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German Pages 211 Year 2010
Strafrechtliche Abhandlungen Neue Folge · Band 221
Normentheorie und Strafrechtsdogmatik Von
Stephan Ast
a Duncker & Humblot · Berlin
STEPHAN AST
Normentheorie und Strafrechtsdogmatik
Strafrechtliche Abhandlungen · Neue Folge Begründet von Dr. Eberhard Schmidhäuser (y) em. ord. Prof. der Rechte an der Universität Hamburg
Herausgegeben von Dr. Dr. h. c. (Breslau) Friedrich-Christian Schroeder em. ord. Prof. der Rechte an der Universität Regensburg
und Dr. Andreas Hoyer ord. Prof. der Rechte an der Universität Kiel
in Zusammenarbeit mit den Strafrechtslehrern der deutschen Universitäten
Band 221
Normentheorie und Strafrechtsdogmatik Eine Systematisierung von Normarten und deren Nutzen für Fragen der Erfolgszurechnung, insbesondere die Abgrenzung des Begehungsvom Unterlassungsdelikt
Von
Stephan Ast
a Duncker & Humblot · Berlin
Gedruckt mit Unterstützung des Förderungsund Beihilfefonds Wissenschaft der VG WORT Zur Aufnahme in die Reihe empfohlen von Prof. Dr. Sternberg-Lieben, Dresden Die Juristische Fakultät der Technischen Universität Dresden hat diese Arbeit im Wintersemester 2008/2009 als Dissertation angenommen.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Alle Rechte vorbehalten # 2010 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: werksatz · Büro für Typografie und Buchgestaltung, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0720-7271 ISBN 978-3-428-13174-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *
Internet: http://www.duncker-humblot.de
Vorwort Die allgemeine Normentheorie kann für die Strafrechtsdogmatik von großem Nutzen sein, nicht nur als theoretische Grundlage, sondern auch im Hinblick auf die Lösung von Fällen. Das gilt insbesondere für die Dogmatik der Zurechnung des tatbestandlichen Erfolgs und die Abgrenzung des Begehungs- vom Unterlassungsdelikt. Mit Hilfe der Normentheorie können die wertungsleitenden Erwägungen, die etwa hinter der Formel vom „Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit“ stehen, transparent gemacht werden, um sie zu begründen und als Regeln für die Falllösung zu verallgemeinern. Die im normentheoretischen Teil der Arbeit entwickelten Überlegungen betreffen den teleologischen Zusammenhang, in dem Normen miteinander stehen können, und verdeutlichen wiederkehrende Strukturen zweckrationalen Normierens. Ermöglicht wird die Analyse durch die Identifikation und Beschreibung verschiedener Arten von Verhaltensnormen gemäß ihrem Inhalt und ihrem Zweck. Das Modell ihres teleologischen Zusammenhangs ist auf die strafrechtlichen Verhaltensnormen übertragbar. Dementsprechend werden im strafrechtsdogmatischen Teil der Arbeit aus den normentheoretischen Überlegungen einfache Regeln entwickelt, mit deren Hilfe die problematischen Fälle der Abgrenzung des Begehungs- vom Unterlassungsdelikt gelöst werden können. Das Thema bringt es mit sich, dass zunächst die grundlegenden strafrechtlichen Unterscheidungen von Handeln und Unterlassen, Tun und Unterlassen und Begehungs- und Unterlassungsdelikt begrifflich zu klären sind. Anschließend werden einschlägige Fälle diskutiert. Hierbei werden weitere Fragen der strafrechtlichen Zurechnungslehre behandelt. Einige der Aspekte, die sich im Verlauf des Gedankengangs zeigen, können nicht voll entfaltet werden. Die Grundidee der Arbeit ist die Entwicklung eines normentheoretischen Modells und der Nachweis seines Nutzens für die Rechtsdogmatik. Der Vergleich mit anderen Konzeptionen und deren Kritik stehen nicht im Vordergrund. Die Juristische Fakultät der Technischen Universität Dresden hat die vorliegende Arbeit im Wintersemester 2008/2009 als Dissertation angenommen. Das Manuskript wurde im September 2007 abgeschlossen und vor der Drucklegung überarbeitet. Ein herzlicher Dank gilt allen, die mich bei der Arbeit ermutigt und unterstützt haben, an erster Stelle Herrn Prof. Dr. Knut Amelung, der meinen wissenschaftlichen und persönlichen Weg maßgeblich geprägt hat. Die Verbindung von Theorie und Dogmatik ist unmittelbar auf seinen Einfluss zurückzuführen.
6
Vorwort
Sein Seminar zu „Normarten und deren praktischer Bedeutung“ im Sommersemester 2005 war der Anlass, in dieser Richtung weiter nachzudenken. Die wissenschaftlich anregende und freundschaftliche Atmosphäre am Lehrstuhl war auch durch meine beiden Kollegen Prof. Dr. Martin Böse und Dr. Jörn Lorenz bestimmt. Gelegenheit, die Arbeit fertigzustellen, gab mir nach der Emeritierung von Prof. Amelung Herr Prof. Dr. Dietmar Schanbacher, an dessen Lehrstuhl für Zivilrecht und Römisches Recht ich schon als Student tätig war. Nachdem Prof. Amelung die Betreuung der Promotion nicht mehr wahrnehmen konnte, übernahm diese Aufgabe in äußerst dankenswerter Weise Herr Prof. Dr. Detlev Sternberg-Lieben. Wichtige Anregungen und freundschaftliche Ermutigungen in der Endphase des Promotionsverfahrens ließen mir auch Herr PD Dr. Rainer Schröder sowie Herr Prof. Dr. Joachim Renzikowski zuteil werden. Alle drei Gutachten waren mir eine wertvolle Kritik und entscheidende Hilfe, um das vorliegende Buch in Darstellung und Aufbau zu verbessern sowie einige Gedankengänge zu präzisieren. Eine hilfsbereite Lektorin war mir Anne Wupper. Schließlich möchte ich Manuela Rieger, meinen Eltern Doris und Manfred Ast sowie meinen Großeltern Gertrud und Rudi Muschka für ihre Geduld und liebevolle Unterstützung herzlich danken. Cottbus, im September 2009
Stephan Ast
Inhaltsverzeichnis A. Die Verbindung von Normentheorie und Strafrechtsdogmatik . . . . . . . . . .
9
B. Normentheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
16
I.
Eine Systematisierung von Normarten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
16
II. Die Handlungsnormen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
22
III. Die akzessorischen Handlungsnormen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
32
1. Allgemeine Kennzeichnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
32
2. Verbotsakzessorische Gebote und gebotsakzessorische Verbote . . . . . .
35
3. Gebotsakzidentielle Handlungsverbote . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
38
IV. Kenntnisgebote, Nachforschungsgebote und Putativnormen . . . . . . . . . . . .
44
V.
48
Die Verursachungsnormen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Definition der Verursachungsnormen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
48
2. Begriff und Kriterien der Zurechnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
54
3. Die strafrechtliche Zurechnungslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
62
VI. Die Veränderungs- und Zustandsnormen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
70
C. Strafrechtsdogmatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
81
I.
Die Abgrenzung des Begehungs- vom Unterlassungsdelikt . . . . . . . . . . . .
81
II. Handeln und Unterlassen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
83
1. Unterlassen als Nichthandeln in bestimmter Weise . . . . . . . . . . . . . . . .
83
2. Das Verhältnis von Handeln und Unterlassen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
88
3. Handeln als Entscheiden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
92
III. Tun und Unterlassen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
94
1. Die Definition von Tun und Unterlassen in §13 StGB . . . . . . . . . . . . .
94
2. Verursachen als Nichtverhindern. Der negative Handlungsbegriff . . . .
96
3. Nichtverhindern als Verursachen. Die Kausalität des Unterlassens . . .
97
4. Der Oberbegriff zu Tun und Unterlassen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 IV. Begehung und Unterlassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 1. Die Deliktsbegriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 2. Der Deliktsbegriff als Grundbegriff des Straftatsystems . . . . . . . . . . . 109 3. Prüfungsmethode und Entscheidungsregel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112
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Inhaltsverzeichnis V.
Begehung oder Unterlassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 1. Handlungsgebote im Hinblick auf das Verhindern eigenen Verursachens 114 a) Das von vornherein vorsorgliche Handeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 b) Exkurs: Die Verhinderungseignung der Handlungsnormen . . . . . . 117 aa) Die Rechtsprechung des Reichsgerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 bb) Die Rechtsprechung des BGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 cc) Der Begriff der konkret-generellen Eignung . . . . . . . . . . . . . . 133 c) Das im Nachhinein vorsorgliche Handeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 2. Handlungsverbote im Hinblick auf das Verhindern eigenen Verhinderns 144 a) Das Abbrechen eines andauernden Verhinderungshandelns . . . . . . 145 b) Die Zurücknahme eines beendeten Verhinderungshandelns . . . . . . 151 c) Das Unmöglichmachen eines erwarteten Verhinderungshandelns . 155 3. Normen im Hinblick auf fremdes Verhindern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 4. Normen im Hinblick auf fremdes Verursachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168
VI. Theoriegeschichte und -vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 D. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 Glossar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207
A. Die Verbindung von Normentheorie und Strafrechtsdogmatik 1. Normentheorie und Strafrechtsdogmatik unterscheiden sich in ihrem Gegenstandsbereich, ihrem Anliegen und in ihrem Verhältnis zur Normativität. Die Strafrechtsdogmatik ist ein Teil der praktischen Normwissenschaft. Ihr Gegenstand ist das geltende Strafrecht. Sie systematisiert es und versucht, konkrete Fallfragen im Sinne einer gerechten Fallentscheidung zu lösen. Die Normentheorie ist hingegen eine theoretische Normwissenschaft. Sie interessiert sich ganz allgemein für die normative Praxis und versucht, deren Strukturen offen zu legen und zu reflektieren. Dem unterschiedlichen Interesse beider Disziplinen entspricht ein Unterschied in ihrem Verhältnis zur Normativität. H.L.A. Hart hat die beiden möglichen Standpunkte als den internen und den externen Standpunkt zur Norm beschrieben. 1 Der interne Standpunkt ist die Teilnehmerperspektive. Sie vertritt derjenige, der sich in Handlung oder Urteil affirmativ oder kritisch zu der Norm verhält und insbesondere mit der Norm ein Handeln erwartet oder es beurteilt. Das ist die Perspektive der Strafrechtsdogmatik. Sie hat die Frage zu beantworten, ob ein Handeln oder Unterlassen erlaubt oder verboten, strafwürdig oder nicht und gegebenenfalls, in welchem Maß strafwürdig ist. Sie ist eine normative Wissenschaft, auch in dem Sinn, dass ihre Ergebnisse als Normen formulierbar sind. Die Normentheorie hingegen nimmt den externen Standpunkt zur Norm ein. Das ist eine Beobachterperspektive, deren Objekt das normative Handeln ist. Aus dieser Perspektive heraus können dieses Handeln und die mit ihm verbundenen Wertungen beschrieben und in ihren Gesetzmäßigkeiten verstanden werden. Ergebnis dieser Wissenschaft sind Aussagen und Theorien über eine gegebene Wirklichkeit und deren Gesetzmäßigkeiten. Gleichwohl gibt es Verknüpfungsmöglichkeiten zwischen den beiden Disziplinen. Einerseits bieten die Strukturen und die Probleme der Strafrechtsdogmatik ein gutes Anschauungsmaterial für die Normentheorie. Andererseits kann die Strafrechtsdogmatik auf die Normentheorie zurückgreifen, sowohl zur Klärung der eigenen dogmatischen Grundbegriffe als auch bei der Lösung von Zweifelsfällen. – Die Voraussetzung einer jeden Wissenschaft ist sowohl ein Interesse an allgemeinen Strukturen und Prinzipien als auch die Sensibilität für die „widerspenstigen und eigenwilligen Tatsachen.“ 2
1 2
Hart (1994), S. 56 f., 88 ff., kritisch Pawlik (1993), S. 173 ff. Whitehead (1988), S. 13.
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A. Die Verbindung von Normentheorie und Strafrechtsdogmatik
2. Die Verbindung von Normentheorie und Strafrechtsdogmatik ist seit langem etabliert, weil die Dogmatik über eine implizite oder explizite Normentheorie des Strafrechts verfügt. 3 Deren Annahmen variieren im Einzelnen, doch als Grundposition weitgehend anerkannt ist die Unterscheidung von Verhaltensund Sanktionsnormen. 4 Die Sanktionsnormen sind diejenigen Normen, die direkt dem Strafgesetzbuch zu entnehmen sind. Sie sind Handlungsanweisungen an die Strafverfolgungsbehörden und haben folgende allgemeine Form: „Wenn ein Handelnder ein Delikt verwirklicht hat und die übrigen Bestrafungsvoraussetzungen vorliegen, soll er in bestimmter Weise bestraft werden.“ Wegen der genauen Definition der Delikte und Bestrafungsvoraussetzungen in Gesetz und Rechtsprechung sind die Sanktionsnormen sehr hoch differenziert und komplex. Ihnen liegen – so die Prämisse der strafrechtlichen Normentheorie – Verhaltensnormen zugrunde. Das sind Verbote oder Gebote, denen ein Straftäter zuwidergehandelt hat. Die Unterscheidung von Verhaltens- und Sanktionsnormen ist nicht notwendig mit der Imperativentheorie verbunden, als der Vorstellung, dass alle vollständigen Rechtsregeln Verhaltensnormen sind. 5 Bezogen auf das Strafrecht hat sie eine wichtige Funktion für die Definition der Kategorie der Rechtswidrigkeit. Rechtswidrig ist ein Handeln nur, wenn es gegen eine als Recht geltende Verhaltensnorm verstößt. Mit den vom Strafgesetz vorausgesetzten Normen hat sich zuerst Karl Binding systematisch auseinandergesetzt. 6
3 Neuere Beiträge zu den Grundlagen der strafrechtlichen Normentheorie: Armin Kaufmann (1954), Gallas (1955), Zippelius (1958/59), Engisch (1960), Kahrs (1968) S. 33 ff., Rödig (1969), (1976), (1986), S. 39 ff., Welzel (1969), S. 37 f., 59 ff., 80 ff., 127 ff., Jakobs (1972), S. 1 ff., Zielinski (1973), Philipps (1974), Jescheck (1978), §§ 24, 58 II, Frisch (1983), S 59 ff., (1988), S. 112 ff., Hruschka (1988), S. 415 ff., (1991), Kindhäuser (1989), S. 29 ff., Lippold (1989), S. 94 – 118, Freund (1992), S. 51 ff., 80 ff., 112 ff., Maurach / Zipf (1992), § 19, Rn. 23 ff., Vogel (1993), S. 27 ff., Koriath (1994), S. 25 ff., 254 ff., Renzikowski (1994), S. 124 ff., (1997), S. 54 ff., (2002), (2005), Appel (1998), S. 79 ff., 431 ff., Haas (2002), S. 83 ff. (104 f.), Mikus (2002), S. 19 ff., Biewald (2003), S. 32 ff., Mir Puig (2006), Fr.-Chr. Schroeder (2007). 4 Allgemein zur Unterscheidung von Verhaltens- und Sanktionsnormen etwa Weinberger (1989), S. 264 ff., Zippelius (2006), S. 4 ff. 5 Diese Theorie geht auf John Austin zurück und erschöpft sich heute ungeachtet der Befehlsmetapher in dieser Definition des Rechtssatzes, Keuth (1972), Engisch (1983), Kap. 2, Röhl (2001), §§ 26 ff. Der Gegenentwurf zur Imperativentheorie ist die Sanktionstheorie (v. a. Kelsen). Ein Syntheseversuch bei Röhl (2001), § 22 I, S. 168, der annimmt, dass jeder vollständige Rechtssatz eine Kombination aus einer Verhaltens- mit einer Sanktionsnorm sei. 6 Binding (1890). Anstoß zu dieser Untersuchung gab nicht zufällig die Problematik des fahrlässigen Delikts (vgl. das Vorwort zur ersten Auflage von 1872). Das Konzept ist älter. Z. B. unterschied auch Adolf Merkel die gesetzliche Sanktionsanordnung von den (negativen wie positiven) Rechtspflichten, „die ihrem Inhalte nach von ihr unabhängig bestehen“, (1867 b), S. 79. Vgl. auch (1867 a), S. 42 ff. Darstellung bei Dornseifer (1979), S. 82 ff. Siehe auch unter B.V.3.2.
A. Die Verbindung von Normentheorie und Strafrechtsdogmatik
11
In der Folge der Diskussion darum, ob die Verhaltensnorm auf die aktuellen Fähigkeiten des Handelnden Rücksicht zu nehmen hat (objektive versus subjektive Unrechtslehre), hat Edmund Mezger die Unterscheidung von Bestimmungsund Bewertungsnormen eingeführt, um die Trennung von Unrecht und Schuld plausibel zu machen. 7 Die Bewertungsnorm, die dem Urteil über die Rechtswidrigkeit zugrunde liege, sei die an alle gerichtete Norm. Sie bezeichnet somit dasjenige, was jeder vom anderen zu Recht erwarten kann. 8 Die Bestimmungsnorm, die dem Schuldurteil zugrunde liege, sei die an den (zurechnungsfähigen) Handelnden gerichtete Norm (Pflicht). Diese Unterscheidung hat sich aufgrund der Verlagerung der Kategorien Fahrlässigkeit und Vorsatz von der Schuld- auf die Unrechtsebene in ihrer ursprünglichen Form überholt. 9 Heute wird sie dahingehend verstanden, dass sie die beiden Funktionen jeder Verhaltensnorm bezeichnet, einerseits die Funktion als Bestimmungsfaktor von Handlungen und andererseits als Bewertungsmaßstab für Beurteiler. 10 3. Damit sind die beiden klassischen Unterscheidungen der strafrechtlichen Normentheorie umrissen. Die mit ihnen anzunehmenden Verhaltensnormen sieht man zumeist als dem Strafgesetz vorausliegend an. Mit der Frage nach deren Status ist indes die Grenze der rechtsdogmatischen und rein analytischen Normentheorie erreicht. Eine theorieimmanente Lösung hätte anzunehmen, dass sie bloße Interpretationskonstrukte der Rechtsdogmatik sind, die im besten Fall einen instrumentellen Wert haben. Damit setzte man gleichsam Stoppmarken des theoretischen Interesses. Ein Beispiel hierfür ist die Reine Rechtslehre Hans Kelsens. Er war auf der Grundlage eines strengen Setzungspositivismus der Auffassung, dass die Verhaltensnormen gegenüber den Sanktionsnormen für das Recht keine selbständige Bedeutung haben. Sie sind aus der Perspektive des Rechts sekundäre Normen 11 und, soweit es um die Realität dieser Normen als Bestandteil der Sozialmoral geht, sozialpsychologische Tatsachen, die in den Klassische normentheoretische Publikationen nach Binding: Thon (1878), Bierling (1894), S. 19 ff., 71 ff., Mayer (1903), Kelsen (1911). Zur Allgemeinen Rechtslehre um die Jahrhundertwende Funke (2004). 7 Mezger (1924), S. 239 – 248, (1931), S. 163 ff. 8 Trotz der Assoziation an rechtswidrige soziale Zustände (Mezger [1924], S. 245) geht es bei der Bewertungsnorm doch wesentlich um die Verletzung des „Interesses“, besser: der Erwartung des Verletzten gegen alle anderen (S. 247 f.). Das ist ein „objektives“ Urteil. 9 Vgl. Grünhut (1930), S. 5 f. Gallas (1955), S. 37 f. Die heutige Unrechtslehre ist eine Synthese aus der alten objektiven und subjektiven Unrechtslehre und basiert insoweit auf dem von Mezger entwickelten Gedanken. Näher hierzu unter B.V.3. 10 Zur Unterscheidung von Bewertungs- und Bestimmungsnormen: Engisch (1952), S. 411 ff., (1960), S. 413 f., 423 f., (1983), S. 27 f, Armin Kaufmann (1954), S. 37, Zippelius (1958/59), S. 394, Kindhäuser (1989), S. 58, Lippold (1989), S. 212 f., Renzikowski (1994), S. 125 f., (1997), S. 235 ff., (2001), S. 110 f., Mikus (2002), S. 21 ff., Philipps (2004), S. 323 f., Roxin (2006), AT I, § 10/93 m.w. N., Sch / Sch / Lenckner / Eisele (2006), Vor §§ 13 ff. StGB, Rn. 49.
12
A. Die Verbindung von Normentheorie und Strafrechtsdogmatik
Bereich des Seins und damit aus der „Reinen Rechtslehre“ hinaus zu verweisen sind. 12 Die Alternative hierzu ist der Versuch, die Realität des Rechts und der Normen einzubeziehen. 13 Insoweit verfolgt Hart einen großzügigeren Ansatz. Nach seinem Konzept stehen die rechtlichen Primärregeln in enger Beziehung zu den in der Gesellschaft wirksamen Verhaltensregeln. 14 Die Sanktionsnormen sind Teil der sekundären, regelbezüglichen Rechtsregeln. 15 Die Wegweiser für die Frage nach dem Status der Verhaltensnormen stehen somit in Richtung Rechtssoziologie. Auch hier findet sich schon zeitig die Unterscheidung von Primär- und Sekundärnormen, vor allem bei Theodor Geiger. 16 Die aktuell am besten ausgearbeitete soziologische Rechtstheorie stammt von Niklas Luhmann. Sie bietet eine differenzierte Antwort. 17 In gewisser Weise kehrt die Dualität von Verhaltens- und Sanktionsnormen wieder. Die Sanktionsnormen des Strafgesetzes sind rechtsförmige Entscheidungsprogramme für die Gerichte und somit Strukturen des Rechtssystems. Sie sind regelbezügliche Regeln, denn das Gericht legt – retrospektiv beurteilend und prospektiv verurteilend – die für die Situation geltenden Rechtsnormen fest. Handlungswirksam wird das Recht zumeist, ohne dass Konflikte entstehen. Insoweit ist die Geordnetheit einer Gesellschaft als deren Struktur begreifbar. Diese Struktur aktualisiert 11 Zum Begriff des Rechtssatzes als hypothetischer Sanktionsanordnung sowie dessen Verhältnis zur Rechtspflicht als sekundärer Rechtsnorm: Kelsen (1911), S. 206 f., 311 ff., (1934), S. 30 ff., (1960), S. 73 ff., 120 ff., (1979), S. 108. 12 Kelsen (1911), S. 189 ff (223 f.). Kritisch hierzu aus strafrechtlicher Sicht schon Grünhut (1930), S. 6 ff. Kritisch aus soziologischer Perspektive Schröder (2000), S. 112 ff., 129 ff. Eine Durchführung der Reinen Rechtslehre auf dem Gebiet der Strafrechtsdogmatik gibt Lippold (1989). Zu Kelsens Zurechnungstheorie unter B.V.2. Folgende Strafrechtsdogmatiker treten darüber hinausgehend gegen die Annahme von Verhaltensnormen und die Kategorie der Pflichtwidrigkeit ein, erkennen aber zumeist doch an, dass das Strafrecht auf soziale Verhaltensnormen Bezug nimmt: Alwart (1987), S. 146 ff., Schmidhäuser (1987), S. 91, (1988), S. 36 ff., (1989 a), (kritisierend Hoerster [1989 a, 1989 b], Röhl [2001] S. 193 ff.), Hoyer (1997), S. 41 ff., 79 ff., (kritisierend Neumann [1999], Renzikowski [2001]), Maier (2005), S. 63 ff., 140 ff. Zum Begriff der Rechtspflicht Schreiber (1966), der ihn in philosophischer Tradition jedoch als ethisch-moralischen Begriff auffasst. 13 In diese Richtung gehen letztlich schon Thon (1878), S. X ff., 1 ff. der die Imperative als situationsbezogene Handlungsnormen durchaus in der Realität verankert und die staatlich verfasste Gemeinschaft selbst als „Normgeber“ ansieht; sowie Mayer (1903), S. 16 f., 40 ff., der die vorausgesetzten Normen als Kulturnormen identifiziert. 14 Vgl. Pawlik (1993), S. 62 ff., 85 ff., 92 ff. 15 Hart (1994), S. 97 f. 16 Geiger (1947), S. 104 f., 114 ff., 177 ff. = (1987), S. 100 ff., 110 ff., 169 ff. Hierzu Schröder (2000), S. 66 ff. Vgl. ferner zur Unterscheidung primärer und sekundärer Rechtsquellen bei Georges Gurvitch: Riechers (2003), S. 134. 17 Weiterführend und mit überlieferten Konzepten vergleichend Schröder (2000), S. 28 ff., 47 ff., 59 ff., 136 ff. et passim, Riechers (2003), S. 130 ff.
A. Die Verbindung von Normentheorie und Strafrechtsdogmatik
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sich in den einzelnen Ereignissen (Kommunikationen bzw. Handlungen) und erscheint als normative Erwartung und (kognitive) Erwartungserwartung, auf die sich das Handeln bezieht. 18 Diese Strukturen bleiben in den Einzelereignissen insofern identisch, als situationsbezogene Erwartungen auf kongruent generalisierten Verhaltenserwartungen beruhen. Diese sind primär das Recht eines sozialen Systems. 19 Diese generalisierten, aber auch die konkreten Erwartungen als Recht auszuzeichnen und dadurch zu stärken sowie angesichts zunehmender Differenzierung der Gesellschaft neues Recht zu definieren, wurde im Lauf der gesellschaftlichen Evolution die Funktion eines hierfür ausgebildeten Rechtssystems, dessen Organisationen (Gerichte, Gesetzgeber) über die Zuweisung von Recht und Unrecht entscheiden. 20 Welchen Verhaltensnormen Rechtsgeltung zukommt, lässt sich aus dessen Entscheidungen und Entscheidungsprämissen entnehmen, seien es Gesetze oder richterliche Präjudizien. Diese Verhaltensnormen sind somit sowohl (soziologisch gesehen) primäre Normen, nämlich als gesellschaftliche Normprojektionen auch der Gesetzgebung und Rechtsprechung vorausliegend, als auch sekundäre Normen, weil sich ihre Anerkennung und ihr besonderer Status als „offizielle“ Rechtsnormen nur mittelbar ergeben. 4. Die Frage nach der Realität der in der Rechtsdogmatik vorausgesetzten Verhaltensnormen macht deutlich, dass die Rechtsdogmatik dann an ihre Grenze stößt und auf den externen Blick der beschreibenden Wissenschaften verwiesen ist, wenn es um die Beschreibung und Erklärung der sozialen Realität geht, in der die Rechtsnormen bestimmte Funktionen und Zwecke erfüllen. 21 Dies gilt sowohl für die grundlegenden Aussagen über die Funktion der Normen, der Strafe oder des Strafrechts als auch für dogmatische Detailfragen. Auch hier kann die Strafrechtswissenschaft versuchen, aus der präzisen Beschreibung und Interpretation sozialer Tatsachen rechtlich relevante Differenzen zu begründen und die Gestaltung und Auslegung des Strafrechts weiter zu rationalisieren. 22 In ähnlicher Weise wie im Hinblick auf die Soziologie kann sich die Rechtsdogmatik auch die Erkenntnisse der Normentheorie zu Nutze machen, sowohl um die grundlegenden dogmatischen Annahmen und Begriffe darzustellen als auch, um Detailprobleme zu beschreiben. 18 Vgl. Luhmann (1984), S. 377 ff. (398 f.). Für die Strafrechtswissenschaft haben Jakobs (1993), 1 / 2 – 16 und Amelung, z. B. (2002), S. 14, 20 ff., (2006), S. 163 ff. den Begriff der normativen Erwartung nutzbar gemacht. 19 Luhmann (1980), S. 94 ff. (105). 20 Vgl. Luhmann (1980), S. 207 ff. Zu „Codierung und Programmierung“ Luhmann (1993), S. 165 ff. Zum Umgang mit der Positivität des Rechts theoriegeschichtlich Wyduckel (1993). Zum Vorrang der deklarativen Funktion der Gerichte vor der repressiven, insbesondere im Zivilrecht, schon Merkel (1867 a), S. 52 f. 21 Zum Verhältnis von Zweck und Funktion: Luhmann (1965), S. 18, Amelung (1972), S. 370 ff., 394 f., Röhl (2001), S. 226 ff. 22 Beispielhaft Amelung (1972), (2002), (2005), (2006).
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A. Die Verbindung von Normentheorie und Strafrechtsdogmatik
Gegenstand der Normentheorie sind allerdings die Feinstrukturen des normativen Handelns. Ihr Ziel muss es sein, ein Instrumentarium zur möglichst genauen Beschreibung normativer Strukturen zur Verfügung zu stellen und diesbezüglich verallgemeinerungsfähige Aussagen zu treffen. Keinesfalls ist sie dabei auf die reine Normenlogik beschränkt. Auch die Normentheorie muss in der Lage sein, die breite Realität des normativen Handelns zu reflektieren. In dieser haben Zweck-Mittel-Beziehungen eine überragende Wichtigkeit. 23 Schon das Zwecksetzen und -verfolgen selbst hat eine große Nähe zum Normativen. Es impliziert eine wertende Stellungnahme zu den projizierten Wirkungen, die zu erreichen oder zu vermeiden sind. Wenn Zwecke und Mittel Gegenstand von Verhaltensnormen werden, ergeben sich unterschiedliche Normarten. Weil das Zweck-Mittel-Schema, das Handlungen ordnet, mit dem Ursache-Wirkung-Schema, das die Interpretation von Ereignissen ordnet, notwendig verbunden ist, wird durch eine Normierung aus der Zweck-Mittel-Relation die Relation von Verursachungs- und Handlungsnormen. Verursachungsnormen geben zu erreichende oder zu vermeidende Wirkungen vor, Handlungsnormen bezeichnen die hierzu geeigneten Handlungen. Die Unterscheidung von Verursachungs- und Handlungsnormen ist das zentrale Thema des normentheoretischen Teils der Untersuchung. Sie ist, wie zu zeigen sein wird, auch für die Strafrechtsdogmatik relevant und anschlussfähig. Auf der Bedingungsseite der strafrechtlichen Sanktionsnorm können sowohl bestimmte Erfolgsverursachungen als auch konkretere Handlungsbeschreibungen stehen. Diejenigen Erfolgsbezeichnungen, die dem Delikt teleologisch zugrunde liegen, sind als Gegenstand von Verursachungsnormen aufzufassen, die übrigen Handlungsbezeichnungen können als Handlungsnormen formuliert werden, die auf die Verursachungsnorm bezogen sind. Der Inhalt der im Strafrecht vorausgesetzten Verhaltensnormen wird somit auf die für den Handelnden relevanten, teleologisch notwendigen Merkmale beschränkt. Das Verhältnis von Sanktions- und Verhaltensnormen sollte mithin nicht so verstanden werden, als ob jedes Merkmal der Bedingungsseite der Sanktionsnorm spiegelbildlich auf die Verhaltensnorm zu übertragen wäre. Die Normen haben unterschiedliche Zwecke. Man könnte die Sanktionsnormen in Umdeutung der oben genannten Unterscheidung funktional auch als Bewertungsnormen bezeichnen, weil sie die Bewertung eines Handelns durch den beurteilenden Richter anleiten. Sie müssen differenzieren, welches Handeln strafwürdig ist und welche besonderen Umstände auf das Maß der Strafe Einfluss haben sollen. Werden Merkmale des Strafgesetzes durch diese Rücksichten bestimmt, sind sie in der Regel Kategorien der Sanktionsnorm. Das gilt jedenfalls für strafver23 Treffend ist bei Philipps (1974), S. 58 das Kapitel, das die teleologischen Verhältnisse der Normen thematisiert, mit „Norm und Realität“ überschrieben, um es von der grundlegenden Normenlogik abzugrenzen.
A. Die Verbindung von Normentheorie und Strafrechtsdogmatik
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schärfende Merkmale des objektiven Tatbestandes, den Eintritt einer konkreten Gefahr, die Schuldmerkmale und wohl auch den Verursachungsvorsatz. 24 Diese Merkmale wären in einer Bestimmungsnorm, die aus der Handlungsperspektive zu konstruieren ist, überflüssig.
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Zur Einordnung des Vorsatzes einerseits Engisch (1960), S. 421 ff., andererseits Gallas (1955), S. 31 ff.
B. Normentheorie I. Eine Systematisierung von Normarten 1. Das hier entwickelte Normenmodell identifiziert verschiedene Arten von Normen je nach ihrem Inhalt und Zweck und setzt sie in einen teleologischen Bezug zueinander. Dem Norminhalt gemäß unterscheidet es Handlungs-, Verursachungs-, Veränderungs- und Zustandsnormen. 25 Zentral für die Zweck-Mittel-Analyse von Normen ist die Unterscheidung von Verursachungs- und Handlungsnormen. Verursachungsnormen gebieten oder verbieten das Verursachen oder Verhindern einer Veränderung. Ein Verursachungsgebot enthält zum Beispiel das Gebot, ein Bauwerk zu errichten. Ein klassisches Beispiel für ein Verursachungsverbot ist das allgemeine Verbot, andere zu verletzen, neminem laedere. Handlungsnormen bezeichnen ein Handeln. Dieses ist zumeist seiner möglichen Wirkung wegen geboten oder verboten. Das Verursachen der Wirkung wird aber nicht in den Inhalt einer Handlungsnorm einbezogen, sondern ist der Gegenstand einer Verursachungsnorm, die dieser Handlungsnorm teleologisch zuzuordnen ist. Ein frühes Beispiel für die Möglichkeit, Verursachungs- und Handlungsnormen zu unterscheiden und zugleich in Beziehung zu setzen, ist das im antiken Zwölftafelgesetz enthaltene Verbot, Feldfrüchte wegzuzaubern. 26 Diese Norm enthält neben dem Verbot, das Verschwinden der Feldfrüchte zu verursachen auch das Verbot des darauf gerichteten Zauberns als eines Handelns, das nach magischer Auffassung verursachungsgeeignet ist. 2. Innerhalb der Handlungsnormen werden primäre und akzessorische Handlungsnormen unterschieden. Primär lassen sich aus einem Verursachungsgebot Handlungsgebote und aus einem Verursachungsverbot Handlungsverbote teleologisch ableiten. Gegenstand dieser Handlungsnormen sind Handlungen, die (möglicherweise) verursachungsgeeignet sind. Akzessorische Handlungsnormen sind dagegen Handlungsverbote, die auf ein Verursachungsgebot und Handlungsgebote, die auf ein Verursachungsverbot bezogen werden können. Ihr Gegenstand sind jeweils Handlungen, die das gebotene bzw. verbotene Verursachen verhin25 Der Norminhalt ist der propositionale Gehalt einer ausformulierten Norm, der dem deontischen Operator (Gebot / Verbot) unterstellt ist. Vgl. Weinberger (1989), S. 228 f., Alexy (1994), S. 41 ff. 26 Tafel VIII 8 a, Huchthausen (1989), S. 5.
I. Eine Systematisierung von Normarten
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dern können. Zum Beispiel sind in Bezug auf das Verursachungsgebot, ein tragfähiges Bauwerk zu errichten, viele Handlungen geboten, die diesem Zweck dienen. Daneben ist es aber akzessorisch verboten, zu schwache Stützen und Träger einzubauen. Entsprechend sind im Hinblick auf das Verbot, Schäden zu verursachen, viele gefährliche Handlungen verboten, doch sind auch, etwa im Straßenverkehr, häufig präventive Handlungen geboten. Zum Beispiel gilt dort das Gebot, bei einer nächtlichen Autofahrt das Licht anzustellen. 3. Die Veränderungs- und Zustandsnormen lenken den Fokus weg von den Handlungen hin zu Ereignissen und Zuständen in der Welt. In Verursachungsnormen sind Veränderungsgebote oder -verbote enthalten. Gegenstand dieser Normen ist der Effekt, den eine Handlung hat, als solcher. Im Beispiel des allgemeinen Verletzungsverbots ist es das Erleiden einer Verletzung als einer Veränderung von einem positiv in einen negativ bewerteten Zustand. Aus diesen Veränderungsnormen sind wiederum Zustandsgebote ableitbar. Diese beschreiben einen als gewünscht oder gesollt markierten Weltzustand. Zustandsgebote können auf die Bewahrung eines bestehenden oder die Herstellung eines projizierten Zustands gerichtet sein. Zum Beispiel ist das Gebot, dass mir ein bestimmter Gegenstand gehören soll, ein Zustandsgebot, das je nach dem, ob mir der Gegenstand schon gehört oder nicht, eine Veränderung verbietet oder gebietet. Das Verhältnis von Veränderungs- und Zustandsnormen ist nicht wie das von Verursachungs- und Handlungsnormen durch die Teleologie bestimmt, sondern ist eine Frage der analytischen Differenzierung. Aus einer Zustandsnorm folgt im Vergleich mit dem Bestehenden eine Veränderungsnorm und aus einer Veränderungsnorm eine Zustandsnorm. 4. Die Differenzierung der Normarten ermöglicht, den Sinngehalt von Normen zu erfassen und zu kategorisieren. Die benannten Normarten können sowohl selbständig als auch als Aspekte oder Komponenten komplexer Normen vorkommen, die anhand der Begrifflichkeit interpretiert und analysiert werden können. Zum Beispiel kann die Erwartung eines Patienten an seinen Arzt, ihn zu heilen, das Gebot des Verhinderns einer Verschlechterung des Gesundheitszustands oder gar des tödlichen Verlaufs der Krankheit beinhalten, darüber hinaus aber auch ein Gebot der Wiederherstellung des gesunden Normalzustands oder zumindest der Linderung von Beschwerden. Selbstverständlich ist darin auch die Erwartung impliziert, dass der Arzt keinen gesundheitsschädigenden Eingriff vornehmen und somit eine Verschlechterung des Zustands verursachen werde. Auch die Normen, die dem Strafrecht und dem restituierenden Zivilrecht zugrunde liegen, sind zusammengesetzte und damit analysierbare Normen. Das Strafurteil sagt dem Täter eines Erfolgsdelikts sowohl: „So hättest du nicht handeln dürfen“, als auch: „Diesen Schaden hättest du nicht verursachen sollen.“ Es postuliert sowohl Handlungs- als auch Verursachungsnormen, die offensichtlich in einem engen teleologischen Bezug zueinander stehen.
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B. Normentheorie
5. Aus der Grundunterscheidung von Handlungs-, Verursachungs-, Veränderungs- und Zustandsnormen ergibt sich ein analytisch vollständiges Schema, weil zu jedem Begriff entweder ein Negativ- oder ein Gegenbegriff vorhanden ist. Das Verbot ist der Negativbegriff zum Gebot, weil es ein inhaltlich negatives Gebot ist. In gleicher Weise ist das Verhindern der Negativbegriff zum Verursachen, weil es ein Verursachen ist, dass eine Veränderung nicht eintritt. Die Veränderung ist der Gegenbegriff zum Zustand als einer Nichtveränderung. Die Darstellung möglicher teleologischer Relationen zwischen den sich ergebenden Normarten macht eine symmetrische Struktur sichtbar, weil aus einer Norm prinzipiell jeweils Gebote und Verbote teleologisch abgeleitet werden können. Aus Veränderungsverboten oder -geboten sind jeweils Verbote bzw. Gebote des Verursachens der Veränderung und Gebote bzw. Verbote des Verhinderns der Veränderung ableitbar. Die aus den Verursachungsnormen ableitbaren Handlungsnormen sind wiederum jeweils zweigeteilt in Verbote bzw. Gebote von verursachungsgeeigneten Handlungen und in (akzessorische) Gebote bzw. Verbote von verhinderungsgeeigneten Handlungen. Die Beziehungen und Ableitungsverhältnisse der Normarten können durch die umseitige Skizze verdeutlicht werden. 6. In der Skizze sind zu jeder Verursachungsnorm zwei Abstraktionsmöglichkeiten angegeben, eine formale und eine teleologische. a) Die formale Abstraktion unterscheidet Verursachungsverbote und -gebote. Sie fasst einerseits Verursachungsverbote (i. e. S.) und Verhinderungsverbote und andererseits Verursachungsgebote (i. e. S.) und Verhinderungsgebote zusammen. Das ist möglich, weil auch das Verhindern einer Veränderung ein Verursachen ist. Es ist ein Verursachen, dass diese Veränderung nicht eintritt. Verursachungsund Verhinderungsgebote haben deshalb gemein, dass sie vom Handelnden einen Eingriff in die Welt, ein Handeln und Verursachen verlangen. Sie unterscheiden sich insofern, als das Verursachungsgebot auf einen positiven Erfolg abzielt. Etwas soll in die Welt gesetzt werden, diese soll nach den Plänen des Normsetzers verändert werden. Das Verhinderungsgebot hingegen definiert den Erfolg der Handlung rein negativ. Etwas soll nicht geschehen. Die Welt soll in einem Aspekt bleiben, wie sie ist. Der Zweck der Gebote ist somit je ein anderer. In entsprechender Weise haben Verursachungs- und Verhinderungsverbote die Gemeinsamkeit, dass der Handelnde nicht in die Welt eingreifen soll. Das Verursachungsverbot bezeichnet den Erfolg des Handelns aber positiv, das Verhinderungsverbot bloß als Negation einer sonst eintretenden Wirkung. Das Verursachungsverbot bezweckt, eine Veränderung zu verhindern und hat deshalb eine konservierende Tendenz, während das Verhinderungsverbot eine Veränderung zu ermöglichen bezweckt. b) Der jeweils unterschiedliche Normzweck der Verursachungsgebote und -verbote (i.w. S.) führt damit zum schon erwähnten teleologischen Abstraktionsgesichtspunkt und zur Identifikation von Veränderungsgeboten und -verboten.
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Veränderungsgebote fassen Verursachungsgebote und Verhinderungsverbote zusammen, und Veränderungsverbote Verursachungsverbote und Verhinderungsgebote. Der Großteil derjenigen Verursachungs- und Verhinderungsnormen, die für das Strafrecht relevant sind, beruht auf Veränderungsverboten. Der Sinn dieser Normen ist jeweils konservativ: Eine bestimmte Veränderung soll nicht sein. Der Handelnde darf sie nicht verursachen oder soll sie verhindern. Ausnahmen hiervon sind diejenigen Delikte, deren Normen positiv zu benennenden Zwecken wie der Beförderung des Strafprozesses und der Strafverfolgung dienen. Diesen Normen, etwa dem Gebot, vor Gericht die Wahrheit zu sagen, liegen Veränderungsgebote zugrunde. Bei Delikten wie den Aussagedelikten kommt deshalb die Beschreibung von Rechtsgütern i. e. S. als von Zuständen, die vor negativ bewerteten Veränderungen zu schützen sind, an ihre Grenze. An ihre Stelle tritt etwa mit dem Verweis auf die Funktionsfähigkeit der Rechtspflege eine funktionale Betrachtung. 7. Neben den hier getroffenen Unterscheidungen von Normarten tritt die Unterscheidung von Situationsnormen und generalisierten Normen. Demnach gibt es sowohl situationsbezogene als auch generalisierte Handlungs-, Verursachungsund Veränderungsnormen. Situationsnormen gelten nur in einer bestimmten Situation für einen bestimmten Handelnden. Generalisierte Normen sind dadurch gekennzeichnet, dass sie für mehr als eine Handlung Geltung beanspruchen. 27 Oftmals wird die Generalisierung als Definitionsmerkmal der Rechtsnorm eingeführt. Das entspricht einer juristischen Tradition, die das Recht in den Gesetzbüchern in den Mittelpunkt der Betrachtung rückt. Zutreffend daran ist, dass Rechtsnormen mit dem Anspruch verbunden sind, verallgemeinerungsfähig zu sein. Die Generalisierung ist jedoch kein notwendiges Merkmal einer Rechtsnorm. Jede Norm, die zu Recht Rechtsgeltung beansprucht, kann als Rechtsnorm angesehen werden. Ein Urteil, das im Zivil- oder Verwaltungsprozess zu einem Handeln verurteilt, statuiert eine situationsbezogene Rechtsnorm. Die generalisierten Rechtsnormen werden oft den Rechtspflichten gegenübergestellt, die situations- und akteursbezogen sind. 28 Auch Pflichten sind Normen. Der Pflichtbegriff stimmt mit dem Begriff des Gebots überein. Gemäß dem Gebotsinhalt differenzierend, müsste man etwas umständlich von Handlungs- und Unterlassungspflichten sprechen statt von Handlungsgeboten und -verboten. 8. Die Idee, bestimmte Norminhalte zu unterscheiden, hat Tradition. Beispielhaft ist eine Bemerkung Kelsens: 27 Zur Generalisierung und deren Ebenen (sachlich, zeitlich, sozial) Luhmann (1980), S. 94, (1984), S. 135 ff. Weiterhin Ruiter (1995), S. 161 – 171. 28 In der Strafrechtsdogmatik z. B. Armin Kaufmann (1954), S. 138 ff., Welzel (1969), S. 80, Kindhäuser (1989), S. 53 f. und andere. Hierzu unter B.V.3.1.
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„Die Unterscheidung von Soll-Subjekt und Soll-Objekt ist von größter Bedeutung. Ein Fehler wäre, beides zu identifizieren, etwa von der Vorstellung ausgehend, gesollt sei stets nur ein Verhalten des Subjektes. Denn abgesehen davon, dass auch in diesem Falle Subjekt und Verhalten des Subjektes nicht zusammenfallen, kann ohne weiteres auch etwas anderes, kann viel mehr als ein Verhalten, das heißt bei menschlichen Subjekten, eine Körperbewegung oder deren Unterlassung gesollt sein. Die Norm kann prinzipiell alles fordern, auch Dinge, die nur in einem sehr weiten (kausalen) Zusammenhange oder auch in gar keinem Zusammenhange mit körperlichen Bewegungen des Normsubjektes stehen. Insbesondere soweit es sich um soziale Normen handelt, wird das durch die Norm Gebotene letztlich nicht ein Zustand des Normsubjektes, sondern seiner Mitmenschen sein, z. B. der mögliche äußere Erfolg solcher körperlichen Bewegungen, da der Endzweck sozialer Normen nicht ist, das Verhalten des Normsubjektes an sich zu erzielen, sondern weitere nachteilige oder vorteilige Zustände der übrigen zu verhindern oder herbeizuführen. So statuieren die Normen des Rechts als gesollt die Befriedigung des Gläubigers, das Nichtgetötetwerden des Nebenmenschen, und ähnliches.“ 29
In Begriffe gefasst hat die verschiedenen Normarten zuerst Binding. Er identifizierte drei Arten von Verboten, die den Arten strafrechtlicher Verbotstatbestände entsprechen, nämlich „Verletzungsverbote“, welche die Verursachung einer unerwünschten Veränderung betreffen, „Gefährdungsverbote“ gegen bestimmte, konkret gefährliche Handlungen sowie „Verbote schlechthin“ gegen abstrakt gefährliche Handlungen. 30 Im Hinblick auf die Gebote traf er eine parallele Unterscheidung. 31 Der Zweck der strafrechtlichen Verbote sei es im Allgemeinen, bestimmte Veränderungen zu verhindern, Aufgabe der Gebote, bestimmte Veränderungen herbeizuführen. 32 Weiterhin kannte Binding auch die Ableitung von sekundären Handlungsgeboten aus Verboten und umgekehrt von sekundären Verboten aus Geboten. 33
29 Kelsen (1911), S. 72 f. Neuere Beiträge: Weinberger (1989), S. 268, der zwischen Verhaltensnormen und Aufgabennormen (teleologischen Normen) unterscheidet. Das entspricht der Unterscheidung von Handlungs- und Verursachungsnormen. Ähnliche Ansätze aus strafrechtlicher Sicht: Armin Kaufmann (1954), S. 102 –121, Engisch (1960), S. 415 ff. und Philipps (1974), S. 58 – 100, der die Handlungsnormen, die aus Verursachungsnormen abgeleitetet sind, als sekundäre Normen bezeichnet. 30 Binding (1890), S. 111 ff., 119 ff., 122 ff., hierzu Armin Kaufmann (1954), S. 120 f. Die Unterscheidung von Verletzungs- und Gefährdungsverboten übernimmt Engisch (1930), S. 336 ff., der diese Normen jedoch inhaltlich identisch fasst (S. 341 f.), vgl. unter B.V.3.3. 31 Binding (1890), S. 123 f. 32 A. a. O., S. 108. 33 A. a. O., S. 110 f.
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B. Normentheorie
II. Die Handlungsnormen 1. Handlungsnormen bezeichnen ein Handeln als geboten oder verboten. 34 Ein Beispiel für sehr strenge Handlungsgebote gibt das Ritual, das Bewegungen, Worte oder Handlungsabläufe genau vorschreibt. Etwas freiere Gebote gelten für die Spieler in einem Theaterstück. 35 Handlungsnormen haben nicht zwingend einen Bezug zu Verursachungsnormen. Man kann vollkommen willkürlich Handlungen gebieten oder verbieten. In einem gegebenen, zweckrational angelegten Normensystem hingegen ist es immer möglich, Handlungsnormen und ihnen teleologisch zugeordnete Verursachungsnormen zu unterscheiden. Für die Konstruktion dieser Unterscheidung ist es wichtig, dass die Wirkung des verbotenen oder gebotenen Handelns, deren Verursachung oder Verhinderung der Zweck der Norm ist, nicht selbst als Inhalt der Handlungsnorm berücksichtigt wird. Deshalb kann es erforderlich sein, Handlungsbezeichnungen, die eine Wirkung implizieren, analytisch aufzuspalten in das Verursachen der Veränderung sowie in das näher zu bezeichnende verursachende Handeln. Viele Handlungsbezeichnungen implizieren typische Wirkungen (Veränderungen). 36 Wenn ich zum Beispiel jemanden über etwas informiere, verändert sich dessen Informationslage. Wenn ich nach Hause gehe, verändere ich meinen Aufenthaltsort. 37 Die Notwendigkeit, solche Handlungsbezeichnungen aufzuspalten, besteht aber nur im Hinblick auf diejenigen Handlungswirkungen, die zu verursachen oder zu verhindern der Zweck der Norm ist. 38 Beispiele hierfür sind die deliktischen Handlungsbezeichnungen „töten“, „verletzen“ oder „beschädigen“. Diese Handlungsbezeichnungen sind offensichtlich durch ihre negativ bewerteten Handlungsergebnisse oder -folgen definiert. Zweck der entsprechenden Verbote dieser Handlungen ist, diese Folgen zu verhindern. Deswegen sind die Verbo34 Der Begriff des Handelns setzt einen Prozess dauernden Sich-Entscheidens voraus. Hierauf aufbauend kann ein Beobachter Handlungen definieren, die durch intentionale und gegenständliche Aspekte gekennzeichnet werden können. Zum Begriff des Handelns siehe C.II. 35 Die Freiheit kann aber durch die Anweisungen des Autors und der Regie extrem reduziert sein, beispielsweise im Stück „Square“ von Samuel Beckett. 36 Vgl. v. Wright (1979), S. 50 ff. mit der Unterscheidung von Ergebnis und Folge einer Handlung. Das Ergebnis ist die in einer Handlungsbezeichnung (z. B. „das Fenster öffnen“) integrierte Wirkung (das geöffnete Fenster), die Folge eine fernere Wirkung (frische Luft im Raum). 37 Hier wird auch deutlich, dass der Begriff der verursachten Veränderung und damit des Zustands so weit wie möglich interpretiert werden soll, um das Modell flexibel zu halten (hierzu unten B.V.1.3.). Das setzt aber jedenfalls eine vom Handeln selbst differenzierbare Veränderung voraus. 38 Deswegen besteht keine Konvergenz mit der Unterscheidung von Akt und Tätigkeit (vgl. v. Wright [1979] S. 52 f.). Auch eine Handlungsnorm kann eine Handlung bezeichnen, die ein Handlungsergebnis impliziert.
II. Die Handlungsnormen
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te aufzuspalten in die Verbote, den Tod, die Verletzung oder den Schaden zu verursachen und in näher zu bezeichnende Handlungsnormen, die diesen Verboten jeweils zuzuordnen sind. Die Ermittlung des hierfür ausschlaggebenden Normzwecks ist eine Frage der Interpretation der Handlungsnorm. Zum Beispiel verbietet das Betrugsverbot, das § 263 Abs. 1 StGB zugrunde liegt, zuerst die Täuschung eines anderen. Jedoch ist das Verursachen eines Irrtums nicht der Gegenstand der dem Delikt teleologisch zugrunde liegenden Verursachungsnorm, weil der Irrtum allein noch keinen Schaden begründet. Dieser entsteht erst aus der täuschungsbedingten Vermögensverfügung des anderen. Deshalb ist das zugrunde liegende Verursachungsverbot dahingehend zu formulieren, nicht zu verursachen, dass ein anderer sich selbst einen Vermögensschaden zufügt. Aus den strafrechtlichen Delikten, die keinen Handlungserfolg voraussetzen, lassen sich die Handlungsnormen dagegen ohne weiteres entnehmen. Zum Beispiel sanktioniert § 142 Abs. 1 StGB das Handlungsgebot für die Unfallbeteiligten, am Unfallort zu bleiben und § 316 StGB das Handlungsverbot, betrunken Auto zu fahren. 2. Das teleologische Verhältnis von Verursachungs- und Handlungsnormen kann einerseits, von den Verursachungsnormen ausgehend, als eine Ableitung von Handlungsnormen aus übergeordneten Verursachungsnormen verstanden werden und andererseits, von den Handlungsnormen ausgehend, als Rückschluss auf Verursachungsnormen. 39 Beide Operationen beruhen auf einer Prognose über mögliche Wirkungen von Handlungen. Verboten oder geboten sind dabei oftmals nicht nur diejenigen Handlungen, die prognostisch mit Sicherheit geeignet sind, die Veränderung zu verursachen oder zu verhindern, sondern auch diejenigen Handlungen, die hierzu möglicherweise oder wahrscheinlich geeignet sind. Die teleologische Ableitung führt deshalb zu einer Ausweitung des Kreises von gebotenen bzw. verbotenen Handlungen. Ihre allgemeine Form ist: (1) Geboten / verboten ist, V zu verursachen. (2) Das Handeln H ist möglicherweise geeignet, V zu verursachen. (3) Deshalb gilt: Geboten / verboten ist H. Diese Ableitung ist zutreffend, wenn die Normen (1) und (3) in dem Normensystem, das in Bezug genommen ist, gelten. Dann beschreiben diese Sätze einen teleologischen Begründungszusammenhang. Sie stellen aber nicht eine logisch zwingende Folgerungsbeziehung dar. Logisches Folgern ist dadurch gekennzeichnet, dass keine Norm abgeleitet werden kann, die nicht schon in den Prämissen enthalten ist. 40 Die teleologische Ableitung liegt deshalb zwar au39 Zur Ableitung von Handlungsnormen aus Verursachungsnormen: Philipps (1974), S. 58 ff. (Ableitung aus Verboten) und S. 63 ff. (Ableitung aus Geboten). 40 Weinberger (1989), S. 245 f.: „Das Folgern erzeugt kein neues Sollen, denn Folgern ist immer unschöpferisch.“ Zur Normenlogik etwa Lippold (1989), S. 119 –148 m.w. N.
