzent auch schwerwiegende psychiatrische Zustände oder unterstellte im Extremfall sogar Simulation. Bei dem Todesfall des zwei Tage vor seinem 19. Geburtstag im Mai 1943 verstorbenen Gerhard W. aus Kassel, im Zivilberuf Arbeiter, handelte es sich um eine behauptete, aber letztlich nicht nachweisbare Intoxikation eines verhungerten Feldstrafgefangenen. Zur Vorgeschichte vermerkte der Obduzent, Oberarzt Schröter von der Prosektur der Kriegslazarettabteilung 521 in Betliza : »Am 1. 5. 43 abends bewusstlos von der Strafgef. Abt. [ Strafgefangenenabteilung ] zum H. V. Pl. [Hauptverbandsplatz ] gebracht. W. war nachmittags bei der Arbeit zusammengebrochen und musste von seinen Kameraden in der Zeltbahn ins Quartier getragen werden. Nach Aussage von Mitgefangenen soll W. am 1.5.43 auf dem Arbeitsplatz eine handvoll Blütenknospen der Tollkirschen gegessen und Pfützenwasser getrunken haben. Aufnahmebefund : tief bewusstlos, Gesicht stark cyanotisch, stark beschleunigte oberflächliche Atmung, starke Kreislaufschwäche, Puls kaum zu fühlen, stark beschleunigt, unregelmäßig. Herztöne sehr leise, unregelmäßig, zeitweise aussetzend. Körperlich sehr heruntergekommen, Muskulatur schlaff und zurückgebildet, keinerlei Fettpolster. Krankheitsbezeichnung: Allgemeine Körperschwäche. Trotz sofortiger Verabreichung von Herz - und Kreislaufmitteln Exitus am 2.5.43 um 5.45 Uhr unter den Erscheinungen des Kreislaufversagens.«13
Obwohl Oberarzt Schröter ohne Weiteres als Ergebnis der Sektion feststellen konnte und auch entsprechend protokollierte, dass der noch jugendliche Strafgefangene »an den Folgen einer hochgradigen Inanition [Abmagerung; P. S.] gestorben« war, ließ er, wohl zu seiner eigenen Absicherung, den Mageninhalt des Verstorbenen eigens vom Beratenden Gerichtsmediziner der Heeresgruppe Mitte untersuchen. Dabei ergaben sich allerdings »keinerlei Anhaltspunkte für eine Vergiftung mit Tollkirschenblüten«. 13
Sammlung Obduktionsberichte : L, Ernährungsstörungen und Erschöpfungsschäden, Mappe 819, L 1776, Gerhard W., 1943 ( BArch, RH 12–23/3325). Dort auch die weiteren Angaben und Zitate zu diesem Todesfall.
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Bei starken Rauchern unter den verhungerten Feldstrafgefangenen wurde zuweilen eher eine Nikotinvergiftung als vermutliche Todesursache diagnostiziert. Bei einigen dieser so Verstorbenen mag tatsächlich der Umstand, dass sie, um an Rauchware zu gelangen, ihre Essensportionen dagegen eintauschten, dazu beigetragen haben, ihren bedenklichen Unterernährungszustand noch weiter zu verschlechtern.14 Der falsche Verdacht einer tödlichen Nikotinvergiftung wurde etwa bei dem im Juli 1943 verhungerten 32 - jährigen Georg R., einem Bäcker aus Nürnberg, Angehöriger der 4. Kompanie der Feldstrafgefangenenabteilung 5, ausgesprochen : »Nach den Angaben anderer Strafgefangener rauchte R. übermäßig : außer 3 Stück Verpflegungszigaretten Zigarettenreste, die er sammelte, Kaffeesatz, Teeblätter, welkes Laub der Bäume. Von seinen Vorgesetzten wird angegeben, dass er körperlich äußerst angestrengt hatte arbeiten müssen. Ohnmachtsanfälle wurden bei ihm nicht beobachtet. Nach den Angaben der Truppe hat er bis an den Rand seiner Leistungsfähigkeit gearbeitet. Er hat in der Nacht [seines Todes ], wie angegeben wird, seinen Stuhlgang in die Hose entleert und begab sich dann vor das Zelt. Von anderen Strafgefangenen wurde er dort sitzen gesehen und hat noch nach einer Zigarette verlangt. Um ¾5 h wurde er tot aufgefunden. Als Todesursache wird angenommen : Tod im Kollaps nach übermäßigem Rauchen.«15
Auch hier waren die epikritischen Ausführungen des Obduzenten, des Oberarztes Veith, Pathologe der 4. Armee, eindeutig : »Die Obduktion und die ausführliche mikroskopische Untersuchung ergaben das Bild der Erschöpfung. Das gesamte Fettgewebe war bis auf kleine Spuren geschwunden und zeigte besonders über dem Epicard eine sehr feuchte Beschaffenheit bzw. beginnendes Oedem, wie es beim Hungeroedem beobachtet wird.« Dem Nikotinmissbrauch des Verstorbenen hingegen wies der Obduzent lediglich eine gewisse Bedeutung bei der Entstehung der an dessen Leiche festzustellenden starken Gastritis zu. In dem Fall des 29 - jährigen Ernst S. aus Zittau erkannte der zuständige Obduzent zwar durchaus die Inanition als eigentliche Todesursache, vermutete aber angesichts des für ihn wohl noch ungewohnten Hungertodes bei einem Wehrmachtstrafgefangenen eine psychische Erkrankung des Verstorbenen. Der Gefangene war bereits Mitte September 1942 verstorben, mithin nur kurze Zeit nach Aufstellung der ersten Feldstrafgefangenenabteilungen. Da der Verhungerte auch an starken Ödemen litt, von denen neben seinen Unterschenkeln auch bereits sein Geschlechtsteil und sogar das Gehirn betroffen waren, vermutete der 14
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Über einen im Juni 1943 verhungerten dreißigjährigen Düsseldorfer Kaufmann heißt es beispielsweise : »Angehöriger einer Strafkomp[ anie ], hat nach Angaben der Kameraden in letzter Zeit häufig Essen gegen Tabakportion eingetauscht. Er war sehr missliebig, bekam häufig von seinen Mitgefangenen Prügel.« Sammlung Obduktionsberichte : L, Ernährungsstörungen und Erschöpfungsschäden, Mappe 819, L 1787, Otto von T., 1943 ( BArch, RH 12–23/3325). Sammlung Obduktionsberichte : L, Ernährungsstörungen und Erschöpfungsschäden, Mappe 819, L 1783, Georg R., 1943 ( BArch, RH 12–23/3325). Dort auch die weiteren Angaben und Zitate zu diesem Todesfall.
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Obduzent, Assistenzarzt Pospischil von der Reserve - Kriegslazarett - Gruppe B in Warschau, aus dem Befund des ödematös geschwollenen Gehirns : »Da bei S. auch ein innerer Wasserkopf durch die Obduktion ermittelt wurde, so ist es auch durchaus denkbar, dass S. irgendwie psychisch gestört war und dass S. infolge Nahrungsverweigerung zu einem solchen Zustand kam.«16 Offensichtlich war sich der Assistenzarzt der Hilflosigkeit dieses Erklärungsversuchs selbst bewusst, denn bereits im nächsten Satz seines Berichtes schränkte er die Wahrscheinlichkeit dieser bloßen Vermutung bereits wieder erheblich ein : »Es entbehren allerdings diese Vermutungen klinischer Belege.« Ein wie auch immer motivierter tödlicher Hungerstreik schien dann eben doch allzu unwahrscheinlich. Das Verhungernlassen eines Strafgefangenen nur wenige Wochen nach Aufstellung der ersten Feldstrafeinheiten aber konnte man sich ärztlicherseits wohl 1942 noch nicht vorstellen. Ein Truppenarzt vermutete im Fall des Hungertodes des 32 - jährigen Strafgefangenen Hans A., gebürtig aus Goslar und im Zivilberuf Tischler, der Mitte November 1942 bei der Feldstrafgefangenenabteilung 1 in Oserki verstarb, zunächst ebenfalls eine psychiatrische Erkrankung. Hier lautete der »Verdacht auf cerebralen Prozess«.17 Darüber hinaus zeigt dieser Fall eindringlich ebenso das Versagen des Sanitätspersonals wie die Gleichgültigkeit des Truppenarztes gegenüber einem tatsächlich schwerkranken Patienten, dessen erkennbare Beschwerden man keineswegs ernst nahm. Vielmehr war der Mediziner stattdessen sogar noch bereit gewesen, diesen als Simulanten zu betrachten, obwohl der Verstorbene, wie die Obduktion ergab, zudem zuletzt an einer akuten Glomerulonephritis [ eine schwere Form der Nierenentzündung; P. S.] gelitten hatte. Zur Vorgeschichte, wie sie ihm offensichtlich der ungenannte Truppenarzt hatte übermitteln lassen, notierte der Obduzent, Oberstabsarzt Neuhaus von der Feldprosektur B in Kursk : »Truppenärztlicher Befund zum Todesfall des Wehrmachtstrafgefangenen A. : A. sollte am 12. 11. 42 geimpft werden. Er machte einen benommenen Eindruck und soll seit einer Woche täglich zum Krankenrevier gekommen sein mit verschiedensten Beschwerden. Er habe auch ›Anfälle‹ vorgeführt [,] bei denen er umgefallen sei. A. erschien nicht ansprechbar, bei schlechtem Allgemeinzustand. Blick stier. Augäpfel leicht vorgewölbt. Über die Umgebung anscheinend orientiert. Puls etwa 50 und weich. Körpertemperatur normal. Keine Erfrierungszeichen. Als er wieder hinaus geführt worden war [,] legte er sich im Freien sofort zu Boden ( kein ataktischer Sturz !). Er wurde in einen Raum
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Sammlung Obduktionsberichte : L, Ernährungsstörungen und Erschöpfungsschäden, Mappe 816, L 1300, Ernst S., 1942 ( BArch, RH 12–23/3322). Dort auch die weiteren Angaben und Zitate zu diesem Todesfall. Sammlung Obduktionsberichte : L, Ernährungsstörungen und Erschöpfungsschäden, Mappe 816, L 1380, Hans A., 1942 ( BArch, RH 12–23/3322). Dort auch die weiteren Angaben und Zitate zu diesem Todesfall.
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getragen, wo er einschlief. Lebensbedrohliche Zustände waren nicht festzustellen. 2 Stunden später wurde dem Truppenarzt der Tod des A. telefonisch gemeldet.«
Der Mediziner war also offensichtlich weder bereit noch in der Lage, einen Sterbenden, der zur befehlsgemäßen Impfung vorgeführt wurde, auch als solchen erkennen zu wollen, sondern ließ ihn stattdessen unter der nachträglichen Schutzbehauptung, keine lebensbedrohlichen Zustände festgestellt zu haben, in einem Nebenraum legen, wo er ohne jeglichen Behandlungsversuch starb. Da der Arzt auch die täglichen, sich über eine Woche erstreckenden Versuche A.s, medizinische Hilfe zu erhalten, ignoriert hatte, kann dieser Todesfall durchaus als vorsätzliche Tötung durch Unterlassung bezeichnet werden. Es ist dies im übrigen keineswegs der einzige der in der Sammlung der Obduktionen an Hungertodesfällen unter Wehrmachtstrafgefangenen enthaltene Fall, bei dem einem Schwerkranken trotz dessen Bittens jegliche medizinische Hilfe durch Sanitätspersonal und zuweilen sogar direkt durch die Truppenärzte vorenthalten wurde. Im Gegenteil : es finden sich sogar immer wieder Fälle – selbst noch in den Jahren 1943 und 1944 –, in denen Truppenärzte auch bei schwersten Erkrankungen eine weitere Arbeitsfähigkeit bescheinigten, worauf hin es dann nach kurzer Zeit zum Tode des betreffenden Strafgefangenen kam. Nur wenige Obduzenten – und auch diese erst ab Mitte 1943 – sprachen dagegen den Zusammenhang zwischen den schweren, tödlichen Zuständen von Unterernährung und den Lebensbedingungen der Strafgefangenen an,18 welche vornehmlich in schwerster körperlicher Arbeit bei unzureichender Unterkunft und Bekleidung sowie vor allem nicht ausreichender kalorischer Versorgung bestanden. Exemplarisch für eine solche Stellungnahme eines Obduzenten ist der Bericht des Oberarztes Jütte von der Kriegslazarett - Abteilung 684, der am 20. April 1943 in Borrisowo den zwei Nächte zuvor verstorbenen 22 - jährigen Johannes W. von der 5. Kompanie der Feldstrafgefangenenabteilung 14 zu sezieren hatte. In der von Jütte im Obduktionsbericht festgehaltenen erschütternden Vorgeschichte findet sich auch die Angabe zum Delikt des Verurteilten : »Vorgeschichte und klinische Daten : W. war wegen Wachverfehlung im Felde zu 9 Monaten Gefängnis und Rangverlust verurteilt. Die Strafzeit begann am 6.12.42. Nach Angabe des Truppenarztes der Feldstrafgefangenenabteilung hat sich W. seit Januar 43. nicht krank gemeldet. Anlässlich einer Gesundheitsbesichtigung am 14. 4. 43. fiel W. dadurch auf, dass er sehr stark verlaust und in seinem Allgemeinzustand reduziert war. W. litt an Durchfall. Am 18. 4. 43. machte W. im Arbeitseinsatz schlapp und wurde von Mitgefangenen zur Unterkunft getragen und dem Tr.Arzt [ Truppenarzt ] vorgestellt. W. machte einen schwer erschöpften Eindruck und konnte sich ohne fremde Hilfe nicht aufrecht erhalten. Seine Hose war mit wässrigem Kot beschmutzt. Wohl infolge Schwäche konnte er die 18
Vgl. Peter Steinkamp, Lebensbedingungen und gesundheitliche Verhältnisse von deutschen Wehrmachtstrafgefangenen im Zweiten Weltkrieg. In : Ute Caumanns / Fritz Dross ( Hg.), Medizin und Krieg in historischer Perspektive. Beiträge der XII. Tagung der Deutsch - Polnischen Gesellschaft für Geschichte der Medizin, Frankfurt a. M. 2012, S. 147–159.
