Normkultur versus Nutzenkultur: Über kulturelle Kontexte von Bioethik und Biorecht 9783110204704, 9783110189780

No matter how much the fundamental questions of human co-existence, and with them increasingly questions of bioethics, h

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German Pages 560 [564] Year 2006

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Table of contents :
Frontmatter
Inhalt
Normkultur versus Nutzenkultur: Worüber streitet die Bioethik?
Kultur - Ehtik - Recht. Eine Skizze im Blick auf den globalen Antagonismus von Norm- und Nutzenkultur
Die ungeteilte Menschenwürde. Christliche Bioethik im gesellschaftlichen Diskurs
Grenzen der Definitionsmacht. Zum Verhältnis von Normkultur und Nutzenkultur aus der Sicht evangelischer Theologie
Nutzen oder Würde - zwei ethische Paradigmen im Widerstreit. Ehtiktransfer in der Medizintechnik am Beispiel der Schweiz
Argumentationstypen in der bioethischen Diskussion
Normen und Nutzen bei der ethischen Beurteilung der Klonierung von menschlichen Embryonen
Bioethics and Society in America: the elite versus the people
Totipotenz - Omnipotenz - Pluripotenz. Ausblendungsphänomene in der Stammzelldebatte: Indikatoren für den Konflikt zwischen Norm- und Nutzenkultur?
Kultur des Nutzens und Nutzen der Kultur - wissenschaftstheoretischer Grundprobleme der Bioethik
Zum Konflikt zwischen Kindeswohl und elterlichem Wunschdenken: Gesundheitsrisiken bei assistierter Reproduktion
Der "Homo oeconomicus" im Krankenhaus
Bioethik im Kontext des Rechts. Zu den Aufgaben und Grenzen des Rechts in bioethischen Fragen
Zur Kritik an einer rechtsethischen Engführung der Bioethik als Paradigma einer Nutzenkultur
Kants Reflexion der Menschenwürde und die Bioethik. Ethische Aspekte des frühen menschlichen Lebens
Ist der Hirntod der Tod des Menschen? Zum Stand der Debatte
Die Natur des Menschen ändern? Die Biotechnologien und die anthropologische Frage
Der Menschenrechtsgedanke und die Herausforderung durch die moderne Biomedizin
Die drei Ebenen des medizinischen Urteils
Backmatter
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Normkultur versus Nutzenkultur: Über kulturelle Kontexte von Bioethik und Biorecht
 9783110204704, 9783110189780

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Normkultur versus Nutzenkultur

Normultur versus Nutzenkultur Über kulturelle Kontexte von Bioethik und Biorecht

Herausgegeben von Thomas S. Hoffmann und Walter Schweidler

Walter de Gruyter ´ Berlin ´ New York

? Gedruckt auf säurefreiem Papier, * das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt. ISBN-13: 978-3-11-018978-0 ISBN-10: 3-11-018978-X Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.  Copyright 2006 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschlieûlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung auûerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandgestaltung: Christopher Schneider, Berlin Datenkonvertierung/Satz: Fotosatz Voigt, Berlin Druck und buchbinderische Verarbeitung: Hubert & Co., Göttingen

Vorwort Der Aufschwung der jungen Disziplin ¹Bioethikª im letzten Viertel des vergangenen Jahrhunderts kann in erster Näherung als eine nicht unbedingt überraschende Reaktion auf Problemkonstellationen aufgefaût werden, wie sie sich in hochtechnisierten Gesellschaften angesichts stetig erweiteter Optionen von Handlungen auf das individuelle menschliche Leben, wenn nicht das ¹Gattungslebenª des Menschen, ja das Naturleben überhaupt, ergeben. Daû mit der Bioethik darum auch schon ein Arbeitsgebiet konstituiert worden wäre, das ohne Umstände auch nur eine unumstrittene Kartographie der neuen Problemlage zu liefern befähigt gewesen wäre, schloû dies freilich keineswegs ein. Sehr bald traten vielmehr unübersehbare Gegensätze hervor, die bis in die systematischen Grundkonzepte hinabreichten. Schon die Frage, ob das in einer ¹Bioethikª unweigerlich in den Blick tretende ¹überobjektive Objektª ± das Leben ± als solches Grenzen für menschliches Handeln setzen kann und soll (was die Position von bioethischen Gründervätern wie Van Rensselaer Potter oder Hans Jonas wäre), oder aber ob es hier wie auf anderen Gebieten alleine um eine möglichst rationale Qualifikation von konkreten Handlungsweisen in Anwendung allgemeiner Prinzipien der Ethik zu tun ist (was die Meinung des konkurrierenden, eher medizinethisch-kasuistisch gerichteten Bioethik-Konzepts wäre), reflektiert einen für die Bioethik als ganze elementaren Grunddissens. Ebenso aber zeigte sich bald, daû wir es in den Wertungsgegensätzen, die sich in bioethischen Fragen regelmäûig auch auf öffentlicher Bühne melden, zuletzt mit der Differenz zwischen grundsätzlich auseinander liegenden ¹Kulturenª als überindividuell verbindlichen Weisen, über den ¹Wertª des Lebens zu urteilen, zu tun haben. Auf dem Grunde der Bioethik zeigen sich damit ± unabhängig von den in jedem Fall zu beachtenden Differenzen zwischen den traditionell als solchen unterschiedenen Kulturkreisen, die inzwischen auch in der Bioethik zunehmend ernstgenommen werden ± durchaus auch

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Vorwort

¹intrakulturelleª Differenzen, in denen sich die keineswegs immer schon hinreichend reflektierte Mannigfaltigkeit jener Lebenswelten und Motivationshorizonte spiegelt, die noch innerhalb einer umgreifenden ¹Kulturª (und diese zugleich überschreitend) in unaufgelöster Spannung ineinander liegen. ¹Normª und ¹Nutzenª, die Leitbegriffe des vorliegenden Bandes, bezeichnen in diesem Sinne Exponenten von jeweils Orientierung stiftenden Horizonten, und die ¹intrakulturelle Differenzª zwischen Norm- und Nutzenkultur als ernstzunehmenden Faktor im Aufbau moderner Lebenswelten, damit aber auch als Hintergrunddifferenz der Bioethik(en) zu Bewuûtsein zu bringen, ist eines der zentralen Anliegen dieses Bandes. Einer der ersten Effekte der Bewuûtmachung der genannten bioethischen Hintergrunddifferenz als einer Differenz von kulturellen Systemen ist zweifellos die Erinnerung, daû Bioethik niemals in ¹idealenª Diskursräumen und so auch nicht etwa einfach unter Bezug auf allgemein geteilte ethische Parameter stattfindet. Die Tatsache, daû die bioethischen Fragen ihre Veranlassung vielfach in den Laboratorien der Wissenschaft haben, meint eben nicht, daû die Antworten auf sie aus abstraktem Regelwissen gleichsam ebenfalls unter ¹Laborbedingungenª gegeben werden könnten. In demselben Maûe, in dem die Bioethik Divergenzen erst sichtbar macht, die die Ordnung unserer Lebenswelten durchziehen, bringt sie gerade auch alles andere als gleichgerichtete kulturelle, juridische, religiöse und fundamentalanthropologische Traditionen und Erfahrungen in den Blick. Bei allen Bemühungen, Bioethik an einen als in modernen Gesellschaften prinzipiell vorhanden unterstellten ¹overlapping consensusª (John Rawls) anzuschlieûen oder für die Lösung bioethischer Dilemmata zumindest auf einer ¹mittleren Ebeneª möglichst konsensuelle Optionen zu finden, führen die genannten Divergenzen hinsichtlich der Bewältigung des biomedizinischen und biotechnischen Fortschritts sogar auf verschiedenen Ebenen vielfach zu dauernd ungelösten Spannungen oder Inkonsistenzen in Begründungs- und Zielformulierungen wie auch zu wenig befriedigenden dilatorischen Kompromissen in der politischen Praxis. Beispiele dafür, auch aus jüngster Zeit, lassen sich leicht finden; in mehreren Beiträgen des vorliegenden Bandes wird der Leser mit ihnen konfrontiert. Eine andere Folge der Sensibilisierung für die Existenz kultureller Differenzen im hier thematisierten Sinne besteht sodann in

Vorwort

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der Einsicht in die Notwendigkeit einer interdisziplinären Annäherung an das Problem. Die Verbindung und Kreuzung verschiedener Fachperspektiven, die selber verschiedene ¹Forschungskulturenª repräsentieren, war in diesem Sinne für den vorliegenden Band von der Sache her zwingend geboten. Die im einzelnen aufgenommenen Studien sind dabei im Rahmen eines Forschungsprojekts entstanden, angeregt oder gesammelt worden, welches die beiden Herausgeber im Rahmen der DFG-Forschergruppe ¹Kulturübergreifende Bioethikª zwischen 2003 und 2005 an der Ruhr-Universität Bochum durchgeführt haben. Allen Mitarbeitern an dem hiermit vorgelegten Ergebnis sei für ihr engagiertes Interesse am Thema und dessen produktive Weiterführung in den eigenen Beiträgen herzlich gedankt. Eigens genannt sei an dieser Stelle Herr Kollege Heiner Roetz in Bochum, der als Sprecher der genannten Forschergruppe der Thematik ¹Norm- versus Nutzenkulturª immer ein besonderes Interesse für die gesamte Fragestellung kulturübergreifender bioethischer Studien beigemessen hat. Die Herausgeber möchten den Band im übrigen dem Andenken Paul Ricúurs widmen, mit dem sie seit Jahren ein immer wieder inspirierender Austausch verband. Seine Mitwirkung an diesem Band konnte zwischen Walter Schweidler und ihm bei einer letzten Begegnung in Rom noch persönlich abgestimmt werden; den Abschluû der Übersetzung seines Beitrags, die Herr Dr. Henrik Lesaar in Brüssel freundlicherweise übernommen hatte, hat Paul Ricúur dann nicht mehr erlebt. Der vorliegende Band hat seinen Zweck erfüllt, wenn er für eine durchaus entwicklungsfähige Perspektive zu werben vermag, die zu neuen Klärungen auf dem nicht umsonst umstrittenen Problemfeld der Bioethik verhelfen kann. Bochum, im Januar 2006 Thomas Sören Hoffmann

Walter Schweidler

Inhalt Zur Einführung in die Thematik Walter Schweidler (Ruhr-Universität Bochum) Normkultur versus Nutzenkultur: Worüber streitet die Bioethik? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Thomas Sören Hoffmann (Universität Bonn/Ruhr-Universität Bochum) Kultur ± Ethik ± Recht. Eine Skizze im Blick auf den globalen Antagonismus von Normkultur und Nutzenkultur . . . . . . . . . .

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Bioethik im Kontext von Theologie und Religion Dietmar Mieth (Universität Tübingen) Die ungeteilte Menschenwürde. Christliche Bioethik im gesellschaftlichen Diskurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Johannes von Lüpke (Kirchliche Hochschule Wuppertal) Grenzen der Definitionsmacht. Zum Verhältnis von Normkultur und Nutzenkultur aus der Sicht evangelischer Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

83

X

Inhalt

Bioethik im Kontext von Gesellschaft und Öffentlichkeit Ruth Baumann-Hölzle/Christof Arn (Institut ¸Dialog Ethik, Zürich) Nutzen oder Würde ± zwei ethische Paradigmen im Widerstreit. Ethiktransfer in der Medizinethik am Beispiel der Schweiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

117

Kristiane Weber-Hassemer (Vorsitzende des Nationalen Ethikrates, Frankfurt/Main) Argumentationstypen in der bioethischen Diskussion . . . . . . . .

173

Thomas Heinemann (Institut für Wissenschaft und Ethik an der Universität Bonn) Normen und Nutzen bei der ethischen Beurteilung der Klonierung von menschlichen Embryonen . . . . . . . . . . . . . . . . .

189

Nigel M. de S. Cameron (Chicago-Kent College of Law in the Illinois Institute of Technology/Institute on Biotechnology and the Human Future, Chicago, Ill.) Bioethics and Society in America: The elite versus the people . . .

221

Bioethik im Kontext von Naturwissenschaft und Medizin Hans-Werner Denker (Universität Essen) Totipotenz ± Omnipotenz ± Pluripotenz. Ausblendungsphänomene in der Stammzelldebatte: Indikatoren für den Konflikt zwischen Norm- und Nutzenkultur? . . . . . . . . . . . . . .

249

Mathias Gutmann (Universität Marburg) Kultur des Nutzens und Nutzen der Kultur ± wissenschaftstheoretische Grundprobleme der Bioethik . . . . . . . . . . . . . . . . . .

273

Martina Lenzen-Schulte/Annette Queisser-Luft (Universität Mainz) Zum Konflikt zwischen Kindeswohl und elterlichem Wunschdenken: Gesundheitsrisiken bei assistierter Reproduktion . . . . .

311

Inhalt

Herbert A. Neumann (Ruhr-Universität Bochum) Der ¸Homo oeconomicus im Gesundheitswesen . . . . . . . . . . . .

XI

339

Bioethik im Kontext des Rechts Hans-Martin Pawlowski (Universität Mannheim) Bioethik im Kontext des Rechts. Zu den Aufgaben und Grenzen des Rechts in bioethischen Fragen . . . . . . . . . . . . . . . .

369

Klaus Thomalla (Ruhr-Universität Bochum) Zur Kritik an einer rechtsethischen Engführung der Bioethik als Paradigma einer Nutzenkultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Bioethik aus philosophischer Sicht: Kontroverse und Konvergenz Peter Baumanns (Universität Bonn) Kants Reflexion der Menschenwürde und die Bioethik. Ethische Aspekte des frühen menschlichen Lebens . . . . . . . . . .

439

Robert Spaemann (Universität München) Ist der Hirntod der Tod des Menschen? Zum Stand der Debatte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

457

Vittorio Possenti (Universität Venedig) Die Natur des Menschen ändern? Die Biotechnologien und die anthropologische Frage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

471

Ludger Honnefelder (Universität Bonn) Der Menschenrechtsgedanke und die Herausforderung durch die moderne Biomedizin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

507

Paul Ricúur (Universität Chicago/Universität Paris-Nanterre) Die drei Ebenen des medizinischen Urteils . . . . . . . . . . . . . . . . .

519

Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

537

Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zur Einführung in die Thematik

Walter Schweidler (Bochum)

Normkultur versus Nutzenkultur: Worüber streitet die Bioethik? Was ist Bioethik? Die Frage kann heute in vielfältiger Präzision von einer regelrechten akademischen Disziplin beantwortet werden, die über ihre Experten, Spezialisten und Enzyklopädisten verfügt; einer Disziplin, deren Institutionalisierung sich auch und wesentlich im deutschen Sprachraum, in imponierenden Pionierleistungen, wie sie vor allem mit den Namen Dietmar Mieth und Ludger Honnefelder verbunden sind, vollzogen hat und die wie kaum eine andere vergleichbare philosophische Kooperative auf den öffentlichen ethischen und legislativen Diskurs weltweit einwirkt. Sie verdankt ihre Kompetenz und Bedeutung nicht zuletzt der konsequent interdisziplinären Anlage ihres Forschungsfeldes: Keine ¹fachphilosophischeª, sondern nur eine von medizinischem, naturwissenschaftlichem, juristischem und manch weiterem Sachverstand getragene gemeinsame Bemühung kann zu einer brauchbaren Bestimmung von Begriff und Inhalt der Bioethik führen. Diese organische Entwicklung der Selbstreflexion eines Fachs aus dem Prozeû seiner Institutionalisierung heraus ist für es sicherlich grundlegend, notwendig und richtungweisend. Aber wenn man dies anerkannt hat, kann sich der Blick auf die Bioethik trotzdem in eine Richtung wenden, die in gewisser Weise gegenläufig ist, die aber immer auch in eine Fragestellung philosophischer Art hineingehört; denn sie entstammt dem unaufgebbaren Aspekt des Philosophierens, der jeder Institutionalisierung entgegenwirkt. Robert Spaemann hatte diesen Aspekt im Auge, als er die Philosophie einmal die ¹institutionalisierte Grundlagenkriseª nannte. Philosophische Fragen sind Streitfragen, und was in der Welt heute unter dem Titel ¹Bioethikª diskutiert wird, muû ± jedenfalls so wesentlich wie der darin zugrundegelegte Begriff von

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Ethik ein philosophischer ist ± einem Urstreit über ¹letzte Fragenª entstammen, der durch keine Institutionalisierung beseitigt werden kann, weil er zu dem an unserem menschlichen Dasein gehört, was wir durch alle Institutionen mit erhalten müssen, um wir selbst zu bleiben. Und dieser Streit ist, was die Themen und Ergebnisse der Bioethik angeht, ja alles andere als latent. Es gibt kaum eine biomedizinische Neuerung, die öffentlich und legislativ relevant wird und nicht sofort Kontroversen auslöst, deren Natur man zweifellos verstehen oder zumindest analysieren muû, um eine substantielle Antwort auf die Frage nach der Bioethik geben zu können. Es gibt keinen philosophisch abschlieûbaren Begriff der Bioethik, der nicht eine Strukturbestimmung dessen enthielte, worüber in ihr gestritten wird. Einen Ansatz zu ebendieser Strukturbestimmung unternimmt die konzeptuelle Entgegensetzung von Normkultur und Nutzenkultur, die den Rahmen der thematisch wie fachlich ganz divergenten Beiträge des in diesem Band dokumentierten Forschungsdiskurses bildet. Es handelt sich bei ihr um eine analytische, in gewissem Sinne auch idealtypische Unterscheidung zweier ¹Systeme von Vorstellungen und Überzeugungen . . ., an denen sich Denken und Verhalten orientierenª1, die ursprünglich hervorgegangen ist aus einem Versuch, die Logik der Kontroversen zu verstehen, durch die der Streit um die Bioethik in interkultureller Perspektive gekennzeichnet ist2. Das bioethische Gespräch ist ein globales Unternehmen geworden, aber wenn man die Kulturen analysiert, die in ihm ¹zusammenprallenª, dann zeigt sich, daû es sich bei ihnen nicht um die ethnisch, religiös oder geschichtlich geprägten Ganzheiten handelt, von denen im politischen Diskurs so oft die Rede ist, sondern um geistige Mächte, die zu diesen, im herkömmlichen Sinne ¹interkulturellenª, Trennlinien quer stehen3. Die ¹intrakulturellenª 1

Dies ist die wohl allgemeinste Definition des Begriffs ¹Kulturª, zu finden bei Ernest Gellner, Pflug, Schwert und Buch. Grundlinien der Menschheitsgeschichte, Stuttgart 1990, 13. 2 Eine erste Dokumentation dieser gemeinsamen Denkbemühung bieten der Band von Heiner Roetz (Hrsg.): Cross Cultural Issues in Bioethics: The Example of Human Cloning, Amsterdam 2006 sowie der Sammelband von Thomas Eich/Thomas Sören Hoffmann (Hrsg.), Kulturübergreifende Bioethik. Zwischen globaler Herausforderung und globaler Perspektive, Freiburg/München 2006. 3 Vgl. dazu meinen Aufsatz ¹Global Bioethics Initiatives ± From a European Perspectiveª, in: Abu Bakar Abdul Majeed (ed.), Bioethics: Ethics in the Biotechnology Century, Institute of Islamic Understanding Malaysia, Kuala Lumpur 2002, 17±46.

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Lager, zwischen denen die sich beständig erneuernde Kontroverse um den biomedizinischen Fortschritt und seine ethische und rechtliche Bewältigung in der Öffentlichkeit der westlichen Industriegesellschaften geführt wird, lassen sich weltweit wieder finden; und dieser Befund legt nahe, daû sie in sehr grundlegenden, im Menschheitsmaûstab wirksamen Wahrheitsansprüchen wurzeln, denen man mit einer gewissen Neubestimmung oder doch Facettenerweiterung des Begriffs der ¹Kulturª in seinem modernen, pluralen Sinne4 gerecht werden muû. Man kann dabei etwa an Topoi anknüpfen wie den der ¹zwei Kulturenª, die den Geistes- und Naturwissenschaften unterliegen5, oder den der Differenz von ¹Schuld-ª und ¹Schamkulturª6, also an die Bezeichnung tief wurzelnder Traditionslinien, die dem Bewuûtsein der ihnen folgenden Individuen noch einmal anders, indirekter, lebensweltlich vermittelter innewohnen als dies für ideologische Weltanschauungen oder auch politische Überzeugungen gilt. Die geistigen Mächte, um die es da geht, haben etwas mit dem Gegensatz von religiösem und säkularem Bewuûtsein zu tun, aber sie können auch auf diesen nicht substantiell zurückgeführt werden. Näher kommt man ihnen mit der Opposition von metaphysischem und antimetaphysischem Bewuûtsein, allerdings auch dies nur, wenn man die Termini nicht vorschnell philosophiegeschichtlich auflädt und verengt7. Es kann jemand die Normkultur verabsolutieren, weil er sie rein funktional betrachtet, als ein das gesellschaftliche Zusammenleben ordnendes und tragendes, also höchst ¹nützlichesª Gerüst, ohne daû er nach den metaphysischen Überzeugungen fragt, die hinter den geschichtlichen Entscheidungen gestanden haben mögen, aus denen sie hervorgegangen ist; und es kann umgekehrt jemand gerade aufgrund seiner metaphysischen Überzeugungen sich weigern, diese seinen Mitmenschen nahe4 Ein konzeptuelles Raster zur Einordnung des pluralen Kulturbegriffs gegenüber ihm vorausgehenden Varianten habe ich in meinem Aufsatz ¹Spengler und der moderne Begriff der Kulturª, in: Gethmann-Sieferth, Annemarie/Weisser-Lohmann, Elisabeth (Hrsg.), Kultur ± Kunst ± Öffentlichkeit. Philosophische Perspektiven auf praktische Probleme, München 2001 dargelegt. 5 Charles P. Snow, The two Cultures, ND Cambridge 2002. 6 Ruth Benedict, The Chrysanthenum and the Sword: Patterns of Japanese Culture, Cleveland 1967. 7 Zum Begriff der Metaphysik vgl. meinen Aufsatz ¹Die Menschenrechte als metaphysischer Verzichtª, in: Walter Schweidler, Das Unantastbare. Beiträge zur Philosophie der Menschenrechte, Münster 2001, 73±100.

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oder sogar nur offenzulegen, und darum die Nutzenkultur als ethisches Leitprinzip seines Umgangs mit ihnen zum Wegweiser der Zukunft erheben. Es besteht also nicht eine einfache Folgerungsoder Inklusionsbeziehung zwischen metaphysischen oder antimetaphysischen Prämissen und den Konsequenzen der Norm- oder Nutzenkultur. Der normative Orientierungsanspruch wohnt den geistigen Mächten, die in Form dieser beiden Kulturen wirksam werden, nicht in dem direkten, intentional faûbaren Sinn inne, mit dem ethische Prinzipien dem Handeln individueller Subjekte vorgegeben sind; Norm- und Nutzenkultur sind nicht zwei ¹Standpunkteª, zwischen denen man zu wählen hätte. Und dennoch konstituieren sie einen Antagonismus, von dem her man verstehen kann und muû, warum Menschen in den für die biomedizinische und biorechtliche Entwicklung entscheidenden ethischen Streitfragen so optieren, wie sie es tun. Am Ausgangspunkt der in diesem Band folgenden konkreten Beiträge zu dem so skizzierten Spannungsfeld kommt man an einer Reflexion über die Natur seiner beiden Pole nicht vorbei, die demjenigen, der an praktischen Lösungen arbeitet, nicht sogleich als zielführend erscheinen wird, die aber notwendig ist, um Miûverständnisse zu vermeiden, die tiefer wurzeln als die Kontroverse selbst ± Miûverständnisse, die letztlich die Beziehung zwischen Philosophie und Leben betreffen. Aus der Auseinandersetzung mit diesen kann am ehesten eine erste orientierende Ausgangsbestimmung dessen gewonnen werden, was mit Nutzen- und Normkultur gemeint ist.

1. Zur Eigenart der Kontroverse Die erste und wohl wichtigste Klarstellung ist, daû die Kontroverse von ¹Nutzen-ª und ¹Normkulturª nicht ein anderer Name für die zwischen teleologischer und deontologischer Moralphilosophie ist. Moralphilosophische Systeme sind, jedenfalls in ihrer spezifisch modernen, also handlungstheoretisch konzipierten Form, Antworten auf die Frage nach dem Grund der Unterscheidung zwischen guten und schlechten Handlungen von Subjekten. Für die teleologische, insbesondere die utilitaristische Moralphilosophie handelt der Mensch gut, wenn er das Glück der von seinem Han-

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deln betroffenen moralisch relevanten Wesen mehrt und ihr Leid mindert; für den deontologischen Standpunkt hingegen ist das Maû der Moral nicht das Glück oder Leid, sondern der Respekt vor der Selbstzweckhaftigkeit des moralisch relevanten Wesens, von der her sein natürliches Streben nach Glücksmehrung und Leidminderung erst normativ bedeutsam und durch die zugleich diese normative Bedeutsamkeit begrenzt wird. Der Grund, warum Glück gemehrt und Leid gemindert werden sollen, liegt für den deontologischen Standpunkt nicht darin, daû das Glück, also der glückliche Bewuûtseinszustand, an sich gut und das Leid, also der unglückliche Bewuûtseinszustand, an sich schlecht wäre, sondern darin, daû das von Natur aus nach Glück strebende und das Leid fliehende moralisch relevante Wesen selbst ein Gut an sich ist, so daû durch dessen Unantastbarkeit dem auf Glücksmehrung und Leidminderung gerichteten Handeln anderer eine normativ unrelativierbare Grenze gezogen ist. Letztendlich geht es in dieser Kontroverse darum, ob der moralische Status einer Handlung durch ein ihr externes Gut, das sie herbeiführt, also durch ihre Folgen konstituiert wird oder ob er sich aus ihr selbst, also aus der Beziehung ergibt, in die das handelnde Wesen durch sie zu allen anderen Wesen, denen es moralisch verantwortlich ist, tritt. Die Divergenz zwischen diesen beiden Zentralparadigmen der modernen Moralphilosophie ist für das Spannungsfeld von Normund Nutzenkultur selbstverständlich von groûer Bedeutung. Faktisch wird die Position, die man zu ihr einnimmt, immer eine Rolle spielen, wenn man als verantwortlich Handelnder ebenso wie als Autor theoretischer Stellungnahmen in den eigenen kulturellen Kontext eingreift. Und dennoch kann und muû die eine von der anderen Dichotomie analytisch klar getrennt werden. Der Gegensatz von Norm- und Nutzenkultur spielt nicht primär auf dem Feld der Moralbegründung, sondern auf dem der Vermittlung von Moral und Politik als den beiden nicht mehr aufeinander zurückführbaren Orientierungshorizonten der Vielfalt kulturellen Daseins. Eine systematisch substantielle Moralphilosophie muû in erster Linie rekonstruieren wollen und können, was Moral und also was ihr Grund ist; sie ist hingegen nicht oder allenfalls nur in abgeleiteter Weise auch eine Antwort auf die Frage, welche Bedeutung die Moral und also ihr Grund für die soziale und staatliche Ordnung des menschlichen Zusammenlebens hat. Dies Letztere ist vielmehr die Angelegenheit der politischen und der Rechtsphiloso-

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phie, und diese ist der Moralphilosophie nicht untergeordnet, sondern steht mit ihr in einem komplexen Zusammenhang, dessen theoretische Rekonstruktion zu den fundamentalen Aufgaben und Leistungen dessen gehört, was erst im umfassenden Sinne ¹Ethikª genannt werden kann. So jedenfalls ist es terminologisch bei Kant8 und der Sache nach in der gesamten praktischen Philosophie nicht erst der Neuzeit, sondern schon seit der entscheidenden Wendung, die Augustinus im Gegenzug gegen Aristoteles der politischen Philosophie dadurch gegeben hat, daû er den Staat nicht mehr aus dem Ziel des gerechten Lebens an sich, sondern aus dem des friedlichen Zusammenlebens seiner Bürger definierte9. Seit dieser Wendung ist Ethik immer auch ein Nachdenken über die genuin politischen Voraussetzungen der Moral und womöglich ihres Grundes. Den spannungsvollen Zusammenhang zwischen Moral und Politik, um den seither notwendig gerungen wird und der letztendlich noch hinter der uns bewegenden Kontroverse von Normkultur und Nutzenkultur steht, kann man nicht aufarbeiten, wenn man nicht die wesentliche Schaltstelle ins Auge fasst, an welcher er in die Begründungsbasis des modernen Staates eingespeist worden ist: in das Modell der Legitimation politischer Gesetzgebung aus einem subjektiven vorstaatlichen Recht der sich dieser Gesetzgebung unterwerfenden Bürger. Tut man dies, dann kommt freilich noch ein weiterer höchst ambivalenter Urbegriff des ethischen Denkens ins Spiel, der zunächst die Erörterung noch einmal verkompliziert, ohne dessen Einbezug sie jedoch ihre eigene Grundlage zu ignorieren droht: der Naturbegriff. Die in unserem Kontext philosophisch nicht mehr weiter ableitbare These, die der von mir vorgeschlagenen Verhältnisbestimmung von Normkultur und Nutzenkultur zugrunde liegt, ist die, daû wir uns mit dem von diesen beiden Polen konstituierten Spannungsfeld ziemlich exakt in der Sphäre bewegen, die an der Schaltstelle der modernen politischen Philosophie, nämlich bei Thomas Hobbes, mit dem Begriff der ¹natürlichen Gesetzeª markiert worden ist10. Dieser Begriff hat ja eine ganz eigentümliche, höchst paradoxe Konstitution: Die natürlichen Gesetze sind, wie Hobbes 8 Zum Verhältnis von Moral- und Rechtsphilosophie bei Kant vgl. hier nur Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre. Einleitung in die Metaphysik der Sitten, bes. Akad.-Ausg. VI, 218±228. 9 Vgl. dazu näher Walter Schweidler, Der gute Staat. Politische Ethik von Platon bis zur Gegenwart, Stuttgart 2004, Kapitel 5.

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ausdrücklich erklärt, überhaupt keine Gesetze, solange es keinen Staat gibt; sondern sie sind ¹friedensfördernde Eigenschaftenª des Menschen, die an sich keinerlei normative Verbindlichkeit entfalten können. Sie werden allerdings in Gesetze verwandelt, sobald der staatliche Souverän da ist und seine, die bürgerlichen Gesetze, zu erlassen und durchzusetzen vermag. Mit diesem einen Schlage freilich sind die natürlichen nicht etwa ein Sonderbereich neben oder ¹überª den bürgerlichen Gesetzen, sondern sie sind umfangsmäûig mit ihnen identisch! ¹Das Gesetz der Natur und das bürgerliche Gesetz schlieûen sich gegenseitig ein und sind von gleichem Umfang [. . .] Bürgerliches und natürliches Gesetz sind keine verschiedenen Arten, sondern verschiedene Teile des Gesetzes, wobei der eine ± geschriebene ± Teil bürgerlich, der andere ± ungeschriebene ± natürlich genannt wirdª11. Die natürlichen Gesetze sind der normative Maûstab, an dem die positiven Gesetze gemessen werden müssen. Zugleich steht für Hobbes und damit für den modernen Staat bis heute fest, daû der Grund der Geltung der positiven Gesetze in nichts anderem als darin bestehen kann, daû sie erlassen worden sind und durchgesetzt werden können. Nichts anderes als die Macht des Souveräns legitimiert die Gesetze, sobald sie gegeben sind; aber diese Macht beantwortet ihm die eine Frage nicht, die offenbar doch von höchster Bedeutung für ihn ist, nämlich die Frage nach dem richtigen Inhalt seiner Gesetze, danach also, welche Gesetze er erlassen soll. Die natürlichen sind die bürgerlichen Gesetze, insofern sie den Sinn erfüllen, der dem Staat durch die Ausgangsentscheidung, mit der die Bürger in ihn eingetreten sind, vorgegeben ist. Der Streit im modernen, auch und gerade im demokratischen Rechtsstaat ist wesentlich der Streit um das, was im Modell von Hobbes die ¹natürlichen Gesetzeª genannt wird: der Streit um den ethisch begründbaren Inhalt der zu erlassenden Gesetze. In dieser grundsätzlich ethischen Dimension der Gesetzgebung hat Hobbes und hat mit ihm das Modell des modernen Staates nicht mit der antiken Naturstaatstheorie gebrochen; die ¹friedensfördernden Eigenschaftenª oder ¹dictamina rationisª bestehen nach Hobbes explizit aus den ¹moralischen Tugenden wie Gerechtigkeit, Billigkeit 10 Zu dieser Sphäre und ihrer Bedeutung für die gesamte nachfolgende Verhältnisbestimmung von Politik und Ethik vgl. ebd., insbes. Kap. 6 und 7. 11 Thomas Hobbes, Leviathan, Kapitel 26 (hrsg. von I. Fetscher und W. Euchner, Frankfurt am Main 1966, 205).

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und allen anderen Geisteshaltungen . . ., die zu Frieden und Nächstenliebe führenª12. Der Bruch liegt jedoch und vielmehr wiederum in der Auffassung vom Grund und der spezifischen Natur jener normativen Verbindlichkeit, die den menschlichen Gesetzen innewohnt: Die ethische Verbindlichkeit bringt nicht die staatliche Ordnung, sondern geht aus ihr hervor; sie ist eine Funktion nicht des guten, sondern des Überlebens der menschlichen Gesellschaft. Ist der Wille zu diesem erst einmal geschaffen, dann leuchten die richtigen Gesetze den Bürgern als die natürlich gebotenen ein; dieser Wille aber, der Wille einer menschlichen Gemeinschaft zum Zusammenleben, entstammt keinem Gesetz mehr, er ist der blinde Fleck, die politische Eröffnungsbedingung jeder moralischen Verbindlichkeit, die sich nur in dem Faktum der Akzeptanz der staatlichen Ordnung durch die in ihr lebenden Bürger zeigen kann. Fundamentale ethische Kontroversen sind unter den Bedingungen des in diesem Modell wurzelnden modernen Staates nicht im engeren Sinne moralphilosophischer Art, sondern sie sind wesentlich Kontroversen über die politischen Bedingungen der moralischen Akzeptanzerhaltung des Gemeinwesens. Damit ist die zweite wesentliche Klarstellung über die Eigenart der Kontroverse von Norm- und Nutzenkultur erreicht: Sie fällt auch nicht zusammen mit dem Scheingefecht zwischen ¹religiösemª und ¹säkularemª Staatsverständnis. Der Begriff ¹Normkulturª setzt allerdings einen unbefangenen Umgang mit den Topoi der ¹menschlichen Naturª und des ¹Naturrechtsª voraus. Es ist erstaunlich, auf welchen Mangel an solcher Unbefangenheit man in mancher Diskussion insbesondere im notorisch verkrampften deutschen Kontext stöût. Die geistigen Wurzeln des modernen, säkularen Staates und damit auch der gegenwärtigen rechtlichen Weltordnung sind von der Bezugnahme auf das ¹Menschengeschlechtª, auf die natürliche Zusammengehörigkeit aller Menschen ± von der her überhaupt nur eine normative Dimension ihrer ¹Gleichheitª zu gewinnen ist ± völlig unablösbar. Philosophiegeschichtlich ist durchaus die These zu verteidigen, daû hinter den anthropologischen und ontologischen Voraussetzungen der modernen Bezugnahme auf die Würde und die vorstaatlichen Rechte des Menschen ein vormoderner Naturbegriff steht: ¹Naturª nicht als Homogenitäts-, sondern als Distinktionskonzept, als Bezeichnung dessen, 12

Ebd. 218.

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worin nicht ± wie im neuzeitlichen, cartesisch inspirierten Denken ± alle Nichtartefakte einander gleichen, sondern worin sie sich ihrer Art nach voneinander unterscheiden, so daû die ¹menschliche Naturª eben die Voraussetzungen umfasst, aufgrund derer der Mensch sich von allen anderen natürlichen Wesen emanzipiert hat und auf deren Erhaltung er angewiesen ist, um dieser Emanzipation nicht wieder verlustig zu gehen13. Aber die philosophiegeschichtliche Übersetzungsleistung, mit der das vormoderne Distinktionskonzept der Natur in den modernen Gedanken der menschlichen Würde und der Unantastbarkeit der Person transformiert worden ist, relativiert in keiner Weise, sondern ermöglicht vielmehr gerade den legitimationstheoretischen Bruch, der den modernen vom vormodernen Staat trennt und der ihn in einem ganz präzisen, von der Substanz der Begriffe der menschlichen Natur und des Naturrechts unablösbaren Sinn zum Rechtsstaat gemacht hat, das heiût: zu einem Souverän, der seine letzte Legitimation in einer Quelle hat, in welcher das Recht aller zu ihm gehörigen Menschen und seine Macht, ihr Leben zu schützen, untrennbar vereinigt sind. Kein vormoderner, kein sakral oder dynastisch legitimierter Staat ist legitimitätstheoretisch so wie der moderne auf das unantastbare Recht jedes Menschen gebaut und an es gebunden, und wer, etwa unter Verweis auf die substantielle Synonymität der Begriffe ¹Unantastbarkeitª und ¹Heiligkeitª14, die Verpflichtung auf die Unteilbarkeit der Menschenwürde für ein vormodernes, religiös aufgeladenes Residuum in der Konstitution des modernen Staates hält, nimmt ihm gedanklich genau die Leistung weg, die ihn geschichtlich zum Überwinder des vormodernen Staatsverständnisses gemacht hat.

13 Zum Naturbegriff in seiner philosophiegeschichtlichen Breite vgl. das umfassende Werk von Thomas S. Hoffmann, Philosophische Physiologie. Eine Systematik des Begriffs der Natur im Spiegel der Geschichte der Philosophie, Stuttgart-Bad Cannstatt 2003; zu der hier skizzierten These vom Zusammenhang von vorneuzeitlichem Naturund neuzeitlichem Würdebegriff vgl. meinen Aufsatz ¹Gattungszugehörigkeit als Personsein ± Zur rechtlichen Konstitution des Menschenª, in: Eckart Klein/Christoph Menke (Hrsg.), Menschenrechte und Bioethik, Berlin 2004, 13±23. 14 Vgl. dazu etwa Kant, Zum ewigen Frieden, Akad.-Ausg. VIII, 380: ¹Das Recht der Menschen muû heilig gehalten werden, der herrschenden Gewalt mag es auch noch so groûe Aufopferung kosten. Man kann hier nicht halbieren und das Mittelding eines pragmatisch-bedingten Rechts (zwischen Recht und Nutzen) aussinnen, sondern alle Politik muû ihre Kniee vor dem erstern beugen, kann aber dafür hoffen, obzwar langsam, zu der Stufe zu gelangen, wo sie beharrlich glänzen wirdª.

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¹Normkulturª ist also gerade nicht die Markierung eines vorneuzeitlichen, auf teleologischer Metaphysik gegründeten ordo-Gedankens im Nacken, sondern vielmehr des universalen Anspruchs im Herzen des modernen Staates, mit dem dieser die spezifisch neuzeitliche Brücke zwischen Moral und Politik geschlagen hat, das heiût: des Anspruchs, das Recht aller zu ihm gehörigen Menschen zum unrelativierbaren Legitimationsgrund seiner Existenz gemacht zu haben. Der Terrorismus, der ja ein spezifisch modernes Phänomen ist, erwächst genau aus dieser Einsicht: daû der Rechtsstaat mit seiner Macht und erst recht mit dem Willen, das Leben und die Würde aller seiner Bürger zu schützen, seine Legitimation und damit seine Existenzgrundlage verliert. Die Spannung zur ¹Nutzenkulturª ergibt sich auch nicht etwa aus einem dazu gegensätzlichen staatstheoretischen Anspruch, sondern sie bringt eine, die Normkultur allerdings radikal herausfordernde Antwort auf die Frage danach zum Ausdruck, ob sich die Überlebenslogik des Rechtsstaats in seiner Schutzfunktion für das Recht aller zu ihm gehörigen Menschen erschöpft oder ob neben sie andere, mit ihr selbst noch einmal legislativ zu vermittelnde Leitlinien des Arrangements mit seinen Bürgern treten müssen. In diesem Knotenpunkt laufen die Fäden zusammen, die einen, wie immer man zu ihren moralphilosophischen Implikationen steht, dazu zwingen, in der philosophischen Analyse von Nutzen- und Normkulturen zu sprechen und ihnen in ihrer ganzen Widersprüchlichkeit und Gegensätzlichkeit eine geschichtlich-kulturelle Berechtigung zuzugestehen. Die Spannung zwischen beiden ist ein Reflex der Janusköpfigkeit innerhalb des rechtsstaatlichen Legitimationsgefüges selbst, das ich an anderer Stelle mit dem Begriff des ¹legitimatorischen Vakuumsª festzuhalten versucht habe15. Die ¹natürlichen Gesetzeª im Hobbesschen Sinne sind eben ± nach dem philosophischen Selbstverständnis des modernen Staates ± tatsächlich nicht die vorstaatlichen Gebote, denen die Bürger sich in Form der staatlichen Gesetze fügen, sondern das Ergebnis der Suche des Gesetzgebers nach den ihm durch die Rechte seiner Bürger vorgegebenen Gebote der Erhaltung seiner Existenz. Die der Normkultur zugrunde liegende Einsicht, daû zu diesen Geboten der Respekt vor der Würde aller Menschen gehört, ist durch hinzutretende Gesichtspunkte nicht zu widerlegen, aber sie kann mit diesen offen15

Vgl. Schweidler, Der gute Staat, insbes. Kap. 6 und 7.

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sichtlich in die Spannung treten, die wir im bioethischen Streit in hohem Maûe finden. Man kann den Grund dieser Spannung noch etwas konkreter fassen, wenn man ein drittes Feld notwendiger Abgrenzung und möglichen Miûverständnisses berührt: das ebenso heikle wie untergründig doch virulente Spannungsfeld zwischen ¹kontinentalerª und ¹angelsächsischerª Philosophietradition. Wenn es einen Hintergrund gibt, vor dem man über diesen Gegensatz nachdenken kann und muû, ohne auf philosophischem Stammtischniveau zu landen, dann ist es der rechtsgeschichtliche, und dieser zeigt sich im Streit der ¹Bioethikª. Norm- und Nutzenkultur sind gewiû nicht einfach kausale Resultate unterschiedlicher geschichtlich gewachsener Rechtskulturen des Westens, also einer am case law orientierten ¹angelsächsischenª und einer am Ideal des universalen Rechtsgesetzes und der Begriffsjurisprudenz ausgerichteten ¹kontinentalenª Tradition; aber die Differenz zwischen ihnen hat doch etwas mit diesem rechtsgeschichtlichen Hintergrund zu tun16. Nicht die Rechtskulturen als solche, aber das mit ihnen verbundene Staatsverständnis, lassen einen solchen Gesichtspunkt auf die Spannung von Norm- und Nutzenkultur in aller Behutsamkeit zu. Natürlich teilen die kontinentale und die case law-Tradition das moderne Grundverständnis von der Legitimation des Staates aus dem vorstaatlichen subjektiven Recht seiner Bürger. Entscheidend für die auch bioethisch relevante Differenz ist nicht die Frage, ob, sondern wie diese Legitimation gegeben ist. Man kann cum grano salis den holzschnittartigen Gegensatz aufstellen: Für das kontinentale Verfassungsverständnis steht die Legitimität des Staates primär dort auf dem Spiel, wo er die Rechte seiner Bürger schützt und verteidigt, wo er sich also als der Freund und Helfer seiner Schutzbefohlenen in Form einer möglichst lückenlosen abstrakt-allgemeinen Ordnung entfaltet; diese Grundorientierung bringt es mit sich, daû der Ordnungsauftrag des Staates desto stärker ist, je schwächer die menschlichen Wesen sind, um deren Rechte es bei seiner Gesetzgebung geht. Die Gesetzgebung ist ja das eigentliche Feld, auf dem der Schutz des Schwachen sich, ganz unabhängig von dessen Kapazität zur Wahrnehmung seiner Interessen, als Auftrag des Staates konkretisiert. 16 Zur grundsätzlichen Analyse dieser Rechtskulturen vgl. das immer noch erkenntnisleitende Werk von Wolfgang Fikentscher, Methoden des Rechts in vergleichender Darstellung. Band II: Angloamerikanischer Rechtskreis, Tübingen 1975.

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Dieser Aspekt ist der case law-Tradition natürlich nicht fremd, aber zu ihm tritt stärker noch ein anderer hinzu, unter dem sich als die paradigmatische Situation der Rechtfertigung des Staates die des Konflikts mit dem Bürger darstellt17. Daû der Staat den Bürger als seinen eigentlichen normativen Gründer respektiert, zeigt sich auch und wesentlich dort, wo er im Konfliktfall seine Ordnungsmacht zugunsten des ihm unverfügbaren Rechts des Individuums begrenzt und zurücknimmt. Man kann daraus nun nicht unmittelbar mit logischer Stringenz Konsequenzen für die ¹Bioethikª ableiten, aber man kann durchaus die These vertreten, daû dieses Paradigma eine intuitiv-systematische Wirkung auf die Prioritätenordnung ausübt, in die der Staat sich gegenüber seinen Bürgern gestellt sieht. Nicht das abstrakte, durch Gesetzgebung zu adressierende, sondern das konkrete, konfliktfähige Individuum, das ihm im verfassungsrechtlichen Streit um die Grenzen seiner Wirksamkeit begegnet, fordert primär die legitimatorische Kapazität des Staates heraus. Ein Beleg für diese These findet sich in der Konzeption von Ronald Dworkins Buch ¹Life's Dominionª18, in dem zunächst die ¹liberaleª im Gegensatz zur ¹konservativenª Position bezüglich der wichtigsten bioethischen Wertfragen durch die Rechnung charakterisiert wird, welche die liberale Einstellung dem Gegensatz zwischen den Interessen einer voll entwickelten, rechtlich artikulationsfähigen Person und den Interessen des noch unentfalteten menschlichen Wesens zu tragen versucht, und dann der Leser aufgefordert wird, seine eigene Auffassung über diesen Gegensatz dadurch zu erkunden, daû er sich fragt, wie er in dem Falle handeln würde, in dem er eine Entscheidung in diesem Interessenkonflikt zu fällen hätte. So gesehen, rückt der Staat mit ¹seinemª allgemeinen Interesse an der Lösung des Rechtsstreits auf die eine und der konfliktfähige Bürger mit seinen individuellen Interessen auf die andere Seite eines Abwägungsszenarios, in das der Leser sich hineinversetzen soll und das doch eigentlich ein Szenario ist, das es nur für eine ¹liberaleª Position gibt, welche dem spezifischen Interesse des Artikulationsfähigen überhaupt erst Relevanz 17 Zu den geschichtlichen Gründen dieser Differenz aus den Entstehungsbedingungen der amerikanischen gegenüber den europäischen Demokratien vgl. auch ErnstWolfgang Böckenförde, Staat, Verfassung, Demokratie. Studien zur Verfassungstheorie und zum Verfassungsrecht, Frankfurt/Main 1991, 366 f. 18 Ronald Dworkin, An den Grenzen des Lebens. Abtreibung, Euthanasie und persönliche Freiheit, Reinbek 1994, vgl. 144 ff.

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zuspricht. Es zeigt sich hier so etwas wie eine strukturelle Prärogative des konkret artikulationsfähigen Interesses für ein Rechtsverständnis, das sich zumindest intuitiv am Umgang mit dem Fall des Konflikts zwischen staatlichem und bürgerlichem Rechtsspielraum definiert. Während es unsinnig wäre, Norm- und Nutzenkultur etwa mit der Differenz von case law- und universalgesetzlicher Staatsrechtstradition zu parallelisieren, läût sich doch die Hypothese begründen, daû ein primär am Konfliktfall mit dem artikulationsfähigen Individuum ausgerichtetes Verständnis der grundlegenden Legitimationsprozeduren staatlicher Ordnung im Umgang mit der Spannung zwischen Norm- und Nutzenkultur zu anderen Abwägungsgewichtungen tendieren wird als eines, für das der Staat von vornherein den Standpunkt einer sinnautonomen, alle individuellen Interessen gerade umwillen ihres Schutzes noch einmal transzendierenden Vernunftperspektive verkörpert. Hier, letztlich also auf der rechtsphilosophischen und verfassungstheoretischen Ebene verlaufen Grenzlinien, die für die Bewältigung des Urstreits der ¹Bioethikª von strukturell gröûerer Relevanz sind als die Gegensätze auf der moralphilosophischen Ebene oder die hinsichtlich der Rolle der Religion im säkularen Staat.

2. Der ethische und der politische Gesichtspunkt ¹Normkulturª und ¹Nutzenkulturª sind also nicht einfach zwei kontroverse ethische Standpunkte mit politischen Implikationen, sondern eher zwei divergente, die Fundamente unserer Lebensform betreffende Prinzipien der Zuordnung dessen, was man im Unterschied zu ¹Standpunktenª den ethischen und den politischen ¹Gesichtspunktª nennen kann. Die ¹Normkulturª ist ein Name für die Herrschaft des Rechts als ethisches Legitimationsprinzip des staatlichen Zusammenlebens. Während ihr Bezug zur ¹Nutzenkulturª durchaus komplex ist und differenzierter Bestimmung bedarf, läût sich ihr eigentlicher Antipode klar benennen, nämlich der Rechtspositivismus. ¹Normkulturª bedeutet in jedem Fall: Eine menschliche Gesellschaft verständigt sich über und verläût sich auf einen vorgesetzlichen, übergesetzlichen Grund ihrer Gesetze. Damit ist nicht nur ein normatives Gegenprinzip zum

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Rechtspositivismus gesetzt, sondern vor allem dessen konzeptionelle Ausgangsvoraussetzung in ihrer Wurzel bestritten, nämlich die abstrakte Separation von Recht und Moral. Die Alternative lautet nicht: Moralisierung oder neutrale Rationalität der Gesetze, sondern: Ethische Grundlage von Moral und Recht oder Selbstverabsolutierung des sozialen ¹Systemsª und seiner gesetzlichen Selbsterhaltungsmechanismen. ¹Ethikª ist kein anderer Name für Moralphilosophie, deren Gegenstand man als einem Feld mehr oder weniger respektabler, aber privater Überzeugungen das ¹Rechtª als ihm gegenüber neutralen öffentlichen Ordnungsraum gegenüberstellen und damit entziehen könnte; sondern ¹Ethikª ist gerade die humane oder zumindest die spezifisch westlich-moderne Weise der Vermittlung von Recht und Moral eben im Gedanken des vorgesetzlichen Grundes der Gesetze.19 Dieser Gedanke hat selbstverständlich etwas mit dem ¹Naturrechtª zu tun, nur nicht, wie der Rechtspositivismus typischerweise unterstellt, in der Weise einer metaphysisch präjudizierten, dem modernen Rechtsstaatsgedanken äuûerlichen Dogmatik. Der vorstaatliche Grund der Normen sind nicht höhere, wesentlichere Normen, die im staatlichen Gesetz zu ¹kultivierenª wären, sondern dieser vornormative Grund der Normen ist der Mensch. Die Unantastbarkeit seiner Würde zu sichern ist für die Normkultur die Aufgabe und der Sinn gerade nicht einer höheren, sondern eben der staatlichen Norm. Dies ist nichts anderes als der Urgedanke, der am Anfang des modernen Staatsverständnisses stand, daû, in den Worten Ernst Cassirers, ¹das Prinzip, welches die Grenze der staatlichen Machtbefugnisse bezeichnet, zugleich die ideelle Rechtfertigung des Staates in sich beschloûª20. Rechtsgrund und Rechtsbegrenzung konvergieren im Respekt vor der Würde des Menschen als eines essentiell negativen, limitativen Konzepts, das im Kern nur besagt, daû der Mensch sich der Definition entzieht21. Daû der Mensch Würde 19 Auch wenn man von einer unüberschreitbaren Pluralität ¹ethischª konstituierter ¹Teilgemeinschaftenª ausgeht, wie Hans-Martin Pawlowski in seinem Beitrag zu diesem Band (Abschnitt I.1), bleibt doch auch noch die Entscheidung für den allgemeinen Respekt vor ihrer Unterschiedlichkeit angewiesen auf ein ethisches Grundkonzept, das sich nicht aus diesen Teilen oder ihrer wie immer gearteten Summe ergeben kann. 20 Ernst Cassirer, Freiheit und Form. Studien zur deutschen Geistesgeschichte, 4. Aufl. Darmstadt 1975, 318. 21 Vgl. den Beitrag von Johannes von Lüpke zu diesem Band, Abschnitt IV, Anm. 50.

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hat, heiût, daû kein Mensch das Recht hat, ihn auf seine Würde hin zu beurteilen. Je weniger ein menschliches Wesen die Eigenschaften und Fähigkeiten mitbringt, die den anderen Rechtsgenossen zur Wahrnehmung ihrer Würde gegeben sind, je sicherer es diese Attribute nicht oder nie wieder erlangen wird, desto eindeutiger wird die Wahrung seiner Würde zu deren, also zur Aufgabe und zum Problem, an dem sie, die anderen Rechtsgenossen ihre eigene Würde zu bewähren haben. Die Würde des Schutz- und Respektbedürftigen selbst steht für die Normkultur überhaupt nicht zur Debatte, und wer von dessen ¹abgestufterª Würde spricht, kann nur meinen, daû er sie in seinem eigenen Handeln nur noch ¹abgestuftª zu respektieren bereit ist. Der Mensch in seiner Undefinierbarkeit ist der Grund der ¹Ethikª, aus der sich erst Recht und Moral, und zwar durchaus einschlieûlich des Aspekts ihrer notwendigen Trennung und teilweisen Inkommensurabilität, in ihrer Eigenart ergeben. Das heiût nun nichts anderes, als daû man das Prinzip der ¹Normkulturª in wesentlicher Hinsicht geradezu semantisch-pragmatisch definieren muû: als das Beharren auf der spezifisch rechtlichen Bedeutung des Würdebegriffs als eines begrifflichen Instruments, das primär nicht gebraucht wird, um Eigenschaften und Fähigkeiten und somit vor allem auch nicht, um den ¹Statusª von Wesen zu bezeichnen, sondern das dazu gebraucht wird, Handlungen zu verbieten und Handlungsmacht zu begrenzen. Hierin liegt nun exakt derjenige Aspekt, der zu dem ethischen, von dem her sich die Normkultur versteht, die unablösbare Rückseite bildet. Dieser mit ihm wie die zweite Seite eines Blattes mit der ersten verwachsene Aspekt ist der politische, und zwar politisch im fundamentalen, in die politische Konstitution des Menschseins zurückführenden Gesichtspunkt. Was der Mensch ¹istª, das entscheidet er in Lebensformen, die kein kollektives Subjekt, aber einen notwendig gemeinschaftlichen Code ihrer Entwicklung und Aufrechterhaltung haben, und diese das Sollen ins Sein wendende Entscheidung kann sich, anders als ein theoretischer Gedankengang, nur aus dem rechtfertigen, was durch sie erst herbeigeführt wird; von der Ehe bis zum Krieg sind die Entscheidungen, die ein Menschenleben formen, von der Art, daû sie die Alternative, an der sie theoretisch gemessen werden könnten, aus der Welt schaffen. Insofern sind wir nicht nur, gemäû Neuraths bekannter Metapher, Schiffer, die ihr Boot aus den Planken reparieren müssen, die sie

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aus ihm selbst herausschneiden, sondern wir sind so fundamental an die Lebensform gebunden, die uns als unser Boot umgibt, daû in ihm zu bleiben und dieses Bleiben zu rechtfertigen zwei Seiten einer Medaille sind, daû sie also letztlich in einem unvergleichlichen Fokus spezifisch praktischer Rationalität, dem blinden Fleck aller möglichen Begründung normativer Gesichtspunkte, konvergieren. Wir können auch den alles Politische relativierenden, Norm und Gemeinschaft gegenüber dem undefinierbaren menschlichen Individuum in Pflicht nehmenden ethischen Gesichtspunkt in unser Leben nur in Form politischer Grundentscheidungen integrieren und wir können den alle ethisch relevanten individuellen Überzeugungen seinerseits relativierenden politischen Gesichtspunkt nur aus dem Bereich her legitimieren, in dem er mit dem Tabu, das aller politischen Gestaltung entzogen ist, in eins fällt. Der Gedanke des ¹von Natur aus Rechtenª spielt somit für die Normkultur eine entscheidende Rolle, die aber nicht aus einer ideologisch konstruierten ¹Menschennaturª, sondern aus seiner ursprünglichen, von Aristoteles stammenden objektiv-funktionalen Konstitution begründet ist: der vor allen einzelnen positiven Regelungen vorgegebenen Natur des Staates. Es gibt eine rechtliche Basis des Menschseins, gegen die der Staat nicht verstoûen darf, die sich also eher aus seiner als der Natur ¹des Menschenª ergibt. Was von Natur aus Recht ist, das sind die Gesetze, die in jedem Staat gelten und gegen die sein tatsächliches, positives Recht nicht verstoûen darf, wenn er den Sinn seiner, also der staatlichen Existenz nicht verfehlen will. Eine solche ¹Natur des Staatesª gibt es selbstverständlich auch in den theoretischen Grundbedingungen des modernen Rechtsstaates, auch wenn dieser sich nicht durch eine metaphysische ¹Natur des Menschenª, sondern als Vertrag legitimiert; Hobbes stellt sie ins Zentrum seiner Definition des bürgerlichen Gesetzes22. Nichts anderes ist die Voraussetzung dafür, daû heute über den Erdball hinweg Menschenrechtsverletzungen strafrechtlich verfolgt werden können, selbst wenn sie vom Gesetz des sie verübenden Staates aus gedeckt gewesen sein sollten. Dieser Urgedanke der ¹Normkulturª setzt unbedingt voraus, daû es ein Maû gibt, an dem der Staat und sein Gesetz noch zu 22 ¹Unter bürgerlichen Gesetzen verstehe ich Gesetze, zu deren Beachtung die Menschen nicht deshalb verpflichtet sind, weil sie Glieder dieses oder jenes besonderen Staates, sondern überhaupt eines Staates sind.ª (Thomas Hobbes, Leviathan, Kap. 26, 203)

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messen sind, und zwar auch und insbesondere der demokratische. Es muû die ¹Einigkeit über das Unabstimmbareª23 geben, wenn die Demokratie ihren Bürgern als die Regierungsform einleuchten können soll, die sich eben an dem, worüber keine, auch nicht die in Abstimmungen organisierte Staatsmacht verfügen darf, besser als jede andere, alternative Regierungsform bewährt. Das heiût freilich auch, daû die Normkultur mit dieser Grenze, an der der Staat sich legitimiert und die er eben deshalb nicht überschreiten ¹darfª, einen durchaus flexiblen, funktionaler Betrachtungsweise nicht eo ipso entzogenen Beurteilungshorizont aufspannt. Die Frage, warum genau der Staat die Würde des Menschen nicht antasten ¹darfª, ist einer mehrschichtigen, bis zu einem gewissen Grad auch dem ethischen und philosophischen Kompromiû zugänglichen Beantwortung zugänglich. Wir bewegen uns eben auf dem Feld der Hobbesschen ¹natürlichen Gesetzeª, für die man eine metaphysische, eine religiöse, aber auch eine dezisionistische und mehr oder weniger rein funktionale Wurzel angeben und diskutieren kann. Man kann sich auf der funktionalen Ebene halten und sagen, der Rechtsstaat müsse eine vorgesetzliche Basis beanspruchen, um seine faktischen Überlebensbedingungen im Bewuûtsein seiner Systemglieder, also der Bürger, zu internalisieren. Allerdings wird man zumindest zugeben müssen, daû diese Korrelation zwischen dem Systemganzen und seinen Funktionsgliedern eben doch durch den Rechtsstaat mit seinem spezifisch republikanischen Anspruch konstituiert wurde, die Regierung zum Sachwalter der Regierten zu machen. Die Normkultur kann dann aber durchaus in der Einigung weltanschaulich ganz unterschiedlicher und sogar vom Staatsverständnis her einigermaûen divergenter Positionen darauf beruhen, daû der Anspruch des Rechtsstaats auf übergesetzliche Legitimität und die Bedingungen der stets erneuerten Verständigung über diese einer Kultivierung bedürfen, die aus der Reflexion der funktionalen Bedingungen der Überlebenssicherung des staatlichen Gesetzessystems vielleicht erklärt werden, aber in ihr doch nicht bestehen dürfen. Dies dürfte nun die Reflexionsebene sein, auf der man eine Präzisierung des Begriffs der ¹Nutzenkulturª vornehmen kann, die der Eigenart der Kontroverse mit der Normkultur gerecht wird und hoffentlich auch einen Horizont von Verständigung und Kon23

Vgl. dazu Böckenförde, Staat, Verfassung, Demokratie, 350.

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vergenz eröffnet. Von ¹Nutzenkulturª ist in eben dem Sinne zu reden, in dem es um die Kultivierung der Bedingungen der Legitimität eines Rechtsstaates geht, der die Würde und die Rechte seiner Bürger zu schützen beansprucht. Die Nutzenkultur muû somit weder mit einem rechtspositivistischen Standpunkt noch mit der alten radikalen utilitaristischen Abqualifikation der Menschenrechte als nonsense upon stilts einhergehen. Es dürfte sogar zu ihren philosophischen Behauptungsbedingungen gehören, daû sie sich auf ein Geschäft der utilitaristischen Rekonstruktion von Rechtsstaat und Gerechtigkeit, das nicht gelingen kann, gar nicht einläût, sondern sich durchaus komplementär zur Normkultur geriert. Eine Definition der Nutzenkultur läût sich dann als der Standpunkt formulieren: Lebensqualität und Selbstbestimmung des Individuums sind Grenz- und Sinnfaktoren aller staatlichen und gesellschaftlichen Normativität. Die Nutzenkultur formuliert also selbst Bedingungen, die nach ihrem Verständnis die Normkultur in modernen Gesellschaften erst überlebensfähig machen; sie geht davon aus, daû die Normkultur nur existieren kann, weil es dem Menschen letztendlich um die Qualität seines Lebens geht, weil er ein glückliches Leben haben will und kein leidendes. Und ihr liegt die Behauptung zugrunde, daû die Normkultur nur existieren kann, weil die menschliche Selbstbestimmung höher steht als die Normen, die ihr dienen, und daû das Ziel der menschlichen Lebensverbesserung eines ist, das gleichgewichtig neben die Prinzipien des Schutzes menschlichen Lebens überhaupt tritt. Der ¹einzigartige Zufallª24, dem der Mensch sein individuelles Selbstverhältnis verdankt, ist für sie zwar Ausgangsbasis, aber nicht legitimierender Horizont seiner Ansprüche gegenüber der Gesellschaft und den anderen Menschen; wenn dem individuellen Selbstverhältnis das Bewusstsein entwächst, durch Instrumentalisierung menschlichen Lebens steigern und verbessern zu können, was ihm an Lebensoptionen offen steht, dann muû die Normkultur sich auch vor diesem letztendlich durch sie eröffneten Selbstbestimmungsfaktor zu rechtfertigen in der Lage sein. Die Kontroverse zwischen Norm- und Nutzenkultur kann, auf diese Ebene gebracht, als ein Streit um den Legitimationshorizont des modernen Rechtsstaates in Relation zu einem ihm adäquaten 24 Vgl. das ¹Argument der Einzigartigkeit des individuellen Genomsª im Beitrag von Thomas Heinemann in diesem Band (S. 204±206).

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Begriff menschlicher Selbstbestimmung und Lebensverbesserung rekonstruiert werden. Insoweit es dieser Streit ist, der auch die bioethischen Auseinandersetzungen prägt, geht es in diesen doch um einen Hintergrund, über dessen Unabdingbarkeit sich die streitenden Seiten letztlich einig sein können und eigentlich müssen. Die Reflexion über das Menschsein zwischen Norm- und Nutzenkultur ist wesentlich eine Besinnung auf die ethischen Souveränitätsbedingungen moderner Staatlichkeit.

3. Die ethische Souveränität des Staates Es gibt somit eine Basis rationaler Verständigung zwischen Normund Nutzenkultur, die durch die Frage markiert wird, wie der ethische und der politische Gesichtspunkt an der Wurzel unseres Zusammenlebens in den Institutionen des modernen Rechtsstaates verbunden sind und zusammengehalten werden müssen ± oder kürzer gesagt, durch die Frage nach den Bedingungen der Bewahrung der ethischen Souveränität des Staates. Die Verständigung über diese Frage hat ihre Voraussetzungen zunächst überhaupt nicht in moralphilosophischen Positionen und Debatten, sondern in den Grundstrukturen der politischen Philosophie und der Zuordnung von Politik und Ethik, die den geschichtlichen Hintergrund des modernen Staates formt. Dieser Staat hat keine metaphysische Theorie oder Ideologie, aus der er sich legitimieren könnte, wohl aber einen ethischen Anspruch, der darauf gerichtet ist, diese metaphysische Offenheit zu kompensieren, und zwar wesentlich auf der Ebene der um die Regierungs- und Gestaltungsmacht innerhalb seiner Institutionen ringenden politischen Kräfte. Er verpflichtet diese Kräfte und die von ihnen getragenen Inhaber seiner repräsentativen ¾mter auf den Respekt vor der Selbstzweckhaftigkeit des Menschen durch den Schutz seiner Würde und seiner Rechte. Er definiert sich gewissermaûen durch einen ethischen Code, in dem ein Nenner politisch-rechtliche Gestalt gewinnt, auf den sich unterschiedliche metaphysische Begründungsweisen bringen lassen, zwischen denen er nicht entscheiden kann und will, deren sie untereinander sowohl trennenden wie verbindenden Legitimationsauftrag er aber eben damit zu erfüllen beansprucht und beanspruchen muû.

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Nichts wäre daher irriger als die Behauptung, daû der Schutzauftrag gegenüber Menschenrecht und Menschenwürde selbst noch einmal als weltanschauliche oder ideologische Position betrachtet werden müsse, gegenüber welcher dieser Staat in irgend einer Weise neutral zu bleiben oder die er mit anderen, gleichwertigen Auffassungen zu vermitteln hätte. Dieser Schutzauftrag ist der Inbegriff seiner Selbstlegitimation; er hat nichts anderes, woraus er sein Daseinsrecht begründen könnte. Und er hat übrigens auch kein anderes Prinzip, aus dem der das Geflecht der inneren, gegenseitigen Begrenzungen begründen könnte, in dem allein er die Rechtsansprüche seiner Bürger zu verknüpfen vermag. Der Spielraum der Rechtsansprüche des bürgerlichen Individuums im modernen Staat ist letztendlich nicht durch Appell und ¹Bewuûtseinsänderungª, nicht durch philosophische Konstrukte wie Menschenpflichten oder ¹Generationensolidaritätª zu begrenzen, sondern nur durch die Rechte des anderen. Wenn es so ist und wenn die Regierung im modernen Staat ihren Auftrag aus nichts anderem als den Rechten der Bürger als Menschen zu begründen vermag, dann gibt es für die Gesetzgebung dieses Staates keinerlei Spielraum, innerhalb dessen das Prinzip der Menschenwürde gegen konkurrierende Gesichtspunkte abwägbar wäre: Dieser ethische ist identisch mit dem politischen Grundaspekt im Kern und in den Überlebensbedingungen des modernen Staates, also mit seiner unabdingbar ethischen Souveränität. Für eine Verständigungsbasis zwischen Norm- und Nutzenkultur dürfte eine Differenzierung entscheidend sein, die uns davor bewahrt, Auffassungsunterschiede in bezug auf die Frage der Zuordnung des politischen zum ethischen Gesichtspunkt im Legitimationskern des modernen Staates zu unterscheiden von einer Tendenz, die darauf gerichtet ist, den politischen vom ethischen Aspekt abzukoppeln und diesem gegenüber zu verabsolutieren. Die ethische Souveränität des modernen Staates ist mit einer Position unvereinbar, die im Ringen um die legislative Bewältigung des biomedizinischen Fortschritts zunehmend Raum gewinnt und die man ¹konsensualistischª nennen könnte. Typisch für sie ist etwa die Antwort, die der EU-Forschungskommissar Philippe Busquin auf die Frage gab, bis zu welchem Punkt er den Kritikern der Forschung an embryonalen Stammzellen folgen könne: ¹Sie fragen mich nach meiner persönlichen Einstellung. Aber was zählt die, wo hier nach einer Definition gesucht wird, die es Europa ermög-

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lichen soll, im internationalen Vergleich zur Spitze der Forschung zu gehören? [. . .] Die Freiheit der Forschung ist ein Grundwert. Aber die Forschung ist darum nicht einfach frei. Deshalb brauchen wir ein ethisches Regelwerk. Auf europäischer Ebene besorgt das seit drei Jahren die Europäische Ethikgruppe mit ihren Stellungnahmen . . . Hier sitzt so etwas wie der gemeinsame Nenner, der Konsens der Europäer in schwierigen Fragen. Natürlich gibt es immer Leute, die einen solchen Konsens nicht akzeptierenª25. Ethik wird hier praktisch zur Gänze unter politischem Blickwinkel betrachtet, als eine Art Vereinbarung divergenter persönlicher Einstellungen, die selbst wiederum der ethischen Beurteilung entzogen sind. ¾hnlich ist es, wenn bei schwierigen ethischen Abstimmungen im Parlament den Abgeordneten die ¹Gewissensentscheidungª freigestellt wird, so als sei das Gewissen wahrheitsfähigen ethischen Maûstäben gerade nicht unterworfen. Dem gegenüber muû man zunächst einmal festhalten, daû Norm- wie Nutzenkultur überhaupt nur als Positionen rekonstruierbar sind, die Wahrheits- und Erkenntnisanspruch erheben, nur nicht primär auf moralphilosophischer, sondern eben auf der Ebene der Reflexion über die Bedingungen der Bewahrung und Entwicklung der ethischen Souveränität des Staates. Die eigentliche Streitfrage ist, wie Selbstbestimmung und Lebensverbesserung der aktuell existierenden, politisch willensbildenden Gesellschaftsmitglieder sich zu den Legitimations- und damit Überlebensbedingungen eines republikanischen, also sich aus dem Regierungsauftrag der Regierten rechtfertigenden Staatswesens verhalten. Ist die Fähigkeit des Staates, Menschenrecht und Menschenwürde zu schützen, eine Funktion der Bedienung der Interessen seiner aktuell handlungsfähigen und willensbildenden Bürgerschaft, die im Grenzfall noch in der Definition des Würdebegriffs und seiner juristischen Konkretisierungsbedingungen zur Geltung kommen muû? Oder kommt dem Staat durch das Prinzip der Würde und Rechte des Menschen seinerseits Anspruch und Verantwortung für die Begrenzung jeglicher Definitionsmacht in bezug auf einen akzeptablen Begriff menschlicher, also menschenwürdiger Lebensverbesserung und Selbstbestimmung zu? Es geht also durchaus um ¹den Menschenª als Grund- und Grenzinstanz des politisch rele25 Vgl. ¹¸Für manche bin ich eine Art Frankenstein. EU-Forschungskommissar Philippe Busquin über Stammzellforschung, Konkurrenzkampf und Wissenschaftsethik in Europaª, in: Die Zeit Nr. 32/2003 (30. Juli 2003).

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vanten Interessenträgers. Es geht, wie Ernst Benda an einer Stelle mit Bezug auf die Streitfrage um den Rechtsstatus des Embryos formuliert hat, in allen grundlegenden bioethischen Angelegenheiten immer ¹um eine viel weiter reichende Frage: Nicht nur: was tun wir dem beginnenden Leben an, wenn wir es als bloûes Objekt zu achtenswerten oder auch zu problematischen Zwecken benutzen, sondern auch: was tun wir dem Menschen, also was tun wir uns an, wenn wir existierendes menschliches Leben, wie immer es in diesem ersten Stadium einzuschätzen sein mag, wie ein Objekt, wie einen Stoff, wie ein beliebiges Verbrauchsmaterial bewerten und verwerten? Ist eine Gesellschaft, die so handelt, noch eine menschenwürdige? Hier liegt die wesentliche Bedeutung des Menschenwürdeprinzips ± weniger in der umstrittenen Subjektposition des Embryos als vielmehr in dem eigenständigen objektiven Gehaltª26. Nicht nur für die Fragen des Lebensanfangs, sondern genauso wenn es um das Ende und um die Grenzzustände des menschlichen Lebens geht, steht letztlich diese Kernproblematik zur Debatte: Wie sind die Bedingungen der Erhaltung des staatlichen Normsetzungs- und -durchsetzungsauftrags innerhalb der diesen Staat bildenden Bürgerschaft mit den Prinzipien vereinbar, die überhaupt erst begründen, warum ein Staat, der sich auf die Akzeptanz in seiner Bürgerschaft gründet, den Vorzug vor anderen Herrschaftsformen verdient? Eine Verständigung im Streit um Norm- und Nutzenkultur wird in bestimmtem Maûe auf ein Geflecht von Kompromissen im Umgang mit dieser Kernfrage angewiesen sein. Die ethische Souveränität des Rechtsstaates wird damit einer Belastungsprobe ausgesetzt, die sie aushalten muû und die sie auch aushalten kann, wenn die eine entscheidende Verwechslung vermieden wird: Die Verwechslung zwischen dem Ringen um diese Kernfrage und ihrer Ausblendung. Sie ist gleichbedeutend mit der Verwechslung der Suche nach diesen Kompromissen auf der einen und der ihr im Kern entgegengesetzten Strategie des Hineinziehens des Menschenwürdeprinzips und damit des ethischen Souveränitätsanspruchs des Staates selbst in den relativistischen Konsensualismus auf der anderen Seite, die letztlich auf die Suspension des ethischen Gesichtspunktes und die Selbstverabsolutierung der Demokratie und der 26 Ernst Benda, ¹Das Verhältnis von Menschenwürde und Lebensrechtª, in: Eckart Klein/Christoph Menke (Hrsg.): Menschenrechte und Bioethik, Berlin 2004, 49±64, 54 f.

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zufällig existierenden Gegenwartsgesellschaft hinausläuft. Das Ringen um die Bioethik und der Streit zwischen den für sie relevanten Lagern ist ein Ringen um die ¹Einigkeit über das Unabstimmbareª, und wenn es eine rationale Verständigungsbasis in diesem Ringen geben soll, dann darf zumindest das Ziel der Suche selbst nicht zweifelhaft sein. Es kann eben nicht ¹in der Demokratie alles abstimmbarª sein, denn wäre es das, so könnte sie auch die Kriterien politisch festlegen, an denen sie sich ethisch zu legitimieren gedenkt; an der damit vollzogenen Suspension des ethischen Gesichtspunktes selbst änderte es dann gar nichts, wenn der so verabsolutierte politische Konsens einen Ausgleich zwischen allen nur möglichen faktisch vertretenen Positionen in der Gesellschaft bewirken sollte. Wenigstens an zwei konkreten Markierungen läût sich die Grenze zwischen dem Ringen um Kompromisse zwischen Normund Nutzenkultur und der konsensualistischen Relativierung der ethischen Souveränität ziehen. Die eine betrifft das Verhältnis von religiösem und rechtlichem Diskurs. Es wird ja im bioethischen Kontext zunehmend geläufig, im Vorfeld der legislativen Diskussion und Willensbildung religiösen und theologischen Paradigmen, natürlich in ihrer kulturellen Vielfalt und Relativität, zentrale Aufmerksamkeit zu widmen. Erinnert wird auf diese Weise an die Aufgabe, die sich der moderne Rechtsstaat in der historischen Kernsituation seiner Entstehung gestellt und die er durch die von ihm erbrachte Legitimationsleistung staatlicher Ordnung auch bewältigt hat, nämlich die Befriedung des Zusammenlebens von Menschen mit divergenten und konfligierenden religiösen Überzeugungen. Impliziert aber wird damit so etwas wie der Gedanke, man könne der Rechtsetzung und Rechtsprechung, die dieser Staat heute im Umgang mit den Grenzfragen des menschlichen Lebens zu leisten hat, aus diesem Rückgriff auf seine historische Entstehungssituation Orientierung geben. An diesem Gedanken ist in seinem Kern etwas richtig, aber um dies zu erkennen, darf eine Feststellung nicht auûer Betracht bleiben: Man muû scharf trennen zwischen der Befriedungsleistung als solcher, die das Ergebnis der Machtmonopolisierung des von Hobbes grundgelegten neuzeitlichen Staatsmodells gewesen ist, und der Legitimation, aus welcher diese Leistung sich theoretisch gerechtfertigt hat und bis heute ethisch begründen läût. Die religiösen Überzeugungen seiner Mitglieder werden von diesem Staat nicht

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dadurch auf einen Nenner gebracht, daû er sich aus ihrer konsensuellen Verschmelzung den Boden seiner Gesetzgebung bereiten läût, sondern ganz im Gegenteil dadurch, daû er sie aus den Bedingungen seiner legislativen Ordnung prinzipiell verbannt und in strikter Negativität heraushält. Wo er deshalb in seinen Verfassungstexten und in seiner Verfassungswirklichkeit eine Berufung auf die Menschenwürde vornimmt, dort gestattet er weder einer noch einem Konzert weltanschaulicher Partikulärauffassungen Gastrecht, sondern er bewegt sich auf seinem unüberbietbar heimatlichen Boden, dem Boden des staatsrechtlichen Legitimationsdiskurses. Die ¹Zuweisung der Menschenwürde an eine religiöse Sondersprache ohne philosophisches Konzept, die heute in der Bioethik immer mehr üblich wirdª27, bahnt daher gerade nicht den Weg zu einer vernünftigen Verständigung über Norm- und Nutzenkultur, sondern steht dieser, insoweit sie eben in der ethisch souveränen Verantwortung des Staates für die Bewahrung seiner legitimatorischen Grundlagen geschehen muû, durchaus entgegen. Denn dafür muû klar sein, daû die positive Basis, aus der dieser moderne Rechtsstaat sich legitimiert, nicht selbst auf der Ebene jener religiösen oder weltanschaulichen Überzeugungen stehen kann, aus deren legitimatorischer Liquidierung er sich gerade begreift. Seine Rechtfertigung ergibt sich aus der Würde und den Rechten des Menschen, nicht aus irgendwelchen Überzeugungen der gegenwärtig existierenden Bürgerschaft. Man kann sich, wenn man für Menschenwürde und Menschenrechte eintreten will, nicht darauf berufen, daû man nun einmal davon überzeugt sei, daû es sie gebe; denn Respekt vor einer Überzeugung fordern kann man nur selbst wieder unter der Voraussetzung, daû man Rechte und Würde hat. Wer anders herum denkt, benimmt sich wie jemand, der darum betet, daû es einen Gott geben möge, der sein Gebet erhört. Die zweite Grenzmarkierung muû noch einmal auf die grundlegende Einsicht zurückkommen, daû der ethische Gesichtspunkt ± anders als die verschiedenen streitenden ethischen ¹Standpunkteª ± nicht in erster Linie in moralphilosophischen Kategorien zu konkretisieren ist, sondern, da er ja in nichts anderem als dem Schutz ¹des Menschenª vor jeder, auch der theoretischen Infragestellung seines Menschseins besteht, einen anthropologischen Grundsinn 27

So Dietmar Mieth in seinem Beitrag in diesem Band (S. 78).

Normkultur versus Nutzenkultur

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hat, weshalb in der Tat ¹ein gut Teil der sogenannten bioethischen Fragestellungen in Wirklichkeit keine ethischen, sondern anthropologische (und oftmals ebenso ontologische) sindª28. Wenn das Prinzip der Menschenwürde in seinem Wesen ein Rechts- und damit ein Verbotsprinzip ist, wenn es sich als Instrumentalisierungsund letztlich als Definitionsverbot menschlichen Seins versteht, dann gehört der Streit darum, wann und wo genau menschliches Leben beginnt und endet, vom Staat eigentlich nicht geführt, geregelt oder geschlichtet, sondern ignoriert. Es ist zwar richtig, daû der Diskurs um die Menschenrechte vor seiner Überdehnung und Inflationierung geschützt werden muû, daû die Menschenwürde keine geistige ¹Keuleª sein darf, die man allzu schnell schwingt, um Positionen im ethischen Streit zu diskreditieren; aber wo es um die Grenzen des Menschseins geht, ist dergleichen Zurückhaltung nicht angebracht. Ein Staat kann sich nicht einerseits aus der Unantastbarkeit der Menschenwürde legitimieren, aber sich andererseits die klare und eindeutige Bestimmung der Grenzen dessen, was zum Menschsein gehört, aus der Hand nehmen lassen. Sonst vollziehen sich die Selektionen und Exklusionen, aus deren Verbot er sein ethisches Legitimationsprinzip allein konkretisieren kann, eben auf dem Feld der anthropologischen und letztlich ontologischen Grenzziehungen, das, recht verstanden, kein Vor-, sondern ein veritables Schlachtfeld der Ethik ist. Menschliches Leben ist ontologisch ± wie ja auch biologisch ± eindeutig vom Leben anderer Arten unterschieden, und ein ¹artneutralesª Leben, das gewissermaûen zwischen den biologischen Arten angesiedelt wäre, gibt es nicht. Eine menschliche Gewebeprobe etwa ist natürlich kein menschliches Wesen, aber sie stammt von einem, und ihr ¹Statusª, wie immer man ihn bestimmen mag, begründet keinen Einwand gegen die Forderung der Schutzwürdigkeit des Lebens aller menschlichen Wesen und damit gegen das Prinzip, daû die Grenze zwischen menschlichem und nichtmenschlichem Leben via Definitionsverbot eine eindeutige Legitimationsquelle staatlicher Normsetzung bildet. Die Verwischung dieser Grenze ist nur eine weitere und wohl die aktuellste Weise, dem Rechtsstaat die Suspension des ethischen Gesichtspunktes nahezulegen, der seine raison d'†tre ausmacht.

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Vittorio Possenti in seinem Beitrag in diesem Band (S. 474).

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Verständigung und mögliche Konvergenz im Ringen um Norm- und Nutzenkultur, das in thematisch sehr unterschiedlichen Manifestationen in den Beiträgen des hier vorliegenden Bandes ein Stück weit nachvollziehbar ist, werden, so soll die seinen Ausgangspunkt markierende These lauten, wesentlich von der Bewahrung des dem Anliegen beider ¹Kulturenª letztendlich Richtung gebenden gemeinsamen ethischen Gesichtspunktes gegenüber der Vielfalt und unaufhebbaren Differenz der ihm entwachsenden Standpunkte abhängen. Nur unter dieser Voraussetzung kann auch der Streit um die Bioethik das sein, was der politische Streit für die Demokratie wesentlich ist, nämlich die ihr eigene Quelle der ethischen Erkenntnisfindung.

Thomas Sören Hoffmann (Bonn/Bochum)

Kultur ± Ethik ± Recht. Eine Skizze im Blick auf den globalen Antagonismus von Norm- und Nutzenkultur Begegnung, Austausch oder auch Konfrontation von ¹Kulturenª sind Themen, die aus offen zu Tage liegenden Gründen auf den verschiedensten, insbesondere auch den politischen Tagesordnungen unserer Zeit stehen. Im Zentrum des öffentlichen Interesses steht dabei die Bewältigung jener Dissenspotentiale, die in der Differenz oder auch Divergenz aufeinander treffender ¹Kulturenª faktisch liegen oder doch liegen können und die insoweit unmittelbar den Befriedungsauftrag von Politik und Recht betreffen. Entsprechend verstehen sich Recht und Politik in internationalem Maûstab heute verstärkt ± zumindest dem öffentlich vorgetragenen Anspruch nach ± als mit der Etablierung nicht nur einer Koexistenzordnung der Kulturen, sondern auch mit der Orientierung an einer von vornherein kulturübergreifenden Ordnung betraut, wie sie in mancherlei Form auch schon tatsächlich Gestalt angenommen hat: teilweise freilich dies auch in Formen, die sich mehr als nur anschicken, die lange unangefochten geltenden Maûstäbe des europäischen Völkerrechts (etwa in bezug auf eine nicht konditionierte einzelstaatliche Souveränität) in Frage zu stellen oder zu unterlaufen. Wir werden im dritten Teil des vorliegenden Beitrags auch auf Probleme zu sprechen kommen, die sich mit einem Ordnungsanspruch stellen, der sich vom klassischen Völkerrecht, damit jedoch auch von der Idee einer gerade konstitutiv auf kulturelle Besonderheit bezogenen Rechtswirklichkeit abgelöst hat. Das Hauptproblem kann hier darin gesehen werden, daû sich das Recht auf dem Wege seiner Internationalisierung (und damit eben seiner Ablösung von den kulturellen Prägnanzräumen1, denen es als konkrete Gestaltung des objektiven Geistes ursprünglich angehört)

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Thomas Sören Hoffmann

eine Art von kulturtranszendenter Geltung zu geben versucht, die in dieser Form nur einer universellen Moral eignen könnte und dem spezifisch juridischen Konkretheitsgebot am Ende sogar direkt widerstreitet. Die Sache wird indes erneut komplizierter, wenn man in Rechnung stellt, daû ein ethischer Universalismus heute seinerseits keineswegs zu den Positionen zählt, die ohne weiteres Gemeingut wären; im Gegenteil läût sich, geradezu im Kontrapunkt zu einer progressiven Universalisierung des Rechts, eine verbreitete Tendenz auf Regionalisierung und Partikularisierung der Moral konstatieren. Wir werden entsprechend für unsere Zwecke insbesondere auch dies zu prüfen haben, auf welche Weise ein universalistischer Anspruch der Ethik in Zeiten eines neu erblühenden ¹Kulturalismusª gleichwohl sinnvoll vertreten und begründet werden kann: was wir vor allem mit einem Blick auf Kant tun werden, der, wie sich zeigen soll, für unsere Fragestellung insgesamt eine zentralere Bedeutung besitzt, als es den Anschein haben könnte. An erster Stelle ist freilich auf die Problematik des Kulturbegriffs als solchen einzugehen, der trotz einer inzwischen nicht mehr in den Kinderschuhen steckenden Reflexion auf ihn bei näherem Zusehen eine ganze Reihe von Tücken oder doch Unklarheiten enthält. Von den hier zu erzielenden Klarstellungen her sollen sich dann jene Aspekte ergeben, die es gestatten, die immer ebenso globale wie regionale Kontroverse zwischen Norm und Nutzen ebenfalls als einen ¹Kulturengegensatzª aufzuschlüsseln. Die dabei leitende Überlegung ist, daû der heute in der Bioethik allenthalben virulent gewordene Gegensatz von Utilitarismus und Deontologie2 zuletzt nicht einfach nur einen abstrakten ¹Prinzi1 Unter einem ¹Prägnanzraumª sei hier die (sprachlich, historisch, kulturell vermittelte) Sphäre verstanden, in der die tragenden Begriffe und Leitvorstellungen einer Rechtsordnung tatsächlich akzeptiert und geteilt sind und deshalb auch alleine verbindlich artikuliert und fortgeschrieben werden können. Die Forderung z. B. nach der Muttersprachlichkeit geltenden Rechts ist die Forderung, Recht an den möglichst entfremdungsfrei zugänglichen Prägnanzraum zu binden. 2 Der Gegensatz von Norm- und Nutzenkultur wird in verschiedenen Beiträgen des vorliegenden Bandes in konkreten Anwendungen erläutert. Cf. für diesen Gegensatz in kulturtheoretischer und zugleich normativer Betrachtung auûerdem Walter Schweidler, ¹Between Norms and Utility. On Cultural Differences against the Background of Human Rightsª, in: FS Hartmut Wasser (im Erscheinen); in diesem Beitrag finden sich auch Hinweise auf den Gegensatz von angelsächsischem ¹case lawª und kontinentalem normativem Recht als möglicherweise besonders wichtigen kulturelllebensweltlichen Hintergründen der Differenz.

Kultur ± Ethik ± Recht

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piengegensatzª artikuliert, wie er in akademischen Diskussionen durchzufechten wäre, sondern seine elementare Relevanz einer effektiven Verwurzelung in konkreten Lebenswelten und deren jeweiligen kulturellen Resonanzräumen verdankt, die tatsächlich tiefer in die nicht unbedingt reflexiv eingeholten Selbstverständlichkeiten von Lebenspraxen hineinreichen als gemeinhin vermutet. Bioethik, die seit einiger Zeit nicht ohne Grund verstärkt ihre eigene Kulturalität reflektiert und dabei auch ihre ¹interkulturelleª Dimension entdeckt hat3, könnte an Hand der leitenden Kontroversen in ihr insofern auf in einer Logik der Kulturalität darzustellende Differenzen führen, die einerseits ¹unterhalbª der klassischen konkreten Kulturgrenzen einer Sprachgemeinschaft oder Nation liegen, andererseits aber ebenso ¹transkulturelleª Bedeutung besitzen. Das Ziel der vorliegenden Untersuchung ist es insofern, das so oder anders stets schon auf bestimmte Weise gelebte ¹Bio-Ethosª zumindest in einem ersten Anlauf zum Thema der Bioethik oder, wohl noch bedeutsamer, der ¹Biojuridikª4 zu machen. Die angestellten Überlegungen werden am Ende des Beitrags in Thesenform nochmals zusammengefaût.

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Statt vieler anderer Beispiele seien hier nur exemplarisch genannt: Schicktanz, Silke/Tannert, Christof/Wiedemann, Peter M. (edd.), Kulturelle Aspekte der Biomedizin. Bioethik, Religionen und Alltagsperspektiven, Frankfurt am Main/New York 2003; Heiner Roetz, ¹Muû der kulturelle Pluralismus einen substantiellen ethischen Konsens verhindern? Zur Bioethik im Zeitalter der Globalisierungª, in: Eva Baumann/Alexander Brink/Arnd May/Peter Schröder/Corinna Schutzeichel (edd.), Weltanschauliche Offenheit in der Bioethik, Berlin 2004, 213±231; Nationaler Ethikrat, Wortprotokoll: Niederschrift über die Jahrestagung zum Thema ¸Der Umgang mit vorgeburtlichem Leben in anderen Kulturen, Berlin 2003; Heiner Roetz (ed.), Cross Cultural Issues in Bioethics: The Example of Human Cloning, Amsterdam 2006; Thomas Eich/Thomas Sören Hoffmann (edd.), Kulturübergreifende Bioethik. Zwischen globaler Herausforderung und regionaler Perspektive, Freiburg 2006. 4 Der Begriff des ¹Biorechtsª ist im deutschen Sprachraum noch nicht in demselben Maûe verbreitet wie es andernorts Begriffe wie ¹biolawª oder ¹biogiuridicaª bereits sind (cf. etwa Deryck Beyleveld/R. Brownsword, Human Dignity in Bioethics and Biolaw, Oxford 2001; Laura Palazzani, Introduzione alla biogiuridica, Turin 2002). Dennoch bezeichnet er die am Ende wohl wichtigste Problemdimension der aktuell aus Biomedizin und Gentechnologie resultierenden Fragen: die Dimension der tatsächlich ins Leben eingreifenden Ausgestaltung einer öffentlichen Ordnung widerstreitender Lebensansprüche gegeneinander.

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Thomas Sören Hoffmann

1. Kultur Der Begriff der Kultur erlebt heute zweifellos eine Gebrauchsinflation, welche diejenige aus der hohen Zeit der Kulturfrömmigkeit zu Beginn des 20. Jahrhunderts in vieler Hinsicht noch einmal übertrifft. Da ist kaum eine wie auch immer umgrenzte soziale Gegebenheit, die nicht ohne viel Federlesens zu einer ¹Kulturª befördert werden könnte: was inzwischen an Wortschöpfungen von den fast schon ¹klassischª zu nennenden Begriffen einer (gegenständlichen) ¹Industrie-ª oder (praktizierten) ¹Unternehmenskulturª über Kreationen wie ¹Medien-ª und ¹Internet-Kulturª bis hin gar zu einer ¹links-ª oder ¹rechtsradikalen Kulturª im Schwange ist, erreicht nicht nur immer häufiger die Grenzen des mit Sinn und gutem Geschmack noch Vereinbaren, sondern belegt vor allem eine weitgehende Arbitrarisierung eines ursprünglich bekanntlich streng normativen Konzepts ± denn nichts anderes ist ¹culturaª einmal gewesen. Es wäre eine eigene Untersuchung wert, näher zu belegen, inwiefern der neuere, weitgehend formalisierte und schon von daher unmittelbar normativer Konnotationen weitgehend entkleidete Kulturbegriff nicht mehr wie weiland der Philosophie oder allenfalls der Pädagogik, sondern inzwischen primär dem Geiste der Soziologie oder, genauer noch, dem der systemtheoretisch verfaûten Soziologie entstammt5. ¹Kulturª fungiert dann, mehr oder weniger scharf bestimmt, als Spezifikationsbegriff in Beziehung auf ¹Gesellschaftª, die ihrerseits als Universalmatrix menschlicher Beziehung und Interaktion angesetzt ist. In dieser Hinsicht und Eigenschaft vermag der Begriff der ¹Kulturª prinzipiell jeweils alle faktisch isolierbaren sozialen Systeme, d.h. im Prinzip beliebige Assoziationen mit eben nur signifikanter überindividueller Binde- oder Prägekraft zu bezeichnen, jedenfalls insoweit diese Gebilde eigene Mechanismen anonymen Geltens oder kollektiver Motivation entwickeln. Ein Konflikt von ¹Kulturenª ist in dieser Perspektive dann etwa ein Vermittlungsproblem zwischen Strukturgesetzlichkeiten von Motivations- und Handlungshorizonten, in denen die einzelnen Subjekte jeweils schon stehen und die bei Wahrung ihrer Strukturidentität füreinander nur be5 Von biologischen Konnotationen hier zu schweigen, die man in kulturwissenschaftlichen Studien mitunter ebenfalls antreffen kann: ¹Kulturª verweist dann eher auf Bakterien denn auf Freiheitswesen als ihre individuellen Träger.

Kultur ± Ethik ± Recht

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dingt integrationsfähig sind. Auch von dem leitenden Begriffspaar dieses Bandes, von ¹Norm- und Nutzenkulturª, ist in der Folge in dem Sinne die Rede, daû damit nicht primär auf Einzelüberzeugungen individueller Subjekte oder auch auf Theoriezusammenhänge als solche, sondern auf lebensweltliche Kontexte gezielt ist, deren jeweilige Grundstruktur norm- oder nutzentheoretisch ausgelegt ist, so daû die Kommunikation noch über praktische Grundbegriffe zwischen beiden nicht ohne Ambivalenzen vonstatten gehen wird. Man kann sich leicht darüber orientieren, was hier gemeint ist: denn so, wie die Lebenswelt des Unternehmens, der Werkstatt, des Ingenieurs oder auch des Strategen eine wesentlich in hypothetischen Nutzenkalkülen fundierte ist, so ist die Lebenswelt des Künstlers als Künstlers, des Religiösen als eines Glaubenden, des um theoretische Erkenntnis Ringenden als des kompromiûlosen Forschers jeweils eine zentral nach kategorischen Normaspekten gebaute. Das heiût nicht, daû nicht auch der Gläubige oder der auf strenge Erkenntnis gerichtete Wissenschaftler sei es in anderen Hinsichten, sei es im Rahmen der jeweils geltenden normativen Grundorientierung sich auf Zweck-Mittel-Rationalitäten verstünden. Aber es heiût, daû sie diese teleologischen Rationalitäten strikt auf den für sie normativen Gehalt als Selbstzweck hin ordnen, sie von diesem her näher begründen und in ihrer Reichweite auch beschränken. Es bietet sich an, hier bis auf die aristotelische Unterscheidung von Poiesis (Herstellungshandeln) und Praxis (eigentliches freies Handeln) zurückzugehen, um die Verfaûtheit beider lebensweltlichen Ordnungen näher ins Auge zu fassen: während auf der einen Seite der Architekt steht, der die wahrhaft zweckmäûige Ordnung des Hauses und seiner Errichtung kennt, steht auf der anderen der Hausherr, der um die sittlichen Zwecke des Wohnens und des Lebens weiû und im letzten von diesen Zwecken her entscheidet, welches Wissen des Architekten er tatsächlich in Anspruch nimmt. Es wird von daher auch deutlich, daû wohl in allen Lebensbereichen Nutzen- und Normkulturen auszumachen und einander vielfach auch bereits zugeordnet sind. Was in der Bioethik heute vielfach thematisch und strittig ist, sind dann die Grenzverläufe zwischen den beiden Sphären, ist vor allem die Tendenz, Lebendiges überhaupt und darunter auch das Lebewesen Mensch unter den Gesichtspunkt der Utilität, also den einer je beschränkten Lebensperspektive und der Poiesis, zu bringen. Der entscheidende Einspruch von Seiten der Normkultur wird hier

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Thomas Sören Hoffmann

nicht zuletzt lauten, daû so, wie schon die innere oder auch ¹ontologischeª Reflexivität des Lebens, seine Selbsthaftigkeit, eine unbesehene Verdinglichung ausschlieûen muû, so um so mehr das lebendige Substrat des Freiheitswesens, sein Leib als Bedingung der Möglichkeit seines freien Seins, prinzipiell eine ethisch relevante Schranke der Vernutzung darstellt und nur um den Preis der Antastung einer durch Freiheit bestimmten Anerkennungsordnung übergangen und von äuûerem Nutzen her bestimmt werden kann. Aber kehren wir nochmals zum gängigen Sinn und Gebrauch des Begriffes ¹Kulturª zurück, der sich, wie erwähnt, gerade in seiner nicht-normativen Bestimmung deutlich von seinen Anfängen in der Begriffsgeschichte absetzt. Denn sowohl die ¹cultura animiª, wie sie am Anfang aller Karrieren dieses Begriffs bei Cicero in den Tuskulanen erscheint6, als auch jene überindividuell greifbare ¹culturaª als Gegenbegriff zu ¹naturaª und einem ¹status naturalisª, wie sie in der frühneuzeitlichen Naturrechtslehre seit Pufendorf auftritt7, ist, wie erwähnt, jeweils als normative Gröûe und Zielbestimmung einer sei es den einzelnen betreffenden, sei es kollektiven Entwicklung eingeführt8. ¹Kulturª ist Zielbestimmung der Menschennatur und dieser deshalb nicht äuûerlich, deshalb aber auch verbindliche Orientierung. Es sind dann Denker wie Vico und Herder gewesen, welche kulturelle Normativität zuerst als (nur) intrinsische Eigenschaft eines ¹Kultursystemsª reflektiert haben: als eine Eigenschaft mithin, mit der nicht notwendig normative Ansprüche im Blick auf andere Kulturen oder überhaupt den Beobachter einhergehen ± das Heroenzeitalter, das Vico schildert, dient uns gewiû nicht zur Nachahmung, sondern viel eher im Kontrast zur Erkenntnis des Eigenen, der egalitären, unheroischen Spätzeit. Bei Vico und Herder geht dies konsequent mit einer ausdrücklichen Pluralisierung (wie auch Historisierung) des bis dahin strikt singulär aufgefaûten Kulturzustandes einher, womit im An6

Cicero, Tusculanae disputationes II, 5. Samuel Pufendorf, Eris scandica, qua adversus libros de jure naturali et gentium obiecta diluuntur, Frankfurt/Main 1689, 219. 8 Nähere Belege im Artikel ¸Kultur, Kulturphilosophie von Wilhelm Perpeet in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 4, 1309±1324. Cf. zur grundlegenden Orientierung auûerdem Hubertus Busche, ¹Was ist Kultur? Erster Teil: Die vier historischen Grundbedeutungenª, in: Dialektik (2000), 69±90. Zum Kulturbegriff insgesamt auch Thomas Sören Hoffmann, ¹¸Kultur zwischen Autochthonie und Weltbezug. Zur Dialektizität des Kulturbegriffs im Blick auf eine kulturübergreifende Bioethikª, in: Hoffmann/Eich (edd.), Kulturübergreifende Bioethik, 11±30. 7

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satz Mittel dafür bereitgestellt sind, unter dem Titel von ¹Kulturenª ein ganzes Panorama von konkreten Gestaltungen des ¹mondo civileª, des objektiven Geistes zu entfalten und, wie es die Kulturwissenschaften dann im einzelnen auch zu tun versuchen werden, verstehend einzuholen. Daû ¹Kulturenª, und zwar durchaus auch in ihrer Pluralität, überhaupt verstehbar sind, ist dabei weder bei Vico noch auch bei Herder oder Hegel zweifelhaft; sie sind, wie Vico unterstreicht, überhaupt Produkte des einen menschlichen Geistes, der sich in ihnen nur selbst erkennt und insofern an sich immer schon über die Besonderheit einer bestimmten Kultur hinaus ist9. Das Problem ist mithin nicht das Daû, sondern das Wie der ¹Kulturerkenntnisª: eine Frage, die inzwischen durch eingespielte kulturhermeneutische Techniken ebenfalls weitgehend beantwortet zu sein scheint ± durch Techniken beispielsweise, das als Ganzes immer ¹unsichtbareª System einer Kultur über ¹repräsentativeª Symbole zu identifizieren und zu individualisieren; wir nehmen in diesem Sinne ohne weitere Umstände noch das geringfügigste Marmorfragment als Repräsentanten einer ¹Kultur des Hellenismusª, ein Distichon als ¹Ausdruckª der deutschen Klassik, aber auch ein Kleidungsstück ± sagen wir ein Kopftuch ± als symbolische Vergegenwärtigung eines kulturellen, überindividuell verpflichtenden Gesamtkontextes wahr, der gerade als Gestalt des objektiven Geistes, d.h. als eine primär nicht von den einzelnen zu verantwortende Anerkennungsordnung hier eine Präsenz eigener Art anmeldet. ¹Kulturenª als solche haben sogar, wie wir hier vorläufig festhalten, grundsätzlich nur diese symbolische oder, wie man genauer sagen kann: synekdochische positive Präsenz, eine Gegenwart immer nur in der Logik des ¹pars pro totoª; sie sind greifbar stets nur in Zeichen, in denen sie selbst abwesend und anwesend zugleich sind, wobei diese Zeichen nicht etwa subjektiv induziert und insofern beliebig sind, sondern ihre elementare symbolische Relationalität und also ihre Bedeutung aus einem überindividuellen Gelten und einer ¹Verbindlichkeit ohne Urheberª empfangen. Die Frage kann dann nur sein, was jeweils die Zeichen sind, die als in hinreichendem Maûe repräsentativ für eine 9 In diesem Sinne denkt Vico dann beispielsweise das Naturrecht: als Ausdruck der ¹gemeinschaftlichen Natur der Völkerª oder auch eines ¹Gemeinsinnsª (senso comune), die sich immer wieder und ohne äuûere Abhängigkeit der einen von der anderen Gestalt Geltung verschafft.

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Kultur gelten können. Gibt es gar so etwas wie schlechthin paradigmatische Zeichen für eine Kultur? Und auf welchem Gebiet sollte man am ehesten nach den entsprechenden kulturellen Identifikatoren (wie wir hier sagen wollen) suchen? Diese Frage nach den Identifikatoren einer ¹Kulturª hat im Laufe der kulturtheoretischen Bemühungen sehr unterschiedliche Antworten gefunden, die hier auch nur in groben Zügen rekapituliert werden können. Mit Herder und seiner Heraushebung der Nationalliteraturen beispielsweise hat sich eine ¾sthetisierung des Kulturbegriffs dergestalt angebahnt, daû man unter ¹Kulturª (man denke an Jacob Burckhardt) zuletzt primär einen bestimmten Kunstkreis verstand und als sie erschlieûende Zeichen auch zuerst an Kunstwerke dachte ± eine Tradition, die für das Selbstverständnis und die Bestimmung der kunstgeschichtlichen Fächer in der ¹universitas litterarumª noch immer eine unverzichtbare Kernbedeutung hat. Humboldt dagegen hat, wie man weiû, einer Kulturwissenschaft auf dem Boden der Nationalsprache vorgearbeitet; andere wieder, etwa Vertreter der Kulturanthropologie wie Malinowski, haben Institutionentheorie betrieben ± von eher experimentellen Ansätzen in neueren Zeiten zu schweigen. Im Streit um den geeigneten ¹Schlüsselª könnte es sich freilich lohnen, nicht so sehr nach den Jüngsten zu schauen, als vielmehr auf Vico, den Ahnherrn der Frage selbst, zurückzukommen. Vico hat die noch immer faszinierende These vertreten, daû es primär die Rechtszeichen sind, über die sich ein ¹kulturellerª Zusammenhang erschlieût, weil sich primär in ihrem Recht (verstanden nicht notwendig nur als das geschriebene Recht, das ¹law in booksª, sondern als die gesamte Verfassungswirklichkeit einer Sozietät) eine Kultur erst selbst reflektiert ± zwar nicht in dem bestimmten Sinne, daû sie im Recht unmittelbar eine explizite Theorie ihrer selbst besäûe, wohl aber in dem anderen, daû in der Rechts- oder Verfassungswirklichkeit als der plastisch ausgestalteten objektiven Anerkennungsordnung einer Zeit und Sphäre die realen Bindekräfte der Epoche oder Kultur sich am ehesten objektivieren, fokussieren und ein, wenn auch indirektes, Selbstbewuûtsein geben10. Der Ansatz Vicos, der in der Folge ± ohne Kenntnis der Vorläuferschaft ± von Hegel und auch in der Hegelschule erfolgreich fortgeschrieben wurde, bietet auch in der aktuellen Situation einige 10

Cf. dazu besonders das IV. Buch der Scienza Nuova.

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Vorzüge, so etwa erstens schon den, es zu gestatten, als ¹Kulturenª immer schon nach allgemeinen normativen Gesichtspunkten qualifizierte soziale Systeme anzusprechen und so anstelle beliebiger Subsysteme der Gesellschaft vielmehr Räume öffentlicher Verbindlichkeiten anzusetzen, das heiût aber: Räume im Sinne objektiver Anerkennungsordnungen, in denen bestimmte, prinzipiell an die praktische Vernunft verweisende Qualifikationen zwischenmenschlicher Beziehungen öffentlich und effizient in Geltung stehen. Ohne hier auf die nähere Ableitung dieser konkreten Bestimmung einzugehen, kann man, was Recht überhaupt meint, in die folgende Formel fassen: wirkliches Recht ist stets eine auf äuûere Handlungen gehende öffentliche Bestimmtheitsordnung, durch welche diese Handlungen im Rahmen eines bestimmten Gemeinwesens als existierenden Rechtszustands und im Blick auf die Rechtsidee effektiv (zwangsbewehrt) als ¹rechtª oder ¹unrechtª definiert werden. Man sollte diese Formel freilich weit genug fassen, um verschiedenste Rechtszuständlichkeiten (mit Einschluû von vorstaatlichen) unter sie fassen zu können. Aber es ist klar, daû wir auf diese Weise nicht beliebige Personenverbände, sondern nur auf bestimmt-bestimmende Weise selbstbezüglich strukturierte Gemeinschaftsformen und also geistig qualifizierte Gröûen im Blick haben. Ein zweiter Vorzug dieses Ansatzes besteht dann schon auf Grund seiner Beziehung auf die praktische Vernunft in der Tatsache, daû er die bekannten Probleme eines rein theoretisch-deskriptivistischen Kulturbegriffs vermeidet: alle Probleme also, die dann entstehen, wenn wir das Gesamtbild einer Kultur eben nur aus der Auûenperspektive zu gewinnen versuchen ± aus einer theoretischen Distanz heraus, die uns am Ende in das ¹Ethnologenparadoxª stürzen kann. Mit diesem Paradox ist die spezifische Schwierigkeit aller deskriptiven Annäherung von auûen an lebendige Motivationskontexte gemeint: das Dilemma also, daû wir, weil wir eine Kultur nur erst dann wirklich verstehen, wenn wir vollständig in ihrem Horizont denken, sie auch erst in dem Moment recht verstanden haben, in dem uns alle Intention, sie zu beschreiben, schon unverständlich geworden ist. Der Ethnologe, der die Kultur eines Amazonasstammes ¹vollständigª versteht, versteht die Frage nach einem solchen Verständnis und also die Ethnologie (die selbst Teil einer fremden kulturellen Prämisse ist) eo ipso nicht mehr. Bei der Konzentration auf Kulturen als Rechtsräume in dem hier vorausgesetzten weiteren Sinne entsteht dieses Paradox dann jedoch

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deshalb nicht, weil mit dem Rechtsbegriff auf ein praktisches Universale gezielt ist, welches der reflexiven Verständigung praktischer Vernunft über die zu haben notwendigen zwischenmenschlichen Beziehungen angehört. Das Recht beantwortet diese Frage in seiner Verwirklichung oder Positivierung dann zwar im Sinne einer symbolisch objektivierten Anerkennungsordnung, deren Etablierung aber überhaupt einerseits als ein in aller menschlichen Verständigung liegendes Vernunftgebot vorausgesetzt werden kann (es gibt keinen Menschen, den ich nicht, wie fremd er mir auch sei, nur unter der Prämisse, ihm sein Recht zu lassen, ansprechen kann), deren Etablierung aber andererseits von vornherein als Etablierung einer Koexistenzordnung gegeneinander freier Freiheiten gedacht werden muû (es gibt keinen Menschen, wie fremd er mir sei, mit dem ich mich nicht prinzipiell über den konkreten Verlauf der Rechtsgrenze ins Benehmen setzen könnte). Oder anders und allgemein: die Perspektive des Rechts als Identifikator von Kultur bezieht sich stets auf einen reflexiv im Prinzip schon erschlossenen Raum, der nur zugleich in seiner konkreten Gestalt mannigfacher empirischer Variation und objektiver Gestaltung fähig ist. Das hier nur in Kürze skizzierte Problem hat selbstverständlich damit zu tun, daû Kulturen an erster Stelle immer Räume elementarer Lebenspraxen und keine ¹Theoriekomplexeª sind; überhaupt darf die objektive, speziell die objektivierte Gestalt einer Kultur nicht mit ihrem praktischen, freiheitlichen Zentrum verwechselt werden. Die Problematik, die Sekundärmotivationen aus Bildern von einer Kultur, die dann erst realisiert werden sollen, mit sich bringen, ist aus ¹fundamentalistischerª Beschwörung kultureller Identitäten, bekannt; in diesem Fall soll die bereits brüchig werdende oder doch als möglicherweise brüchig empfundene kulturelle Praxis von dem Bild oder der objektiven ¹Normalgestaltª einer Kultur her am Leben erhalten werden statt selber einer entsprechenden Bildung zum Bilde Leben einhauchen zu können. Das Gesagte verweist schlieûlich wenigstens indirekt noch auf einen dritten Vorzug des Versuchs, in Rechts- oder Verfassungswirklichkeiten den entscheidenden Schlüssel in der Betrachtung von ¹Kulturenª zu finden: auf den Vorzug nämlich, daû sich vom Rechtsgedanken als einem praktischen Universale her durchaus auch Optionen für die Sphäre kultureller Begegnung ergeben, und zwar gerade auch dann, wenn auf eine vorgreifende, die Kulturen überspannende moralische Homogeneisierung bewuût verzichtet,

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dagegen kulturelle Vielfalt bejaht, anerkannt und auch nicht etwa nur auf folkloristisches Beiwerk reduziert wird. Denn im Rechtsgedanken als solchem enthält kulturelle Wirklichkeit schon implizit eine wie auch immer geartete Gerechtigkeitsvorstellung und zugleich den Impuls auf die Etablierung einer objektiven Anerkennungsordnung, mit welcher sie zugleich die Art und Weise ihrer Beziehung auf das Fremde ausspricht. Anders: im Rechtsbegriff als einem Konzept gelebter Differenzbewältigung ist in gewisser Weise auch das Problem der Interkulturalität immer schon gestellt und damit auch der Anknüpfungspunkt der ¹transkulturellenª Orientierung gegeben. Dieser Aspekt läût sich auch auf den Widerstreit von Normkultur und Nutzenkultur anwenden, die sich womöglich gerade auch mit den durch sie erzeugten Friktionen auf verschiedene Rechtsbegriffe beziehen lassen, so daû den widerstreitenden ¹Kulturenª je spezifische Systeme, wenn nicht Logiken des Rechtsdenkens (d.h. wiederum: des tragenden Gerechtigkeitskonzepts wie auch der Anerkennungsordnung, in welcher dieses jeweils zur Umsetzung kommt) zugeordnet werden müssen. Eine zentrale Instanz dürfte hier bereits die in der europäischen Tradition feststellbare Konkurrenz zweier Freiheitsbegriffe sein, von denen auf ganz fundamentaler Ebene der eine, grob gesprochen, Freiheit selbst als Funktion eines Rechts, das sie dann erst gewährt, ansetzt, während der andere das Recht selbst als Funktion der Freiheit und ihrer Selbsterhaltung versteht11. Beiden Freiheitsbegriffen entsprechen grundsätzlich andere Auffassungen etwa vom Staat oder einer Verfassungsordnung, ebenso aber auch andere Auffassungen etwa von Sinn und der Reichweite des Begriffs ¹Menschenwürdeª, der das eine Mal eher im Aspekt der Verleihung, das andere Mal dagegen als allem Recht schon vorausliegende und durch das Recht nur anerkannte normative Wirklichkeit angesehen wird. Es gibt dann entsprechend in dem einen Fall ein jedenfalls prinzipiell abwägbares ¹Recht auf Menschenwürdeª, in dem anderen aber nur dann Recht, wenn die mit dem Begriff Menschenwürde gezogene Definitionsgrenze selbst das innere Regulativ der Ausgestaltung der Rechtsordnung ist. Wir unterscheiden hier in diesem Sinne grundsätzlich einen instrumentellen von ei11 Cf. zu dieser Unterscheidung Thomas Sören Hoffmann, ¹Über Freiheit als Ursprung des Rechts. Achtzehn Thesen zur Rechtsbegründung mit Blick auf die Grundrechte-Charta der Europäischen Unionª, in: Zeitschrift für Rechtsphilosophie 1 (2003), 16±26.

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nem sinnautonomen Rechtsbegriff und verstehen die Konkurrenz zwischen Nutzenkultur und Normkultur von einer Zuordnung zu diesen basalen Rechtsauffassungen wie der sich aus ihnen ergebenden jeweiligen lebensweltlichen Strukturgesetzlichkeit her.

2. Ethik Bioethische Fragen stoûen in aller Regel schon deshalb auf ein nicht-marginales, allgemeines Interesse, weil sie in der Tat den Menschen (und jeden Menschen) als solchen, ihn als ¹Lebewesenª mit ethischem Anspruch betreffen. Dies gilt auch für eine internationale Öffentlichkeit, eben weil die Fragen der Bioethik Themen berühren, die den Menschen unabhängig von allen kulturellen Differenzen gelebten Lebens betreffen: Aspekte, die allesamt auf das schlichte physische Substrat und das leibliche Daseinkönnen in Raum und Zeit gehen und nicht schon auf komplexere Maûstäbe rekurrieren. Mit der Frage nach einer diese Dimension ausdrücklich in den Blick nehmenden Bioethik wird dann freilich auf Verbindlichkeiten gezielt, die die konkrete intrinsische Normativität bestimmter Kulturräume explizit auf eine ebenso innere wie äuûere Normativität hin transzendieren. Damit wird der Sache nach an eine Frage angeknüpft, die gerade für die neuzeitliche Ethik konstitutiv geworden ist ± die Frage nämlich, ob es jenseits eines unmittelbaren sozialen, religiösen oder auf andere Weise eingespielten Ethos Ethik als Wissenschaft, d.h. als aus wirklich allgemeinen Prinzipien gewonnene Doktrin, überhaupt geben kann. Die Frage ist in dieser Form nicht zuletzt von Descartes gestellt und in der Hauptsache dann verneint worden; sie wurde von Spinoza, aber auch von Leibniz aufgegriffen und erneut bejaht ± freilich um den Preis, daû es Ethik jetzt nur untrennbar von einer bestimmten theoretischen Philosophie gab; sie wurde schlieûlich von Kant noch einmal bearbeitet und fand erst hier zu einer Antwort, in welcher Ethik als eine reine Vernunftwissenschaft auftreten konnte, die nicht zugleich auf bestimmte theoretische Vorannahmen inhaltlicher Art verwies. Da der Kantische Ansatz heute noch immer (oder heute vielleicht wieder mehr denn je) orientierende Kraft besitzt, wollen wir trotz der Risiken, die das Betreten eines so gut bestellten Feldes wie desjenigen der Kantischen Philosophie

Kultur ± Ethik ± Recht

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sie impliziert, auf Kant ein für die weitere Argumentation entscheidendes Augenmerk lenken. Der Ausgangspunkt einer kritisch-rationalen Ethik kann nach Kant zunächst niemals in Sollensanmutungen als solchen liegen, wie wir sie in den wenn auch immer faktisch in Geltungen stehenden politischen, kulturellen oder auch religiösen Traditionen und den in ihnen inkludierten Imperativen vorfinden. Man darf grundsätzlich daran erinnern, daû nach Kant im Zeitalter der Kritik sich weder ¹Religion, durch ihre Heiligkeitª, noch ¹Gesetzgebung, durch ihre Majestätª der Vernunftprüfung entziehen können, auch wenn sie dies, wie Kant sagt, ¹gemeiniglich wollenª: ¹Aber alsdenn erregen sie gerechten Verdacht wider sich, und können auf unverstellte Achtung nicht Anspruch machen, die die Vernunft nur demjenigen bewilligt, was ihre freie und öffentliche Prüfung hat aushalten könnenª12. Ethik als Wissenschaft gibt es vielmehr gerade nur unter der Bedingung der Zurückweisung aller nur unmittelbaren (theoretischen wie vor allem auch praktischen) Geltungsansprüche (die vielmehr alle prinzipiell zu bezweifeln sind) und der anschlieûenden Eröffnung eines Verfahrens der freien, unvoreingenommenen und öffentlichen Prüfung dieser Ansprüche auf die Möglichkeit ihrer Rechtfertigung hin. Ethik als Wissenschaft setzt auf diese Weise bei der Überwindung unserer unmittelbaren perspektivischen Beschränkung an. Aber sie tut dies als kritische Ethik nicht, indem sie selbst behauptet, von vornherein die allen anderen materialiter schon überlegene Perspektive einzunehmen. Was aber tut sie statt dessen, und welche Antwort liegt in dem aufgezeigten zweistufigen Verfahren auf die Frage nach der Möglichkeit einer möglicherweise kulturübergreifenden, d.h. die Angehörigen auch verschiedener Kulturen gemeinsam verpflichtenden Ethik? Wir konzentrieren uns hier nur auf die wichtigsten Weichenstellungen, die Kant mit seinem kritischen Neueinsatz in der Ethik vollzogen hat. Kant lehrt zunächst, daû es, populären Vorerwartungen zum Trotz, in der Ethik nicht darum gehen kann, Handlungen als solche (die zwangsläufig nur empirische Erscheinungen und damit ambivalent sind) zu beurteilen. Es geht ebenso nicht ohne weiteres darum, Handlungen positiv vorzuschreiben, sondern alleine darum, zu prüfen, welche Maximen zu Handlungen vor 12

Kant, Kritik der reinen Vernunft, Vorrede, A XI.

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dem Forum reiner praktischer Vernunft (nämlich nach dem Gesichtspunkt ihrer Universalisierbarkeit, nicht nach dem einer immer partikulären Zweckmäûigkeit für beliebige Zwecke) gerechtfertigt werden können, welche dagegen nicht. Wörtlich heiût es bei Kant und für diesen Zusammenhang an zwar herausgehobener, dennoch aber oft überlesener Stelle: ¹Die Ethik gibt nicht Gesetze für die Handlungen (denn das tut das Ius), sondern nur für die Maximen der Handlungenª13. Ethik ist ± gerade darin besteht ein Kerngesichtspunkt in Kants Revolutionierung auch der ethischen Denkart ± rationale Maximenprüfung auf Selbsterhaltung praktischer Vernunft hin, nicht (notwendig äuûere) Beurteilung von wirklichen (erscheinenden) Handlungen, deren de facto bestimmende Maximen ohnehin niemals zwingend erkannt werden könnten. Genau darin aber ist die Ethik zugleich vom Recht unterschieden: denn das Recht beurteilt umgekehrt gerade Handlungen, deren Vollzug oder Unterlassung es fordert; es hat an dem, was empirisch-praktisch geschieht, seine Materie, während ihm die Maximen, denen gehorchend ein Subjekt eine Handlung vollzieht oder unterläût, im Grundsatz gleichgültig sind. Noch einmal anders gewendet: in der Ethik geht es um die Rationalität des Motivationszusammenhanges, in welchen Handlungen, welche sie auch seien, eingeschrieben sind, während es im Recht um die öffentliche und effektive, qualifizierende Bestimmung von Handlungen im Kontext einer konkret in allgemeiner Geltung stehenden, objektiven Anerkennungsordnung, und zwar unabhängig von der subjektiven Motivation zu diesen Handlungen, geht. Aus dieser Unterscheidung auch der Bezugsgegenstände von Ethik und Recht ergibt sich nun aber sofort, daû Kants Ethik nicht nur, wie ausgeführt, von einer grundsätzlichen Distanznahme von der Welt des Handelns und ihren Verwicklungen her gedacht ist, daû sie sich entsprechend auch nicht etwa auf das (notwendig unendliche) Geschäft der Deutung von Handlungen auf ihre Motive hin bzw. auf ihre Bestimmung als ¹gutª oder ¹böseª einläût; es ist nach Kant in dieser Linie klar, daû es ein moralisches Urteil über wirkliche Handlungen nur vor dem Forum des Gewissens geben kann und daû Ethik die Frage nur bis auf das Niveau der Maximen, also gegebener praktischer Sätze, zurückführt14. Die 13

388).

Kant, Metaphysik der Sitten. Tugendlehre, Einleitung VI (Akad.-Ausg. VI,

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Ethik hat vielmehr positiv zu ihrem Ausgangspunkt jetzt auch die Tatsache einer gegebenen Maximenvielfalt ± ohne irgendein vorlaufendes Präjudiz bezüglich der Qualität dieser Maximen im einzelnen. Die durchaus konkurrierenden Maximen können, wie Kant sagt, zunächst ¹willkürlich seinª und stehen ¹nur unter der einschränkenden Bedingung der Habilität zu einer allgemeinen Gesetzgebung, als formalem Prinzip der Handlungenª15, d.h. sie müssen die kritische Prüfung auf ihre Rationalität (prinzipielle Verallgemeinerungsfähigkeit) überhaupt zu bestehen fähig sein. Das letztere zielt, wie sich versteht, bereits auf den kategorischen Imperativ, der das Prinzip Kants bei der Maximenselektion bzw. der ethischen Prüfung ist. Für unsere Problematik interessiert jedoch zunächst der Ausgangspunkt Kants: daû es nämlich überhaupt viele ± wir können ergänzen: unabsehbar viele ± in Frage kommende Maximen zu Handlungen gibt und diese auch durchaus gewillkürt sein können, ohne daû darin schon ein ethisches Problem bestünde. Damit knüpft Kants Ethik statt bei einer, z. B. durch ein Ethos, schon getroffenen Vorauswahl prinzipiell bei der (unbestimmten) Freiheit der Maximenwahl an. Das Ziel der Kantischen Ethik ist von daher auch nicht etwa die ethische Homogeneisierung oder die Herstellung eines Zustandes, in welchem alle zu allen praktischen Fragen auch die gleichen Maximen hätten, also weder das ¹wissenschaftlich vermittelte Ethosª noch auch die Gesinnungsgemeinschaft. Die Ethik schränkt nicht grundsätzlich die Willkür in der Maximenwahl ein, und sie vertritt auch dann, wenn sie fordert, daû allerdings jede gewillkürte Maxime sich der kritischen Prüfung aussetzen muû, nicht schon den Gottesstandpunkt, der aus theoretischer Einsicht den Maximenbesitz regulierte. Diese generelle Zulassung der Willkürung der Maximen, die, wie wir hier am Rande bemerken, die Ethik Kants am signifikantesten von den Tugend- und Güterethiken der Tradition unterscheidet, ist dabei keineswegs nur das Ergebnis philosophischer Skepsis bezüglich der Unmöglichkeit, den absolut allgemeinen Standpunkt einzunehmen, von dem aus sich auch materialiter eine rationale Maximen- oder Präferenzordnung ergäbe. Die Offenheit Kants für eine gewillkürte Maximenvielfalt entspricht vielmehr elementar sei14 Cf. dazu Thomas Sören Hoffmann, ¹Gewissen als praktische Apperzeption. Zur Lehre vom Gewissen in Kants Ethik-Vorlesungenª, in: Kant-Studien 93 (2002), 424±443. 15 A. a. O. 389.

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nem Ansatz bei der unhintergehbaren Freiheitlichkeit des Menschen. In der Rechtslehre spricht Kant an bekannter Stelle analog dazu davon, daû ¹Freiheit . . ., sofern sie mit jedes anderen Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen kann, . . . [das] einzige, ursprüngliche, jedem Menschen kraft seiner Menschheit zustehende Rechtª ist16. In der Ethik ist Freiheit ebenfalls die Urtatsache, der Uranspruch und zugleich die Urgrenze des Menschen schlechthin, und sie ist dies zunächst als Freiheit überhaupt, d.h. in rein negativer Bestimmung und noch ohne allen Blick auf ein Wozu, zu welchem die Freiheit sich allenfalls bestimmt. Im Rückblick auf unsere Überlegungen zum Begriff der Kultur ergibt sich dann aber leicht, worauf es hier in besonderer Weise ankommt: dies nämlich, daû Kant die Ethik so weder kulturrelativ noch etwa dezidiert akulturell einführt. Denn es tut nach Kants Ansatz nichts zur Sache, ob eine Maxime ihrer Genese nach kulturell bedingt oder funktional eingebettet ist oder nicht; ob sie aus der einen oder der anderen Kultur stammt oder gar aus allen zusammen: sie ist dadurch ethisch weder schon qualifiziert noch auch schon disqualifiziert. ¹Kulturelle Bedingtheitª ist von Kant auf diese Weise als ethisch relevantes Moment grundsätzlich unterlaufen, oder es ist, wie man dann ebenso sagen kann, wesentlich daran erinnert, daû auch Kultur nicht Verhängnis, sondern in ihrem Wesen Freiheitsprodukt, Kreation des Willens und auch als ¹zweite Naturª, die dem Individuum zunächst immer vorausliegt, nicht einfach ein zwingendes Faktum ist. Da aber gleichzeitig faktisch kulturell induzierte Maximen in beliebiger Vielfalt und Buntheit auftreten dürfen, wird die Frage nach der Möglichkeit einer kulturübergreifenden, dabei aber nicht eo ipso ¹kulturschleifendenª Ethik von Kant ohne Zwang zur Leugnung kultureller Vielfalt bejaht. Zugleich greift die kritische Ethik weder auf ein göttliches oder Naturrecht und noch weniger auf positive anthropologische oder historische ¹Konstantenª zurück; sie denkt an keiner Stelle von theoretischen Grundannahmen über etwas her und ist gerade darin reine praktische Philosophie. Die einzige Konstante, mit welcher dann aber zugleich der Grundstein einer kulturinvarianten oder allgemein-rationalen Ethik gelegt ist, ist das Datum der menschlichen Freiheit selbst, einer Freiheit, die von der Ethik zunächst in ihrer ganzen möglichen Ausbreitung zur Kenntnis zu 16

Kant, Metaphysik der Sitten. Rechtslehre, Einleitung (Akad.-Ausg. VI, 237).

Kultur ± Ethik ± Recht

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nehmen ist. Ethik kann nirgendwo anders als im Freiheitsbegriff verankert werden, und würde sie es, wäre nicht abzusehen, wie sie bei einer ursprünglichen Freiheit des Menschen wieder ankommen können sollte. Ethik ist insoweit auf Universalität verpflichtet und zugleich gegen konkrete Besonderheit niemals verschlossen; sie präjudiziert über konkrete kulturelle Lebensformen und -welten nichts, sofern diese mit dem Sittengesetz kompatible Handlungsweisen gestatten. Die Kantische Ethik kann vor diesem Hintergrund noch immer einen Befreiungsimpuls vor allem gegenüber weltbildlicher Festlegung auch in den Bioethikdiskussionen der Gegenwart bedeuten. Es dürfte in diesem Sinne diesseits der Alpen vor allem die Kantische Tradition sein, die es in viel stärkerem Maûe als andernorts der Fall erlaubt, ohne weltanschauliche Festlegungszwänge ± etwa auf einen ¹katholischenª oder ¹laizistischenª Standpunkt, wie in der italienischen Debatte der Fall17 ± ethische Sachprobleme normativ erörtern zu können. Dabei erweist sich Kants Ansatz rasch auch als viel weniger jenem ¹Formalismusª verhaftet, dessen man ihn gerne bezichtigt. Wir verweisen für diesen Zusammenhang nur darauf, daû Kants Pflichtmaximen ± jene Maximen also, die vom Vernunftwesen einmal gewählt, um der eigenen Selbsterhaltung des Vernunftwesens als eines solchen willen dieses sich auch zum Gesetz machen muû ± allesamt Prinzipien der Freiheitserhaltung und -steigerung sind. Der eigentliche Kern der Überlegungen Kants betrifft dabei im Sinne der dritten Formulierung des kategorischen Imperativs die Anerkennung des Menschen als des einzigen uns daseiend gegebenen Selbstzwecks, damit als der uns einzig bewuûten existierenden Freiheitlichkeit, worin unmittelbar das Verbot der Instrumentalisierung des Menschen für fremde Zwecke, also der Indienstnahme der reellen Bestimmung zur Freiheit, liegt. Es ist wichtig, daû auch an diesem Punkt, an dem es um die Überbietung einer rein negativen durch eine qualifizierte Freiheitlichkeit geht, kulturelle Vorbehalte wiederum nicht unmittelbar ins Treffen geführt werden können. Gerade, weil auch Sklaverei, Menschenopfer oder andere kulturell sanktionierte Formen der Rechtsungleichheit nicht einfach Verhängnis, sondern Freiheitsprodukte sind, ist 17 Cf. dazu Maurizio Mori, ¹Secular' and Catholic' Culture as Different BackÏ ovic /Thomas Sören Hoffmann grounds in the Italian Debate on Bioethicsª, in: Ante C (edd.), Bioethik und kulturelle Pluralität. Die südosteuropäische Perspektive, St. Augustin 2005, 143±147.

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Kultur auf das Gebot, qualifizierte Freiheit sich auch in maximaler Form produzieren zu lassen, ansprechbar und auch wirklich anzusprechen, hat sie insoweit eine Teleologie auf den ¹Fortschritt im Bewuûtsein der Freiheitª hin ± ohne, daû damit vorweggenommen wäre, in welcher materialen Ausgestaltung qualifizierte Freiheit gelebt werden müûte, ohne Antizipation ihrer positiven Erscheinung: es gilt selbstverständlich auch hier noch, daû sich die Ethik nicht auf Handlungen, sondern auf Maximen zu Handlungen bezieht. In der Autonomie, der Selbstgesetzgebung des Vernunftwesens aus keinen anderen als vernünftigen Gründen, erreicht die Freiheit indes ihre konkrete Gegenwart, ihr Dasein18. Der materiale Grundsatz einer kulturunabhängigen Ethik ist insoweit der Satz von der Pflicht zu einer materialiter die eigene wie die fremde Freiheit erhaltenden Handlungsmaxime. Der einzige universell gültige materiale ethische Grundsatz kann dann auch in eine Formel gefaût werden, die man in Anlehnung an Fichte wie folgt formulieren könnte: Handle so, daû der Bestimmungsgrund aller deiner Handlungen der Begriff einer gröûtmöglichen Selbständigkeit deiner selbst und der anderen Vernunft- und Freiheitswesen ist19. Qualifizierte Selbständigkeit aber als formales wie materiales Prinzip einer ethischen Gesetzgebung in Beziehung auf Maximen ist dann ein Gedanke, der ebenso ein Prinzip der Begegnung wie der inneren Evolution einer kulturellen Lebenswelt auf innere, freie Lebendigkeit hin ist. Und er ist zugleich ein Gedanke, der sich unmittelbar auf die raumzeitliche Prämisse eigener wie fremder Freiheitlichkeit bezieht: auf die Prämisse des Leibes, des ¹biotischen Substratsª, das keineswegs nur im Interesse einer ¹Gattungsethikª dem Zugriff Dritter oder auch des Kollektivs zu entziehen ist20, sondern 18 Prägnant Josef Simon, Kant. Die fremde Vernunft und die Sprache der Philosophie, Berlin/New York 2003, 165: ¹Der kategorische Imperativ ist nicht das Resultat einer bestimmten, von besonderen Voraussetzungen ausgehenden Moralphilosophie. Vielmehr ist die Denkbarkeit gewisser Maximen als Prinzipien einer unbeschränkt allgemeinen Gesetzgebung die Voraussetzung für eine unbeschränkt verbindliche Philosophie der Moral. . . . Das moralische Handeln folgt nicht einer objektiv vorgegebenen (positiven) Ethik, sondern wirkt durch die tätige Auswahl gesetzestauglicher Maximen an der Verwirklichung der Idee eines allgemeinen Ethos mitª. 19 Cf. Fichte, Das System der Sittenlehre (1798), ed. M. Zahn, Hamburg 1963, 58: ¹Das Prinzip der Sittlichkeit ist der notwendige Gedanke der Intelligenz, daû sie ihre Freiheit nach dem Begriffe der Selbständigkeit, schlechthin ohne Ausnahme, bestimmen solleª. 20 Cf. Jürgen Habermas, Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Wege zu einer liberalen Eugenik?, Frankfurt am Main 2001. Es soll an dieser Stelle nicht erör-

Kultur ± Ethik ± Recht

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gerade im Interesse konkreter Freiheitswirklichkeit (die immer eine individuelle ist) zu daseiender Freiheit freizulassen ist. Konkretes Freisein im Sinne eines anerkannten Seins verweist dann jedoch notwendig wiederum auf das Recht.

3. Recht An das Stichwort ¹Autonomieª, aber auch an das Freiheitserhaltungspostulat als basales Prinzip eben auch einer Rechtsordnung wird immer wieder die Frage geknüpft, ob es sich hierbei nicht um typisch ¹westlicheª und in diesem Sinne dann eben auch nur im Rahmen eines Kulturkreises entsprechend hoch taxierte ¹Werteª handle. Eine Rückfrage dieser Art wäre sicher berechtigt, wenn man beides in einem einseitig liberalistischen Sinne, der so freilich weder von der Sache her zwingend in Anschlag zu bringen noch auch ohne Umstände derjenige Kants ist, verstehen wollte. Daû die Dinge bei Kant anders liegen, ist insbesondere für den Bereich des Rechts evident und entsprechend leicht zu zeigen. Kant hat ¹das Rechtª zwar dem Wortlaut nach als den ¹Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kannª21 definiert, was in der Tat zunächst auch einer ¹individualistisch-liberalistischenª Deutung fähig ist. Dennoch ist bei Kant primär an eine aus praktischer Vernunft a priori bestimmte Koexistenzordnung zu denken; das Recht vermittelt in dieser Hinsicht die äuûeren Relationen von Freiheitswesen im Sinne ihrer empirischen Kompossibilität, und zwar auch dann, wenn auf eine ethische Motivation der einzelnen Freiheitswesen zu einer solchen Ordnung empirisch nicht zwingend gerechnet werden kann. Oder, noch einmal anders ausgedrückt: das Recht kreiert eine Ordnung objektiver (d.h. nicht notwendig auch subjektiv nachvollzogener) Anerkennung, in der das eine Rechtssubjekt so gut wie das andere auch unter der Bedingung (schon oder noch) tert werden, inwieweit dem Begriff ¹Gattungsethikª überhaupt ein systematisch stimmiger Sinn abgewonnen werden kann und worin dieser allenfalls bestünde. 21 Kant, Metaphysik der Sitten. Rechtslehre, Einleitung § B (Akad.-Ausg. VI, 230).

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anerkannt ist, daû von einer aktual-subjektiven wechselseitigen Anerkennung nicht ohne weiteres ausgegangen werden kann. Was das Recht im Sinne Kants so unbedingt enthalten muû, sind substantielle Optionen auf eine qualifizierte Selbständigkeit von Vernunftwesen in ihrer Koexistenz, die wesentlich nicht von der Willkür anderer abhängig sind ± angefangen vom ursprünglichen Leibes- und Lebensrecht22 über das Recht auf Eigentum (dieses verstanden als Recht, sein Leben auch bestreiten zu können) bis hin zu einem allgemeinen ¹Recht auf das Rechtª, wie man es konkret beispielsweise in der Ablösung der Kadijustiz und aller von vornherein aus anderen als Rechtsgründen einzelne Rechtsgenossen privilegierenden Rechtsordnungen sehen kann. Das ¹Recht auf das Rechtª bedeutet, daû Recht und Gesetz nicht etwa als Gegensatz zum gelebten Leben und seiner kulturellen Entfaltung, sondern als condicio sine qua non eben auch des bestimmten Lebens einer Kultur gesehen wird. Da Kant bei dem allen weiû, daû das Recht, obwohl es ein ¹a priori gegebener Begriffª23 ist, sich doch nur als empirische Inkarnation von praktischer Vernunft wirklich erfüllt, sind hier, solange nur die Sinnautonomie und relative Suisuffizienz des Rechtes erinnert bleibt, groûe Spielräume in den Ausgestaltungen der Rechtsordnung denkbar und insofern wiederum eine Dialektik von kultureller Differenz wie auch Verständigungsmöglichkeit im Ausgang vom Rechtsbegriff gegeben. An dieser Stelle entsteht dann das Problem eines kulturübergreifenden Rechtsbegriffs, wie er heute vor allem (wie eingangs erwähnt) im Sinne von Bemühungen um eine Internationalisierung des Rechts und seiner Institutionen gesucht wird, aber auch für ein globales ¹Biorechtª von Bedeutung wäre. Wir weisen hier in Kürze auf einige damit verbundene Schwierigkeiten hin. Wirkliches Recht als Realisierung der Rechtsidee nicht in abstracto, sondern in Raum und Zeit, in Lebenswelt und Geschichte wirklicher Individuen gibt es in der Tat (auch in Umkehrung des Vicoschen Ansatzes von Recht als primärem Schlüssel zu einer bestimmten Kultur) nur als kulturraumbezogene Gröûe, ja es darf Recht nur als kulturraumbezogene Gröûe geben, da andernfalls 22 Cf. dazu Thomas Sören Hoffmann, ¹Primordial Ownership versus Dispossession of the Body. A Contribution to the Problem of Cloning from the Perspective of Classical European Philosophy of Lawª, in: Heiner Roetz (ed.), Cross Cultural Issues in Bioethics (cf. oben Anm. 3), 387±407. 23 Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 728/B 756.

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nicht von wirklichem, von lebbarem und schon ins Leben eingegangenem Recht die Rede sein könnte. Spätestens seit Hegel hat die Rechtsphilosophie darauf hingewiesen, daû es die spezifische Vermittlungsleistung des Rechtes ist, die Idee der Freiheit mit einem objektiven Ethos zu verbinden, sie also lebensweltlich in einem kulturellen ¹Prägnanzraumª zu lokalisieren und ihr auf diese Weise erst konkrete Bestimmtheit zu geben; wo immer es an der letzteren fehlt, das Recht nur als abstrakt-normativer ¹Überbauª des wirklichen Lebens, als resonanzlose Sollensordnung, damit aber als Gestalt der Entfremdung erscheint, droht bereits die Gefahr, daû das Recht für die Wahrnehmung, aber auch in sich selbst zu Unrecht mutiert. Auf die lebensweltlich relevante Bestimmtheit verpflichtet, läût das wirkliche Recht dann aber auf der einen Seite Raum für Ungleichzeitigkeiten und auch objektive Distanzen zwischen konkreten Rechtsräumen, während es auf der anderen Seite ¹ad intraª der jeweils gröûtmöglichen Prägnanz der Rechtsidee verpflichtet ist. In diesem Sinne ist dann von einem positiven Rechtssystem nicht zu verlangen, daû es die gleiche Prägnanz für alle Lebenswelten oder auch von auûen an es herantretende Kulturen erlangte; im Gegenteil wird es in concreto prägnant bestimmt nur für jenen Kulturraum sein, in welchen es sich selbst eingebettet findet und dessen inneres Leben es reflektiert. ¹Internationales Rechtª hat eben darum ein ihm eigenes Akzeptanz- oder Vermittlungsproblem und erscheint in seiner Durchsetzung dann auch leichter als anderes Recht jeweils als Unrecht. Was vom Recht dann für die Frage einer Begegnung der Kulturen zu erwarten ist, ist entsprechend nicht, daû es diese Begegnung über die Ingangsetzung eines Prozesses der positiven Verrechtlichung konkreter Differenzen hinaus aufzufangen und zu regulieren vermag. Das innere Regulativ dieses Prozesses wäre dabei, daû das Recht allen in Frage kommenden souveränen Rechtssubjekten wie nach innen, so auch nach auûen gröûte Selbständigkeit einräumt und sie in dieser auch anerkennt: in einer Selbständigkeit, die dann durchaus in einem qualifizierten Sinne, nämlich als (innere wie äuûere) Heteronomiefreiheit, zu nehmen ist. Daû die bestehenden westlichen Gesellschaften auch in ihrer Rechtsgestalt tatsächlich durchgängig durch Autonomie geprägt wären, wird trotz der gerade hier beheimateten Autonomietradition niemand behaupten, und gerade die nutzenkulturellen Tendenzen auf eine Inanspruchnahme des menschlichen Autonomiesubstrats, des Lei-

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bes, durch ökonomische oder andere Heteronomiestrukturen, überhaupt alle Reifizierungstendenzen gegenüber dem Menschen, die gleichfalls im ¹Westenª nicht eben selten zu finden sind, sprechen gegen eine in dieser Hinsicht auch nur im Ansatz verklärende Sicht der Dinge. Insofern hätte auch in unserem Kulturkreis das Recht zuerst ¹nach innenª auf mehr Selbständigkeit als qualifiziertes Rechtsprinzip und auch auf umfassende Wahrung von deren Bedingungen hin zu wirken. Und es hätte zugleich (im Sinne des Gedankens objektiver Anerkennung) fremde Selbständigkeit zu fördern, sofern jedenfalls diese nicht nur die Selbständigkeit einzelner oder partikulärer Interessen, sondern diejenige des Rechtes selbst in einer anderen Gestalt, einer anderen kulturellen Verfassung ist. Wenn die konkrete Lebenswelt ¹Nutzenkulturª heute bereits den gesamten Globus umspannt, ist nicht zu sehen, weshalb die Lebenswelt ¹Normkulturª dazu im Zeichen von der Rechtsidee her gewollter Selbständigkeit und auch Sinnautonomie des Rechts nicht ebenso in der Lage sein sollte. Es mag sogar sein, daû gerade an einer globalen Vernutzung des Menschen sich auch die globale Alternative oder einstweilen doch das Bedürfnis derselben entzündet. Diese Alternative aber kann nur eine ¹Rechtskultur der Selbständigkeitª sein, die die Basis für eine Koexistenz der Moralen, aber auch der Kulturen abgibt. Wir schlieûen diese gewiû nur skizzenhaften Überlegungen mit dem Hinweis, daû sich die Qualität einer Begegnung oder auch Konfrontation von Kulturen daran entscheiden muû, wieviel Freiheit zur Differenz bei gleichzeitigem Anerkanntsein fremder Freiheit als Gestaltungsprinzip einer eigenen Kultursphäre hier jeweils gelebt und gewährleistet ist. Wirkliches Recht ist dabei, wie gesagt, niemals in demselben Sinne universal wie die Ethik es ist, nur daû es dafür unmittelbar im Ethos wurzelt, ja diesem auch ein Gesicht zu geben vermag. Das Recht ist gleichwohl in demselben Maûe auch als Ort objektiver Selbstreflexion, als ¹Auge einer Kulturª nicht einfach ¹kulturbedingtª ± in demselben Maûe nicht, als es einen rein instrumentellen Charakter hinter sich gelassen und sich zum Bewuûtsein seiner Sinnautonomie befreit hat. Kant hat als ¹lex supremaª die Erhaltung des rechtlichen Zustandes als solche bezeichnet und damit auf eine konstitutive Reflexivität und zugleich reflexive Teleologie im Rechtsgedanken hingewiesen24. Vor 24

Kant, Briefentwurf an Jung-Stilling, März 1789 (Akad.-Ausg. XI, 10).

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allem die an ¹Normª oder ¹Nutzenª orientierten Rechtskulturen samt den ihnen zugehörigen Lebenswelten können dabei zwar nicht in jeder Hinsicht gegeneinander ausgespielt werden, schon weil sie immer auch aufeinander verweisen und auch ein jeder von uns in beiden Welten lebt. Entscheidend ist daher auch nicht unmittelbar die Frage, ob in einem konkreten Zusammenhang bei der Norm oder dem Nutzen und dem ihnen entsprechenden Rechtsbegriff angesetzt wird, wohl aber, ob dabei bezüglich der Grundlegungsfragen eine Normierung der Rechtsidee durch sich selbst wie auch die Zwecke des Rechts als des obersten Nutzens im Blick sind oder ob das Recht seinerseits unter äuûeren Zwecken (solchen der Ökonomie, der Politik, der Religion usf.) normiert wird. Gerade auch in Europa, das generell immer auch durch den Horizont des Geltungsraumes des römischen Rechts identifiziert werden kann und das insofern eine nicht geringe Homogeneität im Rechtsbegriff kennt, verlaufen die ¹intrakulturellenª Grenzen entlang der Bruchstellen zwischen ¹sinnautonomª und instrumentell (heteronom) angesetzter Rechtsidee ± mit allen darin liegenden Implikationen. Der vorliegende Band hat nicht zuletzt den Sinn, den Blick für die hier virulent werdenden Differenzen in den verschiedensten lebensweltlichen Sphären zu schärfen.

4. Neun zusammenfassende Thesen 1. Der Begriff der ¹Kulturª hat erst in neuerer Verwendung die Funktion gewonnen, als Kürzel für überindividuell verbindliche Motivationshorizonte, für Gestaltungen des objektiven Geistes, wenn nicht sogar für mehr oder minder beliebig individuierte Milieus stehen zu können. ¹Kulturenª im Plural als historisch relevante Totalitäten sozialer Konsensualität und Prägung sind dabei spätestens seit Herder ebenso als kollektive praktische Lebensordnungen wie als dem Individuum vorausliegende Weltstellungen und insoweit zugleich als weltbildbezogene, öffentliche Ressourcen von Orientierungswissen gedacht. 2. ¹Kulturenª stellen aus mehreren Gründen ein eigenes Erkenntnisproblem: sie sind niemals in toto, sondern immer nur synekdochisch (pars pro toto) gegeben und bedürfen insofern zu ihrer Thematisierung einer induktiven kulturhermeneutischen

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Kompetenz; sie werden ansichtig und thematisch nur im Modus vorgängiger Distanz oder Entfremdung, nicht unmittelbar im Kulturvollzug selbst oder doch nur im Vollzug einer anderen Kultur. Ihre Verobjektivierung suspendiert zudem ihre Normativität und Teleologie und ist insofern auch nicht ohne weiteres ein Wissen um kulturelle Wirklichkeit (Aktualität), sondern um eine ¹rekonstruierteª (und darin fixierte) ¹Kulturª. 3. Es gibt ± nicht nur nach Vico und Hegel ± gute Gründe dafür, als das eigene ¹innere Augeª einer Kultur, als ihre ¹internª produzierte und zugleich objektiv aus ihr herausgesetzte Reflexivität an erster Stelle das Rechtssystem anzusehen, das sie hervorbringt. Umgekehrt sind wesentlich verschiedene Rechtssysteme immer auch Indikatoren relevanter kultureller Differenzen bzw. Identifikatoren kultureller Identität; das Recht steht dann in besonderer Weise für das immer auch verborgene totum einer ¹Kulturª. Auch im Hintergrund der lebensweltlich instantiierten Geltungsräume einer Nutzenkultur einerseits, einer Normkultur andererseits stehen entsprechend unterschiedlich strukturierte Rechtsbegriffe: ein instrumenteller Rechtsbegriff dort, ein das Recht sinnautonom (als Sinnordnung a priori) fassender Rechtsbegriff hier. 4. Rechtssysteme referieren ihrer eigenen Logik und Bestimmung nach auf ein bestimmtes Ethos, dem sie ihre Konkretion auf der Ebene des positiven Rechts verdanken bzw. das sie umgekehrt erst auf einen vor praktischer Vernunft verantwortbaren Begriff bringen. Sie referieren dagegen nicht unmittelbar auf Ethik, wenn diese als strenge praktische Wissenschaft verstanden wird. Zumindest ihrem neuzeitlichen Begriff nach ist Ethik nicht einfach das verallgemeinerte oder reflektierte (an sich besondere) Ethos. Sie ist vielmehr als Wissenschaft nur auf der Grundlage einer vorgängigen Suspendierung jedes nur unmittelbar in Geltung stehenden Ethos möglich. 5. Thema der Ethik als Wissenschaft sind (nach Kant) nicht ¹Handlungenª, sondern ¹Maximen der Handlungenª25. Die Suspendierung aller Geltungsansprüche, die nur aus dem Ethos stammen, in der Ethik als Wissenschaft gestattet es dabei dieser, prinzipiell alle Maximen zu Handlungen, die Menschen 25

Kant, Metaphysik der Sitten, cf. oben Anm. 13!

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sich bilden können, als Kandidaten der ethischen Prüfung zuzulassen, also keine Vorauswahl (etwa unter kulturellem Aspekt) vorzunehmen; insofern negiert ein entsprechendes Ethikkonzept kulturelle Vielfalt gerade nicht. Andererseits kennt die Ethik auch keine Privilegierung von Handlungsmaximen auf Grund ihrer Genese in und Zugehörigkeit zu einem bestimmten kulturellen Kontext; Ethik ist ihrer Idee als Wissenschaft nach nicht ¹kulturabhängigª. 6. Ethik als Wissenschaft rekurriert auf kein anderes ¹Universaleª als das ethische Urdatum der menschlichen Freiheit in ihrer Reflexivität. Sie verhält sich auch in Beziehung auf ¹Kulturª normierend, da sie Kultur insgesamt als (reflexives) Freiheitsprodukt anspricht und an dem Grade der in ihr realisierten Freiheitlichkeit bemiût. Auch hier geht es nicht darum, die Vielfalt kultureller Inkarnationen gelebter Freiheit einzunivellieren, wohl aber darum, Kultur als bloûes ¹Verhängnisª und blind gelebte Unfreiheit auf das genannte Freiheitsuniversale hin aufzubrechen. 7. In der Begegnung unterschiedlicher Kulturen als objektivgeistiger Motivationshorizonte werden unmittelbar auftretende Konflikte niemals rein ethisch, sondern immer nur vom Recht als der Idee einer Koexistenzordnung einander fremder Freiheiten her zu lösen sein. Normativ liegt die Aufgabe des Rechts darin, eine Ordnung maximaler Kompossibilität fremder (und einander immer auch fremd bleibender) Freiheiten zu gewährleisten, also nicht nur überhaupt zu befrieden, sondern Verhältnisse objektiven Anerkanntseins prinzipiell jeder Freiheit durch jede andere ihren elementaren Existenzbedingungen nach zu etablieren. Auch der Gegensatz von Norm- und Nutzenkultur drängt primär auf eine biojuridische Sphärenabgrenzung bzw. Zuordnung von entsprechend geprägten Lebenswelten. 8. Wirkliches Recht ist weder in seiner positiven Ausprägung noch gar als faktische Rechtswirklichkeit jemals in demselben Sinne universal wie die Ethik es ist. Es ist dennoch in demselben Maûe auch als ¹Auge einer Kulturª nicht einfach ¹kulturbedingtª, als es allen instrumentellen Charakter hinter sich läût (Recht als Mittel der Erhaltung und Durchsetzung einer Kultur) und sich zum Bewuûtsein seiner Sinnautonomie befreit (Kultur als Medium der Inkarnation von Rechtlichkeit). Hieraus ergeben sich Möglichkeiten, die Profile aktuellen Rechts-

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denkens in Europa (und damit auch die Prozesse ¹kulturellerª Selbstverständigung der Gegenwart) kritisch zu sichten. 9. Die an ¹Normª oder ¹Nutzenª orientierten Rechtskulturen können nicht in jeder Hinsicht gegeneinander ausgespielt werden, sie verweisen vielmehr auch aufeinander. Entscheidend ist daher auch nicht unbedingt der Ansatz bei Normativität oder Utilität, wohl aber, ob dabei bezüglich der Grundlegungsfragen eine Normierung der Rechtsidee durch sich selbst wie auch durch die ¹Zweckeª des Rechts als solchen als oberster Nutzen im Blick ist oder ob das Recht seinerseits durch äuûere Zwecke (der Ökonomie, der Politik, der Religion usf.) normiert wird. Auch in Europa, das generell immer auch als der Geltungsraum des römischen Rechts identifiziert werden kann, verlaufen entscheidende ¹intrakulturelleª Grenzen offensichtlich entlang der Bruchstellen zwischen der ¹sinnautonomª und einer instrumentell angesetzten Rechtsidee.

Bioethik im Kontext von Theologie und Religion

Dietmar Mieth (Tübingen)

Die ungeteilte Menschenwürde. Christliche Bioethik im gesellschaftlichen Diskurs Bio-Ethik, als Ethik in den Biowissenschaften und Biotechnologien verstanden, wird auf Problembereiche bezogen, die untereinander zwar verknüpft sind, aber durchaus auch auf spezifische wissenschaftliche Methoden und Intentionen zurückgreifen: ± auf den Bereich der Reproduktionsmedizin und seine Folgen, z. B. Leihmutterschaft, überzählige Embryonen u. a. m.; ± auf den Bereich der In-Vitro-Techniken am Menschen, der damit zusammenhängt, insbesondere auf die Probleme des humanen Klonens und der humanen embryonalen Stammzellforschung; ± auf den Bereich der humangenetischen Forschungen und Anwendungen: Diagnostika in vitro, in der Schwangerschaft, beim adulten Menschen, therapeutische Intentionen (somatische Gentherapie und sog. Keimbahntherapie); ± auf den Bereich der Zellbiologie: mehr Wissen über Funktion und Dysfunktion von Zellen, Möglichkeiten des Eingriffs und der Steuerung; ± auf den Bereich der Ernährung und Landwirtschaft: gentechnische Veränderung von Pflanzen und Tieren u. a. m.; ± auf den Umweltbereich von Freisetzungsproblemen bis hin zu alternativen Energien; ± auf die Probleme der Patentierung von Leben bzw. am Leben. Die folgenden Überlegungen bleiben im Bereich der Anwendung auf den Menschen. Der gemeinsame moralische Nenner, der im Rahmen der theologischen Ethik besonders häufig bemüht wird, ist die Diskussion über das Kriterium der Menschenwürde.

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1. Einige Vorüberlegungen 1.1. Die christliche Perspektive Die christliche Perspektive in der Ethik möchte ich mit einer pointierten These einführen: Es gibt aus theologischen Gründen keine spezifisch theologischen Beweisgründe in der Ethik, wohl aber besondere Beweggründe. Diese Beweggründe scheinen den gläubigen Christinnen und Christen sowie den Theologinnen und Theologen, die sie auslegen, nicht als exklusive Ansprüche oder Beanspruchungen des christlichen Glaubens. Sie erscheinen aber aus der Perspektive der geschichtlichen Gewordenheit unseres gesellschaftlichen Lebens und unserer aufgrund von geschichtlichen Erfahrungen verfaûten Demokratie als unersetzlich. Andere Zugänge zu diesen Beweggründen mögen aus anderen Religionen oder aus agnostischer Auffassung erschlossen werden, aber damit wird diese christliche Quelle der Beweggründe nicht überflüssig. Der christliche Glaube steht also einer autonomen Ethik nicht im Wege1. Der Versuch, den man heutzutage häufig in philosophischen Argumentationen findet, sogenannte ¹Theologisierungenª als ¹Ideologisierungenª oder als überflüssige ¹Metaphysikª abzutun, stellt nichts anderes als eine Immunisierungsstrategie gegen eine Auseinandersetzung auf dem Felde der Beweggründe dar. Es ist wohlfeil, Argumente, statt sie zu widerlegen, ins Abseits zu verweisen, aus welchem sie nur herauskommen, wenn sie die Beweislast übernehmen, die man für die eigenen Argumente nicht auf sich nehmen will. Ein groûer Teil der strittigen Bioethik hat den Charakter einer Stellvertreter-Debatte: Es geht um die Dominanz eines Säkularismus (in romanischen Ländern auch ¹Laizismusª genannt), der das pluralistische Nebeneinander oder aber die strittigen Rechtsinterpretationen an die Stelle einer Werte-Debatte setzt. Denn in der Werte-Debatte sind Motive bzw. Beweggründe einerseits und Beweisgründe andererseits miteinander im Gespräch. Wie könnte man auch die Suche nach der Wahrheit von der Suche nach dem Guten und Richtigen nicht nur unterscheiden, sondern abso1 Vgl. A. Auer, Autonome Moral und christlicher Glaube, Düsseldorf, 2. Aufl. 1984; ders., Zur Theologie der Ethik, Freiburg/Schw. ± Freiburg i. Br. 1995; D. Mieth, Art. ¹Ethikª und ¹Autonomieª, in: Neues Handbuch Theologischer Grundbegriffe, Neuausgabe, München 2005.

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lut trennen, ohne in einen Pragmatismus zu verfallen, der die Ethik als Reflexionstheorie des guten und richtigen Handelns in beliebige rationale Konstruktionen auflöst. Ein beliebter Einwand gegen die christliche Perspektive ist es, sie sei nicht rational-argumentativ, weil gläubige Motive das Denken bestimmen. Dies ist eine Unterstellung, die einem ¹motivationalen Fehlschluûª gleichkommt. Denn man darf nicht vom Motiv eines Argumentes auf dessen Tauglichkeit schlieûen. Man landet sonst leicht bei einer Biertisch-Auseinandersetzung, bei welcher es darauf ankommt nachzuweisen, daû der andere nichts Vernünftiges sagen kann, weil ihm die Vernunft fehlt. Ein rationales Argument bleibt ein Argument, gleich, aus welchem Motiv es vorgebracht wird. Ein Theologe redet nicht vor- oder unphilosophisch, weil er Beweggründe hat, die ihm den Zugang zu bestimmten Argumenten eröffnen oder deren Bedeutung verstärken. Solche Beweggründe gehören zum Menschen. Ihnen gegenüber kritisch zu bleiben, ist berechtigt. Aber diese Kritik darf nicht den Blick auf das Argument verstellen. Man sollte zudem Theologinnen und Theologen nicht unterstellen, daû sie nicht zwischen ihren Beweggründen und ihren Beweisgründen zu unterscheiden wissen2.

1.2. Zur Kultur des intellektuellen Konfliktes in der Bioethik Bevor ich das Thema Menschenwürde aus christlicher Perspektive zu entfalten versuche, möchte ich etwas zur Kultur des intellektuellen Konflikts in der Bioethik sagen. Diese Bemerkungen sind, wenn auch nicht exklusiv, an die Adresse derjenigen gerichtet, welche die ethischen Auseinandersetzungen dazu benutzen, sich durch besonders auffällige Thesen in Szene zu setzen, ohne dabei auf geschichtliche Kontinuitäten und die Betroffenheit vom Menschengruppen zu achten. Man hat dabei oft den Eindruck, daû gerade riskante Überlegungen über die Menschenwürde, über ihre Definition, über ihre Einschlägigkeit und über ihre Reichweite einen schnell ins Gespräch bringen können und dabei auf den Beifall derer rechnen können, für welche in Wissenschaft, Technik, Wirt2

Vgl. auch D. Mieth, Kleine Ethikschule, Freiburg i. Br. 2004, 86 ff.

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schaft und Politik Fortschritt und Innovation unhinterfragbare Träger der Kernverantwortung für den Menschen sind. Peter Singer ist für diese Inszenierung nicht das einzige, aber das bekannteste Beispiel3. Der ungestüme Aufschrei von Menschengruppen, die sich mitbetroffen fühlen, wenn sie, zumindest in ihren frühen Lebensformen, als Nicht-Personen charakterisiert werden können, wird in seinen gewaltsamen Auswirkungen oft mehr wahrgenommen als diese Inszenierung, die ihn hervorruft. Man schafft die Aufregung, die man, wenn sie eingetreten ist und sich nicht recht zu helfen weiû, diskreditieren kann. Wir brauchen wie in anderen Bereichen der Auseinandersetzung eine menschengerechte Zukunft, eine Kultur des intellektuellen Konfliktes. Diese ist nicht das gleiche wie die Toleranz, die erst dann eintritt, wenn das praktisch Unvermeidliche zu ertragen ist: ¹tolerareª heiût ja ¹ertragenª und nicht etwa dazu schweigen oder es widerspruchslos hinnehmen.4 Ich ertrage meine Krankheit, möglicherweise die eine oder andere Niedertracht oder die unvermeidlichen Eigenheiten von Menschen, mit denen ich zusammenlebe. Toleranz ist in dem Sinn kein Begriff für eine intellektuelle Auseinandersetzung. Ich will nicht mit meinen Gründen und Überzeugungen toleriert werden, ich möchte vielmehr den produktiven Konflikt. Toleranz könnte leicht repressiv werden, weil derjenige, der sich am weitesten aus dem gemeinsamen Boot herauslehnt, bis dieses zu kippen droht, dann toleriert werden soll, obwohl er alles aus der Balance bringt. Die extreme Toleranz be3 In der Einleitung der englischen Neuausgabe seiner Praktischen Ethik (dt. zuerst Stuttgart 1984) rechnet Singer erneut mit seinen ungestümen Kritikern aus der Behindertenszene und deren Umfeld ab. Dies hatte er schon vorher ausgiebig getan: vgl. P. Singer, ¹Bioethics and Academic Freedomª, in: Bioethics 4 (1990), 33±44; ders. ¹On Being Silenced in Germanyª, in: The New York Review of Books 38 (1991), No. 14, 36±42, dort auch eine ausführliche Dokumentation der Auseinandersetzungen und der Presseberichte. 4 Vgl. zum Thema Toleranz: R. Forst, Toleranz im Konflikt, Frankfurt a. M. 2003. Freilich stimme ich dem begrifflichen Lösungsvorschlag dieses ausgezeichneten Buches nicht zu, wonach Toleranz in der wechselseitigen Rechtfertigungspflicht begründet sei. Diese Pflicht scheint mir durch eine Gerechtigkeitskonzeption bereits gesichert. Zu diskutieren scheint mir der Satz: ¹Einer tiefergehenden ethischen Ablehnung bestimmter Praktiken oder Überzeugungen durch eine Person stehen moralische Erwägungen gegenüber, die ihr einsichtig machen, weshalb diese Praktiken oder Überzeugungen dennoch nicht unmoralisch sind und daher nicht nur toleriert werden können, sondern auch toleriert werden müssenª (590 f.). Das Problem dieser Auffassung ist für mich, daû moralisch für eine Person unrichtige Auffassungen nicht aufgrund von Toleranz zu ¹nicht unmoralischenª Auffassungen werden können. Wohl aber kann ich eine Person moralisch anerkennen, die m. E. moralisch unrichtige Auffassungen hat.

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wirkt eine extreme Erpressung, wie man am Beispiel der niederländischen Konflikte sehen kann. In Deutschland darf man nicht alles im politischen Bereich sagen. Man weiû, um es mit einem Wort Bertolt Brechts zu sagen: ¹der Schoû ist fruchtbar noch, aus dem das krochª. Dies gilt für ganz bestimmte, von der Erfahrung der Vergangenheit her geprägte, politische Parolen und fällt unter das Strafrecht. Aber sind akademische Gedankenexperimente im Bereich der Rede- und Gedankenfreiheit nicht mit offenen Diskursen zu beantworten? Das ist eine Frage, deren Beantwortung davon abhängt, welche politische Bedeutung das akademische Experiment hat. Diese Bedeutung ist im Bereich der Bioethik alles andere als gering. Als es bei einer Anhörung für das Stammzellgesetz um die Verhältnisbestimmung in der Besetzung der Zentralen Ethik-Kommission für den Import embryonaler Stammzelllinien ging, verlangten die Kirchen eine Mehrheit für die Mitglieder aus dem Bereich ¹Ethikª statt einer 5:4 Mehrheit für den Bereich Wissenschaft. Staatssekretär Catenhusen fragte damals (2003) zurück, warum sich die Kirchen angesichts der Auftritte von Ethikern so sicher seien, daû mehr Ethik zu mehr restriktiven Entscheidungen führe. In der Folge zeigte sich auch, daû die Entscheidungen dieser Kommission nicht auf einem Argument ethischer Lebensnotwendigkeit, sondern nur auf Argumenten hochrangiger wissenschaftlicher Neugier beruhten: Braucht man zu deren Kontrolle die ¹Ethikª? Bioethik ist öffentlich, und sie ist immer auch Biopolitik. D.h. sie ist immer nicht nur Argumentation, sondern auch Position und Option. Sie ist kein rein akademisches Spiel und das muû sie verantworten. Also kann man auf Bioethik, wenn sie politische Optionen weckt, von denen man annimmt, daû sie den Boden des Grundgesetzes verlassen, auch politisch reagieren. Nun garantiert das Grundgesetz auch Grundfreiheiten, die wir nicht missen wollen. Diesen gegenüber müssen sich Methoden einer politischen Auseinandersetzung ausweisen. Es ist für mich klar, daû man hier an der Schwelle der neunziger Jahre gegenüber Peter Singer, vor allem in Zürich, zu weit gegangen ist. Diese körperlichen Angriffe hat Peter Singer freilich 1991 in der New York Book Review5 den 5 Vgl. Anm. 3. Singer hat sich auf einer Tagung in Heidelberg am 11. 12. 2004 gegen den folgenden Vorwurf damit verteidigt, daû er deutschsprachige Länder gemeint habe. Aber abgesehen davon, daû die Schweiz mehrsprachig ist: Auf sie trifft auch Singers Diagnose deutscher Vergangenheitsbewältigung nicht zu.

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Deutschen in die Schuhe geschoben. In Deutschland gab es aber nur Verhinderungen von Auftritten. Dies hatte auch Aufmerksamkeit für die Anliegen von Behinderten zur Folge, so daû diese an manchen sie betreffenden Entscheidungen erheblich besser beteiligt wurden. Man muû nicht für diese Aktionen sein, um Singers Reaktion für unangemessen zu halten. In seinem Beitrag über ¹Bioethics and Academic Freedomª lese ich, daû Freiheit auch dafür garantiert sei, ¹konventionelle moralische Überzeugungenª herauszufordern6. Das ist eine beschönigende Ausdruckweise, wenn es um Wertgrundlagen unserer Republik geht. Um diese geht es nämlich, wenn man wie Singer offen vom ¹lebensunwertenª Leben spricht und Menschen meint (¹that some lives are not worth livingª, das ist nicht dasselbe wie ¹doctors allow severely disabled infants to dieª, wie Singer in seinem Beitrag unterstellt)7. Singer begründet die mangelnde akademische Unterstützung für eine freie Diskussion verständnisvoll mit der deutschen Empfindlichkeit in bezug auf die Nazi-Vergangenheit. Er weist aber auch ironisch darauf hin, ¹daû die Protestierenden eine solche Art von Fanatismus und einen solchen Mangel an Respekt für rationale Debatten gezeigt haben, wie er als notwendige Voraussetzung für die Scheuûlichkeiten der Nazis existierteª8. Ich meine, hier und anderswo habe Singer gezeigt, daû er mit der Gegendiskriminierung, d.h. aber auch mit Methoden der Inszenierung, politisch zu punkten weiû. Die Methode ist: Reize den anderen so lange, bis er aus der Rolle fällt, und weise dann mit dem Finger auf ihn. Ich will damit nicht gegen den akademischen Diskurs reden, den ich Singer nicht verweigert habe, für den ich mich aber auch leichter verwenden könnte, wenn er mit weniger Instrumentalisierung von Öffentlichkeit und weniger Inszenierung der eigenen Bedeutung verbunden wäre. Die mediale Methode ist schlicht: Provokation statt Herausforderung, Entrüstung über die Entrüsteten, das ist ein Kreislauf, der wie Wasser auf die eigenen Mühlen läuft.

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Vgl. a. a. O. (Anm. 3) 34. Singer verteidigt sich gegenüber diesem Vorwurf mit dem Hinweis, ¹not worth to liveª sei in den USA nicht mit dem moralischen Gewicht versehen wie in Deutschland aufgrund der spezifischen Nazi-Terminologie. Da er aber die deutsche Terminologie kennt, muû man sich fragen, ob er sie nicht absichtlich provokativ benutzt. 8 A. a. O. 42. 7

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Ich glaube nicht, daû die Protestierenden gegen die Freiheiten der Bioethik mit Kennzeichnungen wie ¹emotional, irrational und vordemokratischª abgetan werden können. Worte sind nicht nur Worte, sondern auch Waffen, die diejenigen, die nicht darüber verfügen, in hilflosen Zorn versetzen. Es hat ja zu Singer keinen Mangel an Widerspruch in Worten gegeben. Es gibt genug Widerlegungen, eher zu viele als zu wenige. Die Protestierenden wuûten immer, daû es mit intellektuellen Widerlegungen nicht getan ist. Daû heiût freilich für mich nicht, daû man sie sich deshalb sparen könnte. Ich werfe, abschlieûend zu diesen Vorüberlegungen, einen Blick auf die Sachzwänge und Kontexte, in denen wir die Debatte führen, ein Blick, der von manchen Philosophen vernachlässigt wird.

1.3. Materialisierung des Lebens?9 Die Ablösung einer Normkultur durch eine Nutzungskultur? Der Wachstumsbereich der sog. Lebenswissenschaften entwickelt sich schwungvoll. Das Wort ¹Lebenª wird daher mit den Biowissenschaften und mit der Biomedizin assoziiert. Als z. B. 2001 in den Universitäten Baden-Württembergs angefragt wurde, wer an einer Evaluierung der Universität in Sachen Lebenswissenschaften teilnehmen wolle, haben sich Philosophie und Theologie nicht gemeldet. Sie sahen zu, wie der Begriff ¹Lebenª aus dem geisteswissenschaftlichen Bereich in den biologischen Bereich transferiert wurde. Als der Begriff ¹Biosª von Lamarck 1801 in die Biologie übertragen wurde, gab es dafür nur einen pragmatischen Grund. Man hatte bereits den Begriff Zoologie, der aber auf Tierkunde festgelegt war, so daû man einen neuen Begriff brauchte. Der Begriff ¹Biosª stammte freilich aus der Lehre von der menschlichen Lebensführung. Die gesamte Antike, die mittelalterliche und die humanistische Tradition wuûte, daû mit ¹Biosª (lat. vita) die Kunst der Lebensführung gemeint war. Als dieser Begriff aus der Lebensführung des Menschen in den neuen Typus von Biologie umgesetzt wurde, geschah dies kurz nach der Begrün9 Vgl. D. Mieth, Was wollen wir können? Ethik im Zeitalter der Biotechnik, Freiburg i. Br. 2002, 6±54.