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B. Normentheorie
ßerhalb des Blickwinkels der Normenlogik. 41 Die Normentheorie aber muss auch diese praktisch sehr wichtige Normenbeziehung adäquat beschreiben und reflektieren. Die denkbaren teleologischen Beziehungen zwischen Verursachungs- und Handlungsnormen sind bereits in der oben vorgestellten Skizze dargestellt. Inhalt und Zweck der teleologisch abgeleiteten Handlungsnormen sind wie folgt zu kennzeichnen: a) Aus einem Verursachungsverbot lassen sich ableiten: aa) Handlungsverbote Norminhalt sind Handlungen, die (möglicherweise oder wahrscheinlich) geeignet sind, die Veränderung zu verursachen. Dem entspricht der Normzweck zu verhindern, dass der Handelnde die Veränderung verursacht. bb) Verbotsakzessorische Handlungsgebote Norminhalt sind Handlungen oder Handlungsmodifikationen, die (möglicherweise) geeignet sind zu verhindern, dass der Handelnde die Veränderung verursacht. Normzweck ist zu verursachen, dass der Handelnde verhindert, dass er die Veränderung verursacht. b) Für das Verhinderungsverbot gilt Entsprechendes. Das Verhinderungsverbot ist selbst ein Verbot des Verursachens – dass eine Veränderung nicht eintritt. c) Aus einem Verursachungsgebot lassen sich ableiten: aa) Handlungsgebote Norminhalt sind Handlungen, die (möglicherweise) geeignet sind, die Veränderung zu verursachen. Normzweck ist zu verursachen, dass der Handelnde die Veränderung verursacht. bb) Gebotsakzessorische Handlungsverbote Norminhalt sind Handlungen, die (möglicherweise) geeignet sind zu verhindern, dass der Handelnde die Veränderung verursacht. Normzweck ist zu verhindern, dass der Handelnde verhindert, dass er die Veränderung verursacht. d) Für das Verhinderungsgebot gilt wiederum Entsprechendes. Das Gebot des Verhinderns ist, wie gezeigt, ebenfalls ein Verursachungsgebot, das sich auf den Nichteintritt einer Veränderung bezieht. 41 Das wird etwa bei v. Wright (1997), S. 432 f. deutlich. Wenn der Zustand p geboten / verboten ist, sei es praktisch notwendig, nicht aber geboten, die Handlung H zu wählen bzw. zu unterlassen. Das Urteil über die Notwendigkeit entspricht dem obigen Satz (2). Der Schritt zu Satz (3) führt über die Normenlogik hinaus. Vgl. auch v. Wright (1994), S. 52 ff. in Bezug auf Bedingungsnormen.
II. Die Handlungsnormen
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3. Zentral für die teleologische Ableitung von Handlungsnormen ist der Begriff der möglichen oder wahrscheinlichen Eignung des Handelns. Im teleologischen Normenzusammenhang stehen nur Handlungsnormen, die entweder direkt ein verursachungs- oder verhinderungsgeeignetes Handeln betreffen oder die in einem vermittelten Zusammenhang mit dem gebotenen oder verbotenen Verursachen stehen, wie etwa Nachforschungsgebote und Verbote oder Gebote sonstiger Vorbereitungshandlungen. 42 Der Begriff der Eignung wird zwar zumeist auf erwünschte Erfolge und bewusst eingesetzte Mittel bezogen, doch kann man ebenso gut von der Eignung eines Handelns sprechen, einen unerwünschten Erfolg zu verursachen. Die Begriffe Gefahr und Risiko bezeichnen das genauer, sind jedoch notwendig mit einer negativen Bewertung der Wirkung verbunden und sind deshalb nicht so neutral wie für die abstrahierende Betrachtung erforderlich. So sind diese Begriffe auf Verursachungsgebote nicht anwendbar. Der Begriff des Risikos ist noch stärker auf Handlungen zugeschnitten als der Begriff der Gefahr und bezeichnet deren Eignung, einen unerwünschten Erfolg zu verursachen. Ein ausschließlich positiv belegter Gegenbegriff zum Risiko ist hingegen der der Chance, einen Erfolg zu erreichen. Anders als der Begriff der Eignung enthalten die Begriffe Gefahr, Risiko und Chance unabdingbar ein Wahrscheinlichkeitsurteil und damit eine prognostische Komponente. Der Begriff der Eignung kann hingegen derart konzipiert werden, dass er keine prognostische Komponente enthält. In diesem Sinn ist er verwendet, wenn von der möglichen oder wahrscheinlichen Eignung eines Handelns die Rede ist. Das prognostische Element ist dann in den Attributen aufgenommen, und der Eignungsbegriff meint die konkrete Eignung des Handelns. Dieser Begriff der konkreten Eignung ist vom Begriff der generellen (abstrakten) Eignung zu unterscheiden, der das prognostische Element gerade nicht ausschließt. Ein Handeln kann demnach zwar generell geeignet sein, eine Veränderung zu verursachen, doch im konkreten Fall ausnahmsweise nicht oder umgekehrt. Die generelle Eignung wird durch den vereinzelten „Misserfolg“ oder durch einmal „Glückhaben“, dass kein Schaden entstanden ist, nicht widerlegt. Das Urteil über die generelle Eignung kann von Umständen absehen, die konkret (ausnahmsweise) verhindernd wirkten und deshalb die konkrete Eignung ausschlossen. Es ist je nach der Verursachungswahrscheinlichkeit des Handelns skalierbar. Dieses kann als optimal, gut oder weniger gut geeignet eingestuft werden. In gleicher Weise sind die Begriffe der Gefahr, des Risikos oder der Chance abstufbar. Während sich die Prognose, die in dem Begriff der generellen Eignung eines Handelns impliziert ist, auf bestimmte typische Merkmale oder Eigenschaften des Handelns und der Handlungssituation stützt, berücksichtigt der Begriff der konkreten Eignung alle in einer Situation gegebenen Umstände, auch wenn sie erst retrospektiv 42
Siehe B.IV. und B.V.1.5.
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B. Normentheorie
erkennbar sind. Die konkrete Eignung eines Handelns zur Verursachung stellt sich deswegen oft erst retrospektiv (nach der Handlung) heraus. Dann weiß man, ob die Wirkung eingetreten ist. Hat das Handeln die Wirkung gehabt, war es konkret geeignet, wenn nicht, dann nicht. Auch wenn es konkret nicht geeignet war, kann man das Handeln gleichwohl als generell geeignet, als chancen- oder risikoreich bezeichnen. 4. In einem gegeben Normensystem, das konsequent teleologisch angelegt ist, muss jedes gebotene oder verbotene Handeln entweder selbst mindestens generell (abstrakt) geeignet sein, die in der Verursachungsnorm bezeichnete Veränderung zu verursachen oder mittelbar das Risiko oder die Chance des Verursachens erhöhen. Nur dann kann auch die jeweilige Handlungsnorm den Anspruch erheben, zweckrational legitimiert zu sein. Die Notwendigkeit der zweckrationalen Legitimation ergibt sich für Rechtsnormen bereits aus den Freiheitsgrundrechten. 43 Handlungsnormen beschränken zumindest das Grundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) und sind deshalb am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu messen. Dessen erste Forderung ist, dass die Norm (generell) geeignet sein muss, den vorausgesetzten Zweck zu erreichen. Die Eignung der Handlungsnorm hängt wiederum von der (generellen) Eignung der Handlung ab, die Gegenstand der Norm ist. Das Erfahrungsurteil über die Eignung der Handlung ist vorrangig. Ein Gebot ist nur dann geeignet, die Veränderung zu verursachen (bzw. zu verhindern), wenn es auch die Handlung ist. Entsprechend ist ein Verbot nur dann geeignet, die Veränderung zu verhindern (bzw. zu verursachen), wenn die Handlung geeignet ist, sie zu verursachen (bzw. zu verhindern). Das positive Urteil über die generelle Eignung von Handlung und Norm wird, wie dargelegt, nicht dadurch hinfällig, dass in einem konkreten Fall das Handeln und damit die Situationshandlungsnormen nicht geeignet sind, die Veränderung zu verursachen bzw. zu verhindern. Wenn das bereits in der Handlungssituation absehbar ist, kommt zwar grundsätzlich eine „teleologische Reduktion“ der betreffenden generalisierten Handlungsnorm in Betracht, etwa wenn in einer Situation mit Sicherheit ausgeschlossen werden kann, dass der Handelnde einen anderen gefährdet. In vielen Fällen wird aber gleichwohl an der Geltung der Situationshandlungsnorm festgehalten. So darf man bei Rot nicht über eine Fußgängerampel gehen, selbst wenn kein Auto in Sicht ist. Der Grund dafür ist wohl, dass der Rückgriff auf die Verursachungsnorm immer mit der prinzipiellen Unsicherheit des prospektiven Urteils zu tun hat. Die Erkenntnismöglichkeiten des Handelnden sind beschränkt. Es kann doch anders kommen als gedacht. Die Handlungsnorm vermittelt dagegen Sicherheit. Es ist eindeutig, was verboten ist. 43
Betreffs strafrechtlicher Normen etwa Frisch (1988), S. 70 ff. und Appel (1998), S. 571 ff.
II. Die Handlungsnormen
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Grenzfälle, in denen die Eignung der Handlung ex ante zweifelhaft ist, sind von vornherein ausgeschlossen. Die Verantwortung für einen Schaden kann eindeutiger zugewiesen werden. Außerdem wird einem Relativieren der Norm und dem Sich-Abgewöhnen der Normenbefolgung vorgebeugt. 5. Die Identifikation von Normzwecken setzt voraus, dass die Normen selbst als Mittel angesehen werden und dass sie geeignet sind, Handlungen zu motivieren oder zu verhindern. Normen werden somit Wirkungen zugeordnet. Sie verursachen oder verhindern Handlungen. 44 Die Verwendung der Kausalitätskategorie für den Zusammenhang von Normen und Handlungen ist nicht unproblematisch, lässt sich jedoch rechtfertigen. Handelnde haben zwar eine hohe Freiheit von Umwelteinflüssen. 45 So kann sich ein Handelnder gegen eine Norm entscheiden. Die Wirkungsweise einer Norm beruht nicht auf unhintergehbaren Mechanismen, sondern etwa auf einer Sanktionsdrohung und / oder auf Gewohnheit, Zustimmung und Anerkennung der Handelnden. Die hohe Freiheit des Handelns hat zur Folge, dass Handlungen prinzipiell nicht mit Sicherheit berechenbar sind. Gleichwohl stehen soziale Phänomene wie Normen und Handlungen nicht außerhalb der Welt. Im Nachhinein lassen sich für Handlungen in der Regel Faktoren angeben, die Bedingungen ihrer Möglichkeit sind oder die sie direkt motiviert haben. Wenn aber ein erfahrungsgemäßer und verständlicher Zusammenhang von Ereignissen oder Strukturen mit Handlungen hergestellt werden kann, spricht nichts gegen die Verwendung des Begriffs der Ursache. Dabei ist unerheblich, aus welcher Motivation heraus ein Handelnder im Einzelfall normgemäß handelt, ob er zum Beispiel aus Mitleid einem Unglücksopfer hilft oder weil es eine rechtliche oder moralische Norm von ihm verlangt. Eine im Einzelfall andere Motivation schließt die generelle Eignung der Norm nicht aus, die geforderten Handlungen zu motivieren. 6. Während in einem konsequent teleologischen Normensystem jedes verbotene oder gebotene Handeln verursachungsgeeignet sein muss, ist andererseits nicht jedes Handeln, das verursachungsgeeignet ist, zwingend geboten oder verboten. Die Ableitung der Handlungsnormen aus den Verursachungsnormen ist keine logisch zwingende Operation, sondern setzt eine Wertung voraus. Zunächst werden sehr wahrscheinlich verursachungsgeeignete Handlungen geboten oder verboten sein. Je geringer aber die Wahrscheinlichkeit ist, desto eher wird auf eine Norm verzichtet. Auch angesichts von strafrechtlich sanktionierten Verletzungsverboten sind einige gefährliche Handlungen gleichwohl erlaubt. 44 Das ist letztlich auch im Begriff „Bestimmungsnorm“ vorausgesetzt. Der Begriff des Bestimmens gilt als äquivalenter Begriff für den der Ursache, wenn man Kausalität im Bereich „freier“ Handlungen ablehnt. Das hat etwa in § 26 StGB Niederschlag gefunden, der die Anstiftung als das Bestimmen eines anderen zu einer Tat definiert. Begriffsgeschichtlich Hruschka (1998), S. 595 ff. 45 Zum Problem der Willensfreiheit etwa Kargl (1991), S. 165 –217 m.w. N.
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B. Normentheorie
In diesem Zusammenhang hat schon Binding auf das „statthafte Risiko“ hingewiesen und Kriterien der Interessenabwägung entwickelt. 46 Welzel sprach insoweit von sozialadäquaten Handlungen: „Sozial adäquate Handlungen sind alle Betätigungen, in denen sich das Gemeinschaftsleben nach seiner geschichtlich bedingten Ordnung jeweils vollzieht.“ 47 Insgesamt sind diese Argumentationsfiguren als strafrechtsinterner Verweis auf das geschriebene wie ungeschriebene Recht aufzufassen, eben auf die vom Strafrecht vorausgesetzten Primärnormen. Sehr abstrakt erfolgsgeeignetes Handeln wird auch meist nur dann verboten sein, wenn die Steuerungsfähigkeit oder Beeinflussungsmöglichkeit des Handelnden in einer gefährlichen Situation, die durch das Handeln entstehen kann, fehlt. Deswegen ist es etwa verboten, betrunken Auto zu fahren. Ansonsten arbeitet man eher mit Geboten von präventiv wirkenden Handlungen oder Handlungsmodalitäten, die geeignet sind, die Gefährlichkeit eines Handelns von vornherein oder im Nachhinein zu mindern oder auszuschließen. 7. Einem Handelnden können in einer Handlungssituation sowohl generelle als auch situationsbezogene Handlungs- und Verursachungsnormen vorgegeben sein. 48 Wenn dem Handelnden generelle Normen vorgegeben sind, hat er die Situationshandlungsnormen selbst abzuleiten. Hierbei bestehen wichtige Unterschiede zwischen der Ableitung aus generalisierten Handlungsnormen und aus Verursachungsnormen. Die einfachere Operation ist die Ableitung von Situationshandlungsnormen aus generalisierten Handlungsnormen. Der Handelnde muss dann nur die Handlungssituation richtig deuten. Er braucht keine Prognose über die möglichen Wirkungen seines Handelns zu treffen, sondern diese ist mit der Handlungsnorm bereits gegeben. Bei einfachen Verhältnissen oder zur Vereinfachung lässt sich sagen, dass der Normgeber selbst diese Prognose getroffen und die normativen Folgen daraus gezogen hat. Generalisierte Handlungsnormen sind zum Beispiel viele Straßenverkehrsregeln oder die Regeln der ärztlichen Kunst. Weil sie mehrere Anwendungsfälle haben, sind sie immer konditioniert formulierbar: Wenn A der Fall ist, ist Handlung B geboten oder verboten. Sie können nach Art einer juristischen Subsumtion angewendet werden, weil sie generalisierte Situationsmerkmale vorgeben, die in einer gegebenen Handlungssituation identifiziert werden müssen. Wenn die Beschreibung auf die Situation zutrifft, dann gilt die Handlungsnorm für die Situation. Das Wiedererkennen von Situationsstrukturen, die in der generalisierten Handlungsnorm bezeichnet sind sowie das Erlernen der Norm kann man mit Luhmann als einen Prozess des Kondensierens und Reaffirmierens von Invarianten (Identitäten) beschreiben. 49 46 Binding (1919), S. 432 ff., daran anschließend Engisch (1930), S. 285 ff., (1960), S. 417 f., aktuell etwa Sch / Sch / Cramer / Sternberg-Lieben (2006), § 15 StGB, Rn. 144 ff. Einen Überblick über die Diskussion gibt Prittwitz (1993), S. 267 ff. 47 Welzel (1938), S. 516 f., v. a. auch Fn. 38. 48 Zur Unterscheidung von generalisierten und Situationshandlungsnormen unter B.I.7. 49 Luhmann (2000 a), S. 66 f.
II. Die Handlungsnormen
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Das passt gut auf die als Rechtsnormen zu kennzeichnenden Strukturen. Diese sind nicht einmalige Befehle eines Normgebers an den Handelnden, sondern werden in der Sozialisation und später erlernt und sind oft als ein implizites Wissen präsent. Das Kondensieren bezeichnet das Herausfiltern von wiederkehrenden Merkmalen aus einer einmaligen Situation. Es werden Situationsaspekte, die für den Sinn einer Norm entscheidend sind, festgehalten. Das Reaffirmieren bezeichnet die umgekehrte Richtung, nämlich die Konkretisierung einer Norm für die Handlungssituation. Man könnte auch von der Anwendung, Erkenntnis oder Aktualisierung der Norm sprechen. Für die Zwecke der Normentheorie soll dies jedoch als die Ableitung einer Situationshandlungsnorm aus generalisierten Handlungsnormen aufgefasst werden. 8. Wenn dem Handelnden ausschließlich oder neben Handlungsnormen auch Verursachungsnormen vorgegeben sind, hat er selbst geeignete Handlungen zu erkennen. Es ergeben sich für ihn folgende generelle Handlungsnormen: (1) Aus einem Verursachungs- oder Verhinderungsgebot: (1.1.) „Handle so, dass dein Handeln (möglicherweise) geeignet ist zu verursachen / zu verhindern.“ (1.2.) „Handle nicht so, dass dein Handeln (möglicherweise) geeignet ist zu verhindern, dass du verursachst / verhinderst.“ (2) Aus einem Verursachungs- oder Verhinderungsverbot: (2.1.) „Handle nicht so, dass dein Handeln (möglicherweise) geeignet ist zu verursachen / zu verhindern.“ (2.2.) „Handle so, dass dein Handeln (möglicherweise) geeignet ist zu verhindern, dass du verursachst / verhinderst.“ Kurz gesagt: „Wähle bzw. vermeide verursachungsgeeignete Handlungen.“ Der Handelnde hat somit eine Prognose über mögliche Kausalverläufe zu treffen. Er muss das projizierte Handeln auf seine Wirkungen hin beurteilen und entsprechende Situationshandlungsnormen ableiten. Das ist nicht nach der Art einer Subsumtion möglich. Es geht nicht nur um das bloße Erkennen und Interpretieren gegebener Handlungssituationen, sondern auch um das Abschätzen von Chancen oder Risiken aktueller oder geplanter Handlungen. Erforderlich ist das Aktivieren von Erfahrungswissen und das Entwerfen und Anpassen von Strategien zum Verursachen oder Vermeiden von Veränderungen. Dem Handelnden wie dem Beurteiler stellt sich die Frage, welches Handeln angesichts einer Verursachungsnorm als verboten oder geboten zu gelten hat. Wörtlich genommen bezeichnet die Verursachungsnorm zwar nur ein konkret verursachungsgeeignetes Handeln. In der Handlungsperspektive betrifft das Urteil über die konkrete Eignung des Handelns aber nicht einen wahren Sachverhalt, sondern einen wahrscheinlichen oder möglichen. Deshalb werden auch Handlungen als geboten oder verboten gelten, die bloß wahrscheinlich oder möglicherweise verursachungsgeeignet sind. Bei einfachen Aufgaben und leicht überschaubaren Situationen wird durchaus relativ leicht erkennbar sein, welches
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B. Normentheorie
Handeln konkret geeignet ist. Bei schwierigeren Aufgaben oder unübersichtlichen Situationen mit mehreren Unbekannten werden die situationsbezogenen Gebote und Verbote hingegen auch ein weniger wahrscheinlich geeignetes Handeln betreffen. Der Handelnde soll dann jedenfalls versuchen zu verursachen, bzw. er soll ein gefährliches Handeln besser unterlassen. Es können andererseits nicht alle möglicherweise verursachungsgeeigneten Handlungen als geboten oder verboten gelten. Insoweit gilt der Grundsatz, dass der Bezug auf allgemein geltende Erlaubnisse bzw. Verbote mögliche Verbote bzw. Gebote ausschließt. Das wird im Hinblick auf Verursachungsverbote an den bereits erwähnten Fällen des erlaubten Risikos deutlich. In vergleichbarer Weise rechtfertigt ein Verursachungsgebot nicht die Anwendung eines jeden Mittels. Insoweit sind vor allem die geltenden Handlungsverbote des jeweiligen Normensystems zu beachten. Oftmals werden auch die zur Verfügung stehende Zeit und Kapazität, die Dringlichkeit anderer Gebote oder Fragen der Zumutbarkeit Grenzen setzen. 50 Einschränkend greifen in diesen Fällen wiederum allgemeine Regeln. Im Fall eines erlaubten Risikos gilt gleichwohl das Gebot, das Handeln in gefährlichen Situationen anzupassen und nach Möglichkeit Schäden zu vermeiden. Andererseits kann die Erreichung besonders wichtiger Zwecke auch ein grundsätzlich verbotenes Handeln rechtfertigen oder andere Handlungsgebote verdrängen. Die Postulierbarkeit von Handlungsnormen kann gerade, wenn sie situationsbezogen aus Verursachungsnormen abgeleitet werden, von dem Wissen, den Kenntnissen und Fähigkeiten des Handelnden abhängig sein. Wer mit einer Pistole, von der er nicht weiß, ob sie geladen ist, auf jemanden schießt, verstößt gegen eine übliche Handlungsnorm. Weiß der Handelnde aber, dass die Pistole nicht geladen ist, wird dies berücksichtigt. Ein Tötungsversuch wird nicht angenommen. Andererseits gelten für Handelnde, die wie zum Beispiel Ärzte auf bestimmte Aufgaben spezialisiert sind, höhere, rollenspezifische Anforderungen, weil andere Fähigkeiten und Kenntnisse vorauszusetzen sind. Umgekehrt gilt freilich nicht das gleiche. Mangelhaftes Wissen und Können des Handelnden wird nicht zum Maßstab für die Ableitung von Handlungsnormen. Insoweit greifen Kenntnisgebote ein, die das erforderliche Wissen und Können normativieren. 51 Die Postulierbarkeit der Handlungsnorm ist somit weder ganz abhängig vom Wissen des Handelnden noch ganz unabhängig davon. Die Frage, welche Situationshandlungsnormen angesichts einer Verursachungsnorm gegolten haben, wird verbindlich erst retrospektiv von einem autorisierten Beurteiler des Handelnden (z. B. dem Normgeber selbst oder einem Richter) ent50 Weiterführend Philipps (1974), S. 68 – 72 zu Normenkollisionen und S. 76 –82 zum Problem der Wahl zwischen mehreren geeigneten Handlungen, auch angesichts mehrerer geltender Verursachungsnormen. 51 Siehe unter B.IV.
II. Die Handlungsnormen
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schieden. Dieser Beurteiler muss hierbei das prospektive Eignungsurteil, das die Norm voraussetzt, rekonstruieren, obwohl er schon besseres Wissen hat und etwa weiß, dass das Handeln nicht konkret geeignet war oder es (vielleicht wider Erwarten) doch war oder gewesen wäre. Wegen dieser Relativität des Eignungsurteils besteht für ihn die Gefahr, um Verantwortung für den Eintritt oder Nichteintritt einer Veränderung zuweisen zu können, Sorgfaltsanforderungen zu überziehen und dabei nicht ausreichend zu beachten, was prospektiv nahe liegend oder möglich war. Das retrospektive Urteil darf aber grundsätzlich nur angeben, was man prospektiv als geeignet (chancenreich oder zu gefährlich) und unter Berücksichtigung aller anderen Umstände als geboten oder verboten ansehen musste. Das folgt bei Beanspruchung zweckrationaler Legitimation aus der Bestimmungsfunktion der Handlungsnormen. 9. Die unterschiedlichen praktischen Konsequenzen von Verursachungs- und Handlungsnormen machen deutlich, dass diese Unterscheidung den wesentlichen Inhalt der Unterscheidung von Zweck- und Konditionalprogrammen abbildet, die Luhmann für die Organisations- und Rechtssoziologie ausgearbeitet hat. 52 Zweckprogramme können als Verursachungsnormen gedeutet werden, weil sie die Wirkungen von Handlungen zum Gegenstand der Norm machen. Das Erkennen und die Wahl des geeigneten Handelns liegt beim Handelnden selbst. Auch die negative Zweckvorgabe, bestimmte Veränderungen nicht zu verursachen, kann als Zweckprogramm angesehen werden. 53 Die Unterscheidung von Verursachungs- und Handlungsnormen scheint sogar präziser zu sein als die von Zweck- und Konditionalprogrammen, weil mit der Konditionierung nicht das wesentliche Unterscheidungskriterium in den Vordergrund gerückt wird. Wichtig ist allein die Frage, ob der Handelnde die teleologische Ableitung der Situationshandlungsnormen vorzunehmen hat. Wenn Handlungsnormen vorgegeben sind, ist das insoweit nicht nötig. Der Handelnde muss nur die Geltungssituation erkennen. Wenn dem Handelnden hingegen (auch) Zwecke (Verursachungsnormen) vorgegeben sind, muss er die teleologischen Erwägungen selbst leisten. Hierzu kann spezialisiertes Erfahrungswissen über mögliche Mittel zur Zweckerreichung erforderlich sein. Die Arbeit des Verursachungsnormanwenders ist damit anspruchsvoller. Das Merkmal der Konditionierung, das der Begriff des Konditionalprogramms in den Vordergrund rückt, kann hingegen sowohl bei Handlungsnomen als auch bei Verursachungsnormen gegeben sein. Als Beispiel: „Wenn ein Unglück passiert, leiste die erforderliche Hilfe und verhindere nach Möglichkeit Schäden.“ Konditionierte Normen sind meist generalisiert (immer wenn ..., dann ...), können aber auch sehr weit kon-
52 Luhmann (1973), S. 101 ff., 257 ff., (1980), S. 227 ff., (1984), S 432 f., (1993), S. 195 ff., (2000 b), S. 256 ff. Kritisch Obermeier (1988), S. 110 ff. 53 Luhmann (1973), S. 285.
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B. Normentheorie
kretisiert sein und etwa auf ein nur einmal zu erwartendes Ereignis bezogen werden.
III. Die akzessorischen Handlungsnormen 1. Allgemeine Kennzeichnung 1. Akzessorsiche Handlungsnormen sind Handlungsgebote, die sich teleologisch auf ein Verursachungsverbot und Handlungsverbote, die sich auf ein Verursachungsgebot beziehen. 54 Sie betreffen ein Handeln, das geeignet ist, von vornherein zu verhindern, dass der Handelnde die in der Verursachungsnorm bezeichnete Veränderung durch ein anderes Handeln verursacht oder verhindert. Dieses andere Handeln ist das Bezugshandeln für die akzessorische Norm. Es ist Gegenstand einer weiteren Norm, die in einem komplementären Verhältnis zur akzessorischen Norm steht. 55 Aus einem Verursachungsverbot sind somit nicht nur Verbote von verursachungsgeeigneten Handlungen ableitbar, sondern auch (akzessorische) Gebote von Handlungen, die geeignet erscheinen, von vornherein zu verhindern, dass der Handelnde die bezeichnete Veränderung durch das jeweilige Bezugshandeln verursacht. Entsprechend sind aus einem Verursachungsgebot für einen Handelnden nicht nur Gebote von verursachungsgeeigneten Handlungen ableitbar, sondern auch (akzessorische) Verbote solcher Handlungen, die von vornherein verhindern können, dass der Handelnde selbst die Veränderung durch das Bezugshandeln verursacht. 56 Somit wird sichtbar, dass das Verhältnis der teleologischen Zuordnung der Handlungsnormen zu Verursachungsverboten wie -geboten eine parallele Struktur aufweist. Diese Struktur ähnelt darüber hinaus derjenigen der Zuordnung von Verursachungs- zu Veränderungsnormen. Auf eine Veränderungsnorm sind ebenfalls Normen bezogen, die einerseits auf das Verursachen und andererseits auf das Verhindern der Veränderung gerichtet sind. 2. Ein Definitionsmerkmal akzessorischer Normen ist, dass sie in einem komplementären Verhältnis zu anderen Handlungsnormen stehen, zu denen sie hinzutreten und auf die sie inhaltlich eng bezogen sind. Das ist der Grund für ihre 54
Beispiele bereits unter B.I.2. Weiterführend C.V. Gelten keine Verursachungsnormen, denen die komplementären Handlungsnormen zugeordnet werden können, ist auf Inhalt und Zweck der Normen abzustellen. Vgl. die Definition im Glossar. 56 Zuerst deutlich Binding (1890), S. 110 f. und Merkel (1912), S. 51 f. Ferner Bertel (1965), S. 55. 55
III. Die akzessorischen Handlungsnormen
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Kennzeichnung als akzessorisch. Es ergibt sich immer ein zusammengehöriges Paar komplementärer Handlungsnormen, das jeweils aus einem Handlungsgebot und einem -verbot besteht und das auf dieselbe Verursachungsnorm bezogen ist. Zu einem akzessorischen Gebot gibt es mindestens ein komplementäres Handlungsverbot und zu einem akzessorischen Verbot mindestens ein komplementäres Handlungsgebot. Wenn es zum Beispiel geboten ist, bei der nächtlichen Autofahrt das Licht einzustellen, gilt das komplementäre Verbot, nachts unbeleuchtet Auto zu fahren. Wenn es akzessorisch verboten ist, sich die Rettung eines anderen durch Zerstörung der Rettungsmittel unmöglich zu machen, ist notwendig die Rettung des anderen geboten. Die Handlungsnormen, die sich zu akzessorischen Normen komplementär verhalten, sind einfache Handlungsverbote, die auf ein Verursachungsverbot bzw. Handlungsgebote, die auf ein Verursachungsgebot bezogen sind. Sie betreffen genau dasjenige Bezugshandeln, dessen Eignung, die in der Verursachungsnorm bezeichnete Veränderung zu verursachen oder zu verhindern, das akzessorisch gebotene oder verbotene Handeln von vornherein zu mindern oder auszuschließen geeignet ist. Dass dieses Bezugshandeln Gegenstand einer komplementären Norm ist, ergibt sich, könnte man sagen, aus einem teleologischen Konsistenzgebot. Es gibt ein spezifisches Begründungsverhältnis zwischen der akzessorischen und der komplementären Norm, das in dem Satz zum Ausdruck kommt, dass ein Handeln A verboten ist, weil ein anderes Handeln B geboten ist. Da es sich um ein teleologisches Begründungsverhältnis handelt, besteht keine logisch zwingende Konsequenz. Das Konsistenzpostulat der Normenlogik greift nicht ein, weil Gegenstand der komplementären Normen jeweils ein anderes Handeln ist. 57 Es ist deshalb logisch möglich, dass B zwar (dann nur „quasi akzessorisch“) geboten, A aber nicht komplementär verboten bzw. A zwar (quasi akzessorisch) verboten, B aber nicht komplementär geboten ist. Das wäre jedoch in vielen Fällen teleologisch widersprüchlich, weil sich die akzessorische Norm ihrem Sinn nach darauf bezieht, die Verursachungseignung des komplementär verbotenen oder gebotenen Handelns im Fall eines akzessorischen Gebots zu mindern bzw. im Fall eines akzessorischen Verbots zu erhalten. In der Praxis wird es deshalb regelmäßig eine komplementäre Handlungsnorm zu einer Norm geben, die ihrem teleologischen Sinn nach akzessorisch ist. Eine komplementäre Norm kann aber fehlen, wenn ein quasi akzessorisch gebotenes Handeln im Verhältnis zum Bezugshandeln eine geringe Wichtigkeit hat. 3. Das komplementäre Verhältnis zweier Handlungsnormen besteht nur, wenn beide Normen teleologisch notwendig zugleich angenommen werden müssen und damit auch für denselben Handelnden relevant werden. Wenn A verboten ist, weil B geboten ist, heißt das auch, dass B geboten und zugleich A verboten ist. Das Gebot kann inhaltlich durchaus bedingt sein und deshalb nicht zwingend in 57
Siehe B.II.2.
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B. Normentheorie
derselben Handlungssituation, in der das Verbot als unbedingtes gilt, dringend eine Handlung gebieten. So ist es in der Regel bei akzessorischen Geboten. Die notwendig gleichzeitige Relevanz der akzessorischen und komplementären Norm betrifft nur die Geltung der Normen für denselben Handelnden, nicht die in ihnen bezeichneten Handlungen. In zeitlicher Hinsicht geht eine akzessorisch gebotene Handlung der Bezugshandlung entweder voraus oder liegt gleichzeitig mit ihr und modifiziert sie, zum Beispiel, wenn es geboten ist, beim Autofahren eine bestimmte Geschwindigkeit einzuhalten. In ähnlicher Weise würde ein akzessorisch verbotenes Handeln dem gebotenen Bezugshandeln entweder vorausgehen oder gleichsam an dessen Stelle stehen. Dieses zeitliche Verhältnis folgt schon daraus, dass das akzessorisch gebotene oder verbotene Handeln die Verursachungseignung des Bezugshandelns von vornherein ausschließt oder mindert. Dieses Handeln ist oder wäre somit notwendig ein gleichzeitiges oder späteres im Verhältnis zum akzessorisch verbotenen oder gebotenen Handeln. Deshalb ist zum Beispiel das Gebot, nach einem Unfall professionelle Helfer herbeizurufen, für den fahrlässigen Unfallverursacher nicht akzessorisch, obwohl es ein Verhindern eigenen Verursachens betrifft. Das Gebot wird zeitlich erst nach dem Verbot relevant, verkehrswidrig zu fahren. Dieses Gebot bezieht sich deshalb nicht auf ein Verursachungsverbot, sondern gegebenenfalls auf ein Verhinderungsgebot. 4. Welche der gegebenen komplementären Handlungsnormen als akzessorisch zu qualifizieren ist, hängt ausschließlich davon ab, welcher Verursachungsnorm sie zugeordnet werden. Deswegen kann der akzessorische Charakter in einem Paar komplementärer Normen von der Beobachtungsperspektive abhängig sein. Zum Beispiel kann man bei einem gegebenen Verursachungsgebot, ein stabiles Haus zu errichten, ein Gebot annehmen, angemessene Träger zu verwenden. Bezogen auf dieses Gebot ist das Verbot, zu schwache Träger einzubauen, akzessorisch. Gegenstand des Verbots ist ein Handeln, das verhindern würde, dass man ein stabiles Haus baut. Man kann diese beiden komplementären Normen aber auch einem Verursachungsverbot zuordnen, durch den Hausbau zu verursachen, dass künftige Bewohner Schaden erleiden. Dann ist das Verhältnis genau umgekehrt. Bezogen auf dieses Verbot ist das Gebot, angemessene Träger einzubauen, akzessorisch. Die gebotene Handlung, die Träger ausreichend zu bemessen, mindert in dieser Perspektive die Gefährlichkeit des Bezugshandelns, ein Haus zu bauen. Die Qualifikation einer Handlungsnorm als akzessorisch hängt somit von ihrer teleologischen Bezugsnorm ab. Das spezifisch komplementäre Verhältnis ist jedoch in beiden Varianten identisch aufgebaut und lässt sich dadurch beschreiben, dass beide Handlungsnormen teleologisch gesehen notwenig zugleich angenommen werden müssen.
III. Die akzessorischen Handlungsnormen
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2. Verbotsakzessorische Gebote und gebotsakzessorische Verbote 1. Verbotsakzessorische Gebote, die sich auf Verursachungsverbote beziehen, haben einen präventiven Charakter, weil sie ein Handeln bezeichnen, das geeignet ist, von vornherein zu verhindern, dass der Handelnde einen unerwünschten Erfolg verursacht. Sie sind im Alltag sehr häufig. Beispiele sind die Pflichten des Autofahrers, auf der rechten Fahrbahn zu fahren, an einer roten Ampel zu halten, die Höchstgeschwindigkeit einzuhalten und nachts das Licht anzuschalten. Diese Handlungen oder Handlungsmodifikationen tragen dazu bei, die generelle Gefährlichkeit des Bezugshandelns „Autofahren“ zu mindern und somit mögliche Schadensverursachungen zu vermeiden. Sorgfaltspflichten dieser Art sind mit zunehmender Technisierung wichtig geworden, weil deretwegen Handlungen häufiger ein Verletzungsrisiko bergen. Akzessorische Handlungsgebote definieren sozusagen die Grenzen der erlaubten Risiken und erleichtern damit auch die Zuschreibung von Verantwortlichkeit. Trifft der Handelnde die gebotenen Vorsichtsmaßnahmen nicht, wird ihm gegebenenfalls der verursachte Erfolg und damit das volle Risiko des Bezugshandelns angelastet, obwohl er grundsätzlich erlaubt ein erhöhtes Risiko geschaffen hatte. 58 Eine an sich erlaubte Handlung kann bei Nichteinhaltung der Gebote sehr leicht zur verbotenen werden. Man fährt zum Beispiel 10 km / h schneller als erlaubt und handelt bereits verboten. Die Zuständigkeit für die Befolgung von Geboten, die ihrem teleologischen Sinn nach akzessorisch sind, kann anderen Handelnden übertragen werden. Das ist insbesondere in arbeitsteiligen Organisationen notwendig. Interessant sind die Folgen dieser Zuständigkeitszuweisung. Ein Beispiel ist das Gebot an einen Schrankenwärter, die Schranken zu schließen, wenn ein Zug naht. Dieses Gebot ist für die Bahn, die als juristische Person Normenadressat sein kann, seinem teleologischen Sinn nach akzessorisch. Gegenstand des Gebots ist ein Handeln, das verhindern kann, dass durch den Bahnbetrieb – also durch anderes Handeln desselben Akteurs – Schäden verursacht werden. Die Übertragung der Zuständigkeit auf den Schrankenwärter hat zur Folge, dass das Gebot nicht akzessorisch, sondern eigenständig einem Verhinderungsgebot zuzuordnen ist. Für ein einzelnes Mitglied der Organisation werden die Handlungen anderer Organisationsmitglieder sozusagen objektiviert. Der Schrankenwärter muss zwar nicht verhindern, dass er selbst verursacht, wohl aber, dass etwa der Lokführer verursacht. 59 Andererseits wird für die Bahn kein komplementäres Verbot angenommen, sofern sie im Großen und Ganzen für einen ordnungsgemäßen Betriebsablauf Sorge 58 Deswegen wird bei akzessorischen Geboten die Frage besonders relevant, ob das Gebot konkret geeignet war, die Erfolgsverursachung zu verhindern. Siehe unter B.V.2.6. sowie C.V.1.b). 59 Hierzu nochmals unter C.V.4.3.
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B. Normentheorie
trägt. – Eine Pflichtenübertragung hat in der Regel zur Folge, dass bestimmte Organisations- und Überwachungspflichten teleologisch abgeleitet werden. 2. Die verbotsakzessorischen Gebote enthalten die Bedingung, dass der Handelnde das Bezugshandeln verwirklicht. Dieses Handeln ist aus der Warte des Gebots freigestellt. Es steht zumeist im Belieben des Handelnden, kann aber auch entweder durch eine andere Norm geboten oder faktisch nicht mehr vollständig zu kontrollieren sein. Deshalb werden akzessorische Gebote für den Handelnden nur relevant, wenn er die Bezugshandlung ausführt oder ausführen will. Die Bedingung hängt somit vom Handelnden ab, nicht wie sonst bei konditionierten Normen von objektiven Umständen. Verbotsakzessorische Gebote ähneln deshalb Klugheitsregeln oder hypothetischen Imperativen, sind aber unbedingt geltende Normen. Weiterhin soll das gebotene Handeln zeitlich nicht wie bei objektiv konditionierten Normen auf den Eintritt der Bedingung folgen, sondern vor oder gleichzeitig mit dem bedingenden Bezugshandeln verwirklicht werden: „Wenn du A ausführst oder ausführen willst, beachte zugleich oder zuvor auch B!“ Als Situationshandlungsnorm kann ein akzessorisches Gebot unbedingt sein, insbesondere wenn sich der Handelnde auf die Bezugshandlung festgelegt und deshalb keine andere Wahl mehr hat. Jemand fährt zum Beispiel nachts unter Einhaltung aller Sorgfalt mit dem Auto eine Allee entlang und sieht kurz hinter einer Kurve plötzlich einen Betrunkenen auf der Fahrbahn liegen. Er kann nur dadurch zumutbar vermeiden, ihn zu überfahren, dass er nach links ausweicht. Das Gebot auszuweichen ist wie das Verbot, den Betrunkenen zu überfahren, aus dem Verbot, ihn zu verletzen, abgeleitet. Beide Handlungsnormen stehen im komplementären Verhältnis. Akzessorisch ist das Gebot, weil es ein Handeln betrifft, das von vornherein verhindern kann, dass der Handelnde selbst durch anderes, komplementär verbotenes Handeln die Veränderung verursacht. Die Bedingung des akzessorischen Gebots spiegelt sich in seinem komplementären Verbot. Dieses enthält eine negative Bedingung. Verboten ist die Bezugshandlung, wenn nicht der Handelnde die gebotene Zusatzhandlung oder Handlungsmodifikation beachtet. Der Inhalt des bedingten Gebots ist somit in den Inhalt des Verbots integrierbar. Hieraus folgt auch, dass zugleich mit dem Verbot das Gebot missachtet ist. Das gilt ebenso umgekehrt, weil das Gebot erst im Moment des Verbotsverstoßes endgültig nicht mehr erfüllbar ist. Andererseits ist mit dem Gebot auch das Verbot beachtet bzw. die Missachtung des Verbots ausgeschlossen und mit dem Verbot auch das Gebot im schwachen Sinn beachtet, nämlich nicht missachtet. Gilt ein Verursachungsverbot, auf das sich die beiden komplementären Handlungsnormen beziehen, ist entsprechend auch dieses missachtet oder beachtet. 3. Gebotsakzessorische Verbote sind aus einem Verursachungsgebot teleologisch abgeleitet. Zu den verbotsakzessorischen Geboten, die auf Verursachungs-
III. Die akzessorischen Handlungsnormen
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verbote bezogen sind, verhalten sie sich genau spiegelbildlich. Sie betreffen ebenfalls ein Handeln, das eigenes Verursachen von vornherein verhindern kann. Jedoch ist dieses Handeln verboten und das verursachungsgeeignete Bezugshandeln komplementär geboten. Akzessorische Verbote bezeichnen kontraproduktive Handlungen, welche die Chance der Verursachung vereiteln können oder zumindest die Eignung (Verursachungswahrscheinlichkeit) des komplementär gebotenen Handelns mindern. Ein Beispiel: Wenn der Verkäufer einem Kunden ein Radio verkaufen soll, darf er dem Interessenten nicht erzählen, dass es im nächsten Geschäft ein besseres Modell zum gleichen Preis gibt. Diese Handlung verbietet sich deshalb, weil sie die Möglichkeit, das Verursachungsgebot („Umsatz machen!“) zu erfüllen, wahrscheinlich vereiteln würde. Verbote solcher Art sind akzessorisch, weil sie zu den Handlungsgeboten hinzutreten, die für den Handelnden primär gelten, und sich insofern auf diese beziehen, als sie die Verursachungsmöglichkeit schützen, die diese voraussetzen. Sie beziehen sich auf ein gebotenes Bezugshandeln desselben Handelnden und haben den Zweck, diesem Handeln eine Verursachungschance zu erhalten. 60 Die Gebote, die zu einem akzessorischen Verbot komplementär liegen, sind inhaltlich unbedingt, wenn die verursachungsgeeignete Bezugshandlung dringend ist. Wenn sie bedingt sind, ist die Bedingung eine objektive, anders als bei akzessorischen Geboten, die in der Regel subjektiv bedingt sind. Zum Beispiel ist es jemandem, der zur Überwachung und Vermeidung von Gefahren eingesetzt ist, akzessorisch verboten sich zu betrinken, weil ihm das die nötige Aufmerksamkeit oder Leistungsfähigkeit dafür nehmen könnte, im Notfall die gebotenen Handlungen vorzunehmen. Diese Handlungen sind ihm zugleich (bedingt durch den Notfall) geboten. Es heißt: Geboten ist das Bezugshandeln B (ggf.: wenn die objektive Bedingung C eintritt), akzessorisch und unbedingt verboten ist A. Bei bedingten akzessorischen Geboten und deren komplementären Verboten heißt es hingegen: Geboten ist A, wenn B, und verboten ist B, wenn nicht A. Ein akzessorisches Verbot lässt sich somit nicht in gleicher Weise in das komplementäre Gebot integrieren wie ein akzessorsiches Gebot in das komplementäre Verbot. Deswegen sind auch die Verbots- und Gebotsbeachtung und -missachtung nicht zwingend so eng miteinander verbunden wie bei akzessorischen Geboten und deren komplementären Verboten. Es kann Fälle geben, in denen der Handelnde das Verbot verhinderungsgeeigneten Handelns missachtet und gleichwohl in der Lage bleibt, die Gebote verursachungsgeeigneten Handelns zu erfüllen. Dass mit dem Gebot immer zugleich das Verbot beachtet oder andererseits mit dem Verbot das Gebot missachtet ist, dürfte die Regel sein, ist aber nicht zwingend, weil es von der Frage abhängig ist, ob das verbotene (möglicherweise) verhinderungsgeeignete Handeln tatsächlich verhindernd wirkt.
60
Vgl. C.V.2.
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B. Normentheorie
Ist das aber der Fall, ermöglicht die Verbotsmissachtung dem Beurteiler, vom Prinzip des ultra posse nemo obligatur abzusehen. 61 Er kann, obwohl die Gebotserfüllung in der Situation gar nicht mehr möglich war, einen Gebotsverstoß annehmen, weil der Handelnde das Verbot missachtet hat. 62 Der Beurteiler kann sich darauf berufen, dass dem Handelnden, hätte er sich von vornherein normgemäß verhalten, das gebotene Handeln möglich gewesen wäre. Zerstört ein Handelnder etwa sein Rettungsmittel, wird es ihm in diesem Moment unmöglich oder sinnlos, dieses Mittel zu benutzen, wie es geboten war. Gleichwohl wird die Missachtung dieses Gebots vorgeworfen. Es ist dann gleichsam schon im Moment des Verbotsverstoßes missachtet.
3. Gebotsakzidentielle Handlungsverbote 1. Gebotsakzessorische Verbote sind teleologisch aus Verursachungsgeboten abgeleitet. Daneben scheint die Möglichkeit zu bestehen, Handlungsverbote aus einfachen Handlungsgeboten abzuleiten. Beispiele sind das Verbot, als Zeuge vor Gericht zu lügen oder das Verbot, sich als Unfallbeteiligter vom Unfallort zu entfernen. Diese Verbote ergeben sich aus den Geboten, die Wahrheit zu berichten bzw. am Unfallort zu bleiben. Verbote dieser Art kann man als gebotsakzidentielle Verbote bezeichnen, weil sie mit einem gegebenen Handlungsgebot so eng zusammenhängen, dass sie gleichsam dessen korrespondierendes Gegenstück sind. Sie verbieten ein Handeln deshalb, weil es ein Unterlassen eines dringend gebotenen Handelns ist, verweisen somit ihrem Sinn nach auf das Gebot des Handelns und wären ohne dieses korrespondierende Gebot nicht verständlich und erklärbar. Sie sind von ihm abhängig und haben eine Hilfsfunktion. Das Handeln, das sie verbieten, ist nicht wie das akzessorisch verbotene Handeln notwendig kontraproduktiv, also geeignet, das Verursachen zu verhindern, sondern es kann auch entweder schlicht ungeeignet sein, die angezeigte Wirkung zu verursachen oder weniger gut geeignet als das gebotene Handeln. Freilich ist jedes von den geltenden Handlungsgeboten abweichende Handeln zumindest insoweit geeignet, das gebotene Verursachen zu verhindern, als es das Verursachen durch das Handeln verhindert, das an seiner Stelle geboten ist, weil es dieses (gleichzeitig und anschließend) gebotene Handeln faktisch unmöglich macht, gerade indem es an dessen Stelle steht. Bereits Bierling hat die Möglichkeit der Ableitung akzidentieller Verbote angenommen: „Dagegen lässt sich allerdings umgekehrt ganz allgemeinhin behaupten, dass jedes positive Gebot zugleich ein Verbot in sich schließe: das Verbot jeder Art von Handlungen nämlich, welche mit dem positiv gebotenen 61 62
Zu diesem Prinzip und dessen Einschränkungen unter B.V.2.5. So bereits Hruschka (1979), S. 422.
III. Die akzessorischen Handlungsnormen
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Verhalten in Widerspruch stehen würden ... Welche Handlungen übrigens als dem gebotenen Verhalten widersprechende anzusehen sind, ist wiederum nicht bloß eine allgemein logische, sondern stets zugleich eine Auslegungsfrage.“ 63 Dagegen nimmt Philipps an, dass Gebote grundsätzlich keine verbietende Wirkung entfalten: „Vor jedem Menschen liegt ein Spielraum möglichen Handelns, der ... durch Verbote ... begrenzt wird. Darüber hinaus wird das Verhalten des Menschen auch von Normen bestimmt, die innerhalb seines Handlungsspielraums, ohne ihn normativ einzuschränken, bestimmte Handlungen vorschreiben. Verbote schließen aus, schreiben aber nicht vor; Gebote schreiben vor, schließen aber nicht aus.“ 64 Darauf stellt er jedoch fest: „Aufgrund der faktischen Situation werden [dem Handelnden] aber durch das Gebot manche andere Handlungen zu dieser Zeit verwehrt.“ – Bloß faktisch oder auch aus der Warte der Normen? 2. Einem Handlungsverbot kann man nicht in vergleichbarer Weise ein akzidentielles Gebot zuordnen. Die hier definierten verbotsakzessorischen Gebote sind teleologische Ableitungen aus dem übergeordneten Verursachungsverbot und sind nicht akzidentiell zum komplementären Handlungsverbot. Akzidentielle Gebote gibt es nicht, denn Verbote sind im Hinblick auf gebotene und erlaubte Handlungen unbestimmt. Diese Unbestimmtheit beruht darauf, dass Gebote und Verbote einen unterschiedlichen Informationsgehalt haben. Ein Gebot bezeichnet eine definierte Handlung als geboten. Daraus folgt, dass alle streng alternativen Handlungen als verboten angesehen werden müssen. Ein Verbot hingegen schließt nur eine Handlung aus, bestimmt aber nicht positiv, was sonst erlaubt oder geboten wäre. Eine Ausnahme scheint der Fall einer echten Alternative: A ist verboten, also ist B geboten, zum Beispiel: Weiterfahren bei Rot ist verboten; also ist das Anhalten geboten. 65 Dieser Unterschied zwischen Verboten und Geboten hat eine Parallele im Bereich der Aussagen. Eine positive Aussage setzt eine Behauptung in Geltung. Sie trifft (in Luhmanns Terminologie) eine Unterscheidung, bezeichnet die eine Seite und schließt alle widersprechenden Aussagen aus. Wenn ich behaupte, dass A der Fall ist, kann ich in Bezug auf denselben Gegenstand nicht behaupten, dass B der Fall ist, wenn sich A und B notwendig ausschließen. Eine negative Aussage dagegen schließt nur etwas aus, ohne positiv zu bestimmen, was gilt. Sie lässt jenseits dieser Aussage alles unbestimmt. Man kann diese Differenz somit verallgemeinern und eine Unbestimmtheit des Negativen im Hinblick auf das positive Geltende feststellen. 3. Das Verbot des Unterlassens ist kein gebotsakzidentielles Verbot im hier entwickelten Sinn. Das Gebot eines Handelns ist als Verbot des Unterlassens des 63 64 65
Bierling (1894), S. 75 f. Philipps (1972), S. 15. Hierzu unter C.V.2.a).