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an ihn gestellten Fragen nicht beantworten. Herztätigkeit verlangsamt, Puls schwach, Untertemperatur. Anzeichen für einen pneunomischen Infekt waren mit Sicherheit nicht nachzuweisen. W. sollte am 19. 4. 43. in das Lazarett eingewiesen werden. – In der Nacht vom 18. zum 19. 4. ist W. in seiner Unterkunft unbemerkt verstorben. Er wurde morgens beim Wecken von den Mitgefangenen tot im Bett liegend vorgefunden.«19
Angesichts dieser Vorgeschichte und des eindeutigen autoptischen Befundes (»hochgradige Abmagerung mit gallertartiger Atrophie des subserösen Fettgewebes und vollkommener Fettschwund des Unterhautfettgewebes«), der Jütte an einen Befund erinnerte, »wie man ihn zum Beispiel beim stenosierenden Öspharguscarcinom [ schwerste Form von Speiseröhrenkrebs; P. S.] findet«, erklärt sich seine zusammenfassende, das Problem der Hungertodesfälle bei Wehrmachtstrafgefangenen im Kern treffende abschließende Stellungnahme : »Der Beratende Pathologe der 9. Armee hat meines Wissens zuerst auf Hungertodesfälle bei strafgefangenen Wehrmachtsangehörigen aufmerksam gemacht, die dann später auch nach Mitteilung des beratenden Pathologen der Heeresgruppe Mitte Herrn Oberfeldarzt Prof. Nordmann bei der 4. Armee beobachtet wurden. Rückfragen haben damals zu dem Ergebnis geführt, dass nicht allein eine kalorische Unterernährung für die schwere Abmagerung verantwortlich zu machen sei, sondern starke körperliche Anstrengungen verbunden mit Unterbringung in ungeheizten oder schlecht geheizten Unterkünften. Der Kalorienverbrauch durch Wärmeverlust war so groß[,] dass die Gefangenenkost unzureichend war. Die betreffenden Gefangen wurden dadurch auffällig, dass sie unsauber wurden, einnässten und sich sonst wie besudelten und asoziale Regungen zeigten, die man an ihnen bisher nicht beobachtet hatte. Plötzlicher Tod, häufig unter Mitwirkung eines kleinen belanglosen Infektes.«
Die dramatische Gesundheitslage der Gefangenen bei den Strafabteilungen war also den Fachmedizinern unter den Sanitätsoffizieren teilweise bereits seit dem Herbst 1942, der Sanitätsführung immerhin spätestens seit dem Winter 1942/43,20 also bereits in den ersten Monaten nach Aufstellung der ersten Feldstrafgefangenenabteilungen, durchaus bekannt und vertraut. Selbst in Berlin, fernab vom Geschehen an der Ostfront, waren die Lebens - und Gesundheitsbedingungen bei den Feldstrafgefangenenabteilungen, namentlich die lebensbedrohlichen Zustände durch mangelnde Ernährung, bis ins Detail früh bekannt. Hier beschäftigte man sich mit beinahe schon zynisch zu nennender bürokratischer Genauigkeit mit den erschreckendsten Auswüchsen des Hungers unter den
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Sammlung Obduktionsberichte : L, Ernährungsstörungen und Erschöpfungsschäden, Mappe 818, L 1712, Johannes W., 1943 ( BArch, RH 12–23/3324). Dort auch die weiteren Angaben und Zitate zu diesem Todesfall. Die ersten drei obduzierten Hungertodesfälle von Feldstrafgefangenen in der Sammlung der Obduktionsberichte datieren auf August, September und Oktober 1942, sämtlich bei der Feldstrafgefangenenabteilung 2; die ersten beiden obduzierten Hungertodesfälle von Straflagerverwahrten stammen aus dem September des gleichen Jahres, beide aus dem Feldstraflager III Taivalkoski.
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Wehrmachtsstrafgefangenen. So nahm der oberste Beratende Internist des Heeres, Oberfeldarzt Prof. Kurt Gutzeit, Ordinarius an der Universität Breslau, am 28. Januar 1943 zur Vorlage beim Heeressanitätsinspekteur Stellung zur Frage der Wehrdienstbeschädigung bei Feldstrafgefangenen : »Bei Verschlucken von Metallstücken, Nägeln u. ä. mit dem Ziel, in ein Lazarett aufgenommen zu werden, ist Selbstverstümmelung als erwiesen anzunehmen. Wenn aber Feldstrafgefangene unter Zugrundelegung der in dem Schreiben gemachten besonderen Voraussetzungen infolge Hungers bedenkenlos Baumrinde, Gräser, trockenes Laub oder ähnliches zu sich nehmen und aus diesem Genuss [ !] dauernde Gesundheitsstörungen erwachsen und unter Umständen der Tod eintritt, so sind die Voraussetzungen einer WDB [ Wehrdienstbeschädigung; P. S.] anzuerkennen.«21 Auch zwei dienstliche Berichte des Beratenden Psychiaters und des Beratenden Internisten der 16. Armee, in deren Befehlsbereich sich zu Beginn der Aufstellungen 1942 die meisten der damals schon eingerichteten Feldstrafgefangenenabteilungen befanden, belegen, dass die Verantwortlichen früh um die dramatischen Ernährungsdefizite bei diesen Strafeinheiten wussten. Beide Mediziner unternahmen gemeinsam mindestens zwei Besichtigungsreisen, die sie im November 1942 und im September 1943 zu in ihrem Bereich eingesetzten Feldstrafgefangenenabteilungen führten. Über die Inspektion in einer der Abteilungen im Herbst 1942 schrieb der Beratende Internist, Oberfeldarzt Schmidt - Ott, in seinen dienstlichen Bericht : »Die im Armeebereich gelegene Feld - Strafgef. Abt. [ Feldstrafgefangenenabteilung ]22 stellt ein hohes Kontingent an Krankheiten, die einiger Hinweise bedürfen. Die Kranken und Verletzten werden in einem Kriegslazarett gesammelt untergebracht und bewacht. Im November habe ich mit dem beratenden Nervenarzt Dr. v. Baeyer einen eingehenden Bericht über den Besuch der Abteilung eingereicht. Die Krankenabteilung der Feldstrafgefangenen ist dauernd mit durchschnittlich 150 Kranken belegt, was bei der Stärke der Abteilung von 900 Mann 17 Prozent Lazarettkranke beträgt. – Ein großer Prozentsatz der Erkrankungen sind durch Inanition bedingt und begünstigt. Von 100 Feldstrafgefangenen sah ich oft keinen über 50 kg. Das Inanitionsoedem ist die Hauptkrankheit. Die Kranken kommen nach Entlassung aus dem Lazarett häufig nach 3 Wochen wieder mit Schwellung der Beine. Den höchsten Prozentsatz der Ruhrtodesfälle hatte die Feld - Strafgef. Abt. Die Erkrankungen sind durchweg wegen des herabgesetzten Allgemeinzustandes schwer und die Behandlungsdauer ist unverhältnismäßig viel länger als bei anderen Soldaten. – Wenn auch die Schwere der Strafe das Strafmaß abkürzt [ hier irrt der Internist, das traf nicht zu; P. S.], so kann von dem einzelnen Bestraften sehr bald nicht mehr die Arbeit geleistet werden, weil er zu stark kalorisch unterernährt ist. Durch Heraufsetzung der Kalorien auf das Minimum eines arbeitenden Menschen würden sich die Krankenzahlen auf ein Zehntel reduzieren lassen und eine große Lazarettabteilung mit Pflegepersonal 21 22
Stellungnahme des Beratenden Obersten Internisten des Heeres zur Vorlage beim Heeressanitätsinspekteur vom 28.1.1943 ( BArch, RH 12–23/450). Es muss offen bleiben, um welche Feldstrafgefangenenabteilung es sich gehandelt hat, da ihre genaue Bezeichnung in den Besichtigungsberichten nirgends enthalten ist.
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und Kostzulagen unnötig machen. Eine Feststellung der Dienstfähigkeit vor Einweisung in die Feld Strafgef. Abt. ist notwendig, weil ein großer Teil der Strafgefangenen schon in einem Zustand schwerster Unterernährung aus den Straflagern kommt und arbeitsunfähig ist.«23
Doch anstatt den Empfehlungen Schmidt - Otts zu folgen, nahm dessen fachlicher Vorgesetzter in Berlin, der erwähnte Beratende Internist beim Heeressanitätsinspekteur, Gutzeit, den brisanten Bericht wohl lediglich zu den Akten und ließ ihn zudem in einen Ordner mit Geheimsachen abheften. Dass sich tatsächlich nach dem ersten gemeinsamen Besuch des Internisten und des Psychiaters über viele Monate nur wenig zum Besseren verändert hatte, belegt der Bericht des erwähnten Beratenden Psychiaters der 16. Armee, Oberstabsarzt von Baeyer, von September 1943 : »Weiterfahrt in das Stammlager P.24 der Feld - Strafgef. Abt. Besprechung mit dem stellvertretenden Kommandeur, Hauptmann Fischer, und dem Truppenarzt, O. Arzt [ Oberarzt ] Dr. Soltmann. Obwohl inzwischen Kostverbesserungen durchgeführt wurden und etwa 3 000 Kal. täglich verabreicht werden, kommen noch immer nicht wenige Hungeroedeme ins Lazarett. Die Leute machen auch fast durchweg noch einen unterernährten Eindruck. Wesentlich verbessert haben sich die Unterkünfte, die trocken, sauber und gut heizbar sind. Die Lagerstätten sind durchweg hart, ein Stangenrost mit einer Decke bedeckt, zum Zudecken eine zweite Decke, ab 1. Okt[ ober ] Ausgabe einer dritten Decke. Der Krankenstand ist wesentlich niedriger als bei unserem Besuch im vorigen Jahre. Von 881 Strafgefangenen sind lazarett - und revierkrank z. Zt. 69 Mann, dazu innendienstfähig etwa 50 Mann. Voriges Jahr fiel etwa die Hälfte der Gesamtzahl durch Krankheit aus. Die Leute, die man fragt, geben alle an, ständig Hunger zu haben. Manche stehlen oder ›organisieren‹ Lebensmittel, d. h. sie lassen sich Brot von Kameraden anderer Einheiten schenken. Werden sie dabei ertappt, so kommen sie bis zu 21 Tage in einen besonders geschärften Arrest, in dem sie nur jeden 7. Tag Vollkost, sonst 1 200 g Brot und Tee pro Tag erhalten. Dadurch werden sie natürlich noch mehr ausgehungert[,] und manche lassen sich von ihrem triebhaften Hunger sofort wieder zu erneuten Verfehlungen hinreißen. Es fragt sich sehr, ob es zweckmäßig ist, Hungerdelikte mit Hunger zu bestrafen, ebenso wie es zweifellos verkehrt ist, Wachdelikte durch Einschlafen auf Wache mit vermehrtem Postendienst oder besonderen zusätzlichen ermüdenden Arbeitsleistungen zu bestrafen. [...] Wir fahren mit dem Truppenarzt in die Außenlager und besuchen drei Kompanien, die z. T. in Blockhütten, z. T. behelfsmäßig in Zelten untergebracht sind. Überall derselbe Eindruck der Unterernährung. Mittags kehren wir zum Stammlager zurück. Nachmittags berichten wir dem Div. Arzt [ Divisionsarzt ] von unseren Eindrücken in der Strafgef. Abt. Mit dem Div. Arzt sind wir der Meinung, dass der Truppenarzt der Strafgef. Abt. einen Hilfsarzt braucht, wenn die z. T. weit auseinander liegenden Lager ärztlich richtig versorgt werden sollen.«25
Dies alles führte aber auch hier wie anderswo bei den Feldstrafgefangenenabteilungen keineswegs dazu, dass sofortige und dauerhafte Abhilfe geschaffen wurde. Nach ersten obduzierten Todesfällen bereits 1942 ließ man auch 1943 und 1944 weiterhin Wehrmachtstrafgefangene verhungern. Der letzte obduzierte Hunger23 24 25
BArch, RH 12–23/229. Der im Originalbericht abgekürzte Ortsname ließ sich leider nicht ermitteln. BArch, RH 12–23/669.
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Peter Steinkamp
todesfall, der in der Teilsammlung enthalten ist, ereignete sich noch im Juli 1944! Selbst zu diesem späten Zeitpunkt verfiel der Obduzent, Stabsarzt Prof. W. Schmidt, Beratender Pathologe bei der Heeresgruppe Nord, immer noch in die frühere Gewohnheit, trotz eindeutiger pathologisch - anatomischer Diagnose einer erheblichen Kachexie, also eines pathologischen Gewichts - und Muskelverlustes, und trotz fehlender organischer Erkrankung des Zentralnervensystems sowie fehlender Anzeichen etwa für eine vorausgegangene Fleckfieberinfektion eine Geisteskrankheit als wahrscheinlich zu erachten. Dies geschah, obwohl die beschriebenen psychischen Auffälligkeiten des Sterbenden (»Starke psychotische Erscheinungen, motor[ isch ] unruhig, Wahnideen.«26) Ausdruck von dessen nahendem Hungertod gewesen sein dürften. Ein letzter hier anzuführender Hungertodesfall eines obduzierten Wehrmachtstrafgefangenen stellt zum einen einmal mehr ein deutliches Beispiel für (truppen - ) ärztliches Fehlverhalten bei solchen schwerkranken Soldaten dar. Zum anderen aber zeigt er auch, dass doch immerhin einzelne Obduzenten bereits zu einem recht frühen Zeitpunkt den Zusammenhang zwischen Unterernährung, Erschöpfung und damit einhergehenden psychischen Veränderungen deutlich erkannt hatten. Am 28. Mai 1943 verstarb der 34 - jährige Alfred G., im Zivilberuf Landarbeiter, Angehöriger der 4. Kompanie der Feldstrafgefangenenabteilung 11. Sein Tod kann angesichts der Begleitumstände und des Versagens des zuständigen Truppenarztes ohne Weiteres als »Vernichtung durch Arbeit« bezeichnet werden. Zwei Tage später wurde seine Leiche durch Oberarzt Schwager von der Prosektur der Kriegslazarett - Abteilung 521 obduziert. Der Arzt hielt in seinem Bericht recht ausführlich die Vorgeschichte fest, wie sie ihm offensichtlich von der Truppe übermittelt worden war : »Am 27. 5. 43 um 17 Uhr beim Truppenarzt. Er sollte wegen erneuter Verfehlungen in die Strafvollzugsabt[ eilung ] versetzt werden und klagte über allgemeine Schwäche und Atemnot. Herz und Lungen waren o. B. [ ohne Befund ]. Die Kniebeugen, die zu einer Funktionsprüfung gemacht werden sollten, wurden nur sehr lässig durchgeführt, sodass der Truppenarzt den Eindruck hatte, dass der Strafgefangene sich absichtlich keine Mühe gab. Ein krankhafter Befund konnte nicht erhoben werden. Am 26.5. war der Strafgef. [ Strafgefangene ] G. bereits von der Baustelle nach Hause wegen Erschöpfung geschleppt worden. Auch am 27.5. konnte er nicht mehr alleine nach Hause. Es wird angegeben, dass G. anfangs ein guter Arbeiter gewesen sei und erst später eine allgemein lässige Haltung angenommen habe. Atemnot und Cyanose konnten bei der Untersuchung nicht festgestellt werden. G. ging daraufhin am 28.5. früh wieder zur Arbeit, musste auf dem Heimwege wieder geschleppt werden und war dann bald darauf tot ( am 28. 5. 43, 20 Uhr ). [...] – Arbeitsleistung :
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Sammlung Obduktionsberichte : L, Ernährungsstörungen und Erschöpfungsschäden, Mappe 819, L 1879, Walter O., 1944 ( BArch, RH 12–23/3325). Dort auch die weiteren Angaben zu diesem Todesfall.