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dung des Begriffes der ¹Menschenwürdeª durch Immanuel Kant. Die Zuspitzung des Begriffes ¹Lebenª auf Biologie und die Zuspitzung der Lebensführung auf ¹Würdeª gingen von da ab verschiedene Wege. Das neue Paradigma der Biologie oder der Biowissenschaften verfolgte das Konzept der neuzeitlichen Wissenschaft: Die Wissenschaft betrachtet nicht nur die Welt, sondern sie greift experimentell in sie ein und ist so auf Verwertung aus, auf Nutzen im Sinne der Verbesserung der Lebensbedingungen des Menschen (so sieht es bereits Francis Bacon). Die Fortschrittsmentalität rechnet damit, daû der Mensch seine Lebensbedingungen wirklich, wenn auch schrittweise, effektiv verbessern kann. Man wird, wie jede andere, auch diese Möglichkeit der Verbesserung der Bedingungen des menschlichen Lebens daraufhin befragen müssen, ob Verbesserungen nicht gleichzeitig auch Veränderungen mit sich bringen, die keine Verbesserungen sind, ob neue Problemlagen entstehen und ob die genannten Probleme wirklich gelöst werden. Das entspricht der teleologischen Vernunftregel in der Folgenabschätzung: Man soll Probleme nicht so lösen, daû die Probleme, die durch die Problemlösung entstehen, gröûer sind als die Probleme, die gelöst werden. Wenn man aber diese Regel, die sich aus Vernunft und Erfahrung begründen läût, ernstnimmt, dann bedarf man einer gewissen Relativierung des Fortschrittsglaubens. Dazu muû freilich der einzelne, nachhaltige Fortschritt keineswegs bezweifelt werden. Der Fortschrittsglaube ist überaus präsent. Welche Zwänge ergeben sich daraus, daû die moderne Gesellschaft ein nicht mehr aufkündbares Bündnis mit Wissenschaft, Technik und Wirtschaft geschlossen hat? Wissenschaft, Technik und Ökonomie stellen ein Verbundsystem dar, das sich gegenseitig bedingt und den Fortschritt in Gang hält. Mit einem nicht aufkündbaren Bündnis meine ich: Jede Alternative zur Technik ist heute eine technische Alternative, oder: Jede Alternative zu einer wissenschaftlichen Option ist eine wissenschaftliche Alternative. Und jede Alternative zu einer bestimmten ökonomischen Vorgehensweise ist eine ökonomische Alternative. Wir können nicht in eine Steinzeitkultur oder in eine mittelalterliche Welt zurücksteigen. Nur im Sinne der Kontinuität der Geisteskultur, etwa ästhetischer, religiöser und moralischer Empfindungen und Überzeugungen, können wir die Werte der Geschichte weitertragen.

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Mit der Einübung in eine Sachzwangfolge ist zugleich auch eine Propaganda des Sachzwangs verbunden. Ich nenne dies die normative Kraft des Fiktiven. Es ist nämlich nicht nur so, daû die Propagandisten der Biowissenschaften und der Biomedizin schlicht die normative Kraft des Faktischen betonen, denn die normative Kraft des Faktischen würde soviel nicht erbringen. Ein von mir häufig erwähntes Beispiel dafür ist die Sprachpolitik. Sie läût sich am Gebrauch des Wortes ¹Therapieª aufzeigen. Seit ungefähr zwanzig Jahren sind wir daran gewöhnt, von ¹Gentherapieª zu sprechen. In der Zeitung der Alzheimer Gesellschaft war (2001) die Überschrift zu lesen: ¹Erste Gentherapie bei Alzheimerª. Darunter stand, daû man (erstens) den klinischen Versuch, der hier angestrebt wird, wissenschaftlich bezweifeln kann, und daû (zweitens) ein Ergebnis möglicherweise nicht zu erwarten sei. Wie so oft war die Überschrift vom Redakteur gemacht und hatte mit der Wirklichkeit, die im Artikel beschrieben wurde, nichts zu tun. Aber das Wort ¹Gentherapieª ist in aller Munde. Damit ist aber nichts anderes als eine Ansammlung von Forschungsvorhaben und genetischen Versuchen gemeint. Es gibt nämlich noch keine zweifelsfrei nachgewiesene Gentherapie. Es gibt Forschungs-Erfolge, man sollte sie anerkennen. Aber das Wort ¹Gentherapieª erzeugt in der Bevölkerung seit fünfzehn Jahren die Illusion, als gäbe es eine erfolgreiche Behandlung durch Gene. ¾hnlich wird der Ausdruck ¹Therapieª im Zusammenhang mit der Stammzellforschung gebraucht, um nicht zu sagen: miûbraucht. Die totale Materialisierung des Lebensbegriffs greift um sich. Für viele ist das nur eine ¹methodologischeª Materialisierung, weil sie anders die Verhältnisse von Ursache und Wirkung nicht erkennen und beschreiben können. Wenn man fragt, welche Definition denn den ¹Lebenswissenschaftenª zugrunde liege, dann heiût es: ¹die Forschung an lebendigen Systemenª, die als Organismen bezeichnet werden. Dabei wird nicht tiefer gefragt: Wodurch unterscheiden sich Organismen von physikalischen und chemischen Vorgängen? Solange diese Physikalisierung der Lebenswissenschaften methodologisch ist, d.h. solange die Sprache ihre eigene Relativität im Kontext der verschiedenen Disziplinen und Ansätze anerkennt, besteht kein Problem. Aber wenn diese Sprache zu einem herrschenden Paradigma für die Sprache über Leben wird und wenn wir unser allgemeines Lebensverständnis davon ableiten, entsteht eine Gefahr. Dann, meine ich, haben wir Grund, zunächst

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über Menschenwürde und dann über das Menschenbild nachzudenken.

2. Das Fundament der ungeteilten Menschenwürde Mit der Würde des Menschen verbinden wir erstens das Verbot, den Menschen total zu instrumentalisieren, seine Selbstzwecklichkeit und in diesem Sinne seine Unverfügbarkeit angemessen zu respektieren. Dieses Gebot beruht, wie man mit Immanuel Kant, einem Philosophen des christlich-säkularen Kontinuums, zu sagen pflegt, auf einem ¹absoluten Wertª, der also die anderen Werte befragen, begründen und ordnen soll. In der ¹Allgemeinen Erklärung der Menschenrechteª von 1948 heiût es in der Präambel: ¹Da die Anerkennung der angeborenen Würde und der gleichen und unveräuûerlichen Rechte aller Mitglieder der Gemeinschaft der Menschen die Grundlage von Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden in der Welt bildet . . .ª. Und dann in Art. 7: ¹Die Würde des Menschen ist zu achten und zu schützenª. Man muû deutlich dreierlei sehen: Erstens, die Würde ist damit gegeben, daû der Mensch Mitglied der Menschheit ist ± mehr wird nicht verlangt (d.h. nicht, daû die biologische Gegebenheit des Menschseins die Würde begründet, wohl aber, daû die begründete Würde (s. u.) sich auf jeden Menschen, insofern er Mensch ist ± eine tautologische Formel ± erstreckt); zweitens, die Anerkennung der Würde ist die Basis aller Rechte ± sie sind daraus abgeleitet; drittens, die Würde ist nicht nur zu achten, sondern auch zu schützen, d.h. man muû ihrer Verletzung zuvorkommen. Das aber bedeutet auch: je schwächer, um so schutzbedürftiger. Der Starke schützt sich weitgehend selbst. Bei den Schwachen ist der Würdeschutz besonders gefragt! Manche kehren heute die Reihenfolge, auf die es ankommt, um: Erst kommt das Recht des einzelnen, der seine ¹Würdeª reklamiert, dann kommt die Würde der Schwachen! Diese Ausleger interpretieren die Würde in der deutschen Verfassung durch die Rechtssetzungen, die wir in späteren Interessenskonflikten als Kompromisse gefunden haben. Eigentlich muû es jedoch umgekehrt sein: Die Rechtssetzung und die Rechtsfolgen müssen vom

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Begriff der Würde her kontrolliert werden. Die Versuche, den Würdebegriff in der deutschen Verfassung durch das zu interpretieren, was wir daraus rechtspolitisch gemacht haben (Herdegen, Dreier, Hufen, Ministerin Zypries u. a.), machen das normenkritische Fundament der Menschenwürde rechtspositivistisch interpretierbar. Man versucht das, was man mit Hilfe der Würde überprüfen und bewerten sollte, umgekehrt zur Prüfung und Bewertung der Würde zu benutzen. Dann aber ist die Würde kein absoluter Wert mehr und ihr Inbegriff, ¹die Achtung der Menschheit in jedem Menschenª (Immanuel Kant), geht verloren. Oft sprechen wir freilich zweitens von ¹Würdeª, wenn wir nicht diesen Zentralbegriff, sondern einzelne Rechte meinen, die wir daraus ableiten. Der Mensch soll den anderen Menschen menschenwürdig behandeln. Dagegen gibt es himmelschreiende Verbrechen: Miûbrauch und Versklavung von Frauen und Kindern, Folter, Verelendung durch Ausbeutung, Massenmord und ähnliches, das uns heute täglich in den Medien erreicht. Hier wird ¹Würdeª zu einem Wort der absoluten Kontrasterfahrung mit der Erniedrigung und Unterdrückung des Menschen. Damit wir aber die Erniedrigung und Unterdrückung unmittelbar empfinden, müssen wir Menschen sehen, die schon in ihrer Lebensgeschichte sichtbar sind, auch wenn ihnen gerade eine menschengerechte Fortführung dieses Lebens verwehrt wird. Das zu sehen ist wichtig und ist das erste ± aber müssen wir nicht auch sehen, was wir nicht sehen? Welche Bilder machen wir uns von der Würde? Wenn wir im spontanen Alltagsverständnis westlicher Gesellschaften von Würde sprechen, dann haben wir Bilder der Ansehnlichkeit und der Belastungsarmut vor Augen. Dies hängt damit zusammen, daû wir entsprechend dem Attribut ¹würdigª Vorstellungen davon entfalten, welche Qualitäten dazu erforderlich sind. Dies entspricht einer alten Tradition, wonach Würde viel mit ¹Ehrenª zu tun hat (oder lateinisch: ¹dignitasª mit ¹honorª; man spricht ja auch gern von ¹Würdenträgernª, das sind diejenigen, die Ehrungen empfangen haben). Wenn man davon ausgeht, daû ¹Ehreª noch im 19. Jahrhundert ein wesentliches Wort für männliche Satisfaktionsfähigkeit und weibliche Unberührtheit war, dann wird einem bewuût, daû diese Ehre oder Würde ein Ausdruck einer vergangenen ¹Klassengesellschaftª gewesen ist. Seitdem die Klassen zumindest ideologisch verschwunden sind, kann man eher von der Würde als dem ¹Ansehenª sprechen, das ich vor anderen

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und vor mir selbst gewinnen kann. Je mehr Ansehen, desto mehr Würde. Wenn aber Ansehen z. B. mit Bildern der Jugendlichkeit, der Funktionstüchtigkeit und der Belastungsarmut verbunden ist, dann kann von einem ¹unwürdigenª Leben in dem Sinne gesprochen werden, daû das Leben des Menschen, alt, leidend, unansehnlich und schwer belastet geworden ist. Wenn dann in diesem Sinne kein ¹menschenwürdiges Lebenª mehr möglich scheint, spricht man von der Sehnsucht nach einem menschenwürdigen Sterben. Diese Sehnsucht entsteht aber vor allem im Horizont eines bestimmten, verkürzten, an Ansehnlichkeit und Fehlen von Leid gebundenen Würdebegriffs. Ein dritter Begriff von Würde bindet sich an Freiheit und Handlungsfähigkeit als Inbegriff der moralischen Konzentrationsfähigkeit des Menschen. Es ist klar, daû unsere Vorstellungen von Freiheit und Handlungsfähigkeit an ein Bewuûtsein des Menschen gebunden sind, das sich artikulieren und seine Wünsche bekunden kann. Nun sind wir nicht immer bewuût und wir artikulieren uns nicht immer zielführend. Also muû man in dieses Würdeverständnis auch Zustände einschlieûen, die ¹davorª, ¹dazwischenª oder ¹danachª liegen. Der auf bewuûte Wahrnehmung der Freiheit konzentrierte Mensch ist gleichsam ein Mensch, der von der Spitze des Eisberges her verstanden wird. Alles was aber mit dieser Spitze in unlösbarem Kontakt und in Einheit mit ihr ist, ¹erbtª gleichsam von dieser Spitze auch die Würde. ¹Der Mensch ist frei und deshalb Würdeträgerª, ist also eine Spitzenaussage über die Möglichkeiten des Menschseins, nicht schlicht über seine Realität. Freiheit und Würde des Menschen sind seine transzendentalen Bestimmungen. Sie sind deshalb nicht an ihr empirisches Vorhandensein gebunden. Schiller hatte recht: Der Mensch ist in diesem Sinne auch dann frei, wenn er empirisch unfrei ist: ¹der Mensch ist frei und wär' in Ketten er geborenª. Diese Spitzenmöglichkeit färbt aber so auf die Realität des Menschen ab, daû auch defizitäre Zustände des Menschen darunter fallen. Freilich versuchen manche Ethiker (wie Peter Singer, aber auch viele andere), das Kriterium des Bewuûtseins so stark zu machen, daû es ausschlieûlich wird. Damit fallen bestimmte Zustände des Menschen ± frühe Entwicklungsstadien, Koma- und demente Zustände ± nicht mehr unter den Würdebegriff, der uns den Menschen, in welchem Zustand auch immer, zu achten und zu schützen anhält.

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Das ist in meinen Augen eine Bewuûtseinsfalle der Würde, ebenso schlimm wie die empirische Falle. Gilt in der empirischen Falle nur die ¹Würdeª, die wir sehen, so gilt in der Bewuûtseinsfalle nur als Würdenträger, wer schon mitreden kann. Will man die Bewuûtseinsfalle der Würde vermeiden, dann muû man die Würde mit der bloûen Existenz des Menschen, mit seinem Dasein ohne jede Bewertung seines Soseins, des biographischen Stadiums, seines Zustandes usw. verbinden. Einem Menschen wird die Würde nicht zuerkannt, sondern sie kommt ihm zu, weil transzendentale Aussagen über den Menschen jedem Menschen als Menschen zukommen. Das Christentum hat die römische Zuerkennung der Zugehörigkeit von Neugeborenen zur Familie der Menschen durch den Familienvater nicht anerkannt und abgeschafft. An die Stelle der Zuerkennung trat die Anerkennung ohne Bedingungen. Freilich hat die Christenheit sich dagegen massiv versündigt, indem sie, z. B. in den Kreuzzügen, Unterschiede zwischen der Menschenwürde der Getauften und den Ungetauften machte. Solche Unterscheidungen scheinen heute unter anderen Prämissen wiederholbar. Eine christliche Perspektive muû sich dagegen verwahren, indem sie an der unbedingten Annahme jedes Menschen festhält und aus den Fehlern der eigenen Vergangenheit lernt. Freiheit und Handlungsfähigkeit sind ohne Zweifel Spitzenaussagen über den Menschen. Aber, wenn wir ehrlich sind, sind sie kein absoluter, sondern ein im Menschen und mit dem Menschen aufleuchtender Zustand. Diese Würdevorstellung ist in ihrer Anwendung deutlich restriktiver, vor allem in Fragen des Lebensschutzes am Anfang und am Ende des menschlichen Lebens. Sie kann freilich mit der zweiten Würdevorstellung, bei der es um die Verhinderung von Entwürdigungen geht, zusammenfallen. Ebenso mit der dritten, insofern diese nicht eine ausschlieûende Grenze für die Würde im Bewuûtsein zieht, sondern die Potentialität für dieses Bewuûtsein bereits als Teilhabe am Würdeschutz gelten läût. Sie kann sich von der dritten Würdevorstellung insofern unterscheiden, als diese mit Abstufungen der Würde, also mit der Abstufung eines absoluten Wertes, rechnet. Das ist freilich ein Widerspruch in sich, denn: Kann man einen absoluten Wert teilweise besitzen? Kann ein absoluter Wert teilweise anerkannt werden? Ich halte das nicht für möglich, da es sich widerspricht.

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Argumentiere ich deshalb wie ein sog. Speciesist, der die Zugehörigkeit zum Menschsein als Begründung der Würde betrachtet? Zunächst: Der Ausdruck ¹Speciesmusª wurde in Analogie zu ¹Rassismusª und ¹Sexismusª geprägt. Er befindet sich mit dieser Gleichsetzung der Diskriminierungskraft auf dem Holzwege, weil das Ziel z. B. des ¹Rassismusª-Vorwurfes ja nicht ist, dem Rassisten an seiner Menschenwürde etwas wegzunehmen, sondern nur die Würde an jenen zu behaupten, denen er sie verweigert. Das Ziel des ¹Speciesmusª-Vorwurfes ist aber nicht einfach die Erweiterung des Würde- oder in diesem Fall des Personbegriffes in das Tierreich hinein, sondern die Verminderung, Einschränkung oder Aufhebung des Personbegriffes für Menschen, denen er nicht zu Recht zukäme. Also ist der Analogieschluû Rassismus ± Speziesismus falsch, denn muû man, so ist zu fragen, den Menschen etwas wegnehmen, um es den Tieren zu geben? Kann man die Achtung der Tiere, auch die Frage, ob oder inwieweit sie Personen sind, nicht ohne Gegendiskriminierung von Menschen erreichen? (Es ist ja diese Gegendiskriminierung, die die Aufregung um Peter Singer entfacht hat.) Man muû ferner darauf aufmerksam machen, daû sie sogenannten ¹Speciesistenª ja nicht die Zugehörigkeit zum Menschengeschlecht oder zum Menschsein als Begründung der Würde einführen, sondern sie nur als Anerkennung der Reichweite der Würde betrachten. Würde reicht so weit, wie die transzendentale Bestimmung des Menschseins anhaften kann. Von daher bekommen die Argumente ihre Stärke, daû auch der Mensch im Werden unter diese Bestimmung fällt. Freilich können die einzelnen Rechte, die wir aus der Würde ableiten, im Konfliktfall miteinander abgewogen werden. Und dabei kann sich eine Auseinandersetzung darüber ergeben, ob alle Rechte aller einzelnen in gleicher Weise unter allen verschiedenen Umständen unterschiedslos geltend gemacht werden können. Diese Frage wird unsere Gesellschaft gewiû noch intensiv weiter beschäftigen. Denn da es ein Prinzip der Gerechtigkeit ist, Gleiches gleich und Ungleiches ungleich zu behandeln, kann nicht einfach alles gleichgestellt werden, weil es unter die Menschenwürde fällt. Auf der anderen Seite ist aber darauf zu achten, daû dieses Argument nicht dort zur wohlfeilen Verminderung von Rechten führt, wo sie jedem Menschen als Menschen zukommen und wo Menschen unausweichlich auf sie angewiesen sind. Ohne das Le-

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bensrecht kann niemand existieren. Das Leben ist vielleicht nicht das höchste der Güter, aber es ist das dringlichste, weil kein Gut ohne es existieren und verwirklicht werden kann. Einen ganz anderen, in meinen Augen problematischen Zugang bietet die veränderte Schweizer Verfassung mit ihrer Formel ¹Würde der Kreaturª. An dieser Formel ist ¹Religion im Erbeª, wie Ernst Bloch formulieren würde, zu erkennen: Kreatur heiût ja Schöpfung bzw. das Geschaffene. Also geht es um eine geschenkte Würde, die sich aus der Herkunft durch einen Schöpfer ableitet. Diese Würde gleicht dann nach einem scholastischen Modell der unterschiedlichen Seinsstärke und Gottnähe einer proportionalen Analogie: In jedem Geschaffenen ist das geschenkte Dasein in unterschiedlicher Gröûe, am stärksten in der Gottebenbildlichkeit des Menschen. Übernimmt man dieses Weltbild einer gestuften Würde der Kreatur, dann wird man nicht mehr von Anthropozentrik sprechen können. Theologisch gesehen ist nachvollziehbar, daû die Würde des Menschen nicht nach dem Muster ¹Zentrum und Peripherieª gedacht und beachtet sein muû. Aber die Ausdehnung eines absoluten Wertes auf die gesamte Kreatur bedeutet doch auch seine proportionale Abschwächung. Das macht die Formel ¹Würde der Kreaturª in der Anwendung viel zu geschmeidig, als daû sie mit der Unantastbarkeit der Menschenwürde, z. B. in der deutschen Verfassung, noch synonym sein könnte. In der Tat enthält ja die neue Schweizer Verfassung diese Formel von der Unantastbarkeit nicht, was von einigen Bioethikern als Fortschritt betrachtet wird ± eben um der Geschmeidigkeit willen. Die drohende Verletzung des Würdeschutzes beim Menschen hat nicht nur ihren Grund in unterschiedlichen Vorstellungen, sondern auch in einem groûen Druck, der auf dem Schutz der Schwachen liegt. Dieser Druck ist durch die Macht- und Wirtschaftsmittel bedingt, die auf weitere Expansion drängen, oft anonym in der Form der kalten Rendite, hinter welcher das warme Schicksal der Menschen verblaût. Umgekehrt wird dieser Druck immer stärker in Mittelknappheit für die soziale Integrierung der Schwachen umgesetzt. Die Brücke zwischen arm und reich, Macht und Ohnmacht, Selbstbestimmten und Fremdbestimmten bricht in unserer Gesellschaft ein, während es nicht gelungen ist, sie über Demokratie und Sozialstaat zu exportieren. Statt Exportmeister im Sozialstaat wird Deutschland zum Importmeister des Wirtschaftsstaates. Das ist keine Beschuldigung der Wirtschaft, sondern eine reine

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Feststellung: Die Wirtschaft mutet, da sie sich selbst und ihre Macht nicht kontrollieren kann, der Politik und ihren schwindenden Spielräumen eine Kontrolle zu, die sie ihr zugleich Stück für Stück entreiût. In einem abstrakten Sinn ist die Forschungsfreiheit ein hohes Menschenrecht, das sich ebenfalls aus der Menschenwürde ableiten läût. Das Problem besteht freilich darin, daû die Forschungsfreiheit an Wachstumsbranchen gekoppelt wird, die wiederum mit Optionen und Verheiûungen für Güter werben, so daû sich ganze Forschungslandschaften derzeit in einem ökonomisch ausgerichteten Drive auf Produkte der Erkenntnis und der Anwendung fokussieren lassen müssen. Was ist das für eine Forschungsfreiheit, die nur solche Ziele unter den Bedingungen der immer komplizierter werdenden Ausstattung mit technischer und personaler Kompetenz verfolgen kann, die ihr vorgegeben werden? Die Freiheit rutscht in Richtung Programmvorgabe und Mittelzuteilungspolitik. Die Standortpolitik wiederum bindet sich ebenfalls an vorgegebene globale Wachstumsbranchen, bei denen niemand, der auf sich als Wirtschaftsstandort hält, fehlen darf. Es ist eine Illusion zu glauben, daû groû gebündelte Forschungsenergien, wie sie in den Wachstumsbereichen Biotechnik und Informationstechnik eingesetzt werden, dem einzelnen heranrückenden jungen Forscher eine Wahl im Sinne der Forschungsfreiheit lassen. Gewiû, man kann mit dem Einverständnis der Forscher und damit mit Freiheit rechnen. Aber dieses Einverständnis ist schon vorher durch eine Verheiûung gegangen, welche die Wissenschaftswerbebranche dadurch gesellschaftsfähig gemacht hat, daû sie seismographisch das abtastet, wonach wir wirklich verlangen: nach mehr Gesundheit, nach störungsfreiem Verfolgen unseres Glückstrebens. Es ist wie Nietzsche über den letzten Menschen sagte: ¹er hat sein Lüstchen für den Tag, er hat sein Lüstchen für die Nacht, aber er ehrt die Gesundheitª.

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3. Bioethische und biopolitische Entwicklungen als Gefährdungen des Würdeschutzes? Daraus entstehen dramatische Entwicklungen. Wird die Knappheit der öffentlich verfügbaren Ressourcen erstens zur Knappheit des politischen Handlungsspielraumes, zweitens zur Knappheit der Allokation von Lebensschutz und Gerechtigkeit, dann werden immer mehr Lebensmöglichkeiten privatisiert, und dies im Namen von Freiheit und Selbstbestimmung, die sozusagen das knappste und besonders beeinfluûbare Gut der Schwachen darstellen. Besonders prägnant hat dies Peter Singer in einem Interview im Spiegel (2002) zum Ausdruck gebracht. Er hält es für gerechtfertigt, demente Alte zu pflegen, solange dies im Zeichen der wirtschaftlichen Prosperität ein moralisch motivierter Akt der Fürsorge ist. Aber diese Fürsorge sei nicht mehr moralisch geboten, wenn dafür die Mittel abhanden kommen. Sie müsse dann den einzelnen und ihren Entscheidungen überlassen bleiben. Auf dieser Welle schwimmen dann uneingeschränkte, aber unter Knappheitsbedingungen zustande gekommene, Patientenverfügungen für den Behandlungsverzicht. Die jüngsten Stellungnahmen der Kommission zu Patientenverfügungen des BMJ und der Ethikkommission des Landes Rheinland-Pfalz sowie der daraus resultierende Gesetzesentwurf des Bundesjustizministeriums machen deutlich, daû man zwar die Einschlägigkeit des Patientenwillens für einen Behandlungsverzicht prüfen will, aber so gut wie keine ReichweitenBegrenzung ins Auge faût: etwa einen absehbaren Zeitraum für das Sterben, eine tödliche Krankheit oder etwa auch die Abhängigkeit der Wirksamkeit der Ablehnung einer Maûnahme von der Eingriffstiefe und Belastung durch die Maûnahme, die vorgenommen werden soll. Inzwischen werden auch sogenannte gruppennützige, in Wirklichkeit aber fremdnützige klinische Versuche an Nichtzustimmungsfähigen ermöglicht. Die deutsche AMG-Novelle, die auf einer EU-Direktive über ¹Good Clinical Practiceª, diese wiederum auf Elementen der ¹Europäischen Menschenrechtskonvention zur Biomedizinª fuût, sieht für klinische Versuche an Kindern die Legitimation durch Gruppennützigkeit vor, obwohl die Enqu†teKommission des Bundestages, deren Anregungen sich ansonsten positiv für das Gesetz auswirkten, dieses Legitimationskriterium

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ablehnt. Denn der Gruppennutzen gilt entweder für jeden und jede in der Gruppe ± dann braucht man ihn nicht als Kriterium, weil er mit Eigennutz zusammenfällt; oder er meint den Nutzen einer Mehrheit in der Gruppe, dann aber ist er ein utilitaristisches Argument: Gemeinnutz vor Menschenrechten. Obwohl ich der AMG-Novelle und ihrer sehr restriktiven Ermöglichung von klinischen Versuchen an Kindern letztlich zustimme, finde ich dieses falsche Legitimationskriterium gefährlich. Es könnte, obwohl dies bisher keineswegs intendiert ist, die Tür zu klinischen Versuchen an dementen Personen öffnen. Die Singer-Debatte der 80er Jahre hat u. a. gezeigt, daû es eine starke Einfühlung in den Wert des Lebens gibt, von Anfang an und bis zum letzten Atemzug. Aber der Siegeszug einer als Selbstbestimmung verstandenen Autonomie (das Wort bedeutet philosophisch eigentlich: Fähigkeit zur Selbstverpflichtung!) hat sich inzwischen die rechtlichen Entwicklungen am Anfang und Ende des Lebens als ¹Liberalisierungenª auf die Fahnen geschrieben. So wie Peter Singer bei der Früheuthanasie in einem Thesenpapier 199110 von den Eltern und ¹ihrenª ¾rzten gesprochen hat, die entscheiden müûten, so wird immer mehr die Wende vom Paternalismus zur Patientenautonomie vollzogen, so daû der ¹Willeª des Patienten die ¹Fürsorgeª für ihn ersetzt. Ist aber die Gefahr der Fürsorge der Paternalismus, ist die Gefahr der Selbstbestimmung ihre Instrumentalisierung durch sozialen oder ökonomischen Druck. Denn Autonomie ist ein Ideal, in der Realität stellt sich die Frage: Welchen Bindungen folge ich und wie frei bin ich von ihnen? Was ist meine Entscheidung? Wer berät mich richtig? Diese Frage nach Beratung wird um so kräftiger gestellt, je mehr es um Gentests geht, die ja nur prozentuale Wahrscheinlichkeiten benennen können, ohne ein festes Verhältnis von Ursache und Wirkung zu bestimmen. Ihre Implementierung als Angebot führt zu weitreichenden biorechtlichen und biopolitischen Folgerungen: nach der Etablierung unabhängiger Beratungs-Professionalität (das kostet mehr Geld!), nach dem Nichtwissensrecht einerseits, der Aufklärungspflicht gegenüber privaten Versicherungen andererseits u. a. m.

10 Dieses Thesenpapier war Grundlage für eine längere Diskussion im Schweizerischen Fernsehen, an der ich teilnahm.

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Der Wandel des Lebensbegriffes unter dem Leitbild der Lebenswissenschaften scheint inzwischen in der europäischen Bio-Patentierungs-Richtlinie vollzogen, da sie von ¹biological materialª spricht. Indem der Unterschied zwischen nicht geschaffenem Leben und menschlicher Manipulation von Materie eingeebnet wird, kann es dann auch Sachpatente auf Krebsmäuse und menschliche Embryonen geben. Inzwischen hat freilich der deutsche Gesetzgeber den Stoffschutz auf Gene, die ja nicht erfunden, sondern bloû entdeckt sind, eingeschränkt, und das Europäische Patentamt hat Patente auf Embryonen abgelehnt. Aber es geht nicht nur um Lebensrechte und um das Recht des Lebens am Anfang und Ende, es geht auch um das Leben in eingeschränkten Formen, um das Recht des gleichberechtigten Lebens mit Krankheit und Behinderung. An der schwierigen Integrierung von Behinderten in die öffentlichen Bildungsgänge läût sich ablesen, daû auch dort, wo gutgemeinte gesetzliche Förderungen versprochen werden, diese sich oft an der harten Realität der ökonomischen Allokation aufreiben.

4. Christliche Perspektiven und advokatorische Diskurse Der Ruf nach dem religiösen Menschen als Ressource der Werte war noch nie so stark wie heute. Wenn die Politik die Strukturen nicht erhalten kann, müssen Menschen sie gemeinsam aufbauen: Bürgerinitiativen, christliche Gemeinden und individuelles Engagement sind hier gefragt. Die Beweggründe des christlichen Menschenbildes mit seiner Betonung der Geschöpflichkeit und Endlichkeit des Menschen und seiner Grundidee der vorbehaltlosen und unbedingten Annahme eines jeden Menschen sind hier besonders gefragt. Seit Gott in der Menschwerdung seine ¹Würdeª an die Würde des Menschen gebunden hat, kann man sagen: ¹Jede Verletzung der Würde ist eine Verletzung Gottesª (Puebla). Gott ist im konkreten Menschen zu sehen. Denn er hat diesen Ort durch die Schöpfung des Menschen und durch die Menschwerdung bezogen. Wer darum, so lautet der religiöse Beweggrund, an der verletzten Würde des Menschen vorübergeht, der geht an Gott vorüber und macht ihn sich selber so schwach, daû er ihn nicht

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mehr wahrnimmt und verliert. Manche reisen dann dorthin, wo Menschen Gott im konkreten Menschen sehen. Sie borgen sich deren Gotteserfahrung aus. Diese Erfahrung bräuchte aber ¹keine Stunde altª (Robert Musil) zu sein, wenn wir Gott in jedem konkreten Menschen sehen lernten. Dann gehen wir an keiner Würde, die zu achten und zu schützen ist, vorbei. Wenn Menschen aus philosophisch-ethischen Gründen eine transzendentale Auffassung von Würde haben, die jeder Bewertung und jeder empirischen Qualifizierung vorausgeht, dann wird die Frage, ob man dem Embryo etwas ansehen kann, für sie zweitrangig sein. Sie werden im Gegenteil fragen: Wie steht dieser Embryo, aus dem ich geworden bin, zu mir? Ein Behinderter, dem man erzählt, man möchte einen Embryo auswählen, weil er oder sie die gleiche Behinderung hat, sagt, dann wäre ja ¹ichª ausgewählt worden. Diese Kontinuität wird rein intuitiv überall anerkannt. Zur Frage Immunabwehr bei der Einpflanzung embryonal abgeleiteter Stammzellen meinte ein Stammzellforscher: ¹Da tritt natürlich die Immunabwehr des Menschen auf, es handelt sich ja um ein fremdes Individuum.ª (Gemeint ist der geklonte Embryo mit der entkernten fremden Eizelle.) Wenn man zudem davon ausgeht, daû Menschenwürde nicht daran gebunden werden kann, ob ein Mensch selbstbewuût oder selbstbestimmungsfähig ist, ob er interessenfähig ist, wie Peter Singer voraussetzt, dann gehört jedes menschliche Lebewesen in den Bereich dieser Menschenwürde. Diese Einsicht entscheidet noch nicht alles, aber sie ist eine wichtige Vorentscheidung. Diese Vorentscheidung hat zu den unterschiedlichen Modellen der Embryonenschutzgesetze in Deutschland und in Groûbritannien geführt. Deutschland ist keine Insel. Dieses Embryonenschutzmodell hat z. B. Einfluû in Norwegen, in Irland, in Italien, in Portugal, in Österreich, in der Schweiz, in Luxemburg und in einigen neuen EU-Ländern. Das britische Paradigma wirkt in Skandinavien, in den Niederlanden, in Belgien, in Spanien. In Frankreich sucht man einen Mittelweg usw. Im britischen Embryonenschutzgesetz ist der einzelne Embryo in vitro noch kein Würdeträger. Wann wird der Embryo dazu? Diese Frage ist nach der Meinung vieler durch Zuschreibung zu entscheiden. Dafür brauchen sie Anhaltspunkte. Die einen sagen: Würde beginnt mit der Rechtsperson nach der Geburt, Peter Singer meint, erst nach drei Jahren, andere sagen, nach der Herausbildung der Groûhirnrinde, also nach etwa drei Monaten, wieder an-

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dere sagen: nach der Herausbildung der ersten Zelldifferenzierung im Embryo, die seine Totipotenz aufhebt, so daû durch Teilung nicht mehr zwei Individuen entstehen können. Damit sind die ersten 14 Tage ausgenommen. Im Zeitraum vor der Einpflanzung in der Petrischale sei demnach noch keine Würde vorhanden, sondern nur der Respekt vor der Gattung des Menschen. Der Mensch als Gattungswesen gilt als etwas anderes als der Mensch als Person. In der Präambel der Europäischen Menschenrechtskonvention zur Biomedizin (1997) steht, daû der Mensch zu schützen sei, und zwar sowohl als Person wie als Mitglied der menschlichen Gattung. Damit werden der Personbegriff und der Mitgliedsbegriff voneinander getrennt, und der Schutz des Mitglieds ist nur noch ein prozeduraler Schutz, der Schutz der Person ist hingegen ein substantieller Schutz. Nach der Bioethikkonvention dürfen Personen z. B. nicht diskriminiert werden. Ist dann, nur als Mitglied der Menschengattung betrachtet, das menschliche Lebewesen diskriminierbar? Wenn wir zwischen einer Mitgliedschaft in der Menschengattung und einer Person trennen, werden alle Menschen, die nur noch einen ¹vegetativen Statusª haben (der Ausdruck ist angesichts ihrer Empfindungsfähigkeit ohnehin mindestens ungenau, wenn nicht diskriminierend), nicht nur die Embryonen, bloû noch als Mitglied der Menschengattung zählen. Viele Menschen werden also durch das Öffnen dieser Tür mitgefährdet. Wenn man einmal die beschriebene Unterscheidung eingeführt hat, dann kann man sie an verschiedenen Stellen benutzen. Pathozentriker könnten z. B. sagen, frühe Embryonen können doch getötet werden, weil sie schmerzunempfindlich sind. Kann ein menschliches Lebewesen dann getötet werden, wenn es schmerzunempfindlich ist? Wie will man aber diese Verallgemeinerung verhindern, wenn man qualitative Merkmale zu einer Legitimation erhebt? Die Spannung, die im Würdebegriff liegt, zwischen Ansehnlichkeit einerseits und Nichtbewertbarkeit, Nichtverfügbarkeit, Nichtinstrumentalisierbarkeit andererseits, ist bisher ungenügend wahrgenommen worden. Das oben erwähnte empirische Verständnis der Würde als Ansehnlichkeit ist z. B. jetzt schon oft unter dem für jedermann nachvollziehbaren Titel zu finden: ¹menschenwürdig sterbenª. Denn damit ist gemeint, ansehnlich und belastungsarm und souverän zu sterben. Der Begriff des christlich-kantianischen Kontinuums wird damit nicht mehr erreicht. Mit den beiden Würdebegriffen in der

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säkularen Diskussion hängen auch zwei Selbstbestimmungsbegriffe oder zwei Autonomiebegriffe zusammen. Wenn ein Mitglied der menschlichen Gattung, das noch nicht über Selbstbestimmung verfügt, für die Selbstbestimmung eines anderen verfügbar wird, spricht man dann mit Recht von Selbstbestimmung? Z. B. im Kontext der In-Vitro-Fertilisation, der Präimplantationsdiagnostik, der Pränataldiagnostik und der Nachzüchtung von Menschen für Organe? Dann gibt es nämlich nur die Selbstbestimmung des selbstbestimmungsfähigen Wesens. Meistens sind damit die werdende Mutter oder die Eltern gemeint. Dabei wird vergessen, daû jede Selbstbestimmung in diesem Bereich, wenn man den Begriff des christlich-kantianischen Kontinuums aufrechterhält, eine Fremdbestimmung einschlieût: die Fremdbestimmung eines Wesens, das ein Würdeträger ist, in welchem Ausmaû auch immer. Wenn man das christlich-kantianische Kontinuum auf den Autonomiebegriff anwendet, dann heiût, wie schon erwähnt, Autonomie nicht Selbstbestimmung, sondern in genauer Übersetzung ¹Selbstverpflichtungª. Ein freier Wille und ein Wille unter dem sittlichen Gesetz, sagt Kant, seien einerlei. Autonom bin ich nur dann, wenn meine eigenen Maximen verallgemeinerungsfähig sind. Wenn eine Entscheidung für ein ethisches Urteil so geartet ist, daû sie jeder andere unter den Bedingungen, unter denen ich lebe, in gleicher Weise fällen müûte, ist der Mensch ¹autonomª. In der angelsächsischen philosophischen Tradition taucht aber dieser kantische Autonomiebegriff nicht auf. Vielmehr herrscht eine Spaltung zwischen einer religiösen Tradition, in der der Mensch vor Gott verpflichtet ist und in dem Sinn nicht autonom ist, sondern theonom, einerseits und einer säkularen Situation andererseits, in der Menschen sich selbst bestimmen können. Diese Zuweisung der Menschenwürde an eine religiöse Sondersprache ohne philosophisches Konzept, die heute in der Bioethik immer mehr üblich wird, wirkt sich auf viele wichtige Dinge aus. Es gibt philosophische Traditionen, z. B. ausgehend von John Locke, einem der Begründer der angelsächsischen Staatsphilosophie, in denen Personalität auf ¹Selbstbewuûtseinª festlegt wird. Diese Formel steht nicht im christlichen Kontinuum, denn der jüdisch-christliche Personenbegriff meinte immer individuelles Menschsein in Beziehung, d.h. das Individuum wurde nicht atomistisch verstanden. Diese Tradition ist in der Philosophie eines Emmanuel LØvinas nachzuvollziehen. Habe ich nun, indem ich mit

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einem christlich-philosophischen Kontinuum argumentiere, meine Eingangsthese auûer acht gelassen, die den Beweisgrund in der Ethik allein an das philosophische Argument gebunden sieht? Dies scheint mir nur dann der Fall zu sein, wenn man Kant für einen Theologen hält, obwohl er nicht theologisch argumentiert. ¹Religion im Erbeª zu haben, wie Ernst Bloch das formulierte, bedeutet noch nicht, daû man die säkulare Argumentation verläût. Aber vielleicht gehen diejenigen, die ihre Beweggründe nicht klären oder nicht offenlegen, an mancher Eingangstür zu einer Argumentationsfolge vorbei, die durchaus hilfreich sein könnte, indem sie eine ungeschichtliche Konstruktion wählen, deren Interessenzusammenhang sie nicht mehr prüfen. Die theologische Ethik ist hingegen stets gezwungen, auch die Genese von Argumentationen im Auge zu behalten und nicht nur auf eine Kohärenz zu achten, die auf beliebiger Plattform errichtet werden kann ± wenn diese nur beansprucht, weder religiös noch metaphysisch zu sein.

5. Menschenwürde im Menschenbild Wenn man die Kontinuität sucht, dann begegnet die begriffliche Auslegung der Menschenwürde den Traditionen der Menschenbilder. Menschenwürde ± so lautet meine These ± wirkt nur dann konkret, wenn sie gehaltvoll an Motivationen ist, die uns unbedingt und unausweichlich angehen, und in diesem Sinne gehaltvoll wird sie wiederum nur durch Menschenbilder. Deshalb ist das christliche Menschenbild hier von Bedeutung, ohne daû die Elemente, auf die es zurückgreift, als solche exklusiv gedacht werden müssen. Das erste Element läût sich zusammenfassen im Bild der Endlichkeit. Das Christentum lebt mit dem Bild vom endlichen geschaffenen Menschen. Ich habe am Anfang darauf hingewiesen, daû die Verbesserungsmöglichkeiten für die menschlichen Lebensbedingungen seit Francis Bacon das entscheidende Forschungsprogramm sind. Dabei wird die Endlichkeit oft vergessen: Der Mensch bleibt, wenn er handelt, auch wenn er unterläût, ein fehlerfähiges Wesen. Er kann auch die Folgen seiner Handlungen, das ist in der Geschichte beweisbar, nachträglich nicht alle kontrollieren. Ja, er kann sie nicht einmal völlig voraussehen. Das erste läût sich z. B. an der

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Atomenergie erkennen. Die Frage nach der endgültigen Entsorgung des spaltbaren Materials war nicht geklärt. Das wuûte man im voraus, aber man sagte: Das Problem wird man später lösen, es tritt ja nicht sofort auf. Und deswegen sind wir jetzt in dieser schwierigen Situation des schrittweisen Ausstieges. Die Endlichkeit des Menschen ist eine bildliche Form auch für die Sterblichkeit, die Leidensfähigkeit und Schuldfähigkeit des Menschen. Diese Form geht aus der Meditation der Schöpfung und aus der Situation des Menschen in der Sünde hervor. Die Festlegung der Leidensfähigkeit des endlichen Menschen wendet sich keineswegs dagegen, Leiden zu bekämpfen und zu verringern. Aber die Sensibilität des Menschen ist nicht ohne Leidensfähigkeit zu denken. Solche Sensibilitäten, die in der Tradition der Religionen liegen, dürfen nicht verlorengehen, auch wenn man sie selber nicht teilt. Kirchen und Religionen müûten sich um diese Sensibilitäten bemühen. Das heiût aber auch, daû es eine ständige übergreifende Konkurrenz zwischen den Menschenbildern des Fortschrittsdenkens und den Menschenbildern der Endlichkeit gibt, eine Konkurrenz, eine Spannung, zum Teil einen unaufhebbaren Widerspruch, auch eine Herausforderung, miteinander auszukommen, einander zu korrigieren. Das zweite Element des christlichen Menschenbildes ist mit dem Wort ¹unbedingte Annahmeª bezeichnet. Wenn wir über die Art nachdenken, wie der Glaube, die Zuwendung Gottes zum Menschen erfahren wird, dann gelangen wir ± und zwar, so denke ich, unabhängig von den Konfessionen ± zu der Ureinsicht, daû Gott den Menschen vorbehaltlos annimmt, unabhängig von seiner Befindlichkeit. Er stellt für diese Annahme keine Bedingungen. In der Rechtfertigungslehre ist dies besonders deutlich zum Ausdruck gebracht. Deshalb verstehe ich nicht, weshalb einige evangelische Theologen11 der Meinung sind, weil die volle Versöhnung des Menschen noch ausstehe, liege seine eigentliche Würde erst im Reich Gottes. Wenn man Würde steigern kann, dann kann man sie auch vermindern und verringern. Das aber gerade hält der Würdebegriff nicht aus. Gott kommt dem Menschen stets entgegen. Er ist auf seine geoffenbarte Göttlichkeit und damit auf dieses Entgegenkommen festgelegt. Das ist unbedingte Annahme. Wir versuchen 11

In einer viel beachteten Erklärung in der FAZ vom 23. 1. 2002.

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in Bildern von Gott diese unbedingte Annahme zum Ausdruck zu bringen, indem wir zu ihm sagen: ¹unser Vaterª oder ¹unsere Mutterª, weil wir nämlich der Meinung sind, daû Eltern das irdische Bild dafür sind, daû man jemanden unbedingt annimmt und ihm keine Bedingung für seine Existenz stellt. Das Bild ist ja auch in der Bibel von Eltern genommen. Aber von der Erfahrung her, daû Eltern an ihre Grenzen stoûen, daû sie fehlerfähig sind, daû wir alle fehlerfähig sind in der Frage der Annahme des anderen, ist die religiöse Idee als Erfahrung stärker geworden, daû wir der Annahme als einer religiösen Wirklichkeit bedürfen, um die menschliche Annahme von daher stärken zu können. Mit einem Beispiel läût sich verdeutlichen, was mit unbedingter Annahme im zwischenmenschlichen Verhalten gemeint ist und was jetzt schon durch unsere Praxis zur Debatte steht: wenn ein zwölfjähriges Mädchen abends mit seinen Eltern ein schönes Gespräch führt ± der Fernseher ist ausnahmsweise ausgeschaltet ±, und sie unterhalten sich darüber, wie dieses Mädchen geworden ist und warum die Eltern ihm eine solche Liebe entgegenbringen. Das Mädchen ist dankbar, es hört seinen Eltern zu, es ist ein schönes Gespräch, und die Eltern erklären dem Mädchen, daû sie es in besonderer Weise lieben, weil sie es vor der Geburt haben testen lassen und es die Krankheit von Tante Emma nicht gehabt hat. Dieses Beispiel trifft schon die Wirklichkeit; es ist nicht etwas, was bevorsteht. Und das ist offensichtlich ein Zeichen dafür, daû wir die Idee der unbedingten Annahme schon aus dem Blick verloren haben. Denn dieses Mädchen hat zwei Möglichkeiten. Es kann sagen: Vielleicht ist es besser, daû ich nicht geboren worden wäre, wenn ich so gewesen wäre wie die Tante Emma. Aber es kann auch so denken: Werden meine Eltern von mir erwarten, daû ich beispielsweise auf einem Musikinstrument eine besondere Leistung erbringe und dann erst von ihnen besonders angenommen bin, wenn ich es tue? D.h. das Selbstgefühl eines solchen Menschen wird verändert, entweder zur Gleichgültigkeit oder zur Einschränkung des Selbstgefühls im Sinne einer Abhängigkeit von dem, was andere über ihn denken. Was ich damit psychologisch zu erfassen versucht habe, ist eine zutiefst religiöse Idee, ohne die man sich im Grunde Menschenwürde nicht konkret vorstellen kann. Die gehaltvollen Motive des christlichen Menschenbildes können weiterhin die formalen philosophischen Überlegungen im Sinne Kants mit Leben erfüllen.

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Literatur Baumgartner, Christoph/Mieth, Dietmar (Hgg.) (2004), Patente am Leben, Paderborn. Böckenförde, Ernst-Wolfgang: ¹Bleibt die Menschenwürde unantastbar?ª Referat beim Workshop des IMEW und der Heinrich-Böll-Stiftung, 11. 6. 2004 (vgl. ders., ¹Die Menschenwürde war unantastbarª, in: FAZ, 3. Sept. 2003). Braun, Volkmar/Mieth, Dietmar/Steigleder Klaus (Hgg.) (1987), Ethische und rechtliche Fragen der Gentechnologie und der Reproduktionsmedizin, München. Düwell, Marcus/Mieth, Dietmar (Hg.) (2. Aufl. 2000), Ethik in der Humangenetik, Tübingen. Düwell, Marcus/Steigleder, Klaus (Hg.) (2003), Einführung in die Bioethik, Frankfurt am Main. Geyer, Christian (Hg.) (2001), Biopolitik. Die Positionen, Frankfurt am Main. Graumann, Sigrid (Hg.) (2001), Die Genkontroverse. Grundpositionen (mit der Rede von Johannes Rau), Freiburg. Haker, Hille (2002), Ethik der genetischen Frühdiagnostik. Sozialethische Reflexionen am Beginn des menschlichen Lebens, Paderborn. Honnefelder, Ludger u. a. (Hg.) (2003), Das genetische Wissen und die Zukunft des Menschen, Berlin/New York. Honnefelder, Ludger/Lanzerath, Dirk (Hg.) (2004), Klonen in biomedizinischer Forschung und Reproduktion, Bonn. Langlois, Anne (2001), Art. ¹DignitØ humaineª, in: Gilbert Hottois/JeanNol Missa (eds.), Nouvelle encyclopØdie de bioØthique, Bruxelles, 281± 284. Mieth, Dietmar (Hg.) (2000), Ethik und Wissenschaft in Europa. Die gesellschaftliche, rechtliche und philosophische Debatte, Freiburg/München. Mieth, Dietmar (2001), Die Diktatur der Gene. Biotechnik zwischen Machbarkeit und Menschenwürde, Freiburg i. Br. Mieth, Dietmar (2002), Was wollen wir können? Ethik im Zeitalter der Biotechnik, Freiburg i. Br.

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Grenzen der Definitionsmacht. Zum Verhältnis von Normkultur und Nutzenkultur aus der Sicht evangelischer Theologie 1. Der Mensch als Beziehungswesen ¹Der Mensch ist ein Beziehungswesenª1. Man wird kaum einen Beitrag der evangelischen Theologie zur gegenwärtigen bioethischen Debatte finden, in dem diese These nicht vorgetragen oder als Grundüberzeugung vorausgesetzt würde. ¹Menschsein heiût In-Beziehung-Seinª2. Die Frage ¹Was ist der Mensch?ª läût sich demnach nicht so beantworten, daû man auf Eigenschaften verweist, die einen Menschen an und für sich, abstrahiert von seinen Beziehungen zu anderen, kennzeichnen. Vielmehr sind Beziehungen wesentlich für das Sein des Menschen. Sie ¹kommen nicht zu unserem Sein als Menschen hinzu, sondern sie machen es ausª3. Um welche Beziehungen aber geht es? Und ± wenn denn die These theologisch gemeint ist ± wie verhält sich die Gottesbeziehung des Menschen zu den vielfältigen zwischenmenschlichen und weltlichen Beziehungen? Als Andere, auf die jeder Mensch angewiesen ist, um als Mensch leben zu können, kommen zunächst andere Menschen in Betracht. Der Mensch kommt zur Welt, ¹empfangen und genähret/Vom Weibe wunderbarª4; und er bleibt ein bedürftiges Wesen, 1 EKD-Synode, Timmendorfer Strand, 3.±8. 11. 2002, Thesen zum Schwerpunktthema ¹Was ist der Mensch?ª (3. These), in: epd-Dokumentation 48/2002, 18. 2 Wilfried Härle in seinem Einführungsvortrag zur EKD-Synode November 2002, a. a. O., 22; ausführlicher dazu: ders., Menschsein in Beziehungen. Studien zur Rechtfertigungslehre und Anthropologie, Tübingen 2005, insbes. 169±190. 363±479. 3 Ebd.

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so lange er lebt. Die Relationalität seiner Natur konkretisiert sich in der fundamentalen Passivität, in der ein Mensch aufgenommen, angenommen und bewahrt, ins Leben gesetzt und lebendig erhalten wird. Dazu bedarf er nicht nur der Nährstoffe, sondern auch der Menschen, die sie ihm vermitteln und geben. Eine Versorgung, die zwar die Zufuhr von nährenden Stoffen sicherstellt, aber die menschliche Zuwendung und Kommunikation auf Dauer ausschaltet, gilt zu Recht als unmenschlich. Die biblische Einsicht, daû der Mensch ¹nicht vom Brot allein lebtª (Dtn 8,3; Mt 4,4 par), dürfte als anthropologische Erkenntnis allgemeine Zustimmung finden. Auch wer die anschlieûende theologische Behauptung, der Mensch lebe ¹von einem jeden Wort, das aus dem Mund Gottes gehtª, nicht nachvollzieht, wird doch nicht die anthropologische Einsicht bestreiten: Der Mensch ist in seiner gesamten Existenz angewiesen auf kommunikative Beziehungen, durch die und in denen er seinen spezifisch menschlichen Charakter ausbildet und bewährt. Daû er jenes besondere Lebewesen ist, das sich durch den Logos, durch Sprache und Vernunft auszeichnet, setzt somit das Angesprochenwerden voraus. Dabei ist Sprache in einem weiten, die leibliche Kommunikation einschlieûenden Sinn zu verstehen. Der Mensch lebt davon, daû er als Mensch von anderen Menschen angenommen und angesprochen wird. Nach theologischer Auffassung geht es in dieser geschöpflichen Kommunikation zugleich um die Beziehung zu dem einen Anderen, dem alle Menschen ihr Leben verdanken. Die Frage ¹Was ist der Mensch?ª verbindet sich im biblischen Denken mit dem Staunen darüber, ¹daû du [sc. Gott] seiner gedenkst, daû du dich seiner annimmstª (Ps 8,5). Diese im Nebensatz angesprochene Erfahrung ist von entscheidender Bedeutung: Das Leben eines Menschen ist im Wort Gottes, im Gedenken und somit in der Beziehung Gottes zu ihm begründet5. Für sich genommen, herausgelöst aus den lebensentscheidenden Beziehungen, aber ist es ¹Staubª, geradezu 4

Matthias Claudius, ¹Der Menschª, in: ders., Sämtliche Werke, hg. von Jost Perfahl, Darmstadt 1980, 248. 5 Daû und in welchem Sinne das Menschsein vom Gedenken Gottes her zu verstehen ist, zeigt Gunda Schneider-Flume, ¹Der Realismus der Barmherzigkeit in der Gesellschaft. Überlegungen zur theologischen Debatte um die Bioethikª, in: ThLZ 130, 2005, 727±740, insbes. 733; zur systematisch-theologischen Auslegung von Ps 8 im Kontext der Bioethik: Oswald Bayer, ¹Selbstschöpfung? Von der Würde des Menschenª, in: Christof Gestrich (Hg.), Die biologische Machbarkeit des Menschen, Beiheft zur BThZ 18, 2001, 39±56.

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nichts. ¹Ist doch der Mensch gleichwie nichts; seine Zeit fährt dahin wie ein Schattenª (Ps 144,4). In dem Versuch, sich selbst auf den Grund zu kommen, erfährt der Mensch seine Hinfälligkeit und Nichtigkeit; er ist bloû ein ¹Hauchª (Ps 78,39; Jes 2,22; Hiob 7,7.16). Und zugleich wird er auf den Grund auûerhalb seiner selbst verwiesen, von dem er sich in seiner ganzen Existenz nur empfangen kann. Auch die Gottebenbildlichkeit, durch die er sich vor den anderen Kreaturen auszeichnet, ist keine Qualität, die mit einer Eigenschaft, etwa mit seiner Vernunftbegabung, gleichgesetzt und an ihm festgestellt werden könnte. Als Ebenbild Gottes ist er vielmehr konstitutiv als ein vom Wirken Gottes abhängiges Wesen verstanden. Das Bild, das er ist, leuchtet auf, sofern es sich von einer externen Quelle des Lichtes her empfängt; es wird sichtbar im Lichte eines anderen. Es entspricht dieser biblischen Sicht, wenn Martin Luther den Menschen theologisch durch das Geschehen der Rechtfertigung, mithin durch das ihm von auûen zugesprochene Wort Gottes definiert sah6. Und er hat damit auf dem Feld der Anthropologie nur zur Geltung gebracht, was er im Blick auf die Erkenntnisaufgabe der Theologie überhaupt gefordert hat: Wir sollten dialektisch denken, indem ¹wir uns von der einfachen und absoluten Aussageweise der Substanz verlegen auf die Aussageweise der Relationª7. Die Einsicht in den relationalen Charakter des Menschseins bezeichnet den gemeinsamen Nenner, auf den sich evangelische Theologen auch dort noch verständigen können, wo sie im Blick auf die neuen Errungenschaften der Biotechnologie zu verschiedenen, miteinander nicht zu vereinbarenden ethischen Urteilen gelangen8. Dieser Dissens, der in den Stellungnahmen zu den Streitfra6 Disputatio de homine (1536), in: Martin Luther, Werke. Kritische Gesamtausgabe (Weimarer Ausgabe: WA), Bd. 39/I, 174±180; vgl. dazu die Textfassung, Übersetzung und eingehende Kommentierung von Gerhard Ebeling, Disputatio de homine, 3 Bde. (= Lutherstudien, Bd. II/1±3), Tübingen 1977, 1982 und 1989; dort Bd. 1, 22 (These 32). Luthers Thesen werden im folgenden nach der Übersetzung von Gerhard Ebeling zitiert. 7 WA 40/III, 334, 23±26: ¹ex simplici et absoluto substantiae praedicamento transferre in praedicamentum relationisª. 8 Vgl. dazu Im Geist der Liebe mit dem Leben umgehen. Argumentationshilfe für aktuelle medizin- und bioethische Fragen. Ein Beitrag der Kammer für Öffentliche Verantwortung der EKD (EKD-Texte 71), Hannover 2002; auûerdem: ¹Starre Fronten überwinden. Eine Stellungnahme evangelischer Ethiker zur Debatte um die Embryonenforschungª, in: Reiner Anselm/Ulrich H. J. Körtner (Hg.), Streitfall Biomedizin. Urteilsfindung in christlicher Verantwortung, Göttingen 2003, 197±208.

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gen der Bioethik aufbricht, deutet darauf hin, daû bereits auf der Ebene der theologischen Anthropologie die Relationalität des Menschseins verschieden ausgelegt wird. Strittig ist, wie sich die beiden eben unterschiedenen Beziehungsgefüge, das anthropologisch-empirische einerseits und das theologisch-transzendente andererseits, zueinander verhalten9. Eine Gruppe von evangelischen Ethikern, deren Position auch in die 2002 veröffentlichte Argumentationshilfe der EKD10 eingegangen ist, versteht die Relationalität vor allem als die biologisch und sozial vermittelte Interaktionsstruktur, ohne die sich ein menschlicher Embryo nicht als Mensch entwickeln kann. Sowohl auf natürlichem Weg als auch durch künstliche Befruchtung entstehen freilich Embryonen, die aus dem relationalen Gefüge, das entwicklungsbiologisch für ihre Menschwerdung konstitutiv ist, sofort, kaum daû sie entstanden sind, wieder herausfallen oder gar nicht erst in dieses aufgenommen werden. Seien ¹die äuûeren Bedingungen für eine Entwicklung, insbesondere die Einnistung in die Gebärmutter einer Frau, nicht gegebenª, so könne ¹aus faktisch-empirischen Gründen nicht von sich entwickelnden Menschen gesprochen werdenª11. Aus der Einsicht, daû kein Mensch sich entwickeln kann, wenn sich nicht andere seiner annehmen, und daû insbesondere die mit der Nidation erfolgende Aufnahme in die Gebärmutter von entscheidender Bedeutung ist, wird hier gefolgert, daû bis zu diesem entscheidenden Akt der Annahme über das Menschsein des Embryos noch nicht entschieden sei. Mit der Betonung der Relationalität verbindet sich somit die Behauptung einer ontologischen Unentschiedenheit in der frühesten Embryonalentwicklung. Aus dem Embryo kann etwas anderes werden als ein Mensch. Genauer: Sofern er definitiv nicht zum Menschen werden kann, weil die zu seiner Entfaltung und Bewahrung erforderlichen Beziehungen nicht gegeben sind, darf aus ihm etwas anderes gemacht werden als ein Mensch, etwa ein Ersatzgewebe, das anderen Menschen therapeutisch nützen kann. In diesem Sinne plädieren einige evangelische

9 Vgl. zur Unterscheidung zwischen ¹immanent-relationalenª und ¹transzendentrelationalen Begründungstheorienª Wilfried Härle, ¹Der Mensch Gottes. Die öffentliche Orientierungsleistung des christlichen Menschenverständnissesª, in: ders., Menschsein in Beziehungen, a. a. O. (s. Anm. 2), 363±378, insbes. 370±373. 10 Im Geist der Liebe mit dem Leben umgehen, a. a. O. (s. Anm. 8). 11 Ebd., 22.

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Theologen dafür, zwischen menschlichem Leben und dem Leben eines werdenden Menschen ¹kategorialª zu unterscheiden12. So rechnet Jörg Dierken ¹eine wie auch immer geartete Differenz zwischen dem normativen Kern des Humanum ± also dem, was der Mensch als Mensch ist, darf oder auch sein soll ± und dessen empirischer Basis in naturalen Zuständen des biologischen Gattungswesens ¸homo sapiensª geradezu ¹zu den Bedingungen der bioethischen Debattenª13. ¹Daû es sich bei den embryonalen Zellen, die für Diagnostik und Forschung ¸seligiert und ¸verbraucht werden, [. . .] um menschliches Leben handeltª, bedeute keineswegs zwangsläufig, daû dieses menschliche Leben ¹Träger des normativen Kerns des Humanumª sei.14 Am exponiertesten hat Johannes Fischer diese Unterscheidung zwischen menschlichem Leben und Leben eines Menschen als eine Unterscheidung zwischen ¹etwasª und ¹jemandª zur Geltung zu bringen gesucht15. Nicht alles menschliche Leben sei demnach als Leben eines Menschen zu achten. Den in ihrer Entwicklung scheiternden Embryonen wird hier der Status des Menschen abgesprochen. Daraus, daû diese das Ziel der Menschwerdung nicht erreichen können, weil ihnen die Entwicklungsmöglichkeiten entzogen sind, folgert Fischer, daû es sich hier gar nicht um Menschen handele. Was ¹kein Mensch wirdª, weil es sich nicht zu einem solchen entwikkeln kann, bleibt ¹etwas anderes [. . .] als ein Menschª16. Bei aller Zurückhaltung, die in der evangelischen Theologie gegenüber einem vermeintlich katholischen ontologischen Denken geübt wird17, ist doch nicht zu verkennen: Die kategoriale Unter12 Eberhard Jüngel, ¹Hoffen, Handeln ± und Leiden. Zum christlichen Verständnis des Menschen aus theologischer Sichtª, in: ders., Beziehungsreich. Perspektiven des Glaubens, Stuttgart 2002, 13±40, Zitat 17. 13 Jörg Dierken, ¹Docta ignorantia oder: Die Freiheit des Endlichen. Theologische Überlegungen zu aktuellen Fragen der Bioethikª, in: ZEE 46, 2002, 86±108, 88. 14 Ebd., 90. 15 In Kurzform: ¹Vom Etwas zum Jemand. Warum Embryonenforschung mit dem christlichen Menschenbild vereinbar istª, in: Zeitzeichen 3/2002, 11±13; ausführlicher: ders., ¹Die Schutzwürdigkeit menschlichen Lebens in christlicher Sichtª, in: Anselm/Körtner (Hg.), Streitfall Biomedizin, a. a. O. (s. Anm. 8), 27±45. 16 Johannes Fischer, a. a. O. (s. Anm. 15), 32. 17 Es ist üblich geworden, die Ontologie im Sinne einer Substanzontologie von einer relationalen Ontologie zu unterscheiden. Die erstere gilt als katholisch, während die zweite als spezifisch evangelisch gilt. Eben diese Entgegensetzung dürfte freilich problematisch sein und zu einer Verzeichnung auf beiden Seiten, in der Darstellung katholischer ebenso wie evangelischer Positionen führen. Substanzontologische und relationsontologische Gesichtspunkte sind miteinander zu verbinden. Vgl. Peter Da-

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scheidung zwischen menschlichem Leben und Leben eines Menschen, ausgelegt als Unterscheidung zwischen ¹etwasª und ¹jemandª, hat die Qualität eines ontologischen Urteils. Man mag darin einen Beweis für die Unausweichlichkeit der ontologischen Entscheidung sehen: Sein oder Nicht-Sein? Ist jeder Embryo Mensch oder sind einige es nicht? Auch wer diese Fragen offen zu halten bedacht ist, indem er die äuûeren Umstände, die Lebensverhältnisse darüber entscheiden läût, kommt nicht umhin, dieses im Lebensprozeû sich vollziehende Urteil, demzufolge einzelne Embryonen als Menschen angenommen, andere aber verworfen werden, ontologisch zu gewichten. Dabei ist deutlich, daû dieses ontologische Urteil nicht nur weitreichende ethische Konsequenzen hat, sondern auch ethisch motiviert und interessiert ist. Gibt es menschliches Leben, das nicht Leben eines Menschen ist, so unterscheidet es sich qualitativ nicht von dem Leben, das Menschen nutzen und verbrauchen dürfen. Ein Leben, das nicht ¹Träger des normativen Kerns des Humanumª18 ist, bzw. ein embryonaler Organismus, der keinen Menschen ¹verkörpertª19, fällt aus dem Schutzbereich der unter dem Begriff der Menschenwürde stehenden Normkultur heraus, um der am Begriff des Nutzens orientierten Kultur zugeführt zu werden. Haben die Embryonen, die nicht zur Einnistung gelangen, gar nicht ¹die Bestimmung [. . .], sich als Menschen oder zu einem Menschen im personalen Gegenüber zu Gott zu entwickelnª20, so können und dürfen sie anderen Bestimmungen unterworfen werden. Normativ ¸entkernt, als seelenloses Gebilde betrachtet, fallen sie der Nutzenkultur anheim, deren Grundzug eben darin besteht, daû der Mensch der Natur seine Zwecke aufprägt und somit für seine Bedürfnisse instrumentalisiert. Gegen eine derartige Ausweitung der Nutzenkultur auf menschliche Embryonen lassen sich jedoch Einsichten anführen, brock in: ders., Lars Klinnert und Stefanie Schardien, Menschenwürde und Lebensschutz. Herausforderungen theologischer Bioethik, Gütersloh 2004, 166 f.: ¹Eine nicht nur, aber auch theologisch nachvollziehbare Menschenwürde-Konzeption wird in der Klammer der umfassenderen Relationsontologie (¸der Mensch wird durch die Anrede Gottes zum Menschen) substanzontologische Gesichtspunkte (¸der Mensch wird durch die Anrede Gottes zum Menschen) in die theologische Anthropologie integrieren müssen.ª 18 S. o. Anm. 14 19 Johannes Fischer, a. a. O. (s. Anm. 15), 33. 20 Ebd., 35.

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die im christlichen Verständnis der Schöpfung und des Menschen als eines Geschöpfes Gottes tief verankert sind. Vom biblischen Schöpfungsglauben her, so wie er in der Tradition der evangelischen Theologie reflektiert wird, soll im folgenden Abschnitt (2.) der Begriff der Nutzenkultur kritisch gewürdigt werden, um daraufhin die Sonderstellung des Menschen, die unter dem Begriff der Normkultur angesprochen ist, theologisch zu interpretieren. Dazu ist es zunächst erforderlich, die theologische Perspektive auf den Menschen im Verhältnis zu anderen Weisen der Wahrnehmung zu verdeutlichen (3.). Das theologische Verständnis des Menschen als Ebenbild Gottes widerspricht den Versuchen einer abschlieûenden Selbstbeurteilung (4.). Daû diese Begrenzung menschlicher Definitionsmacht um der Freiheit willen geboten ist, soll abschlieûend (5.) vom Rechtfertigungsglauben her zumindest noch angedeutet werden.

2. Recht und Grenze der Nutzenkultur Unter dem Aspekt der Nutzenkultur betrachtet, folgen die Techniken der Biomedizin einem seit langem eingeübten und vielfach bewährten Muster: ¹Der Mensch lebt von Anfang an nur durch fortwährende Eingriffe in die Natur. Er reiût [. . .] den Erdboden pflügend auf, sät und erntet, jagt und fischt, züchtet und schlachtet, setzt Spalierobst flach an die Wand, wirft das Unkraut achtlos weg ± und schont sich selber nicht [. . .]ª21. Mit der Gentechnik, der Forschung an Embryonen und der zur Diskussion stehenden Nutzung embryonaler Stammzellen zu therapeutischen Zwecken wird lediglich fortgesetzt, was der Mensch spätestens seit der neolithischen Revolution im Umgang mit der auûermenschlichen Natur gelernt und immer weiter ausgebildet hat: Er bearbeitet die Natur, um sie sich nutzbar zu machen. Unter seinen Händen wird die rohe Natur zur Kultur veredelt. An der Landwirtschaft, der agricultura, lassen sich paradigmatisch Grundvorgänge dieser auf den Nutzen des Menschen ausgerichteten Kultur erkennen: Der Erdboden wird aufgebrochen, umgepflügt. Unter den natürlich vor21 Volker Gerhardt, ¹Geworden oder gemacht? Jürgen Habermas und die Gentechnologieª, in: Matthias Kettner (Hg.), Biomedizin und Menschenwürde, Frankfurt/ Main 2004, 272±291, 285.

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kommenden Pflanzen und Tieren wird eine Auswahl getroffen, Einzelnes wird bevorzugt, Anderes verworfen und eliminiert. Und Verschiedenes, was in der Natur getrennt vorkommt, wird kombiniert. In diesen Akten der Kultivierung wird die Natur zum Material, das der Mensch auf den naturgesetzlichen Zusammenhang hin untersucht, um es dann seinen Zwecken dienstbar zu machen. ¹Und wenn sich nun zu Rind, Esel und Hausschwein, zu Kiwi und Nektarine [. . .] das künstliche Insulin, die Gentomate, der geheilte Alzheimer oder eines fernen Tages auch ein therapeutischer Klon gesellen, geschieht nichts prinzipiell Neuesª22. Wenn also heute menschliche Embryonen zum Gegenstand der Forschung, der Selektion und Veränderung gemacht werden, so handelt es sich grundsätzlich und methodisch um gleichartige Kulturtechniken: Auch hier wird ein gegebener Zusammenhang aufgebrochen. Es wird ausgewählt und verworfen, um das Nützliche in seinem Wachstum zu fördern. Veränderung wird verstanden als Verbesserung, Veredelung nach Maûgabe wünschenswerter Eigenschaften. Neu ist lediglich, daû hier eben das Material bearbeitet wird, aus dem der Mensch selbst hervorgeht. Wie der Ackerboden der äuûeren Natur so wird hier der Grundstoff der eigenen Natur bearbeitet: der Stoff, der den Menschen bildet und insofern von konstitutiver Bedeutung für ihn ist. Um zu einer ethischen Beurteilung der neuesten Kulturtechniken, die unter dem Begriff der Anthropotechnik diskutiert werden23, zu gelangen, ist zunächst an die grundsätzliche Einschätzung der Kultur in der abendländischen Tradition zu erinnern. Neben dem mit dem Namen Prometheus verknüpften Kulturentstehungsmythos24 und in deutlicher Spannung zu ihm hat hier insbesondere die biblische Tradition prägend gewirkt. Beide Schöpfungsberichte der Bibel (Gen 1 und 2) sind sich in der grundsätzlichen Bejahung der Kultur einig. Die Kulturtätigkeit des Menschen ist alles andere als ein frevlerisches Unterfangen, sofern sie in einem Auftrag des Schöpfers selbst gründet. Der Mensch darf und soll sich die Erde untertan machen (Gen 1,28). Diesem 22

Ebd., 286. Vgl. dazu insbes. die provozierende Elmauer Rede von Peter Sloterdijk, Regeln für den Menschenpark. Ein Antwortschreiben zu Heideggers Brief über den Humanismus (1998), 8. Aufl. Frankfurt/Main 2004, insbes. 42±45 und 50. 24 Vgl. Platon, Protagoras 320c±322d, in: Werke in 8 Bdn., hg. v. Gunther Eigler, Darmstadt 1977, Bd. 1, 114±119. 23

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viel zitierten und kritisierten Herrschaftsauftrag des ersten Berichts entspricht die im zweiten Schöpfungsbericht überlieferte Weisung, der Mensch solle den Garten bebauen und bewahren (Gen 2,15). Auch sie schlieût die Bevollmächtigung zur Kultur ein. Grundsätzlich ist die Schöpfung dem Menschen zur Nutzung freigegeben. ¹Du [sc. der Herr] lässest Gras wachsen für das Vieh, und Saat zu Nutz dem Menschen, daû du Brot aus der Erde hervorbringstª, heiût es in Ps 104,14. Daû in der Schöpfung ¹eines dem anderen nütztª (Jesus Sirach 42,15), ist Inbegriff ihrer vollkommenen Ordnung. Der Schöpfer, der den Menschen als ein bedürftiges Lebewesen geschaffen und zur verantwortlichen Herrschaft berufen hat, hat zugleich vorgesorgt, daû dieser seine elementaren Bedürfnisse befriedigen kann. Er darf, ja er soll auf seinen Nutzen bedacht sein, wobei freilich immer wieder kritisch zurückzufragen ist, ob das, was der Mensch als nützlich ansieht, wirklich nützt und vor allem ob es allen Menschen zugute kommt. Ethisch zentral ist daher die Frage nach dem rechten Gebrauch der Güter, wobei das Kriterium in einer Gerechtigkeit liegt, die insbesondere die Armen und Leidenden zu ihrem Recht kommen läût. Der Lobpreis auf die Schöpfung, deren Güte sich darin erweist, daû sie für den Menschen Gutes bereit hält, ist in der Christenheit immer wieder angestimmt worden, besonders eindrücklich auch in der Tradition der evangelischen Theologie und Frömmigkeit. ¹Was ist gutes in der Welt, das nicht mir gut wäre?ª, heiût es bei Paul Gerhardt25. Und Johann Arndt, dessen Bücher ¹Vom wahren Christentumª (1605±1610) den evangelischen Glauben über Jahrhunderte tief geprägt haben, versteht die Erde als ¹eine groûe Schatz- und Speisekammer Gottes, darin ein groûer Segen und Vorrath für Menschen und Viehª sei26. Die Erdgewächse sind von ihrem Schöpfer eingerichtet als ¹eine groûe Apothekeª, sie sind als ¹ein groû Kräuterbuch ganz wunderlich und vollkömmlich geschriebenª27. Der Mensch hat in der Natur ein Buch vor sich, dessen ¹herrliche, schöne, lebendige Buchstabenª er ¹lesen und zusammen setzenª soll; ¹in dem allergeringsten Gräslein und Säm25 Zitiert nach Jörg Baur, ¹Von der Treue des Glaubens zur Erdeª, in: ders., Einsicht und Glaube. Aufsätze, Göttingen 1978, 97±111, Zitat 103. 26 Johann Arndt, Sechs Bücher vom wahren Christentum, nebst dessen ParadiesGärtlein, 13. Abdruck der neuen Stereotypausgabe, Stuttgart o. J., 549 (Buch 4.1, Kap. 3). 27 Ebd., 548.

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lein, welches du gar gering und für unnütz achtest, ist gröûere Weisheit Gottes, Kraft und Wirkung, als du ergründen kannst. Denn Gott hat nichts unnützes geschaffen. Darum siehe zu, daû du Gott in seinen Werken nicht verachtest. Ich sage dir, es ist der tausendste Theil der Kräuterkraft noch nie ergründetª28. In dieser Perspektive erscheint die Entzifferung des genetischen Codes lediglich als ein weiterer Akt des Lesens im Buch der Natur, das dem Menschen eben dazu gegeben ist, daû er seine Buchstaben ¹lesen und zusammensetzenª soll. In dieser Perspektive mag man auch fragen, ob die überzähligen Embryonen, die nach der künstlichen Befruchtung übrig bleiben oder auch auf natürlichem Wege abgehen, nicht zu etwas besserem ¹nützeª sein könnten, als so schnell, kaum daû sie ins Leben getreten sind, schon wieder zu vergehen. Das groûe Ja zur Kultur und insbesondere auch zur Heilkunst wird in der christlichen Tradition jedoch keineswegs unkritisch gepredigt. Nicht erst die ökologische Krise hat das Bewuûtsein dafür hervorgerufen, daû die Natur nur dann recht genutzt wird, wenn sie auch als Werk und Gabe ihres Schöpfers geachtet wird. Die dem Menschen frei gegebene Nutzung ist scharf abzugrenzen von einer Ausnutzung oder Vernutzung, die den Ordnungszusammenhang, in dem ¹eines dem anderen nütztª (Jesus Sirach 42,15) zu zerstören droht. Eben um des recht verstandenen Nutzens willen hat der Mensch primär zu fragen und zu hören, wozu die Gaben der Natur geschaffen sind und worin sie ihre eigene, von Gott gegebene Bedeutung haben. Er hat es im Umgang mit der Natur nicht nur mit Materialien zu tun, denen er seine Zwecke nach Belieben aufprägen dürfte; vielmehr gilt es die den Dingen der Natur als Schöpfungsgaben eingestifteten Zwecke zu erkennen und sie nach Maûgabe des Willens Gottes zu nutzen29. Daû diese Unterscheidung zwischen menschlichem Nutzenkalkül und göttlicher Zweckbestimmung im Zuge der neuzeitlichen Naturbemächtigung, die eine teleologische Ordnung der Natur prinzipiell negiert30, 28

Ebd., 548 f. Vgl. Bonhoeffers Kritik an einem ¹banausische[n] Pragmatismusª, der die Natur ohne Rücksicht auf deren wesenhafte Bestimmung dem Nutzen des Menschen unterwirft und so miûbraucht. Die von Bonhoeffer geforderte ¹Verantwortung für Dinge, Zustände, Werteª gibt es ¹nur unter der strengen Wahrung der ursprünglichen, wesenhaften und zielhaften Bestimmung aller Dinge, Zustände, Werte durch Christusª (Ethik, hg. v. Ilse Tödt u. a., Dietrich Bonhoeffer, Werke, Bd. 6, München 1992, 259). 29

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weithin als obsolet gilt, ist deutlich. Auch ein säkulares Naturverständnis, das sich von theologischen Deutungskategorien lossagt, kommt freilich nicht umhin, die Grenzen der Nutzbarkeit der Natur zu reflektieren. Nicht zuletzt die moderne Landwirtschaft hat das Bewuûtsein dafür geschärft, daû die Erde nur dann ihren Ertrag für den Menschen abwirft, wenn dieser die Quellgründe der Fruchtbarkeit unbearbeitet läût und so dafür Sorge trägt, daû die genutzte Natur sich regenerieren kann. Von solchen Grenzen der Nutzbarkeit ist eine unbedingt zu wahrende Grenze nochmals zu unterscheiden: Der Mensch darf nicht an seinesgleichen tun, was ihm im Verhältnis zu den übrigen Kreaturen erlaubt ist. Er darf nicht Menschenblut vergieûen. In dieser Hinsicht gilt ein absolutes Nein. Die Begründung dieses biblischen Urgebotes (Gen 9,6) rekurriert auf dieselbe Bestimmung, die auch seiner Bevollmächtigung zur Kultur zugrunde liegt. Daû Gott den Menschen zu seinem Bilde gemacht hat (Gen 1,26f; 9,6), bezeichnet seine Machtstellung, die ihm die Nutzung der auûermenschlichen Kreatur erlaubt, und entzieht ihn zugleich der Nutzbarmachung durch sich selbst. Als Ebenbild Gottes ist der Mensch zu einer Freiheit berufen, die er in rechter Weise nur dann ausübt, wenn er sie im Umgang mit seinesgleichen zu achten weiû. Den beiden Aspekten der Gottebenbildlichkeit entspricht in der überlieferten Schöpfungslehre die Doppelthese, alles sei um des Menschen willen geschaffen, der Mensch aber sei um seiner selbst willen geschaffen; dabei ist der Nutzen des Menschen freilich nicht der letzte Zweck der Dinge; vielmehr soll der Mensch die ihm überlassene Natur so gebrauchen, daû die Ehre Gottes als ¹letzter Zweck der Schöpfungª respektiert wird31. In der Philosophie hat vor allem Immanuel Kant diese Sonderstellung des Menschen im Sinne seiner Selbstzwecklichkeit herausgestellt. Zur Verdeutlichung sei eine Passage aus dem Aufsatz ¹Mutmaûlicher Anfang der Menschengeschichteª (1786) zitiert: Den letzten und entscheidenden Schritt auf dem Wege zur 30 Vgl. Robert Spaemann/Reinhard Löw, Die Frage wozu? Geschichte und Wiederentdeckung des teleologischen Denkens, München und Zürich 1981. 31 Vgl. z. B. Johann Andreas Quenstedt (1617±1688): ¹Finis creationis ultimus est Dei gloria. [. . .] Finis intermedius est hominum utilitas. Omnia enim Deus fecit propter hominem, hominem autem propter se ipsum. Ps CXV, 16.ª Zit. bei Heinrich Schmid, Die Dogmatik der ev.-luth. Kirche dargestellt und aus den Quellen belegt, neu hg. von H. G. Pöhlmann, Gütersloh 1979, 120).

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Menschwerdung habe der Mensch dadurch vollzogen, ¹daû er (wiewohl nur dunkel) begriff, er sei eigentlich der Zweck der Natur, und nichts, was auf Erden lebt, könne hierin einen Mitbewerber gegen ihn abgeben. Das erste Mal, daû er zum Schafe sagte: der Pelz, den du trägst, hat dir die Natur nicht für dich, sondern für mich gegeben, ihm ihn abzog, und sich selbst anlegte (V. 21 [Gen 3,21]): ward er eines Vorrechtes inne, welches er, vermöge seiner Natur, über alle Tiere hatte, die er nun nicht mehr als seine Mitgenossen an der Schöpfung, sondern als seinem Willen überlassene Mittel und Werkzeuge zu Erreichung seiner beliebigen Absichten ansah. Diese Vorstellung schlieût (wiewohl dunkel) den Gedanken des Gegensatzes ein: daû er so etwas zu keinem Menschen sagen dürfe, sondern diesen als gleichen Teilnehmer an den Geschenken der Natur anzusehen habeª32. Auf dem Hintergrund dieser von Kant eingeschärften Unterscheidung tritt die Problematik der jüngsten biotechnischen Verfahren deutlich heraus: Der Mensch ist im Begriff, die Technik, die er in der Nutzung der Tiere gelernt hat ± man denke nur an das Klonschaf Dolly! ± nun auch auf den Umgang mit Angehörigen seiner eigenen Gattung zu übertragen. In der Weiterführung des kulturellen Fortschritts droht so die für das kulturelle Selbstverständnis des Menschen in moralischer Hinsicht bislang konstitutive Grenze überschritten zu werden, wenn denn menschliche Embryonen nicht mehr als ¹Mitgenossen an der Schöpfungª, sondern als bloûe ¹Mittel und Werkzeugeª zu Nutzen anderer Menschen angesehen werden. Aber sind sie wirklich Mitgeschöpfe gleichen Ranges, gleicher Würde? Um diese ontologische Frage zu beantworten, sind wir zunächst auf unsere Wahrnehmung verwiesen. Was sehen wir in den Lebewesen, die unzweifelhaft der Gattung Mensch angehören, denen aber doch nicht die leiblich-sozialen Bedingungen gewährt werden, unter denen sie sich als Menschen nur entwickeln können: Sind sie etwas Nutzbares oder jemand Anzuerkennendes und in der ihm eigenen Würde zu Achtendes? Sieht man in den Zellgebilden, die aus der Vereinigung von Ei- und Samenzelle hervorgehen, Menschen im frühesten Stadium ihrer Lebensgeschichte, dann sind sie auch dann als ¹Mitgenossen an der Schöpfungª zu achten, 32 Immanuel Kant, Werke in 10 Bdn., hg. v. W. Weischedel, Darmstadt, 5. Aufl. 1983, Bd. 9, 90 f.

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wenn sie, aus welchen Gründen und zu welchem Zeitpunkt auch immer, in ihrer weiteren Entwicklung scheitern. Sieht man aber in jenen Zellgebilden dem ¹Willen [des Menschen] überlassene Mittel und Werkzeuge zu Erreichung seiner beliebigen Absichtenª, so vollzieht sich mit der Erweiterung der Nutzenkultur zugleich eine Zurücknahme der unter dem Begriff der Menschenwürde gefassten Normkultur.

3. Perspektiven der Wahrnehmung des Menschen Die Frage, womit bzw. mit wem wir es zu tun haben, wenn wir menschliche Embryonen zum Gegenstand der Forschung, der Selektion und der Bearbeitung machen, gibt Anlaû, nach den Voraussetzungen und Perspektiven der Wahrnehmung zu fragen. Wer oder was in den embryonalen Zellgebilden gesehen wird, hängt auch von der Art und Weise ab, wie sie gesehen werden. Die theologische Perspektive, die im Folgenden verdeutlicht werden soll, geht davon aus, daû die Wirklichkeit der Schöpfung im Glauben an das ihr zugrunde liegende und in ihr wirksame Wort Gottes wahrgenommen werden will. Als maûgebend und insbesondere auch das evangelische Verständnis der Schöpfung prägend hat sich hier der Satz aus dem Hebräerbrief erwiesen (Hebr 11,3): ¹Durch den Glauben erkennen wir, daû die Welt durch Gottes Wort gemacht ist, so daû alles, was man sieht, aus nichts geworden ist.ª Die Schwierigkeiten, eine solche, auf die besonderen Erkenntnisvoraussetzungen der biblischen Überlieferung rekurrierende Sichtweise im gegenwärtigen ethischen Diskurs, also unter den Bedingungen des Pluralismus und der weltanschaulichen Neutralität des Staates, zur Geltung zu bringen, sind nicht zu verkennen. ¹Dezidiert theologische Argumente finden [. . .] in ethischen Diskursen immer schwerer Gehörª33. Man kann freilich mitunter auch den Eindruck gewinnen, daû evangelische Theologie und evangelische Kirche zu schnell resignieren, indem sie Einsichten des Glaubens entweder appellativ als moralische Forderung zur Sprache bringen 33 Verantwortung für das Leben. Eine evangelische Denkschrift zu Fragen der Biomedizin. Im Auftrag der Evangelischen Kirche in Österreich erarbeitet von Ulrich H. J. Körtner in Zusammenarbeit mit Michael Bünker, in: epd-Dokumentation Nr. 4/ 2002, 34±59, Zitat 37.

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oder aber auf die allgemeine religiöse Bedeutung eines ¹elementaren Kreaturgefühlsª34 reduzieren. Die Sichtweise des christlichen Glaubens läût sich verdeutlichen, wenn man sie einerseits von der naturwissenschaftlichen Wahrnehmung der Wirklichkeit unterscheidet und andererseits mit der Selbsterkenntnis verbindet. Während die Naturwissenschaften neuzeitlichen Typs die Wirklichkeit sichtbar machen, indem sie zugleich von den je besonderen Beziehungen zwischen dem erkennenden Subjekt und der betrachteten Sache absehen, ist die subjektive, in der Selbsterkenntnis begründete Sichtweise dadurch charakterisiert, daû ein Mensch im Gegenüber eines anderen sich selbst wiedererkennt und daher in ihm ein Wesen gleichen Ranges und gleicher Würde anerkennt. Die theologische Sicht bezieht sich kritisch auf beide Wahrnehmungsweisen, indem sie in der gegebenen Wirklichkeit von Welt und Selbst das Wirken und die Anrede Gottes als des Schöpfers und Erhalters wahrzunehmen sucht. Den drei Weisen der Wahrnehmung entsprechen verschiedene Sprachformen: Kennzeichnend für die Perspektive der Naturwissenschaften sind ihre in der 3. Person formulierten Aussagesätze (¹er, sie, es ist . . .ª); kennzeichnend für die zweite Sicht ist ihr Bezug auf die in der 1. Person zum Ausdruck kommende Selbsterkenntnis. Die Theologie schlieûlich versteht das menschliche Subjekt und seine Lebenswelt unter dem Vorzeichen der 2. Person als eine von dem Schöpfer ins Sein gerufene und angesprochene Wirklichkeit35. Versuchen wir nach dieser summarischen Charakterisierung die Reichweite und die Grenzen der verschiedenen Wahrnehmungsweisen im Blick auf das bioethische Problemfeld genauer zu bestimmen. Deutlich ist: Die Fragen nach dem Status embryonalen Lebens und nach seiner ethisch verantwortbaren Behandlung würden sich gar nicht stellen, wenn nicht die molekularbiologische Forschung sichtbar und behandelbar gemacht hätte, was zuvor dem Blick und Zugriff entzogen war. Der ungeheure Fortschritt auf dem Weg der wissenschaftlichen Selbsterforschung des Menschen kann freilich nicht darüber hinwegtäuschen, daû dieser Weg, dessen Ende nicht absehbar ist, in methodischer Hinsicht begrenzt ist. Die auf den Menschen angewandte Biologie wirft Fragen auf, 34

Ebd., 58. Vgl. zu diesem Verständnis der Schöpfung: Oswald Bayer, Schöpfung als Anrede. Zu einer Hermeneutik der Schöpfung, 2. Aufl. Tübingen 1990. 35

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die sie als Naturwissenschaft nicht beantworten kann. Das Wissen, das sie bereitstellt, betrifft die materielle Beschaffenheit des Menschen. In der Sprache der aristotelischen Ursachenlehre formuliert: Sie fragt nach der causa materialis. In dieser Betrachtung, die das menschliche Leben auf seine stofflichen Bestandteile im Naturzusammenhang hin untersucht, läût sich freilich nicht erkennen, was den Menschen zum Menschen macht und was ihn als Menschen definiert. Diese Frage, die Frage nach der causa formalis, die in der klassischen metaphysischen Anthropologie unter dem Begriff der Seele verhandelt worden ist, entzieht sich einer streng naturwissenschaftlichen Beantwortung. Die Verlegenheit der biologischen Anthropologie im Blick auf die metaphysischen Fragen, die sie aufwirft, zeigt sich deutlich in der jüngsten Debatte, die über den Status des embryonalen Lebens geführt wird. In ihr stehen Positionen einander gegenüber, die nicht miteinander zu vermitteln sind. Soll man schon dem frühesten Entwicklungsstadium, unmittelbar nach der Vereinigung von Ei- und Samenzelle eine erste Form der Seele zuschreiben? Ist mithin schon hier das vorhanden, was den Menschen zum Menschen macht? Oder, wenn man diese Vorstellung, die sogenannte präformistische Theorie, nicht teilt oder sie gar als absurd verwirft, ist es dann plausibler, den actus primus der Beseelung erst später anzusetzen? Dann käme die Seele erst hinzu. Wir hätten erst das materielle Substrat menschlichen Lebens, streng genommen ein ¹Etwasª, aus dem dann erst durch das Hinzukommen der Seele das Leben eines Menschen, ein ¹Jemandª würde. Daû auch diese Theorie, die sogenannte epigenetische Theorie, ihre Probleme hat, ist offenkundig. Wodurch erfolgt also die Beseelung? Und gibt es eine Zäsur zwischen ¹Etwasª und ¹Jemandª, zwischen menschlichem Leben im biologischen Sinne und dem Leben eines Menschen? Und woran ist feststellbar, ob wir es mit einem seelenlosen Zellverband, einem bloû materiellen Gebilde, oder mit einer leib-seelischen Ganzheit zu tun haben, die einen Menschen im Werden verkörpert? Im Blick auf diese Fragen läût uns die neuzeitliche Naturwissenschaft im Stich. Und sie vermag ebensowenig die Fragen nach Anfang und Ende eines Menschenlebens definitiv zu beantworten. Um noch einmal die Verbindung zur aristotelischen Ursachenlehre herzustellen: In den im bioethischen Zusammenhang erörterten Fragen nach Anfang und Ende melden sich die alten Probleme der causa efficiens und der causa finalis. Woher kommt ein Mensch und

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wohin geht er? Nun ist das menschliche Leben jedoch eingelassen in einen Naturzusammenhang, in dem sich weder eine erste, unhintergehbare Ursache noch ein letztes, unüberschreitbares Ziel finden lassen. Immer gibt es noch ein Zuvor und immer noch ein Danach. Die schroffe Diskontinuität, wie sie theologisch unter dem Begriff der Schöpfung aus dem Nichts gedacht wird, läût sich naturwissenschaftlich nicht denken. Aus nichts wird nichts ± lautet der schon von Epikur (im Brief an Herodotos) vertretene Grundsatz. Und seine Kehrseite kommt in den Worten Goethes so zum Ausdruck: ¹Kein Wesen kann zu nichts zerfallen. Das Ew'ge regt sich fort in allenª36. Für das durch die Naturwissenschaft maûgebend geprägte Bewuûtsein sind die Begriffe von Anfang und Ende undeutlich geworden. Insbesondere die Stammzellforschung irritiert oder verlockt uns mit der Vision, durch Reprogrammierung von Zellen wieder auf den Anfang zurückzukommen und im Rückgriff auf anfängliches Leben das Ende des Lebens hinauszuschieben, wenn nicht gar die Endlichkeit überhaupt zu überwinden. Die begrenzte Reichweite naturwissenschaftlicher Aussagen über den Menschen bedeutet keineswegs, daû sie im Blick auf die anstehenden ethischen Probleme unerheblich wären37. Auch wenn die Biologie als Naturwissenschaft die Fragen der Definition des Menschen im Blick auf die Wirklichkeit der Seele sowie im Blick 36 ¹Vermächtnisª (1829), in: Johann Wolfgang von Goethe, Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bdn., Bd. 1, 16. Aufl. München 1996, 369. 37 Vgl. Christian Schwarke, ¹Biologie und Ethik. Deutung und Bedeutung naturwissenschaftlicher Forschung im Kontext ethischer Urteilsbildungª, in: Reiner Anselm/Ulrich H. J. Körtner (Hg.), Streitfall Biomedizin. Urteilsfindung in ethischer Verantwortung, Göttingen 2003, 99±109, 106: ¹Wenn naturwissenschaftliche Befunde [. . .] weder übergangen werden können noch letztlich begründende Kraft für ethische Entscheidungen haben, muû ein Drittes gesucht werden. Dieses Dritte liegt in einem Umgang mit naturwissenschaftlichen Beobachtungen, der deren Charakter als jeweils gewählte Ausschnitte der Wirklichkeitsbeschreibung ernst nimmt.ª Ungeachtet dieser Forderung nach einem Dritten, bewegen sich die Überlegungen Schwarkes freilich vornehmlich im Spannungsfeld zwischen den Polen von Naturwissenschaft und Ethik, ohne daû erkennbar würde, inwiefern die Theologie im Blick auf diesen Dual eine dritte, gegenüber Wissen und Moral eigenständige Gröûe vertritt. ¹Naturwissenschaftliche Befunde gewinnen ihre Bedeutung als Argumente in der ethischen Debatte aus ihrer illustrativen Qualität für normativ verankerte Ziele und Wertvorstellungen, die als solche bewuût gehalten werden.ª (107) Man fragt sich, ob hier nicht doch kategorial zu unterscheidende Ebenen ineinander geschoben werden: Inwiefern läût sich Normatives illustrieren? Und lassen sich aus der ¹illustrativen Qualitätª naturwissenschaftlicher Befunde argumentative Schlüsse ziehen? Und vor allem: Worin sind die ¹Ziele und Wertvorstellungenª verankert? Reicht es, sie ¹als solche bewuûtª zu halten, wenn sie sich möglicherweise Überzeugungen verdanken, die über die Ethik hinausweisen?

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auf Anfang und Ende nicht entscheiden kann, so kann sie doch Anhaltspunkte liefern. Insbesondere zwei biologische Feststellungen sind für unser Urteil über den Status embryonalen Lebens bedeutungsvoll. Zum einen: Mit der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle tritt ein Lebewesen auf, das sich nicht nur von seinen Erzeugern, Vater und Mutter, herleitet, sondern sich auch als ein drittes signifikant und unableitbar von ihnen unterscheidet. Bis zur Verschmelzung sind Ei- und Samenzelle dem mütterlichen bzw. väterlichen Organismus zuzurechnen, danach bilden sie ein eigenes Leben, das die es genetisch charakterisierende Eigenart zwar nicht selbstständig ausbilden kann, aber doch in seine weitere Entwicklung, von diesem Anfang an, mitbringt. Zum anderen: Die aus der Kernverschmelzung hervorgehende Zelle verfügt über ein gewaltiges Differenzierungs- und Wachstumspotential. Die gängige Bezeichnung des Embryos im frühesten Stadium seiner Entwicklung als ¹Zellhaufenª ist daher nicht nur despektierlich, sondern auch unangemessen im Blick auf den biologischen Befund. Ein Haufen besteht aus übereinander geschichteten, aufgehäuften Einzelteilen, die allenfalls in sich zusammensacken können, aber gerade das nicht vermögen, was den vermeintlichen ¹Zellhaufenª für die Forschung und eventuelle therapeutische Verwendung interessant macht: die ungeheure Differenzierungs- und Entfaltungsfähigkeit, seine Vitalität, die sich nicht zuletzt in der Langlebigkeit der Stammzelllinien dokumentiert. Gerade im Vergleich mit den adulten Stammzellen gewinnt man den Eindruck, daû die embryonalen Zellen eine unausschöpfliche Lebensressource darstellen und geradezu als Quelle ¹ewigen Lebensª begehrt sind. Die Frage, ob es sich bei dem biologisch so zu beschreibenden Leben um das Leben eines Menschen (¹jemandª) oder lediglich um menschliches Leben (¹etwasª) handelt, ist damit freilich noch nicht beantwortet. Weiterführend und klärend ist hier die Erkenntnis, die wir auf dem Weg der Selbsterkenntnis retrospektiv gewinnen. Zweifellos verstehen wir auch schon das vorgeburtliche Leben als einen Teil unserer je eigenen Lebensgeschichte. Die erste Ultraschallaufnahme gilt selbstverständlich als unser erstes Bild. Und wenn wir es technisch könnten, würden wir auch das Bild der Zygote, kurz nach der Befruchtung als Bild unseres eigenen Lebens ansehen. In dem Werden, das unser je eigenes Leben ausmacht, sehen wir keine Zäsur, die es erlauben würde, dieses früheste Sta-

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dium unserer Entwicklung aus unserer Lebensgeschichte auszuschlieûen. In der 1. Person-Perspektive formuliert: Ich bin ¸ich, lange bevor ich selbst ¹ichª sagen kann, und ich hätte niemals der werden können, der ich in meinem Selbstbewuûtsein bin, wenn ich nicht auch diese früheste Phase durchlaufen und in ihr die vorbehaltlose Annahme als Mensch erfahren hätte. Von dieser Sicht, die mir im Blick auf das eigene Leben offensichtlich ist, kann ich freilich nicht abstrahieren, wenn es um gleichartiges Leben, um ¸meinesgleichen geht. Die theologische Wahrnehmung des Menschen knüpft an die Selbsterkenntnis an und weist zugleich die Anthropologie der wissenschaftlichen Vernunft in ihre Grenzen. Exemplarisch läût sich das an Luthers Thesen ¹Über den Menschenª38 zeigen. Was Luther hier zur Unterscheidung und Zuordnung von philosophischer und theologischer Lehre ausführt, läût sich durchaus auf die heute strittige Verhältnisbestimmung von Biologie und Theologie übertragen. Seine Disputationsthesen sind in zwei groûe Blöcke, gleichsam in zwei Tafeln aufgeteilt. Auf der ersten ¹Tafelª (Thesen 1±19) ist wiedergegeben, was die Philosophie, die ¹menschliche Weisheitª, über den Menschen zu sagen vermag. Die zweite (Thesen 20±40) ist der Theologie gewidmet, die Luther zufolge ¹aus der Fülle ihrer Weisheit den ganzen und vollkommenen Menschen definiertª (These 20). Die theologische Lehre vom Menschen wird vorgetragen als Kritik aller Anthropologie, die das Sein des Menschen ohne Berücksichtigung seiner Gottesbeziehung zu bestimmen sucht. Kritik heiût hier Aufweis der Grenzen, innerhalb deren die Philosophie zu gültigen Aussagen über den Menschen kommt. Kritik heiût aber auch Zurückweisung eines Wahrheitsanspruchs, der die Bedingtheit der eigenen Erkenntnismöglichkeiten verkennt. Die kritisierte Anthropologie ist im Recht, wenn sie im Blick auf den sterblichen und irdischen Menschen seine Vernunftbegabung als wesentliche Eigenschaft und Bestimmung herausstellt. Mit der Vernunft ist dem Menschen eine geradezu ¹göttlicheª Kraft gegeben, die ihn befähigt, den Herrschaftsauftrag (Gen 1,28) auszuführen und Wissenschaften und Künste zu entwickeln (Thesen 4f). Trotz aller Hochschätzung der wissenschaftlichen Vernunft im Horizont der Welt ist ihr Vermögen jedoch dort, wo es um das Verhältnis des Menschen zu Gott und zu sich selbst geht, kritisch zu 38

Disputatio de homine, a. a. O. (s. Anm. 6).

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bestimmen. Wenn man nach dem ganzen Menschen fragt, so weiû die bloû ¹menschliche Weisheitª der Philosophie ¹über den Menschen nahezu nichtsª (These 11). Ihre Bemühungen bleiben zum Scheitern verurteilt, ¹solange er [sc. der Mensch] sich nicht in der Quelle selbst, welche Gott ist, wahrgenommen hatª (These 17). Das Nichtwissen philosophischer Anthropologie sucht Luther im Rückgriff auf ihre eigenen Kategorien aufzuzeigen, und zwar anhand der bereits herangezogenen aristotelischen Ursachenlehre: Im Blick auf die ¹stoffliche Ursacheª (causa materialis) gilt, daû wir diese ¹kaum hinreichend wahrnehmenª (These 12). Sind hier immerhin Erkenntnisse und ± aus heutiger Sicht geurteilt ± ein kumulativ wachsender Wissensgewinn möglich, so verfügt die Philosophie doch im Blick auf die erste und letzte Ursache (causa efficiens und causa finalis) über keinerlei Wissen: Sie kennt ¹ohne Zweifel nicht die wirkende Ursache und entsprechend auch nicht die Zweckursacheª (These 13); noch schärfer gesagt: sie verkennt diese, indem sie dem irdischen Leben und seinen immanenten Bedingungen und Interessen verhaftet bleibt39. Und schlieûlich: ¹Über die gestaltende Ursache (causa formalis) aber, als welche sie die Seele bezeichnen, wurde nie und wird nie unter Philosophen Einigkeit erzieltª (These 15). Indem die Theologie kritisch die Grenzen der ¹menschlichen Weisheitª aufweist, kann sie deren Leistungen innerhalb ihrer Grenzen gar nicht hoch genug schätzen. Sobald diese Vernunft jedoch ihre eigenen Grenzen verkennt und urteilend über ihr Erkenntnisvermögen hinausgeht, verkehrt sich ihr Licht zur Finsternis. Die Vernunft, die ihre eigene Unwissenheit überspielt und urteilend auf das Ganze auszugreifen sucht, wird totalitär. Als Pointe der theologischen Kritik ¹menschlicher Weisheitª erweist sich somit die Bestreitung aller Ansprüche, über ein Ganzes und hier insbesondere über den ¹ganzen Menschenª definierend zu urteilen40. Wenn demgegenüber die Theologie die Erkenntnis des ¹ganzen und vollkommenen Menschenª für sich reklamiert, so geht es ihr im Gegenzug gerade darum, die Definition 39 These 14: ¹Als Zweckursache setzt sie nämlich nichts anderes als irdische Wohlfahrt; und sie weiû nicht, daû die wirkende Ursache Gott der Schöpfer ist.ª 40 Vgl. dazu auch: Christian Link, ¹¸Lasset uns Menschen machen, ein Bild das uns gleich sei. Die Grenzen der Cooperatio des Menschen mit Gottª, in: Rudolf Weth, Der machbare Mensch. Theologische Anthropologie angesichts der biotechnischen Herausforderung, Neukirchen-Vluyn 2004, 35±55, insbes. 42.

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für Gottes Urteil offenzuhalten. Sie übersteigt nicht die Grenzen, innerhalb deren sich die endliche Vernunft nur bewegen kann. Aber sie sieht an den Grenzen zugleich die Einfallstore des schöpferischen Wirkens Gottes. Sofern Gott durch sein Wort wirkt, sind diese Grenzen Orte der Kommunikation: An ihnen erfährt sich der Mensch geradezu dem Wort Gottes ausgesetzt. Das gilt für die Frage nach der Seele des Menschen, die ihn im Sinne der causa formalis allererst zum Menschen macht, ebenso wie für die Fragen nach Anfang und Ende. So wie der Mensch, in die Innerlichkeit seiner Seele einkehrend, auf einen unergründlichen und zugleich sprachlich bewegten Ursprungsraum trifft41, so münden auch die äuûersten Daten seiner irdischen Existenz in den Sprachraum des Wortes Gottes, der in dieses Leben ruft und aus dem Tod heraus auferweckt. Kurz und prägnant formuliert Luther: ¹Wie wir im Worte sind gewesen, also müssen wir wieder ins Wort fahren, wenn wir nun aufhören zu sein. Im Worte sind wir gewesen, ehe wir waren Menschen. In das Wort treibet es Johannes [indem er] lehret [. . .], wie sie ewig im Worte bleiben werdenª42. Als ein vom Wort Gottes angeredetes, gleichsam umfaûtes Wesen vermag der Mensch sich nicht abschlieûend zu erfassen oder zu definieren, weder im Rekurs auf seine Natur noch in der Introspektion der Selbsterkenntnis. Er kommt seiner Existenz nicht auf den Grund. Die Grunderfahrung des evangelischen Rechtfertigungsglaubens, daû ein Mensch sich selbst auûerhalb seiner selbst angenommen findet, prägt somit auch den Schöpfungsglauben und die ihm folgende Selbsterkenntnis des Menschen. Als Geschöpf, das vom Wort Gottes lebt, ist er sich selbst entzogen und zugleich auf einen Grund bezogen, von dem her er sich empfängt und seiner selbst gewiû sein kann. In dieser Relationalität ist die ¹absolute Differenz zwischen Schöpfer und Geschöpfª43 gewahrt und zugleich die Kommunikation eröffnet, die beide zusammenkommen läût. 41 Vgl. dazu weitere Hinweise in: Johannes von Lüpke, ¹Von den groûen Taten des geringen Wortes. Eine Besinnung auf den Grund der Freiheit im Anschluû an Lutherª, in: Albrecht Grözinger/Johannes von Lüpke (Hg.), Im Anfang war das Wort. Interdisziplinäre theologische Perspektiven (VKHW.NF 1), Neukirchen-Vluyn und Wuppertal 1998, 102±115, insbes. 106±108. 42 WA 45, 392, 9±15 (Predigt über Joh 6,29, 1537). 43 Jürgen Habermas, ¹Glauben und Wissen. Friedenspreisrede 2001ª, in: ders., Zeitdiagnosen. Zwölf Essays 1980±2001, Frankfurt/Main 2003, 249±262, 262.

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4. Der Mensch als Ebenbild Gottes ¹Der Mensch ist ein Beziehungswesen.ª Diese Grundaussage evangelischer Theologie läût sich nun in dreifacher Hinsicht präzisieren: im Blick auf das Ende, den Anfang und das Zentrum, das in der kommunikativ bewegten Einheit von Leib und Seele gegeben ist. In diesem Beziehungsgefüge, aus dem keiner der genannten Bezugspunkte herausgebrochen werden darf, lebt der Mensch als Ebenbild Gottes, indem er sich ganz vom schöpferischen und rechtfertigenden Wort Gottes bestimmen und bewegen läût. Zunächst zur Bestimmung des Endes: Eben dort, wo ein Lebenslauf im Tode endet, erinnert der christliche Glaube an die offene Bestimmung eines Menschen: Es ist noch nicht erschienen, was wir sein werden (1 Joh 3,2). Was der Mensch als Geschöpf Gottes ist, geht niemals in dem auf, was er in den Grenzen seines irdischen Lebens hat werden oder aus sich hat machen können. Die Definitionsmacht dem Wort Gottes zuzuerkennen heiût somit, dem Tod diese Macht zu bestreiten. Der Tod beendet das zeitliche Leben eines Menschen, er ¸spricht jedoch nicht ¸das letzte Wort über das gelebte Leben. Dieses letzte Wort Gott zu überlassen, ist das Anliegen der theologischen Rede von der eschatologischen Vollendung. Für jeden Menschen, wie kurz oder auch wie lange sein zeitliches Leben währt, gilt, daû der Prozeû seiner Menschwerdung unabgeschlossen bleibt, ja unabschlieûbar ist. Zeit seines Lebens und durch den Tod hindurch geht er seiner Vollendung entgegen; in den Worten Luthers gesagt: ¹Der Mensch dieses Lebens ist Gottes bloûer Stoff zu dem Leben seiner zukünftigen Gestalt. [. . .] Und wie sich Erde und Himmel im Anfang zu der nach sechs Tagen vollendeten Gestalt verhielt, nämlich als deren Stoff, so verhält sich der Mensch in diesem Leben zu seiner zukünftigen Gestalt, bis dann das Ebenbild Gottes wiederhergestellt und vollendet sein wirdª44. Betont man in diesem Sinn die Zukünftigkeit, in der sich die Gottebenbildlichkeit des Menschen im Angesicht Gottes vollendet, so heiût das keineswegs, die Anfänglichkeit, in der ein Mensch zum Ebenbild Gottes geschaffen ist, zu leugnen45. Beides, das erste 44

De homine (Thesen 35, 37f), bei Ebeling a. a. O. (s. Anm. 6), 23. Gegen Klaus Tanner, der sich auf die eschatologische Deutung der Gottebenbildlichkeit bei Luther beruft, um deren Verständnis im Sinne einer grundlegenden, 45

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und das letzte Wort gehören vielmehr untrennbar zusammen. So wie der Mensch zeit seines Lebens unterwegs ist, hin zu seiner noch ausstehenden zukünftigen Vollendung, so kommt er doch schon in seinem gesamten Werden von einem ersten Wort her, das ihn als Ebenbild Gottes ins Sein gerufen hat. ¹Der Mensch ist Gottes Geschöpf aus Fleisch und lebendiger Seele bestehend, von Anbeginn zum Bilde Gottes gemacht [. . .]ª46. Eben weil die Qualifikation von auûerhalb dieses zeitlichen Lebens erfolgt, gilt sie für die gesamte Lebenszeit. Eben weil sie keine zusätzliche Qualifikation ist, die irgendwann einmal in den Werdeprozeû eingreift, ist keine Phase von dieser Bestimmtheit auszunehmen. Auch wenn der Mensch ihr in seinem Lebensvollzug nicht entspricht, auch wenn er ihr als Sünder widerspricht, so bedeutet das doch keineswegs, daû sie für ihn hinfällig würde. Er bleibt im Widerspruch der Sünde und somit kontrafaktisch zur Ebenbildlichkeit bestimmt. Die Bestimmung zur Gottebenbildlichkeit bleibt also allen Stufen der Verwirklichung auf dem Wege gegenüber transzendent. Sie läût sich nicht verinnerlichen, indem sie mit bestimmten Eigenschaften, Gestalten, Ausformungen der irdischen Existenz identifiziert wird. Kurz: Sie läût sich nicht unter der Kategorie der Substanz fassen. Ebensowenig freilich ist sie etwas bloû Akzidentelles. Die Beziehung, die für das Sein und Werden des Menschen als Ebenbild Gottes konstitutiv ist, entzieht sich nicht nur der Vereinnahmung, sondern auch der Veräuûerung. Daû sie den Menschen als ganzen bestimmt, heiût auch, daû sie ihn von innen heraus prägt. Die äuûere Beziehung, in der der Mensch von Gott her und auf Gott hin lebt, ist nicht zu denken ohne die innere Beziehung, die das Geheimnis seiner leib-seelischen Existenz ausmacht und ohne die er gar nicht zu Gott in Beziehung treten könnte. Indem Gott den Menschen ins Sein ruft, schafft er ihn als ein ¹aus Fleisch und lebendiger Seeleª bestehendes Wesen. Der Schöpfungsvorgang ist somit nicht zweistufig zu denken, als ob zunächst nur ein seelenloses, bloû materielles Gebilde entstünde, aus dem dann in einem zweiten Akt, dem Akt der Formung und Beseelung, der Mensch gemacht würde47. Vielmehr ist der Mensch schon im allervon Anfang an gegebenen Bestimmung abzuweisen: ¹Thesen zur ethischen Argumentation in Fragen der Biomedizinª, in: Weth (Hg.), Der machbare Mensch, a. a. O. (s. Anm. 40), 101±111, insbes. 110 f. 46 De homine (These 21), bei Ebeling a. a. O. (s. Anm. 6), 19.

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frühesten Stadium seiner Entwicklung, also schon ab der Bildung eines neuen Organismus in der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle, eine ¹geprägte Form, die lebend sich entwickeltª48. Er entwickelt sich nicht zum Menschen. Seiner Entwicklung liegt vielmehr eine ¹sich durchhaltende Wesensformª49 zugrunde. In die Sprache der Theologie übersetzt: Der Mensch wird zum Ebenbild Gottes, weil er eben dazu, seiner gesamten Entwicklung zuvorkommend, gemacht ist. ¹Daû sich der Mensch einer abschlieûenden Definition entziehtª, wird auch in der bereits genannten ¹Stellungnahme evangelischer Ethiker zur Embryonenforschungª betont50. Als Ebenbild Gottes ist er mehr, als sich in der Perspektive der empirischen Betrachtung darstellt und daraufhin beurteilen läût. Nun sollte man meinen, daû diese Einsicht einen konsequenten Definitionsverzicht nach sich ziehen müûte, und ist dann um so verwunderter, wenn einzelne evangelische Ethiker im Blick auf den Status von Embryonen meinen, definitiv zwischen menschlichen Wesen, die zu Menschen werden können, und solchen, die es niemals mehr werden können, unterscheiden zu können. Die Kategorie der Gottebenbildlichkeit, die menschliches Leben der Definition durch andere Menschen entzieht, wird nun zur Legitimationsformel seiner Definierbarkeit. Sie sei, so wird gesagt, nicht zuständlich zu fassen; sie meine vielmehr den Menschen im Prozeû des Werdens. Sie gelte dem menschlichen Leben nur, sofern es sich zum Menschen entwickeln kann. Gewiû: Das Sein des Menschen liegt im Werden. Menschsein heiût Unterwegssein unter der Bestimmung der Gottebenbildlichkeit. Aber das heiût ja nun gerade nicht, daû Phasen dieses Werdens von ihrer Bestimmung ausgenommen werden könn47 Die biblische Schöpfungsvorstellung, die in der alten Kirche auf den Gedanken der creatio ex nihilo zugespitzt worden ist, unterscheidet sich tiefgreifend von der Vorstellung eines Demiurgen, der wie ein Handwerker eine vorgegebene Materie lediglich bearbeitet. Unverkennbar ist dieses Verständnis von ¸Schöpfung in doppelter Anwendung im gegenwärtigen bioethischen Diskurs präsent: als Unterstellung im Blick auf die Natur, an der der Mensch handelt, und als Leitbild seines eigenen, vermeintlich schöpferischen Handelns. 48 Johann Wolfgang von Goethe, Urworte. Orphisch, in: Werke, a. a. O. (s. Anm. 36), 359; dazu die klärenden philosophischen Ausführungen von Gerold Prauss, ¹Geprägte Form, doch zweckbewuût zerstückeltª, in: FAZ vom 28. 11. 2001: ¹Menschenwesenª kommt ¹keineswegs von auûen her hinzu, sondern ist tatsächlich immer schon von innen her gegeben [. . .].ª 49 Gerold Prauss, ebd. 50 Starre Fronten überwinden, a. a. O. (s. Anm. 8), 203.

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ten, als ob auf dem Wege ein Anfangsdatum festgestellt werden könnte, von dem an einem menschlichen Leben die Bestimmung der Gottebenbildlichkeit zukäme, oder auch ein Enddatum, an dem diese Bestimmung hinfällig würde. Eben ein solches definitorisches Urteil wird jedoch gefällt, wenn menschlichen Embryonen das Prädikat des Menschen abgesprochen wird. Geurteilt wird hier über Anfang und Ende des Lebens. Geurteilt wird über Leben und Tod. Das zum Tod verurteilte Leben gilt als ein solches, das gar nicht erst als Leben eines Menschen angefangen hat. Dabei mag man zunächst den Eindruck haben, als würde nur ratifiziert, was ohnehin entschieden ist. Es ist doch die Natur, die so verschwenderisch Leben schafft, um es doch zu einem groûen Teil gleich wieder sterben zu lassen. Wenn sie dem Leben, das sie hervorbringt, die äuûeren Bedingungen, unter denen es nur heranwachsen kann, teils gewährt, teils aber auch vorenthält, dann bewegt sich doch die menschliche Entscheidung, das von der Natur zum Tode verurteilte Leben zu nutzen, im Rahmen des von der Natur Erlaubten. Aber abgesehen von dem grundsätzlichen Einwand, der in einer solchen Rechtfertigung menschlichen Verhaltens durch die Natur einen naturalistischen Fehlschluû sieht, ist hier auch zu bedenken, wie weit die äuûeren Umstände ihrerseits durch menschliche Eingriffe hergestellt werden und möglicherweise auch verändert werden können. Zwischen den Embryonen, die natürlicherweise abgehen, und solchen, die gezielt auf künstlichem Wege entstehen, ist also noch einmal zu unterscheiden. Und vor allem ist genauer nach dem Vorgang des Todes zu fragen. Auch wenn es unvermeidbar ist, daû ein Embryo in kürzester Zeit sterben wird, ist es doch der Eingriff des Menschen, der diesem verhängten Tod zuvorkommt. In der umstrittenen Embryonenforschung, die darauf aus ist, embryonale Stammzellen zu entnehmen und zu züchten, ist die Tötung des Embryos notwendige Voraussetzung. Mit diesem Akt wird in den Prozeû des Sterbens eingegriffen. Man läût die Embryonen nicht sterben, sondern man tötet sie, um zu nutzen, was an ihnen nutzbar ist. Tötung heiût dann gerade nicht, menschliches Leben, soweit es sterblich ist, dem Tode zu überlassen, es zum Staub der Erde zurückkehren zu lassen. Es heiût vielmehr in jener Paradoxie, die wir aus der Debatte um Hirntod und Organtransplantation kennen, menschliches Leben möglichst lebendig sterben zu lassen. Es wird für tot erklärt, sofern es das Leben eines Menschen war oder hätte

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werden können, und es wird zugleich lebendig gehalten, um anderen Menschen als Mittel der Heilung und Lebensverlängerung und somit als Quelle des Lebens dienen zu können. In diesem Sinne wird Leben neu definiert: Das zunächst auf die Entwicklung eines Menschen angelegte Programm wird für nichtig erklärt und durch ein anderes ersetzt. Ein potentieller Jemand wird neu definiert als ein Etwas, das den Menschen, die den Status eines Jemand gewonnen haben, als Ressource zur Lebenserhaltung dienen kann51. Vergleicht man diesen Definitionsakt mit der Festlegung des Anfangs eines Menschenlebens auf das Datum der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle, so geht es nicht nur um Terminfragen, über die man sich aufgrund biologischer Befunde verständigen könnte. Daû beide Positionen Anhalt haben an dem, was sich empirisch-wissenschaftlich erheben läût, heiût ja nicht, daû das Recht, so oder so zu definieren, empirisch ausweisbar wäre. Zu fragen ist vielmehr darüber hinaus nach dem Handlungszusammenhang und nach den in ihm wirksamen ethischen Interessen. Wer heute dafür plädiert, das Leben des Menschen mit dem Punkt der Kernverschmelzung anfangen zu lassen, leugnet nicht, daû das Zur-WeltKommen eines Menschen einen Prozeû darstellt, in dem diesem Anfang andere Anfänge in einem komplexen Bedingungs- und Beziehungsgefüge vorausgehen. Der Anfang ist Moment eines Weges und stellt sich der molekularbiologischen Betrachtung in zeitlicher Erstreckung dar. Wenn man ihm gleichwohl eine entscheidende Bedeutung beimiût, so geht es nicht um die Ausblendung dieses Kontextes im Sinne einer punktgenauen Definition52. Vielmehr ist intendiert, das Werden eines Menschen möglichst weitgehend der Verfügungsmacht durch andere zu entziehen, um ihn sich selbst definieren zu lassen. Und keineswegs muû sich mit dieser An51 Der Einwand, es werde nur dasjenige menschliche Leben genutzt, das gar nicht die Möglichkeiten habe, als Mensch heranzuwachsen, greift insofern nicht, als ja diese Möglichkeiten grundsätzlich gewährt werden können, zwar nicht für alle ¸überzähligen Embryonen, aber doch für die wenigen, die der experimentellen Forschung unterworfen werden. Man kann über die Möglichkeit der Embryonenadoption kontrovers diskutieren. Daû es diese Möglichkeit gibt, zeigt jedoch: Die Menschwerdung des Embryos, der zum Gegenstand der Forschung und möglichen Nutzung gemacht wird, ist keineswegs endgültig ausgeschlossen; sie wird vielmehr ausgeschlossen, indem Menschen so und nicht anders mit ihm umgehen. 52 So das Miûverständnis von Klaus Tanner, ¹Der menschliche Embryo ± ein embryonaler Mensch?ª, in: ¹Zum Bild Gottes geschaffenª. Bioethik in evangelischer Perspektive. Vorträge eines Kongresses der Evangelischen Kirche in Deutschland am 28./ 29. 1. 2002 in Berlin (= epd-Dokumentation 9/2002), 26±31, 27.

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fangsbestimmung die Auffassung verbinden, daû ¹der Mensch in hohem Maûe durch sein Genom ¸definiertª sei53. Das theologische Anliegen ist es ja gerade, das den Menschen Definierende in jener Externität zu belassen, in der es das ganze Leben umfaût, durchdringt und bestimmt, ohne mit einer seiner innerweltlichen Konstituentien identisch zu sein. Liegt somit der Fixierung des Lebensanfangs auf den Punkt der Kernverschmelzung das Anliegen zugrunde, die Definitionsmacht des Menschen zu begrenzen und das ganze Leben eines Menschen als ein extern von Seiten des schöpferischen Wortes Gottes definiertes und von daher sich selbst definierendes zu achten, so zeigt sich auf der Seite derer, die diese Bestimmung des Anfangs für eine unzulässige Reduktion halten, ein umgekehrtes Bild. Die Zurückhaltung gegenüber substanzontologischen Bestimmungen des Menschen eröffnet den Raum, in dem dann pragmatisch entschieden wird, welche Gestalten menschlichen Lebens als Menschen anzusehen sind und welche nicht unter diesen Begriff fallen. Die Unmöglichkeit, den Menschen im Rekurs auf seine Natur zu definieren, und die Möglichkeit, über menschliches Leben im Zuge seiner Kultivierung definierend zu verfügen, sind zwei Seiten eines Sachverhalts. Daû nicht alle menschlichen Embryonen als Menschen definiert sind, wird dann letztlich dadurch bewiesen, daû sich etwas anderes aus ihnen machen läût.

5. Der Rechtfertigungsglaube und die Kultur der Freiheit Der Streit über die Definition des Menschen erweist sich hier als Streit über die vom Menschen ausgeübte Definitionsmacht. Um deren Begrenzung geht es, wenn die evangelische Theologie mit Luther daran erinnert, daû ein Urteil über den ganzen Menschen, über Anfang und Ende allein Gott zusteht. Damit ist nicht bestritten, daû der Mensch bevollmächtigt ist, den Mitgeschöpfen Namen zu geben. Dieser Grundakt menschlicher Kultur (vgl. Gen 2,19), durch den der Mensch sich die Mitwelt verfügbar macht, ist jedoch theologisch darauf zurückbezogen, daû Gott zuvor sein 53

¹Starre Fronten überwindenª, a. a. O. (s. Anm. 8), 202.

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schöpferisches Wort gesprochen hat. Menschliche Namengebung ist insofern ein responsorischer Akt, der kritisch daraufhin zu bedenken ist, ob er einem zuvor gesprochenen Wort entspricht. Daû jener Akt der Totalverfügung, der Embryonen zu Ressourcen der Zellkultur umdefiniert, zu einer theologischen Deutung, die in ihnen Mitgeschöpfe, die wie wir ins Leben gerufen worden sind, im Widerspruch steht, dürfte deutlich geworden sein. Zieht man hier eine scharfe Grenze zwischen Normkultur und Nutzenkultur, so bleibt doch zunächst offen, ob sich diese Grenze auch auf den Problemfeldern markieren läût, die unter den Begriffen der Präimplantationsdiagnostik und der Eugenik kontrovers diskutiert werden. Hier geht es ja um Akte, die zwar nicht das Menschsein von Embryonen in Frage stellen, wohl aber deren Qualität zu bestimmen suchen und aufgrund von Qualitätsurteilen über Leben und Tod entscheiden. Handelt es sich bei diesen Akten der Diagnostik, der Selektion und der gezielten Veränderung des genetischen Programms gleichfalls um Übergriffe einer am Nutzen orientierten Kultur auf Kosten der allen Menschen geschuldeten, bedingungslosen Anerkennung? Um diese Frage zu beantworten, gehen wir noch einmal aus von der zentralen Einsicht, die wir Luthers Thesen ¹Über den Menschenª entnommen haben: Der Mensch entzieht sich der Selbstdefinition, weil und insofern er durch Gottes schöpferisches Handeln an ihm definiert wird. Gottes schöpferisches Handeln ist dabei als worthaftes Handeln verstanden. Es verdichtet und konzentriert sich in dem Wort des Evangeliums, das den Menschen allein aus Gnade rechtfertigt. Die theologische Definition des Menschen spitzt sich daher auf die Kurzformel zu, ¹daû der Mensch durch Glauben gerechtfertigt werdeª54. Schöpfungsglaube und Rechtfertigungsglaube stimmen darin überein, daû sie dem unbedingten Wohlwollen Gottes, seinem zuvorkommenden Ja-Wort eine über das ganze Leben eines Menschen entscheidende Kraft einräumen. In diesem Wort sieht Luther nicht zuletzt auch die ¹Freiheit eines Christenmenschenª begründet. Es ist das Wort im Sinn des Evangeliums, das einen Menschen so frei werden läût, 54 De homine (These 32), bei Ebeling a. a. O. (s. Anm. 6), 22; vgl. zur Bedeutung der Rechtfertigungslehre für ein relationales Verständnis der Menschenwürde: Reiner Anselm, ¹Die Würde des gerechtfertigten Menschen. Zur Hermeneutik des Menschenwürdearguments aus der Perspektive der evangelischen Ethikª, in: ZEE 43, 1999, 123± 136.

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daû er, der Sorge um sich selbst enthoben, ganz in der Liebe zu leben vermag. Die im Glauben wahrgenommene bedingungslose Anerkennung, die einem Menschen durch das Wort Gottes ¹ohne alle [s]ein Verdienst und Würdigkeitª55 zuteil wird, unterscheidet sich fundamental von aller bedingten Wertschätzung, die die Annahme und Anerkennung eines Menschen davon abhängig sein läût, daû er über bestimmte Eigenschaften verfügt, bestimmte Leistungen erbringt und entsprechende Erwartungen erfüllt. Das bedeutet gewiû nicht, daû Urteile über die Qualität von Menschen, über ihre je besonderen Eigenschaften in jedem Fall verwerflich wären. Sowohl in der Wirtschaft als auch in der menschlichen Liebe haben Auswahlentscheidungen, die in dem Sosein von Menschen begründet sind, ihr Recht. Die Grenzüberschreitung vollzieht sich erst dann, wenn mit der Feststellung und Bewertung von Eigenschaften das Urteil über das Recht zu leben verknüpft wird. Einen Menschen als Menschen zu würdigen, heiût, ihm von Anfang an, seiner gesamten Persönlichkeitsentwicklung zuvorkommend, das Recht einzuräumen, um seiner selbst willen da zu sein. Es heiût, in ihm sein ureigenes Selbst, sein unableitbar und unverwechselbar Eigenes zu achten und ihn darin auch anders sein zu lassen, als es den Vorstellungen und noch so verständlichen Wünschen seiner Eltern und Mitmenschen entspricht. Zu fragen ist daher, welches ¸Wort am Anfang eines Lebensweges steht: Ist es das Wort einer ganzheitlichen Annahme, wie sie bereits leiblich darin zum Ausdruck kommt, daû ein Embryo ganz im mütterlichen Uterus aufgehoben und geborgen ist, und wie sie anerkannt und verstärkt wird, wenn Eltern ihrem Kind zu verstehen geben: ¹Du darfst so sein, wie du bist!ª Oder schiebt sich in dieses Anfangsgeschehen das Diktat von Menschen, die das von ihnen erzeugte Leben ihrer Definitionsmacht unterwerfen: Es soll so und nicht anders werden, als sie es wollen. Ohne den damit bezeichneten Widerspruch abzuschwächen, ist freilich auch daran zu erinnern, daû die beiden Grundworte einander keineswegs gleichrangig sind. Der diktierende Eingriff des Menschen, der genetische Merkmale zu bestimmen sucht und anhand ihrer eine Auswahlentscheidung trifft, kann die bedingungs55 Luther, Auslegung des 1. Artikels des Glaubensbekenntnisses im Kleinen Katechismus, in: Bekenntnisschriften der evang.-luth. Kirche (Ausg. von 1930), 12. Aufl. Göttingen 1998, 511,5.

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lose Anerkennung wohl überlagern oder verdrängen, er kann jedoch das Wort, in dem der christliche Glaube den Grund des Lebens und der Freiheit erkennt, nicht ersetzen oder auslöschen. Das heiût: Auch für die Menschen, an deren Lebensanfang mit den Mitteln der Präimplantationsdiagnostik, der genetischen Manipulation oder sogar des Klonens eingegriffen worden ist, ist es nicht ausgeschlossen, ihr so entstandenes Leben als Gabe des Schöpfers anzunehmen und im Glauben die Gnade der Rechtfertigung zu erfahren. Auch die Menschen, die aufgrund bestimmter Interessen und Präferenzen gezeugt worden sind, werden deswegen nicht einfach zu Produkten ihrer Produzenten56. Gleichwohl wird man daraus nicht den Schluû ziehen dürfen, daû die genannten Techniken die Freiheit überhaupt nicht beeinträchtigen könnten. In welchem Sinn von einer Gefährdung der Freiheit gesprochen werden kann57, ist abschlieûend in zweifacher Hinsicht zu verdeutlichen. Zum einen: Ein Lebenswerturteil, das aufgrund bestimmter Eigenschaften den einen das Lebensrecht abspricht und anderen zuspricht, unterwirft tendenziell das Leben aller Menschen einer nach denselben Kriterien erfolgenden Selbst- und Fremdbeurteilung. Die Frage, ob ein Mensch leben darf, der dieselben Merkmale aufweist, aufgrund deren Embryonen verworfen werden, führt gewiû nicht zwangsläufig zur Vernichtung des geborenen ¸lebensunwerten Lebens. Sie wirft jedoch zumindest einen Schatten auf das Selbstverständnis nicht nur des Menschen, an dessen Lebensanfang ein Akt der Selektion steht, sondern auch der Gesellschaft, die eine derartige Qualitätskontrolle ihrer Mitglieder vollzieht oder billigt. So wie die natürliche Zeugung durch künstliche Eingriffe überlagert und überformt wird, so kommt es auch auf der Ebene des Menschenbildes und des Selbstverständnisses zur Überlagerung der genannten ¸Botschaften: Verkündet die eine das unbedingte Recht zu leben: ¹Du darfst so sein, wie du bist.ª, so ist doch in der Sprache der vom Menschen hergestellten Tatsachen auch das Gegenwort zu vernehmen: ¹Deinem Dasein liegt eine menschliche Entscheidung über das Sosein zugrunde.ª Er56 Vgl. Notger Slenczka, ¹Genforschung und Menschenbildª, in: ders., Der Tod Gottes und das Leben des Menschen. Glaubensbekenntnis und Lebensvollzug, Göttingen 2003, 279±294, 289: ¹Auch ein gentechnisch veränderter Mensch ist ein eigenes Subjekt und unabhängig von dem, der ihn manipulierte.ª 57 Vgl. hierzu Jürgen Habermas, Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik? Frankfurt/M. 2001.

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kennt die Theologie in dem ersten Wort den im Sinn des Evangeliums gedeuteten Grund der Freiheit, so gehört das zweite Wort in die Sphäre des Gesetzes. Das eine Wort entlastet Menschen davon, sich selbst für ihre Existenz rechtfertigen zu müssen. Es entzieht ihr Leben jener Welt der Güter und Werke, über die sie einander Rechenschaft schuldig sind. Das andere Wort aber belastet Menschen eben mit dieser Rechenschaftspflicht. Damit ist schon der zweite Gesichtspunkt angesprochen, der den Zusammenhang von Freiheit und Verantwortung betrifft. In dem Maûe, in dem das ¹von Natur aus Gewordeneª zu einem ¹Gemachtenª transformiert wird, wächst auch die Verantwortung58. Zu fragen ist jedoch, ob der Mensch der wachsenden Verantwortung, die er im Zuge des technologischen Fortschritts übernimmt, seinerseits gewachsen ist. Alles, was Menschen machen, kann besser oder schlechter gemacht werden. Und keine menschliche Kunst ist fehlerfrei. Das damit angedeutete Problem ist konkret im Blick auf die Rolle des Arztes und der ¾rztin zu bedenken. Wer den Vertretern der ärztlichen Kunst die Entscheidung über behindertes und nichtbehindertes Leben zuweist, muû sich im Klaren darüber sein, daû er sie damit auch für eventuelle Kunstfehler haftbar macht. Die über Leben und Tod Urteilenden werden nur allzu schnell zu Angeklagten. Die Klage darüber, daû wir ungefragt ins Leben geworfen werden, ist gewiss nicht neu. Sie bekommt aber einen neuen Adressaten. Was Menschen früherer Zeiten, wie beispielhaft an der biblischen Gestalt Hiobs zu lernen ist, im Rechtsstreit, in Klage und Anklage vor Gott durchgefochten und ausgehalten haben, wird nun mehr und mehr zu einem Prozeû, den der Mensch mit sich selbst führt. Der Prozeû der Theodizee wird zum Prozeû der Anthropodizee ± nicht erst seit dem Aufkommen der modernen Biotechnologie, aber durch sie in nochmals verschärfter Form. ¹Die durch die Gentechnologie eröffneten Möglichkeiten haben [. . .] uns alle bereits in eine neue Verantwortlichkeit gestelltª59. Die ¹Unentrinnbarkeit der Verantwortungª heiût jedoch nicht, daû der Mensch sich der Ausweitung seiner Verantwortlichkeit unkritisch überlassen müsste. Das Maû dessen, wofür sich der Mensch im Zuge der Weiterentwicklung seiner technischen Möglichkeiten 58 59

Vgl. Slenczka, a. a. O., 290 f. Ebd., 291.

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verantwortlich macht, ist noch einmal kritisch an dem zu überprüfen, wofür er selbst als endliches Subjekt Verantwortung zu tragen bereit und fähig ist. So wie er seine endliche Freiheit verfehlt, wenn er sich selbst absolut setzt, so droht auch die grenzenlos gedachte Verantwortung ¹zu einem selbstgemachten abstrakten Götzenª60 zu werden. Die Grenze, die es in dieser Hinsicht zu wahren gilt, ist die Grenze der Freiheit, keine biologische Tatsache, sondern die Schwelle, deren Überschreitung Freiheit zur Unfreiheit verkehrt. Indem die evangelische Theologie an diese Grenze und zugleich an den im Wort Gottes liegenden Grund menschlicher Freiheit erinnert, leistet sie ihren Beitrag zur Kultur der Freiheit.

60

Bonhoeffer, a. a. O. (s. Anm. 29), 258.

Bioethik im Kontext von Gesellschaft und Öffentlichkeit

Ruth Baumann-Hölzle/Christof Arn (Zürich)

Nutzen oder Würde ± zwei ethische Paradigmen im Widerstreit. Ethiktransfer in der Medizinethik am Beispiel der Schweiz Weltweit läût sich ein Ringen zwischen einer Nutzen- und Würdekultur feststellen: Erstere zeigt sich im Bestreben hin zu einer allgemeinen Instrumentalisierung und Ökonomisierung nicht nur der unbelebten, sondern auch zunehmend der belebten Natur bis hin zum Menschen1. Letztere umfaût das Bemühen, den Menschen und die Natur mitsamt den Tieren und die Umwelt vor Übergriffen, Zerstörung und Versachlichung zu schützen. Das Abwägen zwischen diesen beiden gegenläufigen Tendenzen findet ihren Ausdruck im Gesetzgebungsprozeû und dem begleitenden ethischen Diskurs ± vorab im Bereich Medizin und Pflege. Dieser Beitrag will am Beispiel der Gesetzgebung über den Umgang mit menschlichem Leben und Tieren in der Schweiz den Widerstreit der beiden ethischen Paradigmen ¹Nutzenª und ¹Würdeª sowie eine mögliche Verbindung unter dem Primat des menschlichen Würdeund Autonomieanspruches aufzeigen. Der erste Teil des Aufsatzes gibt einen Überblick zu den Ausdrucksformen der Nutzens- bzw. Würdekultur im schweizerischen Diskurs der Medizingesetzgebung und -ethik. Im zweiten Teil wird ein Konzept vorgeschlagen, welches Nutzen- und Würdeorientierung in Medizin und Pflege so integriert, daû der Grundanspruch des Menschen auf Würde und Autonomie als Basis humanen Zusammenlebens axiomatisch das Handeln bestimmt und Nutzenüberlegungen ihren angemessenen Platz erhalten. Unter dem Stichwort ¹Ethiktransferª werden im 1 Grundsätzlich beziehen sich alle Aussagen und Bezeichnungen von Personen auf Frauen und Männer gleichermaûen.

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dritten Teil praktische Möglichkeiten vorgestellt, um auf den erhöhten Bedarf ethischer Entscheidungsfindung reagieren und das genannte integrative Konzept in Strukturen des Gesundheitswesens implementieren zu können.

I. Gesetzgebungsprozeû und ethischer Diskurs in der Schweiz In der Schweiz lassen sich die Tendenzen hinsichtlich einer Priorisierung von Nutzen- bzw. Würdeüberlegungen anhand des jeweiligen Verständnisses und der Verwendung des Würdebegriffs aufzeigen: Auf der einen Seite relativieren die Instrumentalisierungstendenzen den Würdebegriff, indem sie ihn von einem umfassenden Grundanspruch des Menschen auf eine Eigenschaft reduzieren und dessen Anwendbarkeit von bestimmten Fähigkeiten abhängig machen, die ein Mensch aufweisen muû, um Würde zu besitzen. Demgegenüber wird auf der anderen Seite aus Respekt- und Schutzgründen von einem grundlegenden und unteilbaren Würdeund Autonomieanspruch des Menschen ausgegangen, der ± abgesehen von der Gattungszugehörigkeit, die ja auch aufgrund äuûerer Kriterien bestimmt wird ± unabhängig von äuûeren Kriterien mit dem Menschsein selbst gegeben ist. Vor dem Hintergrund dieser Spannung wird in den folgenden Abschnitten die Art und Weise der Verwendung des Würdebegriffes in der jüngeren Gesetzgebung in der Schweiz rund um Lebensanfang und -ende des Menschen mit den Veränderungen in der Gesetzgebung zum Status der Tiere verglichen.

1. Lebensanfang 1.1. Artikel 24novies (heute Artikel 119) der Bundesverfassung: 1992 Im Mai 1992 wurde die Verfassungsgrundlage für die Regelung des Umgangs mit menschlichem Leben in der Schweiz, der Artikel 24novies (heute Artikel 119), durch Volk und Stände (Kantone, in Deutschland mit Ländern vergleichbar) mit einer groûen Mehrheit

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von 74 Prozent der Stimmen angenommen. Sie verbietet namentlich das Klonen von Menschen, die Embryonenspende, die Leihmutterschaft, Eingriffe in das Erbgut von menschlichen Keimzellen und Embryonen sowie Chimären- und Hybridbildungen (Verschmelzung von nicht-menschlichem mit menschlichem Erbgut). Begründet wird diese Verfassungsgrundlage mit der Menschenwürde. Der Bund erhielt zudem im Rahmen des Artikels 24novies den Auftrag, Vorschriften über den Umgang mit Keim- und Erbgut von Tieren, Pflanzen und anderen Organismen zu erlassen und dabei der Würde der Kreatur und der Sicherheit von Mensch, Tier und Umwelt sowie dem Schutz der genetischen Vielfalt der Tierund Pflanzenarten Rechnung zu tragen. Es war ausdrücklich das Ziel dieses Verfassungsartikels ± dies wurde in den Parlamentsdebatten immer wieder unterstrichen ± Mensch, Tier und Umwelt vor absoluten Instrumentalisierungen zu schützen. Durch die weltweit einzigartige Einführung der Begrifflichkeit ¹Würde der Kreaturª in die Bundesverfassung der Schweiz wollte man zudem eine bei Tieren und anderen Organismen zu weit gehende Instrumentalisierungen rückgängig machen, soweit diese einen gewissen Grad überstiegen.

1.2. IDAGEN-Bericht: 1992 Um diesen Verfassungsauftrag von Artikel 24novies (heute Artikel 119) durch Bundesrat und Parlament umzusetzen und die entsprechenden gesetzlichen Anpassungen zu realisieren, setzte das Justizund Polizeidepartement (Ministerien werden in der Schweiz ¹Departementª genannt) 1992 eine ¹Interdepartementale Arbeitsgruppe für Gentechnikª (IDAGEN) ein. Die IDAGEN schlug vor, die aufgezeigten Rechtslücken einerseits durch die Schaffung neuer Gesetze, und andererseits durch die Ergänzung und Anpassung bestehender Regelungen im Umweltschutz-, Tierschutz-, Lebensmittel- und Arzneimittelrecht zu schlieûen. Dieser IDAGENBericht ist insofern sehr wichtig, als er in der Folge zu weiteren Kommissionsgründungen führte, allen voran zur Kommission zur Forschung am Menschen.

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1.3. Bundesgerichtsentscheid: 1993 Im Kontext der Bemühungen, das menschliche Leben von seinen Anfängen an vor Instrumentalisierung zu bewahren, fällte das Bundesgericht 1993 im Hinblick auf die Menschenwürde den folgenden wichtigen Grundsatzentscheid: ¹Im Zusammenhang mit einer staatsrechtlichen Beschwerde gegen das Basler Gesetz betreffend die Reproduktionsmedizin beim Menschen stellte das Bundesgericht 1993 fest, daû auch der Embryo in vitro an der Menschenwürde teilhat (BGE 119 Ia 503), allerdings ohne dies näher auszuführen. Es schützte ein Verbot der Forschung an lebenden Embryonen, Föten oder Teilen davon, ohne zur Frage der forschungsmässigen Verwendung überzähliger Embryonen Stellung nehmen zu müssen, die man nach bisherigem Recht, d. h. bis zum Inkrafttreten des StFG [Stammzellenforschungsgesetz, siehe unten], absterben lassen muûª2.

1.4. Kommissionsarbeit zur Forschung am Menschen in zwei Phasen: 1993±1995 Am 2. Dezember 1993 wurde als Folge des IDAGEN-Berichtes eine Studiengruppe eingesetzt, welche die Aufgabe hatte, die ¹biomedizinische Forschung am Menschen im Zusammenhang mit Art 24novies der Bundesverfassungª zu reflektieren und Empfehlungen zu verfassen. Die Studiengruppe beschränkte sich bei ihrer Arbeit auf die Frage nach der Zulässigkeit von Forschung an überzähligen Embryonen einerseits und der Präimplantationsdiagnostik andererseits. Die Mehrheit der Studiengruppe sprach sich in ihrem Bericht 1995 für die Zulässigkeit von beiden Methoden aus. Bei ihrer Argumentationsführung verwendete sie den Begriff der Menschenwürde nicht. Die Mehrheit erkannte zwar den Embryonen auf dem Hintergrund ¹kulturell verankerter Vorstellungen von der Unantastbarkeit menschlichen Lebensª einen gewissen moralischen Status zu, den sie aber wie folgt relativierte: ¹Aus dieser Anerkennung läût sich jedoch kein pauschales Verbot jeglicher instrumen2 Zitat aus der 04.3114 ± Interpellation im Nationalrat, eingereicht von Wäfler Markus am 17. 03. 2004.

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teller Verfügung über menschliches Leben herleiten, auch nicht über vorgeburtlichesª (S. 14). Eine Minderheit wandte sich mit Bezug auf die Menschenwürde gegen die Zulassung der Forschung an überzähligen Embryonen und die Präimplantationsdiagnostik. In diesem Bericht wird auch die ¹Schaffung eines multidisziplinär zusammengesetzten Ethikkomiteesª empfohlen. Aus dieser Empfehlung ist später die Nationale Ethikkommission im Bereich der Humanmedizin (NEK-CNE) entstanden (siehe unten). Die Studiengruppe durchlief nach Abschluû dieses Berichts 1995 noch eine zweite Phase unter einer anderen Präsidentschaft. Die Resultate dieses Arbeitsprozesses mündeten in eine Publikation mit dem Titel ¹Forschung am Menschen: Gendiagnostik, Gentherapieª. Dieser Bericht, welcher sich sehr kritisch mit der Gendiagnostik beschäftigte und für eine ¹menschenwürdige Kulturª plädierte, fand jedoch kaum Beachtung.

1.5. Initiative für eine menschenwürdige Fortpflanzung: 2000 Im Jahre 2000 wurde eine Volksinitiative für eine menschenwürdige Fortpflanzung zur Abstimmung vorgelegt. Die Initiative wollte die In-vitro-Fertilisation verbieten, weil dabei überzählige Embryonen entstünden. Sie wurde vom Schweizer Volk nur knapp abgelehnt. Ausschlaggebend dafür war das Versprechen der Reproduktionsmediziner, daû bei der In-vitro-Fertilisation in der Schweiz zukünftig keine überzähligen Embryonen mehr anfallen würden und man die noch vorhandenen, überzähligen Embryonen sterben lassen wolle. Betont wurde auch, daû die ¾ngste vor einer Instrumentalisierung des menschlichen Lebens unbegründet seien und der Schutz der Menschenwürde in der Schweiz aufgrund des Verfassungsartikels 119 gut verankert sei. Im Zentrum der Debatte stand denn auch das Leid der kinderlosen Paare, die durch Invitro-Fertilisation doch noch auf ein Kind hoffen könnten. Gegenvorschlag des Bundesrates war das Fortpflanzungsmedizingesetz, das durch die Ablehnung der Initiative am 1. Januar 2001 in Kraft getreten war. Das Gesetz regelt alle Aspekte der künstlichen Befruchtung.

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1.6. Nationale Ethikkommission im Bereich der Humanmedizin (NEK-CNE): 2001 Unter Einbezug der oben genannten Empfehlungen der Kommission zur Forschung am Menschen setzte der Bundesrat am 3. Juli 2001 die Nationale Ethikkommission im Bereich der Humanmedizin (NEK-CNE) ein. Ihre Aufgabe läût sich wie folgt zusammenfassen: ¹Sie hat ein beratendes Mandat und wurde interdisziplinär und gesellschaftsübergreifend als Fachkommission zusammengestellt: 21 Fachleute aus verschiedenen Sparten, davon je ein Drittel aus den Bereichen Ethik und Medizin und ein weiteres Drittel aus zugewandten Bereichen. Die NEK hat die Aufgabe übernommen, ethische Fragen in der Entwicklung der Medizin und der biomedizinischen Wissenschaften vorausschauend zu identifizieren und richtungsweisend zu ihnen Stellung zu nehmen. Gesetzliche Grundlage für die NEK-CNE sind das Fortpflanzungsmedizingesetz und die Verordnung über die nationale Ethikkommission im Bereich der Humanmedizin (VNEK)ª3. Mit diesem Bezug auf das Fortpflanzungsmedizingesetz (vgl. oben Artikel 24 novies) wird deutlich, daû die NEK-CNE indirekt auch eine Schutzfunktion im Hinblick auf die Menschenwürde und die Würde der Kreatur allgemein einnimmt.

1.7. Import von embryonalen Stammzellinien aus den USA: 2003 In der Praxis war aber ein weiteres Aufweichen des Geltungsanspruchs der Menschenwürde am Lebensanfang feststellbar. So erlaubte der schweizerische Nationalfonds ± die wichtigste Forschungsförderungsinstitution der Schweiz ± trotz des Bundesverfassungsartikels Art. 119 im Januar 2003 den Import von embryonalen Stammzellinien aus den USA. Dieser Import bewegte sich in einem gesetzlichen Graubereich und wurde in der Folge denn auch aus Rechtsgründen in Frage gestellt. Daraufhin wurde im 3 Text der Website: http://www.nek-cne.ch/de/home_d.html im Frame http:// www.nek-cne.ch/de/index.html, Entnahmedatum 18. 12. 2004, vgl. auch den ersten Tätigkeitsbericht unter http://www.nek-cne.ch/de/pdf/nek_jahresbericht_d.pdf

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Schnellverfahren ein Gesetzgebungsprozeû eingeleitet und ein Gesetz zur Entnahme von embryonalen Stammzellen bei überzähligen Embryonen und zur Forschung an den Stammzellen entworfen. Im ersten Gesetzesentwurf wurde die Menschenwürde neu der Güterabwägung zugänglich gemacht. So heiût es wörtlich im ersten Entwurf unter Ziffer 1.4.2.1.1. S. 29/30 und unter Ziffer 1.4.2.1., S. 31: ¹Die Menschenwürde als objektiver Grundsatz ist einer Güterabwägung mit anderen Rechtsgütern zugänglich, die vom Gesetzgeber vorzunehmen ist. Dabei steht im Zusammenhang mit der Forschung an überzähligen Embryonen und an embryonalen Stammzellen die Wissenschaftsfreiheit im Vordergrundª. Nachdem von verschiedenen Seiten Einspruch gegen diese Formulierung erhoben wurde und auch die Nationale Ethikkommission im Bereich der Humanmedizin vorschlug, in diesem Gesetz nur die Entnahme der Stammzellen bei den überzähligen Embryonen zu regeln und die Embryonenforschung eigenständig zu behandeln, wurde der Gesetzesentwurf dahingehend geändert und 2004 dem Volk zur Abstimmung vorgelegt (siehe Abschnitt 1.10). Der Umgang mit dem Prinzip der Menschenwürde in diesem Gesetzgebungsprozeû bezeichnet einen epochalen Punkt in der Debatte: Auch wenn die Formulierung, welche die Menschenwürde der Güterabwägung zugänglich gemacht hätte, wieder zurückgenommen wurde, hat die Diskussion damit erstmals eine zentrale Schwelle überschritten: Am Beispiel der Embryonenforschung wird die Menschenwürde explizit und generell als Axiom aufgehoben und zu einem Wert unter vielen Werten erklärt. Selbst die in einem Wertesystem eher auf mittlerer als auf oberer Ebene angesiedelte Wissenschaftsfreiheit kann demnach gegenüber der Menschwürde überwiegen.

1.8. Annahme der Fristenregelung: 2003 Im Jahre 2003 wurde in einer Volksabstimmung die Fristenregelung des Schwangerschaftsabbruchs vom Schweizer Volk mit groûer Mehrheit angenommen. Schwangerschaftsabbrüche sind damit bis zur zwölften Schwangerschaftswoche straffrei geworden. Nach der zwölften Schwangerschaftswoche spricht das Gesetz die Entscheidungsmacht dem behandelnden Arzt bezüglich dem Schwangerschaftsabbruch zu, da ihm ± im Gegensatz zu früher ± heute

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freigestellt ist, ob er bei dieser Entscheidungsfindung eine weitere Fachperson beiziehen will oder nicht. Im Rahmen dieses Gesetzes wird dem Embryo mit fortschreitender Entwicklung eine höhere Wertigkeit zugestanden. Auf die Menschwürde wird dabei kein Bezug genommen. Indirekt wird damit ausgedrückt, daû der Embryo und Fötus mit zunehmender Entwicklung an Würde gewinnt.

1.9. Bundesgesetz über genetische Untersuchungen beim Menschen (GUMG): 2004 Eine generelle Abkehr vom Begriff der Menschenwürde im Gesetzgebungsprozeû ist aber nicht feststellbar. So wird im Bundesgesetz über genetische Untersuchungen beim Menschen, das im Anschluû an das Fortpflanzungsmedizingesetz verabschiedet wurde, bereits im Artikel 2 explizit auf die Menschenwürde hingewiesen: ¹Art. 2 dieses Gesetz bezweckt: a. die Menschenwürde und die Persönlichkeit zu schützen; b. miûbräuchliche genetische Untersuchungen und die miûbräuchliche Verwendung genetischer Daten zu verhindern; c. die Qualität der genetischen Untersuchungen und der Interpretation ihrer Ergebnisse sicherzustellenª.

1.10. Stammzellforschungsgesetz, StFG: 2004 Im Zug des unter Abschnitt 1.7. beschriebenen Gesetzgebungsprozesses im Bereich Stammzellen wurde am 28. Nov. 2004 dem Schweizer Volk das so genannte ¹Stammzellforschungsgesetzª zur Abstimmung vorgelegt. Das Gesetz wurde mit einer Zweidrittelmehrheit angenommen und erlaubt die Gewinnung der embryonalen Stammzellen aus überzähligen Embryonen. Es hat nach Art. 1, 2 unter anderem die folgende Aufgabe: ¹Es soll den miûbräuchlichen Umgang mit überzähligen Embryonen und mit embryonalen Stammzellen verhindern sowie die Menschenwürde schützen.ª Angesichts der Tatsache, daû Embryonen bei der Stammzellgewinnung zerstört werden, stellt sich hier natürlich die Frage, wie in diesem Zusammenhang der Schutz der Menschenwürde zu verstehen ist. Insofern stellt dieses Gesetz einen grundsätzlichen Paradigmenwechsel im Umgang mit menschlichem Leben in der Schweiz

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dar, denn damit wird erstmals menschliches Leben der fremdnützigen Verwendung zugänglich gemacht und ¹verzwecklichtª, wobei diese ¹Verzwecklichungª mit dem Begriff der Menschenwürde verknüpft wird. Vor dem Hintergrund des unter Abschnitt 1.3 genannten Bundesgerichtsurteils aus dem Jahre 1993, welches Embryonen, die durch In-vitro-Fertilisation gezeugt werden, Menschenwürde zuerkennt, wird der Paradigmenwechsel um so deutlicher: Werden das Stammzellforschungsgesetz und das Bundesgerichtsurteil nebeneinander betrachtet, wird deutlich, daû faktisch die Miûachtung der Menschenwürde in Kauf genommen wird. Nicht mehr enthalten in diesem Gesetz ist die Forschung an überzähligen Embryonen. Die NEK-CNE empfahl, die Embryonenforschung im Rahmen der Forschung am Menschen zu regeln. Bis 2005 gab es jedoch in der Schweiz für die Forschung am Menschen keine allgemein gültige Gesetzgebung. Im Jahre 2006 wurde dann das Humanforschungsgesetz in die Vernehmlassung gegeben. Die Forschung am Menschen bei Heilmitteln ist durch das Heilmittelgesetzes (HMG) geregelt. Ansonsten gelten für die Forschung am Menschen die Richtlinien der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) aus dem Jahre 1997 als quasi rechtliche Grundlage. Im Gesetzgebungsprozeû haben damit Nutzenüberlegungen den Primat der Menschenwürde am Lebensanfang abgeschwächt: Menschenwürde wurde von einem grundlegenden Axiom zu einem Wert, der graduell zunehmen kann und von dem gewisse Mitglieder der menschlichen Spezies ausgeschlossen werden können.

2. Lebensende 2.1. Gründung der ersten Sterbehilfeorganisation in der Schweiz: 1982 In der Schweiz herrscht in bezug auf die Beihilfe zum Suizid eine im weltweiten Vergleich sehr liberale Praxis. Nach Artikel 115 StGB (Strafgesetzbuch) ist die Beihilfe zur Selbsttötung straflos, wenn sie nicht aus selbstsüchtigen Motiven geschieht. Vor dem Hintergrund dieser Gesetzgebung sind in der Schweiz so genannte ¹Sterbehilfeorganisationenª entstanden, die sterbewilligen Menschen

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Beihilfe zum Suizid leisten. Die erste solche Organisationen war Exit, welche 1982 gegründet wurde. Davon abgespalten hat sich 1998 die Organisation Dignitas. Die Statuten von Exit geben als Grund zur Suizidbeihilfe ¹hoffnungslose Prognoseª, ¹unerträgliche Beschwerdenª und ¹unzumutbare Behinderungª an. Neu bietet Exit auch psychisch kranken Menschen die Beihilfe zum Suizid an (vgl. NZZ am Sonntag, 13. Juli 2003, S. 13). Das Institut für Rechtsmedizin an der Universität Zürich präsentierte im 2003 eine Studie zur Praxis der Suizidbeihilfe4. In deren Rahmen wurden anhand von Akten der Sterbehilfeorganisation Exit alle von ihr begleiteten assistierten Suizide zwischen 1990 bis 2000 untersucht. Dabei zeigte sich, daû sich innerhalb dieser Zeitspanne die Fälle verdreifacht haben. Bei den 748 Personen, bei denen Suizidbeihilfe geleistet worden ist, handelt es sich insgesamt um 4,8 Prozent aller in der Schweiz registrierten Suizide. Die Betroffenen waren dabei 18 bis 101 Jahre alt. Als Grund gaben 78,9 Prozent für den Sterbewunsch tödliche Krankheiten an, 21,1 Prozent nicht-tödliche. In 4 Prozent aller untersuchten Fälle trat der Sterbewillige weniger als eine Woche vor seinem Suizid Exit bei. Aufschluûreich im Zusammenhang mit dem Prinzip der Menschenwürde sind die Ausführungen von Robert Kehl, einem Juristen und ehemaligen Protagonisten von Exit: ¹Inhuman ist die Verhinderung des natürlichen oder freiwilligen Todes des Todgeweihten bei infauster5 Prognose (. . .) dann, wenn die allgemeine oder die besondere Menschenwürde des Betreffenden ± die allerdings bei jedem Sterbenden und anhaltendem schweren Leiden beeinträchtigt wird ± dauernd in unerträglichem Maûe gefährdet würde. Jeder Mensch hat sein legitimes Interesse daran, daû die Erinnerung an ihn, das Bild, das in der Umwelt zurückbleibt, nicht durch ein allzu langes und allzu peinliches Sterben zu stark leidet. (inhuman = menschenunwürdig) . . . Von solchen Tatbeständen, die die Menschenwürde zu sehr tangieren, kann im Einzelnen gesprochen werden [unvollständige Aufzählung]: · wenn der Patient Ekel erregt (¾sthetik als Kriterium), namentlich wenn sich derartige Zustände häufen und andauern (Ekel erregende Auswürfe oder Ausflüsse, sehr entstelltes Aussehen, 4 Bosshard G, Ulrich E, Bär W. ¹748 cases of suicide assisted by a Swiss right-todie organisationª, in: Swiss Med Weekly 2003; 133, 310±317. 5 Mit ¹infaustª wird eine Krankheit bezeichnet, die in absehbarer Zeit zum Tod führen wird.

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riesige Geschwülste oder Aufblähung des Körpers, eklige Gerüche, Ekel erregende Art der Ernährung, Geifern, usw.); · oder geisteskrankes Gebaren, psychotische Zustände, · . . . auch dauernde völlige Hilflosigkeit der Fall sind; · auch Inkontinenz wird von einzelnen Patienten schon als unwürdig empfundenª6. Kehl bindet damit die Menschenwürde direkt an bestimmte Eigenschaften und macht sie im Sinne des oben bereits beschriebenen Prozesses zu einer verlierbaren Eigenschaft, die im zwischenmenschlichen Vergleich eine unterschiedliche Stärke hat.

2.2. Motion ¹Ruffyª: 1994 1994 reichte Nationalrat Victor Ruffy eine Motion mit folgendem Wortlaut ein: ¹Trotz allen Mitteln, die für die Lebensverlängerung heute zur Verfügung stehen, gibt es weiterhin unheilbare Krankheiten, welche mit fortschreitender Entwicklung die Würde des Menschen in schwerer Art und Weise beeinträchtigen. Angesichts dieser Tatsache haben in unserer Gesellschaft immer mehr Menschen den Wunsch, selber über ihr Ende mitbestimmen und in Würde sterben zu können. Daher ersuche ich den Bundesrat, einen Entwurf für einen neuen Artikel 115bis des Schweizerischen Strafgesetzbuches vorzulegenª. Der Nationalrat überwies die Motion ¹Ruffyª am 14. März 1996 als Postulat. Ohne hier die Frage nach Sinn und Unsinn der aktiven Sterbehilfe entscheiden zu wollen, sei die Argumentationsweise von Ruffy in ihrer Tragweite hervorgehoben, denn sie zeigt eine zweite Veränderung in der ehemals axiomatischen Konzeption der Menschenwürde. Während die im Zusammenhang mit dem Gesetzgebungsprozeû im Bereich ¹Lebensbeginnª genannte Veränderung die Relativierung der Menschenwürde im Vergleich zu anderen Werten brachte, wird hier ± wie schon bei Kehl ± die Möglichkeit geschaffen, daû es Menschen mit verminderter Menschenwürde geben könne. Die Menschenwürde wird also von einer Essenz des Menschen zu einer Eigenschaft, die ihm auch abhanden kommen 6 Kehl 1989, S. 31 f. (Hervorhebungen und Ausdrücke in runden Klammern im Text des Autors).

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kann. Dies ist ein wesentlicher Schritt. Betrachtet man nämlich die Menschenwürde als Essenz der menschlichen Existenz, so ginge dem Menschen auch sein Menschsein verloren, wenn Menschenwürde verloren gehen könnte. In der ¹essentialistischen Perspektiveª ist dies freilich ein unsinniger Schluû, denn Existenz ist keine Eigenschaft7, sondern wird in diesem Zusammenhang als ontologische Kategorie verstanden. Wenn nun aber die ¹essentialistische Perspektiveª verlassen wird und Menschenwürde zu einer Eigenschaft wird, kann damit neu auch zwischen lebenswertem und lebensunwertem menschlichen Leben unterschieden werden. Für lebensunwertes Leben ist denn auch das Recht auf Überleben in Frage gestellt. Folglich plädierte Nationalrat Ruffy für eine Liberalisierung der aktiven Sterbehilfe. Bei der Verwendung des Würdebegriffes durch Ruffy findet schlieûlich eine zusätzliche Veränderung statt: Die Menschenwürde wird nicht mehr als ein Abwehrbegriff vor Übergriffen verstanden, sondern zu einem Begriff der Einforderung: Sterbehilfe soll beim Verlust der Menschenwürde eingefordert werden können.

2.3. Bericht der Arbeitsgruppe und Antwort des Bundesrates: 1999 Am 20. März 1997 setzte das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement (EJPD) als Folge der Motion Ruffy ¹zur Überprüfung der Fragen rechtlicher und tatsächlicher Natur aus dem Umkreis der Sterbehilfeª8 eine Arbeitsgruppe ein. Die Mehrheit der Arbeitsgruppe plädiert unter anderem dafür, den Artikel 114 StGB (Tötung auf Verlangen) um einen Absatz 2 zu erweitern, wonach in extremen Ausnahmefällen von einem Strafverfahren oder einer Bestrafung abgesehen werden muû (S. 46). Die Minderheit der Arbeitsgruppe lehnt eine solche Liberalisierung aus grundrechtlichen Überlegungen zur Menschenwürde ab. Sie argumentiert wie folgt: ¹Auûerdem gründet unser Rechtsstaat in der Würde des Menschen und damit auch in der Ehrfurcht vor dem Leben des Anderen. Zudem fordern die Menschenrechte die Unantastbarkeit des mensch7 8

Vgl. Rehkämpfer 2003. Vgl. Bericht der Arbeitsgruppe Sterbehilfe vom März 1999, 9.

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lichen Lebensª (S. 39 f.). Demgegenüber relativiert die Mehrheit den Würdeanspruch, wenn sie schreibt: ¹Mit der Reform der Bundesverfassung (BV) wird die Menschenwürde nun explizit als zentrales Grundrecht genannt. Der Schutz der Menschenwürde ist Kern und Anknüpfungspunkt anderer Grundrechte, also auch des Rechts auf Leben. So schreibt denn der Bundesrat in seiner Botschaft an das Parlament, der Schutz der Menschenwürde habe insbesondere in den Bereichen (. . .) der Medizin (. . .) eine zentrale Bedeutung. Auch wenn feststeht, daû die Wahrung der Menschenwürde eine absolute Grenze für alles staatliche und hoheitliche Handeln darstellt, ist der Begriff der Menschenwürde selber unterschiedlichen Verständnissen zugänglich. Gerade das Beispiel der Todesstrafe, die nach der Verfassungsvorlage vollständig verboten ist (Art. 10 Abs. 1), zeigt, daû Menschenwürde je nach Kultur und Tradition sehr unterschiedlich aufgefaût wirdª (S. 20 f.). Mit diesen Ausführungen wird die Gültigkeit einer Norm allein dadurch scheinbar widerlegt, daû ihre faktische Schmälerung in einem anderen Land erwähnt wird. Metaethisch betrachtet, wird damit nicht nur ein Relativismus vertreten, sondern auch ein Sein-Sollens-Fehlschluû gezogen. Auch der Bundesrat relativiert somit in seiner Antwort auf diesen Bericht der Studiengruppe den Begriff der Menschenwürde. Trotzdem entschied er sich in der Folge jedoch gegen eine gesetzliche Regelung der direkten aktiven Sterbhilfe im Sinne des Postulats ¹Ruffyª. In seiner Antwort (Bericht des Bundesrates zum Postulat ¹Ruffyª, Sterbehilfe. Ergänzung des Strafgesetzbuches 1999) hält der Bundesrat fest: ¹Selbst eine sehr restriktiv formulierte Ausnahme der Strafbarkeit der direkten aktiven Sterbehilfe, wie sie von der Mehrheit der Arbeitsgruppe ¹Sterbehilfeª vorgeschlagen wird, käme einer Lockerung des Fremdtötungsverbotes gleich und würde somit ein Tabu brechen, das in unserer christlichen Kultur tief verankert istª. Und weiter heiût es: ¹Bis heute erachteten es weder der Bundesrat noch der Gesetzgeber als angezeigt, das Problem der Sterbehilfe zu regelnª (S. 13). Interessant ist, daû in diesem Bericht explizit auf die ¹Offenheit des Zentralbegriffes der menschlichen Würdeª hingewiesen wird, ¹der sich einer positiven Konkretisierung nachhaltig entzieht.ª (S. 9) Bei dieser Nichtregelung der Sterbehilfe ist es bis heute geblieben.

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2.4. Parlamentarische Initiative von Nationalrat Franco Cavalli: 2000 Im Jahre 2000 reichte der Nationalrat und Onkologe Franco Cavalli in Anlehnung an den Bericht der Arbeitsgruppe eine parlamentarische Initiative zur Liberalisierung der aktiven Sterbehilfe ein. Obwohl die nationalrätliche Kommission für Rechtsfragen diese Initiative 2001 befürwortete, wurde sie schlieûlich vom Nationalrat abgelehnt. In dieser Initiative spielte die Begrifflichkeit der Menschenwürde jedoch keine Rolle.

2.5. Neuregelung der Suizidbeihilfe in den Alters- und Pflegeheimen der Stadt Zürich: 2000 Aufschluûreich für den Stellenwert des Begriffs Menschenwürde im Kontext der Sterbehilfe sind die Entwicklungen in der Stadt Zürich: Dort erlieû der Vorsteher des Gesundheits- und Wirtschaftsamtes bereits am 14. Juli 1987 eine Verfügung, welche den Sterbehilfeorganisationen den Zugang zu den Patientinnen und Patienten in den Kranken- und Altersheimen verwehrte. Personen, die Suizid begehen wollten, muûten das Kranken- oder Altersheim vorher verlassen; auch nach einem Selbsttötungsversuch hatten sie auszuziehen. Die Sterbehilfeorganisationen hatten ein Zutrittsverbot in den Institutionen des Gesundheitswesens der Stadt Zürich. Dieses strikte Verbot wurde in der Folge dann aber gelockert: Am 25. Oktober 2000 erlieû der Stadtrat von Zürich eine neue Regelung, wonach die Selbsttötung in den Stadtspitälern weiterhin verboten bleibt, nicht aber in den Alters- und Pflegeheimen der Stadt Zürich. ¹Das dem Einzelnen zustehende Recht auf Selbstbestimmung umfaût das Recht, den Freitod zu wählenª9. Im August 2003 veröffentlichte dann die Direktion der Altersheime der Stadt Zürich ¹Ethische Richtlinien für die Altersheime der Stadt Zürichª. Fachlich betreut wurde die Erstellung der Richtlinien von Klaus Peter Rippe, der auch die Ethikkommission 9 Tobias Jaag/Markus Rüssli, 2001, ¹Sterbehilfe in staatlichen Spitälern, Krankenund Altersheimenª, in: Schweizerisches Zentralblatt für Staats- und Verwaltungsrecht, 102. Jahrgang, Nr. 3, 127.