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B. Normentheorie
gebotenen Handelns und das Verbot eines Handelns als Gebot des Unterlassens des verbotenen Handelns formulierbar. Der Norminhalt wird doppelt negiert. Diese doppelte Negation ist mit der Position gleichbedeutend: − Das Gebot von p ist das Verbot des Unterlassens von p: O(p) ≡ O¬(¬p) − Das Verbot von p ist das Gebot des Unterlassens von p: O¬p Ein Beispiel ist die Umformulierung des Verhinderungsgebots in ein Verbot des Geschehenlassens. Die Normen, die sich aus dieser Operation ergeben, werden hier nicht als akzidentielle Normen aufgefasst, weil sie keinen anderen Inhalt haben als die positiv formulierten Normen, sondern mit ihnen gleichbedeutend sind. Das Unterlassen bezeichnet keine konkrete Handlungsalternative, weil es viele Handlungsmöglichkeiten geben kann, die ein Unterlassen bedeuten. Das Unterlassen ist für diese nur ein Kürzel. Deswegen hat das Verbot des Unterlassens nicht mehr Informationsgehalt als das Gebot des Handelns. Wenn es verboten ist zu schweigen (das Reden zu unterlassen), ist dies gleichbedeutend mit dem Gebot des Redens. Gleiches gilt umgekehrt für das Gebot des Unterlassens. Wenn mir verboten wird zu reden, ist mir geboten zu schweigen. Das Gebot des Schweigens hat nicht mehr Informationsgehalt als das Verbot des Redens und ist ebenso unbestimmt im Hinblick darauf, ob ein anderes Handeln erlaubt oder geboten ist. Ob ich etwa während des Schweigens weggehen oder sitzen bleiben darf oder soll, ist durch das Gebot nicht bestimmt. Rödig hat vorgeschlagen, das Verbot eines Handelns als das Gebot einer Unterlassung des Handelns und das Gebot eines Handelns als Verbot einer Unterlassung dieses Handelns zu formulieren. 66 Die Unbestimmtheit wird durch den unbestimmten Artikel im Norminhalt verdeutlicht. Diese Formulierung unterschlägt aber einen Begründungsschritt. Ein Unterlassen ist immer ein bestimmtes Handeln. Das hieße aber, dass auch die einzelne Handlungsalternative, die ein Unterlassen wäre, als geboten oder verboten angesehen werden müsste. Nur weil ich nicht verboten handelte, obwohl ich es in der Situation könnte, handelte ich geboten. Das Gebot einer Menge alternativer Handlungen bedeutet aber nicht, dass genau eine Handlung geboten ist. Das wäre ungenau (ein Informationsverlust), weil es die gegebene Kombination aus Freistellung und Gebot nicht zum Ausdruck bringt. Es liegt eine Gefahr darin, das Unterlassen zur Unterlassung zu verdinglichen und dann mit „der Handlung“ einfach gleichzusetzen, die mit dem Unterlassen notwendig verbunden ist. 4. Der Grund der hier beschriebenen Möglichkeit der Ableitung akzidentieller Verbote liegt im normlogischen Konsistenzpostulat. 67 Dieses ist strukturidentisch 66
Rödig (1969), S. 88 f. Hierzu Engisch (1983), S. 162 f., Weinberger (1989), S. 235 ff., v. Wright (1994), S. 50 ff., 62 ff. 67
III. Die akzessorischen Handlungsnormen
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mit dem Widerspruchsverbot in der Aussagenlogik. Wenn A (als wahr) behauptet, dass B eine Offerte angenommen hat, kann er nicht zugleich behaupten, dass er diese abgelehnt hat, weil das Ablehnen notwendig ein Fall des Nichtannehmens (des Unterlassens des Annehmens) ist. Diese Behauptungen würden sich widersprechen, weil sie auf den gleichen Gegenstand und auf streng alternatives Handeln Bezug nehmen. Dieses Widerspruchsverbot kehrt in der Normenlogik als Kohärenzgebot wieder. Wenn A gebietet, dass B eine Offerte annimmt, kann er nicht zugleich freistellen, dass er diese nicht annimmt, das heißt, unterlässt anzunehmen. Wenn aber das Ablehnen der Offerte zugleich und notwendig ein Unterlassen des Annehmens ist, so ist, weil dieses verboten ist, auch jenes verboten. A muss das Ablehnen verbieten. Wegen des Kohärenzgebots folgen aus gegebenen Normen neue Normen, ganz analog wie wegen des Widerspruchsverbots aus gegebenen Aussagen neue Aussagen folgen. 5. Eine Voraussetzung der hier beschriebenen Möglichkeit, akzidentielle Verbote abzuleiten, ist die strenge Alternativität der verbotenen und der gebotenen Handlung. Bierlings Behauptung, dass aus jedem Handlungsgebot ein Verbot ableitbar sei, ist deshalb problematisch. Der Satz, dass gebotswidriges Handeln zugleich verboten ist, dürfte nur eingeschränkt zutreffen. Es muss genauer untersucht werden, welches Handeln angesichts eines Handlungsgebots als verboten gelten kann. Wann beginnt und wann endet das verbotene Handeln? Ein Gebot kann entweder zeitlich präzis sein oder einen Spielraum zur Erfüllung geben. Im ersten Fall ist das unterlassende Handeln in dem bezeichneten Zeitpunkt verboten. Doch wann endet das verbotene (unterlassende) Handeln? – Es endet im selben Moment. Wenn dem A geboten wird, sofort X zu tun, und er tut dies nicht, ist sein Handeln nur in einem vielleicht nur logischen Moment verboten. Sein Handeln kann sofort nach dem Beginn nicht mehr als verboten angesehen werden. Wenn der entscheidende Moment verstrichen ist, kann der Handelnde aus der Warte des Gebots machen, was er will. Das Gebot kann nicht mehr erfüllt werden. Die Entscheidung, für die es galt, ist gefallen. Es ist deshalb für das weitere Handeln ohne Relevanz. Das gleiche gilt auch dann, wenn das Gebot einen zeitlichen Spielraum zu seiner Erfüllung lässt. Das unterlassende Handeln ist vor dem letzten Moment, in dem die Gebotserfüllung möglich ist, nicht verboten. Das Handeln ist durch das Gebot noch nicht verboten. Das Handeln nach dem letzten Moment ist hingegen nicht mehr verboten. Verboten ist nur der Handlungsmoment, in welchem die gebotene Handlung als Möglichkeit noch steht, aber nicht diese Möglichkeit, sondern eine Alternative wahrgenommen wird. Es ist der Moment zwischen noch nicht und nicht mehr verboten, der Punkt einer Entscheidung. Das verbotene unterlassende Handeln kann durchaus allein dadurch charakterisiert sein, dass es ein Unterlassen ist, ein Verpassen der Chance, das Gebot zu befolgen. Es muss als solches dem Handelnden nicht einmal bewusst sein.
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B. Normentheorie
Eine weitere Zeitbestimmung eines Gebots kann es sein, dass ein Handelnder in einer Zeitspanne ununterbrochen etwas tun soll. Sobald er dann abbricht, kann er das Gebot nicht mehr erfüllen. Jedoch ist auch hier nur das Abbrechen selbst, nicht das anschließende Handeln verboten. Wenn A den ganzen Abend lernen soll, darf er nicht zum Konzert gehen. Wenn er gleichwohl zum Konzert geht, kann er das Gebot, den ganzen Abend zu lernen, sowieso nicht mehr erfüllen. Die verbotenen Handlungen sind also immer nur punktuell zu bezeichnen. Ein Gebot vermag nur eine kurze Handlungssequenz zu verbieten. 6. Vor dem Hintergrund der teleologischen Ableitungsmöglichkeit von Geboten und Verboten ist das beschriebene Problem indes zu relativieren. Handlungsgebote sind oft Ableitungen aus einem Verursachungsgebot. Aus diesem können eine Menge Handlungsgebote folgen. Deswegen kann das erwähnte Gebot, am Abend zu lernen, etwa fortgelten, obwohl es durch eine Unterbrechung zunächst missachtet wurde. Der Zweck des Gebots kann noch erreicht werden. Die aus einem Rettungsgebot folgenden Handlungsnormen verlangen meist eine sofortige Rettungshandlung. Wenn der Handelnde zögert, die Rettungshandlung innerhalb eines gewissen Zeitraums aber noch möglich ist, ist dieses Zögern ein Handeln, das, solange das Beginnen noch möglich ist, in jedem Moment verboten ist, da das Handlungsgebot („Handle jetzt!“) gleichsam permanent wirksam ist. Wenn der Handelnde schließlich sein Zögern überwindet und wie geboten handelt, wird ihm sein anfängliches Unterlassen meist nicht mehr zum Vorwurf gemacht, wenn er den gewünschten Erfolg doch noch erreicht. Die Strafrechtsdogmatik muss diese Frage, wann Gebote dringend werden und wie lange Gebotsverstöße durch eine Gebotserfüllung wieder gutgemacht werden können, bearbeiten, wenn es um den Versuchsbeginn und Rücktritt vom Unterlassungsdelikt geht. 7. Abschließend bleibt das Verhältnis der Unterscheidungen von akzessorischen und akzidentiellen Normen zu klären. Aufgrund der unterschiedlichen Ableitungsarten – zum einen logisch, zum anderen teleologisch – kann es, muss aber nicht zu Überschneidungen kommen. Verbote, denen ein komplementäres akzessorisches Gebot zur Seite steht, können selbst akzidentiell zu diesem Gebot sein. Verbote dieser Art enthalten ja die Bedingung der Nichterfüllung des Gebots. Das Bezugshandeln ist nur bei Missachtung des Gebots verboten. In der Regel ist das komplementäre Verbot gleichwohl nicht akzidentiell zum akzessorischen Gebot, weil akzessorische Gebote zumeist nicht unbedingt sind und deshalb ein Handeln nicht streng gebieten. So ist eine präventive Handlung meist nur unter der Bedingung geboten, dass ein Handelnder eine bestimmte andere Handlung vornimmt. Solange diese Bezugshandlung noch im Belieben des Handelnden steht, ist das Gebot nicht dringend, und das Verbot kann nicht akzidentiell zu diesem sein. Es steht zur Wahl, entweder das Gebot zu erfüllen oder nicht in der vorgestellten Weise zu handeln. Das Verbot, das eine ohne das andere zu tun, ist somit selbständig. Anders aber, wenn der Handelnde die Bedingung schon gesetzt hat und nicht mehr frei ist,
III. Die akzessorischen Handlungsnormen
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sie in jedem Moment zu beseitigen. Wer im Straßenverkehr bei Rot weiterfährt, handelt verboten, weil er stehen bleiben sollte. Das Gebot anzuhalten gilt hier unbedingt, weil die Bezugshandlung (Autofahren) schon erfüllt ist. Hier kann das Verbot des Weiterfahrens durchaus als akzidentiell zu dem akzessorischen Gebot angesehen werden. 8. Umgekehrt kann ein Handlungsverbot sowohl gebotsakzessorisch als auch gebotsakzidentiell sein, ist es aber nicht notwendig. Einerseits ist nicht jedes akzessorische Verbot zugleich akzidentiell zu einem gleichzeitig geltenden Handlungsgebot. Das akzessorische Verbot betrifft Handlungen nicht in dem Aspekt, dass sie vom gebotenen Handeln abweichen, sondern gerade darin, dass sie geeignet erscheinen, die Erfüllung des Verursachungsgebots durch anderes, möglicherweise späteres Handeln, das (komplementär) geboten ist, von vornherein zu vereiteln. Das Verbot solcher kontraproduktiven Handlungen gilt unabhängig davon, ob aktuell ein dringendes Gebot eines streng alternativen (verursachungsgeeigneten) Handelns gilt. Zugleich akzidentiell ist das Verbot nur dann, wenn die Handlungsgebote, die aus dem Verursachungsgebot folgen, sehr strikt sind und das Handeln genau festlegen. Dann kann das (auch) akzessorisch verbotene Handeln schon deshalb als (akzidentiell) verboten anzusehen sein, weil es ein Unterlassen des gebotenen Handelns ist. Eine solche Situation kann auftreten, wenn der Handelnde das gebotene Bezugshandeln schon begonnen hat, es nicht abbrechen darf und dieses Abbrechen eine selbständige Handlung voraussetzt. Andererseits ist ein gebotsakzidentielles Verbot nicht notwendig zugleich gebotsakzessorisch. Die Akzessorietät bezeichnet eine spezifisch teleologische Verknüpfung der Normen aufgrund der tatsächlichen Wirkungen der in ihnen bezeichneten Handlungen: Das verbotene Handeln ist geeignet, die Verursachungseignung des gebotenen Handelns von vornherein zu untergraben. Das ist ein engerer Bezug als der bloße Umstand, dass das (akzidentiell) verbotene Handeln faktisch an Stelle eines gebotenen Handelns steht und es deshalb unmöglich macht, zugleich das Gebot zu erfüllen. Zum Beispiel ist das Verbot der Unfallflucht (§ 142 StGB) akzidentiell zu dem Gebot, am Unfallort zu bleiben. 68 Das Gebot, am Ort zu bleiben und Auskunft zu geben, ist sehr streng und verbietet ein Handeln, das eine ausschließende Alternative hierzu ist, sei dieses Handeln auch nur eine kurze Handlungssequenz. Das Verbot wegzufahren ist jedoch nicht zugleich als ein akzessorisches anzusehen, weil die teleologische Verknüpfung von Gebot und Verbot nicht eng genug ist. Der Zweck des Gebots ist, die Aufklärung des Unfalls zu erleichtern und dadurch nach Möglichkeit zu verhindern, 68 Die Auffassung, dass § 142 StGB ein echtes Unterlassensdelikt ist (Sch / Sch / Cramer / Sternberg-Lieben [2006], § 142 StGB, Rn. 2), wird deshalb verständlich. Es bildet zusammen mit § 323c StGB (unterlassene Hilfeleistung) einen Deliktstyp eigener Art, der parallel zu den Gefährdungsdelikten beim „Tun“ angelegt ist. Zur Strafbarkeit genügt, anders als bei unechten Unterlassungsdelikten, ein Gebotsverstoß, ohne dass der Erfolg eingetreten sein muss, den die Norm zu verhindern bezweckt. Vgl. unter C.IV.1.
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B. Normentheorie
dass Schäden von Unfallbeteiligten nicht ersetzt werden. 69 Das Wegfahren macht aber die spätere Aussage des Handelnden nicht unmöglich oder wertlos. Es fehlt die spezifisch teleologische, wirkungsbezogene Verknüpfung.
IV. Kenntnisgebote, Nachforschungsgebote und Putativnormen 1. Der Handelnde steht in der Handlungssituation vor der Aufgabe, die geltenden Situationsnormen zu erkennen. Die beiden möglichen Arten der Ableitung von Situationshandlungsnormen wurden bereits modellhaft beschrieben. 70 Ein Handelnder soll diese Normen (a) entweder aus generalisierten Handlungsnormen quasi per Subsumtion oder / und (b) aus generalisierten oder konkreten Verursachungsnormen teleologisch ableiten. Kognitive Voraussetzungen dieser Ableitung sind (1) die Kenntnis der generalisierten Normen, (2) die zutreffende Situationsdeutung und (3) im Fall (b) zusätzlich prognostisches und empirisches Wissen (Kausal- und Wahrscheinlichkeitswissen). In allen drei Punkten kann der Handelnde unwissend oder unaufmerksam sein. Versäumt er aus diesem Grund die zutreffende Ableitung der Norm, wird ihm ein doppelter Vorwurf gemacht, zum einen, dass er nicht wie gefordert gehandelt hat und zum anderen, dass er das Geforderte nicht erkannt hat. Obwohl somit ein doppelter Normverstoß gegeben ist, wird der Handlungsnormverstoß leichter verzeihlich als ein bewusster Verstoß. Zum Beispiel kann ich mich besser dafür entschuldigen, einen Freund, der mich auf der Straße sah, nicht gegrüßt zu haben, wenn ich angebe, ihn nicht gesehen zu haben. Ich entschuldige die eine Normwidrigkeit mit der anderen, weniger schwerwiegenden. Sich auf kognitive Schwächen zu berufen, ist aber nicht rühmlich, und die Entschuldigung versagt im Fall von Rechtsnormen. Die Normen, die auf die Erkenntnis der Situationsnormen und auf die Voraussetzungen hierfür gerichtet sind, kann man als Kenntnisgebote bezeichnen. 71 Kenntnisgebote betreffen ausschließlich die kognitive Disposition des Handelnden. Er soll die einschlägigen generalisierten Normen kennen, aufmerksam sein, die Handlungssituation richtig deuten, über das nötige Wissen hierzu verfügen und Kenntnis über die Verursachungseignung von Handlungen haben. Die Erkenntnisbedingungen, welche die Normen voraussetzen, sind somit ebenfalls normativiert. Ein Normgeber oder Beurteiler erwartet nicht nur Handlungen, sondern auch das Vorhandensein und die Anstrengung von Erfahrungswissen, um die Normen zutreffend abzuleiten. Der Maßstab für die erwarteten Kenntnisse 69
Sch / Sch / Cramer / Sternberg-Lieben a. a. O., Rn. 1. Siehe B.II.7.ff. 71 Hierzu schon Binding (1914), S. 236 ff., (1918), S. 163 ff., (1919), S. 500 ff., Engisch (1930), S. 332 ff., 344 ff., Armin Kaufmann (1954), S. 115 ff. 70
IV. Kenntnisgebote, Nachforschungsgebote und Putativnormen
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richtet sich häufig nach den durchschnittlich vorauszusetzenden Fähigkeiten, danach, was man hätte erkennen müssen. Berücksichtig wird aber auch eventuell gegebenes Sonderwissen, sei es auf die Handlungssituation oder auf Verursachungsmöglichkeiten bezogen. Kann spezielles Wissen vorausgesetzt werden, etwa bei ausgebildeten Helfern, werden die Erwartungen höher sein. Teleologisch folgen aus Kenntnisgeboten weitere Gebote, die auf eigenständige Handlungen gerichtet sind. Der Handelnde soll sich gegebenenfalls über die geltenden Normen informieren, die Handlungssituation aufklären oder verursachungsgeeignete Handlungen ausfindig machen. Diese Handlungsgebote kann man als Nachforschungsgebote bezeichnen. 72 Die Kenntnis- und Nachforschungsgebote führen im Hinblick auf das Prinzip des ultra posse nemo obligatur zu einer Verschiebung des Maßstabs für das darin bezeichnete Können. Gerade das Nichtkönnen wird zum Vorwurf gemacht, der es rechtfertigt, trotz des Nichtkönnens einen Normverstoß anzunehmen. Wenn der Handelnde wegen fehlender aktueller Kenntnis nicht anders handeln konnte, wird ihm die fehlende Aktualisierung vorgeworfen. Hätte er die Kenntnis in der Situation gar nicht aktualisieren können, werden ihm frühere Versäumnisse zur Last gelegt. 73 Der Satz des ultra posse gilt deshalb letztendlich bezogen darauf, was der Handelnde hätte wissen können, auch wenn er dieses Wissen in der Handlungssituation tatsächlich nicht mehr einholen konnte. Die Eignung eines Handelns und die abzuleitenden Handlungsnormen müssen zwar in der Situation erkennbar sein. Es kommt aber nicht auf die tatsächliche Erkennbarkeit für den Handelnden an, sondern auf die für einen Handelnden mit den kognitiven Voraussetzungen, die erwartet werden. 2. Kenntnisgebote lassen sich als reflexive Normen verstehen, weil sie sich auf andere Normen beziehen. Dieses reflexive Moment lässt sich mit Hilfe eines wichtigen soziologischen Theorems über die Wirkungsweise von Normen beschreiben, das Luhmann ausgearbeitet hat. In der soziologischen Theorie werden Normen als normative, d. h. kontrafaktisch stabilisierte Verhaltenserwartungen aufgefasst. Sie unterscheiden sich von kognitiven Erwartungen (z. B. Prognosen) dadurch, dass der Normsetzer die Norm im Fall eines Zuwiderhandelns nicht aufgibt und lernt, sondern aufrecht erhält. 74 Die Erwartungen kann man entweder psychologisch als Kognitionen eines Akteurs interpretieren oder auf soziale Systeme beziehen. Erwartungen erscheinen dann als Strukturen dieser Systeme. 75 Für die Normentheorie ist die akteursbezogene Interpretation nahe liegend. Handelnde können sich nur norm72 73 74 75
Hierzu unter B.IV.4. Vgl. Hruschka (1979), S. 429 f. Luhmann (1980), S. 42 ff. Luhmann (1980), S. 40 ff., (1984), S. 93, Fn. 3, S. 139 f., S. 396 ff.
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B. Normentheorie
gemäß verhalten, wenn sie die Normen kennen, die an sie gerichtet sind. Die Befolgung von Normen beruht somit auf der kognitiven Erwartung dessen, was normativ erwartet wird. Diese reflexive Erwartungsbildung ist für das soziale Zusammenleben konstituierend. 76 Auch im vorangehend entwickelten Modell der Ableitung von Normen durch den Handelnden geht es um das Erwarten von Erwartungen. Das Phänomen der Kenntnisgebote liegt eine Stufe höher. Auf die Erwartungserwartung des Handelnden beziehen sich wiederum Erwartungen. Im Hinblick auf generalisierte Normen wird auch erwartet, dass der Handelnde die Situationsnormen erkennt und richtig ableitet, dass er also erwartet, was man von ihm erwartet. Diese Erwartung ist für den Handelnden wiederum erwartbar. Für ihn wird es notwendig, aufmerksam zu sein, sich bereit zu halten oder nachzuforschen. – Auch dies wird erwartet und ist wiederum für den Handelnden erwartbar. 3. In der Strafrechtsdogmatik erscheint der Verstoß gegen Kenntnisgebote als Fall des Irrtums oder zumindest irrtumsähnlich, als unbewusste Fahrlässigkeit, fahrlässiger Tatumstandsirrtum, fahrlässiger Irrtum über rechtfertigende Umstände oder als Verbotsirrtum. Wenn der Handelnde einem Tatumstands- oder Rechtfertigungsumstandsirrtum unterliegt, erkennt er Situationsmerkmale fehlerhaft. Das kann fahrlässig sein, wenn von ihm erwartet werden konnte, dass er die Situation zutreffend deutet (§ 16 StGB). Der Verbotsirrtum ist dadurch gekennzeichnet, dass der Handelnde auf der Grundlage zutreffenden Situationswissens Verhaltensnormen nicht assoziiert, weil ihm das Wissen um die Erwartungslage fehlt. Der derart Irrende handelt nach geltendem Recht normwidrig, wenn auch die Schuld gemindert oder ausgeschlossen sein kann (§ 17 StGB). Unbewusste Fahrlässigkeit schließlich bezeichnet einen unbewussten Handlungsnormverstoß. Auch hier tritt neben die Missachtung der Handlungsnormen die Missachtung von Kenntnisgeboten. Dem Handelnden wird nicht nur vorgeworfen, in bestimmter Weise gehandelt zu haben, sondern auch, nicht aufmerksam genug gewesen zu sein, die Norm zu assoziieren, die Erwartung zu erwarten. Die Normen, die hier im Hinblick auf unbewusst fahrlässiges Handeln als Kenntnisgebote beschrieben werden, interpretieren Hruschka und ihm folgende Autoren im Bereich der strafrechtlichen Fahrlässigkeitsdogmatik als Obliegenheiten oder Sorgfaltsnormen im Sinne von Aufmerksamkeitsgeboten. 77 So führt Renzikowski den Theatergarderobenfall (RGSt 34/91) als Beispiel für diese Normen an. 78 Ein Theaterbesucher gab seinen Mantel an der Garderobe ab und ließ 76
Luhmann (1980), S. 33 ff., S. 51 ff. Hruschka (1979), S. 424 ff., 428. Der Hintergrund ist die Unterscheidung von ordentlicher und außerordentlicher Zurechnung. Hierzu unter B.V.2.8. 78 Renzikowski (1997), S. 226 ff. 77
IV. Kenntnisgebote, Nachforschungsgebote und Putativnormen
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eine Pistole darin. Diese fiel heraus. Ein Logenschließer hob sie auf, hielt sie fälschlich für ungeladen und schoss zum Spaß auf einen Kollegen, der getroffen wurde und starb. Aus dem Tötungsverbot als einem Verursachungsverbot folgt hier teleologisch das generelle Verbot eines Handelns, das aus der ex-ante-Sicht möglicherweise verursachungsgeeignet ist. Deshalb ist das Schießen mit einer Pistole, von der man nicht weiß, ob sie geladen ist, generell verboten, auch wenn die Pistole eventuell gar nicht geladen ist. Wenn der Logenschließer diese generalisierte Handlungsnorm nicht assoziiert oder im Hinblick auf das Tötungsverbot sein Handeln nicht als möglicherweise verursachungsgeeignet erkannt hat, hat er ein entsprechendes Kenntnisgebot missachtet und deshalb (unbewusst) fahrlässig gehandelt. Das Kenntnisgebot ist indes kein bloßer „hypothetischer Imperativ“ und keine „Obliegenheit“ 79 (sich selbst gegenüber), sondern eine unbedingt zu beachtende Norm. 4. Der Theatergarderobenfall gibt zugleich ein Beispiel für ein Nachforschungsgebot. Der Logenschließer hätte vor dem Schießen nachprüfen müssen, ob Patronen im Revolver sind. Dieses Nachforschungsgebot ist bedingt durch das Vorhaben, spaßeshalber zu schießen. Darin ähnelt es einem akzessorischen Gebot. Es ist aber nicht akzessorisch, weil die bloße Erkenntnis der Gefährlichkeit des Handelns ebendiese nicht ausschließt. Akzessorisch ist in diesem Fall das bedingte Gebot, die Patronen zu entfernen, bevor man „schießt“. Erst dieses Gebot betrifft ein Handeln, welches das Verursachen effektiv verhindern kann. Das gefährliche Bezugshandeln ist dabei ohne das vorherige Vorsorgehandeln komplementär verboten, und das Gebot dieses Vorsorgehandelns wiederum ist bedingt durch die Ausführung des Bezugshandelns. Dieses akzessorische Gebot setzt hier aber die Erfüllung des Nachforschungsgebots voraus. Nachforschungsgebote können nur mittelbar über Kenntnisgebote als teleologische Ableitungen aus Verursachungsnormen aufgefasst werden, weil Nachforschungshandlungen nicht unmittelbar verursachungs- oder verhinderungsgeeignet sind. So kann es im Hinblick auf Verursachungsgebote notwendig und geboten sein, zunächst die zur Verursachung gegebenen Mittel ausfindig zu machen. Dieses Handeln ist nicht selbst verursachungsgeeignet, sondern ermöglicht, das geeignete Handeln zu erkennen. Entsprechendes gilt bei der Ableitung von Situationshandlungsnormen aus generalisierten (und damit konditionierten) Handlungsnormen. Auch hier bereitet eine Recherche das möglicherweise verursachungs- und verhinderungsgeeignete Handeln nur vor. Zum Beispiel gilt für einen Arzt zuerst das Nachforschungsgebot, die Diagnose zu stellen, bevor darauf aufbauend generalisierte und konditionierte Handlungsnormen, welche die Therapiemethoden betreffen, als Regeln der ärztlichen Kunst eingreifen. Dieses Nachforschungsgebot ist auf das Kenntnisgebot bezogen, die Bedingungen zu erkennen, unter denen die generalisierten Therapiegebote eingreifen. 79
Hruschka (1979), S. 422, 426.
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B. Normentheorie
5. Das Strafrecht kennt auch irrtumsähnliche Konstellationen, die sich genau umgekehrt zu den soeben geschilderten verhalten. Während der Handelnde, der Kenntnisgebote missachtet, die Verhaltensnorm nicht assoziiert, so assoziiert er in den Fällen des unverständigen Versuchs und des Wahndelikts Verhaltensnormen, die man vernünftigerweise nicht assoziiert hätte. Gleichwohl kann er gem. § 23 Abs. 3 StGB wegen eines Versuchs bestraft werden, wenn die generalisierte Norm, gegen die er zu verstoßen meinte, als solche existiert. Nur das Wahndelikt bleibt straflos, ein Handeln, das der Handelnde für generell verboten hält, obwohl es das gar nicht ist. Wenn die generalisierte Norm aber gilt, knüpft das geltende Recht an das unverständige oder absehbar ungeeignete Handeln Sanktionen. 80 Unter der Prämisse, dass jedes strafbare Handeln normwidrig ist, lässt sich eine besondere Art von Handlungsnormen identifizieren, die als Putativnormen oder vorstellungsabhängige Normen bezeichnet werden können. Es sind Situationshandlungsnormen, deren Geltung auf der Vorstellung des Handelnden beruht, dass diese Normen für ihn aus den geltenden generalisierten Handlungs- oder Verursachungsnormen folgen. Dass die vorgestellten Situationsnormen „objektiv“ gar nicht gelten würden, weil ein Durchschnittsmensch eine bessere Situationskenntnis oder besseres Erfahrungswissen hätte, ist irrelevant, weil die subjektiv vorgestellten Normen aus diesem Grund objektiv geltende sind. 81 Putativnormen schließen an ein generalisiertes Kenntnisgebot an: Der Handelnde soll die geltenden Normen erkennen, er soll erwarten, was erwartet wird, und er soll sich auch nach den Erwartungserwartungen richten, die er tatsächlich hegt.
V. Die Verursachungsnormen 1. Definition der Verursachungsnormen 1. Verursachungsnormen sind Gebote oder Verbote des Verursachens oder Verhinderns einer Veränderung. Der hier verwendete Begriff des Verursachens bezeichnet ein Verursachen durch Handeln. Ein Verursachen durch Unterlassen kommt demnach nicht in Betracht. 82 Die Einbeziehung des Unterlassens in den Begriff des Verursachens widerspräche dem Interesse an analytischer Differenzierung. Im Normenmodell würden sich etwa die Verhinderungsgebote direkt aus den Verursachungsverboten ergeben, weil jedes Unterlassen des Verhinderns ein Verursachen wäre. Der Begriff des Verursachens rechnet Veränderungen direkt 80 Kritisch zur subjektiven Versuchskonzeption des § 22 StGB, welche die Strafbarkeit (noch) ungefährlichen und an sich erlaubten Handelns begründet, wenn es als Manifestation des Vorhabens der Normmissachtung zu verstehen ist: Hirsch (2007). 81 In diesem Sinn schon Engisch (1960), S. 432 ff. 82 Vgl. unter C.III.3.
V. Die Verursachungsnormen
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auf Handelnde zu, ohne das verursachende Handeln näher zu kennzeichnen: „A verursachte V.“ 83 Das Handeln wird dabei wie ein Mittel hierfür aufgefasst: „A verursachte V durch das Handeln H.“ Die Veränderung kann auf das Handeln folgen oder gleichzeitig mit ihm eintreten. Wenn sie auf das Handeln folgt, wird es erst nachträglich zum Verursachen. Dann ist auch erst nachträglich feststellbar, ob der Handelnde ein Verursachungsverbot missachtet oder ein -gebot erfüllt hat. Die Definition des Verursachens hat zu reflektieren, was eigentlich dazu berechtigt, die besondere Relation zwischen einem Handeln und einer Veränderung oder Nichtveränderung anzunehmen, wie sie der Begriff des Verursachens installiert. Die Antwort auf diese Frage muss so allgemein wie möglich sein, weil das Ursache-Wirkungs-Denken ubiquitär ist und nicht nur den Bereich der durch Naturgesetze erklärbaren Kausalität erfasst. Verallgemeinert ist es die regelmäßige Erfahrung solcher Zusammenhänge, die Aussagen über deren Bestehen akzeptabel macht. Die Beziehung selbst ist von einem Beobachter hergestellt, doch kann und muss man annehmen, dass sie Anhalt in der Welt hat, jedenfalls bauen die theoretischen wie die praktischen Wissenschaften darauf auf. Zu favorisieren ist damit eine Definition des Verursachens, die sich jeder Spezifizierung der Art der Beziehung, die zwischen den Ereignissen besteht, enthält. Ein verursachendes Handeln ist demnach ein Handeln, das erfahrungsgemäß in einem Zusammenhang mit dem Sachverhalt steht, dass eine Veränderung stattgefunden oder nicht stattgefunden hat. 84 Der in dieser Weise definierte Begriff des Verursachens greift beliebig weit in die Vergangenheit eines Ereignisses zurück. Ein Beobachter kann jede Ursache ihrerseits auf Ursachen zurückführen und somit sich immer weiter verzweigende Ursachenketten bilden. 85 Der Begriff des Verursachens hat keine immanente und selbstverständliche Grenze. Isolierte Verursachungsnormen, die das Verursachen in jedem Fall gebieten oder verbieten, gibt es deshalb in einem realen Normensystem praktisch nicht. In diesem werden immer zugleich Handlungsnormen gelten, die das gebotene oder verbotene Handeln näher bezeichnen. Zum Beispiel sanktioniert das Strafrecht nur vorsätzliches und fahrlässiges Verursachen. Im Rahmen der Normentheorie muss das bewusst bleiben. Die hier definierten Verursachungsnormen werden zumeist aus einem gegebenen, impliziten oder expliziten Zusammenhang mit Handlungsnormen herausgelöst. Der Bezug auf diese Handlungsnormen muss gewahrt werden. Er wird als ein Verhältnis der teleologischen Zuordnung bzw. Ableitung von Handlungsnormen begreifbar. 86 83 Das ermöglicht die Unterscheidung von Handlungs- und Verursachungsnormen. Vgl. hierzu bereits B.II.1. 84 Zuerst ausdrücklich Engisch (1931), S. 21. 85 Im Hinblick auf andere Handelnde ist es allerdings nützlich, die Verursachungsketten zu explizieren. Siehe C.V.3.3. 86 Fortgeführt unter B.V.2.
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B. Normentheorie
2. Der Begriff des Verhinderns ist die inhaltliche Negation des Verursachens. Verhindern ist das Verursachen, dass eine Veränderung nicht eintritt. Somit setzt das Verhindern die Kausalität eines Handelns voraus, aber die Wirkung des Handelns wird negativ bestimmt. Das hier bestehende Negationsverhältnis ist das gleiche wie bei den Verben „gebieten“ und „verbieten“ oder „behaupten“ und „leugnen.“ Ein Verbot ist ein Gebot, etwas nicht zu tun. Dieses besondere Negationsverhältnis kann man als inhaltliche Negation bezeichnen, um es der echten Negation gegenüberzustellen: „etwas nicht verursachen“, „etwas nicht gebieten“ oder „etwas nicht behaupten“. Die inhaltliche Negation betrifft das Verbobjekt, die echte das Verb selbst. Diese Unterscheidung kann auf Verben angewendet werden, die mit einem „dass ...“-Satz verbunden werden. Die verschiedenen Aussagemöglichkeiten für das Verb „verursachen“ lassen sich wie folgt darstellen:
Jede der vier möglichen Kombinationen kann Gegenstand eines Gebots oder einer Behauptung über das Verursachen sein. Dementsprechend spiegeln sich hier die vier Arten von Verursachungsnormen wider. Dabei fällt auf, dass die echte Negation des Verursachens mit der inhaltlichen Negation des darauf bezogenen Gebietens (oder Behauptens) gleichwertig und austauschbar ist, weil beide im „dass ...“- Satz stehen. Deshalb ist das Gebieten bzw. Verbieten, dass ein Handelnder eine Veränderung nicht verursacht, gleichbedeutend mit dem Verbieten bzw. Gebieten, dass er diese Veränderung verursacht. 3. Der Gegenstand des Verursachens oder Verhinderns wird im Normenmodell abstrakt als Veränderung definiert. Der Begriff der Veränderung sagt zunächst nicht viel mehr, als dass irgendetwas geschieht. Er bezeichnet ein Ereignis oder eine Ereignisfolge, die einen Unterschied zwischen Vorher und Nachher begründet. Die Veränderung kann sich auf einen Zustand beziehen. Der Zustand bezeichnet die Existenz oder besondere Eigenschaften von Gegenständen oder Relationen. Er ist durch Nichtveränderung (Identität, Konstanz) in bestimmten
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Hinsichten gekennzeichnet. 87 Insoweit ist er der Gegenbegriff zur Veränderung. Es gibt verschiedene Arten der Veränderung von Zuständen: den Beginn, das Ende und die Transformation oder Modifikation eines Zustands. 88 Der Begriff der Veränderung als Bezugsobjekt des Verursachens und Verhinderns schließt nicht aus, dass auch das Verursachen von Handlungen anderer Handelnder erfasst wird. 89 Auch Handlungen sind Ereignisse. 90 Sie implizieren schon deshalb ein Moment der Veränderung, weil sie eine Differenz zum Vorher begründen. Das Handeln selbst kann dann eher durch Zustandsaspekte charakterisiert sein. 91 Das Verursachen oder Verhindern von Handlungen wird aber zumeist nicht der teleologisch ausschlaggebende Zweck der darauf gerichteten Norm und damit Gegenstand einer eigenständigen Verursachungsnorm sein, sondern bloßes Mittel zu einem weiter zu erreichenden Zweck. 92 Das Verursachen oder Verhindern von Nichtveränderungen und Zuständen kommt im Normenmodell definitionsgemäß nicht in Betracht. Diese alternative Begriffsbildung wird durch die Beschreibung als ein Verursachen oder Verhindern von Veränderungen vollständig und zugleich präziser abgedeckt. In der Umgangssprache kann dagegen das Objekt des Verursachens oder Verhinderns entweder ein Zustand oder ein Ereignis sein. So wird derjenige, der die Veränderung in einen Zustand verursacht hat, in der Regel als Verursacher dieses Zustands angesehen. Wenn ich ein Bild an die Wand gehängt habe (Veränderung), habe ich demnach verursacht, dass das Bild an der Wand hängt (Zustand). Aber auch derjenige, der bloß eine Veränderung verhindert, kann als Verursacher des Zustands, zumindest dessen Fortbestands, angesehen werden. Wenn jemand verhindert hat, dass ich ein Bild von der Wand abnehme (hypothetische Veränderung), hat er dementsprechend verursacht, dass das Bild weiterhin an der Wand hängt (Zustand). Sowohl derjenige, der eine Veränderung in einen Zustand verursacht als auch derjenige, der eine Veränderung des Zustands verhindert, wird somit als Verursacher des Zustands angesehen. Doch genau genommen hat er nur die Veränderung verursacht oder verhindert, nicht auch das Fortdauern des Zustands. 87
Zur Unterscheidung von Ereignis, Prozess und Zustand: v. Wright (1979), S. 39 f. Diese Unterscheidung findet sich ebenfalls bei v. Wright, (1979), S. 41. Er arbeitet im Anschluss daran eine formalisierte Symbolsprache für mögliche Veränderungen aus, S. 20 – 46. Ihm ist insofern nicht zu folgen, als er auch eine Nichtveränderung als Veränderung (Transformation) auffasst. 89 Zur Anwendung des Begriffs Verursachen auf Handlungen vgl. bereits B.II.5. 90 Anders v. Wright (1979), S. 47 f., für den Handlungen keine Ereignisse sind, sondern Akte. Dies ist für ihn im Unterschied von Aktivität (Eingreifen) und Passivität (Geschehen, Erleiden) begründet. 91 Zum Beispiel das Meditieren, Strammstehen, Warten. Sofern Handlungen kontinuierliche Handlungsreihen bezeichnen, steht trotz ständiger Veränderung ebenfalls das Moment der Nichtveränderung im Vordergrund: gehen, laufen, nachdenken etc. 92 Zum Verursachen oder Verhindern fremden Handelns ausführlich unter C.V.3. / 4. 88
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B. Normentheorie
Wegen dieser Ungenauigkeit wäre es nachteilig, die Verursachungsnormen auf Nichtveränderungen zu beziehen. Es wäre möglich, weil die inhaltliche Negation des Verursachens mit der Negation der Veränderung gleichbedeutend ist. Das Verhindern einer Veränderung ist ein Verursachen einer Nichtveränderung. Genau besehen ist das jedoch nur insoweit zutreffend, als dass diese eine Veränderung verhindert ist. Entsprechend kann das Verursachen einer Veränderung als Verhindern einer Nichtveränderung beschrieben werden, Nichtveränderung wiederum nur im Hinblick auf diese bestimmte Veränderung, die verursacht ist. Diese Ausdrucksweise bringt keinen Gewinn. Durch die Einbeziehung des Verursachens und Verhinderns von Nichtveränderungen in das Normenmodell würde dieses lediglich spiegelbildlich und im Ergebnis identisch angelegt. 4. Der Begriff des Verursachens ist indifferent im Hinblick darauf, ob der Handelnde die Intention oder das Wissen hat, dass er verursacht. Dementsprechend sehen die hier definierten Verursachungsnormen von der Verursachungsintention ab. 93 Während sowohl die Befolgung als auch die Missachtung einer Verursachungsnorm ein intentionales und bewusstes Handeln voraussetzt, ist es weder im Hinblick auf die Normbefolgung noch die Normmissachtung zwingend erforderlich, dass der Handelnde gerade das Verursachen oder Unterlassen des Verursachens intendiert. 94 Im Gegensatz zu Verursachungsnormen bezeichnen Handlungsnormen oft ein Handeln, das als solches nur vorsätzlich denkbar ist. Ein Beispiel ist das generalisierte Handlungsverbot des Wilderns (§ 292 Abs. 1 StGB). 95 Das „Nachstellen“, „Fangen“ oder „Erlegen“ von Wild ist ein notwendig vorsätzliches Handeln. Demgegenüber gibt es objektivierte Handlungs- und Situationsmerkmale, die nicht vom Handlungsvorsatz umfasst sein müssen. Wenn jemand an einer roten Ampel weiterfährt, weil er diese nicht bemerkt hat, verstößt er trotz unvorsätzlichen Handelns gegen das Verbot weiterzufahren. Ein (fahrlässiger) Handlungsnormverstoß wird hier immer dann angenommen, wenn ein Kenntnisgebot postuliert werden kann, das sich auf das Wiedererkennen der Situationsmerkmale bezieht, die in der generalisierten Handlungsnorm bezeichnet sind („Wenn eine Ampel rot anzeigt ...“). 96 93 Für die strafrechtliche Normentheorie ebenso Binding (1890), S. 123 ff., (1914), S. 236 ff., 312. Dagegen ist Armin Kaufmann (1954), S. 102 ff., 110 ff. aufgrund der finalen Handlungslehre der Auffassung, dass Verursachungsverbote nur vorsätzliches Verursachen erfassen können. 94 Im Hinblick auf die Normbefolgung gilt: Ein unbewusstes gebotenes Verursachen ist schwerlich denkbar. Sollte es vorkommen, kann es dem Handelnden durchaus als Gebotserfüllung angerechnet werden. Verursachungsverbote werden andererseits in der Regel unbewusst befolgt, weil man in jedem Moment vieles Verbotene unterlässt. Insoweit könnte man den Begriff der Verbotsbefolgung allerdings enger fassen und auf bewusstes Unterlassen beschränken. 95 Dieses Beispiel bereits bei Welzel (1938), S. 499. 96 Vgl. oben B.IV.
V. Die Verursachungsnormen
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Den Vorsatz in den Inhalt der Verursachungsnorm aufzunehmen, wäre nicht nutzbringend. 97 Wenn das Verursachen verboten ist, ist die Frage des Verursachungsvorsatzes sekundär. 98 Sie ist vor allem für die Bewertung des Handelns relevant. Der Vorsatz allein kann auch die Verursachungsnormwidrigkeit und damit den deliktischen Charakter eines verursachenden Handelns nicht begründen. 99 Dieses muss vielmehr handlungsnormwidrig sein. 100 Im Hinblick auf Verursachungsverbote wird das bei gegebenem Verursachungsvorsatz die Regel sein, weil der vorsätzlich Handelnde sein Handeln an der gleichen Teleologie ausrichtet, die auch der Ableitung der Handlungsnormen zugrunde liegt. Diese haben indes genau den entgegengesetzten Zweck, den er selbst verfolgt. Das Erfordernis der Handlungsnormwidrigkeit des Verursachens absorbiert somit den Unterschied von Vorsatz und Fahrlässigkeit. Sowohl vorsatzdeliktisches als auch fahrlässiges Verursachen bzw. Nichtverursachen sind notwendig handlungsnormwidrig. 5. Verursachungsnormen explizieren die Zwecke der Handlungsnormen, die ihnen zugeordnet werden können. Der Zweck eines Verursachungsverbots und aller Handlungsnormen, die sich aus ihm ergeben, ist das Verhindern des Verursachens einer Veränderung. Der Zweck eines Verhinderungsgebots und aller sich aus ihm ergebenden Normen ist das Verursachen des Verhinderns einer Veränderung. Entsprechendes gilt für Verursachungsgebote und Verhinderungsverbote. Verursachungsnormen haben eine enge Verwandtschaft mit den Handlungszwecken selbst. Es wurde bereits gezeigt, dass Verursachungsnormen als Zweckprogramme (Zweckvorgaben) angesehen werden können. 101 Ein Handlungszweck an sich ist allerdings nicht als Norm interpretierbar. Zwar beinhaltet eine Zwecksetzung die Bewertung eines Zustands als positiv oder negativ. An dem Zweck richtet sich das Handeln wie an einer Verursachungsnorm aus, und der Zweck 97
In der Formulierung von Geboten ist es nicht möglich, den Unterschied von vorsätzlicher und bloß fahrlässiger Normmissachtung zu erfassen. Die Gebote bezeichnen nicht wie die Verbote das normwidrige Handeln, sondern das normgemäße. Deswegen müsste man Verursachungsgebote in Verbote des Nichtverursachens umformulieren, um den Unterschied von vorsätzlichem und fahrlässigem Nichtverursachen norminhaltlich erfassen zu können. 98 Das Recht kennt deshalb in der Regel eine Kategorie des fahrlässigen Verursachens von Schäden an Rechtsgütern (vgl. § 823 Abs. 1, 2 BGB, § 280 Abs. 1, § 276 Abs. 1 BGB). Wenn andererseits nur vorsätzliches Handeln verboten bzw. sanktioniert würde, würde sich die Norm von den Erkenntnisleistungen des Handelnden abhängig machen. Es bedeutete einen Verzicht auf Kenntnisgebote. 99 So aber Armin Kaufmann (1985), S. 258 ff. 100 Deshalb ist in Fällen eines erlaubten Risikos der Verursachungsvorsatz unschädlich. Der Schulfall hierzu ist der Erbonkelfall, in dem jemand seinen reichen Erbonkel auf eine Flugreise schickt, in der Hoffnung, dass das Flugzeug abstürzt, was auch geschieht. 101 Siehe unter B.II.9.
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B. Normentheorie
dient dessen Rechtfertigung. 102 Jedoch ist eine Norm strenger als eine einfache Zwecksetzung. Aus dieser folgt zunächst nur eine Bewertung des zweckdienlichen Handelns oder Unterlassens als positiv. Diese Bewertung kann relativiert werden. Der Zweck rechtfertigt die Mittel nur unter Vorbehalt. Diese müssen sich an anderen Zwecken, Werten und Normen messen lassen. 103 Zwecke können hinter anderen Zwecken, die zunächst bedient werden, zurückgestellt werden. Eine Norm hingegen ist, anders als eine Zweckvorgabe, nicht relativierbar. Sie gibt ein „binäres“ Schema von Normeinhaltung und Normverstoß vor. Für die hier getroffene Unterscheidung von Verursachungs- und Handlungsnormen ist auch die Relativität von Zwecken und Mitteln und die damit einhergehende Zweck-Mittel-Verschiebung relevant. 104 Mittel können selbst zu Zwecken werden, die zunächst erreicht werden müssen, um durch weiteres Handeln den übergeordneten Zweck zu erreichen. Dieser Umstand kann im Normenmodell konstruktiv auf zwei Arten berücksichtigt werden. Das Verursachen, das ein Mittel zum übergeordneten Zweck ist, kann entweder als Gegenstand einer weiteren, untergeordneten Verursachungsnorm oder einer Handlungsnorm aufgefasst werden. Die gegebenen Normen sind dann entweder in Ebenen von Verursachungsnormen hierarchisch oder als Abfolge von Handlungsnormen linear anzuordnen. Die erste Variante ist zu bevorzugen, wenn das bezeichnete Handeln im Hinblick auf den übergeordneten Zweck nicht unmittelbar verursachungsgeeignet ist und mit dem verursachungsgeeigneten Handeln nicht in einem engen Zusammenhang steht, wie im Fall von Geboten oder Verboten von Vorbereitungshandlungen. Die zweite Variante ist dagegen einfacher zu handhaben, wenn das Verursachen eines Zwischenerfolgs keine eigenständige Bedeutung hat, sondern als Teil einer Handlungsfolge zu sehen ist, die insgesamt unmittelbar verursachungsgeeignet ist.
2. Begriff und Kriterien der Zurechnung 1. Verursachungsnormen haben eine handlungsbestimmende Funktion. Der Handelnde soll das Verursachen entweder (im Fall des Gebots) versuchen oder 102 Zur Funktion von Zwecken Luhmann (1973), S. 43 ff., S. 44: „Die Zwecksetzung besagt, dass der Wert der bezweckten Wirkungen ungeachtet der Werte oder Unwerte der Nebenwirkungen bzw. der aufgegebenen Wirkungen anderer Handlungen das Handeln zu begründen vermag.“ Es geht beim Zweck-Mittel-Schema demnach nicht bloß um die Ordnung von Ursachen und Wirkungen, sondern um die Neutralisation von Nebenfolgen der gewählten Mittel, also die Legitimation der Handlung. Eine instruktive und ausführliche Auseinandersetzung mit Luhmann stammt von Obermeier (1988). 103 Der Zweck heiligt nicht die Mittel. Vgl. Kelsen (1979), S. 13 –15. 104 In Bezug auf Organisationszwecke: Luhmann (1973), S. 292 ff., Obermeier (1988), S. 123 ff.
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(im Fall des Verbots) möglichst vermeiden. Normen haben jedoch nicht nur die Bestimmungsfunktion in der Handlungssituation, sondern sind auch Bewertungsmaßstab für Beurteiler. 105 Wer nicht bestimmungsnormgemäß handelt, zieht den Vorwurf des Normverstoßes auf sich. Sein Handeln wird von einem Beurteiler als normwidrig (z. B. rechtswidrig oder schuldhaft) bewertet. Weil Verursachungsnormen, anders als Handlungsnormen, kein konkretes Handeln beschreiben, wird fraglich, wann eigentlich ein Verstoß gegen eine Verursachungsnorm gegeben ist. Diese Frage wird praktisch relevant, wenn an den Verstoß gegen sie eine besondere Sanktion anknüpft. Wenn ein Handelnder etwa die im Verbot bezeichnete Veränderung verursacht hat oder die im Gebot bezeichnete Veränderung nicht verursacht hat, muss ein Beurteiler entscheiden, ob darin ein Verstoß gegen die einschlägige Verursachungsnorm zu sehen ist. Die Annahme eines Verstoßes gegen eine Verursachungsnorm macht den Handelnden zugleich für den Eintritt bzw. Nichteintritt einer Veränderung verantwortlich. Die Veränderung bzw. deren Nichteintritt wird ihm angelastet oder angekreidet. Diese Operation heißt Zurechnung. Zurechnen bedeutet, jemanden verantwortlich zu machen für ein Handeln oder Unterlassen, für eine Veränderung oder deren Ausbleiben. Die Zurechnung von Veränderungen oder von deren Ausbleiben ist gleichbedeutend mit der Annahme eines Verursachungsnormverstoßes. Der Zurechnungsgegenstand ist somit zumeist eine gegebene, negativ zu wertende Veränderung (bzw. das Verursachen oder Nichtverhindern dieser Veränderung) oder das Ausbleiben einer positiv zu wertenden Veränderung. Das Zurechnungssubjekt, dem diese Veränderung oder ihr Ausbleiben zugerechnet wird, ist der Handelnde, der einer Norm unterworfen ist. In welchen Fällen dem Handelnden ein Geschehen anzulasten ist, bestimmt sich nach den Zurechnungskriterien. Man könnte versucht sein, als Grund oder Kriterium der Zurechnung ausschließlich tatsächliche Umstände anzugeben, wie die Kausalität des Handelns oder Unterlassens oder den Vorsatz des Handelnden. Zurechung ist aber nichts anderes als die Annahme eines Normverstoßes. Das erste und entscheidende Zurechnungskriterium und der Maßstab für die Beurteilung ist damit die Norm selbst. Ihr Inhalt gibt die weiteren Kriterien an, nach denen der Beurteiler über die Zurechnung zu entscheiden hat. Wenn ein Handelnder Verursachungsnormen unterworfen ist, ergibt sich die Antwort auf die Frage, wann die Verursachung oder Nichtverursachung zuzurechnen ist, aus dem Inhalt der Verursachungsnorm. 106
105
In diesem Sinn ist dieselbe Norm Bestimmungs- und Bewertungsnorm, siehe A.2. Die hier gegebene Interpretation der Zurechnung hat Ähnlichkeit mit derjenigen Kants (in den „Vorbegriffen“ der „Einleitung in die Metaphysik der Sitten“) sowie mit 106
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B. Normentheorie
2. Lautete eine Verursachungsnorm einfach auf das Verursachen, wäre klar, dass bei jedem Verursachen bzw. Nichtverursachen ein Normverstoß anzunehmen wäre. Denkbar wäre das. In gleicher Weise, wie man Handlungen zwecklos vorschreiben oder verbieten kann, kann man auch das Verursachen eines Erfolgs unbedingt gebieten oder verbieten, ohne Rücksicht auf die Möglichkeit bzw. Vermeidbarkeit der Verursachung. 107 So hat etwa Kelsen bemerkt: „Nun kann man ja das Postulat stellen, jede Norm solle nur gebieten, was kausal herbeizuführen in der Macht des Normsubjektes steht, oder verbieten, was zu verhindern das Normsubjekt imstande ist. Allein so gerecht diese Forderung sein mag, so vergesse man doch nicht, dass es eben nur ein ideales Postulat ist ...“ 108
Das Urteil von den Folgen der Handlung her erscheint zunächst als nahe liegend. In Bezug auf Handlungszwecke wird man häufig bei einem unverwindlichen Verlust oder dem Nichterlangen eines sehr Erwünschten weit zurückdenken und sich Vorwürfe machen, wenn man das auf eigenes Handeln zurückführen kann: Hätte ich jenes (nicht) getan, wäre dieses (nicht). Das im Nachhinein erlangte Wissen erlegt einem dann eine Reue auf, die in der Handlungsperspektive, wegen beschränkten Wissens oder Könnens, keine Rechtfertigung hat. Die Ödipus-Tragödie von Sophokles handelt von einem solchen Geschehen. Das Übel war nicht vorherzusehen, gleichwohl trifft den König Schuld und Strafe. In einer normativen Praxis, die den Anspruch zweckrationaler Legitimation erhebt, wird die Verursachungsnorm aber nicht als unbedingte konzipiert sein. Hier werden Handlungsnormen gelten, die ex ante bestimmen, was verboten und geboten ist und die dadurch die Reichweite der Verursachungsnorm begrenzen. Ein teleologisches System von Bestimmungsnormen ist dadurch gekennzeichnet, dass einerseits mit allen Handlungsnormen der Zweck verbunden werden kann, ein Verursachen zu motivieren bzw. zu verhindern und dass andererseits die Verursachungsnormen immer konkrete Handlungsnormen mit demselben Zweck in Bezug nehmen. Das wird für die Frage nach dem Verursachungsnormverstoß entscheidend. 3. Die Bezugnahme der Verursachungsnormen auf Handlungsnormen kann in der Formulierung der Verursachungsnorm zum Ausdruck gebracht werden. derjenigen, die Kelsen in den „Hauptproblemen der Staatsrechtslehre“ entwickelt hat. Vgl. insbesondere ders. (1911), S. 72, 73, 75. Dort ist Zurechnungsgegenstand sowohl die Sanktion („äußere Zurechnung“) als auch zugleich der „normwidrige Tatbestand“ („innere Zurechnung“), vgl. ders. (1911), S. 517 f. Freilich ist die Norm, die für Kelsen über die Zurechnung bestimmt, der Rechtssatz (quasi die Sanktionsnorm, vgl. ders. [1911] S. 190, 189 ff. [212], 525 – 527), nach dem hiesigen Konzept in erster Linie die Bestimmungsnorm (die Pflicht). Wegen des engen Zusammenhangs von Norm und Pflicht bei Kelsen (hierzu ders. [1911], S. 207, 348) stimmen die Konzepte aber letztlich überein, insbesondere in der Betonung des ausschließlich normenbestimmten Charakters der Zurechnung. 107 Zur historisch-soziologischen Perspektive Gephart (1997), S. 69 ff., 75 ff. und Luhmann (1965), S. 63 ff., (1980), S. 55 f. m.w. N. 108 Kelsen (1911), S. 73.