Hungertodesfälle
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12 Stunden täglich, Knüppeldammbau in sumpfigem[,] sehr schwierigem Gelände. – Ernährung : Truppenverpflegung weniger 50 g Fett und 50 g Fleisch pro Woche.«27
Demnach hatte also der Truppenarzt bei einem Schwerkranken, der, wie schon am Tag zuvor, von der Arbeit hatte zurückgetragen werden müssen, weil er auf Grund seines körperlichen Zustandes nicht mehr in der Lage gewesen war, sich aus eigener Kraft fortzubewegen, keinerlei krankhaften Befund erheben können ! Die Ungeheuerlichkeit, dass er den noch kurz zuvor nicht mehr Gehfähigen »zur Funktionsprüfung« hatte Kniebeugen machen lassen und dessen dabei gezeigte angebliche Nachlässigkeit als Unwillen glaubte verstehen zu müssen, passt da nur zu gut ins Bild vollständigen ärztlichen Versagens, das dann tatsächlich, durch die erneute Arbeitsfähigkeitsschreibung, am nächsten Tag den Tod des Patienten brachte. Der Obduzent enthielt sich zwar einer Kommentierung des Verhaltens seines Medizinerkollegen, deutete aber durch gewisse Wiederholungen aus der ihm übermittelten Vorgeschichte in seiner eigenen Beurteilung eine leichte Distanzierung an : »Zusammenfassung : Der verstorbene Strafgefangene klagte 2 Tage vor seinem Tode über körperliche Schwäche und Atemnot. Er musste zweimal von der Arbeitsstätte nach Hause getragen werden. Einen krankhaften Befund konnte der Truppenarzt nicht erheben. Eine Inanition wurde vom Truppenarzt deshalb nicht angenommen, weil die Extremitätenmuskulatur noch relativ kräftig entwickelt war. Es wurde deswegen an einen akuten Herztod gedacht. – Die Obduktion ergab als Todesursache eine Inanition. Das Fettgewebe war fast vollständig geschwunden. Es bestand eine deutliche braune Atrophie von Herz und Leber. Auch histologisch konnte kein weiterer krankhafter Befund erhoben werden. Die relativ kräftige Muskulatur der Extremitäten ist wohl dadurch zu erklären, dass es sich von vorn herein um einen sehr muskulösen[,] untersetzten Mann gehandelt haben muss.«
Doch bei diesen Feststellungen ließ es der Obduzent nicht bewenden. Was nun noch in seinem Bericht folgte, war die im Vergleich doch recht ungewöhnliche, oben schon erwähnte Herstellung des Zusammenhangs zwischen Fehlernährung, Erschöpfung und verändertem Verhalten : »Es wird angegeben, dass der Feldstrafgefangene anfangs ein guter Arbeiter gewesen sei und erst später lässig in seiner Haltung Vorgesetzten gegenüber geworden sei. Wegen erneuter Verfehlungen sollte der Verstorbene in die Strafvollzugsabteilung versetzt werden. Es ist wahrscheinlich, dass die psychischen Veränderungen, die lässige Haltung, bereits als Symptom einer Erschöpfung zu werten sind. Als Frühsymptome einer Erschöpfung sind nicht nur Durchfälle und Magerkeit, sondern häufig auch psychische Veränderungen, die zu strafbaren Handlungen führen, bekannt.« Offensichtlich waren diese Symptome nur allzu oft und allzu vielen Truppenärzten und Vorge-
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Sammlung Obduktionsberichte : L, Ernährungsstörungen und Erschöpfungsschäden, Mappe 819, L 1766, Alfred G., 1943 ( BArch, RH 12–23/3325). Dort auch die weiteren Angaben zu diesem Todesfall.
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Peter Steinkamp
setzten in den Feldstrafgefangenenabteilungen nicht bekannt. Einigen scheinen sie zumindest gleichgültig oder sogar willkommener Anlass gewesen zu sein, einzelne Strafgefangene durch weitere Strafverschärfung der Vernichtung preiszugeben. Zusammenfassend und ergänzend lässt sich feststellen, dass auch aus den in der Teilsammlung enthaltenen zahlreichen Obduktionsberichten von Hungertodesfällen, die man bereits ab Sommer 1941 über sowjetische und serbische Kriegsgefangene in deutscher Hand in großer Zahl angefertigt hatte, von einem wirkungsvollen ärztlichen Eingreifen nichts zu erkennen ist. Suchten die Obduzenten bei den Kriegsgefangenen zunächst noch nach anderen Ursachen als Unter - und Mangelernährung, namentlich etwa Tuberkulosefolgen, so akzeptierten die meisten mit diesem Problem konfrontierten Militärärzte schon bald das massenweise Hungersterben, das ab 1944 in zunehmendem Maße auch italienische Kriegsgefangene in deutscher Hand betraf, als gewollt. Die Berichtsverfasser argumentierten zur Einschränkung der Hungertodesfälle meist nicht aus humanitären Gründen für deren Vermeidung, sondern bestenfalls systemimmanent, indem sie auf den dadurch entstehenden Mangel an Arbeitskräften oder auf mögliche schädliche antideutsche Propagandawirkungen hinwiesen. Als derartige Todesfälle ab Anfang 1942 zunehmend auch deutsche Soldaten betrafen – im Winter 1941/42 bei mangelhaft versorgten Schwerverwundeten in bestimmten Abschnitten der Ostfront, ab der zweiten Jahreshälfte 1942 dann auch bei Angehörigen der Feldstrafgefangenenabteilungen und der Feldstraflager – tat man dies zum einen als zu vernachlässigende Einzelfälle, zum anderen als Formen psychiatrischer Krankheitsbilder oder als vorsätzliches Handeln Einzelner durch Nahrungsverweigerung ab. Der Zusammenhang zwischen Unterernährung, psychischen Verhaltensänderungen und körperlichen, nicht selten letalen, Erschöpfungszuständen wurde zwar bereits seit Herbst 1942 von zunehmend mehr Fachmedizinern – insbesondere von mit derlei Fällen konfrontierten Psychiatern, Pathologen und auch vereinzelt Internisten – erkannt. Die von diesen vorgeschlagenen Verbesserungen der Lebensumstände der Feldstrafgefangenen, namentlich eine angemessenere kalorische Versorgung angesichts der verlangten übermäßigen Arbeitsleistungen, bessere Unterkunft und Bekleidung, blieben jedoch letztlich nur kosmetische Maßnahmen. Sie änderten nichts Entscheidendes an den durch die Wehrmachtführung und Wehrmachtjustiz so gewollten, zumindest aber als billigend in Kauf genommenen gesundheitsschädlichen bis lebensbedrohlichen Existenzbedingungen für diese bestraften Soldaten.
Lars Skowronski Die Feldstraflager der Wehrmacht im Spiegel von Nachkriegsermittlungen deutscher Justizbehörden
1. Einleitung Auch mehr als ein Vierteljahrhundert nach Beginn der kritischen Aufarbeitung der NS - Militärjustiz ist das Interesse an diesem Thema nicht abgeklungen. Mittlerweile hat die Materie aber die akademischen Kreise längst verlassen und den Weg in eine breitere Öffentlichkeit1 gefunden. Das Wissen auf diesem lange vernachlässigten und von Apologetik geprägten Gebiet ist somit in den vergangenen Jahren gewachsen, und wird sich voraussichtlich auch in der Zukunft weiter vergrößern. Dennoch gibt es innerhalb des Forschungsfeldes NS - Kriegsgerichtsbarkeit weiterhin erkennbare Fehlstellen und Teilaspekte, die noch immer der Bearbeitung harren. Hierzu zählt das Thema des Wehrmachtstrafvollzuges, für das mit Ausnahme einiger Veröffentlichungen von Hans - Peter Klausch2 und der Disser-
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Jüngster Beleg dafür ist der am 14. 6. 2012 gefasste einstimmige Beschluss der Hamburgischen Bürgerschaft, in Hamburg einen »Gedenkort für Deserteure und andere Opfer der NS - Militärjustiz« zu schaffen. Wichtige Impulse dafür gab das »Bündnis für ein Hamburger Deserteursdenkmal«, ein seit 2010 bestehender Zusammenschluss von inzwischen über 20 Gruppen aus Politik, Kultur und Gesellschaft. Klausch behandelt den Strafvollzug allgemein am Rande seiner Publikationen zu den Bewährungseinheiten der Wehrmacht sowie speziell die Feldstraflager in einem Aufsatz. Vgl. beispielsweise Hans - Peter Klausch, Die Bewährungstruppe 500. Stellung und Funktion der Bewährungstruppe 500 im System von NS - Wehrrecht, NS - Militärjustiz und Wehrmachtstrafvollzug, Bremen 1995; ders., Orte des Schreckens – Die Feldstraflager der Wehrmacht. In : Via Regia. Blätter für internationale kulturelle Kommunikation, Heft 24 (1995) ( www.via - regia.org / bibliothek / pdf / heft24/ klausch_orte.pdf; 10. 2. 2014). Daneben widmen weitere Autoren in Gesamtdarstellungen dem Strafvollzug einzelne Kapitel : Fritz Wüllner, Die NS - Militärjustiz und das Elend der Geschichtsschreibung. Ein grundlegender Forschungsbericht, 2. Auflage Baden Baden 1997; Manfred Messerschmidt, Die Wehrmachtjustiz 1933–1945, Paderborn 2005; Peter Kalmbach, Wehrmachtjustiz, Berlin 2012.
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Lars Skowronski
tation von Frank Bührmann - Peters3 Darstellungen weitgehend fehlen. Geschuldet ist dies einerseits der Komplexität der Thematik. Für die mannigfachen Formen der Disziplinierung, Sanktionierung und vermeintlicher Bewährung schuf die Wehrmacht einen eigenen Organisationskosmos aus Arrestanstalten, Wehrmachthaftanstalten, Wehrmachtgefängnissen, Wehrmachtgefangenenabteilungen, Feldstrafgefangenenabteilungen, ( Feld )Straflagern usw. – flankiert von verschiedenen Erziehungs - und Bewährungsformationen –, der in seiner Vielschichtigkeit schwer zu durchdringen ist. Darüber hinaus steht dem Erkenntnisinteresse der Mangel an aussagekräftigen Quellen entgegen. Die einschlägigen Archive verwahren lediglich Reste vormals existierender Unterlagenbestände.4 Viele der relevanten Akten müssen als vernichtet bzw. verschollen gelten. Die folgenden Ausführungen zur Verwahrung kriegsgerichtlich Verurteilter in Feldstraflagern der Wehrmacht basieren auf einer von der Forschung zur Wehrmachtjustiz bislang noch zu wenig beachteten Quellengattung,5 den Akten der Nachkriegsjustiz. Sowohl in der Sowjetischen Besatzungszone ( SBZ ) und in der DDR als auch in der Bundesrepublik ermittelten Polizei und Staatsanwaltschaften gegen Angehörige des Wachpersonals von Feldstraflagern wegen Tötungs - und Körperverletzungsdelikten. Der Beitrag versucht, vorläufige Antworten auf zwei Fragenkomplexe zu geben. Der erste bezieht sich auf den unmittelbaren Zweck, zu dem die Akten angelegt wurden. Zu klären ist dabei, gegen wen sich die Ermittlungen richteten, wie sie verliefen und welche Resultate sie hervorbrachten. Als zweites ist herauszuarbeiten, welche Erkenntnisse sich aus den Akten zu 3
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Frank Bührmann - Peters, Ziviler Strafvollzug für die Wehrmacht. Militärgerichtlich Verurteilte in den Emslandlagern 1939–1945, Osnabrück 2002. Bei den Emslandlagern handelte es sich nicht um Strafvollzugseinrichtungen der Wehrmacht. Die Lager unterstanden der Reichsjustizverwaltung, nahmen aber eine große Zahl von Soldaten auf, gegen die Kriegsgerichte auf Zuchthausstrafen erkannt hatten. Diese wurden durch das Urteil als »wehrunwürdig« aus der Wehrmacht ausgestoßen, waren also bei Beginn des Strafvollzuges formal keine Militärangehörigen mehr. Solche Splitterbestände befinden sich u. a. im Bundesarchiv - Militärarchiv ( BArch ). Auch das Militärhistorische Archiv der Tschechischen Republik ( MHA ) verwahrt einzelne Gefangenenpersonalakten aus Wehrmachtgefängnissen. Als Ersatz, insbesondere für die Rekonstruktion von Phänomenen des Alltagslebens im Wehrmachtstrafvollzug, bieten sich Kriegsgerichtsakten an, die nicht selten Unterlagen zur Strafverbüßung der Verurteilten enthalten. Vereinzelt befassten sich Kriegsgerichte im Rahmen von Verfahren auch mit Taten, die Soldaten begangen hatten, die sich bereits im Strafvollzug befanden. Vgl. exemplarisch das Verfahren des Gerichts des Admirals der norwegischen Polarküste gegen Otto Berlin ( BArch, RM 123/71550) sowie das Verfahren des Gerichts der Division Nr. 190 in Hamburg gegen Ferdinand Schönfeld und Werner Enge ( BArch, Gericht der Division Nr. 190, Akte Nr. 1514). Der letztgenannte Fall ist skizziert bei Detlef Garbe / Magnus Koch / Lars Skowronski, unter Mitarbeit von Claudia Bade, Deserteure und andere Verfolgte der NS - Militärjustiz : Die Wehrmachtgerichtsbarkeit in Hamburg. Texte, Fotos und Dokumente, Hamburg 2013, S. 51. Eine Ausnahme bildet die Veröffentlichung von Michael Eberlein / Norbert Haase / Wolfgang Oleschinski, Torgau im Hinterland des Zweiten Weltkriegs. Militärjustiz, Wehrmachtgefängnisse, Reichskriegsgericht, Leipzig 1999.