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der Sterbehilfeorganisation Exit berät. Im Anhang dieser Richtlinien setzen sich die Autoren vertieft mit dem Begriff der Menschenwürde auseinander. Angesichts der Tragweite dieser Ausführungen seien sie nachfolgend ausführlich zitiert: ¹In der Altersethik spielt der Begriff der Menschenwürde eine groûe Rolle. Wie auch in anderen Bereichen der Ethik ist aber oftmals unklar, was es inhaltlich konkret bedeutet, die Würde der Person zu achten. Dies liegt daran, daû die Menschenwürde häufig nicht mehr als ein Ausdruck dafür ist, daû eine Person moralisch zu berücksichtigen ist. Richtlinien können mit einem solchen bedeutungsarmen und interpretationsbedürftigen Verständnis von Menschenwürde nicht arbeiten. Sie müssen Leitlinien geben, was es im Alltag von Menschen bedeutet, die Würde eines Menschen zu achten. (. . .) Die Richtlinien für die Altersheime der Stadt Zürich beziehen sich auf folgendes Verständnis von Menschenwürde: Allen Menschen kommt eine unveräuûerliche Würde zu. Aufgrund dieser Würde haben sie ein Recht, keinen unwürdigen Situationen ausgesetzt zu sein. Es ist mit der Achtung der Würde nicht zu vereinbaren, Personen zum Beispiel zu erniedrigen oder in anderer Weise zu behandeln, die nicht mit ihrer Selbstachtung zu vereinbaren sind. Der Begriff der Würde steht somit in enger Beziehung zum Begriff der Selbstachtung. Dieses in der Ethik prominent vertretene Verständnis von Menschenwürde ist für die Fragen der Altersethik hilfreich, ist aber mit einem Problem verbunden. Bei dementen Menschen ist es fraglich, ob sie noch in der Lage sind, sich selbst zu achten. Im Allgemeinen sind wir aufgefordert, im Zweifelsfalle davon auszugehen, daû eine Person in Situationen, in der ihre Selbstachtung und ihr Selbstwert in Frage gestellt wird, auch als unwürdig erlebt. Aber zumindest demente Personen in einem fortgeschrittenen Stadium ihrer Krankheit haben einfach nicht mehr die Fähigkeit, sich selbst zu achten. Die Koppelung des Begriffs der Menschenwürde an Selbstachtung führt so zum Problem, daû es keinen Sinn macht, in Bezug auf hochdemente Personen von Würde zu sprechen. Das heiût nicht, daû keine moralischen Pflichten bestehen, ohne Zweifel bestehen zum Beispiel Fürsorgepflichten. Nur, das an Selbstachtung gebundene Prinzip der Menschenwürde läût sich nicht auf hochdemente Menschen anwenden. Damit wird aber fraglich, ob man überhaupt von der Menschenwürde schwer dementer Menschen sprechen kann. Geht es bei der Würde auch um ± vom subjektiven Erleben unabhängige ± objektive Maûstäbe, so können auch höchstdemente Menschen in eine unwürdige Situation versetzt werden. Auf ein solches Verständnis stützen sich die ethischen Richtlinien. Eine unwürdige Situation liegt nicht nur vor, wenn eine Person in ihrer Selbstachtung verletzt wird, sonder auch dann, wenn die Situation nach objektiven Maûstäben unwürdig istª.

Wenn dieser Text auch an der einen oder anderen Stelle zögert, so stimmt er doch mit der Grundlinie Kehls überein: ¹objektive Maû-

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stäbeª, welche an den äuûerlichen Zustand eines Menschen gebunden sind entscheiden darüber, ob ein Mensch noch einen Würdeanspruch haben kann. Möglicherweise geht dieser Text in einem ± entscheidenden ± Punkt sogar über Kehl hinaus. Da hier explizit demente Personen fokussiert werden, könnte damit angesprochen sein, daû deren eigenen ¾uûerungen über den eigenen Lebenswillen möglicherweise nicht ernst zu nehmen seien. Woher aber wollen wir wissen, was in einem dementen Menschen vor sich geht und uns das Urteil anmaûen, sie besäûen keine Selbstachtung mehr? Im Text wird zwar die Verbindung der Fähigkeit zur Selbstachtung mit der Menschenwürde problematisiert, trotzdem bleibt die Relativierung der Menschenwürde für demente Menschen aber bestehen.

2.6. Zehn Thesen zur Suizidbeihilfe der NEK-CNE: 2004 Im Herbst 2004 veröffentlichte die NEK-CNE Thesen zur Suizidbeihilfe, in denen gemäû der Kommissionsmehrheit die Beihilfe zum Suizid auch in Institutionen des Gesundheitswesens möglich sein soll. Begründet wird diese Liberalisierungsforderung mit dem Selbstbestimmungsrecht des Patienten. Interessant ist, daû keine dieser Thesen auf die Menschenwürde Bezug nimmt. Die Thesen unterstreichen damit den Wandel und die Ausweitung des Würdeund Autonomiebegriffes von einem Abwehrbegriff zu einem Begriff der Einforderung. Gewissermaûen als Gegenbewegung zu dieser Tendenz hat sich das Zürcher Institut Dialog Ethik im Rahmen des andauernden Gesetzgebungsprozesses zum Thema Sterbehilfe 2005 mit einem Positionspapier in der Debatte gemeldet. In dieser Erklärung wendet sich Dialog Ethik für ein menschenwürdiges Sterben, das dem individuellen Lebensentwurf des Betroffenen entspricht und seinem sozialen Eingebundensein gerecht wird. Gefordert ist in diesem Sinn eine Hilfe beim Sterben, nicht eine Hilfe zum Sterben. Wie nachfolgend (Abschnitt 5) deutlich wird, wendet sich Dialog Ethik damit gegen eine absolute Verfügungsmacht über Sterben und Tod, die beispielsweise Ausdruck in der Forderung nach einer aktiven Sterbehilfe findet.

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2.7. Richtlinien der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW): 2004 Die SAMW veröffentlichte im Dezember 2004 ihre neuesten Richtlinien zu ¹Entscheiden am Lebensendeª. In diesen Richtlinien wird dem Arzt und der ¾rztin neu der Entscheid für oder gegen die Beihilfe zum Suizid im Sinne eines Gewissensentscheides freigestellt: ¹Auf der einen Seite ist die Beihilfe zum Suizid nicht Teil der ärztlichen Tätigkeit, weil sie den Zielen der Medizin widerspricht. Auf der anderen Seite ist die Achtung des Patientenwillens grundlegend für die Arzt-Patienten-Beziehung. Diese Dilemmasituation erfordert eine persönliche Gewissensentscheidung des Arztes. Die Entscheidung, im Einzelfall Beihilfe zum Suizid zu leisten, ist als solche zu respektieren. In jedem Fall hat der Arzt das Recht, Suizidbeihilfe abzulehnen. Entschlieût er sich zur Beihilfe zum Suizid, trägt er die Verantwortung für die Prüfung der folgenden Voraussetzungen: 1) Die Erkrankung des Patienten rechtfertigt die Annahme, daû das Lebensende nahe ist. 2) Alternative Möglichkeiten der Hilfestellung wurden erörtert und soweit gewünscht auch eingesetzt. 3) Der Patient ist urteilsfähig, sein Wunsch ist wohlerwogen, ohne äuûeren Druck entstanden und dauerhaft. Dies wurde von einer unabhängigen Drittperson überprüft, wobei diese nicht zwingend ein Arzt sein muû. Der letzte Akt der zum Tode führenden Handlung muû in jedem Fall durch den Patienten selbst durchgeführt werdenª10. Die Medien haben diese Richtlinien bereits während des Vernehmlassungsprozesses derart propagiert, daû ¾rzte nun neu Suizidbeihilfe leisten dürften. Dieser liberalere Text für die Vernehmlassung wurde dann aber aufgrund von Einsprüchen etwas zurückgenommen. Zudem wurde das Recht der ¾rzteschaft, Suizidbeihilfe verweigern zu dürfen, betont.

10 Patientinnen und Patienten am Lebensende Medizinisch-ethische Richtlinien der SAMW.

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3. Gesetzgebung im auûerhumanen Bereich: Die Würde der Kreatur 3.1. Gutachten zur Würde der Kreatur: 1996 Wie unter Abschnitt 1.1. erläutert, wurde mit der Begrifflichkeit der ¹Würde der Kreaturª ein weltweit einzigartiges Konzept in die Bundesverfassung (Art. 24novies, heute Art. 119) aufgenommen. Um diese Begrifflichkeit auszuführen, wurde 1996 wurde ein Gutachten mit dem Titel ¹die Würde der Kreaturª von Ina Praetorius und Peter Saladin verfaût und vom Bundesamt für Umwelt, Wald und Landschaft (BUWAL) herausgegeben. Darin wird der Versuch unternommen, den Begriff der ¹Würde der Kreaturª näher zu klären und die Konsequenzen aus den Überlegungen zu ziehen, daû Tieren und der Umwelt jenseits ihrer Nützlichkeit für den Menschen ein Eigenwert, eine ¹Würdeª, zugesprochen wird. Doch bereits die Begriffsklärung ¹Kreaturª bereitet den Autoren etliche Mühe, denn die Gesetzgebung enthält dazu keine weiteren Materialien zur Auslegung (vgl. S. 80). ¹Art. 24novies Abs. 3 ist, wie Ziff. I.1. darlegt, von der nationalrätlichen Kommission formuliert worden. Bereits die ständerätliche Kommission hatte einen ausdrücklichen Schutz auch der ¹Umweltª vor Miûbräuchen der Fortpflanzungs- und Gentechnologie verlangt und einen entsprechenden spezifischen Gesetzgebungsauftrag (im neuen Abs. 3) statuiert; der Ständerat stimmte dieser Konzeption zuª (S. 79). Der Begriff der ¹Würde der Kreaturª stellt auch international ein Novum dar (vgl. S. 83). Die Autoren schreiben aber: ¹Das Problem dabei ist jedoch, daû Tiere, Pflanzen und Organismen bloû Rechts-Objekte nicht aber Rechts-Subjekte sindª (S. 90). ¹Entsprechend schwierig ist es, ihnen entsprechendes Recht zuzusprechen. Trotzdem dürfen Tiere, Pflanzen und Organismen nicht bloû als ¸Sachen qualifiziert werdenª (S. 112). Daraus wird im Bericht unter anderem die Konsequenz der Nicht-Patentierbarkeit von Tieren, Pflanzen und Organismen gezogen (S. 114 f.).

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3.2. ¹Eidgenössische Ethikkommission für die Gentechnik im auûerhumanen Bereichª (EKAH): 1998 Im Jahre 1998 wurde die ¹Eidgenössische Ethikkommission für die Gentechnik im auûerhumanen Bereichª (EKAH) gegründet. Nach Art. 23 des Bundesgesetzes hat diese Kommission, welche aus 11 Personen besteht, folgende Aufgabe: ¹Die Kommission verfolgt und beurteilt aus ethischer Sicht die Entwicklungen und Anwendungen der Biotechnologie und nimmt zu damit verbundenen wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Fragen aus ethischer Sicht Stellungª. Im Rahmen ihrer Tätigkeiten veröffentlichte die Kommission 2001 einen Bericht zur Würde des Tieres. In diesem Zusammenhang heiût es in der Broschüre, welche die EKAH zusammen mit der Eidgenössischen Kommission für Tierversuche (EKTV) veröffentlichte: ¹Mit dem Begriff der Würde der Kreatur wird der Mensch zu Respekt vor der nicht-menschlichen Natur aufgefordert, sowohl in seinem eigenen Interesse an einer nachhaltigen Nutzung als auch aufgrund eines Eigenwertes der Mitlebewesen. Das geltende Tierschutzgesetz schützt Tiere vor ungerechtfertigt zugefügten Leiden, Schmerzen und Schäden und es darf nicht ungerechtfertigt in Angst versetzt werden. Nach Auffassung der EKAH und EKTV sind damit bereits wesentliche Aspekte der Würde der Kreatur beim Tier berücksichtigt. Sie schlagen aber vor, Tiere unter dem Aspekt der Würde auch vor ungerechtfertigten Eingriffen im Erscheinungsbild, vor Erniedrigungen und einem Übermaû an Instrumentalisierung zu schützenª (PressecommuniquØ vom 21. Febr. 2001). Trotzdem seien Patente auf Tiere und Pflanzen in der Folge zulässig, nicht jedoch auf Pflanzensorten und Tierarten. (Bericht EKAH vom 12. März 2001.)

4. Der Mensch als Nutztier? ± Überlegungen zu gegenläufigen Tendenzen Diese verschiedenen Entwicklungen in der schweizerischen Gesetzgebung und die Diskussion rund um die Würde der Kreatur sind im Hinblick auf die Anwendung der Begrifflichkeit der Würde aufschluûreich: Während auf Seiten der auûerhumanen Natur der Würdebegriff eingeführt wird, um die Instrumentalisierungsdy-

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namik abzuschwächen, wird gleichzeitig der Würdebegriff beim Menschen und beim menschlichen Leben relativiert. Diese Relativierung zeigt sich in zweierlei Hinsicht: Erstens wird der ungeteilte und kriterienlose Würdeanspruch des Menschen, der den normativen Kern des Menschsein beschreibt, nicht mehr axiomatisch verstanden, sondern relativiert und in einen Vergleich mit anderen Werten gestellt. Zweitens wird die Menschenwürde zu einer bloûen ± möglichen! ± Eigenschaft des menschlichen Lebens degradiert. Diese Relativierung findet ihren Ausdruck sowohl am Beginn des menschlichen Lebens wie auch am Lebensende. Zudem wird die ¹Eigenschaft Menschenwürdeª mit dem Vorkommen anderer Eigenschaften verknüpft, beispielsweise mit der zitierten Bindung an geistige Fähigkeiten (Stichwort ¹Demenzª). Damit ist ± was hier nur am Rande erwähnt sein soll ± die Möglichkeit gegeben, auch andere geistig beeinträchtigte Personen aus dem Bezugsfeld der Menschenwürde auszuschlieûen. Zwei Etappen der Angleichung der Menschenwürde an die gestiegene Würde des Tieres lassen sich unterscheiden:

a) Würde als Eigenschaft und Funktion Ganz allgemein läût sich beim schweizerischen Gesetzgebungsprozeû feststellen, daû der normative Würde- und Autonomieanspruch zunehmend mit konkreten empirischen Fähigkeiten eines Menschen gleichgesetzt wird. Dadurch verliert der Würde- und Autonomieanspruch des Menschen, wie er heute in den Menschenrechten und im Völkerrecht begründet ist, seine Grundsätzlichkeit. Menschlichem Leben wird das Menschsein damit nur noch unter bestimmten Bedingungen zuerkannt. Die Menschenwürde wird dadurch als relativer Wert verhandelbar. Prinzipiell analog zu Fragen, unter welchen Bedingungen Tiere etwa zu Forschungszwecken genutzt werden dürfen, kann nun neu gefragt werden, in welchen Stadien bzw. unter welchen Bedingungen menschliches Leben einen Anspruch auf Leben, Würde oder Autonomie hat.

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b) Virtualisierung der Menschenwürde: Trennung von Wille und Leiblichkeit Mit der Möglichkeit einer Fremdnutzung von menschlichem Leben unter bestimmten Bedingungen geht eine neue ¹Nutzenbeziehungª zum eigenen Körper und damit zum eigenen Leben einher; Wille und Leiblichkeit erscheinen getrennt. Das Individuum kann sich als unabhängige Vernunft verstehen, die einen Leib hat und darüber verfügt ± sei dies im Kontext der Schönheitschirurgie oder bezüglich eines Anspruchs auf aktive Sterbehilfe. Damit verliert das biologische menschliche Leben und dessen Leiblichkeit seine Würde, welche damit ganz an die Vernunft übergeht.

5. Beurteilung der Tendenzen: Von der normativen Vorgegebenheit zum Rohstoff In der christlich-jüdischen Theologie wird die Menschenwürde aus dem Zuspruch Gottes an den Menschen, Gottes Ebenbild zu sein, begründet. Im theologischen Kontext basiert die Menschenwürde als ethischer Orientierungspunkt humanen Zusammenlebens damit letztlich auf einem Nichtwissen, oder vielleicht besser auf einem Geheimnis. Damit ist sie der menschlichen Verfügbarkeit entzogen. Wir können deshalb nicht wissen, wann und wie lange menschliches Leben Menschenwürde besitzt. Die Argumentationsführung lautet wie folgt: Der Mensch besitzt als Gottes Ebenbild eine geschenkte Würde und hat deshalb Anspruch auf Autonomie, d.h. hat das Recht über sich selber zu bestimmen (auto-nomos: SelbstGesetzgebung). Das theologische Würdeverständnis betont die passive Komponente des Menschseins: Um Mensch zu sein, bedarf es keiner Leistungen und Fähigkeiten. Im Rahmen einer säkularen Gesellschaft ist das Zugeständnis von Menschenwürde ein Akt der Setzung: Der Mensch als ein mit Vernunft begabtes Wesen hat Anspruch auf Autonomie und besitzt deshalb eine Würde und hat keinen Preis. Dieses Würdeverständnis betont gegenüber dem theologischen die aktive Komponente des Menschseins. Entsprechend ist dieser Akt der Menschenwürde als eine vernünftige Setzung oder dessen Unterlassung ist vom Menschen zu verantworten.

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Im Gegensatz zum prämodernen Menschen anerkennt der moderne Mensch das soziale Gefüge und die Natur nicht mehr als normative Vorgegebenheiten, die sein Handeln bestimmen. Das Fehlen einer zwingenden Bestimmtheit von Beginn und Ende menschlicher Würde bedeutet in diesem Kontext nun, daû sie in die Verfügungsgewalt des Menschen kommt. Der moderne Mensch nimmt sich demnach die Freiheit, neue Wirklichkeiten zu schaffen. Aus Vorgegebenen wird zunächst Gegebenes und schlieûlich Material. Die dem Menschen begegnende Wirklichkeit verliert ihre Selbstverständlichkeit als von Gott dem Menschen vorgegebene Welt. Stattdessen setzt der Mensch im Anschluû an das Denken Immanuel Kants seine Vernunft als neue Vorgabe ein und nimmt für sich in Anspruch, seine Wirklichkeit aus seiner Vernunft heraus zu entwerfen. Nach Kant kann sich der Mensch neu als frei handelndes Subjekt begreifen, dem die Welt zur autonomen Verfügung steht. Diese Weltverfügung wird durch die Erkenntnis der gesetzlichen Struktur der Natur möglich. Indem Kant den Gedanken der Willensfreiheit mit demjenigen der Autonomie verbindet, wird die Vernunft zum kontrollierenden Faktor der begegnenden Wirklichkeit. Nicht mehr die Willkür des Vorgegebenen bestimmt fortan das menschliche Selbstverständnis, sondern der Mensch erfährt sich als Gesetzgeber der Natur. In der Folge kann sich der Mensch als ¹autonomª im Sinne von ¹auto-nomosª verstehen. Damit macht Kant die Vernunft zum prägenden Vorgegebenen der begegnenden Wirklichkeit. Diesen Gedanken nimmt der junge Fichte auf und definiert die Natur als zu überwindende Schranke menschlicher Freiheit. In der Abhandlung ¹Über die Würde des Menschenª (1794) verlangt Fichte vom Menschen, so lange zu handeln, ¹bis alle Materie das Gepräg seiner Einwirkung trageª11. Die Moderne ist die Zeit der groûen Entwürfe der Naturwissenschaft und der Sozialtechnologie. Ihren Höhepunkt feiert diese Verallgemeinerung derzeit in einem absoluten Ökonomismus, der auf alle Lebensbereiche übergreift und das Leben weltweit vereinheitlicht. Diese Vereinheitlichung ist der grandiose Versuch der Menschen, sich ihrer Gebundenheit und Abhängigkeit von der ihnen begegnenden Wirklichkeit ± auch der eigenen Leiblichkeit ± 11 J. G. Fichte, ¹Initiaª, in: Sämtliche Werke, hg. von I. H. Fichte, ND Berlin 1971, Bd. I, 42.

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zu entledigen und autonom über sie verfügen zu wollen. Gut und Böse reduzieren sich in dieser Perspektive auf Erfolg und Miûerfolg, definiert anhand der Kriterien Effizienz und Rationalität. Berauscht von den Machtmöglichkeiten, welche ihm aus der Allianz zwischen Naturwissenschaft und Ökonomie erwachsen, verfällt der Mensch der Moderne der Illusion der absoluten Verfügungsgewalt über die ihm begegnende Wirklichkeit. Die Welt mit ihren Ressourcen wird zum ¹Verbrauchsmaterialª menschlicher Interessen ohne eigene Würde. Diese Verbrauchermentalität macht auch vor dem menschlichen Leben nicht halt, wie schon die Begrifflichkeit der ¹verbrauchenden Embryonenforschungª zum Ausdruck bringt. Auch das Verhältnis des Menschen zu seiner Leiblichkeit ist zunehmend ein instrumentelles und verbrauchendes. Dieser Prozeû hat den Menschen groûen Fortschritt und Unabhängigkeiten von natürlichen Abhängigkeiten gebracht. Gleichzeitig hat er sich mit dem Versuch, mit dem Menschsein gegebene Abhängigkeiten ignorieren zu können, aber auch um mögliche axiomatische Orientierungspunkte gebracht. Der Scheitelpunkt im Sinne einer idealen Maximalhöhe der Erweiterung menschlicher Handlungsmacht könnte bereits überschritten sein, denn die Konsequenzen des Fortschritts schaffen paradoxerweise zunehmend neue Zwänge. Tatsächlich kann der Mensch heute in vielen Situationen nur noch reagieren. Die Handlungsfreiheit ist mittlerweile in vielen Bereichen massiv eingeschränkt und die menschliche Handlungsmacht übersteigt bereits heute auf vielen Gebieten die Verantwortungsfähigkeit des Menschen. Die zunehmende Dominanz der Nutzenorientierung bringt demnach gar keinen zusätzlichen Nutzen im Sinn von gröûerer Autonomie mehr. Auf diesen Widerspruch und auf Möglichkeiten, die Situation durch eine explizite Verhältnisbestimmung zwischen Nutzen und Würde neu ± gewinnbringend und würdig zugleich ± zu definieren, wird im nächsten Teil eingegangen.

Anmerkung: Die paradoxe Wirkungsgeschichte Immanuel Kants Kant, der den Menschen Willensfreiheit und Würde zuschrieb, hat gleichzeitig die Gefahr der Absolutsetzung der Willensfreiheit erkannt und unterstellte sie deshalb dem kategorischen Imperativ,

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damit sie nicht zum Fähnlein im Wind werde. Mit diesem Anspruch, daû vernünftige Wesen, und damit auch der Mensch, Zweck in sich selbst sein sollen, hat er den Grundstein für den Würde- und Autonomieanspruch und der Menschenrechte gelegt, wie sie noch heute das Völkerrecht begründen. Jeder Mensch hat aufgrund seiner Gattungszugehörigkeit eine Würde und keinen Preis. Diese Tatsache unterstreicht er in Bezug auf den menschlichen Nachwuchs in seinen Ausführungen zum Elternrecht in den ¹Metaphysik der Sittenª, indem er schreibt daû ¹das Erzeugte eine Person ist, und es unmöglich ist, sich von der Erzeugung eines mit Freiheit begabten Wesens durch eine physische Operation einen Begriff zu machen: so ist es eine in praktischer Hinsicht ganz richtige und auch notwendige Idee, den Akt der Zeugung als einen solchen anzusehen, wodurch wir eine Person ohne ihre Einwilligung auf die Welt gesetzt und eigenmächtig in sie herübergebracht haben; für welche Tat auf den Eltern nun auch eine Verbindlichkeit haftet, sie, soviel in ihren Kräften ist, mit diesem ihrem Zustand zufrieden machen. ± Sie können ihr Kind nicht gleichsam als ihr Gemächsel (denn ein solches kann kein mit Freiheit begabtes Wesen sein), und als ihr Eigentum zerstören oder auch nur dem Zufall überlassen, weil an ihm nicht bloû ein Weltwesen, sondern einen Weltbürger in einen Zustand herüberzogen, der ihnen nun auch nach Rechtsbegriffen nicht gleichgültig sein kannª12. Der Kantsche Begriff der Autonomie steht damit in einer engen Beziehung zur Menschenwürde. Trotzdem hat sein Denken aus zwei Gründen zur Instrumentalisierungsdynamik beigetragen: Erstens haben seine Ausführungen, daû alle nicht-vernünftigen Wesen Sachen seien, die Tendenz zur Materialisierung der auûerhumanen Natur und Umwelt vorangetrieben. Zweitens hat Kant ein eigenartiges Verhältnis zu seiner Leiblichkeit. Er sprach sich zwar explizit gegen den Suizid aus, weil sich dabei der Mensch selbst instrumentalisieren würde, sonst hat er aber sehr an seiner Leiblichkeit gelitten und eher ein instrumentelles Verhältnis dazu gehabt. Er war oft krank und seine Philosophie erscheint an vielen Stellen als Versuch, sich der seinen Willensfreiheit beschränkenden Leiblichkeit zu entledigen. Die Gebrüder Böhme äuûern sich dazu wie folgt im Zusammenhang mit Kant: ¹Die Auszeichnung der Vernunft als eigentlich Menschliches und zugleich Gott Ebenbild12

Kant 1990, 393±394.

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liches ist von dem Augenblick an, als intellektuelle Autonomie sich von leiblicher Gebundenheit, natürlichen Abhängigkeiten, effektiver Spontaneität und traditionellen Zusammenhängen abhebt, ein Akt der Herrschaft: Der Selbstbeherrschung über die Naturbeherrschungª13. Im Zuge dieses Herrschaftsaktes ist der Samen zur Selbstzerstörung angelegt. Bei Kant fehlt die Pflege des Leibes, das Sich-Wohl-Tun, und im Namen der Pflicht hat sich der Mensch von seinen Gefühlen, auch von den Glücksgefühlen, loszusagen. Das, was dem Menschen ganz einfach gut tut, wird von Kant völlig ausgeblendet. Als Pflichtvollstrecker macht Kant den Leib zum Nutztier seines Willens. Leiblichkeit und Abhängigkeit lassen sich aber vom Menschsein nicht lösen. Der Umgang mit diesen beiden unabdingbaren Aspekten des menschlichen Daseins ist Aufgabe von Medizin und Pflege. Dabei zeigt sich, daû die einseitige Orientierung an der Autonomiefähigkeit des Patienten und die Ausblendung seiner Abhängigkeiten und Bedürfnisse bei der ethischen Entscheidungsfindung in Medizin und Pflege Probleme aufwirft. Indem Kant aber genau diese in seinem Denkkonzept negativ bewertet, bedarf sein Denken der Ergänzung. ¹Was mir gut tutª, die Orientierung am leiblichen Nutzen, wird bei Kant völlig ausgeblendet, ist aber ein utilitaristischer Anschluû. Dies legt die Schluûfolgerung nahe, daû eine Verbindung der beiden sich auf den ersten Blick ausschlieûenden Konzepte der Würde- oder Nutzenorientierung notwendig ist.

II. Orientierter Kohärentismus als integrative Verantwortungsethik ± eine Alternative sowohl zu normenfeindlicher Nutzenorientierung als auch zu nutzenfeindlicher Normenfixierung In der vorausgegangenen Darstellung trat die gravierende Problematik des Rückgangs der Normorientierung, konkret der Beschneidung des prinzipiellen Würde- und Autonomieanspruch deutlich in Erscheinung. Dies darf allerdings nicht so verstanden werden, daû damit eine generelle Ablehnung einer Nutzenorientie13 Böhme, Hartmut und Gernot, Das Andere der Vernunft, Frankfurt am Main 1992, 11.

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rung intendiert wäre. Vielmehr führt jede Würdeorientierung ohne Nutzenorientierung und jede Nutzenorientierung ohne Würdeorientierung zu höchst unplausiblen Folgerungen. Dies wird im Folgenden als Erstes ausgeführt. So nahe die Folgerung nun liegt, diese beiden Grundorientierungen zu kombinieren, so wenig simpel kann eine solche Kombination sein. Denn der Antagonismus dieser beiden Orientierungen zeigte sich oben deutlich genug. Wie eine Integration dennoch möglich sein könnte, wird das zweite Thema sein.

1. Elementare Defizite exklusiver Nutzenorientierung und exklusiver Würdeorientierung 1.1. Normenfeindliche Nutzenfixierung Versteht man den Neoliberalismus zusammengefaût als eine Bestrebung, Regulierung zu mindern um (monetär erfaûbaren) Nutzen zu maximieren, so kann man darin durchaus eine gewisse Ablehnung von Normen sehen. Eine derart normenfeindliche Nutzenfixierung hätte demnach das Ziel, so wenig normative Vorgaben wie möglich zu haben. Dieses Ansinnen ist aber begrifflich-logisch widersprüchlich, was Ausdruck eines grundlegenden Reflexionsmankos ist. Bedenkt man nur schon, welchen Preis wir schon heute für die ¹Übernutzungª der Natur bezahlen, so überraschen Aussagen wie die, daû ein groûer Teil der Fusionen sich finanziell nicht rechnet, nur noch wenig. So allgegenwärtig radikale Nutzenorientierung heute in Qualitätsmanagementsystemen, Rationalisierungsbemühungen, Fusionen, Wirkungsanalysen usw. ist, so häufig zeigen sich Situationen, in denen sich absolut gesetzte Nutzenorientierung selber ad absurdum führt. Es wird evident, daû vieles, was als besonders nützlich propagiert wird, zumindest längerfristig betrachtet, unnütz, wenn nicht gar schädlich ist. Diese durchaus nicht immer, aber oft wahrnehmbare faktische Absurdität ist ein Symptom eines tiefer liegenden Reflexionsmankos. Denn eine Nutzenorientierung ist nur scheinbar normenneutral und ihr Kampf gegen eine zu hohe Regulierungsdichte ist eine Spiegelfechterei. Denn diese Form der Nutzenorientierung vermindert den Grad der normativen Regulierung deshalb nicht, weil sie

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selber eine normative Regulierung ersten Ranges darstellt. Nützlichkeit ist, wohlverpackt in Begriffen wie ¹Effizienzª, die groûe Moral, damit eben selber die ¹Normª der Gegenwart. Nur wenigen Moralvorstellungen gelang es je, so viele Durchsetzungsenergie in Form von (Sach-)Zwängen zu produzieren, wie das die obligatorische Nutzenorientierung gegenwärtig zu Stande bringt. Interessanterweise ist diese Normierung nicht nur besonders stark, sondern müûte systematisch als verdeckter moralischer Fundamentalismus bezeichnet werden, da die normative Grundorientierung nicht der Diskussion ausgesetzt ± sondern, wenn überhaupt explizit gemacht ± bloû behauptet wird14. Damit wird deutlich, daû eine ¹normenfeindliche Nutzenorientierungª ein ¹schwarzer Schimmelª, ein Oxymoron ist: Sie setzt ± quasi ohne es selber zu merken, sicher aber, ohne es zu sagen ± relativ enge Handlungsnormen, produziert so massive Zwänge und behauptet zugleich, ¹liberalª zu sein und ¹Normenª mit Abwertung belegen zu dürfen. Auffällig ist somit nicht nur die genannte Widersprüchlichkeit der Nutzenorientierung in der Praxis, sondern auch das bescheidene Niveau an (Selbst-)Reflexion. Die aktuelle Dominanz dieses schwarzen Schimmels, einer praktisch fragwürdigen und theoretisch unreflektierten Nutzenorientierung also, darf allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, daû es auch eine reflektierte und praktikable Nutzenorientierung gibt: Der philosophische Hedonismus als Kultur sorgfältigen Nachdenkens über die Frage, womit ich mir selber wirklich Gutes tue, wird unter anderem heute weiterverfolgt unter dem Stichwort des ¹aufgeklärten Egoismusª15. Auch der klassische Utilitarismus verwandte viel Zeit auf die selbstreflexive Frage, worin das ¹Glückª, der Nutzen, denn bestehe, an dem alles Handeln zu orientieren sei und wie sich das begründen lasse. Er reflektierte die entscheidende Frage, die sich die heutige Nutzenorientierung oft nicht stellt, auch wenn er sie nicht bis ins Letzte beantworten konnte.

14 Vgl. typisch die klassische Ökonomismuskritik bei Ulrich (1997 und passim) und Binswangers (1998) Konzept, die Ökonomie als Glaube zu verstehen. 15 Z. B. bei Wolf 2002.

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1.2. Nutzenfeindliche Normfixierung Reaktiv auf die oben dargestellte Entwicklung in der Schweiz und kritisch gegen eine zunehmenden Nutzenorientierung könnte man gegenteilig reagieren und ebenso einseitig auf Normen, speziell auf die Konzepte von Menschenwürde und Autonomieanspruch setzen. Man würde dann Nutzenorientierung mit Abwertungen wie ¹Egoismusª, ¹Materialismusª, ¹Individualismusª etc. belegen. Obwohl der Würde- und Autonomieanspruch im nachfolgend dargestellten integrativen Konzept tatsächlich eine zentrale Rolle spielen wird, ist vorweg auf die Gefahren einer einseitigen Orientierung an solchen Werten hinzuweisen. Angesichts der eigenartigen Allianzen, welche sich in der Schweiz mehrmals gegen den oben dargestellten Einbruch einer Vernutzungskultur gebildet haben, deuten sich gewisse Gefahren an. Organisationen mit fundamentalistisch-religiösen Tendenzen kämpfen an der Seite beispielsweise der Grünen Partei gegen die Stammzellforschung. Erstere tun dies analog ihrem Engagement gegen assistierten Suizid prinzipiell im gleichen Normenkostüm, das sie auch kompromiûlos gegen den Schwangerschaftsabbruch und Sexualität auûerhalb der Ehe antreten läût, während letztere zu den anderen genannten Themen ganz andere Standpunkte hat. Noch deutlicher wird die Problematik einer nutzenfeindlichen Normfixierung, wenn man sich mit bestimmten Positionen von Kant als dem herausragenden Vertreter einer exklusiven Autonomieorientierung näher beschäftigt. Er war u. a. ein Vertreter der Todesstrafe16 und gab positiven Affekten, etwa Empathie und Liebe, keinen Platz im moralischen Universum, sondern lieû dieses von der ¹Pflichtª als Gegensatz zur ¹Neigungª beherrscht sein17. Obwohl man das vermutlich vor dem Hintergrund seiner spezifischen Methodik interpretieren kann und muû18, entstand eine ethische Theorie, die dem individuellen Nutzen, dem Glück und dem 16 Gerade Kant hat sich in seiner Metaphysik der Sitten vehement für ebendieses Vergeltungsprinzip eingesetzt: ¹. . . hat er aber gemordet, so muû er sterben; es gibt kein Surrogat zur Befriedigung der Gerechtigkeitª (Kant 1990, 194). 17 Kant 1990, 44 und passim. 18 Man kann die Ausscheidung der Neigung als legitim betrachten, wenn man eben Kants methodischer Fokussierung von bestimmten Aspekten des Handelns ausgehend von der Zentralstellung des freien Willens folgt. Problematisch ist mehr die implizite Wertung von Neigungen, die damit als die explizite Logik seiner Herangehensweise entstand.

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Wohlergehen des einzelnen Menschen vergleichsweise wenig Raum gab. Ausdruck dieser latenten Glücksfeindlichkeit sind vielleicht auch Kants Definitionen von Sexualität als gegenseitigen Gebrauch der Geschlechtsorgane und von der Beziehung der Eheleute als Besitzverhältnis19. Analog zur oben dargestellten Paradoxie, daû die reine Nutzenorientierung oft nutzlos, unnütz, ja schädlich ist, zeigen diese Folgerungen Kants, daû eine radikale Würdeorientierung zu unwürdigen Handlungsanweisungen führen kann. Der grundlegende Widerspruch, der an diesem Beispiel deutlich wird, liegt in der Ausblendung der Tatsache begründet, daû Menschen nie Objekt und Subjekt von Würde allein, nie personifizierte Autonomie sind. Menschen sind immer auch Leib, d.h. mit Neigungen, Affekten, Fehlern usw. behaftet, und können entweder als solche Respekt für ihre Würde und ihren Autonomieanspruche erhalten ± oder gar nicht. Gerade eine Welt kalter Pflicht, absoluter Gerechtigkeit und kategorischer Imperative ist in diesem Sinn menschlich unwürdig. Es stimmt darum etwas traurig, daû die Theologie sich bisher so selbstverständlich für Kant entschied, wenn sie zwischen ihm und dem Utilitarismus zu wählen hatte, auch wenn sich das zunehmend zu ändern scheint (Waltl 1997). Allein schon der jesuanische Satz, daû der Sabbat um des Menschen Willen gemacht worden sei und nicht der Mensch um des Sabbats Willen, daû also die Norm dem Menschen zu Gute ± was heiût, zu seinem Nutzen im besten Sinne dieses Wortes ± zu gestalten sei, hat die Kraft, alle nutzenvergessene Pflichtethik zu überführen20. So sehr damit die Grenzen einer exklusiven Orientierung an einer deontologischen Norm der abstrakten Würde betont sind, so wenig ist damit gesagt, daû es nicht auch eine plausible Art gibt, von solchen Normen auszugehen. Dies zeigen exemplarisch die Menschenrechte und ihre Wirkungsgeschichte.

19 20

Kant 1990, 125 und passim. Arn 2000, 232.

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2. Orientierter Kohärentismus als integrative Verantwortungsethik ± Synthese zwischen dem Würdeund dem Nutzenparadigma Nutzenorientierung wie Normorientierung ± unter den Normen steht, wie gleich dargestellt werden wird, hier der Würde- und Autonomieanspruch im Zentrum einer Gruppe von Normen ± beinhalten jeweils unabhängige Begründungsstrukturen für normative Entscheidungen. So lange beide mit exklusivem Anspruch auftreten, wirken sie antagonistisch, sind logisch nicht integrierbar und führen tendenziell, etwa im politischen Diskurs, zur Polarisierung. Eine Integration der beiden Begründungsstrukturen durch Addition ist deshalb logisch und praktisch undenkbar: Zwei lineardeduktive Begründungsgänge ¹von oben nach untenª ± von Axiomen (eventuell über mittlere Axiome) bis zu Handlungsentscheidungen ± welche je für sich allein beanspruchen, selber alle Handlungsentscheidungen ausreichend determinieren zu können, würden in eine unauflösbare Konkurrenz gestellt werden. Eine Synthese muû daher die ¹Zuständigkeitenª (und auch die Synergien) in einer Metatheorie klären, welche gezwungenermaûen nicht mit derselben linearen Deduktivität argumentieren kann21, sondern der Begründung eine netzförmige Struktur geben wird. Eine solche Metatheorie wird hier in den Kontext des Kohärentismus mit seiner charakteristischen, nicht-linearen Begründungsweise gestellt. Ihre konkrete Ausgestaltung berücksichtigt die folgenden Faktoren: ± Begründungsprinzip des Kohärentismus ± Spezifika des Anwendungsbereich ¹Medizin und Pflegeª im Sinne einer Bereichsethik ± Asymmetrie zwischen Nutzenorientierung und Würdeorientierung.

21 Theoretisch könnte man in Erwägung ziehen, linear von einem übergeordneten Axiom auszugehen und zu entscheiden, wann welcher Ansatz Anwendung findet. Es ist aber so, daû der Diskurs bisher keine Axiome zu Tage gefördert hat, welche Anspruch auf eine höhere Positionierung als ¹Glückª oder ¹Würdeª stellen könnten.

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2.1. Kohärentismus, Perspektivenvarianz und Dissenskultur ¹Die allgemeine These eines kohärentistischen Begründungsprogramms ± auch in der Ethik ± ist es, daû [. . .] es [. . .] nicht die Ableitung aus einer Klasse epistemisch privilegierter Überzeugungen ist, sondern die Zugehörigkeit zu einem kohärenten System, die Begründungskraft verleihtª (Badura 2002, 200). Entscheidungen, Argumente und mittlere Axiome sind nicht dann gut begründet, wenn sie sich von einer bestimmten Maxime allein herleiten lassen, sondern wenn sie gut eingebettet sind in ein System von plausiblen Maximen, mittleren Axiome, Argumenten, Entscheidungen, Intuitionen und weiteren plausiblen Elementen eines solchen Netzes. Die Diskussion über die Vor- und Nachteile einer solchen Art und Weise der Begründung reichen mindestens in die 80er Jahre zurück. Heute scheint sie, was nur schon angesichts der oben angesprochenen Schwierigkeiten monistischer Begründungsansätze plausibel erscheint, von breiterer Bedeutung zu sein: ¹Besonders in der praxisbezogenen Ethik haben kohärentistische Ansätze Hochkonjunkturª (Badura a. a. O., 201). Begründung über Kohärenz wird den Formen ¹schwacherª Begründung zugeordnet, im Unterschied zu den genannten linearen Begründungen. Je genauer aber definiert wird, wann ¹Kohärenzª erreicht ist, desto weniger diffus ist die Begründungsstruktur und desto weniger eindeutig ist die Qualifizierung als ¹schwachª zutreffend. In aller Kürze lassen sich ein Grundprinzip und drei Qualitätskriterien für Kohärenz nennen: i) Grundprinzip: Es gibt keine a priori geltende Hierarchie unter den Aussagen. Allgemeine Normen haben im System zunächst denselben Status wie konkrete Entscheidungen. ii) Qualitätskriterien: Die Kohärenz ist umso höher 1.) je intensiver die Beziehungen unter den Aussagen sind, 2.) je stabiler das System neu auftretende Überzeugungen integrieren kann und somit ± durchaus in einem Prozeû steter Weiterentwicklung ± über Zeit besteht und 3.) je weniger die Kohärenz durch Inkonsistenzen, isolierte Subsysteme von Aussagengruppen, Erklärungsanomalien oder konkurrierende, abduktive Schluûvarianten gestört wird. (a. a. O.) Setzt man diese Kriterien im Einzelfall ein, sind durchaus relativ ¹starkª begründete Handlungsentscheidungen möglich. Oft läût die Anwendung dieser Kriterien eine eindeutige Beurteilung der

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Frage zu, welche von verschiedenen Handlungsalternativen sich in ein gegebenes Kohärenzsystem besser einordnen lieûe und somit als besser begründet zu gelten hat. Für kohärentistisches Begründen in der Ethik spricht erstens die Möglichkeit, ¹angewandte Ethikª und allgemeine Ethik so zu verbinden, daû Situation, Überlegungen und Argumente des Anwendungsfeldes gleichwertig in den Reflexionsprozeû einflieûen können. Zweitens spricht für diesen Begründungsansatz die Möglichkeit, einen ¹integrativen Pluralismusª der verschiedenen Begründungsansätze der Ethik bilden zu können. Denn innerhalb dieser Begründungsform können ¹sowohl deontologische als auch konsequentialistische Elementeª nebeneinander Platz finden, und es kann mit ¹Interessensmaximierung und Tugendenª (a. a. O., 202) argumentiert werden. Der ¹exklusive Pluralismusª, der ¹gegenüber moralischen Akteuren als eine Art Expertenstreit auftrittª, kann damit überwunden werden: Vielfalt ethischer Argumentation erscheint nicht als Widerspruch, sondern als notwendige, sachadäquate und organisierte Komplexität. Das sogenannte Überlegungsgleichgewicht (¹Reflective Equilibriumª) ist eine Ausprägung des Kohärentismus in der Ethik, welches diese beiden Vorteile in dieser Reihenfolge eingeführt hatte. Rawls prägte den Begriff des ¹Reflective Equilibriumª in ¹A Theory of Justiceª im Jahr 1971. Das ¹Überlegungsgleichgewichtª (Rawls 1998, 38; auch die Übersetzung ¹reflexives Gleichgewichtª ist zu finden) integrierte zunächst nur Gleichwertigkeit von Axiomen und gewissermaûen aus sich selber plausiblen, einzelnen Handlungsentscheidungen: Es wird nicht mehr nur von Axiomen auf Fälle argumentiert, sondern es gibt auch in sich plausible Handlungsentscheidungen und zwischen Letzteren und Ersteren muû in der Reflexion ein ¹Gleichgewichtª hergestellt werden. Ein solches Gleichgewicht ist aber vorerst nur innerhalb eines bestimmten ethischen Ansatzes, entweder kantianisch, utilitaristisch oder tugendethisch möglich und durchaus auch kulturspezifisch. Erst in der zweiten Fassung als ¹Wide Reflective Equilibriumª wurde auch der zweite Vorteil in die Theorie aufgenommen (Daniels 1996, 333±350). Nun soll das Gleichgewicht auch unterschiedliche ¹Hintergrundtheorienª umfassen und erweitert sich somit über Kulturgrenzen mit ihren typischen Handlungsentscheidungen und integriert konkurrenzierende Axiome.

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Schlieûlich hat DePaul ein ¹radikales Überlegungsgleichgewichtª vorgeschlagen22, welches sich dadurch auszeichnet, daû nicht nur die bestehenden Urteile, Prinzipien und Hintergrundtheorien in ein Überlegungsgleichgewicht gebracht werden sollen, sondern auch neu hinzutretende Impulse aufgenommen werden sollenª (Badura, a. a. O.). Damit wird das Prozeûhafte des Kohärentismus, seine Unabgeschlossenheit in der Methodik festgehalten, da Ethik ¹von ihrem Anspruch selbst her ein unabgeschlossener Denkprozeû ist, der im Bezug zur Praxis und zu den Realwissenschaften die Grundlagen ständig neu reformulieren muûª (Holderegger 1997, 9). Solche neu hinzutretenden Impulse sind insbesondere aus der Praxis zu erwarten. Zwei Überlegungen zum Kohärentismus aus dieser Perspektive der Praxis seien gleich angemerkt: Erstens zeigt die konkrete Erfahrung mit ethischen Entscheidungsfindungsprozessen in Institutionen des Gesundheitswesens die Notwendigkeit der so genannten ¹Perspektivenvarianzª. Mit diesem Konzept wird angesprochen, daû die Erfahrungen und die Reflexionen der verschiedenen Beteiligten einzubeziehen ist, da jede Person allein physisch, psychisch und intellektuell begrenzt ist, vor allem aber nur einen begrenzten Aspekt des Problems überhaupt kennen kann. Dementsprechend setzt die Verwirklichung des medizin- und pflegeethischen Auftrags ¹einen Dialog und einen Prozeû aller von einer Situation Betroffenen voraus, welcher zum Ziel hat, die Beteiligten zur gemeinsamen Güterabwägung überhaupt zu befähigenª (Baumann 1999, 312). Wie sich dieser Dialog im Bedarfsfall beispielsweise organisieren läût, wird weiter unten Thema sein. Evident ist daher, daû eine Begründungstheorie für eine Medizin- und Pflegeethik die Perspektivenvarianz integrieren muû. Dies ist im Fall des Kohärentismus, im Unterschied zu linearen Begründungen, nicht nur möglich, sondern sogar gefordert. Dies kommt der Erfahrung entgegen, daû gemeinsam getroffene Entscheidungen um so stabiler sind, je besser die unterschiedlichen Perspektiven bei der Entwicklung des Entscheids eingebracht werden und um so instabiler, je eher übergangene Perspektiven später zu Tage treten. Die zweite Anmerkung betrifft die Integration unterschiedlicher Positionen im Team der Ethikerinnen und Ethiker sowie weiterer an der Produktion von Theorie für die angewandte Ethik im 22

Vgl. DePaul 1987, 467 und 1993.

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Bereich Medizin und Pflege beteiligter Personen. Es bewährt sich auch hier eine gezielte Förderung einer ¹Dissenskulturª. Eine Dissenskultur unterscheidet sich von einer Konsenskultur in einem entscheidenden Punkt. In der Konsenskultur ist der Dissens das ¹Problemª, das durch mehr oder weniger ausgeklügelte (und mehr oder weniger transparente und faire) Prozesse auf einen Konsens hin überwunden werden muû. Genau dies ist der Grund, warum sich auch eher unfreie ¹Meinungsbildungenª in bestimmten Institutionen, Parteien etc. relativ leicht als Konsenskulturen tarnen lassen: Beinahe jede ¹Einigkeitª, wie auch immer sie zu Stande kam, läût sich mit genügend Geschick als ¹Konsensª ausgeben. In der Dissenskultur ist der Dissens nicht das ¹Problemª gemeinsamer, guter Entscheidungen, sondern deren Material. Dies bedeutet, daû während und sogar (bzw. gerade) nach gemeinsamen Entscheidungen der Dissens kontinuierlich weitergepflegt wird, um eben nicht Material zu verlieren, sondern wenn möglich zu gewinnen. ¹Kulturª als zweiter Wortteil bringt dabei zum Ausdruck, daû die unterschiedlichen Positionen nicht unverbunden nebeneinander stehen, sondern in ein verträgliches, ja konstruktives Verhältnis, eine bisweilen sehr enge Kommunikation gebracht werden sollen. In der Praxis gemeinsamer Theorieentwicklung bewährt sich die Förderung (!) des Dissenses. Sie kann geradezu als Qualitätskriterium verstanden werden. Auch dies läût sich in eine Kohärenztheorie als Metatheorie der Begründung gut integrieren, ja ist aus dieser Metaperspektive sogar zu fordern, was in linearen Begründungskonzepten nicht der Fall ist.

2.2. Spezifika von Medizin und Pflege und ihre Bedeutung für die Ausgestaltung des zugehörigen ethischen Kohärenzsystems Nachdem bereits das praktische Spezifikum der Perspektivenvarianz aus der Entscheidungsfindung im Bereich der Medizin- und Pflegeethik als Argument für die Wahl des Kohärentismus an sich zur Sprache kam, sollen weitere Spezifika herausgearbeitet werden. Dies, um darauf aufbauend die konkrete Form des Kohärenzsystems ± insbesondere die Bestimmung des Verhältnisses zwischen Nutzen- und Würdeorientierung ± für diese Bereichsethik zu bestimmen. Damit wird implizit erstens von der Annahme ausgegan-

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gen, daû die konkrete Form eines Kohärenzsystems ± des Gefüges also, das sich als plausibles Netz von Axiomen bzw. Maximen, Argumenten, in sich plausiblen Handlungen, Entscheidungen und Intuitionen sowie weiterer Elemente ergibt ± bereichsspezifisch ist. Welche Elemente sich in diesem Netz finden (lassen) und wie sie geordnet sind, kann je nach Anwendungsbereich unterschiedlich sein und wird also in der Wirtschaftsethik anders sein als in der Medizin- und Pflegeethik. Zweitens wird vorausgesetzt, daû Kohärentismus nicht bedeute, daû alle Elemente gleich gültig seien, sondern daû alle Elemente einen bestimmten Platz im Netz erhalten und dementsprechend auch von unterschiedlichem Gewicht sein können. Dies widerspricht der oben gemachten Aussage, daû es keine ¹a priori Hierarchieª unter den Elementen eines Kohärenzsystems gebe, nicht, da sich die Gewichte ja erst im Prozeû, gewissermaûen in der Geschichte des Netzwerkes, ergibt. Die Forderung bezieht sich ja nur auf den Anfang eines Prozesses, wonach nicht von vornherein beispielsweise Axiome gegenüber jeglichen subjektiven Intuitionen oder bewährten Einzelfallentscheidungen höher gewichtet werden. Aus den konkreten Inhalten der Elemente eines Kohärenzsystems können, ja müssen sich aber Unterschiede ergeben. Nicht jedes Element hat zu jedem anderen die gleichen Bezüge, nicht jedes ist in gleich viele ¹Abduktionenª integriert. Daraus ergibt sich zwingend eine spezifische Anordnung, eine konkrete Systematisierung, in der jedes Element eine unverwechselbare Stellung erhält. Die oben aufgezählten Kriterien starker Kohärenz implizieren, daû eben diese Qualität der besonderen Anordnung über die Stärke der Kohärenz entscheidet. Ohne die besondere Position eines jeden Elementes im Kohärenzsystem würde dieses letztlich auch keine Orientierung bieten: Würden wir beispielsweise mit der Frage der Suizidbeihilfe an ein Kohärenzsystem herantreten, in dem eine Fülle recht unterschiedlicher, plausibler Entscheidungen nebst Sparsamkeitserwägungen und Autonomieanspruch ohne besondere Ordnung nebeneinander stünden, würde nahezu jede Form der Anerkennung oder Ablehnung von Suizidbeihilfe in beinahe jeder Situation gleich plausibel oder unplausibel erscheinen. Welche Spezifika von Medizin und Pflege sind bedeutsam für diese konkrete Ausgestaltung des Kohärenzsystems einer Medizinund Pflegeethik, speziell für die Ausgestaltung des Verhältnisses

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von Würde- und Nutzenorientierung? Es ist plausibel, diese Spezifika über die Ziele und über die gesellschaftliche Funktion dieses Bereichs zu bestimmen. Obwohl auch darüber eine Diskussion läuft, lassen sich Bekämpfung von Krankheit, Begleitung bei Krankheit und Prävention vor Krankheit als nicht-exklusive23, aber essentielle Aufgaben von Medizin und Pflege definieren. Sie bilden den Kern ihrer Funktionen. Ausgeübt wird diese Funktion konkret gegenüber (kranken) Personen. Man kann daher die Medizin- und Pflegeethik als Ethik des Umgangs von Medizin und Pflege mit eben diesen Personen verstehen. Damit treten ± im Sinne einer nicht abgeschlossenen Aufzählung ± die folgenden Gegebenheiten als ethisch bedeutungsvoll hervor: · Der Klient ist Patient und ist als solcher Gegenüber dieser Bereichsethik typischerweise zumindest nicht ¹im Vollbesitz all seiner Kräfteª, er kann aber auch gänzlich ¹ohnmächtigª sein. · Personen, denen diese Bereichsethik Orientierung bieten soll, also die Angehörigen von Medizin und Pflege, sind ausgesprochen handlungs- und entscheidungsfähig, relativ stark organisiert und institutionalisiert. Sie verfügen auûerdem über enorme Ressourcen an Wissen, Technik und Finanzen. · Die spezifische Aufgabe liegt primär in der Heilung und Vermeidung von Krankheit sowie sekundär in der Linderung und Begleitung, insoweit die primären Ziele nicht erreicht werden können. · Die Ressourcen an sich sind, wenn auch groû, doch begrenzt. Aus dem quasi apriorischen ersten Punkt, kombiniert mit dem zweiten, ergibt sich die Zentralstellung des Würde- und Autonomieanspruchs des Patienten. Aus dem dritten resultiert die Notwendigkeit, hedonistisch zu argumentieren. Aus dem vierten, wiederum mit dem zweiten in Bezug gesetzt, ergeben sich Orientierungen am Utilitarismus und am Prinzip der Gerechtigkeit. Dies soll nachfolgend genauer ausgeführt werden.

23 Auch andere Professionen bzw. Institutionen wirken an diesen Aufgaben mit, so etwa die Psychologie oder die Bildung.

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2.3. Zentralstellung des Würde- und Autonomieanspruchs Die prinzipielle und spezielle Verletzlichkeit der Patientin bzw. des Patienten in ihrem enormen Ungleichgewicht im Vergleich zu den Ressourcen von Medizin und Pflege legt es nahe, den Schutz des Menschen, namentlich die Respektierung seiner Würde und die maximale Annäherung an die Selbstbestimmung axiomatisch zu behandeln. Aus einem zusätzlichen Grund nun ist es unabdingbar, dieser Grundorientierung im Kohärenzsystem einen unumstöûlich zentralen und allgemeingültigen Platz einzuräumen: Der teleologische Sinn dieser deontologischen Grundorientierung besteht in der Gewährleistung der Sicherheit des Patienten, welche zur Kompensation seiner Verletzlichkeit unabdingbar ist. Ohne die Gewiûheit des Respekts vor dem eigenen Würde- und Autonomieanspruch wäre das Patient-Sein unerträglich. Weil aber eine halbe Sicherheit in der Situation der Ohnmacht eine groûe Unsicherheit wäre, verträgt der Respekt vor dem Würde- und Autonomieanspruch in einer Medizin- und Pflegeethik keine Relativierung. Diese Gewichtung ergibt sich gewissermaûen aus der Geschichte der Medizinethik. Diese erfuhr wesentliche Impulse aus den ¹ärztlichen Leistungenª im Dritten Reich (Menschenexperimente etc.) und begründen damit die Notwendigkeit, diese Orientierung strikt ins Zentrum zu stellen. Der Würde- und Autonomieanspruch hat daher uneingeschränkte Gültigkeit als Abwehrrecht: Es sind keine Eingriffe zulässig, welche ihn verletzen würden. Beschränkte Gültigkeit besteht als Einforderungsrecht. Das Recht Nothilfe einzufordern, ergibt sich daraus zwingend, nicht aber das Einforderungsrecht auf optimierte bzw. erweiterte Behandlung, wenn diese unverhältnismäûig viel Ressourcen in Anspruch nehmen würde oder ihrerseits das Selbstbestimmungsrecht bzw. das Gewissen des betreffenden Personals verletzt. Eine entscheidende Präzisierung des Würde- und Autonomieanspruchs liegt in dessen Verhältnisbestimmung zur individuellen Autonomiefähigkeit: Eingeschränkte Autonomiefähigkeit, etwa Demenz oder komatöser Zustand, vermindern in keiner Weise den Autonomieanspruch, sondern verpflichten Medizin und Pflege zur möglichst genauen Bestimmung des mutmaûlichen Willens ± und (wo möglich) zum Patienten-Empowerment, um wenigstens situationsbezogen Autonomiefähigkeit herzustellen. Es gibt kein Lei-

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den, das die Würde eines Menschen herabsetzt, nur Behandlungsweisen, die das tun. Leiblichkeit bringt es mit sich, daû alle Menschen mehr oder weniger krank und mehr oder weniger abhängig sind. Würdeeinbuûen durch Krankheitszustände sind nur denkbar im Rahmen von (Alltags-)Theorien, welche diese Tatsache tendenziell ausblenden. Darauf wird am Ende des Folgeabschnitts zurückzukommen sein.

2.4. Hedonistische Grundorientierung Die genannten Ziele und der spezifische Auftrag der Medizin und Pflege stellen eine normative Orientierung dar, welche selbstredend in das Kohärenzsystem zentral integriert werden muû. Nun kann man natürlich vorschlagen, das Ziel der Gesundheit funktional in der Arbeitsfähigkeit der Menschen zu sehen und so den Auftrag von Medizin und Pflege nicht als hedonistisches, sondern als leistungsorientiertes Projekt zu formulieren. Dies ist jedoch nur teilweise plausibel, insofern Kranksein Menschen zwar auch weniger leistungsfähig, aber ± dies einschlieûend, jedoch weit darüber hinaus ± vor allem unglücklich macht. Der Hinweis auf die Palliativmedizin mag dies verdeutlichen: Auch und gerade wenn keine Leistungsfähigkeit mehr wiederhergestellt werden kann, ist die Minderung von Leiden als elementar hedonistisches Projekt eine zentraler Auftrag des Patienten an Medizin und Pflege. Der Hedonismus ist somit die zweite Grundorientierung im Kohärenzsystem der Medizin- und Pflegeethik, deren Verhältnis erstens zu sich selber und zweitens zur ersten Grundorientierung wie folgt bestimmt werden kann. Völlige Gesundheit, wie sie im Gesundheitsbegriff der WHO gefaût ist, also das gänzliche Fehlen von Leiden, ist eine Utopie. Der Mensch lebt immer in einem (ständigen) Spannungsverhältnis von Gesundheit und Krankheit, von Wohlergehen und Leiden. Krankheit und Leiden müssen daher in die hedonistische Orientierung integriert werden. Krankheit und Leiden sind somit zwar auch, aber nicht nur, als Gegenpole zu Gesundheit und Wohlergehen positioniert. Ethische Zielsetzung ist nicht die Abwesenheit von Krankheit und Leiden ± da utopisch ±, sondern deren konstruktive Integration in Gesundheit und Wohlergehen (Lebenskunst). Dies bildet sich im Kohärenzsystem so ab, daû die durchaus zentrale Position der hedonistischen Orientie-

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rung sich selber erstens insofern begrenzt, als sie ihren Gegensatz partiell in sich aufzunehmen hat. Dies bedeutet eine Integration von Unglück in die Glückszielsetzung des Hedonismus. Diese Integration soll in einer möglichst guten Art und Weise geschehen, dort wo Unglück eben nicht zu vermeiden ist. Hedonismus ohne diese Konzession ans Unglück wäre zwar theoretisch rein, aber praktisch untauglich. Die zweite Begrenzung ergibt sich in der Relation zum Würdeund Autonomieanspruch. Kommt es zu einem Dilemma zwischen dieser Orientierung und derjenigen des Hedonismus bzw. des Nutzens, zu einem Dilemma also zwischen den beiden zentralen Orientierungen, so ist prinzipiell für den Würde- und Autonomieanspruch zu entscheiden: Es darf keine ¹objektiveª Verminderung von Leiden bzw. keine Verbesserung von Gesundheit gegen den Willen des Patienten durchgesetzt werden. Der Würde- und Autonomieanspruch gilt, wie bereits definiert, im Sinn eines Abwehrrechts uneingeschränkt. Jede medizinische und pflegerische Handlung gilt deshalb in der Schweiz als Körperverletzung und bedarf der Zustimmung durch den Patienten. Eine Zwangsbehandlung steht unter besonderem Legitimationszwang und hängt davon ab, ob gezeigt werden kann, daû in speziellen Fällen der Zwang der ¹eigentlichenª Selbstbestimmung näher kommt. Eine ¹eigentlicheª Selbstbestimmung der faktischen Willensäuûerung der Person gegenüberzustellen, bleibt jedoch problematisch. Konkrete Situationen können einen dazu nötigen. Doch bewegt man sich mit Zwangsbehandlungen prinzipiell auf dünnem Eis. Eine besondere Bedeutung gewinnt die Orientierung am Hedonismus als komplementäre und damit letztlich synergetische Funktion im Verhältnis zum Würde- und Autonomieanspruch. Die Bezugnahme auf Kant zeigte, wie sehr in diesem Anspruch das Thema der Leiblichkeit ausgeblendet sein kann. In bestimmten Bereichen der Ethik mag dies zu weniger Schwierigkeiten führen, aber in der Medizin- und Pflegeethik ist Leiblichkeit mit der Funktion für körperliches Wohl, mit der Vorgegebenheit physischer und psychischer Abhängigkeiten und mit der Unumgänglichkeit des Leidens überhaupt die zentrale Thematik! Plausibilität der Würdeorientierung ist daher in einer Medizin- und Pflegeethik nur zu erreichen, wenn über eine hedonistische Orientierung Leiblichkeit als Gegebenheit in das Orientierungssystem insgesamt mitintegriert wird.

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Ein Beispiel: Eine informierte Therapieentscheidung kann ein Patient nur im Zustand der Entscheidungsfähigkeit, mit der ihm angemessenen Information und mit genügend Raum und Zeit treffen. Dabei ist er von der Zuwendung anderer Menschen und den hierfür notwendigen Rahmenbedingungen abhängig. Diese Abhängigkeiten gehen mit der menschlichen Leiblichkeit einher. Respekt vor dem Autonomieanspruch ist somit reell nur zu erreichen, wenn Bedürftigkeiten und Abhängigkeiten zentral berücksichtigt werden.

2.5. Utilitarismus und Gerechtigkeit Die Begrenztheit der Ressourcen, welche oben als letzter Punkt der aktuellen Spezifika im Anwendungsfeld der Medizin- und Pflegeethik hervorgehoben wurde, nötigt dazu, eine Orientierung für die Verteilung begrenzter Ressourcen zentral in das Kohärenzsystem einzubringen. Dafür eignet sich der Utilitarismus mit seiner Orientierung am ¹gröûten Glück der gröûten Zahlª von Menschen. Man kann ihn verstehen als eine Reproduktion des Hedonismus auf der Ebene der Gesamtgesellschaft. Dabei wird das Gerechtigkeitsprinzip minimalistisch mitberücksichtigt, insofern Wohlergehensvermehrung auf Kosten bestimmter Gruppen oder Einzelpersonen immer ausgeschlossen wird, und zwar schon bei Mill (Ritsert 1997, 39±40). Der Utilitarismus zielt allerdings gerade nicht auf eine ¹gleicheª Verteilung der Ressourcen, sondern auf eine solche, die insgesamt das Wohlergehen optimiert und das Total an Leiden in einer Gesellschaft minimiert. Auch diese Orientierung begrenzt sich somit erstens intern, indem eine gegenüber Einzelnen völlig ¹rücksichtsloseª Optimierung des Gesamtwohls abgelehnt wird. Zweitens ist auch hier das Verhältnis zum Würde- und Autonomieanspruch zu bestimmen. Seine grundlegende Priorität bedeutet, daû eine Verteilung der Ressourcen nach utilitaristischem Prinzip auf eine Grundversorgung aufsetzt, welche die Würde der Personen sicherstellt. Über Ressourcenverteilung in Spitzen-, Komfort- und ästhetischer Medizin darf dementsprechend erst diskutiert werden, wenn beispielsweise kein Pflegenotstand die Würde pflegebedürftiger Personen bedroht.

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3. Zusammenfassung In einem am Würde- und Autonomieanspruch primär und weiter an einem hedonistischen und utilitaristischen Nutzen zentral orientierten Kohärentismus als eine integrative Verantwortungsethik erhalten die beiden Pole ¹Würdeª und ¹Nutzenª nicht unbestimmt gleich gültige, sondern definierte Positionen und ein definiertes Verhältnis zueinander. Die Respektierung des Würde- und Autonomieanspruch ist zwar im Konfliktfall prioritär, allerdings nur als Abwehrrecht zwingend und bedarf zur inhaltlichen Füllung der komplementären Ergänzung der Nutzenorientierung, da der Mensch sonst in seiner Leiblichkeit nicht ernst genommen wird. Die Respektierung bliebe ohne inhaltliche Ausrichtung, gewissermaûen kalt. Umgekehrt: Ohne Respektierung des Würdeund Autonomieanspruchs wären Medizin und Pflege eine bedrohliche Gesundheitsmaschinerie.

III. Integrative Verantwortungsethik in Institutionen des Gesundheitswesens implementiert ± eine Form des Ethiktransfers24 Lassen sich derart anspruchsvolle medizin- und pflegeethische Konzepte überhaupt in die institutionelle Praxis umsetzen? Die Antwort auf diese Frage lautet: Sie sind bereits gemeinsam mit der Praxis entwickelt worden. Damit ist angesprochen, daû es beim Ethiktransfer nicht um Prozesse vom wissenschaftlichen, ethischen Diskurs in die Praxis im Sinne einer Einbahnstraûe geht, sondern um Ergebnisse von Prozessen bidirektionaler Kommunikation, durchaus im Sinne des im letzten Teil dargestellten Überlegungsgleichgewichts. Auf Möglichkeiten und Grenzen solcher Prozesse und damit auf die Wirksamkeit ethischer Forschung ist nun genauer einzugehen. Zunächst werden einige kurze grundlegende Überlegungen zu solchen Prozessen vorgestellt. Anschlieûend werden drei Modelle 24 Die folgenden Überlegungen gehören zum Kontext einerseits des Nationalfonds-Forschungsprojekts Nr. 1115-067718 ¹Ethiktransferª, vgl. auch Arn 2003, und andererseits von Baumann-Hölzle et al. 2004.

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für Ethiktransfer im Gesundheitswesen kurz und ein viertes ausführlicher dargestellt. Damit schlieût sich der Kreis dieses Beitrags, der zunächst ein Problem, anschlieûend eine Theorie und schlieûlich darauf aufbauende Umsetzungsmöglichkeiten, um eben dieses Problem zu lösen, darstellen soll.

1. Ethiktransfer Generell wird von einem Wissenstransfer gesprochen, wenn Methoden und Resultate der Forschung die Universitäten verlassen und beispielsweise als neue Technologien zu Innovationen in der Industrie führen. Aber nicht nur technisches, auch soziologisches und psychologisches oder eben auch ethisches Wissen wird von den Forschungsstätten in die verschiedensten Bereiche der Praxis transferiert. Dieser Transfer geschieht oft über ¹intermediäreª Organisationen25: Technologietransferstellen vermitteln naturwissenschaftliches Wissen an Unternehmen, Sozialforschungsbüros bringen soziologisches Wissen für Parteien oder die Verwaltung in Anwendung und Ethik-Foren (s. u.) transportieren ethisches Fachwissen in Spitäler und andere Organisationen ± um nur drei Beispiele zu nennen. Alle intermediären Organisationen müssen ¹zweisprachigª funktionieren: Sie sprechen die Sprache der Wissenschaft und die Sprache des Arbeitsgebiets, in dem dieses Wissen zur Anwendung kommen soll. Deshalb funktionieren intermediäre Organisationen wesentlich besser, wenn in ihnen Personen aus der ¹Praxisª und aus der ¹Wissenschaftª vertreten sind. Herausforderung wie Gewinn ergeben sich daraus, daû in intermediären Organisationen für den Ethiktransfer im medizinisch-pflegerischen Bereich verschiedene Sprachen zugleich gesprochen werden, die ethische, die medizinische, die Sprache der Pflege und (je nach Institution) der ¹Betreuungª und andere mehr. Alle Beteiligten müssen also neben ihrer Fachsprache eine oder mehrere weitere Sprachen lernen, um damit Anteil an dem zugehörigen spezifischen Wissen zu erhalten.

25 Im Technologietransfer sind das Verbände, Industrie- und Handelskammern, (halb-)öffentliche Transferstellen und Wirtschaftsförderer, vgl. Wilhelm 2000, 331.

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Alle intermediären Organisationen vermitteln nicht nur wissenschaftliches Wissen an die Praxis, sondern auch Wissen und Informationen aus der Praxis an die Wissenschaft. Wissenstransfer ist keine Einbahnstrasse, sondern eine bidirektionale Kommunikation. Dies gilt auch für den Ethiktransfer: Nur wenn die Praxis ihre eigenen neuen Erkenntnisse und ihre neuen Fragen an wissenschaftlich-ethischen Tagungen, in fachethischen Journals und an Veranstaltungen der Universitäten einbringt, wird Ethiktransfer langfristig interessant und ertragreich sein sowie angemessenen Ansprüchen an die inhaltliche Qualität genügen können. Diese intermediären Organisationen haben demnach eine Transferfunktion in zwei Richtungen. Sie transportieren aus der wissenschaftlichen Ethik u. a. · ethische Methodik, z. B. die Unterscheidung von Fakten und Werten, die Unterscheidung von Argumentationsmodellen, Prinzipien eines fairen Diskurses, · den Stand der ethischen Diskussion in der Scientific Community zu bestimmten Fragen, z. B. zum Schwangerschaftsabbruch, zur Suizidbeihilfe, zur Rationierung, sowie · gewisse Grundwerte wie Autonomie/Würde und Gerechtigkeit/ Gleichheit, über die in der wissenschaftlichen Ethik ein gewisser Konsens besteht in die Praxis. Aus der Praxis in die wissenschaftliche Ethik werden u. a. · neue Fragen, die nicht selten bestimmte Selbstverständlichkeiten der wissenschaftlichen Ethik in Frage stellen, · Informationen über den bisherigen Umgang mit ethischen Fragen in der Praxis, von dem sich die wissenschaftliche Ethik nicht immer ein angemessenes Bild gemacht hat, sowie · Informationen über die Grenzen des Spielraums ± der sich im Gesundheitswesen beispielsweise technisch laufend massiv erweitert, finanziell aber verschmälert ± vermittelt.

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Ethiksystem

Handlungssystem Transferorganisation

Fragen – Stand der Dinge in der Praxis – Grenzen des Spielraums

Reflexionsmethode – Stand der ethischen Diskussion – „Grundwerte“

Grafik: Ethiktransfer

2. Ethiktransfer in Institutionen des Gesundheitswesens Der enorme technische Fortschritt von Medizin und Pflege hat eine Vielzahl neuer Handlungsmöglichkeiten geschaffen und damit einen ¹Zwang zur Wahlª in Situationen eröffnet, die noch vor wenigen Jahrzehnten, ja noch vor wenigen Jahren, ohne Alternative gewesen wären. Zugleich sind traditionelle, gesellschaftliche Wertorientierungen einer pluralistischen Gesellschaft gewichen, was diese Wahl zusätzlich erschwert. Genau in diesem Kontext tritt in der Praxis mit auffälliger Regelmäûigkeit auch das Dilemma zwischen Würde und Nutzen auf. Seitens der Ethik bzw. in Zusammenarbeit mit ihr sind verschiedene Konzepte zur Unterstützung der Entscheidungsfindung in Medizin und Pflege entwickelt worden. Drei bekanntere werden zuerst kurz vorgestellt: der Hausethiker, die klinische Ethikkommission und das klinisch-ethische Interaktionskonzept. Anschlieûend wird das Konzept ¹Ethik-Forumª vertieft dargelegt.

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2.1. Zwei Delegationsmodelle und ein Interaktionsmodell Delegationsmodell 1: Der Hausethiker und die Hausethikerin An verschiedenen Kliniken in Deutschland, den USA, den Niederlanden und auch in der Schweiz (am Universitätsspital in Lausanne) sind Ethiker und Ethikerinnen angestellt. Sie werden in schwierigen Entscheidungssituationen beigezogen, um den behandelnden Arzt oder das Behandlungsteam im aktuellen Entscheidungsfindungsprozeû zu beraten. Der Vorteil dieses Modells ist die ständige Präsenz des Hausethikers in einer Institution, denn dadurch kann er zu einer Vertrauensperson werden, die dem Personal Sicherheit vermitteln kann. Die Gefahr besteht in einer Trennung von Handlung und Entscheidungsverantwortung, indem schwierige Entscheide an den Ethiker oder die Ethikerin delegiert werden und die ¾rzteschaft oder das Behandlungsteam zunehmend Handlungen ausführen, ohne sich dafür moralisch verantwortlich zu fühlen. Hinzu kommt, daû auch der Ethiker und die Ethikerin von ihrem eigenen kulturellen Kontext abhängen und ihren persönlichen Lebensentwurf mitbringen. Im Extremfall wird der Paternalismus des Arztes, respektive der ¾rztin in diesem Konzept durch denjenigen des Ethikers oder der Ethikerin ersetzt. Bei dieser Art der Ethikberatung wird die Entscheidungskompetenz des medizinischen und pflegerischen Personals in einer Institution des Gesundheitswesens kaum geschult. Angesichts der vielen zu treffenden Entscheide reicht zudem eine Ethikerin an jeweils einer Institution des Gesundheitswesens nicht aus.

Delegationsmodell 2: Klinische Ethikkommission Klinische Ethikkommissionen sind abteilungsexterne, interdisziplinär zusammengesetzte Arbeitsgruppen, die ebenfalls in akut auftretenden Dilemmasituationen Ethikberatung anbieten. Wie schon beim Hausethiker besteht auch bei der klinischen Ethikkommission die Gefahr der Trennung von Handlung und Entscheidungsverantwortung sowie diejenige des geringen ¹Ausbildungseffektsª für das medizinische und pflegerische Personal. Die klinische Ethikkommission hat zusätzlich ein Zeitproblem: In akuten Ent-

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scheidungssituationen sind Entscheide rasch zu fällen. Es ist schwierig, eine interdisziplinäre Gruppe von Leuten in der notwendigen Zeit zusammen zu rufen. Die klinische Ethikkommission ermöglicht jedoch in einer schwierigen Entscheidungssituation maximale Ethikkompetenz und Perspektivenvarianz.

Ein klinisch-ethisches Interaktionsmodell Das klinisch-ethische Interaktionsmodell wurde von Norbert Steinkamp und Bert Gordijn (2003) in den Niederlanden entwikkelt. Dieses Modell verbindet das Ethikkomitee als Gremium für die Entwicklung ethischer Leitlinien auf Organisationsebene und die ethische Fallbesprechung als praxisbezogene Form der Deliberation miteinander zu einem Ansatz der Ethik in Organisationen des Gesundheitswesens. Das klinisch-ethische Interaktionsmodell besteht aus einem interdisziplinär zusammengesetzten, klinischethischen Komitee, dessen Moderatoren mit den Abteilungsteams strukturierte Fallbesprechungen durchführen. Dieses Modell verbindet einige Vorteile der vorgenannten mit einer stärkeren Ausbildungswirkung für das Personal, wobei die Verantwortung nicht von der Handlung getrennt und nicht an ethische Fachpersonen delegiert wird. Das im folgenden dargestellte Konzept der EthikForen unterscheidet sich grundsätzlich vom Modell ¹Hausethikerª und ¹Klinische Ethikkommissionª, weist jedoch sehr viele ¾hnlichkeiten mit dem klinisch-ethischen Interaktionsmodell auf. Die ¾hnlichkeit besteht einerseits in der Anwendung von verbindlichen, strukturierten Entscheidungsverfahren, und andererseits im Bemühen, Handlung und Verantwortung zusammen zu halten. Die beiden Konzepte unterscheiden sich jedoch dahingehend, daû beim Konzept ¹Ethik-Forumª für bestimmte Problemfelder spezifische Entscheidungsverfahren entwickelt werden und die Entscheidungsverantwortung ganz beim Spitalpersonal bleibt.

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3. Das Konzept ¹Ethik-Forumª Abschlieûend wird ein kurzer Überblick über Geschichte, Prinzip und Struktur so genannter ¹Ethik-Forenª gegeben, die in der Schweiz bereits eine beachtliche Verbreitung an den Spitälern und teilweise auch in Heimen gefunden haben.

3.1. Zur Geschichte Das Ethik-Forum am Universitätsspital Zürich (Ethik-Forum USZ) war das erste Gremium an einem Spital in der Schweiz. Es wurde 1989 von der Pflegenden Dr. Dr. Silvia Käppeli als interdisziplinäre Arbeitsgruppe gegründet, um Fallbesprechungen im Sinne der Ethikberatung durchzuführen. Die Leitung wurde der Schreibenden als Ethikerin übertragen. Gleich zu Beginn rückte die Gefahr der Trennung von Handlung und Verantwortung bei solchen Fallbesprechungen ins Zentrum. Bei der Konzeptentwicklung des Ethik-Forums wurde deshalb groûes Gewicht auf den Grundsatz gelegt, daû Handlung und Verantwortung nicht getrennt werden dürfen. Dies bedeutete konkret, daû im Rahmen des Ethik-Forums nur Fallnachbesprechungen durchgeführt, nicht aber anstehende Entscheidungen gefällt wurden. Während der Anfangsphase erhöhten verschiedene Behandlungsteams mit ihren Anfragen zunehmend den Druck auf die Mitglieder des Ethik-Forums USZ, in schwierigen aktuellen Patientensituationen Ethikberatung anzubieten. Vor diesem Hintergrund wurde nach neuen Lösungen zur Unterstützung des medizinischen und pflegerischen Personals bei seiner ethischen Entscheidungsfindung gesucht. In diesem Kontext entwickelte die Schreibende Idee und Konzept der so genannten ¹Entscheidungsverfahrenª. Das Personal soll die Anwendung von vorstrukturierten Verfahren erlernen, so daû es in der aktuellen Entscheidungssituation ein Instrument zur Hand hat, das die Entscheidungsfindung erleichtert, ihm jedoch nicht die Entscheidungsverantwortung abnimmt. So entstand das Modell ¹7 Schritte ethischer Entscheidungsfindungª. In Zusammenarbeit mit interdisziplinären Arbeitsgruppen in weiteren Spitälern ist dieses Modell für spezifische Fragestellungen und Kontexte zu anderen, problemspezifischen Entscheidungsfindungsverfahren

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modifiziert worden. So gibt es heute spezifische Entscheidungsfindungsverfahren für die neonatale Intensivstation, die Erwachsenenintensivstation, Reanimationsentscheide, den Umgang mit Zeugen Jehovas und die Anwendung von Fixationsmaûnahmen. Bei der Umarbeitung des Modells ¹7 Schritte ethischer Entscheidungsfindungª zu problemspezifischen Entscheidungsverfahren kam es auch im Rahmen des Ethik-Forums USZ zur Gründung von neuen, interdisziplinären Arbeitsgruppen. Auch sind im Anschluû an das Ethik-Forum USZ an anderen Institutionen EthikForen entstanden, so die Ethik-Foren am Kreisspital Männedorf, am Kantonsspital Winterthur, an den beiden psychiatrischen Kliniken Rheinau und Schaffhausen, am Stadtspital Triemli, am Diakoniewerk Neumünster ± Schweizerische Pflegerinnenschule, am Kantonsspital Aarau, am Kantonsspital St. Gallen, an der psychiatrischen Klinik Schlossthal der Klinikgruppe Schlössli im Kanton Zürich und am Universitäts-Kinderspital in Zürich. Im Rahmen dieser Ethik-Foren wird derzeit unter vielen anderen Fragestellungen an der Frage der Ernährung von Hochbetagten im Akutspital, des fürsorgerischen Freiheitsentzugs und den Reanimationsentscheiden gearbeitet.

3.2. Prinzip: Einheit von Handlung und Verantwortung Das generelle Ziel des Konzepts ¹Ethik-Forumª ist es, eine ¹Kultur bewuûter ethischer Entscheidungsfindungª zu entwickeln, zu fördern und nachhaltig zu verankern. Der Kern des Konzeptes des Ethik-Forums ist die Einheit von Handlung und Verantwortung: Wer in einer Institution des Gesundheitswesens handelt, soll für sein Handeln auch die Entscheidungsverantwortung tragen. Eine solche Kultur zeichnet sich durch genau zwei Elemente aus: erstens durch erhöhte moralische Kompetenz der Entscheidungsträger im Sinne der Fähigkeit bewuûter moralischer Selbstorientierung und zweitens durch verbindliche und transparente Entscheidungsfindungsstrukturen. Es ist jedoch nicht das Ziel einer solchen Kultur, die Eckdaten für moralisch richtiges Verhalten zu liefern (vgl. Badura a. a. O., 203). Die Kultur nimmt also nicht vorweg, wie die Entscheide lauten sollen, sondern schafft die Voraussetzungen für eine hohe Entscheidungsqualität. Das erste der beiden ge-

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nannten Elemente einer Kultur bewuûter ethischer Entscheidungsfindung wird durch interdisziplinär zusammengesetzte Arbeitsgruppen, Schulungsseminare und Veranstaltungen realisiert; das zweite wird mittels Entwicklung und Implementierung verbindlicher, transparenter Entscheidungsfindungsverfahren für den Einzelfallentscheid umgesetzt. Tabelle: Elemente einer Kultur bewuûter ethischer Entscheidungsfindung Globalziel

Elemente des Ziels

Umsetzung

Kultur bewuûter ethischer Entscheidungsfindung

Entlastung und erhöhte Entscheidungskompetenz der Entscheidungsträger

interdisziplinär zusammengesetzte Arbeitsgruppen, Schulungsseminare und Veranstaltungen

verbindliche und transparente Entscheidungsstrukturen

Entwicklung und Implementierung so genannter ¹Entscheidungsfindungsverfahrenª

3.3. Struktur: Zur Ordnung von Aufgaben und Sub-Gremien Die typische Struktur der Ethik-Foren ergibt sich aus einer genauen Bestimmung a) der Aufgabenbereiche, b) der Organisationsstrukturen und c) der Rahmenbedingungen. a) Aufgabenbereiche insgesamt Im Rahmen eines Ethik-Forums werden folgende Aufgaben wahrgenommen: · Schulung und Förderung der Entscheidungskompetenz des Personals · Fallnachbesprechungen · Entwicklung von Entscheidungsfindungsverfahren für Einzelentscheide · Ethikberatung nur in Ausnahmesituationen

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· Erarbeitung von Stellungnahmen zuhanden der Spitalleitung · Organisation und Durchführung von Veranstaltungen für Schnittstellen der Institution mit anderen Institutionen und Handlungsträgern (z. B. ambulante Dienste, Hausärzte, Rehabilitationskliniken, etc.) · Organisation und Durchführung von Veranstaltungen für die Öffentlichkeit

b) Organisationsstrukturen Inhaltlich basiert das Konzept ¹Ethik-Forumª auf der ¹integrativen Verantwortungsethikª. Strukturell wirkt sich dieser kohärentistische Ansatz in den Prinzipien der Interdisziplinarität, der Perspektivenvarianz, der Transparenz, der Verbindlichkeit und des Einbezugs der Betroffenen aus. Die Organisationsstrukturen eines Ethik-Forums sind interdisziplinär zusammengesetzte Arbeitsgruppen, die jeweils unterschiedlich benannt sind als · Ethik-Forum · Ethik-Konsilium mit Kerngruppe und EK-Untergruppen · Medizinethischer Arbeitskreis. Diese drei Organisationsformen unterscheiden sich durch die Reichweite ihrer Fragestellungen:

Ethik-Forum Mit ¹Ethik-Forumª wird die Hauptstruktur bezeichnet. Sie behandelt selber ethische Fragen der gesamten Institution und organisiert die Substrukturen.

Ethik-Konsilium mit Kerngruppe und EK-AG Ein Ethik-Konsilium befaût sich mit einer ethischen Fragestellung, welche innerhalb einer Institution mehrere Abteilungen beschäftigt. Ein Ethik-Konsilium besteht aus einer Kerngruppe und

Nutzen oder Würde ± zwei ethische Paradigmen im Widerstreit

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Ethik-Konsilium-Arbeitsgruppen (EK-AG). Die Kerngruppe des Ethik-Konsiliums bearbeitet die Gesamtheit der ethischen Fragen eines spezifischen Fachgebietes, wie zum Beispiel die Transplantationsmedizin, und koordiniert die Arbeit seiner EK-AGs. Die EKUntergruppen eines Ethik-Konsiliums setzen sich nur mit den ethischen Fragen eines Teilaspektes der gesamt-ethischen Fragestellung des Ethik-Konsiliums auseinander. Beispiele sind die EthikKonsilium zum Transplantationsprozeû mit der EK-AG Hirntoddiagnostik und Organspende, EK-AG Indikation und Allokation, EK-AG Lebendspende, EK-AG Nachbetreuung von Transplantierten am Universitätsspital Zürich oder ein Ethik-Konsilium zu den Fragen der pränatalen Diagnostik mit der EK-AG Beratung und der EK-AG Diagnostik.

Medizinethischer Arbeitskreis Ein medizinethischer Arbeitskreis behandelt abteilungsspezifische ethische Fragestellungen und ist auch der Ort, wo normalerweise die Entscheidungsfindungsverfahren entwickelt werden. Beispiele sind der medizin-ethische Arbeitskreiskreis Neonatologie und der medizin-ethische Arbeitskreis Patienteninformation Kantonsspital St. Gallen.

Entscheidungsfindungsverfahren Entscheidungsfindungsverfahren sind, wie der Name bereits sagt, keine Gremien, sondern verbindliche Entscheidungsstrukturen für ständig wiederkehrende, schwierige ethische Entscheidungssituationen, um die verantwortliche Person zu entlasten und die Entscheidungsqualität zu verbessern. In diesem Verfahren wird definiert, in welcher interdisziplinären Zusammensetzung im Rahmen eines Ablaufs entschieden wird und wie und wo die Entscheidung protokolliert wird. Je nach Gröûe einer Institution sind diese Gruppentypen entweder alle oder nur einzeln vertreten. Die einzelnen Gruppentypen setzen sich aus mindestens sieben und normalerweise aus nicht mehr als fünfzehn Mitgliedern zusammen. Medizin und Pflege

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ETHIK-FORUM Treffen alle 6 W.

Medizinisch-ethische Arbeitskreise

Ethik-Konsilium mit Kerngruppe und EK-AG1. EK-AG2. …

Treffen alle 6 W.

Treffen alle 3 W.

Grafik: Struktur von Ethik-Foren

sind in allen Gruppen anzahlmäûig möglichst paritätisch vertreten. Hinzu kommen Personen aus anderen Berufsgruppen, wie z. B. der Sozialarbeit, der Jurisprudenz, der Psychologie oder der Spitalseelsorge. Bei der Zusammensetzung ist gröûtmögliche Heterogenität im Hinblick auf die verschiedenen Fachgebiete innerhalb der einzelnen Disziplinen (z. B. Chirurgie und Intensivmedizin), der Hierarchiestufen (z. B. Pflegende am Bett und Stationsleitung) sowie auch der Lebenswelten und persönlichen Hintergrundtheorien anzustreben. Die Arbeitsgruppen werden von Personen geleitet, welche für die ethische Entscheidungsfindung im Gesundheitswesen ausgebildet sind und welche die hierfür notwendigen Kompetenzen mitbringen. Oft empfiehlt es sich (unter anderem aus strukturellen Gründen) dafür eine externe Person einzusetzen.

c) Strukturelle Rahmenbedingungen Die Institution stellt die erforderlichen Ressourcen ± Raum, Zeit und Geld ± für die Arbeit im Rahmen des Konzeptes eines EthikForums zur Verfügung. Interne Mitarbeitende werden von der Institution für diese Arbeit freigestellt und Externe werden angemessen bezahlt.

Nutzen oder Würde ± zwei ethische Paradigmen im Widerstreit

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3.4. Anschluû an die wissenschaftliche Ethik und pragmatische Umsetzung In einem mehrjährigen Forschungsprojekt zu Ethiktransfer26 ± nicht nur im Bereich der Medzinethik, sondern generell ± wurden, ausgehend unter anderem von Expertinnen- und Experteninterviews und der Analyse von Fallbeispielen, eine übergeordnete Theorie des Ethiktransfers und Qualitätskriterien erarbeitet. Dabei zeigte sich, daû sich die Qualität der Arbeit von Ethiktransfer leistenden Organisationen (zu denen Ethik-Foren wie alle Ethikgremien prinzipiell gehören) differenzieren läût in die Qualität und Intensität ihrer Kommunikation mit der wissenschaftlichen Disziplin der Ethik

Stichworte ¹Kenntnis des Stands der Diskussionª, ¹breiter, nicht eklektischer Anschluss an die wissenschaftliche Ethikª, ¹aktive Beteiligung am Diskurs (Tagungen, Publikationen)ª usw.

die Qualität und Intensität ihrer Kommunikation mit dem Handlungsfeld (Unternehmung bzw. Institution, Branche, usw., je nach Ort des Ethiktransfers)

Stichworte ¹Kenntnis der konkreten Dilemmasituationen in der Praxisª, ¹Kenntnis der Anreizsysteme in der Praxisª, ¹Förderung, nicht Delegation der Verantwortung der Fachpersonen in der Praxisª, usw.

die Qualität und Intensität ihrer Kommunikation mit der Öffentlichkeit

Stichworte ¹Transparenzª, ¹kommuniziertes Mission Statementª, ¹relative Unabhängigkeit von den Schwankungen öffentlicher Werte-Trendsª, usw.

die Qualität ihrer Verarbeitung der Informationen und der produktiven Arbeit in der Ethiktransfer leistenden Organisation

Stichworte ¹gemeinsame Reflexion der internen Kommunikationsqualitätª, ¹persönliches Engagement der Beteiligtenª, ¹Reflexion des Verhältnisses von Zielen und Methodenª, usw.

Alle diese generellen Faktoren der Qualität von Ethiktransfer sind auch für die Arbeit von Ethik-Foren wesentlich. Insbesondere ist aus Gründen der Qualitätssicherung der wissenschaftliche An26 Schweizerischer Nationalfonds, Projekt Nr. 1115-067718 ¹Ethiktransferª, Laufzeit 2002±2005.

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schluû bedeutsam. Dies geschieht in der Regel dadurch, daû geeignete Mitglieder der Ethik-Foren einerseits sich laufend über den Stand der Diskussion in der Disziplin der Ethik informieren und wesentliche Einsichten in die Arbeit einbringen und andererseits Erkenntnisse, die sich aus der Transferarbeit hinsichtlich der theoretischen Ethik ergeben, publizieren. Im Rahmen der Arbeit von Ethik-Foren sollte auch Forschung ± etwa sozialwissenschaftliche Begleit- und Evaluationsforschung ± unternommen werden. An diesem Punkt ist eine Intensivierung an manchen Stellen jedoch noch wünschbar, da ± aus leicht nachvollziehbaren Gründen ± die Hauptenergie auf die Lösung akut anstehender ethischer Probleme verwendet wird, also in Fallbesprechungen, Weiterbildungen, Entwicklung von Entscheidungsfindungsverfahren etc. Um die Qualität der Umsetzung ebenso wie den wissenschaftlichen Anschluû ± also den Transfer in beide Richtungen ± weiter zu verstärken, wird neu eine kompakte Weiterbildung zur interdisziplinären ethischen Entscheidungsfindung in Institutionen des Gesundheitswesen angeboten, die auf starke Resonanz stöût. Ausdruck dieses Transfers ist, daû die Weiterbildung vom Institut Dialog Ethik mit seiner Verwurzelung in der Praxis gemeinsam mit der Fachhochschule Aargau Nordwestschweiz, Departement Soziale Arbeit, und dem Interdisziplinären Institut für Ethik und Menschenrechte an der Universität Fribourg veranstaltet wird. Die Initiative für den Aufbau von Ethik-Foren und Entscheidungsfindungsverfahren ging ursprünglich mehr von ¹untenª aus. Inzwischen gibt es zunehmend ¹top-downª-Beispiele. Prinzipiell sind beide Varianten gut möglich. Sie unterscheiden sich aber im organisationalen Prozeû.

3.5. Integrative Verantwortungsethik ± Förderin einer humanen Kultur Würde und Nutzen führen als sich ausschlieûende und konkurrenzierende Orientierungen zu erheblichen Schwierigkeiten, wie sich an aktuellen Entwicklungen in der Schweiz zeigen lieû. Die theoretische Integration dieser beiden Orientierungen ist nicht simpel, aber im Rahmen eines Kohärentismus höchst gewinnbringend möglich, wenn sie darin nicht gleichförmig, sondern ihrer charak-

Nutzen oder Würde ± zwei ethische Paradigmen im Widerstreit

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teristischen Unterschiede entsprechend eingeordnet werden. In diesem Fall können sie gemeinsam eine ausgezeichnete Orientierung für eine humane Kultur im Gesundheitswesen bieten, zumal sich praktisch erprobte und zunehmend im wissenschaftlichen Diskurs reflektierte Modelle der praktischen Umsetzung entwickeln, um unter anderem die genannten Probleme zu lösen.

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Ruth Baumann-Hölzle/Christof Arn

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Kristiane Weber-Hassemer (Frankfurt am Main)

Argumentationstypen in der bioethischen Diskussion1 I. Einleitung Ich schicke meinen Ausführungen zwei Vorbemerkungen voran: Ich bin keine Philosophin, sondern Juristin. Die Rekonstruktion der derzeitigen bioethischen Diskussion folgt deshalb nicht dem philosophischen Diskurs. Mein langjähriges methodentheoretisches Interesse in der juristischen Argumentation sowie meine Mitgliedschaft im Nationalen Ethikrat, in dem einander höchstverschiedene Disziplinen begegnen, erlauben mir dennoch vielleicht einige Bemerkungen zur bioethischen Diskussion, wobei das von Ihnen gewählte spannende Generalthema ¹Normkultur versus Nutzenkulturª auch ein Stichwort für meine Überlegungen ist. Meinem Arbeitsauftrag entsprechend referiere ich die Schwerpunkte der bioethischen Diskussion insbesondere aus der Arbeit des Nationalen Ethikrates im Vergleich zur Behandlung von Themen im Parlament und in den Medien. Eine gewisse Parteinahme ist dabei unausweichlich, wofür ich um Verständnis bitte.

1 Vortrag, gehalten am 07. Nov. 2003 an der Ruhr-Unversität Bochum. Die Vortragsform wurde im wesentlichen beibehalten, Literatur wurde aber aus den Monaten bis zur Abgabe des Manuskripts eingearbeitet.

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Kristiane Weber-Hassemer

II. Bioethische Themenschwerpunkte in Deutschland a) Arbeitsfelder des Nationalen Ethikrates Dem von Bundeskanzler Schröder 2001 ins Leben gerufenen Nationalen Ethikrat (nachfolgend NER) gehören bis zu 25 Mitglieder an, die naturwissenschaftliche, medizinische, theologische, philosophische, soziale, rechtliche, ökologische und ökonomische Belange repräsentieren und vom Bundeskanzler auf vier Jahre berufen werden. Er ist unabhängig und nur an den in seinem Einrichtungserlaû begründeten Auftrag gebunden. Seine Aufgaben und seine Arbeitsweise bestimmt er selbst. Er soll den interdisziplinären Diskurs von Naturwissenschaften, Medizin, Theologie und Philosophie, Sozial- und Rechtswissenschaften bündeln und Stellung nehmen zu ethischen Fragen neuer Entwicklungen auf dem Gebiet der Lebenswissenschaften sowie zu deren Folgen für Individuum und Gesellschaft. Bisher wurden Stellungnahmen zum Import von Stammzellen, der Präimplantationsdiagnostik (PID) und zu den Biobanken erarbeitet. Eine Stellungnahme zum Klonen, und zwar sowohl zum Fortpflanzungsklonen wie auch dem sog. therapeutischen Klonen, liegt inzwischen ebenfalls vor. Die Jahrestagungen haben sich bisher mit der Chance und den Risiken der Biobanken und dem Umgang mit vorgeburtlichem Leben in anderen Kulturen ± also einer strukturell ähnlichen Thematik wie bei Ihrem DFG-Projekt ± beschäftigt, auf unseren ¹Foren Bioethikª wurde diskutiert: ¹Kind als Schaden und Schadensersatzª bzw. ¹Zu den Grenzen von Patientenautonomie und Patientenverfügungª, beides anhand der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes. Ein drittes ¹Forum Bioethikª befaûte sich mit den ethischen Grenzen der Patentierung biotechnologischer Erfindungen anhand der Rechtspraxis des Europäischen Patentamtes. Sucht man nach einem roten Faden in der Themenauswahl des NER, so wird man einerseits unschwer den allgemeinen ¹main streamª der derzeitigen Bioethikdebatte ausmachen können. Entsprechend den uns zugewiesenen Aufgaben sind wir ± zum Teil unter einem für uns problematischen Zeitdruck ± gehalten, Gesetzgebungsvorhaben zu begleiten, wie bei der Frage des Imports von

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Stammzellen, oder aber vorzubereiten, wie bei einem Fortpflanzungsmedizingesetz mit ± wie von uns mehrheitlich vorgeschlagen ± Regelungen für die PID und PND oder aber einem Gentestgesetz, wobei damit in keiner Weise progonostiziert wurde, daû es zu einem Gesetzgebungsverfahren kommen werde. Der NER sieht aber insoweit Handlungsbedarf für das Parlament und hofft auf gesetzgeberische Initiativen. Wir wollen aber auch die Themen bearbeiten, die am stärksten die Gesellschaft irritieren und die unser ethisches Selbstverständnis tangieren, wie etwa das bereits angesprochene Klonen oder die Sterbebegleitung bzw. Sterbehilfe. Schlieûlich, und dies scheint mir wichtig, sehen wir es als Aufgabe, bei bestimmten Themen erst ein Problembewuûtsein zu schaffen, so etwa mit der Stellungnahme zu den Biobanken. Insofern sehen wir uns auch in der Pflicht, dieses ± heute mehr als je zuvor ± immer stärker werdende Dilemma anzugehen, daû wissenschaftliche Erkenntnisse in immer schnelleren Prozessen ablaufen, unser gesellschaftliches Bewuûtsein und unsere ethische Problemverarbeitungskapazität aber nicht Schritt hält; dies ist vielleicht ein Grund dafür, daû im Bereich der Bioethik so gern apodiktische Lösungen favorisiert werden. Betrachtet man neben den schon genannten Themen die gegenwärtigen bioethischen Kontroversen bzw. die diskussionsbedürftigen Themen, so geht es einmal um die nicht nur in Deutschland in Zukunft drängenden Probleme der Allokation im Gesundheitsbereich, zum anderen ± insofern näheren wir uns wieder Ihrem Generalthema ± um die Möglichkeiten europäischer und internationaler Regelungen im Bereich der Bioethik. In diesem Kontext steht die verschleppte Debatte um den Beitritt der Bundesrepublik Deutschland zur Biomedizinkonvention, wobei möglicherweise jedenfalls die Zulassung prädiktiver Gentests und die klinische Prüfung von Arzneimitteln an Kindern im Parlament diskutiert werden sollten. Weitere thematische Schwerpunkte in der bioethischen Diskussion aus Sicht der NER sind u. a. die Hirnforschung, die Lebendspende von Organen und das kommerzielle Angebot von genetischen Tests. Angesichts der divergierenden Haltungen und der verschiedenen gesetzlichen Ausgangslagen in den europäischen Ländern und den Vereinigten Staaten von Amerika steht der NER im internationalen Kontakt mit Ethikkommissionen, insbesondere in Europa. Abgesehen von den wechselseitigen Verständigungsprozessen und den Informationen liefern diese Kontakte quasi als ¹bioethisches

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Netzwerkª kleine Mosaiksteine auf dem Weg zu internationalen bioethischen Vereinbarungen.

b) Arbeitsfelder der Enquete-Kommission: ¹Ethik und Recht der modernen Medizinª Dem Vernehmen nach und entsprechend den Pressemitteilungen hat die Enquetekommission des 15. Deutschen Bundestages folgende ± durchaus vergleichbare ± Themen in ihr Arbeitsprogramm aufgenommen: ± Organtransplantation (¹Transplantationsmedizinª) ± Nanotechnologie ± Biotechnologie (¹Neuere Entwicklungen in den Biowissenschaftenª) ± Arzt- und Patientenverhältnis ± Forschung an nicht einwilligungsfähigen Menschen (¹Ethik in der klinischen Forschungª) ± Allokation Das Parlament wird aber wohl in dieser Legislaturperiode weder Gesetzesinitiativen zur ¾nderung des Embryonenschutzgesetzes noch zur Verabschiedung eines Fortpflanzungsmedizingesetzes einleiten.

III. Argumentationstypen in der gegenwärtigen Bioethikdebatte Als der NER ins Leben gerufen wurde, gab es wütende Kommentare. Er wurde als Handlanger der ökonomischen Interessen des Bundeskanzlers oder der Pharmaindustrie disqualifiziert, von vielen wurde ihm die demokratische Legitimation abgesprochen. Die Enquete-Kommission des Bundestages wurde als die wahre Hüterin von Ethik und Recht dem NER als leuchtendes Beispiel entgegengestellt usw. Ich will auf diese Legitimationsfragen hier nicht weiter eingehen, nur sei der Hinweis erlaubt, daû international die Ethikkommission sehr häufig von der Exekutive im Einvernehmen mit dem jeweiligen Staatsoberhaupt und gesellschaftlichen Institu-

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tionen, wie Kirchenverbänden usw., bestimmt werden, jedenfalls aber nicht vom Parlament, und daû die Enquetekommission ein Parlamentsausschuû nach parteipolitischem Proporz ist, die Mitglieder des NER hingegen völlig unabhängig arbeiten. Aktive Politiker, Regierungsmitglieder und die Ministerialbürokratie dürfen dem NER nicht angehören. Die Vorbehalte gegen den NER dürften auch nur zum Teil auf dieser Ebene liegen. Das Miûtrauen speist sich viel eher aus den vom NER mehrheitlich vertretenen Positionen. Um in der Thematik dieses Forschungsprojektes zu sprechen: Der Ethikrat wird eher der Nutzenkultur zugerechnet, die Enquetekommission eher der Normkultur. Aber diese Zuordnung ist falsch und beruht aus meiner Sicht auf einem völlig verkürzten und methodisch fehlerhaften Verständnis von Normen. Wie so oft führten weltanschauliche Positionen zur Bevorzugung bestimmter Normmuster, die dann als die einzig tragenden Begründungen für erwünschte Schluûfolgerungen erscheinen. Auf die erkenntnistheoretischen Implikationen des hermeneutischen Vorverständnisses muû ich in diesem Kreis nicht besonders hinweisen. Offen ausgesprochene utilitaristische Argumente sind bei uns auûerordentlich selten, Folgenreflexionen bleiben eingebettet in Normabwägungen. Betrachtet man den Verlauf der bioethischen Debatte in den letzten Jahren ± sie zentrierten und zentrieren sich trotz aller anderen drängenden Probleme auf den Umgang mit Embryonen bzw. embryonalen Stammzellen ±, so waren bestimmte Medien Meinungsführer, die in diesem Bereich eine abschlieûende Interpretation der zentralen bioethischen Begriffe von Menschenwürde und Lebensschutz für sich in Anspruch nahmen, während themenbezogen sehr wohl Bioethiker auch aus dem In- und Ausland zu Wort kamen2. Das eigentlich Interessante ist, daû das Parlament eine durchaus ähnliche Tendenz aufwies und auch heute noch in der neuen Legislaturperiode aufweist. Liest man das Wortprotokoll über die Debatte zum Stammzellgesetz3 vom 30. 01. 2002 oder aber die abschlieûende Debatte (2. und 3. Beratung bzw. Lesung zum Stammzellgesetz) vom 25. 04. 2002 bzw. den mit überwältigender Mehr2 Zu erinnern ist insbesondere an die breite Debatte in der Wochenzeitung Die Zeit in der Zeit von Januar bis März 2001. 3 Gesetz zur Sicherstellung des Embryonenschutzes im Zusammenhang mit Einfuhr und Verwendung menschlicher embryonaler Stammzellen.

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heit des Parlaments angenommenen Antrag aus der Mitte der Fraktion der CDU/CSU vom 14. 1. 2003 zur ¾chtung jeglicher Form des Klonens, so ergibt sich folgendes Gesamtbild: Ganz überwiegend wird unter Verweis auf die angebliche Eindeutigkeit und Reichweite des Begriffs der Menschenwürde und des Lebensschutzes auch in der Verfassung und dem Menschenbild argumentiert, der Embryo in vitro frühesten Stadiums wird ¹dem Menschenª gleichgestellt und damit jegliche verbrauchende Forschung mit Embryonen als Verstoû gegen die Menschwürde nach Art. 1 Abs. 1 GG qualifiziert. Insgesamt scheint gegenüber den früheren Jahrzehnten im Parlament, in der Gesellschaft und in den Medien nicht mehr Autonomie und Freiheit im Vordergrund zu stehen, sondern Angst vor Miûbrauch, vor dem Dammbruch, der Zerstörung des bisherigen Menschenbildes und der Gattung Mensch. Diese Angst ist verständlich und möglicherweise auch begründet. Der Verweis auf die Nichtvergleichbarkeit mit der Abtreibungsdebatte, mit der mehrheitlich die rigide Haltung zur PID und zur Stammzellenforschung begründet wird, ist rechtsdogmatisch sehr fragwürdig, aber psychologisch verständlich: Die Abtreibung ist, so kritikwürdig sie angesichts der hohen Zahlen sein mag, immer noch eine Konfliktlösung auf der Individualebene und verbleibt in der Gesellschaft von Menschen in ihrer Kontingenz und der Zufälligkeit ihrer genetischen Ausstattung. Die PID, die Stammzellforschung oder aber das therapeutische Klonen dagegen scheinen dieses System der vorgefundenen Gattung Mensch zu verlassen, weil sie möglicherweise Menschen mit erwünschten Eigenschaften züchten können und damit eine Bedingung der bisherigen Menschwerdung, nämlich die zufällige genetische Mischung mit allen Unwägbarkeiten beseitigen. Insbesondere Habermas hat die Konsequenzen sowohl für das Generationsverständnis als auch für die Gesellschaft problematisiert4. Dies erklärt möglicherweise auch, warum die ethisch und vor allem rechtlich problematische Unterscheidung von Präimplantationsdiagnostik und Pränataldiagnostik beibehalten wird. Nur wenige Stimmen werden in der Öffentlichkeit laut, die angesichts dieser Divergenz das Abtreibungsrecht und die Pränataldiagnostik ±

4 Jürgen Habermas, Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Wege zu einer liberalen Eugenik?, Frankfurt am Main 2001.

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sieht man von den Spätabtreibungen ab ± um der Stringenz des Rechts willen einschränken wollen. Ich zitiere nur einige ¾uûerungen aus der Parlamentsdebatte vom 30. 1. 2002, um zu illustrieren, wie intensiv ein einheitliches Menschenbild und eine eindeutige Verfassung beschworen werden: ± ¹Wer hier die Auffassung vertritt, der Embryo sei, wenn er die Gebärmutter nicht erreiche, auch kein Mensch, der entfernt sich weit vom Menschenrechtsverständnis unserer Verfassung und sagt, es sei von den Handlungen anderer abhängig, ob er ein eigenes Recht hat, ein eigenständiger Rechtsträger ist. Das ist dann in der Tat eine biologistische Menschenrechtsdogmatik, die sich mit unserem Konzept der Menschenwürde nicht verträgt und nicht vertragen kannª (M. Knoche). ± ¹Das Bild des Menschen, das unserer Verfassung zugrunde liegt, ist gewahrt und wird Bestand haben.ª (M. Böhmer). ± ¹Ich denke, die Tötung von Embryonen zur Gewinnung von Stammzellen kann durchaus als die früheste Form der Tötung eines Menschen zur Gewinnung von Organen empfunden werden, sollen doch aus dem Embryo ein Mensch und aus den Stammzellen seine Organe wachsen. In einer Frage wie dieser brauchen wir deshalb nicht nur eine juristisch saubere Lösung, sondern auch die Lösung, die unserem Menschenbild und unserem moralisch ± ethischen Empfinden gerecht wirdª (W. Wodarg). ± ¹Unser Antrag geht von der unteilbaren Menschenwürde des Embryos aus: Ab der Verschmelzung von Embryo und Samenzelle entwickelt sich der Embryo als Mensch. Mit Verweis auf seine vorpersonale Form kann ihm nicht der Schutz der Gemeinschaft entzogen werden. Denn ± wie es in unserem Antrag heiût ±: Embryonen sind die künftigen Kinder künftiger Eltern. Mich hat in der Debatte des vergangenen Jahres keines der biologistischen und der philosophischen Argumente überzeugt, die einen abgestuften Schutzstatus des Embryos begründen wollen. Zu offenkundig trat dahinter die Absicht hervor, durch eine Bagatellisierung der Tötung des Embryos eine Rechtfertigung für dessen Verzwecklichung zu findenª (A. Fischer). ± ¹Zu den Kolleginnen Rennesse, Böhmer und Fischer ± ich bin Ihnen dankbar, daû Sie das Menschenbild des Grundgesetzes ausdrücklich bestätigen . . .ª (C. Nickels).

Dagegen sind utilitaristische oder auch nur verfassungsrechtlich abwägende Argumente klar in der Minderzahl. Ich zitiere einige: ± ¹Wir beachten die Würde des Menschen ebenso wie die Kolleginnen und Kollegen, die gegen diesen Weg sind. Wir nehmen für uns in Anspruch, eine andere Abwägung vorgenommen zu haben ± nicht mehr und nicht wenigerª (W. Gerhardt).

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± ¹. . . Viele haben in dieser Debatte vor allem einen Gegensatz zwischen der Menschenwürde und der Forschungsfreiheit herausgearbeitet. Ich beurteile das anders. Die Unantastbarkeit der Menschenwürde ist doch wohl Ausdruck der Einzigartigkeit des Menschen gegenüber jeder anderen Form von Leben. Diese Einzigartigkeit des Menschen gegenüber jeder anderen Form von Leben ist, so weit ich es verstanden habe, naturwissenschaftlich nicht eindeutig zu begründen, sondern eine religiös begründete oder ethische Normsetzung. . . . In der Geschichte sind anatomische Forschungen an Leichen lange als Verstoû gegen die Menschenwürde gewertet worden. Heute sehen wir das zweifelsfrei anders. Auch die Entschlüsselung des menschlichen Genoms oder die Organtransplantation werden kaum noch als Verstoû gegen die Würde des Menschen gewertet. Das heiût, der jeweilige Forschungsstand beeinfluût offenbar das Verständnis dessen, was Menschenwürde im Einzelnen bedeutetª (Dr. W. Schäuble). ± ¹. . . Es gibt keine schwierigen ethischen Fragen, die man abwägungslos bei Seite schieben kann. Für mich ist daher die Abwägung zwischen Recht künftiger Generationen auf Leben und Gesundheit und unserer Verweigerung an diese Eltern, zu einer solchen Spende ja zu sagen, sehr wichtig . . .ª (P. Hintze). ± ¹Ich sage auch dies in Richtung derjenigen, die besonders aus christlicher Sicht argumentieren. Emsige Dogmaverkündung ersetzt jedenfalls nicht Überzeugungskraft. Es geht also darum, abzuwägen, inwieweit die Schutz- und Förderbelange des einen Guts bzw. Handlungsziels zugunsten der des anderen zurückgedrängt werden können. . . .ª (Dr. E. Schmidt-Jortzig).

Was die Bevölkerung denkt, wissen wir entgegen der Behauptung einiger Parlamentarier nicht. Zwar hatte der Bundesverband Lebensrecht eine Umfrage in Auftrag gegeben, die Ergebnisse wurden in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 19. 04. 2002 referiert. Die dort wiedergegebenen Fragen sind aber derart tendenziös, daû die Antworten nicht viel über die wahre Haltung der Befragten aussagen. Inzwischen sind zwei empirische Untersuchungen der Öffentlichkeit vorgestellt worden. Es handelt sich zum einen um ¹Einstellung der Deutschen zur Reproduktionsmedizin und Präimplantationsdiagnostikª von Prof. Dr. Elmar Brähler und Dr. Yve Stöbel ± Richter von der Universität Leipzig sowie ¹Einstellung von Betroffenen zur Präimplantationsdiagnostik (PID) ± eine empirische Studie zur gegenwärtigen bundesdeutschen Debatteª von Prof. Dr. Gerd Richter, Zentrum für innere Medizin und Ethikkommission, Klinikum der Philipps-Universität Marburg. Danach wird jedenfalls die PID in groûer Mehrheit von den Befragten positiv eingeschätzt.

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IV. Argumentationsmuster in der wissenschaftlichen Diskussion und den Ethikberatungsgremien Es gibt Themen, die anderen Mustern folgen und andere Schwerpunkte setzen, wie etwa bei der Biopatentrichtlinie, bei der nunmehr unter dem Datum vom 15. 10. 2003 ein Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Umsetzung der Richtlinie über den rechtlichen Schutz biotechnologischer Erfindungen vorliegt, oder aber bei Fragen der Allokation oder der prädiktiven Gentests. Ich konzentriere mich aber auf die bisher grundlegenden bioethischen Kontroversen im Zusammenhang mit dem Status des Embryos, die für die weitreichenden Zukunftsperspektiven oder Zukunftshorrorszenarien im Zusammenhang mit der Stammzellforschung im weitesten Sinne uns alle beschäftigen. Ich kann hier nicht die philosophische, ethische und verfassungsjuristische Diskussion im einzelnen nachzeichnen, ich setze sie als bekannt voraus5. Etwas verkürzt zusammengefaût lassen sich die Positionen in gradualistische und nicht gradualistische einteilen. Entweder dem Embryo wird nach der Befruchtung sofort der volle Schutz zugesprochen oder es wird ein abgestufter, sich langsam entwickelnder Schutz postuliert6. 5 H. Dreier in: H. Dreier (Hg.), Grundgesetz: Kommentar, Band 1, Tübingen 1996 Art. 1, Rn. 47 ff.; L. Honnefelder, ¹Die Frage nach dem moralischen Status des menschlichen Embryosª, in: O. Höffe/L. Honnefelder/J. Isensee/P. Kirchhof (Hg.), Gentechnik und Menschenwürde, Köln 2002; P. Kunig in: v. Münch, I./P. Kunig: Grundgesetzkommentar I, München 2000, Art. 1, Rn. 14 und Art. 2, Rn. 49; W. Schweidler, ¹Gattungszugehörigkeit als Personsein ± zur rechtlichen Konzeption des Menschenª, in: E. Klein/Ch. Menke (Hg.), Menschenrechte und Bioethik, Berlin 2004, 13 ff.; kritisch hierzu H. Schulze-Fielitz, ¹Verfassungsvergleiche als Einbahnstraûe? Zum Beispiel der Menschenwürde in der biomedizinischen Forschungª, in: A. Blankenagel/I. Pernice/H. Schulze-Fielitz (Hg.), Verfassung im Diskurs der Welt. Liber Amicorum für Peter Häberle zum 70. Geburtstag, Tübingen 2004; H.-G. Koch, ¹Vom Embryonenschutzgesetz zum Stammzellgesetz: Überlegungen zum Status des Embryos in vitro aus rechtlicher und rechtsvergleichender Sichtª, in: G. Maio/H. Just (Hg.), Die Forschung an embryonalen Stammzellen in ethischer und rechtlicher Perspektive, Baden-Baden 2003, 97 ff.; U. Neumann, ¹Die Menschenwürde als Menschenbürde ± oder wie man ein Recht gegen den Berechtigten wendetª, in: M. Kettner (Hg.), Biomedizin und Menschenwürde, Frankfurt am Main 2004, 42 ff. 6 Vgl. etwa E.-W. Böckenförde, ¹Menschenwürde als normatives Prinzipª, in: JZ 2003, 809 (813 ff.); E. Benda, ¹Zum Schutz des Lebens und der Menschenwürde in der Bio- und Gentechnologie aus verfassungsrechtlicher Sicht. Einführende Bemerkungen in der Sitzung der CDU/CSU-Fraktion des Deutschen Bundestages am 28. 05. 2001 in Berlin, Manuskript 1ª; dagegen etwa D. Birnbacher, ¹Menschenwürde ± abwägbar oder unabwägbar?ª, in: M. Kettner, Biomedizin und Menschenwürde 2004, 249 ff.

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Es sind insoweit allerdings vielfältige Überscheidungen in den Begründungen und Begriffsunklarheiten zu vermerken, weil begrifflich nicht hinreichend zwischen der Grundnorm der Menschenwürde nach Art. 1 Abs. 1 GG und ihrer etwaigen Verletzung einerseits und dem Lebensschutz nach Art. 2 Abs. 2 GG und dessen Verletzung unterschieden wird7. Diese ± jedenfalls im juristischen Diskurs ± fatalen Mängel dürften u. a. die Gründe dafür sein, warum die Kontroversen zwischen den beiden Lagern zum Teil so vehement und mit moralischen Unterstellungen geführt werden. Dieser ethische und juristische Dissens, der in der politischen Debatte zum Teil mit sehr apodiktischen Argumenten im Stil empirischer Feststellungen zutage tritt, zeigt sich mitunter auch in den Ethikgremien und den Kirchen und erweist sich als schwer überbrückbar. Ich kann aus eigener Erfahrung nur für den NER sprechen, der Text des zweiten Zwischenberichtes der Enquetekommission zur Stammzellforschung und das Abstimmungsergebnis verweisen aber bezüglich der Enquetekommission in die gleiche Richtung. ¾hnliches wird von der evangelischen Synode berichtet. Interessanterweise aber ist die Gewichtung der Stimmen im NER und in der Enquetekommission sehr verschieden. Dies dürfte allerdings entgegen dem gern verwandten Argument der Willfährigkeit gegenüber der Exekutive nicht an einer bestimmten Auswahl der Mitglieder nach persönlicher oder politischer Haltung, sondern an den vertretenen Disziplinen im NER und dem Übergewicht des politischen Spektrums in der Enquetekommission liegen. Im Deutschen Bundestag, sowohl in der 14. als auch jetzt in der 15. Legislaturperiode, sind Naturwissenschaftler, insbesondere aus dem Forschungsbereich, praktisch nicht vorhanden. Sehr verkürzt wird man sagen können, daû empirisch arbeitenden Wissenschaftlern ± jedenfalls in ihrem professionellen Feld ± das Denken in Axiomen eher fremd ist, sie arbeiten mit Kausalverläufen und darauf gerichteter Hypothesenbildung. Sie neigen nicht so schnell zu slippery slope-Argumenten, vielleicht auch, weil sie wissenschaftliche Möglichkeiten realistischer und ± jedenfalls bei uns ± skeptischer betrachten, weshalb sie auch weniger zukunftsängstlich sind. Im NER sind relativ viele Naturwissenschaftler aus dem For7 Vgl. hierzu zuletzt E. Benda, ¹Das Verhältnis von Menschenwürde und Lebensrechtª, in: E. Klein/Ch. Menke (Hg.), Menschrechte und Bioethik, Berlin 2004, 49 ff.

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schungsbereich vertreten. Hingegen gehören weder dem Bundestag ± Naturwissenschaftler sind eine absolute Rarität ± noch der Enquetekommission nennenswert viele Naturwissenschaftler im engeren Sinne an, die Sachverständigen sowohl in der letzten Legislaturperiode als in dieser kommen eher aus dem Bereich der Philosophie, der Juristerei oder den Sozialwissenschaften. Wenn ich es richtig sehe, wird in der bioethischen bzw. juristischen Diskussion ± insbesondere nach Verabschiedung des Stammzellgesetzes ± und in den Beratungsgremien inzwischen der Wahrheitsanspruch leiser und vorsichtiger formuliert, die jeweiligen Gegenpositionen werden nicht mehr in Grund und Boden gerammt, die zum Teil recht selbstgerechte Vehemenz, mit der die Verfassung in ihrer Gesamtheit und insbesondere Art. 1 und 2 GG als angeblich eindeutige Rechtsquellen und Garanten der richtigen Auslegung vereinnahmt wurden, hat nachgelassen. Nach wie vor sind aber vermittelnde Lösungen in der Minderheit und zum Teil wohl auch nicht auf der Basis der jeweiligen Begründung leistbar. Die Intensität des wissenschaftlichen Diskurses hat aber keineswegs nachgelassen, wie die jüngeren von mir zitierten Veröffentlichungen belegen. Unübersehbar ist allerdings das Bedauern mancher Verfassungsrechtler der älteren Generation über die Aufkündigung des früher konsentierten Menschenbildes und seiner Verankerung in der Verfassung. Ich darf an die Besprechung der Neukommentierung von Art. 1 Grundgesetz in dem traditionsreichen Grundgesetzkommentar Maunz/Dürig durch Herdegen seitens Böckenförde erinnern8. Die Versachlichung der Debatte ist aber offensichtlich nicht bis zur Politik vorgedrungen, wie die Diskussion aus Anlaû der Rede der Justizministerin Zypries auf dem Humboldt-Forum der Humboldt Universität Berlin am 29. 10. 2003 zeigt. Die Vorwürfe, soweit ich sie der Presse entnehmen konnte, reichen von ¹nonchalanter Umgang mit der Verfassungª (Beck), ¹Modisch-beliebige juristische Herleitung ihrer Auffassungª (Däubner-Gmelin), Frau Zypries vertrete eine ¹Minderheitenmeinungª (Röspel), sie mache ¹Menschen zu Materialª (M. Böhmer), bis hin zur These, die Menschenwürde werde zur Disposition gestellt (Göring-Eckardt). Da8 E.-W. Böckenförde, ¹Die Würde des Menschen war unantastbarª, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 03. Sept. 2003.

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bei hatte Frau Zypries in ihrer verfassungsrechtlichen Analyse, wenn auch vielleicht methodisch nicht ganz stringent, in der Quintessenz nur das vorgetragen, was inzwischen unter den jüngeren Verfassungsrechtlern in verschiedenen Varianten wahrscheinlich schon Mehrheitsmeinung ist. Auch viele Verfassungsrechtler aus der älteren Generation9 und auch Strafrechtler10 warnen vor einer zu weiten Auslegung von Art. 1 GG im Zusammenhang mit frühestem menschlichem Leben oder aber jedenfalls vor einer Gleichsetzung von Menschenwürde und Lebensschutz, wonach jede Verletzung des Lebensrechtes auch eine Verletzung der Menschenwürde sei11. Wie ungeklärt auf der juristischen Ebene jedenfalls der moralische Status des Embryo und damit der ihm zu gewährende Schutz in Europa ist, wurde jüngst durch das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 08. 07. 200412 deutlich. Das Gericht hielt es ¹weder für wünschenswert noch für möglichª, die ¹abstrakte Frageª zu beantworten, ob ¹eine Personª unter den Anwendungsbereich von Art. 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention fällt. Es gebe in Europa in dieser Frage ¹weder einen wissenschaftlichen noch einen juristischen Konsensª. Gegen das Urteil hatten von den 17 Richterinnen und Richtern lediglich drei Richter einen dissenting vote geschrieben. Zugleich betonten die Richter, der Embryo zähle aber zur menschlichen Spezies und müsse deshalb ¹im Namen der Menschenwürdeª geschützt werden; gleichzustellen mit einer Person sei er aber nicht. Damit verneint auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte einen

9 E. Denninger, ¹Embryo und Grundgesetz. Schutz des Lebens und der Menschenwürde vor Nidation und Geburtª, in: Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, 2003, 191 ff. 10 A. Eser/H.-G. Koch, ¹Rechtsprobleme biomedizinischer Fortschritte in der vergleichenden Perspektive. Zur Reformdiskussion um das Deutsche Embryonenschutzgesetzª, in: Im Spannungsfeld von Medizin, Ethik und Strafrecht. Gedächtnisschrift für Rolf Keller (Herausgegeben von den Strafrechtsprofessoren der Tübinger Juristenfakultät), 2. Aufl. Stuttgart 2001, 15 ff.; vgl. auch U. Neumann, Anm. 5. 11 Herdegen spricht in seinem Aufsatz: ¹Die Menschenwürde im Fluû des bioethischen Diskursesª, JZ 2001, 773 ff. ebenso wie in der Kommentierung von einem abgestuften Schutz der Menschenwürde. Die Abstufung bezieht sich aber eher auf die Frage, wann die Menschenwürde durch Verletzungshandlungen beeinträchtigt wird. Sie stellt die Unantastbarkeit der Menschenwürde ± jedenfalls vom Prinzip her ± nicht zur Disposition. 12 Case of VO v. France (application no. 53924/00).

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zwingenden Zusammenhang zwischen Menschenwürde und Lebensschutz.

V. Die Rolle des Bundesverfassungsgerichts In diesem Zusammenhang ist auf das Bundesverfassungsgericht zu verweisen. Es wird von Befürwortern wie Kritikern als rechtlicher Maûstab herangezogen, speziell die beiden Entscheidungen zur Abtreibung aus den Jahren 1975 und 199313. Dabei wird den Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts zum Teil eine Allgemeingültigkeit zugesprochen, die gar nicht intendiert war, vom Kontext wird abgesehen. Obwohl das Bundesverfassungsgericht expressis verbis offen gelassen hat, ob menschliches Leben bereits mit der Verschmelzung von Ei und Samenzelle entsteht, dies erst vielmehr ausdrücklich ab der Nidation bejaht hat, werden aus dem Satz ¹wo menschliches Leben existiert, kommt ihm Menschenwürde zuª weitreichende Konsequenzen gezogen. Indem der Embryo definitorisch, insbesondere im Stammzellgesetz, als jede menschliche totipotente Zelle bezeichnet wird, die sich bei Vorliegen der dafür erforderlichen weiteren Voraussetzung zu teilen und zu einem Individuum zu entwickeln vermag, wird dieser mit einer uneingeschränkten Menschenwürde verbunden, weil es sich um menschliches Leben handele. Dabei hatte das Gericht seinen Verweis auf die Kriterien der Individualität, Potentialität und Kontinuität ebenfalls ausdrücklich nur auf die Zeit ab der Nidation bezogen und ersichtlich den natürlich gezeugten Embryo in utero im Auge gehabt. Die Gegenseite beruft sich auf die faktische Zulassung der Abtreibungen in den ersten drei Monaten, insbesondere auch mit der Pflicht zur Schaffung von Beratungsstellen und sozialrechtlicher Abfederung: ohne den Preis völligen Systembruchs, könne danach dem frühen Embryo gar kein uneingeschränkter Würde- und Lebensschutz zugesprochen werden14. 13

BVerfGE 39, 1 ff.; BVerfGE 88, 203 (251 ff.). Ausführlich hierzu H. Dreier, ¹Lebensschutz und Menschenwürde in der bioethischen Diskussionª, in: H. Dreier/W. Huber, Bioethik und Menschenwürde. Ethik und Gesellschaft, hrsg. von H.-R. Reuther, H. Dreier, W. Huber, Vorträge des Instituts für christliche Gesellschaftswissenschaften, Münster 2002, 9±49; E. Benda a. a. O., Fuûnote 4, 2004; R. Merkel, ¹Verbot der Präimplantationsdiagnostik: Zur Frage der recht14

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Daû das Bundesverfassungsgericht in der konkreten Entscheidungssituation einen, vielleicht rechtsdogmatisch nicht geglückten, Kompromiû gesucht hat, um die disparaten Werthaltungen in den politischen und gesellschaftlichen Gruppen zum Ausgleich zu bringen und Frieden zu stiften, wird dabei übersehen.

VI. Konsequenzen für die zukünftigen Debatten Selbstverständlich beziehen sich nicht alle bioethischen Kontroversen auf so zentrale ethische Themen wie den Umgang mit frühesten Formen menschlichen Lebens. Die Kontroversen um die Sterbehilfe bzw. Sterbebegleitung, die Problematik der prädiktiven Gentests etwa werden auf vertrauterem Terrain ausgefochten werden. Aber die Stammzellforschung, sei es an ¹überzähligenª Embryonen oder aber an Stammzellen aus Klonprozessen, wird uns national und international in den nächsten Jahren weiter beschäftigen. Mein Eindruck aufgrund der Diskussionen hier und in anderen Ländern ist der, daû die aus Begriffen deduktiv abgeleitete Scheinsicherheit ± normative und empirische Annahmen werden häufig unkritisch zur Deckung gebracht ± auf die Dauer nicht tragen wird. Die Molekularbiologen sagen uns eine rasante Veränderung der Technik in diesem Bereich voraus. Die bisherige Begriffsbildung reicht hierfür nicht aus. Die Entität ¹Embryoª wird immer schwerer faûbar. Diese Einsicht muû vor allem im politischen Raum wachsen. Wir brauchen eine breitere Diskussion, die nicht an Definitionen wie der ¹Totipotenzª ansetzt, weil diese offenbar völlig variierbar ist, sondern die danach fragt, wie die Menschheit damit umgeht, daû sie sich durch Selbstmanipulation verändern und ihre ¹Autoevolutionª steuern kann. Eingriffe in die sog. Natur des Menschen, die Selbstbearbeitung, hat es immer gegeben, aber nicht in einem so existenziellen Sinn. Ich bezweifele, daû die bisherige Bestimmung von Menschenwürde oder Gattungsethik hinreichend konturierte, ethisch verbindliche Vorgaben liefern kann, um die gesellschaftlichen und moralischen Probleme

lichen und ethischen Legitimationª, in: E. Klein/Ch. Menke (Hg.) Menschenrechte und Bioethik, 111 ff. (120 ff.).

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angesichts der rasanten Entwicklung in diesem Bereich zu verarbeiten15. Angesichts der Komplexität der moralischen Problemlage gibt es in einer Gesellschaft mit divergierenden Werthaltungen nur die Chance des Diskurses in kleinen Schritten der Verständigung, in denen möglichst konkret nach Gründen gefragt wird, die, gemessen an der Menschenwürde und der Achtung vor der Gattung Mensch, bestimmte biotechnologische Entwicklungen und den Umgang mit frühestem und sehr spätem Leben an der Grenze zum Tode als geboten oder verboten erscheinen lassen. In diesem Sinne könnte die sich weiter differenzierende und behutsam abwägend argumentierende philosophische, ethische und juristische Diskussion und damit auch die Arbeit in den bioethischen Beratungsund Entscheidungsgremien zu verstehen sein. Ob und inwieweit in der politischen Öffentlichkeit dieser Diskurs zur Kenntnis genommen wird, wird die Zukunft zeigen.

15 Vgl. hierzu J. Habermas, Anm. 4; M. Kettner, ¹Forschungsfreiheit und Menschenwürde am Beispiel der Stammzellforschungª, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung ¸Das Parlament B 23±24, 1. Juni 2004, 14 ff.; W. Schlink, ¹Die überforderte Menschenwürdeª, in: Der Spiegel 51/2003; U. Volkmann, ¹Nachricht vom Ende der Gewiûheitª, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 24. 11. 2003.

Thomas Heinemann (Bonn)

Normen und Nutzen bei der ethischen Beurteilung der Klonierung von menschlichen Embryonen Sucht man in den aktuellen bioethischen Diskursen nach einem Beispiel für ein offensichtlich ambivalentes Verhältnis von Normen und Nutzen, gerät schnell das Themenfeld der Klonierung von menschlichen Embryonen in den Blick. Diese Ambivalenz kommt in der Unterscheidung eines in bezug auf die Zwecksetzung ¹therapeutischenª Klonierens von dem ¹reproduktivenª Klonieren zum Ausdruck und hat dazu geführt, daû die Diskussion über den möglichen Nutzen einer Klonierung menschlicher Embryonen und die relevanten normativen Grundlagen, auf denen eine solche Handlung zu beurteilen ist, intensiv in der Öffentlichkeit geführt wird und zumindest in den westlichen Ländern den Charakter einer gesellschaftlichen Auseinandersetzung angenommen hat.

¹Therapeutischesª Klonieren Insbesondere zwei Entwicklungen in der Reproduktions- bzw. Zellbiologie stellen die Voraussetzung und den Anstoû für diese Auseinandersetzung dar. Im Jahre 1997 berichteten Ian Wilmut und Mitarbeiter1 von der erfolgreichen Klonierung eines Säugetieres, des Schafs Dolly, durch den Transfer eines somatischen adulten Zellkerns in eine entkernte Eizelle eines Schafs und widerlegten damit das bis dahin als unumstöûlich gewertete Paradigma, daû durch das Klonierungsverfahren des Zellkerntransfers zwar bei bestimmten Amphibienarten, nicht aber bei Säugetieren, lebende 1

Vgl. I. Wilmut et al., 1997.

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Thomas Heinemann

Tiere zu erzeugen sind.2 Im Jahre 1998 veröffentlichten James Thomson und Mitarbeiter3 die erfolgreiche Klonierung von menschlichen embryonalen Stammzellen aus den Embryoblastzellen menschlicher Embryonen im Blastozystenstadium (ES-Zellen) und wiesen damit nach, daû die diesbezüglichen, an verschiedenen Tierspezies gewonnenen Erkenntnisse einschlieûlich der Differenzierung von ES-Zellen unter Kulturbedingungen im Prinzip auf den Menschen übertragbar sind. Beide Ergebnisse, die Klonierung von Säugetier-Embryonen durch Zellkerntransfer sowie die Klonierung von menschlichen ES-Zellen aus Embryonen, wurden in dem Konzept des ¹therapeutischen Klonierensª zusammengeführt. Der Begriff des ¹therapeutischen Klonierensª wurde in einem gemeinschaftlich von der britischen Human Fertilisation and Embryology Authority (HFEA) und der Human Genetics Advisory Commission (HGAC) im Jahre 2001 entworfenen Konsultationsdokument geprägt, mit dem die britische Öffentlichkeit im Vorfeld einer ¾nderung der einschlägigen Gesetzgebung in Groûbritannien u. a. über ihre Einstellung und Meinung zu einer Anwendung des Zellkerntransfer-Klonierungsverfahrens im Humanbereich befragt wurde4. ¹Therapeutisches Klonierenª bezeichnet demnach eine Sequenz von naturwissenschaftlichen Verfahren, die die Erzeugung eines menschlichen Embryos durch den Transfer eines somatischen Zellkerns einer erkrankten Person in eine entkernte Eizelle einer Frau, die Entwicklung dieses Embryos in vitro in das Blastozystenstadium sowie seine anschlieûende Vernichtung zum Zwecke der Gewinnung von embryonalen Stammzellen (ES-Zellen) aus den Embryoblastzellen umfaût. Die Qualifizierung als ¹therapeutischª erfährt das Klonieren der Embryonen durch die Vorstellung, daû die solcherart gewonnenen humanen ES-Zellen durch gezielte 2

Vgl. R. Briggs/T. J. King, 1952, vgl. J. B. Gurdon et al., 1958, 1962. Vgl. J. A. Thomson et al., 1998. 4 HGAC/HFEA, 1998(a), 1998(b). Eine Unterscheidung zwischen einer therapeutischen und einer reproduktiven Zielsetzung bei der Erzeugung von menschlichen Embryonen durch Klonierungstechniken traf zwar schon die Nationale Ethikkommission in Frankreich in einer Stellungnahme im Jahre 1997 (vgl. ComitØ Consultatif National d'Éthique pour les Sciences de la Vie et de la SantØ [CCNE], 1997), jedoch wurden dabei verschiedenartige Klonierungsverfahren unter dem Aspekt einer möglichen humantherapeutischen Bedeutung untersucht, während sich der im britischen Konsultationsdokument verwendete Begriff des ¹therapeutischen Klonierensª ausschlieûlich auf das Verfahren des Zellkerntransfers in Verbindung mit der Gewinnung von ES-Zellen zum Zwecke der Transplantation bezieht und in dieser Bedeutung international als Terminus technicus etabliert hat. 3

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Differenzierung in der Kulturschale zu funktionsfähigen Ersatzzellen entwickelt werden können, und daû die Transplantation dieser Zellen bei dem erkrankten Zellkernspender erhebliche therapeutische Vorteile erwarten läût, weil die Zellen aufgrund der Identität der genetischen Ausstattung ihres Kerngenoms mit dem Kerngenom des erkrankten Zellkernspenders, der zugleich der Transplantatempfänger ist, mit hoher Wahrscheinlichkeit von dessen Immunsystem ignoriert werden. Eine immunologisch bedingte Abstoûung der transplantierten Zellen wird daher als wenig wahrscheinlich angesehen, und dementsprechend wird angenommen, daû sich nach der Transplantation eine medikamentöse Immunsuppression bei dem Patienten, die ihrerseits erhebliche gesundheitliche Risiken birgt, als unnötig erweist. Das Konzept des ¹therapeutischen Klonierensª hat das Stadium einer bloûen Hypothese bereits verlassen: Bei der Maus wurde der vollständige Zyklus des ¹therapeutischen Klonierensª einschlieûlich einer gentherapeutischen Manipulation experimentell nachvollzogen5.

Spezifizierung der ethischen Fragestellung Vor diesem Hintergrund eröffnet das Konzept des ¹therapeutischen Klonierensª Möglichkeiten, die für das Verfahren des Zellkerntransfers unter dem Aspekt des Nutzens als neuartig zu beschreiben sind. Insbesondere unter dem Nutzenaspekt unterscheidet das britische Konsultationsdokument das ¹therapeutische 5 In dieser Untersuchung wurden primär kultivierte Spenderzellen aus der Schwanzspitze einer 4 Wochen alten Maus, die homozygot für einen gezielten Defekt im Gen der Rag2-Rekombinase war, als Kerndonoren für einen Transfer in entkernte Eizellen der Maus verwendet. Durch den Rag2-Gendefekt wird die genomische Rekombination der VDJ-Gene bei der Reifung der Lymphozyten verhindert, so daû die Tiere keine funktionsfähigen reifen Lymphozyten der T- und B-Linie besitzen und ein schweres kombiniertes Immunmangelsyndrom aufweisen. Die rekonstituierte Oozyte wurde in vitro zur Blastozyste entwickelt und aus den Zellen der Inneren Zellmasse ES-Zellen isoliert und kultiviert. Diese ES-Zellen wurden in Kultur mit einem Vektor transfiziert, der die Sequenz des nativen intakten Rag2-Gens der Maus enthielt. Die transfizierten ES-Zellen wurden in vitro zu hämatopoetischen Progenitorzellen differenziert und in Rag2-defiziente Mäuse transplantiert. Drei Wochen nach der Transplantation waren sowohl reife myeloide und lymphoide Zellen als auch Immunglobuline bei den transplantierten Tieren nachweisbar, die von den aus den klonierten genetisch veränderten ES-Zellen differenzierten hämatopoetischen Progenitorzellen gebildet wurden (vgl. W. M. Rideout 3rd et al., 2002).

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Klonierenª vom ¹reproduktiven Klonierenª, das die Erzeugung eines menschlichen Embryos durch Zellkerntransfer, seinen Transfer in den Uterus einer Frau und seine Entwicklung bis zur Geburt umfaût. Während die Entwicklung des Verfahrens des Zellkerntransfers im Humanbereich unter einer ¹therapeutischenª Zielsetzung für eine Vielzahl von Menschen von gesundheitlichem und möglicherweise lebensrettendem Nutzen sein kann, trifft dies bei einer ¹reproduktivenª Zielsetzung, bei der bereits die Frage nach dem Nutznieûer nicht eindeutig zu beantworten ist und nicht zuletzt gravierende gesundheitliche Risiken für das klonierte Individuum bestehen, offensichtlich nicht zu. Neben einer offenbar plausiblen Unterscheidung nach dem Nutzenaspekt kommen mit der Unterscheidung zwischen einer ¹therapeutischenª und ¹reproduktivenª Zielsetzung auch unterschiedliche normative Fragen in den Blick. Denn während der ethische Diskurs über das Klonieren von Menschen, der sich in der Vergangenheit fast ausschlieûlich auf das Szenario des ¹reproduktiven Klonierensª bezog, insbesondere ethische Fragen wie die Rechtfertigbarkeit einer ¹kontrollierten Evolutionª der Menschheit6, die Gefahren und Vorteile für die Gesellschaft durch die Integration von klonierten Mitgliedern sowie das Wohl des klonierten Individuums berücksichtigte, führt das Konzept des ¹therapeutischen Klonierensª die seit den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts weitgehend getrennt geführten ethischen Diskurse über das Klonieren von Menschen und über die Forschung an menschlichen Embryonen in einer neuen Weise zusammen. In bezug auf das ¹therapeutische Klonierenª stehen damit die ethischen Fragen im Vordergrund, ob und gegebenenfalls unter welchen Umständen ein menschlicher Embryo für fremde Zwecke bzw. zum Nutzen anderer Menschen getötet, ob ein menschlicher Embryo eigens zu Forschungs- oder Therapiezwecken erzeugt werden darf und ob ein Embryo der Spezies Mensch auf die Weise des Klonierens erzeugt werden darf. Die Fragen nach der ethischen Rechtfertigbarkeit der Tötung eines menschlichen Embryos für fremde Zwecke sowie der Erzeugung eines Embryos eigens zu Forschungs- oder Therapiezwecken orientieren sich an der Frage nach dem moralischen Status des Embryos, mithin an der Frage, als welches Gut ein menschlicher Embryo anzusehen ist7. In den vergangenen drei Jahrzehnten ist 6

Vgl. J. Lederberg, 1966.

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international ein umfangreiches Corpus von wissenschaftlichen Publikationen und institutionellen Stellungnahmen entstanden, die sich mit diesem Thema auseinandersetzen und ein weites Spektrum sehr unterschiedlicher Ergebnisse bzw. Empfehlungen umfassen. Im Vordergrund der Untersuchungen steht dabei die Frage, welches Schutzniveau dem menschlichen Embryo zukommt und durch welche Kriterien und Argumente der Schutzstatus des Embryos angemessen zu begründen ist. Die unterschiedlichen Positionen reichen ± auf der Grundlage jeweils unterschiedlicher Argumente ± von einer Anerkennung eines vollumfänglichen Schutzes bereits im Stadium der Zygote über ein abgestuftes Schutzniveau, das sich an der Absolvierung bestimmter Phasen oder Ereignisse in der normalen Embryonalentwicklung orientiert, bis hin zu einer Einbeziehung nur des geborenen Menschen in die jedem Menschen zukommende Schutzwürdigkeit8. Zudem treffen einige Positionen im Hinblick auf die Schutzwürdigkeit Statusunterscheidungen zwischen einerseits solchen Embryonen, die im Rahmen der medizinisch assistierten Reproduktion in vitro gezeugt wurden und als ¹überzähligeª Embryonen keine Chance auf eine weitere Entwicklung haben, und andererseits Embryonen, die für einen Transfer in den Uterus der Mutter vorgesehen sind bzw. im Mutterleib gezeugt wurden, und erkennen die Verwendung ersterer zu Forschungszwecken verschiedentlich als ethisch rechtfertigbar an. Alle diese Argumente beziehen sich auf den generell zu rechtfertigenden Umgang mit einem menschlichen Embryo und sind nicht spezifisch für den durch die Art und Weise des Klonierens erzeugten Embryo. Freilich ist für eine Position, die dem menschlichen Embryo generell ein nur niedriges Schutzniveau zuerkennt, die Frage nach der Art und Weise des Entstehens des Embryos für die Beurteilung seiner Schutzwürdigkeit offensichtlich nachrangig. So hält etwa die der britischen Gesetzgebung unterliegende Position den Status eines schützenswerten Individuums erst nach Abschluû der biologischen Individuation des Embryos am 14. Tag der Entwicklung und dem damit verbundenen Verlust der Möglichkeit der Mehrlingsbildung für begründbar und erkennt weder die durch Befruchtung einer Eizelle mit einer Samenzelle erzeugte Zygote noch die durch den Transfer eines Zellkerns in eine entkernte Ei7 8

Vgl. L. Honnefelder, 2002, 80 ff. Vgl. L. Honnefelder, 2001; vgl. Deutscher Bundestag, 2002, 72 ff.

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zelle rekonstituierte Zygote als ein individuelles menschliches Lebewesen im normativen Sinne an9. Für eine protektive Position hingegen, die bereits dem Embryo im Stadium der Zygote eine weitreichende oder ± wie etwa die dem deutschen Embryonenschutzgesetz zugrunde liegende Position ± vollumfängliche Schutzwürdigkeit zuerkennt, kann die Frage nach der Art und Weise der Entstehung des Embryos für die Bestimmung seines Status und die Beurteilung seiner Verwendung für Forschungszwecke erhebliche Bedeutung gewinnen. Denn unter dieser Voraussetzung sind im Hinblick auf die Schutzwürdigkeit von klonierten Embryonen die Fragen zu beantworten, ob ein klonierter Embryo als das normative ¾quivalent eines in vitro gezeugten Embryos anzusehen ist und ob es Gründe gibt, die es verbieten, einen menschlichen Embryo durch Klonieren zu erzeugen. Beide Fragen verweisen im Kontext einer protektiven Position offenbar auf den moralischen Status, der einem klonierten erwachsenen Menschen zuzuerkennen ist. Denn die Begründung des hohen Schutzstatus des menschlichen Embryos stützt sich in einer protektiven Position in der Regel auf die ungebrochene Beziehung zwischen dem menschlichen Embryo und dem autonom handelnden Subjekt, die anhand der vier Argumente der Potentialität, der Kontinuität, der Identität und der Zugehörigkeit zur Spezies Mensch beschrieben werden kann: Weil der Embryo die Potentialität zum autonom handelnden Subjekt besitzt, weil ferner seine Entwicklung zum Subjekt kontinuierlich in einem räumlich-zeitlichen Zusammenhang ohne die Entwicklung einer neuen oder einer im moralisch relevanten Sinne qualitativ veränderten Entität verläuft und weil überdies das naturhafte menschliche Lebewesen und das autonom handelnde Subjekt ihrer Natur nach unauflösbar identisch sind, kommt die dem Subjekt geschuldete Achtung und der Schutz auch dem Embryo zu10. Das vierte Argument, die Zugehörigkeit zur Spezies Mensch, stellt dabei nicht den Grund, sondern das Kriterium für die Schutzzuweisung dar. Denn weil Subjektsein auf jeden Fall und unterschiedslos Menschen zukommt, weil ferner das Subjektsein eines Menschen der konstatierenden Erkenntnis durch andere Menschen prinzipiell nicht zugänglich ist 9 Vgl. Department of Health and Social Security, 1984; vgl. Human Fertilisation and Embryology Act, 1990. 10 Vgl. etwa H. M. Baumgartner et al., 1998, 228 ff.

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und zudem unablösbar an sein leibliches Lebewesensein gebunden ist, kann der Schutz des Subjekts nicht ohne den Schutz seines leiblichen Lebens erfolgen, das als menschliches Leben somit das Kriterium für die Schutzwürdigkeit des Subjekts darstellt. Der moralische Status des Embryos wird in dieser Position daher vom geborenen autonom handelnden Subjekt her bestimmt, und die Fragen nach der normativen ¾quivalenz zwischen klonierten und gezeugten Embryonen und nach möglichen Gründen, die die Erzeugung eines Menschen durch Klonierung verbieten, können folglich in bezug auf das autonom handelnde Subjekt untersucht werden.

Die Frage nach der normativen ¾quivalenz von gezeugten und klonierten Embryonen Die Frage nach der normativen ¾quivalenz zwischen einem klonierten und einem gezeugten Menschen verweist auf die spezifische Begründung für die Achtung und die Schutzwürdigkeit, die jedem Menschen zuzuerkennen ist. Auf dem Hintergrund je eigener Begründungsansätze stimmen die meisten Kulturen und Religionen darin überein, daû dem Menschen gegenüber anderen Lebewesen eine besondere Würde zukommt, die sich in einer besonderen Schutzwürdigkeit äuûert und insbesondere den Schutz des leiblichen Lebens umfaût. Diese Auffassung kommt in dem Ethos der Menschenwürde und in den sich hieraus begründenden Menschenrechten zum Ausdruck11. Während ein religiöser Begründungstypus, der insbesondere in den abrahamitischen Religionen zum Ausdruck kommt, die Würde des Menschen mit seiner von Gott nach Gottes Bild geschaffenen Kreatürlichkeit und dem Auftrag der Statthalterschaft Gottes auf Erden begründet, beruft sich der säkulare Begründungstypus auf die Würde des Menschen als ein höchstes Moral- und Rechtsprinzip, das sich von keinem höherrangigen Wert ableitet12; in dieser Bedeutung sind es in erster 11 So konstatiert die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen vom 10. Dezember 1948 eine ¹allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnende Würdeª (Vereinte Nationen. Allgemeine Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948, Präambel und Art. 1.). 12 Vgl. G. Löhrer, 1995, 19 ff.; vgl. O. Höffe, 2002, 114.

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Linie bestimmte Charakteristika in der Natur des Menschen, die seine Würde begründen. Die wohl prominenteste säkulare Konzeption des Würdegedankens, die als fundamentales Moralprinzip weitreichende Akzeptanz und Bedeutung gewonnen hat, wurde von Immanuel Kant formuliert. Nach Kant erweist sich der Mensch aufgrund seiner Moralfähigkeit als bereits durch seine Natur bestimmt, nämlich als ¹[. . .] Zweck an sich selbst, und ebendarum als gesetzgebend im Reiche der Zwecke, in Ansehung aller Naturgesetze als frei, nur denjenigen allein gehorchend, die es selbst gibt, und nach welchen seine Maximen zu einer allgemeinen Gesetzgebung (der es sich zugleich selbst unterwirft) gehören könnenª13. Demnach ist ein menschliches Lebewesen nicht als ein Mittel den Zwecken der Natur vollständig unterworfen und ausschlieûlich von den Naturgesetzen beherrscht, sondern es besitzt durch sein Vermögen zur Moralität Freiheit von solchen Zwecksetzungen und stellt damit einen Zweck an sich selbst dar. Aufgrund des Vermögens, sich selbst Zwecke setzen zu können, und der hiermit verbundenen Freiheit muû ein solches Lebewesen ¹[. . .] ebendarum eine Würde, d.i. unbedingten, unvergleichlichen Wert haben, für welchen das Wort Achtung allein den geziemenden Ausdruck der Schätzung abgibt, die ein vernünftiges Wesen über sie anzustellen hat. Autonomie ist also der Grund der Würde der menschlichen und jeder vernünftigen Naturª14. Kant bindet diese Achtung aber nicht an die aktuelle Realisierung von Moralität, sondern an die Fähigkeit, Moralität zu verwirklichen. ¹Also ist die Sittlichkeit und die Menschheit, sofern sie derselben fähig ist, dasjenige, was alleine Würde hatª15. Achtung gegenüber dem unbedingten Wert von Moralität richtet sich daher nicht auf die verwirklichte moralische Entscheidung, sondern auf die Fähigkeit, sich moralisch entscheiden zu können, die Kant als das dem Menschen eigentümliche Charakteristikum der ¹Menschheitª bezeichnet. Diese Fähigkeit zur Moralität, dieses WollenKönnen ist prinzipiell nicht an aktuellen Handlungsäuûerungen zu messen. Daher kann Kant folgern: ¹Nun sage ich: der Mensch und überhaupt jedes vernünftige Wesen existiert als Zweck an sich selbst [. . .]ª16, und weil dem Menschen aufgrund seiner Selbstzwecklich13 14 15

I. Kant, GMS IV 435. Ebd. 436. Ebd. 435.

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keit Würde zukommt und Achtung entgegenzubringen ist, stellt das Prinzip der Selbstzwecklichkeit zugleich ¹[. . .] die oberste einschränkende Bedingung der Freiheit der Handlungen eines jeden Menschen [. . .]ª17 dar. Dieses Prinzip ist streng allgemein. Es ist von der Erfahrung unabhängig und stellt ein Gesetz dar, das der reinen Vernunft entspringt. Solcherart ist das Prinzip der Menschheit als Zweck an sich selbst ein objektives Gesetz; indem es sich aber auf einen Zweck ± die Menschheit ± bezieht, bedarf es eines Subjekts, und dieses ist das vernünftige Wesen als Zweck an sich selbst. Damit wird das Gesetz zu einer allgemeinen Gesetzgebung für das vernünftige Subjekt. Jedes Wollen des Subjekts steht in dieser Pflicht, und damit wird das allgemeine Gesetz der Menschheit als Zweck an sich selbst zu einem Grundgesetz der praktischen Vernunft. In praktischer Hinsicht dient das Gesetz als Richtschnur und Beurteilungsmaûstab des moralischen Handelns. Dabei gibt es keine Anweisungen für konkrete Handlungen, jedoch läût es hinsichtlich seines Bezugsgrundes, der Würde des Menschen, unmittelbare moralische Forderungen ableiten. So kommt Würde Menschen qua ihrer Fähigkeit zur Moralität zu, und zwar in gleicher und willkürloser Weise allen Menschen. Die Würde eines Menschen ist prinzipiell für andere Menschen unverfügbar, d.h. sie ist unteilbar und unverrechenbar. In gleicher Weise ist Würde für das Subjekt selbst unveräuûerlich, unverlierbar und unverwirkbar. Die Würde des Subjekts schlieût eine Instrumentalisierung durch einen anderen Menschen aus, d.h. Handlungen, die das Vermögen eines sittlichen Subjekts einschränken, sich selbst Zwecke zu setzen und seine Möglichkeit, sich als Subjekt der eigenen Handlungen verstehen zu können, stellen eine Verletzung seiner Würde dar. Vor diesem Hintergrund ist die Frage nach der normativen ¾quivalenz zwischen einem klonierten und einem gezeugten Menschen anhand der Frage zu beantworten, ob einem klonierten Menschen Würde aufgrund von Selbstzwecklichkeit zukommt und er als moralfähiges Subjekt anzusehen ist. Geht man davon aus, das das Klonierungsverfahren des Transfers eines menschlichen somatischen Zellkerns in eine menschliche entkernte Eizelle ± in gleicher Weise wie durch Anwendung des Verfahrens bei verschiedenen Tierspezies belegt ± durch eine speziestypische Embryonalentwick16 17

Ebd. 428. Ebd. 431.

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lung hindurch zu einem geborenen Lebewesen führt, wird dieses Lebewesen nach allen biologischen Kriterien ein Mitglied der Spezies Mensch sein. Es wird zwar mit dem Kerngenom eines bereits existierenden Individuums und dem mitochondrialen Genom einer Frau, die nicht seine genetische Mutter im herkömmlichen Sinne ist, eine natürlicherweise nicht vorkommende Zusammensetzung seines Genoms aufweisen, allerdings wird das Lebewesen die typische Gestalt und die typischen Fähigkeiten eines Menschen und zudem wahrscheinlich eine groûe physische ¾hnlichkeit mit dem Menschen besitzen, von dem der somatische Spenderzellkern stammt. Geht man ferner davon aus, daû die Fähigkeit zu Autonomie und Moralität des Menschen in einem engen, wenngleich im Einzelnen nicht hinreichend verstandenen Zusammenhang mit dem Besitz eines speziestypischen Genoms steht, wird man diese Fähigkeit auch dem durch Zellkerntransfer klonierten Menschen zuerkennen müssen. Würde man sich dieser Folgerung verweigern, müûte die Gegenannahme unter der Hypothese einer gleichen Embryonal- und Postnatalentwicklung bei kloniertem und gezeugtem Menschen entweder auf die erwähnte speziesuntypische Zusammensetzung des ansonsten speziestypischen Genoms oder auf den Unterschied im Akt der Entstehung fokussieren und geltend machen, daû die Moralfähigkeit und das Subjektsein entweder nur durch die Vereinigung zweier haploider Zellkerne von Mann und Frau gewährleistet ist oder aber durch den Akt der Zeugung in das Lebewesen infundiert wird, wobei letztere Annahme offenbar auch die In vitro-Fertilisation einschlieûen muû. Im Hinblick auf die erstere Möglichkeit existieren keinerlei Gründe für die Annahme, daû ein fremdes menschliches mitochondriales Genom, dessen funktionelle Bedeutung vornehmlich in der Bereitstellung der Proteinkomponenten für die Energiegewinnung durch oxidative Phosphorylierung besteht, eine spezifische Bedeutung für die kognitiven, bewuûtseinsrelevanten oder selbstreflektiven Prozesse besitzt, die im Kontext von Subjektivität und Subjektsein zu beschreiben sind. Eine solche Annahme müsste zudem den Therapieansatz eines Mitochondrienaustauschs oder der Erzeugung einer mitochondrialen Heteroplasmie im Falle hereditärer mitochondrialer Erkrankungen als ein im Hinblick auf das Subjekt ethisch höchst problematisches Vorgehen charakterisieren. Im Hinblick auf die letztere Möglichkeit entzieht sich die Annahme einer ausschlieûlich durch den Akt der Befruchtung stattfindenden Infusion der

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Potentialität zum Subjektsein einer allgemeingültigen Begründung. Da Subjektivität selbst letztlich der konstatierenden Einsicht durch Andere verborgen ist, müûte sich die Versagung der Anerkennung von Subjektivität und Würde bei Lebewesen, die auûer dem Modus ihrer Entstehung in keinem anderen Aspekt Unterschiede zu gezeugten Lebewesen der Spezies Mensch erkennen lassen, entweder auf metaphysische Annahmen berufen, für die keinesfalls eine allgemeine Akzeptanz reklamiert werden kann, oder sich dem Vorwurf der Ideologie und einer hierauf gründenden Diskriminierung aussetzen. Dementsprechend wird in den einschlägigen ethischen Diskursen die normative ¾quivalenz von klonierten und gezeugten erwachsenen Menschen nicht ernsthaft in Frage gestellt. Vielmehr lassen ± wie unten noch ausgeführt wird ± viele der für ein Verbot des Klonierens von Menschen vorgebrachten Argumente gerade den normativen Hintergrund der Gefahr einer Verletzung von Autonomie und Würde durch das Klonieren erkennen und bestätigen damit deren grundsätzliche Anerkennung bei klonierten Menschen. Gleichwohl wird die Erzeugung von klonierten Menschen, auch wenn sie sich durch Zellkerntransfer ohne erhöhte Risiken für ihre Gesundheit erzeugen lieûen, ungeachtet der Anerkennung ihrer Würde und Subjektivität vielfach als Gefahr für die Gesellschaft und für das soziale Zusammenleben angesehen. Klonierte Menschen wären in der Gesellschaft nicht willkommen. Wenn daher zwischen klonierten und gezeugten Menschen eine normative ¾quivalenz anzuerkennen ist, die zu der gleichen Achtung und Schutzwürdigkeit bei klonierten und gezeugten Menschen verpflichtet, muû in einer Position, die dem Embryo aufgrund der Potentialität zum Subjektsein, der Kontinuität in der Entwicklung der einen Entität und der Identität mit dem Subjekt von Beginn seiner Existenz an einen vollumfänglichen Schutz einräumt, auch der klonierte Embryo diesem Schutz unterliegen. Dies bedeutet, daû ein klonierter Embryo der Spezies Mensch ein menschlicher Embryo auch im normativen Sinne ist und nicht zu fremden Zwecken getötet werden darf. Es ist daher ethisch auch nicht zu rechtfertigen, einen klonierten Embryo mit dem Ziel der Tötung zu fremden Zwecken zu erzeugen.

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Normative Gründe für ein Verbot der Klonierung von Embryonen Das Ergebnis einer normativen ¾quivalenz von gezeugten und klonierten Embryonen wirft indes die einer fremdnützigen Erzeugung und Tötung eines klonierten menschlichen Embryos vorgelagerte Frage auf, ob es überhaupt ethisch zu rechtfertigen ist, einen menschlichen Embryo durch das Klonierungsverfahren des Zellkerntransfers zu erzeugen. Vor dem Hintergrund einer Position, die den Schutz des Embryos aus seinem potentiellen Subjektsein begründet, läût sich diese Frage wiederum anhand der Argumente untersuchen, die gegen das Erzeugen von klonierten Menschen angeführt werden. In fast allen Gesellschaften und Rechtssystemen trifft die Zielsetzung der Erzeugung von klonierten Menschen auf eine breite Ablehnung bzw. auf Verbote. Wenngleich die hierfür angeführten Argumente sich in ihrer jeweiligen Gewichtung unterscheiden, lassen sich für die Begründung eines Verbots des reproduktiven Klonierens gemeinsame Argumentationstypen identifizieren, die im Folgenden skizziert werden sollen18.

Verletzung der Würde Ein zentrales Argument gegen das Klonieren eines Menschen durch Zellkerntransfer besteht in der damit verbundenen Subsumtion des durch Klonieren erzeugten Lebewesens unter Nutzenerwägungen, die als eine Verletzung der Würde des klonierten Individuums angesehen wird und vornehmlich in zwei Formen dem Gedanken der Selbstzwecklichkeit zuwiderläuft: Zum einen stellt der mit dem Modus des Klonierens unlösbar verbundene Gedanke der Austauschbarkeit des klonierten Menschen ein wichtiges Indiz für eine Relativierung der Achtung der Selbstzwecklichkeit des klonierten Individuums dar, zum anderen ist es die Wahl des Genoms des klonierten Menschen durch einen anderen Menschen, die eine qualitativ neue Totalität der Instrumentalisierung befürchten 18

Vgl. T. Heinemann, 2005, 526 ff.

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läût. Insbesondere aufgrund der letzteren mit dem Klonieren verbundenen Form der Fremdbestimmung erkennt etwa Axel Kahn in klonierten Menschen eine neue Kategorie menschlicher Lebewesen, weil deren Genom und Körper auf der Entscheidung anderer Menschen beruht, und stilisiert das klonierte Geschöpf im Verhältnis zu dem den Klon erzeugenden Menschen unter Rückgriff auf die Zweckformel des kategorischen Imperativs als ein bloûes Mittel19. Allerdings wird gegen eine unmittelbare Anwendung der von Immanuel Kant formulierten moralphilosophischen Konzeption der Würde und der Selbstzwecklichkeit auf die Frage des Klonierens von Menschen verschiedentlich eingewendet, daû im Zusammenhang mit dem Klonieren eines Menschen unklar bleibt, wessen Würde durch Klonieren verletzt ist und auf welche Weise die Würde verletzt wird; auch die Idee der Instrumentalisierung ist demnach vage und offen für eine selektive Interpretation, so daû ihr als moralisches Leitprinzip kaum Bedeutung zuzumessen ist20. Die Frage nach der Instrumentalisierung stellt indes die zentrale ethische Frage im Zusammenhang mit dem Klonieren eines Menschen dar. Carl Friedrich Gethmann fokussiert gerade wegen des uneingeschränkten Subjektseins des klonierten Menschen die ethischen Überlegungen auf die Frage, ob es eine Zwecksetzung für das Klonieren von Menschen geben kann, die keine Instrumentalisierung des Klons darstellt21. Denn eine Instrumentalisierung eines klonierten Menschen wäre in gleicher Weise moralisch verwerflich wie die Instrumentalisierung eines gezeugten Menschen. Dies bedeutet, daû eine ethisch zulässige Zwecksetzung für das Klonieren von Menschen nur in der Person des zu erzeugenden klonierten Menschen, nicht in der Person des den Klon erzeugenden Menschen liegen darf22, und führt zu der Frage, warum die Annahme einer Instrumentalisierung nur im Zusammenhang mit Klonieren und nicht mit der sexuellen Reproduktion verbunden ist. Denn es lieûe sich einwenden, daû auch bei der natürlichen Zeugung die primäre Zwecksetzung nicht immer im Lebensglück des gezeugten Menschen liegt, etwa wenn ein Kind als Erbe, zum Zwecke der Bindung eines Ehepartners oder als Ausgleich 19 20 21 22

Vgl. A. Kahn, 1997, 320. Vgl. etwa J. Harris, 1997, 354. Vgl. C. F. Gethmann, 1998, 2. Ebd., 2.

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für ein verstorbenes Kind gezeugt wird. Ferner lieûe sich einwenden, daû sowohl beim Klonieren als auch bei der sexuellen Reproduktion das Erzeugen eines Individuums, eben weil es noch erzeugt werden muû und noch nicht existiert, niemals den Zwecken dieses Individuums genügen kann, sondern immer den Zwecken derer, die es zur Existenz bringen wollen. Sofern diese Form der Instrumentalisierung moralisch indifferent ist, muû dies folglich auch für das Klonieren gelten. Wenn daher die Zulässigkeit des Klonierens von der menschlichen Zwecksetzung abhängig gemacht wird, ist festzustellen, daû nicht das Klonieren an sich, sondern nur das Klonieren im Zusammenhang mit menschlichen Zwecksetzungen verwerflich ist. Mit dieser Argumentationsführung zeichnet sich indes die Verbotsbegründung ab. Denn die ± im Unterschied zur Zeugung ± für den Modus des Klonierens charakteristische Notwendigkeit der Wahl eines Genoms für das zu klonierende Lebewesen verweist auf den Umstand, daû das Klonieren seiner Natur nach von den Zwecksetzungen des den Klon erzeugenden Menschen nicht zu trennen ist, die für das klonierte Individuum zweifelsohne existentiell tiefgreifende Konsequenzen haben. Diesbezüglich stellt die Zufälligkeit des Genoms jedes gezeugten Menschen einen natürlichen Schutz vor einer unzulässigen Instrumentalisierung dar, und hieraus läût sich nach Gethmann ein Recht auf Zufall der genetischen Ausstattung ableiten, das verletzt wird, wenn die genetische Disposition des Klons zu einem auûer ihm liegenden oder sogar gegen seine genuinen moralischen Rechte gerichteten Zweck erzeugt wird. Der ethische Gehalt des Rechts auf Zufall fällt dann mit dem Instrumentalisierungsverbot zusammen, und Gethmann kann folgern, daû sich eine ethisch zulässige plausible Zwecksetzung des Klonierens, die frei von unzulässiger Instrumentalisierung des menschlichen Klons ist, nicht ausmachen läût. Ausgehend von der Verletzung der Autonomie des klonierten Individuums weist auch Jürgen Habermas eine moralische Rechtfertigbarkeit des Klonierens zurück. Zwischen dem Sozialisationsschicksal eines Menschen und seinem Naturschicksal besteht ein moralisch relevanter Unterschied. Denn Sozialisationsprozesse laufen nur über kommunikatives Handeln, und die interaktive Struktur von Sozialisationsprozessen, in denen das Kind immer in der Rolle einer zweiten Person steht, macht die Erwartungen der Eltern bezüglich des Charakters des Kindes grundsätzlich durch das

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Kind anfechtbar, das somit die Chance erhält, sich von diesen Erwartungen zu befreien23. Im Falle eines eugenisch motivierten gentherapeutischen Eingriffs geht das Kind genau dieser Chance einer Anfechtung oder einer revisionären Befreiung durch die genetische Fixierung, die die Eltern nach eigenen Präferenzen vorgenommen haben, verlustig. Im Falle des Klonierens trifft die präferierte genetische Fixierung in einer totalen Weise zu, wobei als Adressaten der Auseinandersetzung nicht einmal Eltern zur Verfügung stehen und zur Verantwortung gezogen werden können. Nach Habermas kann sich eine solcherart betroffene, an die Absichten Dritter irreversibel fixierte Person nicht mehr als der ungeteilte Autor des eigenen Lebens verstehen. Damit aber entsteht eine intersubjektive Beziehung zwischen dem klonierten Lebewesen und seinem menschlichen Schöpfer, in der die übliche Reziprozität zwischen Ebenbürtigen aufgehoben ist. Durch Klonieren wird demnach eine Ungleichheit konstituiert, die gleichermaûen die Autonomie des klonierten Individuums irreversibel einschränkt und für die Sozialisationsgemeinschaft nicht tragbar ist, weil die Gemeinschaft hierdurch die Voraussetzung für die intersubjektiv verpflichtende Moral aufgibt. Beide Ansätze, der Verweis auf die individuelle Konstitution durch den Zufall der genetischen Ausstattung sowie der Verweis auf den relationalen Aspekt der Reziprozität und Gleichheit in der Sozialisationsgemeinschaft begründen die Ablehnung des Klonierens mit dem gleichen Grundgedanken der Abwehr einer moralisch nicht zu rechtfertigenden Fremdverfügung des Individuums. Eine solche Fremdverfügung wird in der mit einer Fremdnützigkeit unlöslich verbundenen Auswahl des gesamten Genoms durch das Klonieren erkannt. Damit ergibt sich die Frage, welche Bedeutung dem Genom im Hinblick auf die Autonomie des Subjekts zukommt und auf welche mit dem Genom verbundenen Qualitäten ein moralisch begründeter Anspruch zu erheben ist.

23

Vgl. J. Habermas, 2001, 106 f.

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Das Argument der Einzigartigkeit des individuellen Genoms Ein häufig verwendetes Argument faût die individualspezifische Nukleotidsequenz des Genoms als ein Identifikationsmerkmal des Individuums auf, durch das die Individualität des Individuums gegenüber derjenigen eines anderen Individuums sichergestellt wird. Die normative Bedeutung des Arguments ergibt sich aus der Folgerung, daû die Identität eines Individuums durch die Erzeugung eines anderen Individuums mit einem gleichen Genom in Gefahr gerät. Damit geht das Argument von der Prämisse aus, daû die personale Identität in Beziehung zu der genetischen Identität steht und eine Vervielfältigung der genetischen Identität in moralisch relevanter Weise die personale Identität des Individuums beeinträchtigt. Gegen dieses Argument wendet etwa Bert Gordijn ein, daû die genetische Identität zwischen zwei Lebewesen nicht deren phänotypische Einzigartigkeit und schon gar nicht ihre personale Individualität in Frage stellt, was am Beispiel eineiiger Zwillinge ersichtlich ist24. Auch im Falle von klonierten Menschen wäre die Individualität der klonierten Individuen, die nur in geringem Maûe mit dem nicht wahrnehmbaren Genotyp, hingegen stark mit dem wahrnehmbaren Phänotyp assoziiert ist, daher grundsätzlich sichergestellt. Folglich hält Gordijn die Forderung nach einem Recht auf genetische Individualität, das durch Klonieren verletzt würde, für unsinnig. Aber auch die Reklamierung eines Rechtes auf ein einzigartiges und individuelles Genom ist für Gordijn nur schwer zu begründen, weil empirisch weder festzustellen ist, daû Menschen überhaupt ein grundsätzliches Interesse an dem Besitz eines einzigartigen, einmaligen Genoms haben, noch ein solches Recht mit dem natürlichen Phänomen der genetisch identischen Mehrlingsbildung in Einklang zu bringen ist, die von den betroffenen Mehrlingen im allgemeinen nicht als schädlich oder nachteilhaft, sondern oftmals aufgrund von starken emotionalen Bindungen untereinander sogar als vorteilhaft erfahren wird25. Damit richtet sich die Kritik von Gordijn vorwiegend auf eine dem Individualitäts24 25

Vgl. B. Gordijn, 1999, 17. Vgl. J. A. Robertson, 1994, 10.