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Verboten ist demnach das Verursachen / Verhindern durch verbotenes Handeln, bzw. geboten ist das Verursachen / Verhindern durch gebotenes Handeln. In der Handlungsperspektive heißt das, dass dem Handelnden das Verursachen oder Verhindern nur nach Möglichkeit und nicht unbedingt geboten oder verboten ist. In der Beurteilungsperspektive muss aber, bei gegebener Verursachung oder Nichtverursachung, der Begründungszusammenhang zwischen einem eventuellen Handlungsnormverstoß und einer gegebenen Verursachung oder Nichtverursachung genauer expliziert werden. Das lässt sich schlecht noch in der Normformulierung zum Ausdruck bringen. Stattdessen können drei Regeln angegeben werden, die zur Voraussetzung der Annahme eines Verursachungsnormverstoßes gemacht werden können. Diese Regeln sind idealtypisch für eine normative Praxis, die den Anspruch zweckrationaler Rechtfertigung erhebt. Sie sind nicht normentheoretische Postulate, sondern sozusagen evolutionäre Errungenschaften, die nicht in jeder historisch gegebenen normativen Praxis vollständig ausgeprägt sein müssen. 4. Die erste, grundlegende Regel ist in der oben gegebenen Formulierung bereits enthalten. Verbotenes Verursachen oder gebotswidriges Nichtverursachen setzt die Missachtung von Handlungsnormen voraus, die in der Handlungssituation (ex ante) gegolten haben. Das verursachende Handeln muss als solches verboten sein, und das gebotswidrig unterlassene Verursachen setzt ein gebotswidrig unterlassenes Handeln voraus. Diese Regel verhindert eine rigorose Erfolgshaftung. Zum Fakt des Verursachens oder Nichtverursachens muss immer auch eine von vornherein gegebene Normwidrigkeit des verursachenden Handelns oder des Unterlassens hinzutreten. Die ex-ante-Geltung der Situationshandlungsnormen bedeutet vor allem, dass es sich um generalisierbare Normen handeln muss. Die Situationshandlungsnormen müssen entweder aus den generalisierten Handlungsnormen, die in der Situation einschlägig sind oder aus generellen oder konkreten Verursachungsnormen nach allgemeingültigen Maßstäben ableitbar sein. Zum Beispiel wäre es nicht zu rechtfertigen zu verbieten, einen anderen zu einer Autofahrt zu veranlassen, auch wenn sich herausstellt, dass bei dieser Fahrt ein Unfall passiert ist. Dieses Verbot wäre nicht generalisierbar, weil dann jede Veranlassung einer Autofahrt verboten werden müsste. 5. Mit der ersten Regel ist nicht sichergestellt, dass ein teleologischer Bezug der missachteten Handlungsnormen auf die fragliche Verursachungsnorm besteht. Deswegen verlangt eine zweite Regel, dass das Handeln gerade im Hinblick auf die fragliche Verursachungsnorm geboten oder verboten ist. Die missachteten Handlungsnormen müssen in dem oben beschriebenen Verhältnis der teleologischen Ableitung bzw. Zuordnung zur fraglichen Verursachungsnorm stehen. Das Verursachen oder Verhindern der bezeichneten Veränderung muss deshalb als der ex ante festzulegende Zweck der Norm gelten können. Das ist nur der Fall, wenn das Handeln in einem ex-ante-Urteil möglicherweise (gene-
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B. Normentheorie
rell) geeignet erscheint, die bezeichnete Veränderung zu verursachen oder zu verhindern und wenn es deshalb als verboten bzw. geboten anzusehen ist. 109 Die zweite Regel fordert somit, dass die postulierten Handlungsnormen selbst generell geeignet sind, die in der Verursachungsnorm bezeichnete Veränderung zu verursachen oder zu verhindern. Diese Regel wird praktisch relevant, wenn die missachteten Handlungsnormen aus generalisierten Handlungsnormen abgeleitet sind und wenn in einem Normensystem eine Vielzahl von generalisierten Handlungsnormen gelten, die verschiedenen Zwecken dienen. Die missachtete Handlungsnorm ist dann daraufhin zu untersuchen, welcher Zweck mit ihr (ex ante) verbunden werden und welche teleologische Erwägung sie rechtfertigen kann. So rechtfertigt sich ein generelles Handlungsverbot, das im Hinblick auf ein Verursachungsverbot besteht, dadurch, dass das verbotene Handeln mit erhöhter Wahrscheinlichkeit verursachungsgeeignet ist. Wenn zum Beispiel ein Handelnder unerlaubt ein fremdes Auto benutzt und dabei einen Unfall verursacht, kann allein auf das Verbot, mit dem fremden Auto zu fahren, die Erfolgszurechnung nicht gestützt werden. Das generelle Verbot, unerlaubt fremde Autos zu benutzen, flankiert das fremde Nutzungsrecht. Das verbotene Handeln begründet im Hinblick auf eine Unfallverursachung aber kein erhöhtes Risiko. Das Verbot ist deswegen nicht generell geeignet, Unfälle zu verhindern. 110 Wenn die Situationshandlungsnormen nicht aus generalisierten Handlungsnormen, sondern direkt teleologisch aus der Verursachungsnorm abgeleitet werden, wird es als selbstverständlich erscheinen, dass der Beurteilende nur Handlungsnormen postuliert, die generell geeignet sind, einen Erfolg dieser Art zu verursachen oder zu verhindern. Er muss seine eigene Normableitung unter Berufung auf Erfahrungssätze rechtfertigen und muss dem Handelnden, der in der Handlungssituation vor der gleichen Aufgabe der Ableitung der Handlungsnormen stand, sagen, dass er hätte wissen müssen, dass das gebotene oder verbotene Handeln den in der Verursachungsnorm bezeichneten Erfolg verursachen würde. Schließlich hat das Prinzip des ultra posse nemo obligatur seinen rechtfertigenden Grund darin, dass eine Norm, die Unmögliches verlangt, nicht generell geeignet ist, ein Handeln und damit auch ein Verursachen zu motivieren oder zu verhindern. 111 Hieraus wird die Einschränkung des Prinzips im Fall der Missachtung von gebotsakzessorischen Verboten oder von Kenntnisgeboten verständlich. 112 Weil auf andere, erfüllbare und damit geeignete Normen zurückgegriffen 109
Siehe ausführlich B.II.2. ff. Die Dogmengeschichte des Strafrechts kennt dagegen die Lehre vom versari in re illicita, der gemäß auf ein verbotenes Handeln alle sich daraus ergebenden Folgen zugerechnet werden können. Hierzu Degener (2001), S. 118 ff. 111 Vgl. Renzikowski (1997), S. 239 ff., 247 ff. m.w. N. 112 Siehe unter B.III.2.3. und B.IV.1. 110
V. Die Verursachungsnormen
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werden kann, wird eine Missachtung auch derjenigen Gebote angenommen, die in der konkreten Situation nicht mehr erfüllbar waren. 6. Während die zweite Regel den Nachweis erfordert, dass die geltenden Handlungsnormen generell geeignet sind, das Verursachen zu motivieren oder zu verhindern, geht es der dritten Regel um die konkrete Eignung der Handlungsnormen, das Verursachen zu verursachen oder zu verhindern. Das Urteil über die generelle Verursachungseignung eines Handelns genügt zwar, um die Geltung der Handlungsnormen zu rechtfertigen. Die Annahme eines Verstoßes gegen eine Verursachungsnorm kann aber am besten durch das Urteil über die konkrete Eignung der Handlungsnormen unterstützt werden. Die Zuschreibung von Verantwortlichkeit für eine Veränderung bzw. deren Ausbleiben ist dann am plausibelsten, wenn behauptet werden kann, dass die Prognose, welche die Geltung der Handlungsnormen ex ante rechtfertigt, sich ex post bestätigt hat. So stützt sich das Urteil über die generelle Eignung immer auf typische tatsächliche Umstände, welche die Eignung des Handelns und, davon abhängig, die Eignung der Norm begründen. Das Urteil über die konkrete Eignung setzt nun voraus, dass plausibel gemacht werden kann, dass genau derjenige tatsächliche Umstand, der die generelle Eignung begründet, auch im konkreten Fall entweder, wenn ein Verursachungsgebot gegeben ist, das Verursachen bedingt hätte oder im Fall eines Verursachungsverbots das Verursachen tatsächlich bedingt hat. Im Fall von Verursachungsverboten müsste demnach nachgewiesen werden, dass das Verursachen gerade auf dem Umstand beruht, der erfahrungsgemäß die erhöhte Gefährlichkeit des Handelns begründet und dessentwegen das Handeln generell verboten ist. Wenn etwa ein Betrunkener entgegen dem Verbot, im betrunkenen Zustand zu fahren, Auto fährt und dabei einen Unfall mitverursacht, müsste plausibel gemacht werden, dass die alkoholbedingt verminderte Reaktions- und Steuerungsfähigkeit, die das Handlungsverbot rechtfertigt, die Unfallverursachung bedingt hat. Im Fall von Handlungs- und Verursachungsgeboten muss dagegen nachgewiesen werden, dass das gebotene Handeln die Veränderung je nachdem verursacht bzw. verhindert hätte. Die Anwendung der dritten Regel ist nicht durchweg anerkannt. Deren Plausibilität ist in Bezug auf Verursachungsgebote hoch. Wenn die gebotenen Handlungen nicht verursacht hätten, kann das Verursachen schwerlich als geboten gelten. Das Prinzip des ultra posse nemo obligatur gilt deshalb auch für Verursachungsgebote. 113 In Bezug auf Verursachungsverbote ist die Anwendung dieser Regel schwieriger, weil die Frage beantwortet werden muss, warum ein Handelnder verursacht hat, obwohl durch die Tatsache des Verursachens die Beziehung des Handelnden zur Veränderung sozusagen handgreiflich gegeben ist. Hinzu kommt, dass die Kausalität von Einzelaspekten eines Handelns oft zweifelhaft sein kann. 113
Vgl. jedoch die unter C.III.3.3. erörterte Auffassung.
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B. Normentheorie
Die Anwendung der Regel erfordert eine hypothetische Erwägung und ein prognostisches Urteil ex post: „Was wäre bei Gebotsbefolgung passiert?“ bzw. „Was wäre ohne den Umstand geschehen, der das Handlungsverbot begründet?“ Dieses Urteil kann sich selbstverständlich nur auf das verfügbare Wissen um alle im Nachhinein bekannten Umstände und auf die einschlägigen Erfahrungsregeln stützen. Erkenntnissicherheit wird bei prognostischen Annahmen auch ex post nicht immer bestehen. Der hier bestehende Zweifel kann entweder zu Lasten des Normunterworfenen gelöst werden, wenn man es unter Modifizierung der dritten Regel ausreichen lässt, dass die Norm möglicherweise geeignet wäre, oder zu seinen Gunsten, indem man den plausiblen und relativ sicheren Nachweis einfordert, dass die Norm mit Sicherheit konkret geeignet war. 114 7. Somit gibt es drei Zurechnungsregeln, die sich auf die teleologische Verknüpfung einer Verursachungsnorm mit Handlungsnormen beziehen. Die Frage, ob ein Verstoß gegen eine Verursachungsnorm vorliegt, entscheidet sich unter der Voraussetzung eines teleologisch angelegten Normensystems danach, − ob eine Handlungsnorm postulierbar ist, die der Handelnde nicht beachtet hat, insbesondere, ob die angenommene Handlungsnorm generalisierbar ist, − ob das gebotene oder verbotene Handeln generell geeignet war, die in der Verursachungsnorm bezeichnete Veränderung zu verursachen oder zu verhindern (Eignung ex ante, generelle Eignung des Handelns und der Norm), − ob sich die generelle Eignung des gebotenen oder verbotenen Handelns auch unter den konkreten Umständen (im Fall eines Verbots) bestätigt hat oder (im Fall eines Gebots) bestätigt hätte (Eignung ex post, konkrete Eignung des Handelns und der Norm). Eine weitere Zurechnungsproblematik stellt sich mit der Frage, inwieweit das Handeln (inbegriffen das Unterlassen) anderer Handelnder die Zurechnung ausschließt. 115 Im Hinblick auf das Verursachen des Handelns eines anderen gibt es die Regel, dass das voll verantwortliche normwidrige Handeln eines anderen die Zurechnung grundsätzlich ausschließt. Die Zurechnung fremden Handelns und Verursachens oder Nichtverursachens muss sich deshalb durch besondere Gründe rechtfertigen, zum Beispiel bei der mittelbaren Täterschaft durch „Defekte“ des Handelnden, die ein voll verantwortliches Handeln ausschließen. 8. Die erste Zurechnungsregel setzt im Hinblick auf Verursachungsverbote voraus, dass das verursachende Handeln verboten ist. Aus der zweiten Zurechnungsregel folgt, dass das verbotene Handeln als solches frei (anders möglich)
114 Die ausführliche Diskussion der Zurechnungsregel unter dogmatischem Gesichtspunkt folgt unter C.V.1.b). 115 Insoweit ist es nützlich, Verursachungsketten und entsprechend erweitere Verursachungsnormen zu explizieren, siehe unter C.V.3.3.
V. Die Verursachungsnormen
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sein muss. 116 Eine Norm, die sich auf ein nicht steuerbares und vermeidbares Geschehen richtete, wäre nicht geeignet, das Verursachen zu verhindern. Deshalb gilt das Prinzip des ultra posse auch für Handlungsverbote. Bei einfachen, absichtlich verursachenden Handlungen stellt sich diesbezüglich kein Problem: A zieht den Abzug der Pistole, die auf B gerichtet ist, und B wird getroffen. Bis zum Auslösen des physischen Kausalgeschehens hatte A die Situation im Griff. Er hat frei entschieden. Jedoch verhält es sich bei nicht intentionalem Verursachen oft anders. Wenn ein Autofahrer in eine gefährliche Kurve hineinrast, so dass er auf die Gegenfahrbahn geschleudert wird und dort mit einem anderen Auto kollidiert, ist das Geschleudertwerden und das Zusammenstoßen mit dem anderen Auto keine Handlung, obwohl der Fahrer noch gleichzeitig handeln kann, etwa schreien oder bremsen. Den Zusammenstoß aber erleidet er, wie der entgegenkommende Fahrer auch. Das Problem taucht somit für die Strafrechtsdogmatik beim fahrlässigen Verursachen auf. Im Moment der akuten Gefahr ist der Handelnde oft nicht mehr in der Lage, das Verursachen zu vermeiden. Das Auto war zu schnell, um es noch abzubremsen. Der Handelnde hatte keine Alternative, weil er die unsorgfältige Handlung gewählt oder verpasst hat zu vermeiden. Das Risiko der unsorgfältigen Handlung kann sich verwirklichen, ohne dass er mehr gegensteuern kann. Die Verursachung beweist geradezu den Verlust der Steuerungsfähigkeit im entscheidenden Moment. Gleichwohl wird die Wirkung dem Fahrer als verursachte zugerechnet. Im Hinblick auf diese Besonderheit unterscheiden einige Autoren in der Folge von Hruschka zwischen ordentlicher und außerordentlicher Zurechnung. 117 Ordentliche Zurechnung sei bei vorsätzlicher Verursachung möglich, weil die Verursachung eine freie Entscheidung des Handelnden ist (früher: actio libera in se). Bei fahrlässiger Verursachung habe man es deshalb mit einem Fall außerordentlicher, ausnahmsweiser Zurechnung zu tun (actio libera in causa). Aus der hier entwickelten Perspektive stellt sich dieses Problem und die Notwendigkeit der Unterscheidung von ordentlicher und außerordentlicher Zurechnung jedenfalls im Hinblick auf Verursachungsverbote nicht. Nicht mehr steuerbare Vorgänge als verursacht zu beschreiben, ist dann gerechtfertigt, wenn sie auf ein Handeln zurückgehen, das frei und vermeidbar war. Im Beispielsfall hat ein freies Handeln des Fahrers, das Angehen der Kurve mit zu hoher Geschwindigkeit, zu einem Vorgang geführt, in dem das Auto zum Spielball unbeherrschbarer Kräfte wurde. Das verursachende Handeln liegt nicht in dem nicht mehr steuerbaren Vorgang, sondern in dem vorhergehenden, noch vermeidbaren zu schnellen Fahren. Nur dieses Handeln ist das Verursachen, welches das Verursachungsverbot verbietet, auch wenn es sich erst im Nachhinein als Verursachen herausstellt. 116 Zum hier vorausgesetzten, anspruchslosen Begriff der Freiheit des Handelns C.II.3. 117 Hruschka (1984), Joerden (1988), S. 16 ff., Kindhäuser (1989), S. 120 ff., Toepel (1992), S. 20 ff., 39 ff., Vogel (1993), S. 57 ff., Renzikowski (1997), S. 219 ff., Biewald (2003). Darstellung und Kritik bei Haas (2002), S. 28 ff., Hübner (2004), S. 106 ff.
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B. Normentheorie
Die hier angesprochene Konstellation hat ihre spiegelbildliche Entsprechung im Bereich der Handlungs- und Verursachungsgebote. Dort kommt es ebenfalls vor, dass der Handelnde fahrlässig die Chance verpasst, die in einem Gebot bezeichnete Veränderung zu verursachen oder zu verhindern. Das Nichtverursachen beruht dann ebenfalls nicht auf einer bewussten Entscheidung des Handelnden. Auch wenn dieser keine weitere Möglichkeit mehr hatte zu verursachen, wird ihm gerade das Unterlassen des gebotenen Handelns als Unterlassen des Verursachens zugerechnet. Handelte er unbewusst fahrlässig, rechtfertigt sich die Annahme eines Gebotsverstoßes aus der Missachtung von Kenntnisgeboten, nahm er sich selbst die Möglichkeit, das Gebot zu befolgen, rechtfertigt sie sich aus der Missachtung akzessorischer Verbote. 118 In Bezug auf Verursachungsverbote bedarf es dieser „außerordentlichen Zurechnung“ jedoch nicht. Der Handelnde handelt bereits in dem Moment verboten, in dem er sich die Handlungsfähigkeit nimmt, und dieses Handeln ist verursachungsgeeignet.
3. Die strafrechtliche Zurechnungslehre 1. Die Frage nach dem Verursachungsnormverstoß ist eines der Grundprobleme der Strafrechtslehre. Es wird in neuerer Zeit ebenfalls unter dem Begriff der Zurechnung des tatbestandlichen Erfolgs abgehandelt. Die Zurechnung eines Erfolgs bedeutet auch hier nichts anderes, als dass ein Verstoß gegen eine Verursachungsnorm angenommen wird, entweder gegen ein Verbot, den tatbestandlichen Erfolg zu verursachen oder gegen ein Gebot, ihn zu verhindern. Dem Handelnden wird mit der Annahme eines Verursachungsnormverstoßes auch der Erfolg zugerechnet. Der Inhalt der Verursachungsnormen ist deshalb für die Frage der Zurechnung maßgeblich. Weil sich die Verursachungsnormen teleologisch notwendig auf konkrete Handlungsnormen beziehen, ist für einen Beurteiler entscheidend, welche Handlungsnormen für die Situation zu postulieren sind und ob auf deren Missachtung die Annahme eines Verursachungsnormverstoßes gegründet werden kann. Dieser Interpretation der Verursachungsnormen, die deren Verknüpfung mit Handlungsnormen betont, stehen in der Strafrechtsdogmatik alternative Konzeptionen des Inhalts der Verursachungsnormen gegenüber. Oftmals wird diese Frage aber nur implizit beantwortet, indem bestimmte Definitionen verwendet und Dispositionen der Straftatsystematik getroffen werden. Die diesbezügliche Entwicklung des Straftatsystems wird sogleich dargestellt. Ein explizites normentheoretisches Konzept, das von dem hier entwickelten abweicht, vertritt Kindhäuser. 119 Er unterscheidet die unbedingt geltende „Norm“, 118
Siehe bereits unter B.V.2.5. Kindhäuser (1989), S. 13, 18, 29 ff., 35, 40f., 53 –62. Ihm folgend Vogel (1993), S. 23 f., 49 ff. und Toepel (1992), S. 16 ff. Darstellung und Kritik bei Renzikowski (1997), 119
V. Die Verursachungsnormen
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die bei erfolgsbezogenen Begehungsdelikten ein Verursachungsverbot ist 120 und die „Pflicht“, die als situationsbezogene Handlungsnorm zu verstehen ist. Jede Verursachung eines tatbestandlichen Erfolgs wird zunächst als Normwidrigkeit angesehen. Die Frage, ob diese normwidrige Erfolgsverursachung zugerechnet wird, entscheidet sich aber erst daran, ob das Handeln auch pflichtwidrig war. Anders als im hier entwickelten Konzept, das bereits in der oben explizierten ersten Zurechnungsregel den Bezug auf die Handlungsnormen herstellt, ist somit die Pflichtwidrigkeit nicht Voraussetzung der Normwidrigkeit. Der Zurechnungsgegenstand ist in dieser Konzeption nicht der tatbestandliche Erfolg bzw. dessen Verursachung oder Nichtverhinderung als solche, sondern der bereits als gegeben angenommene Normverstoß. Die Pflichtwidrigkeit ist ein Zurechnungskriterium. Gegen diese Konzeption spricht, dass die Verursachungsnorm ihren streng normativen Charakter verliert. Verstöße gegen sie müssten immer schon als normal einkalkuliert und toleriert werden. Die Einhaltung der Verursachungsnorm wäre in einigen Fällen für den Handelnden unerreichbar. Doch auch für den Beurteiler wäre die Frage nach der Normwidrigkeit des Handelns ohne Interesse, weil die Strafbarkeit neben dem Fakt des Verursachens nur die Pflichtwidrigkeit voraussetzt. 2. Während Kindhäuser die Pflichten (Handlungsnormen) als Unrechtsbestandteil konstruiert und somit mit dem modernen Unrechtsbegriff übereinstimmt, ging die Entwicklung der strafrechtlichen Unrechtslehre im 20. Jahrhundert von der Konzeption eines objektiven Unrechts aus. 121 Mit dem heute als klassisch bezeichneten Straftatsystem wurden die Verursachungsverbote als objektiv und unbedingt konzipiert. 122 Die Verursachung eines tatbestandlichen Erfolgs galt als notwendig rechts- und somit normwidrig. Die Frage der Vermeidbarkeit der Verursachung wurde als subjektiver Aspekt der Tat erst auf der Stufe der Schuld behandelt. 123 Dieser Systembildung war eine berühmte Kontroverse zwischen Adolf Merkel und Rudolph v. Jhering im Jahr 1867 vorausgegangen. 124 Merkel war der Auffassung, dass der Unrechtsbegriff eine zurechenbare Pflichtverletzung voraussetze und dass deshalb Unrecht, Zurechnung und Schuld nicht zu trennen sind: „Als eine Verneinung des Rechts nun schließt das Unrecht ... das Merkmal der Zurechenbarkeit in sich ein ... Das Recht läßt sich bezeichnen als ein Inbegriff von S. 255 ff. und Haas (2002), S. 105 ff. Zur Unterscheidung von Norm und Pflicht schon unter B.I.7. 120 Vogel (1993), S. 50 f. 121 Wichtige Darstellungen zur strafrechtlichen Unrechtslehre: Mezger (1924), S. 208 – 239, Zielinski (1973), S. 17 – 56. 122 v. Liszt (1900), § 32 I 1. 123 v. Liszt (1900), § 42 II. 124 Darstellung bei Koriath (1994), S. 260 ff., Pawlik (2007), S. 137 ff., 144 ff.
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B. Normentheorie Geboten und Verboten rechtlichen Charakters, das Unrecht also als eine Verletzung solcher Gebote und Verbote ... Den Rechtsanforderungen entsprechen ... Rechtspflichten desselben Inhalts bei Denjenigen, an die sie gerichtet sind. Pflichten bestehen aber überall nur für den zurechnungsfähigen Menschen und bemessen sich nach dem Umfang seiner Fähigkeiten. Es gibt keine Pflicht, das für den Menschen Unmögliche zu bewirken, das Unvermeidliche vorherzusehen und zu vermeiden. Folglich kann in solchem Nichtvorhersehen und Nichtvermeiden keine Verletzung von Pflichten und somit keine Rechtsverletzung liegen.“ 125
Jhering führte dann für das Zivilrecht die Trennung von Unrecht und Schuld ein, indem er, auf die Position des gutgläubigen unberechtigten Besitzers verweisend, unverschuldetes Unrecht nachwies. Damit ist zunächst nur bewiesen, dass Zustände als rechtswidrig angesehen werden können, obwohl sie unverschuldet begründet wurden. Die Annahme rechtswidrigen, aber schuldlosen Handelns ist ein weiterer Schritt. Ihr verhalf für das Strafrecht die kausale Handlungslehre, der gemäß Handeln bloß Verursachen oder Unterlassen des Verhinderns sei, zum zeitweiligen Durchbruch. Das (kausale) Handeln ist das Unrecht. Vorsatz und Fahrlässigkeit sind Schuldbestandteil. Franz v. Liszt schrieb: „Das Verbrechen ist als Unrecht ... rechtswidrig, d. h. formell die Übertretung einer staatlichen Norm, eines Gebotes oder Verbotes der Rechtsordnung, materiell ein Angriff auf die durch die staatlichen Normen rechtlich geschützten Interessen ... Und zwar ist die Verursachung der Verletzung stets, ihre Nichthinderung nur unter der Voraussetzung rechtswidrig, dass eine Rechtspflicht zur Hinderung besteht.“ 126
Mit dem „unechten“ Unterlassungsdelikt brach also schon die Pflichtenkategorie in das objektive Unrecht ein. Merkels Sichtweise schloss sich andererseits für das Strafrecht Binding an, der 1872 ausführte: „Eine normwidrige Handlung muss vorsätzlich oder fahrlässig sein; es gibt nur verschuldetes und kein unverschuldetes Unrecht. Was man objektives Unrecht nennt, ist reiner Zufall.“ 127 Die bis dahin vorausgesetzte psychologische Schuldtheorie wurde 1907 mit Verweis auf den entschuldigenden Notstand, der langsam Anerkennung fand, von Reinhard v. Frank kritisiert und durch den heute herrschenden normativen Schuldbegriff (Schuld als Vorwerfbarkeit) ersetzt. 128 Noch gehörten aber Vorsatz und Fahrlässigkeit ausschließlich der Schuld zu, was eine objektiv verstandene Rechtswidrigkeit voraussetzt, wenn man diese von der Schuld trennt. Der letzte große Versuch der theoretischen Begründung des objektiven Unrechts stammt
125 126 127 128
Merkel (1867 a), S. 42 ff. Vgl. auch Merkel (1912), S. 80 ff. v. Liszt (1900), § 32 I 1. Vgl. auch C.VI.2. Binding (1890), S. 244. Hierzu Pawlik (2007), S. 146 f. Hierzu Roxin (2006), AT I § 19/11 ff.
V. Die Verursachungsnormen
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von Edmund Mezger, der hierzu die Unterscheidung von objektiven Bewertungsnormen und subjektiven Bestimmungsnormen einführte. 129 3. Der Angriff auf die objektive Unrechtslehre erfolgte von zwei Seiten, einerseits von Seiten der Vorsatzdogmatik und des Handlungsbegriffs und andererseits von Seiten der Fahrlässigkeitsdogmatik. Den ersten Angriffspunkt lieferte die Entdeckung „subjektiver Unrechtselemente“ vieler Delikte bei Handlungen, die eine Zweckverfolgung implizieren. 130 Die Überlegungen von Seiten der Fahrlässigkeitsdogmatik datieren allerdings früher. Nachdem die Adäquanztheorie versucht hatte, den Verursachungsverboten einen wertenden Verursachungsbegriff unterzuschieben, 131 gelangte Max Ludwig Müller zu normativen Zurechnungskriterien. Er verlagerte die Pflichtwidrigkeit wieder ins Unrecht und erkannte somit die entscheidende Rolle von Handlungsnormen zur Unrechtsbegründung: 132 „Objektiv rechtsnormwidrig kann sich ein Mensch nur verhalten durch Unterlassung einer Handlung, deren Vornahme, oder durch Vornahme einer Handlung, deren Unterlassung zu dem ihm in einer Rechtsnorm gesetzten Zweck (einen Erfolg gewisser Art zu verursachen oder nicht zu verursachen) gleichzeitig vom Standpunkt abstrakt menschlicher Erkenntnis erforderlich erscheint.“
Die nächste wichtige Station ist ein klassischer Aufsatz von Richard Honig, der zusammen mit Karl Larenz den Begriff der „objektiven Zurechnung“ in die Dogmatik einführt: „Infolgedessen können Gebote die Bewirkung eines vom Gesetzgeber erwünschten, Verbote die Vermeidung eines dem Gesetzgeber unerwünschten Erfolges nur insoweit fordern, als deren Bewirkung bzw. Vermeidung dem in der vom Gesetzgeber vorausgesetzten Situation Stehenden möglich ist, den er also voraussehen und denn auch bewirken bzw. vermeiden konnte. Demnach gelangen wir, auch vom Standpunkt der Rechtssatzinhalte aus, zu dem Ergebnis, dass das für den Erfolg kausale menschliche Verhalten rechtserheblich nur dann ist, wenn es im Hinblick auf die Bewirkung bzw. Vermeidung des Erfolges als zweckhaft gesetzt gedacht werden kann.“ 133
129
Mezger (1924). Vgl. schon unter A.2. Vgl. Mezger (1924), S. 259 ff., Welzel (1935), S. 78, 82 f., (1938), S. 492 f., 507 f. 131 Ihr Begründer ist v. Kries. Die wichtigste Kritik ist Radbruch (1902). Darstellung und Kritik der Lehre bei Koriath (1994), S. 470 ff., (2007), S. 37 ff., Hübner (2004), S. 126 ff. 132 Müller (1912), S. 28. Den Gedanken nimmt Engisch (1931), S. 52 f. explizit auf. Darstellung der Lehre Müllers bei Hübner (2004), S. 131 ff. 133 Honig (1930), S. 187 ff. Darstellung der Lehren, die mit dem Kriterium der objektiven Bezweckbarkeit arbeiten und somit eine „voluntative Zurechnungslehre“ aufbauen bei Hübner (2004), S. 46 ff. 130
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B. Normentheorie
Etwa zeitgleich hat auch Karl Engisch den gleichen Gedanken formuliert und die objektiv erforderliche Sorgfalt zum Inhalt der Verhaltensnorm und somit zum Kriterium der Rechtswidrigkeit des Handelns gemacht: „Rechtsnormwidrig verhält sich ein Mensch nur dann, wenn er ‚die objektiv erforderliche Sorgfalt‘ zur Vermeidung des von ihm zu vermeidenden Erfolges außer Acht lässt. Erforderliche Sorgfalt in diesem Sinne ist aber nur die Unterlassung solcher Handlungen, die nicht unwahrscheinlich jenen Erfolg nach sich ziehen bzw. die Vornahme solcher Handlungen, die in einer Situation, in der der Erfolg mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist, geeignet sind, diesen abzuwenden ... 1. Für die Generalisierung des Erfolges ist davon auszugehen, dass das Verbrechensmerkmal der Rechtsnormwidrigkeit (in dem die Adäquanz beschlossen liegt) die Verletzung derjenigen Rechtsnorm bedeuten muss, die dem gesetzlichen Tatbestand entspricht, unter den das spezielle strafbare Verhalten fallen soll. Die Rechtsnorm kann aber auf nichts anderes lauten als auf die Vermeidung des Erfolges, der im Tatbestand als schädlich namhaft gemacht ist, also auf die Vermeidung des tatbestandlichen Erfolges ... 2. Die Rechtsnorm kann die Vermeidung des tatbestandlichen Erfolges nur nach Maßgabe derjenigen tatsächlichen Situation verlangen, die im Zeitpunkt und am Ort des Handelns oder Handelnsollens (als zum mindesten nicht unwahrscheinlich gegeben) bekannt bzw. erkennbar ist ... 3. Der Maßstab der Beurteilung, ob auf Grund der Basis Adäquanz des Verhaltens mit Bezug auf den tatbestandlichen Erfolg anzunehmen ist, muss das ‚nomologische Höchstwissen‘ (einschließlich eines besonderen theoretischen Wissens des Täters selbst) abgeben.“ 134
Damit war eine stärkere Betonung der Handlungsnormen erreicht und zugleich die im Wesentlichen bis heute gültigen Kriterien für die teleologische Ableitung der Handlungsnormen und für die Verbindung von Handlungs- und Verursachungsnorm begründet. Engisch formuliert zum Beispiel das Verbot der Tötung wie folgt: „Nimm keine Handlungen vor, die sich als adäquate Bedingungen für den Eintritt des Todes eines Menschen darstellen!“ 135 oder: „Wende die nach den konkreten Umständen objektiv erforderliche Sorgfalt zur Vermeidung von Tötungen an!“ 136 Das sind allerdings Handlungsnormen. Transformiert in ein Verursachungsverbot, lautet die Norm: Verboten ist das Verursachen durch eine objektiv sorgfaltswidrige („adäquate“) Handlung.
134 Engisch (1931), S. 53 ff. Vgl. auch Engisch (1930), S. 277 ff., 283 ff., 343 f., (1931), S. 53 ff., (1939), S. 415, 419 ff., insbesondere (1960), S. 415 ff. Darstellung bei Hübner (2004), S. 141 ff. 135 (1960), S. 417. 136 (1961), S. 102.
V. Die Verursachungsnormen
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4. Zustimmung fand Engisch bei Welzel, der großen Einfluss auf den heutigen Theoriestand gewann. 137 Er entwickelte von 1931 an die „finale Handlungslehre“ und begründete damit eine „personale Unrechtslehre“ und die heute geläufige Unterscheidung von Handlungs- und Erfolgsunwert. 138 Diese Theorie greift den objektiven Unrechtsbegriff, ausgehend von den subjektiven Unrechtselementen, vor allem von Seiten des Vorsatzdelikts an: „Nicht die von der Täterperson inhaltlich abgelöste Erfolgsverursachung (Rechtsgüterverletzung) erschöpft das Unrecht, sondern rechtswidrig ist die Handlung nur als Werk eines bestimmten Täters: Welche Zielsetzung er der objektiven Tat zwecktätig gegeben, aus welcher Einstellung heraus er sie begangen hat, welche Pflichten ihm dabei oblagen, all das bestimmt maßgeblich das Unrecht der Tat neben der etwaigen Rechtsgüterverletzung. Rechtswidrigkeit ist immer die Missbilligung einer auf einen bestimmten Täter bezogenen Tat. Unrecht ist täterbezogenes, ‚personales‘ Handlungsunrecht.“ 139
Somit ist ebenfalls die Pflichtwidrigkeit Voraussetzung des Unrechts, also auch des Verursachungsnormverstoßes. Dass Welzel über Engisch hinausgeht, ist vor allem in seinem Handlungsbegriff begründet. Der Unrechtsbegriff ist insofern vom Handlungsbegriff abhängig, als die Normen auf Handlungen bezogen sind. 140 Wenn die kausale Handlungslehre die bloße Verursachung als Handlung kennzeichnete, kann auch diese bloße Verursachung Gegenstand des Verbots sein. 141 Welzels finale Handlungslehre hatte hingegen zur Konsequenz, auch die finale Steuerung der Handlung (Vorsatz) bzw. die „potentielle Finalität“ und „Vermeidbarkeit“ schon in den Geboten und Verboten von „Handlungen“, also in der Rechtswidrigkeit, zu berücksichtigen. 142 Diese Verschiebung ließ für die Schuld als subjektives Kriterium nur noch übrig, was Welzel als Wertentscheidung zu Gunsten des niederen Werts kennzeichnete. Das ist das Unrechtsbewusstsein sowie die Fähigkeit und Zumutbarkeit, sich danach zu richten. 143 Die Unterscheidung von Handlungs- und Erfolgsunwert ist mit der hier entwickelten Unterscheidung von Handlungs- und Verursachungsnormwidrigkeit nicht deckungsgleich. So mag man, namentlich in den Fällen des § 1004 BGB, von Erfolgsunrecht bei fehlendem Handlungsunrecht sprechen, soweit die Beeinträchtigung eines Rechtsobjekts eine Beseitigungspflicht anderer begründet. 144 137 Welzel (1961), S. 8 f., (1969), S. 128 f., S. 59 ff., 62. Darstellung bei Hübner (2004), S. 73 ff. 138 Zentral Welzel (1938), S. 506 ff. 139 Welzel (1969), S. 62. Zur ausführlichen Begründung Welzel (1935), S. 83 ff. 140 Vgl. auch Armin Kaufmann (1982), S. 30 ff. 141 Zu den Handlungslehren v. Liszts und Engischs vgl. C.VI.3. / 6. 142 Die Fahrlässigkeit bereitete dieser Theorie ein besonderes Erklärungsproblem. Vgl. etwa Welzel (1935), S. 81 f. 143 Welzel (1935), S. 79 f. Kritisch Koriath (1994), S. 296 ff. 144 Auch sonst setzt das Zivilrecht einen objektiven Unrechtsbegriff voraus, gerade auch bei der Verschuldenshaftung (§ 823 Abs. 1 und § 280 Abs. 1 BGB) – wohl aus dem
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B. Normentheorie
Ausgeschlossen ist aber, einen Verursachungs- ohne einen Handlungsnormverstoß anzunehmen. Weiterhin entspricht der Begriff des Verursachens, den die Verursachungsnormen verwenden, dem Handlungsbegriff der kausalen Handlungslehre. Eine Einschränkung auf Handlungen, die im Hinblick auf den Erfolg final sind, ist nicht angebracht. 145 Der Begriff der Handlung, der für die Identifizierung von Handlungsnormen verwendet wird, bezieht hingegen den Erfolg, dessen Verhinderung deren Zweck ist, anders als Welzels Begriff, gerade nicht mit ein. 146 Zielinski, ein Vertreter der finalen Handlungslehre, hat die aufgezeigte Entwicklung, die Handlungsnormwidrigkeit zur Voraussetzung des Unrechts zu nehmen, radikalisiert, erkennt ausschließlich noch die Handlungsnormen an und verabschiedet das „Verursachungsunrecht“ gänzlich: „Das Unrecht der Unterlassungsdelikte ist dem der Begehungsdelikte völlig entsprechend strukturiert: wie dieses ausschließlich in der Begehung einer finalen Handlung mit Rechtsgutsverletzungstendenz liegt, so besteht jenes allein in der Unterlassung einer finalen Handlung mit Rechtsgutsrettungstendenz. Für beide Unrechtsformen ist der Erfolg bedeutungslos. Er unterscheidet lediglich den Versuch von der Vollendung und ist insofern Bestrafungsvoraussetzung beim nicht-strafbedrohten Versuchsunrecht.“ 147
Die Konsequenz ist, dass keine Verursachungsnormen angenommen werden könnten. Dagegen argumentiert zutreffend Roxin: „Einer solchen Verbannung des Erfolges aus dem Unrecht ist jedoch zu widersprechen. Der Satz, dass nur Handlungen und nicht auch Erfolge verboten werden können, ist nur insoweit richtig, als Erfolge sich nicht unabhängig von menschlichen Handlungen und auch nicht als deren zufällig-unberechenbare Auswirkungen verbieten lassen. Es ist sinnlos, Naturereignisse oder unvermeidbare Zufälle verbieten zu wollen. Es gibt also im Strafrecht kein Erfolgsunrecht ohne Handlungsunrecht. Sehr wohl aber lassen sich Erfolge verbieten, die sich als planmäßige Verwirklichungen strafbarer Handlungen oder als adäquate Folge von Sorgfaltswidrigkeiten einstellen.“ 148
5. Roxin ist auch die nächste Station der Theoriegeschichte. Er ist der Begründer der Lehre von der objektiven Zurechnung, wie sie heute verbreitet ist. Diese Lehre ist eher an Problemen des fahrlässigen Delikts entwickelt. Auch sie beruht auf der Annahme, dass die Pflichtwidrigkeit Voraussetzung des Verursachungsnormverstoßes ist: Grund, dass aus der Perspektive des Anspruchsinhabers beurteilt wird. Zunächst wird die Nichterfüllung eines Anspruchs („objektiv“) festgestellt. Letztlich wird aber auch hier niemand ultra posse verpflichtet (§§ 275 Abs. 1, 276 Abs. 1 BGB). 145 Siehe B.V.1.4. 146 Siehe B.II.1, C.II.3. Zu Welzels Handlungsbegriff unter C.VI.4. 147 Zielinski (1973), S. 199. Zuvor schon Hold von Ferneck, Engisch (1930), S. 340 ff., Zippelius (1953/1954). Weiterhin Frisch (1988), S. 510 f., Renzikowski (1997), S. 5, 132 f. 148 Roxin (2006), AT I, § 10/96 ff. Weiterhin Stratenwerth (1975), S. 182 ff., Fr.-Chr. Schroeder (2007), S. 174 ff.
V. Die Verursachungsnormen
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„Doch setzt sich in der Wissenschaft immer mehr die Auffassung durch, dass die Zurechnung zum objektiven Tatbestand nach zwei aufeinander aufbauenden Prinzipien erfolgt: a) Ein vom Handelnden verursachter Erfolg ist dem objektiven Tatbestand nur dann zuzurechnen, wenn das Verhalten des Täters eine nicht durch ein erlaubtes Risiko gedeckte Gefahr für das Handlungsobjekt geschaffen und diese Gefahr sich auch im konkreten Erfolg verwirklicht hat ... b) Wenn sich der Erfolg als Realisierung einer vom Täter geschaffenen Gefahr darstellt, ist er im Regelfall zurechenbar, so dass der objektive Tatbestand erfüllt ist. Ausnahmsweise kann aber die Zurechnung dennoch entfallen, wenn die Reichweite des Tatbestandes nicht die Verhinderung derartiger Gefahren und ihre Auswirkungen erfasst.“ 149
Unter (a) wird das Erfordernis der Handlungsnormwidrigkeit aufgestellt („unerlaubte Gefahr“), das somit explizit Grundlage der fahrlässigen und vorsätzlichen Begehungsdelikte ist. Anschließend werden (b) die teleologischen Kriterien angesprochen, unter denen aufgrund des Handlungsnormverstoßes ein Verursachungsnormverstoß angenommen werden darf. Der Begriff der Zurechnung hat somit im heutigen Straftatsystem einen festen Platz gefunden. Im Vergleich mit der hier entwickelten normentheoretischen Interpretation der Zurechnung gibt es allerdings eine terminologische Differenz, die durch die Disposition der Straftatsystematik bedingt ist. Die Lehre von der objektiven Zurechnung wird systematisch im objektiven Tatbestand der Sanktionsnorm und damit vor der Frage der Rechtswidrigkeit (Normwidrigkeit) des Handelns verankert. Das Rechtswidrigkeitsurteil folgt auf das Zurechnungsurteil. Unter der normentheoretischen Prämisse, dass Zurechnung die Annahme eines Verursachungsnormverstoßes ist, stellt sich das anders dar. Demnach ist einem Handelnden der Erfolg nur dann zuzurechnen, wenn das Handeln verursachungsnormwidrig ist. Das Rechtswidrigkeits- und das Zurechnungsurteil sind gleichbedeutend. Wenn der Handelnde gerechtfertigt ist, kann ihm der Erfolg nicht zugerechnet werden. Es wäre gegebenenfalls widersprüchlich, einem Handelnden den tatbestandlichen Erfolg als Verwirklichung eines „unerlaubten“ Risikos zunächst zuzurechnen und anschließend Handeln und Erfolgsverursachung dennoch zu rechtfertigen. 150 Der Grund dieser terminologischen Differenz liegt in der analytischen Aufspaltung der Rechtswidrigkeitsprüfung in die Prüfung des objektiven Tatbestandes der Sanktionsnorm und die Rechtfertigung. Beide Stufen sind bereits direkt auf die Bestimmungsnormen bezogen. So fordert die Lehre von der objektiven Zu149
Roxin (2006), AT I, § 11/47 f. Das wäre allerdings nach der von Welzel (1969), S. 50 ff., S. 80 und Armin Kaufmann (1954), S. 248 ff. entwickelten Lehre möglich, gemäß der mit der Tatbestandmäßigkeit die Normwidrigkeit des Handelns feststeht und die Rechtfertigungsstufe nur die Pflichtwidrigkeit betrifft. Grundlage dieser Auffassung ist aber die Unterscheidung von abstrakter Norm und akteurs- und situationsbezogener Pflicht, Kaufmann (1954), S. 131, 138 ff. Vgl. hierzu bereits B.I.7. und B.V.3.1. 150
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B. Normentheorie
rechnung für den objektiven Tatbestand die Feststellung, dass ein unerlaubtes Risiko vorliege. Diese erste Prüfungsstufe bezeichnet aber nur, welches Handeln normalerweise verboten oder geboten ist und welcher Erfolg in der Regel zugerechnet wird und lässt eventuell rechtfertigende Aspekte gerade außer Acht. Die Bewegung vom Tatbestand zur Rechtswidrigkeitsstufe ist als eine zunehmende Spezifizierung der Norm zu interpretieren. Ist man sich dessen bewusst, kann man auch schon im objektiven Tatbestand vorläufig von einem (im Allgemeinen, abstrakt oder „objektiv“) unerlaubten Risiko sprechen, aufgrund dessen der Erfolg zurechenbar wäre. Das endgültige Zurechnungsurteil ist theoretisch konsequent mit dem Urteil über die Rechtswidrigkeit identisch. Zurechnung bedeutet gemäß der heutigen Unrechtslehre somit die Zurechnung eines Verursachens oder Nichtverhinderns als normwidrig. Das ist noch nicht als Zurechnung zur Verantwortung konzipiert. Erst die Feststellung, dass der Handelnde schuldig ist, berechtigt dazu, ihn für die Normwidrigkeit auch verantwortlich zu machen, ihm diese vorzuwerfen. Die Rechtswidrigkeit ist deshalb, obwohl als personales Unrecht konzipiert, noch ein generelles Urteil. Sie bezeichnet das, was etwa der Verletzte von dem Handelnden wie von jedem anderen in der Situation zu Recht erwarten konnte. 151 Auf die individuelle Fähigkeit, die Norm auch einzuhalten, kommt es insoweit nicht an. Das Unrecht ist „objektives Handlungsunrecht“. Insofern wird heute der Mittelweg zwischen der „objektiven“ und „subjektiven“ Unrechtslehre gewählt.
VI. Die Veränderungs- und Zustandsnormen 1. Der Gegenstand einer Verursachungsnorm ist abstrakt als eine Veränderung zu beschreiben. 152 Der Zweck von Verursachungsnormen ist entweder die Aufrechterhaltung oder die Veränderung des aktuellen Weltzustands im Hinblick auf bestimmte Aspekte. Aus Verursachungsnormen lassen sich deshalb Veränderungs- und Zustandsnormen abstrahieren. Diese machen den Bezug auf Handlungen nicht explizit. Sie beziehen sich auf die Ergebnisse oder „Erfolge“ von Handlungen, zielen aber implizit auf Handlungen, die geeignet sind, eine Veränderung zu verursachen oder zu verhindern. So fordert die Norm: „Der Patient soll nicht sterben!“, dies zu verhindern oder die Norm: „Das Gerät soll funktionieren!“, dafür zu sorgen. Eine Norm kann auch einen utopischen Zustand bezeichnen. Auch das kann Handlungen motivieren. Eine Veränderungsnorm enthält zwei Zustandsaspekte, weil die Veränderung eine Differenz zweier Zustände erzeugt. Die beiden Aspekte korrespondieren 151 152
Vgl. Rödig (1976), S. 52 f., 56 f. Siehe bereits B.V.1.3.
VI. Die Veränderungs- und Zustandsnormen
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einander. Wenn jemandem verboten wird, einen anderen zu schlagen, wird das Verursachen einer Verletzung oder von Schmerzen verboten und damit die Veränderung in diesen Zustand. Geboten ist, dass der aktuelle Zustand als in dieser Hinsicht unverändert bestehen bleibt. Noch konkreter ist das in der retrospektiven Beurteilung möglich. Wenn A den B geschlagen hat, wird dieses Verhalten und damit diese Veränderung und Verletzung als verboten gekennzeichnet, als insoweit geboten B’s vorheriger Zustand. Eine Veränderungsnorm ist von einem Standpunkt in der Zeit aus formuliert. Die Veränderung wird ausgehend von einem aktuellen oder in der retrospektiven Beurteilung von einem vergangenen Zustand bestimmt. Dieser ist der Bezugspunkt für eine gebotene oder verbotene Veränderung. Soll ein bestehender Weltzustand erhalten werden, wird ein Veränderungsverbot postuliert. Wird ein noch nicht bestehender oder bisher nur „unvollkommen“ bestehender Zustand anvisiert, ist die Norm ein Veränderungsgebot. Mit den Normen der einen Hälfte des Normenmodells, die sich auf ein Veränderungsverbot beziehen, ist das Kontinuieren von Zuständen geboten, mit den Normen der anderen Hälfte das Nichtkontinuieren und die Neuerschaffung. Das Veränderungsverbot ist konservativ, das Veränderungsgebot dagegen progressiv, auf Änderungen des Bisherigen gerichtet. Das Strafrecht beinhaltet zumeist Veränderungsverbote. Es hegt die Erwartungen, dass die Welt abläuft wie gewohnt und dass man sich auf das Bestehen bestimmter Zustände verlassen kann, jedenfalls soweit diese durch Handlungen gestört oder erhalten werden können. 153 Der Begriff des „Zustands“ als Bezugspunkt der Veränderung ist nicht besonders gut definierbar. 154 Er suggeriert eine Statik, die in einer sich verändernden Welt nicht klar zu konstruieren ist. Die Bezeichnung eines Zustands ist gleichbedeutend mit der Bezeichnung einer Nichtveränderung in bestimmten Aspekten und der unveränderten Fortdauer eines Weltaspekts. Wenn etwas eine bestimmte Dauer aufweist, wird es als Zustand substantiviert und benennbar, zum Beispiel das Leben, die Unverletztheit, die Ehre, Besitz oder Gewahrsam an einer Sache, die Bedingungen für das Funktionieren eines Geräts, einer Einrichtung oder eines Systems. Man könnte den Begriff des Zustands durch den Begriff der Struktur erklären. Eine Struktur ist das, was sich an ändernden Verhältnissen nicht immer mit verändert. Der Zustand kann aber auch einen bestimmten Status bezeichnen, der erlangt oder erhalten werden soll. So, wenn jemand ein Spiel gewinnen, einen Titel oder etwa Eigentum an einer Sache erlangen möchte. 2. Die Veränderungs- und Zustandsnormen sind im teleologischen Normenmodell analytische Konstruktionen aus Verursachungsnormen. Ihre Berücksichtigung ermöglicht, Verursachungsnormen mit der gleichen Zweckrichtung zusam153 154
Siehe aber B.I.6.b). Siehe bereits B.V.1.3.