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den Feldstraflagern gewinnen lassen. Berücksichtigt werden soll dabei auch die Frage, inwieweit Akten der Nachkriegsjustiz geeignet sind, den Verlust zeitgenössischer Primärquellen zu kompensieren.
2. Entstehung und Funktion von Feldstraflagern Wie das gesamte militärgerichtliche Verfahren erfuhr zu Kriegsbeginn auch der Wehrmachtstrafvollzug durch Inkrafttreten der Kriegsstrafverfahrensordnung einschneidende Veränderungen. Dazu gehörte, dass für die Dauer des Krieges der Vollzug von Freiheitsstrafen ausgesetzt wurde; Abweichungen davon mussten die Gerichtsherren explizit anordnen.6 Noch 1939 entstanden bei den Wehrmachtgefängnissen Straflager - Abteilungen.7 Eingewiesen werden sollten Soldaten, gegen die Gefängnisstrafen verhängt worden waren, insbesondere »besserungsunfähige Verurteilte, die eine stete Gefahr für die Mannszucht bilden, wegen der Schwere ihrer Verfehlung in einer Truppe nicht mehr tragbar sind oder wegen dabei zu Tage getretener Charaktermängel als Soldaten unbrauchbar sind ( Wehrmachtschädlinge, Verbrechertypen )«.8 Die Zeit der Verwahrung im Straflager wurde den Betroffenen auf die erkannte Strafe nicht angerechnet. Im Umgang mit ihnen ordnete das Oberkommando der Wehrmacht ( OKW ) Unnachgiebigkeit und Härte an : »Die im Straflager untergebrachten Gefangenen sind mit großer Strenge zu behandeln. Diese Behandlung muss eine nachhaltige abschreckende Wirkung auf die unsicheren Elemente bei der Truppe ausüben und entscheidend dem Anreiz entgegenwirken, sich durch Herbeiführung von Freiheitsstrafen seiner Pflicht zu entziehen. [...] Bei allen Verstößen gegen die Zucht und Ordnung ist mit äußerster Strenge einzuschreiten, auch Waffengebrauch darf nicht gescheut werden.«9 Ausgedehnte Arbeitseinsätze, Exerzieren, der Entzug jeglicher Vergünstigungen sowie eine minimale Verpflegung sollten für allgegenwärtige Entbehrungen sorgen.10 Das Scheitern des Blitzkrieges gegen die Sowjetunion und die enormen Verluste der Wehrmacht im Winter 1941/1942 führten zu einer Zäsur im gesamten militärischen Strafvollzug. Um den Fronten neues Personal zuzuführen, soll-
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§ 104 der Verordnung über das militärische Strafverfahren im Kriege und bei besonderem Einsatz ( Kriegsstrafverfahrensordnung ) vom 17.8.1938 : Aussetzung des Strafvollzugs bei Freiheitsstrafen ( RGBl. 1939 I, S. 1473). Eberlein / Haase / Oleschinski, Torgau, S. 52. Schreiben des Generals z. b.V. beim Oberkommando des Heeres, Eugen Müller, vom 21.9.1941. Zit. nach Klausch, Orte. Ausführungsbestimmungen des OKW zur Aufstellung und Beschickung der Straflager vom 3.11.1939. Zit. nach ebd. Vgl. ebd.
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ten Verurteilte nicht mehr wie bis dahin hauptsächlich im Reichsgebiet inhaftiert, sondern frontnah eingesetzt werden. Vor diesem Hintergrund ordnete das OKW im Frühjahr 1942 an, dass Straflagerverwahrung künftig ausschließlich in Feldstraflagern zu vollstrecken sei. Zum 1. Mai 1942 sollten bei den Wehrmachtgefängnissen Fort Zinna und Brückenkopf in Torgau zwei Feldstraflager mit den Bezeichnungen I und II aufgestellt werden. Jedes Lager hatte eine Stärke von 600 Häftlingen, die aus allen Wehrmachtgefängnissen des Reiches zu diesem Zweck nach Torgau überführt wurden.11 Im August 1942 kam ein weiteres Lager mit der Ziffer III hinzu. Als Einsatzgebiete für die Lager bestimmte die Wehrmachtführung die polaren Regionen Norwegens und Finnlands. Ein Erlass des Oberkommandos des Heeres ( OKH ) vom September 1942 regelte Einzelheiten des »Strafvollzug[ s ] in den Feldstrafgefangenenabteilungen und [ der ] Verwahrung in den Feldstraflagern« : »a ) Arbeitseinsatz : Einsatz zu härtesten Arbeiten unter gefahrvollen Umständen im Operationsgebiet, möglichst im Einsatzgebiet der kämpfenden Truppe ( z. B. Minenräumen, Aufräumen von Leichenfeldern gefallener Feinde, Bunker - und Stellungsbau usw.). b ) Arbeitszeit : täglich – auch an Sonn - und Feiertagen – nach Möglichkeit mindestens 10 Stunden, in den Feldstraflagern 12–14 Stunden, c ) Bewachung : Das Stammpersonal ist verpflichtet, bei jedem Versuch der tätlichen Widersetzung, Aufwiegelung oder Flucht sofort von der Waffe Gebrauch zu machen. Vorheriger Warnruf ist nicht erforderlich.«12 Hinsichtlich ihres Charakters bezeichnete der Militärjurist Fritz Hodes Straflager bereits 1940 in einem Artikel der Zeitschrift für Wehrrecht prägnant und zutreffend als »KZ der Wehrmacht«13 – das allerdings mitnichten kritisch gemeint. In der Außendarstellung wurde aber auch der vermeintliche Erziehungsgedanke hervorgehoben, so in einem Brief des Kommandeurs des Feldstraflagers II vom August 1944 an die Mutter eines Verwahrten, die sich mehrfach mit Eingaben und Anfragen zum Zustand ihres Sohnes an ihn gewandt hatte : »Ihr Sohn ist im Straflager, der tiefsten Stufe des Soldatentums. [...] Er muss hier arbeiten und wird erzogen. [...] Er bekommt im Straflager gutes Essen, jeden Tag 1 Liter erstklassiges Mittagessen, täglich mit Fleisch. Seine Wochenration an Fleisch beträgt 1 000 Gramm pro Woche, seine Fettration 73 Gramm pro Tag, dazu genügend Brotaufstrich. Ihr Sohn ist so sauber in Kleidung, hat eine so erstklassige Unterkunft, wie sie der Soldat an der Front nie haben kann. Niemand vergreift sich an ihm, er hat also jede Grundlage, nun ein anständiger Mensch zu werden. Ich habe nämlich kein Straflager, sondern eine Erziehungs-
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Zur Aufstellung der Feldstraflager vgl. die diesbezüglichen Bestimmungen des OKW vom April 1942, abgedruckt bei Wüllner, NS - Militärjustiz, S. 793–796. 10. Mob. - Sammelerlass des OKH vom 7.9.1942, S. 9 ( BArch, RW 60/59). Fritz Hodes, Die Strafvollstreckung im Kriege. In : Zeitschrift für Wehrrecht ( ZWR ), 4 (1939/40), S. 402–409, hier 407.
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schule höchsten Formats.«14 Das hier gezeichnete Bild steht in krassem Gegensatz zu den Aussagen vieler ehemaliger Verwahrter und den Ermittlungsergebnissen der Justizbehörden in der Nachkriegszeit.
3. Ermittlungen der Justiz in der SBZ / DDR und in der Bundesrepublik Im Folgenden werden die Ermittlungen der Behörden in beiden Teilen Deutschlands summarisch beschrieben.15 In der SBZ wurden die Behörden aufgrund der Meldung eines ehemaligen Verwahrten vom März 1947 tätig. In einem Schreiben an den Landrat von Weißenfels bat er um Einleitung eines Strafverfahrens gegen einen seiner Bewacher, dem er vorwarf, Gefangene geschlagen, gequält und so zum Tod Vieler beigetragen zu haben.16 Es gehe nicht an, dass der Betreffende »noch ungestraft in Weißenfels rumläuft, und versucht sich im Hinteren ganz ruhig zu verhalten, weil er ja nicht genau weiß, ob noch jemand von denen, die er misshandelte, am Leben ist«.17 Nach ersten Nachforschungen richteten sich die Ermittlungen schließlich gegen drei Beschuldigte. Subsumiert unter dem Tatbestand der Verbrechen gegen die Menschlichkeit ( VgM ) warf die Anklageschrift, die im November 1948 beim Landgericht Halle einging, den ehemaligen Unteroffiziersdienstgraden vor, »in den Jahren 1942–1944 aus politischen Beweggründen Verbrechen gegen Opfer oder Gegner des Nationalsozialismus begangen zu haben, indem [ sie, L. S.] [...] in einem Feldstraflager in Finnland schwere Misshandlungen und selbst Erschießungen an Wehrmachtsstrafgefangenen vorgenommen haben«.18 Die Hauptverhandlung fand an drei Terminen zwischen Dezember 1948 und Dezember 1949 vor einer Strafkammer des Landgerichts
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MHA Prag, Wehrmachtgefängnis Torgau, Personalakte Wolfgang Schröder. Die in der Akte erhaltene Zweitschrift des Briefes ist nur mit einer Paraphe unterzeichnet. Vermutlich handelt es sich bei dem Verfasser um Hauptmann Dr. Hermann Dönch, der 1943 das Feldstraflager II als Kommandeur übernahm. Gegen Dönch war in den 1950er Jahren bei der Staatsanwaltschaft Münster ein Ermittlungsverfahren wegen Mordes anhängig, das aber eingestellt wurde. Vereinzelt schilderten Zeugen, dass Dönch bemüht war, die Zustände im Lager zu verbessern. Andererseits drohte er der Empfängerin des zitierten Briefes mit der Gestapo, falls sie weiter ihre »bisherige Gesinnung« zeige. Die relevanten Aktenbestände sind über zahlreiche Archive des Bundes und der Länder verstreut. Sie haben einen Umfang von mehreren tausend Blatt und konnten daher für diesen Aufsatz nicht vollständig ausgewertet werden. Erwin K. an den Landrat von Weißenfels, Betreuungsstelle für die Opfer des faschistischen Terrors, vom 30.3.1947 ( Der Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR ( BStU ), MfS BV Halle, ASt 7493/48, Band 3, Bl. 3 f.). Ebd., Bl. 4. Anklageschrift des Kriminalamtes Halle an das Landgericht ( LG ) Halle vom 12.10.1948 ( BStU, MfS BV Halle, ASt 7493/48, Band 1, Bl. 32).
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Halle statt. Diese befand zwei Angeklagte nach Kontrollratsgesetz Nr. 10 (KRG 10)19 in Verbindung mit der Kontrollratsdirektive ( KD ) Nr. 3820 wegen VgM für schuldig und verhängte gegen sie eine lebenslängliche bzw. zwölfjährige Zuchthausstrafe.21 Der dritte Angeklagte wurde vom VgM - Vorwurf zwar freigesprochen, aber als Belasteter nach KD Nr. 38 zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt.22 Nach Ablehnung der Revisionsanträge durch das Oberlandesgericht Halle im Mai 1950 erlangten die Urteile Rechtskraft.23 Festzuhalten bleibt somit, dass die Justiz in der SBZ / DDR nach bisheriger Kenntnis zum Themenkomplex Feldstraflager lediglich dieses eine Verfahren gegen drei Beschuldigte durchführte und dass es mit der Verurteilung aller Angeklagten endete. Unter quantitativen Gesichtspunkten betrachtet, erscheint diese Bilanz sehr bescheiden, wenn man sie dem Umfang der Ermittlungen in der Bundesrepublik gegenüberstellt. Anfang 1952 löste auch hier die Anzeige eines ehemaligen Straflager - Insassen Ermittlungen aus.24 Jedoch entwickelte sich daraus eine regelrechte Strafverfolgungs - »Lawine«, wie die folgenden Zahlen belegen. Das Bayerische Landeskriminalamt ( LKA ), bei dem die Ermittlungen zentralisiert wurden, führte zunächst 50 Personen als Beschuldigte.25 Im Fokus standen Angehörige des Stammpersonals der Feldstraflager I und II quer durch alle Dienstgradgruppen. Zu finden sind darunter neben gewöhnlichen Wachsoldaten, Kompanie - und Gruppenführern ebenfalls die Lagerkommandeure, ein Gerichtsoffizier sowie ein Arzt. Die gegen sie erhobenen Vorwürfe waren identisch mit jenen in dem Verfahren in der SBZ / DDR – die Betroffenen sollten ab 1942 Gefangene auf 19
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Auf Basis des am 20.12.1945 von den Alliierten erlassenen Gesetzes fanden in den Nachkriegsjahren vor Gerichten der Besatzungsmächte, später auch vor deutschen Gerichten, Prozesse gegen Personen statt, denen Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen den Frieden, Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder die Zugehörigkeit zu einer verbrecherischen Organisation zur Last gelegt wurden. Das Gesetz sanktionierte nicht nur Handlungen von Tätern, sondern auch solche von Beihelfern. Während das Gesetz in der Bundesrepublik seit 1951 nicht mehr angewendet wurde, nutzten es Gerichte in der DDR bis 1955. Die Direktive Nr. 38 über die »Verhaftung und Bestrafung von Kriegsverbrechern, Nationalsozialisten und Militaristen und Internierung, Kontrolle und Überwachung von möglicherweise gefährlichen Deutschen« erließ der Alliierte Kontrollrat am 12.10.1946. Ihr Ziel war es u. a., das KRG 10 zu präzisieren. Im Unterschied zu den westlichen Besatzungszonen bzw. der Bundesrepublik wurde die Direktive in der SBZ / DDR als Strafgesetz angewendet und diente auch zur Verfolgung politischer Gegner des neuen Regimes. Urteile des LG Halle gegen Robert Obst vom 23. 12. 1949 sowie gegen Fritz B. vom 30. 11. 1949 (BStU, MfS BV Halle, ASt 7493/48, Band 1, Bl. 1 und 7). Urteil des LG Halle gegen Erich L. vom 30.11.1949 ( ebd., Bl. 7). Beschluss des Oberlandesgerichts Halle zu den Revisionsanträgen von Robert Obst und Erich L. vom 19.5.1950 ( ebd., Bl. 251). Der dritte Verurteilte hatte seinen Revisionsantrag zurückgezogen. Informationsbericht des Bayerischen Landeskriminalamts ( LKA ) vom 9.11.1955 ( Staatsarchiv Nürnberg ( StAN ), Staatsanwaltschaft bei dem Landgericht ( StA bei dem LG ) Nürnberg - Fürth, Nr. 528, Bl. 2). Ebd., Bl. 2 RS.