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argument zugrunde liegende deterministische Auffassung in bezug auf das Genom. Michael Fuchs macht allerdings geltend, daû jenseits deterministischer Vorstellungen in bezug auf das Genom Individualität an sich schützenswert ist und schützenswerte Individualität dann gegeben ist, wenn das Individuum qualitativ einmalig ist. Qualitative Einmaligkeit ist jedoch nicht bereits dann als vollständig erfüllt anzusehen, wenn anerkannt wird, daû jeder Klon ebenso wie jeder monozygote Zwilling mit Beginn seiner Lebensgeschichte ein Einzelwesen mit einem eigenen Platz in Raum und Zeit und mit spezifischen Bestimmungen ist, sondern hier setzen Argumente an, die menschliche Individualität als etwas ganz Besonderes einschätzen, das nicht bereits in einer Bestimmung als Einzelwesen, sondern in seiner Personalität und seiner Entfaltung als Freiheitswesen vollständig ist26. Diese Individualität steht allerdings unter der Bedingung der eigenen Individuationsleistung, nämlich der Verflechtung der eigenen Geschichte mit der Geschichte Anderer, und auch wenn die Gleichheit des eigenen Genoms mit wenigen anderen genetisch identischen Individuen offenbar nicht nur einen gelingenden Selbstentwurf, sondern auch den gelingenden Einbezug dieser Individuen in die eigene Biographie erlaubt, ist dies mit einer zunehmenden Vielzahl klonierter Lebewesen zunehmend schwierig möglich. Die Einmaligkeit des Genoms stellt daher keine notwendige, jedoch eine hinreichende Bedingung der qualitativen Einmaligkeit von Individuen dar, und ihre Bedeutung liegt nicht in den genetischen Merkmalen selbst, sondern in dem Umstand, daû die Einmaligkeit nicht Ergebnis eigener Leistung ist und zudem vom zeitlichen Beginn des Lebewesens an besteht. In diesem Sinne erleichtert die Einmaligkeit des Genoms dem Menschen die eigene Entfaltung als geistiges und sittliches Wesen, und daher ist zu folgern, daû das Klonieren auf Ablehnung stöût. Der Wunsch nach Einmaligkeit folgt dabei nach Fuchs allerdings nicht einem sich auf das Prinzip der Menschenwürde stützenden Anspruch auf genetische Individualität, sondern einer Vorzugsregel27. Das Argument der Einzigartigkeit des individuellen Genoms kann offenbar ein kategorisches normatives Verbot der Klonierung nicht plausibel begründen. Zweifelsohne besitzt das Genom eine 26 27

Vgl. M. Fuchs, 2000, 75. Ebd., 83.

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wichtige Bedeutung für die vom Individuum selbstreflektiv als Ich wahrgenommene individuelle Konstitution einschlieûlich der psychischen und kognitiven Fähigkeiten, jedoch ist weder die phänotypische Individualität ausschlieûlich durch das individuelle Genom bestimmt, noch ist die personale Individualität an die numerische Einzigartigkeit des individuellen Genoms gebunden. Das Argument der Einzigartigkeit des individuellen Genoms birgt jedoch über den Aspekt des konstitutierten individualspezifischen Genotyps hinaus auch den Aspekt des spezifischen prozeduralen Ausgangspunkts des Genoms. Damit kommt das bereits erwähnte Argument des einzigartigen Zufalls der genetischen Ausstattung des gezeugten Menschen in den Blick, das häufig im Zusammenhang mit einem Argument, das sich auf die ¹Natürlichkeitª der Zeugung beruft, gegen das Klonieren angeführt wird.

Das Argument der Natürlichkeit In der Bedeutung eines moralischen Arguments muû das Argument der Natürlichkeit auf einen moralisch nicht zu rechtfertigenden Schaden für den klonierten Menschen abheben, der durch einen durch die Klonierung bedingten tiefen Eingriff in die naturalen Grundlagen des klonierten Menschen entsteht. Die Handlung, die zu diesem Schaden führt, ist daher gleichermaûen als unnatürlich ± im Sinne einer nicht den Vorgaben der Natur gemäûen Handlung ± und als unmoralisch zu beurteilen, wobei die Unnatürlichkeit und die fehlende moralische Rechtfertigung nur koinzident auftreten und nicht in einer kausalen Beziehung stehen können, wenn das Argument sich nicht dem Problem eines Kategorienfehlers aussetzen will. Aus dieser Perspektive lassen sich drei Aspekte erkennen, die sich auf Eingriffe in die naturale Konstitution des Menschen beziehen und im Hinblick auf den klonierten Menschen mit einer Verletzung seiner Autonomie in Verbindung gebracht werden. Hierbei handelt es sich (1) um das Argument des Zufalls der genetischen Ausstattung, der durch Klonieren ausgelöscht wird, (2) um die mit dem Klonieren verbundene Artifizialität, durch die die naturale Grundlage des natürlichen Prozesses der Zeugung eines Menschen durch einen unnatürlichen Prozess ersetzt wird, (3) und um ein Eindringen in die naturgegebenen Kate-

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gorien von Generationsfolge und Elternschaft, denen der klonierte Mensch beraubt wird. Der erste Aspekt des Natürlichkeitsarguments, das Argument des Zufalls der genetischen Ausstattung, beinhaltet die beiden Kriterien der Unverfügbarkeit und Einzigartigkeit. Zum einen hebt es darauf ab, daû innerhalb des Zeugungsvorgangs insbesondere der Zufall, der zu der individualspezifischen Ausstattung des neuen Genoms führt, jede verfügende Bestimmung über die psychophysische Konstitution eines Menschen durch andere Menschen einschlieûlich der Eltern verhindert. Die individualspezifische Konstitution des Genoms ist daher ausschlieûlich einer Sphäre zuzuschreiben, die durch eine fehlende Willensverfügung durch andere Menschen charakterisiert ist und die wir als Zufall beschreiben und mit der Natur identifizieren. Dieser Zufall ± so das Argument ± stellt eine wesentliche naturale Bedingung für das Selbstverständnis und Selbstverhältnis jedes Menschen als autonomes Wesen dar. Das Argument verbindet somit die durch den Akt der Zeugung natürlicherweise sichergestellte Unabhängigkeit der genetischen Konstitution des Menschen von einer Verfügung durch andere Menschen mit dem Status des Menschen als Freiheitswesen. Es stellt damit nicht, wie das oben dargestellte Argument, auf die numerische Einzigartigkeit der Konstitution des Genotyps ab, sondern nimmt das Unverfügtsein durch andere Menschen bei seinem natürlichen Entstehen durch Zeugung in den Blick. Zum anderen ist der Zufall, der zu der Erzeugung eines neuen Genoms durch die Befruchtung einer bestimmten Eizelle mit einer bestimmten Samenzelle führt, selbst einzigartig. Der Gedanke der Einzigartigkeit des Genoms gewinnt durch den Bezug auf den Zufall eine neue Bedeutung. Denn Einzigartigkeit in diesem Sinne ist als das Charakteristikum zu verstehen, daû sich der Zufall des Entstehens eines spezifischen Genoms bei jeder Zeugung immer nur einmal und in einziger Weise ereignet. Selbst im Falle der nur theoretisch denkbaren Möglichkeit, daû bei unterschiedlichen Zeugungsakten Individuen mit vollständig identischen Genomen erzeugt würden, wäre doch das Entstehen beider Genome einzigartig in dem Sinne, daû der dem Entstehen zugrunde liegende Zufall jeweils genuin und einmalig ist und beide Zufälle nicht miteinander im Zusammenhang oder in Abhängigkeit voneinander stehen. Der Zufall und seine Einzigartigkeit sind in diesem Sinne Freiheit von Abhängigkeit. Jeder gezeugte Mensch kann sich dem-

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nach als ein unmittelbares und neuartiges Ergebnis verstehen, und dies trifft uneingeschränkt auch auf eineiige Mehrlinge zu, nicht jedoch auf einen klonierten Menschen. Zwar könnte der Klon darauf verweisen, daû sein Genom irgendwann einmal auf die Weise der Zeugung entstanden und er daher mittelbar ebenfalls ein Ergebnis des mit der Zeugung verbundenen Zufalls ist, jedoch kann er seine spezifische Existenz nicht unmittelbar diesem Zufall, sondern muû sie gezwungenermaûen dem planenden Eingriff eines anderen Menschen verdanken. Diesem ersten Aspekt des Arguments der Natürlichkeit zufolge gehört es daher zur Natur des Menschen als autonomes Wesen, das Ergebnis eines mit der Erzeugung eines neuen Genoms verbundenen einzigartigen Zufalls zu sein, der natürlicherweise durch den Modus der Zeugung gewährleistet ist. Dieses Kriterium schlieût keineswegs die Möglichkeit einer Mehrzahl von Individuen mit identischen Genomen aus, bindet jedoch die Möglichkeit der uneingeschränkten Autonomie jedes Menschen unmittelbar an den mit der natürlichen Zeugung ¹seinesª neuen Genoms verbundenen einzigartigen Zufall, durch den die Unverfügbarkeit durch andere Menschen sichergestellt ist. Der zweite Aspekt des Natürlichkeitsarguments bezieht sich auf die Artifizialität der Klonierungshandlung. Die asexuelle Reproduktion ± so das Argument ± stellt ein Abweichen von dem naturgegebenen und naturgemäûen Maûstab der Zeugung durch Befruchtung bei der Spezies Mensch dar, und dem hohen Grad an Artifizialität bei der Klonierungshandlung kommt eine normative Bedeutung zu. In dieser Form des Arguments stellt sich allerdings die Frage, inwieweit der Artifizialität einer Handlung überhaupt normative Bedeutung zukommen kann und nach welchen Kriterien sich Artifizialität in bezug auf das Klonieren graduieren läût. Vergleicht man etwa die Handlungen der In vitro-Fertilisation mit dem Klonieren durch Zellkerntransfer, sind erhebliche Unterschiede sowohl im Hinblick auf die Artifizialität als auch auf den Hintergrund des natürlich Vorgegebenen zu konstatieren, während etwa die Handlungen der In vitro-Fertilisation und die Klonierungshandlung des embryo splitting, der mechanischen Teilung von Embryonen, in bezug auf die Artifizialität gut vergleichbare Eingriffe darstellen, die sich zudem beide an natürlichen Vorgaben orientieren; gleichwohl wird embryo splitting aus weithin akzeptierten moralischen

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Gründen abgelehnt, während dies bei der In vitro-Fertilisation nicht in gleichem Maûe der Fall ist. Offenbar ist bei der Klonierungshandlung des embryo splitting daher nicht der Grad der Artifizialität normativ ausschlaggebend. Überdies ist aber generell anzumerken, daû die Herstellung von Artefakten das Ergebnis unzähliger anderer ± vor allem auch moralisch hochrangiger ± Handlungen des Menschen ist, in denen sein Wesen als handelndes Subjekt zum Ausdruck kommt. Entscheidende normative Bedeutung scheint in bezug auf das Klonieren daher vielmehr dem Argument zuzukommen, daû der Mensch durch die Klonierungshandlung als Artefakt einen anderen Menschen schafft und der klonierte Mensch damit zum Artefakt wird. Die Unnatürlichkeit liegt dann nicht in der Artifizialität der Handlung, sondern im Artefaktsein des klonierten Menschen, dessen Konstitution als Artefakt in dem Willen eines Anderen gründet und der mit dem Willen verbundenen Zielsetzung unterworfen ist. Offenbar herrscht ein weitreichender Konsens, daû eine solche Handlung den klonierten Menschen in seiner Natur als autonomes Wesen verletzt, und erst in diesem Sinne läût sich ein moralisches Verbot begründen, einen Menschen zu klonieren. Zudem kommt aber auch die Gattung des Menschen in den Blick; denn wenn es die Natur des Menschen als Gattungswesen ist, ein autonom handelndes Subjekt zu sein, und das Klonieren eines Menschen sich gegen seine Autonomie richtet, kann auch im Hinblick auf die Gattung von einer Unnatürlichkeit des Klonierens gesprochen werden. Schlieûlich ist als dritter Aspekt des Arguments der Natürlichkeit die natürlicherweise zum Menschsein gehörende Bedingung zu identifizieren, einen Vater und eine Mutter zu haben, die für den klonierten Menschen nicht zutrifft. Da mit diesem Aspekt nicht in erster Linie der soziale Aspekt von Elternschaft in den Blick genommen wird, greift der Einwand zu kurz, daû auch gezeugte Kinder durch Verwaisung ihrer Eltern verlustig gehen können.28 Entscheidend ist hier die Bedeutung der Tatsache für das Selbstverständnis eines jeden Menschen, einen Vater und eine Mutter zu haben bzw. gehabt zu haben. Indem jeder Mensch natürlicherweise durch den Zeugungsakt aus zwei Menschen hervorgegangen ist, ist er seiner Natur nach ein qualitativ neues Individuum, das eine eigene zukunftsoffene Geschichte beginnt, in der es der seiner indi28

So B. Gordijn, 1999, 25.

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viduellen Konstitution entsprechende Akteur seiner Handlungen ist. In dieser Hinsicht kann sich jeder gezeugte Mensch als Gleicher unter Gleichen betrachten. Allen drei Aspekten des Natürlichkeitsarguments liegt der Gedanke zugrunde, daû der Autonomie des Subjekts eine naturale Grundlage korreliert, deren Unverfügbarkeit die Autonomie des Subjekts ermöglicht bzw. in entscheidendem Maûe erleichtert. Da dem Genom eine wichtige, wenngleich im Einzelnen nicht abzugrenzende Rolle bei dieser naturalen Grundlage zukommt, ist die Unverfügbarkeit des Genoms zum Schutz der Autonomie des Subjekts selbst zu schützen. Nur in bezug auf das autonome Subjekt kann das Natürlichkeitsargument Plausibilität besitzen. Denn nicht der Modus der Zeugung oder das individualspezifische Genom sind an sich moralisch gut, sondern die verfügende Bestimmung der Konstitution eines Menschen durch einen anderen Menschen ist moralisch nicht zu rechtfertigen. Hierauf beziehen sich die dargestellten Aspekte des Natürlichkeitsarguments in unterschiedlicher Weise: Ein Eingriff in die Einzigartigkeit des Zufalls der Zeugung und die Erzeugung eines anderen Menschen als Artefakt stellen nicht zu rechtfertigende verfügende Eingriffe dar, wobei die Tatsache, Eltern zu haben und in einer Generationenfolge zu stehen, Zeugnis davon ablegt, daû die Konstitution des Individuums frei von der totalen verfügenden Einwirkung anderer Menschen entstanden ist. Auf der Grundlage des Arguments der Natürlichkeit ist mit einem moralisch begründeten Verbot der Klonierung von Menschen keineswegs jeder Eingriff in das Genom eines Individuums verboten. Denn die spezifische Zwecksetzung etwa eines therapeutischen Eingriffs in das Genom eines Embryos, möglicherweise auch in das Genom von Gameten, verletzt nicht unbedingt die Selbstzwecklichkeit des bestehenden bzw. künftigen Individuums, sofern bei einem solchen Eingriff der Konsens des Individuums unterstellt werden kann. Die Zielsetzung der Therapie unterscheidet sich durch den Adressaten der Zwecksetzung fundamental von der Zielsetzung der Klonierung, die niemals therapeutisch sein kann und für die nicht der Konsens des klonierten Individuums unterstellt werden kann. Klonieren kann bestimmte konstitutionelle Vorteile in den Blick nehmen, die allerdings immer der Wahl und der Beurteilung desjenigen unterliegen, der das Genom auswählt.

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In diesem Zusammenhang ist auch auf das gegen ein Klonierungsverbot geführte Argument einzugehen, daû bei der Klonierungshandlung noch kein Individuum vorliegt und daher weder ein Konsens des Individuums als Bedingung für die Rechtfertigung der Klonierung gefordert noch überhaupt die Würde bzw. Autonomie eines Subjekts verletzt werden kann. Dieses Argument unterscheidet offenbar die Handlungsabsicht des Klonierens von der Handlungsfolge der Autonomieverletzung und betrachtet die Handlungsabsicht des Klonierens zumindest vor dem Eintritt der Handlungsfolge als moralisch rechtfertigbar. Einzuwenden ist allerdings, daû bei einer Handlungsabsicht, deren Ausführung mit moralisch nicht zu rechtfertigenden und unmittelbar in actu eintretenden Handlungsfolgen unlösbar verknüpft ist, keine moralische Rechtfertigung aus der Beteuerung gewonnen werden kann, daû die Handlungsfolge nicht beabsichtigt ist. Das Argument besitzt nur dann eine gewisse Plausibilität, wenn die Klonierungshandlung zu einem Lebewesen führt, bei dem die Anerkennung des moralischen Status eines menschlichen Subjekts schlechterdings nicht zu begründen ist und bei dem die Handlungsfolge der Autonomieverletzung erst im Verlaufe der weiteren Entwicklung nach Erreichen eines Stadiums relevant wird, in dem der moralische Status anzuerkennen ist. Unter der Voraussetzung dieser Statusannahme kann das Argument etwa Bedeutung für die Rechtfertigung des ¹therapeutischen Klonierensª besitzen, indem es die Handlungsabsicht des Klonierens von der Handlungsfolge der Autonomieverletzung trennen kann. Aus der Perspektive dieses Arguments kann dann nicht nur das Klonieren eines menschlichen Embryos eine rechtfertigbare Handlung darstellen, sondern auch gefolgert werden, daû die Weiterentwicklung des Embryos in das Stadium, in dem der moralische Status anzuerkennen ist, moralisch nicht zu rechtfertigen und die Vernichtung des klonierten Embryos geboten ist. Eine solche ethische Begründungsfigur spiegelt sich etwa in der einschlägigen britischen Gesetzgebung wider.

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Physische und psychologische Risiken für den klonierten Menschen Eine wichtige Bedeutung wird in dem ethischen Diskurs über das Klonieren von Menschen in den physischen und (sozial-)psychologischen Risiken erkannt, denen ein durch das Verfahren des Zellkerntransfers klonierter Mensch ausgesetzt wäre. Auf der Grundlage der durch das Klonieren von Tieren durch Zellkerntransfer gewonnenen Ergebnisse besteht Konsens, daû das für einen klonierten Menschen zu gewärtigende Risiko, die intrauterine Lebensphase nicht zu überleben oder mit schwerwiegenden Schädigungen geboren zu werden, als extrem hoch einzuschätzen ist. Das Argument des Risikos einer physischen Schädigung durch das Klonierungsverfahren weist allerdings einen potentiell temporären Charakter auf, da die Risiken durch eine Verfahrensoptimierung möglicherweise beseitigt oder zumindest minimiert werden könnten, wobei das Argument dann allerdings für die Phase der Erforschung des Verfahrens eine unverändert starke Bedeutung behielte. Hingegen wird eine psychische Schädigung eher als ein zeitunabhängiges Risiko betrachtet, das nur durch eine grundlegende ¾nderung der Einstellungen in der Gesellschaft gegenüber der Konstitution ihrer Mitglieder zu erwarten wäre. In bezug auf die bei einem Klon zu erwartenden psychischen Risiken stehen insbesondere zwei Argumente im Vordergrund, die sich beide auf das Wissen des Klons über einen genetisch identischen Vorgänger beziehen. Hierbei handelt es sich um das Argument eines für den Klon untragbaren Leistungsdrucks sowie um das Argument der Entwicklung von Zukunftsängsten in Anbetracht eventueller genetisch bedingter physischer oder psychischer unerwünschter Eigenschaften des genetischen Vorgängers. Überdies ist eine psychische Schädigung bei dem Klon auch durch die Auflösung der sozialen Eltern-, Familien- und Verwandtschaftsverhältnisse zu erwarten, die mit seinem Status als Klon unweigerlich verbunden ist, und schlieûlich können psychische Schäden durch die Diskriminierung entstehen, denen ein Klon in der Gesellschaft möglicherweise ausgesetzt ist. Die Bedeutung des Wissens um einen genetischen Vorgänger für das Leben eines klonierten Menschen wurde von Sùren Holm als das Argument des ¹life in the shadowª formuliert.29 Das Argu-

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ment basiert auf den beiden Voraussetzungen, daû das Leben des genetischen Vorgängers und seiner klonierten Kopie zeitversetzt stattfindet ± weshalb sich das Argument nicht auf eineiige Zwillingen beziehen kann ± und daû die in der Öffentlichkeit verbreiteten Vorstellungen von einem Klon in einem genetischen Essentialismus gründen, der von einer sehr weitgehenden Bestimmung der psychischen Fähigkeiten und der Personalität eines Menschen durch seine Gene ausgeht und der erwarten läût, daû die ¹Elternª eines klonierten Kindes ihre Erwartungen an das Kind stark an dem Original orientieren und das Kind bereits in seinem Heranwachsen als eine Wiederholung des Lebens des Originals betrachten. Eine solche Erwartung an einen anderen Menschen berührt fundamentale ethische Grundsätze der Autonomie und der Selbstbestimmung. Denn das klonierte Kind wird in den Versuch einer Wiederholung seines genetischen Vorgängers gezwungen, die es dem Klon kaum erlauben wird, sein Leben autonom zu gestalten. Daher verletzen die ¹Elternª durch das Klonieren das fundamentale moralische Prinzip des Respekts vor der Autonomie und Selbstbestimmung eines anderen Menschen, und dieser Umstand spricht gegen das Klonieren eines Menschen. Holm räumt aber ein, daû das Argument des ¹life in the shadowª nur solange Gewicht besitzt, als der genetische Essentialismus ein weit verbreitetes Gedankengut darstellt, auch wenn ein Wandel in dieser Auffassung als sehr unwahrscheinlich angesehen werden muû. Er weist zudem darauf hin, daû das ¹life in the shadowª-Argument hinfällig wird, wenn alle erzeugten Klone anonym herangezogen würden und nicht wüssten, daû sie einen genetischen Vorgänger haben, hält aber auch ein solches Szenario für sehr unwahrscheinlich, da in einem gesellschaftlichen System, in dem es dem Individuum nicht erlaubt ist, seinen eigenen Klon aufzuziehen, das Interesse am Klonieren eines Menschen praktisch nicht vorhanden wäre30. Der von Holm unterstellte genetische Essentialismus läût sich auch als notwendige Voraussetzung für mögliche Zukunftsängste des Klons in Anbetracht des Lebens seines genetischen Vorgängers erkennen, die zu einer psychischen Belastung des klonierten Menschen führen könnten. Auch eine mögliche Diskriminierung eines klonierten Menschen durch die Gesellschaft würde letztlich wohl 29 30

Vgl. Holm, 1998, 160. Vgl. Holm, 1998, 162.

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in einem genetischen Essentialismus gründen und sich ohne Zweifel schädigend auf die Psyche des klonierten Menschen auswirken. Schlieûlich wären unter gesellschaftlichen Aspekten auch die fehlenden Verwandtschaftsverhältnisse für den klonierten Menschen psychisch traumatisierend, da er seine Konstitution auch in dieser Hinsicht gegenüber der Gesellschaft zu vertreten hätte. Es ist kaum zu übersehen ± so konstatiert etwa M. Fuchs ±, daû die Folgerung aus diesen Argumenten nicht unbedingt in einem Verbot des Klonierens bestehen muû. Das Problem lieûe sich auch durch ein Gebot zu einer gesellschaftlichen Aufklärung lösen31 oder durch eine pädagogische Stärkung der Mündigkeit des klonierten Menschen bezüglich seiner Indifferenz gegenüber an ihn gerichteten spezifischen Erwartungen32 bzw. gesellschaftlichen Diskriminierungen. Zudem aber läût sich einwenden, daû den Befürchtungen in bezug auf psychische Auswirkungen bei einem klonierten Menschen jede empirische Grundlage fehlt und genau so gut entgegengesetzte psychische Folgen vorstellbar sind. So könnte es etwa einem klonierten Menschen ein ganz besonderes Selbstbewuûtsein verleihen, wenn er seinen genetischen Vorgänger an Leistungen übertrifft; auch könnte ein robuster Gesundheitszustand seines genetischen Vorgängers den klonierten Menschen hinsichtlich seiner eigenen Gesundheit und Leistungsfähigkeit zuversichtlich stimmen33. Allerdings heben diese Argumente lediglich auf die Ergebnisse eines Vergleichs des Klons mit seinem Vorgänger ab, während das von dem ¹life in the shadowª-Argument benannte Problem des Vergleichs und Abgleichs der Lebensführung des klonierten Menschen mit dem Leben des genetischen Vorgängers diesen Argumenten immer bereits zugrunde liegt. Auch würde die gesellschaftliche Aufklärung die objektive Diskriminierung des Klons durch die Gesellschaft und das subjektiv empfundene Diskriminiertsein des Klons in der Gesellschaft betreffen und die Folgen der Klonierungshandlung im Hinblick auf ein gutes Zusammenleben und ein gestärktes Selbstbewuûtsein verbessern, nicht jedoch den prinzipiellen Unterschied zwischen dem Kloniertsein und Gezeugtsein auflösen.

31 32 33

Vgl. R. Lewontin, 1998, 131. Vgl. U. Steinvorth, 1998, 116. Vgl. auch B. Gordijn, 1999, 27.

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Das Verhältnis von Normen und Nutzen in bezug auf das ¹therapeutische Klonierenª Die dargelegten Argumente lassen erkennen, daû das Klonieren eines Menschen durch Zellkerntransfer eine Handlung darstellt, bei der mit guten Gründen von einer Verletzung seiner Selbstzwecklichkeit und seiner hierauf gründenden Würde auszugehen ist. Indem durch Klonieren die spezifische Konstitution der Daseinsweise eines Menschen durch andere Menschen bestimmt und festgelegt wird, sind durch diese ± gegenüber gezeugten Menschen veränderten ± Bedingungen seiner Existenz zwar nicht das Subjektsein und die Handlungs- und Moralfähigkeit des klonierten Menschen als solche betroffen, jedoch steht die ganze Existenz des Klons unter der Bedingung einer fremden Zwecksetzung, von der er sich nicht befreien kann, weil gerade seine spezifische Existenz für diese Zwecksetzung Zeugnis ablegt. Diese nicht rückgängig zu machende Fremdbestimmung seiner Daseinsweise muû als eine fundamentale Verzwecklichung und Instrumentalisierung angesehen werden, die moralisch nicht zu rechtfertigen ist. Sie verletzt zudem in fundamentaler Weise die Gleichheit des klonierten Menschen mit den anderen Mitgliedern der menschlichen Spezies und der menschlichen Sozialgemeinschaft. Da die spezifische Daseinsweise in gewichtigem, wenngleich nicht hinreichend verstandenem Maûe von dem individuellen Genom des Menschen bestimmt wird, muû dieses in seiner Totalität als ein naturales Korrelat in den Schutz der Autonomie des Subjekts einbezogen werden. Dieser Schutz des Genoms bezieht sich nicht auf eine generelle Unantastbarkeit oder die Sicherstellung einer Einzigartigkeit im Sinne einer numerischen Singularität, sondern auf fremdnützig verfügende Eingriffe. Vor diesem normativen Hintergrund läût sich die Frage nach der moralischen Rechtfertigung des ¹therapeutischen Klonierensª genauer einordnen. Eine Position, die dem menschlichen Embryo aufgrund seines potentiellen Subjektseins ein hohes Schutzniveau zuerkennt, wird auch einem klonierten Embryo die gleiche Schutzwürdigkeit zusprechen. Eine solche Position wird daher die Erzeugung und die Tötung von gezeugten wie klonierten Embryonen zu fremden Zwecken, etwa zu Forschungs- und Therapiezwecken, als moralisch nicht zu rechtfertigende Handlung beurteilen und be-

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reits aus diesen Gründen das Konzept des ¹therapeutischen Klonierensª ablehnen. Dieser Begründung vorgelagert ist in einer solchen Position jedoch die Ablehnung des Klonierens selbst als eine Art und Weise der Erzeugung von Menschen, die auf der Grundlage der Schutzbegründung für den Embryo durch die Würde des Subjekts keine Unterscheidung in therapeutische oder reproduktive Zwecke erlaubt. Das Klonieren eines menschlichen Lebewesens ist für eine solche Position in jedem Fall und unabhängig von der spezifischen Zielsetzung moralisch nicht zu rechtfertigen. Auf dieser Grundlage kann die Übernahme der Unterscheidung zwischen ¹reproduktivemª und ¹therapeutischemª Klonieren aus dem Kontext einer gänzlich anderen Statusbeurteilung allenfalls der Deskription von technischen Verfahrenszusammenhängen dienen, hat jedoch eine normative Bedeutung zurückzuweisen. Die drei für das ¹therapeutische Klonierenª relevanten Verbote der Erzeugung eines menschlichen Lebewesens zu einem nicht in seiner Existenz liegenden Forschungszweck, der Tötung dieses Lebewesens zu fremden Zwecken und der mit der Erzeugung eines menschlichen Lebewesens durch Klonieren untrennbar verbundenen Verzwecklichung greifen auf das gleiche Prinzip des Verbots der Instrumentalisierung zurück. Damit ist nicht jede Nutznieûung anderer Menschen an einem existierenden Embryo per se moralisch ausgeschlossen, allerdings ist jede Nutznieûung ausgeschlossen, die die Existenz des Embryos als potentielles Subjektsein berührt. Bezüglich der Fundamentalnorm des Instrumentalisierungsverbots besteht für das ¹reproduktive Klonierenª ein weitreichender Konsens; so wird solchen im ethischen Diskurs vorgetragenen Argumenten, die wünschenswerte, durch das reproduktive Klonieren sicherzustellende Normen oder zu erreichende Zielsetzungen geltend machen ± wie etwa die Freiheit jedes Individuums zur Reproduktion, die Möglichkeit eines Ersatzes eines verlorenen Angehörigen durch Klonieren oder die Reproduktion verstorbener Genies ±, vor allem deshalb keine starke Überzeugungskraft zuerkannt, weil sie in unterschiedlicher Weise mit einer Instrumentalisierung des klonierten Menschen verbunden sind. Das Instrumentalisierungsverbot stellt eine Fundamentalnorm dar, die sich als solche gerade Nützlichkeitserwägungen entzieht. Dagegen kann eine normative Kraft des Nützlichen stehen, die für sich genommen plausibel und rechtfertigbar ist, die aber die Fundamentalnorm nicht in Frage stellen kann und an ihr die Grenzen

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ihrer normativen Kraft findet. Eine solche normative Kraft des Nützlichen ist dem Konzept des ¹therapeutischen Klonierensª ohne Zweifel zuzusprechen, das mit der Wiederherstellung der Gesundheit von erkrankten Menschen ein ± freilich visionäres ± hochrangiges und wünschenswertes Ziel in den Blick nimmt. Der durch das ¹therapeutische Klonierenª zu erzielende Nutzen alleine kann allerdings die Fundamentalnorm des Instrumentalisierungsverbots nicht relativieren. Die Frage nach der Rechtfertigbarkeit des ¹therapeutischen Klonierensª muû sich daher an der Frage orientieren, ob und inwieweit das erzeugte Lebewesen einer Instrumentalisierung anheim fällt. Diese Frage kann nur anhand der Frage nach dem moralischen Status des klonierten Embryos beantwortet werden. Wenn dem Embryo aufgrund seines potentiellen Subjektseins der moralische Status zuzuerkennen ist, wird er durch das ¹therapeutische Klonierenª in moralisch unzulässiger Weise instrumentalisiert.

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Nigel M. de S. Cameron (Chicago)

Bioethics and Society in America: the elite versus the people The origins of bioethics go back well before the American coinage of the term around the year 19711, when its introduction into the English language served two purposes. From one perspective, it offered a useful category in which to bring together the various parties to discussions of what had traditionally been seen as ªmedical ethicsº, the ethical issues that arise in the practice of the profession. The older term both suggested, and often meant, that ethics in medicine was a matter for physicians, and physicians alone. At the same time, another, more sinister, and ultimately destructive, process was afoot. For the coinage of ªbioethicsº both represented and aided the development of an inter-disciplinary academic field that was essentially disconnected both from medicine itself and from the history of medical ethics discussion. ªBioethicsº as an academic enterprise is both novel (bioethics texts make only rare reference to earlier discussions of medical ethics) and post-modern. This term ªpost-modernº can have several meanings; it is used here in two. The focus of contemporary bioethics is largely on the development of procedures to enable people to make private decisions ± there is little interest in the forging of consensus on the basis of commonly held truth. Moreover, the field operates through articles and papers, conferences, and ad hoc centers, and has produced few monographs and academic departments. It carries little baggage, historical or institutional, and that absence profoundly conditions the character of its discussions.

1 Van Rensselaer Potter is credited with being the first to use the term ªbioethics.º Van Rensselaer Potter, Bioethics: Bridge to the Future, Prentice-Hall 1971.

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While the fundamental questions at stake in the bioethics agenda are in crucial dimensions as old as religious and philosophical discussion itself, it is probably best to locate the beginnings of the interdisciplinary field that now goes by that name in the aftermath of the Second World War. The tumultuous years that spanned the Nuremberg Code2 and the World Medical Association's Declaration of Geneva3 set the pattern for what has followed. While Nuremberg sought to erect an impenetrable barrier against the abuse of human research subjects, and Geneva to repromulgate the Hippocratic medical tradition in the ashes of war, the radical harbinger of contemporary American bioethics, Joseph Fletcher, was already preparing the series of lectures that would became the world's first ªbioethicsº book, his Medicine and Morals4, and lay charges beneath the edifice of a western medical tradition that had seemed to survive the genteel barbarism of American eugenics and its culmination at more consequent hands of the Nazi doctors. Soon it would face more subtle threats, once more led by progressive American opinion. Those post-War years also, and most profoundly, witnessed the United Nations Universal Declaration of Human Rights5, perhaps the most significant single document to be inscribed in the twentieth century. And it is to this anchor of human dignity that appeal has been made in the first global responses to the biopolicy challenges of the 21st century ± the United Nations Declaration on Human Cloning, and the UNESCO ªUniversal Declaration on Bioethics and Human Rightsº6.

2

Trials of War Criminals before the Nuremberg Military Tribunals under Control Council Law No. 10. Nuremberg, October 1946±April 1949. Washington D.C.: U.S. G.P.O., 1949±1953, available at http://home.comcast.net/~icuweb/nuremb.htm. 3 The World Medical Association, ªDeclaration of Genevaº, available at www. wma.net/e/policy/c8.htm. 4 Joseph Fletcher, Morals and Medicine: The Moral Problems of: The Patient's Right to Know the Truth, Contraception, Artificial Insemination, Sterilization, Euthanasia, Beacon, 1954. 5 United Nations, ªUniversal Declaration on Human Rightsº, G.A. Res. 217A(III), U.N. GAOR, 3d Sess., U.N. Doc. A/810 (1948), available at http://www. un.org/Overview/rights.html. 6 The UN Declaration on Human Cloning was approved by the United Nations General Assembly in march, 2005, by a majority of nearly 3-1. The UNESCO ªUniversal Declaration on Bioethics and Human Rightsº has been adopted by acclamation on 19 October 2005 by the 33rd session of the General Conference of UNESCO.

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March 2005: Cloning and the Death of Terri Schiavo The UN Declaration on Human Cloning represents a triumph for American diplomacy and the policy of the federal government, not simply over states who favor ªtherapeutic cloningº and an international scientists' lobby, but over mainstream American bioethics. Acting in harmony with grassroots opinion that reflects deepseated American cultural values, the administration of George W. Bush has helped forge a global consensus in favor of a ban on human cloning for any purpose ± that is, to include so-called ªtherapeutic cloningº, the manufacture of human embryos using cloning technology for experimental purposes and destruction. Debate over the cloning of embryos to produce embryonic stem-cells has convulsed American society, and in August 2001 led the President to make his first televised speech to the American people a lecture in moral philosophy ± culminating in his decision to forbid funding for destructive research on human embryos7. Yet the unchallenged doyen of the bioethics community, and its most characteristic representative, Arthur Caplan, was invited by the United Nations secretariat to participate in the ªexpertº briefing at the outset of the process in the Sixth (legal) Committee of the General Assembly. Not only did he defend the practice of human cloning for research, but he spoke in defense of cloning for the purpose of reproduction and live birth8. If the UNGA Declaration on Human Cloning represents the triumph of US policy over the bioethics community, the bioethics community scored its revenge days later in the slow death by court-ordered dehydration ± and with the vocal encouragement of Arthur Caplan ± of Therese Marie Schiavo, a 41-year old woman who more than a decade earlier had sustained serious brain injury. She had been diagnosed by a court-appointed neurologist as being in a ªpersistent vegetative stateº, though the diagnosis was chal7 August 9, 2001. The policy for the first time permits federal research funding for embryo research, but only on cell-lines created before that date. An equivalent policy in respect of the import of cell-lines has been followed in the German Stem Cell Act (2002). 8 United Nations, ªAd Hoc Committee for International Convention against Reproductive Cloning of Human Beings,º SOC/4599, February 25, 2002, available at http://www.un.org/News/Press/docs/2002/soc4599.doc.htm.

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lenged by other physicians ± most dramatically, during the process of her dying, by both a neurologist on the staff of the prestigious Mayo Clinic, acting on behalf of the Governor of State of Florida, and by a famous transplant surgeon, Dr. William Frist, who happens to be Majority Leader of the United States Senate. But the case turned on a state court's decision that her husband's reporting of an oral comment she had made before her injury, to the effect that she would not wish to be maintained in such a state, sustained his decision to withdraw tube-feeding and bring about her death, despite the fact that her parents campaigned tirelessly to save her life in a manner so affecting that it drew sympathy from progressive as well as conservative political leaders and commentators ± and on the refusal of state courts to review that decision. At the height of the affair, as she lay dying, President Bush flew to Washington to sign at 1.00 a. m. special legislation passed by Congress at a session convened at midnight on a Sunday, in an effort to have the federal courts reopen her case. Not one court was prepared to do so, and the Supreme Court three times refused to be drawn into the matter9. Nothing better illustrates the crisis of American bioethics in the context of American society than the juxtaposition of these two extraordinary cases. The most distinctive aspect of American bioethics has been its general retreat from substantive moral reflection, in favor of procedural concerns that serves almost as a parody of the importance given to ªdue processº in American jurisprudence; and sometimes which are one and the same. The mainstream US bioethics community has treated with equal scorn US cloning policy at the UNGA, and attempted federal intervention to save Terri Schiavo.

9 It should be noted that the reluctance of the federal courts to respond to the opportunity offered by this last-minute legislation was, among other things, determined by two key doctrines in American jurisprudence ± federalism (in which responsibilities are distributed between states and the federal jurisdiction), and the separation of powers between the executive, legislative, and judicial branches of government.

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The Nature of American Bioethics The promulgation of the Declaration of Geneva by the World Medical Association had been intended to re-assert Hippocratic medical values as the foundation for the reconstruction of medicine in light of the Nazi horrors revealed in the so-called ªDoctors' Trialº at Nuremberg. Yet those who drafted the Declaration gave effect to a profound shift of which they were largely unaware. By supplanting the Hippocratic Oath (a pagan document that was nonetheless powerfully theistic in orientation and had long sustained the ethics of the western medical tradition) with a Declaration (that could of course be revised by vote, as it would be in response to liberal abortion), they set the scene for the reconstruction of medical values on fresh, open-ended, terms. It is this ªopen-endednessº that is the quintessential quality of American bioethics. Aided by the continuing cultural weakness of traditional moral formulations, and powered by a succession of new scientific and technical achievements (and corresponding dilemmas) in medicine in the second half of the twentieth century, the advocates of the new bioethics have emerged as values brokers in a public culture that continues to find itself deeply uncomfortable in handling matters that were once generally considered to lie within the province of religion in American society ± a society in which the deeply religious nature of large numbers cohabits with a public culture struggling to free itself from the last entailments of Christendom. Indeed, one ironic contrast with European discussion of biopolicy and bioethics lies in the fact that the enormous strength of popular religion in the United States has left it as a latent threat to the cultural influence of the largely secular elite in a way that could not happen in Europe. In Europe, the decline of religious belief and observance has affected popular and elite sentiment in a more proportionate manner. The survival of state churches and other public religious elements, themselves secularized in important respects, has had the effect of ªtamingº the religious dimension, and yet in the process also protected it. The resulting situation causes much puzzlement, especially to Americans unfamiliar with the dynamics of European culture. Americans who are culturally conservative (and generally religious) are astonished to find

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that many European nations fund religious instruction in public education, and have enacted very cautious policies on issues of biotechnology. They expect that the process of secularization will have been much further advanced in Europe. They do so partly because they understand it in univocal rather than analogical terms. Despite dramatic shifts in the public religious identity of Europe (best symbolized perhaps by the disestablishment of the Church of Sweden at the outset of the third millennium of the Christian calendar, and the controversy surrounding reference to Christianity in the European Constitution), there is no true European parallel to the public-private religious distinctions that have had the effect of generally isolating elite American culture from religion, and bioethics as a subset of that culture10. Popular religious influence is seen as a much greater threat in the United States, so public use of religious language and any public religious claims are resisted much more strongly than in the European societies. Nowhere is this more true than in bioethics, which helps explain the deep cleavage between popular opinion on matters of bioethics and biopolicy in the US that has no parallel in Europe. It also does a long way to explaining the politicization of US biopolicy, which has no parallel in Europe. In Germany, the one major European state in which issues of biopolicy hold high political content, policy concerns are largely held in common between the major parties. So the politicization evident in the US remains unique, since a distinctive and generally religious approach to biopolicy is largely confined to cultural conservatives. That alone explains the midnight Schiavo vote and 1.00 a. m. bill signing, and the aggressive stance of the US government in the UN cloning negotiations. The elite ªbioethics communityº feels as disenfranchised from popular bio sentiment as cultural conservatives do from elite culture.

The Failure of Religious Bioethics This mutual disenfranchisement goes far to explain the strangest feature of American bioethics, in that alongside the cleavage be10

The French concept of laicitØ offers the closest parallel.

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tween popular sentiment and elite opinion there has been a general failure on the part of religious cultural conservatives to engage the emerging questions of the bio agenda and develop, as it were, an alternative bioethics11. Religious and secular commentators are generally indistinguishable, and only a minority report within the churches offers trenchant engagement from within the distinctives of the Christian tradition. This is the more surprising since the two most influential figures in the first generation of ªbioethicsº were not only theologians but wrote explicitly theological ethics (though from very different perspectives): Joseph Fletcher, whose innovative book Morals and Medicine we have noted, who sought to frame the questions and develop radical approaches in the 1950s, and Paul Ramsey, whose work in the 1960s and 70s set out a massive defense of traditional Christian ethics in light of the philosophy and emerging jurisprudence of his day12. It has been widely noted that religious writers on bioethics have tended to be accommodated to the secular mainstream that, since the waning of Ramsey's early influence, has set the tone for American bioethics. Across Catholic and Protestant thought we may note a spectrum of responses. At one end are writers who have essentially been absorbed by the categories and conclusions of the secular bioethics flow. In the center are others who while generally adopting the terminology of secular bioethics have sought to influence or restate it in terms that reflect Christian convictions; or, perhaps, to translate key components in the new bioethics into terms that are related to Christian theology. At the other end are some who take a classical approach from within the Christian tradition, and seek to translate distinctively Christian ideas into the public language of bioethics discourse. They have been few, and have had little influence on the bioethics debate. The general failure of a ªChristian bioethicsº to take hold even within the churches and their educational and medical affiliates has led to a blending of religious and secular in a manner that, for all 11 I discuss this question further in my essay on the failed evangelical contribution to bioethics in ªEvangelicals and Bioethics: An Extraordinary Failureº, in Michael Cromartie (ed.), Public Faith: Evangelicals and Civic Engagement, Rowman & Littlefield 2003, and my article ªChristianity in Bioethicsº, in Stephen Post (ed.), Encyclopedia of Bioethics, 3rd edition, MacMillan 2003. 12 E.g., Paul Ramsey, The Patient as Person: Explorations in Medical Ethics, New Haven: Yale University Press, 1970.

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the good intentions of religious contributors, has tended to extinguish their distinctives and give primacy to the secular debate and its categories. Thus the most prestigious American graduate program in bioethics is located at Georgetown University, an institution of the Society of Jesus; yet its programmatic importance for the development of the discipline is focused in its advocacy of the secular ªprinciplismº epitomized in Beauchamp and Childress' influential Principles of Biomedical Ethics, and not in any recognizably Catholic moral tradition13. The magisterium of the church has given guidance to faithful Catholics on many of the questions of bioethics, but, as the example of Georgetown demonstrates, there has not emerged a major ªschoolº of distinctively Roman Catholic writers within the wider bioethics community. By the same token, the substantial growth of conservative Protestantism during this period has failed ± despite its influential partnership with Roman Catholic opinion in its moral and political stance on abortion ± to initiate a commensurable intellectual movement in bioethics. The tendency of individual Protestant and Catholic participants has been to aggregate themselves to the secular bioethics mainstream, as they play their own ironic part in the marginalization of the dominant tradition of western medical ethics. What is harder to explain is their failure to develop in parallel serious centers of intellectual gravity for their distinctive bioethics concerns, despite the strength of their institutional life ± especially that of Roman Catholics ± in universities, colleges, and hospitals.

The Bioethics Agenda Throughout the second half of the twentieth century ± from Joseph Fletcher on ± much of the bioethics debate has focused substantively on the question of the sanctity of human life (abortion, euthanasia, the use of human embryos in research, protocols for organ transplant, definition of death, scare resource allocation, et al.), and procedurally on autonomy as the organizing principle 13 Tom L. Beauchamp and James F. Childress, Principles of Biomedical Ethics, 5th Edition, Oxford University Press 2001.

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of bioethics decision-making (centered on the role of the patient, and symbolized by the advanced directive and its culture of individualism in end-of-life choices). The general movement of bioethics debate has been from a substantive focus (both Fletcher and Ramsey agreed on that, at least) to procedural, and the bioethics literature is little focused now on the rights and wrongs of such traditional moral questions as abortion. The euthanasia debate has become focused on an increasingly procedural discussion, re-branded as ªphysician-assisted suicideº. The sanctity of life, long the central feature of our civilization's medical values though now seen in the bioethics community as essentially perverse, is rarely itself a locus of debate. Indeed, Peter Singer's overt denial of this doctrine ± notably in the context of his ªspeciesistº reductionism ± has had the effect of drawing more attention to the question than has anyone else. The major questions of bioethics may be grouped in three categories. First, we face those questions that directly affect the sanctity and integrity of the human body. These form the traditional subject-matter of bioethics. Second, we confront those questions arising in human genetics and reproductive technologies, and particular techniques such as cloning, that offer us manipulative capacities to design and determine human nature. Third, we now engage whole new technologies, pre-eminently nanotechnology and developments in cognitive science, that claim the capacity to re-engineer human nature at a fundamental level.

Bioethics 1: the Sanctity of Life The landscape of American bioethics is dominated by Roe v. Wade14, the 1973 decision of the Supreme Court that ruled legal restrictions on abortion unconstitutional, and effectively created a right to abortion. The fundamental consequence of Roe was to remove abortion policy from the legislative process, and yet at the same time to bring to birth what has proved for more than a generation the single most significant issue in American federal politics. The fact that it cannot be resolved through the routines of the 14

Roe v. Wade, 410 U.S. 113 (1973).

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political process15 has ironically had the effect of colonizing related questions that have become surrogates for the competing ªpro-lifeº and ªpro-choiceº agendas ± legislation on such issues a genetic discrimination is scrutinized to see whether it is ªabortion neutralº or gives aid and comfort to one side or the other ± and at the same time led to huge political efforts to achieve small but what have been seen by both sides as strategic advances16. Most important for our discussion, the result of Roe was not simply to take abortion out of everyday American politics and place it in a category of its own, it was, in effect, also to take it out of American bioethics; and so to influence the direction of the evolution of bioethics at an early stage. While cultural causality is never easy to establish, it would seem plain that a major impact of Roe in declaring one of the great moral questions of the western tradition an irreducibly private question for the woman concerned (deriving from a ªright of privacyº held to be in the Constitution) helped derail American bioethics from the path of substantive moral reflection, and anticipated and helped precipitate the shift into autonomy-based proceduralism that has become its chief characteristic. At a time when the interplay of law and bioethics was strong (much of Ramsey's work, for example, is an extended ethical commentary on legal cases), the Court declared pregnancy to be private. This proved a good fit with the post-consensus private moral vision of the new bioethics, and helps explain why bioethicists rarely consider the ethics or abortion a locus of reflection. It is as if the Court had declared that they had no more right to address the private decision of a pregnant woman than did state and federal legislatures. 15 Options that have been canvassed include a constitutional ªHuman Life Amendmentº, and the appointment to the judiciary, and especially the Supreme Court, of judges who disagree with Roe. The first has not generated sufficient support ± the process for enacting a constitutional amendment is complex ± while the latter has made the question of the selection of judges, who are nominated by the President and appointed by the ªadvice and consentº of the Senate, one of enormous political significance. On the general question, see William Saletan, Bearing Right: How Conservatives Won the Abortion War, University of California Press 2003, and Marvin Olasky, Abortion Rites: A Social History of Abortion in America, Regnery Publishing, Inc., reprint edition, 1992. 16 Partial-Birth Abortion Ban Act of 2003, available at http://news.findlaw.com/ hdocs/docs/abortion/2003s3.pdf; Unborn Victims of Violence Act of 2004 (or Laci and Conner's Law) available at http://news.findlaw.com/hdocs/docs/abortion/un bornbill32504.html.

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Thirty years after Roe, the debate about abortion has shifted into a fresh mode. Time was when the chief focus of public disagreement centered on whether and at what point and for what purposes the product of human conception should be regarded as a ªhuman lifeº with moral weight. The many discontinuities in the human procreative and maturing process offered points at which it might be held either ªlife beganº or that the developing fetus could make a greater claim on the moral attention of the human community. Historically, the great point of discontinuity was held to be ªquickeningº, the point at which the mother becomes aware of movement on the part of the fetus. With our growing awareness of embryology, other points have suggested themselves ± such as implantation, the onset of brain activity, and viability ± the capacity of the child to survive outside the womb. Quickening we now know to be subjective; women often perceive it earlier in later pregnancies than their first ± though for centuries in English law, for example, it marked the point after which a woman could not be hanged. Viability has exercised a powerful pull on the imagination, though it is of course also in some degree subjective ± dependent on the level of medical care available to support the newborn, and to advances in neonatal skills. The development of an artificial womb ± on which research continues to progress after many decades ± will of course render it nugatory. The development of ultrasonic scans and intra-uterine video photography have combined to erode the significance of any such discontinuities, and to underline the radical continuity that pervades mammalian life from its biological beginnings to their end ± from fertilization through fetal growth and development, birth, infancy, childhood, adolescence, into maturity and finally old age. It is partly for this reason that the ªwhen does life beginº argument should be seen as a half-way house. The defense of elective abortion has begun to evacuate the ªcluster of cellsº defense, and to acknowledge that ªin some senseº the continuity of mammalian life in the human fetus and born child must be acknowledged17. While the pro-life movement might have expected this to lead to the abandonment of the abortion defense, its effect has be17 Prefigured, of course, in Judith Jarvis Thomson's celebrated ªviolinistº argument, which sought to defeat the pro-life argument on its own terms. Judith Jarvis Thomson, ªA Defense of Abortionº, in Philosophy and Public Affairs, Vol. 1, no. 1 (Fall 1971).

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gun to prove more sinister than could have been anticipated, since it has fueled the growing move to deny not that unborn life is human life, but that human life is sacred. The pre-eminent exponent of this position is the Australian philosopher Peter Singer, whose appointment to Princeton University caused a furore. Singer has been dubbed the world's most influential living philosopher, and there is no doubt that his highly controversial ideas represent the leading edge of contemporary opinion. Part of their power lies precisely in the fact that he gives rational shape to positions that have been held in a manner halfformed ± such as the defense of elective abortion. Singer does not deny that unborn life is human life. He simply denies that human life is sacred, and seeks another basis for the preservation of the lives of (most) born persons. For him, as for the pro-life movement, abortion and the infanticide of a handicapped newborn have the same moral force. While Singer's position on this as on other questions is controversial in the academic community and among those who defend elective abortion, its sheer rationality resonates with the common sense view that a ªfetusº is an unborn child; the view inevitably expressed by pro-choice women who have ªwantedº pregnancies and then talk unself-consciously of ªmy babyº. While Singer's candor is at one level to be welcomed, its fundamental denial of the sanctity of human life ± the ªdoctrineº of the sanctity of life, to quote the title of his colleague Helga Kuhse's book that attacks it18 ± takes the west one giant step in the direction of a systemic abandonment of its vision for human nature. Liberal abortion, like other historical evils such as slavery, has existed in tension with the idea of the imago Dei as the fundamental assumption of western anthropology. Singer's vision is for a new coherence in which that idea has been consigned to history. He sees the development of the doctrine of the sanctity of life as a mistake, to be contrasted with the acceptance of abortion, infanticide, and euthanasia on the part of many primitive tribal peoples. He seeks to unscramble the humane anthropology of our civilization. Singer's fundamental significance lies in his offering the most candid and influential critique of Judeo-Christian anthropology in 18 Helga Kuhse, The Sanctity-of-Life Doctrine in Medicine: A Critique, Oxford University Press 1987.

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our generation. In a context in which the direction of much recent bioethics has been to press various classes of human being to what I have elsewhere called the ªmarginsº of the human race19, such that the unborn, the severely disabled, those with dementia, those in a so-called ªpersistent vegetative stateº, come to partake of an ambiguous humanity, Singer moves to a more consistent and far more radical position. His basic contention is, in effect, to deny the possibility of anthropology; to be human, merely, is without significance. Rather than seek to qualify human nature with life-stages or competencies (as has been done in typical defenses of abortion and other taking of innocent life), Singer moves to deny the significance of human nature in itself, and at the same time absolutize the question of competencies, which he erects into a listing of (to use his term) ªmorally relevant characteristicsº. These ªcharacteristicsº include rationality, the capacity to communicate, self-consciousness, et al. Taken together they offer a useful summation of the qualities and competencies of mature and healthy human nature; indeed, they are derived from an induction of those things that we would generally take to be most characteristic of ªbeing humanº. That is what gives them, in his hands, their persuasive power. Who could deny that these ªcharacteristicsº are ªmorally relevantº? Yet the argument at this point depends on a logical sleight of hand. For ªcharacteristicsº in mature human flourishing that are plainly significant morally as well as otherwise are suddenly turned into necessary conditions for human dignity. We may celebrate these features of human maturity; it is something quite else to regard their denial as evidence of human absence. For if we acknowledge and celebrate them properly they will be seen as characteristically human, but conditioned precisely by the health and maturity of the subject that were the criteria employed for their selection. Singer's argument is therefore circular. His exclusion of other features and experiences that are typically human, and indeed morally relevant, such as infancy and age with their dependence, and handicap and sickness with their challenge to the caring community, destroys the credibility of a case that depends on reducing the human race to his selected group. 19 See my discussion in The New Medicine: Life and Death after Hippocrates, repr. Chicago: Bioethics Press, 2001, chapter 4.

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Singer moves on, having established his criteria, to a double use: both to exclude those who fail to possess them (hence his argument in favor of the killing of handicapped newborns as a parental choice), and to propose new-found dignity and a claim on ªpersonhoodº for intelligent sub-human creatures such as chimpanzees. Membership in the human race per se has ceased to have significance. Indeed, says Singer, to defend its intrinsic significance is to fall prey to ªspeciesismº, which on a par with racism elevates one group at the expense of others without moral justification. Singer's importance in the articulation of an anthropology for bioethics is hard to overstate, since he develops a position that is robustly antithetical to Judeo-Christian assumptions and thereby uniquely sheds light on their significance. His central charge of speciesism may be readily shown to be specious. The unique significance of human being is indeed illustrated by the ªmorally relevantº features to which he draws attention, though that does not offer a listing of necessary conditions for human dignity but rather a sampling of those aspects of human experience that the healthy, mature human being will evidence. They illuminate the kind of being we are, by showing how in maturity and with health human beings will flourish. This is that species which flourishes in this way rather than in other ways. Moreover, it is in fact Singer whose method closely parallels that of the racist. For the racist takes human beings ± the human race ± and on grounds that he or she considers ªmorally relevantº (skin pigmentation; ethnicity) determines that some members of this species shall be treated with human dignity while others shall not. The racist divides the human race down the middle, according to his or her own extrinsic criteria. That is exactly Singer's method. In dramatic contrast, traditional western anthropology, set forth in Enlightenment-driven statements such as the UN Universal Declaration of Human Rights, asserts the unity of humankind and the unique and abiding dignity of every individual human being.

Bioethics 2: Cloning and Genetics With cloning, we take the first decisive step across the line that separates the kind of beings we are from the kind of things we

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make; thus Homo sapiens, who has always been Homo faber, man the maker, turns his making on himself ± and in the sublimest of ironies in a single fateful act both elevates himself to the role of creator and degrades that same self to the status of a manufacture. The ambiguity of the clonal human, as both creature and product, Homo sapiens hijacked by Homo faber, moves us decisively toward what the posthumanists call the ªsingularityº ± that state they envisage in which the distinction between human being and manufactured being is over, and a seamless dress weaves together our humankind and what we have made. It anticipates the union of ªmechaº and ªorgaº20. As we move into Bioethics 2, we note that many questions do not sit tidily in one category or the other. In vitro fertilization, with its clutch of moral and clinical issue, straddles the two since it has generally operated on the principle that human embryos may be quality-tested, destroyed, and frozen. This may seem benign ± for example when enabling a couple to have their own children. Yet it may be used to enable plainly eugenic conceptions, whether through trade in sperm and eggs, the use of ªselective reductionº of the least attractive embryos in the petri dish, and, sometimes, supernumerary fetuses in the case of multiple conceptions. By the same token, the debate over human cloning, the harbinger of Bioethics 2 and one of the great issues to be confronted by the human race in this century, is a debate that resolves into two debates. It is, on the one hand, a debate about the manipulative creation of human life. But it has had the effect of awakening the American pro-life movement to the broader significance of biotechnology. Cloning for experimental research involves making and killing embryos, and cloning that is intended to lead to live birth would build on such research the hazards of experimental pregnancies. Near-universal opposition to live-birth cloning, and widespread agreement around the world that experimental cloning should not be permitted, together indicate that this is no re-run of the abortion debate. Moreover, energetic engagement in attempts to ban experimental cloning on the part of some pro-choice feminists and environmentalists illustrates the fresh turn this debate has 20 These useful terms are from Spielberg's movie AI Artificial Intelligence, generally memorable only for its special effects.

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taken.21 Their co-belligerency with the pro-life movement across the great abortion divide in American culture offers the ocular proof that the popular bioethics has undergone a sea-change with the move into Bioethics 2. In tandem, the pro-life movement, which is predominantly conservative in its political orientation, has begun to address questions that have generally been considered part of the ªprogressiveº agenda, including genetic discrimination and the reform of patent law.

The Patenting of Human Embryos A fascinating vignette of the interplay of bioethics, politics and culture may be seen in the short but vigorous debate on the question of patentability of human embryos. This fundamental ethical question had been of small interest to elite American bioethics, who have tended to uncritical support of whatever demands the emerging biotechnology industry has placed upon them. But it drew an unusual coalition of progressive and pro-life activists into energetic engagement with the biotechnology industry to secure legislative support for the protection of human embryos from patent claims. As in the case of cloning noted above, the administration joined the side of popular bioethics. The result was a benchmark congressional decision, and, perhaps more important, a move by the pro-life movement into questions of intellectual property. In July of 2003, Representative Dave Weldon (Republican) whose bill to ban human cloning for any purpose has twice passed the House, offered an amendment to the 2004 Commerce/Justice/ State Appropriations bill which stated, ªNone of the funds appropriated or otherwise made available under the act may be used to issue patents on claims directed to or encompassing a human organismº22. As the United States Patent and Trademark Office (PTO) cannot issue patents apart from funds allotted during the appropriations process, the amendment essentially functioned as a 21 This collaboration is now focused, here in the US, in the Institute on Biotechnology and the Human Future, at the Illinois Institute of Technology (www. thehumanfuture.org). 22 Consolidated Appropriations Act of 2004, Pub. L. No. 108±199, 118 Stat. 3, Division B, Title VI, Section 634 (2004).

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ban on the patenting of human organisms as products of cloning or any other biotechnological patented process. While hailing the great benefits in health and knowledge that accrue to society through biotechnological advances, Weldon cautioned that the precipitous pace of developments coupled with the activity of ªrogue scientistsº who will not place ethical restraints upon their research demands the collective action of civilized society. Weldon cited as example the report presented before the European Society of Human Reproduction and Embryology of the creation and subsequent growth for six days of the first male-female hybrid human embryos-research almost universally condemned as unnecessary and unethical. The researcher in this instance reportedly indicated intent to obtain a patent for his human hybrid product. Noting that the monopoly of patent protection once granted lasts for 20 years, Weldon asserted that Congress should take immediate action to ensure that our nation would not bestow upon this researcher or others like him an opportunity to gain financially by an ªexclusive right to practice such ghoulish researchº23. Weldon called upon Congress to affirm the existing, bipartisan policy of the PTO against granting patents on human beings at any stage of development under24. He reassured his colleagues that the amendment would not bear upon stem cell research or gene patenting and delineated the subject matter prohibited from patentability to be ªhuman organisms, human embryos, human fetuses or human beings.º The trade association of the biotechnology industry, the Biotechnology Industry Organization (BIO), initially opposed the amendment. Its cognate advocacy group the Coalition for the Advancement of Medical Research (CAMR) sent out alerts to the parents of children with devastating diseases25 encouraging them to contact their legislators and warning them that the amendment may prevent development of treatments for their diseases ± including ªcancer, Alzheimer's, diabetes, Parkinson's, spinal cord injuries, heart disease, ALS, and other debilitating conditionsº26. Four 23 109 Cong. Rec. H7274 (daily ed. July 22, 2003) (statement of Representative Weldon). 24 35 U.S.C. § 101 (2004). 25 Doerflinger, Richard, ªCongressional Impasses on Human Cloningº, LifeIssues.net: Clear thinking about crucial issues, available at http://www.lifeissues.net/ writers/doer/doer_01congresscloning.html last visited July 20, 2004. 26 Stem Cell Action Alert, ªIs Your Senator a Swing Vote?º CAMR Sent 11/19/ 03 (on file with author).

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primary reasons for objection to the amendment were cited: 1) the absence of a definition for the phrase ªhuman organismº would preclude many biotechnology inventions and impede the development of life saving products; 2) investment and research would halt; 3) the language is unnecessary as the PTO maintains an administrative policy not to issue patents on humans; and 4) the amendment would preclude patents on ªan organism of human species at any stage of development produced by any method, a living organism made by human cloning, and a process of human cloning.º In addition, BIO feared the possible ramifications of dealing with ethical concerns through proscribing certain subject matter to be outside the scope of patentability.27 Finally, BIO concluded by noting that the PTO justifies its policy under the Constitutional prohibition against slavery and involuntary servitude present in the Thirteenth Amendment with the implication that the same constitutional prohibition would also be found by the courts should the policy be challenged in a legal action28. The administration joined the debate by issuing a letter from USPTO director James Rogan that welcomed the amendment as offering support to existing internal PTO policy. The amendment was easily passed by the House, and despite serious opposition in the Senate generated by lobbying on the part of the biotechnology industry it was passed.

The Human Future In his famous jeremiad, ªWhy the Future doesn't Need Usº29, Bill Joy, co-founder of Sun Microsystems, claims that genetics, robotics, and nanotechnology are the three great threats to the human race in the 21st century. Through some mixture of accident and intent they are likely to destroy the human species, or sup27 ªNew Patent Legislation Sets Dangerous Precedent and Stifles Researchº Biotechnology Industry Organization, at pages 1±2, available at http://www.bio.org/ip/ cloningfactsheet.asp. 28 U.S. Const. amend. XIII. ªNeither slavery nor involuntary servitude, except as a punishment for crime whereof the party shall have been duly convicted, shall exist within the United States, or any place subject to their jurisdictionº. 29 Wired magazine, April 2000; available at Wired.org.

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plant it, through some biological or mechanical meltdown or through the triumph of machine intelligence. One does not need to buy the whole thesis to acclaim his comprehensive framing of the issues. And at the heart of this secular analysis lies what Christians recognize as a single theological issue: the threat to human nature that is posed by fallen human creativity; the dominion mandate from Genesis 1 to ªsubdue the earthº divorced from its Biblical context ± human dignity made in the image of God. The Bioethics 2 agenda is therefore focused on the use of technology to control, design, and perhaps improve human being at the fundamental level of genetics. While in the context of the prolife movement, in which the protection of human life is paramount, it might seem of lesser significance to be concerned with the possibility of interventions that do not destroy life, there is emerging a fresh paradigm in which it is recognized that taking a human life made in God's image may not in fact be as serious, in his eyes, as making a human being in our own. Incremental technological interventions in the process of human procreation that began with artificial insemination and, subsequently, in vitro fertilization and its variants, will encompass increasingly sophisticated capacities. ªGenetic engineeringº, the blanket term used to cover interventions that make changes at the genetic level, has already begun to have limited clinical applications. While genetic alterations that benefit the individual by curing disease are to be welcomed, changes that produce ªenhancementsº will also be possible; and, most important of all, inheritable changes ± changes in the germline that will affect the genetic constitution of every subsequent human being in that family ± will offer the ultimate challenge to humankind, whether we should seek to ªimproveº our human nature and take control over the kind of beings that we are. It was of this possibility that C. S. Lewis wrote, with extraordinary prescience, in his essay ªThe Abolition of Manº, in which he foresaw ªman's final triumph over natureº in our triumph over own nature. Yet he asks the question, who has won? And he suggests that what appears to be ªman's triumph over natureº is in fact ªnature's triumph over manº. By taking control of our own nature, we are subjecting ourselves to ourselves and turning ourselves into something that we can control and dominate. The general who rides in the triumphal procession is one and the same with the slave he pulls behind him30.

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There can be no doubt that the question of the integrity of human nature will soon emerge as the greatest issue to have been faced by humankind; and the greatest threat. For biotechnology will deliver into our hands a capacity to alter what it means to be human. Together with the immediate question of human cloning, the prospect of genetic interventions intended to enhance our power over our children and the future of the human race indicate the manner in which developments in biotechnology have raised the stakes for the human race.

Bioethics 3: a Posthuman Future? And beyond genetics we already see advances in nanotechnology and cybernetics that offer a vision of human nature radically enhanced. The terms ªposthumanistº and ªtranshumanistº have been coined by advocates of a reconstructed human nature in which the ªcyborgº (ªcybernetic organismº), a human-robotic amalgam, takes the place of humankind. While much of the research in these areas of science and technology may have benign purposes, and indeed the prospect of vast benefit to humankind, there has been little discussion within the church of its potential significance in the reshaping of human nature. The questions raised by these technologies for human dignity are precisely parallel to those focused by developments in human genetics, and there is reason to believe that some of the applications of the Bioethics 3 technologies will raise ethical and policy issues for the human race well before genetics develops the capacities to re-shape our nature.

The President's Council on Bioethics During the opening months of 2001 the question of embryonic stem cell research emerged as the dominant issue in American politics. It re-emerged in full force in the election campaign of 2004, 30

C. S. Lewis, ªThe Abolition of Manº, first published 1943, various editions.

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when in a speech to the 2004 Democratic National Convention, Ron Reagan, Jr., son of the late Republican President, made a forceful case for research or ªtherapeuticº cloning, describing in detail how it could work, though without once using the term. While the Bush administration has favored a statutory ban on human cloning for all purposes, its policy on embryonic stem cell research has been focused on federal research funding, in the context of the Dickey Amendment, a prohibition on any use of federal funding for research on human embryos that has been passed by Congress every year. In his first televised broadcast to the American people, on August 9, 2001, President Bush responded to public and political debate by announcing that for the first time federal funds would indeed be used to support research on human embryonic stem cells. However, funding would be limited to ªexisting stem cell linesº as of that date, ªfor whom the life and death decision has already been made.º No federal funds would be used for stem cell lines derived from newly destroyed embryos; the creation of any human embryos for research purposes; or cloning of human embryos for any purposes31. We have noted that, prior to President Bush's speech, no federal funds had been used to support research on stem cells derived from human embryos, though in some very limited cases research had been supported through private funding32. The televised speech culminated in the announcement by the President of the formation of the President's Council on Bioethics (PCOB) to evaluate the ethical implications of biomedical innovation, with Leon Kass, a distinguished scientist and scholar who had written widely on bioethics, as its chairman33. 31 President's embryonic stem cell research policy, Fact Sheet, White House, Office of the Press Secretary, August 9, 2001, http://www.whitehouse.gov/news/ releases/2001. 32 This has involved the use of ªspareº embryos. A furor resulted when, in July 2001, the Jones Institute for Reproductive Medicine, located in Norfolk, Virginia, announced that it had created human embryos through IVF for the specific purpose of deriving human embryonic stem cells. In January 2002, Dr. Gibbons announced that although the Jones Institute intends to continue to study stem cells, because of political pressure it will no longer recruit human egg donors in order to produce stem cells. Sheryl Gay Stolberg, ªScientists Create Scores of Embryos to Harvest Cellsº, in The New York Times, July 11, 2001, pp. A1, A15; Deborah Josefson, ªEmbryos created for stem cell researchº, in British Medical Journal, v. 323, July 21, 2001. p. 127. 33 In July 2002, the Council released its report on human cloning, which unanimously recommended a ban on ªreproductive cloningº and, by a vote of 10 to 7, a

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The American bioethics community was convulsed by this appointment. More than one body of this kind had been appointed by previous presidents, most recently the National Bioethics Advisory Commission (NBAC) which served President Clinton. But previous bodies had consisted largely of academics in bioethics and related areas, and been essentially representative of the elite ªbioethics communityº and its supportive academy. The chairman of the NBAC was Harold Shapiro, President of Princeton University. The PCOB's membership did not include anyone know as a mainstream member of the elite bioethics community, though several members ± including Kass ± had published widely on ethical issues in medicine and the life sciences. Press comment on the Council dismissed it as an ultra-conservative body, though its membership was diverse and it was deeply divided on the key question of cloning embryos for research (by a majority, it recommended a 4-year moratorium, and thereby distinguished itself at the outset from the policy position of the administration, which was to favor a ban). Perhaps the most interesting feature of the Council was its reaching back to the days before ªbioethicsº emerged as a quasi-professional specialization. Its subject-matter was bioethics, but its members were mostly scientists, legal scholars, and philosophers. It is unsurprising that this did not commend itself to the bioethics elite, who considered they had been bypassed by the administration. The reports of the Council have been highly distinctive. Recently, a volume was devoted to addressing the question of technology and the human condition. Their report, Beyond Therapy34, sets out a comprehensive reflection on the move from ªtherapyº to ªenhancementº in the new technologies. Their point of departure is the ªtherapy/enhancementº dichotomy, though they recognize its problems. They set out the agenda in these terms: We want better babies ± but not by turning procreation into manufacture or by altering their brains to give them an edge over their peers. We want to perform better in the activities of life ± but not by becoming mere creatures of our chemists or by turning ourselves into tools designed to win or achieve in inhuman ways. We want longer lives ± but not at the 4-year moratorium on cloning for medical research purposes. In January 2004, the Council released its second report, Monitoring Stem Cell Research. 34 Beyond Therapy: Biotechnology and the Pursuit of Happiness, Report by the President's Council on Bioethics, Oct. 2003.

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cost of living carelessly or shallowly with diminished aspiration for living well, and not by becoming people so obsessed with our own longevity that we care little about the next generations. We want to be happy ± but not because of a drug that gives us happy feelings without the real loves, attachments, and achievements that are essential for true human flourishing35.

As this quotation demonstrates, the approach, and style, of the report is very different from the autonomy-focused proceduralism of the mainstream bioethics elite. There is an intentional ambivalence in each of these statements, since while something in each of us would seek the end without regard for the means, in most of us there is a stronger intuition that declares the means to be central to the proper attainment of the end. We reflect on the stories of the heroic and the defiant that we wish our children to read, on the lives of courage and accomplishment that we seek for them. We muse on the accolades that we covet for ourselves. We discover that whatever our religious or nonreligious understanding of the world, whichever location we find for ourselves on the cultural spectrum, and whether we tend to favor or suspect the latest in technology, there is in most of us a hard core of commonality. We admire striving; we despise those who cheat; we applaud the extraordinary achievements of those who triumph over adverse and desperate circumstances; we seek an understanding of our own lives in heroic terms, as those who might one day be said to have fought the good fight, and kept the faith ± whatever that faith may have been. We touch bottom in a common acknowledgement of what it means to be human, and for all our diversity we grasp human greatness when we see it.

The Council's report continues: In enjoying the benefits of biotechnology, we will need to hold fast to an account of the human being, seen not in material or mechanistic or medical terms but in psychic and moral and spiritual ones. As we note in the Conclusion, we need to see the human person in more than therapeutic terms: as a creature ªin-betweenº, neither god nor beast, neither dumb body nor disembodied soul, but as a puzzling, upward-pointing unity of psyche 35

Id. at xvii.

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and soma whose precise limitations are the source of its ± our ± loftiest aspirations, whose weaknesses are the source of its ± our ± keenest attachments, and whose natural gifts may be, if we do not squander or destroy them, exactly what we need to flourish and perfect ourselves ± as human beings.

And the Council go back to Aldous Huxley's Brave New World as their point of reference, with their intuition that the naïve predictions of bliss that will result from an unfettered application of these new technologies will come unstuck in ªthe humanly diminished world portrayed in Aldous Huxley's novel Brave New World, whose technologically enhanced inhabitants live cheerfully, without disappointment or regret, enjoying' flat, empty lives devoid of love and longing, filled with only trivial pursuits and shallow attachmentsº36.

The Future of American Bioethics The Kulturkampf at the heart of contemporary American society is nowhere more evident than in the cleavage between elite academic bioethics and the grassroots values in defense of human life and human nature that are widely held by the people. One of the many unintended consequences of Roe v. Wade, in removing abortion policy from the routines of political debate, has been to grant this question a strategic significance across the political landscape. The determination by the Supreme Court that what is to many Americans the leading question of bioethics is not susceptible of general resolution but rather a private matter for individual women both articulated and exemplified a retreat from substantive ethical discussion into proceduralism. A radically pluralist understanding of society and an autonomy-focused approach to decision-making have coalesced into a social model of bioethics in which, beyond the protocols of privacy, there are no ethical solutions because, as it were, they are not methodologically possible. As feminist historian Tina Stevens asks in her stimulating cultural assessment, Bioethics in America, ªupon what basis and how often does bioethics, as an institutional force, ever recommend prohibit36

Id. at 7.

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ing (as opposed to delaying) the practice or further development of any new biomedical procedure?º She sees the key function of bioethics as essentially enabling new technologies and new approaches. ªArguably, the predictable process of recommending delay until guidelines can be developed has worked to stifle vigorous examination of issues that can be generated most successfully when prohibition is a believable threat. Bioethics may ultimately be successful in helping alleviate national anxieties about the right to die or in midwifing developments as disturbing as the cloning of a human being.º ªBut,º she asks, ªwill it be able to free itself from the sources that help generate the dilemmas it seeks to resolve?º37 That is, if the function of elite bioethics ± whatever may be the motivation of some, at least, of its practitioners ± has been to market new approaches and new technologies to the American public, it has become the creature of technologies and moral novelties; and its themes of autonomy and privacy, while staving off moves to prohibit or fundamentally constrain new developments, have no claim to be grounded in ethics than any other relativistic principle. In fact, the power of bioethics to persuade depends on the illusion that it is something other than it has become ± that is it what would conventionally have been seen as an exercise in ethics, a critical discipline, the kind of context in which prohibitions are always possible; such that its role in approving new approaches and urging regulation is logically dependent in the public mind on a capacity to disapprove that has proved ephemeral and illusory. To that degree the credibility, and therefore the utility, of bioethics in American society may prove short-lived. The dramatic political challenges to its status in the first years of the 21st century have increasingly cast it in controversial cultural role, and undercut, perhaps fatally, its capacity to serve as cultural broker in whatever issues of new technology and values lie ahead. It is hard to avoid the conclusion that American bioethics has failed abjectly as the pretended arbiter of new biotechnologies in an uncertain culture that nonetheless clings to its religious-moral identity and when confronted with their fresh possibilities seeks arbitration. While its practitioners may have had many motives 37 M. L. Tina Stevens, Bioethics in America: Origins and Cultural Politics, Baltimore: Johns Hopkins, 2000, at 159.

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Nigel M. de S. Cameron

and concerns, the function of bioethics in the past thirty years has been to commend new technologies to a suspicious public, and aid their adoption. This has been accomplished by a mix of straightforward advocacy, in which ªbioethicistsº are hired as consultants and spokespersons, and much more subtle activities with more profound consequences. The ªethicsº in bioethics has been generally reduced to a combination of hand-wringing, safety concerns, and focus on due process questions for individuals confronted with whatever the new technology may be. The reductio ad absurdum of American bioethics is found in the National Bioethics Advisory Commission's much-heralded report on cloning, produced in 1997 in response to a high-profile presidential demand for a report within 90 days38. While NBAC worked hard and took an unusual tack in spending much of its time engaging with religious approaches to cloning (which, of course, were conveniently to be found on both sides of the issue), its final product, after the statutory hand-wringing, was a recommendation that there be a brief moratorium on cloning for the purpose of making babies on safety grounds, as good an example as we are likely to find of Horace's famous saying about the mountains being in labor and bringing forth a ridiculus mus.

38 National Bioethics Advisory Commission, Cloning Human Beings, 1997, available at http://www.georgetown.edu/research/nrcbl/nbac/pubs/cloning1/executive. htm.

Bioethik im Kontext von Naturwissenschaft und Medizin

Hans-Werner Denker (Essen)

Totipotenz ± Omnipotenz ± Pluripotenz. Ausblendungsphänomene in der Stammzelldebatte: Indikatoren für den Konflikt zwischen Norm- und Nutzenkultur? Einleitung Die Debatte über Zulässigkeit der Forschung an frühen menschlichen Embryonen und an menschlichen embryonalen Stammzellen hat bisher erstaunlicherweise die Diskussion eines Kernproblems weitgehend ausgeklammert: die Frage nach dem Status frühembryonaler Zellen/Stammzellen. Aufgrund von Publikationen der jüngeren Zeit (Therapeutisches Klonen: Hwang et al. 2004; Bildung von Keimzellen und deren Vorstufen in der in-vitro-Kultur von Stammzellen: Hübner et al. 2003, Toyooka et al. 2003, Geijsen et al. 2004) kann eine Diskussion dieser Fragen aber nicht weiter hinausgezögert werden. In diesem Zusammenhang ist es auch nicht länger verantwortbar, einige andere, schon lange bekannte Sachverhalte weiterhin in der Diskussion unberücksichtigt zu lassen: die Möglichkeit, aus embryonalen Stammzellen (ES-Zellen) durch die ¹tetraploide Komplementierungª nach Nagy et al. (1993) Embryonen zu klonen, und auch Befunde über autonome Selbstorganisationsprozesse in Kulturen von ES-Zellen (Weiûbüscheläffchen, Thomson et al. 1996). ES-Zellen sind Zellen besonderer Art: Dies betrifft ihre Herkunft (Embryonen-¹Verbrauchª), aber auch ihre Differenzierungsund Entwicklungspotenzen: Totipotenz i. e. S., Omnipotenz oder Pluripotenz? Obwohl ES-Zellen häufig als pluripotent bezeichnet werden, gibt es gute Gründe, sie als totipotent (i. e. S. oder i. w. S. = omnipotent) einzustufen (Denker 2000, 2002, 2003b, 2004a): Da

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ES-Zellen aus dem Embryoblasten (von Blastozysten) gewonnen werden, scheinen sie auch dessen Differenzierungs- und Entwicklungsfähigkeiten weitgehend beizubehalten (je nach Zellinie in etwas unterschiedlichem Ausmaû). Dies sind, abgesehen von der häufig erwähnten Bildung verschiedener Zelltypen (die für Transplantationszwecke in der Medizin von Interesse sein könnten): 1. Autonome frühembryonale Musterbildungsfähigkeiten (Körpergrundgestalt) (ES-Zellen des Weiûbüscheläffchens in vitro: Thomson et al. 1996); 2. Bildung eines kompletten, lebens- und fortpflanzungsfähigen Individuums aus ES-Zellen bei der ¹tetraploiden Komplementierungª nach Nagy et al. (1990, 1993); 3. Bildung von Keimbahnzellen/Keimzellen (Eizellen, Spermienvorstufen) in vitro eventuell einschlieûlich Parthenogenese (Hübner et al. 2003, Toyooka et al. 2003, Geijsen et al. 2004). Diese Besonderheiten stellen ES-Zellen entwicklungsbiologisch betrachtet denjenigen Zellen sehr nahe, aus denen in der Embryonalentwicklung der Embryonalkörper i. e. S. (¹embryo properª) entsteht, d. h. der Zellgruppe, in der die entwicklungsbiologischen Prozesse der Individuation ablaufen. Vielleicht sind ES-Zellen sogar als prinzipiell identisch mit diesem ¹Embryo-Bildungsgewebeª anzusehen, und die Realisierung ihrer Potenz (i. e. S.) hängt nur von Umgebungsbedingungen/Kulturbedingungen ab (diskutiert in: Denker 2000, 2004a). ES-Zellen muû daher ein besonderer Status und auch ein besonderer Schutzanspruch zugebilligt werden. Hieraus ergeben sich Forderungen an die Legislative und die Forschungspolitik: Für die Legislative stellt sich die Aufgabe, besondere gesetzliche Bestimmungen nicht nur für Erzeugung/Import von menschlichen ES-Zellen zu erlassen (wie z. B., in durchaus problematischer Weise, im Stammzellgesetz [StZG] geschehen), sondern auch für den Umgang mit ihnen unter PotenzstatusAspekt. Da wir aufgrund der vorliegenden, allerdings begrenzten Informationen Anlaû haben davon auszugehen, daû nicht alle ESZellinien das gesamte Spektrum der o.g. ethisch problematischen Eigenschaften zeigen (Nagy et al. 1993; weitere Lit. s. u.), ergibt sich die Frage, ob die Zulässigkeit des Umgangs mit ES-Zellen unter dem Potenzaspekt je nach Zellinie unterschiedlich gesehen werden sollte (Kann der Umgang mit und die Verbreitung von solchen menschlichen ES-Zellinien, aus denen durch tetraploide Komple-

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mentierung Menschen geklont werden könnten, zugelassen werden?). Für die Forschungspolitik ergibt sich die Forderung, gezielt Arbeiten zu fördern, die durch experimentelle Untersuchungen an (nichtmenschlichen) Primaten-ES-Zellen versuchen, die Frage zu klären, ob die Zellen eine autonome frühembryonale Musterbildungsfähigkeit (Totipotenz i. e. S.) besitzen oder die Potenz zu einer assistierten Embryobildung im Sinn der tetraploiden Komplementierung. An menschlichen ES-Zellen verbieten sich solche Untersuchungen, da sie auf das Klonen eines menschlichen Embryos hinauslaufen würden.Wichtig wäre die Erarbeitung eines Kriterienkatalogs (¹Totipotenztestª in erster Näherung), der es gestatten könnte, anhand von molekularbiologischen Daten, ohne Erzeugung einer realen Embryo-Anlage, menschliche ES-Zellinien daraufhin zu untersuchen, ob bei ihnen die Möglichkeit besteht, daû sie unter bestimmten experimentellen Bedingungen (auch ¹akzidentellª) harmonische Embryonalanlagen bilden könnten. Solche Untersuchungen sind bislang nicht im Fokus der Forschung, da sich diese auf die Differenzierung von verschiedenen Zelltypen zur Verwendung in der Zellersatztherapie konzentriert. Angesichts der groûen öffentlichen Aufmerksamkeit, die der Stammzellforschung gewidmet wird, angesichts der Hoffnungen, die viele bezüglich eines Spin-offs insbesondere der ES-Zell-Forschung haben, und angesichts der erheblichen Mittel, die hier investiert werden, ist es erstaunlich, daû keine Anstrengungen erkennbar sind, die angesprochenen ethischen Probleme durch gezielte Forschungsförderung anzugehen. Daû diese Aspekte und die sich daraus ergebenden Schluûfolgerungen praktischer Art im Rahmen der Ethikdebatte in Deutschland nicht schon zu einem früheren Zeitpunkt von der Majorität der Öffentlichkeit und der an der Gesetzgebung Beteiligten gesehen worden sind (etwa im Rahmen der Formulierung des Stammzellgesetzes), muû erstaunen. Es stellt sich die Frage, inwieweit dieses Phänomen abhängt von: der angefragten Fachkompetenz; dem politischen Willen, das verfügbare Wissen zu kommunizieren; historischen Gegebenheiten des Landes; kultur- und geistesgeschichtlichen Hintergründen (dem Vorherrschen pragmatisch-utilitaristischer oder deontologischer Denktraditionen) bzw. vom Ausprägungsgrad der Fähigkeit und vom Willen, mit den genannten verschiedenen Denktraditionen in dialogischer Weise ergebnisoffen umzugehen.

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Die Potenz von embryonalen Stammzellen ± immer noch ein Streitobjekt Die Ergebnisse wissenschaftlicher Arbeiten an frühen menschlichen Embryonen und an embryonalen Stammzellen (ES-Zellen) geraten immer wieder in die Schlagzeilen der Presse. Allein dies ist ein Anzeichen dafür, daû es sich um ein offenbar immer noch unbewältigtes Problem handelt. Erhebliches Aufsehen erregt haben die eingangs erwähnten Nachrichten über Versuche zur Herstellung menschlicher ES-Zellen durch ¹therapeutisches Klonenª in Korea (Hwang et al. 2004) oder auch die Beobachtungen über die Bildung von Keimzellen oder Keimzellvorstufen aus ES-Zellen in der in-vitro-Kultur (Hübner et al. 2003, Toyooka et al. 2003, Geijsen et al. 2004). Die Enquete-Kommission ¹Ethik und Recht der modernen Medizinª des Deutschen Bundestags hat dieses erfreulicherweise im Dezember 2003 zum Anlaû genommen, mit Unterstützung geladener Experten die Begriffe Totipotenz und Pluripotenz zu durchleuchten und die Frage nach eventuellem Bedarf an gesetzgeberischen Maûnahmen, in Ergänzung zum Embryonenschutzgesetz (ESchG) und zum Stammzellgesetz (StZG), zu erörtern. Als Begründung für diese Wiederaufnahme des Themas wird von der Enquete-Kommission ausgeführt, daû ¹insbesondere der Begriff der Totipotenz, der sowohl im ESchG als auch im StZG eine entscheidende Rolle spielt, wieder verstärkt in Frage gestelltª werde. ¹So wird z. B. gesagt, der Begriff der Totipotenz sei ungeeignet als Abgrenzungskriterium für moralische und normative Sachverhalte, weil die Totipotenz herstellbar, manipulierbar und nicht beweisbar seiª (Deutscher Bundestag 2003). Auch werde geäuûert, daû ¹. . . jede beliebige Körperzelle, die man zum Klonen mittels Zellkerntransfer in eine entkernte Eizelle verwenden kann (Dolly-Verfahren), im Grundsatz als totipotent . . .ª angesehen werden müsse. ¹Von Seiten derjenigen, die die geltenden Regelungen zum Embryonenschutz ohnehin als Hemmschuh für die wissenschaftliche Entwicklung ansehen, . . .ª werde ¹. . . teilweise sogar gefordert, das Stammzellgesetz und Teile des ESchG nun aufzuheben, da nach den Entdeckungen von Hübner/Schöler et al. die Stammzellforschung in Deutschland nunmehr in toto als verboten angesehen werden müsseª.

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Aus meiner Sicht ist hierzu folgendes zu sagen: Dem Argument, daû der Begriff der Totipotenz ungeeignet sei als Abgrenzungskriterium für moralische und normative Sachverhalte, weil die Totipotenz herstellbar, manipulierbar und nicht beweisbar sei, muû man entgegen halten, daû die Wissenschaftler auf den Begriff Totipotenz oder einen äquivalenten Begriff weder werden verzichten können noch wollen. Man wird daher mit ihm oder entsprechenden Begriffen, ggf. nach Präzisierung, arbeiten müssen. Tatsächlich wird allerdings der Begriff Totipotenz von verschiedenen Autoren zur Beschreibung unterschiedlicher Sachverhalte verwendet. Ihn auf Zellkerne zu beziehen, wie es in der Literatur gelegentlich geschehen ist, lehne ich ab: Nur eine ganze Zelle hat irgendeine Potenz, und was im Kern geschieht (die Ablesung der Gene) wird in Abhängigkeit vom umgebenden Zytoplasma reguliert. Inzwischen ist man auch weitgehend dazu übergegangen, beim Kerntransfer in eine Eizelle (Schaf-Dolly-Verfahren; ¹therapeutisches Klonenª) von der Umprogrammierung des Zellkerns zu sprechen. Es bleibt der Begriff der Totipotenz von Zellen. Dieser wird von unterschiedlichen Autoren verschieden definiert; dem sich hier stellenden Problem kann man aber, wie ich vorgeschlagen habe, dadurch beikommen, daû man eine Totipotenz im engeren Sinne (dem Sinngehalt des Embryonenschutzgesetzes, EschG, entsprechend) von einer Omnipotenz (Totipotenz im weiteren Sinn) unterscheidet (Denker 2002): · Totipotenz (i. e. S.): Fähigkeit zur Bildung aller Zellarten des Körpers plus Fähigkeit zur Selbstorganisation, d.h. Bildung eines lebensfähigen Individuums · Omnipotenz (Totipotenz i. w. S.): Fähigkeit zur Bildung aller Zellarten des Körpers, aber nicht zur Selbstorganisation (oft irreführend als ¹Pluripotenzª bezeichnet) · Pluripotenz/Multipotenz: Fähigkeit zur Bildung vieler (aber nicht aller) Zellarten des Körpers. Daû ¹Totipotenz herstellbar, manipulierbar und nicht beweisbarª sei, kann nicht als Argument überzeugen, wenn die Argumentation sich auf Statusaspekte (und nicht nur auf utilitaristische Gesichtspunkte) bezieht, d.h. wenn man dem Potenzstatus der ESZellen eine Bedeutung hinsichtlich der ethischen Fragen, die der Umgang mit ihnen aufwirft, zuordnet. Das Statement ist im übrigen so nicht korrekt: Im strengen Sinne herstellbar ist Totipotenz (heute noch) nicht; sie ist beim Austausch des Genoms wie z. B.

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beim Kerntransfer in eine Oozyte (Schaf-Dolly-Verfahren) lediglich aufrechterhaltbar (s. o.: Potenz einer Zelle vs. ¹Potenzª eines Zellkerns). Die Nicht-Beweisbarkeit gilt (aus ethischen Gründen) nur beim Menschen; hier wäre aber ersatzweise in erster Näherung die Untersuchung an nicht-menschlichen Primaten heranzuziehen. Das Argument ist daher äuûerst schwach. Zur zweiten der von der Enquete-Kommission aufgeworfenen Fragen (Deutscher Bundestag 2003): ¹Der Begriff der Totipotenz (sei) als Abgrenzungskriterium bereits deshalb . . . überholt, weil man andernfalls jede beliebige Körperzelle, die man zum Klonen mittels Zellkerntransfer in eine entkernte Eizelle verwenden kann (Dolly-Verfahren), im Grundsatz als totipotent ansehen müsse.ª

Hierzu ist aus meiner Sicht folgendes zu sagen: Dieses Statement verwendet einen aus entwicklungsbiologischer Sicht inakzeptablen Begriff der Totipotenz (s. o.), indem sie ihn auf den Zellkern und nicht auf eine ganze Zelle bezieht. Zellkerne können durch Übertragung in ein Eizellzytoplasma umprogrammiert werden. Totipotenz besitzt nur das komplette System aus Zellkern und Zytoplasma, und die Kerntransferexperimente belegen bisher eindeutig, daû dem Eizellzytoplasma eine besondere Bedeutung zukommt: Es konnte bisher nicht durch das Zytoplasma einer anderen Körperzelle ersetzt werden. Niemandem ist bisher gelungen, eine totipotente Zelle durch Transfer irgendeines Kerns in das Zytoplasma einer anderen Zelle auûer einer Oozyte oder Zygote zu erzeugen. Es erscheint aber immerhin denkbar, eines Tages Wege zur gezielten Umprogrammierung im Sinn der Erzeugung von Omnipotenz (Totipotenz i. w. S.) zu finden. Das Oozytenzytoplasma vermittelt jedoch darüber hinaus auch Strukturvorgaben für die frühembryonale Musterbildung (Achsensysteme, Totipotenz i. e. S.) (Diskussion der aktuellen entwicklungsbiologischen Konzepte in: Denker 2004a). Sollte es eines Tages möglich sein, solch ein vorstrukturiertes ¹synthetischesª Eizellzytoplasma-¾quivalent (mit den Strukturvorgaben für Achsensysteme, plasmatischen Faktorenbereichen) zu erzeugen, das dann durch Komplettierung mit einem (beliebigen?) Zellkern Totipotenz i. e. gewinnen könnte, so sollte gerade das Potenzargument die wesentliche Handhabe bieten, Gesetzesnormen zu schaffen, die das (reproduktive) Klonen von Menschen auf dieser Basis verbieten. Allerdings wird man dem angerissenen Problemkreis nicht ausreichend gerecht, wenn man nur auf die

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Frage fokussiert, ob und unter welchen Bedingungen (durch Manipulation des genetischen Materials oder des Zytoplasmas oder beider) Totipotenz herstellbar sein kann, und daû dies natürlich Ansätze zur gesetzgeberischen Steuerung bieten könnte (wie z. B. Jens Reich argumentiert, 2004). Das soll im Folgenden illustriert werden anhand von durchaus bekannten, aber bisher viel zu wenig diskutierten Fakten bezüglich der Bildungsfähigkeiten von ES-Zellen.

Klonen von Embryonen durch tetraploide Komplementierung von ES-Zellen Das Verfahren der ¹tetraploiden Komplementierungª ermöglicht es, aus ES-Zellen der Maus normale Embryonen und aus diesen lebens- und fortpflanzungsfähige Mäuse zu erzeugen (Nagy et al. 1990, 1993; Schwenk et al. 2003), ohne etwa den Weg über einen Zellkerntransfer in eine entkernte Eizelle gehen zu müssen. Kernpunkt des Verfahrens ist, daû man eine Gruppe von ES-Zellen durch Hilfszellen ergänzt; dies sind Blastomeren (Furchungszellen) aus anderen Embryonen, die durch eine Vorbehandlung (z. B. Zellfusion) einen vierfachen Chromosomensatz haben. Die Vorbehandlung der Hilfszellen sorgt dafür, daû deren Differenzierungsspektrum eingeschränkt wird und sie sich nur an der Bildung extraembryonaler Zellarten (z. B. Trophoblast) beteiligen, d.h. im wesentlichen als Hilfszellen für die Implantation des ¹synthetischenª Embryos im Uterus wirken (zur Diskussion vgl. Denker 1999, 2000, 2002). Unter ethischem Aspekt ist der wesentliche Gesichtspunkt an der tetraploiden Komplementierung, daû nach diesem Verfahren in einem einzigen Schritt Lebewesen hergestellt werden können, die vollständig aus ES-Zellen hervorgegangen sind. Daû die tetraploide Komplementierung bei der Maus erfolgreich durchgeführt werden kann, gehört zum gesicherten Stand der Forschung; das Verfahren wird weltweit in vielen Labors im Rahmen molekulargenetischer Untersuchungen (Erzeugung transgener Mäuse) eingesetzt. Von daher ist es erstaunlich, daû die tetraploide Komplementierung in der Ethikdiskussion über ES-Zellen bis vor kurzem keine Rolle gespielt hat (abgesehen von wenigen Publikationen, z. B. Denker 1999, 2000, 2002). Die Tatsache, daû die tetraploide Komplemen-

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tierung bei der Maus den Einsatz von Hilfszellen erfordert, wird von manchen Autoren als Argument dafür verwendet, daû sich hier keine Totipotenz (i. e. S.), sondern nur eine Omnipotenz (¹Pluripotenzª) zeige (z. B. Beier 2002; Ganten 2003). Unter ethischem Aspekt ist aber besonders brisant, daû man allen Anlaû hat, hier mit einem interessanten Unterschied zwischen der Maus, an der die tetraploide Komplementierung entwickelt wurde, und den Primaten einschlieûlich Mensch zu rechnen: Von ES-Zellen der Maus ist bekannt, daû sie einen wesentlichen Zelltyp, der durch die tetraploide Komplementierung dem System hinzugefügt wird, von sich aus und spontan in vitro nicht oder kaum bilden, nämlich den Trophoblasten. Dies ist häufig als ein Argument dafür verwendet worden, daû ES-Zellen der Maus (und unzulässigerweise verallgemeinernd: auch menschliche ES-Zellen) nicht totipotent, sondern nur ¹pluripotentª seien (vgl. z. B. Beier 2002; Nationaler Ethikrat 2004, S. 11). Die Regulation des Expressionslevels eines bestimmten Gens (Oct-4) scheint bei der Maus eine Schlüsselrolle zu spielen bei der Differenzierung von Embryoblast- und ES-Zellen zu Trophoblast (Niwa et al. 2000; Hay et al. 2004), aber auch durch Manipulation anderer Gene kann die Trophoblastbildung aus ES-Zellen stimuliert werden (Hemberger et al. 2003). Ethisch äuûerst relevant erscheint nun, daû bei ES-Zellen von Primaten und Mensch eine genetische Manipulation offenbar nicht nötig ist, um eine Differenzierung von Trophoblast aus ES-Zellen möglich zu machen: Von ES-Zellen der Primaten einschlieûlich des Menschen liegen nämlich eindeutige Hinweise darauf vor, daû diese in der in-vitro-Kultur entweder spontan (Odorico et al. 2001; Reubinoff et al. 2000; Thomson et al. 1995, 1996, 1998; Xu et al. 2002; allerdings differieren die Befunde offenbar je nach Zellinie, vgl. Pera et al. 2004) oder unter bestimmten Kulturbedingungen induziert (Gerami-Naini et al. 2004) Trophoblastzellen differenzieren. Dies steht in einem auffälligen Gegensatz zu der immer wieder zu findenden Behauptung, daû ES-Zellen (generell) zu einer Trophoblastbildung nicht fähig seien (z. B. Beier 2002). Es fällt auf, daû diese (sachlich unrichtige) Behauptung in der deutschen Ethik-Debatte wiederholt gemacht wurde, so auch noch kürzlich vom Nationalen Ethikrat (2004, S. 11), während im Ausland die Fähigkeit menschlicher ES-Zellen zur Trophoblastbildung durchaus belegt wurde und ernsthaft diskutiert wird (o. aufgeführte Zitate; Rossant 2001).

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Es ist also durchaus damit zu rechnen, daû sich aus ES-Zellen von Primaten einschlieûlich des Menschen das komplette System, das für die Bildung einer harmonischen Embryonalanlage und für eine eventuelle Implantation im Uterus benötigt wird, aus sich selbst heraus (ohne experimentelle Hinzufügung von Hilfszellen) konstituieren könnte. Es ist denkbar, daû dies auch der embryologische Hintergrund dafür ist, daû, wie von ES-Zellen des Weiûbüscheläffchens berichtet (Thomson et al. 1996) wurde, sich gelegentlich in der in-vitro-Kultur Strukturen bilden können, die anscheinend normalen Embryonalanlagen (mit umgebenden extraembryonalen Geweben wie Trophoblast, Dottersack, Amnion) entsprechen. Dies scheint aber ein seltenes Ereignis zu sein, das auch nur bei wenigen Zellinien beobachtet wurde. Würde es in menschlichen ES-Zellkulturen vorkommen, so wäre dies freilich auch im Fall eines seltenen Auftretens ethisch auûerordentlich bedenklich (Pera 2001; zitiert in Denker 2004a). In der öffentlich geführten Ethikdebatte ist dieser Gesichtspunkt bisher so gut wie völlig ausgeblendet worden. In der biologischen Forschung ist die Frage, ob sich aus ES-Zellen von Primaten einschlieûlich des Menschen in der in-vitro-Kultur spontan Aggregations- und Differenzierungsvorgänge abspielen können, die zu solch einer geordneten Musterbildung mit anschlieûender Formierung einer prinzipiell lebensfähigen Embryonalanlage führen könnten, bisher nicht systematisch verfolgt worden (Literatur diskutiert bei Denker 2004a). Die genannten Beobachtungen vom Weiûbüscheläffchen sind einer vertiefenden Nachuntersuchung, die vor allem die Frage nach einer prinzipiellen Lebensfähigkeit von solchen Strukturen als eigenständige Individuen bearbeiten würde, leider nicht zugänglich: Die entsprechenden Zellinien des Weiûbüscheläffchens sind inzwischen vom Markt genommen worden. International verfügbar ist eine ES-Zellinie des Rhesusaffen (Thomson et al. 1995), von der allerdings so weitgehende frühembryonale Musterbildungsfähigkeiten nicht berichtet worden sind. Sie wird dennoch in unserem Labor genauer untersucht (Behr et al. 2003, 2005). Im Fall der (verfügbaren) menschlichen ES-Zelllinien verbieten sich aus ethischen Gründen selbstverständlich Untersuchungen, bei denen die Bedingungen so eingestellt werden, daû sich harmonische Embryonalanlagen bilden könnten (s. o.). Angesichts dieses gravierenden Mangels an für die ethische Bewertung hochgradig relevanten Informationen über die Fähigkeit

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von ES-Zellen von Primaten einschlieûlich des Menschen zur spontanen, autonomen frühembryonalen Musterbildung (Bildung einer Embryonalanlage i. e. S.) erscheint es dann doch angebracht, nochmals auf die tetraploide Komplementierung einzugehen, obgleich hier Hilfszellen eingesetzt werden, und sich zu fragen, ob auch beim Menschen wie bei der Maus ES-Zellen die Fähigkeit haben, bei Anwendung dieser Methode lebensfähige Embryonen zu bilden, die sich im Falle einer Übertragung in den Uterus implantieren und zu einem normalen Individuum weiterentwickeln könnten. Es ist in der Tat davon auszugehen (und dies wird auch von den einschlägig tätigen Forschern so gesehen), daû zumindest einige der menschlichen ES-Zellinien zur Bildung von harmonischen und lebensfähigen Embryonen bei tetraploider Komplementierung fähig sein könnten. Entsprechend den vorliegenden Befunden von der Maus (Nagy et al. 1993; Eggan et al. 2001; Humpherys et al. 2001; Schwenk et al. 2003) ist wahrscheinlich, daû nicht alle sondern nur ein Teil der vorliegenden Zellinien diese Fähigkeit besitzen. Es wäre wichtig, dies auch für Primaten zu wissen: Nach meiner Auffassung ist es nicht vertretbar, mit menschlichen ESZellen zu arbeiten (und sie z. B. weltweit zu verbreiten), die die Möglichkeit in sich bergen, bei tetraploider Komplementierung menschliche Individuen zu klonen, hier und jetzt, oder nach weltweiter Verbreitung der Zellinien in Drittländer, oder nach Lagerung in gefrorenem Zustand in 100 Jahren. ES-Zellinien sollen, nach dem üblichen Dictum, unbegrenzt vermehrbar sein, und die genetischen und epigenetischen Veränderungen, die Zellen üblicherweise in vitro über viele Passagen hin erleiden/akkumulieren, halten sich bei ihnen eher in Grenzen (Eggan et al. 2001; Humpherys et al. 2001; Schwenk et al. 2003). Man muû also davon ausgehen, daû das Szenario einer Anwendung der tetraploiden Komplementierung beim Menschen nicht völlig unrealistisch ist und dringend vorab durchdacht werden muû. Daher ist auch die bisherige Praxis unvertretbar, daû bei Embryonen- oder Zellkernspende (therapeutisches Klonen) im Rahmen der Einholung des Informed Consent die zumindest theoretische Möglichkeit einer Tetraploiden Komplementierung mit diesen ES-Zellen (z. B. zu einem sehr viel späteren Zeitpunkt irgendwo in der Welt) nicht in den Katalog der zu vermittelnden Informationen aufgenommen worden ist (Denker und Denker 2005). Ich bin ferner der Ansicht, daû unter dem Aspekt der evtl. Möglichkeit der tetraploiden Komplementierung

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z. B. auch eine Patentierung von menschlichen ES-Zellen als unzulässig angesehen werden muû, da es sich faktisch um die Patentierung potentieller Menschen (eines definierten ¹individuellenª Genotyps), ggf. in Vielzahl, handeln würde. Dies würde auch für genetisch modifizierte ES-Zellen gelten, solange nicht experimentell für diese in Frage stehende Zellinie ausgeschlossen worden ist, daû sie die Entwicklungsfähigkeit nach tetraploider Komplementierung besitzt (Denker 2004b). In unserem Kulturkreis erscheint es uns bisher ethisch absolut unvertretbar, mit menschlichen ES-Zellen eine tetraploide Komplementierung auch nur zum Testen ihrer Potenz durchzuführen, denn dabei würde es sich um reproduktives Klonen (bzw. sog. ¹Forschungsª-Klonen) handeln. Man kann fragen, ob angesichts der bekannt gewordenen Versuche zum ¹therapeutischenª Klonen in Korea (Hwang et al. 2004) in diesem Punkt bereits ein Dammbruch erfolgt ist. Einem Nihilismus das Wort zu reden, der aus alledem ein Argument für eine generelle Liberalisierung herleitet, halte ich für gefährlich und nicht für vertretbar. Man kann durchaus einschlägige Untersuchungen darüber, ob eine tetraploide Komplementierung bei Primaten möglich ist, an nichtmenschlichen Primaten durchführen, da es Veranlassung gibt davon auszugehen, daû man grundlegende Aspekte auf ES-Zellen vom Menschen übertragen kann. Solche Untersuchungen an Affen durchzuführen ist aufwendig, aber nicht unmöglich. Ohne den groûen Aufwand der tetraploiden Komplementierung mit Embryo-Transfer zu treiben wird man in erster Näherung Informationen über Differenzierungs- und Musterbildungsprozesse in Kolonien von Affen-ES-Zellen, die in vitro wachsen, erhalten können. Es erstaunt, daû von Seiten der Forschungspolitik gerade angesichts der rechtlichen Situation in Deutschland keine Anstrengungen in diese Richtung unternommen werden, obwohl es schon derartige Vorschläge zur systematischen Untersuchung des Totipotenzproblems unter Verwendung von Primaten-ES-Zellen gab, als die ersten Publikationen über menschliche ES-Zellen erschienen (entsprechende Forschungsvorhaben wurden nicht finanziert).

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Inkonsistenzen in der Stammzelldebatte und die Rolle des Potentialitätsarguments Die Debatte über die Zulassung der Forschung an ES-Zellen, über die Forschung an frühen Embryonen überhaupt, ist mit erfreulich groûer Beteiligung breiter Schichten der Bevölkerung geführt worden und noch nicht zum Ende gekommen, in Deutschland wie offenbar weltweit. Aber es fallen Inkonsistenzen und innere Widersprüche auf: Trotz der zum Teil geradezu deklamatorisch hergestellten Öffentlichkeit (wie z. B. von Bundesministerien gesponserte öffentliche Veranstaltungen, oder die jüngst durchgeführte Bürgerkonferenz in Berlin) muû man feststellen, daû Informationen, die zumindest unter embryologischem Aspekt für diese Diskussion äuûerst wichtig erscheinen (und für die, wie meine eigene Erfahrung zeigt, Interesse der Öffentlichkeit vorliegt), überhaupt nicht oder erst sehr spät von seiten der Fachleute in die Diskussion eingebracht worden sind. Dies betrifft z. B. die eingangs genannten Fakten: ± Fähigkeit der ES-Zellen zur Gametenbildung (Ei- und Samenzellen bzw. ihre Vorstufen): Dem Fachmann muû es merkwürdig erscheinen, daû das Interesse der Öffentlichkeit erst durch die schon oben genannten Veröffentlichungen der jüngsten Zeit über eine Differenzierung dieser Zelltypen in vitro (Hübner et al. 2003, Toyooka et al. 2003, Geijsen et al. 2004) auf diesen Sachverhalt gelenkt worden ist. Dies ist deswegen merkwürdig, weil schon lange bekannt ist, daû ES-Zellen bei der Chimärenbildung in die Keimbahn eingeschleust werden können, d.h. in der Lage sind, Eizellen und Spermien zu bilden. Dieses Verfahren wird weltweit seit vielen Jahren überall dort angewandt, wo z. B. transgene Mäuse zu Zwecken der Grundlagenforschung hergestellt werden. Neu ist an den Befunden, die jetzt so viel Aufsehen erregt haben, eigentlich nur, daû die entsprechende Differenzierungsrichtung (Keimbahn) auch schon unter den Bedingungen der in-vitro-Kultur und sehr frühzeitig während der ablaufenden Differenzierungsprozesse einsetzt, was Möglichkeiten für ein ¹scaling upª und evtl. eine einfachere praktische Umsetzung bedeuten könnte. Beeindruckt also hier viele weniger das Prinzip als vielmehr diese Leichtigkeit der praktischen Umsetzung?

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± Frühembryonale Musterbildung in ES-Zellkulturen des Weiûbüscheläffchens: Dieser schon oben erwähnte Befund wurde von Thomson et al. bereits 1996 veröffentlicht, in der Ethikdebatte über Stammzellforschung aber kaum berücksichtigt. Nachdem dieser Befund jedoch von einem Autor in die Diskussion geworfen worden war (Denker 1999, 2000), wurde er von anderen z. T. als ein nicht aussagekräftiger ¹Ausreiûerª bzw. als Fehlinterpretation abgetan (Beier 2002), was merkwürdig ist, da der Befund in der international führenden Zeitschrift der reproduktionsbiologischen Grundlagenforschung veröffentlicht wurde und von den Autoren nicht widerrufen worden ist. ± Tetraploide Komplementierung: Daû, wie wir oben diskutiert haben, auf diese Weise zumindest bei der Maus aus ES-Zellen in einem einzigen Schritt lebensfähige Individuen geklont werden können, und daû dies vermutlich auch bei menschlichen ES-Zellen möglich wäre, erscheint ethisch höchst relevant. Die ethische Relevanz ist aber meines Wissens in keinem öffentlichen Gremium diskutiert worden (wenn man davon absieht, daû die Experten-Stellungnahmen der nichtöffentlichen Sitzung der Enquete-Kommission vom Dezember 2003 erfreulicherweise später über die Internetseite des Bundestags verfügbar gemacht worden sind). Es fällt demnach auf, daû sich die öffentliche Diskussion immer wieder an aktuellen ¹technischen Durchbrüchenª entzündet und stark auf diese Techniken und ihre Anwendung konzentriert hat, nicht aber so sehr auf Fragen wie die, was ein früher Embryo eigentlich ist und wie er sich z. B. von einer Gruppe von Zellen (verschiedener Art, bis hin zu ES-Zellen) unterscheiden mag. Ist letzteres nun ein kategorialer oder ein gradueller Unterschied? Sind ES-Zellen kategorial anders als ¹gewöhnlicheª Zellen? Was sagt die moderne Säugetierembryologie hierzu (vgl. Denker 2004a)? Wie wird damit umzugehen sein, wenn die Forschung Wege aufzeigen sollte, aus somatischen (adulten) Stammzellen in ähnlicher Weise wie aus ES-Zellen Embryonen mit vollem Entwicklungspotential zu erzeugen, oder muû man davon ausgehen, daû dies aus prinzipiellen embryologischen Gründen nicht möglich sein wird? Wäre das Selbstverständnis des Menschen betroffen, wenn auf eine solche Weise eine Art ¹vegetativeª Fortpflanzung des Menschen (vergleichbar mit der Sprossung im Pflanzenreich) möglich würde? Zweifellos: Auch ein solcher ¹vegetativª entstan-

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dener Embryo/Mensch wäre in gleicher Weise wie ein traditionell gezeugter mit Würde ausgestattet und zu schützen. Unter dem entwicklungsbiologischen Aspekt, der diesen Ausführungen zugrunde liegt, ist m. E. zu folgern, daû man biologisch verankerten Statusaspekten (¹das System Embryoª) in der Diskussion um menschliche ES-Zellen wesentliche Bedeutung zumessen muû, und daû diese Aspekte uns intensiver beschäftigen sollten als die bisher fast auschlieûlich diskutierten Fragen des Embryonen¹Verbrauchsª bei der Herstellung von ES-Zellinien. Diese Überlegungen führen zu der Forderung, daû unter den genannten biologischen Aspekten in der Ethikdebatte dem Potentialitätsargument, das in der Vergangenheit nur eine untergeordnete Rolle spielte, ein stärkeres Gewicht gegeben werden muû. Die Entwicklungsbiologie lehrt uns, daû es eine unzulässige Verkürzung der Argumentation bedeutet, wenn nur auf das Genom fokussiert wird. Wir hatten schon eingangs abgelehnt, von ¹Totipotenz von Zellkernenª zu sprechen. Nur die Ganzheit aus Kern und Zytoplasma ergibt eine lebende Einheit mit eigener Systemgesetzlichkeit. Während dies für alle Zellen gilt, ist aber darüber hinaus die Systemgesetzlichkeit einer Zygote eine besondere. Diese ist nicht eine Zelle wie andere: Sie besitzt, das ist zunächst allgemein bekannt, einerseits das individuelle Genom, aber auch Besonderheiten der Konstitution des genetischen Materials, die dafür wichtig sind, daû alle für das Entwicklungsprogramm wie für die Funktion des ausdifferenzierten Organismus erforderlichen genetischen Informationen auch abgerufen werden können. Darüber hinaus besitzt aber das (ja reichlich vorhandene) Zytoplasma der Zygote eine ganz wesentliche regulatorische Funktion für die Abrufung dieser Informationen, und hier spielen auch strukturelle Vorgaben eine Rolle: Das Zygotenzytoplasma ist mehr als ein membranumhüllter Sack voll Gen-regulierender Faktoren, sondern hier gibt es (offenbar auch beim Säugetier) Vor-Strukturierungen, Vorgaben für nachfolgende Ordnungsprozesse. Wie Untersuchungen der letzten Jahre (Gardner; Zernicka-Goetz; zitiert und diskutiert bei Denker 2004a) gezeigt haben, sind die Prinzipien der frühen Embryonalentwicklung beim Säugetier offenbar in solchen Dingen durchaus dem vergleichbar, was die Entwicklungsbiologie über Nichtsäugetiere herausgefunden hat: Ein Teil der Vorinformationen für die Bildung der späteren Hauptkörperachsen (und damit für die Entwicklung eines normalen, selbständig lebensfähigen Individuums

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im Gegensatz zu einem Tumor, einem Teratom) leitet sich normalerweise bereits von der Eizelle her. Diese Vorinformationen betreffen Asymmetrien, die später umgesetzt werden in die Anordnung der Körperachsen; sie werden durch die Spermienpenetration modifiziert und spezifiziert und später in einer Kaskade von Ereignissen elaboriert, womit sichergestellt wird, daû sich schlieûlich ein (und normalerweise nur ein) Primitivstreif und ein ¾quivalent für den Spemann'schen Organisator bildet, ein wesentlicher Vorgang für die Individuation (diskutiert bei Denker 2004a). Das System ist aber flexibel bis zum Zeitpunkt der Primitivstreifbildung, und so ist die Bildung von eineiigen Mehrlingen möglich. Da das Zellsystem, in dem diese Vorgänge im normalen Embryo ablaufen, offenbar nicht wesentlich verschieden ist von dem Zellsystem, welches Kolonien von ES-Zellen und einigen ihrer frühen Abkömmlinge in vitro (oder nach tetraploider Komplementierung) darstellen können, hat man Veranlassung, Kolonien von ES-Zellen in diesem entwicklungsbiologisch-systemanalytischen Sinn prinzipiell durchaus ähnlich zu sehen wie das System Keimscheibe des frühen Säugetier-Embryos. Hier fehlt allerdings noch viel an detaillierten Einsichten. Die besonderen Systemeigenschaften einer Zygote oder einer frühen Keimscheibe mit beginnender Primitivstreifbildung sind aber für den Laien auûerordentlich unanschaulich, sie lassen noch keine morphologische und funktionelle Vielgestaltigkeit erkennen, haben noch kein ¹Gesichtª. Daû das ¹System früher Embryoª zwar schon komplett ist, aber zunächst noch unterteilbar und fähig zu dem, was der Entwicklungsbiologe ¹Regulationª nennt, ist ein Charakteristikum frühembryonaler Zellsysteme. Dieses System ist voller Bildungspotenzen und hat die Fähigkeit, in spezifischer Weise auf Störungen und auf Defekte zu reagieren, indem es diese Defekte ausgleicht und wieder zu einem Ganzen reguliert (durch geänderte Gestaltungsbewegungen, geänderte Wachstumsintensitäten). Diese Regulationsfähigkeit geht so weit, daû das System die Möglichkeit hat, sich in mehrere Teilsysteme zu zerlegen, die je zu einem neuen Ganzen werden (Mehrlingsbildung), und zwar nicht nur während der Furchungsteilungen, sondern sogar noch im Stadium der Keimscheibe (diskutiert bei Denker 2004a). Aber das System besitzt noch wenig klare Struktur. Eine primär nutzenorientierte Sicht wird dazu tendieren, sich über so wenig sinnfällige Gesichtspunkte (nur durch das Experiment erschlieûbare funk-

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tionelle Eigenschaften) hinwegzusetzen und den erhofften Nutzen ggf. stärker wichten als den Aspekt der Zerstörung einer noch relativ abstrakt erscheinenden Ganzheit. Aber kann man die üblicherweise gestellte Frage nicht auch herumdrehen und so formulieren: Wenn es ein Charakteristikum frühembryonaler Systeme ist, ihre ¹Ganzheitª durch komplexe Regulationsvorgänge (Reparaturbewegungen usw.) z. B. nach experimentell gesetzten Defekten wiederherzustellen, und wenn diese Eigenschaft von zentraler Bedeutung für diese Systeme ist, warum sollte man dann das sich entwickelnde System erst als schutzwürdig ansehen, wenn es diese Regulationsbefähigung verloren hat (Primitivstreif: 14-Tage-Regel in der britischen Gesetzgebung)? Die Begrifflichkeiten, mit denen die Entwicklungsbiologie in diesem Kontext operiert, haben Unschärfen, und es dürfte einen gewissen Reiz haben, der Frage nachzugehen, inwieweit unterschiedliche Denktraditionen eine Rolle bei den verschiedenen Interpretationen, die diesen Begriffen gegeben werden, spielen mögen. Dies betrifft z. B. den Begriff ¹Determinationª, der in der klassischen entwicklungsbiologischen Literatur eine groûe Rolle gespielt hat. Als in den 70er Jahren die experimentelle Forschung an frühen Säugetierembryonen einen starken Aufschwung zu nehmen begann (wobei Groûbritannien und die USA führend waren), kam unter Säugetierembryologen ein Trend auf, diesen Begriff nur noch sehr zurückhaltend und selten einzusetzen, und manche begannen, ihn durch ¹commitmentª zu ersetzen (z. B. Johnson 1979; Gardner 1979). Dies birgt allerdings die Gefahr, die entwicklungsbiologisch gut bekannte Tatsache auszublenden, daû der Vorgang der Determination zumindest in vielen Zellsystemen verschiedene Stadien einschlieût, sodaû man eine zunächst noch weiche, plastische, etwa durch ¾nderung der Umgebungsbedingungen dieser Zelle veränderbare Determination von einem (üblicherweise erst später erreichten) Zustand der starren, nicht mehr umkehrbaren Determination unterscheiden sollte (McLaren 1976). Interessanterweise wird durch die Ausrichtung des Interesses auf entweder den Anfang des Determinationsgeschehens (beginnende, labile Determination) oder die schon fortgeschrittene, nicht mehr umkehrbare Determiniertheit auch die Wahl des adäquaten Vorgehens bei der experimentellen Untersuchung der beteiligten Vorgänge betroffen: Die noch labilen, frühen Determinationszustände wird man besser in einem Isolationsexperiment nachweisen

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können, die späten, schon starren Zustände in einem Transplantationsexperiment (diskutiert bei Denker 1976). Die Wahl der verwendeten Methoden und die gestellten Fragen bedingen sich gegenseitig: Das experimentelle Vorgehen wird das zu erwartende Ergebnis vorprogrammieren, die Interessenrichtung (Suche nach noch unreifen, frühen Anfängen der sich ausbildenden Muster oder Frage nach schon manifesten, nicht mehr umkehrbaren Festlegungen der Zellen) wird die Wahl des experimentellen Systems beeinflussen. In der älteren deutschen Entwicklungsbiologie war das Augenmerk besonders auf die Anfangsstadien des Prozesses der Determination gerichtet worden, zweifellos in der Absicht, damit Hinweise auf die Natur der ersten Instruktionen zu bekommen, die den Prozess der Schicksalsbestimmung für eine Zelle einleiten. Anhand von ein paar Zitaten aus der entwicklungsbiologischen Literatur möchte ich dies illustrieren: So gibt Seidel (1953, S. 91) folgende Definition der Determination: ¹¸Für eine Aufgabe determiniert kann lediglich ausdrücken: ¸Der Keimteil besitzt in seinem derzeitigen Zustand unter den vorhandenen Bedingungen eine bestimmte Entwicklungsbefähigung und kann sie selbständig verwirklichen. Offen muû bleiben, welche nicht genannten Fähigkeiten noch auûerdem im Keim schlummern und durch ¾nderung der Bedingungen erweckt werden können oder spontan in ihm hervortretenª. In ähnlicher Weise argumentiert Spemann (1936, S. 23): ¹Wenn ein Keimteil die Ursachen einer bestimmt gerichteten Weiterentwicklung in sich selbst trägt, so kann man sagen, daû er zu seinem Schicksal bestimmt, ¸determiniert, ist. Jedenfalls kann man mit Lillie (1929) den Begriff der Determination so fassen, daû man die Selbstdifferenzierungsfähigkeit zu seinem Kriterium machtª. Ferner (Spemann 1936, S. 31): ¹So wird Transplantation im neuen Gewebsverband nur dann sichere Auskunft geben können, wenn Selbstdifferenzierung stattfindet, wenn also die Determination des Implantats genügend befestigt ist, um sich auch gegen einen etwaigen Einfluû der Umgebung durchzusetzen. Der erste Eintritt der Determination wird sich daher nur bei völliger Isolierung erkennen lassenª. Dies sind also Argumente für eine herausragende Bedeutung des Isolationsexperiments, bei dem die zu untersuchenden Zellen in eine möglichst ¹neutraleª Umgebung (z. B. unter bestimmten Bedingungen in der Gewebekultur) gegeben werden (diskutiert bei Denker 1976).

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Oft wird allerdings (und zwar besonders in der Literatur der jüngeren Zeit über Zelldifferenzierung, insbesondere auch über Stammzelldifferenzierung) eine andere Definition der Determination verwendet, bei der das Transplantationsexperiment zum Kriterium gemacht wird. So formulieren z. B. Herbert und Graham (1974): ¹Cell determination is the process by which the developmental potential of a cell becomes limited during embryogenesisª (entsprechend auch: Gardner und Rossant 1976). Während die vorher genannten Definitionen darauf abheben, eine erste Inklination zum Einschlagen einer bestimmten Differenzierungsrichtung ins Visier zu nehmen (wobei die damit erreichte Zustandsform der Zelle noch weich, plastisch und veränderbar sein kann), zielt die letztgenannte Definition auf eine Potenzeinschränkung. In der Diskussion um die ethischen Aspekte des Umgangs mit frühen menschlichen Embryonen und menschlichen ES-Zellen muû dem Potentialitätsargument eine wichtige Rolle zukommen, und es scheint mir noch nicht zu Ende diskutiert zu sein, inwieweit dieses Argument vielleicht in utilitaristischen bzw. deontologischen Denktraditionen unterschiedlich eingesetzt wird. Es mag lohnend sein, dieser Frage nachzugehen. Gelegentlich werden (in einer meiner Meinung nach ungerechtfertigten Weise) von denen, die das Potentialitätsargument ablehnen, sogar die Gameten (Eizellen, Spermien) in die Diskussion mit einbezogen. So schreibt die prominente britische Entwicklungsbiologin Anne McLaren in ihrem Kommentar zum Report des Warnock Committees (McLaren 1985): ¹The early human conceptus is alive, and human, and genetically unique, as also are unfertilized eggs and sperm; but it is not yet a sentient being, nor even an individual. It has the potential to develop into a human person, but only if transferred to a uterus, just as the unfertilised egg has the potential to become a conceptus, but only if fertilized by a sperm. Clearly potential does not in itself confer moral statusª (Hervorhebung vom Verfasser). Die Einbeziehung von Spermien und Eizellen in das Argument hat etwas Polemisches und muû deswegen nicht weiter diskutiert werden; es ist unter Embryologen unstrittig, daû mit der Bildung einer Zygote eine völlig neue Qualität erreicht wird, nicht nur im genetischen Sinn, sondern auch im Sinn der Schaffung einer Ganzheit mit neuen Systemeigenschaften (z. B. Vor-Informationen über Hauptkörperachsen, die so wichtig sind für die Entstehung eines schlieûlich einmal autonom lebensfähigen Individuums im Gegen-

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satz zu einem Tumor, einem Teratom; diskutiert bei Denker 2004a). Mir scheint, daû die Vertreter der beiden Lager, die Proponenten eines frühen bzw. eines späten Schutzes menschlicher Embryonen, ein unterschiedlich gewichtetes Interesse dafür an den Tag legen, was ¹schon fertigª bzw. ¹nur angelegtª ist. Es ist vielleicht zu fragen, ob sich dies z. B. auch in der oben skizzierten unterschiedlichen Auslegung schwieriger entwicklungsbiologischer Begriffe wie des Begriffs der Determination ausdrückt. Das wird dann auch die Frage betreffen, welche entwicklungsbiologischen Experimente man wie gewichtet, welche man für aussagekräftig und welche für nicht-aussagekräftig hält. Die Tatsache, daû ESZellen, wenn man sie an ektopische Orte (z. B. unter die Nierenkapsel) transplantiert, nur Tumoren (Teratome), aber keine lebensfähigen Individuen bilden, wird von manchen Autoren als Argument dafür eingesetzt, daû diese Zellen nicht totipotent seien. Allerdings ist dies ein schlechtes Argument, da wohlbekannt ist, daû man dasselbe Ergebnis beobachtet, wenn man normale Embryonen an dieselben ektopischen Orte transplantiert (diskutiert bei Denker 2004a). Da die Transplantation in eine fremde, unphysiologische Umgebung nur geeignet ist, einen schon gefestigten Determinationszustand von Zellen und in ähnlicher Weise nur schon gefestigte Muster der Anordnung der Organe zu zeigen, wird derjenige, der nach dem Potenzstatus von sehr frühen Embryonalstadien (oder auch von ES-Zellen, die sehr frühen embryonalen Zellen entsprechen) fragt, gut daran tun, solchen Transplantationsexperimenten interpretatorisch vorsichtig entgegenzutreten, wenn er sich für den entwicklungsbiologischen Zustand früher Stadien mit noch weichen, labilen und störbaren Mustern und Zellzuständen (labile Determination) interessiert. Das muû in meinen Augen Versuchen ein besonderes Gewicht geben, die danach trachten, einem Isolationsexperiment nahe zu kommen, d.h. dem Einbringen der zu testenden Zellen (z. B. ES-Zellen) in eine möglichst neutrale Umgebung. Dies versucht z. B. meine Gruppe bei der Untersuchung von sich spontan bildenden Kolonien von ES-Zellen des Rhesusaffen in der in-vitro-Kultur (Behr et al. 2003, 2005). Eine schon gefestigte Determination von Zellen ist freilich weniger den verschiedenen Störfaktoren, die während der Durchführung eines Experiments auftreten können, ausgesetzt, und läût sich daher eindeutiger und leichter reproduzierbar zeigen, was, ganz unabhängig von jeglichem vorgefaûten gedanklichen Konzept, die Untersucher dazu bringen

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kann, sich mehr auf diese späten Determinationsstadien zu konzentrieren. Dabei kann man dann Transplantationsexperimente durchführen oder aber die Zellen in vitro in recht unterschiedliche Umgebungsbedingungen bringen, die die Determination und anschlieûende Differenzierung sehr stark beeinflussen könnten. Man wird aber so nicht unbedingt Aussagen über frühe Determinationszustände erhalten, und schon gar nicht über autonome Musterbildungsfähigkeiten, da diese sich nur in einer (relativ) neutralen Umgebung zeigen/entfalten können. Ich habe den Eindruck, daû wir noch lange nicht verstanden haben, wie subtil wir vorgehen müssen, um das Potentialitätsargument auf das zu beziehen, was ein früher Säugetierembryo ist, vor allem angesichts der Störbarkeit des frühembryonalen Systems, aber auch angesichts seiner sehr spezifischen Art zu reagieren (Regulation zum Ganzen, Mehrlingsbildung), die ganz anders ist als die Reaktionsweise ausdifferenzierter Individuen. Und da ESZellen dem Embryonalkörper-Bildungsgewebe einer Blastozyste nicht nur entstammen sondern auch in ihren Eigenschaften weitgehend entsprechen, gilt diese Überlegung auch für die Anwendung des Potentialitätsarguments auf Kolonien von ES-Zellen, d. h. auf die eventuelle Selbststrukturierungsfähigkeit dieser unanschaulichen, hochpotenten ¹Zellhaufenª. Angesichts dieses Mangels an Wissen scheint es mir nicht vertretbar, daû von dem, was wir wissen, einiges aus der Ethik-Diskussion ausgeblendet wurde und wird. Bezüglich des Umgangs mit menschlichen ES-Zellen erscheint es mir unbedingt angebracht zu sein, eine tutioristische Haltung einzunehmen1.

Nachtrag bei der Drucklegung Seit dieses Manuskript eingereicht wurde, hat der hier in den Mittelpunkt gestellte Aspekt der Potentialität von frühembryonalen Zellen und embryonalen Stammzellen an Aktualität gewonnen, und zwar durch die Vorschläge des US President's Council on 1 Danksagung: Frau Gudrun Mikus danke ich herzlich für ihre Hilfe bei der Fertigstellung des Manuskripts, meiner Frau Dr. med. Ulrike Denker, sowie PD Dr. rer. nat. Michael Thie für kritische Anmerkungen.

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Bioethics ¹Alternative Sources of Human Pluripotent Stem Cells. A White Paperª (Washington, D. C., 2005: www.bioethics.gov.). In diesem White Paper wird betont, daû für alle diese ¹alternativen Quellenª (z. B. genetisch veränderte oder ¹organismisch toteª Embryonen) unter ethischem Aspekt unbedingt in jedem Einzelfall die Entwicklungspotenz zu klären ist, was natürlich auch für die daraus erzeugten Stammzellen gelten muû. Daû in diese Erwägungen auch das Argument der tetraploiden Komplementierbarkeit einbezogen werden muû, wird demzufolge nun unübersehbar (Denker, H.-W., 2006, ¹The potentiality of embryonic stem cells ± an ethical problem even with alternative stem cell sourcesª, in: J. med. Ethics [im Druck]). Die inzwischen erschienene Literatur aus dem Bereich der biologischen Grundlagenforschung über Stammzellen hat dagegen keine unter bioethischen Aspekten bedeutsamen neuen Erkenntnisse erbracht, und so kann aus Platzgründen darauf verzichtet werden, diese Zitate zu ergänzen.

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Mathias Gutmann (Marburg)

Kultur des Nutzens und Nutzen der Kultur ± wissenschaftstheoretische Grundprobleme der Bioethik 1. Was ist Bioethik? Überblickt man das Schrifttum, das den Ausdruck Bioethik im Titel trägt, dann scheint es sich nicht nur um eine höchst umfassende, sondern eine in nahezu alle Bereiche des öffentlichen wie wissenschaftlichen Lebens hineinreichende Bemühung zu handeln. Fragt man nach den Gründen für diesen umfassenden Skopus, so könnte zum einen auf den Gegenstandsbereich verwiesen werden und zum anderen auf die zur bioethischen Bewertung verwandten Methoden1. Der Vermutung, es lieûen sich spezifisch bioethische Methoden ausweisen, die zuvor nicht verfügbar waren, kann allerdings schon im ersten Schritt zurückgewiesen werden (Kettner 1993, Düwell/Steigleder 2003, Quante/Vieth 2003, Steigleder 2003, Habermas 1997). Es findet sich vielmehr das gesamte Spektrum ¹klassischerª normativer Argumentationstypen angewandter Ethik, von prinzipialistischen, über wert- und verantwortungsethischen bis hin zu utilitaristischen und konsequentialistischen Ansätzen. Wenn also ein Unterschied zu machen wäre, dann läge dieser im Gegenstand begründet, der Bioethik von anderen Formen angewandter Ethik wie etwa Technikethik oder Wirtschaftethik sinnfällig unterscheidet2. Bioethik scheint damit nachgerade natürlicher1 Zu einer historisch-systematischen Sichtung der damit verbundenen Probleme Düwell (2003). Eine Verkürzung auf vornehmlich medizinethische Fragestellungen wird zwar mitunter erwogen (etwa Schramme 2002), erscheint jedoch insofern eine Problemverlagerung, als nun das Verhältnis des Ausdruckes Leben in den Biowissenschaften (ohne Medizin) zu dem in der Medizin zu klären ist; dazu unten.

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weise auf Biowissenschaften, oder um den umfassenderen Ausdruck zu verwenden auf Life-sciences bezogen. Entsprechend scheint es auch nahezuliegen, ethische Reflexionen auf einzelne biologische Gegenstände zu richten, etwa im Sinne der Gen- oder Ökoethik. Bezieht man nun noch ¹denª Menschen als Lebewesen in die Betrachtung ein, dann lieûe sich ± alleine über die Gemeinsamkeit der Gegenstände ± das Feld der Bioethik tatsächlich durch die Life-Sciences auszeichnen. Wir werden im weiteren zu überprüfen haben, ob und in welcher Weise Gegenstände der LifeSciences überhaupt zum Gegenstand ethischer Reflexion werden können. Von besonderer Bedeutung wird hierbei die Verwendung des Ausdruckes ¹Lebenª sein, denn dieses scheint ja gerade die auszeichnende Gemeinsamkeit so unterschiedlicher Dinge wie Menschen und Blaualgen (als Bestandteilen von Ökosystemen nämlich) zu sein, die die grundsätzliche Einbeziehung in dieselbe Reflexionsform erlaubt. Diese Rekonstruktion soll unter explizit kulturalistischem Gesichtspunkt vorgenommen werden, d.h. es sollen jene Antizipationen identifiziert werden, die es überhaupt gestatten von biowissenschaftlichen Gegenständen zu reden. Es wird danach erst zu beurteilen möglich sein, ob und inwiefern ¹Naturgegenständeª in einer Nutzenbeziehung zum Menschen und seinem kulturellen Selbstbestand stehen können.

2. Der Gegenstand Die weitest mögliche Fassung der Aufgaben von Bioethik bestünde in der Reflexion von Handlungen oder Tätigkeiten und ihren Folgen für Lebewesen oder deren mittelbare wie unmittelbare Lebensumstände. In dieser Definition umfaûte Bioethik neben den Biowissenschaften zugleich auch Medizin sowie bezogen auf die Formen möglicher Handlungen, jegliche Art von Technik (eben nicht 2

Die Schwierigkeiten einer solchen Bereichsorientierung zeigen sich schon, wenn man zur Rede von der ¹bioethischenª (und dann entsprechend der wirtschaftsethischen, medizinethischen etc.) Bewertung übergeht. Es spricht nichts dagegen zu vermuten, daû es sich immer um ¹denselbenª Gegenstand handele, der nur je einer spezifischen Betrachtung unterzogen wird. Damit träte aber wieder die Spezifik der Methode der Bewertung in den Vordergrund, die mit einigem Recht bestritten werden kann.

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nur jene, die direkt der Manipulation von Lebewesen zu expliziten Zwecken diente). Verengen wir vernünftigerweise auf die Reflexion der Folgen für nicht-menschliche Lebewesen (d.h. unter Ausklammerung der Medizin- und Technikethik), dann bietet es sich an, die Biowissenschaften als jene Quelle unseres Wissens über nichtmenschliche Lebewesen heranzuziehen, die es uns erlaubt, die Ergebnisse und Folgen menschlichen Tuns abzuschätzen. Das bioethische Argument erhält eine dreigliedrige Struktur, da zunächst das ¹Soseinª der in Frage stehenden Gegenstände biowissenschaftlich zu erkunden, in einem zweiten Schritt deren Veränderungen unter angenommenem oder statthabendem Eingriff zu prognostizieren und in einem dritten Schritt das Ausmaû der als noch zuträglich rechtfertigbaren Veränderungen zu bestimmen ist. Die Funktion der Biowissenschaften wäre eine doppelte: Denn nicht nur würde das Wissen von der Struktur und der möglichen oder tatsächlichen Veränderung des Gegenstandes von diesen geliefert, sondern auch das Wissen um die ¹natürlichen Grenzenª einer solchen Veränderung. Das naturwissenschaftliche Wissen fungiert auf diese Weise zugleich präskriptiv, insofern dieses Wissen nun auch die Handhabungen der Naturstücke zu leiten hat, die diese in einem ¹natürlichenª Zustand belassen oder von diesem so wenig wie möglich entfernen. Wie das Problem der Stabilität in der BD-Diskussion gezeigt hat, bedeutet diese doppelte Funktion der Biowissenschaften eine zweifache Überforderung (Trepl 1995). Auf der einen Seite geht nämlich ein mehr oder minder starker Deskriptivismus mit der Vermutung ein, daû wissenschaftliche (in diesem Fall etwa ökologische) Beschreibungen auf natürliche Zustände der Welt referieren ± Beschreibungen also wären, deren Referenten zumindest in wesentlichen Zügen auch unabhängig von den Mitteln der Beschreibungen ¹wirklichª vorliegen. Auf der anderen Seite und zugleich wird der Deskriptivismus von der Vermutung gespeist, es könne von der Tätigkeit des Menschen abgesehen werden, wenn es um die Auszeichnung relevanter ¹natürlicherª Zustände der fraglichen Naturstücke geht. Naturwissenschaftliche Theorien sind also gleichsam Abbildungen der Welt oder ihrer Zustände. Faût man als mögliche Gegenposition pragmatische Lesarten ins Auge, die sich in konstruktivistische fortsetzen lassen, so sind hingegen wissenschaftliche Theorien zunächst Mittel oder Werkzeuge der Manipulation der Umgebung durch den handelnden Menschen. In diesem Falle wären die Geltungskriterien für

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Theorien weniger durch ¹Passungª auf die (als vorgegeben gedachte) Welt, als vielmehr unter Bezug auf Erfolg oder Miûerfolg manipulativen und herstellenden Handelns zu gewinnen. Dieser Unterschied erscheint zunächst nur als wissenschaftstheoretischer Streitfall. Seine für bioethische Fragestellungen relevante Dimension erhält er allerdings, wenn wir den systematischen Ort des Ausdrucks ¹Naturª nicht mehr einfach durch Entgegensetzung zu ¹Kulturª gewinnen. Es müûte dann gefragt werden, ob nicht vermittelt über das Naturkonzept die normative Struktur menschlichen Tuns in der Kultur, d.h. der spezifischen Art und Ausprägung dieses Tuns selber zu finden wäre. Sollte sich dieses erweisen lassen, dann wäre von Vornherein der Gegenstand bioethischer Reflexion eben nicht das ¹Natürlicheª als auûerhalb des ¹Kultürlichenª bestimmte. Als Alternative könnte sich hier ein Nutzenkalkül anbieten, der Natur in Form von Ressourcen der Kultur bestimmt. Dese Alternative, die den Nutzen von Natur über ihre Nutzung durch Kultur definiert, erweist sich aber bei näherem Hinsehen als trügerisch. Denn nicht nur geriete damit Kultur selber zu einer Verlängerung oder Weiterführung von Natur ± sie wäre diese wohl verändernd gedacht, dennoch aber in derselben verortet. Die Natur-Kultur-Differenz behielte ihren systematischen Ort nach wie vor innerhalb der Natur. Beschriebe man auch die Kulturentwicklung als Loslösung vom Natürlichen, bleibe erstere doch immer noch Exponent der letzteren. Die Mittel aber, deren wir uns beim Erkennen der Natur bedienten, würden wieder zu solchen der Wirklichkeitsbestimmung, wie sie grundsätzlich auch unabhängig von den Mitteln vorgenommen werden könnte. Ein alternativer Denkweg läût sich beschreiten, wenn wir die Unterscheidung von Natur und Kultur als konträre Differenzierung auf ein Drittes, auf menschliche Tätigkeit nämlich zurückbeziehen. In diesem Fall böte sich uns die Möglichkeit, von der Substantivierung ¹Naturª und ¹Kulturª zur Betrachtung natürlicher und kultürlicher Aspekte dieses Tuns selber überzugehen. Dies hätte allerdings zur Konsequenz, daû nun der Ausdruck ¹Lebenª ebenfalls nicht einfachhin als Eigenschaft von Naturgegenständen begriffen werden darf. Wir wollen diese noch sehr abstrakten Überlegungen an Gegenständen erproben, die auf den ersten Blick unstrittig ¹Naturstückeª darstellen und daher im üblichen Verstand Gegenstände bioethischer Reflexion sui generis zu sein scheinen.

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2.1. Nicht-Menschliche Lebewesen als Gegenstand der Bioethik Nehmen wir zunächst an, die Gegenstände bioethischer Reflexion seine den Life-sciences entnommen, dann finden wir mehrere ¹typischeª Kandidaten, wie etwa Arten, Ökosysteme oder ganz allgemein ¹Biodiversitätª. Eine zusammenfassende Auszeichnung des damit möglichen Skopus ethischer Reflexion ergibt sich schon aus der Definition von BD: ¹Biological diversityª means the variability among living organisms from all sources including, inter alia, terrestrial, marine and other aquatic systems and the ecological complexes of which they are part; this includes diversity within species, between species and of ecosystem [sic] (Harper/ Hawksworth 1995: 6).

Wir wollen nun im weiteren aus der Vielzahl der Definientia nur eines herausgreifen, nämlich die Art. Die Art gilt in der Biologie als grundlegende Einheit. Dabei ist der Status des Artbegriffes umstritten. Dies muû um so mehr überraschen, als Darwin, dessen Buch über den ¹Ursprung der Artenª im üblichen Verständnis den Beginn der modernen Biologie markiert, dazu festhält: In short: we shall have to treat species in the same manner, as those naturalists treat genera, who admit that genera are merely artificial combinations made for convenience. This may not be a cheering prospect, but we shall at least be freed from the vain search for the undiscovered and undiscoverable essence of the term species (Darwin 1897: II, 301)3.

Ganz unabhängig davon, ob mit dem resultierenden ¹konventionalistischenª Verständnis des Artbegriffs nur eine Reaktion auf ¹realistischeª Konzepte verbunden war oder nicht (dazu etwa Beatty 1992), läût sich doch festhalten, daû trotz der Darwinschen Bemühungen, den Artbegriff an der Züchtungspraxis zu orientieren und dieselbe für evolutionstheoretische Zwecke nutzbar zu machen, eine Einigung über das ¹richtigeª Konzept bis heute nicht erzielt wurde. Dies widerspricht eigentümlich der Bedeutung, welche der Art zukommen soll: Die Art ist die eigentliche Einheit der Evolution, sie ist das Gebilde, das sich spezialisiert, sich anpaût oder sich in seiner Adaptation umstellt. 3 ¾hnlich lautende ¾uûerungen finden sich auch im Briefwechsel; dazu Ereshefsky (1992).

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Und die Methode, derer sich die Evolution bei ihrem Voranschreiten dabei bedient, ist die Artbildung, die Erzeugung neuer, zu ökologischen Verschiebungen fähiger Genkomplexe. Die Art ist wahrhaft der Eckstein der Evolution (Mayr 1979: 241).

Die Bedeutung der Art liegt danach in der Verknüpfung von taxonomischen, ökologischen und genetischen Aspekten des Lebendigen an ein und demselben Gegenstand (zu Weiterführungen der Neuen Synthese Eldredge 1985/1992). Dabei ist es ein natürlicher Vorhang, die Evolution selber, die sich der Veränderung der Art bedient, um (biologische) Lösungen neuer, z. B. ökologischer Probleme zu finden. Lassen wie hier die evolutionstheoretische Problematik ganz auûer acht (dazu Gutmann 2002) so ist aber zu klären, ob für die Vielzahl der vorgeschlagenen Definitionen der Art sich so etwas wie ein gemeinsamer Bezugspunkt finden läût.

2.2. Das Problem der Artdefinition Im Rahmen der BD-Diskurse sind in der Regel die Angaben von Mächtigkeiten einzelner Bestandteile der BD sowie der Verhältnisse dieser Mächtigkeiten zueinander und schlieûlich die Veränderungen dieser Relationen in der Zeit relevant. Um solche Messungen vornehmen zu können müssen wir wissen: 1. was, 2. wie, und 3. warum gemessen werden soll. Die drei Aspekte können wir als ¹definitorischeª, ¹methodischeª und ¹pragmatischeª bezeichnen. Da wir die mit der Parametrisierung von Biodiversität zusammenhängenden Probleme ausschlieûlich an einem einzigen Gegenstand, nämlich der Art, rekonstruieren wollen, beziehen sich die weiteren Ausführungen auch zunächst nur auf diese.

2.3. Definitorische Aspekte Wie schon an anderem Ort gezeigt (Gutmann/Janich 1998/2002), liegt eine Vielzahl von Definitionen zum Artbegriff vor. Verlok-

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kend ist es, diese gleichsam disziplinär anzuordnen. Dem widerspricht aber die einfache Tatsache, daû letztlich alle Definitionen ± seien es nun primär phänetische, wie morphologische, physiologische, ökologische, ¹biologischeª4 oder genetische ± in unterschiedlichen Theoriekontexten Verwendung finden. So wird der biologische Artbegriff ebensowohl in evolutionären wie in ökologischen Theorien verwendet. Hinzu kommen die Differenzen hinsichtlich der investierten Definitionsmittel. Diese weisen ± wie etwa am biologischen oder am ökologischen Artbegriff zu zeigen ± zum Teil erhebliche Operationalisierungsschwierigkeiten auf (dazu Gutmann 1996, Gutmann/Janich 1998).

2.4. Methodische Aspekte Wie bei der Definition der zu messenden Gegenstände kann auch für die Meûmethode kaum Einheitlichkeit behauptet werden. Grundsätzlich handelt es sich bei den bisher unterbreiteten Vorschlägen um zwei Formen, der direkten und der indirekten Messung. Während die direkte Messung schlicht an der Operationalisierung der Gegenstände qua Definition (s. o.) scheitert, besteht das Hauptproblem der indirekten in der Basisgröûe, die als Bezugspunkt der Schätzung herangezogen wird. a) Dies beginnt schon mit der Probenerhebung selber, was hier exemplarisch nur an der Probenerhebung im Kronbereich tropischer Bäume (Luehea seemanii) angedeutet sei: ¹It should be noted that there are an estimated 50.000 species of tropical trees (. . .). I suggested elsewhere (Erwin and Adis 1981) that tropical forest insect species, for the most part, are not highly vagile and have small distributionIf this is so, and using the same formula as above, starting with 162 host-specific beetles/tree species then there are perhaps as many as 30.000.000 species of tropical arthropods, not 1.5 millionª (nach Stork 1997: 51)5.

4

Letzteres im Sinne des durch das BSC geforderten Kreuzungskriteriums. Ganz unabhängig davon, daû diese Berechnung weitgehend angezweifelt wird, markiert sie noch nicht das Maximum. Weiteres dazu aus Stork (1997) und May (1995). 5

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b) Schwierigkeiten dieser Art setzen sich fort mit den für die Verhältnisbildung zugrundegelegten taxonomischen Einheiten. Den pragmatischen Grund dafür gibt die schlichte Tatsache ab, daû einige Formengruppen (dies bezieht sich auf alle Ebenen der klassischen taxonomischen Hierarchie) erheblich besser dokumentiert sind, als andere. Nimmt man etwa ¹gut-dokumentierteª Formen wie Mammalia und Aves (mit einem Verhältnis von gut zweifach soviel tropischen zu nicht-tropischen Formen) so ergibt dies auf andere taxonomische Gruppen übertragen nach Raven eine Gesamtanzahl von ca. 3 Mio. Arten (Stork 1997: 47). Wird hingegen die Zahl von Lepidopteren im Verhältnis zu den anderen Hexapoden innerhalb der gut untersuchten britischen Fauna zugrundegelegt, so ergibt sich allein für Hexapoden 4,9±6,6 Mio. Arten (Stork 1997: 48). Folgt man schlieûlich dem Vorschlag Mays und nimmt den Körpergröûen-Index als Bezug, demzufolge die Artenzahl um den Faktor 100 bei Senkung der Körperlänge um den Faktor 10 steigt, so ergibt sich: ¹May's (1990) later extrapolation to 0.2 mm gave an estimate of 10 million species, based on the premise that number of species increases 100fold for a 10-fold reduction in length. Having just discovered a complex and species-rich fauna of mites and Collembola in sandy soils in France and Belgium, Andre et al. (1994) suggest that the extrapolation should be to at least 136 ± 63 m, which would add another 10 million species to Mays's (1990) total. Addition of even smaller organisms (Protozoa, Nematoda, Enchytraeidea, and Tardigrada) they argue, would further increase the totalª (Stork 1997: 57 f.).

Eine ähnliche Verzerrung stellt sich ein, bedenkt man die erheblichen Unterscheide in der Untersuchungsdichte terrestrischer zu marinen Formen: ¹It is generally supposed that our present knowledge provides a rough approximation of the relative numbers of species in the world's ecosystems and about 80% of all species are terrestrial. This proportion is seriously an error. According to the present research of J. F. Grassel of Wood Hole Oceanographic Institution and his associates, ¹quantitative samples (in the deep sea) represent a fauna that rivals the tropical forests in diversity of speciesª (Grassel, per Com. 1987). Only the future will tell how many species there are and which environment are most diverseª (Ray 1988: 38).

Bei Bezug auf paläontologische Daten kann schlieûlich eine Zahl von 5 bis 30 Mio. erreicht werden (Wilson 1988: 5).

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c) Unabhängig von der Untersuchungsdichte wirken sich bei den paläontologischen Bezugsdaten grundsätzliche Einschränkungen aus, die sich gut anhand des ¹Lazarus-Effektesª erläutern lassen: ¹Several large class- and phylum-level groups are completely absent, even though they are known to have survived the extinctions because of their appearance later in the Mesozoic record ± a phenomenon Jablonski (1986) has called the Lazarus effect. That is, they ¸rose again after apparent extinction. The Lazarus taxa provide a special challenge for students of the fossil record, because there are two equally plausible explanations for major gaps in the fossil record: species diversity may have been so low that the organisms were not preserved as fossils, or sedimentary environments conductive to fossilization may have been absent. The choice between these two explanations is difficult to make, and no unequivocal case has yet been made for either of themª (Raup 1988: 54 f.).

Zu weiteren Schwierigkeiten, die sich aus der Verwendung paläontologischer Daten ergeben Gudo/Steininger 2002.

2.4. Pragmatische Aspekte Die definitorischen wie die methodischen Probleme der Parametrisierung von BD verweisen auf den Grundmangel der den BD-Diskurs nach wie vor charakterisiert, die regelmäûig ausgeblendete Frage nämlich, warum überhaupt gemessen werden soll. Die Frage zielt nicht auf den Sinn einer Sichtung des vorhandenen biotischen Materials als vielmehr auf die Angabe von Zwecken, die es erst erlaubten, die dafür adäquaten Definitionen und die relevanten Meûverfahren auszuwählen. Es lassen sich immerhin zwei Gruppen von Zwecken angeben: a) Erkenntniszwecke. Mit diesen verbindet sich die Wahl des Theorierahmens und relativ dazu der Erfolgskriterien wissenschaftlicher Erklärungen, in denen Parameter für die Messung von Bestandteilen der BD auftauchen b) Nutzungszwecke. Diese Kategorie ist umfassend insofern hier zunächst einfach ¹nicht-wissenschaftlicheª Zwecke gemeint sind. Es geht also nicht um ¹Erklärungenª von Zuständen oder Veränderungen von Naturstücken sondern um die Angabe von Verwendungen, die es vernünftig erscheinen lassen, BD nach ihrer Maûgabe zu beschreiben und zu messen.

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Da ¹Messenª zuallererst ein Handeln und dieses auf die Angabe von Parametern angewiesen ist, können wir unter Parametern präskriptive Konstruktionen verstehen. Solche präskriptiven Konstruktionen sind nicht nur nicht durch Beschreiben zu gewinnen, sie liegen methodisch vielmehr noch vor solchen Beschreibungen. Wir werden also nicht mit den definitorischen sondern mit den pragmatischen Aspekten des Artproblems beginnen.

2.5. Vom Zweck der Arten Versteht man unter Taxonomie die Unterscheidung und Einteilung von Lebewesen nach bestimmten Merkmalen, dann läût sich eine Fundierung taxonomischer Praxis relativ zu (anfänglich) lebensweltlichen Praxen leicht vornehmen. Die Zahl lebensweltlicher Zwecke vergröûert sich erheblich, nimmt man z. B. medizinische Behandlungsformen u. ä. hinzu. Die Einteilung von Lebewesen erfolgt mithin (zunächst) pragmatisch, ohne die Notwendigkeit der Investition ¹biologischenª, z. B. evolutionstheoretischen Fachwissens. Üblicherweise wird die Einteilung mittels Prädikatoren vorgenommen, wobei die Prädikatoren von bestimmten, empraktisch verfügbaren Tier- oder Pflanzenbezeichnungen (z. B. Pferd, Esel, Kirsche etc.) bzw. allgemein Naturstückbeschreibungen (wie ¹Aueª, ¹Seeª) ausgehen. Hier ist schon offenkundig ¹seit jeª kultureller Umgang mit den so bezeichneten Naturstücken anzusetzen. Dies kann zu regional unterschiedlichen Taxonomien führen. Adäquat werden aber solche Taxonomien in jedem Fall zu den empraktisch bestimmten Zwecken sein, auch wenn unterschiedliche Bezeichnungen vorliegen. Die Vielzahl der Taxonomien ist also schon empraktisch aufweisbar und kein Argument gegen deren jeweilige Zweckadäquatheit. Ebenfalls schon empraktisch ist der Verfahrensbezug festzustellen. Berücksichtigt man nämlich die (unstrittige) Zweckorientierung und negiert zugleich Zweckdetermination des Einsatzes von Mitteln, dann lassen sich regelmäûig bei fixiertem Zweck differente Verfahren der Realisierung aufweisen. Je nach der Weise der Bearbeitung (¹Verfahrenª) wird die Eignung der Naturstücke auch bei Zweckinvarianz differieren.

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Damit sind für die Bestimmung methodischer Anfänge alle wesentlichen Aspekte benannt. Von solchen lebensweltlichen Praxen ausgehend erhalten wir zunächst bereichsspezifische Taxonomien, wobei an Taxonomien der die jeweiligen Praxen unmittelbar oder mittelbar stützenden Wissenschaften wie pharmakologische, botanische, zoologische, medizinisch-mikrobiologische zu denken ist. Die Einteilungen erfolgen jeweils nach Maûgabe der Zwecke und unter Angabe der verwandten Methoden. Die resultierenden Taxa lassen sich dann untereinander z. B. hierarchisch anordnen. Ein für den Aufbau von Taxonomien pragmatisch bedeutsamer Fall wäre die strikte Korrelation von Merkmalen, wie dies in der Züchtung häufig anzutreffen ist (Darwin 1897, Scheibe 1951, Schönmuth et al. 1986). Solche Korrelationen bieten die Möglichkeit, Taxonomien miteinander zu verbinden und evtl. aufeinander zu reduzieren. Diese Überlegungen, die bisher im wesentlichen an Kulturgegenständen wie Zuchttieren etc. durchgeführt wurden, lassen sich nun auch auf ¹natürlicheª Situationen gleichsam ¹exhaustivª übertragen. Dabei werden wiederum die Zwecke resp. die zu ihrer Erreichung investierten Mittel die Kriterien der Unterteilung angeben. Eine Hierarchie der Gruppen ergibt sich dann über einfache Subordinationsregeln mit einer den jeweiligen Zwecken entsprechenden Schichtung. Die Schaffung einer einzigen Referenztaxonomie kann u. U. durch Typenstandardkonstruktion von Merkmalen (z. B. ¹das Arthropodiumª) gelingen (dazu Gutmann 1996 und 2002). Neben der Formulierung von Prädikatorenregeln kann ± zu bestimmten Zwecken ± der Artbegriff zum Abstraktor verschärft werden, wobei dann invariant zu einer ¾quivalenzrelation zu sprechen wäre. Dies mag sich in Fällen komplexer verfahrensorientierter Taxierung empfehlen, in welchen invariant etwa zu Inhaltsstoffgleichheiten und Mengen resp. Mengenverhältnissen in bezug auf Normen für die Durchführung von Analysenverfahren (z. B. biochemischer Natur) argumentiert wird, wie dies beim ¹genetischenª Artbegriff der Fall ist. Das Artproblem löst sich damit pragmatisch auf die denkbar einfachste Weise, ohne daû die Resultate als willkürlich gelten könnten, sind doch die Adäquatheitskriterien der Taxonomien zweck- und mittelrelativ anzugeben. Ein Bereich, der üblicherweise mit ¹Taxonomieª aufs engste verbunden wird, blieb hier vollständig ausgespart, nämlich jener der Anordnung von Lebewesen im ¹natürlichen Systemª. Da zur

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Konstruktion einer systematischen Taxonomie (sic), d.h. einer solchen, welche ¹evolutive Verhältnisseª wiedergibt, zunächst eine Evolutionstheorie konstruiert werden muû, kann der Aufbau einer Systematik unberücksichtigt bleiben. Soll nicht ¹evolutionäre Ökologieª betrieben werden, für die neben einer Ökologie als Gegenstandsbestimmung eine Theorie der evolutiven Entwicklung von ¹Ökosystemenª o. ä. zur Verfügung zu stehen hätte, kann dies dem Erkenntnisinteresse einer Grundlegung ökologischer Wissenschaften entsprechend geschehen (zum methodischen Verständnis von Taxonomie und Systematik u. a. Gutmann 1996). Diese Trennung von Systematik und Taxonomie hat allerdings zur Folge, daû viele der resultierenden Artbegriffe ohne evolutionstheoretische Bedeutung bleiben, wie dies z. B. auch für eine nach Übereinstimmungen im genetischen Material vergleichend verfahrende Einteilung der Fall sein dürfte. Unsere Unterscheidung von Taxonomie und Systematik erlaubt es nun, die Frage nach dem methodologischen Status des Artbegriffes aufzunehmen. Wenn nämlich Arten Ergebnis unseres ordnenden Tuns nach Maûgabe von Zwecken sind, dann handelt es sich entweder nicht um Naturgegenstände, oder die Rede von Natur kann nicht als einfache Entgegensetzung zu Kultur aufgefaût werden ± etwa im Sinne von ¹vom Menschen nicht verändertª. Diese gilt trivialerweise für alle vom Menschen direkt oder indirekt veränderten Lebensformen ± also gezüchtete und gehälterte ±, sowie die durch menschliches Leben beeinfluûten ± man denke nur an ¹Wälderª die eben regelmäûig zunächst Forste sind. Doch selbst für nicht manipulierte Lebensformen wäre der Bezug auf menschliches Tun in der Erzeugung der gesuchten Ordnung gegeben, denn die unbekannten ± etwa neu entdeckten ± Formen werden auf bekannte, beschriebene zurückbezogen. Blickt man auf den methodischen Anfang von Taxonomie und Systematik, dann erscheint der Bezug auf menschliches Tun, auf Kulturleistungen indispensabel. Die Zwecke, die in die Auszeichnung methodischer Anfänge eingehen, erlauben es umgekehrt, die Resultate taxonomischer oder systematischer Forschung als Mittel zu bestimmen. Wenn Taxonomien und Systematik im Zusammenhang der Biodiversitätsforschung als Mittel charakterisiert werden, dann müssen wir bedenken, daû Mittel grundsätzliche durch einem Zwecküberschuû charakterisiert sind. Diese Überlegung führt uns in den erweiterten, die Auszeichnung methodischer Anfänge für wissen-

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schaftliche Zwecke bestimmenden Bereich des Nutzens von Arten für nicht-wissenschaftliche Verwendungszusammenhänge. Folgt man den bisherigen Darstellungen, dann ist es verlockend, wissenschaftliche Artbestimmungen als Mittel nicht-wissenschaftlicher Nutzung zu verstehen. Wissenschaften hätten in dieser Perspektive die Aufgabe der Optimierung kultureller Umgänge mit Natur. Natur träte damit zunächst und vor allem als Ressource menschlichen Tuns (in der Regel Produktion) auf.

3. Kultur des Naturnutzens Unsere weiteren Überlegungen werden aber nicht sogleich bei einer ökonomischen Betrachtung des Umganges mit Naturstücken ansetzen. Solche finden sich mit unterschiedlichen ökonomischen Bewertungsmodellen etwa bei Pearce/Moran (1994) ausgearbeitet. Vielmehr soll anhand eines Vorschlages Spangenbergs (1999) die Klärung wirtschaftlicher (also nicht schon ökonomisch modellierter) Zusammenhänge soweit vorangetrieben werden, daû daran weitere begriffliche Klärungen der geforderten Art sich vornehmen lassen. Die Ausgangsfragestellung Spangenbergs besteht ± ganz wie bei uns ± in der Frage nach den Parametern, die für eine Messung von Biodiversität Verwendung finden können. Dabei wird festgestellt, daû es sich bei der Frage nach der Mächtigkeit von Biodiversität lediglich um eine ¹Themenstellungª handele, sodaû die zur Messung genutzten Indikatoren gar nicht mit Blick auf Biodiversität als biologischem Forschungsgegenstand behandelt werden können (Spangenberg 1999: 216 f.). Die eigentliche Zielrichtung Spangenbergs besteht in der Auszeichnung von Zwecken, die als Politikziele die Gestaltung von Biodiversität und den damit bezeichneten Gegenständen erlaubten. Wir lassen die Frage nach den Zwecken hier zunächst beiseite (es wird sich in der Tat ein etwas anderes Bild ergeben, als das von Spangenberg angekündigte) und folgen Spangenberg zunächst in der Kategorisierung der ¹Eingriffe in Biodiversitätª. Diese beschreiben wir aber unsrer vorangehenden Vermutung gemäû eben nicht in der Metaphorik des Eingriffes ¹in etwasª, sondern als Formen des bewirtschaftenden Umganges von Gemeinwesen mit Naturstücken. Hier lassen sich unterscheiden6 (nach Spangenberg 1999: 218 ff.):

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1. Entnahme aus nichtgemanagten Ökosystemen7. 2. Entnahme aus anthropogen gemanagten Ökosystemen. Im ersten Fall kann sowohl an die einfache Entnahme biogener Produkte im Sinne des Sammelns oder Fallenstellens gedacht werden, wie an gemeinsame Produktionsformen, die etwa an die Nutzung von Allmenden gebunden sind. Sieht man davon ab, daû Spangenberg die zur Beschreibung eben doch in Anspruch genommenen Theoriestücke biologischer Forschung methodologisch nicht verortet, sich also gewissermaûen auf halbem Wege der zunächst so glücklich vermiedene Naturalismus wieder einschleicht, so können wir den ersten Fall so verstehen, daû in die zur Produktion genutzten Naturstücke keine weitere Arbeit investiert wird. Anders sieht das im zweiten Fall aus. Hier ist nicht nur an die Agri- und Hortikultur zu denken, sondern auch an Forstwirtschaft und im weiteren Sinn an die Nutzung von Naturstücken wie etwa das Anlegen von Staudämmen aber auch von Uferrandzonen zur Wasseraufbereitung etc. Die für unsere Fragestellung relevante Gemeinsamkeit besteht in der Auszeichnung von Indikatoren, die die Veränderung der Naturstücke relativ zu Praxen anzeigen. Können im ersten Fall etwa der Ernte-8 oder Sammelaufwand oder generell die Verfügbarkeit der Ressourcen genannt werden, ist im zweiten Fall z. B. der Hektarertrag, der Zuwachs an Biomasse je Zeiteinheit oder Fläche sowie schlieûlich die Filterkapazität zu nennen. Der Umgang mit den solcherart der spezifischen Nutzung unterworfenen Naturstücken wird dabei zwei Erfahrungen ermöglichen: 1. Naturstücke lassen sich als Mittel innerhalb unterschiedlicher Praxen einsetzen. Die Zweckbestimmung ergibt sich also aus den Anfordernissen der Produktion bzw. der Reproduktion. 2. Naturstücke werden in unterschiedlichem Ausmaû und je nach Nutzung der Ab-Nutzung unterworfen sein. Beide Aspekte (die wir unter der Kategorie des Mittels resp. des Werkzeuges näher betrachten wollen) lassen unschwer zwei Hand6

Mit dieser Liste ist selbstverständlich kein Vollständigkeitsanspruch verbunden. Die Rede von ¹Ökosystemenª wird hier terminologisch hingenommen. Wir werden unten sehen, daû auch dieser Restbiologismus vermeidbar ist, wenn hiermit nämlich nicht Gegenstände der Ökologie sondern der Umweltwissenschaften gemeint sind (dazu u. a. Gutmann/Janich 2002a,b). 8 Der Unterschied ist hier also durch die Produktionsform bestimmt, so daû bei ¹Ernteª an extensive Nutzungsformen zu denken ist. 7

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lungsziele formulieren, die relativ zu den jeweiligen Nutzungen innerhalb gemeinsamer Praxen als Oberzwecke gelten: 1. Die Nutzung von Naturstücken sollte immer so organisiert werden, daû die Bedingungen der jeweiligen produktiven oder reproduktiven Nutzung erhalten bleiben. 2. Die Nutzung sollte zudem so organisiert werden, daû weitere Nutzungen, d.h. weitere aber bisher nicht aktualisierte ZweckMittel-Umdeutungen möglich bleiben oder werden. Beide Anweisungen lassen sich zusammenfassen in der Rede von der ¹Entwicklungª von Naturstücken unter dem Aspekt der Produktion innerhalb der Reproduktion von Gemeinwesen. Um die damit begrifflich verbundenen Implikationen besser fassen zu können, ist eine kurze Verständigung über die Rolle von Mitteln und Werkzeugen und deren Verhältnis zur ¹Technikª als Form menschlichen Handelns notwendig9.

4. Technik als Form menschlichen Handelns Die Rede von Technik kann in mindestens zwei einschlägigen Formulierungen auftreten. So läût sich zunächst darunter einfach ein Titelwort für ¹Technikenª verstehen, wie sie etwa in der Glasbläserkunst, der Pferdezucht oder dem Madrigal benötigt werden. Daneben tritt eine Bedeutung von Technik die eher auf die Art und Weise abzielt, in der der Mensch seine Beziehungen zur Umgebung strukturiert10. Entsprechend lieûe sich Technik einmal als anthropologische Konstante bestimmen, aus der spezifischen Form in der der Mensch sich in seiner Umgebung als Lebewesen bewegt. Alternative könnte Technik sich auf die produktive und reproduktive Struktur von Gemeinwesen beziehen. Innerhalb derselben kann Technik dann als Form menschlichen Handelns begriffen werden, die jeweils besondere Aspekte des Verhältnisses Einzelner zum Gemeinwesen bezeichnet. 9 Die folgende Darstellung findet sich in ausführlicher Form in Gutmann (2002b). 10 Weiterführend zum Problem der Technikentwicklung und Gestaltung Grunwald (2003).

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Während die erste Variante exemplarisch im Rahmen des Mängelwesenkonzeptes der von Gehlen formulierten Philosophischen Anthropologie vorgelegt wurde und auch in methodologischer Hinsicht schon hinreichend kritische Würdigung fand, wollen wir uns auf einige Aspekte der zweiten Variante beschränken (dazu Gutmann 2002b, c). So nimmt innerhalb der Philosophie der ¹symbolischen Formenª die Technik ± ganz wie die Sprache auch ± eine besondere Rolle ein. Sie fügen sich nämlich beide nicht einfach in die ± mehr oder minder kanonische ± Reihe der übrigen symbolischen Formen ein11. Ganz ähnlich wie die Sprache auch, bildet Technik vielmehr zugleich Gegenstand wie Form der Gegenstandsbildung. Unter Technik wird weder nur der einfache Bezug auf ein Produkt, eine ¹forma formataª verstanden, noch ist sie nur im Lichte anderer symbolischer Formen wie etwa der Wissenschaft als eine Art angewandter Physik zu sehen, da sie nur zu offenkundig neben wie vor der Wissenschaft persistiert, in gewisser Hinsicht ja sogar deren Grund abgibt. Um sich der Grundbestimmung menschlichen Handelns als Technik nähern zu können ist es vielmehr notwendig, die Form dieses Handelns als mittel- und werkzeuggestützt zu beschreiben. Gegenstände gelten hier immer nur als etwas insofern sie zu etwas bestimmt sind (Cassirer 1985: 64). Auch Mittel sind eben solche funktionell definierten Gegenstände. Der Mensch kann daher als ¹tool-making animalª (Cassirer 1985: 51) angesehen werden, was ± trotz des scheinbar biologisierenden ¹animalsª ± gerade die besondere Form der technischen Wirkungsweise hervorhebt, die jede biologistische Ausdeutung grundsätzliche verbietet. Vielmehr stellt diese Art der Mittelverwendung das Definiens für den Menschen ± als Nicht-Tier ± dar (Cassirer 1985: 61). Die Differenz zwischen dem Werkzeugverwenden des Menschen und dem nicht-menschlichen Verhalten hängt nun aber nicht wesentlich an der wie auch immer zu denkenden biologischen Ausstattung des Menschen. Vielmehr ist es zunächst einfach der Bezug auf ein ¹¾uûeresª, auf Gegenstände die zu etwas verwendet werden, die als gegenständliche Mittel zwischen den Menschen und 11

Die hier von Cassirer vorgenommene Aufzählung unterstreicht das Problem der Abgrenzung der symbolischen Formen sowie die Schwierigkeiten der Bestimmung ihrer Zahl (dazu Krois 1988). Allerdings könnte eine Lösung dieser Probleme im Rahmen eines methodisch verstandenen konstruktiven Programmes durch die Verbindung systematischer Geschlossenheit mit empirischer Offenheit gelingen. Immerhin böte das Konzept der ¹generischen Begriffsbildungº einen passenden Ausweg (dazu Gutmann 2002a).