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B. Normentheorie
menzufassen, also Verhinderungsgebote und Verursachungsverbote sowie Verursachungsgebote und Verhinderungsgebote, die auf die gleiche Veränderung abzielen. 155 Gerade weil die Veränderungsnormen Abstraktionen sind, können sie allerdings nicht aus ihrem ursprünglichen Zusammenhang mit Handlungsnormen verselbständigt werden, ohne den Charakter als Normen zu verlieren. Sie können nicht unbedingt formuliert werden. Nicht die Veränderung an sich ist verboten, zum Beispiel, eine Verletzung zu erleiden, sondern deren Verursachung durch Handelnde. Wenn das Verursachen der Veränderung geboten oder verboten ist, kann die aus dieser Verursachungsnorm abgeleitete Veränderungsnorm nur das Gebot oder Verbot der Veränderung als eine handlungsnormgemäß oder -normwidrig verursachte oder nicht verhinderte sein. Präzise formuliert ergibt sich einerseits das Verbot einer Veränderung, die durch einen Handlungsnormverstoß verursacht oder durch normwidriges Unterlassen nicht verhindert wurde und andererseits das Gebot einer Veränderung, soweit diese durch die Befolgung von Handlungsnormen verursacht werden kann oder nicht verhindert werden soll. Der Sinn der generalisierten Veränderungsnorm ist mit dem der Verursachungsnormen letztlich identisch. Das ist darin begründet, dass es sich nicht um eine teleologische Ableitung handelt, sondern nur um eine analytische Differenzierung, eine Änderung des Beobachtungsfokus weg von der Handlung hin zum Erfolg der Handlung. Der ausgeblendete Aspekt, die Handlung, muss in die Veränderungsnorm wieder aufgenommen werden, wenn deren Sinn mit den anderen Normen des Modells übereinstimmen soll. Die Veränderungs- und Zustandsnormen werden somit nicht als Ausdruck bloßer Präferenzen, Wünsche oder Bewertungen interpretiert. Ihre Charakterisierung als Normen erscheint aber auch deshalb fragwürdig, weil sie sich auf Ereignisse und Gegenstände der Umwelt beziehen und nicht unmittelbar auf Handlungen. Nur Handlungen sind aber für einen Handelnden, dem die Norm gilt, unmittelbar erreichbar. Wenn an ihn eine Zustandsnorm herangetragen wird, sind Handlungen gemeint. Wird dies, wie soeben geschildert, berücksichtigt, kann man an der Charakterisierung als Norm (Gebot oder Verbot) festhalten. 156 3. Aus einer Veränderungsnorm lassen sich jeweils ein Zustandsgebot und -verbot herleiten. Insoweit ist zwischen der Herleitung aus Veränderungsverboten und -geboten zu unterscheiden. a) Das Zustandsverbot, das aus einem Veränderungsverbot folgt, bezeichnet zunächst keinen realen Zustand, sondern einen hypothetisch als verändert gedachten, normwidrig verursachten Zustand. Verboten ist etwa eine Verletzung, aufgefasst als normwidrig verursachter Zustand. Der Zustand kann aber aufgrund 155
Siehe bereits B.I.6. Siehe auch v. Wright (1994), S. 58 ff., (1997), S. 427 ff., 432 ff., der von der Vorrangigkeit von Zustandsnormen (Normen vom „Sein-Sollen-Typ“) ausgeht. 156
VI. Die Veränderungs- und Zustandsnormen
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eines Veränderungsverbots nur so lange als verboten gelten, wie er hypothetischen Charakter hat. Wenn ein Handelnder die Veränderung normwidrig verursacht hat und somit der Zustand real geworden ist, kann dieser allein aufgrund des Verbots nicht mehr als verboten angesehen werden. Sein Nichtbestehensollen kann nach der normwidrigen Verursachung Gegenstand einer anderen Norm sein, nicht mehr des Verursachungs- und Veränderungsverbots selbst. Diese andere Norm kann die Wiederherstellung des ursprünglichen Zustands gebieten und wäre somit ein Verursachungsgebot. Wenn der Zustand aber nicht mehr reversibel ist, hat es keinen Sinn, ihn als verboten zu kennzeichnen. Die Norm muss sich der Faktizität beugen und nicht mehr beteuern, dass der Zustand eigentlich verboten ist, weil daraus nichts mehr folgen kann. Der Begriff des Erfolgsunrechts im Strafrecht kann deshalb nicht so zu verstehen sein, dass ein eventuell irreversibler Zustand als verboten gekennzeichnet wird. Verboten ist nur die rechtswidrig verursachte Veränderung. Diese kann, anders als der Zustand, sowohl als hypothetische als auch als vergangene, reale als verboten angesehen werden, weil sie normwidrig verursacht wurde. 157 Das Zustandsgebot, das aus einem Veränderungsverbot folgt, ist nur negativ bestimmbar. Das Veränderungsverbot rechtfertigt es lediglich, den bestehenden Zustand als insofern geboten auszuweisen, als er nicht durch verbotenes Handeln verändert werden soll. Eine genauere Bestimmung des gebotenen Zustands kann sich allein aufgrund eines Veränderungsverbots nicht ergeben. Das Verbot ist unbestimmt im Hinblick auf das Gebotene. Das gilt für Handlungen wie für Zustände. Wenn es verboten ist, einen Menschen zu verletzen, ist nur bestimmt, dass einerseits das Unterlassen dieses Handelns geboten ist und dass andererseits die Unverletztheit durch Handlungen anderer ein gebotener Zustand ist. Zwar ist der durch ein Veränderungsverbot geschützte Zustand positiv bewertet, doch das Gebot des Zustands ist nicht positiv und streng („Genau so soll die Welt aussehen“), sondern ist nur die Rückseite eines Verbots, aus dem sich nur die Information gewinnen lässt, wie der Zustand nicht sein soll. Verboten sind nur Veränderungen und Zustände, die durch normwidrige Handlungen verursacht wurden. Geboten ist, dass solche Veränderungen und Zustände nicht eintreten. b) Entsprechend rechtfertigt es ein Veränderungsgebot, den bestehenden Zustand als verboten anzusehen, doch nur insofern, als er durch gebotene Handlungen verändert werden soll. Primär ergibt sich aus dem Veränderungsgebot ein Zustandsgebot. Dieses lässt sich wiederum nur als Gebot eines hypothetischen Zustands auffassen. Sobald ein entsprechender Zustand verursacht wurde, ist er allein wegen des Verursachungs- und Veränderungsgebots nicht mehr geboten. Das Fortbestehen dieses Zustands wäre Gegenstand einer anderen Norm, die ein Veränderungsverbot wäre. Das Verursachen hat also zur Folge, dass sich 157
So setzt die Feststellung von „Erfolgsunrecht“ zwingend „Handlungsunrecht“ voraus, vgl. Kindhäuser (1989), S. 60, Vogel (1993), S. 45.
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B. Normentheorie
mit dem Realwerden des durch die Norm bezeichneten Zustands auch dessen normativer Status (aus der Perspektive der gebietenden Norm) ändert. Er war geboten, kann aber allein aufgrund der Norm nicht mehr weiterhin als geboten gelten. Geboten ist eben nur das Verursachen der Veränderung. Freilich kann im Zustandsgebot der Sinn, dass der gebotene Zustand auch bestehen bleiben soll, impliziert sein. Das ist aber eine isolierbare zweite Norm. Wird ein Verursachungsgebot nicht befolgt, bleibt der Zustand geboten und der bestehende insoweit verboten, jedoch nur solange, wie die Verursachung möglich ist, solange also Handlungsnormen auf die Verursachung gerichtet sind. Auch hier hängt die zeitliche Geltung der Norm am Faktischen. Während somit das Zustandsgebot, das sich aus einem Veränderungsgebot ergibt, recht genau bestimmbar ist, ergibt sich das Zustandsverbot nur korrespondierend. Ein Zustand, in dem die Veränderung trotz Möglichkeit nicht verursacht wird, ist verboten. Zustandsgebote und korrespondierende -verbote unterscheiden sich somit in ihrer Bestimmtheit je nach dem, ob sie aus einem Veränderungsverbot oder -gebot abgeleitet werden, und sie verhalten sich genau spiegelbildlich. Aus einem Veränderungsgebot resultiert ein Zustandsgebot von relativ hoher Bestimmtheit. Der gebotene Zustand wird genau beschrieben. Verboten ist ein Zustand, der diesem nicht entsprechen wird (oder retrospektiv: der ihm nicht entspricht). Wenn die Zustandsgebote und -verbote hingegen aus Veränderungsverboten abgeleitet sind, verhält es sich umgekehrt. Das Zustandsverbot kann relativ klar definiert werden, doch das Gebot nur als Abwesenheit eines Nichtgesollten. Wie ein Weltaspekt sein soll oder hätte sein sollen, wird nur negativ definiert, indem bezeichnet wird, wie er nicht sein soll. Im ersten Fall ist das Zustandsgebot positiv und das -verbot nur negativ, im zweiten ist das Zustandsverbot positiv und das -gebot negativ bestimmt. Wenn aber ein Gebot nur negativ bestimmt ist, verweist das darauf, dass die primäre Norm ein Verbot ist, und wenn ein Verbot nur durch das Fehlen eines gebotenen Sachverhalts definiert wird, verweist dies auf die Dominanz des Gebots. Das Verhältnis von Zustandsgebot und -verbot, die aus derselben Veränderungsnorm abgeleitet werden, ist somit das gleiche wie bei der Umformulierung eines Handlungsgebots in ein Unterlassungsverbot oder eines Handlungsverbots in ein Unterlassungsgebot. 158 Das heißt, dass aus einem Veränderungsverbot kein Zustandsgebot im eigentlichen Sinn folgt, sondern nur eines, dessen Sinn sich ganz im Zustandsverbot erschöpft und ihn nur spiegelt. Das gleiche gilt für das Zustandsverbot im Verhältnis zu einem primären Zustandsgebot. 4. Wenn man von den hier konstruierten Veränderungs- und Zustandsnormen weiter abstrahiert und nur den positiv oder negativ wertenden Aspekt destilliert,
158
Vgl. B.III.3.3.
VI. Die Veränderungs- und Zustandsnormen
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verlässt man den Bereich von Normen und erhält Bewertungen und Werte. 159 Hielte man für diese Abstraktionen am Normcharakter fest, müsste man an der Realität verzweifeln. Deswegen sind Bewertungen abwägbar und relativierbar und haben keine unbedingte Geltung. Normen hingegen müssen ihre Geltung für jede normwidrige Handlung oder Veränderung eines gebotenen Zustands behaupten. Bewertungen sind somit nicht Zustandsnormen im hier entwickelten Sinn, sondern noch weiter generalisierte Aspekte von Zustands- und Veränderungsnormen. Sie ermöglichen, Präferenzen festzuhalten, ohne unbedingt auf deren Durchsetzung bestehen zu müssen und können somit in einer Abwägung mit anderen Werten konfrontiert werden. 160 Es ließe sich diskutieren, ob jeder Verursachungsnorm die positive Bewertung des herzustellenden oder bestehenden Zustands vorrangig ist. So hat in der Strafrechtsdogmatik, also im Hinblick auf Veränderungsverbote, zuerst Mezger die logische Priorität einer „Bewertungsnorm“, die auf einen bestimmten Zustand gerichtet ist, vor der Bestimmungsnorm behauptet. 161 Diese Auffassung beruht auf der objektiven Unrechtslehre. 162 Armin Kaufmann hat ein Modell der „Stufenfolge der Wertungen“ als „logische Reihenfolge“ entwickelt, das genau umgekehrt zur hier aufgezeigten Möglichkeit der Ableitung von Veränderungs- und Zustandsnormen aus Verursachungsnormen verläuft. 163 Er nimmt die Priorität der positiven Bewertung eines Zustands an. Erst aus der positiven Bewertung folge die negative Bewertung von Veränderungen (Beeinträchtigungen) dieses Zustands. Auf einer dritten Stufe wird die Verursachung dieser Veränderung durch Menschen zum Gegenstand des Werturteils. Aus dieser Bewertung von Handlungen werden schließlich Normen gebildet. 164 Gegen die objektive Unrechtslehre gewendet vertritt Kaufmann die These von der Identität des Gegenstands der Norm mit dem Gegenstand des dazugehörigen Werturteils der dritten Stufe. Bestimmungsnorm und Bewertung (bzw. Bewertungsnorm) sind identisch. 165 159 Zu den Begriffen „Wert“ und „Bewertung“ und den Unterscheidungen von Bewertungsgegenstand, Bewertungskriterien, Bewertungsregeln und Gesamtbewertung zusammenfassend Alexy (1994), S. 127 ff. 160 Vgl. Luhmann (1973), S. 33 ff., (1980), S. 88 f., (1984), S. 433 f. 161 Mezger (1924), S. 239 ff. Vgl. schon oben A.2., B.V.3. 162 Kritisch Armin Kaufmann (1954), S. 77 ff., Amelung (1972), S. 178 ff., Koriath (1994), S. 294 f. 163 Armin Kaufmann (1954), S. 69 ff. 164 (1954), S. 74 ff. Kritisch Vogel (1993), S. 43 f. mit dem Hinweis, dass die erste und zweite Stufe auf derselben Ebene liegen. Das gilt jedoch nur mit Rücksicht auf dieselbe Bewertung. Mit Bezug auf andere Bewertungen kann die Veränderung gleichwohl als gut erscheinen. Dann wäre schon diese Ableitung eine Wertentscheidung. 165 Vgl. auch Armin Kaufmann (1954), S. 75 mit Bezug auf Binding, Hartmann und Welzel.
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B. Normentheorie
Diese Darstellung betont noch nicht genügend die Relativität der Bewertungen, die es ausschließt, von „logischen“ Stufenverhältnissen auszugehen. 166 Eine Handlung, die einer Bewertung widerspricht, kann einer anderen entsprechen. Sie kann gut für das eine und schlecht für das andere sein. Deswegen kann aus einem gegenstandsbezogenen Werturteil allein keine Norm folgen. Ein Beispiel sind die rechtfertigenden Notlagen im Strafrecht. Kaufmann ist richtig nur dahingehend zu verstehen, dass die positive Bewertung eines Zustands eine Anregung dazu sein wird, teleologisch Normen abzuleiten, die auf dessen Erhalt gerichtet sind. Doch eine zwingende Ableitung liegt nicht vor, gerade weil auf andere Wertungen Rücksicht genommen werden muss. Umgekehrt scheint es dagegen möglich zu sein, aus einer Norm ein Werturteil über die bezeichnete Handlung abzuleiten. Wenn eine Handlung verboten ist, wird sie negativ bewertet, wenn geboten, positiv und wenn erlaubt, dann neutral. Diese Bewertung ist bestimmt und nicht relativierbar. Das Wertprädikat ist aber nur auf die Norm und das Normensystem selbst bezogen. Es unterscheidet richtig und falsch oder rechtmäßig und rechtswidrig nur vor der Folie der Norm. Diese Werte, die aus Normen abgeleitet werden, sind anders konstruiert als die soeben behandelten Werturteile. So ist denkbar, dass ein irrationaler Normgeber eine Handlung, die er für insgesamt schlecht hält, gleichwohl gebietet. Wenn dem normgemäßen Verhalten darüber hinaus ein Wert beigemessen wird, z. B. „Rechtstreue“ oder „Anstand“, tritt dieser in Konkurrenz zu anderen Werten und kann durchaus weichen – so, wenn die rechtlich geforderte Handlung aus moralischen oder egoistischen Gründen verworfen wird. Insgesamt trifft die Feststellung Koriaths zu: „Aus einer rein normativen Prämissenklasse lässt sich keine evaluative Aussage ableiten, vice versa: aus einer rein evaluativen keine normative.“ 167 Nötig ist immer eine Entscheidungsregel, zum Beispiel, dass das in der Gesamtbewertung Beste verwirklicht werden soll. Das Hindernis ist nur logischer Art. Praktisch kann die Hürde übersprungen werden. 5. In der Strafrechtsdogmatik wird der Zustand, den die Verhaltensnormen (Handlungs- und Verursachungsnormen) vor verbotenen Veränderungen bewahren sollen, als Rechtsgut bezeichnet. Rechtsgüter werden entweder gegenständlich, als „rohe Tatsachen“ konzipiert (der Körper des Menschen, seine Sachen), eher hypothetisch als Handlungsmöglichkeiten, wie sie die Bewegungsfreiheit, die Zugriffsmöglichkeit auf Sachen und die Ehre gewähren oder schließlich als die zweckgemäße Funktionsfähigkeit von Sozialsystemen. 168 Wenn die Rechts166 Vgl. Amelung (1972), S. 180 f.: „Zwischen der Erwägung, dass ein Gegenstand des Schutzes bedarf und der Formulierung eines Tatbestandes, der die Verletzung eines solchen Gegenstandes bei Strafe verbietet, liegt eine Fülle von Wertungsakten, die vom ersten gütererzeugenden Werturteil durchaus verschieden sind.“ 167 Koriath (1994), S. 97 unter Bezug auf R. M. Hare. 168 Amelung (2003), S. 164 ff.
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gutslehre ins Normative gewendet wird und als Maßstab der Strafgesetze verwendet werden soll, wird postuliert, dass sich die strafrechtlich unterstützten Handlungsnormen wenigstens mittelbar auf das Verursachen oder Verhindern konkret schädlicher Veränderungen („Erfolge“, Schäden) beziehen müssen. Handlungsnormen dürfen demnach nicht um ihrer selbst willen mit Strafe bewehrt werden. Die Aufrechterhaltung einer bestimmten gesellschaftlichen Moral oder normativen Identität als solcher darf nicht der Zweck der strafrechtlichen Sanktionierung sein. 169 Die Rechtsgutslehre wurde vor allem durch Binding und v. Liszt propagiert. Sie löste die ältere Rechtsverletzungstheorie ab, die dem aufklärerischen Naturrechtsdenken (Sozialvertragslehre) entstammte. Deren wichtigster Vertreter in der deutschen Strafrechtsdogmatik war Feuerbach. Diese Lehre hatte eine wirksame Beschränkung des Strafrechts erreicht, weil eine Straftat ihr gemäß nur ein Handeln war, das als Verletzung eines subjektiven Rechts aufgefasst werden konnte. 170 Diese Lehre ist von den Personen als Rechtsträgern her gedacht und bekommt Ansprüche und Erwartungen eines Handelnden gegen andere besser in den Blick als die Rechtsgutslehre, die nur den Gegenstand sieht, an dem ein Recht besteht. Die Lehren sind aber kombinierbar. Ein „Recht“ ist eine bestimmte, rechtsgestützte Handlungs- oder Verursachungsnorm (Gebot oder Verbot) als zu erwartende Erwartung eines Rechtsinhabers. 171 „Verletzt“ ist das Recht dann, wenn dieser Norm zuwider gehandelt wird. 172 Überträgt man das Postulat der Rechtsgutslehre, dass jede Straftat Erfolgsbezug haben muss, in die Sprache der Rechtsverletzungslehre, wird die Rechtsverletzung nur als „Rechtszustandsverletzung“ interessant: „Der dem subjektiven Recht entsprechende Zustand wird verändert oder ein nicht rechtgemäßer herbeigeführt.“ 173 Der Erfolgsbezug wird damit ausgeweitet. Die Missachtung eines verbietenden Anspruchs 169
Vgl. Amelung (2003), S. 169 ff. Vgl. Amelung (1972), S. 16 ff., (2003), S. 159. Aktuell wirbt Haas (2002), S. 82 f. für ein Verständnis des Delikts als Rechtverletzung. 171 Eine andere Wortbedeutung des Begriffs „Recht“ wird verwendet, wenn man vom Eigentum als dem Recht an einer Sache spricht. „Eigentum“ ist eine Statusbezeichnung einer Sache, „Eigentümer“ die einer Person, der die Sache zugeordnet ist. Dieser Status (das „Rechtsverhältnis“) begründet eine Vielzahl von Rechten auf ein Handeln oder gegen ein Handeln. Das Eigentum ist also streng genommen kein Recht, sondern der Rechtsgrund für Rechte. Es wird auch oftmals als „Institut“ bezeichnet, womit zumeist der das Eigentum regelnde Normenkomplex verstanden wird. 172 Binding (1890), S. 292 ff, 296 hat die Redeweise von der Normverletzung kritisiert und damit auf den wichtigen Umstand verwiesen, dass die Norm gerade kontrafaktisch (unverletzt) ihre Geltung behält. 173 Binding (1890), S. 296, Fn. 6. Vgl. aktuell Haas (2002), S. 105: „Ein objektivrechtswidriger Zustand dieser Privatrechtsordnung ist dann gegeben, wenn ... ein Rechtskreis einen Zustand einnimmt, der eigentlich einer anderen Rechtssphäre vorbehalten ist.“ 170
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B. Normentheorie
ist schon an sich eine faktische Rechtsvereitlung, eine „Rechtszustandsstörung.“ Das Nichtbefolgen eines Leistungsrechts (Gebots) hingegen ist nur insoweit ein tauglicher Strafgrund, als die gebotenen Handlungen eine dringende Gefahr für den Rechtsgegenstand abwehren sollen. 174 Hier ist das Strafrecht den zivilprozessualen Rechtsdurchsetzungsmitteln grundsätzlich subsidiär. Die verbietenden Rechte, die das Strafrecht unterstützt, sind zumeist ebenfalls auf die Aufrechterhaltung der Bedingungen der Möglichkeit freier Rechtsausübung oder der Rechtsdurchsetzung bezogen. Erfolgsdelikte sind etwa der faktische Entzug oder die Beschädigung (Veränderung) des Rechtsgegenstands (Körperverletzung, Diebstahl, Sachbeschädigung, Betrug, Erpressung) und das Verhindern freier Rechtsausübung durch unerlaubte Gewalt oder Drohung (Nötigung, Erpressung). Jedoch kommt auch das bloß einem subjektiven Recht widersprechende Handeln in Betracht, so die Rechtsanmaßung (Hausfriedensbruch, Gebrauchsanmaßung) oder die Gefährdung oder Verhinderung der Rechtsdurchsetzung (Vereiteln der Zwangsvollstreckung, Pfandkehr). 175 Die Gefahr einer Konfusion von Rechtsguts- und Rechtsverletzungslehre besteht, wenn das Recht zugleich als Rechtsgut ausgewiesen wird. Deswegen ist es zumindest missverständlich, wenn angenommen wird, dass das Rechtsgut des Hausfriedensbruchs (§ 123 StGB) das Hausrecht sei, worunter die Entscheidungsfreiheit darüber verstanden wird, wer sich in den geschützten Räumen aufhalten darf. 176 Durch Zuwiderhandeln wird das „Hausrecht“ zwar verletzt, doch ist das „Recht“ eben nur das erwartbare Handlungsverbot. Dieses kann wiederum nicht sein eigenes Rechtsgut sein. Dieses ist, der Idee nach, nur das geschützte Territorium selbst, als Bezugsgegenstand des Rechts. Merkel verteidigte hingegen jenen Sprachgebrauch mit dem Hinweis, dass die Reichweite des Bestimmungsrechts angibt, wogegen das Rechtsgut geschützt werden soll: „Da, wo diese Güter einen Schutz in der Form eines subjektiven Rechtes finden, da kann es als zweckmäßig erscheinen, den Angriffsgegenstand mit dem Namen dieses Rechtes zu bezeichnen, da hierdurch in einfachster Weise auf die Grenzen hingewiesen wird, in welchen das betreffende Gut ein Gegenstand rechtwidriger Angriffe sein kann.“ 177 6. Im Anschluss an die Rechtsverletzungslehre kann für diejenigen Delikte, die auf ein vorausgesetztes subjektives Recht bezogenen sind, die Frage nochmals aufgegriffen werden, ob nicht doch Zustandsgebote von höherer Bestimmt174 Das Gleichstellungserfordernis des § 13 StGB kann dahingehend interpretiert werden, dass ein subjektives Leistungsrecht des Gefährdeten auf die gebotene Handlung bestehen muss – aus Vertrag, aus Familienrecht oder aus der Schutzwirkung öffentlichrechtlicher Gebote (Ingerenz). 175 Der Versuch der Systematisierung schon bei Binding (1890), S. 331 ff. 176 Darstellung und Kritik bei Amelung (1986), S. 355 ff. 177 Merkel (1912), S. 17.
VI. Die Veränderungs- und Zustandsnormen
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heit aus den strafrechtlichen Verletzungs- und Veränderungsverboten abgeleitet werden können. Die strafrechtlich unterstützten Verursachungsverbote betreffen oft das Verursachen eines Zustands, der dem annehmbaren Willen eines Rechtssubjekts widerspricht. Hier kann der Umkehrschluss gezogen werden, dass der Zustand, der dessen Willen entspricht, geboten ist, wiederum aber nur insoweit, als er nicht durch ein Handeln anderer, das diesem Willen widerspricht, verändert werden soll. Dieses Gebot ist inhaltlich angereichert, weil es einen konkreten, vorfindbaren Zustand nicht nur in seiner negativen Eigenschaft als Unverletztheit betrifft, sondern auch in einer positiven Bestimmung. Jedoch geht die Wirkung dieses Gebots nicht über das Verbot der willenswidrigen Veränderung dieses Zustands durch das Handeln anderer hinaus. Das Zustandsgebot wirkt nur verbietend auf Handlungen. Das hier entwickelte Normenmodell kann somit durch die Rücksichtnahme auf subjektive Rechte angereichert und interpretiert werden. Grundbegriffe sind der Rechtsträger (Rechtssubjekt), dem ein Rechtsgegenstand zugeordnet ist, über den er gemäß seiner Befugnis (Bestimmungsrecht) Entscheidungen treffen darf, die von anderen akzeptiert werden müssen (Anspruch, Recht auf Handlungen oder Unterlassungen). Prototypisch für die Konstruktion subjektiver Rechte ist das Eigentum als Bestimmungsrecht über eine Sache. Doch sind auch die Rechte, über den eigenen Körper und die eigenen Handlungen zu bestimmen, subjektive Rechte in diesem Sinn. Der Wille des Rechtsinhabers kann eine rein faktische Bestimmung sein, indem er einen Zustand einfach selbst verändert. Gegen andere kommt der Wille als Norm (normative Erwartung) zum Ausdruck. Diese Erwartung muss der Rechtsinhaber nicht aktuell haben. Es genügt, dass es sich um eine erwartbare (und insoweit hypothetische oder mutmaßliche) Erwartung handelt. Viele Erwartungen eines Rechtsinhabers werden als Rechtsnormen ausgezeichnet. Damit wird symbolisiert, dass nicht nur er ein bestimmtes Verhalten erwartet wird, sondern dass auch das Miterwarten Dritter zu erwarten ist. Inwieweit die Erwartungen eines Rechtsinhabers als Rechtsnormen anerkannt werden, bestimmt sich aus den generalisierten Rechtsnormen. Die faktische Entscheidung eines Rechtsträgers über einen Rechtsgegenstand ist eine konkrete Zustandsbestimmung. Sie allein ist kein Gebot, weil sie zunächst nicht auf Handlungen anderer gerichtet, sondern nur Ausdruck des Gestaltungswillens ist. Doch für andere ist die Bestimmung, soweit sie diese zu akzeptieren haben, ein Zustandsgebot. Der Rechtsträger bestimmt in concreto aufgrund seines Bestimmungsrechts, welches der Zustand des ihm zugeordneten Rechtsgegenstands sein soll. Wenn ich etwa mein Fahrrad vor der Tür stehen lasse, darf ich erwarten, dass niemand es wegnimmt, dass also andere meine Entscheidung über den Zustand des Rechtsobjekts akzeptieren. Dass das Fahrrad entsprechend meinem Willen vor der Tür steht, ist der auch von Rechts wegen konkret gebotene Zustand, der etwa durch das Diebstahlsverbot geschützt wird.
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B. Normentheorie
Neben der faktischen Bestimmung stehen somit Erwartungen im Hinblick auf das Handeln anderer. Die (erwartbaren) Erwartungen eines Rechtsinhabers in Bezug auf das verursachende Handeln anderer Handelnder können entsprechend den hier identifizierten Normarten darauf gerichtet sein (1.) dass eine Veränderung nicht eintritt: (1.1.) dass jemand einen Zustand nicht selbst verändert oder (1.2.) dass er verhindert, dass dieser eine Veränderung erfährt; sowie (2.) dass eine Veränderung eintritt: (2.1.) dass jemand duldet, dass ein Zustand verändert wird oder (2.2.) dass jemand diesen aktiv verändert. Das Verursachungs- und Verhinderungsverbot sind Abwehrrechte gegen andere, das Verhinderungs- und Verursachungsgebot Leistungsrechte. Ein Rechtsverhältnis kann nicht nur in Bezug auf einen Rechtsgegenstand bestehen, sondern auch zwischen zwei Handelnden (Personen). Es begründet Rechte (Ansprüche) eines Rechtsträgers gegen einen anderen. Diese Rechte können sowohl Handlungs- als auch Verursachungsnormen sein. Verursachungsund damit Veränderungsnormen sind etwa die Gebote, die auf Einräumung von Rechtspositionen gerichtet sind (Eigentum, Nutzungsrechte an Sachen). Handlungsnormen sind die konkreten Bestimmungsrechte über Handlungen des anderen (Arbeit und sonstige Dienste). Soweit Verursachungsnormen als Rechte anzusehen sind, kann im Zentrum des Normenmodells somit ein Zustandsgebot installiert werden, das aus dem Willen des Rechtsträgers und seiner Entscheidung über den Rechtsgegenstand folgt. Aus den generalisierten strafrechtlichen Verursachungsverboten ergibt sich insoweit unter Verweis auf die Entscheidungen, Erwartungen oder den Willen des Rechtsträgers ein generalisiertes Zustandsgebot: Geboten ist der Zustand, der dem rechtserheblichen Willen des Rechtsinhabers entspricht.
C. Strafrechtsdogmatik I. Die Abgrenzung des Begehungsvom Unterlassungsdelikt Während der erste Teil der Arbeit dem Versuch gewidmet war, die allgemeine Struktur eines teleologisch angelegten Normenzusammenhangs aufzuzeigen, werden im Folgenden konkrete Probleme der Strafrechtsdogmatik diskutiert. Das entspricht dem doppelten Anliegen der Untersuchung, einerseits verallgemeinerungsfähige Fragen der Strafrechtsdogmatik auf der abstrakteren Stufe der Normentheorie zu behandeln und andererseits die Normentheorie für konkrete strafrechtsdogmatische Probleme fruchtbar zu machen. Diese Verbindung von Normentheorie und Strafrechtsdogmatik ist gerade im Hinblick auf die Analyse von teleologischen Normenbeziehungen möglich, weil diese, obwohl in der Theorie selten systematisch reflektiert, in der Praxis sehr relevant sind. Dass Normen Mittel zu Zwecken sind oder selbst Zwecke vorgeben können, ist in einem Normensystem, das sich als rational legitimieren muss, selbstverständlich und durchdringt deshalb das ganze Rechtsgebiet. Die normentheoretische Reflexion dieser teleologischen Normenbeziehungen kann im Rahmen der strafrechtlichen Zurechnungslehre und insbesondere für das Problem der Abgrenzung des Begehungs- vom Unterlassungsdelikt nutzbar gemacht werden. Die Tatbestände des Strafgesetzes enthalten viele erfolgsbezogene Begehungsdelikte. Ein Begehungsdelikt ist ein verbotenes Handeln, das einen tatbestandlichen Erfolg verursacht hat. Den Begehungsdelikten stehen die erfolgsbezogenen Unterlassungsdelikte gegenüber. Die allgemeinen Voraussetzungen für die Strafbarkeit eines Unterlassens sind in § 13 StGB statuiert. Wer es unterlassen hat, einen Erfolg abzuwenden, der zum Tatbestand eines Strafgesetzes gehört, ist demnach nur dann strafbar, wenn er rechtlich dafür einzustehen hatte, dass der Erfolg nicht eintritt und wenn das Unterlassen der Verwirklichung des gesetzlichen Tatbestandes durch ein Tun entspricht. Die hier angesprochene Sonderverantwortlichkeit des Täters ist die so genannte Garantenstellung einem anderen gegenüber. Sie kann sich aus einer Beschützerrolle des Täters für einen Gefährdeten oder aus der Verantwortlichkeit für eine dem Täter zuzurechnende Gefahrenquelle ergeben. 178 Der Grund dafür, dass § 13 StGB eine Sonderverant178
Diese heute herrschende materielle Einteilung der Garantenpflichten zuerst bei Armin Kaufmann (1959), S. 283 ff., hierzu etwa Jescheck (1978), § 59 IV 2 m.w. N.
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C. Strafrechtsdogmatik
wortlichkeit voraussetzt, ist gerade die begehungsgleiche Strafdrohung. 179 Der Unwert des Unterlassens, den Erfolg abzuwenden, muss dem des Verursachens des Erfolgs gleich sein. Das ist nur dann der Fall, wenn die Gebotsgeltung auf besondere Gründe zurückgeführt wird und nicht bloß auf eine allgemeine Solidaritätsforderung, wie sie in § 323c StGB vorausgesetzt ist. § 13 StGB hat somit zwei denkbare Funktionen. Zum einen werden mit der Sonderverpflichtung Voraussetzungen der Rechtsgeltung bestimmter Gebote benannt und zum anderen wird die begehungsgleiche Bestrafung der Missachtung sowieso geltender Gebote durch eine Garantenstellung dem Geschädigten gegenüber bedingt. In Fällen, in denen der Handelnde den tatbestandlichen Erfolg sowohl verursacht als auch nicht verhindert hat, kann es zweifelhaft sein, ob ein Begehungsoder Unterlassungsdelikt zu prüfen ist. Die Abgrenzung des Begehungs- vom Unterlassungsdelikt in diesen Zweifelsfällen ist seit langem umstritten. Man kann die angebotenen Kriterien einteilen in prima facie „naturalistische“ bzw. beschreibende (Körperbewegung, „Energie“, Kausalität) und normative bzw. interpretative (sozialer Handlungssinn, Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit), kurz gesagt: Schwerpunkt des Verursachens gegen Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit. 180 Beide Richtungen haben einen spezifischen Nachteil. Das Verursachungskriterium ist wertungsblind und deswegen unflexibel. Die genannten normativen Kriterien hingegen legen die Wertungen, die sie voraussetzen, nicht offen und machen die Abgrenzung zu einer Frage der Argumentation im Einzelfall. Es sollten aber abstrakte Gesichtspunkte erarbeitet werden, die eine Abgrenzung vereinfachen können. Diese Arbeit kann durch die Interpretation des hier entwickelten analytischen Modells von Normarten geleistet werden. Normative und beschreibende Kriterien können kombiniert werden und sind nicht per se ein Gegensatz, schon deshalb, weil die Normeninhalte einen Sachverhalt beschreiben und weil Arten von Normen selbst beschrieben werden können. Dementsprechend können mit Hilfe des hier entwickelten Normenmodells mögliche Norminhalte und -zwecke systematisch erfasst und die hierdurch identifizierbaren Normarten aufeinander bezogen werden. Die Lösung des Problems der Abgrenzung des Begehungs- vom Unterlassungsdelikt ergibt sich aus einer genauen Analyse der in einem Rechtsfall postulierten Normen. Das Modell ermöglicht deren Einordnung und somit den Vergleich mit anderen Fällen. Die Argumentation wird transparent, auch wenn im Einzelfall noch Interpretationsspielräume und Wertungsmöglichkeiten bestehen bleiben können. Der Unterscheidung von Begehungs- und Unterlassungsdelikten sind die Unterscheidungen von „Tun und Unterlassen“ im Sinne des § 13 StGB und die 179 180
Vgl. etwa v. Liszt (1900). § 30, Jescheck (1978), § 59 IV 1. Ausführliche Diskussion unter C.VI.
II. Handeln und Unterlassen
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allgemeine Unterscheidung von Handeln und Unterlassen vorrangig. Die Diskussion dieser Begriffe in der strafrechtsdogmatischen Literatur war immer mit der Frage verbunden, welcher der Grundbegriff der Strafrechtsdogmatik sein kann. Diese begrifflichen Fragen sind der Diskussion der Abgrenzungsproblematik voranzustellen.
II. Handeln und Unterlassen 1. Unterlassen als Nichthandeln in bestimmter Weise 1. Zum Begriff des Unterlassens gibt es zwei Ansichten, die man als Möglichkeits- und Erwartungstheorie kennzeichnen kann. Gemäß der ersten genügt es, dass das unterlassene Handeln dem Handelnden möglich gewesen wäre. Die zweite verlangt zusätzlich eine Erwartung dieses Handelns. Die Grundkomponente und der sichere Kern des Unterlassensbegriffs ist aber die Negationsbedeutung. 181 Die Aussage über ein Unterlassen bezieht sich auf einen positiven Begriff, auf ein bestimmtes Handeln, und stellt fest, dass dieses nicht der Fall ist. 182 Insofern spricht man von der Relativität und Transitivität des Unterlassensbegriffs. Die Aussage über ein Unterlassen ist als Behauptung, dass etwas nicht der Fall ist, eine inhaltlich negierende Aussage. Eine inhaltlich positive Aussage über ein Handeln lässt sich aus ihr nicht ableiten, 183 doch setzt sie die Existenz eines positiv bestimmbaren Handelns voraus. Manchmal wird „die Existenz“ der Unterlassung problematisiert. 184 Ist die Unterlassung ein Etwas oder ein Nichts? Diese ontologische Frage ist nicht mehr leicht verständlich. Für die Dogmatik stellte sie sich im Zusammenhang mit der Frage, ob ein Unterlassen kausal für einen Erfolg sein könne. Die Prämisse war, dass etwas nicht Reales, ein „Nichts“, keine realen Wirkungen entfalten könne. Die Frage nach der Existenz der Unterlassung ist aber ein Scheinproblem, das die Sprache aufgibt. Begründet ist es in der Konkretisierung eines Aussagemodus zum Aussagegegenstand. Es gibt eine Korrespondenz der Negationen von Inhalt und Wahrheitswert einer Aussage. Das heißt, dass der Ausdruck: „Es ist wahr, dass ...“ bedeutungsgleich bleibt, wenn man beide Seiten negiert, sowohl den Wahrheitswert als auch den Inhalt der Aussage: „Es ist wahr, dass A so gehandelt hat.“ ≡ „Es ist nicht wahr, dass A nicht so gehandelt hat.“ 181
Zur Diskussion und Definition des Unterlassensbegriffs Schünemann (1971), S. 6 –
45. 182 183 184
Kaufmann (1959), S. 25 f. m.w. N., Rödig (1986), S. 38 f. Engisch (1933), S. 238, Kaufmann (1959), S. 26 m.w. N. Darstellung und Nachweise bei Schünemann (1971), S. 10 ff.
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„Es ist wahr, dass A nicht so gehandelt hat.“ ≡ „Es ist nicht wahr, dass A so gehandelt hat.“ 185 Die Aussage, dass es wahr ist, dass jemand unterlassen hat, ist demnach äquivalent mit der Aussage, dass es unwahr ist, dass er in der bezeichneten Weise gehandelt hat, abgesehen von den weiteren Bedeutungsmerkmalen, die dem Unterlassensbegriff zukommen mögen. „Die Unterlassung“ ist die Substantivierung jener Aussage. Existenz wird einem Gegenstand X zugeschrieben, wenn der Satz: „Es ist wahr, dass X ist“ zutrifft. Einem Gegenstand Y, für den der Satz gilt: „Es ist wahr, dass Y nicht ist“ bzw. „Es ist unwahr, dass Y ist“, kann nicht Existenz zugeschrieben werden. Y „ist“ nicht. Das Verb „unterlassen“ bedeutet entsprechend im Kern nur, dass jemand in bestimmter Weise nicht handelt. Durch die Substantivierung zur „Unterlassung“ gewinnt es keinen zusätzlichen Gehalt. Der Sachverhalt, dass A unterlassen hat, Y zu tun, mag ein wahrer Sachverhalt sein. Das sagt aber im Kern nichts anderes, als dass der Sachverhalt, dass A Y getan hat, unwahr ist. Ist die Unwahrheit dieses Sachverhalts nun ein wahrer (existierender) Sachverhalt? Die Frage nach der Existenz des Unterlassens ist deshalb als unangemessen zurückzuweisen. Sie vermengt den sprachlichen Aussagemodus und die Gegenstände der Aussagen. Die Feststellung eines Unterlassens ist beobachterabhängig. Sie wird nur möglich, indem ein Beobachter (und sei es der Handelnde selbst) auf beobachtete Handlungen andere Handlungen projiziert. Dann kann er sehen, dass der Handelnde nicht in bestimmter Weise gehandelt hat. Die „Unterlassung“ wird durch diese Beobachtung erst konstituiert. Sie ist ein „Gegenstand“, dem ohne Beobachtung keine „Existenz“ zukommt. Das ist Konsequenz der merkwürdigen Substantivierung des Sachverhalts, dass etwas nicht ist. Die Beobachtung eines Nichthandelns kann ähnlich wie ein Handeln einem Handelnden als Unterlassen zugerechnet oder zugeschrieben werden. Dieses kann als eine bewusste Entscheidung gegen ein Handeln interpretiert werden, und der Handelnde kann für ein Unterlassen prinzipiell in gleicher Weise wie für ein Handeln verantwortlich gemacht werden. 2. Ob zum Unterlassenbegriff noch weitere einschränkende Merkmale gehören, ist letztlich eine Frage der Definition oder des Sprachgebrauchs. Die Möglichkeitstheorie behauptet, dass die Handlungsmöglichkeit notwendiger Begriffsbestandteil sei. 186 Statt der zweifelsohne wahren Aussagen: „Ich bin noch 185
Der Satz ergibt sich aus der doppelten Negation. Z. B.: v. Wright (1979), S. 56: „Ein Handelnder unterlässt in einer gegebenen Situation, etwas bestimmtes zu tun gerade dann, wenn er es zwar tun kann, aber doch nicht tut.“ Ferner Kaufmann (1959), S. 27 – 35 m.w. N., Schünemann (1971), S. 29 ff., Rödig (1986), S. 39, kritisch Otter (1973), S. 174, vgl. auch Röhl (2001), § 22 III, S. 172 ff. 186
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nie zum Mars geflogen“ oder „Ich habe Julius Cäsar nicht getroffen“ wäre demnach unzulässig oder nur im Spaß möglich, zu behaupten, dass ich es unterlassen habe, zum Mars zu fliegen oder Cäsar zu sprechen. Das Kriterium der Möglichkeit der Handlung kann auf eine konkrete Handlungssituation bezogen sein oder von dieser absehen, z. B.: „A hat unterlassen, einen Freund zu besuchen.“ Das heißt, dass dem Handelnden in einer gewissen Zeitspanne diese Handlung zur Wahl stand. Die Behauptung eines Unterlassens müsste sich demnach auf eine zu irgendeinem Zeitpunkt real gegebene Handlungsalternative beziehen. Was ist der erkenntnistheoretische Status des Möglichkeitskriteriums? Die Behauptung, dass jemand in bestimmter Weise hätte handeln können, ist zwar nicht rein negativ wie die Grundbedeutung des Unterlassensbegriffs. Doch ist sie verifizierbar? Die Möglichkeit wird zwar wie etwas positiv Gegebenes, wie ein Gegenstand vorgestellt. Die Annahme bleibt aber hypothetisch. In ein Geschehen, das abgeschlossen vorliegt, wird eine irreale andere Möglichkeit (eine andere Handlung) hineinprojiziert und behauptet, dass diese Möglichkeit hätte wahr (real) werden können. Sogleich fragt man: unter welcher Bedingung, unter welchen Umständen? Was hätte passieren müssen, damit die hypothetische Handlung die wirkliche gewesen wäre? Die Antwort kann auf die Entscheidung des Handelnden für die Handlung oder auf seinen Willen verweisen. Hätte der Handelnde gewollt, hätte er wie bezeichnet gehandelt. Diese Zurechnung auf den Willen ist aber nur eine scheinbare Lösung. Die Handlung selbst ist der manifestierte Wille und ist von ihm nicht zu trennen. 187 Die Hypothese beruht somit auf einer Tautologie. Hätte der Handelnde anders gewollt (= entschieden = gehandelt), hätte er anders gehandelt. Mit der Behauptung einer Handlungsmöglichkeit wird ja nicht vorausgesetzt, dass der Handelnde sich bewusst gegen die unterlassene Handlung entschied. Der Hinweis auf andere Handlungsmöglichkeiten beim Unterlassen kann also nicht durch den Verweis auf den Willen einsichtig gemacht werden, sondern muss auf die dem Willen vorausliegenden Bedingungen zurückgreifen. Es muss dargelegt werden, dass der Handelnde im Vollbesitz seiner geistigen und körperlichen Kräfte war und dass seine eigene Disposition und die Umstände seiner Umwelt eine andere Handlung zugelassen hätten. Nur unter Rückgriff auf Erfahrungswissen kann plausibel gemacht werden, dass die bezeichnete Handlung möglich war. Das Urteil über das Vorliegen der Bedingungen der Möglichkeit ist nicht hypothetisch, sondern ist prinzipiell wahrheitsfähig, weil es sich auf einen realen Sachverhalt bezieht. Doch muss man oft mit Unterstellungen arbeiAbweichend Schmidt (1939), S. 85. Das Unterlassen (des Verhinderns) hat bei ihm eine reine Negationsbedeutung. 187 Luhmann (2000 b), S. 123.
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ten. Vom Gegebensein der Bedingungen der Möglichkeit ausgehend, kann das „Bestehen“ der „realen“ Möglichkeit plausibel gemacht werden. Schließlich steht in Frage, woraus das Möglichkeitskriterium seine Berechtigung zieht, außer aus der Berufung auf den gewöhnlichen Sprachgebrauch. Für die Zwecke der Rechtsdogmatik kommt es auf diese Einschränkung des Unterlassensbegriffs nicht an. Die Strafbarkeit ergibt sich nicht aus dem deskriptiven Begriff des Unterlassens, sondern gegebenenfalls aus dem Verstoß gegen ein Gebot. Dass Gebote wie Verbote nichts Unmögliches verlangen dürfen, ist indes eine Frage ihrer Legitimität. Im Recht gilt insoweit das Verbot, von jemandem mehr zu verlangen als er kann, ultra posse nemo obligatur. Es gilt jedoch mit Einschränkungen. 188 Wenn sich jemand verbotswidrig einer Handlungsmöglichkeit beraubt, kann er gleichwohl wegen Unterlassens verantwortlich gemacht werden. Das ist beim Verstoß gegen gebotsakzessorische Verbote der Fall. Abgesehen von der Frage der Legitimität eines Gebots ist es allerdings prinzipiell möglich, jemanden über das Können hinaus zu verpflichten. Wenn ein Befehlender von einem anderen, der nicht Klavier spielen kann, verlangte, auf der Stelle die Appassionata zu spielen, ist diese Norm vielleicht unmenschlich. Sie bleibt aber eine Norm und wird ihn zu der Feststellung befähigen, dass der andere unterlassen habe, der Forderung nachzukommen. Das muss freilich ein Beobachter verneinen, der die Handlungsmöglichkeit in seinen Unterlassensbegriff aufnimmt. Gleichwohl bleibt der Sachverhalt, dass er nicht spielte, ein gebotswidriges Nichthandeln bzw. ein Unterlassen. Im Zusammenhang mit dem Möglichkeitskriterium steht eine weitere Eigenheit des Unterlassensbegriffs, sein Verhältnis zur Zeit. Er hat im Präsens im Vergleich zur Vergangenheits- und Futurform einen unterschiedlichen Bedeutungsaspekt. In der Gegenwart kann ich immer nur behaupten, dass ich unterlasse, ein bestimmtes alternatives (mögliches) Handeln zu beginnen. Im Präsens unterlasse ich nie vollendete Handlungen. Ich unterlasse in diesem Moment nicht, in Berlin spazieren zu gehen, sondern höchstens, nach Berlin aufzubrechen. In zwei Tagen werde ich aber behaupten können, dass ich unterlassen habe, nach Berlin zu reisen und dort spazieren zu gehen. Der Begriff des Unterlassens kann also eine ganze Handlungskette betreffen, deren Beginn man irgendwann unterlassen hat, deren Glieder dann aber nicht mehr je für sich in jedem Moment möglich sein müssen. 3. Angesichts dessen, dass das Unterlassen eine beobachterabhängige Projektion voraussetzt, ist es nahe liegend, zu fragen, warum und wann ein Beobachter ein Unterlassen sehen wird. Der Grund dafür wird oft eine Erwartung des Beobachters im Hinblick auf das Handeln des Handelnden sein. Die These der
188
Vgl. B.V.2.5.
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Erwartungstheorie ist deshalb, dass das Unterlassen begrifflich eine Erwartung des Handelns voraussetzt. 189 Ein Beobachter kann ein Handeln normativ oder kognitiv erwarten. Wenn er etwa weiß, dass A nach jedem Essen rülpst, wird ihm das einmalige Ausbleiben als Unterlassen auffallen. 190 Das strafrechtliche Unterlassensdelikt hingegen wird durch normative Erwartungen (Gebote) konstituiert. Daraus erklärt sich, dass gerade in der Strafrechtsdogmatik eine Theorie vertreten wird, der gemäß der Erwartungsbezug konstitutiv für den Begriff des Unterlassens ist. Das trifft zwar auf das Unterlassensdelikt zu. Richtig ist auch, dass in der juristischen Beobachtung von vornherein ein Bezug auf generalisierte Erwartungen gegeben ist. Der juristische Gutachter prüft ein Unterlassen im Hinblick darauf, ob es rechtswidrig und damit erwartungswidrig sein könnte. Doch ist dem Unterlassensbegriff nicht von vornherein ein Erwartungsbezug immanent. 191 Ein Beobachter kann auch ohne Bezug auf Erwartungen Handlungsalternativen des Beobachteten konstruieren und insoweit Unterlassungen feststellen. Der zutreffende Hinweis, den die Erwartungstheorie gibt, ist aber, dass das Unterlassen eine beobachterabhängige Konstruktion ist. Eine ähnliche Einschränkung des Unterlassensbegriffs findet sich bei Kindhäuser: „Der Begriff der Handlung impliziert immer die Frage nach dem Sinn eines Verhaltens, so dass jede Handlungszuschreibung auf einen entscheidungsrelevanten Kontext verweist. Man kann deshalb auch nicht sagen, dass, wer in einem Sessel sitzt und Zeitung liest, es unterlasse, einem Verwandten einen Brief zu schreiben, es sei denn, es gibt Gründe für das Schreiben eines solchen Briefes in dem raum-zeitlichen Zusammenhang, in dem das Zeitungslesen steht.“ 192 Vorausgesetzt wird danach entweder, dass sich der Handelnde bewusst gegen eine Alternative entschied, oder dass der Beobachter nur nahe liegende Handlungsalternativen bedenken soll, die auch dem Handelnden hätten kommen können oder sollen. Fraglich ist, was durch die begriffliche Anstrengung gewonnen werden kann. Sicherlich aber trifft Kindhäusers Bemerkung den herkömmlichen Sprachgebrauch. Es wird immer ein bestimmtes Motiv zur Feststellung eines Unterlassens führen. Nur wenn die Handlungsalternative in der Situation oder über einen längeren Zeitraum irgendeine Relevanz hatte, wenn unsicher war, ob 189
Gallas (1955), S. 9 f., Androulakis (1963), S. 69, Gimbernat Ordeig (1989), S. 159 ff., S. 168, Roxin (2003), AT II, § 31/6 f. Ambivalent Bloy (1978), S. 616 –621. Instruktiv zu den Implikationen der begrifflichen Konstruktion Engisch (1974), S. 374 ff. 190 Dieses Beispiel, weil die unterlassene Handlung wohl nicht final sein muss, wie Armin Kaufmann (1959), S. 26 f. annimmt. Man kann dieses Erfordernis freilich wiederum definitorisch einführen. 191 Ablehnend auch Engisch (1939), S. 424, Kaufmann (1959), S. 50 –57, Rödig (1969), S. 49 f., Welzel (1969), S. 194 f., Otter (1973), S. 175 f. 192 Kindhäuser (1989), S. 42 m.w. N. Er vertritt (1980), S. 178 explizit die Erwartungstheorie.
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der Handelnde ihr nachgehen würde, spricht man vom Unterlassen. „Er ist nicht aus dem Fenster gesprungen.“ Dieser Satz enthält auch die Information, dass eventuell ein Anlass bestand, aus dem Fenster zu springen. Man wird fragen, warum eine bestimmte Information mitgeteilt wird.
2. Das Verhältnis von Handeln und Unterlassen 1. Es bleibt das Verhältnis von Handeln und Unterlassen zu klären. In der Literatur findet sich oft die Annahme, dass dies durch das Installieren eines Oberbegriffs zu leisten sei, der auch gleich der Grundbegriff der Strafrechtsdogmatik sein soll. 193 Die ältesten Kandidaten sind die Begriffe des Handelns und Verhaltens. 194 Letzterer ist umgangssprachlich plausibel. So kann das Verhalten eines Handelnden durch ein bestimmtes Handeln und andererseits durch das Unterlassen anderen Handelns gekennzeichnet sein. Zum Beispiel kann er sich einem anderen Handelnden gegenüber in der Art verhalten, dass er ihm zwar in einigen Hinsichten hilft, in anderen Hinsichten aber nicht, dass er mit ihm über viele Themen redet, andere Themen aber ausspart etc. Auf die Frage: „Wie verhält er sich?“ kann man antworten: „Er tut dieses und unterlässt jenes.“ Verhalten ist ein neutraler Begriff, der positiv und negativ beschreibbare Aspekte vereinigen kann. Doch ist er keine Abstraktion, sondern ein additiver Sammelbegriff für Handlungs- und Unterlassensaspekte eines Handelns. 195 Ausführlich hat Otter die Tauglichkeit des Verhaltensbegriffs als Ober- und Grundbegriff zu Handlung und Unterlassung untersucht: 193 Z. B. Engisch (1974), S. 361: „Aber so leichten Herzens möchte man als Strafrechtsdogmatiker doch nicht davon abgehen, dass gerade der Handlungsbegriff ... als Grundelement und Verbindungselement ausgezeichnete logische Funktionen im Aufbau der Verbrechenslehre erfüllt.“ S. 365: „Logisch ist nur zu fordern, dass [der Handlungs- / Verhaltensbegriff] wie auch der allgemeine Verbrechensbegriff für alle strafrechtlich relevanten Verhaltensweisen zutrifft, also eben auch für Unterlassungen, auch für unbewusst fahrlässige Taten.“ Vgl. Roxin (2006), AT I, § 8/1 ff. m.w. N. 194 Z. B.: RGSt 15/151 (153), 63/211 (213 f.), Kelsen (1911), S. 72, Engisch (1939), S. 426., Armin Kaufmann (1959), S. 81 ff., 85 f., Welzel (1969), S. 31 f., 200, 203, Gimbernat Ordeig (1989), S. 161 ff., 168 ff., Jakobs (1993), 6/30, Koriath (1994), S. 333 und Röhl (2001), S. 172, LK- Walter (2007), Vor § 13 StGB, Rn. 30. Armin Kaufmann (1959), S. 83 f. und Welzel (1969), S. 203 stellen als gemeinsames Merkmal von Handeln und Unterlassen die Handlungsfähigkeit bzw. „finale Tatmacht“ zu der bezeichneten Handlung heraus. Handlungsfähigkeit ist die Bedingung der Möglichkeit, von einer Handlung wie Unterlassung zu sprechen, ist aber eine Eigenschaft, die dem Handelnden zugeschrieben wird. Zu sagen, die Handlung oder Unterlassung sei durch Handlungsfähigkeit gekennzeichnet, ist fehlerhaft. Dieser Begriff ist deshalb kein Oberbegriff. 195 In präziser juristischer Argumentation sollte der Begriff des Handelns und Verhaltens nicht verwendet werden, wenn mit ihm sowohl Handeln als auch Unterlassen gemeint sein kann. Vergleiche etwa die Unklarheit der Aussagen des Reichsgerichts (a. a. O.) und deren Folgen, siehe unter C.V.1.b)aa).