Die Feldstraflager der Wehrmacht
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unterschiedliche Art getötet oder misshandelt haben. Folglich standen als strafbare Handlungen vor allem Mord, Totschlag sowie Körperverletzung im Raum. Als Schwerpunkt kristallisierten sich die Vorgänge während des Transportes der Lager von Torgau nach Finnland bzw. Norwegen heraus. Da die Häftlinge im Rahmen dieser Verlegung einen 500 Kilometer langen Fußmarsch auf der Eismeerstraße zu bewältigen hatten und sich dazu viele Zeugen mit Tatvorwürfen äußerten, führte das Bayerische LKA seine Ermittlungen bald unter der Sammelbezeichnung »Eismeerstraßen - Verfahren«. Nach Abschluss erster Recherchen leitete die Polizei den für die Wohnorte der Beschuldigten zuständigen Staatsanwaltschaften26 die Unterlagen zu. Dort stieg die Zahl der Beschuldigten noch an. So ermittelte allein die Staatsanwaltschaft Regensburg gegen 50 Personen.27 Insgesamt wurden annähernd 200 Zeugen vernommen. Allerdings kam keines der Verfahren über das Stadium der Voruntersuchung hinaus, d. h. Anklageerhebungen oder gar Hauptverhandlungen fanden nicht statt. Stattdessen stellten alle Staatsanwaltschaften zwischen 195228 und 197729 die Verfahren aus verschiedensten Gründen ein. Die Beschuldigten waren verstorben, unbekannten Aufenthaltes oder in der DDR wohnhaft, wo sie nicht belangt werden konnten. Bei vielen ließ sich eine Tatbeteiligung nicht nachweisen oder die Tat war verjährt. Bei wiederum anderen sah die Justiz Rechtfertigungsgründe für die vorgenommenen Tötungen. Diese waren insbesondere dann gegeben, wenn Angehörige des Wachpersonals zur Vollstreckung kriegsgerichtlicher Todesurteile herangezogen worden waren oder wenn sie Verwahrte wegen »Widersetzlichkeit«, »Befehlsverweigerung« oder bei »Fluchtversuchen« erschossen hatten. Die letztgenannten Handlungen sahen die Staatsanwaltschaften durch die während des Krieges für die Feldstraflager geltende Befehlslage gedeckt.30 Vergleichend ist somit festzuhalten, dass die Justizbehörden in der SBZ / DDR zwar in weit geringerem Ausmaß tätig wurden, diese Verfahren dann aber mit Verurteilungen abschlossen. Die westdeutsche Justiz betrieb demgegenüber einen
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Letztlich waren Staatsanwaltschaften im gesamten Bundesgebiet mit den Ermittlungen befasst, so u. a. in Arnsberg, Darmstadt, Karlsruhe und Lüneburg. Vgl. die Verfügung der Staatsanwaltschaft Regensburg im Ermittlungsverfahren gegen Adalbert F. und 49 Andere vom 17. 7. 1969 (BArch, B 162/20857, Bl. 807–809). Ebd., Bl. 794–799. Bereits am 1.12.1952 stellte die Staatsanwaltschaft Bamberg das Verfahren gegen Kaspar G. ein. Vgl. den Informationsbericht des Bayerischen LKA vom 9. 11. 1955 ( StAN, StA bei dem LG Nürnberg - Fürth, Nr. 528, Bl. 2 RS ). Ende 1977 wurde als letztes das Ermittlungsverfahren gegen Fritz Schlosser, vormals Kommandeur des Feldstraflagers II, eingestellt. Vgl. Einstellungsverfügung der Staatsanwaltschaft Nürnberg - Fürth vom 2.12.1977 ( BArch, B 162/20857, Bl. 907–932). Zu den verschiedenen Gründen der Verfahrenseinstellung vgl. die Verfügung der Staatsanwaltschaft Regensburg im Ermittlungsverfahren gegen Adalbert F. und 49 Andere vom 17. 7. 1969 (ebd., Bl. 815–890).
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ungleich höheren Ermittlungsaufwand. Die Grenzen des Rechtsstaates und justizpolitische Entscheidungen verhinderten hier jedoch, dass die Verantwortlichen juristisch belangt werden konnten. Welche aus der Sicht der Historiografie relevanten Erkenntnisse lassen sich nun aus den hier beschriebenen Unterlagen über die Institution der Feldstraflager entnehmen ? Bezüglich der Verlegung der Lager erweist sich besonders ein tagebuchähnliches Dokument,31 das die Überführung des Feldstraflagers II von Torgau nach Finnland widerspiegelt, als gehaltreich. Die mehrseitigen Aufzeichnungen, von einem ehemaligen Angehörigen des Stammpersonals des Feldstraflagers II 1953 der Polizei überlassen, geben nicht nur Aufschluss über den Marschweg, sondern erwähnen zugleich besondere Vorkommnisse wie Fluchtversuche und Todesfälle. Auf der Grundlage dieses Dokuments und unter Verwendung zahlreicher Zeugenaussagen erstellte das Bayerische LKA eine Karte32 mit der Marschroute und den vorläufigen Stationierungsorten der Feldstraflager I und II im Jahr 1942. Dem »Transporttagebuch« ist zu entnehmen, dass das Feldstraflager II am 4. Juni 1942 Torgau in 45 Eisenbahnwaggons mit Ziel Danzig verließ. Die Fahrt dorthin dauerte einen Tag. Am 6. Juni lief das Schiff, auf das Verwahrte und Stammpersonal verladen worden waren, aus dem Hafen Danzig - Neufahrwasser in Richtung Finnland aus, wo es fünf Tage später eintraf. Im Anschluss an die Überführung vom Hafen Jakobstad nach Rovaniemi per Eisenbahn folgte das, was sich später im kollektiven Gedächtnis der Häftlinge zu einem der zentralen Erlebnisse verdichten sollte : der über 500 Kilometer lange Fußmarsch auf der Eismeerstraße Richtung Norden. Er begann in der Nacht vom 16. zum 17. Juni und endete einen Monat später am 15. Juli, als das Feldstraflager II seinen Zielort im Raum Petsamo erreichte. Dort verblieb die Einheit bis zum Herbst desselben Jahres und wurde anschließend in das Gebiet um Narva zurückgeführt. Für das Feldstraflager I rekonstruierte die Polizei den gleichen Transportweg und - zeitraum. Allerdings überschritt diese Einheit beim Marsch Richtung Norden die norwegische Grenze und wurde bei Kirkenes stationiert. Später erfolgte die Rückverlegung in den Raum der finnischen Städte Inari und Ivalo.33 Dem Feldstraflager III kommt in mehrfacher Hinsicht eine Sonderstellung zu. Zum einen erfolgten die Aufstellung in Torgau und der Transport nach Finnland
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Nachfolgend wird das Dokument aus Gründen der sprachlichen Vereinfachung als »Transporttagebuch« bezeichnet. Es ist als Kopie in verschiedenen Ermittlungsakten, u. a. in jener der Staatsanwaltschaft Frankfurt a. M. gegen Arthur B., überliefert ( Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden ( HHStAW ), Abt. 461, Nr. 33190, Bl. 127–129). StAN, StA bei dem LG Nürnberg - Fürth, Nr. 528, Bl. 5. Zu Aufstellung und Stationierung der Feldstraflager I und II allgemein vgl. auch den Informationsbericht des Bayerischen LKA vom 9. 11. 1955 ( StAN, StA bei dem LG Nürnberg - Fürth, Nr. 528, Bl. 3 f.).
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erst im August 1942. Des Weiteren setzte es die Wehrmachtführung nicht so weit nördlich ein wie die anderen beiden Lager. Den Verwahrten blieb zudem ein Fußmarsch erspart. Sie erreichten ihr Ziel bei den Orten Isokumpu und Hyrynsalmi per Eisenbahn - und LKW - Transport.34 Im Rahmen der Untersuchungen bemühten sich Polizei und Staatsanwaltschaften auch darum, Informationen zum Alltag der Verwahrten zusammenzutragen. Die Schilderungen der Zeugen lassen ein Bild entstehen, das geprägt ist von Mangel, Arbeit und Schikanen. So waren die Gefangenen in Nordskandinavien, wo erster Frost bereits Anfang September auftritt und die Temperaturen im Winter bis auf minus 40 Grad Celsius sinken, lediglich mit ihren normalen Uniformen bekleidet und mussten in Zelten leben. Zudem standen ihnen im Vergleich zur normalen Truppenverpflegung lediglich stark reduzierte Nahrungsmittelrationen zu.35 Nach der – nicht prüfbaren – Einlassung des vor dem Landgericht Halle angeklagten Verpflegungsunteroffiziers des Feldstraflagers III erhielten die Verwahrten pro Tag 400–700g Brot, 40g Margarine, 40g Fleisch, 80g Käse und 100g Wurst.36 Dass Hunger und bewusste Mangelernährung ständige Begleiter der Häftlinge waren, davon zeugen zahlreiche Zwischenfälle. So gab der ehemalige Verwahrte Ludwig D. 1954 beim Bayerischen LKA zu Protokoll : »Es ist vorgekommen, dass Wehrmachtsangehörige, die auf der Eismeerstraße mit Lkw. vorbeifuhren, uns Brot zugeworfen haben. Wenn sich ein Strafgefangener nach dem Brot bückte oder aus der Marschordnung getreten ist und dies ein Wachsoldat gesehen hat, hat es schon gekracht. Ich habe selbst gesehen, dass ein Strafgefangener von einem Wachsoldaten niedergeschossen wurde, weil er mit seinem Trinkbecher Wasser aus einer Wasserpfütze schöpfte.«37 Ein anderer Zeuge berichtete davon, dass Häftlinge, die eine Decke gegen Essen eintauschten, geschlagen und dem Gerichtsoffizier namhaft gemacht worden seien.38 Trotz unzureichender Ernährung wurden den Verwahrten bei schwersten Arbeiten Höchstleistungen abverlangt. Sie mussten mit primitiven Mitteln Pionierarbeiten verrichten, Wald roden, Eisenbahnstrecken, Stellungen und Straßen
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Zu Aufstellung und Transport des Feldstraflagers III siehe u. a. das Protokoll zur Vernehmung von Paul M. am 21.12.1949 ( BStU, MfS BV Halle, ASt 7493/48, Band 1, Bl. 198 f.). Vgl. die Ausführungsbestimmungen des OKW zur Aufstellung und Beschickung der Straflager vom 3.11.1939, zit. in Klausch, Orte. Urteil des LG Halle gegen Fritz B. und Erich L. vom 30. 11. 1949 ( BStU, MfS BV Halle, ASt 7493/48, Band 1, Bl. 10). Niederschrift zur Vernehmung von Ludwig D. durch das Bayerische LKA am 18.2.1954 ( StAN, StA bei dem LG Nürnberg - Fürth, Nr. 528, Bl. 13). Protokoll zur Aussage von Rudolf H. beim Kreispolizeiamt Merseburg am 30.5.1948 ( BStU, MfS BV Halle, ASt 7493/48, Band 3, Bl. 81).
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bauen. Erfüllte ein Gefangener sein Pensum nicht, konnte ihn das Wachpersonal mit Essenentzug bestrafen.39 Den mit Abstand größten Raum in ihren Schilderungen über Alltagserlebnisse räumten die Zeugen – auch, weil dies mit dem Erkenntnisinteresse der Untersuchungsbehörden korrespondierte – den Misshandlungen durch die Wachmannschaften ein, die Verwahrte offensichtlich regelmäßig quälten, schlugen oder anderweitig erniedrigten. Erwin K., der durch seine Anzeige das Verfahren in der SBZ ausgelöst hatte, bekundete beispielsweise, dass an Durchfall Erkrankte, die sich wegen Erschöpfung nicht mehr selbst reinigen konnten, im Winter mit eiskaltem Wasser übergossen und im Freien liegen gelassen worden seien.40 In seinem Informationsbericht hob auch das Bayerische LKA die zentrale Rolle körperlicher Schikanen hervor : »Nach den Zeugenangaben hatten die Wachmannschaften über die Verwahrten vollkommen freie Hand und es war der Brutalität der einzelnen keine Grenze gesetzt. Aus nichtigen Anlässen wurden Verwahrte schwer misshandelt oder erschossen. Das Verhalten einzelner Offiziere und Wachmannschaften grenzte an Sadismus.«41 Vielfach äußerten sich Zeugen zudem über Todesfälle. Verwahrte konnten in den Feldstraflagern auf nahezu jede denkbare Weise ihr Leben verlieren : durch Krankheit, Hunger, Erschöpfung, infolge unzulänglicher Lebensbedingungen, durch Unfälle auf den Arbeitsstellen, durch Selbstmord, die Vollstreckung kriegsgerichtlicher Todesurteile oder durch willkürlichen Waffengebrauch seitens der Wachmannschaften. Letzterer wurde befördert durch den weiten Rahmen, der für den Einsatz von Schusswaffen gesteckt worden war sowie durch das Verhalten von Vorgesetzten, die derartige Aktionen entweder deckten oder sogar direkt befahlen. Schon geringste Anlässe wie das Verlassen des markierten Arbeitsbereiches oder das nicht sofortige Befolgen von Befehlen dienten als Vorwand, Gefangene zu erschießen. Bereits auf dem Schiffstransport sollen die ersten Verwahrten getötet worden sein.42 Spätestens für den Marsch auf der Eismeerstraße liegt dann mit dem erwähnten »Transporttagebuch« ein Dokumentenbeweis vor. Allerdings lieferten diese Aufzeichnungen die Rechtfertigungsgründe gleich mit. Die vermerkten Tötungen sollten ausnahmslos das Resultat von Fluchtversuchen und »tätlicher Widersetzung« gewesen sein.43 Jenseits der aus verschiedenen Gründen oft unpräzisen Aussagen direkt Beteiligter erbrachten vor allem die
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Protokoll zur Vernehmung des Beschuldigten Fritz B. bei der Kriminalpolizei Weißenfels am 9.9.1948 ( BStU, MfS BV Halle, ASt 7493/48, Band 3, Bl. 93). Schreiben Erwin K. an den Landrat Weißenfels, Betreuungsstelle für die Opfer des faschistischen Terrors, vom 30.3.1947 ( BStU, MfS BV Halle, ASt 7493/48, Band 3, Bl. 3). Informationsbericht des Bayerischen LKA vom 9. 11. 1955 ( StAN, StA bei dem LG Nürnberg Fürth, Nr. 528, Bl. 4). Ebd., Bl. 3. »Transporttagebuch« ( HHStAW, Abt. 461, Nr. 33190, Bl. 127–129).