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den eigentlich zu bearbeitenden Gegenstand treten sowie die dabei erzielten ¹Wirkungenª12. Unter Gegenständen sollen hier sowohl stoffliche wie nicht-stoffliche Gegenstände13 verstanden werden, sodaû die Verwendung der Mittel um die es hier zu tun ist eben ganz ausdrücklich auch die Sprache umfaût. Damit ist von vornherein die Verbindung nicht von ¹eigentlichemª Gegenstand (dem zu bearbeitenden und dann als Produkt aus der Bearbeitung hervorgehenden) und dem ¹uneigentlichenª (dem Mittel, welches ja nur relativ zum Zweck der Bearbeitung ausgezeichnet wird) relevant. Durch eine solche Trennung der beiden Pole des gegenständlichen Verhältnisses würde die Wirkung der Mittel lediglich auf einen einseitigen Bezug auf vorgefundene und als Edukte des herstellenden Handelns anzusprechende Dinge reduziert. Hier soll aber gerade das eigentümliche, Wirkungen hervorbringende, und damit auch bestimmte Erfahrungen ermöglichende gegenseitige ¹Abarbeitenª der beiden Gegenstände (das Edukt und das Mittel) betrachtet werden. Die ¹Wirkungª die in der Verwendung bestimmter Gegenstände als Mittel auftritt ist in einem doppelten Sinne ¹objektivª. Denn zum einen tritt sie in einer ganz genauen Hinsicht von dem die Wirkung abzweckenden Menschen unabhängig auf (aber dennoch reproduzierbar und im weitern auch kontrollierbar). Zum anderen ist sie eben eine Wirkung die sich gegenständlicher Tätigkeit, dem Hantieren mit Gegenständen verdankt. Trotz der Bindung allererster Mittel an den Leib gilt hier: ¹Das Werkzeug gehört nicht mehr, wie der Leib und seine Gliedmaûen, unmittelbar dem Menschen zu: es bedeutet ein von seinem unmittelbaren Dasein Abgelöstes ± ein Etwas, das Bestand hat, einen Bestand, mit dem es selbst das Leben des Einzelmenschen weit überdauern kann. Aber dieses so bestimmte ¹Dinglicheª und ¹Wirklicheª steht nun nicht nur für sich allein, sondern es ist wahrhaft wirklich nur in der Wirkung, die es auf anderes Sein ausübt. Diese selbst schlieût sich ihm nicht bloû äuûerlich an, sondern sie gehört zu seiner Wesensbestimmung. Die Anschauung eines bestimmten Werkzeuges ± die Anschauung der Axt, des Hammers usw. ± erschöpft sich niemals in der Anschauung eines Dinges mit besonderen Merkmalen, eines Stoffes, mit bestimmten Eigenschaften. Im Stoff wird hier vielmehr sein Gebrauch, in der ¹Materieª die Form der 12 Dies verweist auf die Notwendigkeit der Rede von gegenständlichen Mitteln, denn zunächst sind es ja zwei Gegenstände die in funktioneller Weise miteinander verknüpft sind; dazu systematisch Hegel (1986). 13 Es handelt sich also nicht um ¹Dingeª. Mithin scheint die Verwendung von ¹Gegenstandº als Bezeichnung von materiellen Gegenständen besonderer Form unglücklich (hier etwa Rohbeck 1993).

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Wirksamkeit, die eigentümliche Funktion erschaut: und beides trennt sich voneinander nicht, sondern wird als eine unlösliche Einheit ergriffen und begriffenª (Cassirer 1985: 64).

Erfahrungen werden also im Vollzug gegenständlicher Tätigkeiten gemacht und erworben. Diese sind nicht einfach aus dem Umgang mit Gegenständen unter Nutzung von Mitteln gewonnen, sondern ergeben sich überhaupt erst aus dem Gegeneinanderführen beider Gegenstände (der Mittel und der zu bearbeitenden Edukte). Die an diesem Verhältnis gewonnen Erfahrungen sind insofern unabhängig von einer ± wie auch immer näher zu bestimmenden ± ¹externenª Realität, in der es vorgefundene und als Mittel schon bestimmte Dinge nach gesetzten Zwecken zu verwenden gälte. Vielmehr wird die Unterscheidung von Zweck und Mitteln überhaupt erst im Zusammenhang der gegenständlichen Tätigkeit entwickelt. Dieser Vorgang der immer weitergehenden Erarbeitung ¹objektiv kausalerª Verhältnisse verdeutlicht den, über den jeweiligen Stand hinausgreifenden Charakter von Erfahrung: ¹Aber diese Scheu (vor dem Werkzeug innerhalb kultischer Zusammenhänge als einem jener Gebiete der Genese der später rein funktionalen Relationen, MG) verliert sich, das mythische Dunkel, das das Werkzeug zunächst noch umgibt, lichtet sich allmählich in dem Maûe, als der Mensch es nicht nur gebraucht, sondern als er es, in eben diesem Gebrauch selbst, fortdauernd umbildet. Mehr und mehr wird er sich jetzt als freier Herrscher im Reich der Werkzeuge bewuût: in der Macht des Werkzeugs gelangt er zugleich zu einer neuen Anschauung seiner selbst, als des Verwalters und Mehrers derselben.ª (Cassirer 1985: 66)

Dieser Erfahrungsvorgang, der weder an den Gegenständen als zu bearbeitenden Dingen, noch an den Mitteln sondern vielmehr an dem Verhältnis beider gewonnen wird, stellt nicht nur einen direkten Bezug her, zwischen dem Bearbeitenden und den Materialien der Bearbeitung insofern er auf die zu erhaltenden Produkte und die zu deren Erzielung benötigten Mittel gerichtet bleibt. Die innerhalb des Gebrauches stattfindende Umbildung der Mittel verschiebt die Herstellungsleistung auf die Mittel. Sie werden also zum Gegenstand des Handelns und insofern kann nun von einem Übergang vom Mittel zum Werkzeug gesprochen werden. Jedoch ist diese Herstellung und Umbildung nicht mehr auf der Ebene des die Mittel nutzenden einzelnen alleine beschreibbar. Schärfer formuliert, kann die Reproduktion der Mittel (als Werkzeuge nämlich) nicht wieder auf der Ebene der Mittel beschrieben werden

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(zu den mit der Reproduktion von Mitteln als Werkzeugen verbundenen Aspekten der Gemeinschaftlichkeit Gutmann 1999).

5. Kultur als übergreifendes Allgemeines Da das Verhältnis von Werkzeug und Mensch sich als konstitutiv erweisen hat für das Verständnis dessen, was unter Technik als Formelement menschlichen Handelns aufzufassen ist, kann als Kriterium der Unterscheidung von Kultur und Natur nicht einfach auf die Menschenunabhängigkeit der letzteren hingewiesen werden, wie dies die Gehlensche Formel von der Kultur als umgebildeter Natur nahelegt (dazu Gehlen 1986±1993d). Vielmehr bilden Natur und Kultur die beiden Relate eines Verhältnisses, in dessen Zentrum wiederum eine Relation ± nämlich zwischen Mensch und Werkzeug ± anzutreffen ist14. Weder ein Vorbildverhältnis zwischen Natur und Technik ist mithin denkbar, noch die reine Plastizität der ersteren, die durch die technische Intervention aus dem Kulturellen heraus erst ihre Form gewönne ± dies die konstruktive Verkürzung etwa bei Dingler (1969). Vielmehr scheint mit der Technik ein grundsätzliches Weltverhältnis etabliert zu sein, das es überhaupt erst ermöglicht, über Kultur wie Natur als aufeinander bezogene Gegenstände zu reden: ¹Was die Instrumente der vollentwickelten Technik von den primitiven Werkzeugen trennt, ist eben dies, daû sie sich von dem Vorbild, das ihnen die Natur unmittelbar zu bieten vermag, freigemacht und gewissermaûen losgesagt haben. Erst auf Grund dieses ¹Lossagensª tritt das, was sie selbst zu sagen und zu leisten haben, tritt ihr selbständiger Sinn und ihre autonome Funktion vollständig zutageª (Cassirer 1985: 73).

Die ¹Emanzipationª vom ¹Vorbildª der Natur ist aber kein Vorgang, der seinen Anfang in der Natur nähme. Vielmehr erweist sich diese Art des Weltbezuges als autonom auch in dem Sinne, daû die Veränderung des Werkzeug-Mensch-Verhältnisses nur nach Maûgabe dieses Weltbezuges selber zu verstehen ist. Anders formuliert sind es lediglich solche der technischen Handlungsweise 14 Daû es sich dabei um intersubjektiv strukturierte symmetrische Anerkennungsverhältnisse handelt sei hier nur angedeutet (ausführlich dazu Gutmann 1999, Gutmann/Weingarten 2001); die Subjekt-Objekt-Relation wird so jedenfalls als asymmetrische Version eines intersubjektiven Verhältnisses faûbar.

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immanente Kriterien, die deren Reproduktion (sowohl identische wie nicht-identische) ermöglichen und vorantreiben: ¹Als das Grundprinzip, das die gesamte Entwicklung des modernen Maschinenbaus beherrscht, hat man den Umstand bezeichnet, daû die Maschine nicht mehr die Handarbeit oder gar die Natur nachzuahmen sucht, sondern daû sie bestrebt ist, die Aufgabe mit ihren eigenen, von den natürlichen oft völlig verschiedenen Mitteln zu lösen. Mit diesem Prinzip (dem Grundprinzip technischen Handelns, MG) und seiner immer schärferen Durchführung hat die Technik erst ihre eigentliche Mündigkeit erlangt. Jetzt richtet sie eine neue Ordnung auf, die nicht in Anlehnung an die Natur, sondern nicht selten in bewuûtem Gegensatz zu ihr gefunden wird. Die Entdeckung des neuen Werkzeugs stellt eine Umbildung, eine Revolution der bisherigen Wirkungsart, des Modus der Arbeit selbst, dar. So wurde, wie man betont hat, mit der Nähmaschine zugleich eine neue Nähweise, mit dem Walzwerk eine neue Schmiedeweise erfunden ± und auch das Flugproblem konnte erst endgültig gelöst werden, als das technische Denken sich von dem Vorbild des Vogelfluges freimachte und das Prinzip des bewegten Flügels verlieû (. . .)ª (Cassirer 1985: 73 f.).

Doch ist diese Entgegensetzung von Technik und mit ihr von Kultur und Natur nur scheinbar; bedenkt man nämlich, daû Natur hier verstanden worden ist als eine Bestimmung, die schon den konstitutiven Mittel- und Werkzeugbezug enthielt15, so muû konzediert werden, daû die Entwicklung nicht eine solche von Natur zur Kultur ist, sondern vielmehr von Kultur(Natur1) zu Kultur(Natur2). Der Index zeigt dabei an, daû die Rede von Natur über die jeweils verlassene Produktionsform bestimmt wurde (näheres dazu Gutmann 2002b). Die wirkliche Revolution in der Umformung der Herstellungsart besteht also genau genommen darin, daû als Natur auf dem Stand der neu entwickelten Kulturverhältnisse jene Elemente gelten können, die sich von der verlassenen Produktionsform her erhalten haben. Die Rede von der Reflexion (zwischen Natur und Kultur in und durch Technik) ist hier gerechtfertigt mit dem Verweis darauf, daû das, was als Natur innerhalb kultureller Zusammenhänge auftaucht, u. a. gerade jene ¹abgelegten Gestaltenª sind16, als deren wahre Entfaltung und Vollendung wir die jeweils erreichten Formen der Kultur verstehen. 15 Dies gilt gerade mit Verweis auf den Vogelflügel; denn dieser ist im strengen Sinne überhaupt nur als etwas bestimmt indem er zu etwas bestimmt ist. Diese funktionelle Beschreibung und Strukturierung desselben kann aber zum einen wieder nur durch Bezug auf den Menschen und dessen Leistungen (als leibliche) wie zum anderen auf technische Artefakte gelingen.

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Insofern beleuchtet in der Tat in der Form eines regelrecht metaphorischen Rückbezuges die als ¹Technikª der Natur entgegengesetzte Handlungsform eben das als Natur geltende17. Das Wort ¹Kulturª erscheint hier also zweimal; einmal als Bezeichnung eines auf Werkzeugverwendung bezogenen Verhältnisses (von Kultur und Natur) und einmal als ¹übergreifendes Allgemeinesª insofern dieses Verhältnis selber als sich entwickelndes begriffen werden muû (dazu Gutmann/Weingarten 2001). Als erstes Ergebnis der bisherigen Betrachtung kann festgehalten werden, daû das von Gehlen vorausgesetzte Verhältnis von Natur und Kultur in bezug auf die Form technischen Handelns nur als substantialistisches Miûverständnis angenommen werden kann. Zu einem weiteren ± und nicht mehr nur kritischen ± Ergebnis kommen wir, wird bedacht, daû die Mensch-Werkzeug-Relation bisher nur von einer Seite, nämlich der Beziehung auf Gegenstände vorgenommen wurde. Die andere Seite dieser Relation besteht aber gerade in der Bildung des sich in Vereinzelung als zwecksetzendes und realisierendes verstehenden Ichs. Ebenso wie die Natur der beständigen gegenständlichen Veränderung unterworfen ist18, durch die Veränderung der technischen Handlungsform, sosehr gilt dies auch für das Subjekt: ¹Seine eigene Physis ergreift und begreift er nur im Reflex des von ihm Gewirkten ± die Art der mittelbaren Werkzeuge, die er sich gebildet hat, 16 Die Definition von Natur anhand menschlicher Tätigkeit wird sich darin nicht erschöpfen. Anhand dieses Beispieles ist aber die Rückbeziehung auf die Produktionsform explizierbar (zu weiteren Überlegungen Gutmann 2004). 17 Dieses Verhältnis läût sich mit König als eine Art rückwärtige Aufhebung des gesetzten Anfanges begreifen: ¹Die Rückwirkung degradiert somit in gewisser Weise den Anfang und das Prinzip zu einem auch Folgenden und Prinzipiierten. Der Bereich des dem Sinnfälligen zugewandten nicht-metaphorischen Sprechens ist gleichsam die Eins zu dem Bereich des ihm folgenden metaphorischen Sprechens als der Reihe der übrigen Zahlen. Die unterirdische Rückwirkung degradiert diese Eins zu einer Zahlenreihe, als deren Eins nun umgekehrt der Bereich des metaphorischen Sprechens angesehen werden könnte, wenn nicht unverrückbar bliebe, daû der Bereich des Sinnfälligen der Zeit nach der Anfang ist. Es ist dies ein Verhältnis, das die Erinnerung an den Gedanken von Novalis wachruft: daû das ¾uûere ein in Geheimniszustand erhobenes Inneres ist (. . .)ª (König 1994: 175). Ein Anfang ist zunächst und vor allem ein solcher von und für etwas. Nach dessen Realisierung relativiert er sich zu einem möglichen und gibt damit auch das Resultat selber als möglichen Anfang weiterer Reihen wieder frei. 18 Dies zeigte sich in der fortwährenden Erzeugung von Naturbildern nach dem Stand der Entfaltung der Produktionsverhältnisse; auf der Ebene der einzelnen Subjekte nach dem Stand der jeweiligen ¹Technikª.

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erschlieût ihm die Kenntnis der Gesetze, die den Aufbau seine Körpers und die physiologische Leistung seiner einzelnen Gliedmaûen beherrschen. Aber auch damit ist die eigentliche und tiefste Bedeutung der ¹Organ-Projektionª noch nicht erschöpft. Sie tritt vielmehr erst hervor, wenn man erwägt, daû auch hier dem fortschreitenden Wissen um die eigene leibliche Organisation ein geistiger Vorgang parallel geht; daû der Mensch vermittelst dieses Wissens erst zu sich selbst, zu seinem Selbstbewuûtsein gelangt. Jedes neue Werkzeug, das der Mensch findet, bedeutet demgemäû einen neuen Schritt, nicht nur zur Formung der Auûenwelt, sondern zur Formierung seines Selbstbewuûtseinsª (Cassirer 1987: 257 f.).

Doch scheint gerade jene Selbstvergewisserung durch und in der Art der technischen Handlung von einer, der ¹objektivenª parallelen ¹subjektivenª Abstraktion bedroht. Denn in eben dem Maû in dem die Gegenstände die dem Verhältnis von Mensch und Werkzeug entspringen, sich entwickeln, scheint auch der Bezug auf sich selber durch sie hindurch immer vermittelter, immer ¹abstrakterª zu werden. Diese Abstraktion ist allerdings nur insofern als eine Entfernung vom verlassenen Zustand aufzufassen, als sie eben jenen Entwicklungsschritt zur (jeweils) neuen Herstellungsart bezeichnet. Es ergibt sich durch diese Veränderung eine weitere Relation die jener von Natur(Kultur) zu Kultur(Natur)19 entspricht. Bezeichnet man nämlich den verlassenen Zustand der (im Rückbezug) Natur(Kultur) als den Bereich der Wirklichkeit (im Sinne des bisher Verwirklichten) so ist das Realisierte, die Kultur(Natur) als Möglichkeit anzusprechen. Diese Möglichkeit ist aber keine abstrakte, gleichsam bloûe Möglichkeit sondern konkret, insofern sie die in der jeweiligen Wirklichkeit (also der Natur(Kultur) als Ausgangspunkt der Umbildung) gesehene Möglichkeit darstellt. Die Form des technischen Handelns führt also im erreichten Zustand durch die Anzeige jeweils weiterer eben nicht oder noch nicht realisierter Möglichkeiten über sich hinaus: ¹Dieses innere Wachstum erfolgt nicht einfach unter der ständigen Leitung, unter der Vorschrift und Vormundschaft des Wirklichen; sondern es verlangt, daû wir ständig vom ¸Wirklichen in ein Reich des ¸Möglichen zurückgehen und das Wirkliche selbst unter dem Bilde des Möglichen 19 Die Klammern sind wie folgt aufzulösen: es wird eine Entwicklungsreihe vorgestellt, die von einem bestimmten Zustand her (dieser erscheint damit als Natur, obgleich er selber schon je Kultur war, daher diese in Klammer) zu einem neuen Zustand führt, der seinerseits als kultureller aufzufassen ist (und da er das Ergebnis der Entwicklung von der scheinbaren Natur her ist, war hier dieselbe in Klammern anzeigt).

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erblicken. Die Gewinnung dieses Blick- und Richtpunkts bedeutet, in rein theoretischer Hinsicht, vielleicht die gröûte und denkwürdigste Leistung der Technik. Mitten im Umkreis des Notwendigen stehend und in der Anschauung des Notwendigen verharrend, entdeckt sie einen Umkreis freier Möglichkeiten. Diesen haftet keinerlei Unbestimmtheit an, sondern sie treten dem Denken als etwas durchaus Objektives entgegen. Die Technik fragt nicht in erster Linie nach dem, was ist, sondern nach dem, was sein kann. Aber dieses ¸Können selbst bezeichnet keine bloûe Annahme oder Mutmaûung, sondern es drückt sich in ihm eine assertorische Behauptung und eine assertorische Gewiûheit aus ± eine Gewiûheit, deren letzte Beglaubigung freilich nicht in bloûen Urteilen, sondern im Herausstellen und Produzieren bestimmter Gebilde zu suchen istª (Cassirer 1985: 81).

Da aber auch Zwecke ± die es unter Mitteleinsatz zu verwirklichen gilt ± immer nur solche sind, die sich dem Bezug auf ein Wirkliches (also schon Verwirklichtes) verdanken, zeigt sich nun, daû eben jene Zwecke ± die als ¹Entschluûª des Subjektes gedeutet werden können und diesem als Ausweis seiner Zwecksetzungsautonomie zu gelten haben ± erst in bezug auf (verwirklichte) Mittel bestimmt werden. Zwecke werden im technischen Handeln entdeckt: ¹In diesem Sinne hat jede wahrhaft originelle technische Leistung den Charakter des Ent-Deckens als eines Auf-Deckens: es wird damit ein an sich bestehender Sachverhalt aus der Region des Möglichen gewissermaûen herausgezogen und in die des Wirklichen verpflanzt. Der Techniker ist hierin ein Ebenbild jenes Wirkens, das Leibniz in seiner Metaphysik dem göttlichen ¸Demiurgen zuspricht, der nicht die Wesenheiten oder Möglichkeiten der Gegenstände selbst erschafft, sondern unter den vorhandenen, an sich bestehenden Möglichkeiten nur eine, und die vollkommenste, auswählt. So belehrt uns die Technik fort und fort darüber, daû der Umkreis des ¸Objektiven, des durch feste und allgemeine Gesetze Bestimmten, keineswegs mit dem Umkreis des Vorhandenen, des Sinnlich-Verwirklichten zusammenfällt (. . .)ª (Cassirer 1985: 81 f.).

Der Abstraktion als Ausgang vom je Verwirklichten zum noch nicht Verwirklichten ist somit zugleich auch immer Antizipation des ¹Sein-Könnensª. Faût man diesen Zusammenhang der Zweckverwirklichung und Entdeckung aber nur als Realisierung von Zwecken, ohne den Rückbezug auf das je Vorhergehende selber als Bezug auf ein ebenfalls schon vermitteltes aufzufassen, so wird der Schein erzeugt, diese zunehmende ¹Abstraktionª hebe vom unmittelbar erlebbaren Zusammenhang von Zwecken und Mitteln an und führte nun wenigstens auf der subjektiven Seite der Werkzeug-Mensch-Relation zu einer ¹selbständigenª und verselbstän-

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digten Gegenständlichkeit. Dieses von Simmel als ¹Tragödie der Kulturª angesprochene Entfremdungsgeschehen folgte so direkt aus dem angezeigten Verstehen von Technik; und in eben dieser Hinsicht bewahrheitete sich schlieûlich jene Tendenz, die Gehlen mit dem Unnatürlichen der Technik bezeichnete. Diese Deutung ergibt sich aber nur dann, wenn technisches Handeln und dessen Ergebnisse als Entfremdung verstanden werden. Lassen wir es zunächst als Entäuûerung gelten, so kann die Rede von Natur als Natur(Kultur) als Anzeige eben jener ¹Entäuûerungª des kulturellen Wesens Mensch selber aufgefaût werden. Zur Entfremdung würde sie nur, wenn zugleich vorausgesetzt werden könnte, daû es einen Zustand gegeben habe, der als wahrer Ursprungszustand nicht-entfremdet den Menschen sozusagen in der ihm angemessenen Form der direkten oder unvermittelten Erfahrung darzustellen erlaubte20. Läût man diese Voraussetzung als Miûverstehen technischen Handelns fallen, so kann die Kritik am ¹Unnatürlichenª der Technik nur hinsichtlich der Zwecke formuliert werden, denen technisches Handeln zu dienen habe. Und hier gilt dann allerdings: ¹Sowenig die Technik, aus sich und ihrem eigenen Kreis heraus, unmittelbar ethische Werte erschaffen kann, sowenig besteht eine Entfremdung und ein Widerstreit zwischen diesen Werten und ihrer spezifischen Richtung und Grundgesinnung. Denn die Technik steht unter der Herrschaft des ¸Sachdienstgedankens, unter dem Ideal einer Solidarität der Arbeit, in der zuletzt alle für einen und einer für alle wirkt. Sie schafft, noch vor der wahrhaft freien Willensgemeinschaft, eine Art von Schicksalsgemeinschaft zwischen all denen die an ihrem Werke tätig sindª (Cassirer 1985: 89).

Die Bewertung von Technik ± etwa im ethischen Verstande ± bliebe dieser äuûerlich, insofern jene nicht (gleichsam auûermoralisch) zunächst als Form menschlichen Wirkens verstanden und anerkannt wird. Jedoch und dies war der Ausgangspunkt unserer Untersuchung, ist dieser Bezug von Technik auf Zwecke ± und mithin auf Sachdienstbarkeit ± gerade kein ihr externer. Indem im technischen Handeln sich der Mensch als wirkliches und verwirklichtes Wesen weiû, muû der reflexive Rückbezug, den wir als ¹subjektiveª intentio obliqua anzeigten, auf das, was und wie es getan wird, als konstitutives Moment seiner Selbstbildung begriffen werden: 20 Methodologisch bedeutet dies eine (unzulässige) Umkehrung der Rekonstruktions- in die Konstitutionsreihenfolge.

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¹Soll dieser Gedanke sich wahrhaft auswirken, so ist freilich erforderlich, daû er mehr und mehr seinen impliziten Sinn in einen expliziten verwandelt: daû das, was im technischen Sinn geschieht, in seiner Grundrichtung erkannt und verstanden, daû es ins geistige und sittliche Bewuûtsein erhoben wird. Erst in dem Maûe, als dies geschieht, wird Technik sich nicht nur als Bezwingerin der Naturgewalten, sondern als Bezwingerin der chaotischen Kräfte im Menschen selbst erweisenª (Cassirer 1985: 89).

Die Form technischen Handelns also ist es, die den Menschen zu dem macht, was er ist. Damit kann auch die Rede vom Mensch als Naturwesen nur aufgefaût werden als eine Rede über die Natur(Kultur) des Menschen, die jener in seiner Kultur(Natur) verwirklichte. Wirkliche Befreiung zielte also weder auf die Lösung von der Form technischen Handelns noch auf die von den, an seine konkreten Erscheinungen herangetragenen Zwecke. Erst indem der Mensch als das in seiner Arbeit sich reproduktiv verwirklichende Wesen begriffen ist, kann auch die Herrschaft über ¹Naturª zunächst und vor allem als die Verfügung über sich selbst angesehen werden. Dieses doppelte Verhältnis, das zum einen das Verhältnis des Menschen zu sich selber (in Gemeinschaft nämlich) und zum anderen das Verhältnis des Menschen (in Gemeinschaft) zur Umgebung (der schon gestaltet vorgefundenen Natur(Kultur)) ist also gemeint, wenn von der Gestaltung der Produktions- und Reproduktionsverhältnisse menschlicher Gemeinwesen die Rede ist. Wir wollen nun in einem letzten Schritt die Folgen dieser begrifflichen Klärungen für das metaphorische Verhältnis zur Rede von Biodiversität als Mittel der Reproduktion von Gemeinschaften anzeigen.

6. Konstruktive Umweltwissenschaft statt Bioethik? Wird die Rede von Biodiversität ± und dies in einem umfassenden, eben nicht nur den hier exemplarisch vorgenommenen Artbegriff einbeziehenden Sinn ± als metaphorische Anzeige für Produktionsund Reproduktionsverhältnisse von und in Gemeinwesen verstanden, dann ergibt sich nun umgekehrt die Aufgabe, die methodische Funktion dieser Metapher zu bestimmen. Die oben schon aufgeworfene Frage ist einfach deshalb zu beantworten, weil sich die Biodiversitäts-Metapher in der durch sie hergestellten Beziehung

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von wissenschaftlicher Beschreibung und der Struktur von Gemeinwesen als ¹eigentliche Metapherª erweist. Mit König unterscheiden wir die bloûen Metaphern von den eigentlichen: ¹Reine Metapher ist eine Metapher, die bloû Metapher, die also nicht zugleich mehr als eine Metapher ist. Daû sich der Hund regt, ist eine reine Metapher. Ihr steht als ein rein eigentlicher Ausdruck z. B. der Hund regt sich gegenüber. Hingegen das Herankommen des Kommenden, oder auch das Fortgegangensein (nämlich des Vergangenen als solchen) ist mehr als eine bloûe Metapher; und das gilt überhaupt von den modifizierenden Reden. Die Selbstinterpretation ist mehr als ein metaphorischer Akt. Und dieses ± d.h. das soeben Hingeschriebene ± ist prinzipiell nicht so etwas wie eine subjektive Versicherung, sondern eine theoretische Bestimmung der Selbstinterpretationª (König 1969: 208 f.).

Im Unterschied zu diesen bloûen Metapher als deren paradigmatisches Beispiel der Beinamen ¹Richards Iª gelten kann, sind eigentliche Metaphern solche, die sich nicht in der gezeigten einsinnigen Form auflösen lassen. Für diese gilt vielmehr: ¹Das Merkwürdige ist nun dies, daû sich unschwer Metaphern aufweisen lassen, die nicht nur verschiedene Metaphern sind, sondern die als Metaphern verschiedene Metaphern sind. Es sind Metaphern, rücksichtlich derer es keinem Zweifel unterliegt, daû sie beide in der Tat Metaphern sind, und die dennoch über die Verschiedenheit ihres Inhaltes hinaus einen Formunterschied in der Weise ihres Metapher-seins vor Augen stellenª (König 1994: 158).

Als Beispiele können solche Worte wie ¹denkenª, ¹begreifenª, ¹wahrnehmenª oder ¹entwickelnª angeführt werden. Solche Metaphern erschöpfen ihre Funktion nicht einfach in der ¹Übertragungsleistungª ± also etwa im Übergang von einem Bereich vertrauten und sprachlich wohlstrukturierten Handelns zu einem erst noch zu strukturierenden. So können wir etwa das Verb ¹denkenª an dem vertrauten handwerklichen Herstellen nicht nur erläutern sondern strukturieren, d.h. sprachlich dem Handeln des Einzelnen zugänglich machen. Das Denken erscheint dann als ein Herstellen ± allerdings als ein Herstellen ganz anderer Art als das handwerkende Herstellen. Zugleich bezieht sich aber auch das Denken auf das Handeln, sodaû wir nun bestimmte Aspekte dieses ganz anderen Handelns auch dort entdecken können, wovon her wir den Anfang der Erläuterung nahmen. Methodologisch entscheidend ist nun die Möglichkeit, solche Metaphern zu Modellen zu verschärfen, indem wir eine z. B. technisch normierte Sprache zur Normierung auch der Rede über den neu erarbeiteten Bereich verwenden

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(dazu Gutmann/Hertler 1999, ferner Weingarten 1999, und Gutmann/Weingarten 2001). Genau dieses Verhältnis scheint auch bei der Rede von Biodiversität und den darin enthaltenen Bestimmungen vorzukommen. So fanden wir oben bei der Darstellung der Spangenbergschen Überlegungen nach wie vor das Wort ¹Ökosystemª als Bezugsgegenstand wirtschaftenden Handeln. Das Wort verweist auf die Beschreibung von Naturstücken, von Umgebungsaspekten unter Nutzung einer ausgezeichneten Beschreibungssprache. So werden etwa Lebewesen funktional beschrieben und strukturiert und können dann als Komponenten zu Elementen des Aufbaues von ¹Systemenª genutzt werden (dazu weiterführend Gutmann/Janich 2002a). Entscheidend ist dabei der Sprachebenenwechsel der unter Nutzung expliziten ± etwa physikalischem und technischen ± Wissens von der Beschreibung biotischer Gegenstände (Lebwesen, Umgebungstücken und -eigenschaften etc.) zu einer normierten biologischen Beschreibung (Ökosysteme, Energieflüsse, trophische Stufen etc.) vorgenommen wird. Auf diese Weise lassen sich die methodischen Anfänge von Ökologie als biologischer Disziplin gewinnen. Das eigentlich metaphorische im angezeigten Sinne liegt nun darin daû eben dieses Strukturierungswissen, welches ökologisch erarbeitet wird, als Mittel zum Zweck der Gestaltung und Entwicklung wirtschaftenden Handelns genutzt werden kann. Das als Mittel auftretende Wissen ist unverzichtbar nicht weil es die Lebewelt so abbildete, wie sie ist, sondern weil es uns gestattet Ergebnisse und Folgen unseres Handelns ± also auch unerwünschte Folgen ± zu bemerken und ihre Relevanz für die weitere Nutzung der so bewirtschafteten Naturstücke zu erkennen. Innerhalb solcher Beschreibungen können dann auch Arten als eben solche Kriterien der Beurteilung von Praxen auftreten und verwendet werden. Die so konstituierte Wissenschaft würde dann ± um Sprachverwirrung zu vermeiden ± nicht als Ökologie und schon gar nicht als ¹angewandteª Ökologie geführt. Diese Beschreibung verkehrte das angezeigte praktische Verhältnis wieder in ein szientistisches Miûverständnis; wie wollen vielmehr mit Weingarten (1998) von einer ¹Umweltwissenschaftª reden, deren Aufgabe nicht in der Gewinnung von Wissen um das wie auch immer bestimmtes Sosein der Lebewelt bestünde, als vielmehr in der Bereitstellung und Entwicklung von Wissen, das der ± nach Maûgabe unserer Oberzwecke ± erfolgreichen Strukturierung menschlicher Praxis zugrunde läge. Wissenschaft würde so zu einer

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bestimmten Form gesellschaftlicher Arbeit, die auf die Form der Gesellschaft selber zurückwirkt. Dieses Wissen veränderte sich gemäû der Veränderung der Mittelverhältnisse der Praxen und mithin hätten wir es mit einer Entwicklung zu tun. Zu beseitigen wäre also vorderhand nicht sosehr die als ökologisch miûverstandene Krise der Biodiversität als vielmehr gerade jene Beschreibung menschlicher Tätigkeit, die diese als Naturphänomen miûzuverstehen nahelegte.

7. Ist das Leben ein biologischer Gegenstand? Wir können damit zu unserer Anfangsfragestellung zurückkehren. Der Ausdruck ¹Lebenª rechtfertigte dort in einem ersten Schritt die Gegenstandsbestimmung von ¹Bioethikª mit dem Bezug auf Life-Sciences. Unsere Exemplarische Durchführung anhand des Artproblems im Rahmen des Biodiversitätdiskurses hat nun zweierlei deutlich werden lassen: 1. Die Gegenstände der Life-Sciences verdanken sich zumindest hinsichtlich des methodischen Anfanges derselben ihrerseits schon dem Bezug auf menschliche Tätigkeiten. Dies führte in der Untersuchung des Ausdruckes ¹Naturª dazu, in dieser einen Aspekt menschlicher Tätigkeit zu erblicken und nicht (im ersten Schritt) ein ¹Auûerhalbª derselben. 2. Dies schloû den Bezug auf ¹Nutzenª nicht nur nicht aus, sondern integrierte ihn konstitutiv. Beide Resultate zeigten nun aber eine kontraintuitive Folge, denn gerät der Mensch als Lebewesen, wie auch als Kulturwesen in den Bereich lebenswissenschaftlicher Reflexion, so stellt sich die Frage, was genau der Referent des Ausdrucks Leben eigentlich sein soll. Dabei können wir uns eine Ambivalenz des Wortes ¹Lebenª, die schon in der griechischen Gegenüberstellung von zoe und bios zum Ausdruck kommt, zu nutze machen. Bios bezeichnet zwar durchaus auch den Lebensvorgang, bezieht sich aber vorzüglich auf ¹Lebensformenª, d.h. Tätigkeiten innerhalb eines menschlichen Gemeinwesens. Eine Polis stellt danach verschiedene Lebensformen bereit, der der Einzelne qua seiner Tätigkeit zugerechnet wird, wie etwas den bios theoretikos, politikos etc. (dazu Arendt

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1958). Demgegenüber bezeichnet das Wort zoe tatsächlich den reinen Lebensvorgang, der sich bei Mensch wie Tier gemeinsam finden mag, und der durch den Entzug gewisser Bedingungen unwiderruflich zum Erliegen kommt. Ohne sich in etymologische Spekulationen zu verlieren, wird zumindest deutlich, daû sich aus dieser Ambivalenz des Wortes Leben, wenn es für die Life-Sciences in Anspruch genommen wird, ein systematisches Problem ergibt, das üblicherweise als Anfangsproblem bezeichnet wird. Zunächst ist nämlich gar nicht bestreitbar, daû lebenswissenschaftliche Beschreibungen auch des Menschen ohne jede Relevanz für die Bestimmung dessen sein dürften, was als Lebensform innerhalb eines Gemeinwesens gelten soll. Denken wir an unsere Beispiele, so erhellt sogleich, daû bei der Beschreibung der Tätigkeit eines Politikers oder eines Hopliten der Bezug auf den Lebensvorgang (im Sinne der zoe) ebensowenig für die Beurteilung der dabei erbrachten Leistungen austragen dürfte, wie der Hinweis auf die Stabilität der Materie. Unbestreitbar ist eine solche Stabilität zu unterstellen, soll diese Tätigkeit überhaupt möglich sein. Sie gehört wohl zu jener (unabschlieûbaren) Vielzahl notwendiger Bedingungen, wie wir sie für eine ganze Reihe von Natur- und Kulturvorgängen fordern würden. Jedoch trägt der Zusatz weder etwas zur Erläuterung des Infragestehenden aus, noch würde seine Verneinung zu einer genauen Einschränkung dieser Tätigkeit führen ± sie hätte eben einfach nicht mehr statt. Diese ± auf den ersten Blick entweder weither geholten oder auf den zweiten Blick trivial scheinenden ± Betrachtungen entfalten ihre systematische Bedeutung allerdings sogleich, wenn wir die Frage umkehren, ob denn möglicherweise nicht ein Wissen über (menschliche) Lebensformen und deren Gelingen notwendig ist, um Beschreibungen der zoe auch nicht-menschlicher Lebewesen anfertigen zu können.

8. Das Leben als determinierender und als modifizierender Terminus Für unsere abschlieûenden Überlegungen21 ist eine kurze Besinnung auf die Sprache, die wir verwenden, wenn wir von Leben 21

Das Folgende basiert auf Gutmann 2005.

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und Lebewesen reden, notwendig. Wenn wir von einem Lebewesen sprechen, so können wir darauf durch den Ausdruck ¹x lebtª oder ¹ist lebendigª bezug nehmen. Formen wir nun diesen Ausdruck um in ¹x ist ein Lebendigesª, so scheinen wir auf den ersten Blick an der Bedeutung des Ausdrucks nichts geändert zu haben. Das Lebewesen wird zum Einzelding, und dieses Einzelding erscheint als Träger von Merkmalen, deren weitere Charakterisierung uns seine sichere Einordnung in die Klasse des Lebendigen erlaubt. Rein sprachlich ergeben sich zwei grundsätzlich differente Optionen: 1. Wir könnten die gesuchten Merkmale als Bestimmungen ¹desª Lebensª verstehen. Der eigentliche Gegenstand biologischer Forschung wäre dann ¹dasª Leben, das sich in unterschiedlichen Formen in Einzeldingen konkretisiert (den Lebewesen). Eben dies scheint Mayr vorzuschlagen, wenn er folgende Eigenschaften angibt22: ¹These properties of living organisms give them a number of capacities not present in inanimate systems: A capacity for evolution, a capacity for self-replication, a capacity for growth and differentiation via a genetic program, a capacity for metabolism (the binding and releasing of energy) a capacity for self-regulation, to keep the complex system in steady state (homeostasis, feed-back), a capacity (through perception and sense organs) for response to stimuli from the environment, a capacity for change at two levels, that of the phenotype and that of the genotypeª (Mayr 1997: 22).

Diese Definition bestimmt zwar in einem ersten Schritt die Gegenstände der Biologie als ¹belebteª. Aber es handelt sich um belebte Dinge (sei es die Materie oder die Organismen), die den eigentlichen Gegenstand der wissenschaftlichen Arbeit bilden. Nicht also ¹dasª Leben weist die Eigenschaften auf, die als einschlägig angenommen werden, sondern vielmehr die belebten Gegenstände. Die Folgen dieser kleinen Differenz sind in der Tat grundsätzlich, denn nun muû nicht ¹das Lebenª in den Blick kommen, sondern lediglich die Differenz zwischen belebten und unbelebten Gegenstän-

22 Die sprachliche Unterscheidung, auf die es uns hier ankommt, ist auch ohne Bezug auf Mayr zu rekonstruieren. Mayr ist sich (sieht man auf die im folgenden einigermaûen regellose Verwendung von lebendig als Prädikat und als Abstraktor oder als Reflexionsterminus) im übrigen der Implikationen dieser grammatischen Differenzen wohl kaum bewuût. Da sie ihm hier aber jedenfalls unterlaufen, mögen sie der Verdeutlichung dienen.

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den mit explizitem Bezug auf biologische Beschreibungen formuliert werden: ¹At the molecular level, all ± and at the cellular level, most ± of their functions obey the laws of physics and chemistry. There is no residue that would require autonomous vitalist principleYet, organisms are fundamentally different from inert matter. They are hierarchically ordered systems with many emergent properties never found in inanimate matter; and, most importantly, their activities are governed by genetic programs containing historically acquired information, again something absent in inanimate natureª (Mayr 1997: 20 ff.).

Die resultierende Systemtheorie des Lebendigen erlaubt es, auch für belebte Gegenstände sowohl die Gesetze des Unbelebten wie die spezifischen, nur bei der biologischen Beschreibung auftretenden Regelmäûigkeiten anzuwenden. Gegenstand der Biologie ist also ± so können wir zusammenfassend sagen ± nicht ¹dasª Leben, sondern lebendige Gegenstände, für die die von Mayr gewählte Bezeichnung ¹Integronª zutreffen mag: ¹Every system, every integron, loses some of its characteristics when taken apart, and many of the important interactions of components of an organism do not occur at the physicochemical level but at a higher level of integration. And finally, it is the genetic program, which controls the development and activities of the organic integrons that emerge at each successively higher level of integrationª (Mayr 1997: 20).

Die Erklärung ¹des Lebensª ist dann aber keine naturwissenschaftliche Aufgabe ± was genauer bedeutet, daû das Wort ¹Lebenª im naturwissenschaftlichen Zusammenhang anders fungiert als auûerhalb desselben. Der bestimmte Artikel hat uns also in die Irre geführt ± ganz ähnlich übrigens, wie bei anderen wohlbekannten wissenschaftlichen Gegenständen wie etwa ¹demª Raum oder ¹derª Zeit (dazu Janich 1997). 2. Nehmen wir Mayrs kritischen Hinweis auf, dann bliebe als weitere Möglichkeit, den Ausdruck ¹das Lebenª lediglich als zusammenfassende Redeweise über bestimmte Fähigkeiten oder Leistungen von Lebewesen zu verstehen. In diesem Fall könnten die seit Roux kanonischen Eigenschaften des Lebens als Charakteristika von (lebendigen) Einzeldingen verstanden werden. Allerdings bringt auch diese Lösung gewisse Probleme mit sich. So stellt sich zum Beispiel die Frage, welche der Kriterien denn mindestens vorliegen müssen, um von einem Lebendigen reden zu können. Die Abgrenzung zu nicht-lebendigen Gegenständen hinge von der Prä-

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ferenzordnung der Liste dieser Eigenschaften ab und führte ± wie die Geschichte der Biologie immer wieder zeigt (Jahn 1990) ± zu schwer entscheidbaren Abgrenzungsproblemen (etwa im Falle der Phagen und Viren). Beide Alternativen, so entgegengesetzt sie in den Folgen sein mögen, haben doch eine Gemeinsamkeit: sie entstammen der Vermutung, daû der Ausdruck ¹lebendigª sich auf individuelle Dinge bezieht, etwas an ihnen bezeichnet. Um hier eine Alternative finden zu können, die uns zum einen das Wort ¹lebendigª zugänglich macht, zum anderen aber die angezeigten Schwierigkeiten vermeiden hilft, sei auf eine Beobachtung Königs verwiesen, daû das Wort ¹lebendigª durchaus auch ohne Bezug auf ein Ding verwendet werden kann. Denken wir etwa an die Formulierung des ¹so-Wirkensª z. B. einer Bewegung, und führen wir uns dies am Beispiel eines in eine Decke eingewickelten Schläfers und die durch Atmung erzeugte eigentümliche Rhythmik der Bewegung vor Augen: ¹Ein Kamerad schlafe in Decken eingewickelt bei uns auf dem Divan, und wir sehen, wie sich die Decken in jenem eigenartigen Rhythmus seines Atmens heben senken. Wir können uns nun auch einen Apparat vorstellen, der unter eine solche Decke gesetzt ein leidlich ähnliches Bild von Hebung und Senkung hervorbringt. Im ersten Fall haben wir eine ¹lebendigeª, im zweiten eine ¹tote Bewegungª vor unIst nun ein ¹Lebendigkeitseindruckª im Sinne dieses ersten Falls ein Eindruck-von-Lebendigkeit in dem von uns gemeinten Sinnª (König 1937: 217)?

Diese Frage wird verneint und zwar gerade mit Hinweis auf die eigentümliche Tatsache, daû wir ja von der Bewegung selber als einer Lebendig-Wirkenden sprachen ± und nicht (zunächst) von dem Kameraden, der da unter einer Decke liegend rhythmische Atembewegungen produziert: ¹Offenbar nicht. So wie ein lebendiger Mensch, so kann auch eine solche ¹lebendige Bewegungª selber sowohl lebendig als auch unlebendig wirken. In diesem letzten Fall wirkt durchaus sie; und sie wirkt und ist dann schlechthin lebendig (oder unlebendig), während die Bewegung im Sprachgebrauch Pleûners nicht selbst lebendig istª (König 1937: 217).

Damit ist ein sprachlicher Unterschied bezeichnet, der beim Übergang vom Lebendig-Wirken zum Wie-ein-Lebendiges-Wirken schlicht nivelliert wird, daû nämlich eine Bewegung lebendig wirken könne, ohne deshalb notwendig Bewegung eines Lebendigen zu sein. Im ersten Fall bezeichnet ¹Lebenª nicht ein Ding, dem ein Merkmal zukommt (eben das Lebendig-Sein), sondern in etwas

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altertümlicher Diktion eine Anmutung der Bewegung als einer mehr oder minder lebendig-wirkenden ± und zwar auf uns! Im zweiten Fall hingegen befinden wir uns bereits in einem bestimmten sprachlichen Kontext, bei dem die Transformation der Aussage ¹x lebtª zu ¹x ist ein Lebendigesª schon vollzogen und als wahr unterstellt wurde. Nun ist es aber bei genauerer Betrachtung der Königschen Unterscheidung (des Wie-ein-Lebendig-Wirkens und des Lebendig-Wirkens) gerade entscheidend, daû mit der Umformung durch die Grammatik der Rede ¹x ist ein Lebendigesª der Eindruck eines vorliegenden Dinges mit Eigenschaften (etwa den konstitutiven des Lebens) überhaupt erst erzeugt wurde: ¹In dem Wort lebendig liegt die Zweideutigkeit, daû es einmal soviel wie leben meint, dann aber auch ursprünglich interpretierende Metapher des Wie des Wirkens ist; und diese Zweideutigkeit geht auf ¹den Lebendigkeitseindruckª über. Pleûners ¹lebendige Bewegungª ist nicht eine Bewegung, die lebendig-wirkt, sondern eine solche, von der wir freilich sagen können, sie wirke wie die Bewegung eines Lebendigen. Der Ausdruck ¹lebendige Bewegungª ist dann sprachlich korrekt und in systematischer Absicht belehrend, aber er ist kein ursprünglich interpretierender Ausdruck in unserem Sinnª (König 1937: 217).

Wir können danach das Wort ¹lebendigª in zwei Bedeutungen verstehen. Nämlich als echt determinierenden Ausdruck, der sich in der grammatischen Struktur nicht von Prädikationen wie ¹x ist rotª oder ¹x ist schwerª unterscheidet und als modifizierenden Ausdruck. Für die modifizierende Verwendung denke man exemplarisch an ¹x ist gütigª oder ¹x ist schönª. Es handelt sich um ¹wertende Prädikateª die nur oberflächlich den determinierenden entsprechen. Für diese können abgrenzend etwa folgende Kriterien angeführt werden: ¹Modifizierende Ausdrücke von der Art des Ausdrucks lebendig sind durch zwei, ihrerseits miteinander zusammenhängende Eigenschaften charakterisiert, die besondere Erwähnung verdienen: sie sind steigerungsfähig und haben ein echtes Gegenteil (enantion). Etwas wirkt mehr oder minder lebendig, z. B. äuûerst, aber etwa auch ziemlich lebendig. Und dem lebendig-Wirken steht ein ursprüngliches, echt konträres, unlebendige-, tot-Wirken, das auch seinerseits steigerungsfähig ist, zur Seiteª (König 1937: 214).

Diese Kriterien erlauben zumindest eine erste annähernde Unterscheidung der Funktion um die es zu tun ist. Dabei ist zu bedenken, daû der Gegensatz nicht in jenen zwischen theoretischer und vortheoretischer Rede aufgeht:

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¹Daû ein Satz wie X lebt keine theoretische Bestimmung ist [. . .], darf nicht dahin gekehrt werden, daû er schlechthin keine solche darstellen könne. Sagen wir Tiere und Pflanzen leben, Steine nicht, so fungiert leben offenbar theoretisch bestimmendª (König 1937: 215).

Vielmehr ist theoretische und praktische Bestimmung die Angabe des sprachlichen Feldes, in dem Worte als determinierende Prädikate fungieren können. Das gleiche muû zumindest in einer Hinsicht auch für modifizierende gelten, daû nämlich Worte als modifizierende Ausdrücke fungieren können. Die Unterscheidung, so können wir unsere bisherigen Betrachtungen zusammenfassen, sind also jedenfalls solche an etwas ± und zwar an Reden. Wörter können als determinierende oder modifizierende Prädikate fungieren. Und innerhalb dieser Funktionsunterscheidung ist die determinierende Verwendung Bedingung der Möglichkeit der modifizierenden. Die Bedeutung dieses grammatischen Unterschiedes wird deutlicher, wenn man die etymologische Nähe von Leben zu Leib berücksichtigt (König 1937). Leibliche Verhältnisse wären danach solche, die sich im interindividuellen Lebensverkehr, in gemeinsamer Tätigkeit, lebensweltlichem Tun und Handeln herausbilden. Davon zu unterscheiden ist die Rede vom Körper, der eine Strukturierung des Leibes unter Nutzung ausgezeichneter Sprachmittel (etwa technischer Modellierung) bezeichnet. Ein lebendiger Körper ist dann notwendigerweise kein Gegenstand lebensweltlicher Verhältnisse mehr (dazu Gutmann/Weingarten 2001a, Gutmann 2004). Immerhin aber gewinnen wir durch den Bezug auf interindividuelle Tätigkeiten einen methodischen Anfang für die Konstitution biowissenschaftlicher Gegenstände.

9. Schluû Die Rückbeziehung der Gegenstandskonstitution der Biowissenschaften auf kultürliche und natürliche Aspekte menschlichen Tuns und Handelns hat ein überraschendes Defizit bioethischer Reflexion deutlich werden lassen. Sind nämlich die Gegenstände ethischer Reflexion nicht einfachhin ¹der Naturª oder ihrer Beschreibung durch Biowissenschaften zu entnehmen, dann kann die Rechtfertigung oder Zurückweisung von Eingriffen an Naturstükken auch nicht mit Bezug auf natürliche Eigenschaften dieser Ge-

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genstände gelingen. Die Eingriffe, für die uns hier die Veränderung von Biodiversität als Beispiel diente, entpuppen sich vielmehr als Veränderungen des Natur-Kultur-Verhältnisses innerhalb der technischen Struktur menschlichen Handelns. Die methodologische Rolle der Bioethik verändert sich damit grundlegend. Die vorgängige Unterscheidung von Natur und Kultur innerhalb der Natur wies der Bioethik genau jene Rolle zu, die Veränderung von Naturstücken durch den Menschen hinsichtlich der Ausgangszustände, der Folgen und Ergebnisse oder anderer Kriterien zu bewerten. Mit der Rekonstruktion der Eingriffe als Veränderung und Entwicklung menschlicher Tätigkeit lassen nun mindestens zwei unterschiedlich starke Vermutungen formulieren: 1. Bioethik bleibt primär ethische Reflexion, nutzt aber den Bezugsrahmen, der durch die kulturalistische Rekonstruktion biowissenschaftlicher Gegenstände definiert wird. Dies führt ± wie wir oben am Beispiel der primär ökonomischen Bewertung andeuteten ± allerdings über eine Nutzenorientierung auch dann kaum hinaus, wenn ¹Nutzenª in sehr weitem Sinne gefaût wird (Lovejoy 1997), sodaû sich auch ästhetische oder traditionale Aspekte integrieren lassen. Die Mittel, deren Einsatz die Veränderung hervorruft oder herbeiführt treten allerdings in dieser Betrachtung hinter die Zwecke zurück, die den Einsatz selber regieren. Aufgabe bioethischer Darstellung wäre mithin in erster Linie, diese Zwecke und deren Rechtfertigung zu reflektieren; die Frage nach dem Metanutzen von Kultur selber bleibt notwendig ausgespart23. 2. Eine sehr viel stärkere Vermutung bezöge die Ergebnisse unserer Rekonstruktion ein und lieûe die Aufgabe von Bioethik eher darin bestehen, die Bedingungen der Reproduktion von Gemeinwesen unter normativen Gesichtspunkt zu betrachten. In diesem Fall wären die Mittel ebensosehr wie die Zwecke ihres Einsatzes Gegenstand der kritischen Betrachtung. Die zweite Vermutung führte uns am Beispiel der Biodiversität zu einer Unterscheidung von ¹Umweltwissenschaftª und ¹Ökologieª wobei die letztere eine rein biowissenschaftliche Beschreibung und Strukturierung von Naturstücken (nach Erklärungszwecken) und deren Veränderung bliebe, während die erstere genau jene

23 Es sei denn, man investierte hier eine ¹Erhaltungsnormª, die biowissenschaftlichen Überlegungen zur viability und zur ¹Selbsterhaltungª parallelisiert wird.

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Aspekte der Kultürlichkeit des Natürlichen berücksichtigte, die wir zur Behebung des identifizierten Defizits der Bioethik anmahnten.

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Martina Lenzen-Schulte/Annette Queisser-Luft (Mainz)

Zum Konflikt zwischen Kindeswohl und elterlichem Wunschdenken: Gesundheitsrisiken bei assistierter Reproduktion 1. Einleitung Weltweit wurden bis heute nahezu 2 Millionen Kinder durch die Hilfe künstlicher Befruchtungsmethoden geboren. Für das Jahr 2025 prognostizieren amerikanische Wissenschaftler, daû allein dort 5,4 bis 7,7 Millionen infertile oder subfertile Frauen eine invitro-Fertilisation anstreben werden. In Deutschland sind zur Zeit schätzungsweise 15 Prozent aller Paare, das sind rund 2 Millionen Personen, ungewollt kinderlos. Hierzulande werden jährlich etwa 10.000 Kinder von insgesamt 700.000 mit Hilfe einer in-vitro Fertilisation geboren. Dafür werden mehr als 90.000 Behandlungszyklen an Frauen vorgenommen ± Hormonbehandlung, Eientnahme mittels Punktion der mütterlichen Eierstöcke, künstliche Befruchtung mit männlichen Samenzellen im Labor und Transfer des Embryos1 in die Gebärmutter. Die assistierte Reproduktion (ART oder Assisted Reproductive Technologies) hat die Verfügbarkeit des Embryo möglich gemacht. Die Frage nach der Forschung an menschlichen Embryonen beherrscht seither die bioethische Debatte. Geht es um die Kinder, die aus in-vitro Zeugungen hervorgehen, so diskutiert man in erster Linie jene Probleme, die mit den theoretischen Verbesserungsmöglichkeiten, im Sinne eines Designerbabys, in Zusammenhang 1 Wir verwenden auch im folgenden den Begriff ¹Embryoª gemäû der Definition des Deutschen Embryonenschutzgesetzes ab dem Zeitpunkt der Kernverschmelzung. Vorher handelt es sich um eine sich teilende befruchtete Eizelle oder Zygote.

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stehen, weniger die negative Seite vermehrter gesundheitlicher Risiken. In der täglichen Praxis spiegelt dies einen ausgeprägten Verleugnungsprozeû wider. Denn während die Vorstellung eines Eigenschaften-Designs angesichts der Komplexität der allermeisten Anlagen utopisch anmutet, sind die Gesundheitsschäden der in-vitro gezeugten Kinder seit vielen Jahren dokumentiert. Ein groûer Teil jener Zwillinge und Mehrlinge, die zu Tausenden seither geboren wurden, wird ein Leben lang gesundheitlich beeinträchtigt bleiben. Es gibt wissenschaftliche Untersuchungen, wonach Retortenkinder vermehrt Fehlbildungen davontragen. Ein neues Medikament, daû derartige Unwägbarkeiten beinhaltete, würde schwerlich eine Zulassung erhalten. Für die Präimplantationsdiagnostik (PID) gibt es derzeit noch keine verlässlichen Erkenntnisse, die die bestehenden theoretischen Bedenken um diesen invasiven Eingriff am Embryo ausräumen könnten. Wir möchten die Schwerpunkte Mehrlinge, Fehlbildungen, Präimplantationsdiagnostik im Hinblick auf mögliche Erkrankungen ausloten und implizite Risiken darstellen. Unter dem Gesichtspunkt möglicher Gesundheitsschäden der Kinder wird diskutiert, in welcher Weise reproduktionsmedizinisches Handeln durch Wünsche und Ansprüche der Eltern begründet wird.

2. Mehrlingsschwangerschaften Die Reproduktionmedizin hat die Zahl der Mehrlingsschwangerschaften erheblich ansteigen lassen. Die auch als ¹Mehrlingsepidemieª bezeichnete Entwicklung birgt für Mutter und Nachwuchs ernstzunehmende Gefahren (1, 2, 3) und führt letztlich zu einer veränderten Zusammensetzung der Geburtenkohorte. Je mehr Mütter im fortgeschrittenen Alter zum Beispiel während einer Schwangerschaft einen Diabetes mellitus entwickeln, mit desto mehr zuckerkranken Kindern ist künftig zu rechnen. Der auûerordentliche Zuwachs an Mehrlingen verläuft parallel zur Verbreitung moderner Reproduktionstechniken. Im Vergleich zu 1980 lag die Zwillingsrate im Jahr 2001 in den Vereinigten Staaten um 59 Prozent höher. Die Rate von Drillingen und höhergradigen Mehrlingen (Vierlinge usw.) hatte sich gar um 401 Prozent

Zum Konflikt zwischen Kindeswohl und elterlichem Wunschdenken

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gesteigert (4). In absoluten Zahlen beziffern sich die Mehrlinge, die über die natürliche Rate hinaus zwischen 1980 und 1997 in den Vereinigten Staaten geboren wurden auf 225.000 Kinder (5). In Deutschland ist die Zahl der Zwillinge durch Maûnahmen der assistieren Reproduktion um etwa das 20fache gegenüber der natürlichen Zwillingsrate von etwa 1,2 Prozent der Neugeborenen angestiegen (6). ¾hnliche Raten werden für Australien und für andere Länder der westlichen Welt genannt, zumindest für jene Zeiträume, in denen man noch keine Maûnahmen zur Eindämmung dieser Entwicklung ergriffen hatte (2). Weltweit ist inzwischen zweifelsfrei belegt, daû die Mehrlingsproblematik rein quantitativ ein nicht zu leugnendes Handicap im Zusammenhang mit reproduktionsmedizinischen Methoden darstellt. Mehrlinge bergen immer höhere gesundheitliche Risiken für die Kinder und die Mütter. Diese Schwangerschaften enden häufiger in Aborten. Die Mütter haben bis zu dreimal mehr als bei Einlingschwangerschaften mit Schwangerschaftsdiabetes, Bluthochdruck mit der Gefahr der Ödembildung verbunden mit Krampfanfällen (Eklampsie) und mit Blutungen in der Schwangerschaft zu rechnen ± Zustände, die sich abgesehen von dem mütterlichen Risiko auch negativ auf das Kind auswirken. Mehrlinge werden, und das ist das gröûte Gefahrenmoment für diese Kinder, in aller Regel zu früh geboren. 37 Prozent der Drillinge werden vor der 32. Schwangerschaftswoche geboren und ein etwa ebenso hoher Prozentsatz wiegt weniger als 1500 Gramm bei der Geburt. Ihre perinatale Sterblichkeit ist sechsfach höher als die von Einlingen (3), für Zwillinge noch vierfach höher. Mehr als die Hälfte der Zwillinge werden vor der 37. Schwangerschaftswoche mit weniger als 2500 Gramm, mehr als ein Zehntel vor der 32. Woche mit weniger als 1500 Gramm geboren (1). Mit Frühgeburtlichkeit und niedrigem Geburtsgewicht sind zahlreiche gesundheitliche Langzeitschäden assoziiert. Im Falle von Mehrlingen fürchtet man in erster Linie Zerebralparesen. Dabei handelt es sich um Lähmungen, die auf frühkindliche Schädigungen des Gehirns ± etwa infolge einer Blutung ± zurückgehen. Jene Zentren im Gehirn, die den Muskelapparat und damit Bewegungen kontrollieren, fallen aus und bedingen so die Unbeweglichkeit oder spastische Starre einer Gliedmaûe. Dies bedeutet nicht selten ein Leben im Rollstuhl. Zerebralparesen kommen rund fünfmal häufiger bei Zwillingen und etwa 17±20fach

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häufiger bei Drillingen vor (1). Das sind jedoch lediglich die schwersten körperlichen Beeinträchtigungen, die in aller Regel bereits sehr früh erkennbar werden. Darüber hinaus muû man bei Frühgeborenen mit einer Vielzahl kognitiv-intellektueller Beeinträchtigungen, Verhaltensauffälligkeiten bis hin zu manifesten psychiatrischen Erkrankungen, wie zum Beispiel Autismus und Schizophrenie, rechnen. Das Schicksal zahlreicher Frühgeborener bzw. von Kindern mit unterdurchschnittlich niedrigem Geburtsgewicht konnte inzwischen bis ins Erwachsenenalter verfolgt werden. Die Sprachentwicklung ist beeinträchtigt und verläuft verzögert. Die schulischen Leistungen bleiben bei vielen hinter dem Durchschnitt der zum Geburtstermin geborenen Kinder zurück. Rund die Hälfte der extrem untergewichtigen Neugeborenen benötigt zum Beispiel mindestens Nachhilfeunterricht oder muû eine Klasse wiederholen (7). Eine jüngste Studie errechnet, daû Frühgeburtlichkeit und niedriges Geburtsgewicht mit einem elffach höheren Risiko behaftet sind, als Heranwachsender an einer Depression zu leiden (8). Daû dies womöglich eher optimistische Schlussfolgerungen sind, legt die jahrelange Aufklärungsarbeit der US-amerikanischen Selbsthilfegruppe für Frühgeborene unter Helen Harrison nahe. Die Eltern der behinderten frühgeborenen Kinder und später auch diese selbst, neigen dazu ± dafür gibt es inzwischen zahlreiche eindrucksvolle Zeugnisse ± den ¾rzten, die sie jahrelang betreuten, bei Nachuntersuchungen ihre Lage immer günstiger zu schildern, als sie tatsächlich sei, nicht zuletzt, um jene, die ihnen das Leben in den ersten Monaten überhaupt ermöglichten, nicht mit Berichten über ihr Leid und ihre Belastung zu enttäuschen (9). Es ist das Verdienst von Elisabeth Bryan von der International Society for Twin Studies, aus diesen Bedingungen ein realitätsnäheres Bild von jenen Sorgen und Nöten entworfen zu haben, denen Eltern nach einer erfolgreichen Infertilitätsbehandlung mitunter ausgesetzt sind, als es die beschönigenden Sensationsmeldungen von Mehrlingsgeburten in der Presse bislang wahrhaben wollten (10): Mehrlinge müssen von Anfang an auf die exklusive Zweierbeziehung mit der Mutter verzichten. Viele Stimuli fehlen allein aus Zeitgründen, was sich insbesondere ungünstig auf die Sprachentwicklung auswirkt. Ist eines der Kinder behindert, hat es in seinem Zwilling täglich ein Bild vor Augen, wie es selbst sein könnte. Das

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gesunde Kind ist oft vermehrtem psychischem Stress ausgesetzt. Erfährt es bereits früh Eifersucht, wenn sich die Eltern mehr um das kranke Geschwisterkind kümmern (müssen), wandeln sich solche Empfindungen später in Schuldgefühle und den Anspruch, für den anderen stets verantwortlich zu sein, ihm die Last tragen helfen zu müssen. Kinder, deren Geschwister im Mutterleib verstarben oder mit medizinischer Hilfe ¹reduziertª wurden (Fetozid s. u.), leiden unter dem Verlust aber auch unter der Trauer der Eltern, die womöglich das tote Kind idealisieren. Die Eltern von Mehrlingen sind körperlich und seelisch häufig überfordert. Bryan zitiert immer wieder jene Rechnung, wonach 198 Stunden in der Woche notwendig wären, um für sechs Monate alte Drillinge zu sorgen, die Woche indes nur 168 Stunden hat. Die Mutter erkennt einerseits, daû sie sich um die weniger schnell voranschreitenden Kinder mehr kümmern müsste, fühlt sich andererseits schuldig, das am besten sich entwickelnde Kind intellektuell nicht seinen Anlagen entsprechend fördern zu können. All dies wird nicht selten durch die nicht immer zureichend verarbeitete Trauer um die im Laufe der Mehrlingsschwangerschaft verlorenen Kinder verschlimmert. Bryan nennt auch die hohe Erwartungshaltung der Eltern als zusätzliche Bürde ± sie haben sich jahrelang ein Kind gewünscht und die Situation zunehmend idealisiert, sich womöglich kurzzeitig besonders gefreut, als es gleich mehrere sein sollten, und werden dann durch die Belastungen des Alltags gezwungen, die Situation weit weniger befriedigend zu empfinden, als sie sich das immer vorgestellt hatten. Ob der Selektive Fetozid oder die Mehrlingsreduktion tatsächlich ein medizinisch sinnvoller und ein für die Paare annehmbarer Ausweg ist, ist umstritten. Ein Arzt tötet ± in der Regel um die 12. Schwangerschaftswoche ± einen oder mehrere Föten, indem er eine Kaliumlösung injiziert, die zum Herzstillstand führt. Binnen weniger Minuten ist der Fötus tot. Er wird während der Schwangerschaft vom Organismus der Frau resorbiert, es werden also später nicht gleichzeitig mit den überlebenden Kindern die Reste des abgetöteten Fötus geboren. Es besteht die Gefahr, daû durch die Maûnahme die gesamte Schwangerschaft beendet wird. Wird ein Kind von dreien reduziert, verliert die Mutter die übrigen beiden in 4,5 Prozent der Fälle, bei sechs Kindern beträgt dieses Risiko bereits 15 Prozent (11). Das gilt indes für Zentren, die dieses Verfahren häufig vornehmen und darin geübt sind. Sonst muû die

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Möglichkeit, alle Kinder zu verlieren, höher veranschlagt werden. Um dieses Risiko nicht noch zu vergröûern, sollte bis zum nächsten Fetozid ein Abstand von einigen Tagen eingehalten werden. Je nach Anzahl der Mehrlinge sieht sich eine Mutter also mehrmals hintereinander einer solchen Belastung ausgesetzt. Überdies besteht die Gefahr, daû die verbleibenden Kinder gesundheitlich geschädigt werden. Der Nutzen des Fetozids für die übrig bleibenden Geschwister wird von manchen so hoch angesiedelt, daû sie sogar die Reduktion von Zwillingen auf Einlinge favorisieren (12). Der selektive Fetozid sei seit 15 Jahren integraler Teil der Infertilitätstherapie, um den Schaden für die überlebenden Kinder so gering wie möglich zu halten (11) und gehöre ± wenngleich nicht unproblematisch ± doch zum Repertoire möglicher Lösungen im Falle einer Mehrlingsschwangerschaft (13). Das sind vorwiegend Stimmen aus den Vereinigten Staaten. Eine systematische Bewertung der bislang gesammelten Erkenntnisse kommt hingegen zu dem Ergebnis, daû die Vorteile eines solchen Vorgehens noch keinesfalls zweifelsfrei nachgewiesen sind (14), also man nicht unbedingt davon ausgehen darf, daû jene Kinder, für die ihre Geschwister geopfert werden, auch tatsächlich gesünder auf die Welt kommen und eine bessere Langzeitprognose haben. Für Deutschland gibt es Angaben, wonach hierzulande rund 150 Fetozide im Jahr vorgenommen werden (15). Für die Vereinigten Staaten dürfte die Zahl um Gröûenordnungen höher liegen, weil dort wegen mangelnder Reglementierung weitaus häufiger mehr als drei Embryonen transferiert werden. Verläûliche Schätzungen gibt es hierüber jedoch offensichtlich nicht (1). Die psychische Verarbeitung erstreckt sich mitunter über Jahre. Die Mehrheit der betroffenen Eltern kommt wohl letztlich zu dem Schluû, daû es sich um eine notwendige Maûnahme handelte. Allerdings sucht man vergeblich nach umfassender wissenschaftlicher Literatur zu diesem heiklen Kapitel. Die distanzierte Wortwahl der Betroffenen, sie sprechen beispielsweise davon, daû eine ¹Fruchthöhle weggespritzt werden muûª, oder daû ihnen von ¾rzten mitgeteilt worden sei, es ¹müsse etwas geschehenª, zeugt von einem groûen Ausmaû an Verleugnung und Verdrängung der damit einhergehenden Gefühle. Angesichts der rein quantitativ enormen Zunahme von Infertilitätstherapien drängen weltweit viele Reproduktionsmediziner dar-

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auf, der Entstehung von Mehrlingen endlich konsequent entgegenzuwirken. Bei der in-vitro Zeugung ist die Anzahl der transferierten Embryonen ausschlaggebend dafür, ob eine Mehrlingsschwangerschaft eintritt oder nicht. Da sich aber nicht jeder Embryo sicher einnistet, bietet der Transfer von mehreren eine gewisse Gewähr dafür, daû überhaupt eine Schwangerschaft zustande kommt. Beispielsweise entstehen bei Frauen im Alter unter 35 Jahren zu mehr als einem Drittel Zwillingsschwangerschaften, wenn zwei Embryonen verpflanzt werden, aber auch Einlingsschwangerschaften, und in den meisten Fällen tritt überhaupt keine Schwangerschaft ein. Bei älteren Frauen ist diese Relation deutlich ungünstiger, weshalb in solchen Problemfällen lange Zeit die einzige Lösung darin gesucht wurde, die Zahl der transferierten Embryonen zu erhöhen ± in der Hoffnung, es würde sich dann nur einer einnisten, aber auch unter In-Kaufnahme aller Nachteile von Mehrlingsschwangerschaften. Der Reproduktionsmediziner bewegt sich mit seinen Patienten gleichsam ständig zwischen Skylla ± kein Embryo nistet sich ein ± und Charybdis ± es entstehen Zwillinge oder höhergradige Mehrlinge. Das muû, diese Ansicht setzt sich zunehmend durch, jedoch nicht so sein. Eine erhebliche Zahl von Reproduktionsmedizinern setzt sich inzwischen dafür ein, nur die Ein-Kind-Schwangerschaft als wirklichen Erfolg einer Infertilitätsbehandlung gelten zu lassen (16, 17, 18). Erstrebt wird der SET: Single Embryo Transfer, die Rückübertragung von nur einem einzigen Embryo. Jüngste Untersuchungen haben gezeigt, daû innerhalb eines groûen Studienkollektivs besonders bei jungen Frauen unter 35 Jahren auf diese Weise hohe Schwangerschaftsraten zu erzielen sind und das Risiko einer Mehrlingsschwangerschaft so gut wie sicher vermieden werden kann. Rund ein Drittel der Frauen kann bei einem solchen Ein-Embryo-Transfer mit einer Schwangerschaft rechnen, ganz optimistische Studien versprechen sogar eine Schwangerschaftsrate von 50 Prozent, wobei diese Zahlen sicher derzeit noch nicht verallgemeinerbar sind, denn sie stammen von den weltbesten Experten. Überdies sagen Schwangerschaftraten allein noch nichts darüber, wie viele Kinder dann tatsächlich zur Welt kommen. Selbst beim zunächst erfolgreichen SET gilt, daû es bei älteren Frauen häufiger zu einem Abort kommt. Gleichwohl berechtigen die derzeit vorliegenden Erkenntnisse zu einem gewissen Optimismus. Dies setzt jedoch ein Vorgehen

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voraus, dem die gesetzlichen Regelungen in Deutschland geradezu kontraproduktiv entgegenwirken. Man kennt inzwischen zahlreiche Kriterien, die darauf hinweisen, wie gut oder schlecht ein Embryo zu Einnistung geeignet ist. Dazu zählt die Schnelligkeit, sowie Art und Weise, mit der er sich während der Zeit in der Petrischale teilt oder bestimmte äuûere Merkmale der einzelnen Zellen, die aus den Teilungen hervorgehen. Angesichts der vielen Miûvertändnisse, die in Deutschland immer wieder mit der Verwendung des Begriffes der Selektion verbunden sind, sollte berücksichtigt werden, daû die Auswahl des Embryos nach diesen Kriterien und in diesem Stadium eine Selektion ist, wie sie auch im mütterlichen Organismus vielfach vorgenommen wird. Denn auch nach natürlicher Zeugung nistet sich ein erheblicher Teil der Embryonen nicht ein. Es geht zu diesem Zeitpunkt nicht um die Frage nach ¹gesundª oder ¹krankª oder gar um eine Merkmalsauswahl. Die genannten Kriterien zielen lediglich darauf ab, jene Embryonen zu identifizieren, die die gröûten Chancen haben, sich in der Gebärmutter weiterzuentwickeln. Dazu muû man jedoch möglichst viele von ihnen bis zum Tag der Rückübertragung beobachten dürfen. In Deutschland dürfen zwar beliebig viele Eizellen befruchtet werden, davon jedoch nur maximal drei zum Embryo heranwachsen. Zu früh muû damit die Entscheidung getroffen werden, welche Vorkernstadien vor der Verschmelzung von mütterlichem und väterlichem Erbgut zum Embryo heranreifen können. Nur diese Vorkernstadien dürfen eingefroren oder verworfen und entsorgt werden, handelt es sich einmal um Embryonen, müssen diese auch eingepflanzt werden (von ganz seltenen, unvorhersehbaren Notfällen abgesehen). Das deutsche Gesetz benachteiligt Eltern nun in zweifacher Hinsicht. Wenn nur drei befruchtete Zellen weiterwachsen dürfen, so ist die Gefahr, daû bis zum Tag des Transfers kein Embryo überlebt hat, gröûer, als wenn wie andernorts weit mehr als 10 herangezüchtet werden dürfen. Hat der deutsche Reproduktionsmediziner indes drei ausgewählt und diese wachsen weiter, so muû er alle einpflanzen und damit das Risiko einer Mehrlingsschwangerschaft bewuût in Kauf nehmen, selbst wenn zu diesem Zeitpunkt klar wäre, daû unter den dreien ein einziger sehr gut zur Einnistung geeignet wäre. Das Embryonenschutzgesetz, das 1991 mit dieser Dreierregel konzipiert wurde, um Exzeûschwangerschaften von Vierlingen, Fünflingen und mehr Kindern

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zu vermeiden und gleichzeitig keine überzähligen Embryonen entstehen zu lassen, erweist sich inzwischen als eine der Haupthürden, wenn es darum geht, konsequent Ein-Kind-Schwangerschaften anzustreben. Wie sehr derzeit ± was die Mehrlingsschwangerschaften angeht ± Deutschland zu den Schluûlichtern Europas zählt, illustrieren die Zahlen aus dem Deutschen IVF-Register. Ricardo E. Felberbaum, der Vorstandsvorsitzende des Registers, beklagt seit Jahren, daû hierzulande immer noch knapp 40 Prozent der IVF-Kinder Mehrlinge sind (19). Zwar gibt es inzwischen eine Richtlinie, nach der Frauen unter 35 Jahren maximal zwei Embryonen eingepflanzt werden sollen. Das aber gebietet, auch nur zwei heranwachsen zu lassen und schmälert auf diese Weise zwangsläufig wieder die Erfolgsaussichten, daû am dritten Tag überhaupt noch ein Embryo überlebt hat. Unter diesen Bedingungen kann eine Frau in Deutschland nur in 8,4 Prozent damit rechnen, schwanger zu werden, wenn ihr nur ein Embryo eingepflanzt wird. Das akzeptieren die betroffenen Paare und die ¾rzte nicht. Die Reproduktionsmediziner in Deutschland fordern daher neue Regelungen, die dem Problem besser gerecht werden. Das ist einer der Punkte, zu denen die Arbeitsgemeinschaft ¹Fortpflanzungsmedizingesetzª eine Dringlichkeitsnovelle formuliert sehen möchte. Klaus Diedrich, der Sprecher dieses interdisziplinär mit ¾rzten, Juristen und Ethikern besetzten Expertengremiums, sieht dies als den schnellsten Weg an, um überhaupt auf absehbare Zeit eine ¾nderung der bisherigen Praxis erzielen zu können, da ein neues Gesetz sehr viel mehr Zeit in Anspruch nehmen würde. Die Gruppe will in Kürze ein Positionspapier formulieren, das nicht zuletzt den Vorschlag enthalten wird, eine dem englischen Vorbild der HEFA (Human Embryo Fertilisation Authority) nachempfundene Expertenbehörde zu schaffen, die flexibler als ein Gesetz auf die unterschiedlichen Entwicklungen jeweils aktuell neue Antworten formulieren kann (20). Die Vorbehalte gegenüber einer solchen Behörde ± das geht nicht zuletzt aus dem jüngsten Bericht des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technologiefolgenabschätzung an den Deutschen Bundestag (21) hervor, sind in Deutschland allerdings groû. Die seit Anfang des Jahres 2004 geltenden, neuen Kostenübernahmeregelungen durch die Krankenkassen ± infertile Paare müssen anders als in den Jahren davor die Hälfte der Kosten einer Be-

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handlung (etwa 1500 bis 2000 Euro) selbst tragen ± sind einer Verbesserung der Lage nur abträglich. Unter den Betroffenen, die sich ein Kind wünschen, wächst vielmehr der Druck, Mehrlinge zu riskieren. Frauen sind umso eher geneigt, die höheren Risiken einer Mehrlingsschwangerschaft auf sich zu nehmen, je länger der Kinderwunsch zurückliegt und je frustraner bisherige Behandlungsversuche verlaufen sind (22). Da die Chancen gerade in Deutschland, mit nur einem übertragenen Embryo schwanger zu werden, denkbar gering sind, sehen sich viele Paare aus Kostengründen, aber auch deshalb, weil die Zeit gegen sie arbeitet, genötigt, ihrerseits den Arzt auf die Übertragung von mehr Embryonen zu drängen. Es gibt Stimmen, die fordern, man müsse die Betroffenen nur richtig und umfassend über die entstehenden Schwierigkeiten aufklären ± und dies liege allein in den Händen der ¾rzte ± dann wären sie weniger risikobereit (23). Das mag für einen Teil der Kinderwunschpaare zutreffen. Allerdings stimmen jene Foren im Internet nachdenklich, in denen beispielsweise die mit Mehrlingen schwangeren Frauen ihre Not kundtun und sich Diskussionspartner ± sei es, um zu trösten, sei es, um Vorwürfe zu machen ± dazu äuûern (24). Darin wird auf bedrückende Weise am Einzelfall deutlich, daû trotz des Wissens um die Risiken der Wunsch nach einer Schwangerschaft offenbar so überwältigend ist, daû statistische Erwägungen die Betroffenen in einem solch emotionalen Ausnahmezustand offensichtlich nicht mehr erreichen. Gerade weil es sich immer nur um Wahrscheinlichkeitsangaben handelt ± 4,6 Prozent Drillinge scheinen geradezu unwirklich, solange alle Behandlungsversuche ergebnislos waren ± bleibt immer der Funke Hoffnung, einen selbst werde es schon nicht treffen. Wer in den Vereinigten Staaten die Geschichte der Siebenlinge des Ehepaares Bobbi und Kenny McCaughey's verfolgt hat (25), wird zudem verstehen, daû sich viele Paare selbst dann, wenn sie höhergradige Mehrlinge erwarten, durch das allzu positive Bild solch vermeintlicher Erfolgsgeschichten noch trügerischen Hoffnungen hingeben. Im November 1997 wurden in Iowa weltweit zum erstenmal Siebenlinge lebend geboren. Die Familie McCaughey errang landesweit Berühmtheit, zierte die Titelbilder aller wichtigen Magazine und absolvierte zahlreiche Fernsehauftritte. Bücher über ihr Schicksal wurden Bestseller. Nirgends fand sich in dieser Anfangszeit auch nur der mindeste Hinweis auf gesundheitliche Schäden

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der sieben Kinder. Das hatte zur Folge, das später zahlreiche Frauen, die höhergradige Mehrlinge erwarteten, nur umso mehr Schuldgefühle entwickelten, wenn ihre Schwangerschaft endete, eines der Kinder starb oder auf Anraten der ¾rzte reduziert wurde. Denn zumindest eine Frau hatte ihnen ja vorgemacht, daû dies eigentlich alles möglich ist. Inzwischen ist der Rummel um die McCaugheys verebbt und man erfährt an entlegener Stelle nach langer Suche, daû nur drei der Kinder eine normale Schule besuchen können und auch sie noch in ihrer Entwicklung zurück sind. Zwei weitere benötigen zusätzliche Stützen und wiederum zwei leiden an Zerebralparesen und können nicht selbständig gehen. Die Reaktionen auf diese Geburt im Internet ± gefragt wurde im Rahmen einer öffentlichen Ethikdebatte, ob der Staat eingreifen solle, um solche Mehrlingsfälle zu verhindern (26) ± macht deutlich, daû zumindest die Öffentlichkeit, die sich hier äuûert, keineswegs der Meinung ist, in solchen Fällen dürfe es Restriktionen geben. Das entspricht auch der amerikanischen Wirklichkeit, denn kaum ein anderes Land überläût die Praxis der Reproduktionsmedizin so weitgehend den freien Kräften des Marktes. Gleichwohl zeigt sich auch in Europa, daû nur dort tatsächlich eine Eindämmung der Mehrlingsschwangerschaften zu erzielen ist, wo die Betroffenen nicht selbst entscheiden dürfen. In den Skandinavischen Ländern ist dies so. Dort darf Frauen unter 35 Jahren nicht mehr als ein Embryo transferiert werden. Diese Länder haben die niedrigsten Raten von Mehrlingsschwangerschaften. Alle anderen europäischen Länder erreichen dieses Ziel nicht, weil die Entscheidung für den SET offensichtlich freiwillig nicht so leicht umzusetzen ist, obwohl so viele sachliche Argumente dafür sprechen. Die Erlaubnis, reproduktionsmedizinisch alle Bedingungen für einen SET ausschöpfen zu dürfen, ist mithin die notwendige Bedingung für eine Verringerung der Mehrlingsschwangerschaften. Hinreichend ist sie jedoch nicht.

3. Fehlbildungen Nicht allein infolge von Mehrlingsschwangerschaften, auch dann, wenn Retortenkinder im Mutterleib als einziger Embryo heranwachsen, sind die gesundheitlichen Risiken gröûer als bei natürlich

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gezeugten Kindern. Sie leiden häufiger an Fehlbildungen ihrer Organe, an Chromosomenschäden, an seltenen genetischen Erkrankungen und es gibt Hinweise, daû auch bestimmte Krebserkrankungen bei diesen Kindern öfter vorkommen. Zu den groûen Fehlbildungen, die hierbei festgestellt wurden, zählen Lippen-Kiefer-Gaumenspalten, Spina bifida, Hydrocephalus, Defekte des Herzens, der Nieren und der ableitenden Harnwege, der Bauchspeicheldrüse und der Geschlechtsorgane. Eine Studie aus Australien fand, daû das Risiko für solche Fehlbildungen nach künstlicher Befruchtung im Vergleich zur natürlichen doppelt so hoch ist (1). In Finnland beziffert man es auf das 1,4fache (2) und eine deutsche Studie (3) kommt auf eine Erhöhung von 1,25. Das Mainzer Geburtenregister errechnet noch höhere Prozentzahlen. Während in dem natürlich gezeugten Kollektiv fünf Prozent der Kinder Fehlbildungen aufweisen, sind es rund 10 Prozent nach der in-vitro Fertilisation und sogar 16 Prozent ± mehr als dreimal so viele ± nach ICSI (4). Das Mainzer Register erlaubt nicht nur den direkten Vergleich mit den im gleichem Zeitabschnitt geborenen Kindern, die natürlich gezeugt wurden, es beziffert die Fehlbildungen auch deshalb sehr genau, weil eigens geschulte ¾rzte die Kinder untersuchen und auch Aborte miteinbezogen werden, da es das Ergebnis verfälscht, wenn man lediglich die lebend- und totgeborenen Kinder zum Zeitpunkt der Geburt erfasst. Denn gerade jene Kinder, die eine Fehlbildung aufweisen, sterben häufig früher, sei es weil die Erkrankung selbst zum Tode führt, sei es, daû ein Paar wegen der Erkrankung den Schwangerschaftsabbruch wünscht. Je genauer man die Feten untersucht und miterfaût, desto höher sind die Fehlbildungsraten der künstlich gezeugten Kinder. Unter den Chromosomenschäden bei Retortenkindern finden sich bevorzugt solche Erkrankungen, die mit Schädigungen der Geschlechtsdifferenzierung einhergehen, zum Beispiel überzählige Geschlechtschromosomen das Klinefelter- oder XXY-Syndrom. Statt nur eines weiblichen X-Geschlechtschromosomes besitzen diese Männer zwei. Das äuûert sich in einem eher femininen Körperbau, weiblich geformten Brüsten, einem kleineren Penis und geringerer Körperbehaarung. Einige der Betroffenen bleiben auch in ihrer geistigen Entwicklung zurück. Die Fruchtbarkeit dieser Männer ist herabgesetzt, weshalb die Erkrankung mitunter erst dann auffällt, wenn ein Kinderwunsch unerfüllt bleibt. Da im Kollektiv

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derer, die die Infertilitätssprechstunde aufsuchen, solche die Fruchtbarkeit beeinträchtigenden Störungen naturgemäû häufiger vorkommen, werden sie auch häufiger über künstliche Befruchtungsmaûnahmen an die Nachkommen weitergegeben. In jüngster Zeit hat man im Zusammenhang mit der in-vitro Fertilisation eine Häufung seltener Erbkrankheiten beobachtet. Das ist das Angelman-Syndrom (5, 6), das mit schwerer geistiger Behinderung einhergeht. Die Kinder bewegen sich ruckartig, machen weit ausfahrende Bewegungen, können nicht sprechen lernen und fallen durch Lachattacken auf. Das Beckwith-WiedemannSyndrom (7, 8, 9) ist durch Übergewichtigkeit schon bei Geburt und eine Übergröûe der inneren Organe gekennzeichnet. Charakteristisch ist eine zu groûe Zunge, die mitunter über die Lippen hinausragt. In den ersten 10 Lebensjahren ist bei Beckwith-Wiedemann-Kindern mit mehr Krebserkrankungen zu rechnen. Ob invitro Maûnahmen darüber hinaus mit einem erhöhten Risiko für bösartige Erkrankungen einhergehen, ist nicht zweifelsfrei geklärt. Allerdings fand man, daû Retinoblastome, ein seltener Netzhauttumor, der vorwiegend bei Kleinkindern auftritt, im Kollektiv der künstlich gezeugten Kinder häufiger vorkommen als bei natürlich gezeugten Kindern (10). Zudem werden Retortenkinder selbst dann, wenn sie nach einer Einzelschwangerschaft geboren werden, überdurchschnittlich häufig zu früh geboren, sind untergewichtig oder unreif für ihr Geburtsalter (11, 12). Warum auch Retorteneinzelkinder ein erhöhtes Risiko für Gesundheitsschäden haben, ist letztlich nicht genau geklärt (13, 14). Schon erwähnt wurde die Tatsache, daû unter den Paaren, die eine künstliche Zeugung erwägen, vermehrt Männer, aber auch Frauen sind, die genetische Schäden mitbringen. Seit Anbeginn war nicht auszuschlieûen, daû die Manipulationen bei IVF und ICSI womöglich für einen Teil der Schäden verantwortlich sind, zum Beispiel dadurch, daû etwa bei ICSI die natürliche Konkurrenz gesunder Spermien unterbleibt und unwissentlich auch pathologische Samenzellen in eine Einzelle injiziert werden können2. Auch die Verletzung von Strukturen der Eizelle durch die Injektionsnadel 2 Während bei der traditionellen Form der In-vitro Fertilisation eine Eizelle mit rund einer Million Spermien in eine Petrischale gegeben wird und das Spermium aktiv in die Eizelle eindringen muû, wird dieser Schritt bei der intrazytoplasmatischen Spermieninjektion (ICSI) vom Laborpersonal vorgenommen. Mittels einer Pipette und Nadel wird eine Spermienzelle ausgewählt und in die Eizelle hineingespritzt.

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bei ICSI wurde diskutiert. Schon allein der Umstand, daû viele unfruchtbare Frauen eher älter sind, erhöht das Fehlbildungsrisiko. Auch die Tatsache, daû diese Frauen in der Schwangerschaft häufiger an Diabetes leiden und vermehrt zu Bluthochdruck, Ödemen und Krampfanfällen neigen, hat zur Folge, daû auch die Kinder mehr Gesundheitsschäden davontragen. In jüngster Zeit rücken vermehrt jene genetischen Programmierungsvorgänge ins Blickfeld, die exakt in den wenigen Tagen entscheidende Weichen für die gesamte spätere Entwicklung des Embryos stellen, in denen die in-vitro Manipulationen vorgenommen werden. Es besteht zumindest der dringende Verdacht, daû die Verhältnisse auûerhalb des mütterlichen Organismus noch nicht so den natürlichen Bedingungen angepaût werden konnten, daû es zu Fehlern beim Ein- und Ausschalten wichtiger Gengruppen kommt. Diese derzeit von vielen Ungewiûheiten geprägte Debatte findet unter dem Stichwort ¹Imprinting-Defekteª statt, und hat auch in Deutschland zu einer intensiven Befassung mit der Problematik von seiten der Humangenetiker geführt (15). Unter Imprinting versteht man eine besondere Form der epigenetischen Prägung. Epigenetisch bedeutet, daû nicht die DNA als solches verändert wird, sondern Markierungen gesetzt werden, die die Ablesbarkeit der Erbsubstanz verändern, also beispielsweise zur Folge haben, daû eine genetische Information stillgelegt wird. Eine solche Markierung erfolgt in vielen Fällen über eine Methylierung direkt am Cytosin der DNA-Doppelhelix. Diese Methylierung wird bei jeder Zellteilung an die nächste Zellgeneration weitergegeben. In der Phase kurz vor der Befruchtung und in den ersten Zellteilungen des Embryos findet eine umfangreiche epigenetische Reprogrammierung statt und infolgedessen ist dies eine maximal empfindliche Zeitspanne. Genau dann werden nämlich vorhandene Markierungen gelöscht und neue gesetzt (16). Das gilt insbesondere für jene Gene, die so stillgelegt werden, daû entweder nur die Erbinformation vom Vater oder nur die von der Mutter zum Tragen kommt. Diese epigenetisch festgelegte Bevorzugung entweder des mütterlichen oder des väterlichen Gens nennt man Imprinting. Man kennt inzwischen rund 60 Imprinting-Gene und weiû, daû just diese Gene bei allem, was die Entwicklung und das Wachstum des Embryos mitbestimmt, eine wichtige Rolle spielen. Das hat zum Beispiel Bedeutung für den Energiehaushalt, die

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Gröûe und das Gewicht eines Individuums und infolgedessen sehen manche einen Zusammenhang zwischen fehlprogrammierten Imprinting-Genen und der Unreife und dem vergleichsweise niedrigen Geburtsgwicht der künstlich gezeugten Kinder sowie Krankheiten wie dem Beckwith-Wiedemann-Syndrom mit den übergroû entwickelten Organen (17). Defekte in jenen Enzymen, die für die Methylierung der Erbsubstanz zuständig sind, gehen zudem nicht selten mit geistiger und psychomotorischer Behinderung einher, wie sie auch beim Angelmann-Syndrom zu finden ist (18). Und schlieûlich spielt das Imprinting auch eine Rolle, wo es um das Bremsen von ungezügeltem Zellwachstum geht, so daû fehlerhafte Markierungen von Imprinting-Genen inzwischen für die Entstehung von Krebskrankheiten verantwortlich gemacht werden (19). Angesichts dieser Erkenntnisse warnen gerade Humangenetiker immer häufiger vor einem Szenario, in welchem die derzeit auffällig werdenden Fehlbildungen und Imprinting-Defekte nach künstlicher Befruchtung nur die Spitze eines Eisberges darstellten (20). Da diese Beobachtungen nur zufällig ± ohne systematisches Suchen ± gemacht wurden, ist es nicht unplausibel zu vermuten, daû bei gründlicherem Erfassen aller Gesundheitsschäden noch mehr Schäden zu Tage treten könnten. Viele der genannten Erkrankungen fallen nicht sofort bei der Geburt auf. Wenn sich im frühen Kindesalter eine Krebserkrankung eines in-vitro gezeugten Kindes entwickelt, wird kein Zusammenhang mehr zwischen der Art der Zeugung und der Erkrankung hergestellt werden. Wenngleich in einzelnen Kliniken bereits ein Bewuûtsein für diese Zusammenhänge besteht und Humangenetiker bei der Beratung von Paaren mit solch seltenen Erbschäden des Kindes nach der Art der Zeugung fragen, so erhält man indes aufgrund solch punktueller Erhebungen keineswegs aussagekräftige Daten. Dazu bedarf es vielmehr intensiver Studien, die eine genauere Zuordnung von Fehlbildungen und genetischen Defekten und den Umständen der Zeugung herzustellen in der Lage sind.

4. Präimplantationsdiagnostik Die Präimplantationsdiagnostik (PID oder auch PGD = Preimplantation Genetic Diagnosis) hat in den fast fünfzehn Jahren seit

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der ersten Anwendung bedeutsame Erweiterungen erfahren. Nach einem zögerlichen Anfang 1990 sind inzwischen weit mehr als 1000 Kinder weltweit nach einer solchen Diagnostik geboren worden. Die PID ist eine Biopsie ± die gezielte Entnahme von einer oder mehreren Zellen aus dem Embryo, um diese Zellen genetischen Tests zu unterwerfen. Im weiteren Sinne bezeichnet man damit auch die Polkörperbiopsie. Dabei untersucht man das erste und zweite Polkörperchen, das die Eizelle vor der Befruchtung sowie kurz danach ausstöût. Darin sind je ein halber Satz des mütterlichen Genoms, entstanden aus der 1. und 2. Reifeteilung. Die Polkörperchen enthalten spiegelbildlich, was in der Eizelle verblieben ist. Haben sie ein Chromosom zuwenig, weiû man, daû in der Eizelle eine Trisomie entstanden ist. Man erhält indes keine Information über den väterlichen Chromosomensatz. Insofern wird die Polkörperbiopsie entweder als Ergänzung zur Embryobiopsie genutzt oder aber als Surrogat in jenen Ländern, in denen eine PID nicht möglich ist ± wie auch in Deutschland. Die Präimplantationsdiagnostik ± so lautete lange Zeit das Hauptargument für dieses Verfahren ± soll genetisch belasteten Paaren zu einem gesunden Kind verhelfen, indem nur Embryonen verpflanzt werden, die frei von der krankhaften Erbanlage sind. Anders als bei der Pränataldiagnostik ± bei der erst im Laufe der Schwangerschaft entschieden werden kann, ob das Kind gesund oder krank ist, ± vermeidet man, der Mutter einen Schwangerschaftsabbruch zuzumuten (1). Zu den genetisch determinierten Erkrankungen, die aufgrund der Kenntnisse über die betroffenen Gene zu diagnostizieren sind, zählen hauptsächlich die Zystische Fibrose oder Mukoviszidose, Blutkrankheiten wie Hämophilie, Fanconi Anämie, Sichelzellkrankheit, Beta-Thalassämie, Muskelund Skelettkrankheiten wie Myotone Dystrophie oder Dystrophie vom Typ Duchenne, das Marfan-Syndrom, die Osteogenesis imperfecta, und auch komplexe Erkrankungen, die wie die Huntingtonsche Erkrankung mit schweren geistigen Einbuûen einhergehen können. Daneben gibt es Chromosomenabnormalitäten, die keine überzähligen oder zu wenige Chromosomen erkennen lassen, bei denen aber Teilstücke ausgetauscht wurden, sogenannte Translokationen. Solche Erkrankungen führen oft zum Abort, sie können inzwischen mittels PID erkannt werden (2). Will ein Paar, dessen Fruchtbarkeit nicht eingeschränkt ist, eine PID, so muû es sich gleichwohl einer künstlichen Befruchtung un-

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terziehen, denn nur so ist eine Testung der Embryonen im Labor möglich. Das bedeutet, daû für das Kind all jene Gesundheitsgefahren entstehen, die mit einer in-vitro Zeugung verbunden sind. Eine PID ist mithin keinesfalls eine Garantie für ein gesundes Kind. Zudem sind die Schwangerschaftsraten sehr gering ± nach Embryonenbiopsie zur PID noch einmal deutlich geringer als sonst nach künstlicher Befruchtung. Werden die Embryonen eingefroren, weil das diagnostische Prozedere an den Zellen länger dauert, dann überleben den Auftauprozeû die bereits biopsierten Embryonen seltener als jene, die ohne Eingriff eingefroren worden sind. Es konnte bislang nicht aufgeklärt werden, ob eventuell die Manipulationen im Zusammenhang mit der Zellentnahme zu Schäden führen, die für die geringeren Überlebensraten dieser Embryonen verantwortlich sind (3). Die ursprüngliche Intention der PID ± Vermeidung von schwerwiegenden Erbkrankheiten ± hat sich indes gänzlich gewandelt. Der Hauptgrund, warum heute eine PID vorgenommen wird, ist die Verbesserung der Ergebnisse bei der in-vitro Fertilisation, also bei jenen Paaren, die nicht erblich belastet sind. Dies gilt zum einen für den Fall, daû die in-vitro-Fertilisation immer wieder fehlschlägt. Man will mit der Selektion genetisch gesunder Kinder die Chancen für das Austragen der Schwangerschaft verbessern (4). Das setzt ein Screening für ein Set von häufigen Krankheiten ± zum Beispiel Morbus Down ± voraus. Der Nutzen einer solchen Selektion ist indes nicht zweifelsfrei belegt. Zwar erzielt man höhere Schwangerschaftsraten. Dennoch werden nicht mehr Kinder geboren. Das bedeutet, daû dieses genetische Screening womöglich nicht genügt, um alle Unwägbarkeiten auszuschlieûen (5). So erklärt sich auch, daû es in Europa Länder gibt, wie England und Dänemark, in denen zwar die PID erlaubt ist und auch praktiziert wird, jedoch beschränkt auf Erbkrankheiten, und dort die Kliniken das Screening zur Verbesserung der Implantationsraten offensichtlich nicht forcieren. Tatsächlich sucht man weltweit nach verläûlicheren Markern im Rahmen einer Diagnostik vor der Implantation, um die Effizienz der künstlichen Befruchtung weiter steigern zu können (1). Es lag nahe, nicht nur dort, wo es bereits viele Fehlschläge gegeben hatte, die PID vorzunehmen, sondern prophylaktisch auch dann, wenn von vorneherein eine schlechte Prognose zu erwarten war. ¾ltere Frauen haben zum Beispiel ein höheres Risiko für

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Chromosomenaberrationen. Für eine Vielzahl von Paaren, die sich einer künstlichen Befruchtung unterziehen, ist dann der Weg nicht mehr weit zu einem generellen Screeningangebot. Das wird auch damit begründet, daû bei einem sehr hohen Prozentsatz ± in manchen Untersuchungen in über 50 Prozent der Embryonen ± nach künstlicher Befruchtung Chromosomenabweichungen gefunden wurden. Darunter sind solche, die sich nur in einem Teil der Zellen finden, in anderen jedoch nicht (genetisches Mosaik). Man kann derzeit nicht genau sagen, ob es sich dabei um Fehlverteilungen handelt, die womöglich noch korrigiert werden können ± der krankhafte Befund also nur passager auftritt und gleichsam ein Artefakt wäre ±, oder ob es sich dabei um irreparable Schäden handelt (6). Die Anwendung wird immer weiter ausgedehnt. Nicht unumstritten ist die Typisierung von Gewebe (HLA-Matching), um festzustellen, ob sich der Embryo für ein Geschwisterkind als Knochenmarkspender eignet (7). Während die Entscheidung für eine solche Selektion zum Beispiel in den Vereinigten Staaten der Familie und den behandelnden ¾rzten weitgehend freigestellt ist, behandelt die britische Ausichtsbehörde HEFA diese Indikation sehr restriktiv und gestattet eine PID nur für den Fall, daû durch die Untersuchung auch eine Erkrankung des noch auszutragenden Kindes verhindert wird, also ein doppelter Zweck zu verfolgen ist, der zumindest teilweise einen Nutzen für den selektionierten Embryo hat (8). Weiterhin bietet die in-vitro Fertilisation zusammen mit der PID HIV-infizierten Männern die Chance, das zu zeugende Kind weitgehend vor einer Infektion zu schützen. (9). Auch fragen immer mehr HIV-infizierte Frauen nach einer in-vitro-Fertilisation, da die Übertragung des Virus im Mutterleib zwar nicht gänzlich ausgeschlossen, durch sorgfältige medikamentöse Behandlung der Schwangeren dennoch gering gehalten werden kann. Allerdings gibt es Hinweise, daû auch in der Follikelflüssigkeit, die die Eizelle im Eierstock umgibt, HIV-Viren nisten und das davon ausgehende Risiko ist derzeit nicht bezifferbar (10). Nicht nur für genetisch bedingte Erkrankungen, die bereits von Geburt an zutage treten, auch jene Gendefekte, die erst im Erwachsenenleben Symptome zeigen (late-onset diseases) werden zunehmend Gegenstand der Präimplantationsdiagnostik. Dafür ist die Chorea Huntington (Veitstanz) derzeit das Hauptbeispiel. Charak-

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teristischerweise beginnt die Erkrankung ± unwillkürliche, nicht steuerbare Glieder- und Muskelzuckungen enden schlieûlich über zahlreiche weitere Symptome in einer hochgradigen Demenz ± für den Träger des Gendefektes erst zwischen dem 25. und 50 Lebensjahr. Inzwischen wird das Spektrum zur Testung von late-onsetErkrankungen immer weiter ausgedehnt. Eine erbliche Form des Darmkrebses (Adenomatosis polyposis coli) zählt ebenso dazu wie vererbliche Alzheimerdemenz, erblich determiniertes Nierenversagen (Polyzystische Nieren) und Brustkrebs bei Frauen mit BRCA 1 Mutationen (11). Dabei sind Erkrankungen, bei denen der Krankheitseintritt nicht zwangsläufig mit der Genveränderung verbunden ist, sondern nur mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist. Diese Ausdehnung ist prinzipiell grenzenlos und wird zu einer immer gröûeren Engführung dessen führen, was dann noch als zweifelsfrei gesund gelten darf. Die sicherlich derzeit am heftigsten debattierte Anwendung der PID ist die des ¹social sexingª oder ¹family balancingª. Unter social sexing versteht man die Auswahl des Geschlechts des Kindes (sex selection), ohne daû hierfür ein medizinischer Grund (etwa eine X-chromosom gebundene Erkrankung) vorläge, family balancing heiût es im engeren Sinne, wenn innerhalb der Familie die bereits vorhandenen Geschwister gleichen Geschlechts durch ein Kind vom anderen Geschlecht ¹ausbalanciertª werden sollen. Dies mittels PID vorzunehmen, ist in Deutschland nicht möglich, weil unter den gegebenen Bedingungen auch keine PID vorgenommen werden kann, in England ist das social sexing aufgrund einer Umfrage im letzten Jahr verboten worden, in den USA erlaubt und in vielen anderen Ländern noch gar nicht abschlieûend geregelt. Die Anwendung befindet sich auch quantitativ in einer Grauzone. Wieviele PID jährlich nur wegen einer Geschlechtsauswahl gemacht werden, ist nicht zu ermitteln, da zwar viele Zentren das social sexing explizit anbieten, es aber keine offiziellen Erhebungen gibt, wie viele PID allein aus diesem Grunde vorgenommen werden. Die letzte Veröffentlichung der ESHRE (European Society for Human Reproduction and Endocrinology) dazu stammt aus dem Jahr 2002 (12). Daraus geht hervor, daû im Jahr davor in den von dieser Kommission gesammelten Daten aus europäischen Kliniken (die ja nur einen Teil der weltweiten in-vitro Fertilisationen vornehmen) rund 700 mal nach einer Krankheit oder Anomalie ge-

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fahndet wurde, aber 78 Untersuchungen wegen social sexing gewünscht waren. Diese Paare waren zu mehr als drei Viertel nicht unfruchtbar, suchten also die in-vitro-Fertilisation nur, um die Geschlechtswahl vornehmen lassen zu können. Zumindest in einem Fall ist belegt, daû die Schwangerschaft beendet wurde, nur weil das Kind nicht das gewünschte Geschlecht hatte, da auch die PID nicht fehlerfrei funktioniert. Dies spaltet die Gemeinde der Reproduktionsmediziner wie kaum ein anderes Thema. Während die einen ganz eindeutig davor warnen, derartige, medizinisch nicht begründbare Indikationen zuzulassen (13), sehen andere darin ein Menschenrecht der Eltern verwirklicht und plädieren für eine uneingeschränkte Wahlfreiheit bei allen Fragen der Fortpflanzung (procreative liberty) (14, 15, 16). Die Gegner des social sexing fürchten die Gefahr, daû eine besonders vielversprechende Methode durch solche Anwendungsbereiche in Miûkredit gerät. Eine neue Variante ist jene Forderung, die sexuelle Orientierung des Kindes vorausbestimmen zu können. Das zielt hauptsächlich darauf ab, homosexuelle Veranlagungen mittels genetischer Testung auszuschlieûen, wobei es auch Paare gibt, die umgekehrt eine solche Veranlagung für ihr Kind wünschen. Das ist zwar derzeit ein rein hypothetischer Standpunkt, da es eine eindeutige genetische Determination weiblicher oder männlicher Homosexualität so nicht gibt. Allerdings geht die Forderung dahin, die Forschung in diesem Gebiet nicht zu behindern, damit einmal eine solche Wahl tatsächlich möglich sein soll (17). Bei der PID werden von einem etwa acht Zellen umfassenden Embryo ein bis zwei Zellen entfernt. Es wurde viel darüber diskutiert, ob die weggenommenen Zellen für sich allein die Fähigkeit hätten, zu einem vollständigen Organismus heranzureifen, ob man es hier also im Prinzip mit potentiell neuen Embryonen zu tun hat. Es wurde aber bislang zu wenig danach gefragt, was dies für die verbleibenden Zellen bedeutet. Nicht allein die Erkenntnis, daû dann innerhalb der Zelle gleichsam die epigenetische Reset-Taste gedrückt wird, macht eine Biopsie in dieser vulnerablen Phase problematisch. Auch die Tatsache, daû zu diesem Zeitpunkt schon wesentliche Asymmetrien im Embryo angelegt sind, die für ein späteres Oben/Unten oder Rechts/Links, also für die Achsenbildung im Körper, von eminenter Bedeutung sind, muû berücksichtig werden (18). Ohne die Diskussion um die Polbildung im frühen Embryo hier auffächern zu wollen, soll nur zusammenfassend darauf

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hingewiesen werden, daû es zu diesem Zeitpunkt bereits Festlegungen gib (19/20). Dazu zählt auch, welcher Teil der Zellen zur inneren Zellmasse und damit zum eigentlichen Embryo ± dem menschlichen Körper ± wird, der andere sich indes zur äuûeren Zellenmasse und damit den Versorgungsstrukturen (Eihäute, Plazenta) entwickelt (21, 22). Entnimmt man zufällig ± denn man sieht es den Zellen bei der Biopsie nicht an, zu welcher Gruppe sie gehören, ± zwei Zellen der inneren Zellmasse, dann entfernt man bis zur Hälfte des eigentlichen Embryos. Wie der Verlust von dem verbleibenden Zellverband kompensiert wird, ob er die Ursache für Erkrankungen im Erwachsenenalter sein könnte, ist weder zu bejahen noch zu verneinen. Es gibt Anhaltspunkte, wonach sich die Zellentanhme aus einem Verband von weniger als acht Zellen ungünstig auf die spätere Entwicklung auswirkt. Manche Forschergruppen bevorzugen die Biopsie im Blastozystenstadium, wenn sich bereits um die hundert einzelne Zellen gebildet haben. Dann kann man mehr Zellen für die genetische Testung entnehmen und zudem vermeiden, Zellen der inneren Zellmasse zu treffen (23). Das allerdings verlangt, den Embryo über den Tag drei hinaus bis zum Blastozystenstadium zu kultivieren. Da Imprinting-Defekte auf den Einfluû der künstlichen Nährmedien zurückgehen könnten ± und dies umso gefährlicher sein könnte, je länger sie dem ausgesetzt sind, ist das ebenfalls ein riskanter Weg, dessen Unwägbarkeiten derzeit auch nicht abgeschätzt werden können. In keinem Fall darf man von der PID als rein diagnostischer Maûnahme sprechen, ohne ihren invasiven und damit potentiell nebenwirkungsbehafteten Charakter zu verschweigen. Man sollte sich keinesfalls darauf berufen, daû noch keine Gesundheitsschäden bei den nach PID geborenen Kindern nachgewiesen sind. Denn auch bei allen anderen Verfahren der in-vitro Zeugung hat es weit länger gedauert, Anhaltspunkte für potentielle Risiken zu finden. Vermeintlich gesund geborene Kinder geben keine Gewähr dafür, daû nicht später Schäden auftreten, die so früh noch nicht erkennbar waren.

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5. Schluûbetrachtung Als das erste Retortenbaby 1987 das Licht der Welt erblickte, hatten ¾rzte einem kranken Paar zu dem langersehnten Kind verholfen. Die katalysierende Wirkung dieses Ereignisses erzeugte stets nur positive Assoziationen. Daraus resultierte eine Euphorie, die lange übersehen lieû, daû die Reproduktionsmedizin auch für das Schicksal vieler kranker Kinder verantwortlich ist. Erstaunlich ist, daû trotz gegenteiliger Erkenntnisse eine realistischere und kritische Betrachtung der reproduktionsmedizinischen Therapien nur in sehr eingeschränktem Ausmaû erfolgte. Die auf politischer Ebene getroffenen Entscheidungen differieren je nach Land zwischen dem laissez-faire des freien Marktes und unzeitgemäûen gesetzlichen Reglementierungen. Die Medien befördern mit stets neuen Erfolgsmeldungen und wohlkalkulierten Bildern über Mehrlinge und glückliche Eltern häufig ein allzu rosarotes Bild. Ebenso stark engagieren sie sich neuerdings unter dem Label, das Leiden der Infertilität enttabuisieren zu wollen (World Infertility Day), in der Konstruktion von Defizitgefühlen, aus deren Blickwinkel ein Lebensentwurf ohne Kinder nur noch pathologisch zu sein scheint. Die Reproduktionsmediziner sehen den Erfolg in der eingetretenen Schwangerschaft und erfahren die Dankbarkeit der Eltern. Die kranken Kinder und die vielen Aborte werden vielfach nicht wahrgenommen. Wirtschaftliche Interessen der miteinander im Wettbewerb stehenden Fertilitätskliniken sind einer selbstkritischen Betrachtung ebenso im Weg wie die boomende Reproduktionsindustrie, die den expandierenden Markt bedienen und vorantreiben will. Nicht zuletzt sind aber auch die Paare mit unerfülltem Kinderwunsch zu nennen, die als Klientel der Infertilitätstherapie mit ihrer Risikobereitschaft und ihren Verleugnungsstrategien dazu beitragen, daû längst nicht alle Nachteile offen diskutierte werden. Es geht nicht darum, derartige Spekulationen, die allzu leicht in Schuldzuweisungen umschlagen, unkritisch zu unterstützen. Viel wichtiger ist es, jene Widersprüche und Paradoxien zu erkennen, die sich bereits auf der Ebene der rein medizinischen Argumentation eingestellt haben. Bevor diese nicht offen kommuniziert werden, besteht die Gefahr, daû jene, die die Sachverhalte nicht genau kennen, ideologisch instrumentalisiert werden können. Das gilt vor

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allem dann, wenn als einziges Kriterium die Wünsche und Vorstellungen der Eltern und nur deren Nutzen gelten sollen. Folgende Punkte sollen deshalb hervorgehoben werden: Beispiel Mehrlingschwangerschaften: Der weltweite Vergleich belegt, daû Mediziner und Eltern derzeit freiwillig nicht in der Lage sind, die umstrittene Praxis zugunsten einer rationalen Beschränkung aufzugeben. Nur dann, wenn die Begrenzung des Transfers gesetzlich vorgegeben wird, ist eine Reduktion der Mehrlingsschwangerschaften zu erzielen. Beispiel Homosexualität: Wenn es darum geht, daû homosexuelle Paare sich ein Kind mittels in-vitro Fertilisation wünschen, so wird argumentiert, man dürfe Homosexualität nicht diskriminieren, und solle die Beschränkungen bei der Samenspende, der Eizellspende und der Leihmutterschaft für diese Paare aufgeben. Geht es indes darum, die homosexuelle Neigung eines Kindes über Präimplantationsdiagnostik auszuschlieûen, so beruft man sich auf die schrankenlose procreative liberty der Eltern, unerwünschte Eigenschaften ihres Kindes beeinflussen zu dürfen. Beispiel Late-onset Erkrankungen: Nicht alle Eltern wollen wissen, ob sie selbst tatsächlich Träger einer Erbkrankheit sind, die erst im späteren Erwachsenenleben ausbricht. Wenn eine genetische Erkrankung wie die Chorea Huntington in einer Familie vorkommt, so lieûe sich durch einen genetischen Test bei diesem Elternteil jeder Zweifel beseitigen. Wenn der fraglich Betroffene genetisch unbelastet ist, besteht für das Kind kein Risiko ± wäre also jegliche in-vitro Fertilisation unnötig. Sie wird aber angeboten, wenn die Eltern für sich im Ungewissen bleiben wollen und dennoch sichergehen möchten, daû ihr Kind die Erkankung nicht bekommt. Die Risiken einer in-vitro-Fertilisation werden mithin dem Kind allein deshalb aufgebürdet, weil der möglicherweise betroffene Elternteil um seinen eigene genetische Belastung nicht wissen möchte. Beispiel Fetozid: Einerseits wird in der medizinisch wissenschaftlichen Literatur als eine der Begründungen für die PID immer wieder darauf hingewiesen, daû ein Schwangerschaftsabbruch für die Mutter eine nur schwer zu verkraftende Maûnahme sei. Gerade um die psychologischen Folgen eines Eingriffs während der schon existierenden Schwangerschaft zu vermeiden, wird die PID als das in dieser Hinsicht weniger belastende Verfahren charakterisiert. Andererseits plädieren jene Arbeiten, die sich mit den

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Nachteilen der Mehrlingsschwangerschaften befassen, mitunter nachhaltig für den Fetozid. Die Tötung eines vollkommen gesunden Kindes nur wegen eines statistisch zu erwartenden Vorteils für die verbleibenden Kinder müûte indes für die Mutter als weit unerträglicher gelten. In diesem Zusammenhang wird die mögliche psychologische Belastung der Schwangeren oft gar nicht erwähnt oder man weist ihr eine untergeordnete Rolle zu. Beispiel sex selection und family balancing: Die Befürworter des familiy balancing halten die soziale Integrität von Familien für bedroht, falls man ihnen die PID als Mittel zur Geschlechtsauswahl versagt. Ganz sublim werden Familien mit Kindern eines einzigen Geschlechts zu pathologischen Risikofamilien erklärt. Man unterstellt ohne stichhaltige Beweise, diese Eltern könnten ein Kind, das nicht mit dem gewünschten anderen Geschlecht zur Welt kommt, vernachlässigen. Hier scheint der Versuch gemacht zu werden, mit allen Mitteln für den Elternwunsch eine medizinische Indikation nachzureichen. Die Techniken der assistierten Reproduktion sind in vielen Fällen Methoden der Wahl, um ungewollt kinderlosen Paaren den Wunsch nach einem genetisch eigenen Kind zu erfüllen. Es sei eigens betont, daû es in diesem Zusammenhang nicht darauf ankommen soll, die eine oder andere Vorgehensweise innerhalb der Reproduktionsmedizin zu bewerten. Es geht vielmehr darum, die Beliebigkeit der Begründungen zu verdeutlichen und die Willkür aufzuzeigen, mit der das jeweils Zuträgliche von den prospektiven Eltern und ihren ¾rzten ausgewählt wird. Medizinische Verfahren und Medikamente müssen sich stets unter dem Grundsatz des ¹primum nil nocereª rechtfertigen. Ein Paar, dessen Fertilität nicht eingeschränkt ist, daû jedoch mittels PID ein bestimmtes Geschlecht bei seinem Kind verwirklichen will, muû sich über die gesundheitlichen Risiken im Klaren sein. Vor jedweder ethischen Debatte, ob man Eigenschaften eines Kindes beeinflussen darf oder nicht, müûte dieses medizinische Prinzip mehr als bisher berücksichtigt werden.

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Herbert A. Neumann (Bochum)

Der ¹Homo oeconomicusª im Krankenhaus Die Art der Finanzierung des Deutschen Medizinischen Systems befindet sich zur Zeit in einem Wandlungsprozeû, der zu einer grundlegenden ¾nderung nicht nur der Finanzierung und der administrativen Seite, sondern auch zu einem starken Eingriff in das ärztliche Handeln und in das medizinische Selbstverständnis der ¾rzte führen wird. In Deutschland steht das Krankenhaus im wesentlichen in der Tradition der christlichen Daseinsfürsorge. Entstanden sind die Kliniken aus Klöstern und kirchlichen Stiftungen, aber auch aus Gemeinden und Städten, die im Rahmen ihrer Armenfürsorge in Siechen- und Pesthäusern Alte und Kranke versorgt haben. Neben diesen Einrichtungen entwickelten sich parallel dazu mit den Universitäten und den medizinischen Fakultäten in den gröûeren Städten die Universitätskliniken. Mit der Säkularisation im Jahre 1803 wurden die kirchlichen Stiftungen und Klöster aufgelöst und in eine Verantwortung der Gemeinden für die Krankenpflege und für die Krankenhäuser überführt. Die Folge war zunächst ein fast völliger Zusammenbruch des Hospitalwesens. Erst ab Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelten sich dann über bürgerliche Aktivitäten zusammen mit der sich wieder erneuernden Kirche Versorgungssysteme und eine groûe Zahl von Krankenhäusern, die neben einigen städtischen Kliniken im wesentlichen in kirchlicher Trägerschaft waren. Die Rolle der wieder erstarkten Kirche zeigt schlaglichtartig die Tatsache, daû es im Jahre 1900 allein im Ruhrgebiet 67 konfessionelle und nur 8 kommunale Krankenhäuser gab. Die Finanzierung erfolgte bis zur Einführung der Bismarckschen Sozialgesetzgebung durch Spenden, Eigenleistungen und kleinere regionale Vorläufer der Krankenkassen. Die Krankenpflege lag in dieser Zeit zum gröûten Teil in den Händen von Ordensschwestern (22, 31, 41).

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Mit der Einführung der Sozialgesetzgebung durch Bismarck im Jahre 1883 waren die Kranken nicht mehr auf die Wohltätigkeit angewiesen. Eine Krankenhausbehandlung war für weite Teile der Bevölkerung zum ersten Mal erschwinglich. Das Versicherungssystem gab dem Kranken eine anhaltende Rechtsbeziehung zwischen der Krankenkasse als Träger der gesetzlichen Krankenversicherung und den Krankenhäusern. Finanziert wurden die Krankenhäuser durch Verträge, die diese mit den Krankenkassen abschlossen, wobei sowohl die Investitions- als auch die Betriebskosten abgedeckt wurden. Die Pflegesätze gestalteten sich unter dem Grundsatz der Vertragsfreiheit und blieben bis 1936 frei von unmittelbarer staatlicher Einmischung. 1936 wurde dieser Grundsatz durchbrochen und durch die sog. Preisstockverordnung aufgehoben. Hierdurch wurden Preiserhöhungen für Güter und Leistungen jeglicher Art in allen Wirtschaftsbereichen verboten. Folge war, daû sich die Anzahl der Krankenhausbetten in den 30er Jahren nicht veränderte. An diesem Prinzip wurde auch nach dem 2. Weltkrieg zunächst festgehalten. Die Finanzierung der Krankenhäuser erfolgte in Abhängigkeit von der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Krankenkassen. 1965 wurde das sog. Kostendeckungsprinzip eingeführt, d.h., die Krankenhäuser haben den Kassen jährlich die vorauskalkulierten Kosten des Krankenhauses vorgelegt. Durch die Kalkulation der Fallzahlen und eine groûzügig bemessene Verweildauer wurden Tagessätze errechnet, die sich im Grunde genommen an dem von den Krankenhäusern selbst definierten Bedarf orientiert haben. Dies führte von Jahr zu Jahr zu steigenden Pflegesätzen. Hatte ein Krankenhaus seine Kosten gesenkt und Gewinne erlöst, wurden bei den nächsten Pflegesatzverhandlungen die Tagessätze reduziert. Zusätzlich erfolgten durch die Bundesländer Zahlungen für Investitionen. Unter diesen Bedingungen entstanden die sog. tagesgleichen Pflegesätze, die von Krankenhaus zu Krankenhaus höchst unterschiedlich waren und sich am selbstdefinierten Bedarf orientierten. 1972 wurde das Krankenhausfinanzierungsgesetz erlassen, dessen Ziel es war, die Krankenhäuser zum einen wirtschaftlich zu sichern und zum anderen eine bedarfsgerechte Versorgung der Bevölkerung zu gewährleisten. Zu diesem Zeitpunkt hielt es der Gesetzgeber für nötig, in die Gestaltung ordnend einzugreifen, um die Kosten in einem sozial tragbaren Rahmen zu halten. Innerhalb des

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vorgegebenen Rahmens hatten die ¾rzte einen groûen Freiraum für ihre Arbeit. In dieser Zeit war die Medizin von groûem Optimismus geprägt. Es entstand das Medizinsystem, das seine Aufgabe in einer optimalen Versorgung der Bevölkerung sah. In diese Zeit fielen bedeutende technische Neuentwicklungen wie die Computertomographie, die Sonographie, die Entwicklung der modernen Kardiologie mit der Möglichkeit der Koronarangiographie, die Kardiochirurgie sowie die Transplantationsmedizin. Eine groûe Zahl von neuen Medikamenten, insbesondere für die Immunologie und die Tumortherapie, wurde entwickelt. Alles das waren kostenträchtige Entwicklungen, die aber vielen Patienten zugute kamen und groûen Optimismus verbreiteten. Die Expansion der Medizin wurde nicht hinterfragt; im Gegenteil ± es entstanden in dieser Zeit grandiose Groûkliniken und Universitätskliniken, die die Kathedralen der neuen Zeit wurden. Die Medizin expandierte und die Gesellschaft begrüûte diese Entwicklung fraglos. In der Zeit wirtschaftlicher Prosperität taten die Krankenkassenbeträge den Beitragszahlern nicht weh und so entstand das, was man heute den ¹medizinindustriellen Komplexª nennt, in dem zurzeit mehr als 4 Mio. Menschen in den unterschiedlichsten Positionen arbeiten (50). Die Medizin übernahm die öffentliche Verantwortung zur Sicherung aller therapeutischen und diagnostischen Möglichkeiten. Die Öffentlichkeit billigte und genoû diese Entwicklung und belohnte dies durch die Ressourcenbereitstellung, die es der Medizin ermöglichte, in einer Art und Weise zu expandieren, daû in Deutschland eines der komfortabelsten Versorgungssysteme der Welt entstand. Im Rahmen des Selbstkostendeckungsprinzips war es möglich, diese Aufwendungen problemlos zu finanzieren. Die Krankenhäuser legten den Kassen ihre Aufwendungen vor. Es wurde ein von Jahr zu Jahr immer wieder steigender Pflegesatz ermittelt, der dann problemlos von den Kassen erstattet wurde. Zwar hatte man sich in vielen Bereichen bemüht, gut zu wirtschaften. Einen richtigen Anreiz zum Sparen bot dieses System zunächst jedoch nicht. Unter dem Banner der Daseinsfürsorge haben sich fast alle Bereiche der Medizin lange Zeit einer strengen wirtschaftlichen Kontrolle entziehen können. In den Zeiten wirtschaftlicher Prosperität waren die Kassen der gesetzlichen Krankenversicherungen so gut gefüllt, daû die Sozialpolitiker diese Gelder angriffen und für sog. versicherungsfremde

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Leistungen verwendeten (28). Als Beispiele seien genannt die Umschichtung von Versichertenbeiträgen in die Krankenversicherung der Rentner, die Entlastung der Rentenversicherung durch Absenkung der Beiträge zur Rentenversicherung, die Entlastung der Bundesanstalt für Arbeit durch verkürzte Beitragszahlungen an die gesetzlichen Krankenversicherungen, die Entlastung des Bundeshaushaltes durch Streichung der Bundeszuschüsse zur Krankenversicherung der Studenten, die Entlastung der Rentenversicherer durch einmalige Kürzung der Beiträge zur Krankenversicherung der Rentner, Entlastung der Rentenversicherung durch Verzicht auf Beitragsausgleich für die Krankenversicherung für Tuberkulosebehandlung aus der Rentenversicherung sowie die Entlastung der Rentenversicherung durch höhere Abgaben der gesetzlichen Krankenversicherung auf Krankengeldbezug an die Rentenversicherung und die Entlastung der Bundesanstalt für Arbeitslose durch Verminderung der Beiträge an die gesetzlichen Krankenversicherungen um 20%. Diese Liste ist nicht vollständig. Es kommt jedoch, wenn man sie im Detail analysiert, ein Betrag von 33 Mrd. Euro zusammen, der der gesetzlichen Krankenversicherung vom Bundesgesetzgeber aus gesellschafts-, sozial- oder familienpolitischen Gründen weggenommen wurde, ohne daû die damit verbundenen Kosten übernommen werden. Hätte diese Selbstbedienung, mit der eine inkompetente Sozialpolitik durch kurzsichtiges Taktieren immer wieder saniert wurde, nicht stattgefunden, hätte das System der gesetzlichen Krankenversicherung bis heute keinerlei gravierende Probleme. An eine grundlegende Umstrukturierung ist nicht mehr zu denken, da diese Maûnahmen ohnehin schon durch eine Knappheit an Steuermitteln induziert waren. Auf dieser bereits extrem eingeschränkten Basis und durch die Kostenentwicklung in der Medizin, die auch durch den raschen wissenschaftlichen Fortschritt, wie die Entwicklung neuer Medikamente, neuer Technologien und innovativer und therapeutischer diagnostischer Geräte begründet, hat sich die finanzielle Situation der gesetzlichen Krankenversicherungen ernorm zugespitzt. Nach Angaben des statistischen Bundesamtes betrugen die Gesundheitsausgaben im Jahre 2004 125,1 Mrd. e, das entspricht 10,7% des Brutto-Inlandproduktes. Die gesetzlichen Krankenversicherungen trugen dabei 57% der Gesundheitsausgaben, d.h., sie zahlten im Jahr 2000 242,6 Mrd., die privaten Krankenversicherungen leisteten 26,9 Mrd., den Rest trugen die Beihilfestellen für die Versor-

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gung von Beamten. 195,6 Mrd. DM wurden im Jahr 2000 für Leistungen ambulanter Einrichtungen wie Arzt- und Zahnarztpraxen sowie Apotheken ausgegeben. 166,1 Mrd. entfielen auf Leistungen der stationären und teilstationären Einrichtungen, wobei die Krankenhäuser mit 119,1 Mrd. DM die gröûte Einzelposition darstellen (8). Von 1992 bis 2000 haben sich die Aufwendungen für stationäre und teilstationäre Leistungen um 43,6 Mrd. DM, d.h. um 35,7% erhöht. Das ist das, was man mit dem Schlagwort ¹Kostenexplosion im Gesundheitswesenª bezeichnet hat, wobei diesem Schlagwort eindeutig widersprochen werden muû. Es kam zwar zu einer Leistungsausweitung, die durch den medizinischen Fortschritt entstanden ist und von der viele Patienten dankbar profitiert haben, das Verhältnis zum Gesamt-Bruttosozialprodukt wurde dabei jedoch nicht verändert (6). Aufgrund dieser Kostensteigerung sah sich die Politik unter einem Handlungsdruck. Argumentiert wird mit der Tatsache, daû in Deutschland die Krankenkosten auch Lohnnebenkosten sind. Um die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands erhalten zu können, müssen diese gesenkt werden. Aus dieser Argumentation leitet sich die Legitimität von einem der gravierendsten Einschnitte in das Finanzierungssystems des Krankenhauses ab. Geflissentlich werden die Proportionen dabei übersehen. Der Zwang zum Sparen, den die Politik zweifellos und mit Hinblick auf die derzeitige Situation immer wieder darlegt, ist nicht eine Folge der Ausgabenseite. Wie bereits erwähnt, ist die Ausgabenseite im Gesundheitssystem nicht explodiert. Das Problem ist die Einnahmenseite. Aufgrund der zunehmenden Arbeitslosigkeit und der Überalterung der Gesellschaft muû der für das Gesundheitssystem aufzuwendende Betrag auf deutlich weniger Schultern verlagert werden. Die Entwicklung des Anteils der Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung am Brutto-Inlandsprodukt zeigt, daû diese seit 1980 jährlich den gleichbleibenden Anteil von ca. 6% betragen. Dabei muû klar gesehen werden, daû die Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung nicht Prozentsätze des BruttoInlandsproduktes sind, sondern Prozentsätze der beitragspflichtigen Löhne, Gehälter und Sozialeinkommen. Durch den sinkenden Lohnanteil am Brutto-Inlandsprodukt steigen die Beitragssätze auch bei konstantem Ausgabenanteil seit 1982 kontinuierlich, da die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten und da-

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mit die Hauptbeitragszahler der gesetzlichen Krankenversicherung permanent abgenommen hat. Der Anteil der Beiträge für die gesetzlichen Krankenversicherungen an den Lohnnebenkosten wird in seiner Bedeutung überschätzt. Viel belastender für die Arbeitgeber sind die Beiträge zur Rentenversicherung und tarifvertragliche Vereinbarungen wie Urlaubsgeld oder das 13. Monatsgehalt. Man muû sich klar machen, daû, wenn es gelänge, die Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung einen Beitragssatzpunkt zu senken, sich die Lohnnebenkosten in den alten Bundesländern nur von 43,6 auf 42,3% reduzieren würden. Somit reduziert sich die Gewichtigkeit des Arguments der Lohnnebenkosten bezüglich der Krankenkosten mit dem Schreckbild der Kapitalflucht ins Ausland etc. deutlich (20). Dennoch sind 14,3% des Gehaltes, die zur Zeit als Beitrag für die gesetzlichen Krankenversicherungen bezahlt werden müssen, wobei die Hälfte vom Arbeitgeber und die Hälfte vom Arbeitnehmer bezahlt werden, die oberste sozialpolitisch durchsetzbare Grenze. Begleitet wurde die öffentliche Diskussion über die Krankenkosten neben den sachlichen Argumenten von durchaus polemischen Beimischungen. An Schuldzuweisungen fehlt es nicht. Die Vorwürfe, die sich gegen die ¾rzte richten, zeigen sich schon in dem verwendeten Vokabular, wonach der Arzt nicht mehr Patienten behandelt und heilt, sondern ein ¹Leistungserbringerª bzw. ein ¹Kostenverursacherª ist. Es darf nicht verschwiegen werden, daû in Zeiten der Prosperität der medizinindustrielle Komplex im Gefolge der medizinischen und technischen Neuentwicklung oft das Augenmaû für finanzielle Dimensionen verloren hat. Streng sparsames Verhalten oder ökonomisches Denken schien insbesondere von ärztlicher Seite oft verpönt und wurde sogar als Feindbild der reinen Medizin betrachtet. Anspruchsdenken, ungehemmte Expansion, z. B. beim Bau von Krankenhäusern oder bei der Anschaffung von Geräten, gingen mit dem verständlichen Wunsch nach Perfektion und Höchstleistung mit dem Prestigebedürfnis vieler Verantwortlicher aus Politik und Medizin Hand in Hand. Für eine ethische Reflexion des Ressourcenverbrauches gab es lange Zeit kein Forum. Infolge dieser Entwicklungen hat sich sowohl von medizinischer Seite als auch von Seiten der Politik die finanzielle Situation in den letzten Jahren kritisch entwickelt, und die ¾rzte muûten sich zunehmend

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neben ihren medizinischen Aufgaben ökonomische Probleme zu eigen machen. In diesem Zusammenhang kann darauf hingewiesen werden, daû von 1990 bis zum Jahre 2000 die Zahl der Pflegetage im Krankenhaus von 209,8 Mio. auf 167,0 Mio. zurückgegangen ist, während die Zahl der Patienten von 13,8 auf 16,5 Mio. gestiegen ist. Die Verweildauer der Patienten im Krankenhaus ist von durchschnittlich 15,3 Tagen auf 10,1 und zuletzt auf 9,3 zurückgegangen. Die Zahl der Krankenhausbetten wurde im gleichen Zeitraum von 685.976 auf 559.651 reduziert. Die Zahl der Krankenhäuser ist von 2.447 auf 2.242 gesunken (4, 15). Angesichts der allgemeinen Knappheit und dem Zwang zu handeln, stehen die Krankenkassen ihrerseits unter einem groûen politischen Druck. Ihre Position hat sich von der reinen Geldverwaltung und Verteilung in den letzten Jahren zunehmend in eine Rolle als Mitgestalter und Planer des Gesundheitswesens verändert, wobei die Politik immer mehr Gestaltungskompetenz an die Kassen übertragen hat. Die Kassen haben durch den Druck von Seiten der Politik seit Längerem reagiert und haben versucht, bei Budgetverhandlungen die Tagessatzsteigerungen möglichst gering zu halten, da ± wie bereits erwähnt ± die Knappheit der Krankenkassen auf der Einnahmenseite beruht. So wurden z. B. bei Tarifabschlüssen, die zu Lohnsteigerungen i. d. R. von ca. 3% führten, bei der Anpassung der Krankenhaushonorare die Steigerung der Grundlohnsumme nur um 0,8% einkalkuliert. Seit Mitte der 90er Jahre sind die Budgets der Krankenhäuser ¹gedeckeltª, d.h. die max. jährlichen Budgeterhöhungen der Krankenhäuser orientieren sich an der statistischen Veränderungsrate der Grundlohnsummen. Diese lag in den letzten Jahren immer unter den Tarifsteigerungen im öffentlichen Dienst. Da 75% der Krankenhauskosten Lohnkosten sind, haben sich die Tariferhöhungen bereits in einem Abbau von Arbeitsplätzen im Krankenhaus ausgewirkt. Ein Beispiel möge die Situation der Krankenhäuser verdeutlichen: Für ein Krankenhaus mit ca. 500 Betten bei einem Jahresbudget von rd. 50 Mio. e bedeutet eine Steigerung um 0,81% einen Mehrerlös von rd. 400.000 e. Bei Personalkosten von ca. 40.000 e pro Vollzeitkraft müûte ein Krankenhaus bei einer Tarifsteigerung von 3% 15 Stellen abbauen, um dieses Defizit auszugleichen (30). Diese o. g. Strategie ist nur einer von vielen Versuchen, die Kosten zu senken. Insgesamt wurden in den letzten Jahren 46 Gesetze mit 6.800 Einzelbestimmungen verab-

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schiedet, die jedoch keine prinzipiellen Verbesserungen brachten. Mit grundsätzlichen Besserungen wird nicht zu rechnen sein, da aufgrund der Arbeitsmarktsituation die Einkommensseite sich nicht bessern wird. Zudem wird die demographische Entwicklung in unserem Lande eine Zunahme des Krankenstandes zur Folge haben. Aus diesem Grund, und da das Krankenhaus mit 32,6% Anteil an den Gesamtkosten der gröûte Einzelposten ist, hat sich die Politik entschlossen, den Leistungskern, also die medizinischen Leistungen, zu kürzen. Dies betrifft sowohl die Praxen als auch die Krankenhäuser. Für die Krankenhäuser wurde beschlossen, die Krankenhausfinanzierung völlig umzustellen und das sog. diagnosebezogene pauschale Honorierungssystem einzuführen. Diese Fallpauschalen ± auch Diagnosis Related Groups (DRGs) genannt ± werden in vielen Ländern bereits angewendet. Der Hauptgrund war, die DRGs als Mittel zur Kostenersparnis durchzusetzen. Eine weitere wichtige Legitimation der DRGs ist der Gedanke der Qualitätsverbesserung, der im Ausland sogar an erster Stelle stand. Die systematische Entwicklung der DRGs begann vor über 30 Jahren in den Vereinigten Staaten von Amerika. An der Yale-Universität wurde 1967 ein erstes Fallgruppensystem zur Erfassung stationär behandelter Patienten durch eine Arbeitsgruppe von Vetter und Thompson entwickelt. Diese DRG-Prototypen deckten dabei noch längst nicht ± wie es aktuell gefordert wird ± das gesamte Erkrankungsspektrum ab, sondern es war ein Versuch, ein Erkrankungsspektrum in seiner Abbildbarkeit unter besonderer Berücksichtigung von Co-Morbiditäten und Komplikationen auf alle Patientengruppen auszudehnen (19). Dieses System diente zunächst nur zur Unterstützung der Qualitätssicherung und als Instrument zur Produktdefinition von Krankenhäusern. Ziel war es, die Anzahl der Fallgruppen überschaubar zu halten, eine Orientierung an routinemäûig dokumentierten Informationen zu gewinnen, die Krankenhausfälle lückenlos zu erfassen, Kostenhomogenität und medizinische Homogenität an Patientengruppen zu erzeugen. Mit Hilfe dieser DRGs sollte der Fall oder der Case-Mix eines Krankenhaus operationalisiert werden. Die DRGs waren also zunächst nicht ein System, um Preise festzulegen. In die Kalkulation sollten der Schweregrad der Erkrankung, die Prognose, die Schwierigkeiten der Behandlung,

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der Bedarf an Interventionen, der Aufwand an Prozeduren und die Höhe des Ressourceneinsatzes eingehen (17, 18). Die Weiterentwicklung der Fallgruppen führte erstmals 1983 zur Kategorisierung von Patientengruppen durch die Healthcare Financing Administation bei den Medi-Care-Versicherten in den USA. Es handelt sich dabei um Versicherte, die älter sind als 65. In der Folge wurde entschieden, im Staat New York 1987 ein DRG-System zu implementieren, welches sich nun auf alle Patienten erstrecken sollte. Neben der Ausweitung der DRGs auf alle stationären Fälle wurden sie unter Berücksichtigung von Co-Morbiditäten (Nebendiagnosen) und Komplikationen weiter entwikkelt. Die ¾nderungen umfaûten den Einschluû neonatologischer Fallgruppen, die Berücksichtigung des Geburtsgewichtes bei Neugeborenen, spezielle DRGs für die Tracheotomie oder für Transplantationen. Weiterhin wurden neue DRGs für HIV-Patienten und Polytraumatisierte sowie die Berücksichtigung von Co-Morbiditäten und Komplikationen über sogenannte Mayor-CCs eingeführt. Die Datenbank zur Entwicklung dieser DRGs beruhte auf 722.626 Behandlungsfällen aus 85 New Yorker Krankenhäusern. An diese Entwicklung schlossen sich die sog. Refined-DRGs an und stellten somit bereits die 3. DRG-Generation. Bei diesen wurden Diagnose und operationsbezogene Komplexitätsklassen differenziert. Daraus resultierten wiederum die All-Patient-RefinedDRGs (AP-RDRG) mit 1.530 Fallgruppen und unterschiedlichen Schweregraden. Nachdem die DRGs zunächst als Analyseinstrument gedacht waren, wurden in den 70er Jahren die DRGs erstmals eingesetzt, um dem Kostendruck der Healthcare Financing Administration entgegenzuarbeiten. Für die Abrechnung von Medicare-Patienten wird dieses System seit 1983 eingesetzt. Nach groûen Widerständen und eindeutigem Widerspruch dieser Systeme zu der klinischen Arbeit haben aufgrund von ¾rzteprotesten Überarbeitungen dieser frühen DRGs stattgefunden. Ziel dieser Revision war es, die Komplexität und den Schweregrad der Erkrankungen präziser abzubilden. Gefordert wurden sinnvolle Fallgruppen, also Fälle zusammenzufassen, die möglichst ähnliche Ressourcen erfordern. Die Zahl von Fallgruppen sollte überschaubar sein, d.h. nicht über 500 steigen. Entwickelt werden sollte dies auf der Basis der Analyse von Krankenhausbehandlungsabläufen.

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In vielen europäischen Ländern werden die DRGs überwiegend zur Budgetierung eingesetzt. In einigen Ländern dienten sie zusätzlich zur Finanzierung. Skandinavien hat selbstständig die sog. Nord-DRGs entwickelt. Die Länder Skandinaviens entwickelten 1995 auf der Basis HCFA-DRGs V.12.0 den Nord-DRGGrouper. Ziel dieser gemeinsamen Entwicklung war es, der Pflege und Weiterentwicklung aller DRG-Versionen unter Berücksichtigung nationaler Bedürfnisse gerecht zu werden. Dänemark, Norwegen, Finnland und Schweden beteiligten sich an diesem Projekt. Genutzt wird das System auch in Island. Frankreich hat die sog. Groupes-homogenes-de-maladies entwickelt, die derzeit zur Budgetverteilung eingesetzt werden. Diese stammt noch von der 3. HCFA-DRG-Version ab und ist in der Version von 1997 um AP-DRG-Elemente erweitert worden. Sie basieren auf der ICD 10 (International Classification of Diseases) und dem französischen Leistungskatalog. Österreich verwendet sog. leistungsbezogene Diagnosefallgruppen. Gemeinsames Merkmal aller DRG-Systeme ist die Möglichkeit, sämtliche akut stationären Fälle mehr oder weniger differenziert algorithmisch einander ausschlieûenden Fallgruppen zuzuordnen. Grundsätzlich wird jeder Behandlungsfall von Anfang bis zum Ende genau einer DRG zugewiesen (44). Die Verantwortlichen in Deutschland haben das in Australien entwikkelte DRG-System (AN-DRG bzw. AR-DRG) zum Vorbild genommen, weil es im internationalen Vergleich den höchsten Differenzierungsgrad bezüglich der Fallschwere aufweist. Ziel ist es, für eine bestimmte Erkrankung ein bestimmtes Honorar zu bezahlen, unabhängig von den individuellen Aufwendungen und unabhängig von der Klinik, in der sie erbracht werden. In Australien begannen die Überlegungen zu den DRGs im Jahre 1988, die schlieûlich 1992 zur ersten Version der Australian National Diagnosis Related Groups führte. Dieses System wurde 1985 weiterentwickelt. Alle Fallgruppen wurden überprüft und die Liste der relevanten Komplikationen und Begleiterkrankungen vollständig überarbeitet. 1998 erfolgte die erste Revision der sog. Australian Refined DRGs. Diese Modifikation ist die Grundlage des deutschen Systems. Weitere Entwicklungen berücksichtigen eine bessere Abbildung von Komplikationen und versuchen, die Darstellung von Prozeduren zu präzisieren und der Entwicklung anzupassen (39).

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Das DRG-System in Deutschland Grundlage für die Honorierung einer jeden Krankenhausbehandlung ist ein sog. relatives Kostengewicht (RG). Die Relativgewichte einer DRG-Fallpauschale errechnen sich durch den Durchschnittswert der Rohfallkosten einer Fallgruppe, dividiert durch den Durchschnittswert der gesamten Stichprobe. Der Erlös für die Behandlung eines Patienten ergibt sich dann durch einen Basisfallpreis und das Relativgewicht. Das Produkt aus diesen beiden Gröûen stellt den Erlös pro Fall dar (DRG-Relativgewicht x Basisfall = Fallerlös). Der Basisfallpreis oder die Base-Rate entspricht den durchschnittlichen Fallkosten. Das Relativgewicht wird eingeschätzt nach dem Aufwand und der Schwere der Leistung. So hat z. B. eine Tonsillektomie in Australien ein Relativgewicht von 0,58. Nimmt man einen Basisfallpreis von 2.100 e an, so ist der Erlös für eine Tonsillektomie 2.100 x 0,58 = 1.218 e. Solche Rechnungen sind bei klar definierten Erkrankungen ohne gröûere Komplikationen und ohne weitere Diagnosen einfach und werden in Einzelfällen in Deutschland seit Längerem eingesetzt (z. B. Hüftgelenkprothesen). Um jeden Fall so zu dokumentierten, daû die Leistung aufwandgerecht abgebildet wird, ist die Bestimmung des Aufwandes nach dem ökonomischen Schweregrad für die Basis-DRG notwendig. Die DRG-Zuweisung erfolgt in Abhängigkeit von der Fallschwere, die über den sog. Komplikations- und Co-Morbiditätslevel (CCL), der je nach der Schwere der Begleiterkrankung ermittelt wird und zwischen 0 (ohne relevante Co-Morbidität) und 4 (katastrophale Co-Morbidität) liegt. Als Beispiel sei ein Patient mit einem akuten Herzinfarkt gewählt, bei dem keine Herzkatheter-Untersuchung durchgeführt wird. Dieser Fall wird der DRGF.60B zugewiesen und erhält ein Relativgewicht von 1,58. Die höchste Fallschwere würde erst bei schwerster Co-Morbidität erreicht werden, z. B. zusätzliche Lungenembolien, massiv entgleister Diabetes oder Schlaganfall. In dieser Befundkonstellation wird ein Relativgewicht von 2,35 zugrunde gelegt. Insgesamt gibt es 5 Schweregradestufen zwischen 0 und 4, die nicht überschritten werden können. Bei einer zu groûen Zahl von Co-Morbiditäten und Komplikationen greift eine sog. Glättungsformel ein, die verhindert, daû der CCL über 4 ansteigt, d.h. unabhängig davon, wie groû die Komplikationen sind und wie groû die Aufwendungen der ¾rzte

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sind, er wird niemals über 4 ansteigen. Alle diese Werte gehen in den sog. Grouper. Es handelt sich dabei um ein Computerprogramm, das aus diesen Daten dann schlieûlich den Enderlös errechnet. Eingang in diese Berechnung finden z. B. neben der Hauptdiagnose die Nebendiagnosen, die Prozeduren, die Beatmungsdauer, das Alter, die Liegedauer bei Neugeborenen, das Neugeborenengewicht und die Art der Entlassung, d.h. regulär beendet oder der Patient hat gegen ärztlichen Rat die Klinik verlassen. Weitere Möglichkeiten sind Verlegung in ein anderes Krankenhaus oder Versterben. Bricht der Patient von sich aus gegen ärztlichen Rat die Behandlung ab, fällt er automatisch auf die Stufe der geringsten Fallschwere der zugewiesenen DRGs zurück, d.h., alles, was an ihm geleistet wurde, steigt nicht über das denkbar niedrigste Relativgewicht an. Durch diese Parameter errechnet sich das Budget, und zwar aus der Summe der Relativgewichte multipliziert mit der Base-Rate und der Fallzahl. Hieraus gestaltet sich das individuelle Budget, nämlich über die Fallzahl und den Casemix-Index, also die Summe der Relativgewichte (CMI). Auf die Entwicklung der Relativgewichte und die landesweiten Basisfallpreise haben die Krankenhäuser keinen Einfluss. Demgegenüber haben die Krankenkassen über diese Parameter in einfacher Weise erhebliche Möglichkeiten zur Steuerung der Gesamtausgaben. Die Relativgewichte schwanken von Jahr zu Jahr und werden vom Institut für Entgelt im Krankenhaus (INEK) festgelegt, wobei die Krankenhäuser nur geringen Einfluss bei der Preisgestaltung haben (11, 27, 32). So wurde z. B. zu Beginn des Jahres 2005 bei einer groûen Zahl von Relativgewichten durch Neubewertung eine Reduktion bis zu 5% verfügt. Dies kann zu einem vorübergehenden Liquiditätsverlust der Krankenhäuser führen. Mit dieser Berechnung entsteht für die Verwaltung und für die Kassen eine absolute Transparenz über die Leistung aller Krankenhäuser. Eine entscheidende Konsequenz für die Krankenhäuser besteht darin, daû völlige Homogenität im jeweiligen gruppenspezifischen Honorar erreicht wird, unabhängig von den individuellen Aufwendungen und unabhängig von der Klinik, in der sie erbracht werden. Groteske Differenzen, wie z. B. zwischen Behandlungskosten pro Fall von 8.641 DM in Berlin im Jahre 1999 und in Mecklenburg-Vorpommern von 5.095 DM werden verschwinden. Die durchschnittlichen Fallkosten in Deutschland lagen in diesem Jahr bei 6.086 DM (25).

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Für die Krankenhausmitarbeiter entstehen nun völlig neue Anforderungen, denn die Verschlüsselung muû von den Assistenten selbst vorgenommen werden. So verbringen die Assistenten sehr viel Zeit am Computer, um den Fall bezüglich der Haupt- und Nebendiagnosen, der Prozeduren, der Co-Morbiditäten und der Komplikationen adäquat abzubilden. Die Analysen des Codierverhaltens haben gezeigt, daû Erlösunterschiede bis zu 20% je nach Qualität des Codierens auftreten können, d.h. der verschlüsselnde Arzt, der im Rahmen seiner Arbeitszeit kostenneutral ohne jegliche Erweiterung des Personalstammes diese Leistungen erbringen muû, entscheidet letztlich über Budget und Erlössituation des jeweiligen Krankenhauses. Deshalb müssen die ¾rzte sehr zeitaufwendig geschult werden, um den allgemeinen Codierrichtlinien sowie den für Syndrome, Verdachtsdiagnosen und den Kombinationskategorien Doppelt- und Mehrfachcodierungen gerecht zu werden. Es muû gelernt werden, welche Prozeduren verschlüsselt sind, denn nicht alles, was im Krankenhaus geleistet wird, muû auch verschlüsselt werden und geht in die Honorierung ein. Der Umgang mit Prozedurenkomponenten, mit Codierreihenfolge und mit Resteklassen muû bekannt sein. Die ¾rzte müssen die Kombinationscodes kennen, multiple oder bilaterale Prozeduren sowie Prozeduren unterscheiden auf der Basis von Gröûe, Zeit oder Anzahl. Besondere Richtlinien finden sich bei der Behandlung von HIV-Erkrankten oder für Komplikationen im Zusammenhang mit der Therapie von Tumoren, insbesondere mit Chemotherapien. Es muû unterschieden werden zwischen einem Tagesfall, zwischen mehrtägigen Aufenthalten zwischen Besonderheiten bei Bluttransfusionen, bei maschineller Beatmung oder bei bestimmten geburtshilflichen Problemen. Die sehr zeitaufwendige Codierarbeit muû im Rahmen der normalen Arbeitszeit ohne zusätzliche Vergütung und ohne zeitliche Kompensation geleistet werden. Für einen erfahrenen Arzt werden 12 bis 20 Min. Dokumentationsarbeit pro Fall geschätzt. Bei 20 Min. pro Fall und 60 Mio. Patienten pro Jahr ergibt dies einen Mehraufwand von 14.611 Stunden täglich. Die Krankenhausträger leisten einen enormen zeitlichen und finanziellen Aufwand, um die Assistenzärzte zu schulen. Auch diese Schulungen und die Anschaffung der Computer müssen von den Krankenhäusern selbst finanziert werden (2). Pauschale Honorierungen werden in Aussicht gestellt. Die Codierung bringt völlig neue Aspekte in die

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klinische Arbeit. Mit groûer Irritation muûten die Assistenzärzte feststellen, daû sie mit einer völlig neuen Denkweise konfrontiert werden. Sie lernen den Jargon der Kaufleute kennen, die von ¹Starsª sprechen, die ein hohes Fallgewicht haben, z. B. im Bereich der Kardiochirurgie oder der Endoprothetik. Sie wurden konfrontiert mit der ¹Cash Cowª, das ist z. B. eine Tracheotomie mit komplizierten Beatmungsproblemen und sie muûten sich damit abfinden, daû eine normale vaginale Geburt ohne komplizierende Diagnose ein ¹Poor Dogª ist mit einem Fallgewicht von 0,56. Findet die Dokumentation nicht nach vorgegebenen Qualitätsstandards statt, erfolgt ein Systemabschlag, wobei die Höhe des Abschlags noch nicht feststeht. Ab 2005 muû jede Klinik ihre Leistungskennzahlen im Internet präsentieren. Für die Qualität der Codierung haftet der Chefarzt. Sanktionen bis zur fristlosen Kündigung oder bis zur persönlichen Haftung werden diskutiert (38, 53). Zurzeit gibt es noch unterschiedliche Baserates, die im Rahmen einer Konvergenzphase, die sich über die nächsten Jahre erstreckt, vereinheitlicht werden. Verwaltet wird der Ablauf von dem bereits erwähnten Institut für Entgeltsystem im Krankenhaus, das von den Krankenhäusern finanziert wird und die seit Jahren für die Finanzierung dieses Instituts 50 Cent pro Fall als DRGSystemzuschlag abführen. Die Definitionshandbücher, die vom INEK erarbeitet wurden, liegen inzwischen in 5 Bänden vor, die zwischen 350 und 550 Seiten umfassen (7, 14). Es läût sich aus dem Gesagten mühelos ableiten, daû es Gewinner und Verlierer geben wird. Hohe Krankenhausfunktionäre und Wirtschaftsberatungsfirmen wie McKinsey oder Anderson sprechen davon, daû die Umstellung ca. 25 bis 30% der Krankenhäuser in den Ruin treiben wird, wobei dies nicht ein Nebeneffekt ist, sondern eines der gewollten Ziele (24, 51).

Konsequenzen Vertieft man sich in dieses System, so ist man von der Komplexität und der Perfektion der DRG-Regeln zunächst beeindruckt. In der Fachpresse wird es als fair, transparent und leistungsorientiert eingestuft. Kritische Stimmen von Seiten der Spitzenverbände, der Ersatzkassen, der Bundesärztekammer und dem Marburger Bund

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sind mittlerweile verstummt. Auf der Basis der Erfahrungen in anderen Ländern ist abzuschätzen, daû es zu ¾nderungen in Art und Struktur der Versorgung kommen wird. Erwartet werden Anstieg der stationären Fallzahl, Abnahme der Fallkosten, Rückgang der Krankenhaustage um 20%, Rückgang der Verweildauer um 1/4, Rückgang der Sterblichkeit in den Krankenhäusern, Zunahme der Einweisung in Pflegeheime und Zunahme der Wiedereinweisungen. Für die Krankenhäuser selbst wird es Konsequenzen geben, z. B. Zunahme an Krankenhausfusionen, da vorausgesetzt wird, daû kleine Krankenhäuser nicht überlebensfähig sein werden. Es wird zu einer Verbesserung der internen Abläufe und damit zu deutlichen internen Kosteneinsparungen kommen. Die Zahl der ambulanten Leistungen wird ansteigen und die medizinischen Leistungen werden standardisiert werden. Das deutsche System ist das einzige aller vergleichbaren Systeme, das den Ehrgeiz hat, möglichst alle klinischen Versorgungsbereiche abzudecken, ausgenommen ist lediglich die Psychiatrie und die Rehabilitation. Einzelleistungen, wie Transplantationen oder die Behandlung von schwer Brandverletzten sind zur Zeit Gegenstand von Verhandlungen. Die Bundesärztekammer plädiert für die Abkehr vom 100%Modell, um dem Arzt eine gewisse Flexibilität noch zu überlassen. In Australien werden nur 60% der Diagnosen durch die DRGs abgedeckt. Es ist jedoch nicht abzusehen, daû in Deutschland von der 100%-Lösung abgegangen wird (9, 44). Trotz der Komplexität und der Perfektion wird eine Reihe von Sachproblemen diskutiert. Man muû feststellen, daû apparative Prozeduren sehr gut und sehr bemüht dargestellt werden. Jedoch wird alles das, was man unter dem Begriff ¹Zuwendungª zusammenfassen kann, also die zeitaufwendige Pflege von geriatrischen Patienten oder chronischen, multimorbiden Patienten, bei denen keine aufwendigen apparativen Leistungen mehr erbracht werden können, ist eindeutig unterrepräsentiert. Gespräche mit den Patienten, die zum Teil sehr aufwendigen zeitraubenden Gespräche mit Angehörigen, tauchen in der Wertung eines Fallgewichtes überhaupt nicht auf. Zeitverluste im Krankenhaus, die durch Mangel an Bereitschaft zur Mitarbeit von Patienten entstehen, Ablehnungen und Zeitverzögerungen durch ¾ngste, die oft zu einer Verschiebung von Untersuchungen führen, sind in den Kalkulationen nicht vorgesehen. Patienten, die zu krank sind, um in einen pflegerischen Bereich übernommen zu werden, bei denen jedoch keine

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groûen apparativen Leistungen mehr nötig sind, sind eindeutig die Verlierer, und es besteht die Gefahr, daû hier ein Potential von Verlierer-Patienten entsteht, um das sich niemand mehr so richtig kümmern möchte, wenn die Fallpauschale aufgebraucht ist. In den USA bezeichnet man das Verschieben von finanziell unattraktiven Patienten als ¹patient dumpingª (3). Es ist durchaus denkbar, daû ein Arzt in ein Dilemma gerät: Läût er einen Patienten zu lange im Krankenhaus, so daû die Kosten den Fallerlös übersteigen, bekommt er möglicherweise Druck von der Verwaltung. Andererseits besteht die Versuchung, den Patienten möglichst schnell zu entlassen und damit den Gewinn für das Krankenhaus möglichst hoch zu halten. In einigen polemischen Artikeln wurde schon von dem ¹blutenden Patientenª gesprochen, der vor der Zeit, noch nicht ausreichend versorgt, nach Hause entlassen wird. Diese Gefahr ist sicherlich übertrieben. Mit Sicherheit wird jedoch der Handlungsspielraum, der dem Arzt bisher eine gewisse Freiheit gegeben hat, um auf individuelle Nöte der Patienten einzugehen, deutlich eingeengt. Insgesamt liegen die gesamten Risiken voll beim Krankenhaus, während früher Verzögerungen oder Komplikationen sich in einer Verlängerung der Verweildauer und damit in einer erhöhten Zahlung des tagesgleichen Pflegesatzes ausgewirkt haben.

Kontrolle von auûen Überwacht und kontrolliert werden die Krankenhäuser vom Medizinischen Dienst der Krankenkassen (MDK), einer Institution, die im Jahre 2003 7.066 Mitarbeiter hatte, davon 2.079 ¾rzte, 863 Personen im Pflegebereich sowie 2.921 Personen als Assistenzpersonal. Der ärztliche Dienst überwacht auf der Basis von genau definierten Fehlbelegungskriterien, ob Patienten zu lange im Krankenhaus behandelt werden. Der MDK hat das Recht, die Zahlung bei unangemessener Verweildauer zu verweigern. Eine weitere wichtige Aufgabe des Medizinischen Dienstes ist, der Gefahr des sog. ¹Upgradingª oder ¹Upcodingª zu begegnen, d.h. einen Fall höher im Computer abzubilden, als er in der Realität ist. Ob der MDK auch bei einer Untercodierung, die zu einem Mindererlös führen würde, eingreift, ist noch nicht bekannt. Wenn

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ein Upcoding nachgewiesen wird, muû der hierdurch erzielte Betrag nicht nur anteilig, sondern zu 100% zurückerstattet werden, und wenn der Nachweis einer absichtlichen Falschcodierung erbracht wird, muû zusätzlich zu einem Regreû eine Strafe in gleicher Höhe gezahlt werden. Für die Umsetzung der DRGs ist der Medizinische Dienst mit erweiterten Kompetenzen ausgestattet. Er sieht sich bei der Umstrukturierung in einer zentralen Rolle. Er soll mit Hilfe der Kontroll- und Aufsichtsfunktion des Medizinischen Dienstes dem Krankenhaus mehr Wirtschaftlichkeit ¹einimpfenª. Der MDK hat das Recht, vielen Anreizen entgegenzuwirken, extern zu kontrollieren und über sog. zentrale Aufgreifkriterien Sanktionen bei klinikbedingten Fehlleistungen zu verhängen. Es ist dem Medizinischen Dienst erlaubt, ohne konkrete Verdachtsmomente aus abgeschlossenen stationären Behandlungsfällen in Stichproben zu prüfen, ob die stationäre Aufnahme und Behandlung überhaupt erforderlich war, ob sie nicht unangemessen lang oder verkürzt oder ob die DRG-relevante Codierung auch medizinisch richtig war. Den Krankenhäusern ist jegliche Verteidigung gegen evtl. unberechtigte Fehlbelegungsvorwürfe unmöglich. Zu den Fehlbelegungskriterien des MDK gehört seit längerem die Einweisungsdiagnose ¹sterbender Patientª. Begründet wird dies mit dem Hinweis, daû eine Therapie nicht mehr erfolge und sterben könne man auch zu Hause (45, 34). Neben der Kontrolle durch den MDK wird die Kontrolldichte durch die Verwaltung insgesamt deutlich zunehmen. Es wird eine völlige Transparenz über die Leistungen entstehen. Eine Folge dieser Transparenz wird sein, daû die ärztlichen Leistungen stärker standardisiert werden müssen und somit in eine Leitlinien-Medizin einmünden. Der Vorteil solcher Leitlinien ist es, daû die Abläufe nach vorgegebenen Algorithmen stringenter werden. Das innere Management und die internen Abläufe in den Krankenhäusern müssen gewaltig verändert und optimiert werden. Als Nachteil muû im Auge behalten werden, daû durch die Verengung des Behandlungskorridors ein blinder Schematismus entstehen kann, der möglicherweise für individuelle Probleme keinen Spielraum mehr läût. Zur Zeit zirkulieren ca. 1000 solcher Leitlinien für fast alle Bereiche der Medizin. Zweifellos lassen sich über die Standardisierung gewisse Ablaufschemata sowohl in der Diagnostik als auch in der Therapie sinnvoll als Unterstützung der ärzt-

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lichen Arbeit verwenden. Es werden jedoch unterschiedliche Erfahrungen mit Leitlinien gemacht. Derzeit haben die behandelnden ¾rzte noch die Freiheit, unabhängig zu handeln, insbesondere, wenn sich Grenzfälle oder nicht typische Situationen ergeben. Gefürchtet wird, daû angesichts der immer gröûeren Zahl von Leitlinien und der raschen Entwicklung von neuen Therapiestandards sich immer wieder widersprüchliche Situationen und Fragen ergeben (43). Auûerdem wird diskutiert, daû der Arzt Gefahr läuft, bei Abweichungen von Leitlinien nicht nur medizinisch, sondern auch juristisch in einen Rechtfertigungszwang zu kommen. Weiterhin zeichnet sich bereits ab, daû die Leitlinien zugrunde gelegt werden, um bei einem evtl. Verstoû dagegen einen Anspruchsgrund abzuleiten, so daû der Arzt nicht nur medizinisch, sondern auch juristisch in einen stärkeren Rechtfertigungszwang kommt (38, 53). Für den Arzt ergibt sich hieraus eine schwierige Situation. Medizinisches und ethisches Handeln wird bestimmt durch die analytische Kompetenz und durch die ärztliche Urteilskraft. Es ist eine Wunschvorstellung, daû solche Entscheidungen auf grundsätzlichen normativen Standpunkten und Prinzipien beruhen. Der ethische Diskurs hat jedoch erbracht, daû das starre Prinzip der Antagonismen ¹richtig-falschª, ¹wahr-unwahrª etc. in vielen Bereichen der Medizin nicht immer zu einer eindeutigen Regelfindung geführt hat. Stattdessen haben sich Methoden entwickelt, die anhand von analytischen Diskursen auf dem Boden von ethischen Prinzipien zu individuellen, gut fundierten Resultaten führen. Ethik, verstanden als normative reflexive Besinnung auf Maûstäbe des Verhaltens und der Orientierung resultiert in allgemeinen Regeln und Normen. In medizinischen Entscheidungen muû jedoch immer wieder auf dem Boden allgemeiner moralischer Prinzipien die Ethik analytisch diskursiv sein, um den individuellen Problemen gerecht zu werden. Zweifellos befindet sich die Ethik damit in einem Spannungsfeld zwischen normativen Prinzipien und einer nicht immer ungefährlichen Situationsethik. Die Medizin hat in den letzten Jahren gelernt, sich diesen komplexen individuellen Findungsprozessen zu stellen und ist, wo sie angewandt wurden, mit dieser Methode gut gefahren. Starre schematische Leitlinien erschweren nur diese Art der Entscheidungsfindung. Für die medizinischen Maûnahmen muû der Arzt die Transparenz sowohl von seiten der Verwaltung als auch von den Krankenkassen noch nicht fürchten. Er kommt jedoch immer wieder in

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Konfliktsituationen zwischen einer individuellen menschlichen Entscheidung, die finanziell vielleicht nicht ganz korrekt ist, und Bedürfnissen von Patienten. Mit der vollständigen Transparenz wird das komplett entfallen, was die Ökonomen als ¹Barmherzigkeit der Intransparenzª bezeichnet haben und damit ironisch auf die immer noch bestehende Freiheit des Arztes im Krankenhaus hinweisen. Aus der Perspektive eines Ökonomen ist es wahrscheinlich in der Tat unerträglich, Grauzonen vorzufinden, die sich seinem Zugriff entziehen, wittert er doch immer wieder ein Verschwendungspotenzial. Der klinische Arzt wird nicht umhin kommen, um diese kleinen Freiheiten zu kämpfen, um Spielraum gegenüber den starren Regeln zu haben. Die Frage, wie flexibel das System ist, ist auch wichtig für zukünftige Innovationen. Zurzeit scheint kein Spielraum für die Entwicklung, insbesondere von besonders teuren neuen technischen Geräten oder Medikamenten, vorgesehen zu sein. Insgesamt resultiert aus der gesamten Entwicklung und der Einführung der DRGs das absolute Primat der Administration, das die ¾rzte in eine zunehmende Begründungspflicht für diagnostische und therapeutische Maûnahmen, insbesondere für Abweichungen davon, steuern wird.

Konsequenzen Da es in Deutschland bisher keine gröûeren Erfahrungen mit Fallpauschalen, insbesondere bei komplexen und multimorbiden Patienten gibt, kann noch nicht eingeschätzt werden, wie sich die Qualität in der medizinischen Behandlung verändern wird. Im Groûen und Ganzen wird jedoch stillschweigend vorausgesetzt, daû die Behandlungsqualität keinen Schaden nimmt. Die Publikationen aus dem Ausland zu diesem Problem sind widersprüchlich. Interessant ist in diesem Zusammenhang eine Analyse aus den USA, die an der University School of Medicine in Connecticut vorgenommen wurde. Es wurden hierbei Patienten mit Pneumonie aus den Jahren 1992 und 1997 analysiert, also vor und nach der Einführung der Fallpauschalen in diesem Bereich. Hier zeigt sich, daû die Verweildauer mit dem neuen System durchschnittlich um 35% zurückging. Die Krankenhauskosten pro Fall reduzierten sich

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um 25%. Die Sterberate im Krankenhaus ging um 15% zurück. Eine Analyse der Patienten innerhalb von weniger als 30 Tagen nach der Entlassung erbrachte, daû auûerhalb des Krankenhauses die Sterberate um 35% gestiegen ist. Die Wiederaufnahme wegen eines Rückfalls ist um 23% gestiegen und die Verlegung in eine Pflegeeinrichtigung um 42% (36, 42, 47). Eine der zwingenden Konsequenzen ist die Umgestaltung der Krankenhäuser mit dem Ziel der Rationalisierung und Optimierung durch Spezialisierung. Über ausgewählte, gut bezahlte, technische Leistungen sind hohe Erlöse zu erwirtschaften und es steht zu befürchten, daû sich eine Spezialisierungsmedizin etabliert mit der Gefahr einer ¹Rosinenpicker-Medizinª, die dazu führt, daû finanziell attraktive Patienten bevorzugt, finanziell unattraktive Patienten verschoben werden. Es wurde bereits darauf hingewiesen, daû gerade die älteren, multimorbiden und chronisch Kranken, die nur vergleichsweise wenig apparative Leistungen beanspruchen, jedoch viel Zuwendung benötigen und generalistisch versorgt werden müssen, mit einem niedrigen Fallgewicht verbunden sind und fürchten müssen, in der zunehmenden Entwicklung ausgegrenzt zu werden. Unverhohlen werden durch die neuen Umstrukturierungen Begehrlichkeiten geweckt, so daû geschätzt wird, daû in 10 bis 15 Jahren die Hälfte der Krankenhäuser in Form von Aktiengesellschaften geführt werden, wobei es schon eine Debatte wert wäre, ob es zu verantworten ist, ein System, das der Daseinsvorsorge verpflichtet ist, unbeschränkt der Gier von Shareholdervalue-Vertretern auszuliefern. In den USA ist dies zur Zeit der Fall, wobei von dem Gesamtaufwand von 15,8% des Bruttosozialproduktes für das Gesundheitswesen nur ein geringer Teil dieser immensen Aufwendungen den Leistungskern, d.h. den Patienten, erreicht. Der Rest sind Gewinnausschüttungen, Werbung und Verwaltungskosten. Daû diese komplizierten Aufwendungen und Kontrollen für die Krankenkassen nicht ohne finanzielle Konsequenzen bleiben, zeigt die Tatsache, daû die Verwaltungskosten der Krankenkassen vom Jahre 1991 bis 2003 von 4,7 auf 7,8% gestiegen sind, wohingegen sich die Zahl der gesetzlichen Krankenkassen in Deutschland von 1.309 im Jahre 1991 auf 324 im Jahre 2003 reduziert hat. Das heiût, die Zahl der Kassen reduzierte sich um 72%, die Verwaltungskosten verteuerten sich trotzdem um 66% (13, 26).