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„Soll das Verhalten jedoch gemeinsamer einheitlicher Oberbegriff sein, so müssen beide Erscheinungsformen notwendig bestimmte gemeinsame Merkmale aufweisen, die dann Merkmale des Verhaltensbegriffs sind. Sonst könnten Handlung und Unterlassung nur selbständige Unterarten des Begriffes sein ... Um als Grundbegriff dienen zu können, muss das Verhalten zumindest ein Merkmal weniger enthalten als seine beiden Erscheinungsformen und zwar gerade das Merkmal, das die Handlung von der Unterlassung unterscheidet.“ 196 Das Ergebnis: „Handlung und Unterlassung sind nicht Unterformen eines übergeordneten Begriffes, sondern selbständige, völlig verschiedene Formen menschlicher willentlicher Reaktion, Weisen des Sich-Verhaltens ... Das Verhalten ist daher als Grundbegriff der gesamten Verbrechenslehre untauglich.“ 197
Auch Rödig setzt die Begriffe des Verhaltens und des Handelns als Oberbegriff zu Handeln und Unterlassen ein: „Ist [Handlung] 1 eine Unterlassung von [Handlung] 2, so ist [Handlung] 1 und [Handlung] 2 eine Handlung.“ 198 Dass die Unterlassung von Handlung 2 auch für sich allein und nicht nur als Handlung 1 eine Handlung ist, beweist er aber gerade nicht. Präziser wäre es, von einem Implikationsverhältnis auszugehen: Handlung 1 impliziert das Unterlassen der Handlung 2. Das Unterlassen der Handlung 2 impliziert ein Handeln in anderer Weise, nicht notwendig die Handlung 1. Die Implikation ist eine Relation von Aussagen. Im Fall von Oberbegriffen impliziert die Aussage, dass etwas U (Unterbegriff) ist, dass es auch O (Oberbegriff) ist. Die Aussage, dass es O ist, impliziert aber nicht notwendig, dass es auch U ist. Angewendet auf das Handeln und Unterlassen: Die Aussage „A unterlässt“ impliziert zwar, dass A (auch) handelt. Doch impliziert die Aussage „A handelt“ (gerade auch nach der Auffassung Rödigs) ebenfalls, dass er (auch) unterlässt. Deswegen ist das Handeln kein Oberbegriff zum Unterlassen. 2. Einen anderen Oberbegriff verwendet Roxin. Handeln wie Unterlassen seien Persönlichkeitsäußerungen. 199 Diese Definition ergibt sich aus dem personalen Handlungsbegriff Roxins. Handlung sei „alles“, was auf die Person als „geistigseelisches Aktionszentrum“ zurechenbar ist. 200 Der Begriff der Persönlichkeitsäußerung umfasst mehr als das Handeln und Unterlassen, etwa auch Objektivierungen der Persönlichkeit, die auf Handlungen zurückgehen, wie Kleidung, Wohnraumeinrichtung, Schriftstücke, Kunstwerke etc. Richtig ist jedenfalls, dass sowohl das Handeln als auch das Unterlassen als Persönlichkeitsäußerungen gesehen werden können. Zu beachten ist, dass die Persönlichkeitsäußerung eines Beobachters bedarf, der sie als solche interpretiert (versteht). Das deutet an, dass ein Bezug auf typische und erwartbare Merkmale einer Person hergestellt wird, 196
Otter (1973), S. 100 – 141 (S. 102 f.). A. a. O., S. 136 f., m.w. N. In diesem Sinn etwa auch Radbruch (1903), S. 137 f. (2. / V.), Herzberg (1972), S. 161 f., Roxin (2006), AT I, § 8/14. 198 Rödig (1969), S. 98. 199 Roxin (2003), AT II, § 31/5. 200 Roxin (2006), AT I, § 8/44 ff. 197
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auf das Bild der Person, das der Beobachter hat. Dann fielen gleichgültige Handlungen nicht mehr unter diesen Begriff, was von Roxin nicht beabsichtigt ist. In Bezug auf das Unterlassen wird aber der Erwartungsbezug des Begriffs deutlich. So vertritt Roxin die Erwartungstheorie des Unterlassens, weil ein Unterlassen von Handlungen, über deren Möglichkeit sich der Handelnde nicht bewusst war und die auch niemand (kognitiv oder normativ) von ihm erwartet hat, nicht als Persönlichkeitsäußerung zugerechnet werden kann. Weiterhin ist einzuwenden, dass der Begriff der Persönlichkeit als geistig-seelisches Zentrum recht unklar ist. Er verdinglicht die Person, die nur als ein Identifikations- und Zurechnungskonstrukt begriffen werden kann. Zieht man vom Begriff der Person aber den Erwartungsbezug ab, bleibt nur der neutrale Begriff des Handelnden übrig. 3. Einen weiteren Oberbegriff verwendet Puppe. 201 Handlung und Unterlassung seien Sachverhalte oder Tatsachen. Ein Sachverhalt ist alles, was behauptet werden kann. Eine Tatsache ist ein wahrer Sachverhalt. Wie gesehen, bedeutet die (wahre) Behauptung eines Unterlassens, dass Tatsache ist, dass ein Handelnder nicht in bestimmter Weise gehandelt hat. Das Handeln wie das Unterlassen sind als mögliche Gegenstände einer Behauptung Tatsachen. Es scheint aber nicht nutzbringend, den Begriff der Tatsache als Oberbegriff aufzufassen, weil er ganz unspezifisch ist und auf alle anderen existierenden oder nicht existierenden Dinge, Ereignisse, Eigenschaften und Relationen in gleicher Weise zutrifft. Er verfehlt somit die Ordnungsfunktion. Der Ansatzpunkt Puppes ist jedoch ebenfalls möglich und kann modifiziert werden. 4. Die bisher vorgeschlagenen Oberbegriffe sagen nichts über die Frage des Verhältnisses von Handeln und Unterlassen aus. Man kann fragen, ob die Konstruktion eines Oberbegriffs überhaupt mit einem Erkenntnisgewinn verbunden ist, wie er vielen anderen Abstraktionen in der juristischen Dogmatik eigentümlich ist. Sind Handeln und Unterlassen überhaupt Phänomene, die voneinander getrennt sind und die deswegen (als Unterfälle) durch einen Oberbegriff erst in Beziehung zueinander gesetzt werden müssten? Die Antwort ist negativ. Handeln und Unterlassen bedingen sich gegenseitig und sind ein fest zusammengehöriges Paar. Man kann den einen Part nicht ohne den anderen haben. Sowohl der Begriff des Handelns als auch des Unterlassens setzt das Bestehen von mehr als einer Handlungsmöglichkeit voraus. Indem man unterlässt, handelt man in anderer Weise; indem man handelt, unterlässt man anderes Handeln. Hierzu findet sich eine Formulierung von Engisch: „Das Leben jedes Menschen stellt gewissermaßen eine Handlungslinie dar, bei der unendlich vieles links und rechts als nicht getan, als unterlassen liegen bleiben muss und darf und in jedem Augenblick ein und nur ein einziges Tun als zu vollziehend auszuwählen ist.“ 202
201 202
Puppe NK, Vor § 13 StGB, Rn. 61. Engisch (1939), S. 423.
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Handeln und Unterlassen sind den beiden Seiten einer Medaille vergleichbar. Die Vorderseite ist die wahrgenommene Handlungsalternative. Auf der Kehrseite finden sich die nicht aktualisierten Alternativen. Der Fokus der Beobachtung kann auf der einen oder der anderen Seite liegen. Sieht man das Handeln, ist das Unterlassen als unbestimmter Hintergrund außerhalb des Blicks. Sieht man ein Unterlassen, werden das Handeln und die sonstigen Unterlassungen nicht bezeichnet und bleiben im Hintergrund. Auch der Handelnde selbst kann seine Aufmerksamkeit auf eine der beiden Seiten lenken. Er kann sich bewusst für ein Handeln entscheiden und somit notwendig gegen alle anderen Möglichkeiten oder bewusst gegen ein Handeln und notwendig für irgendein anderes Handeln. Bezeichnet man die eine Seite der Unterscheidung, bleibt die jeweils andere durch diese Beobachtung unbestimmt. Eine Beobachtung kann nur eines bezeichnen und nicht im selben Moment beide Seiten der Unterscheidung. Man kann nur nacheinander die Seiten bezeichnen: „Er hat in dieser Weise gehandelt und hat unterlassen, in anderer Weise zu handeln.“ Handeln und Unterlassen sind somit nicht in der Form eines Entweder-oder gegeben, sondern des Sowohlals-auch. Sie sind miteinander verbunden. Deswegen ist ein Oberbegriff im herkömmlichen Sinn nicht zu konstruieren. Beide Begriffe beleuchten je einen anderen Aspekt desselben Phänomens, des Handelns. 5. Handeln und Unterlassen sind auch nicht Gegenbegriffe. Die Bildung von Gegensatzpaaren setzt voneinander trennbare Phänomene voraus. In diesem Sinn ist der Gegenbegriff zum Handeln der Begriff des Nichthandelns. Das Nichthandeln ist nicht als Unterlassen eines Handelns zu verstehen. Wer nicht handelt, unterlässt auch nicht. Es ist auch nicht durch den Unterschied von Aktivität und Passivität zu kennzeichnen. Das Ausharren, Stillstehen und Meditieren ist ein Handeln. Wenn es erfahrungsgemäß andere Handlungsmöglichkeiten gibt, kann man ein Handeln unterstellen. Handelnde können aus dem Handeln nicht ausbrechen. Das Nichthandeln hingegen bezeichnet etwa den Zustand des Schlafs oder der Bewusstlosigkeit. Der Begriff des Nichthandelns negiert das Handeln überhaupt, der Begriff des Unterlassens negiert ein bestimmtes Handeln. Die Konstruktion des Begriffs des Handelns beruht demnach auf der Grundunterscheidung zwischen Handeln und Nichthandeln. Innerhalb der Unterscheidung wird auf der Seite des Handelns nochmals Handeln und Unterlassen unterschieden. Die Begriffe von Handeln und Unterlassen eines Handelns sind nicht gleichwertig, sondern der Begriff des Handelns ist primär, aber kein Oberbegriff. Der Begriff des Unterlassens trifft, als negatives Gegenstück, eine Aussage darüber, dass ein bestimmtes (mögliches oder erwartetes) Handeln nicht stattfand. Eine vergleichbare Negation kann zu jedem näher bestimmenden Verb gebildet werden, z. B.: reden / schweigen, lieben / nicht lieben etc. Ein Oberbegriff könnte deswegen im Anschluss an Puppe wie folgt formuliert werden: „Was in Bezug auf ein bestimmtes Handeln (auf das Reden etc.) behauptet werden kann“. Der Bezugspunkt ist das Verb mit dem positiven Bedeutungsgehalt, das Handlungswort.
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Das negierende Verb ist sekundär. Der genannte Begriff ist aber ein Metabegriff, weil er nicht auf der gleichen Bedeutungsebene steht wie die „Unterbegriffe“. Er ist als Grundbegriff der Strafrechtsdogmatik nicht geeignet. 203
3. Handeln als Entscheiden 1. Die Überlegungen zum Verhältnis der Begriffe „Handeln“ und „Unterlassen“ führen damit zu einem Begriff des Handelns, dessen zentrales Merkmal der Verweis auf Alternativen ist. Die Begriffe von Handeln und Unterlassen eines Handelns beleuchten nur je einen anderen Aspekt des Handelns. Beide Begriffe setzten das Bestehen anderer Möglichkeiten voraus. Wenn der Handelnde keine Wahl hatte, ist das, was ihm geschieht, was er erleidet, nicht als Handeln zuzurechnen. Das Handeln ist eine Wahl zwischen Möglichkeiten. Das ist unumstritten der Kern des Begriffs der Handlung. Man kann deshalb den Begriff des Handelns mit dem des Sich-Entscheidens synonym setzen. Dieser Begriff des Entscheidens darf nicht psychologisch aufgefasst werden. Er bezeichnet lediglich das Phänomen des Übergangs von Möglichkeiten in unveränderliche Wirklichkeit. Etwas ereignet sich, das auch anders möglich gewesen wäre. Weil das andauernd passiert, solange ein Handelnder handelt, ist das Prozesswort des Entscheidens dem punktuell angelegten Begriff der Entscheidung vorzuziehen. Der übliche und nahe liegende Sinn des Begriffs der Entscheidung ist dagegen, dass zuerst die Entscheidung fällt und dann die Handlung folgt. Im hier gemeinten Sinn ist das Handeln selbst ein Entscheiden. Wichtige Handlungen wird man sich zwar vorher überlegen und eine explizite Entscheidung treffen. Doch wirkt dieser vorherige Entschluss nur als Entscheidungsprämisse. Er bleibt prinzipiell in jedem Moment widerrufbar. Erst das Handeln selbst ist das Entscheiden, weil es im Moment der Ausführung unumkehrbar wird. Das Entscheiden betrifft auch nicht nur besonders wichtiges Handeln. Ein Handelnder entscheidet in jedem Moment. Er kann als Handelnder nicht anders. 2. Wie angedeutet, ist ein Bedeutungsunterschied zwischen den substantivierten Verben „Handeln“, „Unterlassen“, „Entscheiden“ und den Substantiven „Handlung“, „Unterlassung“ und „Entscheidung“ festzuhalten. Das Handeln ist eher als ein dauernder Prozess und als Folge von Ereignissen zu beschreiben. Die Identifikation von beschreibbaren Teilprozessen mit relativ klaren Grenzen als „Handlungen“ setzt die Identifikation eines Handelns voraus. Einzelne Handlungen können anhand eines äußerlichen Geschehens („den Arm heben“), einer bestimmten Wirkung („das Fenster öffnen“) oder eines offensichtlichen Zwecks („ein Geständnis ablegen“) identifiziert werden. In dieser Trias finden 203
Fortführung dieses Themas unter C.III.2. ff. und C.IV.2.
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sich die in der strafrechtlichen Literatur vertretenen Handlungsbegriffe wieder: der Begriff einer einfachen Basishandlung („willkürliche Körperbewegung“), der Handlungsbegriff der „kausalen“ und der „finalen Handlungslehre“. 204 Gegenüber allen „Handlungsbegriffen“ muss aber ein primärer Begriff des Handelns verfügbar sein. Ungeachtet aller Unterschiede waren sich deshalb die Autoren der verschiedenen Richtungen einig, dass der Handlung ein Moment der freien Wahl zukommen muss. Dieser Umstand, der oft als „willkürliches Körperverhalten“ bezeichnet wird, ist der Kern eines jeden Handlungsbegriffs. 205 Nur in diesem Punkt kann der Handlungsbegriff auch für die juristische Fallentscheidung relevant werden, durch die Ausscheidung von Reflexen und nicht mehr steuerbaren Bewegungen. Die „Freiheit“ der Handlung wird dabei anspruchslos aufgefasst. Sie umfasst nur das Anders-Können im Moment. Die Freiheit, eine Handlung überhaupt oder irgendwann vorzunehmen, kann fehlen. Ein Süchtiger hat zur Droge nur die Freiheit in diesem Sinn. Weiterhin kann ein Handelnder handeln, obwohl ihm einige Aspekte seines Lebens nicht als „Handlung“ zuzurechnen sind. Wenn Becketts Murphy am Schaukelstuhl angebunden ist, 206 ist das Sitzen vielleicht keine „Handlung“, sondern „Sitzen“ nur eine analoge Zustandsbeschreibung, schaukelt er aber oder sagt endlich ein Wort, sind das Handlungen. 3. Im Spätwerk Luhmanns findet sich ebenfalls ein Konzept des Handelns als Entscheiden. 207 Er lässt beide Operationen darüber hinaus im Begriff des Beobachtens aufgehen. Andererseits dürfte auch das Beobachten ein Entscheiden sein. Beobachten ist jede Operation (eines Systems), die Wahrnehmung oder Denken fokussiert. Nach Luhmann beobachtet das Entscheiden mit Hilfe von Alternativen. Wird ein Entscheiden beobachtet, wird ebenfalls ein Bezug auf andere Möglichkeiten hergestellt. Sie gehören zur Entscheidung, sind aber nicht die Entscheidung. Sie erscheinen als das Unterlassene, nicht Realisierte. Die Frage, was die Entscheidung eigentlich ist, lässt Luhmann unbeantwortet. Die Bezeichnung der Entscheidung als Wahl und die Zurechnung auf einen „Entscheider“ dupliziert das Problem. Luhmann legt stattdessen dar, wie das Entscheiden möglich ist. Es ist möglich, indem in der jeweiligen Gegenwart des 204
Siehe unter C.VI. Zutreffend Rödig (1969), S. 92 – 95. Vgl. etwa v. Liszt (1900), § 28 I: „willkürliches Verhalten“, „Willensbetätigung“, „Körperbewegung“. Engisch (1944). S. 164 f.: „Willkürlichkeit“, S. 168: „körperliches Verhalten“ als (Mindest-)„Erfolg“ der Handlung. 206 Beckett, „Murphy“: „Die Sonne schien, da sie keine andere Wahl hatte, auf das Nichts des Neuen. Murphy saß, als ob es ihm frei stünde, im Schatten, in einer Gasse West Bromptons.“ Bei Beckett treten oft Figuren auf, die schon körperlich einen eingeschränkten Handlungsspielraum haben und die ihnen verbliebenen Möglichkeiten durchspielen. 207 Zum Folgenden Luhmann (2000 b), S. 123 ff. Vgl. schon (1984), S. 192: die Handlung als „zurechenbare Einzelselektion“. 205
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Systems, das Vergangenheit und Zukunft unterscheidet, die Vergangenheit als zukunftsoffen gesehen wird und in die Zukunft Möglichkeiten projiziert werden. Die Imagination von Möglichkeiten in die Zukunft ist das, was als Wahlfreiheit erfahren wird. Welche Möglichkeiten assoziiert werden können, ist aber weitgehend durch das Systemgedächtnis, also durch Strukturen (Muster und festgehaltene Entscheidungsprämissen) bestimmt. Es wird somit deutlich, dass auch Luhmanns Begriff der Entscheidung das Verhältnis von anderen Möglichkeiten zur Realisierung einzelner Möglichkeiten beschreibt. In der strafrechtsdogmatischen Literatur kennen etwa Rödig 208, Philipps 209 und Kargl 210 einen grundlegenden Begriff des Handelns als Entscheidung. Gerade die Verdinglichung des Entscheidens zur Entscheidung verleitet aber dazu, den Begriff mit dem des Entschlusses gleichzusetzen. So ist bei Kargl zu lesen und als Differenz zum hier entworfenen Begriff festzuhalten: „Definiert man solcherart Handlung als Ergebnis von Entscheidungen, so ist die Entscheidung, einen erwogenen Plan nicht auszuführen, ebenso eine Handlung oder Intervention, wenn die Möglichkeit bestand, in das Geschehen im eigenen Sinn einzugreifen. Tun und Unterlassen unterscheiden sich danach nicht im Hinblick auf empirisch feststellbare Folgen in der Welt, sondern durch unterschiedliches Entscheidungsverhalten.“ Der Begriff des Entscheidens ist aber gerade kein Oberbegriff zu Handeln und Unterlassen. Es wäre auch nicht praktikabel, jedes Unterlassen auf einen bewussten Entschluss zurückzuführen, weil dann nur intentionales Unterlassen als Unterlassen bezeichnet werden könnte.
III. Tun und Unterlassen 1. Die Definition von Tun und Unterlassen in §13 StGB 1. Für die Unterscheidung von „Tun und Unterlassen“ im Strafrecht ist § 13 StGB die ausschlaggebende Anordnung. In dieser Vorschrift wird die unterlassene Handlung näher beschrieben. Unterlassen im Gegensatz zum Tun ist das Unterlassen, „einen Erfolg abzuwenden, der zum Tatbestand eines Strafgesetzes gehört.“ Das „Abwenden des Erfolgs“ ist ein „Verursachen, dass der Erfolg nicht 208
Rödig (1969), S. 95 ff: „Es ist das Wesen der Handlung, ein Verhalten zu sein, das auf einer Entscheidung zwischen diesem und wenigstens einem anderen Verhalten beruht. Wer handelt, wählt und setzt, was er gewählt hat, in sein Leben um.“ Vgl. auch Rödig (1986), S. 35. 209 Philpps (1973), S. 35 ff. m.w. N. 210 Kargl (1991), S. 513. Dort auch eine umfassende Darstellung und Reflexion handlungstheoretischer Ansätze (insbesondere zu Parsons), weiterhin eine Zusammenschau der soziologischen und kognitionsbiologischen Erkenntnisse zur Frage von Freiheit und Strukturdetermination des Handelns.
III. Tun und Unterlassen
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eintritt“ und ist gleichbedeutend mit dem Begriff „Verhindern des Erfolgs.“ § 13 StGB geht im Hinblick auf die Tatbestände des Strafgesetzes, die er in Bezug nimmt, ersichtlich von einer Trennung von Handlung und „Erfolg“ aus. Daraus folgt, dass mit Strafe bedrohtes „Tun“, das dem Unterlassen des Verhinderns entgegengesetzt werden kann, das Verursachen eines Erfolgs ist. Falls bloßes Handeln oder Unterlassen ohne Rücksicht auf einen Erfolg mit Strafe bedroht wird, kommt die Unterscheidung von „Tun und Unterlassen“ im Sinne des § 13 StGB nicht in Betracht. Diese Unterscheidung ist gleichbedeutend mit der Unterscheidung zwischen dem Verursachen und dem Unterlassen des Verhinderns eines Erfolgs, der dem Tatbestand eines Strafgesetzes entspricht. 2. „Tun“ und „Unterlassen“ sind wie „Handeln“ und „Unterlassen“ beschreibende Begriffe. Sie enthalten keine Vorwertung. Ob das Tun oder Unterlassen des Verhinderns als rechtswidrig bewertet wird, entscheidet sich erst an der Frage, ob ein von Rechts wegen geltendes Verbot oder Gebot missachtet wurde. Deshalb kann bezweifelt werden, ob ein Oberbegriff zu Tun (Verursachen) und Unterlassen (des Verhinderns) für die Zwecke der juristischen Dogmatik überhaupt relevant wäre. Zur Frage eines Oberbegriffs werden in der strafrechtsdogmatischen Diskussion zumindest implizit zwei Konzeptionen vertreten, die zunächst als genau entgegengesetzt erscheinen. Zum einen kann jedes Unterlassen des Verhinderns als Verursachen bezeichnet werden, zum anderen jedes Verursachen als Unterlassen des Verhinderns. Weil beide Konzeptionen einen Unterschied zwischen dem handelnden Verursachen und dem Unterlassen des Verhinderns nicht leugnen können, können sie nur als Versuch der Definition eines Oberbegriffs verstanden werden. Die Konzeption des § 13 StGB müsste jeweils eine andere sein. Für die hier entwickelte und insofern oft als selbstverständlich vorausgesetzte Interpretation wirkt er im Hinblick auf das Unterlassen strafbarkeitsbegründend. Für die alternativen Konzeptionen ist § 13 StGB auf alle Delikte anwendbar. Wenn man das Unterlassen des Verhinderns als einen Fall des Verursachens ansieht, muss man § 13 StGB als strafbarkeitseinschränkend interpretieren, weil er im Hinblick auf die Strafbarkeit des Unterlassens zusätzliche Voraussetzungen aufstellt. Wenn man dagegen das Verursachen als einen Unterfall des Nichtverhinderns auffasst, wirkt § 13 StGB sowohl (im Hinblick auf das Unterlassen) strafbarkeitsbegründend als auch (im Hinblick auf das Tun) prinzipiell strafbarkeitseinschränkend. Die Garantenstellung dafür, dass man nicht verursacht, wird aber in jedem Fall zu bejahen sein.
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2. Verursachen als Nichtverhindern. Der negative Handlungsbegriff Auf den ersten Blick unverständlich scheint, das Verursachen eines Erfolgs als Unterlassen des Verhinderns zu interpretieren. In diese Richtung geht Herzberg, der einen „negativen Handlungsbegriff“ konstruiert hat. Das „vermeidbare Nichtvermeiden eines Erfolgs in Garantenstellung“ ist bei ihm der Oberbegriff zu Tun (Verursachen) und Unterlassen (des Verhinderns). 211 Vorausgesetzt ist, dass man das Verursachen als Unterlassen des Vermeidens deuten kann. Herzberg nutzt in seiner Konzeption eine Doppeldeutigkeit des Begriffs Vermeiden. Dieser hat sowohl die Bedeutung eines Handelns als auch bloßen Unterlassens. Vermeiden bezeichnet in folgendem Satz bloßes (intentionales) Unterlassen: „Ich vermeide, nach A zu gehen“ = „Ich unterlasse bewusst, nach A zu gehen.“ In korrekter Redeweise muss das Verb mit einem anderen Handlungswort verbunden werden (vermeiden zu ...), nicht bloß mit einem Substantiv („einen Erfolg vermeiden“). „Vermeiden“ kann aber auch Handlungsbedeutung haben und ist dann mit dem Begriff „Verhindern“ verwandt: „Ich vermeide, A zu begegnen, indem ich den Umweg über X nehme.“ Vermeiden in dieser Handlungsbedeutung kann (wie auch der Begriff des Verursachens) immer mit dem Hinweis auf eine Handlung verbunden werden, welche die bezeichnete Wirkung hat. Es ist ein Vermeiden, indem man in bestimmter Weise handelt. Das Verhältnis zum Begriff des Verhinderns, der eine ähnliche Bedeutung hat, aber auf ein Handeln beschränkt ist, ist dadurch gekennzeichnet, dass der Begriff des Vermeidens einen selbstbezüglichen Anklang hat. Er wird selten verwendet, um zu bezeichnen, dass ein Handelnder einen von ihm unabhängig drohenden Erfolg verhindert. Diese Wortverwendung wäre aber nicht falsch, nur ungewöhnlich. „Vermeiden“ hat somit entweder eine Handlungs- oder eine Unterlassensbedeutung. Man kann einerseits ein Ereignis vermeiden, indem man handelt und andererseits, indem man bloß unterlässt, in bestimmter Weise zu handeln. Im Hinblick auf handelndes Verursachen ist die Redeweise, dass das Verursachen ein Unterlassen des Vermeidens des Verursachens sei, jedoch überflüssig, weil das Vermeiden nur in seiner Unterlassensbedeutung benutzt wird. Das Verursachen (im Handlungssinn) wäre demnach ein Unterlassen des Unterlassens des Verursachens. Das ist umständlich tautologisch. „Unterlassen“ könnte mit dem gleichen Recht auch der Oberbegriff zu Handeln („Unterlassen eines Unterlassens eines Handelns“) und Unterlassen (eines Handelns) sein. Das Unterlassen des Verursachens ist jedenfalls kein Vermeiden im Handlungssinn. Das Verhindern ist hingegen ein Vermeiden im Handlungssinn. Mit dieser Doppeldeutigkeit 211 Herzberg (1972), S. 170, 174, 177, weitergehend zum Oberbegriff von Handeln und Unterlassen abstrahierend auf S. 174 ff. Kritisch Engisch (1973), S. 193 ff., Joerden (1988), S. 48, Fn. 110, Jakobs (1993), 6/33, Roxin (2006), AT I, § 8/33 ff., je m.w. N.
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spielt Herzbergs Konzeption, wenn der Oberbegriff beide Bedeutungen, die miteinander nicht vereinbar und streng alternativ sind, in einen Begriff aufnimmt. 212 Gleichwohl kann man so sprechen. Das Begriffssystem ist Folgendes:
3. Nichtverhindern als Verursachen. Die Kausalität des Unterlassens 1. Im Gegensatz zu der soeben dargestellten hat eine andere Konstruktionsmöglichkeit viel Verbreitung gefunden. Sie kommt in Redeweisen wie der vom Totschlag oder der Körperverletzung „durch Unterlassen“ zum Ausdruck. Es handelt sich um einen spezifisch juristischen Sprachgebrauch, der auch dazu dient, dem Fachunkundigen, einen drastischeren Eindruck von der „Tat“ zu verschaffen und das Kunststück zu verschleiern, wie etwa aus dem bloßen Unterlassen ein Totschlag werden kann. Insbesondere war lange vor Einführung des § 13 StGB im Jahr 1969 eine Auffassung verbreitet, der die „unechten Unterlassungsdelikte“ das Attribut „unecht“ verdanken, das sie bis heute führen. Um die Strafbarkeit des Unterlassens des Verhinderns zu rechtfertigen, behauptete man, dass die unechten Unterlas212 Zu beachten ist, dass Herzberg selbst seine Konzeption an einigen Stellen anders deutet als hier vorgeführt. „Vermeiden“ gewinnt bei ihm Handlungsbedeutung. Deswegen sucht er bei Begehungsdelikten das Unterlassen gebotener („interner“) Vermeidehandlungen nachzuweisen, so das Unterlassen, den Impuls zur Tat zu unterdrücken, (2003), S. 271. Dieses Konzept entspricht dem umgekehrten Versuch der „Interferenztheorien“, das verbotene Tun beim Unterlassen darin zu sehen, dass der Täter den Handlungsimpuls aktiv unterdrückt. Diese Konzeption hat Herzberg (1972), S. 39 selbst zutreffend kritisiert: „Aber es ist schon im Ansatz verfehlt, derartige seelische Akte in eine Linie zu stellen mit körperlichen Betätigungen, die in einem greifbaren Bewirkungszusammenhang mit ihren Folgen stehen.“ Zur Kritik des „internen Unterlassensbegriffs“ auch Vogel (1993), S. 114 f.
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sungsdelikte eigentlich Begehungsdelikte seien, das heißt im Tatbestand der Begehungsdelikte impliziert, der ein Verursachen beschreibt. Nur diejenigen Unterlassensdelikte, die sich aus einer Tatbestandsbeschreibung ergeben, die nur das Unterlassen umfasst, wurden als „echt“ bezeichnet. Dagegen wandte sich schon Merkel. Die Gebotswidrigkeit könne ein Unterlassungsdelikt begründen, nicht aber aus einem Nichtverhindern ein Verursachen machen. 213 Weiterhin konnte man bei Radbruch lesen, dass nicht der Wortlaut, sondern der Sinn desjenigen Gesetzes, das ein Begehungsdelikt konstituiert, die Strafbarkeit des Unterlassens des Verhinderns impliziere. 214 In der Tat ist es der Zweck sowohl der Verursachungsverbote als auch der Verhinderungsgebote, eine Veränderung zu verhindern. 215 Dass den unechten Unterlassungsdelikten ein Gebot eines verhindernden Tuns zugrunde liegt und den Begehungsdelikten ein Verbot eines verursachenden Tuns und dass das Unterlassen gerade kein verursachendes Tun ist, hat dann Engisch deutlich gemacht. 216 Schließlich ist Armin Kaufmann gegen die Konstruktion des Unterlassungsdelikts als Begehungsdelikt („Kommissivdelikt“) durch Unterlassen erfolgreich zu Felde gezogen. 217 Dieser Argumentationsweg lebt von der Prämisse, dass dem Begriff „Verursachen“ in den Tatbeständen, z. B. in § 222 StGB, nur die Interpretation als ein „Tun“ (im Sinne aktiven Verursachens) angemessen ist. Die Redeweise vom „Begehen (= Tun) durch Unterlassen“ wäre in der Tat sprachlich falsch. Doch warum soll eigentlich nicht ein „Verursachen durch Unterlassen“ möglich sein, das z. B. Engisch durchaus anerkennt? 218 Das hier gemeinte Verursachen wäre nicht das Verursachen im Sinne eines Tuns, sondern der Oberbegriff zu Tun und Unterlassen des Verhinderns. Das tatbestandliche Verbot des Verursachens (i.w. S.) enthielte dann „logisch“ sowohl das Verbot des aktiven Verursachens (i. e. S. durch „Tun“) als auch das Gebot des Verhinderns. Das verbotswidrige Verursachen wäre entweder ein Tun oder ein Unterlassen. 219 213
Merkel (1867 b), S. 79 f., (1912), S. 52 f. Er verwendete den Begriff des „unechten“ Unterlassungsdelikts anders, nämlich für Begehungsdelikte, die zugleich ein pflichtwidriges Unterlassen implizieren, (1912), S. 133 ff. Näher unter C.VI.2. 214 Radbruch (1903), S. 141 f. (2. / V.). 215 Hier wurde deshalb ein „Veränderungsverbot“ abstrahiert, vgl. B.I. / VI. 216 Engisch (1933), S. 240 vgl. auch (1939), S. 424, (1973), S. 173. Ebenso schon Merkel (1867 b), S. 78 f., (1912), S. 49 ff. 217 Kaufmann (1959), S. 239 ff., 272. 218 Engisch (1944), S. 164, näher unter C.VI.6. Das Reichsgericht kannte ebenfalls den Begriff „Herbeiführen des Erfolges durch Unterlassen“, RGSt 63, S. 394. Auch Puppe (2002), § 2/54 geht es mit der Behauptung der Kausalität des Unterlassens um das Installieren eines Oberbegriffs, wie durch den Verweis auf Radbruchs berühmtes Wort vom Riss durch das gesamte System zwischen Tun und Unterlassen klar wird. Gleich von welchem Standpunkt aus wird aber der Unterschied zwischen der Kausalität des Unterlassens und des Tuns anerkannt, z. B. Armin Kaufmann (1959), S. 61, Wolff (1965), S. 35, Otter (1973), S. 110 ff., Jakobs (1993), 29/18, Roxin (2003), AT II, § 31/43.
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2. Das Unterlassen des Verhinderns als ein Verursachen aufzufassen, setzt voraus, dass das Unterlassen kausal für den Erfolg ist. Diese „alte“ Streitfrage soll zunächst beleuchtet werden, 220 bevor die Frage weiter verfolgt wird, ob die Konstruktion des Oberbegriffs „Verursachen“ sinnvoll ist. Die Bedingungstheorie der Kausalität, die in der juristischen Literatur dominiert, kann die Kausalität des Unterlassens bejahen. Sie setzt die Begriffe „Ursache“ und „Bedingung“ gleich. 221 Ihr gemäß ist ein Umstand nur dann die Ursache für eine Veränderung, wenn er nicht weggedacht werden kann, ohne dass diese Veränderung entfiele. Die Frage nach der Kausalität des Unterlassens kann dabei aufgespaltet werden in die Frage nach der Kausalität des Handelns, das ein Unterlassen bedeutet, und nach der Kausalität des Unterlassens selbst. Das Gedankenexperiment wird verdoppelt. Um die Kausalität des Handelns zu untersuchen, muss bloß das Handeln eliminiert und durch ein alternatives Handeln ersetzt werden. Gab es irgendein alternatives Handeln, das zum Eintritt derselben Veränderung geführt hätte, war das wirkliche Handeln nicht notwendige Bedingung dieser Veränderung. Im Fall eines Handelns, das ein Unterlassen des Verhinderns ist, wird sich meistens erweisen, dass dieses Handeln nicht notwendig für den Erfolgseintritt war, sondern dass viele alternative Handlungen ebenfalls mit dem Erfolgseintritt verbunden gewesen wären. Zum Beispiel hätte der Handelnde statt wegzugehen auch dem Unglück zuschauen können. Eine Ausnahme gilt nur in den Fällen, in denen das Unterlassen des Verhinderns mit einer ganz bestimmten Handlung beginnen muss (z. B. das Abschalten eines lebenserhaltenden Apparats durch den behandelnden Arzt). 222 Dann ersetzt man das eliminierte Handeln aber gerade durch ein Handeln, das zum Nichteintritt des Erfolgs in kausaler Beziehung steht. Das Handeln des Unterlassenden ist somit in der Regel nicht kausal für den Erfolg und ist kein Verursachen. Die zweite Frage ist die nach der Kausalität des Unterlassens selbst. Denkt man das Unterlassen des Verhinderns hinweg, genügt es nicht, das reale Handeln wegzudenken bzw. durch irgendein anderes 219 Diese Interpretation wäre die einzige Möglichkeit, die alte Lehre vom Begehen durch Unterlassen noch zu retten. Unklar ist, warum Philipps (1974), S. 15 f., Fn. 1 an ihr festhält – wohl deshalb, weil er die teleologische Ableitung von (akzessorischen) Geboten aus Verboten als wichtig erkannt hat (S. 61 ff.). Doch gerade weil er gegen Engisch eine Kausalität des Unterlassens verneint (S. 101, Fn. 128), könnte er kaum annehmen, dass in einem Verursachungsverbot ein Verhinderungsgebot impliziert ist. 220 Lesenswert hierzu schon v. Liszt (1900), § 30 III und Honig (1930), S. 189 ff., je m.w. N. In der neueren Literatur wird die Kausalität des Unterlassens etwa von Puppe (1980), S. 895 ff., Renzikowski (1997), S. 106 f. und Schneider (1997), S. 92 ff. (m.w. N.) bejaht. Die Gegenposition wird etwa von Joerden (1988), S. 48 ff. und Stoffers (1992), S. 107 f. (m.w. N.) vertreten. Relativierend Dencker (1996), S. 45 f. 221 Vgl. nur RGSt 15/151, v. Liszt (1900), § 29 II, Mezger (1931), S. 109 ff., Spendel (1947), S. 91, Toepel (1992), S. 95 f. 222 Siehe die Fallgruppe unter C.V.2.a).
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Handeln zu ersetzen. In diesem Fall hätte man zwar das Handeln, aber nicht notwendig das Unterlassen eliminiert. Vielmehr muss man auch das unterlassene Handeln hinzudenken, also das reale Handeln durch das unterlassene Handeln ersetzen. 223 Im Fall des Unterlassens des Verhinderns ist das Verhindern hinzuzudenken. Der Begriff des Unterlassens wird nun derart definiert, dass er die reale Möglichkeit des unterlassenen Handelns impliziert. 224 In diesem Verständnis wird mit der Feststellung, dass der Handelnde unterlassen habe zu verhindern, begriffsnotwendig vorausgesetzt, dass die Möglichkeit des Verhinderns für ihn bestand, das heißt, dass das unterlassene Handeln den Erfolg verhindert hätte. 225 Das Unterlassen des Verhinderns ist somit per definitionem eine Bedingung des Erfolgseintritts. 226 Das hypothetische Kausalurteil darüber, ob das unterlassene Handeln den Erfolg verhindert hätte, ist dem Urteil über die reale Kausalität des Unterlassens vorrangig. Nur wenn die vorgestellten, verhinderungsgeeigneten Handlungen verhindernd gewirkt hätten, kann ein Unterlassen des Verhinderns angenommen werden. Oft wird wegen des Vorrangs des hypothetischen Urteils von einer QuasiKausalität des Unterlassens gesprochen. 227 Diese Redeweise ist ungenau. Entwe223 Begründet von Engisch (1939), S. 426 f., vgl. auch (1931), S. 30 f. und (1965), S. 135. Zuvor schon J.St. Mill, Nachweise bei Koriath (1994), S. 496 ff. Zustimmend Armin Kaufmann (1959), S. 59 ff. Kritisch Jakobs (1993), 29/16 und Koriath (1994), S. 499 ff., beide jedoch unzutreffend. Hinter der Feststellung eines Unterlassens steht im Kern die Aussage: „A hat nicht wie bezeichnet gehandelt.“ Negiert man diese Aussage, resultiert: „A hat so gehandelt“. Koriath verkennt, dass das Hinwegdenken eines Umstands nur die Negation einer Existenzaussage ist. Statt: „Es ist wahr: X war der Fall“ steht: „X war nicht der Fall“, also: „Es ist nicht der Fall, dass A nicht wie bezeichnet gehandelt hat.“ 224 Zur Möglichkeitstheorie oben C.II.1.2. 225 Hierbei stellt sich für juristische Zwecke kein grundsätzliches erkenntnistheoretisches Problem. Es kommt auf eine „Feststellung“ des Sachverhalts an, wofür die begründbare richterliche Überzeugung genügt, dass bei gebotenem Handeln der Erfolg „mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit“ entfallen wäre. Vgl. etwa RGSt 75/324 (326 ff.), BGHSt 11/1 (4 f.). 226 Daraus könnte wiederum doch die Kausalität auch des Handelns folgen. Das „Handeln in anderer Weise“ (nicht aber, wenn es viele Alternativen gab, das konkrete Handeln) war notwendige Bedingung des Unterlassens dieses bestimmten Handelns – und damit auch des Erfolgs? Dieses Argument würde einen Fehler begehen, zu dem die Bedingungstheorie der Kausalität verleitet: die Gleichsetzung logischer Relationen und als tatsächlich zu unterstellender Zusammenhänge, Hinweis bei v. Liszt (1900), § 29, Fn. 3. 227 So auch der BGHSt 48/77 (93): Die Unterlassung sei nur „quasi-ursächlich“, weil „ein Unterlassen, also ein Nichtgeschehen ... – ontologisch – nicht Ursache eines Erfolges sein“ könne. Deswegen sei die Beurteilung der Kausalität „notwendigerweise normativ“. Gemeint ist damit, dass sie zugleich die „Kausalität der Pflichtwidrigkeit“ ist – doch auch diese lässt sich durchaus als „reale“, jedenfalls nicht „normative“ Kausalität auffassen. Die Rechtsprechung war bis dahin ersichtlich von echter Kausalität des Unterlassens ausgegangen, zum Beispiel noch BGHSt 37/106 (126 f.). Die Wendung von der Kausalität
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der lehnt man die Kausalität des Unterlassens ab, weil nur positiv benennbare Umstände kausal sein können, 228 oder man nimmt Kausalität an, die dann nicht relativiert werden kann. Ob man nur negativ benennbare Umstände in den Kausalbegriff einbezieht, ist eine Frage der Definition. Entsprechend ist auch nicht von einer Modifizierung der Bedingungstheorie für die Unterlassungsdelikte zu reden, weil man etwas hinzu- statt hinwegdenken müsse. Es muss nur vorrangig festgestellt werden, ob die vorgestellten („hinzugedachten“) Handlungen „hypothetisch“ kausal für den Nichteintritt der Veränderung gewesen wären, 229 was sich freilich aus dieser Theorie nicht ergibt. Bejahendenfalls folgt daraus, dass das Unterlassen dieser Handlungen im Sinn einer notwendigen Bedingung kausal für den Eintritt der Veränderung war. Es kann nicht hinweggedacht werden, ohne dass der Erfolg entfiele. 3. Doch nicht nur die Bedingungstheorie der Kausalität kann die Ursächlichkeit des Unterlassens bejahen, sondern auch Auffassungen, die auf den erfahrungsgemäßen Zusammenhang eines Umstands mit der eingetretenen Veränderung abstellen. 230 Problematisch ist einzig, dass sich die Annahme einer Kausalität des Unterlassens auf ein Wahrscheinlichkeitsurteil über ein hypothetisches Geschehen stützen muss und somit „kontrafaktisch“ angelegt ist. Deshalb lehnt etwa Philipps die Möglichkeit einer Kausalität des Unterlassens ab. 231 im Rechtssinne entstammt BGHSt 11/1 (7). Dort ging es aber um die Kausalität der Fahrlässigkeit, also des Umstands, der die Normwidrigkeit begründet und der somit die eigentliche rechtliche Bedeutsamkeit hat, im dort entschiedenen Fall das Nichteinhalten des gebotenen Seitenabstands beim Überholen. Siehe unter C.V.1.b). 228 Exemplarisch Merkel (1867 b), S. 79 f., (1912), S. 135 („Wirkungen setzen ein Wirkendes voraus“), v. Liszt (1900), § 29, Fn. 3 f., Kelsen (1911=1923), S. 74, 76, 207, der von „Ursachenreihen“ als Reihen von Veränderungen ausgeht, und Welzel (1969), S. 43, 203, der die Kausalität als Zusammenhang in der Aufeinanderfolge realen (positiven, sich ereignenden) Geschehens auffasst. Ähnlich Arthur Kaufmann / Hassemer (1964), S. 152, Philipps (1974), S. 101, Fn. 128, Joerden (1988), S. 48 ff., Jakobs (1993), 7/25 f., 29/16, Kargl (1999), S. 467 f., Haas (2002), S. 193 f. Es kann nicht unterstellt werden, dass diese Auffassung notwendig mit einem (metaphysisch verstandenen) Konzept einer causa efficiens („Wirkkraft“) verbunden ist (so aber Puppe [2002], § 2/53 ff.), z. B. explizit ablehnend v. Liszt (1900), § 29, V 2. Hierzu Engisch (1944), S. 163, Fn. 73: „Wenn Welzel scharf betont, dass die Unterlassung nicht im ‚naturalistisch-kausalen Sinne verursacht‘, so würde ich sagen: im Sinne der richtig gedeuteten Bedingungstheorie verursacht auch die Unterlassung. Ob dieser Ursachenbegriff mit dem ‚naturalistisch-kausalen‘ identisch ist, ist eine Frage, die offen bleiben darf. Der natürlich-sozialen Auffassung entspricht er.“ Vgl. zum „natürlichen Kausalbegriff“ Engisch (1950), S. 113 f., 135. Vgl. weiterhin Haas (2002), S. 162 ff., S. 173, der für juristische Zwecke das Konzept einer (nicht metaphysisch verstandenen) causa efficiens vertritt. 229 BGHSt 48/77 (93) m.w. N. 230 Engisch (1944), S. 162 f., (1950), S. 135, Puppe (1980), S. 895 –902, (2002), § 2/ 53 ff., Hilgendorf (1994), S. 564, Sofos (1999), S. 199 – 221, Roxin (2003), AT II, § 31/ 42 f., 45. 231 Philipps (1974), S. 101, Fn. 128, S. 108, 119 ff. Weiterhin Schmidt (1939), S. 87, der allerdings eine Kausalität der Tatsache, dass jemand nicht verhindert hat, bejaht.
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Dieses Wahrscheinlichkeitsurteil führt in praktisch-juristische Probleme, wenn nicht sicher ist, ob das verhinderungsgeeignete Handeln verhindernd gewirkt hätte. Dann ist weder die Ursächlichkeit noch die Nichtursächlichkeit des Unterlassens aus Gründen beschränkter Erkenntnis feststellbar. Gleichwohl muss ein Richter gegebenenfalls entscheiden. Der BGH wendet ohne Einschränkungen den Zweifelsgrundsatz des in dubio pro reo an. Die Begründung der richterlichen Überzeugung erfordere die Gewissheit oder eine an Gewissheit grenzende Wahrscheinlichkeit, dass der Erfolg bei Vornahme der gebotenen Handlungen entfallen wäre. Wenn etwa eine 10-prozentige Wahrscheinlichkeit bestand, dass der Erfolg auch bei gebotenem Handeln eingetreten wäre, kann die Kausalität nicht bestätigt werden. 232 Gegen die strenge Anwendung des Zweifelsgrundsatzes wird vorgebracht, dass es Zusammenhänge gebe, über die Urteile mit einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit prinzipiell nicht möglich seien. Das betreffe Annahmen darüber, wie sich andere Handelnde oder komplexe biologische Systeme verhalten hätten. Hier seien die Kausalprozesse jedenfalls nicht deterministisch. Ein Teil der Lehre lässt es deshalb genügen, dass das Unterlassen des gebotenen Handelns die Wahrscheinlichkeit des Erfolgseintritts erhöht hat. 233 Dagegen ist einzuwenden, dass der Richter nicht dazu berufen ist, Annahmen über die Natur bestimmter Systeme zu autorisieren, es sei denn, ihre Geltung wäre unumstritten oder vom Gesetz vorausgesetzt. Mit der geltenden Gesetzesfassung ist diese Auffassung aber nicht vereinbar. § 13 StGB setzt voraus, dass der Handelnde es unterlassen hat, den Erfolg abzuwenden. Der Unterlassensbegriff impliziert nach herkömmlichem Verständnis die Möglichkeit der Erfolgsabwendung. Es müsste somit zumindest eine Gesetzeslücke angenommen werden, die nicht durch eine Analogie geschlossen werden darf. 4. Die Frage, ob das Unterlassen des Verhinderns kausal für eine Veränderung ist – hierbei geht es nicht nur um das gebotswidrige Unterlassen 234 – muss die Rechtsdogmatik im Hinblick auf die Entscheidung der meisten Unterlassungsfälle nicht beantworten. Diese Frage geht im Zurechnungskriterium der „Kausalität der Normwidrigkeit“ auf. 235 Sofern man hier nur metaphorisch von Kausalität zu sprechen bereit ist, wird man diesen Zusammenhang anders benennen. 236 232 So der BGH GA 1988, 184: Ein Arzt hatte es nach einer Krebsoperation unterlassen, eine Bestrahlung anzuordnen. Der Patient starb nach zwei Jahren an Metastasenbildungen. Vgl. auch BGH, NJW 2000, S. 2754 (2757). 233 Puppe (2002), § 2/22 – 46 (m.w. N.) in ihrer Stellungnahme zum obigen Fall. Zur ähnlichen Diskussion anlässlich des berühmten „Radlerfalls“ unter C.V.1.b)bb). 234 Dieses Verständnis, als Gegenargument gegen die Annahme von Kausalität verwendet, jedoch bei Arthur Kaufmann / Hassemer (1964), S. 152. 235 Vgl. bereits B.V.2.6. und ausführlich unter C.V.1.b). 236 Z. B. Philipps (1974), S. 108, der ihn auf S. 114 zutreffend der Kategorie des Unrechtsvorwurfs zuordnet; d. h. der Frage, ob ein Verursachung- bzw. Verhinderungsnormverstoß angenommen werden kann.
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Dieses Zurechnungskriterium stellt die Frage, ob die Normwidrigkeit des Handelns eine notwendige Bedingung entweder für das Verursachen oder für das Nichtverhindern des Erfolgs durch den Handelnden selbst war. Für Begehungsund Unterlassungsdelikte gilt dieses gleiche Zurechnungskriterium. Hierfür hat auch die Bedingungstheorie ihre juristische Relevanz. Sie ist letztlich nicht eine Kausalitätstheorie, sondern kann durch den Vergleich mit der irrealen Situation hypothetischer Normeinhaltung auf wertungsrelevante Sachverhalte aufmerksam machen. Die Frage nach der Kausalität des Unterlassens (oder auch der Kausalität des bloßen Nichtverhinderns) wird erst in einer anderen Fallgruppe entscheidungsrelevant: Wenn ein Handelnder verursacht, dass ein anderer nicht verhindert, verursacht er dadurch die nicht verhinderte Veränderung? Das wird an späterer Stelle zur erörtern sein. 237 5. Zurück zu den hier behandelten Problemen der begrifflichen Disposition. Die Annahme zugrunde gelegt, dass das Unterlassen des Verhinderns kausal für einen Erfolg ist, bleibt die Frage zu klären, in welchem Sinn man davon reden kann, dass der Handelnde den Erfolg durch das Unterlassen verursacht habe. Umgangssprachlich bezeichnet der Begriff des Verursachens meist ein Handeln. Zu sagen, dass jemand verursacht habe, weil er zu verhindern unterließ, scheint ungewöhnlich. Das gilt aber nicht für den Satz, dass ein bestimmtes Unterlassen der Grund oder die Ursache für einen Erfolg sei. Fasst man das Unterlassen des Verhinderns unter den Begriff des Verursachens, gewinnt dieser eine Doppelbedeutung. Er bezeichnet dann entweder ein Verursachen durch ein Handeln oder ein Verursachen durch ein Unterlassen des Verhinderns. Der Begriff des Verursachens, der diese Bedeutungskomponente indifferent lässt, kann nur als Oberbegriff zum Verursachen als Handlungswort und als Unterlassensbezeichnung konzipiert werden. Das Begriffsschema, das dieser Konzeption zugrunde liegt, lässt sich wie folgt darstellen:
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Unter C.V.3.2.