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Einlassungen des ehemaligen Sanitätsfeldwebels Arthur F. Hinweise auf Todesfälle. F. war als Angehöriger der Ortskommandantur Ivalo, durch deren Einzugsbereich die Eismeerstraße verlief, zuständig für die Bearbeitung von Verlustfällen und das Gräberwesen. Als das Feldstraflager im Sommer 1942 den Raum Ivalo durchquerte, wurde F. zur Abwicklung von Todesfällen hinzugezogen. Im Rahmen von mehreren Aussagen bei Polizei und Justiz gab er zu Protokoll, dass das Feldstraflager II in seinem Bereich 15 bis 20 Tote zurückgelassen hatte.44 Bei der Ermittlung der Todesursachen hatte F. seinerzeit festgestellt, dass die Verwahrten ausschließlich durch Schussverletzungen zu Tode gekommen waren.45 Den dazu von den verantwortlichen Offizieren gelieferten Erklärungen habe er keinen Glauben geschenkt : »Die jeweiligen Einheitsführer begründeten den Schusswaffengebrauch wegen Widersetzlichkeit, tätlichen Angriffs und Fluchtversuch seitens der Gefangenen. An diesen Darstellungen kamen uns damals schon begründete Zweifel, weil wir wiederholt feststellten, dass die Toten aus nächster Nähe erschossen wurden.«46 Die hauptsächlich auf oder direkt neben der Straße bzw. an den Rastplätzen aufgefundenen Leichen,47 die Tatsache, dass sie vielfach Kopfschüsse oder Wunden mit Schmauchspuren aufwiesen48 – ein Hinweis auf aufgesetzte Schüsse – sowie die Feststellung, dass der körperliche Zustand der Gefangenen Fluchten bzw. körperliche Übergriffe auf die Bewacher überhaupt nicht zugelassen hätten,49 bestärkten F. in seinen Zweifeln. Er folgerte daraus, dass die Mehrzahl der Todesfälle vermeidbar gewesen wäre; manche bezeichnete er als »reinen Mord«.50
4. Die »Bestie in Menschengestalt« und die »Eismeerstraßen - Verfahren« : zwei Fallbeispiele Der dritte Teil des Beitrages beschreibt den Verfahrensablauf gegen jeweils einen Beschuldigten aus Ost und West, zunächst hinsichtlich des ehemaligen Feldwebels Robert Obst51 aus Dresden. Obst, 1896 in Schlesien gebürtig und Schneidermeister von Beruf, war bereits im Ersten Weltkrieg Soldat gewesen und 44 45 46 47 48 49 50 51
Niederschrift zur Vernehmung von Arthur F. am 31.7.1968 ( BArch, B 162/7047, Bl. 118–124). Ebd. Ebd. Protokoll zur Vernehmung von Arthur F. durch den Untersuchungsrichter beim LG Nürnberg Fürth am 25.11.1958 ( StAN, StA bei dem LG Nürnberg - Fürth, Nr. 528, Bl. 225). Ebd., Bl. 226. Ebd. Niederschrift zur Vernehmung von Arthur F. am 31.7.1968 ( BArch, B 162/7047, Bl. 118–124). Soweit nicht anders gekennzeichnet sind die Angaben und Zitate zum Fall Robert Obst in diesem Abschnitt dem Urteil des LG Halle vom 23.12.1949 entnommen ( BStU, MfS BV Halle, ASt 7493/48, Band 1, Bl. 1–5).
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als Unteroffizier entlassen worden. 1940 zur Wehrmacht einberufen, fand er noch im gleichen Jahr Verwendung beim Wehrmachtgefängnis Torgau. Von dort rückte er im August 1942 mit dem Feldstraflager III nach Finnland ab. Im Lager war Obst zuständig für die Beaufsichtigung der Außenkommandos, später für den allgemeinen Dienstbetrieb seiner Kompanie : die Kontrolle des Lagers, der Wachen und der Mannschaftszelte. Nach Ende des Krieges kehrte er nach Dresden zurück. 1947 ging eine Anzeige bei der Staatsanwaltschaft Halle ein, in der ein ehemaliger Verwahrter Obst der Tötung eines Häftlings bezichtigte.52 Die Polizei leitete daraufhin Ermittlungen ein und ließ durch einen Presseaufruf nach Zeugen suchen. Tatsächlich gelang es, verschiedene Personen festzustellen, die sich an den Angeschuldigten erinnerten und ebenfalls Vorwürfe erhoben. Der Anzeigensteller selbst sagte noch Folgendes aus : »Von unseren Leuten waren viele krank und es kam oft vor, dass einer vor Schwäche umfiel. Der Feldwebel Obst gab dann den Befehl, diesen Kameraden nackend auszuziehen, ihn mit kaltem Wasser zu begießen und abzuschrubben. In fast allen Fällen trat auf diese Sache hin Lungenentzündung ein und der Tod erfolgte alsbald. [...] Gelegentlich wurde ein Kamerad von einem Kapo, dessen Name mir nicht mehr erinnerlich ist, erschossen. Ich ging hinzu und wollte dem Kameraden als Sanitäter helfen. Feldwebel Obst verbot mir dieses [...]. Obst sagte dabei, dass, wer tot ist, nichts mehr sagen könne.«53 Wohl auch deshalb betitelte ein anderer Zeuge Obst als »Bestie in Menschengestalt«. Dieser leugnete in der Vernehmung nach seiner Verhaftung am 17. September 1948 alle Anschuldigungen und gab an, »dass ich mich streng an meine Vorschriften gehalten habe. Dabei wäre zu bemerken, dass ich auch gegen mich selbst in dienstlichen Angelegenheiten streng war, was ich dann auch von den anderen verlangte. Aber wie schon erwähnt, habe ich mich nie zu Misshandlungen an Wehrmachtsstrafgefangenen hinreißen lassen.«54 Obst gestand lediglich, bereits während des Transportes einen Häftling auf Befehl erschossen zu haben. Allerdings blieb ihm in diesem Fall keine Wahl, da die Polizei bei einer Haussuchung einen Feldpostbrief an seine damals 14 - jährige Tochter fand, in dem er 1942 davon berichtet hatte : »Mit den Gefangenen gibt es viel Ärger. Es sind alles Soldaten ohne Hoheitszeichen u. es sind schlimme Gesellen darunter. Einen habe ich unterwegs erschossen. Er war gleich tot. Ich glaube, es wird nicht der letzte gewesen sein.«55
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Schreiben Erwin K. an die Oberstaatsanwaltschaft Halle vom 19. 4. 1947 ( BStU, MfS BV Halle, ASt 7493/48, Band 3, Bl. 17). Protokoll zur Aussage von Erich K. vor dem Amtsgericht Burgsteinfurt am 25. 10. 1949 ( BStU, MfS BV Halle, ASt 7493/48, Band 1, Bl. 125 f.). Protokoll zur Vernehmung von Robert Obst durch die Kriminaldienststelle Weißenfels am 6.10.1948 ( BStU, MfS BV Halle, ASt 7493/48, Band 3, Bl. 105). Feldpostbrief Obst vom 6.9.1942 ( BStU, MfS BV Halle, ASt 7493/48, Band 1, Bl. 27).
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Im Dezember 1948 fand die Hauptverhandlung gegen Obst und zwei weitere Angeklagte vor der II. Großen Strafkammer 201 des Landgerichts Halle statt, die aber vertagt werden musste, da der Hauptbelastungszeuge fehlte. Noch ein Jahr sollte vergehen, bis das Gericht am 23. Dezember 1949 sein Urteil fällte. Es befand den Angeklagten der Verbrechen gegen die Menschlichkeit für schuldig und verhängte eine lebenslange Zuchthausstrafe. Interessant erscheint, wie das Gericht die vermeintlichen Taten Obsts sowie die Glaubwürdigkeit der Zeugen bewertete : »Der Angeklagte gibt zu, den Häftling B. auf dem Transport erschossen zu haben. Er sei auch in seiner Dienstausübung nicht gnädig, sondern hart und laut gewesen. Er bestreitet, die Häftlinge zur Arbeit angetrieben oder sonst Drohungen oder Zwangsmaßnahmen gegen sie ausgeübt zu haben. Er will immer nur belehrend auf die Häftlinge eingewirkt haben, damit sie über die schwere Zeit hinwegkommen sollten. Er habe ihnen stets erklärt, sie sollen ihre Arbeit machen und sich an die Vorschriften halten, dann würde ihnen auch nichts geschehen. Im Widerspruch hierzu stehen die eidlichen Zeugenaussagen [...], an deren Glaubwürdigkeit zu zweifeln das Gericht keine Veranlassung hat.« Und weiter : »Das Gericht konnte sich bei der Urteilsfindung bedenkenlos auf die eidlichen Aussagen der obengenannten Zeugen stützen, die nach der Auffassung des Gerichtes das gesamte Verhalten des Angeklagten richtig erkennen ließen.« In seinen Feststellungen ergriff das Gericht damit Partei für die Zeugen und wertete deren Glaubwürdigkeit – entgegen dem Grundsatz in dubio pro reo – höher als die des Angeklagten. Bis auf die zugegebene Erschießung war Obst keine Tat eindeutig und zweifelsfrei nachzuweisen. Das wird deutlich, wenn man die Zeugenaussagen analysiert und dabei feststellt wie zwangsläufig allgemein, vage und zum Teil sogar widersprüchlich diese in der Mehrheit sind. Obst selbst fand hingegen sowohl im gesamten Verlauf des Verfahrens als auch danach mit seinen Eingaben und Anträgen kein Gehör. Schon 1948 erkrankt, verschlechterte sich sein Gesundheitszustand in den folgenden Jahren zunehmend. Im März 1953 verstarb er in der Strafvollzugsanstalt Waldheim.56 Dass sich die bundesdeutsche Justiz zwar mit ähnlichen Problemen bei der Beweisführung konfrontiert sah, damit aber anders umging, verdeutlicht das zweite Fallbeispiel. Im Zuge seiner Nachforschungen führte das Bayerische LKA seit 1955 den ehemaligen Oberleutnant Gustav Helmholz als Beschuldigten. Helmholz,57 1894 in Hannover geboren, meldete sich zu Beginn des Ersten Weltkrieges als Kriegsfreiwilliger und schied an dessen Ende als Leutnant aus. Zum
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Anzeige eines Sterbefalles durch die Strafvollzugsanstalt Waldheim an das Standesamt Dresden vom 24.3.1953 ( BStU, MfS G SKS, Nr. 16238, Bl. 2 f.). Die biografischen Angaben sind dem Protokoll zur Vernehmung von Helmholz durch den Untersuchungsrichter beim LG Nürnberg - Fürth am 20.8.1958 entnommen ( StAN, StA bei dem LG Nürnberg - Fürth, Nr. 528, Bl. 133 f.).
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Wehrmachtstrafvollzug in Torgau stieß Helmholz im April 1942. Er übernahm dort wenig später eine Kompanie des Feldstraflagers II. Im Rahmen der Ermittlungen zu den Vorgängen während des Marsches auf der Eismeerstraße kristallisierte sich durch Zeugenaussagen heraus, dass mutmaßlich bis zu 40 Verwahrte in Helmholz’ Kompanie getötet worden waren und dass der Offizier daran in unterschiedlichem Maß beteiligt war.58 Die Häftlinge sollten entweder durch Helmholz selbst oder – weil sie marschunfähig waren – auf dessen Befehl von Angehörigen des Wachpersonals erschossen worden sein. Diesen Verdacht rechtlich würdigend stellte die Staatsanwaltschaft Nürnberg - Fürth 1958 fest : »Der Angeschuldigte handelte im bewussten und gewollten Zusammenwirken mit seinem Wachpersonal. Er wollte sich allen Verpflichtungen, die bei der Weiterbeförderung und der Bewachung der Kranken entstanden wären, auf eine für ihn möglichst bequeme Weise entziehen. Diese Handlungen erfüllen den Tatbestand von 40 sachlich zusammentreffenden, gemeinschaftlich begangenen Verbrechen des Mordes«.59 Die Vorwürfe wogen so schwer, dass das Landgericht Nürnberg - Fürth im Sommer desselben Jahres Haftbefehl erließ und die Voruntersuchung eröffnete. Im Zuge der richterlichen Befragung der Zeugen schwächten diese ihre Einlassungen allerdings ab oder widerriefen sie komplett. Ehemalige Verwahrte, die Helmholz zunächst mehrere Erschießungen zugeordnet hatten, gaben nun an, von den Tötungen lediglich gehört zu haben oder nicht zu wissen, wer der Schütze gewesen sei.60 Da der Angeschuldigte selbst alle Vorwürfe bestritt und lediglich eine Erschießung zugab, bei der er sich auf geltende Befehle und Notwehr berief, geriet die Staatsanwaltschaft mit ihrer Beweisführung in die Defensive. Die Konsequenz daraus war zwangsläufig. Das Landgericht Nürnberg - Fürth hob zunächst den Haftbefehl auf und setzte Helmholz schließlich am 6. Oktober 1959 mangels Beweisen außer Verfolgung.61 Hinsichtlich der Qualität und Verwertbarkeit der Zeugenaussagen bewahrheitete sich damit jener Vorbehalt, den das Bayerische LKA vier Jahre zuvor wie folgt formuliert hatte : »Die Angaben der Zeugen T. und D. dürften mit Vorsicht zu verwerten sein. T. wurde von anderen Verwahrten als zweifelhafter Kamerad geschildert. Der Zeuge D. ist erheblich vorbestraft und befindet sich z. Zt. in Sicherungsverwahrung.«62 Mit seiner Entscheidung handelte das Gericht im Einklang mit dem rechtsstaatlichen Grundsatz der Unschuldsvermutung, doch 58
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Antrag auf Eröffnung der Voruntersuchung durch die Staatsanwaltschaft Nürnberg - Fürth beim LG Nürnberg - Fürth vom 5. 8. 1958 ( StAN, StA bei dem LG Nürnberg - Fürth, Nr. 528, Bl. 98– 100). Ebd., Bl. 100. Beschluss des LG Nürnberg - Fürth vom 6. 10. 1959 ( StAN, StA bei dem LG Nürnberg - Fürth, Nr. 529, Bl. 304–308). Ebd., Bl. 302–310. Bayerisches LKA an den Oberstaatsanwalt Nürnberg vom 9. 11. 1955 ( StAN, StA bei dem LG Nürnberg - Fürth, Nr. 528, Bl. 1a RS ).