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Mögliche Entwicklungen im Gefolge der DRGs: Die Gesundheitsökonomie Nicht im engeren Zusammenhang mit den DRGs, aber in deren Gefolge mit der Datenerfassung und der kompletten Transparenz wird sich zunehmend eine in den angelsächsischen Ländern entwickelte Gesundheitsökonomie etablieren, mit der alle Entscheidungen auf dem Boden von Kosteneffizienz beurteilt und beherrscht werden. So gibt es z. B. Versuche, die ärztlichen Leistungen in Form von Qualitätscodes darzustellen. Als Beispiel sei das Prinzip der Quality-adjusted-life-years, ¹Qualyª genannt, zitiert. Ein solches qualitätsadjustiertes Lebensjahr ist definiert als ein bei vollständiger Gesundheit verbrachtes Jahr. So ist z. B. ein mit 0,5 bewerteter Zustand, der über 2 Jahre andauert, genau 1 ¹Qualyª. Der nächste Schritt ist, daû im Rahmen dieser Kosten-NutzenAnalyse die gesundheitliche Verbesserung in Geldeinheiten gewertet wird, so daû man z. B. in der Lage sein wird zu messen, wie viele Euro ein verlorenes Lebensjahr kostet oder ein gewonnenes Lebensjahr erbringt. Damit wird die individuelle Situation eines menschlichen Krankheitsverlaufes oder eines Leidens in ein rein ökonomisch diktiertes Formelwesen gezwängt. Nach den Kriterien zur Wirtschaftlichkeit des Gesundheitswesens ist eine Qualitätsverbesserung als wirtschaftlich eingestuft, wenn die Verbesserung des Gesundheitszustandes den Aufwand inklusive Folgekosten rechtfertigt. Amerikanische Ökonomen legen häufig einen Grenzwert von 50.000 Dollar pro Lebensjahr in vollkommener Gesundheit als akzeptabel fest. Zugrunde gelegt werden sog. Kosten-NutzwertAnalysen bzw. Cost-Utility-Analyses. In der Literatur wird dies als Maûnahme bewertet, um Unter-, Über- oder Fehlversorgungen im System zu minimieren. Wie allerdings die Analyse von solchen Nutzenparametern unter dem Qualy-Aspekt am Krankenbett seinen Platz finden kann, ist im Moment für einen klinisch tätigen Arzt nicht nachzuvollziehen. Derartige Analysen werden von den Gesundheitsökonomen in vielerlei Situationen angewandt; so haben die Ökonomen in USA z. B. durchgerechnet, daû die Kontrolle der Emissionen radioaktiver Substanzen durch das Energie-Ministerium 834.000 Dollar pro gerettetes menschliches Lebensjahr kostet. Nach Berechnungen amerikanischer Gesundheitsökonomen kostet z. B. ein gerettetes

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Lebensjahr durch die Installation von Rauchmeldern 239.919 Dollar. ¾hnliche Überlegungen gibt es für die ökonomische Effizienz von Airbags. Erbitterte Diskussionen gab es in den USA, als die amerikanische Krebsgesellschaft eine Empfehlung veröffentlichte, eine jährliche Mammographie für Brustkrebsvorsorge nicht erst ab dem 50., sondern bereits ab dem 40. Lebensjahr durchführen zu lassen. Ökonomen haben daraufhin berechnet, daû diese Maûnahme über 150.000 Dollar pro gerettetes Lebensjahr kosten würde und damit viel zu teuer sei. Läût man solchen Überlegungen freien Lauf, ohne sie mit ethischen, philosophischen und moralischen Reflexionen zu verbinden, wäre dies der Triumph eines ungehemmten Vulgärutilitarismus, den eigentlich niemand in irgendeinem Lebensbereich wünschen kann (21, 33, 48).

Ausländische Verhältnisse als Vorbild? Den deutschen ¾rzten werden oft Zahlen und Vergleiche mit anderen Ländern vorgehalten, so z. B., daû in den USA die inneren Abläufe viel perfekter seien und die Krankenhausverweildauer nur die Hälfte oder weniger als in Deutschland betrage. So wird auch immer wieder diskutiert, daû das englische System zwar einige Schwächen habe, aber qualitativ besser sei als das deutsche bei etwa nur 7,3% Anteil am Bruttosozialprodukt. Insgesamt wird immer wieder dem deutschen System vorgehalten, daû zu viele Betten in Deutschland existieren. Niemand stellt sich die Frage, ob nicht in anderen Ländern vielleicht sogar zu wenig Betten vorgehalten werden. Sind die niedrigeren Kosten in England nicht Ausdruck eines bis an die Grenzen des Erträglichen gehenden Sparsystems, wo viele Patienten auf Wartelisten sterben? Unter dem Druck der schlechten Verhältnisse hat die englische Regierung reagiert und ist jetzt dabei, Milliarden in das Gesundheitssystem zu pumpen, wobei jedoch eine Besserung der Qualität noch nicht absehbar ist. Ist das System in den USA mit den extrem kurzen Verweildauern nicht Ausdruck eines sozialen Defizits in einem Land, in dem 42 Mio. Einwohner und damit 15,5% der Bevölkerung nicht versichert sind und sich einige Krankenhaustage mehr einfach nicht leisten können? Es ist dort selbstverständlich, daû nie-

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dergelassene ¾rzte und Krankenhäuser nicht versicherte oder unterversicherte Patienten nicht behandeln müssen, auûerdem werden dort kaum noch Hausbesuche durchgeführt. Die einzige Anlaufstelle, wo Patienten ohne Vorbedingungen behandelt werden, sind die emergency rooms. Nach Berichten von ¾rzten, die in diesen Institutionen arbeiten, sind diese an der Grenze ihrer Leistungsfähigkeit (1, 5, 12, 52, 54). England und die USA sind auf ihre Weise Extrembeispiele, jedoch auch in anderen Ländern, wie z. B. Holland, dessen Gesundheitssystem als vorbildlich gilt, zeigen sich Versorgungsmängel.

Offene Fragen Beobachtet man diese komplexe Umstrukturierung, deren Konsequenzen im Moment noch nicht absehbar sind, so stellen sich einige grundsätzliche Fragen. Wird durch so eine Umstrukturierung von Geld und Macht wirklich gespart und saniert? Werden die Strukturen besser? Es wird mit groûer Wahrscheinlichkeit wohl billiger, was die Fallkosten im Krankenhaus angeht. Es besteht jedoch die Gefahr, daû durch die Aufblähung der um den Leistungskern der Medizin herum plazierten patientenfernen Anteile durch die der medizinische Leistungskern reduziert wird, das Sparziel nicht voll erreicht werden wird und die Medizin bzw. der Patient darunter leidet. Wird saniert oder nur umverteilt? Wird die Handlungsqualität erhalten bleiben? Ist die Ökonomie ein Hilfsmittel zur Steuerung von Prozessen zur Erhaltung von Qualität bei allem Zwang zur Einsparung oder wird sie zu einem Machtmittel gegen die ¾rzte ausarten? Durch den Primat der Ökonomie und des damit einhergehende Primats der Standardisierung und der Leitlinien werden die ¾rzte im Alltag immer mehr beherrscht. Zweifellos käme dies einer politisch gewollten Bevormundung und Steuerung der ¾rzte entgegen, die unterschwellige und oft offene Kritik am angeblichen Neopaternalismus der ¾rzte findet hier ihren Ausdruck. Damit wird das bisherige Verhältnis von Arzt und Patient grundlegend verändert. Die bisherige Stellung des Arztes bestand in seiner fachlich begründeten Autorität. Die Hierarchie war begründet durch den Nutzen für die Heilung des Patienten. Das Wesen der Medizin war bisher ein Auftrag zur Heilung und Mittel

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zur Wiederherstellung der durch die Krankheit verlorenen Selbstbestimmung. Das jetzt immer mehr in den Vordergrund der Diskussion gerückte Recht auf Selbstbestimmung des Patienten kann daher kein primäres Kriterium sein. Es gehört mit zu den verleumderischen Polemiken, daû das Arzt-Patienten-Verhältnis ein Herrschaftsverhältnis des Arztes über den Patienten sei. Der eine hilft, der andere bekommt die Hilfe ± diese Interaktion ist keine Interaktion zwischen Herrscher und Beherrschtem. Der Primat der Leitlinienmedizin und das Diktat der Ökonomie wird diese Kompetenzhierarchie des Arztes beschneiden. Die Möglichkeit ist nicht auszuschlieûen, daû der Arzt sich bezüglich der medizinischen Entscheidungen zurückzieht und dem Patienten ein mehr oder weniger kostengünstiges Angebot macht und den Patienten damit sich selbst überläût. Eine weitere Folge dieses neuen Systems wird sein, daû der Patient selbst formal aufgewertet wird. In der Nomenklatur der Ökonomen wird er jetzt ¹Nutzerª genannt. Andererseits wird eine der Folgen der DRGs sein, daû der bisher rechtlich garantierte Leistungskern abgeschmolzen wird. In unserer modernen Informationsgesellschaft wird der Patient immer mehr und immer besser in der Lage sein, sich Informationen zu besorgen und somit in seinem Verhältnis zum Arzt eine selbstbewuûte Position einnehmen können. Von den ¾rzten wird dies zum gröûten Teil begrüût, weil damit die argumentative Zugänglichkeit in vielen Bereichen erleichtert und die Zusammenarbeit verbessert wird. Andererseits kann der Patient mit seinem über das Internet besorgten Wissen mit seiner angeblichen Patientenautonomie in eine Situation der Überforderung kommen, mit der der Patient allein gelassen wird. Das Arzt-Patient-Verhältnis begründet immer noch eine Autorität und leistet Hilfe. Die Vorstellung, allein mit Leitlinien, Vorschriften und ökonomischen Kalkulationen die Bedürfnisse der Patienten abzudecken, zeigt den unreflektierten Machbarkeitswahn vieler Ökonomen, die so ein Spannungsfeld zwischen Ökonomie und ärztlichem Handeln herstellen. Die Medizin wird sich fragen müssen, ob es möglich ist, leistungsfähige Strukturen zu entwikkeln und zu halten, die nicht in einen blinden, selbstvergessenen Ökonomismus einmünden und diesem unterworfen sind. Damit soll keine nostalgische Gemächlichkeit beschworen werden. Traditionell ist das ärztliche Handeln bisher in Europa in der Tradition

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der christlichen Barmherzigkeit verwurzelt. Dies soll durch den Homo oeconomicus abgelöst werden, ein Konstrukt der Ökonomen, der seine Handlungen rein nach rationalen Kriterien entscheidet und für den Moral und Emotionen sekundär sind und der in Entscheidungen und Situationen, wo nicht rationale Motive eine Rolle spielen, versagen muû (40). Sparen hat seinen Sinn, wenn der medizinische Auftrag in der Substanz nicht beschnitten wird, nicht aber, wenn es ihn in seiner Substanz schwächt. Sparen soll nicht an die Stelle dessen treten, für das angeblich gespart werden soll. Der Homo oeconomicus, der die Voraussetzungen definieren, die Methoden wählen kann und das Ziel selbst bestimmt, hat das Gesetz des Handelns. Demgegenüber sind Emotionen, Moral, Leiderfahrungen und ethische Erwägungen in einer schwachen Position. Das Ziel des Homo oeconomicus ist Effizienz. Definiert man es als maximalen Erfolg bei minimalem Aufwand, so können die Handelnden sich diesem Anspruch erst einmal nicht entziehen. Aber wohin mündet dies, wenn dieser Fetisch der Effizienz konsequent und unreflektiert durchgespielt wird? Er führt zu einer Beschleunigung der Abläufe, zu einer Verödung und Verflachung der Arbeitswelt, zu einer kompletten Beherrschung aller Handelnden. Der Druck des Ökonomismus wird die Kontrollinstrumente perfektionieren, er führt zur Entsolidarisierung, Egoisierung und Partikularisierung. Es wird zur Überforderung und zur Ausgrenzung von Mitarbeitern, von Überhitzung und zum Exzess führen (40). Der Wirtschafts-Nobelpreisträger Amathyra Sen reflektiert die ökonomische Nutzentheorie und kommt zu dem Schluû, daû der rein ökonomische Mensch so etwas wie ein sozialer Idiot sei. Leider habe sich die Wirtschaftstheorie nahezu ganz diesem ¹rationalen Trottel in seinem Mäntelchen einer einzigen, all umfassenden Präferenzordnungª gewidmet (49). In unserem solidarischen System gilt der Umgang mit leidenden Menschen in allen seinen Erfahrungsbereichen immer noch als Kriterium für den Wert einer Gesellschaft. Kurzfristige Strategien oder längerfristig angelegte qualitative Umgestaltungen können dazu führen, daû das System dabei Schaden nimmt. Die Ökonomie muû lebensdienlich sein, sie darf kein Selbstzweck sein, und es wird die Aufgabe des gesellschaftlichen Diskurses für die Zukunft werden, zu optimieren, zu sparen und dabei das kostbare System unserer solidarischen Krankenversorgung nicht aufs Spiel zu setzen.

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Bioethik im Kontext des Rechts

Hans-Martin Pawlowski (Mannheim)

Bioethik im Kontext des Rechts. Zu den Aufgaben und Grenzen des Rechts in bioethischen Fragen I Bevor man beschreibt, wie sich Bioethik im Kontext des Rechtes darstellt, muû man heute zunächst deutlich machen, wie sich Recht und Ethik oder Moral zueinander verhalten. Denn die Verbindung zwischen diesen unterschiedlichen normativen Komplexen ist in der öffentlichen Diskussion in Europa und auch in Deutschland noch weithin unklar. So hat man denn bei den vorbereitenden Diskussionen über eine rechtliche Regelung der hier anstehenden Probleme in Anschluû an amerikanische Diskussionen auch in Europa zunächst nur von ¹Bioethikª gesprochen und sich um die Formulierung einer ¹Bioethik-Konventionª bemüht. Im Lauf der Diskussionen ist man dann aber zu Recht dazu übergegangen, den Gegenstand der geplanten Regelung mit dem Ausdruck ¹Biomedizinª zu bezeichnen ± weshalb der Europarat am 19. 11. 1996 nicht eine Bioethik-Konvention verabschiedet hat, sondern ein ¹Menschenrechtsübereinkommen zur Biomedizinª1. Dagegen wiederum hat die UNESCO inzwischen eine ¹Allgemeine Erklärung über Bioethik und Menschenrechteª verabschiedet2. 1. Diese unterschiedliche Redeweise verdankt sich einmal wohl dem Umstand, daû in Europa der Zusammenhang mit dem ¹Nürnberger Codeª bzw. ¹Nürnberger ¾rztekodexª über medizi1 Bzw. ein ¹Übereinkommen zum Schutz der Menschenrechte und der Menschenwürde im Hinblick auf die Anwendung von Biologie und Medizinª. 2 Einstimmige Annahme per Akklamation auf der 33. Generalkonferenz am 19. Oktober 2005.

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nische Versuche von 19473 ± also der Reaktion auf die Miûbräuche von ¾rzten in Deutschland in der Zeit zwischen 1933 und 1945 ± noch deutlicher in Erinnerung ist. Der Übergang von der Bioethik zur Biomedizin hängt aber vor allem damit zusammen, daû sich in Europa und vor allem in Deutschland das Recht von der Ethik oder Moral unabhängig machen muûte ± weil hier die Ausdrücke ¹Ethikª oder ¹Moralª heute nicht mehr auf die sittliche Überzeugung der jeweiligen Gesamtgemeinschaft verweisen, sondern nur auf die sittlichen Überzeugungen unterschiedlicher Teilgemeinschaften: z. B. von katholischen oder evangelischen Christen, von Buddhisten, Muslimen, Kommunisten usf.4 Während sich also das Recht in vielen auûereuropäischen Ländern ± und auch im Bewuûtsein vieler Europäer5 ± noch als Ausschnitt aus einem zusammenhängenden Normengefüge darstellt, das es prägt und stützt, kann sich das Recht sowohl in Deutschland als auch in den anderen Ländern der europäischen Union nicht mehr auf eine Moral stützen, die allen Bürgern gemeinsam ist6. Dies macht nicht zuletzt ein Urteil des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs7 zu Art. 131 Abs. 2 BayVerf deutlich ± also ein Urteil zu einer rechtlichen Regelung, die bestimmt, daû die Schulen die Schüler ¹zur Ehrfurcht vor Gottª erziehen sollen: Hierzu stellte das Gericht nämlich ± zu Recht ± fest, das dies angesichts der Gewährleistung der Glaubensfreiheit und des Toleranzgebotes der Bayerischen Verfassung (Art. 107 Abs. 1, 136) nicht für die atheistischen Schü-

3 Der übrigens weitgehend den bereits 1931 aufgrund von Vorschlägen des Reichsgesundheitsrates formulierten ¹Reichsrichtlinien für die Forschung am Menschenª entsprach: Richtlinien des Reichsministeriums des Inneren für neuartige Heilbehandlungen und für die Vornahme wissenschaftliche Versuche am Menschen von 1931; veröffentlicht in der Deutschen Medizinischen Wochenschrift 57 (1931), 509. 4 Dazu Pawlowski, ZRph 2003, 142 ff., und ausführlich ders., Methodenlehre für Juristen, Heidelberg, 3. Aufl. 1999, Rz. 835 ff. 5 Siehe die Nachw. bei Pawlowski, ZRph 2003, 71 ff., 80 ff. 6 Daher sind ältere gesetzliche Vorschriften wie die §§ 138 oder 826 BGB (vgl. i. ü. die §§ 817, 820 BGB oder 1 UWG u. a. m.), die noch den früheren Gegebenheiten entsprechend auf die auûerrechtliche Sittlichkeit verweisen, heute ¹aus dem Gesamtzusammenhang des Rechtsª auszulegen: Weil sich rechtliche Vor- und Nachteile für die Bürger unseres Staates nicht mehr aus den Normen oder Grundsätzen einer partikulären Moral ergeben können ± auch nicht aus den Normen der Moral, der sich die Mehrheit verpflichtet fühlt; dazu ausführlich Pawlowski, Allgemeiner Teil des BGB, Heidelberg, 7. Aufl. 2003, Rz. 498 ff. bzw. ders., Methodenlehre (Rz. 4), Rz. 186 ff., 197 ff. mit Nachw. 7 NJW 1988, 3141 ff.; dazu Pawlowski, NJW 1989, 2240 ff.

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ler (und Lehrer) gelten könne, sondern nur für die, die an Gott glauben8. Man versucht zwar in Europa und auch in Deutschland heute noch immer wieder, das Recht in eine allgemeine Moral einzubetten. Und da man diese angesichts der durch Art. 4 GG gewährleisteten Glaubensfreiheit nicht mehr einer Religion oder Weltanschauung zuschreiben mag, verweist man hierzu auf Erkenntnisse der Philosophie (z. B. über allgemeingültige ¹Wertordnungenª), auf die allgemeinen Menschenrechte oder auf sonstige ¹allgemeineª Zusammenhänge: Diese sollen bei allen Unterschieden jedenfalls in einem Kernbereich übereinstimmen, der dann als ¹moralisches bzw. ethisches Minimumª9 allen normativen Regelungen als Grundlage dienen kann. Derartigen Hinweisen kann man insoweit zustimmen, als sie diese Zusammenhänge in den Grundrechten der Verfassung zu verankern suchen, die nach Art. 1 Abs. 3 GG ¹Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Rechtª binden. Denn deren Geltung ergibt sich aus einem Akt des deutschen Verfassungsgesetzgebers. Und wenn man sich dann noch daran erinnert, daû sich das ¹Deutsche Volkª nach Art 1 Abs. 2 GG ¹zu unverletzlichen und unveräuûerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft10, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Weltª bekennt ± was deutlich machen sollte, daû alles positive Recht im Naturrecht verwurzelt ist11 ±, dann scheint man sich damit beruhigen zu können, 8 Das Gericht interpretierte also Art. 131 Abs. 2 BayVerf ± entgegen den Intentionen des Verfassungsgebers, aber m. E. juristisch korrekt ± nicht als Festlegung eines Erziehungszieles, sondern nur als Festlegung eines Unterrichtsgegenstandes; dazu Pawlowski, Methodenlehre (Fn. 4), Rz. 825 ff. 9 Vgl. dazu die Berichte der Enqu†te-Kommission ¹Recht und Ethik der modernen Medizinª in: Zur Sache 1/2002, Hg. v. Dtsch. Bundestag, 2002, 197 ff.; dazu kritisch u. a. Christoph Enders, ¹Würde und Lebensschutz im Konfliktfeld von Biotechnologie und Fortpflanzungsmedizinª, Jura 2003, 666 ff.; vgl. auch Pawlowski, Einführung in die Juristische Methodenlehre, 2. Aufl. 2000, Rz. 17 ff. sowie ders., Methodenlehre (Fn. 4), Rz. 840 ff.: Es sollte klar sein, daû man bei der Begründung einer allgemeinen ¹Minimalethikª vor den gleichen Schwierigkeiten steht wie bei der Begründung jeder anderen Ethik, die den Anspruch erhebt, als allgemeine Ethik für alle zu gelten. 10 Vgl. zur Kritik dieser Formulierung Mangoldt/Klein, Das Bonner Grundgesetz, Berlin u. a., 2. Aufl. 1957, Art. 1 IV 2, der darauf hinweist, daû es unzweifelhaft zahlreiche menschliche Gemeinschaften gebe, die nicht durch die Menschenrechte geprägt sind oder auf ihnen beruhen. 11 So Mangoldt/Klein, Grundgesetz (Fn. 10), Art. 1 IV 3 oder W. Brugger, Menschenwürde, Menschenrechte, Grundrechte, Baden-Baden, 1997, 7, 17.

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daû unser Recht nach diesem Bekenntnis seine Verbindlichkeit zwar nicht auf eine für alle verbindliche Moral12, aber doch durchaus auf überpositive (transzendente) Zusammenhänge stützen kann, die alle angehen13. Diese Beruhigung schwindet aber, wenn man feststellt, daû Art. 1 GG zwar ¹eine metaphysische Letztdeutung des Menschen an den Anfang und damit materiell in das Zentrum der neuen Verfassungª rückte14, daû dieser Verweis aber für den rechtlichen Inhalt15 unserer Verfassung keine Bedeutung hat16: Man zweifelt vielmehr nicht daran, daû man unser Recht trotz Art. 1 Abs. 2 GG vom Konzept des Gesetzespositivismus her verstehen und auslegen kann ± und betont, daû auch das Grundgesetz nicht bestimmen könne, ob es ein Naturrecht gibt oder nicht17. Und man hebt zwar hervor, daû Art. 1 Abs. 2 GG eine Staatszielbestimmung enthalte18 und daû man die Menschenrechtserklärungen auch bei der Ausle12 Nach W. Brugger, Menschenwürde (Fn. 11), 47 stellen sich die Menschenrechte allerdings als ¹Moral- und Verfassungsprinzipienª dar. 13 Wenngleich viel dagegen spricht, daraufhin bei der Auslegung des Grundgesetzes mit dem BVerfG und der h. L. davon auszugehen, daû das Grundgesetz in seinen Art. 1±18 eine objektive Wertordnung anerkannt habe; so zunächst BVerfGE 7 (1958), 198 ff., 214 ff.; Lüth-Urteil und dann insb. in seiner Rechtsprechung zum Allgemeinen Persönlichkeitsrecht, so u. a. in BVerfGE 31, 308 ff.; 34, 269 ff. oder 79, 256 ff. und dazu nur B. Rüthers, Rechtstheorie, München 1999, Rz. 752 ff., 998 ff.; dagegen u. a. Böckenförde/Mahrenholz in BVerfGE 69, 63 ff.; E.-W. Böckenförde, Oikeiosis. Festschrift für R. Spaemann, Weinheim 1987 ff., 1 ff., und auch Pawlowski, Methodenlehre (Fn. 4), Rz. 849 ff. 14 Wie es W. Höfling JuS 1995, 857 ff. formuliert. 15 Wenn man einmal davon absieht, daû man dieser Bestimmung z. T. Bedeutung für die Auslegung des Art. 79 GG beimiût; dazu BVerfGE 84, 90 ff., 120 (allerdings ± auch ± unter Hinweis auf das Rechts- und Sozialstaatsprinzip, daû in Art. 1 Ab2 GG nicht angesprochen ist); 94, 49 ff., 102 oder Sachs/Höfling, Grundgesetz, München, 3. Aufl. 2003, Art. 1 Rz. 64. 16 Vgl. dazu nur W. Brugger, Menschenwürde (Fn. 11), 14 f., 42, 45 ff., der feststellt, daû Art. 1 Ab2 GG nur ¹mittelbar rechtliche Wirkungª entfalte: als ¹eine in die Form des Verfassungsrechts gekleidete moralische Verpflichtung des deutschen Volkesª. 17 So u. a. E. Denninger, JZ 1998, 1129 ff. oder v. Münch/Kunig, Grundgesetz. Kommentar, 5. Aufl. 2000, Art. 1 Rz. 1, 38; vgl. dazu auch die Feststellung Maunz/ Dürigs, Kommentar zum Grundgesetz, München, 5. Aufl. 1978, Art. 1 II Rz. 55 f., daû Art. 1 Ab2 ± wie der Wortlaut zeige ± von der Hoffnung ausging, diese unverletzlichen und unveräuûerlichen Menschenrechte ¹in der Weltª als ¹Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeitª vorzufinden und sie generell rezipieren zu können, daû diese Hoffnung aber leider getrogen habe. 18 Vgl. BVerfGE 66, 39 ff., 60 f. oder W. Brugger, Menschenwürde (Fn. 11), 1; Jarass/Pieroth, GG, München, 4. Aufl. 1997, Art. 1 Rz. 12 bzw. v. Münch/Kunig, Grundgesetz (Rz. 17), Art. 1 Rz. 45.

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gung der Verfassung heranziehen kann19. Man stellt dann aber allgemein fest, daû Menschenrechten, die in den folgenden Grundrechten nicht aufgezählt werden, kein Verfassungsrang zukommt20 und daû Menschenrechtserklärungen, die der deutsche Gesetzgeber übernimmt, dem ¹einfachen Rechtª zuzuordnen sind und nicht dem Verfassungsrecht. Damit bleibt also die Frage, wie sich das Verhältnis von Recht, Weltanschauung, Religion und Moral für uns heute darstellt21. 2. Da Art. 4 GG jedermann die Freiheit gewährleistet, sich an unterschiedlichen Weltanschauungen zu orientieren, aus denen sich dann unterschiedliche Ausprägungen von Moral ergeben, ist heute das Recht der einzige Normenkomplex, der allen Bürgern gemeinsam ist. Das könnte den Schluû nahelegen, daû sich der Staat heute mit dem Recht begnügen kann und sich nicht mehr um Moral und Ethik zu kümmern braucht. Erinnert man sich aber an die Frage Aurelius Augustins (354±430) nach dem, was Staaten von groûen Räuberbanden unterscheidet22, dann wird deutlich, daû dem nicht so ist. Wir gehen vielmehr auch heute noch davon aus, daû uns das Recht nicht allein deshalb verpflichtet, weil es der staatliche Gesetzgeber erlassen hat und seine Verletzung sanktioniert. Entscheidend ist vielmehr, daû sich uns das Recht als ein Mittel darstellt, Gerechtigkeit zu verwirklichen23. Recht verpflichtet uns nicht von selbst, sondern nur durch seine Ausrichtung auf Gerechtigkeit. Und diese ergibt sich nicht bereits aus dem staatlichen Akt der Rechtssetzung24. Alles Recht bedarf also einer Legitimation: Weil 19 BVerfGE 74, 358 ff., 370 ± was aber nicht heiût, daû sich daraus ein verbindliches Gebot für eine menschenrechtskonforme Verfassungsinterpretation ergibt; vgl. Sachs/Höfling, Grundgesetz (Fn. 15), Art. 1 Rz. 69. 20 BVerfGE 31, 58 ff., 76 und i. ü. Mangoldt/Klein, Grundgesetz (Fn. 10), Art. 1 VI 3; Jarass/Pieroth, GG (Fn. 18), Art. 1 Rz. 12; Sachs/Höfling, Grundgesetz (Fn. 15), Art. 1 Rz. 63 ff. oder Schmidt/Bleibtreu/Klein, Kommentar zum Grundgesetz, Neuwied, 8. Aufl. 1995, Art. 1 Rz. 18. 21 Dazu G. Roellecke, ¹Die Entkoppelung von Recht und Religionª, JZ 2004, 105 ff. oder Pawlowski ZRph 2003, 142 ff. 22 Dazu Pawlowski, Methodenlehre (Fn. 4), Rz. 840 f. 23 Dazu nur J. Braun, Rechtsphilosophie im 20. Jahrhundert, München 2001, 314 ff. 24 Der Staat kann zwar faktisch daran gehen, sich und seinen Gesetzen von sich aus Verbindlichkeit beizulegen ± er kann also von seinen Bürgern faktisch verlangen, daû sie ihn (und nicht andere Instanzen) als die Instanz ansehen, die letzte Verbindlichkeiten setzt. Vermag er ein derartiges Ansinnen zu rechtfertigen, so könnte man von einer Rechtsreligion sprechen. Dabei kann der Staat dann noch als liberaler oder toleranter Staat (anders der christliche Gott) neben sich andere Instanzen anerkennen,

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wir darauf bestehen sollten, daû nicht jede Anordnung eines Diktators oder einer ideologisch geprägten Mehrheit uns verpflichtet ± nämlich ¹sittlichª (im Gewissen) und nicht nur in dem Sinne, daû wir die für ihre Verletzung angedrohten Sanktionen in Kauf nehmen müssen25. Diese sittliche Verbindlichkeit des Rechts kann sich aber für die Bürger nur aus den Zusammenhängen ergeben, die für sie überhaupt Verbindlichkeit begründen ± also aus Religion oder Weltanschauung26 bzw. aus den in diesen verwurzelten ethisch-moralischen Überzeugungen. Und es spricht nichts dafür, daû sich dies geändert hätte oder ändern müûte, weil unser Staat als freiheitlicher, pluralistischer Staat die unterschiedlichen weltanschaulichen und religiösen Überzeugungen seiner Bürger wegen deren staatsbürgerlichen Gleichberechtigung als gleichberechtigt anerkennt27. die Verbindlichkeiten setzen können ± solange diese nicht in seinen Bereich hineinregieren. Es liegt aber auf der Hand, daû ein Staat, der für sich die Kompetenz zu letztverbindlicher Entscheidung in Anspruch nimmt, in dieser Hinsicht u. a. von Christen nicht anerkannt werden kann; vgl. dazu nur die 2. These der ¹Theologischen Erklärung zur gegenwärtigen Lage der Deutschen Evangelischen Kircheª der Bekenntnissynode der Deutschen Evangelischen Kirche vom 31. 5. 1934 ± die sog. Barmer Erklärung; dazu A. Burgsmüller u. R. Weth (Hg.), Die Barmer Theologische Erklärung, Neukirchen-Vluyn, 1983 ±, die in den meisten ev. Landeskirchen den Charakter einer Bekenntnisschrift hat. 25 Dazu Pawlowski, Methodenlehre (Fn. 4), Rz. 840 ff. Die damit angesprochene Verbindung von Recht und Gerechtigkeit hat die Reine Rechtslehre allerdings immer wieder bekämpft; vgl. u. a. Hans Kelsen, Reine Rechtslehre, Wien, 2. Aufl. 1960, 10, 49, 216 ff.; dazu J. Braun, Rechtsphilosophie (Fn. 23), 30 ff., 49 ff. Kelsen selbst hat die Vermutung geäuûert, daû seine nur positivistische Grundeinstellung durch seine Herkunft aus dem Österreich des 19. Jahrhunderts geprägt worden sei, das ein pluralistischer Vielvölkerstaat war, dessen Volksgruppen nur zum Teil durch gemeinsame Vorstellungen und Werte miteinander verbunden waren. 26 Man unterscheidet bei uns zwar meist zwischen religiösen (theologischen) und weltanschaulichen (philosophischen) Überzeugungen. Dieser bei uns historisch überkommenen Unterscheidung kommt aber nur eine äuûerliche Bedeutung zu; dazu Pawlowski, Einführung (Fn. 9) Rz. 44 f. Den sachlichen Zusammenhängen entspricht es dagegen, wenn man theologische und philosophische Überzeugungen gleich behandelt, wie es das Gesetz über die religiöse Kindererziehung (RGEG, v. 15. Juli 1921, RGBl., 939) in seinem § 6 anordnet: Man braucht sich nur zu vergegenwärtigen, daû die heutige Mischehe nicht mehr wie bis zur Mitte des 20sten Jahrhunderts die Ehe zwischen einer Katholikin und einem Protestanten ist, sondern die Ehe zwischen einer Grünen und einem Atomtechniker oder zwischen einer Raucherin und einem militanten Nichtraucher. Es macht in unserem Zusammenhang eben keinen Unterschied, ob die rechtlichen Probleme nach den Art. 2 und 5 oder nach Art. 4 GG zu beurteilen sind; dazu A. Hollerbach, Grundlagen des Staatskirchenrechts, in: Isensee/Kirchhof (Hg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. VI, Heidelberg 1989, § 138, Rz. 113, 124 ff., 137 ff. 27 Dazu E.-W. Böckenförde, Staat, Gesellschaft, Freiheit, Frankfurt am Main 1976, 60 ff.; A. Hollerbach, Grundlagen des Staatskirchenrechts (Fn. 26), Rz. 89, 95,

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Damit stellt sich das Recht zwar nicht mehr als Ausschnitt aus einem allen gemeinsamen Normenkomplex dar. Und es liegt auf der Hand, daû sich das Verhältnis des Rechts zur Moral ändert, wenn es sich darauf einstellen muû, daû sich die Rechtsgenossen nicht mehr an einer Ausprägung der Moral orientieren, sondern an z. T. sehr unterschiedlichen Arten von Moral. Das schlieût aber dennoch nicht aus, daû alle diese unterschiedlichen Arten der Moral weiterhin für das Recht von Bedeutung sind: Diese können das Recht zwar nicht mehr ¹begründenª. Das Recht kann sich aber auch heute den Bürgern nur dann als sittlich verpflichtend darstellen, wenn es mit deren Moral jedenfalls vereinbar ist: Weil sich die innere (sittliche) Verbindlichkeit der Rechtsnormen weiterhin aus der (jeweiligen) Moral der Bürger ergeben muû. Das Recht muû bei uns daher so beschaffen sein, daû sich ihm alle in unserem Staat vertretenen Glaubensgemeinschaften anschlieûen können, weil es sich auch von ihren Voraussetzungen her als ein Versuch zu einer richtigen Ordnung darstellt. Damit weiû man also bei uns der Sache nach (noch) nicht, was ¹richtigª ist; man weiû nur, daû das das Recht als das ¹gemeinsam Richtigeª28 gemeinsam erarbeitet werden muû. Seine Richtigkeit oder Gerechtigkeit bemiût sich daher nicht nach überkommenen, vorgegebenen Anschauungen oder Werten, sondern nach seiner Eignung, sich als das gemeinsam Richtige aller zu erweisen ± weil sich ihm alle anschlieûen können. Das hat zur Folge, daû sich die verbindliche Geltung des Rechts nicht mehr aus der Vergangenheit ergibt, sondern aus dem, was es für die Zukunft verspricht. Und das legt es nahe, mit Hans Ryffel 29 von einem Wandel der Normativität zu sprechen: nämlich von dem Wandel von der vorgegebenen zur aufgegebenen Ordnung. Und dies gilt insgesamt nicht nur für das deutsche Recht, in dem diese Zusammenhänge infolge der eingehenden positiven Regelungen des Grundgesetzes vom Bundesverfassungsgericht klar herausgearbeitet worden sind30, sondern auch für die meisten europäischen Rechtsordnungen31. 111 oder St. Smid, Einführung in die Philosophie des Rechts, München 1990, § 13 III sowie i. ü. Pawlowski, Methodenlehre (Fn. 4), Rz. 832 ff. m. w. Nachw. 28 Vgl. zu diesem von Hans Ryffel geprägten Begriff Pawlowski, Einführung (Fn. 9), Rz. 292 ff. 29 H. Ryffel, Grundprobleme der Rechts- und Staatsphilosophie. Philosophische Anthropologie des Politischen, Neuwied 1969, 93, 289 ff., 338 ff.; dazu die Beiträge in E. V. Heyen (Hg.), Vom normativen Wandel des Politischen, 1984 oder Pawlowski, Einführung (Fn. 9), Rz. 292 ff.

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In diesem Zusammenhang interessiert dabei allerdings nicht, daû sowohl das Recht als auch vielfach32 die Moral jeweils in einem Komplex von Normen bestehen ± da das Recht nach unserer Verfassung (Art. 3 GG)33 für alle gleich sein muû. Im Verhältnis von Recht und Moral kommt es vielmehr entscheidend darauf an, daû beide auf einen Zusammenhang von Begründungen verweisen ± nämlich auf Begründungen, die erkennen lassen, weshalb etwas richtig ist: Gilt Recht im Zusammenhang unserer Verfassung, ¹weil der Gesetzgeber so entschieden hatª34, so gelten die verschiedenen Ausprägungen der Moral ¹Weil es Gott geboten hatª, ¹weil es der Naturª oder ¹weil es der Entwicklung der Produktionsverhältnisse entsprichtª usf.35 Bei den Überlegungen über das Verhältnis von Recht und Moral geht es daher um die Beziehung zwischen diesen Begründungen. Dabei ist das Zusammenspiel von allgemeinem Recht und besonderer Moral so strukturiert, daû sich Richtigkeitskriterien aus beiden Komplexen ergeben ± aus dem Recht und aus der Moral. Im Einzelfall muû das Zusammenspiel von allgemeinem Recht und fünf besonderen Moral-Prinzipien Rechnung tragen36; so sind: 1) einmal alle rechtlichen Regelungen ausgeschlossen, die die Rechtsgenossen selbst zu Handlungen zwingen, die sie aufgrund 30

Dazu nur Pawlowski, Methodenlehre (Fn. 4), Rz. 823 ff. m. Nachw. Dazu Pawlowski, ¹Probleme der Begründung des Rechts im europäischen Mehrebenensystemª, in: König/Rieger/Schmidt (Hg.), Das europäische Mehrebenensystem (Mannheimer Jahrbuch für Europäische Sozialforschung, Bd. 1), Frankfurt am Main 1996, 332 ff. ± wobei hier dahinstehen muû und kann, inwieweit dies auch für Griechenland gilt. 32 Es gibt zwar auch moralische Konzepte, die nicht auf ¹Normenª abstellen ± dies kann hier aber dahinstehen. Entscheidend ist, daû es in dem vorliegenden Zusammenhang nur um die unterschiedliche Begründung von Recht und Moral geht, so daû es nicht darauf ankommt, daû sich sowohl aus dem Recht als auch der Moral Direktiven für das Verhalten einer Person ergeben. 33 Anders als z. B. in Staaten wie Israel oder Indien, in denen die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religion in verschiedenen Zusammenhängen auch bestimmt, welche rechtlichen Regelungen für die Beteiligten gelten; vgl. z. B. für das israelische Recht z. B. die Darstellung bei L. Schirer, Israelisches und jüdisches Recht. Die Halakha als lebendes Recht in Israel, Frankfurt am Main u. a. 1998. 34 Weshalb N. Luhmann, Rechtssoziologie, Opladen, 3. Aufl. 1987, 208 ff. davon sprach, daû Gesetze heute gelten, weil es auch anders sein könnte ± weil nämlich der Gesetzgeber auch anders hätte entscheiden können und auch wieder anders entscheiden kann; dazu Pawlowski, Methodenlehre (Fn. 4), Rz. 624. 35 Dazu Pawlowski, Methodenlehre (Fn. 4), Rz. 829 ff. 36 Dazu Pawlowski ZRph 2003, 142 ff. und ausführlich ders., Methodenlehre (Fn. 4), Rz. 832 ff., 888 ff. 31

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ihrer weltanschaulichen oder kulturellen Prägungen als sündhaft, unverantwortlich usf. ansehen müssen. Ein historisches Beispiel hierfür bietet die Verpflichtung zur Teilnahme am Kaiserkult für Christen, ein aktuelles die Verpflichtung der Töchter fundamentalistischer Muslime zur Teilnahme am koedukativen Sportunterricht37. 2) Ausgeschlossen sind zudem alle Verhaltensweisen, die dazu führen, daû Dritte aufgrund weltanschaulich oder kulturell bedingter Aktivitäten Eingriffe in ihre Rechte hinnehmen müssen38: Wer zum Beispiel aus religiösen Gründen Menschenopfer für erforderlich hält, mag sich zwar selbst als Opfer anbieten können; er kann aber nicht verlangen, daû sich Dritte gegen ihren Willen opfern lassen. Von aktuellerem Interesse ist, daû niemand verpflichtet sein kann, selbst an Blutübertragungen teilzunehmen und daû sich niemand strafbar macht, der der Blutübertragung bei seinem Ehegatten oder seinen Kindern nicht zustimmt ± wie das Bundesverfassungsgericht zu Recht festgestellt hat39. 3) Ausgeschlossen ist auch, daû jemand an Handlungen gehindert wird, die für die Betätigung seines Glaubens zentral sind40: Hier sei für Christen an die Bedeutung der Verkündigung41 und Mission sowie der Teilnahme am sakramentalen Geschehen erinnert, für Juden an die Bedeutung koscherer Speisen42 oder für Zeugen Jehovas an die Verpflichtung zur Mission. 4) Anzuerkennen sind im übrigen Ansprüche auf Gleichbehandlung aller religiösen Besonderheiten: Wenn zum Beispiel Dia37 Dazu u. a. BVerwG NVwZ 1994, 578 f. mit krit. Anm. von U. Wesel, NJW 1994, 1389 f. und i. ü. OVG Münster NVwZ 1992, 77; OVG Lüneburg NVwZ 1991, 79 bzw. J. Rux, Staat 35 (1996), 523 ff. oder Kunig/Mager, Jura 1992, 364 ff. 38 Dazu J. Rux, Staat 35 (1996), 523 ff., 527: Das Recht zur Mission umfaût nicht das Recht zur Zwangsmission. 39 BVerfGE 32, 98 ff. ± Dies schlieût aber nicht aus, daû der Staat durch seine Vormundschaftsgerichte Blutübertragungen bei Kindern auch gegen den Willen der Eltern zulassen kann: Die Eltern mögen über ihr eigenes Leben verfügen, nicht aber über das Leben ihrer Kinder. 40 So auch J. Rux, Staat 35 (1996), 523 ff., 528. 41 Dazu A. Hollerbach, Grundlagen des Staatskirchenrechts (Fn. 26), Rz. 99. 42 Daher gilt das Verbot Schächtens zwar für christliche oder glaubenslose, nicht aber für jüdische (BVerwGE 42, 128 ff., 131 und NJW 1996, 672 ff.) oder muslimische (BVerfG v. 15. 1. 2002, 1 BvR 1783/99 http://www.bverfg.de) Metzger; dazu i. ü. M. Heckel, ¹Das Gleichbehandlungsgebot im Hinblick auf die Religionª, in: Listl/Pirson (Hg.), Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, Berlin, 2. Aufl. 1994, 623 ff., 641; E. Pache, Jura 1995, 150 ff.; J. Müller Vollbehr, JuS 1997, 233 ff. und für Österreich die Darstellung bei P. Lewisch, JurBl. 1998, 137 ff.

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konissen oder Ordensschwestern ein Paûbild mit Haube einreichen dürfen (die ihr Ohr verdeckt), so dürfen auch Muslime Paûbilder mit Kopftuch einreichen43. 5) Bei erlaubten, aber nicht gebotenen Verhaltensweisen sind schlieûlich Kompromisse erforderlich. Denn bei diesen Verhaltensweisen ist es, wenn verschiedene moralische Konzepte differieren, für die Wahrung des gemeinsamen Friedens notwendig, Minderheiten zum Verzicht auf einzelne, ihnen an sich erlaubte Verhaltensweisen zu veranlassen ± wenn ihre Zulassung der Mehrheit besondere Schwierigkeiten bereitet. Denn wenn die Erhaltung des Friedens (und damit des Lebens) auch nicht für alle das höchste Ziel oder den höchste Wert darstellt, so kann man mit dem Hinweis auf dieses Ziel doch gegenüber allen den Verzicht auf (nur) erlaubte ± und damit nicht notwendige, weil nicht unbedingt gebotene ± Verhaltensweisen rechtfertigen: Weil erlaubte Verhaltensweisen nur möglich sind und bleiben, solange man lebt. Zu diesen erlaubten aber nicht gebotenen Verhaltensweisen zählt z. B. die Zulässigkeit der Mehrehe bei den Mormonen oder den Muslimen. 3. Damit ist deutlich geworden, daû Moral oder Ethik bei uns heute zwar nicht mehr die Aufgaben des Rechtes bestimmen, daû sich aber aus der bei uns zulässigen Orientierung unserer Bürger an ihrer durch unterschiedliche Weltanschauungen oder religiösen Bekenntnisse geprägten Moral Grenzen für unser Recht ergeben. Denn wenn man auch weiterhin davon ausgehen kann, daû sich z. B. Bemühungen um den Schutz des menschlichen Lebens auch von den unterschiedlichen Ausprägungen der Moral her als geboten darstellen, denen sich die Bürger unseres Staates verpflichtet fühlen, so braucht der Gesetzgeber bei dem Erlaû von Gesetzen, die diesem Zweck dienen sollen, nicht auf diese verschiedenen Ausprägungen der Moral seiner Bürger zu verweisen. Denn wenn man heute begründen will, daû es geboten ist, Gesetze zu erlassen, die dem Schutz des Lebens dienen, so genügt für den Gesetzgeber wie auch für die Bürger der Hinweis auf Art. 2 GG. Dagegen ergibt sich aber allein aus den unterschiedlichen Ausprägungen der Moral, denen sich die Bürger verpflichten fühlen, was in unserem 43 So VG Wiesbaden NVwZ 1985, 137 f.; vgl. auch BVerwG 42, 128 ff. (1973): Wenn aufgrund eines Ministerialerlasses die Kinder von Juden und 7-Tage-Adventisten samstags vom Schuldienst befreit sind, dann müssen auch die Kinder anderer religiöser Gemeinschaften, die den Schulbesuch am Samstag aus religiösen Gründen ablehnen, vom Schulbesuch am Samstag befreit werden.

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Staat nicht Recht werden kann ± nämlich das, was es den Bürgern oder einer Gruppe von Bürgern unmöglich machen würde, in unserem Staat so zu leben, wie es ihnen ihr Glaube und die durch ihn geprägte Moral gebieten. Deshalb darf es z. B. keine gesetzliche Verpflichtung zur Duldung von Blutübertragungen geben44 oder keine Verbote christlicher oder islamischer Gottesdienste ± aber auch kein Verbot von Versammlungen zur Diskussion kommunistischer45 Ideologien46.

II 1. Diese Überlegungen verweisen also zunächst auf die Frage, welche Grenzen unser Gesetzgeber beim Erlaû bioethisch relevanter Regelungen zu beachten hat. Diese ergeben sich danach aus den verschiedenen Ausprägungen der ¹Bioethikª, an denen sich die Bürger unseres Staates orientieren: Danach dürfen unsere Gesetze den Bürgern keine Handlungen gebieten, die sich diesen nach der von ihnen für richtig gehaltenen Bioethik als ¹unethischª (böse) darstellen Und sie dürfen den Bürgern kein eigenes Verhalten verbieten, das sich diesen von ihre bioethischen Überzeugung her als gebotenen darstellt ± soweit sich dieses nur auf den Bürger selbst bezieht und sich nicht gegen andere oder gegen Rechte anderer richtet47. Dies betrifft u. a. die Regelungen der Abtreibung: Diese darf der Gesetzgeber bei uns einmal nicht für bestimmte Fälle gebieten ± um so z. B. die Geburt kranker und pflegebedürftiger Kinder zu verhindern, wie es die Vertreter utilitaristischer Weltanschauungen 44

Dazu oben zu Fn. 39. Vgl. oben Fn. 26. 46 Anders ist es naturgemäû mit etwaigen Verboten von Versammlungen einer verbotenen kommunistischen Partei ± d.h. einer Vereinigung, die den bestehenden Staat ohne demokratische Verfahren abschaffen und einen kommunistischen Staat einführen will. Denn hier geht es nicht um Meinungs- und/oder Glaubensfreiheit, sondern um die Vorbereitung rechtswidriger Handlungen. 47 Ein Verhalten des einzelnen, daû sich gegen einen anderen oder gegen dessen Rechte richtet, kann das Recht dagegen auch dann verbieten, wenn seine Bioethik den einzelnen zu diesem Verhalten drängt (so z. B. zur Verhinderung des Anbaus gentechnisch veränderter Pflanzen): Weil die Bioethik eines Bürgers diesen nicht dazu berechtigen kann, in die Rechte anderer einzugreifen. 45

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wünschen mögen. Und er darf die Abtreibung bei uns zum anderen auch nicht völlig verbieten ± wie es der katholischen Moral entsprechen würde48: Weil nämlich ersteres jedenfalls nicht mit der katholischen Moral vereinbar wäre und weil letzteres nicht mit dem einer anderen Moral verpflichtete Gewissen einer Mutter mehrerer Kinder vereinbar wäre, die sich aus Sorge um ihre Kinder verpflichtet fühlt, die Geburt eines weiteren Kindes zu verhindern, weil die Gefahr besteht, daû sie diese Geburt nicht überleben würde, so daû sie nicht mehr für ihre Kinder sorgen kann. 2a. Wenn es dann aber nicht mehr nur negativ darum geht, wo die Grenzen des Rechts in diesem Zusammenhang liegen, sondern positiv darum, die Regelungsaufgaben des Rechts in Fragen der Bioethik zu bestimmen, dann wird es komplizierter. Allerdings gibt es auch hier zunächst einen leicht zu beschreibenden Bereich, weil man nämlich davon ausgehen kann, daû bei der Ausgestaltung des Rechts auch auf diesem Gebiet weithin der Rekurs auf rechtliche und politische Gesichtspunkte ausreicht ± also auf Argumente der Wünschbarkeit und Zweckmäûigkeit. Dagegen spricht nicht, daû alle Vorschläge für den Erlaû normativer Regelungen auf diesem Gebiet durch die jeweiligen bioethischen Überzeugungen der Vorschlagenden motiviert sind. Denn daraus ergibt sich nicht, daû die daraufhin verabschiedeten Gesetze auf den bioethischen Überzeugungen bestimmter Gruppen beruhen: Weil hinter jedem Gesetz nicht nur einzelne Gruppen von Parlamentariern stehen, sondern bestimmte Parteien oder eine Mehrheit der Abgeordneten. Und d.h., daû die Verabschiedung der entsprechenden Gesetze jeweils nur möglich war, wenn sie von Abgeordneten unterstützt wurde, die sich unterschiedlichen bioethischen Überzeugungen 48 Damit ist allerdings nicht gesagt, daû es geboten ist, Abtreibungen in dem Umfang zuzulassen, wie es der gegenwärtigen Regelung entspricht; vgl. hierzu nur die Darstellung der Gespräche der ¹Weltª mit dem Direktor des Instituts für Humangenetik der Universität Heidelberg Claus Bartram, der wiederholt (und zu Recht) die ¹Doppelmoralª kritisierte, die sich darin äuûert, daû dieselben Wortführer die ¹Tötungª von Zygoten strikt als ¹unethischª ablehnen, aber zugleich die ¹Pille danachª für zulässig halten (ddp, ¹Genetiker kritisiert Doppelmoral beim Schutz von Embryonenª in: Die Welt vom 6. 4. 2001 bzw. ¹Auch die ¹Pille danachª tötet Embryonenª in: Die Welt vom 3. 6. 2001) ± ähnlich Hinweise finden sich auch in Norbert Jessens Bericht ¹Embryonale Forschung kann Leben retten, das ist das wichtigste Leitmotiv für die Rabbinerª über sein Gespräch mit dem israelischen Embryologen Jossef ItskovitzEldor (Die Welt vom 31. 5. 2001) sowie in dem Gespräch zwischen Christian Geyer, Joachim Müller-Jung, Frank Schirrmacher und Christian Schwägerl mit den Bonner Neuropathologen Oliver Brüstle und Otmar Wiestler (FAZ vom 13. 6. 2001).

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verpflichtet fühlen. Soweit es daher um die Verabschiedung insgesamt verfassungskonformer Gesetze geht, genügt für deren Rechtfertigung der Rückgriff auf den allgemeinen Willen des Gesetzgebers und der allgemeine Hinweis auf das Bedürfnis nach Ordnung und Überschaubarkeit. So leuchtet es z. B. unmittelbar ein, daû der Gesetzgeber aus Gründen des Gemeinwohls festlegen kann, daû bestimmte Forschungsvorhaben erst durchgeführt werden dürfen, nachdem eine Kommission von Experten49 zugestimmt hat50 ± weil diese Einschaltung von Sachverständigen hier wie auch sonst51 fehlerhafte Entscheidungen vermeiden helfen kann52, die soziale Unruhe nach 49 Die man heute meist Ethik-Kommission nennt. Diesen Kommissionen sind bei uns zwei unterschiedliche Aufgabenbereiche zugewiesen: Da gibt es einmal ¹wissenschaftsbezogene Ethik-Kommissionenª ± z. B. bei Universitäten, bei der Bundesärztekammer, aber auch bei Pharma-Unternehmen. Diese haben Aufgaben der interdisziplinären Überprüfung von Einzelfällen und konkreter Forschungsprojekte; vgl. dazu nur die §§ 5 ff. Stammzellgesetz oder die §§ 4 ff. Gentechnikgesetz. Daneben gibt es dann ¹gesellschaftsorientierte Ethik-Kommissionenª ± wie z. B. die Enqu†te-Kommission ¹Recht und Ethik der modernen Medizinª oder den ¹Nationalen Ethikratª. Diese Kommissionen haben nicht über einzelne Projekte zu entscheiden oder zu ihnen Stellung zu nehmen. Ihre Aufgabe ist es vielmehr, die unterschiedlichen Gesichtspunkte herauszuarbeiten, die auf verschiedenen Forschungsgebieten von Bedeutung sind, und darüber die Öffentlichkeit zu informieren; dazu die Darstellung bei J. Taupitz, JZ 2003, 815 ff. 50 Wie z. B. die ¹Zentrale Ethikkommissionª bei der Bundesärztekammer. Letztere hat zwar nach § 2 des ¹Statuts der Zentralen Kommission zur Wahrung ethischer Grundsätze in der Medizin und ihren Grenzgebietenª in der vom Vorstand der Bundesärztekammer am 14. 10. 1994 verabschiedeten Fassung die Aufgabe, ¹Stellungnahmen zu ethischen Fragen (Herv. v. Verf.) abzugeben, die durch den Fortschritt der Medizin . . . aufgeworfen werden und die eine gemeinsamen Antwort (Herv. v. Verf.) für die Bundesrepublik Deutschland erfordernª und ¹in Fragen (Stellung zu nehmen), die unter ethischen Gesichtspunkten (Herv. v. Verf.) im Hinblick auf die Pflichten bei der ärztlichen Berufsausübung von grundsätzlicher Bedeutung sindª. Hier machen jedoch die Hinweise auf die Erforderlichkeit einer ¹gemeinsamen Antwort für die Bundesrepublik Deutschlandª und auf die ¹bei der ärztlichen Berufsausübungª zu beobachtenden Pflichten deutlich, daû es um die Formulierung eines Maûstabes für die bei der ärztlichen Berufsausübung anzuwendende Sorgfalt geht (bei dessen Festlegung sich die Gerichte und die Verwaltung auf allen Rechtsgebieten an den Aussagen der entsprechenden Sachverständigen orientieren werden) ± und damit nicht um Moral oder Ethik, sondern um Recht; dazu ausführlich G. Freund, MedR 2001, 65 ff.: Aus der Arbeit einer Ethik-Kommission: Zur Steuerung von Wissenschaft durch Organisation. 51 Zur vergleichbaren Funktion der Sachverständigengutachten im Hinblick auf die Akzeptanz gerichtlicher Urteile Pawlowski, Methodenlehre (Fn. 4), Rz. 560 ff., 565; die Sachverständigen werden ihre Rolle allerdings ± zu Recht ± dahin verstehen, daû ihre Mitwirkung die Wahrheitsfindung verbessern soll. 52 Vgl. dazu nur die Ausführungen des Vizepräsidenten der DFG Rüdiger Wolfrum, ¹Unser Recht auf ein Höchstmaû an Gesundheitª, FAZ vom 29. 5. 2001. In diesen Zusammenhang passen daher z. B. die Ausführungen des Biologen Hans Mohr,

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sich ziehen können. Diesem Ziel dienen aber auch die gesellschaftsbezogenen Ethik-Kommissionen, wie die vom Bundestag eingerichtete Enqu†te-Kommission ¹Recht und Ethik der modernen Medizinª oder der vom Bundeskanzler Gerhard Schröder einberufene ¹Nationale Ethikratª53. Daher finden sich in den Stellungnahmen der Ethikkommissionen auch vorwiegend sachverständige Feststellungen zu den jeweiligen medizinischen oder biologischen Problemen und zu den mit ihrer Behandlung verbundenen Risiken sowie Darstellungen der Rechtslage und der sich daraus ergebenden rechtlichen Gestaltungsmöglichkeiten. Und wenn sich in diesen Stellungnahmen daneben auch Ausführungen finden, die explizit auf ¹ethische Argumenteª Bezug nehmen, so zeigt doch die näherer Betrachtung nicht selten, daû es auch bei diesen Ausführungen nicht direkt um die ethisch-moralischen Aspekte54 der jeweiligen Probleme geht. So hat sich z. B. die Zentrale Ethikkommission bei der Bundes¾rztekammer in ihrer ablehnenden Stellungnahme zu der ¹Übertragung von Nervenzellen in das Gehirn von Menschenª55 unter der Überschrift ¹Ethische Bewertungª zwar darauf berufen, daû die Verwendung fötaler Zellen und die damit verbundene Inanspruchnahme von Embryonen schwangeren Frauen den Eindruck vermitteln könnte, daû der Schwangerschaftsabbruch durch diese positive Zielsetzung sittlich gerechtfertigt werde ± oder daû diese ¹Darf man Menschen klonen?ª, in: Die Zeitwende 2000, 65 ff., der feststellt, daû es beim gegenwärtigen ¹Stand der entwicklungsbiologischen Grundlagenforschung unverantwortlich (wäre), ein reproduktives Klonen von Menschen überhaupt ins Auge zu fassenª. 53 Der nach der Rede des Bundeskanzlers in der Parlamentsdebatte über die Bioethik vom 30. 5. 2001 (u. a. in: Die Welt vom 31. 5. 2001) vor allem Aufklärung über den Stand der Wissenschaft geben soll. Dem entsprechen auch die Aussagen des Präsidenten des Nationalen Ethikkomitees Frankreichs Didier Sicard in seinem Interview mit Christian Schwägerl, FAZ vom 28. 5. 2001, der zu der Rolle des Ethikkomitees feststellte: ¹Wir sind kein moralisches Gremium, wir wollen nicht eine Runde der Weisen sein, sondern aus den unterschiedlichsten Feldern Argumente zusammentragen, aufbereiten und Schluûfolgerungen ziehenª. Vgl. dazu auch die von der DFG verabschiedeten ¹Empfehlungen zur Forschung an menschlichen Stammzellenª, veröffentlicht u. a. in der FAZ vom 11. 5. 2001, und dazu das Interview Joachim Müller-Jungs und Christian Schwägerls mit dem Präsidenten der DFG Ernst-Ludwig Winnacker in der FAZ vom 5. 5. 2001, in dem dieser ausdrücklich hervorhob, daû die DFG keine ¹moralische Instanzª sei. 54 Oder höchstens um Aspekte der ¹öffentlichen Moralª, bei der es nicht um ¹gutª und ¹böseª geht sondern um Ansehen bzw. Reputation; dazu Pawlowski ZRph 2003, 71 ff., 87 ff. 55 D¾rztBl., Heft 30 vom 24. 7. 1998, 1869 ff.

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Inanspruchnahme problematische Auswirkungen auf das Frauenbild haben könne, da man meinen könnte, daû den Frauen danach die Aufgabe zugesprochen werde, fötales Gewebe für Übertragungen von Zellen auf andere Menschen bereitzustellen56. Die daran anschlieûenden Überlegungen, in denen die Kommission auf vielversprechende medizinische Alternativentwicklungen verwies und daher empfahl, ¹Heilversuche und klinische Studien solange auszusetzen, bis durch umfassende Vorarbeiten in den Grundlagenwissenschaften tragfähige Erkenntnisse zur Verfügung stehenª, zeigen dann aber, daû auch diese Stellungnahme in dem vorhin angesprochenen Bereich der Einschaltung von Sachverständigen zur Vermeidung sozialer Unruhe verblieben ist57. Dies gilt übrigens auch für die z. T. empörten Stellungnahmen führender deutscher Reproduktionsmediziner, die sich gegen den von den ¾rzten des St. Barnabas-Instituts für Reproduktionsmedizin und -wissenschaft in New Jersey entwickelten und bereits mehrfach angewandten sogenannten Zellplasma-Transfer58 zur Erhöhung der Fruchtbarkeit richteten, der zur Geburt von Kindern führt, die Erbinformationen von 3 Elternteilen aufweisen. Denn diese Ablehnung stützte sich zunächst und vor allem auf den Umstand, daû dieses Verfahren des Zellplasma-Transfers bisher im 56 Es fällt schwer, zu verstehen, was diese Überlegungen mit ¹Ethikª oder ¹Moralª zu tun haben sollen. 57 Hier zeigte übrigens eine Mitteilung der FAZ vom 10. 3. 2001, nach der sich bei der Transplantation von Stammzellen in das Rückenmark von Parkinsonkranken ein herber Rückschlag ergeben habe, da diese Transplantationen bei 5 von 33 Patienten zu gravierenden Bewegungsstörungen geführt haben, daû die zu Fn. 55 genannte vorläufig ablehnenden Stellungnahme der in der Zentralen Ethikkommission bei der Bundes¾rztekammer vereinigten Sachverständigen in der Sache berechtigt war. In diesen Zusammenhang gehört auch die unter dem Titel ¹Klont keine Menschen! Die Tiere mahnenª in der FAZ vom 29. 3. 2001 abgedruckten Stellungnahmen des Molekularbiologen Rudolf Jaenisch, Direktor am renommierten Whitehead Institute for Biomedical Research und Professor am Massachusetts Institute of Technology in Cambridge, Mass., und des Embryologen Ian Wilmut, Leiter des Forschungsteams am schottischen Roslin-Institut, das im Juli 1996 das Schaf ¹Dollyª kloniert hat, vor einem Ausschuû des amerikanischen Kongresses, der anläûlich der Pläne einer amerikanischen Firma, im Auftrag einer Sekte bereits in absehbarer Zeit einen Menschen zu klonen (dazu der Bericht von ¹DWª in: Die Welt vom 30. 3. 2001), Befürworter (z. B. den Fortpflanzungsmediziner Panos Zavos, der unfruchtbaren Paaren zu klonierten Kindern verhelfen will) und Gegner dieses Projekts angehört hatte; dazu die Anm. der Redaktion 55 der FAZ am 29. 3. 2001. 58 Vgl. dazu die Berichte von Sonja Kastilan, ¹Babys nach Wunsch modellieren?ª in: Die Welt vom 8. 5. 2001 und SK/dia ¹Deutsche Mediziner lehnen den Transfer von Zellplasma in die Eizellen abª in: Die Welt vom 9. 5. 2001.

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Hinblick auf seine Folgen für die mit seiner Hilfe geborenen Kinder noch nicht genügend untersucht worden ist und daû er nach den bisherigen Erkenntnissen eine Reihe gravierender Erbkrankheiten nach sich ziehen kann59. Ein Rekurs auf moralische bzw. ethische Zusammenhänge ± also Überlegungen, die man dem Bereich der Bioethik zuordnen kann ± kommt also im Zusammenhang des Medizin- und Gesundheitsrecht erst in Betracht, soweit sich aus dem vorhandenem Recht (noch) keine eindeutigen Kriterien ergeben. Ein derartiger Rekurs wird dann aber in dem Nebeneinander verschiedener ethisch-moralischer Konzeptionen jeweils nur zu einem Entscheidungsproblem führen, das dann auch politisch zu lösen ist ± also durch einen durch die der Mehrheit bestimmten Akt der Gesetzgebung. Und dieser Akt führt dann wiederum zu den bereits beschriebenen Zusammenhängen. 2b. Schwieriger verhält es sich aber mit den Fragen, die sich aus den Möglichkeiten der Biotechnik ± und dort insbesondere der Gentechnik ± ergeben, das Leben der einzelnen zu verbessern. So haben z. B. ¾rzte, die künstliche Befruchtungen vornehmen (was unser Recht erlaubt), verständlicherweise das Bestreben, nur ¹gesunde Embryonenª zu implantieren. Sie wollen daher die Embryonen vor der Implantation untersuchen, um solche mit Erbschäden gar nicht erst zu implantieren. Dies widerspricht jedoch nach einer weitverbreiteten Ansicht60 dem Embryonenschutzgesetz ± da bei dieser Untersuchung Methoden anzuwenden sind, die viele dem 59 Wie z. B. des Leiter der Fortpflanzungsmedizin am Münchner Klinikum Groûhadern Christian J. Thaler, des Direktors des Instituts für Humangenetik der Universität Heidelberg Claus Bartram, des Direktors der Universitätsfrauenklinik in Lübeck Klaus Diedrich oder des Präsidenten der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG) Hans Georg Bender; vgl. dazu auch die Berichte von Sonja Kastilan und SK/dia (Fn. 58). Inwieweit (und aufgrund welcher Kriterien) man diese Methode darüber hinaus noch allein deshalb ablehnen kann (und sollte), weil diese Kinder die Erbinformationen nicht wie sonst nur von 2, sondern von 3 Elternteilen aufweisen, kann und sollte man dabei dahinstehen lassen. Man sollte sich aber darüber klar sein, daû eine derartige Ablehnung von ¹Mischwesenª sehr an die rassistischen Parolen vergangener Zeiten erinnert. 60 So jedenfalls nach überwiegender Auffassung, nämlich einmal als verbrauchende Embryonenforschung (§ 2 Ab1) und zum anderen, weil nach § 1 Ab1 des Gesetzes Embryonen nur erzeugt werden dürfen, um eine Schwangerschaft zu erzeugen ± was bei einer genetischen Untersuchung nur möglich ist, wenn der Embryo die genetische Untersuchung überlebt; vgl. dazu jetzt aber die eingehende, kritische Darstellung von Christoph Enders (Fn. 9) m. w. Nachw. und i. ü. noch gleich Fn. 62 ff. sowie unten zu Fn. 88 ff.

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¹Klonenª von Stammzellen zuordnen, was nach den §§ 2 Abs. 1 und 1 Abs. 2 EmbrSchutzG bei Embryonen auûerhalb des Mutterleibes verboten sei61. Gesetzestreue ¾rzte müûten also den Embryo zunächst ohne vorherige Untersuchung implantieren ± um ihn dann auf Erbschäden hin zu untersuchen und gegebenenfalls abzutreiben. Es liegt auf der Hand, daû ein derartiges Vorgehen weder ethisch-moralischen Kriterien Rechnung trägt62, noch dem Gebot der Gleichbehandlung des wesentlich Gleichen entspricht, das unser Recht konstituiert (Art. 3 GG)63. So müûten z. B. auch diejenigen, die die Abtreibung ablehnen, die Ablehnung der beschränkten Zulassung der Forschung mit menschlichen Stammzellen ± wie sie jetzt die DFG empfiehlt64 ± mit weiteren Argumenten begründen, wenn sich diese auf eine in sich schlüssige Urteilsgrundlage stützen soll. Denn bei den gesetzlich erlaubten künstlichen Befruchtungen entstehen eine Anzahl 61

In diesem Zusammenhang sei übrigens hervorgehoben, daû man in dieser Debatte die Probleme des ¹reproduktivenª und des ¹therapeutischenª Klonens (also des Klonens als Mittel zur Erzeugung von Menschen und des ¹Klonensª im Zusammenhang mit Heilbehandlungen oder mit genetischen Untersuchungen) unterscheiden muû. Dies nämlich einmal schon deshalb, weil die §§ 6 und 8 EmbrSchG von Rechts wegen nur die Verwendung von Stammzellen verbieten, die aus einer Vereinigung von Ei- und Samenzellen entstanden sind, während die Verwendung anderer Stammzellen zulässig ist ± wenn auch nach § 4 StammzellG nur nach einer staatlichen Genehmigung. Zum anderen ist zu berücksichtigen, daû man diese beiden Arten des Klonens von der Moral oder Ethik her unterschiedlich bewerten kann, weshalb sie auch von vielen unterschiedlich bewertet werden: Wer das therapeutische Klonen für vertretbar oder sogar für geboten hält, kann sehr wohl das reproduktive Klonen ablehnen ± wie z. B. die am 4. 5. 2001 von der DFG einstimmig verabschiedeten Empfehlungen zur Forschung an menschlichen Stammzellen (Fn. 53) oder der Präsident des Nationalen Ethikkomitees Frankreichs Didier Sicard in seinem Interview mit Christian Schwägerl (Fn. 53); dazu auch die Ausführungen von Walther Zimmerli in: Die Welt vom 1. 4. 2001; Claus Bartram (dazu Sonja Kastilans Bericht, oben Fn. 58), Nida-Rümelin in Tagesspiegel vom 3. 1. 2001 und kürzlich des Direktors am Max-Planck-Institut für vaskuläre Biologie in Münster, Hans Schöler, ¹Heraus aus der Sackgasse der Biopolitikª, N1 der FAZ vom 3. 3. 2004 sowie des Vorstandsvorsitzenden der Berliner CharitØ und Mitglied des Nationalen Ethikrats, Detlev Ganten, in der FAZ vom 10. 3. 2004. 62 Denn die Ablehnung der Präimplantationsdiagnostik könnte sich aus ethischmoralischer Sicht nur dann auf eine in sich schlüssige Urteilsgrundlage stützen, wenn man wie die katholische Kirche Abtreibungen sowie die Verwendung der Pille danach oder der Spirale überhaupt ablehnt ± worauf denn auch der seinezeitige Bundeskanzler Gerhard Schröder in seinem Interview mit Patrick Bahners, Christian Geyer und Frank Schirrmacher, 56 f. der FAZ vom 3. 5. 2001 und der Präsident der DFG, ErnstLudwig Winnacker, in seinem Interview mit Joachim Müller-Jung und Christian Schwägerl, 43 der FAZ vom 5. 5. 2001 zu Recht hingewiesen haben. 63 Dazu ausführlich Pawlowski Jahrb. für Rechtssoz. und Rechtsth. Bd. 12 (1987), 113 ff., oder ders., Methodenlehre (Fn. 4), Rz. 32 ff. u. ö. 64 Vgl. Fn. 53.

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embryonaler Stammzellen bzw. eine Anzahl eingefrorener ¹Stammzellen im Vorkernstadiumª, die erst beim Auftauen ihre Entwicklung zur Zygote vollenden65, die nicht bei der Befruchtung verwendet werden. Wer dann aber auch die beschränkte Zulassung der Einbeziehung dieser menschlichen Stammzellen in die therapeutische Forschung aus ethischen66 oder rechtlichen67 Gründen ablehnt, müûte jedenfalls darlegen, inwiefern es ethisch-moralischen Kriterien eher entsprechen sollte, diese Embryonen oder Zellen absterben zu lassen oder zu vernichten (¹auf den Müll zu werfenª)68, als sie im Zusammenhang der therapeutischen Forschung zu weiteren Untersuchungen zu verwenden. Der Hinweis auf den angeblich durch Art. 1 GG selbst den Zygoten gewährleisteten ¹absoluten Schutzª69 oder auf die Unterscheidung zwischen der ¹zweckhaften Verwendungª im Zusammenhang der Forschung und dem nicht zweckhaften ¹Absterben Lassenª70, genügt dazu offensichtlich nicht ± da man von Menschenwürde und Unantastbarkeit schon wenig halten muû, um es für richtig zu halten, deren Schutz bereits angesichts des Interesses an dem Gebrauch der Spirale und der Pille danach völlig entfallen zu lassen71. 65 Dazu nur die Berichte von Sara Hakemi, ¹Leben im Kryo-Behälterª, in der FAZ vom 31. 5. 2001 oder Ulrike Riedel in der FAZ vom 7. 5. 2001. 66 So der frühere Bundespräsident Johannes Rau in seiner ¹2. Berliner Redeª vom 18. 5. 2001, FAZ vom 19. 5. 2001, und i. ü. die Darstellung des Sachverständigen in der Enqu†te-Kommission des Bundestages ¹Recht und Ethik der modernen Medizinª Rainer Beckmann, ¹Die Erzeugung menschlichen Lebens, um es alsbald wieder zu vernichten, ist nicht zu rechtfertigenª in der FAZ vom 10. 5. 2001; ebenso z. B. R. Spaemann, ¹Wer jemand ist, ist es immerª, 65 ff., FAZ vom 21. 3. 2001, oder Ulrike Riedel (Fn. 65) ± dagegen u. a. der frühere Bundespräsident Roman Herzog, ¹Ich warne vor absoluten Verbotenª, in: Die Welt vom 28. 5. 2001. 67 So z. B. Ernst-Wolfgang Böckenförde in seinem Interview mit Heidrun Graupner, ¹Das Tor zur Selektion ist eröffnetª in der Süddeutschen Zeitung vom 16. 5. 2001 oder die Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen; dazu der Bericht Guido Heinens ¹Grüne: Forschung an Embryonen ist menschenunwürdigª, in: Die Welt vom 15. 05. 2001. 68 Dazu Sara Hakemis Bericht ¹Leben im Kryo-Behälterª (Fn. 65) 69 So Ernst-Wolfgang Böckenförde (Fn. 67); anders u. a. Roman Herzog (Fn. 66). 70 So Ulrike Riedel (Fn. 65) oder die Stellungnahme der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen (Fn. 67). 71 Dazu überzeugend Gerd Roellecke, ¹Wider eine moralisierende Scheinrationalisierungª in der FAZ vom 11. 5. 2001; Friedhelm Hufen, ¹Nicht nur Embryonen haben Grundrechteª, FAZ vom 21. 5. 2001, oder Rüdiger Wolfrum, ¹Unser Recht auf ein Höchstmaû an Gesundheitª, FAZ vom 29. 5. 2001; zum Problem der ¹Instrumentalisierungª u. a. Dieter Birnbacher in: J. Taupitz (Hg.), Die Bedeutung der Philosophie für die Rechtswissenschaft ± dargestellt am Beispiel der Menschenrechtskonvention für Biomedizin, Berlin u. a. 2001, 45 ff., 54 ff.

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Man kann daher nur hoffen, daû sich die ¾rzte jedenfalls dann nicht an diese Auslegung des Gesetzes halten, wenn sie wissen, daû die Mutter den implantierten Embryo später untersuchen lassen will. Im übrigen hat Friedhelm Hufen72 überzeugend dargelegt, daû man der grundrechtlichen Gewährleistung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts (Art. 1 und 2 Absatz 1 des Grundgesetzes) der Mutter nicht Rechnung tragen würde, wenn man ihr grundsätzlich verwehren würde, sich vor ihrer Entscheidung für die Implantation einer Zygote mit Hilfe ärztlicher Beratung fundierte Informationen über Art und Grad des Risikos zu verschaffen. 2c. ¾hnliche Überlegungen ergeben sich bei einer Reihe weiterer Fragen: So erregte vor einiger Zeit die Meldung von dem Vorschlag einer ¹Kopftransplantationª bzw. ¹Körperverpflanzungª73 die Gemüter. Eine Vertreterin der Deutschen Stiftung Organtransplantation sprach von einer ¹absoluten Zukunftsvisionª und gab der Befürchtung Ausdruck, daû derartige Vorstellungen Menschen davon abhalten könnten, sich einen Organspenderausweis zuzulegen. Auch der interviewenden Journalistin schien mit der Idee der Kopfverpflanzung eine Grenze erreicht, vor der die meisten Menschen zurückschrecken ± sie stimmte dann aber dem Hinweis zu, daû sich das gefühlsmäûige Urteil ändere, wenn das eigene Kind beteiligt sei. Detlef Linke, der zu diesem Thema interviewte Mediziner, hob zunächst hervor, daû man diesen Fall bei der Debatte über die Organtransplantation nicht so deutlich bedacht habe, und wies dann darauf hin, daû die Herstellung der Verbindung des Kopfes mit dem Rumpf bis auf die Herstellung der Nervenverbindungen zum Rückenmark bereits möglich sei und daû auch dieses letzte Problem durch die Entwicklung neuer Techniken überwunden werden könne ± um schlieûlich festzustellen: Ich wüûte nicht,

72 ¹Nicht nur Embryonen haben Grundrechteª (Fn. 71) ± u. a. unter Hinweis darauf, daû das geltende Recht durch die Aufnahme der künstlichen Befruchtung in den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung anerkannt hat, daû diese Behandlungsmethode durch das Grundrecht aus Art. 6 geschützt ist; dazu jetzt auch eingehend Christoph Enders (Fn. 9) m. w. Nachw. 73 Dazu die Berichte Antonia Rötgers und Sven Hillenkamps, ¹Eine Transplantation soll den Kopf rettenª, in: Die Welt vom 13. 12. 1999 und Thomas Webers, ¹Die vertauschten Köpfeª, N 5 der FAZ vom 2. 5. 2001 sowie das Interview Antonia Rötgers mit dem Bonner Mediziner Detlef Linke unter dem Titel ¹Juristisch ist eine Körperverpflanzung erlaubtª in: Die Welt ebd.

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was daran dramatisch wäre, wenn der kranke Astrophysiker Stephen Hawking einen neuen Körper bekäme74. Diese Reaktionen machen deutlich, daû es leicht in die Irre führt, wenn man ethische Fragen zu allgemein erörtert: So ging es in dem damals diskutierten Fall um die Forderung nach einer ¹Körperverpflanzungª bei einem Mann, dem wegen der Folgen einer Querschnittslähmung der Tod drohte. Wenn es daher gelingen sollte, Methoden zu entwickeln, Schäden an den Nervenzellen des Rückenmarkes zu beheben, entfällt bei Querschnittslähmungen auch die Notwendigkeit einer ¹Körperverpflanzungª. Diese mag dann trotz der Heilbarkeit von Querschnittlähmungen noch in anderen Fällen Bedeutung haben können. Im Hinblick darauf zeigt aber die Reaktion der Journalistin, daû es dann gut wäre, diese Fälle unter der Voraussetzung zu diskutieren, daû das eigene Kind daran beteiligt ist: Denn wenn Sittlichkeit für viele auch voraussetzt, daû man sich um Urteile bemüht, die sich verallgemeinern75 lassen, so erfordert sie eben auch die persönliche Beteiligung. 2d. In diesen Zusammenhang gehört auch die Diskussion über die ¹aktive Sterbehilfeª76, die angesichts des Vorbilds der Niederlande77 und Belgiens auch in Deutschland eingesetzt hat78. Es liegt 74 Anders verhält es sich mit den Einwendungen des Philosophen E. Steinhart, ¹Person Versus Brains: Biological Intelligente in Human Organismsª, in: Biology & Philosophy, Bd. 16, Januar 2001; dazu Thomas Weber (Fn. 73). Steinhart meint, Anhaltspunkte dafür zu haben, daû es sich bei der durch eine Kopfverpflanzung ¹hergestelltenª Person um ein Mischwesen handeln würde. Es mag nun sein, daû dies für manche bereits ein Argument gegen die Zulässigkeit einer ¹Kopfverpflanzungª ist. Und es liegt auf der Hand, daû eine derartige Maûnahme niemandem aufgezwungen werden darf. Wer aber ¹Mischwesenª als solche aus ethisch-moralischen Kriterien ablehnen zu müssen meint, sollte sich klar machen, daû derartige Stellungnahmen sehr an frühere rassistische Argumentationen erinnern, nach denen sich die Vermischung mit fremden Rassen als ¹verwerflichª darstellte. 75 Wie es der kategorische Imperativ I. Kants fordert; vgl. I. Kant, Metaphysik der Sitten (1979), Einleitung in die Rechtslehre § B, W. Weischedel (Hg.), Kant. Werke in 6 Bd., Bd. IV, Wiesbaden bzw. Darmstadt 1968, 337; dazu nur E. Tugendhat, Vorlesungen über Ethik, Frankfurt am Main 1993, 25 ff., 79 ff. oder J. Schapp, Freiheit, Moral und Recht, Tübingen 1994, 188 ff. 76 Also nicht um die Selbsttötung oder die Beihilfe zur Selbsttötung, sondern um die Tötung durch einen Dritten (Arzt oder Angehörigen), sei es auf Wunsch des Sterbewilligen oder aber auch auf den ¹vermutlichenª Wunsch des ¹Patientenª, um diesem ein ¹lebensunwertes Lebenª zu ersparen. Nach den Presseberichten geht es in einem nicht unerheblichen Teil der aktiven Sterbehilfe auch um die letzteren Fälle; vgl. dazu nur die Darstellung des Systematischen Theologen und Klinikpfarrers Ulrich Eibach, ¹Aktive Euthanasie und Beihilfe zur Selbsttötung: Ein Menschenrecht?ª in: Evangelische Verantwortung, Februar 2004, 1 ff. oder des Bischofs von Limburg Franz Kamphaus, ¹Die Kunst des Sterbensª in der FAZ vom 30. 9. 2003.

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zwar auf der Hand, daû die Erinnerung an die Erfahrungen vom Umgang mit dem ¹lebensunwerten Lebenª in der Zeit des Nationalsozialismus79 die Übernahme der holländischen oder belgischen Gesetzgebung bei uns erschwert80. Presseberichte zeigen aber, daû die Zustimmung der Bürger in den letzten Jahren gewachsen ist. Der Sache nach sollte aber deutlich sein, daû sich in diesem Zusammenhang zwar für jeden Bürger besondere ethisch-moralische Fragen stellen mögen. Von Rechts wegen liegt dagegen auf der Hand, daû unser Recht dem einzelnen weder verbieten kann, sich freiwillig für den Tod zu entscheiden, noch zulassen kann, daû ein Bürger gegen seinen Willen getötet wird ± und das auch dann nicht, wenn man meint, daû sein Leben ¹nicht mehr wert sei, gelebt zu werdenª. Probleme ergeben sich daher in diesem Zusammenhang nur unter dem Aspekt der Opportunität: Wie kann man die Hilfe zu einem ¹Tod auf Verlangenª ± wenn man sie dann ermöglichen will ± so regeln, daû es sich tatsächlich jeweils um einen ¹freiwilligen Todª handelt und nicht um die Unterstützung von Krankheit (Depressionen)81, um Beseitigung lebensunwerten Lebens (verschleiert durch die Unterstellung einer ¹mutmaûlichen Einwilligungª) oder sogar um Tötung aus Haû oder Gewinnsucht. Zu einer rationalen Rechtspolitik gehört überhaupt, daû die Beteiligten in dem zusammenwachsenden Europa berücksichtigen, daû man nur dann gleichberechtigt zusammenleben kann, wenn die europäischen Staaten nicht nur die Rechtlichkeit bzw. Rechtmäûigkeit der rechtlichen Ordnungen der Nachbarstaaten anerken77 Dazu die Darstellung des damaligen niederländischen Justizministers Benk Korthals ¹Kein Recht, keine Pflichtª in der FAZ vom 14. 7. 2001. 78 Dazu die informativen Darstellungen der Theologen Kamphaus und Eibach Fn. 76. 79 Dabei sollte auch heute noch klar sei, daû die Nationalsozialisten die Forderung nach der Beseitigung ¹lebensunwerten Lebensª ± die vorher u. a. von dem anerkannten Strafrechtler Karl Binding und dem Psychiater Alfred Hoche vertreten worden war, der dann als erster deutscher Ordinarius aus Protest gegen die NS-Machtübernahme von seinem Lehrstuhl für Psychiatrie in Freiburg zurücktrat ± nur übernommen und dann allerdings zusätzlich mit ihrem Rassegedanken kombiniert hatten; vgl. dazu die informative Darstellung von Ulrich Eibach (Fn. 76) und Franz Kamphaus (Fn. 76). 80 Vgl. aber auch den Bericht Oliver Tolmeins ¹Ein Mann darf seine Frau auch dann nicht umbringen, wenn seine Frau es verlangtª, FAZ vom 1. 11. 2001 über die Ablehnung der aktiven Sterbehilfe in England sowie den kritischen Bericht des forensischen Psychiaters Andreas Frei ¹Sterbehilfe in der Schweiz: Ein Skandalª in der FAZ vom 8. 11. 2001. 81 Dazu die Berichte von Frei (Fn. 80), Eibach und Kamphaus (Fn. 76).

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nen, sondern wenn sie diese auch nicht als ¹sittenwidrigª oder ¹moralisch minderwertigª verurteilen82. Denn es läût sich nach der rechtlichen Ordnung des europäischen Zusammenlebens nicht ausschlieûen, daû ¹die anderenª (nämlich unsere Mitbürger) Dienstleistungen oder Waren, deren Erbringung oder Herstellung nach unseren Gesetzen nicht zulässig ist ± wie z. B. die Implantation vorher untersuchter Embryonen oder die Herstellung von Heilmittel für die Behandlung von Krankheiten wie ¹Alzheimerª und ¹Parkinsonª83 oder bei der Heilung von ¹Querschnittslähmungenª u. a. m.84 ±, bei unseren Nachbarn nachfragen85. Daher muû man bei dem Erlaû neuer rechtlicher Regelungen jeweils bedenken, ob man die anderen ¹von Rechts wegenª darauf verweisen kann, ihre Wünsche im Nachbarland oder durch Einfuhr der im Nachbarland hergestellten Waren zu befriedigen. Denn auch wenn es um 82 Worauf der Präsident der DFG Ernst-Ludwig Winnacker in seinem Referat auf der Jahresversammlung der Deutschen Forschungsgemeinschaft am 5. 7. 2001, in: Die Welt vom 6. 7. 2001, zu Recht hingewiesen hat; vgl. dazu i. ü. die Urteile des EuGH vom 4. 10. 1991 (RC-159/90, NJW 1993, 776 ff.) und der EGMR vom 20. 10. 1992 (NJW 1993, 773 ff.) zur Abtreibung und zur Information über Abtreibungsmöglichkeiten in anderen europäischen Staaten. 83 Vgl. dazu die den Bericht von Claudia Ehrenstein über Versuche von Wissenschaftlern der Washington University in St. Louis in: Die Welt vom 2. 12. 1999, das Interview Hans-Dieter Vierings mit dem Chefarzt der Abteilung für Gynäkologische Endokrinologie und Reproduktionsmedizin an der Frauenklinik der Universität Wien, Johannes C. Huber in: Die Welt vom 23. 12. 1999 und auch die Ausführungen des seinerzeitigen Bundeskanzlers Gerhard Schröder in der Bundestagsdebatte über die Gentechnik, die die ¹Auszüge aus der Debatteª in: Die Welt vom 1. 6. 2001 zeigen; dazu aber kritisch die ablehnende Stellungnahme der Zentralen Ethikkommission bei der Bundes¾rztekammer, D¾rztBl., Heft 30 vom 24. 7. 1998, 1869 ff. oder die Voten Wolfgang Frühwaldts in: Die Welt vom 9. 2. 1999 und Claudia Ehrensteins in: Die Welt vom 18. 6. 1999. 84 Das Gleiche gilt für weitere Projekte, die mit Hilfe der Gentechnik versuchen, Medikamente für bisher unheilbare Krankheiten zu entwickeln: so für die Versuche, Erbkrankheiten, wie die Mukoviszidose bzw. zystische Fibrose, die Diabetes, die sog. Arteriosklerose, das ¹Papillon-Lef›vre-Syndromª oder Fehler des Immunsystems (wie das Fehlen des Enzyms Adenosin-Desaminase [ADA] bzw. die Severe combined Immuno Deficiency [SCID] mit Hilfe von Gen-Fähren durch Einschleusen ¹gesunder Geneª zu heilen; dazu die Berichte von ¹föª in: Die Welt vom 8. 10. 1999; Jan Oliver Löfken, ¹Mit Gentherapie Diabetes besiegenª in: Die Welt vom 9. 12. 1999; Claudia Ehrenstein, ¹Diabetes-Therapie mit embryonalen Stammzellenª in: Die Welt vom 27. 04. 2001; Thomas A. Friedrich, ¹Gentherapie gegen Gefäûverengungª über ein von der EU unterstütztes Projekt in: Die Welt vom 13. 1. 2000; ¹jollª in: Die Welt vom 21. 12. 1999; Dirk Förger in: Die Welt vom 5. 10. 1999 und 8. 10. 1999 und ¹SAD/DWª in: Die Welt vom 28. 12. 1999. 85 Dazu nur die Hinweise Reinhard Müllers ¹Europäische Gerichte werden das letzte Wort sprechenª in der FAZ vom 1. 6. 2001 auf die in Fn. 82 angeführten Urteile des EuGH und der EGMR.

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Dienstleistungen oder Waren geht, die man selbst ethisch oder moralisch ablehnt, muû man als Bürger eines europäischen Staates doch anerkennen, daû sich die Normen des gesamteuropäischen Rechts auf dem Hintergrund der in den verschiedenen Mitgliedsstaaten verbreiteten moralischen Anschauungen jeweils als zulässiges Mittel zur Verbesserung der Lebensverhältnisse darstellen bzw. mindestens als ein Versuch, die Lebensverhältnisse richtig zu gestalten und sie zu verbessern. Und von daher ist es denn auch geboten, daû die Vertreter der unterschiedlichen moralischen Konzepte es nicht als ihre Aufgabe (als ihre ¹Verantwortungª) ansehen, ihre persönlichen (Gewissens-)Überzeugungen allen anderen vorzuschreiben, sondern daû sie so zwischen ihrer Überzeugung und ihrer Verantwortung unterscheiden wissen, wie es der Vorsitzende des Ethikkomitees Frankreichs Didier Sicard in seinem Interview mit der F.A.Z.86 vorführte. Daraus ergibt sich dann u. a., daû wir die im europäischen Recht vorhandenen Unterschiede im Hinblick auf die Zulässigkeit biomedizinischer Forschungen nicht als Folge unterschiedlicher moralischer oder (bio-)ethischer Überzeugungen verstehen und erklären dürfen ± weil wir uns damit gewissermaûen ¹moralischª über unsere Nachbarn erheben. Eine angemessene Erklärung für diese Unterschiede bietet vielmehr der Hinweis, daû man in den verschiedenen europäischen Staaten zur Zeit die Gefahren, die sich aus den verschiedenen Verfahren der biomedizinischen und der genetischen Forschung ergeben, unterschiedlich einschätzt. Denn das erklärt ausreichend, daû man sich in dieser Hinsicht zur Zeit an unterschiedlichen Sorgfaltsmaûstäben87 orientiert ± was sich dann bei fortschreitender Erkenntnis auch ändern kann. 2e. Zusammenfassend ist also festzuhalten, daû sich die Gesetzgebung bei der Regelung der Möglichkeiten der Biotechnik, die Gesundheit oder die Lebensverhältnisse der Bürger zu verbessern, nicht mehr allein an der jeweiligen Mehrheit und an den von dieser vertretenen moralischen Überzeugungen orientieren kann. In dieser Hinsicht ist vielmehr bei dem Erlaû (und bei der Auslegung)88 von Gesetzen zu berücksichtigen, daû die eigene mo86 Fn. 53 ± vgl. dazu auch die Rede des Biologen und damaligen Präsidenten der Max-Planck-Gesellschaft Hubert Markl auf der 52. Ordentlichen Hauptversammlung der Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften Berlin in: Die Welt vom 23. 6. 2001 oder in der FAZ vom 25. 6. 2001. 87 Dazu oben zu Fn. 49 ff.

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ralische Ablehnung bestimmter Heilmethoden oder Heilmittel es nicht rechtfertigt, anderen, deren Moral ihnen den Gebrauch derartiger Mittel erlaubt oder sogar nahelegt, von Rechts wegen zu untersagen, diese Dinge und Methoden für sich zu benutzen. So wäre es schon aus ethisch-moralischer Sicht nicht vertretbar, Kranken zu verbieten, Medikamente, die nur mit Hilfe der bei uns abgelehnten ¹Stammzellforschungª entwickelt werden konnten, aus den europäischen Nachbarstaaten zu beziehen, oder auszuschlieûen, daû die die gesetzlichen ¹öffentlich-rechtlichenª Krankenkassen die dafür erbrachten notwendigen Aufwendungen ersetzen. Und es liegt auf der Hand, daû unsere Verfassung es ausschlieût89, den Bürgern, die den Erwerb und den Gebrauch dieser Mittel zur Erhaltung ihrer Gesundheit für ethisch-moralisch vertretbar oder sogar für geboten halten, diesen Erwerb oder den Gebrauch durch ein Gesetz zu verbieten. Von daher wird deutlich, daû es rechtlich unzulässig ist, die ¹nationale Sittlichkeitª nach den Vorstellungen einer nur partikulären Moral zu bestimmen, wenn dies den Vertretern anderer moralischer Konzepte den Gebrauch von Mitteln verbietet, mit denen sie ihre Gesundheit oder sogar ihr Leben erhalten können. Es sollte überhaupt klar sein, daû sich Verbote von Verhaltensweisen, die nur einer partikulären Moral Rechnung tragen, auf besonders zu begründende Ausnahmen beschränken müssen ± wobei auf der Hand liegt, daû man dabei alle Begründungen vermeiden muû, die rechtlichen Regelungen, die z. B. in England oder Frankreich gelten, ¹Verstöûe gegen die Achtung der Menschenwürdeª attestieren90. 88 Dazu jetzt überzeugend Christoph Enders (Fn. 9); vgl. auch die in Fn. 71 und 52 angeführten Ausführungen von Friedhelm Hufen und Rüdiger Wolfrum sowie oben zu Fn. 72. 89 Vgl. oben die in Fn. 71 genannten Ausführungen von Friedhelm Hufen und Rüdiger Wolfrum sowie oben zu Fn. 72. 90 In diesem Zusammenhang sollten sich auch die Vertreter der christlichen Kirchen überlegen, ob sie es angesichts der christlichen Tradition tatsächlich als die ¹christliche Lehreª bezeichnen können, daû bereits Zygoten ebenso behandelt werden müssen wie Embryonen oder lebend geborene Menschen. Denn einmal wurden und werden in der christlichen Traditionen sehr unterschiedlichen Lehren über den Beginn des personalen menschlichen Lebens vertreten; dazu nur die Darstellung Heike Schmolls ¹Wann wird der Mensch ein Menschª in der FAZ v. 31. 5. 2001. Und zum anderen bestimmt sich nach den verschiedenen europäischen Rechten auch heute der Beginn der Rechtsfähigkeit nach unterschiedlichen Kriterien: So erwirbt z. B. der Mensch nach französischem Recht seine Rechtsfähigkeit nicht bereits schon damit, daû er bei der Vollendung der Geburt lebt, sondern nur, wenn er dazu noch Lebensfähigkeit (viabilitØ) besitzt; vgl. die Nachw. bei Pawlowski, Allg. Teil (Fn. 6), Rz. 96

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3. Abschlieûend sei noch auf eine Problematik verwiesen, die für die Diskussionen über Bioethik besonders aktuell ist ± und bei der es von den Worten her auch um Ethik oder Moral geht, aber nicht um das, was deren innere Verbindlichkeit bestimmt, sondern um die Moral, die für unseren ¹Rufª (unsere Reputation) wichtig ist: also die öffentliche Moral91. Dabei handelt es sich um ein Phänomen, dem im Zusammenhang des Verhältnisses von Recht und Moral eminente Bedeutung zukommt ± ja, an das man nicht selten zunächst denkt, wenn man sich dem Verhältnis von Recht und Moral zuwendet. So wollte der Gesetzgeber mit den in den §§ 2 Abs. 1, 1 Abs. 2 EmbrSchG normierten Verboten über den Umgang mit Stammzellen allen Bestrebungen des ¹Klonensª und ¹Züchtensª von Menschen entgegentreten ± also Bestrebungen, die in letzter Zeit immer wieder Gegenstand verschiedener emotional aufgeladener öffentlicher Debatten waren und nicht nur die Feuilletons92 füllten, sondern selbst einen philosophischen Fachkongreû93 beschäftigten. Sprach der aus den Feuilletons bekannte Peter sowie die Darstellungen der Nobelpreisträgerin Christiane Nüûlein-Volhard ¹Der Embryo braucht den Körper der Mutterª in der FAZ vom 22. 5. 2001 oder des früheren Präsidenten der Max-Planck-Gesellschaft Hubert Markl, ¹Wann beginnt menschliches Leben?ª, in: Die Welt v. 1. 11. 2003. Und die katholische Kirche sollte sich daran erinnern, daû die spanischen Gesetze aufgrund der katholischen Tradition noch in den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts bestimmten, daû die Rechtsfähigkeit nur dem zukomme, der ¹figura humanaª geboren werde ± also nicht dem ¹Monstrumª. Die Anerkennung der Menschenwürde von allen lebenden Wesen, die von einer Frau lebend geboren werden, wie sie unser Recht gewährleistet, ist eine Folge des ¹Positivismusª ± also einer Anschauung, die nicht gerade genuin christlichen Wurzeln entspringt. Wir sollten heute dahinter zwar nicht zurückgehen; es besteht aber keine Notwendigkeit, alle Konsequenzen, die sich aus diesem Ansatz ergeben, als ¹alleinª christlich zu bezeichnen. 91 Dazu R. Specht in: Häsemeyer/Pawlowski (Hg.), Auseinandersetzung mit der realsozialistischen Vergangenheit, Baden-Baden 1992, 107 ff., 110 ff. und i. ü. ders., John Locke (in der Beck'schen Reihe ¹Groûe Denkerª), München 1989, 163 ff. oder G. Roellecke, Öffentliche Moral, Heidelberg 1991, 3 ff. 92 Gegen alles Klonen und Züchten z. B. Jürgen Habermas in der Süddeutschen Zeitung sowie die zust. Essays von Dieter E. Zimmer ¹Die Natur klont nur aus Versehen. . . . Eine Antwort auf Jürgen Habermas, ¹Eineiige Zwillinge sollen Zufall bleibenª, in: Die Zeit 1998, Nr. 08 und Rüdiger Safranski, ¹Vom Recht geboren und nicht gemacht zu werdenª, FAZ vom 23. 9. 1999; ähnlich auch Walther Ch. Zimmerli, ¹Die Evolution in eigener Regieª, in: Die Zeit vom 30. 9. 1999; Robert Spaemann, ¹Wozu der Aufwand? Sloterdijk fehlt das Rüstzeugª, FAZ vom 7. 10. 1999; Guido Heinen, ¹Die Grenze liegt am Anfangª, in: Die Welt vom 18. 6.1999; Hubert Hüppe ¹Dahinter verbirgt sich ein groûes Geschäftª, in: Die Welt vom 18. 6. 1999 sowie der Brandenburger Landesbischof Wolfgang Huber in einer Diskussion mit P. Sloterdijk im SWR 2, dazu der auszugsweise Abdruck in: ¹Mitteilungen. Informationen der Evangelischen Landeskirche Badenª, hg. vom Evang. Oberkirchenrat Karlsruhe, 1999, Heft 6, 4 f.

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Sloterdijk94 in Schloû Elmau über ¹Regeln für den Menschenparkª ± was mit der Anspielung auf den Garten Eden die Fähigkeiten des Menschen übersteigt und was Jürgen Habermas an überwunden geglaubte Züchtungsphantasien denken lieû95 ± so hielt dem Rüdiger Safranski96 den Slogan ¹Vom Recht, geboren und nicht gemacht zu werdenª entgegen ± was mit der Anspielung auf das ¹vom Vater geboren . . . nicht geschaffenª des 2. Art. des Nizänums die Bedeutung des Menschen ebenso überzieht. In diesen Zusammenhang gehören auch die bereits erwähnten öffentlichen Diskussionen über den deutschen Beitritt zur Bioethik-Konvention (oder zu der jetzt in Nizza verabschiedeten, wesentlich offeneren Charta)97, die sich weitgehend auf die Probleme der Forschung an Nicht-Einwilligungsfähigen sowie auf die Zulassung der Zum abweichenden Standpunkt vgl. u. a. die Essays des amerikanischen Plasmaphysikers Gregory Benford, ¹Im Namen der Kloneª, FAZ vom 31. 3. 2001; Jens Reich, ¹Klonen ist nicht nur ein Alptraum. Viele Kritiker machen es sich im Namen der Moral zu einfachª, in: Die Welt vom 5. 2. 1999; Reinhard Merkel, ¹Wer einen Menschen klont, fügt ihm keinen Schaden zu. Plädoyer gegen eine Ethik der Selbsttäuschungª, in: Die Zeit vom 23. 2. 1999; des Direktors des Instituts für Medizinische Soziologie und Sozialmedizin im Fachbereich Humanmedizin der Universität Marburg Ulrich Mueller, ¹Klonen ist menschlichª, in: Die Welt vom 29. 10. 1999, sowie sein Plädoyer ¹Gebt uns die Lizenz zum Klonenª in der FAZ vom 9. 3. 2001, oder des Entwicklungsbiologen am Freiburger Max-Planck-Institut für Immunbiologie Davor Solter, dazu sein Interview mit Dirk Förger in: Die Welt vom 19. 6. 1999. 93 Nämlich den 18. Deutsche Kongreû für Philosophie in Konstanz; dazu nur die Berichte Volker Zeeses ¹Gen-Baukasten Menschª, in: Die Welt vom 9. 10. 1999 und Helmut Mayers in der FAZ vom 12. 10. 1999. 94 Dazu nur der Bericht Matthias Kamanns über eine weitere Diskussion in Schloû Elmau zwischen P. Sloterdijk, einem Humangenetiker, einem Theologen, einem Philosophen und einer Kulturwissenschaftlerin: ¹Peter Sloterdijk . . . ist . . . ein . . . für öffentliches Nachdenken dringend benötigter Geistª, in: Die Welt vom 20. 12. 1999. 95 Dazu u. a. Dieter E. Zimmer, ¹Eineiige Zwillinge sollen Zufall bleibenª, in: Die Zeit 1998, Nr. 08; Thomas E. Schmidt, ¹Hirsche auf der Lichtung des Denkens: Peter Sloterdijk und Jürgen Habermasª, in: Die Welt vom 20. 9. 1999; Thomas Sturm in: Die Welt vom 8. 10. 1999; Alexander Schuller in: Die Welt vom 15. 10. 1999; Robert Spaemann, ¹Wozu der Aufwand? Sloterdijk fehlt das Rüstzeugª, in der FAZ vom 7. 10. 1999; Erwin Chargaff in der FAZ vom 17. 10. 1999; Ernst-Wolfgang Böckenförde in seinem Interview mit Heidrun Graupner, ¹Das Tor zur Selektion ist eröffnetª in der Süddeutschen Zeitung vom 16. 5. 2001; der frühere Bundespräsident Johannes Rau in seiner ¹2. Berliner Redeª (Fn. 66) und andererseits Walther Ch. Zimmerli, ¹Die Evolution in eigener Regieª, in: Die Zeit vom 30. 9. 1999; Thomas Assheuer, ¹Was ist deutsch? Sloterdijk und die geistigen Grundlagen der Republikª, in: Die Zeit vom 30. 9. 1999 und Wolf Singer, ¹Ironische Züge im Gesicht der Wissenschaft. Wissen für die Zukunftsplanung steht nicht zur Verfügungª, FAZ vom 6. 10. 1999. 96 FAZ vom 23. 9. 1999. 97 Vgl. dazu die Angaben U. Muellers (Fn. 92).

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verbrauchenden Embryonenforschung und des Klonens von Embryonen zu Forschungszwecken konzentrierten98. Kennzeichnend für die Beiträge sowohl in der Sloterdijk/Habermas- als auch in der allgemeinen Debatte über die BioethikKonvention ist nun die Schärfe der gegenseitigen Be- und Verurteilung. Dies hängt damit zusammen, daû es sich jeweils um öffentliche Diskussionen handelt (wie sie ja auch der frühere Bundespräsident Johannes Rau fordert99), die weitgehend in den Medien geführt werden und die dem Bereich der ¹öffentlichen Moralª100 zuzuordnen sind101. Und bei dieser ¹öffentlichenª Moral geht es nicht um die persönliche Entscheidung zwischen ¹gutª und ¹böseª und damit um ¹Sittlichkeitª, sondern um ¹Reputationª bzw. um ¹Ansehenª102. Zu ihr bemerkte John Locke103, daû sie noch aus dem Naturzustand stamme (also aus dem Zustand vor dem im Gesellschaftsvertrag vereinbarten Gewaltverzicht) und daû sie daher für die Leidensfähigkeit von Menschen fast zu furchtbar sei: ¹Denn nicht einer unter zehntausend ist so hart, daû er die dauernde Miûbilligung durch seine Gruppe erträgtª. Damit kommt also ein weiterer Aspekt des Verhältnisses von Recht, Moral und Ethik in den Blick ± und zwar ein Aspekt, der deutlich macht, daû das Recht die Betroffenen vor bestimmten Auswirkungen der ¹Moral der anderenª Schutz gewähren muû. Denn wenn sich die ¹öffentliche Moralª auch auf die persönliche Moral bezieht und von dieser ihre Bedeutung erhält, so ist doch 98 Dazu nur die Darstellung des am 5. 2. 1998 geführten ¹Dialoges zur Bioethik im Wasserwerkª in der Dokumentation einer Veranstaltung der organisierten überfraktionellen Abgeordneteninitiative ¹Menschenrechtskonvention zur Bioethikª (Dr. Antretter MdB u. a.) oder das Protokoll der 113. Sitzung des Rechtsausschusses am 25. 3. 1998, in der unter dem Vorsitz des Abgeordneten H. Eylmann eine öffentliche Anhörung zur Bioethik-Konvention stattfand. 99 Nämlich in seiner ¹2. Berliner Redeª (Fn. 66). 100 Dazu G. Roellecke (Hg.), Öffentliche Moral (Fn. 91). 101 Die Berichte über diese Diskussionen lassen denn auch verstehen, daû sich die Parteien im Bundestag zeitweilig darauf geeinigt hatten, anstelle der zunächst geplanten ¹Bioethik-Enqu†te-Kommissionª einen nationalen ¹Ethik-Ratª einzusetzen, weil sich die öffentlich tagende Enqu†te-Kommission zu einer Plattform der Fundamentalisten entwickeln würde ± und daû sie dann von diesem Vorhaben aufgrund des öffentlichen Drucks wieder abstehen muûten ± da sogar der Kölner Erzbischof Meisner öffentlich von einer ¹Ohrfeige für die Behindertenverbändeª sprach; vgl. dazu u. a. die Berichte Stefan Rehders in: Die Welt vom 30. 10., 5. 11. und 13. 11. 1999. 102 Dazu R. Specht oder G. Roellecke (Fn. 91). 103 An Essay concerning Human Understanding (1690); hier zitiert nach der Ausgabe von P. H. Nidditch, Oxford 1975, 353 ff., 357.

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nicht zu verkennen, daû sie sich in vielen Beziehungen von der persönlichen Moral unterscheidet ± und damit von der Sittlichkeit. Daher hat Gerd Roellecke104 unter Hinweis auf Niklas Luhmann105 zu Recht hervorgehoben, daû es bei der ¹öffentlichen Moralª um das Beobachten von Moral geht und daû sich die ¹öffentlicheª Moral damit zur Moral verhält wie das Spiegelbild zur Person. Daraus ergibt sich eine starke Tendenz, Moral zu vereinfachen, was es dann ermöglicht, Moral zu instrumentalisieren. Dies erklärt denn auch das Eintreten für die Anerkennung der ¹Menschenwürdeª bereits der Zygoten, solange dies keine Bedeutung für das persönliche Leben hat ± wie z. B. für die Verwendung der sog. ¹Spiraleª oder der ¹Pille danachª oder im Hinblick auf die Anerkennung der embryopathischen Indikation106. Und dies erklärt denn auch, daû es nicht nur bei den Stellungnahmen der Politiker ± wie der des früheren Bundespräsidenten Johannes Rau107, der früheren Bundesjustizministerin Herta Däubler-Gmelin108 oder der CDU-Vorsitzenden Angela Merkel 109 ±, sondern auch bei den entsprechenden Berichten und Kommentaren der Presse110 erkennbar nicht um ¹gutª und ¹böseª bzw. um Ethik oder Moral 104

Öffentliche Moral (Fn. 91), 3 ff. Soziologie der Moral, in: Luhmann/Pfürtner (Hg.), Theorietechnik und Moral, Frankfurt am Main 1978, 8 ff. sowie ders., ¹Ethik als Reflexionstheorie der Moralª, in: N. Luhmann, Gesellschaftsstruktur und Semantik, Bd. 3, Frankfurt am Main 1989, 358 ff., 361 ff. 106 Dazu oben zu Fn. 60 ff. 107 Dazu oben Fn. 53. 108 In ihrem Interview mit Patrick Bahners, Christian Geyer und Christian Schwägerl, FAZ vom 22. 5. 2001. 109 Vgl. dazu nur die Nachricht von Reuters ¹Bundesregierung: Clements früher Vorstoû war unglücklichª, FAZ vom 5. 6. 2001, bzw. den Bericht von fy ¹Merkel: Clement will Fakten schaffenª in der FAZ vom 6. 6. 2001. 110 Wie z. B. der FAZ; vgl. u. a. die Kommentare Patrick Bahners, ¹Nur keine Sentimentalitätenª, FAZ vom 12. 4. 2001 bzw. ¹Wir sehen weiterª, FAZ vom 1. 6. 2001; Christian Geyers ¹Die Zeit läuft gegen die CDUª, FAZ vom 28. 5. 2001; Mark Siemons ¹Würde?ª, FAZ vom 25. 5. 2001, oder Georg Paul Heftys ¹Der Preis der Heilungsversprechenª, FAZ vom 1. 6. 2001, die meinen, ¹moralischª zu argumentieren und dann anderen die Verfolgung eigensüchtiger Motive, ¹aberwitzigen Glaubenª oder gar ¹galoppierenden Schwachsinnª vorwerfen. Dieser Gesetzmäûigkeit beugen sich aber auch Philosophen wie Gerold Prauss, ¹Das Tier in uns ist auf dem Vormarschª, FAZ vom 5. 7. 2001, der sich mit seinen Ausführungen in der FAZ zwar augenscheinlich darum bemüht, Moral zu begründen, dabei aber Kollegen, die abweichende Meinungen vertreten, so charakterisiert: ¹Also holt man eilends Philosophen, die den Ruf des Fachs zu Markte tragen und als Spitzenplatzmacher sich nützlich machen. Und tatsächlich: Kaum Minister, schon will so ein ¸Philosoph auch wahrhaben, erst ¸Selbstachtung ergebe Menschsein.ª 105

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geht, sondern um Profilierung111, Wahlkampf und Einfluûnahme auf die ¹öffentliche Meinungª ± also um ¹Reputationª. Aus dieser Tendenz zur Vereinfachung und der damit verbundenen Möglichkeit der Instrumentalisierung erklärt es sich denn auch, daû sich der Vertreter der Evangelischen Stiftung Alsterdorf im Dialog zur Bioethik im Wasserwerk112 mit unverkennbaren Pathos dagegen wandte, daû nicht-einwilligungsfähige Personen nach Art. 17 Abs. 2 der ¹Bioethik-Konventionª ausnahmsweise in fremdnützige Forschungsvorhaben einbezogen werden dürfen, wenn dies nur mit minimalen Risiken und Belastungen verbunden ist ± und dazu ausführte: ¹Seit wann . . . sind Methoden wie Wiegen, Messen und Beobachten ¸sanft für . . . Menschen mit Behinderungen oder Alterserkrankungen? . . . Solche Menschen können auch solche angeblich sanften Eingriffe als massiv, als grenzüberschreitend und als angstauslösend erleben ± auch übrigens, wenn sie zur Zeit des Eingriffs noch keinerlei Gegenwillen zeigenª.

Und von daher erklärt es sich zudem, daû sich selbst der Wissenschaft verbundene Autoren113 bei ihrer Ablehnung der Embryonenforschung oder gentechnischer Eingriffen bei Menschen darauf berufen haben, daû man ¹die Zustimmung künftiger Menschen nicht unterstellen könneª, weshalb das Klonen oder andere gentechnische Eingriffe die Nachkommen in ihrer Autonomie einschränke und ihnen die Freiheit nehme, ein selbstverantwortetes, autonomes Leben zu führen114± was den Eindruck vermittelt, daû wir unserer Geburt zugestimmt haben115. 111 Dazu treffend Mariam Lau, ¹Ein frustrierender Beitragª, in: Die Welt vom 28. 5. 2001 und das von Gerd Roellecke, ¹Wider eine moralisierende Scheinrationalisierungª (Fn. 71) beschriebene Beispiel aus einer politischen Talkshow des hessischen Fernsehens: Der Moderator fragte die ¹Generalsekretärin der FDP, Pieper, über Gentechnik: Ob sie gegen Behinderte sei? ± Natürlich nicht!ª ± um dann die Frage anzuschlieûen: ¹Warum sie dann wolle, daû Embryonen ausgesondert würden, aus denen Behinderte entstehen könnten? ± Er hatte gewonnen. Sie stotterte herum. Dabei wäre die Antwort einfach gewesen: Weil ich gegen Behinderungen binª. 112 So Michael Wunder in der Fn. 98 aufgeführten Dokumentation, 28 ff., 29. 113 Was Thomas Assheuer (Fn. 95) für P. Sloterdijk ausführte ± daû es nämlich um einen Streit über die geistigen Grundlagen der neuen Berliner Republik gehe (also um das Ansehen der einzelnen Meinungsträger) ±, trifft in derselben Weise auch auf die anderen Kombattanten zu; vgl. dazu nur Thomas E. Schmidt (Fn. 95) oder Matthias Kamann (Fn. 94). 114 Dazu nur Jürgen Habermas in der Süddeutschen Zeitung (Fn. 92); A. Pieper, ¹Autonomieª, in: W. Korff u. a. (Hg.), Lexikon der Bioethik, Bd. 1±3, Gütersloh 1998, unter Hinweis auf H. Jonas, Das Prinzip Verantwortung, Frankfurt am Main 1985, 109 ff. oder der Chemiker und Genforscher Erwin Chargaff in seinem Gespräch mit

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Der Unterschied zwischen ¹persönlicherª und ¹öffentlicherª Moral wird vor allem deutlich, wenn man sich vor Augen führt, daû das persönliche Urteil über ¹gutª und ¹böseª jeweils auf der genauen Kenntnis der Umstände beruht: Moral ist das, was sich von selbst versteht, weil man nach seinen eigenen Voraussetzungen über sich selbst urteilt. Steht man daher selbst vor einem ethischen oder moralischen Problem, so ist einem jeweils klar, daû es sich um eine Ausnahmesituation handelt ± da man sonst kein Problem haben würde. Sieht man dagegen auf das Handeln der anderen, so sieht man immer nur, daû diese von der Regel abweichen bzw. daû sie die Normen verletzen116. In diesem Verhältnis von ¹Rechtª und ¹öffentlicher Moralª stellt das sich Recht also nicht wie früher als sog. ethisches Minimum dar ± und damit gewissermaûen als Teil des Kernbereichs der Moral ± und auch nicht als Ergänzung der jeweiligen besonderen Moral der einzelnen Gruppen, an die es sich anschlieûen muû, um auch faktisch zu gelten. In diesem Verhältnis geht es vielmehr darum, daû das Recht u. a. auch die Aufgabe hat, persönliche bzw. private Sittlichkeit zu ermöglichen117 ± daû es also die Auswirkungen der öffentlichen Moral beschränken muû.

Jordan Meijas, FAZ vom 2. 6. 2001; ähnlich auch Lindemann/Mertelsmann, ¹Keimbahntherapieª, in: Lexikon der Bioethik, a. a. O. unter Hinweis darauf, daû man die Zustimmung der künftigen Menschen nicht unterstellen könne, oder die Essays Rüdiger Safranskis ¹Vom Recht geboren und nicht gemacht zu werdenª (Fn. 92) und Alex Bauers, ¹Auf der schiefen Ebene zum Designer-Babyª, FAZ vom 20. 10. 1999; vgl. dazu auch Volker Zeeses Bericht (Fn. 93) über den Konstanzer Philosophie-Kongreû mit Hinweisen auf die dort vertretenen gegensätzlichen Standpunkte. 115 Vgl. dazu etwa die Essays Wolf Singers in der FAZ (Fn. 95) oder Thomas Sturms und Alexander Schullers in: Die Welt vom 8. 10. 1999 bzw. 15. 10. 1999 sowie Helmut Mayers Bericht (Fn. 93) mit Hinweisen auf die Darlegungen von Christian Thies und Bernd Gräfrath auf dem Konstanzer Philosophiekongreû. 116 Dazu Pawlowski, Gesetz und Freiheit, Frankfurt am Main 1969, 19 f. 117 Auf diesen Zusammenhang verweist man bekanntlich im Eherecht, um zu begründen, daû es nicht angehe, die Erfüllung der sog. ehelichen Pflichten mit Hilfe von rechtlichem Zwang durchzusetzen ± weil dies dem sittlichen Wesen der Ehe widerspreche; dazu nur BGH NJW 1988, 2032 ff., 2033 oder Münch/Rebmann, Kommentar BGB, Bd. 7, München, 3. Aufl. 1993, Einleitung Rz. 11, sowie Wacke ebd. § 1353 Rz. 4.

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III Abschlieûend kann man also nach diesen Überlegungen zur Frage nach der ¹Bioethik im Kontext des Rechtsª Folgendes feststellen ± nämlich: 1. Aus den verschiedenen Ausprägungen der Bioethik, die das Erleben und die Überlegungen unserer Bürger bestimmen, ergeben sich zunächst einmal Grenzen für die bei uns mögliche Rechtssetzung: Weil unsere Gesetze den Rechtsgenossen keine Handlungen gebieten dürfen, die nach deren Überzeugungen unverantwortlich oder sündhaft sind118, und weil sie ihnen keine Handlungen verbieten dürfen, die sich ihnen von ihrer Weltanschauung oder ihrer Religion her als unbedingt geboten darstellen119. 2. In dem breiten Bereich, der dann von Rechts wegen nach den Zweckmäûigkeitserwägungen ausgestaltet werden kann120, die sich der jeweiligen Mehrheit als opportun darstellen, ist dann aber einmal zu beachten, daû die mehrheitlich für erstrebenswert gehaltenen Regelungen nicht die Aussichten der Rechtsgenossen auf gesunde Kinder121 oder auf Heilung ihrer Krankheiten122 in den Fällen ausschlieûen dürfen, in denen diese ihre Ziele nur mit Hilfe von Methoden erreichen können, die die Mehrheit von ihrer Bioethik her miûbilligt. Zum anderen ist in diesem Bereich dafür Sorge zu tragen, daû unser Gesetzgeber auf diesem Gebiet jeweils in Rechnung stellt, daû die Bürger der anderen europäischen Staaten andere Regelungen für opportun halten ± und daû wir diese im Zusammenhang der Europäischen Gemeinschaft nicht als ¹unmoralischª verwerfen dürfen123. 3. Insgesamt hat sich schlieûlich gezeigt, daû sich im Verhältnis von Bioethik und Recht besondere Gefahren ergeben, wenn man versucht, die rechtlichen Regelungen an dem zu orientieren, was sich als ¹öffentliche Moralª darstellt124. Das verweist darauf, daû es auf diesem Gebiet auch von Rechts wegen angemessener ist, 118 119 120 121 122 123 124

Dazu Dazu Dazu Dazu Dazu Dazu Dazu

oben oben oben oben oben oben oben

zu Fn. 37 zu Fn. 40 zu Fn. 49 zu Fn. 60 zu Fn. 74 Fn. 82 ff. zu Fn. 91

ff. ff. ff. ff., 73. ff. ff., 103.

400

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sich an dem das Urteil von ¹Ethik-Kommissionenª ± also von Expertengremien125 ± zu orientieren, als an zufälligen Ergebnissen einer öffentlichen Diskussion: Weil sich letztere zwar äuûerlich ¹moralischª geben, der Sache nach aber an ¹Reputationª126 orientiert sind.

125 126

Dazu oben zu Fn. 49 ff. Dazu oben zu Fn. 111.

Klaus Thomalla (Bochum)

Zur Kritik an einer rechtsethischen Engführung der Bioethik als Paradigma einer Nutzenkultur 1. Die rechtsethische Engführung aus der Perspektive einer Nutzenkultur oder: Die Gleichsetzung der Rechtsethik mit einer als liberal verstandenen bioethischen Position Häufig kritisieren liberale bioethische Positionen restriktiv vorgehende Ansichten und berufen sich dabei auf die Säkularität des Staates. Vertreter einer liberalen moralischen Auffassung glauben sich im Vorteil: Ihr entscheidendes Argument lautet, in einem säkularen Staat sei es nicht zulässig, staatliche Maûnahmen auf Begründungen zu stützen, die nur dann nachvollziehbar sind, wenn man die jeweilige religiös-weltanschauliche oder metaphysische Prämisse teilt1. Diese Argumentationsstrategie soll ± wie noch zu zeigen ist ± letztlich dazu dienen, solche Positionen von vornherein als irrelevant aus dem moralphilosophischen Diskurs zu exkludieren, die über eine ¹Minimalmoralª hinausgehen2. In dieser Weise verfahren zum Beispiel Reinhard Merkel und Norbert Hoerster.

1 Das bemerkt zutreffend Stefan Huster, ¹Bioethik im säkularen Staat. Ein Beitrag zum Verhältnis von Rechts- und Moralphilosophie im pluralistischen Gemeinwesenª, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 55 (2001), 2, 258±276; 263. 2 Dabei bleibt der Begriff der Minimalmoral allerdings umstritten; denn was für den einen noch unter ein solches minimalistisches Verständnis von Moral fallen mag, liegt für den anderen schon jenseits der Moral; dazu noch genauer unter 1 a).

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a) Die Unterscheidung zwischen Rechtsethik und Moralphilosophie: Zur Bedeutung einer Problemverschiebung Zunächst erkennt Merkel christliche Morallehren als ¹Mitbewerber im Wettstreit um die besseren Argumenteª an und konzediert sogar, ¹daû sie in solcher Gestalt die Kompetenz eines über Jahrhunderte betriebenen profunden Räsonnements mitbringenª3. Gerade auf diese könne ± wie Merkel hinzufügt ± der allgemeine ethische Diskurs der Gesellschaft ¹nicht ohne Nachteilª verzichten. Sobald sie aber als religiöses Bekenntnis ernst genommen werden wollen, unterlegten sie ihren Morallehren ein Fundament, ¹das in einer säkularisierten und längst aus unterschiedlichen Kulturkreisen und Religionen zusammengesetzten Gesellschaft nicht mehr verbindlich zu machen istª. Nun fügt Merkel zutreffenderweise hinzu, daû damit noch nichts über die Fehlerhaftigkeit oder Unvernunft der so fundierten Normen gesagt ist, ja, er stellt sogar ¹in ihren Inhaltenª eine Identität mit den Normen einer säkular begründeten Ethik fest. Allerdings bleibt es dabei, daû der Modus ihrer Begründung nicht verallgemeinerbar und daher untauglich sei, um die Grundlage einer verbindlichen Sozialethik zu liefern. Nun heiût es: ¹Als Grundlage rechtlicher Regelungen sind solche Begründungsweisen von Verfassungs wegen ausgeschlossenª4. ± Was ist an dieser Argumentation bemerkenswert? Es läût sich eine Problemverschiebung erkennen: Aus der genuin moralischen Frage, ob bioethisch problematische Sachverhalte wie Sterbehilfe, Forschung an menschlichen embryonalen Stammzellen, pränatale Diagnostik etc. moralisch vertretbar sind, wird die Frage, ob das staatliche Recht diese Verhaltensweisen verbieten darf5, wenn es auf einmal um die ¹Grundlage rechtlicher Regelungenª6 geht. Damit gelangen wir von einem zunächst moralphilosophischen Standpunkt zur Perspektive einer Rechtsethik, der es auf ein strafrechtliches Verbot oder eine sonstige staatliche Einschränkung des infragestehenden Verhaltens ankommt7. Mag es sich bei 3 Vgl. Reinhard Merkel, Forschungsobjekt Embryo. Verfassungsrechtliche und ethische Grundlagen der Forschung an menschlichen embryonalen Stammzellen, München 2002, 17. 4 Zum Ganzen siehe ebd. (Hervorh. von mir; stammen Hervorhebungen in Zitaten von mir, weise ich im folgenden stets darauf hin). 5 Vgl. dazu Huster, ¹Bioethik im säkularen Staatª, 264. 6 Merkel, Forschungsobjekt Embryo, 17.

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der Embryonenforschung um eine ¹von vielen als moralisch anstöûig erlebte Praxisª handeln, so ist eine davon zu unterscheidende Frage, ¹inwieweit es unter rechtsethischen Gesichtspunkten vertretbar scheintª, eine solche Praxis ¹mit strafrechtlichen Mitteln staatlich zu verbieten oder einzuschränkenª8. Das Entscheidende: Die moralische Anstöûigkeit eines Verhaltens läût sich eher annehmen als dessen Pönalisierung, die eine wesentliche Freiheitseinschränkung der Rechtsunterworfenen bedeutet und daher einen Zwang zur Einigung voraussetzt, da rechtliche im Unterschied zu moralischen Normen ihren Geltungsanspruch stets an die Gesamtheit der Bürger richten9. Unstreitig scheint mir, daû der säkulare Staat, will er dem Neutralitätsgebot gerecht werden, darum bemüht sein muû, seine staatlichen Maûnahmen auf Erwägungen zu gründen, die allgemein nachvollziehbar sind, nicht dagegen auf eine intrinsische Bewertung, die in einer partikularen Konzeption des Guten fundiert ist10. Wenn es allein um eine Rechtsethik geht, die von vornherein darauf angelegt ist, einen Konsens zu erreichen und deswegen unter einem Einigungszwang steht, ist die Berufung auf das Neutralitätsprinzip zutreffend und für eine zu erreichende Einigung notwendig; zweifelhaft aber ist es meines Erachtens, wenn sich die angezeigte Problemverschiebung implizit unter der allgemein gehaltenen Überschrift ¹Moral und Begründung: Vorbemerkungenª11 findet und Merkel suggeriert, eine Moral, die von stärkeren Prämissen ausgeht und damit zu restriktiveren Ergebnissen kommt, 7 Vgl. zu dieser Definition des Begriffs ¹Rechtsethikª Dieter Birnbacher, ¹Ethische Probleme der Embryonenforschungª, in: Jan P. Beckmann (Hg.), Fragen und Probleme einer medizinischen Ethik, Berlin-New York 1996, 228±253; 246 ff. ± Freilich impliziert dieses Verständnis von Rechtsethik bereits eine Verengung des Begriffs, der ebenso extensiv verstanden werden kann: weniger auf die Frage bezogen, ob eine Handlung strafrechtlich zu sanktionieren ist, als vielmehr auf die Frage nach der Gerechtigkeit des Rechts, nach einem ¹rechtsexterne(n) ethische(n) Maûstab des positiven Rechtsª ausgerichtet; dazu: Dietmar von der Pfordten, Rechtsethik, München 2001, 1; 8; 55. ± Im folgenden wird es darum gehen, die Begriffsverengung im Blick auf die Bioethik mindestens teilweise zu hinterfragen und einen anderen Begriff der Rechtsethik zu entwickeln; vgl. besonders unter 3. 8 Vgl. zum Ganzen Birnbacher, ¹Ethische Probleme der Embryonenforschungª, 246. 9 Vgl. Huster, ¹Bioethik im säkularen Staatª, 268. 10 Vgl. Stefan Huster, Die ethische Neutralität des Staates. Eine liberale Interpretation der Verfassung, Tübingen 2002, 664. 11 Merkel, Forschungsobjekt Embryo, 15.

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sei a priori problematisch und letztlich für den bioethischen Diskurs, wenn überhaupt, dann nur begrenzt ernst zu nehmen12. Daû es Merkel um eine Rechtsethik zu tun ist, wird ersichtlich, wenn er als Beispiel eine Position erwähnt, welche ¹die Norm eines grundrechtlichen Schutzes von Leben und Würde bereits des frühesten Embryos mit der theologischen Lehre von der Gottesebenbildlichkeit alles menschlichen Lebens begründetª13. Eine solche Form des Argumentierens sei ¹für die gegenwärtige gesellschaftliche Diskussion irrelevant14 und für die rechtspolitische unzulässigª; das bezieht sich auf religiös-weltanschauliche Positionen wie auch auf solche Begründungen, die zwar in ¹rationale(r) Gestaltª auftreten, dennoch aber einen ¹stillschweigenden Rückgriff auf rein religiöse Grundlagenª voraussetzen15. Wir können also festhalten, daû der Unterschied zwischen einer Rechtsethik und einer Moralphilosophie wesentlich ist, um Positionen gerecht zu werden, die ein minimalistisches Verständnis von Moral überschreiten. Dazu muû die Problemverschiebung, auf die ich oben hingewiesen habe, kenntlich gemacht werden. Dies gilt zumal dann, wenn man bedenkt, daû liberale Theorien oftmals eine in ihrer Restriktion künstliche Moral beschreiben, deren Künstlichkeit daher rührt, daû sie auf einen Kernbestand moralischer Regeln zugespitzt ist und in dieser Zuspitzung dem Selbstverständnis einer Vielzahl von Menschen gerade nicht entsprechen 12 Vgl. dazu Merkel, Forschungsobjekt Embryo, 127: ¹Wer (. . .) Handlungen vorrangig oder ausschlieûlich ideal-, wert- oder prinzipienorientiert beurteilt und wer auûerdem die dabei vorausgesetzten Werte christlich-religiös fundiert und ihnen so die Dignität göttlicher Gebote beilegt, der kann von meinen nachfolgenden Argumenten nicht überzeugt und in seiner Position nicht widerlegt werdenª (Hervorh. von mir). ± Obgleich Merkel einen solchen Standpunkt achten will (vgl. ebd.), scheint er ihn für die Auseinandersetzung doch als kaum relevant anzusehen. 13 Merkel, a. a. O., 18; Hervorh. von mir. 14 Zu bedenken ist jedoch: Eine religiöse Metapher kann auch für den ¹religiös Unmusikalischenª Relevanz haben; vgl. Jürgen Habermas, Glauben und Wissen. Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2001, Frankfurt am Main, 2. Auflage 2002, 30 f.: Man müsse nicht an die theologischen Prämissen glauben, ¹um die Konsequenz zu verstehen, daû eine ganz andere als kausal vorgestellte Abhängigkeit ins Spiel käme, wenn die im Schöpfungsbegriff angenommene Differenz verschwände und ein Peer an die Stelle Gottes träte ± wenn also ein Mensch nach eigenen Präferenzen in die Zufallskombination von elterlichen Chromosomensätzen eingreifen würde, ohne dafür einen Konsens mit dem betroffenen Anderen wenigstens kontrafaktisch unterstellen zu dürfenª (31). ± Habermas nimmt die Bedeutung der religiösen Vorstellung ernst, wogegen Merkel sie als rein religiös einordnet, um sie dadurch eher ausschlieûen zu können, was eine mögliche gesellschaftliche Relevanz betrifft. 15 Vgl. Merkel, Forschungsobjekt Embryo, 18; Hervorh. von mir.

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wird16. Insofern entsteht die ¹Gefahr, die Moral als spezifisches Phänomen aufzulösenª17, die daraus erhellt, daû es sich bei diesen Theorien einer ¹Minimalmoralª nicht um eine Moralphilosophie handelt, sondern, was ihr Ziel der Orientierung nach verallgemeinerbaren rechtlichen Regeln betrifft, um eine Rechtsphilosophie18. Ein weiterer Punkt erscheint an den Merkelschen Überlegungen fragwürdig; es entsteht nämlich der Eindruck, im säkularen Staat seien allein solche Argumentationen vertretbar, die nicht nur dem Neutralitätsgebot entsprechen, sondern in eins damit auch eine liberale bioethische Position verfechten, die auf eine für den Fortschritt offene Haltung in der Biomedizin hinausläuft. Die staatliche Zurückhaltung und die Berufung darauf scheint mithin auch im Ergebnis eben diejenigen ethischen und moralischen Überzeugungen zu privilegieren, welche die Vertreter einer liberalen Auffassung sich ohnehin zu eigen gemacht haben19: Wer nicht der Meinung ist, daû etwa Sterbehilfe, Forschung an menschlichen embryonalen Stammzellen oder Präimplantationsdiagnostik ethisch problematisch sind und daraus schlieût, daû ihr Verbot eine Begründungsleistung erforderlich macht, nicht dagegen ihre Erlaubnis, hat es leicht, zumindest auch unter der Berufung auf das Neutralitätsgebot, eine staatliche Regelung zu fordern, die von sämtlichen Bedenken absieht, welche beispielsweise als ¹metaphysischª qualifizierte Ansichten an dieser Stelle geltend machen. Zu kritisieren ist mithin ± um diesen Gedanken noch einmal zusammenzufassen ± nicht eine rechtsethische Engführung als solche, die notwendig ist, um rechtliche Regelungen zu schaffen; kritisch zu betrachten ist eine rechtsethische Engführung jedoch dann, wenn sie nicht nur auf eine säkulare Begründung abzielt, sondern auch vom Ergebnis her die Identität einer liberalen bioethischen Auffassung mit einer im säkularen Staat zu treffenden Regelung anzunehmen scheint.

16

Vgl. Huster, ¹Bioethik im säkularen Staatª, 269 f. So mit Bezug zur Diskursethik Adela Cortina, ¹Ethik ohne Moral. Grenzen einer postkantischen Prinzipienethik?ª, in: Karl-Otto Apel/Matthias Kettner (Hg.), Zur Anwendung der Diskursethik in Politik, Recht und Wissenschaft, Frankfurt am Main 1992, 278±295; 278. 18 Vgl. Huster, ¹Bioethik im säkularen Staatª, 270. 19 Vgl. Huster, Die ethische Neutralität des Staates, 669. 17

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b) Ein Primat des Überlebensinteresses als Maûstab der Normbegründung? Eine ähnliche Argumentationsstrategie findet sich in den Schriften von Norbert Hoerster, die ihre Absicht, die Säkularität des Staates zum Prinzip zu erklären, schon im Titel erkennen lassen20. Im Hinblick auf die Frage nach dem Beginn des Menschenrechts auf Leben geht er folgendermaûen vor: Nachdem er zwei Begründungsweisen ± diejenige, die auf das religiöse Menschenbild des Christentums rekurriert, und diejenige, die metaphysischer Art ist ± verworfen hat21, kommt er zu der von ihm präferierten Begründung: derjenigen, die sich an Interessen orientiert. Sie mache ¹jede Nothilfe durch die metaphysische Begründungsweise überflüssigª und allein sie komme ¹ohne alle weltanschaulichen und metaphysischen Voraussetzungen ausª22. Die These: Einzig das menschliche Überlebensinteresse stelle ¹einen guten Grundª dar, Lebewesen das Recht auf Leben einzuräumen23. Auch hier entsteht der Eindruck, daû die Position von Hoerster bereits dadurch einen Rationalitätsvorsprung hat, daû die beiden anderen Positionen mit ihren weltanschaulichen Begründungen und ihren restriktiven Ergebnissen in bezug auf die biomedizinische Forschung als nicht nachvollziehbar marginalisiert werden. Doch auch Hoerster erkennt nicht, daû die Verwerfung einer Begründung nicht zwingend dazu führen muû, gleichfalls das damit angezielte Ergebnis als abwegig zu betrachten. Bedenkt man dies, ist es keineswegs ausgemacht, Hoerster darin zu folgen, die metaphysische Position auch in ihrem restriktiven Ergebnis abzulehnen. Er räumt ein, seine eben genannte These sei nicht ohne Konsequenz für den Beginn des Menschenrechts auf Leben: dieses könne erst von der Geburt an zugestanden werden24; denn erst ab diesem Zeitpunkt liege ein Überlebensinteresse vor25. ± Was aber heiût 20 Siehe Norbert Hoerster, Abtreibung im säkularen Staat. Argumente gegen den § 218, Frankfurt am Main 1991; ders., Sterbehilfe im säkularen Staat, Frankfurt am Main 1998. 21 Vgl. Norbert Hoerster, Ethik des Embryonenschutzes. Ein rechtsphilosophischer Essay, Stuttgart 2002, 66±70. 22 Hoerster, a. a. O., 70. 23 Vgl. Hoerster, a. a. O., 77. 24 Vgl. ebd. 25 Vgl. Hoerster, a. a. O., 92.

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¹Überlebensinteresseª? Darunter versteht Hoerster ¹ein Interesse besonderer Art, das auch ein Bewuûtsein besonderer Artª voraussetze, nämlich ein Ichbewuûtsein26. Er macht nun im Falle von Kleinkindern insofern eine Ausnahme, als daû der Grund, das Lebensrecht zuzugestehen, nicht ausschlieûlich die Sicherung des eigenen Interesses am Überleben sein muû; es reicht auch ¹fremde(s) Überlebensinteresseª aus. Bemerkenswert ist, daû Hoerster an dieser Stelle konzediert, Menschen hätten ¹häufig zumindest ein gewisses altruistisches Interesse daran, daû auch ihre Mitmenschen jedenfalls in ihren ganz elementaren Interessen (wie dem Überlebensinteresse) Schutz genieûenª27. In diesem Zusammenhang erwähnt er einen Gedanken, der wesentlich ist, weil er später im Rahmen des Konzepts einer Normkultur relevant wird28: Wenn eine Gesellschaft nicht von vornherein jedem Individuuum mit einem eigenen Überlebensinteresse das Recht auf Leben zugestehe, ¹kann letzten Endes niemand sicher sein, daû eines Tages nicht auch eine jener Minderheiten, denen er selber angehört ± und jedermann gehört in dieser oder jener Hinsicht gewissen Minderheiten an ±, diskriminiert wirdª29. Freilich sieht Hoerster nicht, daû er von diesem ¹Prinzip der Zivilitätª30 ± das darin besteht, den Selbstschutz des einzelnen gegen den Schutz durch das Kollektiv einzutauschen ± schon dadurch abzukommen droht, daû er die Anforderungen an das sogenannte Überlebensinteresse so hoch gestellt hat, daû sämtliche Wesen, denen das postulierte Ichbewuûtsein fehlt, nur dann noch vom Gesetzesschutz umfaût sind, wenn er eine Ausnahme von seinem Prinzip des Überlebensinteresses zuläût, indem er plötzlich ¹ein gewisses altruistisches Interesseª31 einführt, bei dem man sich fragt, warum es sich nicht schon auf den Embryo richten können soll; zumal dann, wenn auf einmal ± im Falle von Kleinkindern etwa ± das Erfordernis des Ichbewuûtseins und des eigenen Über26

Vgl. Hoerster, a. a. O., 88. Zum Ganzen Hoerster, a. a. O., 80 f.; Hervorh. von mir. 28 Siehe unter 3 c). 29 Vgl. Hoerster, Ethik des Embryonenschutzes, 81. 30 Dazu: Eduard Picker, ¹Vom ¸Zweck der menschlichen Würde. Ein Diskussionsbeitragª, in: Walter Schweidler/Herbert A. Neumann/Eugen Brysch (Hg.), Menschenleben ± Menschenwürde. Interdisziplinäres Symposium zur Bioethik, MünsterHamburg-London 2003, 197±216; 213. 31 Hoerster, Ethik des Embryonenschutzes, 80. 27

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lebensinteresses durch dieses altruistisch motivierte Fremdinteresse kompensiert werden kann. Würde Hoerster diesem Einwand damit begegnen, Embryonen könnten nun einmal kein eigenes Überlebensinteresse haben, wäre dies nicht überzeugend; denn es geht hier nicht mehr um das Überlebensinteresse der Begünstigten (der Embryonen), sondern um dasjenige der Verpflichteten (um das altruistisch motivierte Fremdinteresse zugunsten der Embryonen). Warum sollte gerade dieses altruistische Fremdinteresse daran gebunden sein, daû die durch dieses Begünstigten (die Embryonen) zukunftsbezogene Wünsche und Ichbewuûtsein ausbilden können? Dies mag nicht undenkbar sein; zwingend ist es jedoch nicht. Ebenso lieûe der Altruismus ein Fremdinteresse zu, das sich auf die zu erwartende in der Zukunft liegende Ausbildung von Überlebensinteressen richtet und das dann dazu führen würde, dem Embryo ein Menschenrecht auf Leben zuzugestehen32. Noch ein weiterer Einwand ist zu erwähnen: Hoerster möchte bei seinem Konzept ¹eine rein dogmatische Setzungª vermeiden, die er bei weltanschaulichen oder metaphysischen Ansichten annimmt33. ± Ist aber sein Primat des Überlebensinteresses als ausschlaggebende Norm für den Lebensschutz wirklich keine Setzung? Er fragt, was an der von ihm begründeten Moralnorm weltanschaulich sei und antwortet: ¹Wenn es bereits weltanschaulich ist, daû Menschen ein Interesse am Überleben oder an zutreffenden Informationen haben und diese Interessen zweckmäûigerweise durch die Förderung der Geltung bestimmter Normen schützenª, dann wäre jede ¹empirische Feststellung über Ziele, die Menschen haben, und über geeignete Mittel zur Erreichung dieser Ziele (. . .) so gesehen eine Sache der Weltanschauungª34. Hoerster rekurriert auf ¹empirisch bedingte, gleich gerichtete Interessenª, um der weltanschaulich pluralistischen Gesellschaft zu entsprechen; die Menschen könnten sich eher auf identische Moralnormen einigen, wenn man solche Interessen zugrundelegt35. Doch übersieht er, worum es an dieser Stelle geht: In der Tat ist es nicht schon Ausdruck einer Weltanschauung, daû Menschen 32 Zum Ganzen vgl. zutreffend: Michael Pawlik, ¹Kein Zutritt für Ungeboreneª, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 19. März 2002, L 22. 33 Vgl. Hoerster, Ethik des Embryonenschutzes, 86. 34 Hoerster, Ethik und Interesse, Stuttgart 2003, 213. 35 Vgl. Hoerster, a. a. O., 217.

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ein Interesse am Überleben haben und alles daran setzen, dieses zu schützen; weltanschaulich wird diese Haltung aber, wenn man es zur Norm erhebt, daû der Schutz eines Wesens von der Möglichkeit abhängig gemacht wird, ein Überlebensinteresse zu haben. Auf diese Weise werden Kriterien und Leitbegriffe festgesetzt, wie dies jede metaphysische oder weltanschauliche Position unternimmt; nur daû diese meist eine Norm eingeführt hat, deren Schutzraum extensiv ist, wogegen Hoerster durch seine Kriterien des Überlebensinteresses und des Ichbewuûtseins den Schutzraum begrenzt. Mithin ist eine Position wie die von Hoerster nicht weniger weltanschaulich als eine metaphysische, nur daû sie andere Leitbegriffe verwendet und für die Bestimmung des Rechts auf Leben einschneidende negative Konsequenzen hat. Dabei ist zu beachten, daû der Staat, würde er auf Hoersters Position rekurrieren, sich keineswegs weltanschaulich neutral verhielte, sondern ± gesetzt, die Dinge stünden so ± eine interessenorientierte Position verträte und damit gegen eben den Grundsatz verstieûe, den doch die sich als liberal gebende Variante der Rechtsethik angemahnt hat: das Prinzip der Neutralität36. Hoerster geht über die Auffassung von Merkel noch hinaus, indem er einen von ihm kritisierten Konnex herstellt zwischen der Berufung auf die Menschenwürde und einem religiösen oder weltanschaulichen Menschenbild, welches bestimmte ethische Postulate hat: Weil die offene Berufung auf ein religiöses Konzept keine Überzeugungskraft besitze, wende man die Menschenwürde als ¹argumentative Waffeª an, um seine letztlich weltanschaulichprivaten Postulate auch gesellschaftlich durchzusetzen37. Nunmehr lautet die Frage: ¹Mit welchem Recht macht ein säkularer Staat verdeckt religiöse Glaubensannahmen zur Basis strafrechtlicher Verbote?ª38 Anders gesagt: Hoerster sieht in der Berufung auf die Menschenwürde ein verdecktes Manöver, um die jeweilige private Weltanschauung zur Geltung zu bringen. Sein Urteil erstaunt mithin nicht: Die Menschenwürde helfe ¹bei einer rationalen Erörte-

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Siehe unter 1 a). Vgl. Hoerster, Ethik des Embryonenschutzes, 23 f.; siehe auch ders., Abtreibung im säkularen Staat, 161: ¹Man behauptet, die vorgegebene Menschenwürde des Fötus zu schützen ± und macht sich nicht klar, daû hinter dieser ¸Menschenwürde allenfalls die religiöse Glaubensannahme der ¸Gottebenbildlichkeit steht.ª 38 Hoerster, Abtreibung im säkularen Staat, 126. 37

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rung und Lösung rechtsethischer Problemeª nicht weiter39; ihr Begriff, wenngleich nicht ihr Inhalt, sei daher verzichtbar40. Im vorliegenden Beitrag geht es darum zu begründen, daû es sich bei diesem Verständnis der Menschenwürde um ein Vorurteil handelt. Vor allem wird sich dieser Nachweis darauf beziehen, den von Hoerster vielfach behaupteten Konnex zwischen Menschenwürde und religiöser Weltanschauung in Frage zu stellen. Daû die Idee der Menschenwürde theologische Implikationen enthält41, wird nicht bestritten, wohl aber, daû dieser Konnex zwingend ist. Es scheint sich dabei vielmehr um eine Argumentationsstrategie zu handeln, die den Begriff der Menschenwürde im Sinne eines Signums der Normkultur unter dem Hoersterschen Primat des Interesses marginalisieren will, so daû er den Begriff der Menschenwürde daraufhin um so leichter als irrelevant herausstellen kann. Damit ist der wesentliche diametrale Gegensatz genannt: Die Idee einer Normkultur besteht darin, daû es uns verboten ist, ¹irgendeinen Angehörigen der Menschheit daraufhin zu beurteilen, ob sein Leben es ¸wert ist, gelebt zu werden oder ob es für anderes menschliches Leben zu opfern oder zu instrumentalisieren seiª42. Folglich stellt sie das infrage, was als Nutzenkultur umschrieben werden kann und wofür die zumindest implizite Annahme steht, ¹daû es nur eine bestimmte ¸Qualität des menschlichen Lebens ist, die es schützens- und respektierenswert machtª43 ± wie es anhand der Positionen von Merkel und Hoerster vergegenwärtigt worden ist44. 39

Vgl. Hoerster, Ethik des Embryonenschutzes, 25. Vgl. Hoerster, a. a. O., 27. 41 Dazu: Christoph Enders, Die Menschenwürde in der Verfassungsordnung. Zur Dogmatik des Art. 1 GG, Tübingen 1997, 176±184. 42 Walter Schweidler, ¹Vorwort. Bioethik zwischen Norm- und Nutzenkulturª, in: Oliver Tolmein/Walter Schweidler (Hg.), Was den Menschen zum Menschen macht. Eine Gesprächsreihe zur Bioethik-Diskussion, Münster-Hamburg-London 2003, 1±10; 6. 43 Schweidler, ¹Vorwortª, 7. 44 Instruktiv zur Unterscheidung zwischen prinzipienorientierter und bedürfnisbzw. interessenorientierter Ethikbegründung ± oder mit der hier verwendeten Terminologie: zwischen Norm- und Nutzenkultur ± ist eine Diskussion zwischen Ludger Honnefelder und Reinhard Merkel: Gregor Damschen/Dieter Schönecker, ¹Verletzungsverbot oder Menschenwürde? Ludger Honnefelder und Reinhard Merkel über ihre Grunddifferenzen in der Beurteilung des moralischen Status von Embryonenª, in: Information Philosophie, Juni 2003, Heft 2, 118±124: Während Honnefelder von der Menschenwürde ausgeht, legt Merkel ein Verletzungsverbot zugrunde, von dem aus er dann ¹zu etwas wie der Zuschreibung von Menschenwürdeª kommt (vgl. 119). Daraus 40

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c) Fazit Gezeigt werden muû demnach, daû ein restriktives Ergebnis ebenso mit einer Begründung vertreten werden kann, die dem Gedanken der Neutralität gerecht zu werden vermag. In gewisser Weise wäre damit zumindest der Vorbehalt auch einer metaphysisch argumentierenden Position rehabilitiert; denn sie hätte zwar auf Begründungsprämissen zurückgegriffen, die im säkularen Staat nicht verallgemeinerbar sind, doch hätte sie die ethische Sensibilität im Hinblick auf das jeweilige biomedizinische Problem bewahrt, die empirisch-naturwissenschaftlich vorgehende Ansichten längst aufgegeben haben, weil deren Perspektive eingeschränkt ist: sei es durch den verengten Blick auf die Verallgemeinerbarkeit im säkularen Staat, der eine solche Meinung nur zu entsprechen glaubt, indem sie sich einer liberalen Position verschreibt, oder aber durch den auf den Heilerfolg beziehungsweise Forschungserfolg begrenzten Blick der Medizin oder der Biologie. Der Horizont einer derart vorgehenden Perspektive ist notwendigerweise beschränkt: Es spiegelt sich das Denken einer Nutzenkultur wider, die so verfährt, um das zur Lösung ihrer Probleme hilfreiche Paradigma zu bilden45. Damit klammert sie jede dieses transzendierende Fragestellung nach einer ethischen Beurteilung von Handlungen aus und ist ± durch die ihr vorgegebene Aufgabe ± gezwungen, dies zu tun46. resultiert schlieûlich der unterschiedliche Schutz des Embryos: absoluter Schutz nach der Normkultur einerseits (vgl. 124), relativer (relativ zu den jeweiligen Bedürfnissen und Interessen) Schutz (Solidaritätspflicht) nach der Nutzenkultur andererseits (vgl. 122). 45 Vgl. beispielhaft John Harris, The Value of Life. An introduction to medical ethics, London/New York 1985; dt. Der Wert des Lebens. Eine Einführung in die medizinische Ethik, hg. von Ursula Wolf, Berlin 1995, 189: ¹Moralische Einwände gegen nützliche Eingriffe an Wesen (auch an menschlichen Wesen), die keine Personen sind und die nicht unter diesen Eingriffen leiden, sind Einwände gegen die Nebenwirkungen oder äuûerlichen Eigenschaften solcher Eingriffe, nicht aber Einwände gegen diese Eingriffe als solcheª (Hervorh. von mir). 46 Siehe Thomas Sören Hoffmann, ¹Wer will unter die Piraten? Menschenwürde nach Hubert Markl: Freiheit an der Grenze zur Freibeutereiª, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 23. August 2001, 42. ± Dort nennt er das hier beschriebene Phänomen treffend die ¹perspektivische Unsichtbarkeit der Menschenwürdeª: Es gebe methodenbedingt in den Einzelwissenschaften stets eine bestimmte Weise, die Welt zu sehen, ¹bei der uns absolut nichts Derartiges wie Menschenwürde entgegenschautª. Damit zielt er auf ¹eine nüchterne Feststellungª, nicht auf eine Kritik an den Wissenschaften (vgl. ebd.).

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Was anderes als eine Weltanschauung liegt hinter diesem Vorgehen? ± Es ist eine Weltanschauung, die Züge einer instrumentellen Rationalität trägt, wenn sie allein Bedürfnisse und Interessen zur Grundlage einer subjektiven Verletzbarkeit sowie dadurch zur Bedingung der Möglichkeit eines moralischen und rechtlichen Schutzstatus erklärt und in letzter Konsequenz Güterabwägungen vornimmt, die sich danach richten, wie die Frage nach der subjektiven Verletzbarkeit beantwortet worden ist47. Problematisch daran ist nicht, daû Bedürfnisse und Interessen in die moralische Beurteilung mit einflieûen, sondern daû sie nicht selbst noch einmal anhand eines Fundamentalprinzips ± wie der Menschenwürde ± überprüft werden48. Den Primat dieser Weltanschauung zu behaupten, ohne zu sehen, daû man sich damit einer Nutzenkultur unterwirft, ist ebenso unkritisch wie die Verabsolutierung einer metaphysisch-religiös begründeten Ontologie49. Wenn eine rechtsethische Engführung zumindest implizit davon ausgeht, allein eine Minimalmoral könne ausschlaggebend für das Recht sein, läût sie nur eine Beeinflussung rechtlicher Regelungen zu: diejenige durch liberale Bioethikkonzepte. Was aber ist mit Konzepten, die auf eine Begrenzung der Biomedizin abzielen und oftmals moralisch weitergehende Prämissen vertreten?

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Vgl. Merkel, Forschungsobjekt Embryo, 123 ff.; 135 f. So der Einwand von Honnefelder in: Damschen/Schönecker, ¹Verletzungsverbot oder Menschenwürde?ª, 119. 49 Möglicherweise sogar unkritischer; denn eine solch angeblich ¹liberaleª Position beschränkt unsere Schutzpflichten gegenüber menschlichen Embryonen, und zwar unabhängig davon, ob man diese als menschliche Lebewesen oder als Personen betrachtet; vgl. dazu Dietmar Mieth, Die Diktatur der Gene. Biotechnik zwischen Machbarkeit und Menschenwürde, Freiburg im Breisgau 2001, 98 f.: ¹Wenn wir also auch davon ausgehen, daû unsere Schutzpflichten für frühe menschliche Lebewesen nicht auf kategorischen Argumenten beruhen, wie sie dem Schutz von Personen zukämen, dann dürfen wir nicht übersehen, daû auch ein Zusammenwirken verschiedener Argumente eine strikte ethische Hemmung erzeugen kannª (Hervorh. von mir). Daraus resultiert die Überzeugung, ¹daû dieses Zusammenwirken (scil. verschiedener Argumente; K. T.) durchaus zu dem moralischen Ergebnis führt: Embryonen und Föten sind mit der Kraft von Gesetzen zu schützenª (Hervorh. von mir). 48

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2. Die moralphilosophische Korrektur aus der Perspektive einer Normkultur oder: Die Infragestellung der rechtsethischen Engführung Was wäre verloren, wenn eine ± im zuvor genannten Sinne gemeinte ± rechtsethische Engführung der bioethischen Debatte gelten würde und tatsächlich moralphilosophisch voraussetzungsreichere Ansichten die Chance nicht hätten, als relevante Gesprächspartner ernst genommen zu werden? ± Dies soll anhand der Position von Robert Spaemann gezeigt werden, die einer Perspektive zuzurechnen ist, welche eine Normkultur im bereits definierten Sinne vertritt.

a) Personsein als Anerkennung eines unbedingten Anspruchs, der von jemandem ausgeht Spaemann zufolge bedeutet die Anwendung des Personbegriffs auf Individuen die Anerkennung eines bestimmten Status: desjenigen der ¹Unantastbarkeitª50. Personen stehen in einer wechselseitigen Beziehung zueinander, die auf Anerkennung beruht, doch ist diese nicht Bedingung für das Personsein, sondern sie ist Antwort auf einen unbedingten Anspruch, ¹der von jemandem ausgehtª51. Der Anspruch wird anerkannt aufgrund gewisser Artmerkmale, aber es kommt nicht auf das tatsächliche Vorhandensein dieser Merkmale an, sondern nur darauf, einer Art anzugehören, ¹deren typische Exemplare über diese Merkmale verfügenª52. Wenn ich den Status als Person anerkenne, so drücke ich damit schon meine Achtung in der besonderen Weise aus, ¹wie Personen einander gegeben sindª53. 50 Vgl. Robert Spaemann, Personen. Versuche über den Unterschied zwischen ¸etwas und ¸jemand, Stuttgart, 2. Auflage 1998, 25; sowie ders., ¹Gezeugt, nicht gemachtª, in: Die Zeit vom 18. Januar 2001, in: Zeit-Dokument 1 (2002), 71±74; 74; ders., ¹Habermas über Bioethikª, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 50 (2002) 1, 105±109; 109. 51 Spaemann, Personen, 11. 52 Ebd.; Hervorh. von mir. 53 Spaemann, a. a. O., 193.

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Die so charakterisierte Achtung ist deswegen ¹ein Paradoxª, weil sie gerade keine Rezeptivität auf seiten des Anderen voraussetzt, die Bedingung dafür wäre, daû dieser als Person wahrgenommen werden kann54. Denn wie sollten die Rezeptionskriterien aussehen? Würde es sich bei einer solchen Setzung nicht bereits um eine Vergegenständlichung des mir gegenüberstehenden Anderen handeln? Dagegen, so Spaemann, ist Personsein allein ¹in einem gewissen sympathetischen Mitvollzugª55 gegeben. Wenn ich jemanden als Person anerkenne, verzichte ich darauf, ihn meinen Interessen, Bedingungen und Erwartungen unterzuordnen, kurz: ihn zu vergegenständlichen56. Es ist diese Selbstzweckhaftigkeit, die sich im derart skizzierten Verständnis der Person widerspiegelt57: Die Frage, ob jemand Eigenschaften erfüllt, ist hiernach schon falsch gestellt und entspricht dem Personsein gerade nicht58. Weil die Anerkennung von Personen bedeutet, einem unbedingten Anspruch zu folgen, wäre es widersprüchlich, zwar eine Unbedingtheit anzunehmen, dann aber doch auf empirische Voraussetzungen zu rekurrieren, die letztlich hypothetisch und willkürlich sind59. Ebensowenig geht es einfach um die Begründung des Personseins mit dem ¹rein biologische(n) Faktumª60 der Zugehörigkeit zur Menschheit. Für Spaemann entscheidend ist, daû das Biologische vom Personalen nicht zu trennen ist; die ¹fundamentalen biologischen Funktionen und Bezüge sind beim Menschen nicht etwas Apersonales, sondern sie sind spezifisch personale Vollzüge und Relationenª61.

54 55 56 57 58 59 60 61

Vgl. Spaemann, a. a. O., Ebd. Vgl. Spaemann, a. a. O., Vgl. Spaemann, a. a. O., Vgl. Spaemann, a. a. O., Vgl. Spaemann, a. a. O., Spaemann, a. a. O., 255. Ebd.

193. 197. 198. 253. 262.

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b) Der transzendentale Begriff der Menschenwürde Und eben diese Definition des Personseins spiegelt sich in Spaemanns Verständnis der Menschenwürde und der Menschenrechte wider: Entweder man versteht sie als Anspruch, der jedem Menschen aufgrund seines Seins, seiner Zugehörigkeit zur Spezies homo sapiens zukommt, oder es sind Ansprüche, die man sich gegenseitig einräumt; letzteres käme einer ¹Kooptationª62 gleich, bei welcher es ¹im Belieben der Schöpfer eines Rechtssystems liegt, worin diese Ansprüche bestehen und wie der Kreis der Anspruchsberechtigten limitiert wird, wer also ¸Mensch im Sinne des Gesetzes ist und wer nichtª63. Würde man Spaemann den Einwand des Speziesismus entgegenhalten, träfe dies den Kern seiner Argumentation nicht: Erstens ist es nicht die Biologie des Menschen, auf welcher die Anerkennung subjektiver Rechte basiert, sondern das normative Verständnis des Personseins und die normative Bedeutung der besonders schutzwürdigen Eigenschaften, die typischerweise bei der Gattung vorkommen64. Es ist die Möglichkeit der Person, ihre eigenen Interessen zu relativieren und dadurch ¹potentiell sittliches Wesenª zu sein, die sie ¹zum absoluten Selbstzweckª werden läût65. Und zweitens: Zwar verwendet Spaemann den platonischaristotelischen Gedanken der Realität des Allgemeinen, nach dem das, was sich bei einer Spezies im allgemeinen zeigt, auch im einzelnen gelten müsse, doch ist in seinem Konzept letztlich ¹eine transzendental-pragmatische Überlegungª für eine Argumentation wesentlich, die im rechtsethischen Kontext noch näher erläutert wird66: Wenn erst eine Kooptation durch andere nach Eigenschaften zur Mitgliedschaft in der menschlichen Gesellschaft führen würde, so wäre es der Willkür anderer überlassen, ¹diejenigen Eigenschaften zu definieren, aufgrund deren jemand Menschenwürde besitzt und Menschenrechte beanspruchen darfª, was in letzter 62

Zum Begriff vgl. Spaemann, a. a. O., 208 und öfter. Robert Spaemann, ¹Über den Begriff der Menschenwürdeª, in: ders., Grenzen. Zur ethischen Dimension des Handelns, Stuttgart, 2. Auflage 2002, 107±122; 108. 64 Das erkennt auch Merkel mit Blick auf die Spaemannsche Position; vgl. Merkel, Forschungsobjekt Embryo, 140. 65 Vgl. Spaemann, ¹Über den Begriff der Menschenwürdeª, 114. 66 Siehe unter 3 b) und c). 63

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Konsequenz den Gedanken des Menschenrechts überhaupt auflösen würde67. Freilich bleibt Spaemann dabei, daû der Gedanke der Menschenwürde und ihrer Unantastbarkeit seine ¹theoretische Begründungª erst in einer metaphysischen Ontologie, in einer Philosophie des Absoluten finde68. Wenngleich es problematisch wäre, diese letztgenannte Begründung zur Rechtfertigung rechtlicher Regelungen heranzuziehen, bedeutet das nicht, daû Spaemanns Auffassung insgesamt nicht innerhalb einer rechtsethischen Argumentation fruchtbar gemacht werden könnte69. So bezieht er selbst die eben an zweiter Stelle genannte transzendental-pragmatische Überlegung auf eine mögliche Normkultur in der Rechtsethik: Ein politisches System, welches die Ausgrenzung aus einem staatlichen Anerkennungsgefüge vornimmt, indem es beliebige qualitative Kriterien aufstellt, ¹verliert seinen rechtlichen Charakter und seinen Anspruch auf die Loyalität von Personenª70. Überhaupt erschiene es fragwürdig, Spaemanns Auffassung als ¹metaphysischª zu qualifizieren, um sie damit aus der bioethischen Debatte ausschlieûen zu können: Wenn er das Personsein mit dem Augenblick der Zeugung beginnen läût, so nicht, um eine ¹metaphysische These über eine unsterbliche Seeleª aufzustellen, sondern als ¹Ausdruck des Nichtwissensª71. Insgesamt spiegelt sich in seiner kategorischen Argumentation eine ¹Denkweiseª wider, die ± im Widerspruch zu einem Handlungsnominalismus ± auch rechtliche Handlungslegitimationen noch einmal kritisch überprüft. Ihre Prämisse: Totale Freiheit, die sich der Natur unvermittelt entgegensetzt, ist ¹illusionär und also selbst nur naturwüchsigª72. Auch der von Spaemann aufgenommene ¹transzendentale Begriffª der Menschenwürde kann mithin in einem rechtsethischen Konzept der Normkultur wesentliche Bedeutung erlangen: Weil er nicht ein spezifisches Menschenrecht bezeichnet, sondern ¹eine 67

Zum Ganzen: Spaemann, ¹Über den Begriff der Menschenwürdeª, 116. Vgl. Spaemann, a. a. O., 122. 69 Siehe dazu unter 3 b) und c). 70 Spaemann, Personen, 208. 71 Vgl. Robert Spaemann, ¹Die Herausforderung der Zivilisationª, in: Tolmein/ Schweidler (Hg.), Was den Menschen zum Menschen macht, 11±20; 16. 72 Vgl. Robert Spaemann, ¹Die Aktualität des Naturrechtsª (1973), in: ders., Philosophische Essays, Stuttgart, erweiterte Ausgabe 1994, 60±79; 78. 68

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Begründung von so etwas wie ¸Menschenrechten überhauptª enthält73, wäre es um so fragwürdiger, ihn an restriktive Voraussetzungen zu knüpfen. Dasjenige, was das Recht auf Menschenrechte begründet, kann nicht selbst noch einmal restringiert werden, sonst würde es schon seinem Wesen widersprechen, weil es dann schon nicht mehr die Grundlage ¹von so etwas wie ¸Menschenrechten überhauptª sein könnte74.

c) Fazit Wenn die Debatte um die Biomedizin auf eine rechtsethische Engführung im oben75 definierten Sinne hinausliefe, wäre eine Ebene verloren, die eine falsch verstandene rechtsethische Engführung der Bioethik nicht erreichen kann, weil sie sich unter das Prinzip eines Nutzen- und Interessendenkens gestellt hat. Verloren wäre eine bestimmte, in rechtsethischer Hinsicht noch genauer zu thematisierende Ebene, die sich als Normsphäre bezeichnen läût und zu eben jener Sphäre des Nutzens, des Instrumentellen den notwendigen Gegenpol bietet. Fällt dieser Gegenpol weg ± welche Gründe auch immer hier angeführt werden: Säkularität oder nachmetaphysisches Zeitalter ±, so verliert die Debatte um die Biomedizin an Tiefe. Der Verlust einer Normkultur hätte wie von selbst die Herrschaft einer Nutzenkultur zur Folge.

3. Rechtsethische Alternativentwürfe oder: Rechtsethik als Normkultur Daû eine Moralphilosophie sich von einer einschränkend vorgehenden Rechtsethik abzugrenzen imstande ist, mag sich von selbst verstehen76; das Besondere liegt darin, daû auch in der Rechtsethik Alternativen zu einer radikalen Engführung wahrgenommen werden können. Bei differenzierter Betrachtung stellt man fest, daû 73 74 75 76

Vgl. Spaemann, ¹Über den Begriff der Menschenwürdeª, 109. Vgl. zu einer ähnlichen Argumentation unter 3 a). Siehe unter 1 a). Siehe unter 2.

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eine Rechtsethik sich auf moralphilosophische Impulse einlassen kann und sogar zu ähnlich restriktiven Ergebnissen kommen mag wie eine Moralphilosophie, die eine metaphysische Ontologie zur Grundlage hat. Wenn gezeigt werden kann, daû solche Ansichten, welche die Biomedizin begrenzen, mit der Neutralität des Staates vereinbar sind, ja: daû sie sich sogar auf das Ideenkonzept des Verfassungsstaates stützen, dürfte diejenige Position widerlegt sein, welche ± sei es implizit oder explizit ± die Notwendigkeit geltend macht, sich auf eine Minimalmoral zu berufen; denn dann wäre offensichtlich, daû eine Rechtsethik nicht zwingend unter der Herrschaft einer Nutzenkultur stehen muû, um mit rechtlichen Regelungen vereinbar zu sein, sondern daû eine Rechtsethik, verstanden als Normkultur, den Erwartungen der Neutralität ebenso entsprechen kann. Um dies zu zeigen, beziehe ich mich auf einige säkular argumentierende Ansichten, die meines Erachtens den Anforderungen einer Rechtsethik entsprechen und nicht in metaphysischreligiöse Abgründe führen, dabei aber dennoch ± und das ist das Entscheidende ± eine Normkultur aufrechterhalten.

a) Unverrechenbarkeit der Menschenwürde oder: Von einem juridischen Recht des Embryos Die Menschenwürde läût sich ± so die Überlegung von Kurt Seelmann ± als ¹Recht auf das Innehaben von Rechten und Pflichtenª bestimmen. In diesem Verständnis als ¹Grundlage von Rechtenª hat die Nichtverrechenbarkeit der Menschenwürde ihren Ursprung77; ¹dieses besondere Rechtª habe sich ¹zu einer ihrerseits 77 Zur Problematik der Verrechnung im politischen Diskurs siehe Kurt Seelmann, ¹Ethik der Verrechnung. Eine rechtsethische Kritik am Embryonenforschungsgesetzª, in: Neue Zürcher Zeitung vom 10./11. August 2002, 71. ± Dort findet sich eine Kritik des Schweizerischen Gesetzesentwurfs zur Forschung an sogenannten überzähligen Embryonen und an embryonalen Stammzellen. Dessen Verfasser gehen davon aus, ¹daû der Schutz der Menschenwürde als subjektives Recht Embryonen in vitro noch nicht zukomme und daû Menschenwürde als objektiver Grundsatz einer Abwägung gegen andere Rechte zugänglich seiª (Hervorh. von mir). Daher erstaunt es nicht, daû die Mehrheit der Nationalen Ethikkommission sich ¹von einer Verrechnung der Schutzbedürftigkeit des Embryos gegen möglicherweise aus der Forschung resultierende künftige Therapiemöglichkeiten bei Krankenª hat motivieren lassen, obgleich die Menschenwürde gemäû Art. 7 der Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft als individuelles Grundrecht unter dem staatlichen Schutz steht.

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nicht mehr verrechenbaren Gröûe entwickeltª. Innerhalb einer derartigen nicht verrechenbaren Berechtigung könne es ¹keine immanenten Kollisionen zwischen den Würderechten verschiedener Personenª geben78. Seelmann geht auch in seiner weiteren Argumentation von schwachen Prämissen aus und fragt, ob ¹für Embryonen vor dem Entstehen eines moralischen Rechts auf Rechtssubjektivität gleichwohl schon durchaus auch aus moralischen Gründen ein juridisches Recht auf Rechtssubjektivität begründbar istª79. Diese Auffassung stützt sich auf Orientierungsschutz- und Normschutzerwägungen. Unter den Begriff des Orientierungsschutzes fallen Gefühle der Ehrfurcht, der Scheu oder der verletzten Selbstachtung. Für diesen spricht, daû das Recht durchaus auf die desorientierende Wirkung von Gefühlsbeeinträchtigungen reagieren kann, weil die Gefahr besteht, daû sie die soziale Basis unseres Zusammenlebens gefährdet80. Nun ist damit noch nicht gesagt, wie im einzelnen die Schutznormen zugunsten des Embryos ausfallen, anders gewendet: ob sie absolut oder relativ formuliert werden sollen. Zumindest aber ist es hiernach möglich, diesem Pietätsschutz im Wege ¹eines individuellen Rechts des Embryos auf Wahrung der Menschenwürdeª81 zu entsprechen. Wenn man jedoch die zuerst genannte Überlegung wieder aufnimmt und bedenkt, daû es sich bei der Menschenwürde um ein unverrechenbares Recht handelt ± woran bislang zumindest in der Theorie kein Zweifel besteht82 ± muû sich, so die Folge, auch eine Erweiterung dieses nicht verrechenbaren Rechts ± hier in bezug auf den Normschutz vorgenommen ± an der Unverrechenbarkeit 78

Siehe zum Ganzen: Kurt Seelmann, ¹Haben Embryonen Menschenwürde? Überlegungen aus juristischer Sichtª, in: Matthias Kettner (Hg.), Biomedizin und Menschenwürde, Frankfurt am Main 2004, 63±80; 64. 79 Seelmann, ¹Haben Embryonen Menschenwürde?ª, 75 (Hervorh. von mir). 80 Vgl. ebd. 81 Seelmann, a. a. O. 76. 82 Vgl. Walter Schweidler, ¹Analogie des Lebensbegriffs und ihrer bioethischen Relevanzª, in: ders./Neumann/Brysch (Hg.), Menschenleben ± Menschenwürde, 13± 29; 19: So habe die Rechtsordnung trotz der Relativierung des Lebensschutzes am Beginn des menschlichen Lebens an demjenigen Würdekonzept festgehalten, das ¹für ihre ganze Systematik und für die Legitimation des modernen Staates überhauptª fundamental ist. In den ¹Dehnungen und Verrenkungen, die man in Kauf nimmt, um den faktischen Zusammenbruch des ursprünglichen Konzepts einer unteilbaren Menschenwürde juristisch zu kompensierenª, spiegelt sich nur wider, daû wir über keine ethische Alternative hierzu verfügen (vgl. 20; Hervorh. von mir).