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C. Strafrechtsdogmatik
Wenn man den Begriff des Verursachens als Oberbegriff zu Tun und Unterlassen einsetzt, ist die Lage somit analog, als setzte man den Begriff des Nichtverhinderns oder Nichtvermeidens als Oberbegriff ein. Der präferierte Begriff, der zugleich Unter- und Oberbegriff sein soll, gewinnt als Oberbegriff notwendig eine Bedeutungsindifferenz, die dem ursprünglichen Begriff nicht innewohnt. Beide Konzepte widersprechen der Umgangssprache, in der sowohl der Begriff „Verhindern“ als auch der Begriff „Verursachen“ als Handlungsbegriffe und die Begriffe des Nichtverursachens und des Nichtverhinderns tendenziell als Unterlassensbegriffe konzipiert sind. Es lässt sich außerdem zeigen, dass sich beide Konzeptionen in ihren Konsequenzen treffen. Wenn das Unterlassen des Verhinderns einer Veränderung (= das Unterlassen des Verursachens einer Nichtveränderung) als Verursachen dieser Veränderung angesehen würde, müsste entsprechend auch das Unterlassen des Verursachens einer Veränderung als Verursachen der Nichtveränderung, also als Verhindern einer Veränderung angesehen werden, weil in gleicher Weise die Kausalität des Unterlassens für die Nichtveränderung behauptet werden kann. Dann wiederum wäre das Verursachen der Veränderung tatsächlich auch ein Unterlassen des Verhinderns dieser Veränderung. Das entspricht genau der zuerst explizierten Position. Der Oberbegriff beider Konzeptionen ist letztlich derselbe. 238 Er ist in beiden Konzepten weder ein Handlungs- noch ein Unterlassensbegriff, sondern ist indifferent im Hinblick darauf, ob ein Handeln oder Unterlassen vorliegt. Beide Konzepte des begrifflichen Verhältnisses von Tun und Unterlassen des Verhinderns sind sehr unpraktikabel, ohne einen Erkenntnisgewinn zu bringen. Die eine Auffassung muss zwischen (echtem) Verursachen und Verursachen durch Unterlassen des Verhinderns unterscheiden, die andere Auffassung zwischen (echtem) Unterlassen des Verhinderns und Unterlassen des Verhinderns durch Verursachen. Die Konzeption des Oberbegriffs, der zugleich ein Unterbegriff ist, ist zu unpräzise und verwirrend. 239 Damit ist allerdings die Frage noch nicht entschieden, ob es, die Kausalität des Unterlassens vorausgesetzt, überhaupt möglich ist, einen Oberbegriff zu bilden.
238 Diese Koinzidenz der beiden Begriffskonstruktionen findet sich deutlich bei Engisch (1939), S. 421 f., einerseits auf S. 421: Gegenstand der strafrechtlichen (Verursachungs-) Normen sei das Vermeiden des Erfolgs (vgl. schon Engisch [1931], S. 54 f.). Das normwidrige Handeln ist also das Nichtvermeiden. Andererseits auf S. 422: Das normwidrige Handeln sei entweder ein Verursachen durch positives Tun oder durch Unterlassung. „Unterlassen des Vermeidens“ (= Verhinderns) und „Verursachen“ sind als Oberbegriffe also bedeutungsgleich. 239 Gegen die ältere Lehre (etwa v. Liszt), die den Begriff der Handlung als Oberbegriff zu Tun und Unterlassen einsetzen wollte, meint Otter (1973), S. 36 deshalb zutreffend, „... dass es sich nur um eine Scheinlösung handelt. Denn soweit die Merkmale dieser Handlung i.w. S. festzustellen sind, bleibt es stets bei einem entweder (positives Tun) – oder (negative Unterlassung).“
III. Tun und Unterlassen
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4. Der Oberbegriff zu Tun und Unterlassen 1. Zur Untersuchung dieser Frage ist es nützlich, die Begriffsimplikationen in formelhafter Weise zu verkürzen: „p“ bedeute „Verursachen“ i. e. S. (durch Handeln), „q“ bedeute „Unterlassen des Verhinderns“, „V“ bedeute „Veränderung“. „p(V)“ bedeutet dementsprechend „Verursachen einer Veränderung“ und „q(V)“ „Verhindern einer Veränderung“. „¬“ ist die Negation, „∧“ die Konjunktion („und“) und „∨“ die Disjunktion („entweder – oder“). Die Kombinationsmöglichkeiten der Begriffe Verursachen und Unterlassen des Verhinderns kommen im folgenden Term zum Ausdruck: [p(V) ∨ ¬p(V)] ∧ [q(V) ∨ ¬q(V)]. Es gibt demnach vier Kombinationsmöglichkeiten, von denen nur drei für den gesuchten Oberbegriff relevant sind: 1. p(V) ∧ ¬q(V), 2. p(V) ∧ q(V), 3. ¬p(V) ∧ q(V), 4. ¬p(V) ∧ ¬q(V). (1.) bezeichnet, dass ein Handelnder einen Erfolg verursacht, ohne gleichzeitig oder anschließend zu unterlassen, diesen zu verhindern. (2.) bezeichnet den Fall, dass jemand ein und denselben Erfolg sowohl verursacht als auch zugleich oder anschließend unterlässt zu verhindern. (3.) bezeichnet den Normalfall des Unterlassens des Verhinderns, in dem der Unterlassende nicht auch verursacht. (4.) bezeichnet den Fall, dass ein Handelnder einen Erfolg weder verursacht noch unterlässt zu verhindern. Dieser Sachverhalt fällt nicht unter den zu konstruierenden Oberbegriff. Der erforderliche Oberbegriff hat somit mindestens drei und nicht bloß zwei Unterbegriffe. Der notwendige Begriffsumfang lässt sich wie folgt explizieren: [p(V) ∧ q(V)], [p(V) ∧ ¬q(V)], [¬p(V) ∧ q(V)]. In dieser Begriffsreihe findet sich nicht in jedem der Terme, die in eckigen Klammern stehen, je ein identisches Glied. Das wäre erforderlich, um einen Oberbegriff anzunehmen. Zum Beispiel ist der Begriff „weiße Gegenstände“ = X ein Oberbegriff. Dessen Umfang lässt sich wie folgt darstellen: (X ∧ A), (X ∧ B), (X ∧ C), (X ∧ ...). Nun kann man in ähnlicher Weise eine Gemeinsamkeit X der Begriffe des Verursachens und Unterlassens des Verhinderns herausstellen und zum Oberbegriff erklären. So kann X das Merkmal „Umstand, der für V kausal ist“ sein. Es ergibt sich: [X ∧ p(V) ∧ q(V)], [X ∧ p(V) ∧ ¬q(V)], [X ∧ ¬p(V) ∧ q(V)], (X ∧ ...). 2. Der Begriff des „kausalen Umstands“ ist ein abstrahierender Oberbegriff zum „Verursachen“ und „Unterlassen des Verhinderns.“ Er umfasst jedoch viel mehr Sachverhalte der Welt: Naturereignisse, die Position von Gegenständen im Raum und anderes. Dieser Begriff ist also zu umfassend. An die Stelle X müsste deshalb eine Konjunktion von „kausalem Umstand“ und dem Oberbegriff von Handeln und Unterlassen treten. Das setzt voraus, dass ein solcher Oberbegriff verfügbar oder nutzbringend wäre. Das wurde hier abgelehnt. Folgt man dem nicht, könnte man als Oberbegriff zum Verursachen und Unterlassen des Verhinderns den Begriff des „kausalen Verhaltens“ oder der „kausalen Persönlichkeitsäußerung“ wählen. 240
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C. Strafrechtsdogmatik
Wenn man den Oberbegriff nicht im Hinblick auf das Handeln und Unterlassen bildet, sondern direkt auf den Handelnden abstellt, käme als Oberbegriff der Begriff der „Mitursächlichkeit eines Handelnden für eine Veränderung“ in Betracht. Weil sowohl das ursächliche Handeln als auch das Unterlassen auf einen Handelnden zugerechnet werden, ist es durchaus möglich, ihm direkt die Ursächlichkeit zuzuschreiben. Unterbegriffe dieses Oberbegriffs wären demnach die Mitursächlichkeit durch Handeln und durch Unterlassen. Der Begriff der Ursächlichkeit ist ein reiner Relationsbegriff. Er lässt sich nicht ohne Bedeutungsänderung in ein Handlungswort („mitverursachen“) übersetzen, weil das den Bezugspunkt der Relation auf das Handeln hin verändert. Vergleichbare Begriffe zur Mitursächlichkeit sind die normativen Begriffe der Mitverantwortung oder Mitschuld. Diese Begriffe rechnen direkt auf Handelnde zu, nicht auf Handlungen. Freilich ist der hier als Kausalfaktor eingesetzte „Handelnde“ nur ein Zurechnungskonstrukt und sollte nicht verdinglicht werden. Der Handelnde ist nur in seinem Handeln greifbar und kann nicht als wesenhafter Kern des Handelns vorgestellt werden. Er ist nicht als ursächlicher, realer Umstand im Sinne der Kausalitätstheorien zu verstehen. Deshalb lehnt etwa Armin Kaufmann, der die Ursächlichkeit der Unterlassung bejaht, die Ursächlichkeit des Handelnden ab. 241 Die Existenz des Handelnden sei in den Fällen des Unterlassens nicht eine notwendige Bedingung des Erfolgs. Man könne den Handelnden wegdenken, ohne dass der Erfolg entfiele. Doch geht es gerade nicht um die körperliche Anwesenheit des Menschen oder um die Existenz des Handelns, sondern nur darum, ob „dem Handelnden“ ein ursächlicher Umstand (eine Handlung oder Unterlassung) zugerechnet werden kann. Weil das möglich ist, kann man dem Handelnden auch „Mitursächlichkeit“ zuschreiben. 3. Die Mitursächlichkeit des Handelnde wäre somit, wenn man die Kausalität des Unterlassens bejaht, Voraussetzung der Zurechnung von Verantwortung für eine Veränderung. Diese Sichtweise darf aber nicht verdecken, dass die Zurechnung nicht in erster Linie auf der Ursächlichkeit beruht, sondern auf einer Norm, die verbietet, den Erfolg zu verursachen oder gebietet, ihn zu verhindern. 242 Aus dem ähnlichen Grund, dass dem Begriff der Mitursächlichkeit der Bezug zur Normativität fehlt, ist zu bezweifeln, dass die Konstruktion eines Oberbegriffs zu „Tun“ und „Unterlassen“ für die Zwecke der Strafrechtsdogmatik überhaupt von Interesse ist. Zu sagen, dass der Unterlassende den Erfolg nicht durch das Unterlassen verursacht habe, wohl aber mitursächlich für den Erfolg sei, mag zu konstruiert erscheinen. Wichtig ist nur, dass ein „Verursachen durch Unterlassen“ per definitionem auszuschließen ist. Über einen Begriff des Verursachens 240 241 242
Vgl. oben C.II.2. Fast emphatisch, (1959), S. 61 ff. Siehe oben B.V.2.
IV. Begehung und Unterlassung
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durch Handeln verfügen alle Lehrmeinungen. Das Problem der Kausalität des Unterlassens erweist sich dann in der Tat als eines der überflüssigsten, das die Strafrechtsdogmatik beschäftigt hat. 243 Dass ein Handelnder einen Erfolg sowohl durch Handeln verursachen als auch unterlassen kann, denselben Erfolg zu verhindern, ist mit der hier vertretenen Konzeption nicht ausgeschlossen. Ausgeschlossen wird nur die Behauptung, dass das eine notwendig zugleich mit dem anderen gegeben ist. Vielmehr geben gerade diejenigen Fälle, in denen sowohl ein Verursachen durch Handeln als auch ein Unterlassen des Verhinderns desselben Erfolgs festzustellen ist (Fall 2 in der oben gegeben Kombinatorik), einem Beurteiler die Frage auf, ob entweder nur ein Begehungs-, nur ein Unterlassungsdelikt oder beide anzunehmen sind.
IV. Begehung und Unterlassung 1. Die Deliktsbegriffe 1. Die Begriffsdisposition ging von der Unterscheidung von Handeln und Unterlassen aus. Das Tun wurde anschließend als verursachendes Handeln definiert und dem Unterlassen des Verhinderns gegenübergestellt. Diese Begriffe sind vornormativ konzipiert. Die Auslegung der Tatbestandsmerkmale „Verursachen“ und „Unterlassen des Verhinderns“ hat jedoch zu berücksichtigen, dass damit nur ein normwidriges Verursachen oder Unterlassen des Verhinderns bezeichnet wird. Das entspricht der Prämisse der normentheoretischen Analyse des Strafrechts. Den Tatbeständen des Strafgesetzes liegen Bestimmungsnormen zugrunde, und die Bestrafung setzt eine Normmissachtung voraus. Die Einbeziehung normentheoretischer Überlegungen in die Auslegung der Tatbestandsmerkmale wird somit zwingend. Die normative Bedeutung der scheinbar bloß beschreibenden Merkmale kann nicht außer Betracht bleiben. 244 Das Begehungsdelikt ist demnach ein Tun (Verursachen), das gegen ein Verursachungsverbot verstößt, und das Unterlassungsdelikt im Sinne des § 13 StGB ist ein Unterlassen des Verhinderns, das gegen ein Verhinderungsgebot verstößt. 245 243
Nach dem Wort v. Liszts (1900), § 30 III. Es ist dabei gleichgültig, ob man im Straftatsystem die Frage nach den geltenden Normen erst der zweiten Prüfungsstufe der Rechtswidrigkeit vorbehält (z. B. Renzikowski [1997], S. 107, Fn. 237) oder ob man die Pflichtwidrigkeit (insbesondere bei den Fahrlässigkeits- und Unterlassungsdelikten) schon als Tatbestandsmerkmal konzipiert. Besser ist es, die Stufe des Tatbestandes nicht, wie von Beling entworfen, als wertfreies Urteil aufzufassen, sondern nach dem Regel-Ausnahme-Modell als Urteil darüber, ob das Handeln, Unterlassen und Verursachen im Allgemeinen verboten wäre. Dann verbleibt der Rechtswidrigkeitsstufe nur die Frage der Rechtfertigung. 245 Vgl. bereits Merkel (1867 b), S. 78 f., Armin Kaufmann (1959), S. 239 ff, 274 m.w. N. 244
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C. Strafrechtsdogmatik
Das Ergebnis der Untersuchung zur Begriffskonstruktion lässt sich somit wie folgt veranschaulichen:
2. Deliktsbegriffe bauen zwar auf diesen beschreibenden Begriffen auf, müssen aber die normative Ebene mit einbeziehen. Neben den Begehungs- und Unterlassungsdelikten gibt es auch strafrechtliche Tatbestände, die ein Handeln ohne Rücksicht auf einen Erfolg unter Strafe stellen. Diese Delikte können als einfache Handlungs- bzw. Unterlassensdelikte bezeichnet werden. 246 a) Der Begriff des einfachen Handlungsdelikts umfasst alle Delikte, die ein Handeln ohne Verursachung bestrafen. Das sind alle Gefährdungsdelikte (z. B.: Straßenverkehrsgefährdung, § 315c StGB, Trunkenheitsfahrt, § 316 StGB), 247 der Versuch (§ 22 StGB) und die Teilnahme (§§ 26 f. StGB, strittig 248). Einfache Handlungsdelikte beruhen auf der Missachtung von Handlungsverboten, nicht von Verursachungsverboten. b) Entsprechend gibt es einfache Unterlassensdelikte. Sie sind einerseits die strukturelle Entsprechung zu den Gefährdungsdelikten im Unterlassensbereich und setzen nicht den Eintritt desjenigen Erfolgs voraus, auf dessen Vermeidung die Normen teleologisch bezogen sind. Beispiele sind die unterlassene Hilfeleistung (§ 323c StGB) 249 und die Unfallflucht (§ 142 StGB). Andererseits ist auch der Versuch des Unterlassungsdelikts (§§ 22, 13 StGB) ein einfaches 246
Vergleichbare Konzeption bei Hruschka (1988), S. 400 f., 426 f. Der Gefährdungserfolg ist gerade nicht der teleologisch ausschlaggebende Erfolg, sondern nur ein Bewertungskriterium. 248 Siehe C.V.3.3. 249 § 323c StGB setzt ein Verhinderungsgebot, auf das die Handlungsgebote teleologisch bezogen sind, voraus. Bestraft wird aber nur wegen der Missachtung von Handlungsnormen. 247
IV. Begehung und Unterlassung
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Unterlassensdelikt. Einfache Unterlassensdelikte bezeichnen ein Handeln, das gegen Handlungsgebote verstößt, ohne dass ein Verhinderungsgebotsverstoß in Anschlag gebracht wird. 3. Die Oberbegriffe zu den Deliktsarten können wie folgt formuliert werden: c) zum Begehungsdelikt und dem einfachen Handlungsdelikt: Handlungsdelikt i.w. S. (Missachtung eines Verursachungsverbots und / oder von Handlungsverboten), d) zum (erfolgsbezogenen) Unterlassungsdelikt und dem einfachen Unterlassensdelikt: Unterlassensdelikt i.w. S. (Missachtung eines Verhinderungsgebots und / oder von Handlungsgeboten), e) zum Begehungsdelikt und (erfolgsbezogenen) Unterlassungsdelikt: Erfolgsdelikt (Missachtung einer Verursachungsnorm), f) zum einfachen Handlungs- und Unterlassensdelikt: erfolgsirrelevantes Delikt (Missachtung einfacher Handlungsnormen).
2. Der Deliktsbegriff als Grundbegriff des Straftatsystems 1. Der Oberbegriff, der die aufgezeigten Deliktsarten umfasst, ist der des Delikts. Das Delikt ist ein Handeln, das eine situationsbezogene Rechtsnorm (Gebot oder Verbot) missachtet, deren Missachtung ein Strafgesetz zur Voraussetzung seiner Strafanordnung erklärt. Die Deliktsarten lassen sich wie folgt darstellen:
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C. Strafrechtsdogmatik
Das StGB verwendet äquivalent zum Begriff des Delikts den der „rechtswidrigen Tat“ (formaler Tatbegriff) und definiert die Tat in § 11 Abs. 1 Nr. 5 StGB als „eine solche, die den Tatbestand eines Strafgesetzes verwirklicht.“ Dem Begriff der Tat unterfällt auch das gebotswidrige Unterlassen (vgl. §§ 8 f. StGB). Das Gesetz spricht weiter von der Begehung der Tat (§ 1 StGB) und vom Begehen der Tat durch Unterlassen (§ 13 StGB). Der Begriff „Tatbegehung“ assoziiert allerdings ein „Tun“ und verträgt sich schlecht mit der hergebrachten Entgegensetzung von Begehungs- und Unterlassungsdelikten. 250 Statt von „Tatbegehung“ wäre von „deliktischem Handeln“ zu reden. 251 Das Delikt statt als normwidriges als verbotenes Handeln zu definieren, hätte problematische Implikationen. Das gebotswidrige Handeln ist nur mit einer gewissen Unklarheit als verboten anzusehen. Hier spräche man besser vom verbotenen Unterlassen. Auch der Begriff des rechtswidrigen Handelns leidet an dieser Unklarheit, weil rechtswidrig leicht mit verboten gleichgesetzt wird. Die Kategorie der Schuld in die Deliktsdefinition einzubeziehen, entspräche zwar der Etymologie und der Tradition, ist aber nicht angebracht, wenn die Schuld als Merkmal konzipiert wird, das ein Delikt bereits voraussetzt. 2. Der Deliktsbegriff (als Begriff des normwidrigen Handelns) ist der Grundbegriff der Strafrechtsdogmatik, der genau diejenige Funktion innehat, die oft dem Handlungsbegriff zugewiesen wird. Der Begriff des Handelns taugt allein schon deshalb nicht als Grundbegriff, weil er auch dasjenige Handeln umfasst, das für das Strafrecht ohne jede Relevanz ist. Die Abgrenzungsfunktion zu den Handlungswissenschaften verfehlt er. Die Strafrechtswissenschaft ist eine Normwissenschaft, nicht eine Handlungswissenschaft. Der Grundbegriff dieser Wissenschaft sollte von vornherein Bezug auf die strafrechtlichen Normen nehmen, ähnlich wie sich etwa die Ethik als Lehre vom guten Handeln versteht. Soweit die Strafrechtswissenschaft einen vornormativen Handlungsbegriff entwirft, setzt sie sich in direkte Konkurrenz mit den Handlungswissenschaften. Wenn andererseits (wie bei den Hegelianern) der Begriff der Handlung normativ aufgeladen wird und mit dem Begriff des Delikts oder Verbrechens bedeutungsgleich gesetzt wird, fehlt der Strafrechtsdogmatik ein Begriff, der die Funktion eines vornormativen Handlungsbegriffs besetzt. Sie müsste dann auf schlechter geeignete Substitute wie die Begriffe „Tätigkeit“, „Verhalten“ oder „Körperbewegung“ zurückgreifen. Der Begriff der Handlung kann schon deshalb kein geschickter Oberbegriff zum Deliktssystem sein, weil das Merkmal der Normwidrigkeit nicht aus dem Begriff der Handlung zu entwickeln ist, wie es Engisch zutreffend gesehen hat: „[Die] Rechtswidrigkeit [ist] als spezifische Differenz ein gleichsam von außen 250 251
Vgl. C.II.2. und C.III.3. Die Gesetzesterminologie bevorzugt hingegen Schmidhäuser (1989 b), S. 135.
IV. Begehung und Unterlassung
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kommendes Wertprädikat ... und [tritt] insofern zu den allgemeinen Handlungsmerkmalen ... als ein ganz neuartiges Moment [hinzu].“ 252 Gleichwohl plädiert Engisch für den Handlungsbegriff als Oberbegriff 253 und gibt dafür das Prinzip auf, dass „die Artmerkmale aus den Gattungsmerkmalen als Variationen und Modifikationen zu entwickeln und die Gattungsbegriffe entsprechend zu bilden [sind], dass sie in diesem Sinne ‚konkretisierbar‘ sind.“ 254 Dieses Prinzip der Bildung eines Oberbegriffs muss aber mit dem Oberbegriff des normwidrigen Handelns nicht eingeschränkt werden. 255 3. Weil der Begriff des Delikts als des normwidrigen Handelns sowohl verbotswidriges als auch gebotswidriges Handeln umfasst, besteht keine unüberwindliche Zweiteilung des Systems, die Radbruch festgestellt hat, weil er zutreffend davon ausging, dass die Begriffe „Handeln“ und „Unterlassen“ nicht unter einen Oberbegriff gebracht werden können. 256 Das Delikt spaltet sich erst auf der untergeordneten Begriffsebene in das Handlungs- und das Unterlassensdelikt. So ist nicht verwunderlich, dass zuerst Radbruch vorgeschlagen hat, den Begriff der Tatbestandsverwirklichung als „Grundbegriff der Verbrechenslehre“ einzusetzen. 257 Im Begriff der Tatbestandsverwirklichung ist notwendig der des Handelns enthalten („Handeln, das den Tatbestand erfüllt“) und für Radbruch auch der der Rechtswidrigkeit. 258 Rechtswidrig ist ein Handeln nur, wenn es normwidrig ist. Somit ist der Begriff der Tatbestandsverwirklichung gleichbedeutend mit dem des Delikts als des normwidrigen Handelns. Zurückblickend auf das Thema der begrifflichen Fassung des Unterlassens zeigt sich, dass das Unterlassen im Begriff des gebotswidrigen Handelns impliziert ist. Das definitorische Problem verschwindet damit aus dem Blickfeld der Strafrechtsdogmatik. Sie hat sich nur mit der Frage zu befassen, wann ein Gebot postuliert werden kann. Dass das Gebot nicht mehr als möglich verlangen kann, ergibt sich aus dem allgemeinen Prinzip des ultra posse nemo obligatur, das sich wiederum auf dem Postulat beruht, dass die Handlungsnormen generell verursachungsgeeignet sein müssen. 259 Sowohl die Möglichkeits- als auch 252
Engisch (1953), S. 171. Vgl. C.II.2., Fn. 193. 254 Engisch (1953), S. 171. 255 Zur Untauglichkeit als Oberbegriff bereits unter C.II.2. und C.III.3. 256 Radbruch (1903), S. 140 ff. 257 Radbruch (1930), S. 162 = GRGA 8, S. 211. Angedeutet schon (1903), S. 143 = GRGA 8, S. 165, in dem der „formelle Begriff“ des Verbrechens als Klammer bezeichnet wird, der aber sogleich in zwei „inhaltliche Begriffe“ zerfällt: die „schuldhafte rechtswidrige strafbare Handlung oder Unterlassung“. Vgl. auch Gallas (1955), S. 12 ff. Die Möglichkeit, die Tatbestandsverwirklichung als Oberbegriff einzusetzen, gesteht auch Engisch (1974), S. 361 zu, kritisch noch ders. (1944), S. 165. 258 (1930), S. 164 ff., 165 = GRGA 8, S. 213 ff., 214. 259 Siehe unter B.V.2.5. 253
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C. Strafrechtsdogmatik
die Erwartungstheorie des Unterlassens sind hierin aufgehoben. Rechtsnormen können nur auf mögliche Alternativen verweisen, die der Handelnde prinzipiell hätte wahrnehmen können. Wenn ein Handeln im Hinblick auf eine projizierte Alternative kein Entscheiden (= Handeln) ist, kann es diesbezüglich nicht normwidrig sein.
3. Prüfungsmethode und Entscheidungsregel Wie bereits angedeutet, taucht das Problem, das Begehungs- vom Unterlassungsdelikt abzugrenzen, in der Fallprüfung immer dann auf, wenn ein Handelnder denselben tatbestandlichen Erfolg sowohl verursacht als auch nicht verhindert hat. In diesen Fällen ist es prinzipiell möglich, entweder nur ein Begehungsdelikt, nur ein Unterlassungsdelikt oder beide nebeneinander zu prüfen und zu bejahen. Deshalb muss entschieden werden, woran die Strafbarkeit anknüpft. Ihren systematischen Ort hat diese Entscheidung entweder auf der Ebene des Tatbestands der Sanktionsnorm oder erst bei der Frage der Konkurrenz mehrerer einschlägiger Strafbarkeitsanordnungen. Die herrschende Auffassung, welche die Abgrenzungsfrage vor die Deliktsprüfung stellt, entscheidet auf tatbestandlicher Ebene. Das heißt aber, dass die beschreibenden Tatbestandsmerkmale des Verursachens (in den Tatbeständen der Delikte) und des Unterlassens des Verhinderns (in § 13 StGB) implizit im Weg einer systematischen und teleologischen Auslegung einschränkend interpretiert werden, wenn entweder das Verursachen oder das Unterlassen des Verhinderns nicht gesondert berücksichtigt wird. Das wird durch die normentheoretische Analyse auch plausibel. Wie schon aufgezeigt, ist bereits im Tatbestand der Delikte die Normenlage zu berücksichtigen. Das Begehungsdelikt ist ein Verstoß gegen ein Verursachungsverbot, und das Unterlassungsdelikt die Missachtung eines Verhinderungsgebots. Bei der Prüfung eines Erfolgsdelikts müssen deshalb zwei Fragen beantwortet werden, eine beschreibende und eine normative. Zunächst ist anzugeben, in welcher Beziehung der Handelnde zum tatbestandlichen Erfolg steht, ob er den Erfolg verursacht oder / und nicht verhindert hat. Zweitens ist zu klären, ob gegebenenfalls das Verursachen oder das Nichtverhindern als verursachungsnormwidrig anzusehen ist. Hierfür entscheidend ist, ob und welche Handlungsnormen als in der Handlungssituation geltend angenommen werden können und ob auf deren Missachtung die Erfolgszurechnung gestützt werden kann. Die Annahme eines Verursachungsnormverstoßes setzt in einem teleologisch zu legitimierenden Normensystem voraus, dass der Handelnde Handlungsnormen missachtet hat, die in der Handlungssituation (ex ante) galten und die auf die fragliche Verursachungsnorm bezogen werden können. Verbotenes Verursachen setzt die Missachtung eines Handlungsverbots voraus und gebotswidriges Nichtverursachen die Missachtung eines Handlungsgebots. Deshalb ist anzugeben, wie der Handelnde eventuell hätte handeln oder nicht handeln sollen. Dabei muss beach-
IV. Begehung und Unterlassung
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tet werden, dass mit der Annahme eines Handlungsgebots ein Handlungsverbot notwendig verbunden sein kann und umgekehrt. Wird ausschließlich das Verbot eines verursachenden Handelns relevant und kein Handlungsgebot, ist nur die Strafbarkeit wegen eines Begehungsdelikts in Betracht zu ziehen. Wenn hingegen ausschließlich ein Handlungsgebot postuliert werden kann, kommt (gegebenenfalls trotz Verursachens) nur die Strafbarkeit wegen eines Unterlassungsdelikts in Betracht. Werden andererseits sowohl Handlungsverbote als auch Handlungsgebote relevant, wird die Abgrenzung des Begehungs- vom Unterlassungsdelikt problematisch. In diesem Fall ist zu untersuchen, ob (a) die Gebotsmissachtung entweder schon in der Annahme eines Verursachungsverbotsverstoßes (Begehungsdelikt) absorbiert wäre oder (b) ob umgekehrt das Handlungsverbot auf ein Verhinderungsgebot bezogen ist und deshalb (trotz Verursachens) nur ein Unterlassungsdelikt zu prüfen ist oder ob schließlich (c) sowohl auf die Missachtung des Verbots als auch des Gebots ein gesonderter Verursachungsnormverstoß gegründet werden kann und deshalb im Hinblick auf denselben Erfolg sowohl ein Begehungs- als auch ein Unterlassungsdelikt in Betracht kommt. Fall (a) trifft zu, wenn das Handlungsgebot ein verbotsakzessorisches ist, das zu dem angenommenen Handlungsverbot komplementär liegt. Das Gebot ist akzessorisch, wenn sein Gegenstand ein Handeln ist, das von vornherein verhindern kann, dass der Handelnde durch ein Bezugshandeln den Erfolg verursacht und wenn dieses Bezugshandeln zwar grundsätzlich erlaubt, aber dann verboten ist, wenn und weil das Gebot nicht beachtet wird. Der Verstoß gegen das akzessorische Handlungsgebot ist dann im Verstoß gegen das komplementäre Handlungsverbot inbegriffen. Es berechtigt nicht zur Annahme eines gesonderten Unterlassens i. S. d. § 13 StGB. Im Fall (b) wird dagegen das Verbot des verursachenden Handelns als akzessorisches einem Handlungs- und Verhinderungsgebot zugeordnet. Das Verbot ist dann akzessorisch, wenn sein Gegenstand ein Handeln ist, das von vornherein verhindern kann, dass der Handelnde durch ein Bezugshandeln den Erfolg verhindert und wenn dieses Bezugshandeln geboten ist. Verbot und Gebot können hier teleologisch notwendig nur zugleich angenommen werden. Die Geltung beider Normen und die Gründung der Erfolgszurechnung auf deren Missachtung haben deshalb notwendig dieselben Voraussetzungen. Weil ein Verhinderungsgebot angenommen wird, ist § 13 StGB einschlägig. (c) Stehen Gebot und Verbot dagegen nicht im komplementären Verhältnis, kommt sowohl ein erfolgsbezogenes Begehungs- als auch ein Unterlassungsdelikt in Betracht. Die Regel für die Abgrenzung des Begehungs- vom Unterlassungsdelikt lautet somit: Die Missachtung einer akzessorischen Handlungsnorm wird nicht gesondert berücksichtigt.
Sie wird nicht gesondert berücksichtigt, weil sie in der Missachtung derjenigen Norm impliziert ist, die der akzessorischen komplementär ist. Für die Abgrenzung des Begehungs- vom Unterlassungsdelikt ist somit entscheidend,
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C. Strafrechtsdogmatik
ob ein Handlungsverbot und -gebot im komplementären Verhältnis stehen und welche der beiden Normen akzessorisch ist. Im Hinblick auf die Deliktsvoraussetzungen ist somit zu präzisieren, dass die Annahme eines Verursachungsverbotsverstoßes (Begehungsdelikt) voraussetzt, dass das verursachende Handeln verboten und das Verbot nicht bloß akzessorisch ist. Die Missachtung eines Verhinderungsgebots (Unterlassungsdelikt i. S. d. § 13 StGB) setzt voraus, dass der Handelnde gebotswidrig gehandelt hat und dass das Handlungsgebot nicht bloß akzessorisch ist.
V. Begehung oder Unterlassung Stehen bei gegebener Erfolgsverursachung sowohl Handlungsverbote als auch -gebote im Raum, ist es möglich, entweder nur ein Begehungsdelikt, nur ein Unterlassungsdelikt oder beides anzunehmen. Die hier entwickelten entscheidungsleitenden Kriterien beruhen auf den allgemeinen normentheoretischen Erwägungen und sind durch die Gesetzesinterpretation bestätigt. Sie sollen im Folgenden anhand von Fällen veranschaulicht und begründet werden.
1. Handlungsgebote im Hinblick auf das Verhindern eigenen Verursachens Gebote von Handlungen, die geeignet sind, eigenes Verursachen zu verhindern, sind von großer Bedeutung, weil durch sie die Risiken des Umgangs mit Technik begrenzt werden können. Die erste Fallgruppe wird deshalb vor allem fahrlässige Delikte behandeln. 260 Das fahrlässige Begehungsdelikt ist gemäß der hier gewählten Begriffsbestimmung ein fahrlässig verbotswidriges Handeln und Tun (= Verursachen), das fahrlässige Unterlassungsdelikt ein gebotswidriges Handeln und Nichtverhindern des Erfolgs. 261 Die Unterscheidung zwischen dem (normwidrigen) Handeln und Unterlassen eines Handelns einerseits und dem (normwidrigen) Verursachen und Unterlassen des Verhinderns andererseits entspricht der hier eröffneten analytischen Differenzierung von Handlungs- und Verursachungsnormen als unterscheidbare, aber aufeinander bezogene Normarten. Die Frage, ob ein Begehungs- oder Unterlassungsdelikt vorliegt, ist gleichbedeutend mit der Frage, ob ein Verursachungsverbotsverstoß oder ein Verhinderungsgebotsverstoß anzunehmen ist. Entscheidend ist, welcher Verursachungs260
Zur allgemeinen Kennzeichnung siehe etwa Duttge (2001), S. 1 ff. Zur Frage, ob Fahrlässigkeit und Normwidrigkeit gänzlich bedeutungsgleich sind oder ob die Fahrlässigkeit darüber hinaus einen besonderen subjektiven Tatbestand oder Schuldtatbestand voraussetzt: Herzberg (2000), S. 51 ff., Puppe (2002), § 15/4, Roxin (2006), AT I, § 24/73 – 80, je m.w. N. 261
V. Begehung oder Unterlassung
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norm die missachteten Handlungsnormen teleologisch zugeordnet werden können. Das Abgrenzungsproblem entsteht, weil sowohl aus einem Verursachungsverbot Handlungsgebote, als auch aus einem Verhinderungsgebot Handlungsverbote ableitbar sind. Die derart abgeleiteten Handlungsnormen werden hier als akzessorische Normen bezeichnet. Akzessorische Handlungsnormen sind neben ihrem teleologischen Bezug dadurch definiert, dass sie zu nichtakzessorischen Handlungsnormen komplementär liegen. 262 Ein akzessorisches Gebot hat ein komplementäres Handlungsverbot als Gegenstück. Beide Handlungsnormen sind auf ein Verursachungsverbot bezogen. Ein akzessorisches Verbot ist notwendig mit einem komplementären Handlungsgebot verbunden. Diese Normen sind auf ein Verhinderungsgebot bezogen. Somit sind die Fragen, ob die Handlungsnormen komplementär zueinander liegen und welche der komplementären Normen akzsessorischen Charakter hat, für die Qualifikation eines Handelns als Begehungs- oder Unterlassungsdelikt entscheidend. Neben dem Hauptthema der Untersuchung wird im Folgenden ein anderes Thema wieder aufgenommen und die Diskussion zunächst dominieren, das abstrakt schon bei der normentheoretischen Beschreibung der Verursachungsnormen behandelt wurde. 263 Es ist die Problematik der Erfolgszurechnung. Die Unterscheidung des Begehungs- vom Unterlassungsdelikt ist mit ihr fast untrennbar verknüpft. Beide Problemkreise haben dogmengeschichtlich gesehen ihren Ursprung in denselben Fällen, die das Reichsgericht Ende der zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts zu entscheiden hatte. Die Art der teleologischen Verknüpfung von Handlungsnormen und Verursachungsnormen ist für die Frage, ob einem Handelnden der Erfolg als normwidrig verursacht zugerechnet wird, entscheidend. Dieses Kapitel hat somit eine doppelte Funktion, einerseits die Durchführung der normentheoretisch orientierten Abgrenzung des Begehungsvom Unterlassungsdelikt anhand der einschlägigen Fälle und andererseits die Veranschaulichung der im ersten Teil der Arbeit abstrakt beschriebenen Zurechnungskriterien. a) Das von vornherein vorsorgliche Handeln Ein klassischer Fall, anlässlich dessen die Abgrenzung des Begehungs- vom Unterlassungsdelikt thematisiert wird, ist der „Ziegenhaarfall“, den das Reichsgericht im Jahr 1929 zu entscheiden hatte: „Der Angeklagte hat für seine Pinselfabrik von einer Händlerfirma chinesische Ziegenhaare bezogen und diese trotz der Mitteilung der Händlerfirma, dass er sie desinfizieren müsse, ohne vorherige Desinfektion durch seine Arbeiter zu Pinseln verarbeiten lassen.“ 264 Infolgedessen infizierten sich fünf Arbeiter / innen mit Milzbrandbakterien, vier starben. 262 263 264
Siehe B.III. Siehe B.V.2. / 3. RGSt 63/211.
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C. Strafrechtsdogmatik
Der Fall ist nach der hier vorgeschlagenen Methode wie folgt zu lösen. 265 Das Aushändigen der Ziegenhaare war eine verursachende Handlung. Sie war ex ante verboten, weil geeignet, Krankheiten zu verursachen. Deshalb kommt ein Verursachungsverbotsverstoß als Begehungsdelikt in Betracht. Neben dem Handlungsverbot galt aber zugleich das Handlungsgebot, die Haare vor dem Aushändigen zu desinfizieren. Weil dieses Handeln den Erfolg möglicherweise verhindert hätte, kommt auch ein Verhinderungsgebotsverstoß als Unterlassungsdelikt in Betracht. Jedoch ist das Handlungsgebot als akzessorisch zu qualifizieren. Es wird deshalb nicht gesondert berücksichtigt. Beide Normen sind einem Verursachungsverbot zuzuordnen. Der akzessorische Charakter des Gebots erschließt sich aus dessen teleologischem Sinn. Es betrifft ein Handeln, das geeignet ist, von vornherein zu verhindern, dass der Handelnde den tatbestandlichen Erfolg durch ein Bezugshandeln (das Aushändigen von Ziegenhaaren) verursacht. 266 Das gebotene Handeln modifiziert das Bezugshandeln und verringert dessen Verursachungseignung. Das Gebot steht mit einem Verbot des Bezugshandelns auch im komplementären Verhältnis. 267 Das Bezugshandeln ist zwar grundsätzlich erlaubt, aber deshalb verboten, weil der Handelnde das Gebot missachtet hat. Gebot und Verbot haben den gleichen Zweck, das Verursachen zu verhindern. Beide Normen werden zugleich relevant, verweisen aufeinander und werden notwendig zugleich missachtet, weil das verbotene Handeln unmöglich macht, das Gebot noch zu beachten. Der akzessorische Charakter des Gebots erweist sich auch daran, dass es inhaltlich durch die Vornahme des verursachungsgeeigneten Bezugshandelns bedingt ist, das aus der Warte des Gebots im Belieben des Handelnden steht. 268 Im Ziegenhaarfall war somit ein Begehungsdelikt zu prüfen, nicht ein begehungsgleiches Unterlassungsdelikt. Dieses Ergebnis ist kaum umstritten. Lediglich die Begründung ist fraglich. Einen vergleichbaren Fall aus der neueren Zeit behandelte auch der BGH unter Berufung auf die Formel vom „Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit“ im Sinn eines Begehungsdelikts: Ein Arzt hatte operiert, ohne sich jemals auf Hepatitis untersuchen zu lassen und steckte zwölf Patienten an. 269 Zu klären bleibt, ob die Abgrenzung bereits im Tatbestand des Begehungsund Unterlassungsdelikts oder erst auf der Konkurrenzebene anzusiedeln ist. Man könnte ein Unterlassungsdelikt zunächst als gegeben erachten. Der Wortlaut des § 13 StGB spricht prima facie nicht dagegen, und eine Garantenstellung dafür, dass man nicht selbst verursacht, ist ebenfalls anzunehmen. So hat etwa 265 266 267 268 269
Siehe C.IV.3. Vgl. B.III.1.1. und B.III.2.1. Vgl. B.III.1.2. ff. Vgl. B.III.2.2. BGH, NStZ 2003, S. 657 f.
V. Begehung oder Unterlassung
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Engisch die Konsumtion des Unterlassungsdelikts durch das Begehungsdelikt angenommen und die Lösung somit auf der Konkurrenzebene gesucht. 270 Jedoch ist der Tatbestand des Unterlassungsdelikts nicht erfüllt, weil ein Verstoß gegen ein Verhinderungsgebot nicht gegeben ist. Er ist nicht gegeben, weil das Handlungsgebot bloß akzessorisch zum Handlungsverbot ist und beide Normen deshalb einem Verursachungsverbot zuzuordnen sind. Die Missachtung des Gebots ist im Handlungs- und gegebenenfalls im Verursachungsverbotsverstoß bereits impliziert. Ganz allgemein ist die Frage, ob auf die Missachtung von Handlungsnormen ein Verursachungsnormverstoß gestützt werden kann, bereits im Tatbestand zu beantworten. Es gilt somit das Postulat, dass sich eine Handlungsnorm mit der Zuordnung zu einer Verursachungsnorm sozusagen verbraucht und nicht zugleich der anderen Verursachungsnorm, die sich auf dasselbe Veränderungsverbot bezieht, zugeordnet werden kann – dass also die Missachtung akzessorischer Normen bereits tatbestandlich nicht gesondert berücksichtigt wird. 271 b) Exkurs: Die Verhinderungseignung der Handlungsnormen aa) Die Rechtsprechung des Reichsgerichts 1. Das Reichsgericht hat in seiner Entscheidung zum Ziegenhaarfall die Abgrenzung des Begehungs- vom Unterlassungsdelikt gar nicht thematisiert. Das entscheidungserhebliche Problem des Falls lag vielmehr darin, dass „es sich nicht mit einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit, wie es für die Bildung der richterlichen Überzeugung erforderlich [ist], feststellen lassen [hat], ob im Fall einer Desinfektion die verwendeten Ziegenhaare so keimfrei geworden wären, dass eine Ansteckungsgefahr ausgeschlossen gewesen wäre.“ 272 Wenn das Reichsgericht von der Prüfung eines Unterlassungsdelikts ausgegangen wäre, hätte es die Strafbarkeit aus diesem Grund verneinen müssen. Für ein Unterlassen des Verhinderns im Sinne eines Unterlassungsdelikts war vorausgesetzt, dass der Erfolg bei Vornahme des gebotenen Handelns mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit entfallen wäre. 273 Das belegt die folgende Entscheidung aus dem Jahr 1924: RGSt 58/130 (131): „Ursachenzusammenhang zwischen der Unterlassung und dem rechtsverletzenden Erfolg liegt vor, wenn die Unterlassung nicht hinweggedacht wer-
270 Engisch (1973), S. 189 f. mit ausführlicher Diskussion der hier behandelten Fallgruppe auf S. 164 f. und S. 184 – 191. Zum Ziegenhaarfall bereits ders. (1931), S. 64 f. 271 Vgl. bereits C.IV.1.1. und C.IV.3. Für die Lösung auf Tatbestandsebene spricht auch die parallele Situation in Bezug auf die akzessorischen Verbote, vgl. C.V.2.a)1. 272 RGSt 63/211 (213). 273 Vgl. jedoch den Hinweis darauf, dass ein schlimmer Verlauf der Krankheit eventuell verhindert worden wäre, RGSt 63/211 (214, unter 2).
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C. Strafrechtsdogmatik
den kann, ohne dass der Erfolg entfiele. Dagegen fehlt es am Ursachenzusammenhang insbesondere dann, wenn der Erfolg auch bei Vornahme der auf die Verhinderung gerichteten Tätigkeit eingetreten wäre. Die Strafkammer hätte zum Ausdruck bringen müssen, dass nach ihrer Ansicht [der Erfolg durch das gebotene Handeln des Angeklagten] auch wirklich verhindert worden wäre, wobei allerdings die Feststellung einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit ausgereicht hätte (RGSt Bd. 15 S. 151 [153/154], Bd. 51 S. 127).“ 274
Somit hat das Reichsgericht im Ziegenhaarfall zutreffend ein Begehungsdelikt geprüft. 275 Das Problem der fehlenden Gewissheit, dass das gebotene Handeln den Erfolg verhindert hätte, wurde damals als eine Frage nach dem „ursächlichen Zusammenhang zwischen der Fahrlässigkeit des Angeklagten und den eingetretenen Folgen“ formuliert. Zur Beantwortung dieser Frage griff das Reichsgericht auf ein Kriterium zurück, das die Entscheidung zum bekannten „Apothekerfall“ aus dem Jahr 1886 aufgestellt hatte. 276 Auch in diesem Fall gab es einerseits ein verbotenes Handeln, nämlich das Herausgeben von Medikamenten durch einen Apotheker, der dadurch mittelbar den Tod eines Kindes verursachte hatte und andererseits ein Unterlassen der gebotenen vorherigen Nachfrage beim Arzt, welches das Verbot der Herausgabe gerade begründete. Es ist die typische Kombination von akzessorischem Gebot und komplementärem Verbot. Die Passage dieser Entscheidung, auf die sich das Reichsgericht im Ziegenhaarfall bezieht, ist die folgende: RGSt 15/151 (153): „Andererseits liegt es aber in dem Begriffe des Verursachens, und somit auch des Mitverursachens, dass eine Handlung [„diesen Begriff in dem weiten, die Unterlassung mit umfassenden Sinne verstanden“] dann nicht als kausal wirksam angesehen werden kann, wenn der konkrete Erfolg auch ohne dieselbe eingetreten wäre. Ist dies der Fall, so hat eben die Handlung nicht eine der verursachenden Bedingungen gesetzt, sondern der Erfolg ist auf eine andere Ursache, als die Handlung, zurückzuführen. Andererseits ist dies nicht dahin zu verstehen, dass, wenn im konkreten Falle der Nachweis vorliegt, dass das schädigende Ereignis tatsächlich als Wirkung menschlichen Handelns eingetreten ist, zur Beseitigung des damit hergestellten Kausalzusammenhangs schon die bloße, schwer oder gar nicht zu berechnende Möglichkeit einer Ursache genüge, welche die gleiche Wirkung hätte haben können, wenn jene, tatsächlich wirksam gewordene, Ursache nicht vorhandeln gewesen wäre. 277 Liegt dagegen Gewissheit, oder, was auf dem hier fraglichen Gebiete in der Regel 274 Hierauf beziehen sich folgende Entscheidungen: RGSt 63/392 (siehe unten), RGSt 75/49, 75/324. 275 Anderer Ansicht z. B. Brammsen (2001), S. 209, Fn. 108 und Stoffers (1992), S. 31, Fn. 9 m.w. N., der mit dem Hinweis auf die vom Reichsgericht erwähnte „pflichtgemäße Desinfektion“ auf Unterlassen hin interpretiert. Doch geht es ja gerade um die Frage, ob im Hinblick auf den Erfolg vorrangig an das pflichtwidrige Unterlassen oder das pflichtwidrige Handeln angeknüpft wird. Vgl. auch RGSt 63/392 (394): „Bei Verursachung eines strafbaren Erfolges durch Unterlassung bedarf die Rechtswidrigkeit der Unterlassung besonderer Erörterung.“ – Diese Erörterung fehlt in RGSt 63/211 (214). 276 RGSt 15/151.
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als gleichwertig zu erachten sein wird, ein an Gewissheit grenzender Grad von Wahrscheinlichkeit vor, dass der vom Gesetze bezeichnete Erfolg auch eingetreten sein würde, wenn das schuldhafte Handeln nicht vorausgegangen wäre, so ist damit zugleich der Beweis geliefert, dass dieses Handeln den auch ohne dasselbe eingetretenen Erfolg nicht verursacht habe.“
In Anwendung dieses Kriteriums bejaht das Reichsgericht die Kausalität des Handelns des Apothekers als „unbedenklich.“ Die Kausalität des Handelns stand aber gar nicht in Frage. Zweifelhaft war vielmehr die Kausalität der Fahrlässigkeit. Um diese annehmen zu können, musste laut Reichsgericht auch die Kausalität des pflichtwidrigen Unterlassens gegeben sein: RGSt 15/151 (152): „Die Vorinstanz findet den Tod des Knaben als durch die Fahrlässigkeit des Angeklagten verursacht, und sie findet das fahrlässige ... Verhalten ... darin, dass er zu der wiederholten Anfertigung der Arznei schritt, ohne vorher sich zu vergewissern ... – Die fahrlässige Handlungsweise ... hat demnach nicht sowohl in der positiven Handlung der viermaligen Erneuerung der Arznei, als vielmehr in der Unterlassung bestanden, dass er zu dieser Erneuerung ohne die nach den Umständen gebotene Vergewisserung über das Vorliegen ärztlicher Genehmigung derselben schritt. 278 Um zur Verurteilung des Angeklagten wegen fahrlässiger Tötung zu gelangen, bedurfte es daher der Feststellung des Kausalzusammenhanges zwischen dem Tode des Arno H. und dieser schuldhaften Unterlassung.“
Wegen unsicherer Tatsachenfeststellungen erschien dem Gericht die Annahme „indiziert, jedenfalls aber nicht ausgeschlossen“, dass der gleiche Erfolg auch bei ärztlicher Überwachung eingetreten wäre. 279 Das Reichsgericht verneinte deshalb wegen fehlender Kausalität der Fahrlässigkeit eine Strafbarkeit wegen fahrlässiger Tötung: 280 RGSt 15/151 (154): „Das Gesetz stellt aber ein solches, wenngleich den Begriff der Fahrlässigkeit erfüllendes Verhalten 281 [hier: das Unterlassen der Nachfrage] nicht an sich, sondern nur unter der Voraussetzung unter Strafe, dass in ihm die Ursache eines bestimmten rechtswidrigen Erfolges gegeben ist, und dies ist eben nicht der Fall, wenn letzteres ganz in gleicher Weise auch ohne das schuldhafte Verhalten 282 277 Das RG nimmt hier auf die Schwäche der Bedingungstheorie Bezug, nämlich die Ursächlichkeit eines Umstands verneinen zu müssen, nur weil eine hypothetische Ersatzursache einen ähnlichen Erfolg bewirkt hätte. 278 Wegen der Formulierung „nicht sowohl ... als vielmehr“ bleibt die Entscheidung unbestimmt im Hinblick auf die Frage nach Begehung oder Unterlassung. 279 RGSt 15/151 (155). 280 Dieses Ergebnis entspricht auch heute der allgemeinen Meinung, vgl. etwa Roxin (1962), S. 435 f., (2006), AT I, § 11/74 m.w. N. 281 Die Vorstellung, dass man unter den „Begriff“ der Fahrlässigkeit ein Handeln „subsumiert“, ist bezeichnend. Es ist kein beschreibender Begriff, sondern bezeichnet die Normwidrigkeit, verweist also auf das Rechtssystem selbst. 282 ... aber „mit“ dem als rechtmäßig gedachten Verhalten. Die Bedingungstheorie fordert ganz deutlich dazu auf, das normwidrige Verhalten durch das entsprechende
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C. Strafrechtsdogmatik
eingetreten wäre.“ S. 155: „Dann würde auch der Tod des Arno H. nicht als die Folge der in concreto wirkungslos gebliebenen schuldvollen Unterlassung des Angeklagten, sondern als die Folge der der Kur innewohnenden Gefährlichkeit eingetreten sein, und es würde für den durch diese verursachten unglücklichen Ausgang der Kur, sowenig wie der Arzt, wenn er dieselbe kontrolliert hätte, ebenso wenig auch der Angeklagte strafrechtlich verantwortlich gemacht werden können.“
Was folgt daraus für den Ziegenhaarfall? Zur Überraschung – gerade die Kausalität der Fahrlässigkeit für die eingetretenen Folgen! Das Reichsgericht folgt dem über 40 Jahre älteren Urteil zwar insofern, als es die oben zitierte Kausalitätsformel fast wörtlich übernimmt. Doch bleibt unklar, ob es die Formel auf das Handeln (Aushändigen der Ziegenhaare) oder das Unterlassen der Desinfektion anwendet. Dieser Unterschied ist entscheidend, weil die Formel, die auf das Handeln zugeschnitten ist, nicht ohne Sinnentstellung auf das Unterlassen angewendet werden kann. Die Doppeldeutigkeit des Worts „Handeln“ (in RGSt 63/211 [214]: „Verhalten“) einerseits als Handeln im eigentlichen Sinn und andererseits als Unterlassen, ermöglicht es dem Gericht, die Frage in der Schwebe zu lassen. Man sieht die Gefahr (oder den Nutzen), den eine solche Wortverwendung haben kann. 283 Weil sich das Gericht jedoch nicht im Widerspruch zu den vorhergehenden Entscheidungen RGSt 51/127 und 58/130 (oben zitiert) sieht, ist die Passage so zu verstehen, dass lediglich die Kausalität des fahrlässigen Handelns geprüft wird. Eine Kausalität des Unterlassens konnte wie im Apothekerfall nicht angenommen werden. 284 Die „Kausalität der Fahrlässigkeit“ wäre gemäß der Bedingungstheorie, der das Reichsgericht folgt, nur dann gegeben, wenn ausgeschlossen wäre, dass ein rechtmäßiges Alternativhandeln den gleichen Erfolg verursacht hätte. Nur dann wäre die Fahrlässigkeit „notwendige Bedingung“ des Erfolgseintritts. Man prüft eine „Kausalität im Rechtssinn“. 285 Das Reichsgericht aber lässt die Feststellung genügen, dass das Aushändigen der Ziegenhaare kausal für den Erfolg war und bejaht damit zugleich die Kausalität der Fahrlässigkeit. Um eine Kausalität des fahrlässigen Handelns zu verneinen, wäre ihm gemäß die „Gewissheit“, nicht rechtmäßige Verhalten zu substituieren. Sie ist deshalb keine Kausalitätstheorie, sondern dient als zusätzliches Kriterium neben der Kausalität. 283 Siehe bereits oben, C.II.2. 284 Vgl. den Verweis auf die oben zitierte Rechtsprechung zur Kausalität beim begehungsgleichen Unterlassensdelikt, RGSt 63/211 (214): „Die Entscheidung in RGSt. Bd. 51 S. 127 steht nicht entgegen.“ In dieser wurde für ein Unterlassensdelikt die an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit für das Entfallen des Erfolgs gefordert (vgl. oben die Bezugnahme in RGSt 58/130). Das heißt, dass nach dem Verständnis des Reichsgerichts im Ziegenhaarfall die Frage der Kausalität der Fahrlässigkeit zur Diskussion stand und in der zitierten Entscheidung die Kausalität des Unterlassens beim Unterlassungsdelikt. Das ist ein weiterer Beleg dafür, dass das Reichsgericht hier von einem Begehungsdelikt ausging. 285 So Rödig (1986), S. 62 ff.