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zumindest verbalisierte es seine bestehenden Restzweifel : »Zu einer Überbürdung der notwendigen Auslagen des Angeschuldigten auf die Staatskasse bestand kein Anlass, weil die Voruntersuchung weder die Unschuld des Angeklagten erwiesen noch den gegen ihn bestehenden begründeten Tatverdacht beseitigt hat«.63
5. Gemeinsamkeiten und Unterschiede : Die Verfahren in der SBZ / DDR und in der Bundesrepublik im Vergleich Ein komparativer Blick auf die Bemühungen der Justizbehörden, die Verbrechen in den Feldstraflagern der Wehrmacht während des Zweiten Weltkrieges zu ahnden, führt zu weiteren Erkenntnissen. Nur bei oberflächlicher Betrachtung ist der Verweis darauf banal, dass die Ermittlungen in der SBZ / DDR und in der Bundesrepublik asynchron verliefen. Dieser Umstand zeitigte gravierende Auswirkungen auf die politische Großwetterlage in Deutschland und die damit in Zusammenhang stehende Ausformung der politischen wie der Justizsysteme bis hin zur Ausgestaltung einzelner Strafverfahren. Das Feldstraflager - Verfahren in der SBZ wurde 1947 eingeleitet. Es stand unter dem Vorbehalt der Besatzungsmacht, war nach Besatzungsrecht und unter den Vorzeichen des Befehls Nr. 201 der Sowjetischen Militäradministration unter Rückgriff auf die KD Nr. 38 sowie das KRG 10 zu führen. Der Befehl Nr. 201 übertrug deutschen Gerichten die Entnazifizierung mit Mitteln der Justiz. Er hatte die Beschleunigung der Verfahren zum Ziel und rückte zumindest teilweise die Prüfung der individuellen Schuld des Angeklagten in den Hintergrund. Hierzu führte Ernst Melsheimer, später erster Generalstaatsanwalt der DDR, 1948 aus : »Der Mangel des Nachweises, dass der Angeklagte ein konkretes Einzelverbrechen begangen hat, ist kein Hindernis, ihn mit voller Schwere des Gesetzes, ja noch schwerer zu treffen, als den einen oder anderen Einzeltäter, wenn der Angeklagte an der Organisierung und Planung beteiligt war, aus der die zahlreichen Einzelverbrechen erwuchsen. [...] Wer sich an einem nazistischen Kollektivverbrechen beteiligte, kann sich nicht darauf berufen, dass nicht er, sondern ein anderer unmittelbar gegen das Opfer tätig war, während er selbst ›nur‹ durch ›Postenstehen‹, ›Absperrmaßnahmen‹ und dergleichen, also scheinbar mehr passiv beteiligt gewesen sei«.64 An diese Diktion lehnte sich auch das Land63 64
Beschluss des LG Nürnberg - Fürth vom 6. 10. 1959 ( StAN, StA bei dem LG Nürnberg - Fürth, Nr. 529, Bl. 309 f.). Zit. nach Günther Wieland, Die Ahndung von NS - Verbrechen in Ostdeutschland 1945–1990. In : DDR - Justiz und NS - Verbrechen. Sammlung ostdeutscher Strafurteile wegen nationalsozialistischer Tötungsverbrechen. Verfahrensregister und Dokumentenband, Amsterdam 2002, S. 13–94, hier 42.
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gericht Halle in seiner Urteilsbegründung an. Es kriminalisierte die bloße Existenz der Feldstraflager und nahm alle dort tätigen Angehörigen des Wachpersonals in Kollektivhaftung, sodass die Notwendigkeit der Prüfung individuellen Fehlverhaltens zurücktrat : »Schon das Festhalten von Menschen in Strafgefangenenlagern hinter Stacheldraht in der Einöde Finnlands [...] ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Verbrecherisch waren ebenso die von den Wachmannschaften auszuführenden Anordnungen des Naziregimes in Bezug auf die Lebensweise der Häftlinge.«65 Demgegenüber agierte die Justiz der Bundesrepublik im fraglichen Zeitraum ab Mitte der 1950er Jahre bereits souverän,66 zudem allein nach deutschem Recht, da – wie erwähnt – das KRG 10 zu diesem Zeitpunkt keine Anwendung mehr fand. Sie hatte allerdings mit einem gänzlich anderen Problem zu kämpfen: der Verjährungsproblematik. Diese besaß Relevanz für alle der im Rahmen der Untersuchungen zu den Vorgängen in den Feldstraflagern in Rede stehenden Tatbestände. Die Misshandlung von Häftlingen, die als Körperverletzung hätte sanktioniert werden können, verjährte bereits 1955,67 also zu einem Zeitpunkt, zu dem die Ermittlungen noch am Anfang standen. Fünf Jahre später lief auch die Frist für die Tatbestände des Totschlags sowie der Körperverletzung mit Todesfolge ab.68 Danach wäre folglich nur noch die Ahndung von Mord möglich gewesen, was aber aufgrund der durch die Tatbestandsmerkmale69 errichteten Hürden offenbar unter den gegebenen Umständen der Beweislage nicht möglich schien. In unterschiedlichem Ausmaß hatten Polizei und Justiz in beiden Teilen Deutschlands sicher auch organisatorische und strukturelle Defizite als Kriegsfolgen zu bewältigen. Insbesondere in der SBZ / DDR befand sich Ende der 1940er Jahre vieles im ( politischen ) Auf - und Umbau. Qualifiziertes Personal bei Polizei, Staatsanwaltschaften und Gerichten war knapp; Ankläger und sogenannte Volksrichter wurden in Schnellkursen ausgebildet. Folglich litt darunter die Rechtspraxis, gerade bei Anwendung des Besatzungsrechts und der Beurteilung komplexer Sachverhalte.70 Jedoch mangelte es auch den Ermittlungsbehör65 66
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Urteil des LG Halle gegen Fritz B. und Erich L. vom 30. 11. 1949 ( BStU, MfS BV Halle, ASt 7493/48, Band 1, Bl. 11). Volle Souveränität im Bereich der Rechtspflege erlangte die Bundesrepublik durch den im Mai 1955 mit den USA, Frankreich und Großbritannien geschlossenen sog. Überleitungsvertrag. Vgl. Andreas Kunz, Justizakten aus NSG - Verfahren : Eine quellenkundliche Handreichung für Archivbenutzer. In : Mitteilungen aus dem Bundesarchiv, 16 (2008) 3, S. 37–58. Ebd. Ebd. Vgl. zu den Tatbestandsmerkmalen die Bestimmungen des § 211 StGB. Voraussetzung für eine Verurteilung wegen Mordes ist beispielsweise der Nachweis, dass die Tat aus niederen Beweggründen, heimtückisch, grausam oder mit gemeingefährlichen Mitteln begangen worden ist. Vgl. Wieland, Ahndung, S. 30.
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den in der Bundesrepublik an Sachkenntnissen und der erforderlichen Spezialisierung. Den Beamten des Bayerischen LKA und den befassten Staatsanwälten waren die Institution der Feldstraflager, ihre Stellung im System der NS - Militärjustiz sowie ihr Zweck und die Vorgänge in diesen Einrichtungen anfänglich gänzlich unbekannt. Allerdings unternahmen die bundesdeutschen Behörden Versuche, diese Defizite zu kompensieren,71 während derartige Anstrengungen im Osten infolge der niedrigeren Beweisnotwendigkeit aber auch mangels Möglichkeiten nahezu vollständig unterblieben. Trotz beachtenswerter Einzelerfolge – verwiesen sei hier auf das erwähnte »Transporttagebuch« – waren die westdeutschen Bemühungen zum Auffinden von Dokumentenbeweisen aber selten von Erfolg gekrönt. Letztlich basierte das Verfahren in der SBZ / DDR komplett und diejenigen in der Bundesrepublik zu überwiegenden Teilen auf Zeugenaussagen. Die Konsequenzen, die beide Seiten daraus zogen, waren jedoch unterschiedlich. Während Staatsanwaltschaften und Gerichte in der Bundesrepublik die Ermittlungen bei lückenhafter Beweiskette einstellten, wählte das Landgericht Halle im dort anhängigen Verfahren einen anderen Weg. Es behauptete, dass die Insassen der Feldstraflager »zum größten Teil [...] Gegner des Nationalsozialismus«72 gewesen seien. Dementsprechend wurden die Bekenntnisse der Zeugen, meist ehemalige Verwahrte, in den Stand absoluter Wahrheiten gehoben, denen grundsätzlich höhere Glaubwürdigkeit zukam als Äußerungen der Angeklagten. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang eine Passage im Urteil des Landgerichts Halle gegen Robert Obst : »Zum anderen dienten die Feldstraflager auch dazu, soviel wie möglich von den Häftlingen auf eine, für die Nazis legale Weise, zu vernichten.«73 Das Gericht kam hier zu einer Bewertung des Charakters der Feldstraflager, die aus heutiger, quellenorientierter Sicht nicht abwegig erscheint, für die 1949 jedoch keine Faktenbasis vorlag und die daher wohl nur von einem politischen Standpunkt aus getroffen wurde. In beiden Teilen Deutschlands versäumten es Polizei und Justiz gleichermaßen, alle Ermittlungsansätze weiterzuverfolgen. So besaß die Staatsanwaltschaft Halle Kenntnis vom Namen eines angeblich in die Tötung von Häftlingen verwickelten Arztes,74 unterließ aber weitere Recherchen. Ein ähnliches Beispiel findet
71
72 73 74
Von den Versuchen, tiefer in die Thematik einzudringen und verschiedenen Hinweisen von Zeugen nachzugehen, zeugt in den Akten niedergelegter Schriftwechsel mit der Deutschen Dienststelle ( WASt ) in Berlin sowie mit dem Bundesarchiv, Abteilung Zentralnachweisstelle in Aachen - Kornelimünster. Urteil des LG Halle gegen Fritz B. und Erich L. vom 30. 11. 1949 ( BStU, MfS BV Halle, ASt 7493/48, Band 1, Bl. 12). Urteil des LG Halle vom 23.12.1949 ( ebd., Bl. 5). Protokoll zur Vernehmung des Beschuldigten Fritz B. bei der Kriminalpolizei Weißenfels am 13.9.1948 ( BStU, MfS BV Halle, ASt 7493/48, Band 3, Bl. 94 f.).
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sich in den Akten der Staatsanwaltschaft Nürnberg - Fürth. Der erwähnte Zeuge Arthur F. übergab ein Foto an die Behörden, das die Gräber von getöteten Feldstraflager - Insassen zeigen soll.75 Allerdings schien sein Hinweis, dass die Betreffenden alle wegen angeblicher »Widersetzlichkeit« erschossen worden seien, keinen Anlass für weitere Nachforschungen geboten zu haben, obwohl Namen und persönliche Daten der Toten zumindest teilweise vorlagen.
6. Schluss Die vorstehenden Ausführungen haben einen begrenzten Einblick in die Ermittlungstätigkeit von Polizei und Staatsanwaltschaften in der SBZ / DDR und in der Bundesrepublik gegen Angehörige des Wachpersonals in Feldstraflagern der Wehrmacht gegeben. Zwar ermittelten die Behörden in beiden Teilen Deutschlands solcherart, jedoch überwiegen hier die Unterschiede die Gemeinsamkeiten. Die Anzahl der Personen, gegen die Untersuchungen geführt wurden, die Menge der Verfahren, ihr Verlauf, ihr Ausgang, und vor allem auch die Zeit, in der sie stattfanden, weichen signifikant voneinander ab. Die Ergebnisse der Bemühungen zur Ahndung von Verbrechen gegen die körperliche Unversehrtheit und das Leben der Häftlinge sind notwendigerweise vor dem Hintergrund der jeweiligen ( rechts )politischen Rahmenbedingungen zu bewerten. Die Verurteilungen in der SBZ / DDR erfolgten, weil sie der systemimmanenten Logik der Verfolgung von vermeintlichen oder tatsächlichen NS - Tätern zu dieser Zeit entsprachen und weil das Rechtssystem in seiner geltenden Ausformung sie zuließ. Eben jener Rahmen bot sich unter den rechtsstaatlichen Bedingungen in der Bundesrepublik nicht. Konsequenz eines Justizsystems ohne politisches Primat und mit der Notwendigkeit des individuellen Schuldnachweises war aber, dass keiner der Beschuldigten bestraft wurde. Die geringe Aufmerksamkeit, welche die historische Forschung bislang gegenüber den Ermittlungsakten der Nachkriegsjustiz zu den Vorgängen in Feldstraflagern der Wehrmacht gezeigt hat, wird dem Wert dieser Unterlagen nicht gerecht. Die Ausführungen konnten hoffentlich andeuten, welches Potential diese Quellen besitzen. Sie bieten neben den Möglichkeiten zur Rekonstruktion der Organisations - und Einsatzgeschichte der Lager auch vielfache Anknüpfungspunkte, um den Alltag dort zu rekonstruieren. In ihnen lassen sich Ansätze zur Klärung von Einzelschicksalen von Häftlingen ebenso finden wie Angaben zu jenen Personen, die den Verurteilten als Angehörige des Wachpersonals gegenüberstanden. Ganz generell liegt der Wert der Ermittlungsakten darin, dass Polizei und Staatsanwaltschaften mit relativ geringem zeitlichen Abstand zum 75
Das Foto befindet sich in der Akte : StAN, StA bei dem LG Nürnberg - Fürth, Nr. 529, Bl. 285.