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orientieren. Das Argument lautet mithin: Wenn die Norm, die man schützen will ± in unserem Falle die Menschenwürdegarantie ± ¹im unmittelbaren Anwendungsbereich nicht verrechenbarª ist: wie soll dann dieser wesentliche Gehalt der Unverrechenbarkeit geschützt werden können, wenn man die Anwendung auf Fälle ausdehnt, in denen die Gefahr besteht, daû sie zur Verrechung stehen könnte?83 Die Antwort: Eben dieser ¹Umstand der Unverrechenbarkeitª macht es notwendig, ¹daû rechtstechnisch von einem juridischen Recht des Embryos ausgegangen wirdª, um den oben in Frageform genannten Widerspruch zu vermeiden und den Inhalt der Unverrechenbarkeit zu bewahren. Damit vermeidet diese Ansicht die Aufspaltung in ein subjektives Recht des Embryos einerseits und ein Recht im Interesse der Allgemeinheit andererseits. Es liegt Seelmann zufolge eine inhaltliche Identität zwischen beiden vor, so daû der Streit um die Frage nach dem Status des Embryos entschärft wird; denn der ¹Begriff der Person als forensische(r) Begriffª wird ¹um des praktischen Ergebnisses willenª bereits ab der Gametenverschmelzung verwendbar84. ± Wichtig ist diese Begründung insoweit, als daû sie es unternimmt, ¹aus moralischen Gründen ein juridisches Recht auf Rechtssubjektivitätª85 zugunsten des Embryos herzuleiten. Gegen diese Überlegungen lieûe sich einwenden, daû sie zwar einen beliebigen Umgang auch mit frühesten Embryonen untersagen, jedoch nicht zwingend eine Zuschreibung des Status eines Inhabers subjektiver Rechte auf Leben und Menschenwürdeschutz gebieten86. ± Was kann dem entgegnet werden? Dieser Einwand berücksichtigt einen zentralen Punkt des Argumentationsgangs nicht, den ich an dieser Stelle seiner Bedeutsamkeit wegen wiederhole: daû eine im Hinblick auf den Normschutz erweiterte Norm, die im unmittelbaren Anwendungsbereich unverrechenbar ist, nur dann sinnvoll erweitert werden kann, wenn sie auch für diesen erweiterten Anwendungsbereich ihre Nichtverrechenbarkeit beibehält. 83

Vgl. Seelmann, ¹Haben Embryonen Menschenwürde?ª, 76. Zum Ganzen vgl. ebd. 85 Seelmann, a. a. O., 75; Hervorh. von mir. 86 So Merkel, Forschungsobjekt Embryo, 186±189; 186, der zu einem anderen Ergebnis als Seelmann kommt, wenn er schreibt: ¹Embryonenschutz ist Potentialitätsschutz, also Solidaritätspflicht, nicht Verletzungsverbotª (186). Überlegungen zum Normschutz änderten an diesem Ergebnis nichts (vgl. ebd.). 84

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b) Menschenwürde als ¹metaphysischer Verzichtª Ein weiteres Argument scheint hilfreich, um die Normkultur zu begründen, das aus philosophischer Perspektive näher auf die Unverrechenbarkeit eingeht: Warum wird die Menschenwürdegarantie als ¹unverrechenbarª bezeichnet? Was umschreibt der Begriff der Unverrechenbarkeit? Der Begriff der Würde ± so der Ansatz von Walter Schweidler ± drückt ein ¹universales Verhältnisª aus, das in ¹dem rechtlichen Verbotª gründet, einen anderen Menschen überhaupt daraufhin zu beurteilen, ob er zur Menschheit gehöre oder nicht87. Darin tritt die ¹Idee von Selbstbegrenzungª zutage, die für den modernen Staat wesentlich ist. In diesem ¹Definitionsverbotª liegt der Kern dessen, was mit dem Begriff der Menschenwürde gemeint ist88. Wenn wir die Menschenwürde inhaltlich allzusehr beschränken, indem wir sie einer Präzisierungsregel unterstellen ± wer von uns Menschen darunter zu subsumieren ist und wer nicht ±, dann haben wir nicht verstanden, daû gerade in der Nichtdefinierbarkeit die ¹Unantastbarkeitª bewahrt ist, von der Art. 1 Abs. 1 S. 1 GG spricht. Als bloûer ¹Reflexª dieser Nichtdefinierbarkeit ± worauf Schweidler deutlich hinweist ± ergibt sich sie Bedeutung der Natur: sie tritt ¹gewissermaûen subsidiär in die Rolle der Entscheidungsinstanz einª89. Aus einem Impetus des Verzichts heraus ersetzt Schweidler die Stelle des normativen Vakuums durch die Natur90, nicht aus Gründen einer idealen normativen Naturordnung. In diesem ¹metaphysischen Verzichtª spiegelt sich keineswegs der traditionelle Begriff der Metaphysik wider; vielmehr handelt es 87 Dazu Walter Schweidler, Der gute Staat. Politische Ethik von Platon bis zur Gegenwart, Stuttgart 2004, 70. 88 Vgl. Schweidler, a. a. O., 338. 89 Vgl. Schweidler, a. a. O., 70. 90 Siehe auch Wolfgang van den Daele, Mensch nach Maû? Ethische Probleme der Genmanipulation und Gentherapie, München 1985, 209: Im Blick auf die Norm der ¹Natürlichkeitª ist folgende Überlegung bedeutsam: Wenn wir an ¹der Unverfügbarkeit der biologischen Natur des Menschenª festhalten, bringt das eine Entlastung mit sich, und zwar sowohl in bezug auf die Entscheidung als auch was die Verantwortung der potentiellen Folgen betrifft. Jedenfalls als Maxime der ¹Geschwindigkeitsbegrenzungª ist deshalb zu bedenken: Belassen wir den Menschen wie er ist, ¹so entgehen uns vielleicht in dem einen oder anderen Falle technische Optionen der Problemlösung, aber wir können jedenfalls nicht grundsätzlich falsch liegenª. Denn: ¹eine moralische Haftung für den Verzicht auf die Umgestaltung der menschlichen Naturª gebe es nicht (Hervorh. von mir).

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sich um einen ¹paradoxen Begriffª von Metaphysik91. Dieser richtet sich nicht auf eine Denkweise, der es um ¹die endgültige Fundierung der Prinzipien unseres Denkens im Sinne einer ¸Ersten Philosophieª zu tun ist92, versteht sich nicht als ¹Kanon philosophischer Ergebnisseª93. Der erwähnte ¹metaphysische Verzichtª beschreibt eine Haltung, die dort vorliegt, wo die reduktionistische Denkweise der positiven Wissenschaften anerkannt wird, allerdings ebenso ihre Begrenzung auf das positiv Sagbare zum Bewuûtsein gelangt94. Dadurch aber scheidet Schweidler zufolge diese Denkweise, diejenige der positiven Wissenschaften, ¹als mögliche Rekonstruktionsbasis des in dieser Weise unsagbaren Grundes menschlichen Handelnsª95 von vornherein aus96. Eben dieser Aspekt: das Unsagbare zu nennen, indem man auf die Grenze des Sagbaren verweist, ist der Sinn der Grundrechte als Menschenrechte und nicht zuletzt der Menschenwürde97. Indem der rechtliche und der politische Diskurs davon absehen, das Unsagbare zu thematisieren, werden sie der ihnen aufgegebenen Selbstbegrenzung gerecht. Es ist der rechtsphilosophische Diskurs, der den politischen an diese negative Aufgabe erinnert. Nur in diesem Sinn ± ¹als begrenzende Bewahrung eines nicht weiter in Frage zu stellenden Unantastbarenª ± ist dieser Diskurs als ¹metaphysischª zu bezeichnen und nur dieser paradoxe Begriff von Metaphysik erfaût die Komplexität des damit umschriebenen Sachverhalts98. 91 Vgl. Schweidler, ¹Die Menschenrechte als metaphysischer Verzichtª, in: ders., Das Unantastbare. Beiträge zur Philosophie der Menschenrechte, Münster-HamburgBerlin-London 2001, 73±100; 86. 92 Vgl. Schweidler, a. a. O., 85. 93 Schweidler, a. a. O., 87. 94 Vgl. Schweidler, a. a. O., 88. 95 Schweidler, ebd.; Hervorh. von mir. 96 Siehe auch Walter Schweidler, Geistesmacht und Menschenrecht. Der Universalanspruch der Menschenrechte und das Problem der Ersten Philosophie, FreiburgMünchen 1994, 648: Wenn Weisheit als ¹geistige Machtª bedeutet, auf unsere Ausgangserwartungen zu verzichten und damit bloû ¹vermeintliche Weisheitª zu berichtigen, so wäre die im bioethischen Diskurs angezeigte Weisheit so zu bestimmen, daû sie sich von verabsolutierten Wissensansprüchen freimacht und, indem sie so verfährt, die Relativität ihres Standpunktes erkennt, um diesen ± im Verzicht ± hinter sich zu lassen und mithin als derart aufgeklärte Weisheit Basis ethischer Entscheidungen zu sein. 97 Vgl. Schweidler, Der gute Staat, 338. 98 Zum Ganzen Schweidler, ¹Die Menschenrechte als metaphysischer Verzichtª, 96 f.

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Die so skizzierte Argumentation ist wichtig, um die Notwendigkeit zu begründen, die Menschenwürde nicht der Verrechnung preiszugeben. Der Verweis auf die Nichtdefinierbarkeit ermöglicht es, jede Verrechnung von vornherein auszuschlieûen. Zudem kann durch den ¹paradoxen Begriffª von Metaphysik den positiven Wissenschaften und ihrem Einfluû eine Grenze gezogen werden, ohne daû sich die so bestimmte Denkweise als bloû metaphysisch-weltanschaulich deklarieren läût99. Was die erstgenannte Position von Seelmann eher ¹um des praktischen Ergebnisses willenª hergeleitet hat: das Personsein ¹als forensischen Begriffª100, begründet die Auffassung von Schweidler, indem sie aus dem Begriff der Menschenwürde die Nichtdefinierbarkeit ableitet und von daher auf die Idee der Selbstbegrenzung kommt. Wollte man dies mit dem Einwand in Frage stellen, diese Begründung sei metaphysisch beeinfluût, so wäre dagegen anzuführen, daû es sich ± wie erwähnt ± um einen ¹paradoxen Begriffª von Metaphysik handelt101, der gerade keine religiös oder sonst weltanschaulich inspirierte ¹Heiligkeitª zur Grundlage hat: Allein das ¹rechtlich konstituierte Rechtfertigungsvakuumª, das durch die Selbstbegrenzung des modernen Staates entstanden ist, verweist auf ¹die ethische Bedeutung der Natur für die Definition des Menschseinsª im Sinne von Personsein102.

c) Die Konsequenz: Menschenwürde als Tabu gegen gesellschaftliche Wert- und Nutzenprüfungen Nach alledem kann die Menschenwürde ± wie Eduard Picker formuliert ± ¹als Tabuisierung des menschlichen Lebens gegen Wertund Nutzenprüfungen der Gesellschaftª betrachtet werden103. Jede Relativierung des Menschen ist wertprämissenbedingt und daher subjektiv; daraus erhellt die Absolutheit des würdebegründeten Schutzes104, womit ein bereits bekannter Gedanke aufgenommen wird. Damit ist die ¹Leitaufgabeª der Menschenwürde be99

Zu diesem Vorwurf siehe unter 1. Vgl. Seelmann, ¹Haben Embryonen Menschenwürde?ª, 76. 101 Vgl. Schweidler, ¹Die Menschenrechte als metaphysischer Verzichtª, 86. 102 Vgl. Schweidler, Der gute Staat, 70 f. 103 Vgl. Picker, ¹Vom ¸Zweck der menschlichen Würdeª, 208. 100

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stimmt105. Es ist jener Schutzraum umschrieben, der ausschlieûen soll, daû ¹ein menschliches Leben (. . .) von der Gesellschaft allein unter Wert- und Nutzenaspekten betrachtet und deshalb einer Qualitäts- und Bedürfniskontrolle ausgesetzt wirdª106, was dazu führen würde, daû das ¹Prinzip der Zivilitätª107 ± das heiût: der Austausch des Schutzes, den der einzelne selbst vornimmt, gegen die Sicherheit, die ihm das Kollektiv stattdessen verspricht ± in Frage gestellt wird. Die bisher vorgenommene ¹funktionsbezogene sachliche Deutungª108 ± die im übrigen auch in den anderen Ansätzen zutage getreten ist ± zeigt, daû ein Tabu rational erklärt werden kann und nicht fundamentalistische Gründe für diese Interpretation der Menschenwürde sprechen, sondern ¹nüchternpragmatische Gründe lebenskluger Vernunftª109.

d) Fazit Die Überlegungen dieses Abschnitts konnten deutlich machen, daû eine Rechtsethik nicht zwingend mit einer extensiv zu verstehenden Bioethik in eins geht, daû vielmehr eine rechtsethische Position zu gleich restriktiven Ergebnissen kommen kann wie eine als ¹konservativª qualifizierte Moralphilosophie und damit im Sinne einer Normkultur vorgehen kann. Wenngleich die Argumente im einzelnen durchaus verschieden sind: Seelmann begründet den Begriff der Person in juristischer Argumentation als forensischen Begriff, von dem der Embryo erfaût wird; Schweidler argumentiert rechtsphilosophisch für ein Personsein des Embryos; doch auch er vertritt keine metaphysische These 104 Vgl. Picker, a. a. O., 214; zur Gefahr einer ¹kulturell-konsentierte(n) Zuschreibungª, die eintritt, wenn gewisse Zäsuren den Geltungsgrund der Menschenwürde angäben, siehe auch: Tine Stein, ¹Recht und Politik im biotechnischen Zeitalterª, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 50 (2002) 6, 855±870; 867: Das Prinzip der Unantastbarkeit der Menschenwürde markiere ¹nur dann in wirksamer Weise ein Reich der (rechtlichen) Unverfügbarkeit, wenn dies nicht unterlaufen wird durch die portionsweise Verkleinerung dieses Reiches, wie es jetzt für den Anfang des Lebens und schlieûlich auch das Ende des Lebens gefordert wirdª (868). 105 Vgl. Picker, ¹Vom ¸Zweck der menschlichen Würdeª, 209. 106 Ebd. 107 Picker, a. a. O., 213. 108 Picker, a. a. O., 215. 109 Picker, a. a. O., 214.

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im herkömmlichen Sinne, sondern das Personsein des Embryos ist nach dieser Konzeption Ausdruck des Nichtwissens. Ebenso bei Picker wird das Personsein damit begründet, daû jede Definition bereits willkürlich wäre. Die Gemeinsamkeit der Ansichten besteht aber darin, daû sie auf einen Bereich rekurrieren, der freizuhalten ist von menschlicher Willkür, indem sie die Norm der Menschenwürde zu ihrer Grundlage machen: Seelmann bezeichnet dies als ¹Unverrechenbarkeitª, Schweidler beschreibt es als ¹das Unantastbareª oder ¹das Unsagbareª, das nur im ¹metaphysischen Verzichtª bewahrt werden könne, und Picker nennt es ein ¹Tabu gegen gesellschaftliche Wert- und Nutzenprüfungenª. Man kann darin das Wesen der Menschenwürde wiederfinden, das ± von seinem theologischen Ursprung nunmehr säkularisiert110 ± im rechtsethischen Diskurs aufgehoben ist.

4. Epilog a) Von der Entscheidung, keine Entscheidung zu treffen Es ist zu bedenken, daû die politische Idee der Menschenwürde eingeführt worden ist, gerade um trotz aller Glaubens- und Bekenntnisunterschiede in einer pluralistischen Gesellschaft ein ziviles Zusammenleben zu ermöglichen111. Das ist der Grund, warum in einem politischen Streit die Frage, ob der Embryo Menschenwürde besitzt oder nicht, überhaupt nicht zur Debatte stehen kann. Wenn die Zugehörigkeit zur menschlichen Gattung genügen soll, um den Embryo in den Normschutz der Menschenwürde einzubeziehen, so nicht, um längst verabschiedete metaphysische Spekulationen zu wiederholen; vielmehr handelt es sich dabei um eine Art von ¹Dezisionismusª: die Entscheidung, sich nicht entscheiden 110 Siehe dazu: van den Daele, Mensch nach Maû?, 204: ¹Solche Vorstellungen von der Unantastbarkeit der menschlichen Natur haben historische Wurzeln in religiösen Deutungen des Menschen als Geschöpfe nach dem Ebenbild Gottes.ª Aber sie seien ¹an die gesellschaftliche Geltung der Religion nicht gebundenª und blieben ¹notwendige Korrelate unserer verweltlichten Wertideenª (204; Hervorh. von mir). 111 Vgl. Mark Siemons, ¹Würde? Mit dem Embryo schützt der Staat sich selbstª, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 25. Mai 2001, 41.

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zu müssen. Ob sich in dieser ¹metaphysischen Stimmenthaltungª nicht viel eher der politische Begriff der Menschenwürde widerspiegelt als in Auffassungen, die dem Embryo ab einer bestimmten willkürlich gewählten Zeit Menschenwürde zuteilen, vorher aber nicht? Fällt man, die an zweiter Stelle genannte Möglichkeit unterstellt, nicht wieder in das Zeitalter der Glaubenskriege zurück, dem der neuzeitliche Verfassungsstaat gerade dadurch entronnen ist, daû er sich in solchen Fragen und kasuistischen Unterscheidungen aus gutem Grund einen Verzicht auferlegt hat?112 ± Diese Fragwürdigkeiten sprechen dafür ± wie dargestellt113 ±, von der Unverrechenbarkeit der Menschenwürdenorm auszugehen und daraus zumindest rechtstechnisch ein juridisches Recht des Embryos abzuleiten ± ganz unabhängig davon, wie die Statusdiskussion sich mit ihren verzweigten biologischen und philosophischen Argumentationen entwickeln mag114 ± und damit dem Vorrang einer Normkultur in der Rechtsethik gerecht zu werden. Es ist möglich, den Standpunkt der Normkultur abzulehnen, aber man kann diese Ablehnung nicht damit rechtfertigen, daû man solche Ansichten von vornherein als ¹metaphysischª deklariert und nur einer liberalen bioethischen Position zugesteht, mit dem säkularen Recht vereinbar zu sein. Eine differenzierte Sichtweise hat vielmehr ergeben, daû sich ein restriktiver Standpunkt in der Bioethik mit dem Postulat der Neutralität des Staates durchaus verträgt115; ja mehr noch: Gerade weil der Staat als Verfassungsstaat auf seinen Aufgabenkreis begrenzt ist116, hat er die Verpflich112

Zum Ganzen vgl. ebd.; Hervorh. von mir. Siehe unter 3 a). 114 Dazu Carmen Kaminsky, Embryonen, Ethik und Verantwortung. Eine kritische Analyse der Statusdiskussion als Problemlösungsansatz angewandter Ethik, Tübingen 1998, 165±190: Es müsse eingestanden werden, ¹daû die Statusdiskussion als Ansatz zur Lösung der ethischen Probleme des Schwangerschaftsabbruchs, der Embryonen-Forschung, der In-vitro-Fertilisation und der Nutzung fötaler Gewebe und Organe gescheitert istª (188). Andererseits heiût es, die Statusdiskussion sei ¹ein unentbehrlicher moralphilosophischer, also metatheoretischer Beitragª (291). 115 Vgl. auch Stein, ¹Recht und Politik im biotechnischen Zeitalterª, 870, wo die Verfasserin darauf hinweist, die rechtliche Bindung als Achtungs- und Schutzverpflichtung der Unantastbarkeit der Menschenwürde könne ¹auch ohne zumindest christliche Metaphysikª vernünftig begründet werden. Obgleich sie ± wie auch die vorliegenden Überlegungen ergeben haben ± an einem ¹stark normative(n) Verständnis des Sinns verfassungsrechtlicher Bindungenª festhält. 116 Vgl. Josef Isensee, Art. ¹Staatª, in: Staatslexikon, hrsg. von der Görres-Gesellschaft, Band 5, 7., völlig neu bearbeitete Auflage, Freiburg-Basel-Wien 1989, Sp. 133± 157; Sp. 152: Der Verfassungsstaat gehe nicht darauf aus, ¹den Menschen in seiner 113

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tung, einen Raum der Nicht-Definierbarkeit zu wahren. Der Willkür, der er hier im Falle eines Handelns unterliegen würde, kann er nur entsprechen, indem er keine Regelungen erläût, die diesen Raum antasten könnten ± und womöglich nicht revozierbar sind117. Wenn religiöse oder sonstige Überzeugungen für staatliches Handeln nicht maûgeblich sein dürfen, heiût das nicht, daû dem Staat nunmehr die Aufgabe zukäme, diese Überzeugungen als irrational zu bezeichnen; sie werden lediglich aus den Begründungen politischer Zusammenhänge ausgeklammert118. Der säkulare Staat muû demzufolge in seinen Begründungen so formulieren, daû er keinerlei partikulare Konzeption des Guten zugrundelegt, auch kein Konzept, das unter dem Primat einer säkularistischen Perspektive allein Bedürfnisse und Interessen zu seiner Norm erklärt119. Die im dritten Abschnitt dargestellten Ansichten haben deutlich gemacht, daû gerade der rechtsethische Diskurs unter der Norm der Menschenwürde steht und daû es von ihrem Zweck her die einzelnen Meinungen zu bedenken gilt, um in diesem Gespräch Einseitigkeiten und Defizite herauszustellen. Dabei muû die Entscheidung für die eine oder andere Ansicht vor diesem Zweck verantwortet werden, der nicht noch einmal selbst unter einen Nutzenkalkül gestellt werden kann: Wem nützt die Forschung an menschlichen embryonalen Stammzellen? Oder: Wessen Nutzen überwiegt hier: Kommt es auf die ¹Menschenwürde eines Achtzellersª an, die ¹allenfalls potentiellª existiere, oder auf ¹das Leiden und die Verzweiflung der Menschen, die auf bessere Medikamente oder Ersatzgewebe bis hin zu neuen Organen wartenª120? ± BegeGanzheit zu erfassen, sondern nur in bestimmten Beziehungenª (Hervorh. von mir): ¹Planmäûig, um der Freiheit willen, bildet er nur eine unvollständige, eine sektorale Einheitª. 117 Oftmals wird das geltende Recht zur Abtreibung als Argument angeführt, der Staat habe sich längst von einer Grundrechtsträgerschaft des Embryos entfernt; vgl. nur Merkel, Forschungsobjekt Embryo, 110±112. ± Daû die Regelungen zur Abtreibung in ihrer Ausnahmestellung nicht als Einwand geltend gemacht werden können, zeigt dagegen überzeugend: Kathrin Braun, ¹Die besten Gründe für eine kategorische Auffassung der Menschenwürdeª, in: Kettner, Biomedizin und Menschenwürde, 81±99; 92±95. 118 Vgl. Huster, ¹Bioethik im säkularen Staatª, 271. 119 Siehe dazu unter 1 b) und c); vgl. auch die differenzierte Sichtweise von Jürgen Habermas, ¹Vorpolitische Grundlagen des demokratischen Rechtsstaates?ª, in: ders./Joseph Ratzinger, Dialektik der Säkularisierung. Über Vernunft und Religion, Freiburg im Breisgau, 2. Auflage 2005, 15±37; 36: Die weltanschauliche Neutralität der Staatsgewalt, die gleiche ethische Freiheiten für jeden Bürger garantiere, sei ¹unvereinbar mit der politischen Verallgemeinerung einer säkularistischen Weltsichtª.

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ben wir uns in solche Abwägungsdiskurse, befinden wir uns auf einem schmalen Grat, der uns von einer Normkultur weg zu einer Nutzenkultur führt121. Sosehr diese Position im Hinblick auf die versprochenen Möglichkeiten zur Linderung von Leid und Krankheit verständlich ist122 ± man muû sich bewuût machen, worum es hier geht: um die Infragestellung des Bereichs, der rechtsethisch betrachtet mit der Menschenwürdegarantie umschrieben wird und gerade solchen Nutzendiskursen ± rein verfassungsrechtlich, nicht metaphysisch-religiös ± eine Grenze gezogen hat.

b) Für den Primat einer Normkultur in der Rechtsethik Gewiû: Der Staat beabsichtigt mit seinen rechtlichen Regelungen nicht, moralische Handlungen einzufordern123. Darin liegt die Berechtigung, innerhalb einer weltanschaulich heterogenen Gesellschaft zwischen einer Konzeption des Gerechten und einer solchen des Guten zu unterscheiden: Der freiheitliche Verfassungsstaat identifiziert sich nicht mehr mit einer bestimmten Religion oder Weltanschauung, sondern die politischen Ordnungsprobleme wer120 So Eric Hilgendorf, ¹Therapie muû erlaubt seinª, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 13. Februar 2003, 42. 121 Siehe Antje Vollmer, ¹Die Versuchungª, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 16. Dezember 2004, 10: Bezeichnend für die im Text genannte Haltung ist ein Argumentationsmuster, ¹das nahe legt, unsere Grundwerte müûten an neue, schreckliche Vorkommnisse angepasst werdenª. So würden ¹auf Tagungen Säuglinge mit grauenhaften Erkrankungen oder genetisch bedingten Defekten dargestellt, um die vorgeburtliche Auslese behinderten Lebens durch PID zu legitimierenª. Es würden ¹Krankheiten beschrieben, die für die Betroffenen unerträglich sind, um mit der Verheiûung von Ersatzorganen (. . .) für Forschung an embryonalen Stammzellen zu werbenª. Vollmer stellt kritisch die damit einhergehende Konsequenz fest: ¹Die Tatsache, daû dafür menschliche Embryonen herbeigeschafft, beforscht und somit ¸verbraucht werden müssen, erscheint als unausweichlicher Preis für einen erhofften Heilungserfolg.ª Zu Recht wendet sie ein, letztlich gehe es um ¹die normative Frageª: ¹Gibt es gesellschaftliche Grundwerte, an denen wir unverrückbar festhalten und die durch noch so dramatische Einzelfälle nicht in Frage gestellt werden dürfen?ª (ebd.). 122 Zur Kritik an einem solchen ¹humanitaristischen Fehlschluûª vgl. Otfried Höffe, Medizin ohne Ethik?, Frankfurt am Main 2002, 47 f.: Die medizinische Forschung bringe allenfalls eine Diagnose- und Therapiemöglichkeit, so daû es sich aus der Perspektive der Forschenden lediglich um eine ¹potentielle Hilfeª, nicht dagegen um eine ¹akute Nothilfeª handelt. 123 Dazu Immanuel Kant, Die Metaphysik der Sitten. Erster Teil: Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre (1797), hrsg. von Bernd Ludwig, Hamburg 1986, 18 (Akademieausgabe, VI, 214).

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den von ethischen Überzeugungen und Einstellungen abstrahiert betrachtet124. Die Rahmenordnung des staatlichen Rechts gewährt lediglich einen gerechten Ausgleich zwischen den verschiedenen Überzeugungen und Lebensformen innerhalb einer Gesellschaft; es wird auf das Rechte abgezielt. Die Frage, wie der einzelne sein Leben führen will und worin er das für ihn gute Leben sieht, kann, rechtlich gesehen, keine allgemeine Verbindlichkeit erreichen125. Doch sobald das Verhältnis der Menschen zueinander und des einzelnen zu sich selbst gefährdet wird, wenn der Primat einer Nutzenkultur das Selbstverständnis der Menschen zu verändern droht126, entsteht auch für den Staat die Notwendigkeit, die Herausforderung anzunehmen und sich nicht der normativen Kraft des Faktischen zu überlassen. Die Norm, die in dieser Situation als maûgeblich angesehen wird, ist die Menschenwürdegarantie gemäû Art. 1 Abs. 1 GG ± Symbol der ¹Einheit in der höchst heterogenen Weltª127. Letztlich manifestiert sich in dieser Norm die Entscheidung der Frage, ¹ob wir um Einheit in der vermutlich unwiderruflich fragmentierten Welt ringen und in den aufgeklärten Wettbewerb um Einheitsideen eintreten wollenª oder uns mehr oder weniger orientierungslos der fragmentarisierten Welt überlassen, in der wir uns nur noch ¹zwischen den eigenwilligen kommunikativen Ordnungenª der Politik oder der Wirtschaft bewegen128, ohne aber über einen externen normativen Maûstab zu verfügen. In der Menschenwürde verdichtet sich dasjenige, was philosophisch als ¹das Unantastbareª oder ¹das Unsagbareª umschrieben 124

Vgl. Huster, Die ethische Neutralität des Staates, 10. Vgl. Huster, a. a. O., 11. 126 Vgl. Jürgen Habermas, Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik?, Frankfurt am Main, 4., erweiterte Auflage 2002, 85: ¹Mit den humangenetischen Eingriffen schlägt Naturbeherrschung in einen Akt der Selbstbemächtigung um, der unser gattungsethisches Selbstverständnis verändert ± und notwendige Bedingungen für autonome Lebensführung und ein universalistisches Verständnis von Moral berühren könnte.ª (erste Hervorh. von mir) ± Siehe dazu ausführlich: Klaus Thomalla, ¹Die Frage nach der ethischen Dimension des Handelns am Beispiel der Gentechnik: Zum Antwortversuch von Jürgen Habermasª, in: Matthias Kaufmann/ Lukas Sosoe (Hg.), Gattungsethik ± Schutz für das Menschengeschlecht?, Frankfurt am Main/Berlin/Bern 2005, 131±159. 127 So treffend: Udo Di Fabio, ¹Die Suche nach dem Kompaûª, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 26. Juni 2001, 10. 128 Vgl. ebd. 125

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werden kann129 und was, juristisch betrachtet, Günter Dürig in der sogenannten ¹Objektformelª prägnant zum Ausdruck gebracht hat130. Die Menschenwürdegarantie ist diejenige Norm, die einer falsch verstandenen rechtsethischen Engführung vorzubeugen imstande ist. Daher erstaunt es nicht, daû sich die so skizzierte Normkultur in den im dritten Abschnitt genannten rechtsethischen Positionen widerspiegelt, die sich ± das ist ihre Gemeinsamkeit ± auf die Menschenwürde beziehen: ob als Recht auf das Innehaben von Rechten und Pflichten, als metaphysischer Verzicht, oder als Schutz vor Nutzenerwägungen der Gesellschaft. Eine Rechtsethik, die solche Argumentationen unter Verweis auf die Neutralität des Staates widerlegen will, ist nicht überzeugend. Sie erkennt zwar, daû ein Staat bei rechtlichen Regelungen auf den Konsens der Gesellschaft angewiesen ist und daû dieser im nachmetaphysischen Zeitalter nicht unter einer idealen Norm des Naturrechts stehen kann131; sie übersieht jedoch, daû ein Staat nicht notwendigerweise eine Nutzenkultur vertreten muû und daû 129

Zu dieser Bezeichnung von Schweidler siehe unter 3 b). Vgl. Günter Dürig, Kommentierung zu Art. 1 Abs. 1 GG (1958), in: Theodor Maunz/Günter Dürig u. a. (Hg.), Grundgesetz. Kommentar, München, Januar 1976, Rn. 28: ¹Die Menschenwürde ist getroffen, wenn der konkrete Mensch zum Objekt, zu einem bloûen Mittel, zur vertretbaren Gröûe herabgewürdigt wird.ª Und weiter: Am besten, so Dürig, zeige ¹der entsetzlich an technische Vorstellungen angelehnte Wortschatz unserer materialisierten Zeit, worum es in Art. 1 I gehtª: ¹um die Degradierung des Menschen zum Ding, das total ¸erfaût, ¸abgeschossen, ¸registriert, ¸liquidiert, ¸im Gehirn gewaschen, ¸ersetzt, ¸eingesetzt und ¸ausgesetzt (d. h. vertrieben) werden kannª (Rn. 28). Es sei ¹eine unrichtige Fragestellung zivilrechtlichen Anspruchsdenkensª, wenn man danach frage, ¹von wann ab und bis wann der konkrete Mensch im juristischen Sinne als Träger eigenen Rechts am Wertschutz des Art. 1 I teilhatª (vgl. Rn. 23). ± Siehe aber zum Wandel in der Verfassungsinterpretation neuerdings: Matthias Herdegen, Kommentierung zu Art. 1 Abs. 1 GG, in: Theodor Maunz/Günter Dürig u. a. (Hg.), Grundgesetz. Kommentar, München, Februar 2003; besonders: Rn. 96±99; vgl. auch schon: ders., ¹Die Menschenwürde im Fluû des bioethischen Diskursesª, in: Juristen-Zeitung 56 (2001), 773±779; insbes. 774, wo er von einem ¹gestufte(n) Schutzª der Menschenwürde ausgehen will; vgl. zu dieser Sichtweise mit Recht kritisch: Ernst-Wolfgang Böckenförde, ¹Menschenwürde als normatives Prinzip. Die Grundrechte in der bioethischen Debatteª, in: Juristen-Zeitung 58 (2003), 809±815; bes. 811±813. 131 Vgl. dazu nur Jürgen Habermas, ¹Motive nachmetaphysischen Denkensª, in: ders., Nachmetaphysisches Denken, Frankfurt am Main, TB-Ausgabe 1992, 35±60; 41± 60; sowie ders., Die Zukunft der menschlichen Natur, 155: dort schreibt er in bezug auf Spaemanns Ansicht, daû hiernach ¹auf eine normativ überzeugende Befriedung kultureller und weltanschaulicher Konflikteª verzichtet werden müûte; siehe zu diesem Vorwurf auch unter 1. ± Kritisch zu Habermas: Matthias Lutz-Bachmann, ¹Postmetaphysisches Denken? Überlegungen zum Metaphysikbegriff der Metaphysikkritikª, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 56 (2002) 3, 414±425; bes. 420±425. 130

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eine rechtliche Regelung nicht zwingend der Realisierung von möglichst vielen Optionen zu dienen hat132, sondern selbst noch einmal überprüft werden muû: indem man, dabei ganz im rechtsethischen Raum bleibend, fragt: Wie ist eine Norm zu beurteilen, wenn wir sie an der Menschenwürdegarantie messen? Können wir es staatlicherseits verantworten, eine Regelung zu treffen, welche der Menschenwürde im Sinne eines Rechts, Rechte und Pflichten überhaupt innezuhaben, die Grundlage entzieht, indem wir ± im Hinblick auf die Forschung an Embryonen beispielsweise ± Voraussetzungen verlangen, die den Schutzraum allein schon durch ihre Setzung begrenzen? Die Frage ist mithin: Wenn wir die Menschenwürde in dieser Weise verstehen: als Grundlage von Rechten ± geben wir sie nicht zur Verrechnung frei133, sobald wir an die Gewährung dieses ¹tragende(n) Konstitutionsprinzip(s)ª134, dieser ¹Basisnormª135 wiederum letztlich willkürliche Anforderungen zur Einschränkung des Schutzbereichs stellen, die über das bloûe Menschsein hinausgehen? Wenn wir dasjenige Recht begrenzen, welches Voraussetzung dafür ist, andere Rechte überhaupt wahrnehmen zu können ± rühren wir damit nicht an ein Tabu136, das 132 Vgl. zur Kritik an der Einstellung des ¹Optionalismusª: Schweidler, ¹Die Menschenrechte als metaphysischer Verzichtª, 94: Wenn diese Haltung die Auffassung von staatlicher Legitimität maûgeblich bestimmt, erfüllt ein Staat seine Aufgabe nicht, dem es nicht erfolgreich gelingt, die Handlungsmöglichkeiten seiner Bürger ständig zu maximieren. Die für unseren Zusammenhang wichtige Konsequenz: Ich kann ¹alle sonstigen Elemente der Legitimation meines Staates, bis hin zu seiner Berufung auf die Menschenwürde, gegenüber meinem Anspruch auf Optionensteigerung relativierenª (Hervorh. von mir). Der Universalismus des Menschenrechtsgedankens steht zur Disposition, ¹sobald er mit dem Prinzip des Fortschritts zur Freiheit im Sinne der Optionensteigerung der hier und jetzt Lebenden in Konflikt gerätª (ebd.). 133 Zu dieser Problematik siehe unter 3 a). 134 Dieses ¹Konzentratª der Judikatur findet sich in: BVerfGE 50, 166 (175); 96, 375 (399); 87, 209 (228): ¹Menschenwürde in diesem Sinne ist nicht nur die individuelle Würde der jeweiligen Person, sondern die Würde des Menschen als Gattungswesen.ª 135 Peter Häberle, ¹Die Menschenwürde als Grundlage der staatlichen Gemeinschaftª, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Band II, Heidelberg, 3., völlig neubearbeitete und erweiterte Auflage 2004, § 22, Rn. 56 ff. 136 Siehe Josef Isensee, Tabu im freiheitlichen Staat. Jenseits und diesseits der Rationalität des Rechts, Paderborn-München-Wien-Zürich 2003, 83±86; dort den Abschnitt: Kulturelles Tabu zur Rettung des Humanum: ¹Der offene (doch nicht leere) Begriff der Würde des Menschenª verlange ¹die Entscheidung darüber, wie der Mensch in seinem Rechts- und Kulturhorizont sich selber versteht und was er sich selber schuldetª (85); siehe auch: Ralf Poscher, ¹Die Würde des Menschen ist unantastbarª, in: Juristen-Zeitung 59 (2004), 756±762; besonders: 758±760: Menschenwürde

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möglicherweise in der Norm der Menschenwürde als rechtlicher Kategorie bewahrt ist? An dieser Stelle geht es um die Frage, ob der Staat nicht ganz unabhängig vom Ausgang der Statusdiskussion die Pflicht hat, diese Grenze nicht zu überschreiten, indem er eine notwendigerweise willkürliche Regelung setzt, sondern gerade im Verzicht darauf seiner Rechtsstaatlichkeit entspricht.

Literatur Birnbacher, Dieter, ¹Ethische Probleme der Embryonenforschungª, in: Jan P. Beckmann (Hg.), Fragen und Probleme einer medizinischen Ethik, Berlin/New York 1996, 228±253. Böckenförde, Ernst-Wolfgang, ¹Menschenwürde als normatives Prinzip. Die Grundrechte in der bioethischen Debatteª, in: Juristen-Zeitung 58 (2003), 809±815. Braun, Kathrin, ¹Die besten Gründe für eine kategorische Auffassung der Menschenwürdeª, in: Matthias Kettner (Hg.), Biomedizin und Menschenwürde, Frankfurt am Main 2004, 81±99. Cortina, Adela, ¹Ethik ohne Moralª, in: Karl-Otto Apel/Matthias Kettner (Hg.), Zur Anwendung der Diskursethik in Politik, Recht und Wissenschaft, Frankfurt am Main 1992, 278±295. van den Daele, Wolfgang, Mensch nach Maû? Ethische Probleme der Genmanipulation und Gentherapie, München 1985. Damschen, Gregor/Schönecker, Dieter, ¹Verletzungsverbot oder Menschenwürde? Ludger Honnefelder und Reinhard Merkel über ihre Grunddifferenzen in der Beurteilung des moralischen Status von Embryonenª, in: Information Philosophie, Juni 2003, Heft 2, 118±124. Di Fabio, Udo, ¹Die Suche nach dem Kompaûª, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 26. Juni 2001, 10. Dürig, Günter, Kommentierung zu Art. 1 Abs. 1 GG (1958), in: Theodor Maunz/Günter Dürig u. a. (Hg.), Grundgesetz. Kommentar, München, Januar 1976. als Tabu. ± Damit ist nicht gemeint, die Debatte um die Biomedizin zu tabuisieren; dagegen auch Carmen Kaminsky, ¹Toleranz als Strategie. Wie klug ist es, die Redefreiheit in der Bioethik zu beschränken?ª, in: Dieter Birnbacher (Hg.), Bioethik als Tabu? Toleranz und ihre Grenzen, Münster-Hamburg-London 2000, 53±65. ± Das Tabu richtet sich vielmehr darauf, die Grenzen der Verfügbarkeit anzuerkennen, die sich in der Debatte je länger desto mehr herauskristallisiert haben. So betrachtet, geht es nicht darum, jede Grenze als Freiheitseinschränkung zu verstehen, sondern ¹um unseren Willen, Grenzen zu ziehen und Unverfügbarkeit freiwillig zu respektierenª (Hans Joas, ¹Respekt vor Unverfügbarkeit ± Ein Beitrag zur Bioethik-Debatteª [2001], in: ders., Braucht der Mensch Religion? Über Erfahrungen der Selbsttranszendenz, Freiburg im Breisgau 2004, 143±150; 147; Hervorh. von mir).

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Enders, Christoph, Die Menschenwürde in der Verfassungsordnung. Zur Dogmatik des Art. 1 GG, Tübingen 1997. Habermas, Jürgen, ¹Motive nachmetaphysischen Denkensª, in: ders., Nachmetaphysisches Denken, Frankfurt am Main 1988, TB-Ausgabe 1992, 35± 60. Ð Glauben und Wissen. Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2001, Frankfurt am Main, 2. Auflage 2002. Ð Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik?, Frankfurt am Main, 4., erweiterte Auflage 2002. Ð ¹Vorpolitische Grundlagen des demokratischen Rechtsstaates?ª, in: ders./ Joseph Ratzinger, Dialektik der Säkularisierung. Über Vernunft und Religion, Freiburg im Breisgau, 2. Auflage 2005, 15±37. Häberle, Peter, ¹Die Menschenwürde als Grundlage der staatlichen Gemeinschaftª, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Band II, Heidelberg, 3., völlig neubearbeitete und erweiterte Auflage 2004, § 22. Harris, John, The Value of Life. An introduction to medical ethics, London/ New York 1985. Ð Der Wert des Lebens. Eine Einführung in die medizinische Ethik, hrsg. von Ursula Wolf, Berlin 1995. Herdegen, Matthias, ¹Die Menschenwürde im Fluû des bioethischen Diskursesª, in: Juristen-Zeitung 56 (2001), 773±779. Ð Kommentierung zu Art. 1 Abs. 1 GG, in: Theodor Maunz/Günter Dürig u. a. (Hg.), Grundgesetz. Kommentar, München, Februar 2003. Hilgendorf, Eric, ¹Therapie muû erlaubt seinª, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 13. Februar 2003, 42. Hoerster, Norbert, Abtreibung im säkularen Staat. Argumente gegen den § 218, Frankfurt am Main 1991. Ð Sterbehilfe im säkularen Staat, Frankfurt am Main 1998. Ð Ethik des Embryonenschutzes. Ein rechtsphilosophischer Essay, Stuttgart 2002. Ð Ethik und Interesse, Stuttgart 2003. Höffe, Otfried, Medizin ohne Ethik?, Frankfurt am Main 2002. Hoffmann, Thomas Sören, ¹Wer will unter die Piraten? Menschenwürde nach Hubert Markl: Freiheit an der Grenze zur Freibeutereiª, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 23. August 2001, 42. Huster, Stefan, ¹Bioethik im säkularen Staat. Ein Beitrag zum Verhältnis von Rechts- und Moralphilosophie im pluralistischen Gemeinwesenª, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 55 (2001) 2, 258±276. Ð Die ethische Neutralität des Staates. Eine liberale Interpretation der Verfassung, Tübingen 2002. Isensee, Josef, Art. ¹Staatª, in: Staatslexikon, hrsg. von der Görres-Gesellschaft, Band 5, 7., völlig neu bearbeitete Auflage, Freiburg-Basel-Wien 1989, Sp. 133±157. Ð Tabu im freiheitlichen Staat. Jenseits und diesseits der Rationalität des Rechts, Paderborn-München-Wien-Zürich 2003.

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Joas, Hans, ¹Respekt vor der Unverfügbarkeit ± Ein Beitrag zur BioethikDebatteª (2001), in: ders., Braucht der Mensch Religion? Über Erfahrungen der Selbsttranszendenz, Freiburg im Breisgau 2004, 143±150. Kaminsky, Carmen, Embryonen, Ethik und Verantwortung. Eine kritische Analyse der Statusdiskussion als Problemlösungsansatz angewandter Ethik, Tübingen 1998. Ð ¹Toleranz als Strategie. Wie klug ist es, die Redefreiheit in der Bioethik zu beschränken?ª, in: Dieter Birnbacher (Hg.), Bioethik als Tabu? Toleranz und ihre Grenzen, Münster-Hamburg-London 2000, 53±65. Kant, Immanuel, Die Metaphysik der Sitten. Erster Teil: Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre (1797), hrsg. von Bernd Ludwig, Hamburg 1986. Lutz-Bachmann, Matthias, ¹Postmetaphysisches Denken? Überlegungen zum Metaphysikbegriff der Metaphysikkritikª, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 56 (2002), 3, 414±425. Merkel, Reinhard, Forschungsobjekt Embryo. Verfassungsrechtliche und ethische Grundlagen der Forschung an menschlichen embryonalen Stammzellen, München 2002. Mieth, Dietmar, Die Diktatur der Gene. Biotechnik zwischen Machbarkeit und Menschenwürde, Freiburg im Breisgau 2001. Pawlik, Michael, ¹Kein Zutritt für Ungeboreneª, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 19. März 2002, L 22. von der Pfordten, Dietmar, Rechtsethik, München 2001. Picker, Eduard, ¹Vom ¸Zweck der menschlichen Würde. Ein Diskussionsbeitragª, in: Walter Schweidler/Herbert A. Neumann/Eugen Brysch (Hg.), Menschenleben ± Menschenwürde. Interdisziplinäres Symposium zur Bioethik, Münster-Hamburg-London 2003, 197±216. Poscher, Ralf, ¹Die Würde des Menschen ist unantastbarª, in: Juristen-Zeitung 59 (2004), 756±762. Schweidler, Walter, Geistesmacht und Menschenrecht. Der Universalanspruch der Menschenrechte und das Problem der Ersten Philosophie, FreiburgMünchen 1994. Ð ¹Die Menschenrechte als metaphysischer Verzichtª, in: ders., Das Unantastbare. Beiträge zur Philosophie der Menschenrechte, Münster-Hamburg-Berlin-London 2001, 73±100. Ð ¹Zur Analogie des Lebensbegriffs und ihrer bioethischen Relevanzª, in: ders./Herbert A. Neumann/Eugen Brysch (Hg.), Menschenleben ± Menschenwürde. Interdisziplinäres Symposium zur Bioethik, Münster-Hamburg-London 2003, 13±29. Ð ¹Vorwort. Bioethik zwischen Norm- und Nutzenkulturª, in: Oliver Tolmein/Walter Schweidler (Hg.), Was den Menschen zum Menschen macht. Eine Gesprächsreihe zur Bioethik-Diskussion, Münster-Hamburg-London 2003, 1±10. Ð Der gute Staat. Politische Ethik von Platon bis zur Gegenwart, Stuttgart 2004. Seelmann, Kurt, ¹Ethik der Verrechnung. Eine rechtsethische Kritik am Embryonenforschungsgesetzª, in: Neue Zürcher Zeitung vom 10./11. August 2002, 71.

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Ð ¹Haben Embryonen Menschenwürde? Überlegungen aus juristischer Sichtª, in: Matthias Kettner (Hg.), Biomedizin und Menschenwürde, Frankfurt am Main 2004, 63±80. Siemons, Mark, ¹Würde? Mit dem Embryo schützt der Staat sich selbstª, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 25. Mai 2001, 41. Spaemann, Robert, ¹Die Aktualität des Naturrechtsª (1973), in: ders., Philosophische Essays, Stuttgart, erweiterte Ausgabe 1994, 60±79. Ð ¹Über den Begriff der Menschenwürdeª (1987), in: ders., Grenzen. Zur ethischen Dimension des Handelns, Stuttgart, 2. Auflage 2002, 107±122. Ð Personen. Versuche über den Unterschied zwischen ¸etwas und ¸jemand, Stuttgart, 2. Auflage 1998. Ð ¹Gezeugt, nicht gemachtª, Die Zeit vom 18. Januar 2001, in: Zeit-Dokument 1 (2002), 71±74. Ð ¹Habermas über Bioethikª, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 50 (2002) 1, 105±109. Ð ¹Die Herausforderung der Zivilisationª, in: Oliver Tolmein/Walter Schweidler (Hg.), Was den Menschen zum Menschen macht. Eine Gesprächsreihe zur Bioethik-Diskussion, Münster-Hamburg-London 2003, 11±20. Stein, Tine, ¹Recht und Politik im biotechnischen Zeitalterª, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 50 (2002) 6, 855±870. Thomalla, Klaus, ¹Die Frage nach der ethischen Dimension des Handelns am Beispiel der Gentechnik: Zum Antwortversuch von Jürgen Habermasª, in: Matthias Kaufmann/Lukas Sosoe (Hg.), Gattungsethik ± Schutz für das Menschengeschlecht?, Frankfurt am Main/Berlin/Bern 2005, 131±159. Vollmer, Antje, ¹Die Versuchungª, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 16. Dezember 2004, 10.

Bioethik aus philosophischer Sicht: Kontroverse und Konvergenz

Peter Baumanns (Bonn)

Kants Reflexion der Menschenwürde und die Bioethik. Ethische Aspekte des frühen menschlichen Lebens Im folgenden sollen systematisch zusammenhängend einige bioethische Konsequenzen der Kantischen Ethik entwickelt werden1. Die Kantische Ethik, dies dürfte weithin unstrittig sein, reflektiert im ganzen die Würde des Menschen. Ebenso gehört zum allgemeinen Kant-Verständnis, daû Kant mit ¹Würdeª den ¹unbedingten Wertª, ¹unvergleichbaren Wertª, ¹absoluten Wertª des Menschen meint2, und daû für Kant die Würde des Menschen an seine praktische Subjektivität gebunden ist, d. h. an seine Personalität und Moralfähigkeit. Im Problemzentrum einer Kantischen Bioethik muû die Würde, also die Personalität und die Moralzugehörigkeit, des noch nicht oder nicht mehr moralmündigen Menschen stehen. Hier soll ¹nurª der personale und moralische Status des noch nicht moralmündigen Menschen thematisiert und insofern nach der Schutzwürdigkeit gefragt werden, die Embryonen, Feten und Säuglingen aus Gründen der Menschenwürde nach Kantischen Ethik-Prinzipien zukommt. Vor eine Interpretationsentscheidung aber stellt bereits die Frage, was die Personalität und die Moralfähigkeit und damit die Würde des Menschen bei Kant konstituiert, und zwar als Frage zunächst auf den jugendlichen und erwachsenen Menschen bezogen, ohne schon Embryo, Fetus und Säugling einzubeziehen. Als nicht-kantische Grundlage der Menschenwürde ist u. a. anzusehen: die Fähigkeit der identitäts- und persönlichkeitsbildenden Lebens1 2

Vgl. Verf., Kant und die Bioethik, Würzburg 2004. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA 4, 394, 436, 428.

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Peter Baumanns

planung und Lebensgestaltung, speziell die Fähigkeit des todesbewuûten Selbstentwurfs, die Leidens- und Mitleidensfähigkeit als reflektiertes und mit Grundsätzen reguliertes Vermögen, die Fähigkeit der präferentiellen (rationalen) Interessenwahrnehmung. Auf diesen Fähigkeiten beruht die Menschenwürde, die deskriptive und normative Sonderstellung des Menschen, für viele Ethiker, nicht aber für Kant. Nach einer verbreiteten Meinung sieht Kant als konstitutiv für Personalität, Moralfähigkeit und Menschenwürde die Vernunft an, den Vernunftgebrauch und, von den Interpreten mit besonderer Emphase ausgesprochen, die Reflexivität der Vernunft oder die vernünftige Reflexivität. Kant soll das Moralische mit dem reflexiv prüfenden und reflexiv geprüften Handeln gleichsetzen. Für Kant-Kritiker ist dieses Kant-Bild ein Anlaû, die Kritik Hegels am Kantischen ¹Formalismusª zu wiederholen3. Denn kongruiert das ¹Moralischeª rein mit der reflexiven Handlungsobservation, besagt Moralisch-Sein nicht mehr, als daû man sich im Leben überhaupt um einen durchgängigen Reflexionshabitus bemüht, dann ist der Ausdruck ¹Moralª genauso trivial und bedeutungsarm wie dieses Reflexivitätskonzept. Und dann hat auch die Rede von der ¹Menschheitª und ihrem normativen Vorrang, den Kant im Moralischen begründet sieht, keine groûe Bedeutung. Die ¹Würdeª des Menschen, dem ¹Achtungª gebührt, stellt sich zusammen mit der ¹Reflexionª als Sprachgötze, als bloûe Worterhabenheit heraus. Vom historischen Kant her geurteilt, kann die Aufklärung über Personalität, Moralität und Würde mit dem Thema der rationalen Reflexivität überhaupt allenfalls einsetzen. Denn Kant unterscheidet die instrumentelle und die reine Vernunft oder den schon vernunftbegabten ¹Tiermenschenª und den ¹Vernunftmenschenª, das Subjekt reiner Vernunft. Die Reflexion der Personalität, Moral und Menschenwürde muû sich auf dem Boden der Kantischen Philosophie in die Prinzipienschicht der reinen, nichtempirischen Vernunft begeben. Sie muû die empirische Anthropologie und Psychologie und auch die kulturhermeneutische Betrachtungsweise hinter sich lassen. Die eigene Deutung als Kulturspezifikum kann sie allerdings nicht verhindern, die Enthüllung z. B. als aufgeklärte 3 Vgl. Robert B. Pippin, ¹Über Selbstgesetzgebungª, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 51. Jahrg., 2003, Heft 6, 905±926.

Kants Reflexion der Menschenwürde und die Bioethik

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Transformation einer Innerlichkeitsreligion oder als theoretisches Surrogat politischer Befreiungsaktionen.

*** An Kants ¹Würdeªbegriff bzw. an sein Verständnis von Personalität und Moralität heran führt der ¹Freiheitsª- bzw. ¹Autonomieªbegriff. Hier wird vorausgesetzt, daû ¹Personalitätª, ¹Moralfähigkeitª, ¹Freiheitª, ¹Autonomieª und ¹Würdeª Eine identische Eigenschaft des erwachsenen Menschen nach verschiedenen Seiten hin reflektieren, das Vermögen des Menschen nämlich, die reine oder einfache Notwendigkeit und Allgemeinheit, die Notwendigkeit und Allgemeinheit tout court oder die Gesetzmäûigkeit ohne Zusatz und Beinamen, im Wollen und Handeln zur Geltung zu bringen, wie nominell bekannt: durch Maximen-Universalisierung. Die Idee der strengen oder einfachen Notwendigkeit und Allgemeinheit ist, wie dann nur noch bei Hegel, die Zentralidee des Kantischen Systems. Nur in Verbindung mit der Idee der einfachen Notwendigkeit und Allgemeinheit gewinnen Reflexivität, Apperzeption, Ich und Selbst bei Kant einen mehr als empirischpsychologischen oder empirisch-anthropologischen Sinn. Auf die Kenntnis der puren Allgemeinheit und Notwendigkeit wird von Kant das urphilosophische Interesse an Konstanz und Invarianz zuletzt verwiesen. Sie trägt wie eine Cartesische idea innata bei Kant alles theoretische und praktische Philosophieren. Sie gibt ihm seine apriorische, nichtempirische und metaphysische Ausrichtung. Die Sandigkeit dieses Baugrundes muû nachweisen, wer die Kantische Philosophie einschlieûlich ihrer bioethischen Implikationen inkompatibel mit dem heute oder nach der Metaphysik noch möglichen Stil des Philosophierens findet. Mit der schulübergreifenden Kritik der ¹Eigenschaftª als provisorische und instabile Designation wird man die Eröffnung der nichtempirischen Reflexionsdimension, die Einführung der in allen Prinzipien nur spezifizierten formalen Universalien nicht destruieren können. ¹Autonomieª meint erstursächlich-selbsthaft praktizierte Allgemeinheit und Notwendigkeit. ¹Personª bezeichnet das Subjekt universeller und notwendiger Erstursächlichkeit. Als durch die Heteronomie der erfahrungsweltlichen, nur komparativ allgemei-

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nen Neigungen affiziertes Subjekt sieht sich der Mensch genötigt, seinem Handeln und damit sich selbst einen durch Autonomie bestimmten Charakter zu geben. So ist er sich selbst Zweck und, im Lichte der Unterscheidung von ¹an sichª und ¹Erscheinungª, an sich selbst Zweck und daher auch für seinesgleichen Selbstzweck. Über die vielfach zu hörende, empirisch-biographische Rede von der ¹personalen Autonomieª als der selbstbestimmten Persönlichkeitsbildung, dem Sich-zu-etwas-Machen oder Etwas-aus-sich-Machen, geht die ¹Autonomieª des erstursächlich personalen Subjekts weit hinaus4. Der Begriff der ¹Würdeª überführt im Ausgang von der ¹Autonomieª die deskriptive Charakteristik des homo noumenon und homo phaenomenon in die axiologische Perspektive. Letztere ist ursprünglich dem homo phaenomenon eigen, seiner pragmatischen Begehrenstechnologie, seiner nutzenkalkulatorischen Rationalität. Die Rede von der ¹Würde des Menschenª ist eine appellative Selbstdarstellung des homo noumenon ad hominem phaenomenon. ¹Würdeª ist ein komparativer Wertungsbegriff aus dem Standpunkt des homo noumenon in limitationaler Fortbildung der Sprache des homo phaenomenon. Die oft sprachkritisch inkriminierte Bedeutungsunbestimmtheit und ideologischer Verwendung entgegenkommende Formelhaftigkeit der ¹Würdeª findet von der Kantischen Ethik her eine subjektssprachliche Erklärung. Umgekehrt gibt die Kantische Reflexion der Würde linguistische Kriterien an die Hand. So erscheint der Satz Art. I.1 GG ¹Die Würde des Menschen ist unantastbarª als Tautologie, weil ¹Würdeª selbst schon mit normativer Kraft die Unantastbarkeit des Daseins und Soseins des Menschen feststellt. Der Satz besagt vom Kantischen Sprachsystem her gelesen, das man ihm als zumindest einfluûreiche Quelle zuschreibt: Die Unantastbarkeit des Menschen ist unantastbar. Der nächste Satz: ¹Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller 4 Zum Kantischen Person-Begriff vgl. Georg Mohr, ¹Personne, personnalitØ et libertØ dans la Critique de la Raison pratiqueª, in: Revue Internationale de Philosophie, 1988, 289±319; ders., ¹Einleitung. Der Personbegriff in der Geschichte der Philosophieª, in: Dieter Sturma (Hg.), Person, Paderborn 2001, 25±35; Der Begriff der Person bei Kant, Fichte und Hegel, ebd. 103±141. Die Unterscheidung eines ¹allgemeinen moralneutralenª (¹handlungstheoretischenª) und eines ¹spezifischen, moralphilosophischenª Sinnes der ¹Autonomieª bzw. der ¹Persönlichkeitª oder auch des ¹Vermögen der Selbstbestimmung im Handelnª überhaupt und der pflichtorientierten Autonomie bzw. Persönlichkeit ist allerdings abwegig. ± Zu Kants Unterscheidung des transzendentalen und empirischen Subjekts vgl. Verf., Kants Philosophie der Erkenntnis, Würzburg 1997, 712±737.

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staatlichen Gewaltª ist von Kant her so zu lesen und ergibt dann auch an sich und nachträglich für den ersten Satz einen guten Sinn: Die Würde (Unantastbarkeit, Achtbarkeit) des Menschen zu schützen, ist staatliche Pflicht. Wenn man die beiden Sätze des Grundgesetzes nicht ihrer vermutbaren Sinnbestimmung entsprechend als metaphysisch-juridische oder ethisch-juridische Begründungssequenz, sondern als Tautologie liest, also den zweiten Satz als Reformulierung oder Verdeutlichung des ersten, ist der erste Satz tautologiefrei. ¹Würdeª meint in paradoxierter Nutzenssprache das Überragen alles Nützlichseins, das An-sich-Wertvollsein, den aller Verrechenbarkeit von Tausch- und Gebrauchswert entzogenen, nichtwarenhaften Wert des Menschen, sofern er Universalität und Nezessität realisiert. Die Begriffskühnheit der ¹Würde des Menschenª oder des Projekts des Umwertens aller Richtwerte des Lebens auf den Menschen selbst hin gibt der Idee der Humanität bei aller Abstraktheit einen kontextuell greifbaren, wenn auch gewiû nicht allgemein akzeptablen Sinn: ¹Ein jeder Mensch hat rechtmäûigen Anspruch auf Achtung von seinen Nebenmenschen, und wechselseitig ist er dazu auch gegen jeden anderen verbunden. ± Die Menschheit selbst ist eine Würde; denn der Mensch kann von keinem Menschen (weder von Anderen noch sogar von sich selbst) blos als Mittel, sondern muû jederzeit zugleich als Zweck gebraucht werden, und darin besteht eben seine Würde (die Persönlichkeit), dadurch er sich über alle andere Weltwesen, die nicht Menschen sind und doch gebraucht werden können, mithin über alle Sachen erhebt. Gleichwie er also sich selbst für keinen Preis weggeben kann (welches der Pflicht der Selbstschätzung widerstreiten würde), so kann er auch nicht der eben so nothwendigen Selbstschätzung Anderer als Menschen entgegen handeln . . .ª5. Kants ¹Pädagogikª sagt in dieser Hinsicht, daû der Mensch ¹in seinem Innern eine gewisse Würdeª hat, ¹die ihn vor allen Geschöpfen adeltª, und daû es ¹seine Pflicht ist . . ., diese Würde der Menschheit in seiner eignen Person nicht zu verleugnen. . . . Er tadelt sich, wenn er die Idee der Menschheit vor Augen hat. Er hat ein Original in seiner Idee, mit dem er sich vergleichtª6. Den religiösen

462.

5

Metaphysik der Sitten, Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre, AA 6,

6

AA 9, 488 f.

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Oberton dieser Evokation der menschlichen Würde als eines inneren Adels kann man festhalten, wenn man die der Autonomie entspringende ¹Würdeª des Menschen als Selbstzwecks mit dem Vermögen assoziiert, in der Maximenbildung dem Ideal der Heiligkeit nachzustreben. Kants Würdebegriff steht unter dem Aspekt, daû Würde einem Wesen zukommt, das dem Ideal der Heiligkeit nacheifert, in Verbindung mit der ¹imagoª- und ¹imitatioª-Begriffstradition der ¹dignitasª7.

*** Die bioethische Auswertung der Kantischen Ethik setzt eine Bestimmung des Begriffs der ¹Menschenwürdeª im systematischen Kontext voraus. Auch der Kontext selbst aber oder die Art der Ethik-Systematik bedarf einer Aufklärung, und zwar insbesondere dahingehend, daû es sich bei allen exponierten Leitbegriffen um Elemente einer ¹praktisch-dogmatischen Doktrinª nach der Terminologie der ¹Fortschritte der Metaphysikª handelt8. Dies besagt, daû die ethische Reflexion der Würde bei Kant den epistemischen Status eines moralisch-praktischen Glaubens hat, d. h. eines nur subjektiv zureichend begründeten Fürwahrhaltens. Der inhaltliche Verweisungszusammenhang von Freiheit, Autonomie, Personalität und Würde wird von Kant allein an der Subjektivität festgemacht, 7 Vgl. W. Dürig, Art. ¹Dignitasª, in: Reallexikon für Antike und Christentum 3 (1957), 1024±1035. Vgl. auch Giovanni Pico della Mirandola, Über die Würde des Menschen (De hominis dignitate) [1486], Hamburg 1990, 11: Wir sollten ¹die freie Wahl die uns Gottvater gegeben hat, nicht durch Miûbrauch seiner Groûzügigkeit von etwas Heilsamem zu etwas Schädlichem machen. Ein heiliger Ehrgeiz dringe in unsere Seele, daû wir, nicht zufrieden mit dem Mittelmäûigen, nach dem Höchsten verlangen und uns mit ganzer Kraft bemühen, es zu erreichen ± denn wir können es, wenn wir wollen. Laût uns das Irdische verschmähen, das Himmlische verachten, und indem wir alles zur Welt Gehörige schlieûlich hinter uns lassen, dem auûerweltlichen Hof zueilen, der der erhabenen Gottheit am nächsten ist. Dort haben, wie die heiligen Mysterien überliefern, die Seraphim, die Cherubim und die Throni den ersten Rang inne. Ihrer Würde und ihrem Ruhm wollen wir nacheifern (horum . . . et dignitatem et gloriam aemulemur), unnachgiebig und ohne den zweiten Rang zu ertragen. Wir werden um nichts unter ihnen stehen, wenn wir nur wollen . . .ª. 8 ¹Hieraus folgt die Einteilung der Stadien der reinen Vernunft, in die Wissenschaftslehre, als einen sichern Fortschritt, ± die Zweifellehre, als einen Stillestand, ± und die Weisheitslehre als einen Überschritt zum Endzweck der Metaphysik: so daû die erste eine theoretisch-dogmatische Doctrin, die zweite eine skeptische Disciplin, die dritte eine praktisch-dogmatische enthalten wirdª (AA 20, 273).

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nicht unmittelbar oder mittelbar an der Erfahrungswelt, und ist daher ¹nurª Gegenstand einer unumstöûlichen Glaubensgewiûheit. Kant hat für die Freiheit, Autonomie und Würde des Menschen den einzigen subjektstheoretischen Beweisgrund, der in Betracht kommt, ausgeschlossen: die Unentbehrlichkeit als Konstitutionsbedingung der Erfahrung. Stattdessen hat er dem sehr wohl schon in der theoretischen oder Erfahrungs-Erkenntnis auftauchenden Freiheitsbegriff, dem kosmologisch-dialektischen Begriff der Erstursächlichkeit, eine Orientierungsleistung im Denken zugeschrieben. Der kosmologische Begriff der Erstursächlichkeit wird für die Erfahrungskonstitution nicht gebraucht, er ist für die Erfahrung unbrauchbar, aber er trägt zur moralgesetzlichen Beglaubigung der menschlichen Autonomie und Würde bei, und zwar nicht zuletzt aufgrund seiner nachweisbaren Erfahrungsabstammung. Die Erfahrung legitimiert in gewissem Umfange das moralisch-praktische Freiheitsdenken, den im Moralgesetz begründeten Freiheitsglauben, indem sie den Begriff der Freiheit hervorbringt, und sei er auch noch so dialektisch-antinomisch korrupt oder defizitär. Sie entspricht damit einem ¹Bedürfnisª der praktischen Vernunft. Der theoretischen Vernunft wird ebenfalls ein ¹Bedürfnisª erfüllt. Sie findet im Mitbeglaubigen der praktischen Erkenntnis heraus, wozu sie mit ihrer Freiheitsdialektik dienlich ist. Damit, daû der moralisch-praktische Freiheitsglaube eine Idee in Anspruch nimmt, die der Erfahrungserkenntnis notwendig ist, wird dem Legitimationsbedürfnis der theoretischen Vernunft von Seiten der praktischen Vernunft Genüge getan9. Das theoretisch-praktische Denken versichert sich seiner selbst in interner wechselseitiger Orientierung. Zur Systematik der Menschenwürde gehört für Kant nicht ihr Beginn in der theoretischen Subjektivität. Die Würde wird zufolge der Unbestimmbarkeit dessen, was das theoretische Subjekt an sich sein mag, nicht schon durch die bloûe Reflexivität und auch nicht durch den formallogischen und den kategoriallogischen Verstand konstituiert. Zum Begründungssystem der Würde aber gehört vermittelst der kosmologisch-dialektischen Freiheitsidee eine strukturelle Wechselverweisung der theoretischen und praktischen Ver-

9

Vgl. KpV, AA 5, 48.

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nunft, das nicht weiter erklärbare Koordiniertsein des erfahrungstheoretischen Wissens und des moralisch-praktischen Glaubens.

*** Mit der Unerklärbarkeit der theoretisch-praktischen Vernunftarchitektur wird die metaphysische Grunddimension der Kantischen Ethik erreicht. Sie dokumentiert sich in der Rede vom ¹Faktumª und vom ¹Geheimnisª des Praktischen. Kant bezeichnet als ¹Faktumª das Bewuûtsein des theoretisch-empirisch und ethischtheologisch unergründlichen Sittengesetzes. Und da mit dem transempirischen Gesetzesbewuûtsein das Freiheitsbewuûtsein, mit dem unbedingten Sollen das unbedingte Können sinnhaft verbunden ist, so nennt er ¹Faktumª auch die Selbstgesetzgebung, die Autonomie, wodurch sich reine Vernunft als praktisch beweist10. Auf dem Prinzipienkomplex der autonomen Freiheit oder der Moralfähigkeit aber beruht die menschliche Würde, und so ist auch sie als Faktum und damit als die repräsentativste Manifestation der theoretischen und praktischen Endlichkeit des Menschen zu beurteilen. Sie selbst ist als endliche Würde anzusehen. Das semantische ¾quivalent zu ¹Faktumª, dem ¹unerforschlichen Vermögenª, ist ¹Geheimnisª. In der Schrift über den vornehmen Ton (1796) führt Kant aus: ¹Was ist das in mir, welches macht, daû ich die innigsten Anlockungen meiner Triebe und alle Wünsche, die aus meiner Natur hervorgehen, einem Gesetze aufopfern kann, welches mir keinen Vortheil zum Ersatz verspricht und keinen Verlust bei Übertretung desselben androht . . . Diese Frage regt durch das Erstaunen über die Gröûe und Erhabenheit der inneren Anlage in der Menschheit und zugleich die Undurchdringlichkeit des Geheimnisses, welches sie verhüllt (denn die Antwort: es ist die F r e i h e i t , wäre tautologisch, weil diese eben das Geheimniû selbst ausmacht), die ganze Seele auf. Man kann nicht satt werden sein Augenmerk darauf zu richten und in sich selbst eine Macht zu bewundern, die keiner Macht der Natur weicht . . .ª11. Nach einer bekannten Aussage der ¹Grundlegung zur Metaphysik der Sittenª überschritte die Vernunft alle ihre Grenze, wenn 10

KpV, AA 5, 31, 42.

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sie sich zu erklären unterfinge, wie reine Vernunft praktisch sein kann, d. h. wie autonome Freiheit möglich ist. An Freiheit, Autonomie, naturüberlegene Macht und von daher an menschliche Würde wird geglaubt12. Und zwar so, daû die faszinierende Unerforschlichkeit der autonomen Freiheit und der menschlichen Würde die Denknotwendigkeit impliziert, mit der Idee der Freiheit die Idee ihrer Herkunft zu verbinden. Es ist zwar unmöglich, die Frage nach der Herkunft der autonomen Freiheit anders als mit einem ¹Xª zu beantworten. Die Herkunftsfrage selbst aber kann nicht abgewiesen werden, dies belegt die Rede vom ¹Faktumª und vom ¹Geheimnisª. Zur Semantik der Freiheit gehört der Herkunftsbereich der Freiheit = X.

*** Der skizzierte Prinzipienhintergrund der ¹Würdeª des Menschen ermöglicht den Übergang zu ihrer bioethischen Sicht, und zwar an erster Stelle die Frage nach der Würde und Schutzwürdigkeit des noch nicht moralmündigen Menschen. Die pränatale Problemstellung der Würde ist klar: Wie kann dem Embryo bzw. Fetus, der noch kein Selbst- und Verantwortungsbewuûtsein besitzt, der weder zum rational nutzenorientierten noch zum moralisch qualifizierten Handeln gelangt ist, Personalität und Würde zuerkannt werden? Wie kann es überhaupt ein medizin- und forschungsethisches Problem des Embryonenverbrauchs geben? Liegt es nicht nach Kantischen Prinzipien nahe, wie auch oft konstatiert wird, die vorgeburtliche Leibesfrucht, ja noch den Säugling, als selbst auûerhalb der Subjektivitäts- und Würde-Gemeinschaft stehend und damit allenfalls als bedingt schutzwürdig anzusehen: als vorwirkend schützenswert um seiner späteren Entwicklung willen, schützenswert mit Rücksicht auf den Kindeswunsch und das Wohlbefinden der Eltern, besonders aber der schwangeren Frau, schützenswert im Hinblick auf das gesellschaftliche Interesse an 11 Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie, 1796, AA 8, 387±406, 402 f. Vgl. KpV, AA 5, 82; Religion innerhalb der bloûen Vernunft, AA 7, 58 f. 12 Vgl. GMS, AA 4, 458 f.

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genügend zahlreichen und ökonomisch wie kulturell produktiven Nachkommen, oder auch nur schützenswert, analog Kants Tierethik, zur Abwehr von Verrohungstendenzen? Können aber durch solche sekundären Rücksichtnahmen die Erwartungen aufgewogen oder übertroffen werden, die sich mit der pränatalen Diagnostik, der In-vitro-Fertilisation, der Präimplantationsdiagnostik, dem therapeutischen Klonen und der embryonalen Stammzellenforschung verbinden? Für den Kantianer sind es anders als für den ¹utilitaristischenª Individual- und Gemeinwohlethiker Erwartungen, die sich primär nicht auf Leidverringerung und Glücksgewinn beziehen, sondern die Chancen menschenwürdig-selbstbestimmten Lebens betreffen, also die Förderung von Moralmündigkeit und Moralhabilität. Zerstreuen nicht diese Erwartungen und Hoffnungen die ethischen Zweifel an der Biotechnologie? Oder geben zugunsten der restriktiven Pränatalethik die folgenden, zusätzlichen Argumente den Ausschlag: die physische und psychische Belastung der Frau bei In-vitro-Fertilisation und Präimplantationsdiagnostik, die erschwerte Selbstidentifikation des Kindes bei anonymer Insemination, die drohende Ökonomisierung der Fortpflanzung in Zusammenhang mit Eizellspende, Leihmutterschaft und gentechnologischem Typdesign, die Asexualität des reproduktiven Klonens als Mechanisierung des Familienlebens? Auch diese gewiû zur Immunitätserklärung oder Tabuisierung des Pränatalbereichs drängenden Argumente werden jedoch am praktisch-ethischen Nutzen zunichte, den die Biotechnik verspricht. Die extrem liberale Bioethik scheint die einzig angemessene Auslegung der Kantischen Ethik zu sein: die weitgehende Freigabe des Pränatalbereichs für biologische und medizinische Eingriffe im Interesse des menschenwürdig selbstbestimmten Lebens. Der extrem technologiefreundlichen bioethischen Kant-Interpretation aber kann ein Grundfehler nachgewiesen werden. Sie verkennt die Kantische Idee der Menschenwürde. Insbesondere vernachlässigt sie die für Kants Reflexion der Menschenwürde signifikante Faktizität, das Verhaltenheit gebietende Geheimnis der autonomen Freiheit und der praktischen Subjektivität überhaupt, sofern es noch über die Zeugung hinaus auf den Herkunftsbereich = X der Freiheit verweist. Dasselbe Urteil: daû Kants Reflexion der Menschenwürde miûverstanden wird, muû allerdings auch über die extrem restriktive bioethische Auslegung der Kantischen

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Ethik verhängt werden. Man kann zeigen, daû die Kantische Ethik der Bioethik auf Biotechnologie bezogen einen dritten Weg weist, den sie allein noch offen läût: den kritischen Mittelweg zwischen extremer Permissivität und extremer Restriktivität, Alles-Erlauben und Nichts-Dulden. Zunächst eine terminologische Erläuterung. Die Kantische Bioethik, die wir (re)konstruieren, ist auf das Idiom der ¹Bestimmungª und ¹Berufungª angewiesen, wenn sie sich von der Erzeugung eines mit autonomer Freiheit begabten Wesens, einer Person, einen Begriff machen will. Denn unmöglich kann man sich die Erzeugung eines freien Wesens, wie Kant selbst in der ¹Metaphysik der Sittenª formuliert, ¹durch eine physische Operationª denken.13 Die ¹Bestimmungª oder ¹Berufungª gehört bei Kant ursprünglich zur Sprache des ¹ethischen Staatesª oder der unsichtbaren ¹Kircheª. Zur Mitgliedschaft in dieser Organisation der moralischen Gesinnungsgemeinschaft unter einem Symbol und ungeschriebenen Gesetzen kann man dem Sinn von ¹Freiheitª entsprechend nur ¹bestimmtª oder ¹berufenª, nicht aber genötigt werden. Es liegt nahe, ja es drängt sich sprachlogisch auf, analog hierzu von einer Bestimmung oder Berufung des Menschen schon zur Freiheit überhaupt zu sprechen. Diese Bestimmung oder Berufung stellt sich dann über zwei Näherungsstufen dar. Sie erscheint zunächst als Bestimmung oder Berufung aus der sich selbst organisierenden und sich selbst erweiternden Autonomie-Gemeinschaft, dem ¹Reich der Zweckeª einschlieûlich der Organisationsform des ¹ethischen Staatesª. Die eigene Faktizität der Autonomie-Gemeinschaft aber zwingt, den Horizont auszudehnen. Die Bestimmung oder Berufung zur Freiheit muû ursprünglich als destinatio oder vocatio aus dem Herkunftsbereich der Freiheit = X verstanden werden. Die Aufnahme eines neuen Mitgliedes der Autonomie-Gemeinschaft ist als ¹Einbürgerungª (Eingliederung) aus dieser Abkunft zu denken, nicht als Kooptiertwerden durch die Gemeinschaft. Kein Einzelner und keine Gemeinschaft, weder eine Kulturgemeinschaft noch die weltumspannende moralische Autonomie-Gemeinschaft, kann das Recht verleihen, als ein Subjekt moralisch-praktischer Vernunft zu gelten. Einzelne und die Gemeinschaft können die Realisation der

13

AA 6, 280.

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¹Bestimmungª oder ¹Berufungª zur Autonomie nur unterstützen. Wie ist dieser Beitrag zu verstehen? Anwendung der transzendentalkritischen Grundunterscheidung von ¹an sichª und ¹Erscheinungª auf den Menschen ergibt im Lichte des Autonomie-Faktums die Möglichkeit, den individuellen konkreten Menschen als ¹Person-in-der-Ideeª zu konzeptualisieren. Es ist transzendentalphilosophisch möglich, die ¹Ideeª des konkreten moralisch-praktischen Subjekts zu fassen, und zwar so, daû von diesem Menschen gesagt werden kann, daû er als zur Freiheit bestimmtes oder berufenes Wesen durch Zeugung auf die Welt herübergebracht wird, durch wie auch immer erfolgende Zeugung. Die beteiligten Personen konkretisieren die Zeugung, und zwar ohne den nondum conceptus nach seinem Einverständnis oder Einvernehmen in Gedanken zu befragen, also fernab einer diskurshypothetischen Kooptation. Kant selbst bezeichnet es in der ¹Metaphysik der Sittenª als ¹eine in praktischer Hinsicht ganz richtige und auch nothwendige Ideeª, ¹den Act der Zeugung als einen solchen anzusehen, wodurch wir eine Person ohne ihre Einwilligung auf die Welt gesetzt und eigenmächtig in sie herüber gebracht haben . . .ª14 Im Zentrum der Reflexion der pränatalen Menschenwürde muû die Zeugung stehen. Genau mit der Weitergabe menschlichen Lebens durch Menschen wird einem möglichen Subjekt moralischpraktischer Vernunft zur Existenz verholfen, und zwar in einem durch individuelle und gemeinschaftliche Autonomie geprägten Handlungsraum, wie kulturabhängig oder zeitbedingter Präferenz folgend die gewählte Zeugungsweise auch sei: ob sexuell oder asexuell, in vivo oder in vitro, kommunikativ oder anonym, ehelich oder unehelich. Kant selbst konnte sich die moralisch und rechtlich statthafte Zeugung nur unter der Form der Ehe denken. Das Dargelegte bedeutet für die Frage des Existenzanfangs als Träger eines personalen und moralischen Status: Der Lebensanfang des Menschen ist mit seinem Eintritt in die normative Gemeinschaft der Autonomie identisch, mit seinem Hinzukommen zum ¹Reich der Zweckeª, dem Ganzen der Selbstzwecke und ihrer Zwecksetzungen. Als äuûeres Kriterium des Existenzanfangs hat die erfolgreiche Zeugung zu fungieren, und zwar auch für den Fall, daû sie eine Mehrlingsbildung einleitet. Ist sie nicht auszu14

AA 6, 281.

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schlieûen, so hat sie als dem von freiheitsmetaphysischem Sinn durchdrungenen Zeugungssystem gleichsam faktisch eingepaût zu gelten. In allen wesentlichen Belangen ist der Existenzanfang des personalen Subjekts, wie die Charakterwahl und der schon beim Welteintritt selbstverschuldete Hang zum Bösen, in der Sprache der Kantischen Religionsschrift zu den Geheimnissen zu zählen, ¹sofern sie die moralische Lebensgeschichte jedes Menschen betreffen . . .ª15. Was die Menschenwürde und Schutzwürdigkeit der nicht lebensfähigen, der ¹todgeweihtenª Embryonen, und der lebensfähigen, aber in Forschungsexperiment und Therapie ¹verworfenenª oder ¹verbrauchtenª Embryonen angeht, so ist nur konsequent zu folgern. Das Verständnis der Zeugung als anfängliches, in der Pflege und Erziehung sich fortsetzendes Herüberbringen einer konkreten Person-in-der-Idee aus der Idealität in die Realität hat zur Konsequenz, daû man alles von Menschen wie auch immer gezeugte Leben dem Ordnungszusammenhang von Vernunft- und Erscheinungswelt zugehörig zu denken hat. Allem durch menschliche Zeugung embryonal und fetal Lebenden ist eine Personalitäts- und Würdeposition zuzuerkennen, wenn auch so, daû die im Werden begriffene Subjektivität, die auf dem Weg befindliche Moralmündigkeit, mitbedacht wird. Die bioethische Hauptfrage lautet dann: Hat man den Personalitätsmodi entsprechend auch Modalstufen der Menschenwürde und fallende Schutzwürdigkeitsgrade anzunehmen, also auch ein Schuldgefälle im ¹instrumentalisierendenª oder ¹verdinglichendenª Umgang mit dem frühen Leben? Dies zu folgern, scheint unausweichlich, solange man nicht das Herkommen der Freiheit, das Werden und den Weg der praktischen Subjektivität, als Hinstreben teleologisch interpretiert. 15 AA 6, 143. ± Nach Nikolaus Knoepffler ist es ¹nicht ausgeschlossen, dass Kant dem menschlichen Keim Menschenwürde zuerkannt hätte, weil er ihn sich mit einer präexistenten Seele beseelt denken könnte.ª Kant aber habe das Extensionsproblem ¹weder in der einen noch in der anderen Weiseª gelöst (Menschenwürde in der Bioethik, Berlin 2004, 43, 44.) Nach Georg Geismann betrachtet Kant den menschlichen Embryo und Fetus als recht- und würdeloses, ¹bloûes, rein naturgesetzlich determiniertes Naturwesenª (¹Kant und ein vermeintes Recht des Embryosª, in: Kant-Studien 95. Jg., 2004, 443±469, 468.). Für Kant sind dem Menschen Würde und das Recht auf menschenwürdige Behandlung von Lebensbeginn an eigen, sofern er im Handlungskontext der Lebensgemeinschaft der Autonomie durch Zeugung mit der ¹Anlageª zur juridischen und moralischen Freiheitsbetätigung in die Welt herübergebracht wird.

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Die These von der modalen Personalität, Menschenwürde und Schutzwürdigkeit muû jedoch auf der Stelle vor einem Miûverständnis bewahrt werden. Die Würde des Menschen ist eine gewisse, eine endliche Würde, weil die Moral eine unvollkommene Realisationsform der einfachen Notwendigkeit und Allgemeinheit ist. Ihre Unfertigkeit, auf der Kant das Unsterblichkeitspostulat begründete, erklärt sich daraus, daû sie zur Existenzweise eines Lebewesens, d. h. eines seine Vergänglichkeit tradierenden Gattungswesens, gehört. In der Bindung an die Autonomie-Gemeinschaft, die Einheitsorganisation der intelligiblen und empirischen Welt, ist die Würde daher sowohl von individueller Heiligkeit als auch von Summenhaftigkeit unterschieden. Die Autonomie- und Würdegemeinschaft unterliegt Strukturzwängen, und das Zeugungssystem bildet keine Ausnahme. Es ist nur, wie es sein kann. Aus diesem Grunde besitzt jeder Embryo auf seine Weise die Würde der Menschheit: auch der nicht lebensfähige und der verbrauchte. Die Menschenwürde ist als entwicklungs- und beitragsgemäû modalisierte in jedem embryonalen Element des Gattungslebens unverkürzt manifest, nicht mehr oder weniger präsent.

*** Schon die modalbegriffliche Abstufungsthese zur frühmenschlichen Personalität, Würde und Schutzwürdigkeit deutet an, daû und wie die Kantische Bioethik den kritischen Mittelweg zwischen Liberalismus, normativer Erlaubniswilligkeit, und Restriktionismus, normativer Verbotshaltung, zu gehen vermag. Die Kantische Ethik aber bietet der Bioethik auch eine explizite Möglichkeit, Restriktionismus zu vermeiden. Gemeint ist das ¹Erlaubnisgesetz der moralisch-praktischen Vernunftª, von dem es in der ¹Metaphysik der Sittenª heiût, daû es in engsten Grenzen ¹etwas an sich zwar Unerlaubtes, doch zur Verhütung einer noch gröûeren Übertretung (gleichsam nachsichtlich) erlaubt machtª16. Dieses Vernunftgesetz, das Kant mit dem Beispiel der ehelichen Sexualität bei einseitiger Zeugungsfähigkeit oder Libido des Mannes illustriert, wird von den Interpreten übersehen, als bloûes Gedankenspiel übergangen, 16

Vgl. AA 6, 426.

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ja als kalkulatorische Entgleisung bedauert. Nur dies aber hat Bedeutung: daû es überhaupt ermittelt und durch Beispiele erläutert werden kann. Es ist auch nicht als substantielle Erweiterung der Kantischen Ethik anzusehen. Es liegt in der Konsequenz der Ethik der Freiheit, Autonomie und Menschenwürde. Die Ethik des kategorischen Imperativs, es sei wiederholt, weiû um die Imperfektibilität der menschlichen Moral. Die Moral muû das Erlaubnisgesetz aufgrund dieser Eigenschaft einschlieûen. Ihr kann um der unbedingt gebotenen Geringhaltung des moralischen Übels willen die Vergleichung gegenwärtigen und zukünftigen Fehlverhaltens auf den geringeren Grad der Moralwidrigkeit hin nicht fremd sein. Die vernunftgesetzliche Erlaubnis des Abwägens moralischer Übel trägt der Unvermeidbarkeit individueller und sozialer Schuld Rechnung. Die Kantische Ethik unterhöhlt mit dem strukturnotwendigen Gesetz nicht das Prinzip der zu achtenden Menschenwürde. Sie stellt damit keinen Freibrief für das Töten von noch nicht oder nicht mehr moralmündigen Menschen aus. Es erscheint z. B. als Verringerung des moralischen Fehlverhaltens, als weniger schuldhaft, in Stickstoff gelagerte und todgeweihte Frühembryonen für die Erforschung bisher unheilbarer Krankheiten zur Verfügung zu stellen, wenn sich dieses Handeln gegenüber anderen Vorgehensweisen nachdrücklich empfiehlt17.

*** Nach der Skizzierung des normativen Zuschnitts der Kantischen Bioethik als Mittelweg zwischen Permissivität und Restriktivität stellen wir die Frage nach der Art der Kantischen Problembewältigung. Der entscheidende Befund scheint dieser zu sein: Die nichtadultistische Konzeption der menschlichen Würde und der Existenz als Person wird bei Kant ermöglicht durch die Konzentra17

Vgl. die Schrift Zum ewigen Frieden, AA 8, 373, über die gleichsinnigen ¹Erlaubniûgesetze der Vernunft, den Stand eines mit Ungerechtigkeit behafteten öffentlichen Rechts noch so lange beharren zu lassen, bis zur völligen Umwälzung alles entweder von selbst gereift, oder durch friedliche Mittel der Reife nahe gebracht worden: weil doch irgend eine r e c h t l i c h e , obzwar nur in geringem Grade rechtmäûige, Verfassung besser ist als gar keine, welches letztere Schicksal (der Anarchie) eine ü b e r e i l t e Reform treffen würde.ª

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tion auf das Freiheitsproblem und durch die transzendentalkritische Legitimation eines lebensvorgängigen Anfangs-Punktes, man könnte sagen: durch einen transzendentalethischen Platonismus der Freiheit, die Verlegung des Ursprungs der Freiheit in ein ideelles, unbestimmt-unbestimmbares, aber glaubensgewisses Jenseits = X. Ein Ur-Anfang fundiert bei Kant den der Moralmündigkeit vorangehenden Lebens- und Existenzanfang. Welche Alternativen werden versucht? Man begnügt sich in der ethischen und bioethischen Literatur weithin damit, auf ¹unsere gemeinsamen Grundintuitionenª zu rekurrieren. Zu diesen ästimativen Habitualitäten werden zwei Hauptverhaltensweisen eingenommen. Sie werden aus dem kulturhermeneutischen Blickwinkel, unterstützt von konkreter Geschichtsforschung, nicht zuletzt politischer Verfassungsgeschichte, als anhaltende oder auch bereits in Frage gestellte Errungenschaften bewertet. Was speziell das liberal-egalitäre Denken der mit Heiligkeit (Unantastbarkeit) konnotierten Würde betrifft, das sich ihrem stratifikatorisch-hierarchischen Verständnis schon in der kosmopolitischen Richtung der Sophistik und in der Stoa entgegengestellt hat und dem auch die Kantische Reflexion des moralisch und und rechtlich autonomen Subjekts zugeordnet werden kann, so liegt dem kulturgeschichtlichen Zugang die Funktionsdeutung dieses Würdebegriffs als kognitives oder auch nur konstruktiv-instrumentelles ¾chtungsprinzip überhandnehmender Willkürverletzungen der menschlichen Elementargüter Leben, Gesundheit, freie Selbstentfaltung und Eigentum nahe, die sich durch die normative Idee der Würde begründet als Gegenstände von ¹Menschenrechtenª darstellten. Ferner werden den ethischen Grundintuitionen kategorialbegriffliche Analysen gewidmet. Dann wird der ¹Anlageª-Begriff in den Vordergrund gerückt, und sei es auch nur so, daû man auf unsere Neigung verweist, im Zusammenhange von Entwicklungsproblemen mit diesem Begriff zu arbeiten. Oder es wird das strukturbegriffliche Syndrom der Potentialität, Identität und Kontinuität promulgiert. In diesem Falle wird nicht immer die entwicklungsbegriffliche Konsequenz gezogen, die Personalität und Würde des Menschen modal und die Schutzwürdigkeit gradhaft zu denken. Unklarheit oder Unausdrücklichkeit der eigenen Denkgrundlagen dürfte dies mit bedingen. Oft genug bleibt undeutlich, ob man sich die Entwicklung aus der Potentialität

Kants Reflexion der Menschenwürde und die Bioethik

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in Identität und Kontinuität naturwissenschaftlich oder zugleich naturwissenschaftlich und an bestimmten metaphysisch-teleologischen Modellen orientiert denkt18. Die ¹utilitaristischeª Ethik des handlungsnormativen Individual- und Gemeinwohls kann Adultismus und Adoleszentismus vermeiden, obwohl ihr die Möglichkeit, den Anfang der Zugehörigkeit zur gemeinnützigen Glücksbemessung von einem Ur-Anfang her zu bestimmen, nicht zur Verfügung steht. Sie kann den Anfang der moralischen Schutzwürdigkeit auf den Anfang des präferentiellen Lust-Unlust-Empfindens verlegen, wenn sie unterstellt, daû die Gesellschaft der rationalen Interessensubjekte die weit ausgedehnte Fürsorge für schwache Mitglieder als Element der humanen, allgemein befriedigenden Lebensform ansieht. Und sie kann den Anfang der Schutzwürdigkeit selbst mit dem Lebensanfang identifizieren, wenn sie davon ausgeht, daû das menschliche Leben rein objektiv betrachtet überwiegend Befriedigung verschafft19. Aus utilitaristischer Sicht ist für die moralisch begründete Schutzwürdigkeit des Embryos, Fetus und Kleinkindes nicht notwendigerweise allein der ¹moralische Statusª verstanden als aktuelle, potentielle oder anhebende Moralsubjektivität relevant. Wenn man sich mit ¹unseren ethischen Grundintuitionenª und ihrer theoretischen Ausgestaltung nicht begnügen kann, wird die Menschenwürde alternativ zur Kantischen Metaphysik der ¹Person-in-der-Ideeª in unbestimmt-speziesistischer Begründung behauptet. Oder man vertraut darauf, daû die Molekularbiologie, die Neurowissenschaften und die Sozialwissenschaften nach und nach die Anlage zur Subjektivität oder zu einem phänomenal korre18 Der biographisch orientierte Würdebegriff, die Gleichsetzung der Würde mit dem selbsterworbenen, eigene und soziale Achtung verschaffenden Persönlichkeitsprofil, versperrt der Würdereflexion den Weg zumindest zu den noch nicht und den unmöglich jemals aktiven Mitgliedern der Gesellschaft. Der Rekurs ex machina auf die der menschlichen Natur inhärente Anlage oder Potenz zur respektablen Persönlichkeitsbildung, eine ¹Verbindung der essentialistischen mit der personalistischen Positionª, hilft aus der adultistischen Einspurigkeit des würdevollen ¹etwas Darstellensª nicht heraus. Vgl. Ralf Stoecker, ¹Die Würde des Embryosª, in: Dominik Groû (Hg.), Ethik in der Medizin in Lehre, Klinik und Forschung, Würzburg 2002, 53±70, 68; Anton Leist, ¹Menschenwürde als Ausdruckª, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 53. Jg., 2005, Heft 4, 597±610. 19 Vgl. Dagmar Borchers, ¹Pränatales Leben im pluralistischen Kontext ± Über ethische Theorien und das Bemühen, den moralischen Status von Embryonen zu bestimmenª, in: Wolfgang Lenzen (Hg.), Wie bestimmt man den ¹moralischen Statusª von Embryonen?, Paderborn 2004, 31±72; Wolfgang Lenzen, ¹Fortschritte bei der Bestimmung des ¸moralischen Status ± Versuch eines Fazitsª, ebd., 295±321.

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spondierenden Verhalten anhand der Wechselwirkung von Genom und Gesellschaft aufhellen werden. Bei grundsätzlicher Ablehnung von Metaphysik, aber Festhalten an begriffsstarker Theorie, wird dies wohl die nächstliegende Problemeinstellung sein. Auch die metaphysische und theologische Tradition hat dem biologisch faûbaren Anfang der menschlichen Existenz einen UrAnfang vorausgesetzt, in Gestalt der ontologisch oder providentiell geprägten Wesensform (ousia, eidos, morphe, idea, essentia). Kant aber hat mit dem Herkunftsbereich = X der existentiellen Autonomie, Personalität und Menschenwürde, mit dem realen Geheimnis der Freiheit, dem Ur-Anfang der menschlichen Existenz eine relativ unbestimmte Fassung gegeben. Kant hat in der allgemeinen Art seiner Erneuerung der Metaphysik mit der Herkunft = X die Freiheit, Personalität und Menschenwürde durch ihre Reduktion auf ein formales Minimum zu retten versucht. Für die Bioethik bedeutet dies, daû Kant ihr Schicksal mit dem der Freiheitsidee verbunden hat. Solange diese Idee in der Diskussion ist und nicht obsolet erscheint, werden die Kantische Ethik der Menschenwürde, die den Gedanken der autonomen Freiheit systematisch entwickelt, und ihr bioethisches Implikationssystem von mehr als bloû historischem Interesse sein20.

20 Vgl. Thomas Sören Hoffmann, ¹Zur Aktualität Kants für die Bioethikª, in: Synthesis Philosophica, 39, 1/2005, 151±163.

Robert Spaemann (München)

Ist der Hirntod der Tod des Menschen? Zum Stand der Debatte 1. Tod und Leben sind nicht in erster Linie Gegenstand der Wissenschaft. Unser primärer Zugang zum Phänomen des Lebens ist die Selbsterfahrung sowie die Wahrnehmung anderer Menschen und anderer Lebenwesen. Leben ist das Sein des Lebendigen. ¹Vivere viventibus est esseª, sagt Aristoteles. Nicht mehr leben heiût für ein Lebewesen: nicht mehr sein. Sein aber ist niemals Gegenstand der Naturwissenschaft. Es ist vielmehr das ¹primum notumª der Vernunft und als solches in zweiter Linie Gegenstand der metaphysischen Reflexion. Weil Leben das Sein des Lebendigen ist, kann es nicht definiert werden. Entsprechend dem klassischen Adagium ¹ens et unum convertunturª gilt aber für jeden lebendigen Organismus, daû er genau so lange lebt wie er innere Einheit besitzt. Im Unterschied zur Einheit des Atoms und des Moleküls konstituiert sich die Einheit des lebendigen Organismus durch einen antientropischen Integrationsprozeû. Der Tod ist das Ende dieser Integration. Mit dem Tod beginnt die Herrschaft der Entropie, also der Entstrukturierung, des Verfalls. Zwar kann die Verwesung durch chemische Mumifizierung aufgehalten werden, aber diese Erhaltung des Leichnams ist ein rein äuûerliches, räumliches Zusammenhalten der Teile. Damit nicht vergleichbar ist die Stützung des Integrationsprozesses durch Apparate. Der so erhaltene Organismus würde zwar von sich aus sterben, aber indem man ihn am Sterben hindert, erhält man ihm am Leben und kann ihn nicht gleichzeitig für tot erklären. In diesem Sinne hat Papst Pius XII erklärt, daû menschliches Leben ¹auch dann weiter besteht, wenn seine vitalen Funktionen sich mit Hilfe künstlicher Prozesse manifestieren.ª 2. Wir können Leben und Tod nicht definieren, weil wir Sein und Nichtsein nicht definieren können. Wir können aber Leben

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und Tod an Symptomen wahrnehmen. In der heiligen Schrift wird der Atem als das grundlegende Phänomen betrachtet, das deshalb oft einfach mit Leben identifiziert wird. Aufhören des Atems, Herzstillstand, ¹Brechen der Augenª, rigor mortis usw. sind die Kennzeichen, aufgrund derer Menschen seit jeher sehen und fühlen, daû ein Mitmensch tot ist. In der europäischen Zivilisation ist es seit langem üblich und gesetzlich vorgeschrieben, in diesem Fall einen Arzt hinzuzuziehen, der das Urteil der Angehörigen bestätigen muû. Diese Bestätigung beruht nicht auf einer anderen, wissenschaftlichen Todesdefinition sondern auf genaueren Methoden der Feststellung eben jener Phänomene, die bereits von den Angehörigen wahrgenommen wurden. Der Arzt kann z. B. noch einen schwachen Atem feststellen, der den Laien unbemerkt geblieben ist. Auûerdem kann er heutzutage auf die Reversibilität gewisser Phänomene wie des Herzstillstandes aufmerksam machen. Das Herz, das aufgehört hat zu schlagen, kann sehr wohl noch existieren und noch einmal zu schlagen beginnen. Wegen solcher Fehlerquellen bei der Todeswahrnehmung ist es deshalb eine traditionelle vernünftige Regel, nach der Wahrnehmung der Phänomene des Todes eine gewisse Zeit verstreichen zu lassen, bis der Verstorbene begraben oder verbrannt wird. Auch die Hinzuziehung des Arztes dient ausschlieûlich der Sicherheit. Es soll vermieden werden, daû ein Mensch vorzeitig für tot, also für nicht mehr existierend erklärt wird. 3. Die Erklärung der Harvard Medical School von 1968 hat dieses Verhältnis von medizinischer Wissenschaft und normaler zwischenmenschlicher Wahrnehmung fundamental verändert1. Die Wissenschaft setzt nicht mehr das ¹normaleª Verständnis von Leben und Tod voraus und überprüft das Vorliegen der Todessymptome des common sense. Sie entwertet vielmehr die normale mitmenschliche Wahrnehmung, indem sie Menschen für tot erklärt, die noch als lebendig wahrgenommen werden. Etwas ¾hnliches geschah bereits einmal im 17. Jahrhundert, als die cartesianische Wissenschaft etwas bestritt, was jedermann sehen kann, nämlich, daû Tiere Schmerzen empfinden können. Diese Wissenschaftler machten die grauenhaftesten Tierexperimente und erklärten die für jedermann offensichtlichen Schmerzäuûerungen für rein mechani1 Ad hoc Committee of the Harvard Medical School, ¹To examine the definition of brain death: a definition of irreversible comaª, in: Journal of the American Medical Association 205 (1968), 337±340.

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sche Reaktionen. Diese Entmündigung der Wahrnehmung hat sich zum Glück nicht halten können. Aber sie kehrt heute in anderer Form zurück. Und zwar so, daû, um Menschen früher als tot erklären zu können, einfach eine neue Definition, ja überhaupt erstmals eine Definition des Todes eingeführt wird. So könnte man auch den Schmerz wegdefinieren, indem man ihn durch die neurologischen Prozesse definiert, die seine ¹Infrastrukturª bilden und dann jeden für schmerzfrei erklären, bei dem diese Befunde nicht festzustellen sind. Man muû nur die Erklärung des Schmerzes in eine Definition verwandeln, um ihn als Schmerz loszuwerden. Ebenso wie der Schmerz ist auch dessen Grundlage, das Leben, undefinierbar. Die Hypothese, der totale Ausfall aller Hirnfunktionen haben den Tod des Menschen zur unmittelbaren, instantanen Folge, entzieht sich häufig der Diskussion in wissenschaftlichen Debatten, indem sie in eine Definition verwandelt wird: wenn Tod des Menschen und Ausfall aller Hirnfunktionen definitorisch gleichgesetzt werden, geht natürlich jede Kritik an der Hypothese ins Leere. Die Frage, die dann bleibt, ist nur die, ob das so Definierte das ist, was alle Menschen seit jeher ¹Todª nennen, so wie Thomas von Aquin, wenn er die Existenz eines ersten Bewegers, eines nicht kontingenten Seienden usw. beweist, den Beweis stets mit den Worten schlieût: ¹Das ist es, was alle meinen, was sie Gott sagenª. Ist der Hirntod das, was alle meinen, wenn sie ¹Todª sagen? Nach Überzeugung der Harvard Kommission keineswegs. Sie wollte eine n e u e Definition geben, und das Interesse, das dabei leitend war, wurde von ihr deutlich ausgesprochen. Es war nicht mehr das Interesse des Sterbenden daran, nicht vorzeitig als tot betrachtet zu werden, sondern das Interesse anderer Menschen daran, den Sterbenden möglichst frühzeitig für tot erklären zu können. Zwei Gründe werden für dieses Fremdinteresse genannt: 1. Das Interesse an der straflosen Einstellung lebensverlängernder Maûnahmen, die für die Angehörigen und für die Gesellschaft eine finanzielle und persönliche Belastung darstellen. 2. Das Interesse an der rechtzeitigen Entnahme lebenswichtiger Organe zum Zwecke der Lebensrettung anderer Menschen durch Transplantation. Diese beiden Interessen sind nicht Interessen des Patienten, da sie gerade darauf abzielen, ihn so früh wie möglich als Subjekt eigener Interessen zu eliminieren. Leichen sind nicht mehr solche Subjekte. Das erste der genannten Interessen ist übrigens an eine irrige Voraussetzung und eine entsprechende problematische Praxis

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der Justiz gebunden. Sie setzt nämlich voraus, bei jedem nicht für tot erklärten Menschen seien lebensverlängernde Maûnahmen immer und ausnahmslos geboten. Wo diese Voraussetzung fallengelassen wird, fällt das erste Interesse an einer frühzeitigen Todesfeststellung weg. Was bleibt, ist das zweite Interesse. Dieses Interesse ist insoweit in sich widersprüchlich, als es einerseits erfordert, lebende Organe zu entnehmen und deshalb den Sterbenden künstlich am Leben zu halten, andererseits aber, ihn für tot zu erklären, damit die Entnahme der Organe nicht als Tötung verstanden werden muû. 4. Die Tatsache, daû einer bestimmten Hypothese über den Tod eines Menschen das Interesse anderer Menschen zugrunde liegt, die den Nutzen davon haben, wenn die Hypothese sich als wahr erweist, beweist nicht die Falschheit der Hypothesen, aber sie muû in höchstem Maûe kritisch machen und zwingt dazu, die Beweislast für die Hypothesen sehr hoch anzusetzen. Das gilt erst recht, wenn unter der Hand die Hypothese sich dadurch immunisiert, daû sie sich in eine Definition verwandelt. Gerade weil Nominaldefinitionen nicht wahr oder fasch sind, bekommt die Frage, in wessen Interesse sie liegen, eine neue Relevanz. Die Immunisierungsstrategie hat insofern einen kontraproduktiven Effekt. Der Interessenkollision des Arztes wird in der Gesetzgebung meines Landes insofern Rechnung getragen, als die Todesfeststellung vor einer Transplantation durch ¾rzte geschehen muû, die selbst nicht an der Transplantation beteiligt sind. Aber leider waren Transplantationsmediziner sehr wohl beteiligt an der Erarbeitung der Kriterien dieser Feststellung. Es müsste, wenn auch nicht im professionellen Interesse der Transplantationsmedizin, so doch im moralischen Interesse der Transplantationsmediziner an der eigenen Integrität liegen, mit der Erarbeitung der Todeskritierien ebenso wenig zu tun zu haben wie mit deren Anwendung. Und das, obwohl das professionelle Interesse der Transplantationsmedizin, an sich selbst betrachtet, ein hochmoralisches Interesse ist, das Interesse an der Rettung des Lebens von Menschen. Es muû nur sicher sein, daû die Rettung nicht geschieht auf Kosten des Lebens anderer Menschen. Der Transplantationsmediziner ist professionell Partei für den Empfänger, nicht für den Spender von Organen. Tatsache ist, daû sich seit 1968 der Konsens über die neue Todesdefinition nicht gefestigt, sondern daû der Widerspruch zugenommen hat. Ralf Stoecker stellt in seiner Bielefelder Habilita-

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tionsschrift ¹Der Hirntodª fest, daû ¹der Wechsel vom Herztod zum Hirntod heute umstrittener ist als vor 30 Jahren2. Die Argumente gegen den Hirntod kommen nicht nur von Philosophen und, besonders in Deutschland, von führenden Juristen, sondern auch von medizinischen Wissenschaftlern, so z. B. dem amerikanischen Neurologen Shewmon, der 1985 noch als radikaler Vertreter des Hirntodes hervorgetreten war, inzwischen aber aufgrund eigener Forschungsergebnisse zur gegenteiligen Überzeugung gekommen ist3. Als Beobachter der Diskussion kann man nicht umhin festzustellen, daû die Diskussion unter einer Asymmetrie leidet. Die Befürworter der neuen Definition argumentieren aus einer ¹Position der Stärkeª. Sie empfinden es oft eher als lästige Zumutung, noch weitere Zeit zu verschwenden mit Argumenten, daû sie die ¹normative Kraft des Faktischenª auf ihrer Seite wissen, d.h. eine etablierte und inzwischen schon zur Routine gewordene medizinische Praxis und, wo es sich um Gläubige handelt, den Segen der Kirche (der allerdings inzwischen durch ein öffentliches Wort des Kölner Kardinalerzbischofs kategorisch infrage gestellt worden ist4). Sie machen sich nicht entfernt dieselbe Mühe mit den Argumenten ihrer Kritiker wie umgekehrt. Infolgedessen hat sich das Gewicht der Argumente inzwischen für jeden unbefangenen Beobachter immer mehr auf die Seite der Skeptiker verlagert. Ich selbst muû gestehen, daû mich deren Argumente inzwischen überzeugt haben. Da Leben und Tod nicht Eigentum der Wissenschaft sind, ist es die Pflicht der Wissenschaftler, gewöhnliche, mit einer gewissen Intelligenz ausgestattete Laien von ihrer Sicht zu überzeugen. Wo sie sich dieser Mühe enthoben und sie durch Autoritätsargumente ersetzen zu können glauben, da steht es schlecht um ihre Sache. 2 Ralf Stoecker, Der Hirntod. Ein medizinethisches Problem und seine moralphilosophische Transformation, Freiburg i. Br. 1999, 37. 3 Vgl. Alan Shewmon, ¹¸Hirnstammtod, ¸Hirntod und Tod: Eine kritische ReEvaluierung behaupteter ¾quivalenzª, in: Walter Schweidler/Herbert A. Neumann/ Eugen Brysch (Hg.), Menschenleben ± Menschenwürde. Interdisziplinäres Symposium zur Bioethik, Münster 2003, 293±316; ders., ¹Wachkoma und Bewuûtseinª, in: Oliver Tolmein/Walter Schweidler (Hg.), Was den Menschen zum Menschen macht. Eine Gesprächsreihe zur Bioethik-Diskussion, Münster 2003, 71±81. 4 Vgl. Joachim Kardinal Meisner, Erklärung des Erzbischofs von Köln zum beabsichtigten Transplantationsgesetz vom 27. September 1996, Presseamt des Erzbistums Köln, Köln 1996; vgl. auch den Bericht von Gisela Klinkhammer, ¹Diskussion um das Transplantationsgesetz: Wann ist der Mensch tot?ª, in: Deutsches ¾rzteblatt 1994/10 vom 7. 3. 1997, A-564.

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Ich möchte in der Tat im Folgenden gegen die neue Definition des Todes argumentieren. Was sie definiert, ist nicht das ¹quod omnes dicunt mortemª. 5. Die Vertreter der These, der Ausfall aller Hirnfunktionen sei identisch mit dem Tod des Menschen, bilden zwei unterschiedliche Gruppen. Die erste Gruppe unterscheidet zwischen Leben des Menschen und menschlichem, d.h. personalen Leben. Von menschlichem Leben soll nur gesprochen werden, solange mentale Prozesse spezifisch menschlicher Art feststellbar sind. Wenn die organische Grundlage solcher Prozesse entfällt, ist der Mensch keine Person mehr und sein Organismus steht deshalb für Zwecke anderer Menschen zur Verfügung. Konsequenterweise ist deshalb gar nicht der totale Ausfall aller Hirnfunktionen erforderlich. Es genügt der Ausfall jener Hirnareale, die die ¹hardwareª für jene mentalen Akte darstellen. Menschen mit apallischem Syndrom ± persistent vegetativ state ± sind dann als Personen tot. Diese Position ist nicht nur mit der Lehre der meisten Hochreligionen, vor allem aber des Judentums und des Christentums unvereinbar, sie widerspricht auch der heute geltenden medizinischen Orthodoxie. Bekannter Vertreter dieser Position ist der australische Bioethiker Peter Singer. Die zweite Gruppe geht davon aus, daû vom Tod des Menschen nur gesprochen werden kann, wenn der menschliche Organismus als ganzer nicht mehr existiert, d.h. wenn der Integrationsprozeû, der die Einheit des Organismus konstituiert, beendet ist. Die These aber ist, mit dem totalen Ausfall aller Hirnfunktionen sei dieser Prozess beendet, denn das Gehirn sei das Organ, das für die Integration verantwortlich ist. Hirntod ist daher, nach Auffassung dieser Gruppe, Tod des Menschen. ± Wenn die zugrunde liegende Hypothese stimmt, dann stimmt auch die Schluûfolgerung, und auch die Kirche hätte keinen Grund, sich dieser Schluûfolgerung zu widersetzen. Die Hypothese stimmt jedoch offenbar nicht, so daû diejenigen, die an der Schluûfolgerung festhalten möchten, gezwungen sind, sich der unorthodoxen Theorie der ersten Gruppe, d.h. der Cortical Death-Hypothese anzunähern. 6. Die Hypothese von der zumindest extensionalen Identität von totalem Ausfall der Hirnfunktionen und dem Tod des Menschen stimmt aus mehreren Gründen nicht. Sie widerspricht zunächst dem Augenschein, das heiût der normalen Wahrnehmung, ähnlich wie die cartesianische Leugnung tierischer Schmerzen. Wenn eine deutsche Anästhesistin schreibt, ¹Hirntote sind nicht

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Tote, sondern Sterbendeª, und sie habe sich auch nach 30 Berufsjahren nicht vom Gegenteil dessen überzeugen können, was jedermann sieht, dann steht diese Aussage für zahllose andere. Einer der bekanntesten deutschen Neurologen, Johannes Dichgans, Chefarzt der neurologischen Universitätsklinik Tübingen, der die neuere innermedizinische Kritik am Hirntodkonzept bisher nicht verfolgt hat, erklärte mir vor kurzem, er persönlich sei nicht bereit zu einer Todesfeststellung aufgrund der neurologischen Standardkriterien und beteilige sich deshalb nicht an Todesfeststellungen. Der deutsche Intensivmediziner Peschke berichtet, daû, nach seinen Ermittlungen, Schwestern und Pfleger im Transplantationsbereich weder bereit sind, Organe zu spenden noch Spenderorgane annehmen. Was sie täglich sehen, macht es ihnen unmöglich, sich persönlich an dieser Praxis zu beteiligen. Eine dieser Krankenschwestern schreibt: ¹Wenn man daneben steht und ein Arm kommt hoch und fasst einem an den Körper oder um den Körper, ± das ist furchterregendª. Und diese Tatsache, daû der angeblich Tote vor der Organentnahme in der Regel eine Narkose bekommt, damit der Arm unten bleibt, ist nicht geeignet, den eigenen Sinnen das Vertrauen zu entziehen. Werden Leichen anästhesiert? Es handele sich um die Unterdrückung vegetativer Reaktionen, so heiût es. Aber ein Körper, der vegetativer Reaktionen fähig ist, die eine komplizierte Koordination von Muskeltätigkeiten erfordern, befindet sich offensichtlich nicht in jenem Zustand der Desintegration, der uns berechtigt zu sagen, er lebe, d.h. er existiere gar nicht mehr. 7. Hier berühren sich nun die Gründe des common sense mit solchen, die innerhalb der medizinischen Wissenschaft vorgebracht werden. So wurde bereits 1979 im Journal of the American Medical Association von Dr. Paul Byrne darauf aufmerksam gemacht, daû es unberechtigt ist, den irreversiblen Ausfall aller Hirnfunktionen mit dem ¹Hirntodª, d.h. mit dem Ende der Existenz des Gehirns gleichzusetzen5. Auch den Ausfall des Herzschlags setzen wir nicht mit der Zerstörung des Herzens gleich. Wir wissen heute, daû dieser Funktionsausfall in manchen Fällen reversibel ist. Aber er ist nur reversibel, weil das Herz eben nicht in dem Augenblick aufhört zu existieren, wo es aufhört zu funktionieren. Und nur weil man den Ausfall des Atems nicht mit dem ¹Tod der 5 Paul A. Byrne/S. O'Reilly/P. M. Quay, ¹Brain death ± An opposing viewpointº, in: Journal of the American Medical Association 242 (18), 1979, 1985±1990.

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Lungeª gleichsetzte, konnte man eines Tages mechanische Ventilatoren einsetzen, die die Funktion wieder in Gang setzten. Im Anschluû an solche Überlegungen haben z. B. P. Safar und andere mit Arbeiten zur Wiederbelebung der Funktion von Gehirnen begonnen, die nach den Standard-Kriterien als tot gelten. Wenn man darauf erwidert, der Funktionsausfall wiederbelebter Gehirne sei eben nicht irreversibel gewesen, so macht man sich eines Zirkelarguments schuldig. Irreversibilität ist offenbar kein empirisches Kriterium, da sie immer erst nachträglich feststellbar ist. Nur weil wir annehmen, das Gehirn existiere noch, versuchen wir, seine Funktion wieder zu beleben. ¾hnlich zirkulär ist die Argumentation in der Frage, was ¹totaler Ausfall der Gehirnfunktionª heiût. Die Vertreter des Hirntodes wehren sich gegen die Ersetzung dieses Ausdrucks durch ¹Ausfall aller Gehirnfunktionenª, denn das würde auch ¹periphere Funktionenª betreffen, die das Gehirn als Ganzes überleben können. Was sind solche peripheren Funktionen? Die Minnesota-Kriterien hierfür sind andere als die britischen Kriterien, und manche Autoren erklären bereits die Stammhirnaktivität für peripher, wenn die Cortex aufgehört hat zu funktionieren. Als peripher kann offenbar alles gelten, was nicht identisch ist mit der integrativen Funktion des Gehirns für den Gesamtorganismus. Aber es ging doch gerade darum, diese zu beweisen! So gilt denn wohl nach wie vor, was Paul Byrne schrieb: ¹There is no limit to what real functions may be declared peripheral when the only nonperipheral function is imaginaryª. 8. Ist es berechtigt, die somatisch integrative Funktion des Gehirns als ¹imaginärª zu bezeichnen? Unter den Autoren, die dies behaupten und begründen, ist vielleicht der wichtigste Alan Shewmon. Eine Zusammenfassung seiner empirischen Forschungen und seiner theoretischen Überlegungen findet sich in seinem Aufsatz ¹The Brain and Somatic Integration: Insights Into the Standard Biological Rationale for Equating ¸Brain Death With Deathª, der 2001 im Journal of Medicine and Philosophy erschienen ist6. Ich gebe hier nur das Abstract dieses Aufsatzes wieder, das natürlich weder die empirischen Belege noch die theoretischen Argumente sondern nur die Thesen enthält. 6 D. Alan Shewmon, ¹The Brain and Somatic Integration: Insights Into the Standard Biological Rationale for Equating ¸Brain Death With Deathª, in: Journal of Medicine and Philosophy 26 (5), 2001, 457±478.

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¹The mainstream rationale for equating ¸brain death (BD) with death is that the brain confers integrative unity upon the body, transforming it from a mere collection of organs and tissues to an ¹organism as a wholeª. In support of this conclusion, the impressive list of the brain's myriad integrative functions is often cited. Upon closer examination, and after operational definition of terms, however, one discovers that most integrative functions of the brain are actually not somatically integrating, and, conversely, most integrative function of the body are not brain-mediated. With respect to organism-level vitality the brain's role is more modulatory than constitutive, enhancing the quality and survival potential of a presupposedly living organism. Integrative unity of a complex organism is an inherently nonlocalizable, holistic feature involving the mutual interaction among all the parts, not a top-down coordination imposed by one part upon a passive multiplicity of other parts. Loss of somatic integrative unity is not a physiologically tenable rationale for equating BD with death of the organism as a whole.ª

Aus dem Text von Shewmons Artikel zitiere ich nur einen kurzen Abschnitt. ¹Integration does not necessarily require an integrator, as plants and embryos clearly demonstrate. What is of the essence of integrative unity is neither localized nor replaceable ± namely the anti-entropic mutual interaction of all the cells and tissues of the body, mediated in mammals by circulating oxygenates blood. To assert this non-encephalic essence of organismal life is far from a regression to simplistic traditional cardiopulmonary criterion or to an ancient cardiocentric notion of vitality. If anything, the idea that the non-brain body is a mere ¸collection of organs in a bag of skin, seems to entail a throwback to a primitive atomism that should find no place in the dynamical-system-enlightened biology of the 1990s ans twenty-first centuryª.

9. Der wissenschaftstheoretisch geschulte Nichtmediziner, der sich ein objektives Urteil über den status quaestionis bilden will, muû die Argumente, die in der Debatte vorgetragen wurden, zu evaluieren suchen. Wo es sich um Ergebnisse empirischer Forschung handelt, die er selbst nicht überprüfen kann, muû er sie mit den Gegenargumenten konfrontieren. Soweit diese Gegenargumente ebenfalls empirischer Natur sind und die Korrektheit der mitgeteilten Forschungsergebnisse infrage stellen, muû er sich bis zu weiterer empirischer Überprüfung des Urteils enthalten. Soweit es sich um theoretische Interpretation der Ergebnisse handelt, ist er selbst kompetent, sie zu überprüfen und zu würdigen. Was nun die von Alan Shewmon mitgeteilten Ergebnisse betrifft, so ist mir Kritik, die den Kern seiner Argumentation be-

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trifft, nicht bekannt geworden. Daû sie nicht existiert, schlieûe ich aus zwei Tatsachen: a. Auf einer internationalen Konferenz von Transplantationsmedizinern in Havanna, wo Shewmon seine Forschungsergebnisse vortrug, gab es eine überraschende Reaktion, nämlich breite Zustimmung. Sie wurde in erster Linie damit begründet, daû unter Voraussetzung der Legitimität der bisherigen Transplantationspraxis Shewmons Position geeignet sei, einer weitaus liberaleren Praxis die Türen zu öffnen. Wenn wir nämlich bereits bisher lebendigen Menschen lebenswichtige Organe entnehmen, dann haben wir den Rubicon bereits überschritten und müssen nicht mehr an den bisherigen strengen Kriterien der Todesfeststellung festhalten. Der Ausfall der für mentale Operationen zuständigen Gehirnareale kann dann genügen. ± Eben dieses Argument wirkt allerdings in die entgegengesetzte Richtung, wenn wir die Legitimität der bisherigen Praxis nicht einfach dogmatisch unterstellen sondern nur dann anerkennen, wenn es sich dabei eben nicht um Tötung handelt. b. Das amerikanische National Catholic Bioethics Quaterly veröffentlichte im Herbst 2002 einen Artikel des Editor-in-Chief Edward J. Furton ¹Brain Death, the Soul, and Organic Lifeª7, der ganz der Auseinandersetzung mit Alan Shewmon gewidmet ist. In diesem Artikel werden die empirischen Forschungsergebnisse von Shewmon nicht bezweifelt und auch keine Literatur genannt, die solche Zweifel rechtfertigen würde. Ich schlieûe daraus, daû es diese Literatur nicht gibt. 10. Um so interessanter ist der Artikel von Furton selbst, der die Gleichsetzung von Hirntod und Tod gegen Shewmon verteidigt. Ich schlieûe meine eigenen Ausführungen mit einem kritischen Bericht über diesen Artikel und gebe gleich zu Beginn das ResumØ: Furtons in erster Linie philosophische Argumente für den Hirntod haben mich mehr als alles andere vom Gegenteil überzeugt. Und zwar deshalb, weil Furton seine These vom Hirntod als Tod des Menschen nur halten kann, indem er den Tod des Menschen als Person vom Tod des Menschen als Lebewesen unterscheidet. Er schreibt: ¹Although the difference between the death of the person and the decay of the body had long been obvious, it is only in our time that the difference between the life of the person and the life of the body has become apparentª. Das ist nun 7 Edward J. Furton, ¹Brain Death, the Soul, and Organic Lifeª, in: The National Catholic Bioethics Quarterly (2)3, 2002, 455±470.

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genau die Position von Peter Singer, und sie ist mit der Überzeugung der meisten Religionen, sicher aber mit der des Christentums unvereinbar. Wenn kirchliche Autoritäten die Hirntodthese vorsichtig akzeptiert haben, so immer unter der Prämisse, daû das Gehirn für die somatische Integration verantwortlich, der Ausfall der Gehirnfunktionen also mit dem Tod des Organismus identisch ist. Für die Beurteilung der Korrektheit dieser Prämisse ist die religiöse Autorität nicht zuständig. Wo sie zweifelhaft wird, da entfällt die Schluûfolgerung. Furton möchte an der Schluûfolgerung festhalten, obwohl er unter dem Eindruck der Argumente Alan Shewmons die Prämisse preisgibt. Darum ist seine Berufung auf die päpstliche Autorität unberechtigt, und es verwundert, daû er in der Auseinandersetzung mit Shewmon von dem Autoritätsargument einen exzessiven Gebrauch macht. Eine wissenschaftliche Hypothese, auf die der Papst eine ebenso hypothetische Schluûfolgerung gründet, wird dadurch nicht der weiteren wissenschaftlichen Diskussion entzogen. Sonst wäre das ptolemäische Weltbild für immer dogmatisiert, nur weil die Kirche aus ihm in der Zeit seiner allgemeinen Anerkennung Schluûfolgerungen mit religiöser und praktischer Relevanz gezogen hat. Dabei gesteht Furton in seinem Aufsatz selbst zu, daû ¹the determination of death does not fall under the expertise of the church, but belongs to the physican who is trained in this fieldª. (Ich möchte das präzisieren: der Arzt ist kompetent, über das Vorliegen definierter Todeskriterien zu entscheiden. Die Erörterung der Kriterien selbst ist eine Sache der Philosophen und philosophischen Theologen, die von den Medizinern die erforderlichen empirischen Informationen erhalten haben.) Furton beruft sich auf die aristotelisch-thomistische Seelenlehre, verbunden mit der kirchlichen, im Konzil von Vienne 1311/12 dogmatisierten Lehre, nach welcher die menschliche Seele nur eine und daher die anima intellectiva zugleich die forma corporis ist. Furton zieht aus dieser Lehre allerdings eine Schluûfolgerung, die der Intention des heiligen Thomas ebenso wie des Konzils von Vienne diametral entgegengesetzt ist. Thomas nimmt zwar an, daû der Mensch zunächst eine vegetative und dann eine animalische Seele besitzt und daû die geistige Seele erst am 40. Tag der Schwangerschaft erschaffen wird, und zwar nicht neben den beiden anderen Seelen sondern an deren Stelle, so daû es nun die geistige Seele ist, die zugleich die vegetativen und sensomotorischen

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Funktionen erfüllt. Es ist dies ein tiefgreifender Unterschied zu Aristoteles, für den der nous, die Vernunft, nicht ein Teil der menschlichen Seele ist, sondern thyraten, ¹von auûenª in den Menschen eintritt. Von der Sukzessivbeseelung nimmt der heilige Thomas übrigens ausdrücklich Jesus Christus aus: die Inkarnation im Augenblick seiner Empfängnis setzt voraus, daû die Seele Jesu von Anfang an eine im vollen Sinne menschliche Seele war. Die Kirche hat, hierin der Wissenschaft folgend, den Gedanken der Suksessivbeseelung längst aufgegeben und betrachtet nicht nur Jesus sondern jedes menschliche Wesen von seiner Zeugung an als Person, also seine Seele als eine anima intellectiva ± obwohl der Säugling noch keine intellektuellen Akte setzt. Er kann das nicht, weil die dazu erforderliche somatische ¹Infrastrukturª noch nicht ausgebildet ist. So wie jemand ein Klavierspieler ist, auch wenn er zur Zeit wegen Fehlens eines Klaviers nicht spielen kann, so ist die Seele des Menschen eine anima intellectiva auch dann, wenn sie faktisch nicht denken kann. Das Sein des Menschen ist nicht Denken sondern Leben: Vivere viventibus est esse. Furton denkt radikal nominalistisch. Für ihn existiert die personale Seele nur, solange ein Individuum spezifisch personaler Akte fähig ist. Die Seele des Menschen hat ihre Wirklichkeit nicht darin, einen Menschen als Lebewesen existieren zu lassen, sie ist nicht forma corporis sondern Form des Gehirns und nur indirekt Form des Leibes. ¹The soul is . . . what enlivens a material organ, namely the brain and from there enlivens the rest of the human bodyª. (Diese Auffassung wurde bereits 1999 zurückgewiesen durch den Würzburger Neurologen Professor Joachim Gerlach, der den Fehler in der Gleichsetzung von Hirntod und Individualtod darin sieht, ¹daû sie in naturwissenschaftlich unzulänglicher Weise das Gehirn zum ¸Sitz der Seele erachtetª. ¾hnlich schrieb schon 1979 Paul Byrne: ¹¸Brain function is so defined as to take the place of the immaterial principle or ¸soul of manª.) Furton identifiziert das, was Thomas ¹intellectusª nennt, mit faktischem intellektuellen Bewuûtsein. Er schlieût nicht von der offensichtlichen Fortexistenz eines menschlichen lebendigen Organismus, daû die personale Seele, die die forma des menschlichen Körpers ist, noch lebt sondern umgekehrt: weil ein Mensch intellektueller Akte nicht mehr fähig ist, hat ihn die Seele verlassen und er ist als Person tot. Die Tatsache, daû der Organismus als ganzer offensichtlich noch lebt, spielt keine Rolle. Ohne aktuale Hirnfunktion ist der menschliche Orga-

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nismus nichts anderes als ein abgetrenntes Organ, das ja auch noch Lebensäuûerungen zeigt. Diese Position ist konsequent. Sie deckt sich weitgehend mit der von Peter Singer und Derek Parfit, für den Personen nur existieren, solange sie zu personalen Akten imstande sind, Schlafende z. B. sind demnach keine Personen. Unter dem Gewicht der Argumente Shewmons und anderer löst sich offenbar die Gruppe der medizinisch und theologisch ¹orthodoxenª Hirntodverteidiger auf. Angesichts der Unhaltbarkeit der These von der integrativen Funktion des Gehirns lässt sich die Identifikation von Hirntod und Tod des Menschen nur noch halten, wenn man, wie es Singer, Parfit und Furton tun, die Personalität des Menschen von seinem biologischen Menschsein abkoppelt. Dies unter Berufung auf die Lehre des heiligen Thomas zu tun, ist allerdings absurd. Furton bedient sich dabei einer ¾quivokation im Begriff ¹intellectusª, wenn er sagt, das Menschsein bestehe in einer Verbindung von Intellekt und Materie und dabei den Anschein erweckt, als verstehe Thomas unter ¹Intellektª aktuales Denken und nicht das Vermögen zu denken. Dieses Vermögen gehört zur menschlichen Seele und diese Seele ist solange forma corporis, wie die Disposition der Materie des Körpers das erlaubt. Statt zu schlieûen: wo kein Denken mehr ist, ist die forma corporis des Menschen verschwunden, können wir deshalb nur schlieûen: solange der Körper des Menschen nicht tot ist, ist auch die personale Seele noch gegenwärtig. Nur der zweite Schluû ist mit der katholischen Lehre ebenso wie mit der Tradition der europäischen Philosophie vereinbar. Der abenteuerliche Schluû Furtons, den Menschen für tot zu erklären, wenn seine spezifisch menschlichen Eigenschaften sich nicht mehr zeigen, widerspricht auch jeder unmittelbaren Wahrnehmung. Sogar Peter Singer und Derek Parfit sind noch näher bei den Phänomenen, wenn sie zwar die Person für erloschen erklären aber doch nicht darum schon den Menschen für tot. Ich schlieûe mit den Worten dreier deutscher Rechtswissenschaftler, die nach dem Studium der medizinischen Literatur schrieben: ¹Richtigerweise ist das Hirntodkriterium nur geeignet, die Unumkehrbarkeit des Sterbeprozesses zu belegen und damit die ärztliche Behandlungspflicht im Sinne eines Versuchs des Todesaufschubs enden zu lassen. In dieser Bedeutung als Behandlungsgrenze dürfte das Hirntodkriterium heute allgemeine Zustimmung finden.ª (Prof. Dr. Ralph Weber, Rostock)

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Robert Spaemann

¹Der hirntote Patient ist ein sterbender Mensch, der im Sinne des Grundgesetzes Art. 2, II, 1 99 lebt. In verfassungsrechtlich zulässiger Weise lässt sich nicht begründen, warum der Ausfall des Gehirns menschliches Leben im Sinne des Grundgesetzes beenden soll. Demgemäû müssen hirntote Patienten richtigerweise als Sterbende, also lebende Menschen im Zustand unumkehrbaren Hirnversagens bezeichnet werden.ª (Prof. Dr. Wolfram Höfling, Köln) ¹An der Hirntodkonzeption kann man nicht länger festhalten . . . Hinter die Kritik des Hirntodkonzepts gibt es kein dogmatisches Zurück mehrª. (Dr. Stephan Rixen, Berlin)

Für denjenigen, der in dieser Situation noch Zweifel hat, muû, wie Hans Jonas schrieb, das Prinzip gelten: In dubio pro vita. Es ist das gleiche, was Pius XII erklärte: ¹In case of insoluble doubt, one can resort to presumptions of law and of fact. In general, il will be necessary to presume that life remainsª.

Vittorio Possenti (Venedig)

Die Natur des Menschen ändern? Die Biotechnologien und die anthropologische Frage Naturam expelles furca, tamen usque recurret. Horaz Mensch, nicht Übermensch sei das Ziel. Hans Jonas

Die anthropologische Frage Um den Gedanken einer Natur des Menschen, ein Lieblingsthema des Philosophen, bewegen sich zahllose Debatten ± Debatten, die durch die Rückfrage, was genau dieser Gedanke meinen kann und ob es möglich sei, die menschliche Natur zu ändern, noch einmal delikater werden. Auch biotechnologische Eingriffe beim Menschen, die in vieler Hinsicht weder den Ausgang noch die Konsequenzen ihrer Einwirkung überblicken, erfordern eine genaue Kenntnis dessen, was der Mensch ist und wessen er an erster Stelle bedarf. Aber gerade dieses Kernelement ist fraglich geworden, ja es scheint sogar besonders schwer zu fassen zu sein. Die höchste und komplexeste Streitfrage, die schon lange auf der Tagesordnung steht und die Gemüter allenthalben erhitzt, ist gerade die Kontroverse um das Humanum. Es scheint, daû, je mehr die Wissenschaften sich der Erkenntnis des Menschen zu bemächtigen versuchen, diese desto mehr sich aus dem Griff des szientifisch-analytischen Wissens löst und ihm entflieht ± unter Hintanlassung von Fragen und ungelösten Spannungen. Der Kreuzweg, auf dem Wissenschaft

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Vittorio Possenti

und Technik einerseits, die Person andererseits aufeinander treffen, ist zu einer problematischen Kreuzung geworden, an welcher die Wissenschaften ein neues Verständnis vom Menschen zu vermitteln versuchen. Die Herausforderung hatte sich bereits dem Forscherblick eines Pascal gezeigt: ¹Ich hatte lange Zeit mit dem Studium der abstrakten Wissenschaften zugebracht, und der geringe Austausch, den man dabei mit anderen haben kann, hatte es mir verleidet. Als ich mit dem Studium des Menschen begann, sah ich, daû diese abstrakten Wissenschaften dem Menschen nicht angemessen sind und daû ich mich über meine Lage, wenn ich mich in sie vertiefte, mehr als die anderen täuschte, die nichts von ihnen wuûten. Ich habe den anderen verziehen, daû sie wenig von ihnen wissen, doch ich habe geglaubt, daû ich zumindest beim Studium des Menschen viele Gefährten fände und daû dies das wahre, ihm angemessene Studium sei. Ich habe mich getäuscht: es gibt noch weniger Menschen, die sich diesem Studium widmen, als dem der Geometrieª1. Es könnte freilich scheinen, daû die heutige Lage die Pascalsche Feststellung insoweit widerlegt, als es an Fächern und Wissenschaften, die sich mit dem Menschen befassen, inzwischen keinen Mangel mehr gibt. Einem etwas genaueren Nachdenken ergibt sich jedoch, daû, im Gegensatz zu der groûen Mannigfaltigkeit von Kenntnissen, die sich auf den Menschen ± insbesondere auf seinen Leib ± beziehen, sich eine groûe Leere auftut, sobald man nach einem ganzheitlichen Verständnis des Menschen fragt. In Zeiten der Konjunktur der Humanwissenschaften aller Art gilt es nur um so mehr, daû der Mensch ein unbekanntes Wesen ist, welches, wie zu den Zeiten Pascals, beständig und immer neu entdeckt werden will. Pascal hat wenige Jahre nach der unseligen Cartesischen Trennung von Denken bzw. Geist und Körper bzw. Ausdehnung, derzufolge das Ich seinen Sitz im Denken hat und nichts es hindert, den Körper ± der Kontingenz und dem Unwesentlichen überantwortet ± der Oberhoheit der Wissenschaft zuzuweisen und dem Herrschaftsgebiet der Technik einzuverleiben, die so gewichtige anthropologische Frage gestellt. Die entscheidende Prämisse nicht weniger neuerer Anwendungen der genetischen und biologischen Entdeckungen kann demgegenüber eindeutig im Cartesischen Dualismus gefunden werden, der ebenso bequem wie wenig einleuch1

Pascal, PensØes Nr. 144 (Brunschvicg)/Nr. 687 (Lafuma).

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tend ist und gegen dessen Wiedererstehen eine hohe geistige Wachsamkeit vonnöten ist. Die allzu einfache Arbeitsteilung zwischen Wissenschaft und Philosophie ± der Wissenschaft die res extensa und der Philosophie das Denken ± ist inzwischen zum Hindernis für die Erkenntnis, insbesondere für jene bezüglich des Lebens geworden, das sich in jeder Hinsicht dagegen sperrt, auf bloûe Ausdehung reduziert zu werden. Unterdessen ist auch ein neuer Naturalismus im Anzug. Von Seiten der Ausrichtung unserer Weltbilder kann in der Tat nicht übersehen werden, daû eine naturalistische Koine dabei ist, die hermeneutische Koine abzulösen, die seit längerem tonangebend gewesen ist. Ein unübersehbares Zeichen für diese Tendenz ist der Versuch, im Zuge einer zuletzt restlos naturalistischen Auffassung vom Menschen zu einer vollständigen Naturalisierung von Geist oder Seele zu gelangen, bis dahin, daû der Mensch zuletzt ins Leben der physis, in ihr evolutives und blindes Werden, aufgelöst erscheint. Ein groûer Teil der ethischen und anthropologischen Diskussion unserer Tage entspringt bedrohlichen Entwicklungen in den Lebens- und Neurowissenschaften: Wir sind Zeugen einer veritablen Revolution in Beziehung auf die Ursprünge des Lebens, die wir auch eine ¹Revolution des Genoms und der DNAª nennen könnten. Diese Revolution stellt die Begriffe der Identität (Wer sind wir als Menschen? Wer bin ich?), der Anerkennung der Person, der Verantwortlichkeit gegen sich selbst und gegen andere wieder zur Diskussion: Begriffe, welche die Grundlage der Zivilisation ausmachen. In den letzten Jahren ist die ¹anthropologische Frageª in den Vordergrund gerückt und hat sich inzwischen mit Macht an die Seite jener groûen, klassischen Fragen des öffentlichen Lebens gedrängt, die schon länger den Namen der ¹Frage einer demokratischen Verfassungª und der ¹sozialen Frageª tragen. Angesichts dieser Problematiken nimmt die anthropologische Frage immer radikalere Züge an und scheint dazu bestimmt zu sein, auf immer weitere Bereiche ausgedehnt zu werden. Der Mensch ist ebenso in seiner biologischen und leiblichen Grundlage in Frage gestellt wie auch in Beziehung auf das Bewuûtsein, das er von sich selbst entwickelt. Und dies nicht allein auf abstrakte Weise, sondern durchaus praktisch ± beeinflussen die neuen Technologien doch das Subjekt selbst, verändern es, gehen darauf, eine ¾nderung, die auch Grundbegriffe der Erfahrung eines jeden be-

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trifft, ins Werk zu setzen: gezeugt oder hervorgebracht werden, geboren werden, leben, sich fortpflanzen, sich um Gesundheit bemühen, altern etc. Wenn es zutrifft, daû die anspruchsvollste Frage, die durch die Biowissenschaften aufgeworfen worden ist, die anthropologische ist, dann scheint der Name ¹Bioethikª, mit dem inzwischen weltweit die Reflexion auf die oben genannten Themen bezeichnet wird, unangemessen zu sein, da er der Tendenz nach verbirgt, daû ein gut Teil der sogenannten bioethischen Fragestellungen in Wirklichkeit keine ethischen, sondern anthropologische (und oftmals ebenso ontologische) sind. Dabei sind die Lebenswissenschaften, die sich vorzugsweise auf die Genetik und die Molekularbiologie stützen, wie auch die Neurowissenschaften Bereiche, die gerade wegen der hier entstehenden anthropologischen Fragen eine besondere Aufmerksamkeit verdienen. Im ersten Fall geht es um nicht weniger als die Möglichkeit, durch Manipulation des menschlichen Genoms zu neuen Formen des Menschlichen zu gelangen (der Ausdruck ist hier bewuût unbestimmt gewählt, denn wir haben es mit wirklichen Zweifeln an den Möglichkeiten und Ergebnissen der genetischen Manipulationen zu tun); im zweiten tauchen die Probleme der Funktionsweise des Gehirns, der künstlichen Intelligenz, der Beziehung zwischen Geist und Gehirn (Identität, Differenz?) und auch das nicht weniger grundsätzliche der Seele bzw. der psyche auf. Wenn wir uns in dieser Abhandlung auf den ersten Aspekt beschränken werden, so deshalb, weil die Debatte um die Neurowissenschaften schon seit einiger Zeit geführt wird, während jene um die menschliche Natur und die Genetik entscheidender, aber vielleicht weniger fortgeschritten erscheint. Methodisch wollen wir dabei versuchen, zu einem Verständnis dessen zu gelangen, was genau hier geschieht, und wir wollen uns dabei weder von Furcht noch von Enthusiasmus leiten lassen: neque lugere, neque ridere, sed intelligere. Für ein solches Verständnis freilich ist zu ergänzen, daû der Diskurs über die Biotechnologien Fachkenntnisse, die Anthropologie und insonderheit die Philosophie fordert. Je weiter die Wissenschaft voranschreitet, desto unverzichtbarer wird die Philosophie, heute insbesondere eine Philosophie, die sich von der gedankenlosen antiessentialistischen Tendenz verabschiedet, welche im groûen und ganzen die Philosophie und die Wissenschaften bestimmt und von der Jonas bemerkt: ¹Der Antiessentialismus der herrschenden Theorie, die nur De-

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facto-Ergebnisse evolutionären Zufalls kennt und keine gültigen Wesenheiten, die ihnen Sanktion gäben, überliefert unser Sein einer Freiheit ohne Normª2. Die apriorische Zurückweisung der Wesensbestimmungen, die mit einem Laut (flatus vocis) ohne jede Bedeutung verglichen werden, ist eine verbreitete Haltung, während der Antiessentialismus nichts anderes als eine Form des Nihilismus ist. Wir haben daher ein äuûerstes Bedürfnis eines erneuerten Wissens um die Natur des Menschen und seinen Ort im Universum. Es geht dabei nicht darum, einen in erster Linie religiösen Diskurs zu entfalten, obwohl sich auf biotechnologischem und anthropologischem Gebiet auch die Religion mit ihren Perspektiven zu Wort melden kann. Der Zugang zur ¹Bioethikª über die Idee einer menschlichen Natur erscheint ¹laizistischª, wenn man denn auf dieses zumindest in Italien etwas abgenutzte und vielsinnige Beiwort zurückgreifen will: ¹laizistischª soll hier heiûen ¹rationalª, ¹auf die Sache selbst gegründetª, ¹ontologischª. Der Titel dieses Beitrags erinnert an zwei bemerkenswerte neuere Beiträge, die von Jürgen Habermas und Francis Fukuyama stammen. Der eine heiût Die Zukunft der menschlichen Natur3, der andere Our Posthuman Future4. Die Korrespondenz unterstreicht noch einmal, daû mit den Biotechnologien die Bedeutung des Menschseins und der menschlichen Natur auf dem Spiel steht, etwas, was das Selbstverständnis der Gattung betrifft und mehr noch die Anthropologie als die Ethik. Den Ansätzen von Habermas und Fukuyama zufolge, die unterschiedlichen kulturellen Kontexten entstammen und wohl auch weit auseinander liegende philosophische und anthropologische Perspektiven verfolgen, lautet die zentrale Frage in etwa: läût der für bedeutsam gehaltene Begriff der menschlichen Natur es zu, daû der Mensch in Grenzen, die fallweise festgesetzt werden, konstruierbar und daher auch manipulierbar ist oder nicht? Diese Frage wirft zugleich eine andere auf, die nicht immer direkt ge2 H. Jonas, Technik, Medizin und Ethik. Praxis des Prinzips Verantwortung, Frankfurt am Main 1987, 39. Wenig später bemerkt Jonas, daû ¹eine Besinnung auf das ¸Bild des Menschen . . . gebieterischer und dringlicher als jede Besinnung, die je der Vernunft sterblicher Menschen zugemutet wurdeª (40), ist. 3 Jürgen Habermas, Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Wege zu einer liberalen Eugenik?, Frankfurt/Main 2001. 4 Fr. Fukuyama, Our Posthuman Future: Consequences of the Biotechnology Revolution, New York 2002; deutsch: Das Ende des Menschen, München 2004 [Zitate im folgenden nach der deutschen Übersetzung].

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stellt wird, die aber dennoch die gesamte Debatte durchzieht: ist es möglich, die menschliche Natur zu ändern? Ich möchte die Aufmerksamkeit auf die Tatsache lenken, daû diese Frage die ontologische Möglichkeit, nicht die moralische Erlaubtheit betrifft. Wenn sich diese Frage im heiklen und anthropologisch empfindlichen Bereich biotechnologischer Anwendungen auf den Embryo, der extrakorporalen Befruchtung oder des Eingriffs beim menschlichen Genom stellt, so erzeugt sie hochkomplexe Probleme, zu deren Klärung der Rückgriff auf die philosophische Reflexion auf den Menschen und auf den Begriff einer menschlichen Natur unabdingbar ist. Dieser Tatsache war man sich im 19. Jahrhundert noch bewuût, und entsprechend verfaûten verantwortungsbewuûte Moralphilosophen dieser Zeit Abhandlungen zur Anthropologie, um damit der Ethik wie auch der Politik vorzuarbeiten. Mit dem Einzug des spekulativen Nihilismus, von dem die Konjunktur des ¹schwachen Denkensª, des ¹pensiero deboleª, ein markanter Ausdruck ist, hält man solide philosophische Antworten auf die Fragen wie die nach dem guten Leben, nach der menschlichen Natur, nach einer substantiellen, nicht nur prozeduralen und formalen Ethik, nicht mehr für möglich5. Ein ¹Debolistª vom Range eines Jürgen Habermas versucht seit mindestens zwanzig Jahren, für eine entsprechende Sicht zu werben, die dann auch ein anderes Selbstverständnis des Menschen wie auch ein anderes Verständnis der Philosophie impliziert: ¹Heute, nach der Metaphysik, traut sich die Philosophie verbindliche Antworten auf Fragen der persönlichen oder gar der kollektiven Lebensführung nicht mehr zuª6. Die Philosophie ¹begibt sich auf eine Metaebene und untersucht nur mehr die Formeigenschaften von Selbstverständigungsprozessen, ohne zu den Inhalten selbst Stellung zu nehmen. Das mag unbefriedigend sein, aber was läût sich gegen eine gut begründete Enthaltsamkeit ins Feld führen?ª7 Angesichts eines solchen voreiligen Verzichts ± dem merkwürdigerweise Habermas selbst untreu wird, wenn er auf den folgen5 Für das erste lassen wir erneut Habermas zu Wort kommen, der im Rückgriff auf die Kierkegaardsche Dialektik des Selbst, das vor Gott existiert und sich durchsichtig auf die Macht gründet, die es gesetzt hat, hinzusetzt: ¹Aber das Unverfügbare, von dem wir sprach- und handlungsfähigen Subjekte in der Sorge, unser Leben zu verfehlen, abhängig sind, können wir unter Prämissen eines nachmetaphysischen Denkens nicht mit dem ¸Gott in der Zeit identifizierenª (Habermas a. a. O. 25). 6 A. a. O. 11. 7 A. a. O. 15.

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den Seiten dann doch Positionen einer substantiellen Ethik vertritt ± wird es um so klarer, daû die von den Biotechnologien aufgeworfenen Probleme es erfordern, die Frage nach der menschlichen Natur erneut zu stellen, ohne dabei den dazu erforderlichen intellektuellen Aufwand zu scheuen. Die wissenschaftliche und auch philosophische Reflexion weiû jedoch nicht, wie sie dies bewerkstelligen soll: vielmehr bestehen in der Gegenwart so starke Einwände gegen ein solches Konzept, daû es womöglich geraten sein könnte, die Akten zu schlieûen und sich schweigend davon zu machen. Es ist darum nur noch einmal aussagekräftiger, daû Habermas und Fukuyama sie, die menschliche Natur, nun doch wieder in Dienst zu nehmen versuchen, der erste bereits im Titel: aber unter welchen Rahmenbedingungen? Hier beginnen sich die Wege zu trennen, und um sich darüber Rechenschaft zu geben, ist es geraten, diese Wege in Kürze abzuschreiten. Anschlieûend werden wir einige Impulse bezüglich der menschlichen Natur aufnehmen, wobei wir eine ontologische Reflexion auf den Menschen anwenden.

Habermas: Ein ethischer Ansatz im Blick auf die Zukunft der menschlichen Natur Das Habermassche Denken, das sich selbst als ¹postmetaphysischª klassifiziert, stützt sich auf zwei Ausschlieûungen, welche in sich kohärent erklärt werden: die Ausschlieûung der Transzendenz und die Weigerung, auf ein ontologisches Konzept von menschlicher Natur zurückzugreifen. Wir beschäftigen uns hier ausschlieûlich mit dem zweiten Aspekt. Die postmetaphysische Bioethik hat zwar zur Kenntnis genommen, daû die sogenannten bioethischen Probleme oftmals wesentlich anthropologische Probleme sind, aber sie hält den Weg von einem ontologischen Ansatz zur Anthropologie für versperrt; gangbarer erscheint ihr der ethische Weg, der zwar bedeutsam, aber doch nicht zureichend ist, wenn es darum geht zu verhindern, daû die Wissenschaft für die einzig mögliche Weise von Erkenntnis gehalten und die menschliche Natur einem Prozeû steter Neudefinition unterworfen wird8. 8 In Beziehung auf die Biotechnologien trifft G. E. Rusconi wirkungsvoll die neue Zentralität der Idee einer menschlichen Natur, auch wenn er sich auf die Darstel-

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Eine vollständige Darstellung der Positionen von Habermas liegt nicht in meiner Absicht: wir werden uns auf die zwei Fälle beschränken, denen er angemessenen Raum gewährt, auf die Präimplantationsdiagnostik und auf die Manipulation des menschlichen Genoms. Beide öffnen neue Szenarien, deren moralische Bedeutung ¹weit über die Substanz der üblichen politischen Streitgegenstände hinausreichtª9 und aufmerksame und behutsame Prozesse der normativen Klärung erfordert, die dem Druck der Interessen und Präferenzen entzogen sind. Diese aber lasten nach Habermas auf einer ¹liberalen Eugenik, die eine Grenze zwischen therapeutischen und verbessernden Eingriffen nicht anerkennt, aber die Auswahl der Ziele merkmalsverändernder Eingriffe den individuellen Präferenzen von Marktteilnehmern überläûtª10. Im Falle der Präimplantationsdiagnostik fragt er sodann, ob es mit der Würde des menschlichen Lebens vereinbar sei, unter Vorbehalt gezeugt, d. h. auf der Grundlage des Ausgangs eines genetischen Tests als des Lebens und der weiteren Entwicklung würdig beurteilt zu werden oder nicht. Im Falle der genetischen Manipulation ist zu klären, ob diese nicht die Gattungsidentität selbst berührt und nicht die Unterscheidung zwischen dem, was von selbst gewachsen und dem, was technisch gemacht worden ist, tangiert. Aus den beiden Fragen ergeben sich andere grundlegende Probleme, nämlich 1) ob das Insgesamt dieser Prozesse nicht unser ethisches Verständnis der Gattung ändert; 2) ob die Kenntnisnahme ex post von einer genetischen Programmierung der eigenen Erbanlagen durch andere nicht die kreativen Freiräume der eigenen Autonomie beschränkt, indem sie es dem Subjekt verwehrt, sich ungeteilt als Autor des eigenen Lebens zu verstehen und die idealung des anthropologischen Problems beschränkt, indem er einen substantiellen Skeptizismus bezüglich der Möglichkeit zu verstehen, was die menschliche Natur sei, zum Ausdruck bringt ± nicht etwas Unveränderliches, sondern etwas ¹der kontinuierlichen Neudefinition Unterworfenesª (in: Il Mulino Nr. 4/2002, 67). Nach meinem Dafürhalten kann man in der Weigerung, auf die Idee einer menschlichen Natur zu reflektieren, um sich nicht auf den ontologischen ¹Abwegª zu begeben, eine bemerkenswerte Grenze der sogenannten ¹laizistischenª Bioethik in Italien erblicken, welche das rationale und ontologische Nachdenken über den Menschen als ¹religiösª ansieht, obwohl eine Natur des Menschen und ein Naturrecht keine religiösen Begriffe sind. In diesem Ansatz wirkt sich das postmetaphysische Vorverständnis aus, das Gefahr läuft, die anthropologische Reflexion an die Wissenschaften abzutreten und der Philosophie alleine die Ethik zu belassen. 9 A. a. O. 35. 10 A. a. O. 38 f.

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lerweise symmetrischen Relationen zwischen freien und gleichen Personen aufs Spiel setzt. ¹Damit ist das Thema auf die Frage eingegrenzt, ob sich der Schutz der Integrität unmanipulierter Erbanlagen mit der Unverfügbarkeit der biologischen Grundlage personaler Identität begründen läût. Der juristische Schutz könnte in einem ¸Recht auf ein genetisches Erbe, in das nicht künstlich eingegriffen worden ist, Ausdruck finden. Mit einem solchen Recht, das die Parlamentarische Versammlung des Europarats seinerzeit gefordert hat, wäre die Zulässigkeit einer medizinisch begründeten negativen Eugenik nicht vorentschiedenª11. Nach Habermas könnte die Genmanipulation ¹unser Selbstverständnis als Gattungswesen so verändern, daû mit dem Angriff auf moderne Rechts- und Moralvorstellungen zugleich nicht hintergehbare normative Grundlagen der gesellschaftlichen Integration getroffen würdenª12. Konsequenterweise beruft er sich auf die Unverfügbarkeit der biologischen Grundlagen unserer personalen Identität. Daher steht mit der Instrumentalisierung des embryonalen Lebens ± die dem Gedanken entspringt, daû in der Empfängnis ein neues Individuum nur unter Vorbehalt gezeugt worden ist und zum Leben nur nach einem Gentest zugelassen werden soll ± ¹ein gattungsethisches Selbstverständnis auf dem Spiel, das darüber entscheidet, ob wir uns auch weiterhin als moralisch urteilende und handelnde Wesen verstehen könnenª13. Mit dem Verweis auf die ¹modernen Rechts- und Moralvorstellungenª halten übrigens zwei groûe Fragen Einzug: diejenige nach der Geeignetheit des positiven Rechts, als alleinige Methode der sozialen Regulierung zu dienen, wie auch diejenige, ob genau dies nicht schon ein Schritt zu einer durchgreifenden Herrschaft der Technik und des Willens zur Macht ist, der sich hier zeigen kann. Fragen dieser Art werden in Die Zukunft der menschlichen Natur kaum angedeutet; ihre tatsächliche Bedeutung führt dazu, hier eine erste Stellungnahme zu versuchen, wie wir es im Anhang tun werden. ± Ein gewichtiges Grundproblem ist es generell, ob es zulässig ist, den bisher bestehenden ¹Mixª aus Natürlichem und Willensabhängigem zu ändern, indem man die Grenze zwischen Zufall und Entscheidung verschiebt und auf dem Wege der Präimplantations11 12 13

A. a. O. 51. A. a. O. 50 f. A. a. O. 121.

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diagnostik ¹die Instrumentalisierung eines unter Vorbehalt erzeugten menschlichen Lebens für die Präferenzen und Wertorientierungen Dritterª14 in Kauf nimmt. Das würde nach Habermas die reziproke Verpflichtung verletzen, welche die Menschen als Mitglieder eines moralischen Gemeinwesens in Beziehung aufeinander übernehmen, indem sie ein symmetrisches Verpflichtungsverhältnis akzeptieren. Mit anderen Worten: menschliche Wesen sind nicht ausschlieûlich über die DNA-Sequenzen individualisiert, sondern ebenso durch den Prozeû der Sozialisation: ¹Erst in der Öffentlichkeit einer Sprachgemeinschaft bildet sich das Naturwesen zugleich zum Individuum und zur vernunftbegabten Personª15 ± ein Prozeû der sozialen Ich-Bildung, auf den Habermas mehr Gewicht legt als Fukuyama. Die Kritik der liberalen Eugenik bei Habermas richtet sich nicht gegen das therapeutische Potential der Biotechnologien, sondern gegen Programmierung von Erbanlagen und Weichenstellungen durch Dritte, die mit ¹verbesserndenª Interventionen verbunden sind. Der Angelpunkt der Argumentation liegt in der Tatsache, daû der ¹verbessernde Eingriffª Gefahr läuft, jene durch den Zufall bedingte Gleichheit der Geburt nach zu ändern, der alle Bürger den Beginn ihres exklusiven Sozialisationsgeschicks verdanken. Durch rechtliche Aufrechterhaltung einer unverfügbaren Zufälligkeit der Geburt garantieren die Bürger einander eine Gleichheit im Zugang zu der idealen Gemeinschaft moralischer Subjekte wie auch zur wirklichen Gemeinschaft als Bürger. Das Spezifikum des Habermasschen Beitrags besteht in der Annahme, daû es, was auch immer die den Biotechnologien zu verdankenden Vorteile seien, auf einer moralischen Ebene keine hinreichenden Gründe gibt, den von ihnen geforderten Preis zu zahlen. Habermas hält daran fest, daû der groûe Schub in Richtung auf einen ungebremsten Gebrauch der Technik in allen Lebensbereichen, die biologisch-genetischen Grundlagen der menschlichen Gattung nicht ausgeschlossen, eine reflexive Reaktion hervorbringe und hervorbringen müsse, die sich den neuen Techniken entgegenstellt und Kernbereiche des Menschlichen identifiziert, die der technologischen Objektivierung nicht ausgeliefert werden können. Er fragt: ¹Können wir die genetische Selbsttransformation der 14 15

A. a. O. 58. A. a. O. 65.

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Gattung als Weg zur Steigerung der Autonomie des einzelnen betrachten ± oder werden wir auf diesem Wege das normative Selbstverständnis von Personen, die ihr eigenes Leben führen und sich gegenseitig die gleiche Achtung entgegenbringen, unterminieren?ª16 Bei Habermas erhält eine Gattungsethik besonderes Gewicht, die Gleichheit und Gegenseitigkeit als vorrangige Themen ansetzt. Das Problem der menschlichen Gleichheit verschärft sich in der Tat im Falle vorgeburtlicher Maûnahmen, die, sei es auf die Verhinderung der Geburt eines behinderten Kindes gerichtet sind, sei es auf eine Eugenik gerichtet sind, die das Ergebnis (das Kind) einer Auswahl unterwerfen oder ¹verbessernª soll. Tatsächlich maûen sich im Falle der Präimplantationsdiagnostik einige einzelne das ihnen nicht zustehende Recht einer Entscheidung über ein Leben, das lebenswert ist oder auch nicht, an. Und weiter: ¹In dem Maûe, wie sich die Erzeugung und Verwendung von Embryonen für Zwecke der medizinischen Forschung verbreitet und normalisiert, verändert sich die kulturelle Wahrnehmung von vorgeburtlichem menschlichem Leben, mit der Folge, daû das moralische Sensorium für die Grenzen von Kosten-Nutzen-Kalkülen überhaupt abstumpft. Heute spüren wir noch das Obszöne einer solchen verdinglichenden Praxis und fragen uns, ob wir in einer Gesellschaft leben möchten, die die narziûtische Rücksichtnahme auf eigene Präferenzen mit Unsensibilität gegenüber den normativen und natürlichen Lebensgrundlagen erkauftª17. Tatsache ist, daû ¾nderungen, seien es gleich ¹Verbesserungenª des menschlichen Genoms wie auch eine eugenische Programmierung, neue Formen der Ungleichheit unter den Menschen einführen. Konsequenterweise plädiert Habermas darum für die ¹Unverfügbarkeit der genetischen Grundlagen unserer leiblichen Existenzª18 und verficht das Recht auf nichtmanipulierte Erbanlagen, auf die zwar ¹negativeª, d.h. therapeutische Eingriffe zulässig sind, nicht jedoch ¹positiveª im Sinne der Manipulation und Alteration. Dies setzt freilich voraus, daû es eine gegebene oder natürliche Form des Vorliegens des Genoms gibt, auf diese Weise aber auch eine wenigstens teilweise Rückeroberung des Begriffs einer menschlichen Natur, dessen sich 16 17 18

A. a. O. 54 f. A. a. O. 41. A. a. O. 44 f.

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Habermas bedient, wenn er antihistoristisch und keineswegs im Sinne des ¹schwachen Denkensª schlicht zwischen (menschlicher) Natur und Kultur unterscheidet, von denen die erste als Allgemeines, die zweite hingegen klar situationsbezogen zu verstehen ist: ¹Es geht nicht um die Kultur, die überall anders ist, sondern um das Bild, das sich verschiedene Kulturen von ¸dem Menschen machen, der überall ± in anthropologischer Allgemeinheit ± derselbe istª19. Es ist bemerkenswert, daû das Habermassche Projekt in eine Richtung geht, die der jener Positionen, die die Idee einer Natur für heillos kulturbedingt und situationsbezogen halten. Die Wahrung des menschlichen Genoms, die von den letzteren Positionen verdunkelt wird, kann als moralisch-normative Instanz der Achtung vor dem Wesen des Menschen angesehen werden, auch wenn der letztgenannte Begriff eher selten gebraucht wird. Sie führt auf einen begründeten Zweifel, ob es noch möglich sein kann, menschliche Würde zu achten, wenn wir bereit sind, deren genetische und biologische Grundlagen zu manipulieren.

Fukuyama: Der neoaristotelische Versuch einer Restitution des Begriffs einer menschlichen Natur In Our Posthuman Future arbeitet Fukuyama seine Sicht der Biotechnologien aus und stützt diese Sicht dabei auf den Begriff einer menschlichen Natur, der bei ihm zentrale Bedeutung gewinnt. Nach der Absicht des Autors soll die Argumentation dem Aristotelischen Modell für die Fragen der Natur und Politik folgen20. Er wendet sich dabei gegen den vorherrschenden Antiessentialismus und schlieût die Begriffe einer menschlichen Natur und eines Naturrechts eben nicht a priori aus: ¹die menschliche Natur existiert, . . . sie ist ein bedeutungsvolles Konzept und [hat] uns eine stabile Kontinuität für unsere Erfahrung als Gattung geliefert . . . Sie bestimmt gemeinsam mit der Religion unsere grundlegenden Werte. Die menschliche Natur formt und begrenzt die denkbaren Arten von politischen Ordnungen. Daher wird eine Technik, die stark genug ist, das, was wir sind, umzumodeln, möglicherweise für die 19 20

A. a. O. 72. Vgl. Fukuyama a. a. O. 28.

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liberale Demokratie und das Wesen der Politik schädliche Folgen haben. . . . Während es wichtige Auseinandersetzungen darüber gab, was die menschliche Natur sei, stellte niemand deren Bedeutung als Fundament von Recht und Gerechtigkeit in Frage. Zu jenen, die an die Naturrechte glaubten, zählten die Gründer der Vereinigten Staaten . . . Dennoch ist dieses Konzept im Laufe der letzten ein, zwei Jahrhunderte aus der Mode geratenª21. Weiterhin kommt Fukuyama auf das ¹heutige Vorurteil[] gegenüber dem Begriff der menschlichen Naturª22 zu sprechen, ebenso auf die Möglichkeit, daû wir ihn gerade durch die Biotechnologien verlieren könnten: ¹Und worin besteht dieses menschlich Wesentliche, auf dessen Verlust wir es ankommen lassen? Für einen gläubigen Menschen könnte es mit einem Gottesgeschenk oder mit einer Erleuchtung zu tun haben, über die alle Menschen von Geburt an verfügen. Irdisch betrachtet würde es mit der menschlichen Natur zu tun haben, das heiût mit den spezifischen Eigenschaften, die allen menschlichen Wesen als solchen gemeinsam sind. Genau um diese Themen geht es letzten Endes bei der biotechnischen Revolutionª23, damit aber auch um die Grundlage des moralischen Sinns des Menschen selbst. Wenn es auch häufig geschieht, daû verbal dem Gedanken einer menschlichen Natur wenig Gewicht beigemessen wird, so setzen wir doch, sobald wir uns nur genötigt sehen, über Fragen des Rechts und der Politik zu streiten, die Existenz eines allgemeinen und unveränderlichen Wesens, einer Natur des Menschen als natürlicher Grundlage oder als Fundament von natürlichen Rechten voraus. ¹Trotz der geringen Wertschätzung, deren sich ein Begriff wie der des Naturrechts bei akademischen Philosophen erfreut, beruht . . . ein Groûteil unseres politischen Weltbildes auf der Existenz eines stabilen menschlichen ¸Wesenskerns, der uns von Natur verliehen ist, oder, besser gesagt, auf unserer Überzeugung, daû eine solche Essenz existiertª24. Das methodische Bewuûtsein, die Idee einer menschlichen Natur nicht einfach an den Rand drängen zu können, verdient unterstrichen zu werden, und dies auch in Beziehung auf die bis vor 21 22 23 24

A. a. O. A. a. O. A. a. O. A. a. O.

20, 28 f. 29. 147. 299.

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wenigen Jahren oft gewählte ganz andere Praxis der politischen Philosophie der Rawls oder Dworkin, die sich auf einen prozeduralen und kontraktualistischen Ansatz stützte. Der letztere, der den Bedürfnissen eines Denkens, das sich mit den gewöhnlichen politischen Problemen befaût, immerhin genügen mag, zeigt sich gegenüber den von den Biotechnologien aufgeworfenen Dilemmata in ernsthafter Bedrängnis, die vielmehr eine Wiederanknüpfung bei der Idee der Natur und eine Entfernung von der Kantischen Perspektive verlangen. In der letzteren liegt eine umfassend gestörte Beziehung zur Natur, die von der Trennung zwischen Natur und Freiheit ausgeht und unterstellt, daû Ethik nur dann wirklich am Werke ist, wenn Wille und Freiheit sich unabhängig von den Neigungen der (menschlichen) Natur ausdrücken. Die philosophische Ausarbeitung der Idee des Menschen wird indes von Fukuyama nicht allzu weit verfolgt, so daû für ihn die Berufung auf Aristoteles am Ende zu hoch gegriffen sein könnte. In der Tat finden wir bei ihm weder einen Rückgriff auf den Hylemorphismus noch auf die Wesensbestimmung der Form, die notwendig für die Bestimmung des Begriffs einer ¹Naturª ist. Es ist die Darwinsche Theorie, derzufolge keine natürliche Art Trägerin eines spezifischen Wesens ist, die zur Preisgabe der spezifischen Formen führt: ¹Die Definition des Begriffs ¸menschliche Natur, die ich verwenden werde, lautet wie folgt: Die menschliche Natur ist die Summe von Verhaltensformen und Eigenschaften, die für die menschliche Gattung typisch sind, sie ergibt sich eher aus genetischen Umständen als aus Umweltfaktorenª25. Mit diesem genetisch orientierten Ansatz, der mit dem Begriff des ¹Typischenª sich auf die Statistik beruft, scheint sich die Idee einer menschlichen Natur bei Fukuyama auf die Summierung von (gewiû bemerkenswerten) Faktoren zu berufen, die jedoch in ihrer Mannigfaltigkeit und Zerstreutheit kaum in der Lage sind, das Wesen, die Natur auszudrücken, da sie mit durchaus heterogenen Merkmalen arbeitet. Bezogen auf die eigentlich Aristotelische Begrifflichkeit, schlieût die Begriffsbestimmung Fukuyamas offenbar ebenso wesentliche Eigenschaften wie die Sprache, die Vernunft, den moralischen Sinn wie auch akzidentelle Eigenschaften ein, etwa die Körpergröûe, das Gewicht, die Hautfarbe oder die gröûere oder kleinere Redseligkeit. 25

A. a. O. 185.

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Eine tiefergehende Ausarbeitung der Idee einer (menschlichen) Natur hätte sich nach meinem Dafürhalten auf Aristotelische und Thomasische Perspektiven einzulassen, die aus den entsprechenden Traditionen zumindest zweierlei zu rezipieren hätte: a) die Annahme, derzufolge die Natur eine Konstante ist, welche die Wesenszüge der menschlichen Gattung bestimmt, schlieût ein höherstufiges Allgemeines ein und verteidigt einen Grundcharakter, an den wir als Menschen gebunden sind oder an dem wir als an etwas Gemeinsamem, Unveränderlichem und Metakulturellem alle teilhaben; b) die Idee von Natur (und Leben) als immanentem Prinzip der Selbstkonstruktion und Selbstbewegung26. Die zweite Annahme scheint sich überzeugend auf die aktuellen genetischen Entdeckungen anwenden zu lassen, denen zufolge das Genom als ein interner Code der Selbstkonstruktion und der ¹Programmierungª des Individuums erscheint, was die Seite der Form angeht und dazu beitragen könnte, das deterministische Paradigma zu überwinden. In der Tat repräsentiert die genetische Struktur des Menschen ja keineswegs eine Form, die uns auf eine einsinnige Weise bestimmt (determinatio ad unum), sondern sie steht für eine Form, die ein Feld von Möglichkeiten aufschlieût, einen Fächer von offenen Linien, und die ihre Ausrichtung und letzte Bestimmung durch die freie Tätigkeit des Subjekts erhält ± eines Subjekts, das nicht im Sinne des genetischen Determinismus verstanden ist, der dafür hält, daû wir unsere Gene sind, was die äuûerste Stufe eines reduktionistischen Prozesses ist, der zunächst den Menschen auf den Körper und in der Folge den Körper auf das Genom reduziert. Ein nicht-ontologischer, nicht-universalistischer, sondern rein historisch-kulturell angesetzter Begriff einer menschlichen Natur weist den schwerwiegenden Nachteil auf, nicht streng verallgemei26 Für Thomas gilt: ¹essentia vel natura comprehendit in se illa tantum quae cadunt in defintione specieiª (S. theol. I, q. 3, a. 3); über Natur als immanentes Prinzip von Selbstbewegung cf. Aristoteles, Physik II, 192 b 20 f. Die weitgehende Modernität dieses Natur- (und Lebens-)begriffs habe ich in meiner Abhandlung ¹Nature, life, and teleologyª, in: The Review of Metaphysics, September 2002, 37±60, dargestellt, die sich jetzt auch in V. Possenti, Essere e libertà, Soveria 2004, findet. ± Die Begriffe ¹Naturª und ¹Wesenª liegen sehr nahe beieinander. Das Wesen von etwas (das der Frage ¸Was ist dieses etwas? antwortet) drückt sich in der Definition aus, die erklärt, was dieses Etwas ist, während die Idee einer Natur sich auf das Feld der Tätigkeiten bezieht. Für den Aquinaten scheint der Begriff ¹Naturª ¹significare essentiam rei secundum quod habet ordinem ad propriam operationem rei, cum nulla res propria operatione destituaturª (De ente et essentia, n. 3).

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nerbar zu sein und darum auch den jeweils Herrschenden die Bestimmungshoheit darüber zu überlassen, wer der menschlichen Natur angehört und wer nicht. In der vorausgesetzten historischkulturellen Reduktion der Idee einer menschlichen Natur findet sich so denn auch einer der Hauptschwachpunkte des 1996 in Italien publizierten ¹Manifestes einer laizistischen Bioethikª, in dem es heiût: ¹Im Unterschied zu jenen, die die Natur vergöttern und sie zu etwas Heiligem und Unantastbarem erklären, wissen die Laizisten, daû die Grenze zwischen dem, was natürlich ist und dem, was es nicht ist, von den Werten und Entscheidungen der Menschen abhängt. Nichts ist mehr kulturell bestimmt als die Idee einer Natur . . . die Kriterien für das Erlaubte und das Unerlaubte können in keiner Weise aus einer vorgeblichen Unterscheidung zwischen dem Natürlichen und dem Nicht-Natürlichen gewonnen werdenª27. Abgesehen von einem äquivoken Gebrauch des Naturbegriffs wird in diesem Text der Natur jede Objektivität und Normativität abgesprochen, indem man sie zu einem Kulturprodukt macht, das alleine von den Präferenzen und Werten der Menschen abhängen soll. Damit ist das Problem des Verhältnisses von Natur und Kultur schon im Ansatz aufgehoben. Denn da die menschliche Natur ein hypothetisches Konstrukt von Kultur und Geschichte ist, kann es nichts Natürliches und nichts Unnatürliches geben, sondern alles ist konventionell und geschichtlich bedingt geworden: wir befinden uns hier vor der expliziten Form eines ¹Wesensnihilismusª. Und in der Absicht, die Wesensbestimmungen aufzulösen, zeigt sich in der Tat ein grundlegendes Gesicht des Nihilismus, auf den wir bereits hingewiesen haben28. Diesen Wesensnihilismus kann man auch ¹Antinaturalismusª oder ¹Denaturalismusª nennen, wenn man damit jene philosophische Position meint, die den Begriff von Natur und Wesen für nichtssagend oder sinnlos hält, wie in den nominalistischen, empiristischen (Hume) und im Sinne des Seins-Sollens-Gegensatzes (Kelsen) dualistischen Positionen der Fall. Und es muû seine Schwierigkeiten haben, den Ursprungssinn von ¹Wesenª wiederzugewinnen, ohne dabei die pragmatische, instrumentelle und ¹debolistischeª Rationalität, wie sie heute en vogue ist, zu überwinden. ± Ich notiere hier nur noch, 27

Dieses ¹Manifestª wurde in Il sole ± 24 ore, Juni 1996, 27, publiziert. Cf. dazu V. Possenti, Nichilismo e metafisica. Terza navigazione, Rom 2004, sowie das Kapitel ¹La filosofia dopo il nichilismoª, in: ders., Essere e libertà. 28

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daû in der dargestellten Position auch die Voraussetzungen dafür enthalten sind, den Unterschied zwischen Krankheit, Gesundheit und Therapie aufzuheben (worauf ich zurückkommen werde).

Die menschliche Natur und die Unmöglichkeit, sie zu ändern Unter dieser Überschrift wenden wir uns einer entscheidenden philosophischen Frage zu, was freilich bedeutet, die entsprechenden Schwierigkeiten noch einmal zu vermehren, wenn man bedenkt, daû die gemeinsame Grundtendenz der zahlreichen und einander entgegengesetzten zeitgenössischen philosophischen Schulen in einer skeptischen Neigung besteht. Die Reflexion auf die menschliche Natur entgeht diesem Gesamtklima nicht, an dem sie vielmehr in besonderer Weise zu leiden scheint, insofern so immer weitere theoretische Schwierigkeiten entstehen, welche die rationale Argumentation blockieren und am Ende darauf hinauskommen, die Entscheidungen in Sachen Biotechnologien der Wissenschaft, der Politik und dem Recht aufzubürden. Es ist ein brennendes Problem der Biotechnologien, das in allen Diskussionen über sie gegenwärtig ist und gleichwohl nur nebenbei und ohne in dem Maûe gegenständlich zu werden berührt wird, wie es der Bedeutung der Frage entspräche, ob es möglich ist, die menschliche Natur zu ändern. Man kann die Moderne in ihren verschiedenen Aspekten gerade als den Versuch verstehen, die menschliche Natur zu ändern oder doch gegen deren Grundneigungen anzugehen, im Kommunismus mittels der Abschaffung des Privateigentums und mit dem Versuch, die Klassensolidarität über diejenige der Familiengemeinschaft zu stellen; in den Biotechnologien mit der Absicht, durch Umformung der menschlichen Natur zum Übermenschen zu gelangen. An dieser Wegscheide gewinnt der Fragenkomplex der Umformbarkeit des Menschen Gestalt, in Beziehung auf die eine Antwort nur dann gefunden werden kann, wenn die richtigen Fragen gestellt werden. Nun scheint es, daû inzwischen die Frage in dem Sinne schwierig geworden ist, daû die Idee einer menschlichen Natur, die im natürlichen Bewuûtsein stark verwurzelt ist und die dann philosophisch ausgearbeitet wurde, etwas ganz Befremdliches

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geworden ist, über das man selten eine Übereinstimmung und häufig den Dissens findet: in weiten Teilen des wissenschaftlichen und philosophischen Milieus scheinen die einfachsten Voraussetzungen dafür zu fehlen, das Problem mit der Aussicht auf Erfolg auch nur formulieren zu können. Auf der anderen Seite aber hat das aktuelle Miûtrauen gegenüber dem Begriff einer menschlichen Natur keine Existenzberechtigung, wenn es denn einmal gelungen ist, die menschliche Natur adäquat auf dem Wege einer Wesensdefinition zu fassen, die in der Lage ist, einer groûen Vielfalt ihrer Ausformungen Raum zu geben. Der Mensch zeigt sich viel häufiger auf der Suche und Jagd nach Wesensbegriffen, als man denken sollte, und er läût ± merkwürdiger noch ± davon auch allen skeptischen und utilitaristischen Aufforderungen zum Trotz nicht ab, einen entsprechenden, für unnütz, überwunden und unfruchtbar gehaltenen Versuch fahren zu lassen. Wird etwa jemals die Zeit kommen, in der wir nicht fragen werden ¹Was ist der Mensch?ª Hat man sich den Gedanken des Wesens einmal erschlossen, so erkennt man auch, daû Wesenheiten unwandelbar, ¹ewigª, dem Zugriff des Willens zur Macht und dem Wandel nicht unterworfen sind. Wenn der Mensch ein mit dem Logos, der Vernunft und der Sprache, begabtes Wesen ist, wenn er ein animal rationale ist, so verstehen wir mit Leichtigkeit, daû er, solange es den Menschen gibt, diese Wesenseigenschaften auch besitzen wird, und daû es ebenso völlig unmöglich ist, den Menschen zu ändern und ihm, sei es die Vernunft, sei es die Sprache, zu nehmen. Daû die Wesensbestimmungen ewig und unwandelbar sind, bezeichnet genau diese Unmöglichkeit, die freilich zugleich wieder die Frage aufwirft, was am menschlichen Subjekt denn einer biotechnologischen Transformation zugänglich sein soll. Die Untersuchung kann hier drei Wege beschreiten: 1) Wir können eine groûe Zahl von ¹akzidentellenª Elementen, also von Elementen, die zwar zum Menschen gehören, aber nicht sein Wesen ausmachen, verändern, so etwa seine Gröûe, den Intelligenzgrad, die Augenfarbe, das Geschlecht, die Magerkeit oder Fettleibigkeit, die Geschwindigkeit der Bewegungen usw. ¹Akzidentellª heiût hier gewiû alles andere als sekundär oder ohne Auswirkung! Ein Mensch ohne mancherlei Erbkrankheiten, mit einem scharfen Gedächtnis und von gefälligem Anblick befindet sich gegenüber einem anderen ohne diese Eigenschaften zweifelsohne im Vorteil. Viele Eigenschaften also, die wir mit der genauen Sprache der Phi-

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losophie für akzidentell halten, besitzen für uns und die anderen gröûtes Gewicht, aber ihre Abwandlung hat nicht eine ¾nderung der Natur zur Folge; sie bringt keine Transformation auf der Ebene der Substanz, will sagen eine ¾nderung von einem substantiell Seienden zu einem anderen substantiell Seienden hervor, das einer anderen Gattung angehörte. Die Unwandelbarkeit der Naturen aufrechtzuerhalten, heiût in keiner Weise, den Wandel, die Transformation und ihre Rückwirkungen auf unser Leben zu negieren, aber es bedeutet ebensowenig die Zustimmung zu der Vorstellung, daû quantitative Abwandlungen an einem gewissen Punkt in qualitative oder solche des Wesensbegriffs umschlügen. 2) Eine andere wichtige Argumentationslinie betrifft die moralische Ebene, auf der die biotechnologische Einwirkung auf den Menschen eine veränderte moralische Sensibilität hervorbringen kann ± nicht in dem Sinne, daû sich objektiv der Grenzverlauf zwischen Gut und Böse veränderte, wohl aber in dem, daû sich unsere Wahrnehmung desselben ändert, indem unsere ethische Aufmerksamkeit verschoben wird. Akzidentelle Transformationen des Menschen können den ursprünglichen moralischen Sinn ändern, den wir in uns tragen, also die Grundneigungen umakzentuieren, schwächen oder anders färben, die uns eingeschrieben sind und die die Grundlage der Moralität bilden. Dies kann geschehen, indem einige Neigungen (z. B. die Neigung zur Selbsterhaltung und Lebensverlängerung) verstärkt, andere (wie die Neigung zur Wahrheitserkenntnis) geschwächt werden. Unabhängig von dem Problem der Erkennbarkeit einer eventuellen Beziehung zwischen Genen und Neigungen stellt sich hier das ganz andere, den moralischen Sinn wachzuhalten und zu verhindern, daû biotechnologisch induzierte Differenzen den Sinn für eine natürliche Gleichheit, den Sinn des Respekts für den anderen, des Wahrheitstriebes, des Gerechtigkeitsgefühls, der pietas gegenüber dem Schwachen (was alles dem Menschen eigen ist) nicht deformieren ± und auf gewisse Weise damit das, was Habermas das gattungsethische Selbstverständnis genannt hat. 3) Durch Gentherapien besteht die Möglichkeit, auf die menschlichen und sozialen Beziehungen einzuwirken, indem die Unterschiede zwischen den Individuen modifiziert und die Selbstwahrnehmung des Subjekts als einzelnes wie auch in seinem Verhältnis zu den anderen geändert werden. Tatsache ist, daû Gentechnologien auf doppelte Weise eingesetzt werden können: dazu,

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die Unterschiede zu vergröûern, wie auch dazu, sie zu verkleinern, für eine rassistische und antiegalitäre Politik à la Nietzsche ebenso wie für eine egalitaristische nach Art der Jakobiner. Werden wir im ersten Fall mit dem Rückgriff auf die potenzierende Eugenik dahin gelangen, die bisher noch immer widerlegte Nietzschesche Prophezeiung des Übermenschen auf dem Wege des genetischen Übermenschen konkrete Realität werden zu lassen? Und werden wir in dem anderen bei den glücklichen, vollständig gleichen Sklaven angelangen? Der politische und soziale Einfluû der Biotechnologien öffnet ein weites und bis heute wenig betretenes Feld, das sich neben jenem ebenfalls heiklen Feld der moralischen Konsequenzen der biotechnologischen Transformationen auftut. Auch ohne die Annahme, daû die Veränderungen eines Individuums sich einzig der genetischen Seite verdanken, finden sich bei den genetischen Transformationen Gene, deren Manipulation leichtere akzidentelle Transformationen des Menschen hervorrufen wird, aber auch andere Gene, deren Manipulation tiefgreifende akzidentelle Transformationen zur Folge haben werden: denken wir nur etwa hypothetisch an Manipulationen mit Auswirkungen auf die Geisteskraft und kognitiven Fähigkeiten oder auch auf die sexuellen Neigungen. Die technische Vorstellbarkeit solcher Perspektiven setzt wiederum das Thema ihrer Zulässigkeit auf die Tagesordnung. Aber was soll man dann sagen, wenn durch eine Mixtur zwischen menschlicher und nichtmenschlicher genetischer Ausstattung ± als gewiû rein hypothetisches Ereignis ± eine Chimäre geschaffen würde? In diesem Fall würde es sich nicht um eine Transformation der menschlichen Natur, die hier als solche noch erkennbar wäre, handeln, sondern um ihre Preisgabe. Man hätte eine substantielle Transformation zu Wege gebracht, deren Resultat ein nichtmenschliches Wesen wäre, das nicht länger an der menschlichen Natur teilhätte, insoweit diese mit Vernunft, Sprache, moralischem Sinn usw. begabt ist. Die ¹Moral von der Geschicht'ª ist so, daû es nicht möglich ist, die menschliche Natur zu ändern, wohl aber, sie zu verlassen29. 29

Als Grundlage dieser Argumente läût sich die Unmöglichkeit einer graduellen ¾nderung des menschlichen Wesens ausmachen, die offenbar auch Fukuyama (cf. 300) annimmt, der sich hier jedoch auch etwas schwankend zeigt, da er zugleich bemerkt, daû unter Wissenschaftlern und Forschern die Meinung verbreitet sei, daû wir wohl niemals dahin gelangen werden, die menschliche Natur zu modifizieren (cf. 241). In jedem Fall ist die ¾nderung des Wesens kein Prozeû, sondern ein instantaner Vorgang, bei dem eine neue Substanz (und ein neues Wesen) erzeugt wird. Man betritt in diesem

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Der Gewinn der Bestimmung, daû die menschliche Natur nicht geändert werden kann, könnte zu der paradoxen Folge eines Quietismus führen: machen wir uns keine Gedanken darum, wie die Dinge stehen, wir werden es ja schlieûlich in jedem Fall mit Menschen zu tun haben, wir werden der menschlichen Natur nicht entkommen! Das wäre ein um so unseligeres Resultat, als gerade dann, wenn wir die menschliche Natur nicht ändern können, sich die Frage nach dem Wesen des erlaubten ¹akzidentellª-manipulativen Eingriffs aufs äuûerste zuspitzt. Gerade weil er der einzige uns zu Gebote stehende ist, fordert er uns um so mehr heraus. Es ist an dieser Wegscheide, daû die entscheidendsten Fragestellungen entstehen: Welche Kriterien sollen diesen Eingriff leiten? Wer ist zur Mitsprache befugt? Nur die einzelnen oder auf dem Wege von Reglementierungen auch Gesellschaft und Politik? Embryonenforschung, Herstellung von Embryonen zu Fortpflanzungs- und/oder therapeutischen Zwecken, Gewinnung von embryonalen Stammzellen durch Zerstörung von Embryonen, Vernutzung sogenannter überzähliger Embryonen, Klonierung aller Art und Zielsetzung: jedes einzelne dieser brennenden Themen an der Schnittstelle von wissenschaftlichem Erkenntnisdrang, therapeutischen Zwecken, massiven ökonomischen Interessen empfiehlt eigene gesetzgeberische Eingriffe einer verantwortlichen Politik, die sich auf Werte und Rechte stützt, welche den biotechnologischen Akteuren klar erkennbar sind. Und es sind zugleich diese Themen, um welche weltweit die bioethischen Schlachten geschlagen werden, in welchen libertär-permissive Positionen, Positionen, die von einer (auch kollektiv zu nehmenden) Verantwortungsethik her Grenzen ziehen, wie auch solche, die von einer utilitaristischen Ethik herkommen, in der der Zweck die Mittel rechtfertigt, schlieûlich ontologische Positionen, die Residuen des Unverfügbaren ausmachen, welche dem Kriterium der Utilität oder der therapeutischen Fremdnützigkeit nicht unterworfen werden können. Was die Gentechnik betrifft, lauten hier die Fragen: In welchem Sinne sind die genetischen Grundlagen unserer leiblichen Natur unverfügbar? Zusammenhang ein faszinierendes Forschungsfeld bezüglich der Anordnung unserer Gene und der Identifizierung der insoweit am meisten entscheidenden, als ihre ¾nderung die einschneidendsten Transformationen zur Folge hat. ± Der Gebrauch des Adjektivs ¹posthumanª in dem Buchtitel Our Posthuman Future läût ein wenig ratlos, da das ¹Posthumaneª im eigentlichen Sinne, d.h. das durch eine substantielle Transformation Erzielte, genau das ¹Andere-des-Menschlichenª ist.

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Gibt es ein natürliches Recht auf genetisch nicht manipulierte Erbanlagen? Ein natürliches Recht der Art, aber auch des Individuums? Wie stark und welcher Art ist die genetische Determination, die sich in den Ergebnissen der Wissenschaften insgesamt zeigt? Eine der gröûten Gefahren der liberalen Eugenik besteht in der Lockerung der Kontrollen zugunsten der individuellen Selbstbestimmung, die oftmals zur schiefen Ebene eines ¹Mach' es selbstª führt, auf der sich die Idee, daû alle akzidentellen Transformationen erlaubt seien, da sie die menschliche Natur nicht veränderten, behaupten könnte. In Wirklichkeit können viele andere Faktoren in die ethische Bewertung einflieûen, die an die Beziehungen zu den anderen wie an die fundamentalen Werte, die respektiert werden müssen, gebunden sind. Eine harmlose akzidentelle Veränderung scheint etwa in der Maximierung der Körpergröûe zu bestehen. Dennoch kann sie ohne einen konkreten Nutzen für den Betroffenen nicht gestattet werden, da weit über die normalen Gröûenunterschiede hinaus differente Individuen zum Anlaû gefährlicher Diskriminierungen werden können. Die Gruppe derer, die durch Manipulation besonders groû sind, kann Gefühle von Überlegenheit und Macht über die anderen entwickeln, wie diese umgekehrt solche der Unterlegenheit bis hin zur Botmäûigkeit gegenüber den Groûen hegen können. Die Maxime ¹Ich gehöre mir selbst und mache aus mir, was ich willª gehört einem gemeinschaftsfeindlichen Standpunkt an, den die Biotechnologien Gemeingut werden lassen könnten. Darüber hinaus ist eine Zunahme der Ich-Problematiken absehbar: der Schwierigkeiten, einen einheitlichen Sinn für das eigene Leben zu finden und dessen Stücke so zusammenzusetzen, daû sie sich in eine einheitliche Gestalt fügen. Die Identitätsprobleme gehören zu den komplexesten, und man kann ihre Zunahme für ein Individuum diagnostizieren, das schon heute oftmals psychisch labil und fragmentiert erscheint und das sich neuen Herausforderungen für die Findung seiner Identität gegenüber finden wird.

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Person und Einheit des Menschen Die hier entwickelte Analyse kreiste bislang um den Begriff einer menschlichen Natur, hat dabei aber den Begriff der Person und die Frage der Einheit des Menschen im Hintergrund gelassen. Es scheint jedoch notwendig, darauf nun, da die anthropologische und ethische Behandlung der Biotechnologien sie zu vergessen oder eine vollständige Trennbarkeit von Leib und Seele als Selbstverständlichkeit anzusehen scheinen, zurückzukommen. Diese Trennbarkeit führt dazu, eine Untersuchung der Reflexe der leiblichen Manipulation im Seelenleben zu vernachlässigen. Es bestätigt sich in diesem Zusammenhang, daû eine bestimmte, in hohem Maûe simplifizierende Anthropologie zum ethischen Einfallstor für Eingriffe beim Menschen wird, indem sie sich in der Tat als eine Autorisierung der Herrschaft der Biotechnologien über die leibliche Dimension gebärdet. Was ist der Mensch und was ist die Person? In diesen Fragen hat die Philosophiegeschichte von den Griechen bis zu uns einen Fortschritt durchlaufen, für den der Beitrag der biblisch-christlichen Reflexion zentral gewesen ist. In der Tat bietet die bekannte Aristotelische Definition des Menschen ± homo est animal rationale (zõon lügon æxon) ± eine Bestimmung des Menschen über die nächste Gattungsbestimmung und die spezifische Differenz, die vielleicht nicht völlig und ausdrücklich Rechenschaft über seine Einzigartigkeit und Unähnlichkeit mit dem kosmischen Element gibt. Nach dem Auftreten des Christentums finden wir bei Boethius die erste entscheidende Definition der Person: rationalis naturae individua substantia. Aristoteles definiert den Menschen über den Rückgang auf die Natur oder das Wesen, Boethius die Person in ihrer geistigen Substantialität oder in ihrer unübersteigbaren metaphysischen Identität als etwas Einzigartiges, nicht auf anderes, den Kosmos, Reduzierbares. Dennoch kommen die beiden Bestimmungen insoweit überein, als die erste zu der zweiten hin auf dem Wege ist, denn Personsein ist das Eigentümliche der in einem Einzelwesen individuierten menschlichen Natur. Jedes Wesen, das die menschliche Natur besitzt und von seinem genetischen Erbe her zur menschlichen Gattung gehört, ist eben deshalb Person30. 30 Eine Begründung der Koextensivität der Begriffe ¹menschliches Individuumª und ¹menschliche Personª findet sich im Zusammenhang einer Untersuchung des on-

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Trotz aller Revisionen, geeigneter Vertiefungen und mehr oder weniger adäquater Kritiken, denen sie unterworfen war, stellt die Boethianische Bestimmung einen Wendepunkt in der allgemeinen Geschichte der Philosophie und einen absolut unaufgebbaren Bezugspunkt dar: mit ihr wird das gewaltige Thema ¹Personª, für immer in die Kultur eingeführt, auch weiterhin Früchte tragen und seinen Lauf in der Weltgeschichte vollenden. Dieser Lauf ist erst an seinem Anfang, wenn man sich die noch immer beschränkten zivilisatorischen Sphären vergegenwärtigt, in denen das ¹Personprinzipª Anerkennung gefunden hat. Zahlreiche Zonen der Erde sind diesem Prinzip erst seit kurzem begegnet, so daû es seine Fruchtbarkeit, wenn es einmal allgemein anerkannt sein wird, durchaus jenseits der historischen Welt feiern wird, in der es Gestalt gewann31. Wollen wir Leerformeln vermeiden, so bedeutet die Rede von einer ¹Personwürdeª, daû der Mensch einen Wert hat, der sich nicht auf eine Sache reduziert. Das leitet dazu an, jenes ¹irrØductible dans l'hommeª zu suchen, ¹d.h. das, was ursprünglich und fundamental menschlich ist, was die ganze Einzigartigkeit des Menschen in der Welt ausmacht . . . IrrØductible heiût auch all das, was am Menschen unsichtbar ist, was vollständig innerlich ist und durch das jeder Mensch der offenbare Zeuge seiner selbst, der eigenen Humanität und der eigenen Person istª32. Die personalistischen Positionen behaupten in der Tat, daû es im Menschen etwas auf die kosmische Natur Irreduzibles gibt: der Mensch ist nicht Weltgegenstand, nicht etwas auf Welt Reduzibles, sondern ein Wesen, daû mit Selbstverständnis und Selbsterfahrung als geistigen Wirklichkeiten ausgestattet ist. Der Personalismus bildet den Gegenpol zu jenem aktuellen anthropologischen Radikalismus, der im angelsächsischen und vielleicht in besonderer Weise im amerikanischen Bereich verbreitet ist und zunächst die Idee der Person, dann die einer menschlichen Wesensnatur beiseite setzt, um beim Menschen als Zufallsprodukt zu endigen. tologischen Status des menschlichen Embryos entwickelt in Approssimazioni all'essere, Padua 1995, 110±129. 31 Zur Idee der Person cf. meine folgenden Untersuchungen: V. Possenti, Pensare la persona (Dispense del corso di Storia della filosofia morale), Venedig 2001; ¹Filosofia della persona e personalismo metafisicoª, in: Una filosofia per la transizione, Mailand 1984, 80±105; ¹Noi che non sappiamo affatto che cosa sia la persona umana . . .ª, in: Filosofia oggi, Januar±März 2004, 3±28. 32 K. Wojtyla, PerchØ l'uomo, Mailand 1995, 47 und 52.

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Ist die Erkenntnis einmal erreicht, daû die Würde des menschlichen Individuums als Zweck gerettet ist, wenn es Person oder eine konkrete Totalität, ein Ganzes ist, das nicht der Art subordiniert ist und nicht nur deshalb einen Wert hat, weil es einfacher und vorübergehender Knotenpunkt sozialer Beziehungen ist, dann bleibt immer noch die Frage offen, in welchem Maûe ¹anthropologisch einschneidendª die Biotechnologien unter dem Aspekt der Rückwirkung einer Intervention auf den Leib auf das ¹Psychischeª sind. Es handelt sich hier um eine schwierige Frage, die kaum eine angemessene Antwort finden kann, wenn man nicht eine einheitliche Anthropologie ins Spiel bringt, d.h. eine solche, nach welcher der Mensch als ein einheitliches Wesen, als ein Ganzes existiert ± corpore et anima unus. Sehr zweifelhaft erscheint die Annahme, nach welcher sozusagen unbeschränkte Eingriffe auf die menschliche Leiblichkeit stattfinden könnten, so als ob diese nicht Teil der Person und der Leib etwas Gleichgültiges wäre, das man ohne Probleme der Technik überantworten könnte und dessen Manipulation keinerlei Auswirkungen auf die Person hätte. Wenn diese jedoch in der Einheit von Seele und Leib besteht, in der Einheit ihrer ebenso geistigen wie biologischen Neigungen, dann muû die Anthropologie sich von dem Cartesischen Dualismus von res extensa und res cogitans verabschieden, welcher häufig die implizite Voraussetzung des Bildes vom Menschen ist, auf das die Biotechnologien sich stützen ± sofern es nämlich nicht wiederum ein offener monistischer Materialismus ist. Eine abgetrennte Leiblichkeit, die in vitro analysiert wird, ist nicht mehr Träger von Sinn und endet im Mechanismus. Analog dazu kann man auch sagen, daû die komplexe Sphäre der menschlichen Sexualität sowohl im Dualismus als auch im Monismus unverstanden bleibt. Solche Inkonvenienzen sind nicht leicht zu beheben, wenn man sich ausschlieûlich auf der Ebene einer moralischen Argumentation bewegt, die die Risiken der Biotechnologien abhalten will und sich dafür auf eine Gattungsethik stützt.

Über die Begriffe von Krankheit und Therapie Die Gedanken eines Wesens und einer Natur, die in dieser Untersuchung verfochten werden, implizieren eine Philosophie, die sich

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zumindest teilweise dem radikalen Empirismus entzieht, welcher Unterschiede der Qualität oder des Wesens in bloû quantitative Differenzen auflöst. Auf Grund des Antiessentialismus, den pseudowissenschaftliche Verallgemeinerungen des Evolutionismus, der hier ein nihilistisches Gepräge zeigt hervorgebracht haben, ist eine Philosophie dieser Art heute selten. Auf die menschliche Natur angewandt, führt dies dazu, daû sie auf gesuchte Weise der Notwendigkeit beraubt, für vollständig transformierbar und für bar allen inneren Sinns erachtet wird, den ihr das Individuum beilegen sollte. Ein Ergebnis dieses Prozesses ist die Abschwächung oder gar Streichung der Differenzen zwischen therapeutischen und ¹manipulativ-verbesserndenª Eingriffen, wobei die Absicht leitet, den individuellen Vorlieben der einzelnen, dem Gentechniker und den Regeln des Marktes die Aufgabe zu übertragen, den Gesamtbereich der Gesundheit, der Therapie und der genetischen Selektion zu verwalten. Es ist dann nur stimmig, wenn N. Agar schreibt: ¹Liberals doubt that the notion of disease is up for the moral theoretic task the therapeutic/eugenic distinction requires of itª33. Wir verweilen bei diesem wichtigen Aspekt, der einen Leitbegriff aller Medizin ins Treffen führt, den der Krankheit, und tun dies in der Absicht, Kriterien für die Unterscheidung zwischen therapeutischem und ¹potenzierendemª Moment zu finden. Die Ideen von Krankheit und Therapie verweisen notwendig auf die Natur als funktionelle Normalität, auf die Krankheit als Entfernung von dieser Normalität und die Therapie als ihre Wiederherstellung. Die Medizin als Kunst und Wissenschaft wie auch die ihr immanente Idee der Therapie können nicht ohne Rekurs auf die Idee der funktionellen Normalität und eine diesbezügliche, auch statistische Verankerung entfaltet werden. In der Tat ist die Idee der Therapie verbunden mit, abhängig von und folgend aus derjenigen der Krankheit, und diese letztere schlieût ein, daû es eine Abweichung vom Normalzustand, d. h. vom Zustand der Gesundheit gibt, die den ¹natürlichen Zustandª bildet. Wenn nun aber der Begriff einer Natur alle objektive, zumindest phänomenologisch überprüfbare Relevanz verliert und ausschlieûlich das historisch variable Produkt von Wahl und Entscheidung des einzelnen wird, in denen sich seine Wünsche, Impulse, Instinkte aus-

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Zitiert nach Habermas, a. a. O. 39.

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sprechen, gehen notwendig auch die Begriffe von Krankheit und Therapie verloren. Wenn nichts durch sich selbst natürlich und ¹normofunktionalª ist, dann ist auch der Zustand des Gesundseins es nicht, und ebenso wenig hat die Abweichung vom Natürlichen (oder die Krankheit) irgendeine Bedeutung ± und konsequenterweise fällt dann auch der Begriff der Therapie. Auf allgemeinerer Ebene wird so der Begriff der hippokratischen Medizin kompromittiert, welcher auf wenige, aber zentrale Anschauungen gegründet ist, die sein Gerüst bilden: der Begriff der Natur als Normalität der Funktionen; die Krankheit als Abweichung von einem natürlichen oder normalen Zustand; die Therapie als Handlung, die zur Wiederherstellung der Gesundheit angewendet wird. Nun kann die ¹negativeª Eugenik oder Therapeutik nicht von vornherein angefochten werden: es liegt nichts Tadelnswertes, sondern durchaus etwas Verdienstliches in der Heilung von Erbkrankheiten, nämlich unter der Voraussetzung, daû sich der therapeutische Zweck nicht durch die Verletzung des Prinzips, daû kein menschliches Wesen jemals Mittel für einen anderen oder andere sein kann, selbst disqualifiziert. Die konkrete Praxis der Eugenik wirft jetzt und in Zukunft eine Fülle von Fragen auf, die nicht einfach am Schreibtisch vorhersehbar sind. Unzweifelhaft wird es jedoch nötig sein, eine Eugenik zu verhindern, die das Prinzip der natürlichen Gleichheit der Gattung verletzt und die statt dessen anthropologisch relevante Unterschiede zwischen Individuen und Gruppen einführt. Auch abgesehen vom Unterschied der philosophischen Sprache und des Bezugshorizonts gibt es ¾hnlichkeiten zwischen den Positionen von Habermas und Fukuyama, zu denen die bezeichnende Beibehaltung des Unterschieds von Gentherapie und Eugenik gehört, von denen die erste den Zweck der Heilung verfolgt, während die zweite selektive, verbessernde und ¹potenzierendeª Eingriffe vornimmt. Beide Autoren sprechen sich kritisch über die liberale Eugenik aus, also über eine Anwendung der Genetik, die zur Aufhebung des Unterschieds zwischen Therapie und Potenzierung führen wird oder die dahin kommt, zwischen denen zu seligieren, denen eine weitere Entwicklung zugestanden wird, und denen, die zu beseitigen sind.

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Exkurs über die Gefahren eines ¹inhaltlichen Reduktionismusª Ich setze es als bekannt und erwiesen voraus, daû die Wissenschaften bei ihrer Suche nach den Gesetzen und Regelmäûigkeiten in den verschiedenen Bereichen des Kosmos vereinfachende Modelle entwerfen, in denen zum Zwecke der Vermeidung einer nicht mehr beherrschbaren Problemdichte einzelne Faktoren nicht berücksichtigt werden und die insofern auch nur innerhalb bestimmter Grenzen Gültigkeit besitzen: es handelt sich hier um einen Reduktionismus, den ich einen methodologischen nennen möchte ± in dem Sinne, daû einige Faktoren ¹reduziertª oder vereinfacht oder ausgeblendet werden. Wenn die Wissenschaften auf diese Weise legitimerweise Modelle der Wirklichkeit entwickeln, in denen nur eine eingeschränkte Anzahl von Variablen Berücksichtigung findet, sollten sie sich freilich auch der Grenzen der Methode, die sie anwenden, bewuût sein. Tun sie dies nicht, entspringt eine zweite, gefährliche Form des Reduktionismus: der inhaltliche Reduktionismus, der in zwei Spielarten auftritt. In der einen wird das, was auf methodischer Ebene zu Recht ausgeblendet worden ist, um der Komplexität Herr zu werden, für ontologisch inexistent oder irrelevant gehalten; in der anderen versucht man, andere Wirklichkeitsniveaus alleine auf der empirisch zugänglichen Ebene zu modellieren. Für die anthropologische Frage bedeutet der Reduktionismus des zweiten Typs, daû man nach der Entdeckung eines neuen Forschungsfeldes und der dazu gehörigen Wahrheiten und Erklärungen den Menschen ohne Rest eben darauf abzubilden oder zu reduzieren versucht. Für ein Beispiel verweise ich hier auf den genetischen Reduktionismus: es kommt zu wichtigen genetischen Entdeckungen ± und pünktlich entsteht die Versuchung, alles aus den Genen zu erklären (wie analog auch auf dem Felde der Neurowissenschaften). Man kann jedoch fragen: Sind wir alleine das Ensemble unserer Gene? Oder das Ensemble unserer Synapsen? Der inhaltliche Reduktionismus verficht eine Vorstellung, nach welcher ¹eine Wirklichkeit x nichts anderes ist als . . .ª; oft wird die Reduktion in dem Sinne vorgenommen, daû das Höhere auf das Niedrigere zu bringen ist, etwa der Geist auf das Hirn im Rahmen der apriorischen Voraussetzung, daû die Wirklichkeit des Men-

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schen nichts anderes als auf verschiedene Weise organisierte und auf verschiedene Weise auch manipulierbare Materie ist. Auf den Menschen angewendet, ist der inhaltliche Reduktionismus die Weltanschauung, daû es keine ¹Formª gibt, die nicht auf Materie zurückgeführt werden kann. Im allgemeinen besteht die Grenze eines solchen Reduktionismus in der Annahme, daû das, was nicht empirisch abgesichert werden kann, auch nicht existiere, wobei nur die Unvollkommenheit der Modelle und auch die Tatsache übersehen wird, daû sie Parameter von Messungen in Anschlag bringen, die in Beziehung auf das Nichtempirische keine Gültigkeit haben. Man verabsolutiert so das Modell, beseitigt als inexistent alles das, was aus ihm herausfällt, und befestigt so die Regel des ¹nichts anderes alsª. Man kann den inhaltlichen Reduktionismus des Mangels beschuldigen, daû er sich der Herausforderung der Komplexität nicht zu stellen vermag, daû er der Illusion verfällt, die Probleme schon gelöst zu haben, wenn sie kaum an der Oberfläche berührt worden sind. Diese Beschränkung kann nur überwunden werden, wenn man den Reduktionismus aufgibt, insoweit dieser die Wirklichkeit über Gebühr simplifiziert und sie in rigide Schemata zwingt, durch deren weite Maschen wichtige Elemente des Feldes, um das es hier geht, ¹entschlüpfenª. Die Reduktion der Qualität auf Quantität, der Wesensunterschiede auf graduelle Unterschiede (die von den empiristischen Schule intensiv praktiziert wird), des Intellektuell-Geistigen auf das Körperliche, des Nicht-Notwendigen und Kontingenten auf den Determinismus sind häufige Verfahrensweisen des Reduktionismus. Häufig betrachtet dieser Ansatz jeweils nur einen Faktor und hält ohne eigentliche Rechtfertigung dafür, daû das Ganze aus der Summe der verschiedenen Faktoren entsteht, ohne zu bedenken, daû die Wechselbeziehung dies nicht gestattet. Die menschlichen Sinne funktionieren für sich genommen wohl ähnlich wie jene eines Pferdes: aber der Mensch ist kein Pferd, weil seine Sinne mit dem Verstand zusammenwirken. Eine auf gewisse Weise ¹reduktionistischeª Tendenz ist dem Grundprogramm der Gentechnik immanent, und zwar in dem Sinne, daû diese darauf ausgeht, den Bereich der Kontingenz, der Verursachung, der Unbestimmtheit und so den Bereich des Möglichen, der auch der Bereich der Freiheit ist, zu verkleinern. Einer gewissen Anwendung der Gentechnik ist ein besorgniserregender

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Konflikt immanent: einerseits erhalten der Techniker oder die Eltern groûe Wahlmöglichkeiten in bezug auf das künftige Kind, aber diese Wahl tendiert andererseits objektiv auf eine Reduktion der Kontingenzen und des Spektrums der Möglichkeiten für das Kind, dergestalt, daû es ein direktes Verhältnis zwischen der ¾nderung der individuellen Merkmale und der Beschränkung des Möglichkeitsspielraums gibt. Und es gibt auch keine apriorischen Elemente, die es gewährleisten, daû die Ersetzung des Zufälligen durch die Planung die optimale Lösung insbesondere auf der Gattungsebene ist. Ist eine solche Bildbarkeit des Ich durch sich selbst einmal gestattet, bleibt als groûe Frage die Auffindung der rechten Mitte zwischen dem genetisch absolut Feststehenden und der unbeschränkten genetischen Veränderbarkeit34.

Ausblick 1) Nach Paul ValØry ist ¹Athen die Entdeckung des Individuums, Rom die Erschaffung des Bürgers, Jerusalem die Offenbarung der Personª. Auf verschiedene Weise haben die drei weltgeschichtlichen Städte die Achtung für die Person in ihrer Ganzheit, Unverletzlichkeit und ¹Unveräuûerlichkeitª, d.h. in ihrem nicht marktförmigen und kommerziellen Charakter befördert. Die Biotechnologien treffen heute auf eine geistige Situation des Westens, in der sich zwei extreme, beiderseits reduktionistische Weisen des Verständnisses des Menschen gegenüberstehen: diejenige, für welche im Sinne von P. Ehrlich, der dafür hält, daû die Bürger der Demokratien eine andere menschliche Natur haben als jene, die unter einer Diktatur leben, die menschliche Natur nur eine soziale Konstruktion ist, und diejenige, die umgekehrt die sozialen und Um34 Bei der Prüfung der Gentechnologien scheint es geraten, zwischen den beiden Fällen des Eingriffs beim fremden Genom oder dem eigenen, versteht sich eines Erwachsenen, zu unterscheiden (eine heute ferne Perspektive, aber niemand weiû, was die Zukunft bringen wird). Es handelt sich um zwei unterschiedliche Situationen, denn in dem einen Fall stellt sich das Problem der gerechten Handlung gegen einen anderen (iustitia est ad alterum: haben die Eltern oder der Gentechniker ein Recht, das Genom des Embryos zu modifizieren?), in dem zweiten aber dasjenige einer entsprechenden Handlung gegen sich selbst: darf man sich selbst alles zufügen, was man will? Gehöre ich mir selbst, und damit fertig? Das würde bedeuten, daû es keine Pflichten gegen sich selbst gäbe.

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weltfaktoren beiseite läût und auf den Menschen als Ausdruck allein seiner Gene zeigt. Die erste Position, die von historistischem Zuschnitt ist und auf die Umweltfaktoren acht hat, ist seit langem stark und hat sich oft mit politischen Visionen der Linken verknüpft. Die andere, eine Form des Naturalismus, der auf die genetisch-erblichen Faktoren aufmerksam ist und der in den biologischen Determinismus einmünden kann, erlebt heute einen neuen Aufschwung und scheint alle politischen Lager in gleichem Maûe zu interessieren. Im Hin und Her zwischen Natur und Kultur scheint in einigen Hauptpunkten das erste Element zu überwiegen. Das Verhältnis zwischen dem Anteil, den man beim Menschen der Umwelt zuschreiben muû, und dem anderen, der sich der Erbanlage verdankt, ist jedenfalls ein Problem, das längst nicht gelöst ist. Zu bedenken ist auch die auftretende Segregation zweier Versionen der Globalisierung: der technisch-ökonomischen, die, indem sie die Differenzen tilgt, homogenisiert, und der technisch-genetischen, die, indem sie die Differenz zwischen den Subjekten fühlbarer macht und vertieft, ¹vereinzeltª. 2) Die Annahme, daû es unmöglich ist, die menschliche Natur zu ändern, darf, wie gesagt, nicht auf paradoxe Weise dazu verleiten, das Interesse an den Biotechnologien schwinden zu lassen (¹es wird ja ohnehin nichts Wichtiges geschehen . . .ª), sondern muû dazu führen, ihnen die wachste Aufmerksamkeit zu widmen. Wenn wir in der Tat niemals eine Art werden können, die sich im eigentlichen und ursprünglichen Sinne des Wortes selbst erschafft (auch wenn es an Phantasien dieser Art nicht gebricht), können die Biotechnologien gleichwohl eine groûe Anzahl der Faktoren beim Individuum und den sozialen Beziehungen variieren und auf diese Weise die Beziehung zwischen Gewolltem und Natürlichen zugunsten des ersteren ändern, damit aber dem Menschen eine ambivalente Macht in die Hand geben. Von einer erneuerten anthropologischen Betrachtung aus kann die Überwindung des Grundgegensatzes entspringen, der den Weg der Bioethik von ihren Anfängen an beeinträchtigt hat, nämlich der Gegensatz zwischen einer im Gefolge traditioneller Prinzipien ganz auf Abwehr jeder Neuerung gestellten Bioethik und einer anderen der bloûen Legitimierung jeder Form des Neuen, welche nur immer die Technologie offeriert; die erste ist immer miûtrauisch gegen die Wissenschaft, die letztere schon immer bereit, jede ihrer Entdeckungen auch zu übernehmen. Die erste tritt mehr in Europa

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und insbesondere in den romanischen Ländern und Deutschland auf, die andere überwiegt in der angelsächsischen Bioethik und wird in Europa von den Anhängern der liberalen Richtung übernommen. Die beiden Tendenzen zeigen Grenzen, insoweit sie nicht auf angemessene Weise die Frage nach dem für den Menschen Guten stellen, was in der Situation einer verbreiteten Skepsis des philosophischen Denkens, von der schon die Rede war, gewiû schwierig genug ist. Die Suche nach dem für den Menschen Guten und seiner teilweisen Verwirklichung ist das Zentrum aller Bioethik, die diesen Namen verdient, auch wenn die Weisen, in denen das für den Menschen Gute verstanden wird, oftmals umstritten sind.

Anhang Die Zukunft der menschlichen Natur unter dem Einfluû der Biotechnologien wird von Habermas in moralischen Begriffen in Orientierung an einer Gattungsethik gedacht, die bei Strafe der Unwirksamkeit rasch normative Folgen auf juridischer und politischer Ebene zeigen müûte. In diesem Zusammenhang entstehen Fragen nach der Natur des Rechtes und nach der Technik samt dem damit verbundenen Thema, ob das postmetaphysische Denken mit dem Vorsatz, die Technik als Ausdruck des Willens zur Macht und allgemeines Mittel bzw. als zu jedem Zweck taugliches Mittel zu beherrschen, erfolgreich sein kann. In der komplexen Habermasschen Konstruktion der Welt der Handlung nimmt das Recht eine bedeutende Stellung ein, was in verschiedenen Werken, insbesondere aber in Faktizität und Geltung dargestellt ist. Mit der Herabstufung der praktischen Vernunft zu einer kommunikativen und prozeduralen Vernunft kreisen die Habermasschen Schriften um das positive Recht, das zum orientierenden Pol des gesellschaftlichen Lebens avanciert. Als Konsequenz daraus wird das Problem der Legitimität vollständig in das der Legalität demokratischer Rechtserzeugung aufgelöst. Dieser Aspekt meint nichts anderes als eine andere Art und Weise, das Naturrecht auszutreiben und die Idee einer praktischen Vernunft für überwunden zu halten, ohne welche sich der Aufbau der praktischen Philosophie ändert: ¹Ich habe . . . mit der Theorie des

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kommunikativen Handelns einen anderen Weg eingeschlagen: an die Stelle der praktischen Vernunft tritt die kommunikative. Das ist mehr als ein Etikettenwechsel. . . . Die kommunikative Vernunft ist nicht wie die klassische Gestalt der praktischen Vernunft eine Quelle der Normen des Handelnsª35. Die Zurückstellung der praktischen Vernunft, bei Kelsen eine vollständige, wird von Habermas in einem postmetaphysischen Sinne erneut vollzogen. Auf diese Weise scheint die prozeduralistische Konzeption des Rechts ¹unvereinbarª mit der ¹platonistischen Vorstellung, daû das positive Recht seine Legitimität aus höherem Recht schöpfen kannª36, und entsprechend ist es auch unmöglich, Naturrecht und positives Recht in ein hierarchisches Verhältnis zu bringen: ¹Das positive Recht kann seine Legitimität nicht mehr einem übergeordneten moralischen Recht, sondern nur noch einem Verfahren präsumtiv vernünftiger Meinungs- und Willensbildung entlehnenª37. In diesem Zusammenhang kann es auch zu einem Rückzug auf einen absoluten Rechtspositivismus im Sinne eines Kelsen kommen. Überlegen wir nur ein wenig: Wenn das positive das einzig existierende Recht ist und es nur ein gesatztes (positum) Recht, von einem Willen gesetztes Recht sein kann, dann wird die Frage entscheidend, von wem, zu welchem Zweck und mit welchem Inhalt es gesetzt worden ist. Wir wissen, daû für Kelsen das Naturrecht eine vor allem für das Volk nützliche Lüge ist, während das positive Recht nichts mit dem Gerechten gemein hat (so daû das ius vom iustum vollständig verschieden ist, auch wenn die offenkundige Wurzelverwandtschaft auf eine gemeinsame Quelle verweist). Nun ist das positive Recht, das sich nicht aus einem übergeordneten und ihm das Maû gebenden Recht speist, nur der Ausdruck eines entsprechenden setzenden Willens: dort, wo das Recht nicht schon Tradition ist, ist es ein Oktroy ± ein Recht, das ganz aus dem Willen hervorgeht der sagt: volo, ergo sum. Als Ausdruck eines Willens aber ist das Recht arbiträr und jederzeit, wie jedes Produkt des Wollens, auch revozierbar: das Recht existiert in dem Maûe, in dem der Wille es setzt, aber dieser Wille kann in Zukunft auch etwas anderes bis hin zum Gegenteil wollen, immer nach Normen, die sich wesentlich als ¹revozierbare Edikteª darstellen: 35 J. Habermas, Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, Frankfurt/Main 1992, 17 f. 36 A. a. O. 664. 37 A. a. O. 674.

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heute gelten die Menschenrechte ± morgen wer weiû . . . In der Tat hat das Recht nur die Bedeutung einer nach der Entwicklung des Willens wandelbaren Unternehmung, wenn es nicht im Inneren einer unwandelbaren Ordnung gedacht ist, was bedeutet, das nicht die ganze Wirklichkeit sich in ein allgemeines Werden auflöst, ohne Grund und Ziel. Mit Kelsen kommt eine ¹groûe Transformationª zum Abschluû, die das Recht von einem Ausdruck der praktischen Vernunft zu einer Willensbekundung gemacht hat, zu einer imperativen Feststellung von Seiten des Souveräns, der mit einem entsprechenden setzenden und durch-setzenden Willen versehen ist, der auch alleine das Recht und das Unrecht, das Gerechte und das Ungerechte erschafft. In diesem Sinne hat sich mit dem Kelsenschen Normativismus der Einzug des Nihilismus in den juridischen Bereich vollzogen. Über diesen Punkt hat sich bereits Nietzsche mit beispielhafter Klarheit ausgesprochen, der die Vorgeschichte sei es Webers, sei es Kelsens in sich befaût: ¹Das Entscheidendste aber, was die oberste Gewalt gegen die Übermacht der Gegen- und Nachgefühle tut und durchsetzt ± sie tut es immer, sobald sie irgendwie stark genug dazu ist ±, ist die Aufrichtung des Gesetzes, die imperativische Erklärung darüber, was überhaupt unter ihren Augen als erlaubt, als recht, was als verboten, als unrecht zu gelten habe . . . Demgemäû gibt es erst von dieser Aufrichtung des Gesetzes an ¸Recht und ¸Unrecht . . . An sich von Recht und Unrecht reden entbehrt alles Sinns . . . Eine Rechtsordnung souverän und allgemein gedacht, nicht als Mittel im Kampf von Macht-Komplexen, sondern als Mittel gegen allen Kampf . . . wäre ein lebensfeindliches Prinzip, eine Zerstörerin und Auflöserin des Menschen, ein Attentat auf die Zukunft des Menschen, ein Schleichweg zum Nichtsª38. Wenn es der eigenste Charakter des Rechtspositivismus ist, daû nur im Gefolge der Aufrichtung des positiven Gesetzes Recht und Unrecht bestehen, dann war Kelsen ein Nietzscheaner, während man für Habermas von der Gefahr eines Nietzscheanismus sprechen mag, die solange nicht vollständig gebannt werden kann, als das Recht nur prozedural und demokratisch-deliberativ und nicht auch an eine Rechtsquelle über den deliberativen Prozeû und die Entscheidung des Gesetzgebers hinaus gedacht ist. Habermas ist 38

Fr. Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, Zweite Abhandlung, Nr. 11.

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sich übrigens des impliziten Paradoxes im Geltungsmodus des positiven Gesetzes selbst bewuût: ¹Wenn die Funktion des Rechts darin besteht, normativ generalisierte Verhaltenserwartungen zu stabilisieren, wie kann diese Funktion noch erfüllt werden von einem beliebig änderbaren, allein kraft der Entscheidung eines politischen Gesetzgebers geltenden Rechts?ª39 Mit dem Rückgriff auf die Komplexe der Macht beginnt der Ausspruch Nietzsches eine Reflexion auf die Technik. In Die Zukunft der menschlichen Natur berührt der Autor mit der Frage nach den Biotechnologien auch die Frage nach der Technik und ihrem Einfluû auf das menschliche Selbstverständnis: die Ausführungen verbreiten sich nicht über die Technik als Grundtendenz der Moderne und Postmoderne, auf die Möglichkeit, daû sie ¹domestiziertª oder auch eine nihilistische Bedeutung gewinnen könnte, die nicht zu ihrem Wesen gehört, sondern vielmehr über die Technik als Ausdruck eines Willens zur Macht. Nun ist die Ideologie des technologischen Szientismus auch in die Welt des Rechts eingedrungen und hat dazu geführt, das Recht technisch als Mittel zu einem reellen Zweck zu verstehen. Das auf eine bloûe Prozedur für jeden Zweck gebrachte Recht ist exakt das auf eine Technik reduzierte Recht, die meint, noch die letzten vorhandenen Reste des Naturrechts ausräumen zu können. Auf diese Weise ordnet sich das Recht der Technik unter, die sich um die Führerrolle in der Welt bewirbt, wie sie denn unbedingt darum weiû, die stärkste Kraft in der Hand des Willens zur Macht zu sein: ein allgemeines Mittel, ein Mittel für jeden beliebigen Zweck, die Idee einer wachsenden Verfügungsgewalt über das Leben jeder Ordnung und jeder Stufe. Entsprechend ist die Frage durchaus dringlich, ob das postmetaphysische Denken bei allen besten Absichten in der Lage ist, der Technik Herr zu werden: es möchte dies vielleicht, und Die Zukunft der menschlichen Natur ist dafür ein Beweis ± aber ist es auch in der Lage, das umzusetzen, was es möchte? Können wir uns der Technik bedienen oder bedient die Technik sich unser? Kann man den Willen zur Macht bändigen? Vielleicht ja, aber unter der Bedingung, daû der Ausgangspunkt ein anderer als die nachmetaphysische Philosophie ist. Diese vertritt die Meinung, 39 Habermas, Recht und Moral (Tanner-Lectures on Moral Values), in: ders., Faktizität und Geltung, a. a. O. 574.

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daû es nötig ist, der Technik Grenzen zu ziehen, aber sie ist kaum in der Lage, auszumachen, wie dies geschehen soll ± deshalb nämlich nicht, weil sie offensichtlich die Idee eines ursprünglichen Werdens ohne Ziel und Ursache übernommen hat, in dem es nichts als Umformbarkeit und Prozessualität gibt40. Die Technik, der absolute Rechtspositivismus, der in den Nihilismus führt, inbegriffen, ist nicht unser Schicksal; sie zeigt sich vielmehr in ein philosophisches Denken eingeschlossen, das keine zu respektierenden Grenzen oder Wesenheiten mehr kennt und das in einen offenen Nihilismus der Wesenheiten (s. o.) einmündet, in dem diese auf nominalistische Manier für einen flatus vocis ohne Substanz gehalten werden. Damit die im Sinne eines bloûen Willens zur Macht abgeirrte Technik nicht die einzige Perspektive bleibt, bedarf es einer Philosophie, die von jener, die eine unbegrenzte Veränderlichkeit des Seienden für möglich und wünschenswert hält, durchaus verschieden ist. Zur Zeit ist die Lage deshalb nicht ruhig, weil viele gedankenlos daran arbeiten, der Technik immer gröûere Operationsfreiheit zu verschaffen. Das ¹schwache Denkenª ist vielleicht das Opfer der Illusion, sie in die Hand nehmen und menschlichen Zwecken dienstbar machen zu können, und dies zum gleichen Zeitpunkt, zu dem das ¹schwache Denkenª will, daû sie die Begriffe der Wahrheit, des Wesens, der Stabilität aushöhle oder verabschiede. Das oft vorgetragene Vorgeben, die Technik mit der Ethik beherrschen zu können, erscheint als bloûes Postulat, da eine Ethik ohne Metaphysik, eine alleingelassene Ethik, Gefahr läuft, sich mit der Vorstellung abzufinden, daû nur die Wissenschaft über Erkenntnis verfügt und daû deshalb alleine sie das Recht habe, sich dem Menschen als Führerin anzutragen. Hier läût zuletzt das alte, von Comte stammende positivistische Dogma, das so oft in tausend Verkleidungen wiederholt worden ist, den Menschen der Technik wie auch seinem Willen zur Macht gegenüber wehrlos zurück.

40 Zu Habermas' postmetaphysischen Denken cf. das VII. Kapitel von Nichilismo e metafisica. Terza navigazione (Anm. 28).

Ludger Honnefelder (Bonn)

Der Menschenrechtsgedanke und die Herausforderung durch die moderne Biomedizin 1. Einführung: Die Herausforderungen der Bioethik Bioethik ist der seit den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts weltweit üblich gewordene Titel, um die Versuche von Ethik und Recht zu bezeichnen, auf die Herausforderungen zu antworten, die mit der um die gleiche Zeit einsetzenden immensen Erweiterung der Erkenntnis- und Handlungsmöglichkeiten der modernen Medizin verbunden sind. Der Titel umfaût Versuche unterschiedlicher Art, unter denen dem Ansatz beim Gedanken der Menschenrechte besondere Bedeutung zukommt. Deshalb möchte ich im Nachfolgenden, nach einer kurzen Skizzierung verschiedener mit dem Titel der Bioethik bezeichneter Versuche, dem Ansatz beim Menschenrechtsgedanken besondere Aufmerksamkeit widmen. Die Herausforderung durch die moderne Medizin wurde von Seiten der Bioethik in zwei Phasen aufgenommen1: Zu einer ersten intensiven Welle öffentlicher Aufmerksamkeit für die ethischen und rechtlichen Probleme der modernen Biomedizin kam es in den USA in den späten 60er und den beginnenden 70er Jahren vor allem durch drei Problemfelder: die Miûbrauchsfälle, die im Zusammenhang mit Forschungen am Menschen bekannt wurden; die Frage einer gerechten Allokation von knappen Ressourcen im Gesundheitswesen, die in Verbindung mit der Indienstnahme der zu1 Vgl. ausführlicher Honnefelder, L. (1998): Art. ¹Medizinische Ethik, 2. systematischª, in: Lexikon der Bioethik (ed. Korff, W./Beck, L./Mikat, P.), Bd. 2, Gütersloh, 652±661 (zusammen mit Fuchs, M.).

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nächst knappen Möglichkeiten der Dialyse auftrat; und das Problem eines möglichen Behandlungsabbruchs, mit dem die Einführung der modernen Beatmungstechniken konfrontierte. Im Zuge dieser ersten Phase kam es zur Ausbildung der Institution der Ethikkommission, zur Gründung von speziellen Forschungsinstituten der Bioethik und zur Schaffung verschiedener ethischer und rechtlicher Regelungswerke. Die anschlieûende zweite Phase entfaltete sich in dem Maû, in dem weitere neuartige Handlungsmöglichkeiten im Bereich von Diagnose, Therapie und Prävention entwickelt wurden und in die medizinische Praxis Eingang fanden. So weckten die ethischen Probleme am Lebensanfang und Lebensende, die mit der Einführung von Reproduktions- und Intensivmedizin verbunden waren, starke Aufmerksamkeit. Zu den besonders bearbeiteten Problemfeldern gehörten aber auch die Fragen im Zusammenhang mit Organtransplantation und Humangenetik, mit Klonierung und Stammzellforschung und nicht zuletzt mit allen Feldern der medizinischen Forschung. Charakteristisch für alle Versuche, die damit verbundenen Herausforderungen aufzunehmen, war die Einsicht, daû die tradierte ärztliche Tugendethik nicht ausreicht, um die neuen Probleme zu lösen, daû die Neuartigkeit der Handlungsfelder eine einfache Subsumtion unter vorhandene Normen schwierig macht und daû die Findung neuer rechtlicher Normen nicht ohne Rückgriff auf die grundlegenden moralischen Überzeugungen und deren ethische Reflexion möglich ist. Deutlich wurde auch, daû manche der für selbstverständlich gehaltenen Antworten auf Grundfragen wie die nach dem Beginn des Lebens, dem Zeitpunkt des Todes oder der Bedeutung von Fortpflanzung und Elternschaft einer neuen Reflexion bedurften.

2. Ansätze der Antwort im anglo-amerikanischen Bereich Die von den skizzierten Veränderungen innerhalb der modernen Medizin ausgehende Herausforderung an die Bioethik wurde zunächst in den USA aufgenommen. Fragen wie die genannten führten Ende der 60er Jahre zu der Forderung, die auf die einzelne

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Arzt-Patient-Dyade bezogene, paternalistisch entscheidende und vornehmlich auf die tradierten Standestugenden gestützte hippokratische Medizinethik durch eine Bioethik zu ersetzen, die die Entscheidung an eine reflektierte ethische Urteilsbildung bindet, die Arzt-Patient-Dyade durch eine die Optionen reflektierende Ethikkommission erweitert und die medizinische Forschung an Menschen der Prüfung durch ein multidisziplinäres Gremium aussetzt. Das aber hieû, Bioethik nicht mehr nur als Bestandteil des ärztlichen Standesethos zu verstehen, sondern als zentralen Bestandteil eines neuen interdisziplinär betriebenen Forschungsbereichs. Anders als die Einrichtung der therapie- und der forschungsbezogenen Ethikkommissionen, die sich rasch weltweit durchsetzte, erwies sich die geforderte ethische Urteilsbildung von Beginn an als schwierig: Das Wort Bioethics2 formulierte die Aufgaben, war aber nicht schon deren Lösung. Van Rensselaer Potter, ein an karzinogenen Umweltfaktoren interessierter Onkologe, der das Wort als erster benutzte, wollte hiermit die Forderung nach einer Verbindung der neuen biologischen Erkenntnisse (biological knowledge) mit der Erkenntnis des menschlichen Wertsystems (knowledge of the human value system) zum Ausdruck bringen und damit einen produktiven Brückenschlag zwischen science und humanities initiieren, mit dem Ziel, die Bedingungen des Überlebens der Menschheit zu sichern3. A. Helleghers und D. Callahan4, die das Kennedy Institute of Ethics an der Georgetown University und das Hastings Center in der Nähe von New York gründeten, benutzten das Wort, um die Bioethik zu bezeichnen, die in der Lage war, die gesuchte Brücke zwischen life sciences und Ethik zu schlagen und die Dilemmata der neuen Biomedizin zu lösen. War Potters wenig rezipierte Deutung eher die Forderung nach einer neuen Weisheit im Umgang mit der Natur, so zielten Helleghers 2 Vgl. Reich, W. T. (1995), Art. ¹Care, III. Contemporary Ethics of Careª, in: Encyclopedia of Bioethics. Revised Edition (ed. Reich, W. T.), Vol. 1, New York/London, 336±343. 3 Vgl. Potter, V. R. (1971), Bioethics: Bridge to the Future, Englewood Cliffs, N. J.; Potter, V. R. (1988), Global Bioethics: Building on the Leopold Legacy, East Lansing, M. I.; Potter, V. R. (1992), ¹Global Bioethics as a Secular Stone of Moral Authority for Long-Term Human Survivalª, in: Global Bioethics 5, 5±11. 4 Vgl. Callahan, D. (1973), ¹Bioethics as a Disciplineª, in: Hastings Center Studies 1, 66±73.

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und Callahan mit dem von ihnen eingeführten und über die amerikanische Kongreûbibliothek rasch sich verbreitenden Titel auf eine Bioethik, die die seit je zur Medizin gehörende ethische Handlungsverantwortung über eine ethische Urteilsbildung sicherstellen sollte, deren Kriterien und Formen im gezielten Gespräch zwischen Medizin und Biowissenschaften und den ethisch-rechtlichen Disziplinen sowie deren Bezug auf die Betroffenen bzw. die sie repräsentierenden gesellschaftlichen Gruppen gewonnen werden. In dem Rekurs auf ethische Prinzipien folgte der neue Ansatz dem Verfahren des Common Law, bei fehlenden Präzedenzfällen auf ethische Prinzipien zu rekurrieren, wie es auch der Nürnberger Gerichtshof 1947 vor der Verurteilung der verbrecherischen Versuche an Menschen während der Zeit des Nationalsozialismus in Form der Aufstellung des Nuremberg Code for Human Experimentation getan hatte. Auf dieses Dokument bezog sich auch 1978 die National Commission for the Protection of Human Subjects of Biomedical and Behavorial Research, als sie 1978 in Ergänzung des National Research Act von 1974 im Belmont Report die für den Schutz des Menschen in der medizinischen Forschung maûgeblichen Prinzipien festhielt und an erster Stelle die Prinzipien respect for persons (autonomy), nonmaleficence und justice aufführte. In den verschiedenen methodischen Ansätzen, in denen man das Programm der Bioethik in den USA einzulösen versuchte, spiegelt sich das Problem selbst. Weitgehend einig war man sich, daû die Grundlage der ethischen Urteilsbildung in den gesellschaftlich akzeptierten moralischen Grundüberzeugungen zu sehen war. Wie aber, so fragte man, war auf diese Grundüberzeugungen Bezug zu nehmen: über den Weg der internalisierten Handlungsdispositionen (Tugenden), über die Entscheidung im Einzelfall (Kasuistik), über die Anwendung einer ethischen Theorie (applied ethics), über den Rekurs auf personale bzw. rollenspezifische Bindungen (ethics of care) oder in einer die verschiedenen Elemente integrierenden handlungsleitenden Überlegung (practical ethics)? Hinsichtlich des methodischen Ansatzes konnten die Vertreter einer Tugendethik plädieren, daû keiner Gestalt der Moral eine so hohe Orientierungsleistung zukommt wie der in Tugenden beschriebenen Gestalt eines guten Lebens. Doch hängt deren Leistung an starken Voraussetzungen, die vor allem dann fehlen, wenn es um Handlungsmöglichkeiten geht, in Bezug auf die es keine Erfahrung gibt und für die die erforderlichen Handlungs-

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muster nicht wachsen können, sondern in kürzester Zeit in einem die Erfahrung ersetzenden gedanklichen Szenario gefunden werden müssen. Eher schien hier die Arbeit in den sich bildenden Ethikkommissionen weiterzuführen, in denen sich bei der Erörterung konkreter Fälle eine weit höhere Übereinstimmung zeigte, als die Verschiedenheit der Grundüberzeugungen erwarten lieû. S. Toulmin, Mitglied der oben erwähnten National Commission, sah im Verfahren der Kommission den Weg, auf Topoi in Form solcher gesellschaftlich geteilter ethischer Maximen (shared maxims) zurückzugehen, die die gesuchte Handlungsorientierung erlauben, und plädierte für eine diesem topischen Verfahren folgende Kasuistik5. Das Gegenmodell stellt der Rekurs auf Prinzipien dar, wie er unter dem Titel einer angewandten Ethik (applied ethics) von R. M. Hare formuliert und im Bereich der Technikfolgenabschätzung erfolgreich geworden ist. Kann nämlich die Gültigkeit der angenommenen Prinzipien und eine genaue Erfassung der Situation unterstellt werden, dann scheint es wie im kanonischen Schema einer wissenschaftlichen Erklärung möglich zu sein, aus den angenommenen Gesetzen und den jeweilig empirisch ermittelten Randbedingungen die zu suchende Norm zu deduzieren. Doch schon diese kurze Skizzierung macht die Probleme des Modells deutlich: Weder liegen in der Ethik die Prinzipien in Form einer akzeptierten normativen Theorie vor, noch lassen sich die gesuchten Normen aus den allgemeinen Prinzipien ableiten, noch sind die Randbedingungen auf die Sachgesetzlichkeiten und empirischen Faktoren der individuellen Situation reduzierbar. Die Vorteile einer objektiven normativen Rationalität scheint auch der Vorschlag von B. Gert und D. Clouser für sich in Anspruch nehmen zu können, die gesellschaftlich akzeptierte Moralität in die Form einer allgemeinen normativen Theorie zu bringen, um dann aus ihr eine den Bereich der Biomedizin abdeckende professionelle normative Theorie abzuleiten. Doch läût sich weder der Plural der Moralen auf eine einheitliche normative Theorie reduzieren, noch kann die gesuchte handlungsleitende Normativität daraus einfach abgeleitet werden. Ganz anders setzt das Modell einer Ethik der Fürsorge (ethics of care) an, wie es in feministi5 Toulmin, S. (1981), ¹The Tyranny of Principlesª, in: Hastings Center Report 11, 31±39; Jonsen, A./Toulmin, S. (1988), The Abuse of Casuistry, Berkeley, California.

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schem Kontext in Kanada formuliert wurde6, ein Modell, das ± auf sich allein gestellt ± freilich angesichts der Entwicklung von Medizin und Gesundheitswesen auf ähnliche Schwierigkeiten stöût wie eine allein an der Arzt-Patient-Beziehung orientierte ärztliche Ethik. Die wohl gröûte Wirksamkeit hat das mit dem Kennedy Institute verbundene Konzept von T. L. Beauchamp und J. F. Childress gefunden7, das Bioethik als eine praktische Ethik begreift, die von vier Prinzipienkomplexen erster Ordnung ± Respekt vor der Autonomie des Betroffenen, Nichtschadensprinzip, Fürsorgeprinzip und Verteilungsgerechtigkeit (respect for autonomy, nonmaleficence, beneficence, justice) ± ausgeht, mit einer Reihe von Kriterien zweiter Ordnung in Form von inhaltlichen, rollenspezifischen und prozeduralen Regeln verbunden ist und durch eine berufsbezogene Tugendethik ergänzt wird. Die vier Prinzipienkomplexe werden als Resultat des Versuchs betrachtet, den Kern der gesellschaftlich akzeptierten Moral als ein kohärentes Muster aufzufassen. Sie haben Geltung in Form von prima facie-Pflichten (W. D. Ross), d.h. von Prinzipien, die unbedingt gelten, sofern ihnen nicht ein Prinzip gleichen Typs entgegensteht. Die an jede Prinzipienethik sich stellende Frage, wie aus so allgemeinen Kriterien handlungsleitende Normen gewonnen werden und wie im Konfliktfall zwischen ihnen entschieden werden kann, wird durch Verweis auf eine praktische Überlegung beantwortet, die sowohl Fortbestimmung der bestehenden Norm (specification) als auch Abwägung zwischen konfligierenden Normen (balancing) umfassen kann. Ausdrücklich wird die ¾hnlichkeit der Prinzipien mit den ¹considered judgementsª von J. Rawls vermerkt, also denjenigen Annahmen, die sich durch die höchste Zustimmungsfähigkeit auszeichnen. Dementsprechend kann auch die praktische Überlegung im Sinn von J. Rawls als ¹reflective equilibriumª verstanden werden, in dem sich die Kohärenz und die wechselseitige Stützung der ethischen Prinzipien und der Verweisungszusammenhang zwischen Konkretion und Prinzip zur Geltung bringen. Wie Beauchamp/ Childress betonen, ist ihr Ansatz im übrigen mit unterschiedlichen 6 Brown, L. M./Gilligan, C. (1992), Meeting at the Crossroads: Woman's Psychology and Girl's Development, Cambridge, Massachusetts. 7 Beauchamp, T. L./Childress, J. F. (2001), Principles of Biomedical Ethics, 5th ed., Oxford.

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ethischen Theorien wie solchen der Deontologie, des Konsequentialismus oder des Utilitarismus kompatibel.

3. Der Ansatz beim Menschenrechtsgedanken und bei der medizinischen Teleologie Für die etwas später einsetzende europäische Diskussion um eine angemessene Bioethik spielten die amerikanischen Ansätze eine wichtige Rolle. Doch zeigte sich, daû sie mit historischen und rechtlich-institutionellen Bedingungen verbunden sind, die nur in einem Teil der europäischen Länder ¾quivalente besitzen, daû europäische Ansätze daher bei den in Europa maûgeblichen Traditionen ansetzen müssen, was sich freilich mit der Notwendigkeit verbindet, für bestimmte Bereiche über die Traditionen hinweg gemeinsame Regelungen zu finden. Charakteristisch für die europäischen Ansätze ist zum einen die Möglichkeit, an der Institution berufsrechtlicher Bindungen anzuknüpfen und auf diesem Weg Regeln für den Umgang mit den neuen Handlungsmöglichkeiten zu gewinnen, wobei sich die berufsrechtlichen Instrumente von codes of medical conduct über dØontologie mØdicale bis hin zu Empfehlungen und Richtlinien in Struktur und Geltungsweise durchaus unterscheiden und internationale berufsethische Regelungen wie das Genfer ¾rztegelöbnis des Weltärztebundes von 1948 und die Helsinki Deklaration des Weltärztebundes zur medizinischen Forschung von 1964 (Fortschreibungen 1975, 1983, 1989, 1996, 2000) einschlieûen. Zum anderen wurde der Ansatzpunkt in den ethischen Überzeugungen gesucht, wie sie in den Verfassungen verschiedener Länder rechtlich festgehalten sind, und eine Rahmenregelung oder Regelungen für Teilgebiete durch Gesetz herbeigeführt wie etwa in Frankreich durch das Doppelgesetz zur Bioethik (Loi No. 94-653 du 29 juillet 1994 relative au respect du corps humain, Loi No. 94-654 du 29 juillet 1994 relative au don et à l'utilisation des ØlØments et produits du corps humain, à l'assistance mØdicale à la procrØation et au diagnostic prØnatal) oder in Deutschland durch Gesetze wie das Embryonenschutzgesetz (1990) oder das Organtransplantationsgesetz (1997).

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Beide Ansätze wurden ± ähnlich wie in den USA ± von einer Diskussion in Form von parlamentarischen Hearings, Erörterungen in nationalen und internationalen Ad-hoc-Kommissionen und Konferenzen, Beratungen durch Berufsvertretungen, Gremien der Kirchen, der politischen Parteien und der gesellschaftlichen Gruppen sowie eine Diskussion in Medien und Öffentlichkeit vorbereitet und begleitet. Diese Entwicklung führte ± neben der Etablierung von lokal oder regional arbeitenden Ethikkommissionen für spezifische Aufgaben ± in etlichen Ländern wie Frankreich, Dänemark, Niederlande u. a. zur Bildung einer ständigen mit den Fragen der Bioethik befaûten Nationalen Kommission. Darüber hinaus bildeten sich ± wiederum ähnlich wie in den USA ± in verschiedenen Ländern interdisziplinär arbeitende wissenschaftliche Institute innerhalb und auûerhalb der Universitäten, die sich mit den neuen Fragen der Bioethik und/oder den damit verbundenen rechtlichen Regelungen befassen und die nationale und internationale Urteilsbildung verfolgen. Schon bald stellte sich in der europäischen Diskussion heraus, daû es angesichts der engen europäischen Verflechtung und des grenzübergreifenden Charakters von Forschung und Markt einer ebenso grenzübergreifenden ethisch-rechtlichen Rahmenregelung bedarf, soll die Konkurrenz in Forschung und Markt mit der Möglichkeit des Ausweichens in Länder mit geringeren Schutzschranken nicht zu einer Nivellierung der ethisch-rechtlichen Maûstäbe führen, der sich auch die Einzelstaaten nicht entziehen können. Dies führte auf der Ebene der Europäischen Union zu verschiedenen ethisch-rechtlichen Regelungen für den Bereich der Biotechnologie und auf der Ebene des Europarats ± dem vom Europarat verfolgten Menschenrechtsgedanken entsprechend ± zunächst zu etlichen Empfehlungen und Resolutionen für den Bereich der Bioethik, später zum Entwurf und zur Verabschiedung einer Menschenrechtskonvention zur Biomedizin, die durch Zusatzprotokolle ergänzt wird. Diese völkerrechtliche Konvention sucht auf der Basis der (für die Mitgliedsstaaten des Europarats rechtlich verbindlichen) Europäischen Menschenrechtserklärung von 1950, also ausgehend vom Gedanken der Menschenwürde und der damit verbundenen Rechte und Freiheiten, Prinzipien und Kriterien zu formulieren, an denen sich ± so der vollständige Titel ± ¹die Anwendung von Biologie und Medizinª auf den Menschen zu orientieren hat und die die grenzübergreifende Diskussion um angemessene

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Schutzvorkehrungen befördern sollen, wobei sich die Konvention auf diejenigen Bereiche beschränkt, für die ein völkerrechtlicher Konsens zu erwarten ist. Ausdrücklich werden deshalb die Normen der Konvention als Mindestnormen verstanden, die weitergehende Schutzvorkehrungen auf nationaler Ebene unberührt lassen. Ansatzpunkt einer die Pluralität der Moralen und Rechtskulturen übergreifenden Regelung kann nur ein Komplex von Wertüberzeugungen und fundamentalen Normen (Prinzipien) sein, der als solcher allgemeine Zustimmung zu finden vermag. Das aber ist die Überzeugung von der Würde des Menschen und damit verbundener Grundrechte und -freiheiten. Ihre allgemeine Zustimmungsfähigkeit zeigt sich nicht zuletzt daran, daû sie Grundlage fundamentaler Rechtsnormen geworden ist, wie sie sich in den weltweit anerkannten Menschenrechtskodifikationen und in zahlreichen nationalen Verfassungen finden. Vornehmlich in der antiken Philosophie, der jüdischen und christlichen Religion und in der europäischen Aufklärung wurzelnd, hat sich der Menschenrechtsgedanke in einer Weise zur Geltung gebracht, der den Entstehungskontext weit überschreitet und transkulturelle weltweite Geltung zu beanspruchen vermag. Dabei ist zu unterscheiden zwischen einerseits der Vielfalt der soziokulturellen Lebensformen, in die der Menschenrechtsgedanke eingebettet ist, sowie der Mehrheit und Verschiedenheit der philosophischen und religiösen Kontexte, durch die er vertiefte Begründung erfährt, und andererseits der Plausibilität, die dem Kern des Menschenrechtsgedankens jenseits der Vielfalt der Einbettungs- und Begründungszusammenhänge zukommt und die sich wesentlich den weltweiten Leid- und Unrechtserfahrungen insbesondere der Moderne verdankt. Freilich hat dies zur Folge, daû im Menschenrechtsgedanken vornehmlich Verbote bzw. Abwehrrechte festgehalten sind, die Grenzen ziehen, deren Überschreitung die Menschenwürde in ihrem unverletzbaren Kern berührt, während Anspruchs- und Teilnahmerechte erst später hinzugetreten sind. Dies gebietet, im Hinblick auf die Universalität der Geltung des festgehaltenen ethischrechtlichen Kernbestands die Auslegung eng zu halten und den Menschenrechtsgedanken stärker als Formulierung der genannten Grenzen denn als Ausdruck einer alles umfassenden Quelle der Moral und des Rechts zu betrachten.

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Was den Menschenrechtsgedanken befähigt, als Ansatzpunkt der gesuchten ethisch-rechtlichen Grenzziehung in der Anwendung der modernen Wissenschaft und Technik insbesondere in Medizin und Biotechnologie zu dienen, ist die zugrunde gelegte Vorstellung vom Menschen8. Denn der Mensch wird hier begriffen als ein Lebewesen, das seiner Natur nach ein mit dem Vermögen von Vernunft und Willen ausgestattetes und also moralfähiges Subjekt ist. Mensch- und Subjektsein werden dabei als eine unlösliche Einheit verstanden. Deshalb wird die Würde, die dem Menschen als moralfähigem Subjekt eigen ist, von keiner besonderen Eigenschaft oder Leistung abhängig gemacht, sondern dem Menschen allein deshalb zugesprochen, weil er ein menschliches Lebewesen ist. Dieser Vorstellung vom Menschen folgt auch der Katalog der Grundrechte, durch den die Bedingungen rechtlich gesichert werden, ohne deren Realisierung der Mensch nicht Subjekt sein und nicht seiner Würde entsprechen kann. Dazu gehören nicht nur die Selbstbestimmung und die Persönlichkeitsrechte, sondern auch der Schutz von Leib und Leben als fundamentalen Gütern. Einzelne Verfassungen haben dem in ihrem Grundrechtsteil durch eine besondere Bezugnahme auf die Gesundheitsfürsorge und auf den Umweltschutz weiter Rechnung getragen. Für die Herausforderung durch Medizin und Biotechnologie ergibt sich aus den oben genannten Grundrechten, daû keine Intervention als gerechtfertigt betrachtet werden kann, die nicht die Zustimmung nach Aufklärung durch den Betroffenen erfahren hat und die nicht dem Schutz von Leib und Leben Rechnung trägt. Mit dem Verweis auf die Grenzen, die durch Menschenwürde und Menschenrechte in ihrer kodifizierten Form gezogen sind, ist die Herausforderung durch die moderne Wissenschaft und ihre technische Anwendung jedoch erst zu einem Teil beantwortet. Denn die durch die modernen Wissenschaften eröffneten Handlungsfelder sind zu neuartig und zu speziell, um durch die Normen der bestehenden Menschenrechtskodifikationen bereits hinlänglich geregelt zu werden. Bezeichnenderweise sind daher im Anschluû an die Menschenrechtskonventionen weltweit weitere 8 Vgl. hierzu ausführlicher Honnefelder, L. (1999), ¹Biomedizinische Ethik und Globalisierung. Zur Problematik völkerrechtlicher Grenzziehung am Beispiel der Menschenrechtskonvention zur Biomedizin des Europaratesª, in: Eser, A. (Hg.): Biomedizin und Menschenrechte. Die Menschenrechtskonvention des Europarates zur Biomedizin. Dokumentation und Kommentare, Frankfurt a. M., 38±58.

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Konventionen und Deklarationen entstanden, in denen der Versuch unternommen wird, durch Konkretisierung der allgemeinen Normen den aus Wissenschaft und Technik resultierenden Gefährdungen zu wehren. Als charakteristisch kann der oben bereits erwähnte Ansatz des Europarats betrachtet werden, über die Konvention zum Schutz der Menschenrechte und der Grundfreiheiten (EMRK) von 1950 hinaus eine Menschenrechtskonvention zur Biomedizin zu schaffen und 1997 zur Zeichnung und Ratifizierung offen zu legen. In dieser Konvention wird die Herausforderung durch die moderne Entwicklung der Lebenswissenschaften dezidiert aufgenommen und auf die Gefährdung der Menschenwürde durch den möglichen Miûbrauch von Biologie und Medizin ebenso wie auf den Nutzen hingewiesen, der aus den Fortschritten in Biologie und Medizin erwächst. Zugleich wird auf die EMRK Bezug genommen und eine öffentliche Diskussion über die Fragen gefordert, die sich im Zusammenhang mit der Anwendung von Biologie und Medizin ergeben. In der Konvention selbst, die eine Rahmenregelung für die Gesetzgebung der Mitgliedsstaaten geben will, werden nicht nur die Normen der EMRK mit Blick auf die Handlungsfelder der Biomedizin ¸fortgeschrieben. Um die Herausforderung in einer spezifischen Weise beantworten zu können, wird auf einen zweiten Normkomplex Bezug genommen, der in den Kodizes der Berufspflichten und in den Verhaltensstandards enthalten ist, die sich ± wie etwa die Helsinki-Deklaration des Weltärztebundes zur Forschung am Menschen ± weltweit zur Regelung des Handelns im Bereich des Gesundheitswesens durchgesetzt haben. Dieser Normkomplex orientiert sich an der Zielsetzung medizinischen Handelns und speist sich aus den das Arzt-Patient-Verhältnis bestimmenden Wertüberzeugungen und -haltungen. Nun ergeben kodifizierte Menschenrechte auch in Verbindung mit weltweit etablierten und akzeptierten ¹professional obligations and standardsª noch nicht Grenzziehungen und Normen, die gehaltvoll genug wären, um der modernen Herausforderung durch Medizin und Biotechnologie wirkungsvoll und überzeugend begegnen zu können. Die Menschenrechtskonvention zur Biomedizin entspricht dem hier sichtbaren Desiderat auf unterschiedliche Weise9: Zum einen setzt sie voraus, daû die ¸Fortschreibung der Menschenrechte

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nicht nur einfache Applikation vorhandener Normen sein kann, sondern aufgrund der Neuartigkeit der Handlungsfelder Elemente des Normentwurfs bzw. der Normgenerierung enthalten muû. Eine ¸Fortschreibung, in der sich die Auffassung von Humanität zum Ausdruck bringen soll, mit der wir den neuen, in die Natur des Menschen eingreifenden Handlungsfeldern begegnen wollen, kann ± zumal unter den Bedingungen einer demokratischen Verfassung des Staatswesens ± nicht ohne eine breite gesellschaftliche Auseinandersetzung verlaufen. Zu Recht versteht sich die Menschenrechtskonvention zur Biomedizin daher als Aufforderung zu einer solchen breiten, auch die zukünftigen Revisionen der Konvention begleitenden Auseinandersetzung. Zum anderen fordert die Konvention weitere Protokolle, in denen die formulierten Grundnormen Konkretionen im Blick auf spezifische Handlungsfelder von Medizin und Biotechnologie wie Organtransplantation, medizinische Forschung am Menschen oder Anwendung der Humangenetik erfahren. Und schlieûlich versteht die Konvention die formulierten Normen und Grundsätze als Mindestnormen, die weitergehende Schutzvorkehrungen im Rahmen der nationalen Regelungen nicht nur nicht ausschlieûen, sondern als gehaltvolle Quellen des transnationalen Normdiskurses voraussetzen.

4. Offene Fragen und Probleme Auch der Ansatz einer bioethischen Grenzziehung, der auf den Menschenrechtsgedanken zurückgreift, zieht Fragen und Probleme nach sich, die die Universalität ihrer Geltung und den Kontext ihrer Begründung ebenso betreffen wie die Auslegung und die weitere Konkretion ihrer Normen. Wie immer die Diskussion dieser Fragen und Probleme verlaufen wird, eines ist schon jetzt deutlich: daû die moderne Biomedizin und die von ihr provozierte Bioethik wie kaum ein anderer Zusammenhang der modernen Welt zu der Frage zwingt, in welcher Weise ein die verschiedenen Kulturen ebenso übergreifender wie verbindender Konsens in grundlegenden ethischen und rechtlichen Fragen erwartet werden kann. 9 Vgl. Honnefelder, L. (1997), ¹Das Menschenrechtsübereinkommen zur Biomedizin des Europarats. Zur zweiten und endgültigen Fassung des Dokumentsª, in: Jahrbuch für Wissenschaft und Ethik, Bd. 2, 305±318.

Paul Ricúur (Paris) ²

Die drei Ebenen des medizinischen Urteils Der Schwerpunkt meiner Untersuchung1 liegt auf der therapeutischen (klinischen) Ausrichtung der Bioethik im Unterschied zu dem auf die Forschung ausgerichteten Zweig. Beide Zweige beinhalten eine praktische Dimension, entweder im Dienste des Wissens und der Wissenschaft oder im Hinblick auf die Pflege und die Heilung. Beide werfen in diesem Sinn ethische Fragen auf, insofern beide absichtliche Eingriffe in den menschlichen oder nichtmenschlichen Lebensprozeû betreffen. Dem therapeutischen (klinischen) Ansatz scheint zueigen zu sein, daû er Urteilsakte hervorruft, die auf mehreren, unterschiedlichen Ebenen relevant sind. Die erste kann als Ebene der Klugheit (der Begriff prudentia stellt die lateinische Version der griechischen phronesis dar) bezeichnet werden: Das Urteilsvermögen (um die kantische Terminologie zu verwenden) wird auf singuläre Situationen angewandt, in denen ein individueller Patient in eine interpersonelle Beziehung mit einem individuellen Arzt gestellt wird. Die bei dieser Gelegenheit gefällten Urteile sind beispielhaft für eine praktische Weisheit von mehr oder weniger intuitiver Natur, die aus dem Schulwissen und der Praxis hervorgeht. Die zweite Ebene kann zurecht als deontologisch bezeichnet werden, insofern die Urteile die Funktion der Normen übernehmen, welche die Singularität der Beziehung zwischen diesem Patienten und jenem Arzt auf verschiedene Weisen übersteigt, wie es durch die in vielen Ländern gebräuchlichen ¹deontologischen medizinischen Kodizesª zum Ausdruck kommt. Auf einer dritten Ebene betrifft die Bioethik Urteile des reflexiven Typs, die 1 Der hier vorgelegte Text ist ursprünglich für die internationale Konferenz ¹Ethics Codes in Medicine and Biotechnologyª, Freiburg im Breisgau, Oktober 1997, entstanden. In französischer Sprache wurde er publiziert in P. Ricúur, Le Juste 2, Paris 2001, 227±243.

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auf die Legitimationsversuche der Klugheitsurteile und der deontologischen Urteile erster und zweiter Ordnung angewandt werden. Die folgenden Thesen werde ich zur Diskussion stellen: Erstens ist es die Klugheitsdimension der Medizinethik, die der Bioethik im weiten Sinne ihre eigentlich ethische Bedeutung verleiht. Zweitens erfüllen die auf der deontologischen Ebene formulierten Urteile, obwohl sie auf den Klugheitsurteilen aufbauen, eine Vielfalt von irreduziblen, kritischen Funktionen, die mit der einfachen Universalisierung von Klugheitsmaximen der ersten Ordnung beginnen und unter anderem die externen und internen Konflikte der Sphäre medizinischer Eingriffe sowie Grenzen aller Art behandeln, an welche die Normen der Deontologie trotz ihrer kategorischen Natur stoûen. Drittens bezieht sich das moralische Urteil auf der reflexiven Ebene auf eine oder mehrere ethische Traditionen, die selbst in einer philosophischen Anthropologie verwurzelt sind: Auf dieser Ebene werden Begriffe wie Gesundheit und Glück in Frage gestellt; die ethische Reflexion berührt auûerdem so radikale Probleme wir die des Lebens und des Todes.

Der Pakt des Vertrauens Warum muû man von der Ebene der Klugheit ausgehen? Dies ist der Moment, um an die Natur der Situationen zu erinnern, auf welche die Tugend der Klugheit Anwendung findet. Ihr Bereich sind die Entscheidungen, die in singulären Situationen getroffen werden. Wenn also die Wissenschaft nach Aristoteles das Allgemeine betrifft, so betriff die technØ das Besondere. Dies ist insbesondere in der Situation wahr, in die der medizinische Beruf eingreift, nämlich in das menschliche Leiden. Das Leiden ist mit dem Genuû die letzte Zuflucht der Singularität. Das ist, nebenbei bemerkt, der Grund für die Unterscheidung innerhalb der Bioethik zwischen dem auf die Klinik ausgerichteten Zweig und dem auf die biomedizinische Forschung ausgerichteten Zweig eingerechnet der Überschneidungen, von denen später die Rede sein wird. Es ist wahr, daû das Leiden nicht nur die medizinische Praxis betrifft; das Leiden beeinträchtigt nicht nur den Bezug zu sich selbst als Träger einer Vielfalt von Vermögen und auf eine Vielheit von Beziehungen mit anderen Wesen im Bereich der Familie, der Arbeit

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und einer Vielzahl von Institutionen und bringt diese durcheinander. Die Medizin ist auch eine der auf einer sozialen Beziehung beruhenden Praktiken, für welche die grundlegende Motivation das Leiden und deren telos die Hoffnung ist, unterstützt und vielleicht geheilt zu werden. Am Ende dieser Untersuchung werden wir auf die Vielfalt der Bedeutungen zurückkommen, die mit dem Begriff der Gesundheit verbunden sind. Zu Beginn der Untersuchung gehe ich von den einfachen, ansonsten aber umstrittenen Erwartungen aus, die mit dem Begriff der Gesundheit als einer Form des Wohlbefindens und des Glücks verbunden sind. Die Grundlage des Klugheitsurteils bildet also die Beziehungsstruktur der medizinischen Behandlung: Das Verlangen, von der Last des Leidens befreit zu werden, die Hoffnung, geheilt zu werden, bildet die gröûte Motivation für die soziale Beziehung, die aus der Medizin die Praxis eines besonderen Genres macht, deren Entstehung sich im Dunkel der Geschichte verliert. Dies vorausgesetzt, können wir direkt zum Kern der Problematik vorstoûen. Was, fragen wir, ist der ethische Kern dieser singulären Begegnung? Der Pakt der Vertraulichkeit bindet den einen in der Beziehung zum anderen, diesen Patienten mit jenem Arzt. Auf der Klugheitsebene wird man noch nicht von einem Vertrag und von der ärztlichen Schweigepflicht sprechen können, wohl aber vom einem auf dem Vertrauen gegründeten Behandlungspakt. Dieser Pakt bringt also einen ursprünglichen Prozeû zum Abschluû. Zu Beginn sind die beiden Protagonisten durch eine Kluft oder sogar durch eine erhebliche Asymmetrie getrennt: Auf der einen Seite der, der weiû und zu handeln weiû, auf der anderen Seite der, der leidet. Diese Kluft wird ausgehend von beiden Polen der Beziehung durch eine Reihe von Durchgängen geschlossen, und die Ausgangsbedingungen werden angeglichen. Der Patient ± dieser Patient ± bringt sein Leiden ¹zur Spracheª, indem er es als Klage zum Ausdruck bringt, die eine deskriptive Komponente (dieses Symptom . . .) und eine narrative Komponente (ein in diese und jene Geschichte verstricktes Individuum) umfaût; auf ihre Art präzisiert sich die Klage im Anliegen: dem Anliegen der . . . (der Heilung und, wer weiû, der Gesundheit und, warum nicht, in letzter Hinsicht der Unsterblichkeit) und dem Anliegen an . . . als Appell an jenen Arzt gerichtet. Zu diesem Wunsch tritt das Versprechen hinzu, den Anordnungen der vorgeschlagenen Behandlung nachzukommen, wenn sie einmal getroffen worden sind.

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Der Arzt, der sich am anderen Pol der Beziehung befindet, legt die andere Hälfte des Weges zur ¹Angleichung der Bedingungenª durch das zurück, was Tocqueville als Geist der Demokratie definiert, indem er die auf einander folgenden Etappen der Aufnahme in seine Patientenklientel, der Diagnosestellung und zuletzt der Anordnung der Verschreibung durchläuft. Indem sie die zwei Personen miteinander verbinden, überwinden die kanonischen Phasen der Etablierung des Behandlungspaktes die anfängliche Asymmetrie der Begegnung. Die Verläûlichkeit der Übereinkunft wird noch durch die Verpflichtung des Arztes, seinen Patienten ¹weiter zu behandelnª und die Verpflichtung des Patienten, sich als Agent seiner eigenen Behandlung zu ¹verhaltenª einer Prüfung des einen und des anderen Teils unterzogen werden. Der Behandlungspakt wird so zu einer Art Allianz, die zwischen zwei Personen gegen den gemeinsamen Feind ± die Krankheit ± geschlossen wird. Die Übereinkunft verdankt ihren moralischen Charakter dem stillschweigend von den zwei Protagonisten geteilten Versprechen, ihre jeweiligen Pflichten treu zu erfüllen. Dieses stillschweigende Versprechen ist konstitutiv für den Klugheitsstatus des moralischen Urteils, das dem ¹Sprechaktª des Versprechens implizit ist. Man kann die Fragilität dieses Paktes ± von Anfang an ± nicht genug betonen. Das Gegenteil des Vertrauens ist das Miûtrauen oder der Verdacht. Das Gegenteil des Vertrauens begleitet alle Phasen des Vertragsschlusses. Auf Seiten des Patienten wird das Vertrauen bedroht durch eine unreine Mischung aus dem Miûtrauen gegenüber eines unterstellten Machtmiûbrauchs aller Mitglieder der ¾rzteschaft und dem Verdacht, daû der Arzt gleichgültig sein wird gegenüber der unsinnigen Erwartung, die in seine Intervention gesetzt wird: jeder Patient verlangt zu viel (wir haben vorhin den Wunsch nach Unsterblichkeit erwähnt), aber er ist auf der Hut vor den Machtexzessen desjenigen selbst, in den er ein exzessives Vertrauen setzt. Auf Seiten des Arztes kommen die Grenzen, auf die seine Verpflichtung jenseits aller unterstellten Nachlässigkeit oder Gleichgültigkeit stöût, erst später zum Vorschein: wenn vom Eindringen der biomedizinischen Wissenschaften, die zur Versachlichung und Verdinglichung des menschlichen Körpers neigen, oder vom Eindringen der Problematik der öffentlichen Gesundheitsfürsorge die Rede ist, die nicht mehr die individuellen, sondern die kollektiven Aspekte des allgemeinen Phänomens der Gesundheit betrifft. Diese Fragilität des Vertrauenspaktes ist einer der

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Gründe für den Übergang von der Klugheitsebene zur deontologischen Ebene des moralischen Urteils. Dennoch möchte ich betonen, daû der Behandlungspakt seinem intimen Charakter zum Trotz nicht des Potentials zur Verallgemeinerung entbehrt, welche den Begriff der Klugheit oder der praktischen Weisheit selbst rechtfertigen, der dem medizinischen Urteil auf dieser Ebene beigemessen wird. Wir haben dieses Urteil als intuitiv bezeichnet, weil es aus dem Schulwissen und der Praxis hervorgeht. Die Ebene der moralischen, mit dem Behandlungspakt verbundenen Verpflichtung als Klugheitsebene zu bezeichnen, bedeutet aber trotzdem nicht, sich den Zufällen des Wohlwollens auszuliefern. Wie jede Kunst, die von Fall zu Fall praktiziert wird, erzeugt der Behandlungspakt gerade zugunsten der Lehre und der Praxis das, was man ± um noch nicht von Normen zu sprechen ± Prinzipien nennen kann, die das Klugheitsurteil auf die Spur des deontologischen Urteils bringen. Für das erste Prinzip der praktischen Weisheit, die auf der medizinischen Ebene ausgeübt wird, halte ich die Anerkennung des singulären Charakters der Behandlungssituation und vor allem des Patienten selbst. Diese Singularität beinhaltet die unersetzliche Einzigartigkeit einer Person zu anderen, was unter anderem die Reproduktion desselben Individuums durch Klonierung ausschlieût; die Verschiedenartigkeit der menschlichen Personen führt dazu, daû es nicht die Spezies ist, die behandelt wird, sondern jedes Mal ein einzigartiges Exemplar der menschlichen Gattung. Das zweite Prinzip unterstreicht die Unteilbarkeit der Person; es sind nicht die vielen Organe die man behandelt, sondern man behandelt umfassend einen ± wenn man es so sagen kann ± integralen Kranken; dieses Prinzip steht der Fragmentierung entgegen, die sich sowohl aus der Unterschiedlichkeit der Krankheiten und ihrer Lokalisierung im Körper als auch aus der entsprechenden Spezialisierung des Wissens und der Handlungskompetenz ergibt; das Prinzip der Unteilbarkeit der Person steht gleichermaûen einer anderen Art der Spaltung zwischen Biologie, Psychologie und dem Sozialen entgegen. Das dritte Prinzip fügt der Idee der Unersetzlichkeit und der Unteilbarkeit der Person die bereits reflexivere Selbstschätzung hinzu. Dieses Prinzip besagt mehr als den Respekt gegenüber dem anderen; es zielt darauf, den unilateralen Charakter des Respekts auszugleichen, indem es ± durch die Anerkennung des eigenen Wertes durch das Subjekt selbst ± vom Selbst zum an-

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deren führt. Die Wertschätzung geht auf das Selbst; denn die Situation der Behandlung ± insbesondere unter den Bedingungen eines Krankenhausaufenthalts ± begünstigt auf Seiten des Patienten nur zu sehr den Rückfall in Verhaltensweisen der Abhängigkeit und auf Seiten des behandelnden Personals den Rückfall in Verhaltensweisen, welche gegen die Würde des Kranken verstoûen und ihn demütigen. Die Auslösung dieses Rückfalls in die Abhängigkeit verstärkt sogar die gefährliche Mischung eines exzessiven Anspruchs und latenten Miûtrauens, die den Behandlungspakt untergräbt. So wird auf eine andere Weise die Fragilität des Behandlungspaktes hervorgehoben, von der weiter oben die Rede war. Idealerweise beinhaltet dieser Pakt eine gegenseitige Verantwortung der beiden Partner. Denn der Rückfall in eine Abhängigkeitssituation vom Eintritt in eine Phase intensiver Behandlung an bis hin zu letal zu nennenden Situationen hat die schleichende Tendenz, die ursprüngliche Situation der Ungleichheit wiederherzustellen, die man von der Begründung des Behandlungspaktes fern halten sollte. Das Gefühl der persönlichen Wertschätzung wird im wesentlichen durch die Abhängigkeitssituation gefährdet, die im Krankenhaus vorherrscht. Die Würde des Patienten wird nicht nur auf der sprachlichen Ebene gefährdet, sondern auch durch alle Zugeständnisse an die Vertraulichkeit, die Trivialität und die Vulgarität in den tagtäglichen Beziehungen zwischen den Mitgliedern des medizinischen Personals und den stationär behandelten Personen. Die einzige Weise, gegen diese beleidigenden Verhaltensweisen zu kämpfen, ist die Rückkehr zur Grundanforderung des Paktes der Behandlung, nämlich die Verbindung des Patienten mit der Durchführung seiner Behandlung, oder in anderen Worten, mit dem Pakt, der aus dem Arzt und dem Patienten Verbündete in ihrem gemeinsamen Kampf gegen die Krankheit und das Leiden macht. Ich hebe noch einmal das Konzept der Selbstschätzung hervor, das ich auf der Klugheitsebene ansiedele, während ich das Konzept des Respekts der deontologischen Ebene vorbehalte. In der Selbstschätzung versichert sich die menschliche Person selbst ihrer eigenen Existenz und bringt ihr Bedürfnis zum Ausdruck, von den anderen die eigene Existenz bestätigt zu wissen. Die Selbstschätzung verleiht dem Selbstverhältnis also eine Note der Selbstliebe, des persönlichen Stolzes: Das ist die ethische Grundlage dessen, was gewöhnlich Würde genannt wird.

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Der medizinische Vertrag Warum müssen wird jetzt von der Klugheitsebene zur deontologischen Ebene des Urteils aufsteigen, und zwar im Rahmen einer Bioethik, die sich zur Klinik und zur Behandlung hin orientiert? ± Aus verschiedenen Gründen, die mit den vielfältigen Funktionen des deontologischen Urteils verbunden sind. Die erste Funktion ist die der Universalisierung der im Behandlungspakt enthaltenen Prinzipien, die Patienten und Arzt miteinander verbinden. Wenn ich von den Prinzipien der Klugheit in einer der griechischen ähnelnden Begrifflichkeit sprechen konnte, welche auf die den Berufen, Techniken und Praktiken nahe stehenden Tugenden angewandt wurde, werde ich in einer stärker von der kantischen Moral geprägten Begrifflichkeit von Normen sprechen, die im Gegensatz zu den Prinzipien in ihrer Funktion der Universalisierbarkeit behandelt werden. Letztere hat Kant unter die Kategorie der Handlungsmaximen gefaût in Erwartung des Nachweises der Universalisierbarkeit, der sie auf die Ebene von Imperativen zu heben vermag. Wenn der Pakt des Vertrauens und das Versprechen, diesen Pakt einzuhalten, den ethischen Kern der Beziehung ausmacht, die diesen Arzt mit jenem Patienten verbindet, dann schafft die Erhebung dieses Vertrauenspaktes in den Rang einer Norm das deontologische Moment des Urteils. Der universelle Charakter der Norm wird hier im wesentlichen bekräftigt: Dieser verbindet jeden Arzt mit jedem Patienten, also jeden, der in die Behandlungsbeziehung eintritt. Ganz grundsätzlich ist es kein Zufall, wenn die Norm die Form eines Verbots annimmt, die des Bruchs der ärztlichen Schweigepflicht. Was auf der Klugheitsebene nur ein Prinzip der Vertraulichkeit war, bewahrt die Züge einer Gemeinsamkeit, die auf ausgewählte Weise zwei Personen miteinander verbindet; in diesem Sinne konnte das Prinzip noch der Tugend der Freundschaft zugeordnet werden. In der Form des Verbotenen schlieût die Norm Dritte aus, indem sie die singuläre Verpflichtung unter die Regel der Gerechtigkeit stellt und nicht mehr unter die Prinzipien der Freundschaft. Der Behandlungspakt, von dem auf der Klugheitsebene die Rede war, kann jetzt in der Begrifflichkeit der Vertragsbeziehungen ausgedrückt werden. Sicherlich sind Ausnahmen zu bedenken, (auf die wir später zurückkommen werden,) aber diese müssen selbst einer Regel folgen: keine Ausnahme ohne Regel für die Ausnahme von der Re-

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gel. So kann das Berufsgeheimnis jedem Kollegen ¹entgegengehaltenª werden, der nicht an der Behandlung Teil hat; den gerichtlichen Autoritäten, die eine Zeugenaussage von Seiten der Mitglieder des medizinischen Personals erwarten oder zu fordern versuchen, den Arbeitgebern, die auf medizinische Informationen bezüglich eventueller Lohnempfänger neugierig sind, den Meinungsforschern, die an namentlichen Informationen interessiert sind, und den Beamten der Sozialversicherung, die von Gesetzes wegen keinen Zugang zu Krankenakten haben. Der deontologischen Charakter des Urteils, das die medizinische Praxis beherrscht, wird durch die grundsätzlich alle Mitglieder der ¾rzteschaft betreffende Pflicht bestätigt, nicht nur ihre Patienten, sondern allen in Gefahrensituationen angetroffenen kranken oder verletzten Personen zu helfen. Auf dieser allgemeinen Ebene neigen die dem medizinischen Beruf eigenen Pflichten zur Verschmelzung mit dem kategorischen Imperativ, gefährdeten Personen zu Hilfe zu kommen. Die zweite Funktion des deontologischen Urteils ist eine Funktion der Verbindung. Insofern die die ärztliche Schweigepflicht beherrschende Norm Teil von Berufsregeln wie dem deontologischen Kodex des medizinischen Berufs ist, muû sie an all die anderen Normen zurückgebunden werden, welche die Belange der ¾rzteschaft innerhalb einer gegebenen politischen Gruppe regelt. Ein solcher deontologischer Kodex operiert wie ein Teilbereich innerhalb des viel weiteren Bereichs der Medizinethik. Beispielsweise stellt der Code français de dØontologie mØdicale in seinem Teil I die allgemeinen Pflichten aller ¾rzte im Bezug auf die eigenen Berufsregeln fest, die diesen Regeln einen sozialen Status verleihen. So stellt ein Artikel des Codes fest, daû die Medizin kein Geschäft sei. Warum? Weil der Patient als Person keine Handelsware ist, ganz gleich, was darüber hinaus hinsichtlich der finanziellen Behandlungskosten gesagt werden muû, welche aus der Vertragsbeziehung hervorgehen und die soziale Dimension der Medizin ins Spiel bringen. Unter die gleiche Rubrik der Universalisierbarkeit in einem professionellen Rahmen sind die Artikel zu fassen, die auf Seiten des Arztes die Verschreibungsfreiheit und auf Seiten des Patienten die freie Arztwahl festsetzen. Diese Artikel charakterisieren nicht nur eine bestimmte Art der Medizin, die liberale Medizin, sie bekräftigen auch den grundlegenden Unterschied zwischen dem medizinischen Vertrag und jedem anderen Vertrag, der

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den Austausch von Handelsgütern regelt. Aber die Funktion der Verbindung des deontologischen Urteils beschränkt sich nicht auf die Regeln, die die ¾rzteschaft als soziale und berufliche Gruppe begründen. Innerhalb dieses klar abgegrenzten Teilbereichs werden die Rechte und Pflichten aller Mitglieder der ¾rzteschaft mit denen der Patienten koordiniert. So entsprechen den Normen, welche die ärztliche Schweigepflicht definieren, diejenigen Normen, welche die Rechte der Patienten auf Information über ihren Gesundheitszustand regeln. Die Frage nach der geteilten Wahrheit gleicht so diejenige nach der ärztlichen Schweigepflicht aus, die allein den Arzt verpflichtet. Schweigepflicht auf der einen Seite, Wahrheit auf der anderen. In deontologischer Begrifflichkeit ausgedrückt kann das Verbot, die berufliche Schweigepflicht zu brechen, nicht dem Patienten ¹entgegen gehaltenª werden. So werden die beiden Normen, welche die Einheit des Vertrages begründen, um die die Deontologie kreist, auf die gleiche Weise einander angenähert, wie das wechselseitige Vertrauen die wichtigste Klugheitsvoraussetzung des Behandlungspaktes darstellt. Auch hier muûten Einschränkungen in den Kodex aufgenommen werden, nämlich in Anbetracht der Kapazität des Kranken, zu verstehen, zu akzeptieren, zu verinnerlichen und, wenn man so sagen kann, die Informationen mit dem behandelnden Arzt zu teilen. Die Aufdeckung der Wahrheit, insbesondere wenn sie das Todesurteil bedeutet, entspricht einer Initiationsprüfung mit ihren traumatischen Erfahrungen, die das Selbstverständnis und die Gesamtheit der Beziehungen zum Anderen beeinflussen. Der Lebenshorizont als ganzer wird umgestürzt. Diese durch den Kodex angezeigte Verbindung zwischen dem Berufsgeheimnis und dem Recht auf Wahrheit erlaubt es, dem deontologischen Kodex in der Architektur des deontologischen Urteils eine ganz besondere Funktion beizumessen, nämlich die Rolle des Knotenpunktes zwischen den beiden Ebenen der Deontologie und der Klugheit des medizinischen Urteils und seiner Ethik. Der Berufskodex übt seine Verbindungsfunktion innerhalb des deontologischen Feldes aus, indem er den Platz, den jede Norm innerhalb des Kodex der Deontologie einnimmt, zu einem Teil seiner Bedeutung macht. Eine dritte Funktion des deontologischen Urteils ist das Vermitteln in einer Vielzahl von Konflikten, die an den Grenzen einer medizinischen Praxis mit ¹humanistischerª Ausrichtung entstehen. Tatsächlich hat die Vermittlung zwischen Konflikten immer schon

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den kritischen Teil aller Deontologie ausgemacht. Wir gehen hier über die Buchstaben der Kodizes hinaus, die sich tendenziell ± wenn sie nicht die Konflikte verbergen (wovon wir noch reden werden) ± mindestens so lesen lassen, daû sie nichts als bestimmte Kompromisse formulieren, die aus den auf verschiedenen Ebenen der ¾rzteschaft, der öffentlichen Meinung und der politischen Macht geführten Debatten hervorgegangen sind. Was im Kodex geschrieben steht und uns dort bindet, ist häufig die Lösung, die das Problem verdeckt. Die Konflikte entstehen nun an zwei Fronten, an denen die Ausrichtung der vorhin als ¹humanistischª bezeichneten medizinischen Praxis heute immer mehr gefährdet wird. Die erste Front ist die, an der die auf die Klinik gerichtete medizinische Ethik ± die einzige, die hier behandelt wird ± mit der auf die Forschung gerichteten medizinischen Ethik zusammen trifft. Nimmt man diese beiden Zweige zusammen, so konstituieren sie tatsächlich das, was man heute als Bioethik bezeichnet, die unter anderem eine rechtliche Dimension umfaût, welche stark im angelsächsischen Umfeld betont wird und Raum für die Ausbildung des relativ neuen Konzepts des Biorechts (biolaw) geschaffen hat. Ich werde die internen Debatten der Forschungsethik und die Debatten über den Bezug der Bioethik zur obersten Rechtsinstanz völlig beiseite lassen. Ihrer unterschiedlichen Orientierung zum Trotz ± Verbesserung der Behandlung und/oder Fortentwicklung der Wissenschaft ± haben die Klinik und die Forschung eine gemeinsame Grenze, an der entlang unausweichlich Konflikte entstehen. Die Fortschritte in der Medizin hängen tatsächlich weitgehend von denen in den biologischen und medizinischen Wissenschaften ab. Der letzte Grund hierfür ist, daû der menschliche Körper einerseits der Leib eines personalen Wesens und andererseits ein in der Natur beobachtbarer Forschungsgegenstand ist. Konflikte können hauptsächlich im Zusammenhang mit den Modalitäten der Untersuchung des menschlichen Körpers entstehen, bei denen die Forschung eingreift, so daû Konflikte aufkommen, insofern die bewuûte und freiwillige Teilnahme des Patienten auf dem Spiel steht; in dieser Hinsicht hat die Entwicklung der praediktiven Diagnostik den Druck der objektivierenden Techniken auf die als Kunst praktizierte Medizin verschärft. An dieser Stelle greift die Regel des ¹informierten Einverständnissesª (informed consent) ein. Diese Regel beinhaltet, daû der Patient nicht nur in-

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formiert, sondern freiwillig als Partner in das Experiment einbezogen wird, auch wenn es nur der Forschung dient. Jeder kennt die unzähligen Hindernisse, die sich der vollständigen Einhaltung dieser Norm entgegensetzen; die Kompromiûlösungen oszillieren zwischen einem ernsthaften Versuch, der medizinischen Macht (ein Konzept, das ganz offenensichtlich in den Kodizes fehlt) Grenzen zu setzen, und den Vorsichtsmaûnahmen, die vom medizinischen Personal mehr oder weniger redlich getroffen werden, um sich gegenüber rechtlichen Schritten abzusichern, die ihre zu Gegnern gewordenen Patienten einzuleiten drohen: im Fall der Annahme versteckten Miûbrauchs oder häufiger noch gegen Miûerfolge, die von aufgebrachten Patienten ± welche voreilig die Pflicht zu behandeln, d.h. das Mittel, mit der Pflicht zur Heilung, d.h. den Zweck, verwechseln ± für Behandlungsfehler gehalten werden (malpractice). Man kennt die Schäden, die der Prozeûeifer der Konfliktparteien in den Vereinigten Staaten hervorbringt ± Schäden, die bewirken, daû der Pakt der Vertraulichkeit, der lebendige Kern der Klugheitsethik, durch einen Pakt des Miûtrauens ersetzt wird (mistrust vs. trust). Allerdings ist nicht alles unausgeglichen oder sogar pervertiert in den Kompromissen, die die unausweichlichen Konfliktsituationen aufzwingen. Was ist beispielsweise zum Grenzfall der Doppelblindstudie (double blind) zu sagen, die von der prädiktiven Diagnostik hervorgebracht wird und bei der nicht nur der Patient, sondern auch der experimentierende Forscher keine Information erhält? Und was bedeutet das informierte Einverständnis? In diesem Punkt weist die vermittelnde Funktion der Deontologie nicht nur Züge der Rechtssprechung, sondern auch der Kasuistik auf. Die zweite Front folgt der unsicheren Trennlinie zwischen der Sorge um das persönliche Wohlbefinden des Patienten ± ein von der liberalen Medizin vorausgesetzter Eckpfeiler ± und der Einbeziehung der öffentlichen Gesundheit. Der latente Konflikt hat die Tendenz, der Sorge um die Person und ihre Würde die Gesundheit als soziales Phänomen entgegenzustellen. Ein Kodex wie der Code français de dØontologie mØdicale2 neigt dazu, diese Art von Konflikt zu verbergen oder wenigstens zu verkleinern. So stellt er in Artikel 2 fest, daû ¹der Arzt, seine Aufgabe im Dienste des Indivi2 Louis RenØ, Code français de dØontologie mØdicale. Eingeleitet und kommentiert von Louis RenØ, mit einem Vorwort von Paul Ricúur, Paris 1996, 9±25.

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duums und der öffentlichen Gesundheit, im Respekt vor dem menschlichen Leben, der Person und ihrer Würde ausüben muû.ª Dieser Artikel ist das Muster des Kompromisses. Sicherlich liegt die Betonung auf der Person und ihrer Würde. Aber das menschliche Leben kann auch im Sinne einer weiteren Ausdehnung als Bevölkerung ± oder sogar als menschliche Gattung in ihrer Ganzheit ± verstanden werden. Diese Einbeziehung der öffentlichen Gesundheit betrifft alle weiter oben erörterten Regeln und vor allem die der ärztlichen Schweigepflicht. Es ist beispielsweise fraglich, ob ein Arzt die Pflicht hat, von seinem Patienten zu verlangen, daû er seine Sexualpartner über seine HIV-Infektion informiert oder sogar eine systematische Untersuchung durchgeführt werden muû, so daû er nicht umhin kommen wird, die Praxis der ärztlichen Schweigepflicht zu beeinträchtigen. Sicherlich muû hier das Gesetz eingreifen und die Bioethik zu einer Rechtsethik werden. Es hängt von den gesetzgebenden Instanzen einer Gesellschaft ab (in einigen Ländern das Parlament, in anderen Ländern die höchsten Gerichte), die Pflichten des einzelnen vorzuschreiben und die Ausnahmen von der Regel zu definieren. Aber gegen die Pflicht der dem Patienten geschuldeten Wahrheit wird nicht weniger verstoûen, wenn zahlreiche Dritte in die Behandlung einbezogen werden. Im Fall der Krankenhausmedizin neigt die Institution des Krankenhauses dazu, zum Gegenüber der Kranken zu werden ± um den Preis einer nicht zu kontrollierenden Verflüchtigung der Verantwortung. Diese administrative Übernahme durch die öffentliche Gesundheit betrifft neben der ärztlichen Schweigepflicht und dem Recht auf Wahrheit nicht weniger die dritte Säule der normativen Ethik, nämlich das informierte Einverständnis. Weiter oben haben wir bereits auf die zunehmende Schwierigkeit hingewiesen, diesem letzten Begriff einen konkreten Inhalt zu geben, insbesondere in der Praxis der prädiktiven Diagnostik, in der Forschungsgruppen oder Institute der medizinischen Biologie am anderen Ende der Welt die Studienprotokolle oder die klinische Prüfung eines neuen Medikamentes übernehmen. In der letzten Analyse enthält dieser Konflikt an der Front der öffentlichen Gesundheit keine Überraschungen. Man könnte den medizinischen Vertrag anhand von Begriffen aus einer Reihe von Paradoxen neu beschreiben. Erstes Paradox: Die menschliche Person ist keine Sache, und gleichzeitig ist ihr Körper Teil der beobachtbaren physischen Natur. Zweites Paradox: Weder ist die Per-

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son eine Handelsware noch die Medizin ein Gewerbe, aber die Medizin hat ihren Preis und erzeugt Kosten für die Gesellschaft. Letztes Paradox, das die beiden vorherigen überschattet: Das Leiden ist privat, aber die Gesundheit öffentlich. Man darf daher nicht erstaunt sein, wenn dieser Konflikt an der Grenze der öffentlichen Gesundheit sich ständig verschärft, angesichts der immer höheren Kosten der Forschung in der medizinischen Biologie und angesichts der Kosten für die Erforschung des menschlichen Körpers und der hoch komplizierten chirurgischen Eingriffe, das ganze erschwert durch die Verlängerung des menschlichen Lebens, um nicht die unvernünftigen Versuche der öffentlichen Meinung zu erwähnen, die zu viel von der ¾rzteschaft verlangt und von der sie andererseits den Miûbrauch ihrer Macht befürchtet. Kurz, die Kluft zwischen dem Anspruch auf unbegrenzte, individuelle Freiheit und dem Erhalt der Gleichheit bei der öffentlichen Verteilung von medizinischer Versorgung ± im Zeichen der Regel der Solidarität ± kann sich nur vergröûern.

Das Ungesagte der Kodizes Ich komme jetzt zu dem, was ich in der Einleitung die reflexive Funktion des deontologischen Urteils genannt habe. Aus dieser Funktion geht ein neuer Zyklus von Überlegungen hervor, der weniger mit den Normen zu tun hat, die zur Aufnahmen in einen Kodex der medizinischen Deontologie geeignet sind, als mit der Legitimierung der Deontologie als Kodifizierung dieser Normen selbst. In diesem Sinne könnte man das Ungesagte aller Unternehmungen der Kodifizierung denunzieren. Gehen wir von dem aus, was gerade bezüglich des potentiellen Konfliktes gesagt worden ist, der durch die Dualität der Interessen hervorgerufen wird, denen die ärztliche Kunst eigentlich dienen sollte: dem Interesse der Person und dem Interesse der Gesellschaft. Hier liegt ein Konflikt zwischen verschiedenen Philosophien zugrunde, der das in Szene setzt, was man die umfassende Geschichte der Fürsorge nennen könnte. So behält das Klugheitsurteil das Beste des griechischen Denkens über die Tugenden bei, die mit einer bestimmten Praxis verknüpft sind: zu sagen, was ein Arzt ist, bedeutet die herausragenden Eigenschaften, die ¹Tugendenª zu definieren, die einen

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guten Arzt ausmachen. Der Eid des Hippokrates bindet nach wie vor den Arzt von heute. Und die phronesis der griechischen Tragödien und der Ethik des Aristoteles setzt sich in der römischen und mittelalterlichen Konzeption der prudentia fort. Wir verdanken dann dem Christentum und Augustinus den Sinn für die unersetzliche Person. Man beachte aber auch den Geist der Aufklärung, der dasselbe Thema im Diskurs der Autonomie wieder aufnimmt. Und wie kann man der Geschichte der Kasuistik ± Gegenstand des Talmuds ± keinen Platz einräumen, bevor man die Subtilität der Jesuiten in Erinnerung ruft? Denken Sie nur an unsere anspruchsvollen Debatten über den Embryo, die ¹potentielle Personª, und über die Grenzsituationen, in denen die Behandlung von Krankheiten in ihrer terminalen Phase zwischen therapeutischem Eifer, der passiven oder aktiven Euthanasie und der Beihilfe zum Selbstmord oszilliert. Das Kondensat der moralischen Ideengeschichte, die in den lapidaren und gelegentlich ambivalenten Formeln unserer Kodizes verkürzt wird, endet hier nicht. Der von den biomedizinischen Wissenschaften und den Neurowissenschaften ausgeübte Druck geht ein rationalistischer oder sogar materialistischer Ansatz voraus, dessen Stammbaum auf Bacon, Hobbes, Diderot und d'Alembert zurückgeht. Und wie könnte man den insbesondere im angelsächsischen Milieu spürbaren Einfluû der verschiedenen Formen des Utilitarismus ignorieren, zum Beispiel der Maximen wie die Maximierung der QUALYs (quality adjusted life years)? Wir berühren den Punkt, an dem die Medizinethik in der Bioethik mir ihrer rechtlichen Dimension gründet. Tatsächlich bringen die Kompromisse, die darauf zielen, die weiter oben angesprochenen Konflikte an den zwei Fronten der biomedizinischen Wissenschaften und der Sozialisierung der Gesundheit im Namen der Solidarität zu entlasten, wiederum selbst Kompromisse zum Ausdruck, allerdings nicht mehr zwischen Normen, sondern zwischen moralischen Quellen ± im Sinne von Charles Taylors Sources of the Self. Man sollte aber nun nicht den Kodizes der Deontologie vorwerfen, daû sie keine Aussage über die moralischen Quellen enthielten. Sicher sind diese nicht stumm; diese Quellen kommen aber nicht mehr im Bereich der Deontologie zum Ausdruck. Das hier angezeigte Ungesagte wird diesem Bereich weiter entzogen. Zuletzt steht der Begriff der Gesundheit selbst auf dem Spiel, sei er privat oder öffentlich. Nun ist diese nicht davon zu trennen,

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was wir über die Beziehung zwischen Leben und Tod, Geburt und Leiden, Sexualität und Identität, das Selbst und den Anderen denken oder versuchen, nicht zu denken. Hier wird eine Schwelle überschritten, an der sich die Deontologie auf eine philosophische Anthropologie aufpfropft, die dem Pluralismus der Überzeugungen in den demokratischen Gesellschaften nicht entkommen kann. Wenn unsere Kodizes trotzdem und ohne ihre Quelle aufzudecken dem Geist des Kompromisses vertrauen, so geschieht dies, weil die demokratischen Gesellschaften auf der moralischen Ebene selbst nur auf der Grundlage dessen überleben, was John Rawls ¹Konsens durch Vergleichª nennt und was er durch das Konzept des ¹vernünftigen Dissensesª vervollständigt. Ich möchte die Untersuchung mit zwei Bemerkungen schlieûen. Die erste betrifft die Struktur der Medizinethik in drei Ebenen und den Übergang von einer Ebene zur anderen, den ich hier vorgeschlagen habe. Es stellt sich heraus, daû ich ± ohne danach mit Absicht gesucht zu haben ± die Grundstruktur des moralischen Urteils erneut vorfinde, wie ich sie in der ¹kleinen Ethikª von Das Selbst als ein Anderer vorgestellt habe. Diese Übereinstimmung ist nicht zufällig, insofern sich die Medizinethik in die allgemeine Ethik des guten Lebens und des Zusammenlebens einfügt. Allerdings habe ich hier den Durchgang durch die drei Ebenen ± die teleologische, deontologische und Weisheitsebene der Ethik ± umgekehrt. Die Umkehrung der Ordnung ist ebenfalls nicht zufällig. Der anfängliche Umstand, nämlich das menschliche Leiden, die eine der Medizinethik eigene Strukturierung erfordert, spezifizieren die Medizinethik im Bereich der allgemeinen Ethik. Die Tatsache des Leidens und der Wunsch, davon befreit zu werden, motivieren den medizinischen Grundakt mit seiner Therapeutik und seiner Grundethik, nämlich den Behandlungspakt und den darin implizierten Vertrauenspakt. So steige ich im Ausgang von der dritten Ebene der Ethik in Das Selbst als ein Anderer, die ich als praktische Weisheit definiert habe, wieder von der Weisheitsebene zur normativen oder deontologischen Ebene, auf die hier durch die drei Regeln der ärztlichen Schweigepflicht, des Patientenrechts auf die Kenntnis der Wahrheit und das erläuterte informierte Einverständnis charakterisiert wird. Und die Schwierigkeiten, die dieser deontologischen Ebene der Medizinethik zueigen sind, erfordern die reflexive Bewegung, welche die Ethik zu ihrer teleologischen Ebene zurückführt. Was ich hier also erneut vor-

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finde, ist die Grundstruktur aller Ethik, wie ich sie in Das Selbst als ein Anderer durch die folgende, kanonische Formulierung definiert habe: wünsche gut zu leben, mit und für die anderen, in gerechten Institutionen. Die Verlegenheit, an die ich etwas weiter oben bezüglich der Bedeutung erinnert habe, die der Idee der Gesundheit beigemessenen wird, fügt sich genau in den Rahmen einer Reflexion über den Wunsch, gut zu leben, ein. Die Gesundheit selbst ist die Art des guten Lebens in den Grenzen, die das Leiden der moralischen Reflexion zuweist. Mehr noch, der Pakt der Behandlung verweist über die deontologische Phase des Urteils hinaus auf die triadische Struktur der Ethik auf drei teleologischen Ebenen. Wenn der Wunsch nach Gesundheit die Gestalt ist, die der Wunsch, gut zu leben, unter der Widrigkeit des Leidens annimmt, beinhalten der erforderliche Pakt der Behandlung und der Vertraulichkeit einen Bezug zum anderen in der Gestalt des behandelnden Arztes und zum Inneren einer grundlegenden Institution, dem medizinischen Beruf. So schlägt die vorliegende Studie, anders als die fundamentale Ethik, einen umgekehrten Durchgang durch die aufeinander aufgebauten Ebenen vor. Die zweite Bemerkung betrifft die spezifische Fragilität der Medizinethik. Diese Fragilität drückt sich auf den drei Ebenen der Medizinethik in verschiedenen, aber konvergenten Begriffen aus. Auf der Klugheitsebene wird diese Fragilität durch die Dialektik zwischen Vertrauen und Miûtrauen zum Ausdruck gebracht, die den Pakt der Behandlung und die Vertraulichkeit als seine Voraussetzung schwächt. An dem Angelpunkt zwischen Klugheitsurteil und deontologischem Urteil betrifft eine vergleichbare Fragilität die drei Prinzipien, die den ersten Teil unserer Untersuchung beschlieûen. Ob es sich um die Unersetzbarkeit der Person, ihre Unteilbarkeit (oder ± wie ich vorgeschlagen habe zu sagen ± ihre Integralität) oder schlieûlich die Selbstschätzung handelt, jede dieser Anforderungen bezeichnet eine kumulative Verletzlichkeit des medizinischen Urteils auf der Klugheitsebene. Eine Fragilität der anderen Art kommt auf der deontologischen Ebene zum Ausdruck. Sie wurde weiter oben durch die doppelte Gefahr zum Ausdruck gebracht, die auf der ¹humanistischenª Praxis des medizinischen Vertrages lastet, bei der es sich entweder um die unvermeidliche Objektivierung des menschlichen Körpers, die aus der Interferenz zwischen dem therapeutischen Projekt und dem epistemischen Projekt resultiert, oder um Spannungen zwischen der Fürsorge, die

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sich auf den Kranken als Person richtet, und dem Schutz der öffentlichen Gesundheit handelt. Die Vermittlungsfunktion, die wir dem medizinischen Urteil in der medizinischen Phase zugestanden haben, wird so grundsätzlich durch die dieser normativen Ebene des Urteils eigene Fragilität motiviert. Aber auf der reflexiven Ebene des moralischen Urteils kommen offensichtlich die am wenigsten behandelbaren Weisen der Fragilität der Medizinethik zum Vorschein. Welche Verbindung stellen wir zwischen dem Verlangen nach Gesundheit und dem Wunsch, gut zu leben, her? Wie integrieren wir das Leiden und das Akzeptieren der Sterblichkeit in die Idee, daû wir nach Glück streben? Wie integriert eine Gesellschaft in ihre Konzeption des Gemeinwohls die heterogenen Schichten, die sich in der gegenwärtigen Kultur durch die von der Fürsorge sedimentierte Geschichte abgelagert haben? Die letzte Fragilität der Medizinethik resultiert aus der Konsens-/Konfliktstruktur der ¹Quellenª der allen gemeinsamen Sterblichkeit. Die Kompromisse, die wir unter das Zeichen der zwei Begriffe des ¹Konsens durch Vergleichª und ¹vernünftigen Dissensesª gestellt haben, konstituieren die einzigen Antworten, über die die demokratischen Gesellschaften verfügen, die mit der Heterogenität der Quellen der gemeinsamen Moral konfrontiert sind3.

3

Aus dem Französischen übersetzt von Henrik Richard Lesaar.

Personenregister Adamson, D. 316 Afflerbach, F. 351 Agar, N. 496 Ansell, D. A. 354 Anselm, R. 109 Arendt, H. 300 Aristoteles 8, 18, 97, 101, 457, 468, 484 f., 532 Arn, Chr. 145, 157 Arndt, J. 91 Arnold, M. 345 Assheuer, Th. 394, 397 Auer, A. 58 Augustinus, A. 8, 532 Bacon, Fr. 64, 79, 532 Badura, J. 147, 149, 164 Bahners, P. 385, 396 Bär, W. 126 Bartram, C. 380, 384 f. Bauer, A. 398 Baumann-Hölzle, R. 149, 157 Baumanns, P. 442 Baumgartner, H. M. 195 Baur, J. 91 Bayer, O. 84, 96 Baylin, S. B. 325 Beatty, J. 277 Beauchamp, T. L. 228, 512 Beckmann, R. 386 Behr, R. 257, 267 Beier, H. M. 256, 261, 313 Benda, E. 24, 181 f., 185 Bender, H. G. 384 Benedict, R. 5 Benford, G. 394 Bey, T. 361 Binding, K. 389 Binswanger, H. Chr. 143 Birnbacher, D. 181, 386, 403 Bismarck, O. v. 339 f. Blerkom, J. v. 331

Bloch, E. 71, 79 Böckenförde, E.-W. 14, 19, 181, 183, 372, 374, 386, 394, 430 Boethius, A. M. T. S. 493 f. Böhme, G. 140 f. Böhme, H. 140 f. Böhmer, M. 179, 183 Bonhoeffer, D. 92, 113 Borcher, D. 455 Bosshard, G. 126 Brähler, E. 180 Braun, B. 343 Braun, J. 373 Braun, K. 427 Brecht, B. 61 Briggs, R. 190 Brown, L. M. 512 Brugger, W. 371 f. Brüstle, O. 380 Bryan, E. 314 Bünker, M. 95 Burckhardt, J. 36 Busche, H. 34 Bush, G. W. 223 f., 241 Busquin, Ph. 22 f. Byrne, P. A. 463 Callahan, D. 509 Cameron, N. M. d. S. 227, 233 Caplan, A. 223 Cassirer, E. 16, 288±292, 294±297 Catenhusen, W.-M. 61 Cavalli, F. 130 Chargaff, E. 394, 397 Childress, J. F. 228, 512 Chudnofsky, C. 361 Cicero, M. T. 34 Clade, H. 350, 535 Claudius, M. 84 Clement, W. 396 Clinton, B. 242 Clouser, D. 511

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Personenregister

Comte, A. 506 Cortina, A. 405 Cox, G. F. 323 Crowther, C. A. 316 Dabrock, P. 88 Daele, W. v. d. 421, 425 Dahl, E. 330 D'Alembert, J. le R. 532 Daniels, N. 149 Darwin, Ch. 277, 283, 484 Däubler-Gmelin, H. 183, 396 De Baun, M. R. 323 De Boer, K. 331 De Rycke, M. 325 Denker H.-W. 249 f., 254 f., 257±259, 261, 263, 265 f., 269, 331 Denker, U. 258 Denninger, E. 184, 372 DePaul, M. R. 149 Derlett, R. W. 361 Descartes, R. 40 Dichgans, J. 463 Dickey, H. 313 Diderot, D. 532 Diedrich, K. 319, 384 Dierken, J. 87 Di Fabio, U. 429 Dingler, H. 291 Dodd, J. M. 316 Doerflinger, R. 237 Doyle, P. 323 Dreier, H. 67, 181, 185 Dufke, A. 324 Dürig, G. 183, 372, 430 , 444 Düwell, M. 273 Dworkin, R. 14, 484 Ebeling, G. 85, 103 f., 109 Edwards, B. 331 Edwards, R. G. 323 Eggan, K. 258 Ehrenstein, C. 390 Ehrlich, P. 500 Eibach, U. 388 f. Eldredge, N. 278 Enders, Chr. 371, 384, 386, 392, 410 Epikur 98 Ereshefsky, M. 277 Eser, A. 184 Evans, M. I. 315 f. Eylmann, H. 395

Felberbaum, R. 319 Fetter, R. B. 346 Fichte, J. G. 46, 138 Fikentscher, W. 13 Fiore, S. 328 Fischer, A. 179 Fischer, J. 87, 89 Fischer, W. 346 Fletcher, J. 222, 227±229 Flintrop, J. 344 Förger, D. 390, 394 Forst, R. 60 Frei, A. 389 Freund, G. 381 Friedland, K. E. 358 Friedrich, Th. A. 390 Frist, W. 224 Frodsham, L. 328 Fuchs, M. 205 f., 507 Fukuyama, F. 475, 480, 482±484, 490, 497 Furton, E. J. 466±468 Ganten, D. 256, 385 Gardner, R. 262, 264, 266 Gatz, E. 339 Gehlen, A. 288, 291, 293, 296 Geijsen, N. 249 f., 251, 260 Geismann, G. 451 Gellner, E. 4 Gerami-Naini, B. 256 Gerhardt, P. 91 Gerhardt, V. 89 Gerhardt, W. 179 Gerlach, J. 468 Gert, B. 511 Gethmann, K. F. 201 f. Geyer, Chr. 380, 385, 396 Gibbons, W. 241 Gicquel, C. 323 Gilligan, C. 512 Goethe, J. W. v. 98, 105 Gordijn, B. 162, 204, 210, 214 Göring-Eckhardt, K. 183 Gräfrath, B. 398 Graham, C. F. 266 Grandjour, A. 360 Grassel, J. F. 280 Graupner, H. 386, 394 Gronow, M. J. 312 f. Gudo, M. 281 Gurdon, J. B. 190 Gutmann, M. 278 f., 283 f., 286±288, 291±293, 299, 301, 306

Personenregister Häberle, P. 431 Habermas, J. 46, 102, 111, 178, 187, 203, 273, 393±395, 397, 404, 427, 429 f., 475±482, 497, 502-506 Hackelöer, J. B. 316 Hakemi, S. 386 Hannsmann, M. 316 Hansen, M. 322 Hare, R. M. 511 Härle, W. 83, 86 Harper, J. L. 277 Harris, J. 201, 411 Harrison, H. 314 Hawking, St. 388 Hawksworth, D. L. 277 Hay, D. 256 Heckel, M. 377 Hefty, G. P. 396 Hegel, G. F. W. 35 f., 48, 52, 289, 440 f. Hehner, S. 352 Heinemann, Th. 20, 200 Heinen, G. 393 Helleghers, A. 509 Helmerhorst, F. 317 Hemberger, M. 256 Henke, A. M. 350 Herbert, M. C. 266 Herdegen, M. 67, 183 f., 430 Herder, J. G. 34±36, 51 Herman, J. G. 325 Herrler, A. 324 Hertler, C. 299 Herzog, R. 386 Hilgendorf, E. 428 Hillenkamp, S. 387 Hintze, P. 180 Hippokrates 225, 497, 532 Hobbes, Th. 8, 9, 12, 18, 19, 532 Hoche, A. 389 Höffe, O. 196, 428 Hoffmann, Th. S. 11, 39, 43, 48, 411, 456 Höfling, W. 372 f., 470 Holderegger, A. 149 Hollerbach, A. 374, 377 Holm, S. 212 f. Honnefelder, L. 3, 181, 193, 410, 507, 516 f. Horaz 246, 471 Hörster, N. 401, 406±410 Huber, J. C. 390 Huber, W. 185, 393 Hübner, K. 249 f., 251, 260 Hufen, F. 67, 386 f., 392

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Humboldt, A. 36 Hume, D. 486 Humpherys, D. 258 Hüppe, H. 393 Huster, St. 401±403, 405, 427, 429 Huxley, A. 244 Hwang, W. S. 249, 251, 259 Isensee, J. 426, 431 Itskovitz-Eldor, J. 380 Jaag, T. 130 Jablonski, D. 281 Jaeger, H. 352 Jaenisch, R. 383 Jahn, I. 304 Janich, P. 278 f., 286, 299, 303 Jarass, H.-D. 372 f. Jericho, H. 327 Jessens, N. 380 Jesus Christus 468 Joas, H. 432 Johnson, M. H. 264 Jonas, H. V, 397, 470 f., 474 f. Jones, H. 313 Josefson, D. 241 Joy, B. 238 Jüngel, E. 87 Kahn, A. 201 Kamann, M. 394, 397 Kaminsky, C. 426, 432 Kamphaus, F. 388 f. Kant, I. 8, 11, 30, 40±45, 47 f., 50, 52, 64, 66 f., 81, 93 f., 138±141, 144 f., 196 f., 388, 428, 439±445, 448±456, 519, 525 Käppeli, S. 163 Kass, L. 241 f. Kastilan, S. 383±385 Katalinic, A. 322 Kehl, R. 126 f., 131 f. Kelsen, H. 374, 486, 503, f. Kettner, M. 187, 273 Kierkegaard, S. A. 476 King, T. J. 190 Klein, F. 371, 373 Klinkhammer, G. 461 Klitzsch, W. 350 Knoche, M. 179 Knoepffler, N. 451 Köbberling, J. 358 Koch, H.-G. 181, 184 König, J. 293, 298, 304±306

540 Korff, W. 397 Korthals, B. 389 Körtner, U. H. J. 95 Kostorz, P. 342 Kowalcek, I. 320 Krishnan, H. S. 352 Krois, J. M. 288 Kühn, H. 343 Kuhse, H. 232 Kuliev, A. 328 Kunig, P. 181, 372, 377 Kurinczuk, J. 323 Labisch, A. 339 Lamarck, J. B. 63 Lau, M. 396 Lauterbach, K. W. 350, 360 Lederberg, J. 192 Leibniz, G. W. 40, 295 Leidl, R. 360 Lenzen, W. 455 Lesaar, H. R. VII, 535 LØvinas, E. 78 Lewis, C. S. 239 f. Lewisch, P. 377 Lewontin, R. 214 Liebaers, I. 329 Lindemann, A. 398 Link, Chr. 101 Linke, D. 387 Litsch, M. 345 Locke, J. 78, 395 Löfken, J. O. 390 Löhrer, G. 196 Lovejoy, T. E. 306 Löw, R. 93 Lucifero, D. 325 Ludwig, M. 322 f. Luhmann, N. 376, 396 Lüpke, J. v. 16, 102 Luther, M. 85, 100±104, 108±110 Lutz-Bachmann, M. 430 Mager, U. 377 Maher, E. R. 323, 325 Mangoldt, H. v. 371 f. Markl, H. 391, 393, 411 Maunz, T. 183, 372 May, R. M. 279 f. Mayer, H. 394, 398 Mayr, E. 278, 302 f. McCaughey, B. 320 McCaughey, K. 320 McLaren, A. 264, 266

Personenregister Meijas, J. 398 Meisner, J. Kardinal 395, 461 Merkel, A. 396 Merkel, R. 185, 394, 401±405, 410, 415, 420 Mertelsmann, R. 398 Messemer, J. 352 Metersky, M. L. 358 Mieth, D. 3, 26, 58 f., 63,412 Mill, J. St. 156 Mohr, G. 442 Mohr, H. 381 Moll, A. C. 323 Moran, D. 285 Mori, M. 45 Mueller, U. 394 Müller R. 390 Müller Vollbehr, J. 377 Müller, N. H. 348, 352, 356 Müller-Jung, J. 380, 382, 385 Münch, I. v. 372, 398 Murphy, T. F. 330 Musil, R. 76 Nagy, A. 249 f., 255, 258 Neumann, U. 181, 184 Neurath, O. 17 Nickels, C. 179 Nietzsche, F. 72, 490, 504 f. Niwa, H. 256 Nüûlein-Volhard, Chr. 393 Odorico, J. O. 256 Olasky, M. 230 O'Reilly, S. 463 Orstavik, K. H. 323 Pache, E. 377 Palazzani, L. 31 Parfit, D. 469 Pascal, B. 472 Patton, G. C. 314 Pawlik, M. 408 Pawlowski, H.-M. 16, 370, 371±376, 381 f., 385, 392, 398 Pearce, D. 285 Pera, M. F. 256 f. Perpeet, W. 34 Pfordten, D. v. d. 403 Picker, E. 407, 423±425 Pico della Mirandola, G. 444 Pieper, A. 397 Pieroth, B. 372 f. Pippin, R. B. 440

Personenregister

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Pius XII 457, 470 Platon 90 Plessner, H. 305 Plusa, B. 331 Poscher, R. 431 Possenti, V. 27, 485, 486, 494 Potter, van R. V, 221, 509 Praetorius, I. 134 Prauss, G. 105, 396 Priddat, B. P. 363 Puebla, C. 75 Pufendorf, S. 34

Ross, W. D. 512 Rossant, J. 256, 266 Rötgers, A. 387 Roux, W. 303 Ruffing, G. 348, 355 Ruffy, V. 127±129 Rusconi, G. E. 477 Rüssli, M. 130 Rüthers, B. 372 Rux, J. 377 Ryan, G 320 Ryffel, H. 375

Quante, M. 273 Quay, P. M. 463 Quenstedt, J. A. 93

Sachs, M. 372 f. Safar, P. 464 Safranski, J. 393 f., 398 Saigal, S. 314 Saladin, P. 134 Saletan, W. 230 Schapp, J. 388 Schäuble, W. 180 Scheibe, A. 283 Schellschmidt, H. 345 Scherlitz, J. 348, 355 Schiavo, T. 223 f., 226 Schieve, L. 323 Schirer, L. 376 Schirrmacher, F. 380, 385 Schlink, W. 187 Schmidt, Th. E. 394, 397 Schmidt-Bleibtreu, B. 373 Schmidt-Jortzig, E. 180 Schmoll, H. 392 Schneider-Flume, G. 84 Schöler, H. R. 251, 385 Schönmuth, G. 283 Schramme, T. 273 Schröder, G. 174, 382, 385, 390 Schröders, N. v. 358 Schulenberg, J. M. v. 360 Schuller, A. 394, 398 Schulman, J. D. 330 Schulze-Fielitz, H. 181 Schwägerl, Chr. 380, 382, 385, 396 Schwarke, Chr. 98 Schweidler, W. 4 f., 8, 12, 30, 181, 410, 419, 421±423, 425, 430 f. Schwenk, F. 255, 258 Scott, Y. 330 Seelmann, K. 418±420, 423, 425 Seidel, F. 265 Seif, R. 330 Sen, A. K. 363 Seprini, A. E. 328

Ramsey, P. 227, 229 f. Ratzinger, J. Kardinal 427 Rau, J. 386, 394±396 Raup, D. M. 281 Raven, P. H. d. 280 Rawls, J. VI, 148, 484, 512, 533 Ray, G. C. 280 Ray, P. 330 Rebmann, K. 398 Rehder, St. 395 Rehkämpfer, K. 128 Reich, J. 255, 394 Reich, W. T. 509 Reiners, H. 343 RenØ, L. 529 Reubinoff, B. E. 256 Reulecke, J. 339 Rich, M. W. 358 Richter, G. 180 Richter-Kuhlmann, A. E. 356 Ricoeur, P. VII, 519, 529 Rideout, W. M. 191 Riedel, U. 386 Rieû, O. 324 Rippe, K. P. 130 Ritaven, A. 322 Ritsert, J. 156 Rixen, St. 470 Robertson, J. A. 205, 328 Rochell, B. 353 Roe, J. 229±231, 244 Roeder, N. 353 Roellecke, G. 373, 386, 393, 395±397 Roetz, H. VII, 31 Rogan, J. 238 Rohbeck, J. 289 Röspel, R. 183

542

Personenregister

Sermon, K. 326 Shapiro, H. 242 Shewmon, D. A. 461, 464±467 Sicard, D. 382, 385 Siemons, M. 396, 425 Simmel, G. 296 Simon, J. 46 Simpson, J. L. 326 f. Singer, P. 60±63, 68, 70, 73 f., 76 , 229, 232±234, 466, 469 Singer, W. 394, 398 Slenczka, N. 111 f. Sloterdijk, P. 90, 393±395, 397 Smid, St. 375 Snow, Ch. P. 5 Solter, D. 394 Spaemann, R. 3, 93, 386, 393 f., 413±417 Spangenberg, J. 285, 299 Specht, R. 393, 395 Spemann, H. 265 Spielberg, St. 235 Spinoza, B. 40 Spree, R. 339 Steigleder, K. 273 Stein, T. 424, 426 Steinhart, E. 388 Steininger, F. 281 Steinkamp, N. 162 Steinvorth, U. 214 Stevens, T. 244 Stoecker, R. 455, 460 Stolberg, S. G. 241 Stork, N. E. 279 f. Ströbel, Y. 180 Sturm, Th. 394, 398 Szymaniak, P. 352 Tanner, K. 103, 107 Taupietz, J. 381 Taylor, Ch. 532 Templeton, A. 312 f. Thaler, Chr. J. 384 Thies, Chr. 398 Thomalla, K. 429 Thomas von Aquin 467±469, 485 Thomson, J. 189, 231, 250, 256 f., 261 Tocqueville, A. de 522 Tolmein, O. 389 Toulmin, S. 511 Toyooka, Y. 249 f., 251, 260 Trepl, L. 275

Troncoso, C. 328 Tugendhat, E. 388 Ulrich, E. 126 Ulrich, P. 143 Umstad, M. P. 312 f. ValØry, P. 500 Verlinsky, Y. 327 f. Vico, G. 34±36, 48, 52 Vierings, H.-D. 390 Vieth, A. 273 Volkmann, U. 187 Vollmer, A. 428 Wacke, A. 398 Wade, H. 229, 244 Wäfler, M. 120 Waltl, M. 145 Wasem, J. 360 Weber, J. E. 361 Weber, R. 469 Weber, Th. 387 f. Weidlinger, P. 352, 356 Weingarten, M. 291, 293, 299, 306 Weldon, D. 236 Wesel, U. 377 Wiesel, A. 322 Wiestler, O. 380 Wilhelm, B. E. 158 Wilmut, I. 189, 383 Wilson, E. O. 280 Winnacker, E.-L. 382, 385, 390 Wodarg, W. 179 Woityla, K. 494 Wolf, J.-C. 143 Wolfrum, R. 381, 386, 392 Wunder, M. 397 Wyatt, J. P. 361 Xu, R.-H. 256 Young, G. P. 361 Zavos, P. 383 Zeeses, V. 394, 398 Zernicka-Goetz, M. 262 Zimmer, D. E. 393 f. Zimmerli, W. Ch. 385, 393 f. Zypries, B. 67, 183 f.

Sachregister Abtreibung 123, 144, 178 f., 185, 228± 232, 379 f., 385, 390 Achsensysteme 254, 262 f. Allokation 73, 75, 167, 175 f., 181, 507 Anerkennung 34, 37, 39, 42, 109±111, 199, 211, 393, 413 f. ± objektive 47, 50 Anthropologie 26, 85, 97, 100 f., 232, 440, 471±478, 501, 520 ± theologische 86 Arbeit 297, 300 Art, biologische 279 Artbegriff, genetischer 279, 283 Artifizialität 207±209 Arzt-Patient-Verhältnis 362, 509, 517 Autonomie 46 f., 49, 74, 78, 118, 136± 141, 144, 146, 153, 155±157, 178, 194, 199, 203, 210 f., 213, 215, 243, 442, 444±447, 449±452, 456, 478, 480, 512 Basisfallpreis 349 Beckwit-Wiedemann-Syndrom 323 Begriffsjurisprudenz 13 Behandlungsabbruch 508 Behinderte, Behinderung 60, 62, 75, 232, 233, 481 Belmont-Report 510 Bibel 84, 90, 95, 239 Biobank 174 Biodiversität 277 f., 281, 285, 297, 300 Bioethik V±VII, 3 f., 13 f., 25±28, 31, 33, 40, 45, 57±59, 61, 63, 71, 73±75, 78, 96, 173±175, 186, 221 f., 225±236, 240, 242, 244±246, 273 f., 276, 297±300, 308, 311, 369 f., 379 f., 393, 399, 439, 444, 449, 456, 474 f., 508, 512, 518 f. Biologie 63 f., 100, 277 f., 299, 302 f. Biomedizin 6, 65, 369 f., 412, 507, 518, 522 Biopolitik 61, 73±75, 226 Biorecht 6, 31, 48, 53

Biotechnik, Biotechnologie 72, 174, 187, 226, 238, 243, 384, 448 f., 471, 474, 477, 484, 487, 495, 500, 502, 507 f., 516 Biowissenschaften 274, 306, 474 Blastozysten 190, 250 Brutto-Inlandsprodukt 343 Bundesärztekammer 352, 383, 390 case law 13 f. Casemix-Index 350 Chimären 119, 260 Christentum 69, 79, 225±228, 467, 493 Chromosomschaden 322 Code français de dØontologie mØdicale 526, 529 Common Law 510 Daseinsvorsorge 358 Definition, Definitionsmacht 83, 98, 101, 103, 105, 107, 110, 288, 421 Deontologie 6 f., 30, 251, 266, 512, 519, 524, 527, 532 f. Designerbaby 311 Determination (Entwicklungsbiologie) 264 Dissens V, 29, 150, 533, 535 Dolly-Verfahren 189, 252±254 Demokratie 14, 24 f., 28, 500, 502, 522 Ein-Embryo-Transfer/Single Embryo Transfer (SET) 317 Eizellzytoplasma 254 Eklampsie 313 Ektopische Orte 267 Embryo, menschlicher 24, 76 f., 86, 88, 90, 92, 95 f., 99, 105 f., 108±110, 120, 124, 178 f., 181, 185 f., 190±195, 199, 210 f., 216 f., 235±238, 241, 249, 311, 331, 382, 384 f., 390, 404, 408, 418± 420, 425 f., 439, 447, 451 f., 455, 491, 500 ± überzähliger 57, 120, 123 f., 193, 319

544

Sachregister

embryo splitting 208 f. Embryoblasten 190, 250 Embryonenadoption 107 Embryonenforschung, verbrauchende 139, 447 Embryonenschutzgesetz 76, 176, 252 f., 384, 513 emergency room 361 Enquetekommission ¹Ethik und Recht der modernen Medizinª 176, 252±254, 371, 395 Entfremdung 295 Entscheidungsverfahren 163 Erste-Person-Perspektive 100 Ethik 9, 16 f., 21, 25, 27, 29, 40±47, 50, 52 f., 59, 273, 378, 393, 475, 533 ± angewandte 273, 510 f. ± autonome 58 ± ethics of care 510 f. ± kritische 44 ± practical ethics 510, 512 ± theologische 57, 79 Ethikforum 162±171 Ethikkommission 162 f., 175, 381 f., 400 Ethiktransfer 157±162, 169 Ethos 40, 46, 49 f., 52 Etwas/jemand 87, 94, 97, 99, 107, 413 f. Eugenik 109, 478, 481, 492, 497 Euthanasie 74, 125±133, 228, 232, 532 Exzeûschwangerschaft 318 Fallpauschalen/Diagnosis Related Groups (DRG) 346±364 family balancing 329, 334 Fehlbildungen 321 Fehlschluû, naturalistischer 106, 129 Fetozid, selektiver 315, 333 Forschungsförderung 223, 251 Forschungsfreiheit 23, 72 Fötus 120, 124, 232, 439, 447, 455 Forschungskultur VII Forschungspolitik 259 Fortpflanzungsfreiheit 330 Freiheit 23, 39, 43±46, 49, 53, 68 f., 72 f., 93, 111, 113, 178, 441, 444±449, 452, 456, 499 ± Kultur der Freiheit 108±113 ± qualifizierte 46 Freundschaft 525 Frühgeburt 314 Fürsorgeprinzip 512 Gameten 260, 266 Ganzheit 264, 266

Gattungsethik 46 f., 178, 186, 209, 479, 495 Geburtenregister, Mainzer 322 Gegenstände, biotische 299 Geist, objektiver 51 Gemeinsinn 35 Genom 20, 108, 191, 198, 201±206, 210, 215, 456, 473 f., 478, 482, 485, 500 Gentechnik 57, 89, 112, 448, 499 Gentest (s. auch Prädiktion) 181, 186 Gentherapie 65 Gerechtigkeit 20, 39, 60, 70, 73, 152, 373, 375, 525 Geschichte 48, 486 Gesetz 16, 18 ± bürgerliches 9, 18 ± natürliches 8 f., 19 Gesetzgebung 14 Gesundheit 154, 487, 497, 532 ± öffentliche 529 f. Gesundheitsausgaben 342, 359 Gewissen 23, 42, 374, 391 Glaube, christlicher 58 f., 80, 95 f., 109± 111, 239 ± moralisch-praktischer 444 Glück 143, 146, 156 Gott 75 f., 80, 83 f., 92, 96, 100±102, 108, 195, 373, 404 ± Wort Gottes 84 f., 95, 102 f., 108 f., 113 Gottebenbildlichkeit 71, 85, 93, 103± 108, 140 f., 195, 232, 239 Grundlohnsumme 345 Güterethik 43 Güterabwägung 123, 149 Handlung 17, 41±43, 46, 52, 196, 211, 298 Handlungsfreiheit 139 Handlungshorizont 32 Hausethiker 161 Healthcare Financing Administration 347 Hedonismus 143, 152, 154±156 Helsinki-Deklaration 513, 517 Heteronomie 441 Hirntod 106, 457±470 Homo faber 235 Homo noumenon 442 Homo oeconomicus 363 Homo phaenomenon 442 Homo sapiens 235 Humangenetik 508, 518 Huntingtonsche Erkrankung 326 Hylemorphismus 484

Sachregister Ich(bewuûtsein) 206, 293, 407±409, 441, 492, 500 Identität, genetische 204 Imperativ, kategorischer 43, 45 f., 139, 201, 526 Imprinting 324 Informiertes Einverständnis/Informed Consent 156, 258, 528±530 Institut für Entgelt im Krankenhaus (INEK) 350 Instrumentalisierung 119, 135, 140, 197, 200, 216 f. Intensivmedizin 508 Interessenkonflikt 14 Interkulturalität 39 International Classification of Deseases (ICD) 348 Interparlamentare Arbeitsgruppe für Gentechnik (IDAGEN) (Schweiz) 119 f. Intrazystoplasmatische Spermieninjektion (ICSI) 323 f. In-vitro-Fertilisation (IVF) 57, 78, 121, 125, 193, 198, 311, 317, 323, 448 Kasuistik V, 510 f., 532 Keim(bahn)zellen 249 f., 252 Keimbahntherapie 57, 398 Keimscheibe 263 Kindeswohl 311 Kindstötung 232 Kirche, Kirchen 61, 177, 182, 227, 339, 449, 461 f. Klinefelter-Syndrom 322 Klonen, Klonierung 57, 111, 189±217, 234±236, 240, 255±259, 393, 491, 508 ± Forschungsklonen 259 ± reproduktives 189, 192, 200, 216, 241, 254, 259, 382 f., 448 ± therapeutisches 178, 189±192, 216 f., 223, 241 f., 249, 252, 259 Klugheit 519 f., 525, 531 f., 534 Koexistenzordnung 29, 47, 53 Kohärentismus 141, 146 f., 149±151, 170 Kommunikation 84, 102, 157 Komplementierung, tetraploide 249 f., 255±259, 261, 269 Konfliktvermittlung 527 Konsens 24 f., 150, 533 Konsequentialismus 512 Konstruktivismus 275 Konvention zum Schutz der Menschenrechte und der Grundfreiheiten (EMRK) 514, 517

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Konvergenzphase 352 Kooptation 415, 449 Kopftransplantation 387 Körperverpflanzung 387 f. Kostendeckungsprinzip 340 Kosten-Nutzwert-Analyse 359 Krankenhausfinanzierungsgesetz 340 Krankenhausfusion 353 Krankenpflege 339 Krankheit 152, 154, 233, 487, 495±497, 535 Krebserkrankungen 323 Kultur 4 f., 29, 32±40, 44, 48, 51, 53, 89, 91, 108, 174, 195, 276, 291±297, 301, 307 f., 377, 501 ± als Rechtsraum 37 Kulturrelativismus 44, 53 Kulturidentifikator 36, 38, 52 Laizismus 45, 58, 475, 478 late-onset diseases 328, 333 Lazarus-Effekt 281 Leben V, 14, 34, 57, 63, 75, 107 f., 300± 306, 457, 461, 520 ± Anfang und Ende des 97±99, 106 f., 108, 110 ± eines Menschen 87 f., 97, 106 ± gutes 510 ± Heiligkeit des Lebens 229±234 ± ¸lebensunwertes 111, 389 ± menschliches 24, 27, 87 f., 105 f., 120, 128 f., 184, 455 Lebensanfang 118±125 Lebensende 125±133 Lebensform 45, 284 Lebensrecht 48, 70 f., 406, 408 Lebensschutz 69, 73, 185, 404, 408, 419 Lebensverbesserung (enhancement) 21, 239, 242 Lebenswelt VI, 31, 33, 45, 48 f., 51 Leib 34, 40, 46, 49 f., 103, 141, 145, 289, 306, 491, 495, 530 f. Leiblichkeit 137 f., 141, 155 f., 495 Leiden 80, 154, 521 Leihmutterschaft 57, 448 Leistungen, versicherungsfremde 341 f. Leitlinienmedizin 355 Liberalismus 47, ¹life in the shadowª-Argument 212 f. Logos 488, 493 Lohnnebenkosten 343

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Sachregister

Marburger Bund 352 f. Maxime 41±44, 52 f., 151, 525 ± shared maxims 511 Medizin 92, 117, 141, 146, 150±152, 174, 273 f., 283, 458, 496, 531 ± hippokratische 222, 225, 497 ± medizinischer Vertrag 525±531 ± medizinisches Urteil 519±535 Medizinindustrieller Komplex 341 Medizinischer Dienst der Krankenkassen (MDK) 354 Medizinethik V, 221, 273, 533 f. Mehrlinge 193, 208, 263, 312, 315 f, 320, 332 f., 450 Mensch 11, 23, 66, 80, 83, 89 f., 93, 95, 104 f., 107, 137, 194, 261 f., 288, 295, 395, 397, 440±443, 449, 457, 466, 477, 488 ± als Beziehungswesen 83±89, 103 ± ganzer (totus homo) 101 ± moderner 138 ± Wahrnehmung des Menschen 95±102 Menschenbild 66, 75, 79±81, 475 Menschenrechte 22 f., 26 f., 74, 136, 145, 195, 234, 371 f., 415±417, 422, 454, 507±518 Menschenrechtskonvention zur Biomedizin, Europäische 73, 175, 369, 394 f., 397, 514, 517 f. Menschenwürde 11 f., 16 f., 20, 22±24, 25 f., 39, 57, 59, 64, 66±72, 75 f., 78± 81, 94, 118, 121±128, 131, 136±141, 145, 153, 157, 179 f., 183±186, 195± 197, 199±203, 205, 262, 386, 392 f., 396, 409±412, 415±432, 439±440, 442± 447, 450±456, 495, 516, 524, 530 ± als Tabu 423±425, 431 ± Unantastbarkeit der 7, 11, 16, 27, 71, 184, 215, 413, 416, 421, 442 f., 454 ± Unverrechenbarkeit der 418±421 ± Virtualisierung der 137 Menschenwürdegarantie 430 f. Menschsein 21, 468 Messung 279±281 Metapher 298 Metaphysik 12, 21, 58, 79, 97, 199, 406, 418, 422 f., 426, 441, 443 f., 456, 476, 505, Mischwesen 388 Miûbrauchsfälle 507 Mitochondrien 198 Modell 298, 498 f. mondo civile 35

Moral 7, 12, 16, 30, 38, 64, 186, 195, 372 f., 376, 378 f., 392 f., 395 f., 398, 525 Moralität 197 f., 441 Moralphilosophie 6, 8, 402, 404 f., 417 f., 424 Mosaik, genetisches 328, Motivationshorizont VI, 32, 42, 51 Mukoviszidose 326, 390 Multipotenz 253 Musterbildungsfähigkeit 250, 254, 258, 261 Nanotechnologie 176, 240 Nationales Ethikkomitee (Frankreich) 382 Nationale Ethikkommission im Bereich der Humanmedizin (NEK-CNE) (Schweiz) 121 f., 125 Nationaler Ethikrat (NER) (Deutschland) 173±177, 182, 256, 381 f., 395 Natur 8 f., 11, 89±94, 106, 108, 135, 138, 206±211, 276, 291±294, 296 f., 300 f., 307 f., 421, 485 f. ± Buch der Natur 91 f. ± menschliche 11, 34, 186, 196, 240, 471, 482±492, 500 ± als Ressource 285 ± Unwandelbarkeit der Natur 489±491 Naturalismus 286 Naturrecht 10, 35, 44, 372, 478, 483, 502 f., 505 Naturwissenschaft 5, 96 f., 138 f., 174, 182 f. Neoliberalismus 142 Neutralitätsgebot 403, 405, 409, 418 Nichtschadensprinzip (nonmaleficence) 512 Nichtzustimmungsfähige 73, 176 Nihilismus 476, 504±506 Normkultur/Nutzenkultur VII, 3±8, 10, 12, 15, 18±20, 23 f., 26, 28 f., 33, 40, 50±53, 63, 83, 88 f., 92, 95, 109, 125, 141 f., 146, 150, 173, 177, 215±217, 249, 401, 407, 410±413, 416±418, 424, 426, 428±431 Nürnberger ¾rztekodex 222, 369, 510 Objektformel (G. Dürig) 430 Oct-4 256 Öffentlichkeit 40, 61, 187, 189 f., 480 Ökologie 92, 275, 278, 284, 299, 307 Ökonomie 51, 54, 64, 138 f., 176, 285, 362

Sachregister Ökosystem 286 Omnipotenz 249, 253, 256 Ontologie 86 f., 88, 94, 108, 418, 475, 477 Ordnung 92 Organisator, Spemannscher 263 Organtransplantation 106, 167, 176, 387, 460, 463, 508, 513, 518 Pakt des Vertrauens 520, 525 Patentierung (von ES-Zellen) 75, 236± 238, 259 Paternalismus 161, 361 patient dumping 354 Patientenautonomie 362 Patientenverfügung 73, 174 Person, Personalität 60, 77, 140, 184, 201, 205, 234, 266, 413 f., 416, 423, 425, 439±441, 443±445, 450 f., 453± 456, 462, 466, 473, 480, 493±495, 500, 523, 530 Personalismus 494 Person-in-der-Idee 450 f., 455 Personwürde 494 Pflegesatz 340 Pflicht 45, 144 ± prima-facie-Pflicht 512 Phagen 304 Philosophie 3, 6, 174, 183, 371, 469, 473, 478, 496, 505 f. Pluralismus 95, 148, 160, 244, 408, 533 Pluripotenz 249, 252 f., 256 Poiesis 33 Politik 7, 9, 11 f., 17, 21, 28, 51, 54, 60, 72, 146, 285, 332, 487, 491 Polkörperbiopsie 326 Posthumanismus 240, 482, 491 Postmoderne 221, 505 Potentialität 185, 194, 200, 254, 260±268 Prädiktion 181, 186, 528 f. Prägnanzraum 29 f., 49 Präimplantationsdiagnostik (PID, PDG) 109, 111, 174 f., 178, 180, 325±331, 334, 448, 479 f. Pränataldiagnostik (PND) 175 Pragmatismus 59, 275, 278 Praxis 33, 81, 286, 300 President's Council on Bioethics (PCOB) (USA) 240±244, 268 f. Preisstockverordnung 340 Primaten 254, 256±259 Primitivstreif 263 f. Prozeduralismus 244, 502

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Quality-adjusted-life-year (Qualy) 359, 532 Rationalität 18, 42 f., 486 Recht 16, 25, 29 f., 36, 38, 47±54, 66, 195, 369, 373, 376, 378 f., 385, 398 f., 487, 502±504, ± internationales 29, 48 f. ± römisches 51, 54 Rechtsbegriff ± instrumenteller/sinnautonomer 39 f., 50±54 Rechtfertigung 85, 102, 108±113 Rechtlichkeit 389 Rechtsethik 401±405, 409, 416 f., 424, 426, 430, 530 Rechtsidee 37, 48 f., 51, 54 Rechtsordnung 375, 504 Rechtsphilosophie 7, 49, 405, 422, 424 Rechtspositivismus 15, 503 f. Rechtsstaat 11 f., 19 f., 24, 26 f., 128, 432 Rechtssystem 52, 415 Rechtswissenschaft 174 Reduktionismus, inhaltlicher 498±500 Regulation 263 f., 268 Religion 10, 15, 25, 41, 51, 54, 58, 64, 195, 225 f., 373, 377±379, 399, 404, 406, 410, 478 Rentenversicherung 344 Reproduktion, assistierte (ART) 311±334, 508 Reproduktionsindustrie 332 Retortenkinder 321, 332 Rhesusaffen 257, 267 Säkularisierung, Säkularität 5, 10, 15, 45, 58, 78, 195, 339, 401, 406, 427 Schädigung, psychische 212±214, 492 Schmerz 459 Schöpfer, Schöpfung 80, 90 f., 93 f., 96, 98, 102, 104 f., 109 Schwangerschaftsdiabetes 313 Schweigepflicht, ärztliche 525±527, 530 Screening, genetisches 327 Seele 97 f., 101±104, 468, 474, 495 Selbst 110, 441, 523 f., 533 f. Selbstachtung 131 f. Selbständigkeit 50 Selbstbestimmung 21, 73 f., 78, 130, 132, 153, 155, 442, 492, 516 Selbstbewegung 485 Selbstdifferenzierung 265

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Sachregister

Selbsterkenntnis 96, 99 f., 102 Selbstkonstruktion 485 Selbstkostendeckungsprinzip 341 Selbstmord 125, 140, 388, 532 Selbstorganisation 249 Selbstschätzung 523 f. Selbstzweck, Selbstzweckhaftigkeit 7, 45, 93, 196 f., 200 f., 450 Selektion 318, social sexing 329, 334 Souverän 9 Souveränität, ethische 21 f., Sozialgesetzgebung, Bismarcksche 339 f. Sozialstaatsprinzip 372 Sozialtechnologie 138 Speziesismus 70 Sprache 84, 158, 298, 484, 490 Staat 9 f., 13±15, 18, 21, 23, 373, 378 f., 389, 401, 406, 427 ± ethischer 449 Stammzelldebatte 249±269 Stammzellen ± adulte 261 ± embryonale 22, 76, 89, 99, 122 f., 175, 190 f., 249, 255±261, 263, 268, 385 f. Stammzellforschung 57, 76, 98, 124, 182, 223, 241, 252, 392, 447, 508 Stammzellgesetz, deutsches 177, 185, 223, 252, 381 Standesethos 509 Status, moralischer 96, 192, 194, 211, 217, 266, 432 Sterbehilfe, aktive 125±130, 132 f., 144, 388 Subjekt, Subjektivität 194, 197±199, 203, 215, 217, 439±442, 444, 448, 455, 473, 476, 485, 489, 516, 523 Sünde 80, 104 Symbol 35, 288 Systematik 283 f. Talmud 532 Taxonomie 279, 282±284 Technik 59, 64, 240, 246, 274, 287±296, 472, 479, 502, 505 f. Technikethik 273 Technikfolgenabschätzung 511 Teleologie, medizinische 513 Teratom 263, 267 Theodizee 112 Theologie 25, 58, 85, 100, 174 ± christlich-jüdische 137, 232, 234, 462 ± evangelische 83, 87, 95, 103 Therapie 242, 495±497

Tier 70, 117±119, 134±136, 197, 458, 462 Tierethik 448 Tod 103, 106, 112, 187, 457±467, 469, 520 Toleranz 60, 370, 373 Totipotenz 186, 249, 251±254, 256, 267 Transplantationsexperiment 265, 267 Trisomie 326 Trophoblast 255±257 Tugend 510 Tugendethik 43, 508 Tutiorismus 268 Überalterung 343 Überlebensinteresse 406±410 Überlegungsgleichgewicht (reflective equilibrium) 148 f., 512 Übermensch 471, 490 Umwelt 119, 134 Umweltwissenschaft 297±300 Unabstimmbares 19, 25 UNESCO 222, 369 Universale 38 Universalismus 30, Ursachenlehre (Aristoteles) 97, 101 Utilitarismus 6, 30, 145, 156, 177, 251, 266, 379, 455, 491, 512, 532 Verantwortung 112 f., 164 Verantwortungsethik, integrative 146± 156, 170 Verfassungsstaat 426 f., 429 Vernunft 64, 84, 100±102, 440, 484, 490 ± praktische 37 f., 42, 47 f., 52, 450, 452, 502 f. Verteilungsgerechtigkeit 512 Versprechen 521 Vertrauen 521, 533 f. Verweildauer 345 Viren 304 Völkerrecht 29, 136, 514 Vorkernstadium 318 Warnock-Report 266 Weisheit 519 Werkzeug 288±291 Werte 58, 123 Wesen 485 f., 488, 495 f., 506 Wille 78, 139, 144, 479, 503 f. Wille zur Macht 479, 505 Wissenschaft 40, 52, 59, 64, 299, 461, 471 f., 498 Würde der Kreatur 71, 119, 134 f. Würde des Menschen s. Menschenwürde!

Sachregister Würdekultur 117 Wunschdenken, elterliches 311 Zellbiologie 57 Zellkerntransfer 189, 197, 199 f., 215, 252, 254 Zerebralparese 313 Ziel 98, 210, 506

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Züchtung 277, 283 Zufall 202, 206±208, 210, 479, 500 Zweck, menschlicher 90, 92, 284 ± Reich der Zwecke 196, 449 f. Zweck-Mittel-Rationalität 33, 287, 295 Zygote 193, 263, 311, 380, 386 f., 392, 396 Zytoplasma 262