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Geschehen Zeitzeugenbefragungen durchführten und somit Wissen Betroffener konservierten, das der historischen Forschung heute sonst nicht zur Verfügung stünde. Selbstredend darf dabei Quellenkritik, die den Kontext der Entstehung der Akten und den Zweck, wofür sie angelegt wurden, berücksichtigt, nicht außen vor bleiben. Es sollte nicht verkannt werden, dass es sich bei den zahlreichen Protokollen, die Zeugenaussagen ehemaliger Verwahrter wiedergeben, aber auch bei den Aussagen der Beschuldigten, um Dokumente mit hohem subjektiven Gehalt handelt. Trotz allem sind die Unterlagen der Nachkriegsjustiz – in Zusammenschau mit den erhaltenen zeitgenössischen Primärquellen – geeignet, das noch unvollständige Bild vom Strafvollzug der Wehrmacht weiter zu verdichten.
IV. Anhang
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280
Anhang
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Anhang
Abkürzungsverzeichnis a. D. AHA / Ag H A. K. AN AOK APKat
außer Dienst Allgemeines Heeresamt / Amtsgruppe Heerwesen Armeekorps Archives Nationales Armee-Oberkommando Archiwum Państwowe w Katowicach ( Staatsarchiv Kattowitz )
BArch BAVCC
Bundesarchiv Bureau des archives des victimes des conflits contemporains ( Archiv der Opfer zeitgenössischer Konflikte ) Berlin Document Center Befehlshaber des Ersatzheeres Befehlshaber der Sicherheitspolizei Bundesrepublik Deutschland Der Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR
BDC BdE BdS BRD BStU CEGES / SOMA
CDU ČSSR DBP DDR DGTO
Centre d’études et de documentation guerre et société contemporaine / Studie- en Documentatiecentrum Oorlog en Hedendaagse Maatschappij (Studien- und Dokumentationszentrum für Krieg und zeitgenössische Gesellschaft ) Christlich Demokratische Union Tschechoslowakische Sozialistische Republik
DIZ Div. Arzt DJ d. R. Dv DVL DVO
Deutsche Botschaft Paris Deutsche Demokratische Republik Délégation générale du gouvernement français dans les territoires occupés ( Generaldelegation der Vichy-Regierung in den besetzten Gebieten ) Dokumentations- und Informationszentrum Torgau Divisionsarzt Deutsche Justiz der Reserve Dienstvorschrift Deutsche Volksliste Durchführungsverordnung
Feld-Strafgef. Abt. FK
Feldstrafgefangenenabteilung Feldkommandantur
Ger. d. Div. GFP GG H. Dv. HHStAM HHStAW
Gericht der Division Geheime Feldpolizei Generalgouvernement Heeres-Dienstverordnung Hessisches Hauptstaatsarchiv Marburg Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden
283
Abkürzungsverzeichnis
HLKO HRüst HSanIn HSSPF HStA H. V. Pl.
Haager Landkriegsordnung Heeresrüstung Heeressanitätsinspekteur Höherer SS- und Polizeiführer Hauptstaatsarchiv Hauptverbandplatz
ID IfZ IHTP IMI IMT
Infanteriedivision Institut für Zeitgeschichte München und Berlin Institut d’histoire du temps présent ( Institut für Zeitgeschichte, Paris ) Italienische Militärinternierte Internationales Militärtribunal ( Nürnberg )
KD KDV KGR KHSF KPD KRG 10 KSSVO KStVO KTB k. v. KZ
Kontrollratsdirektive Kriegsdienstverweigerung Kriegsgerichtsrat Kommandant des Heeresgebietes Südfrankreich Kommunistische Partei Deutschlands Kontrollratsgesetz Nr. 10 Kriegssonderstrafrechtsverordnung Kriegsstrafverfahrensordnung Kriegstagebuch kriegsverwendungsfähig Konzentrationslager
LG LGDir LGPräs LHASA LKA LMU
Landgericht Landgerichtsdirektor Landgerichtspräsident Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt Landeskriminalamt Ludwig-Maximilians-Universität München
MB MBB MBF MfS MGFA MHA Prag MStGB MStGO
Militärbefehlshaber Militärbefehlshaber für Belgien und Nordfrankreich Militärbefehlshaber in Frankreich Ministerium für Staatssicherheit Militärgeschichtliches Forschungsamt der Bundeswehr Militärhistorisches Archiv der Tschechischen Republik, Prag Militärstrafgesetzbuch Militärstrafgerichtsordnung
NKVD / NKWD NN NSDAP NSG
Narodnyj kommissariat vnutrennich del ( Volkskommissariat für innere Angelegenheiten der UdSSR ) Nacht- und Nebel(-Erlass ) Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei Nationalsozialistische Gewaltverbrechen
O. Arzt o. B.
Oberarzt Ohne Befund
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Anhang
OB OBdH OBdM OBdW OFK OKGR OKH OKW OKW WR OLG OLGR ORKA OT öStG
Oberbefehlshaber Oberbefehlshaber des Heeres Oberbefehlshaber der Kriegsmarine Oberbefehlshaber der Wehrmacht Oberfeldkommandantur Oberkriegsgerichtsrat Oberkommando des Heeres Oberkommando der Wehrmacht Wehrmachtrechtsstelle des OKW Oberlandesgericht Oberlandesgerichtsrat Oberreichskriegsanwalt Organisation Todt österreichisches Strafgesetz
PA-AA Pg.
Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes Parteigenosse
RGBl. RJGG RKA RKG RM RM. d. L. u. ObdLw. RMJ RSI RStGB
Reichsgesetzblatt Reichsjugendgerichtsgesetz Reichskriegsanwaltschaft Reichskriegsgericht Reichsmark Reichsminister der Luftfahrt und Oberbefehlshaber der Luftwaffe Reichsministerium der Justiz Repubblica Sociale Italiana ( Italienische Sozialrepublik, Mussolinis Republik von Saló, 1943–1945) Reichsstrafgesetzbuch
SA SächsStA SBZ SD SG SHD Sipo SKL SMWK SPD SS StA Stalag StAN StGB StL StPL Strafgef.
Sturmabteilung Sächsisches Staatsarchiv Sowjetische Besatzungszone Sicherheitsdienst der SS Sondergericht Service historique de la défense Sicherheitspolizei Seekriegsleitung Sächsisches Staatsministerium für Wissenschaft und Kunst Sozialdemokratische Partei Deutschlands Schutzstaffel Staatsanwaltschaft Kriegsgefangenenstammlager Staatsarchiv Nürnberg Strafgesetzbuch Strafsachenliste Strafprozessliste Strafgefangener
285
Abkürzungsverzeichnis
TNA Tr. Arzt
The National Archive Truppenarzt
VfZ VGH VgM VL VO Vobif VUA VVO
Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte Volksgerichtshof Verbrechen gegen die Menschlichkeit Vollstreckungsliste Verordnung Verordnungsblatt des Militärbefehlshaber in Frankreich Vojenský Ústředny Archiv ( Militärhistorisches Archiv ) Volksschädlingsverordnung
WASt WDB WR W. T.
Deutsche Dienststelle ( WASt ) für die Benachrichtigung der nächsten Angehörigen von Gefallenen der ehemaligen deutschen Wehrmacht Wehrdienstbeschädigung Wehrmachtrechtsabteilung Wachtturm ( Presseorgan der Zeugen Jehovas )
ZADR z. B. V. ZNS ZWR
Zeitschrift der Akademie für Deutsches Recht Zur besonderen Verwendung Zentralnachweisstelle des Bundesarchivs Zeitschrift für Wehrrecht
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Anhang
Autorinnen und Autoren Claudia Bade, geb. 1968, Dr. phil., Historikerin und Wissenschaftliche Dokumentarin, bis 2012 Wissenschaftliche Mitarbeiterin des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung an der TU Dresden mit einem Forschungsprojekt zu Biografien und zur Spruchpraxis von Wehrmachtrichtern. Derzeit freie Mitarbeiterin der KZ-Gedenkstätte Neuengamme mit einem Forschungsprojekt zum Umgang der Hamburger Nachkriegsjustiz mit den ehemaligen Wehrmachtjuristen. Forschungsschwerpunkte : Polizeigeschichte, Justizgeschichte, Geschichte der Wehrmacht. Christoph Brüll, geb. 1979, Dr. phil., »Chercheur qualifié« des Fonds für Wissenschaftliche Forschung ( FNRS ) und Dozent für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Lüttich. Studium der Geschichte, der internationalen Beziehungen und der europäischen Integration an der Universität Lüttich. Promotion an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Gaël Eismann, geb. 1971, Agrégée und Docteur en histoire. Maître de conférences für Zeitgeschichte an der Universität Caen basse-Normandie, Chercheuse im Centre de Recherche d’Histoire Quantitative ( CRHQ – CNRS ). Forschungsschwerpunkte : Die deutsche Besatzung in Frankreich während des Zweiten Weltkrieges und insbesondere die deutsche gerichtliche Repression gegen die Bevölkerung in Frankreich 1940 bis 1944. Maria Fritsche, geb. 1969, Dr. phil., Associate Professor für Moderne internationale Geschichte am Institut für Historische Studien, Norwegian University of Science and Technology, Trondheim. Zahlreiche Veröffentlichungen zur NSMilitärjustiz und Opfern nationalsozialistischer Verfolgung. Weitere Forschungsschwerpunkte im Bereich kritische Militärgeschichte, Männlichkeit und Gender sowie Film- und Kulturgeschichte. Detlef Garbe, geb. 1956, Dr. phil., Studium der Geschichtswissenschaften, evangelischen Theologie und Pädagogik, Direktor der KZ-Gedenkstätte Neuengamme, zahlreiche Veröffentlichungen zur Geschichte der Konzentrationslager, zu den Zeugen Jehovas und anderen marginalisierten Opfergruppen, zur Wehrmachtjustiz und zur »Vergangenheitsbewältigung«; Redakteur der »Beiträge zur Geschichte der nationalsozialistischen Verfolgung in Norddeutschland«. Ryszard Kaczmarek, geb. 1959, Historiker, Professor für Archivwesen und die Geschichte Schlesiens am Historischen Institut der Schlesischen Universität
Autorinnen und Autoren
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Katowice, Forschungsschwerpunkt u. a. Geschichte Oberschlesiens im 19. und 20. Jahrhundert, hierzu zahlreiche Veröffentlichungen. Peter Lutz Kalmbach, geb. 1976, Dr. iur., Rechtsanwalt und Lehrbeauftragter für Rechtsgeschichte an der Universität Bremen. Zahlreiche Veröffentlichungen zur Rechtsgeschichte, speziell zur NS-Militärjustiz. Albrecht Kirschner, geb. 1965, Dr. phil., Historiker und Politologe. Selbständig im Bereich »Wissenschaftsmanagement und Projektorganisation« tätig, momentan Leiter der Geschäftsstelle der Unabhängigen Wissenschaftlichen Kommission beim Bundesministerium der Justiz zur Aufarbeitung der NS-Vergangenheit. Mitglied der Geschichtswerkstatt Marburg e. V. sowie der Historischen Kommission für Hessen. Derzeitige Arbeitsschwerpunkte : NS-Militärjustiz, Wehrstrafgerichtsbarkeit der Bundesrepublik Deutschland. Magnus Koch, geb. 1967, Dr. phil., lebt als freier Historiker und Ausstellungsmacher in Hamburg, Co-Kurator der Wanderausstellung »›Was damals Recht war‹ – Soldaten und Zivilisten vor Gerichten der Wehrmacht«. Arbeitet derzeit u. a. als wissenschaftlicher Berater für die Städte Hamburg und Wien bei der Errichtung von Deserteursdenkmalen. Kerstin von Lingen, geb. 1971, Dr. phil., Nachwuchsgruppenleiterin am Exzellenzcluster »Asia and Europe in a Global Context« der Universität Heidelberg der Forschungsgruppe »Transcultural Justice : Legal Flows and the Emergence of International Justice within the East Asian War Crimes Trials, 1946–1954«. Forschungsschwerpunkte : Deutsch-Italienische Beziehungen, Kriegsverbrecherprozesse, vergleichende Rechtsgeschichte sowie Erinnerungskultur und Zwangsarbeiterforschung im globalen Kontext. Lars Skowronski, geb. 1977, freiberuflicher Historiker und Politikwissenschaftler, Mitarbeit bei verschiedenen Ausstellungen zur NS-Justiz und Wehrmachtjustiz. Derzeitige Tätigkeitsschwerpunkte : NS-Justiz, Widerstandsgeschichte und Erinnerungskultur. Peter Steinkamp, geb. 1968, Dr. phil., Studium der Neueren / Neuesten Geschichte, Politischen Wissenschaften und Volkskunde an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Wissenschaftlicher Angestellter am Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin, Universität Ulm; zahlreiche Veröffentlichungen zur Militär- und Medizingeschichte.
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Anhang
Kerstin Theis, geb. 1978, Dr. phil., Forschungsreferentin der Universität Passau. Bis 2012 wissenschaftliche Mitarbeiterin im interdisziplinären Forschungsverbund »NS-Justiz im Krieg. Der Oberlandesgerichtsbezirk Köln 1939–1945« an der LMU München / Universität zu Köln. Forschungsschwerpunkte : Militär- und Kriegsgeschichte des 20. Jahrhunderts, Kultur- und Sozialgeschichte der Weltkriege, Wissenschaftsgeschichte. Michael Viebig, geb. 1960, Studium der Geschichtswissenschaft an der MartinLuther-Universität Halle-Wittenberg, seit 1995 stellvertretender Leiter der Gedenkstätte ROTER OCHSE Halle ( Saale ) und zuständig für den Bereich Nationalsozialismus. Wissenschaftliche Leitung bei verschiedenen Ausstellungen ( u. a. Dauerausstellung »Roter Ochse«, Wanderausstellung »Justiz im Nationalsozialismus«), Mitarbeit bei verschiedenen, thematisch ähnlich gelagerten deutschen und internationalen Ausstellungs- und Publikationsprojekten.