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bloß die Möglichkeit vorausgesetzt, dass der Erfolg auch bei gebotenem Handeln eingetreten wäre. 2. Infolge der Entscheidung zum Ziegenhaarfall postulierte das Reichsgericht für Begehungs- und Unterlassungsdelikte ungleiche Wahrscheinlichkeitsmaßstäbe, um jeweils die Kausalität der Normwidrigkeit festzustellen. Zur Annahme eines Unterlassungsdelikts musste mit höchster Wahrscheinlichkeit feststehen, dass der Erfolg bei Vornahme des gebotenen Handelns entfallen wäre. Für ein unterlassensimplizierendes Begehungsdelikt sollte es hingegen genügen, dass der Erfolg bei Vornahme des gebotenen Handelns möglicherweise entfallen wäre. Dieses Ergebnis ist widersprüchlich, weil die Kausalität der Fahrlässigkeit in den Fällen der Missachtung akzessorischer Gebote eine Kausalität des Unterlassens ist. Die Gebotsmissachtung begründet die Fahrlässigkeit des Handelns. Gegen die Rechtsprechung wandte sich deshalb 1930 ein Kommentar Exners, der eine andere, gleichlautende Entscheidung des Reichsgerichts aus dem Jahr 1926 betrifft, den „Kokainfall“. 286 In diesem hatte ein Arzt zur Narkose eines Kindes Kokain statt, wie geboten, Novokain verwendet. 287 Das Kind starb, wäre aber möglicherweise auch am Novokain gestorben. Das Reichsgericht prüfte wiederum zutreffend ein fahrlässiges Begehungsdelikt und bejahte den Ursachenzusammenhang nach der gleichen Formel wie im Ziegenhaarfall. 288 Exner hierzu: „Den Sinn dieser Entscheidung könnte man kurz in die Worte fassen: Der Täter ist schuldig zu sprechen, weil seine Unschuld nicht genügend sichergestellt ist. Dies ist unhaltbar ... Ein Arzt darf nur dann wegen fahrlässiger Tötung verurteilt werden, wenn das Gericht überzeugt ist, dass der Patient bei sachgemäßer Behandlung am Leben geblieben wäre ... Das Reichsgericht pflegt ja von seiner Bedingungstheorie ausgehend auch sonst die Frage des Eventualverlaufes zu stellen. Dabei bejaht es die Kausalität, wenn feststeht, dass der schädliche Erfolg bei pflichtgemäßem Verhalten sicher oder annähernd sicher ausgeblieben wäre. Hier nun soll sich das Verhältnis umdrehen: Die Schuld soll bejaht werden, wenn nicht annähernd sicher feststeht, dass der Erfolg bei pflichtgemäßem Verhalten ebenfalls eingetreten wäre. Bleibt der Sachverhalt zweifelhaft, wird sonst freigesprochen, hier verurteilt. Das ist folgewidrig.“ 289
286
Juristische Rundschau, 2. Jahrgang (1926), Band II, Spalte 1636 f., Nr. 2302. Die Verwendung von Novokain war geboten, weil die Überempfindlichkeit des Kindes sich wohl erst bei dessen Obduktion herausgestellt hat. Deswegen ist die Argumentation von Eberhard Schmidt (1939), S. 201 f. falsch. 288 In diesem Urteil wird nochmals deutlich, dass das Reichsgericht nur die Kausalität des fahrlässigen Handelns, nicht des Unterlassens prüft, a. a. O.: „Diese ... bloße Möglichkeit, dass der Tod auch bei Verwendung von Novokain eingetreten wäre, kann den im übrigen festgestellten Ursachenzusammenhang zwischen dem Tun des Angekl. und dem Tode des Kindes nicht beseitigen (RGSt 15, 151, 153).“ 289 Exner (1930), S. 588. 287
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Der zweite Kritikpunkt Exners betrifft den Begriff der „Kausalität der Fahrlässigkeit“: „Eine höchst unglückliche Ausdrucksweise, denn die Pflichtwidrigkeit ist etwas Irreales und kann nicht verursachen, verursachen kann nur die Handlung; diese aber hat hier in der Tat den Erfolg verursacht; der Kausalzusammenhang ist nicht zu leugnen. Es fehlt die ... Vermeidbarkeit des Erfolges.“ 290
Dieser formale Einwand Exners, der noch heute wiederholt wird, 291 hat eher Verwirrung gestiftet als Gewinn gebracht, weil er ein Kriterium desavouiert, gegen das in der Sache nichts einzuwenden ist. Das Reichsgericht wirft mit dem Begriff der Kausalität der Fahrlässigkeit nicht beschreibende und normative Kategorien durcheinander. Es prüft vielmehr implizit, ob der reale Umstand, der die Normwidrigkeit (= Fahrlässigkeit) des Handelns begründet, bedingt hat, dass der Handelnde den Erfolg verursacht hat. Dieser Umstand ist in den behandelten Fällen gerade das Unterlassen. Weil der Handelnde unterlassen hat, ist das Handeln verboten. Wenn man, wie das Reichsgericht auf dem Boden der Bedingungstheorie, grundsätzlich eine Kausalität des Unterlassens für möglich hält, 292 muss man diese gesondert prüfen – auch wenn ein kausales Handeln bereits festgestellt ist. Ein Handelnder kann den Erfolg sowohl verursacht als auch unterlassen haben zu verhindern. Folgt man der Bedingungstheorie nicht oder ist aus anderen Gründen nicht bereit, von einer Kausalität des Unterlassens zu sprechen, wird man eine andere Bezeichnung für die vom Reichsgericht gemeinte Beziehung zwischen dem Umstand, der die Normwidrigkeit begründet und der Tatsache, dass der normwidrig Handelnde verursacht hat, wählen. Es ist in der Tat präziser, von der Bedingtheit der Verursachung bzw. Nichtverhinderung des Erfolgs durch die Normwidrigkeit des Handelns zu reden. Der Begriff der Bedingung verdeutlicht den Vergleich mit der hypothetischen Situation nicht normwidrigen Handelns, auf den es entscheidend ankommt. Infolge der Kritik am Begriff der Kausalität der Fahrlässigkeit ist eine terminologische Vielfalt entstanden, die kaum durch Differenzen in der Sache begründet ist. Der kritisierte Begriff findet einen adäquaten Ersatz etwa in den Begriffen der tatbestandlichen Relevanz der Verursachung (Mezger), 293 des Rechtswidrigkeitszusammenhangs, der Gefahrverwirklichung (Engisch) 294 oder der Realisierung der Sorgfaltspflichtverletzung (Welzel). 295 In neuerer Zeit hat Puppe das Kriterium der Kausalität der Sorgfaltspflichtverletzung wiederum 290
Exner (1930), S. 583 f. Z. B. Koriath (2007), S. 91. 292 Ausführlich hierzu bereits unter C.III.3. 293 Mezger (1958), S. 282. 294 Engisch (1931), S. 61 ff., 66 f. (1939), S. 428. Im Hinblick auf RGSt 62/126 verneinte er (1930), S. 316 noch die Kausalität der mangelnden Sorgfalt für den Erfolg. In der Sache dürfte kein Unterschied bestehen. 291
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verteidigt. 296 Um Begriffe allein lohnt der Streit nicht. Die alternative Begrifflichkeit darf jedoch nicht verschleiern, dass es sich jedenfalls um eine Frage handelt, welche die Wahrheit von Tatsachenbehauptungen betrifft. Wegen des Entscheidungszwangs, unter dem der Richter auch hinsichtlich zweifelhafter Tatsachenfragen steht, greift der Grundsatz in dubio pro reo. 297 Der Richter darf nicht zuungunsten des Angeklagten Tatsachen unterstellen, wenn ein plausibler Zweifel an deren Richtigkeit besteht. Der Zweifelsgrundsatz ist zur Legitimation der Strafe entscheidend, 298 sonst würde sich der als Täter Verurteilte darauf berufen können, dass das Gericht die für ihn günstige Möglichkeit für ebenfalls plausibel hielt und diese andere Möglichkeit für sich in Anspruch nehmen. Er wird dann die Sanktion nicht als für sich angemessen oder gerecht anerkennen können und kann dabei auf Verständnis hoffen. 3. Eine weitere folgenreiche Reaktion auf den Ziegenhaarfall war diejenige Mezgers aus dem Jahr 1933: „Eine interessante Entwicklung zeigt die Rechtsprechung des höchsten Gerichtshofes in der Frage der Kausalität der Unterlassung ... Den Satz, dass beim reinen Unterlassensdelikt Kausalität nur vorliegt, wenn die Verhinderung des Erfolgs durch die ‚erwartete‘ Handlung sicher erwiesen ist, anerkennt das RG nunmehr ohne Einschränkung ... [in E. 64, 263 (269)]. Aber es will dabei Fälle, in denen ein positives Handeln nebenher geht – wie in dem Apotheker-Beispiel E. 15, 151 in dem Ziegenhaar-Fall E. 63, 211 –, nach der Kausalität des positiven Tuns beurteilen und daher hier die Frage des Zusammenhangs bejahen; meines Erachtens wird dadurch die Haftung zu weit ausgedehnt, da der Vorwurf in solchen Fällen nicht gegen das Tun, sondern gegen das Unterlassen gerichtet ist.“ 299
In diesem Text liegt die Geburtsstunde des Kriteriums vom „Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit“, das die Rechtsprechung noch heute bemüht. 300 Bezeichnenderweise hat dieses Kriterium Mezger zu der falschen Einschätzung geführt, dass im Ziegenhaarfall ein Unterlassungsdelikt zu prüfen sei. 301 Hinter dieser Einordnung in die Unterlassungsdelikte steht aber das berechtigte Anliegen, in 295 Welzel (1969), § 18 I 2, S. 135 f. Zusammenschau der Kriterien bei Roxin (1962), S. 420 f. und Degener (2001), S. 454 f.; monografisch Ulsenheimer (1965), Hübner (2004). 296 Puppe (1987), S. 599 ff., (2002), § 3/3 m.w. N. 297 Ebenso Philipps (1974), S. 116. 298 Vgl. etwa Frisch (1974), S. 284. 299 Mezger (1949), S. XIX (textidentisch mit der 2. Auflage von 1933). 300 Siehe oben C.VI.7. 301 Bereits (1931), S. 138 hatte Mezger den Ziegenhaarfall dem „Kommissivverbrechen durch Unterlassung“ zugeordnet, ebenfalls (1941), S. 48 f.: „weil nämlich sich der Vorwurf nicht gegen die ‚Körperbewegung‘, sondern gegen das Nichttun richtet. Auf diese Richtung des Vorwurfs, also auf die Richtung der Wertung, kommt es entscheidend an.“
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diesen Fällen (auch) eine Kausalität des Unterlassens zu verlangen. Mezger hat die Frage, wie die Kausalität der Fahrlässigkeit zu bestimmen sei, verschoben und zu einer Frage der Abgrenzung des Begehungs- vom Unterlassungsdelikt gemacht. Diese Problemverschiebung war doppelt folgenreich. Zum einen hat sie das Problem der „Abgrenzung von Tun und Unterlassen“ beim Fahrlässigkeitsdelikt erst entstehen lassen. Zum anderen hat die Strafrechtswissenschaft aus dem Blick verloren, dass mit dem Kriterium der „Kausalität der Fahrlässigkeit“ bereits der zutreffende Wertungsaspekt erfasst war und dass nur die Definition in RGSt 63/211 falsch ist. 302 – Die Lehre von der objektiven Zurechnung hat in der daraufhin entwickelten Risikoerhöhungslehre ihren wichtigsten Anlass. Gegen die Abgrenzungsidee Mezgers ist vor allem einzuwenden, dass der „Vorwurf“ in diesen Fällen sowohl gegen das verursachende Handeln (= Tun) als auch gegen das Unterlassen gerichtet ist. Das Unterlassen ist aber der Grund, warum auch gegen das Handeln ein Vorwurf erhoben wird. Der „Schwerpunkt“ des Vorwurfs liegt gleichwohl auf dem handelnden Verursachen, schon weil das Unterlassen ohne das darauffolgende Handeln rechtlich irrelevant wäre. bb) Die Rechtsprechung des BGH 1. Die nächste wichtige und bis heute gültige Entscheidung zum Erfordernis der Kausalität der Normwidrigkeit ist die des BGH zum „Radlerfall“. 303 Mit dieser Entscheidung schwenkte die Rechtsprechung um und verlangt fortan den strengen Nachweis der Kausalität der Normwidrigkeit: Ein Lastzugfahrer überholte mit zu geringem Seitenabstand einen betrunkenen Radfahrer, der sein Fahrrad in den Lastzug hineinlenkte und verstarb. Auch hier kam nur ein Begehungsdelikt in Betracht, weil ein Verursachen durch verbotenes Handeln gegeben war. Das Gebot, den vorgeschriebenen Seitenabstand einzuhalten, hat akzessorischen Charakter, weil es eigenes Verursachen zu verhindern bezweckte und das Überholen ohne Beachtung des Mindestabstands komplementär verboten war. Die Bestimmung des gebotenen Abstands gibt ein Beispiel für die beiden Arten der Ableitung von Situationshandlungsnormen und das Zusammenspiel beider Arten. Der gebotene Mindestabstand bestimmte sich nach einer generellen Handlungsnorm. Wäre dem Lastzugfahrer aber erkennbar gewesen, dass der Fahrradfahrer betrunken war, hätte er mit noch größerer Vorsicht überholen müssen. Die teleologische Ableitung ist vorrangig, wenn Verursachungsnormen gelten, auf welche die generalisierten Handlungsnormen beziehbar sind. 304 302 Die Diskussion war dann, abgelöst von ihrem Hintergrund, auch nicht recht verständlich. Zuerst wieder klärend Roxin (1962), S. 413 ff. 303 BGHSt 11/1. 304 Vgl. B.II.7.f.
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Das entscheidende Problem des Falls lag wiederum darin, dass nicht mit Sicherheit behauptet werden konnte, dass die Einhaltung des gebotenen Mindestabstands die Erfolgsverursachung verhindert hätte. Der Radfahrer hätte sein Fahrrad wohl ebenfalls in den Lastzug hineingelenkt. Anders als das Reichsgericht im Ziegenhaarfall, prüft der BGH die Kausalität der Sorgfaltswidrigkeit nach der gleichen Formel wie beim Unterlassungsdelikt. 305 Deshalb konnte er die Erfolgsverursachung nicht als normwidrig zurechnen. 306 Zur Begründung führt er wesentlich den Grundsatz des in dubio pro reo an. 307 Dass er von einem Begehungsdelikt ausging, kann kaum zweifelhaft sein. 308 BGHSt 11/1 (7): „Natürlich war die Fahrweise des Angeklagten eine Bedingung im mechanisch-naturwissenschaftlichen Sinn für den Tod des Radfahrers. Damit ist aber nicht gesagt, dass die in seinem Verhalten steckende Verkehrwidrigkeit, das zu knappe Überholen, für die Herbeiführung des Tatbestandes gemäß § 222 StGB im strafrechtlichen Sinn ursächlich war.“ 309
Für fahrlässige Begehungsdelikte, die einen Verstoß gegen das Gebot einer verhinderungsgeeigneten Handlung implizieren, 310 gilt seit dieser Entscheidung das gleiche Erfordernis der Kausalität der Normwidrigkeit (= der Unterlassung) wie für die erfolgsbezogenen Unterlassungsdelikte, und diese Kausalität kann auch nicht nach einem anderen Maßstab beurteilt werden. Von einem Unterlassen des Verhinderns kann man in beiden Fällen nur reden, wenn das Bestehen der Möglichkeit, dass bei Normbefolgung der Erfolg nicht eingetreten wäre, als sicher angenommen werden kann. 311 Dass es im einen Teil der Fälle um ein Verhindern geht, das in das Geschehen eingreift, und im anderen um ein Verhindern, dass der Handelnde selbst den Erfolg verursacht, kann nicht entscheidend sein. 312 Auch hängt letzteren Falls (bei gegebener Erfolgsverursachung) die Abgrenzung 305 Deutlich in der Referenz auf RGSt 75/49 und 324 sowie auf BGHSt 7/211 auf Seite 3 der Entscheidung. Jene Entscheidungen betreffen begehungsgleiche Unterlassensdelikte. 306 Dem folgt die herrschende Meinung. Man spricht statt von der Kausalität der Sorgfaltswidrigkeit heute meist vom Rechtswidrigkeitszusammenhang. Vgl. Sch / Sch / Cramer / Sternberg-Lieben (2006), § 15 StGB, Rn. 179. 307 BGHSt 11/1 (6). 308 Zur Gegenauffassung Stoffers (1992), S. 33. 309 Der BGH kommt wohl deshalb nicht auf die Kausalität des Unterlassens zu sprechen, weil das Gebot einer Handlungsmodifikation das gebotswidrige Handeln nicht deutlich als ein Unterlassen erscheinen lässt, anders als in den Fällen des RG, in denen das Unterlassen deutlich vorausging. Gleichwohl ist es ein Unterlassen. Die Entscheidungen, das Überholen zu eng zu beginnen und anschließend nicht zu vergrößern, beinhalten ein Unterlassen des gebotenen Entscheidens. Der BGH hätte auf die fehlende Ursächlichkeit dieses Unterlassens abstellen können. 310 Dies sind im Wortsinn „unechte“ Unterlassungsdelikte, siehe C.VI.2. 311 Vgl. zum Unterlassungsdelikt bereits C.III.3.3. 312 Ähnlich Philipps (1974), S. 144, Fn. 187 im Hinblick auf die Verschiebbarkeit von Tun und Unterlassen in Organisationen, vgl. unter C.V.4.
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des fahrlässigen Begehungs- vom Unterlassungsdelikt von dem relativ zufälligen Umstand ab, ob die gebotene Zusatzhandlung der verursachenden Bezugshandlung vorausgehen oder folgen sollte. 313 – Auch das kann nicht entscheidend sein. 314 Aus diesem Grund ist die Abgrenzung zwischen dem Begehungs- und Unterlassungsdelikt, sofern der Handelnde den Erfolg verursacht hat, beim fahrlässigen Delikt ohne Auswirkungen. In jedem Fall muss nachgewiesen werden, dass das gebotene Handeln verhindert hätte, dass der Handelnde den Erfolg verursacht. Eine Besonderheit des Radlerfalls gegenüber dem Ziegenhaarfall liegt darin, dass beide Seiten verboten handelten – auch der Radfahrer, der wegen Trunkenheit fahruntüchtig war. Daraus möchte Puppe, die das Kriterium der Kausalität der Normwidrigkeit grundsätzlich anerkennt, die Erfolgszurechnung an den Lastwagenfahrer begründen. Sie entscheidet in den Fällen der Risikokonkurrenz, in denen auch das Opfer sorgfaltswidrig handelte, zu Lasten des Täters. 315 Ihre Begründung, das Risiko theoretisch aufzuspalten, vermag aber nicht zu überzeugen. Sie vermengt unkontrollierbar das Wissen ex ante und ex post. Das „Risiko ex post“ spiegelt jedoch nur die Unsicherheit des Urteils über den hypothetischen Verlauf wider. Demgegenüber ist an der Grundregel festzuhalten: Es kann nur zugerechnet werden, wenn der Normverstoß Bedingung des eigenen Verursachens ist. Das wäre nur dann der Fall, wenn der Fahrradfahrer bei ordnungsgemäßem Überholen nicht eingelenkt hätte oder wenn er zwar eingelenkt hätte, aber nicht tödlich überfahren worden wäre. Hierzu befand der Sachverständige, dass der Radfahrer mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit ebenfalls eingelenkt hätte und dabei ebenfalls tödlich überfahren worden wäre. Weil Fragen tatsächlicher Art gegeben sind, ist der Zweifelssatz einschlägig. 2. Über diese Einschränkung hinausgehend, bemühen sich andere Autoren darum, im Ergebnis die alte Auffassung des Reichsgerichts zum Ziegenhaarfall zu verteidigen. Wie schon in Exners Kommentar deutlich wurde, besteht dabei die Gefahr eines Widerspruchs zum Zweifelsgrundsatz. Die Kausalität des Umstands, der das Handlungsverbot begründet, ist eine Tatsachenfrage. Deshalb müssen diese Autoren den Kausalitätsgrundsatz aufgeben – eine folgenreiche Entscheidung, weil sie Auswirkungen auf die gesamte Zurechnungslehre hat. Vor allem Roxin setzt an dessen Stelle die „Risikoerhöhungslehre“ und möchte schon dann zurechnen, wenn sich (ex post gesehen) das Risiko des Erfolgseintritts gegenüber dem erlaubten Risiko, d. h. dem rechtmäßigen Alternativverhalten, erhöht hat. 316 Diese und im Ergebnis ähnliche Auffassungen 317 dürfen aber 313
Hierzu unter C.V.1.c). Anders offenbar Roxin (1962), S. 438. 315 Puppe (2002), § 3/44 ff. (52). 316 Roxin (1962), S. 430 ff., (2006), AT I, § 11/88 ff. m.w. N. 317 Monographisch etwa Degener (2001), S. 433 ff. m.w. N., S. 437 f.: „Die Handlung muss den Erfolg verursachen; sie muss in ihrer Typusrichtung dem Erfolg entsprechen; 314
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nicht als Versuche erscheinen, den Zweifelsgrundsatz bloß zu umgehen. Sie tragen deshalb eine hohe Begründungslast. 318 Ob die Risikoerhöhungslehre dem Zweifelsgrundsatz widerspricht, ist fraglich. 319 Ein Argument dagegen ist wohl, dass mit ihr schon in die Strafnorm das Kriterium „Risikoerhöhung“ hineingelesen wird, so dass der prozessuale Grundsatz gar nicht anwendbar ist. Dieses Verfahren ist aber im Hinblick auf das Umgehungsverbot bedenklich. Es gliche dem Hineinlesen des Worts „wahrscheinlich“ in den Tatbestand der Erfolgsdelikte, der ein Verursachen bezeichnet. Jedenfalls kehrt die Risikoerhöhungslehre im Ergebnis die Beweislast um. Sie fordert die Widerlegung einer ex ante getroffenen Risikoprognose, um zur Straffreiheit zu gelangen. Ex ante gesehen haben nämlich alle fraglichen Handlungen das Risiko der Erfolgsverursachung erhöht. Dieses ex-ante-Urteil soll nun in zweifelhaften Fällen auch das ex-postUrteil sein, obwohl dieses gerade die Frage der Auswirkung der Risikoerhöhung beantworten müsste. Damit wird die Beweislast umgekehrt, das Kriterium der „Kausalität der Normwidrigkeit“ implizit aber anerkannt, wenn in nicht zweifelhaften Fällen trotz ex ante gegebener Risikoerhöhung nicht zugerechnet wird. Wenn der Richter aufgrund des Zweifelssatzes zum Ergebnis kommt, dass die Kausalität der Normwidrigkeit nicht angenommen werden kann, bedeutet das zugleich, dass nicht festgestellt werden kann, dass (ex post gesehen) das Risiko durch die Normwidrigkeit erhöht wurde. 320 Roxin legitimiert seinen Standpunkt durch den Verweis darauf, dass das strenge Kriterium der Kausalität einen „Verzicht auf jegliche Sorgfaltsanforderung“ in diesen Fällen bedeuteten würde. 321 Dieser Einwand überzieht die Bedeutung des sie muss ausgeprägt erfolgsgefährlich sein, d. h. einen beendeten tatbestandlichen Versuch ergeben; hinzu kommt die Identität von Versuchsobjekt und Verursachungsobjekt.“ – Ob aber die Regelung des Versuchs der Fahrlässigkeit wertungsvergleichbar ist, scheint angesichts des ganz anders gelagerten Problematik zweifelhaft. Beim Versuch steht gerade nicht die Erfolgszurechnung in Frage. 318 Der Vorwurf des Rückfalls in das Haftungsprinzip des versari in re illicita trägt wohl nicht, vgl. Degener (2001), S. 118 ff. Gegen Degener (2001), S. 447 f. (vgl. auch Roxin [1962], S. 421) ist jedoch einzuwenden, dass sich von Rechts wegen Ansätze, die in einem Zweifelsfall zur Bejahung der Strafbarkeit führen, stärker legitimieren müssen. – Diese Legitimation ist nicht empirisch zu verstehen („empirische Untersuchung“, S. 448), sondern ist eine Legitimation vor dem Täter. Einwände von der Art, dass Straffreiheit in diesen Fällen unbillig sei (Roxin [1962], S. 424) oder gegen ein verbreitetes Rechtsgefühl gehe, lassen sich leicht durch die Gegenbehauptung neutralisieren, dass die Bestrafung unbillig sei oder dem Rechtsgefühl widerspreche. 319 Dagegen Roxin (1962), S. 434, (2006), AT I, § 11/90, Sch / Sch / Cramer / SternbergLieben (2006), § 15 StGB, Rn. 179a. Zum Zweifelsgrundsatz Frisch (1974), S. 273, 283. 320 Zutreffend deswegen Philipps (1974), S. 113 – 119. 321 Roxin (2006), AT I, § 11/91; auch schon (1962), S. 422. Dort übersieht er, dass „der Einwand, dass es auch sonst hätte schief gehen können,“ sachverständig belegt werden muss und in allen diskutierten Fällen konkrete Anhaltpunkte gegeben waren, die den Eintritt des gleichen Erfolgs plausibel machten (und die z. B. in BGH, VRS 24/124
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Strafrechts, gerade für den Fahrlässigkeitsbereich. In Frage steht nicht, dass die verletzten Handlungsnormen von Rechts wegen ihre Geltung behalten, sondern nur, ob ihre Nichtbefolgung kriminalisiert und strafrechtlich sanktioniert werden muss. 322 Der „Schutzzweck der Sorgfaltsnorm“ verlangt keineswegs „zwingend“ die Sanktionierung. Das Zivilrecht hingegen kann im Hinblick auf die Schadenszuordnung durchaus anders entscheiden. 323 Für das Kausalitätskriterium lässt sich nicht zuletzt der überlieferte Wortlaut des § 222 StGB anführen: „Wer durch Fahrlässigkeit verursacht ...“ „Fahrlässigkeit“ ist nicht eine Handlung, sondern ist höchstens als Eigenschaft einer Handlung zu verstehen. 324 Sie ist ein Synonym für (unvorsätzliche) Normwidrigkeit. Das Verursachen „durch“ oder „wegen“ Fahrlässigkeit legt einen Begründungszusammenhang nahe, wie er im Kriterium der Kausalität der Normwidrigkeit für das Verursachen zum Ausdruck kommt. 3. Hinter dem Kriterium der Kausalität der Normwidrigkeit steht die allgemeine Zurechnungsregel, dass auf die Missachtung von Handlungsnormen die Verurteilung wegen eines Verstoßes gegen ein Verursachungsverbot oder Verhinderungsgebot nur gestützt werden kann, wenn die Handlungsnormen nicht nur ex ante gesehen generell (= möglicherweise) geeignet waren, die Erfolgsverursachung zu verhindern bzw. das Verhindern des Erfolgs zu verursachen, sondern hierzu auch ex post gesehen konkret geeignet waren. 325 In den hier beschriebenen Fällen wären die geforderten Handlungen und damit die Handlungsnormen selbst mit Wahrscheinlichkeit nicht effektiv gewesen. Auf die Missachtung ungeeigneter Normen kann die Erfolgszurechnung nicht gestützt werden. Diese Zurechnungsregel vermag der Erfolgszurechnung eine sehr starke zweckrationale (teleologische) Legitimation zu verleihen. Im Hinblick auf ein Verursachungsverbot gelten die Handlungsverbote und akzessorischen Gebote, weil die Erfolgsverursachung verhindert werden soll. – Deswegen muss der Handelnde verursacht fehlten). Deswegen verfängt auch das Beispiel auf S. 424 nicht, in dem der Lastwagenfahrer den Radfahrer ganz übersieht. Hier hätte kaum ein Anhaltspunkt dafür vorliegen können, dass der Radfahrer beim Überholvorgang nach links eingelenkt hätte. Auch der unwahrscheinliche Fall, dass nachweisbar wäre, dass der Radfahrer in selbstmörderischer Absicht nach links einlenkte, ist nicht anders zu lösen als der Grundfall, weil er dazu auch das rechtmäßige Alternativverhalten des Lastzugfahrers hätte nutzen können. 322 Hierfür vermag auch das folgende Argument nichts vorzubringen, Roxin (1962), S. 433: „Die Erhöhung der gerade noch hingenommenen Gefahr lässt die Waagschale zugunsten des Rechtsgüterschutzes sinken und die Erfolgsherbeiführung, die sonst nicht hätte beanstandet werden dürfen, als fahrlässig erscheinen.“ – Auch dies ist nur eine Behauptung. Ob die Bestrafung in diesen Fällen dem Rechtsgüterschutz diente, ist zweifelhaft. 323 Hierzu etwa Theißen (2001). 324 Insoweit zutreffend Welzel (1969), S. 131. 325 Siehe B.V.2.6. Zu den Begriffen der generellen und konkreten Eignung unter B.II.3.
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haben, weil er das Verbot und Gebot nicht befolgte. 326 Wenn der Erfolg nicht sicher vermeidbar war, ist auch das Strafbedürfnis gemindert. So hat Engisch richtig gesehen, dass die Bedingungstheorie zwar nicht eine Kausalitätstheorie ist, aber auf wertungsrelevante Sachverhalte aufmerksam macht: „Die Fragestellung an Hand der Formel von der conditio sine qua non ... [hängt] zutiefst mit der Struktur unseres Vergeltungsbedürfnisses zusammen, das durch die Erwägung besonders aufgereizt wird, dass ‚ohne das Anstoß erregende Verhalten der schlimme Erfolg ausgeblieben wäre‘, wie es umgekehrt beschwichtigt wird durch den Gedanken, ‚dass auch ohne jenes Verhalten der schlimme Erfolg eingetreten wäre‘“ 327 – bzw. hätte eintreten können, denn schon bei Zweifeln wird die Zurechnung ausgeschlossen.
4. Das Kriterium der Kausalität der Normwidrigkeit fordert im Hinblick auf Verursachungsverbote den Nachweis, dass die Normwidrigkeit bedingt hat, dass der Handelnde den Erfolg verursacht hat. Dafür ist irrelevant, ob andere Handelnde oder sonstige Umstände zur gleichen Zeit oder wenig später den gleichen Erfolg verursacht hätten. 328 Hypothetische Schadensursachen betreffen nicht die Bedingtheit des eigenen Verursachens durch die Normwidrigkeit. Deswegen hat der BGH im bekannten Massenkarambolagefall die Zurechnung nicht ausgeschlossen. 329 In diesem Fall fuhr der Angeklagte mit unangemessener Geschwindigkeit auf einen Unfallwagen auf. Der ihm nachfolgende Fahrer fuhr ebenfalls zu schnell und hatte nicht rechtzeitig bremsen können. Seinetwegen wäre, auch wenn der Angeklagte nicht aufgefahren wäre, der gleiche Schaden entstanden. – In diesem hypothetischen Fall aber hätte der Angeklagte den Schaden gar nicht verursacht. Sein Gebotsverstoß war die Bedingung dafür, dass er den Erfolg verursacht hat. 330 Das Kriterium der „Kausalität der Normwidrigkeit für die Erfolgsverursachung“ fragt weiterhin nur danach, ob die Normmissachtung bedingt hat, dass derselbe Handelnde den Erfolg überhaupt verursacht. Es kommt nicht auf den „Erfolg in seiner konkreten Gestalt“ an, also nicht auf die konkrete Art und Weise der Verursachung oder den gegebenen Zeitpunkt des Eintritts des gleichen Erfolgs. Es ist ein Unterschied, ob das Kind im Novokainfall an Kokain oder 326 Auf dieses spiegelbildliche Begründungsverhältnis hat Merkel (1912), S. 136 hingewiesen, der es freilich als Gegenargument gegen den Sprachgebrauch von der „Kausalität der Pflichtwidrigkeit“ vorbrachte. 327 Engisch (1963), S. 270. 328 Häufiges Missverständnis, vgl. etwa Roxin (1962), S. 435. 329 BGHSt 30/228. 330 Entgegen den scharfen Vorwürfen Degeners (2001), S. 470 ff. besteht kein Widerspruch zur Entscheidung zum Radlerfall. Degener ignoriert, dass der BGH die Kausalität eines gegebenen Umstands prüft (nämlich des Unterlassens der Gebotsbefolgung) und nicht an ein hypothetisches Geschehen anknüpft (vgl. BGHSt 11/1 [7]). Puppe (2002), § 2/57 ff. behandelt den Fall nur als Kausalitätsproblem.
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Novokain gestorben ist. Der Rechtsprechung kommt es aber auf eine Kausalität der Normwidrigkeit für die Erfolgsverursachung an, die als von der konkreten Art und Weise der Verursachung abstrahiert gedacht wird („der Tod“ des Kindes, nicht „die Art und Weise des Tötens“, z. B. Spritzen von Kokain). Noch deutlicher wird das im Fall BGHSt 21/59, ebenfalls einem Narkosefall. Ein Zahnarzt hatte eine Patientin unter Vollnarkose gesetzt. Das Verbot dieses Handelns leitete sich daraus ab, dass es geboten war, zuvor einen Internisten zu konsultieren, weil die Frau auf Herzprobleme hingewiesen hatte. Es war aber nicht sicher, dass der Internist die todesursächliche Myokarditis diagnostiziert hätte. Die Patientin wäre wahrscheinlich nach der gebotenen Konsultation, zwar etwas später, aber ebenfalls an der Narkose gestorben. Die Kausalität der Sorgfaltswidrigkeit konnte nicht nachgewiesen werden, so dass nach dem Zweifelssatz freizusprechen war. 331 Der BGH urteilte, dass es auf eine bloße Verzögerung der Todesverursachung, welche die erforderliche Zusatzuntersuchung mit sich gebracht hätte, nicht ankommen könne. Auf eine schwierige Frage stößt die Auffassung der Rechtsprechung, wenn nicht ein Erfolg gegeben ist, der entweder vorliegt oder nicht, wie der Tod eines Menschen, sondern ein graduierbarer Erfolg, zum Beispiel eine schlimmere oder weniger schlimme Verletzung. Hier wird die Abstraktion unsicher. Das wirkliche Handeln samt Normwidrigkeit ist für den realen Erfolg ursächlich, das hypothetische andere Handeln aller Wahrscheinlichkeit nach für eine andere Verletzung. Angenommen, dass im Radlerfall der Radfahrer schwer verletzt überlebt hätte, ist offenbar, dass die Normwidrigkeit für die Verursachung der konkreten Verletzung mitursächlich gewesen wäre. Der Unfall wäre wenigstens anders verlaufen, wenn der Fahrer den richtigen Abstand eingehalten hätte. Die Erfolge könnten nur bewertend verglichen werden. Hier sind drei Möglichkeiten denkbar: (1) Reduzierung des Erfolgs auf die abstrakte „Verletzung“, die entweder gegeben ist oder nicht – dann gilt in Zweifelsfällen immer ein Zurechnungsausschluss, (2) Generelle Bejahung der Kausalität für den ganz konkreten Erfolg – dann gilt nie ein Zurechnungsausschluss oder (3) bei begründeten Zweifeln die Annahme, dass der Erfolg ebenso „schwer“ gewesen wäre. 332 Die dritte Möglichkeit dürfte, obwohl am schwierigsten zu handhaben, die gerechteste sein. 5. Das hier anhand von unterlassensimplizierenden Begehungsdelikten verdeutlichte Legitimationserfordernis zur Annahme eines Verursachungsverbotsverstoßes und damit zur Zurechnung des Erfolgs an den Verursacher ist verallgemeinerbar. Die Zurechnung eines Erfolgs an einen Handelnden setzt demnach 331 Entgegen Puppe (2002), § 3/37. Der Zweifelssatz führt nicht zur Unterstellung, dass die Kausalität der Normwidrigkeit fehlt, sondern setzt nur voraus, dass sie nicht erwiesen werden kann. Vgl. wiederum Frisch (1974), S. 283. 332 Deutlich wird hier, dass nicht nur der Begriff der Ursache auf Einzelaspekte eines Sachverhalts angewendet werden kann, sondern auch der der Wirkung.
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ganz allgemein voraus, dass die Missachtung der geltenden Handlungsnormen bedingt hat, dass der Handelnde den Erfolg verursacht bzw. nicht verhindert hat. Das ist heute für die erfolgsbezogenen Unterlassungsdelikte (§ 13 StGB) selbstverständlich. Die Befolgung der postulierten Handlungsgebote hätte nachweislich den Erfolg verhindern müssen. 333 Das Erfordernis gilt auch im Hinblick auf Begehungsdelikte, in denen der Handelnde ausschließlich ein Handlungsverbot missachtet. 334 Die Frage, ob der Handelnde vorsätzlich handelte, ist insoweit ebenso wie bei den Unterlassungsdelikten irrelevant. 335 Das Fehlen der Kausalität der Normwidrigkeit kommt aber wohl nur in einer Fallgruppe in Betracht. Es sind die Fälle des fehlenden subjektiven Rechtfertigungselements, in denen ein Handelnder objektiv gerechtfertigt ist, aber nicht in Kenntnis dessen handelt oder in denen ihm eine erforderliche Absicht fehlt. Der Handelnde handelt deshalb normwidrig. 336 Jedoch ist die Erfolgsverursachung nicht durch den Handlungsverbotsverstoß bedingt, weil ein rechtmäßiges (gerechtfertigtes) Alternativhandeln den gleichen Erfolg verursacht hätte. Letztlich aus diesem Grund wird nach herrschender Auffassung trotz Erfolgsverursachung, Verbotsmissachtung und Verursachungsvorsatz nur der untaugliche Versuch eines Begehungsdelikts angenommen. Weiterhin sind die Fälle der alternativen Kausalität zu erwähnen. Der Schulfall hierzu ist, dass zwei Täter unabhängig voneinander einem Opfer je eine ausreichende Menge Gift geben und dieses am Zusammenwirken beider Mengen stirbt. Dieser Fall erscheint, wenn man die Bedingungstheorie fälschlich als Kausalitätstheorie verwendet, als ein Problem der Kausalität der Handlungen. Es sind aber zweifellos beide Handlungen kausal für den Erfolg, wenn beide Giftmengen tatsächlich zur Wirkung gekommen sind. Fraglich sein kann höchstens die „Kausalität der Normwidrigkeit“. Bei Verbotseinhaltung wäre der Erfolg ebenfalls eingetreten. Doch wie gesehen, bezieht sich dieses Kriterium nur darauf, dass die Normbefolgung verhindert hätte, dass derselbe Handelnde verursacht. Deswegen ist die Lösung auch diesbezüglich trivial. Wenn einer der Täter kein Gift gegeben hätte, wäre zwar der Erfolg nicht entfallen, wohl aber sein eigenes Verursachen dieses Erfolgs. – Eine Handlungsnorm, die aus einem Verursachungsverbot abgeleitet wird, bezweckt selbstverständlich nur zu verhindern, dass der Handelnde selbst den Erfolg verursacht. Für andere Handelnde gelten andere Handlungsnormen. Die Erfolgszurechnung setzt nicht voraus, dass
333 Vgl. bereits die unter C.V.1.a)aa)1. zitierte Entscheidung des Reichsgerichts. Zur Gegenauffassung unter C.III.3.3. 334 Unzutreffend deshalb Philipps (1974), S. 113, Fn. 146. 335 Vgl. bereits unter B.V.1.4. 336 Es kann dann ein Verstoß gegen Putativnormen vorliegen (siehe B.IV.5.), nicht aber, wenn die Rechtfertigungslage gar nicht erkennbar war.
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der Erfolg bei Normeinhaltung hätte ganz entfallen müssen. 337 Dieses Prinzip ist für alle Entscheidungen des BGH leitend (z. B. schon im Massenkarambolagefall) und bringt sie auf eine Linie, die sie als wertungsmäßig konsistent erweist. 6. Nur eine Entscheidung des BGH scheint aus dem dogmatischen Rahmen herauszufallen – der „Referendarfall“: 338 Ein Referendar hatte bei einem Großkaufmann ein Darlehen aufgenommen und zuvor falsche Angaben über seine Vermögensverhältnisse gemacht. Der Getäuschte sagte vor Gericht aus, dass er auch ohne die falschen Angaben das Darlehen gewährt hätte, weil ihm die Tatsache genügte, dass der Angeklagte auf einem Richterstuhl gesessen habe. Der BGH bejaht den Kausalzusammenhang zwischen Irrtum und Vermögensverfügung. BGHSt 13/13 (14 f.): „Der tatsächliche Verlauf der Willensbildung verliert sein Dasein und seine rechtliche Bedeutung nicht dadurch, dass an seine Stelle ein anderer getreten wäre, aber nicht getreten ist. Er bleibt dennoch die wirkliche Grundlage der Vermögensverfügung.“
Die Annahme von Kausalität ist akzeptabel, weil eine Entscheidung aus einer Gesamtlage gegebener Informationen resultiert und es zweifelhaft ist, ein „ausschlaggebendes Motiv“ rekonstruieren zu wollen. 339 Außerdem wird die spätere Rekonstruktion nicht das später erlangte Wissen ausblenden können, sondern im Hinblick entweder auf die Selbstdarstellung oder die Strafverfolgung einige Gründe eher hervorheben als andere. Deshalb musste das Gericht der Eigenauskunft des Kaufmanns nicht vollen Glauben schenken. Der BGH folgt in diesen Fällen jedenfalls nicht der Bedingungstheorie der Kausalität, sondern der Theorie vom gesetzmäßigen Zusammenhang, 340 weil die Bedingungstheorie zusammen mit dem Zweifelsgrundsatz zur Verneinung der Kausalität hätte führen müssen. Der Hinweis darauf, dass „geistige Vorgänge im Innern des Menschen“ nach anderen Maßstäben zu messen seien als Vorgänge „in der äußeren Natur“ verfängt nicht, weil auch dort hypothetische Ersatzursachen den Kausalzusammenhang nicht aufheben könnten, wie der Fall doppelt ausreichender Giftgabe belegt. 341
337 Deswegen geht der Vergleich des Radlerfalls mit den Fällen alternativer Kausalität bei Koriath (2007), S. 94 ff. fehl. 338 BGHSt 13/13. 339 Zustimmend etwa LK-Tiedemann (2005), § 263 StGB, Rn. 123 (kumulative Kausalität) und MK-Hefendehl (2006), § 263 StGB, Rn. 233. Auch Puppe (2002), § 2/50 fragt nur, ob die falschen Angaben bei Vergabe des Kredits eine Rolle gespielt haben und somit den Entschluss begründet haben. Kritisch hierzu Koriath (2007), S. 137 ff. 340 Zuerst Engisch (1931), S. 21. 341 Das Problem der „psychischen Kausalität“ diskutieren v. a. Engisch (1963), der deren Annahme rechtfertigt und Bernsmann (1982), der für ein „non-kausales Verursa-
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Die Bedingungstheorie bringt jedoch, wie gesehen, ein wichtiges Zurechnungskriterium ins Spiel. Die Frage ist, ob der Umstand, der die Normwidrigkeit des Handelns begründet, bedingt hat, dass der Handelnde den Erfolg verursacht hat. Im Referendarfall ist die Unwahrheit von Angaben über die eigene Leistungsfähigkeit genau jener Umstand. Der teleologisch ausschlaggebende Erfolg ist hingegen nicht die Vermögensverfügung, sondern der Vermögensschaden. 342 Es muss wiederum mit der hypothetischen Situation wahrer oder fehlender Angaben über die Vermögensverhältnisse verglichen werden. Hier gilt, wie gezeigt, der Zweifelsgrundsatz. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass auch bei rechtmäßigem Alternativverhalten die gleiche Vermögensminderung eingetreten wäre. 343 Die verbleibende Frage ist, ob die Vermögensminderung in jenem hypothetischen Fall auch als Vermögensschaden anzusehen wäre. Diese Frage ist zu verneinen, weil der Kaufmann dann das Risiko bewusst eingegangen wäre. Bei Delikten gegen Individualrechtsgüter ist gerade schadensbegründend, dass die Veränderung verursacht wird, ohne dass der Rechtsinhaber dieser Veränderung frei zustimmt. 344 Die täuschungsbedingte Verfügung ist nicht in diesem Sinn frei. Wenn somit im hypothetischen Vergleichsfall kein Schaden entstanden wäre, kann die „Kausalität der Normwidrigkeit“ für die Schadensverursachung bejaht werden. Das Argument aus dem nachträglichen Einverständnis ist bei Delikten gegen Individualrechtsgüter auch sonst nicht zulässig. cc) Der Begriff der konkret-generellen Eignung 1. Das hinter dem Erfordernis der Kausalität der Normwidrigkeit stehende Zurechnungsprinzip ist noch abstrakter formulierbar. Zur Veranschaulichung kann man sich zunächst eine andere Fallgruppe vergegenwärtigen, die unter dem Gesichtspunkt des Schutzzwecks der Norm diskutiert wird. Ein Schulbeispiel hierfür ist Folgendes: Ein Passant läuft in einen Wagen hinein, der mit überhöhter chungsschema“ plädiert. Diese Gegenposition wird von G. H. v. Wright und H.L.A. Hart / T. Honoré vertreten. Hierzu zusammenfassend Koriath (2007), S. 141 ff., vgl. auch ders. (1994), S. 513 ff. Zum zugrunde liegenden Problem des Determinismus Kargl (1991), S. 165 ff., 197 f. Die Bedeutung des Streits ist letztlich gering, weil auch die Gegenposition eine ähnliche Relation wie die Kausalität annehmen müsste, zum Beispiel als Bedingtheit der einen Handlung durch die andere Handlung. Dass aber auch hierzu auf empirisches, etwa soziologisches Wissen zurückgegriffen werden muss, kann nicht zweifelhaft sein. So beruht etwa die Anstiftung auf typischen und analysierbaren Bedingungszusammenhängen. Hierzu Amelung (2006), S. 152 ff., 163 ff. 342 Siehe bereits unter B.II.1. 343 Vgl. Engisch (1963), S. 270. 344 Vgl. unter B.VI.6. Gleichwohl ist es in der Dogmatik üblich und auch von Nutzen, den Schaden in einen objektiv beschreibbaren Teil und einen auf den Rechtsträger bezogenen „subjektiven“ Teil zu zergliedern, z. B. Körpereinwirkung und Einwilligung, Betreten eines Raumes und Einverständnis, Gewahrsamswechsel und „-bruch“. In gleicher Weise wird beim Betrug zwischen Vermögensminderung und „-schaden“ differenziert.
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Geschwindigkeit fährt. Der Unfall wäre auch bei Einhaltung der vorgeschriebenen Geschwindigkeit an der konkreten Unfallstelle nicht vermeidbar gewesen, wäre aber bei Gebotsbefolgung deshalb nicht passiert, weil der Autofahrer die Unfallstelle einige Zeit später erreicht hätte. 345 Es ist offensichtlich, dass das Gebot, die erlaubte Geschwindigkeit einzuhalten, nicht den Zweck haben kann zu verhindern, dass der Autofahrer zum unglücklichen Zeitpunkt am unglücklichen Ort ist – schon deshalb, weil hierzu in anderen Fällen gerade die Normbefolgung geeignet sein kann. In Fällen dieser Art kommt der Erfahrungszusammenhang, der das unerlaubt erhöhte Risiko des Handelns begründet, nicht zum Tragen. Dieser besteht nicht darin, dass das Autofahren generell gewisse Gefahren, auch zufälliger Unfälle, mit sich bringt. Diese generelle Eignung wird gerade akzeptiert. Durch diese Erwägung kann ein Fahrverbot nicht legitimiert werden. Andernfalls wäre einem Fahrer die Schaffung eines Risikos verboten, dessen Schaffung anderen erlaubt ist. Das Eignungsurteil, das die Norm legitimiert, stützt sich vielmehr auf speziellere Erfahrungssätze. Das Geschwindigkeitsgebot dient der Ermöglichung rechtzeitiger Reaktion und schnelleren Bremsens. Wenn im Beispiel der Fußgänger so unvorhersehbar gehandelt hat, dass diese zeitige Reaktion auch bei noch erlaubter Geschwindigkeit nicht möglich gewesen wäre, hat die erhöhte Geschwindigkeit die Erfolgsverursachung nicht bedingt. Allgemein gesprochen stützt sich die Statuierung einer Handlungsnorm auf verallgemeinerte Erfahrungsgesetzlichkeiten über die generelle Eignung (Gefahr, Risiko bzw. Chance) einer Handlung, einen unerwünschten oder erwünschten Erfolg zu verursachen. Ein Handlungsverbot, das im Hinblick auf ein Verursachungsverbot gilt, hat den Legitimationsgrund in einem besonderen Umstand, der erfahrungsgemäß ein gegenüber dem erlaubten Risiko erhöhtes Risiko des verbotenen Handelns begründet. Wenn dieser Umstand nicht der Grund dafür ist, dass der Handelnde den Erfolg verursacht hat, wenn sich das erhöhte Risiko also nicht „realisiert“ hat, entfällt nicht die Geltung der Handlungsnormen. Um deren Geltung zu rechtfertigen, genügt das ex-ante-Urteil über die generelle Eignung, Erfolg dieser Art zu verhindern. Doch fehlt der Norm die „objektive“ Eignung, den Erfolg zu verhindern. 346 Deswegen entfällt die Legitimation der Sanktion, die sich nicht nur auf den Handlungsnormverstoß, sondern auf einen Verursachungsnormverstoß stützen muss. Ein Verursachungsverbotsverstoß kann somit nur angenommen werden, wenn der Umstand, dessentwegen das Verbot gilt, kausal für die Erfolgsverursachung geworden ist. Dieses Postulat erweist sich im Hinblick auf Verursachungsverbote als präziser und abstrakter als die „Kausalität der Normwidrigkeit“, weil es diese mitumfasst. So wird durch die Frage nach der Kausalität der Normwidrigkeit im Hinblick 345
Vgl. Roxin (1962), S. 442 f. Von objektiver (ex post festzustellender) Eignung spricht das Reichsgericht in RGSt 62/126 (129). 346
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auf akzessorische Gebote ebenfalls nichts anderes als die Verursachungsrelevanz desjenigen realen Umstands ermittelt, der das komplementäre Handlungsverbot begründet. In jedem Fall der Missachtung akzessorischer Gebote ist das Unterlassen des akzessorisch gebotenen Handelns genau derjenige Umstand, dessentwegen das Bezugshandeln komplementär verboten und das Risiko unerlaubt ist. In den genannten Beispielen ist es das Unterlassen der Nachfrage beim Arzt, das Unterlassen der Vergabe von Novokain, der Desinfektion der Ziegenhaare, der Einhaltung des Abstands von 1,5 m, das Unterlassen der Einhaltung der Geschwindigkeit im Moment des Unfalls etc. Darüber hinausgehend genügt es nicht, dass die Normwidrigkeit kausal geworden ist (im obigen Beispiel das Unterlassen des Einhaltens der erlaubten Geschwindigkeit in der Zeit vor dem Unfall), sondern es muss auch der Umstand, welcher der Legitimationsgrund der Norm ist, gerade in seiner Eigenschaft als ex ante gesehen risikoerhöhender Umstand kausal geworden sein. Dieser Umstand ist derjenige, der das ex ante zu fällende Erfahrungsurteil begründet, dass eine Handlung gefährlicher ist als erlaubt. 347 Man könnte deshalb in Anschluss an Roxin auch von der „Bedingtheit der Erfolgsverursachung durch die Risikoerhöhung“ oder kurz der „Kausalität der Risikoerhöhung“ sprechen. Der Begriff der Ursache wird hierbei nicht nur auf isolierbare Einzelereignisse angewendet, sondern auch auf Umstände, die nur negativ zu beschreiben sind 348 und darüber hinaus auch auf Eigenschaften oder nicht isolierbare Einzelaspekte von Eigenschaften (z. B. die erhöhte Geschwindigkeit eines Autos oder die Trunkenheit eines Autofahrers). 349 Um diesen im Hinblick auf Handlungs- und Verursachungsverbote entwickelten Gedanken wiederum zu verallgemeinern und auf Verursachungs- und Verhinderungsgebote zu übertragen, ist zu formulieren, dass die ex post festzustellende konkrete Eignung der Norm auf ihrer ex ante festzustellenden Eignung beruhen muss. Man könnte insoweit von der konkret-generellen Eignung der Norm sprechen. Die Terminologie, die den Begriff der Eignung verwendet, läuft mit der Beschreibung mit Hilfe der Kausalitätskategorie parallel. Wenn einerseits die Kausalität der Normwidrigkeit für das Verursachen oder Nichtverhindern des Erfolgs fehlt, war die Norm nicht konkret und deshalb auch nicht konkret-generell geeignet, den Erfolg zu verhindern (d. h. entweder die Erfolgsverursachung 347 Deswegen ist auch die Differenzierung zutreffend, die Roxin (1962), S. 439 f. im Novokainfall trifft. Es musste nachgewiesen werden, dass der Tod des Kindes gerade durch die Narkoseüberempfindlichkeit eintrat, nicht durch eine normale Kokainvergiftung, der das Verbot der Kokainvergabe an Jugendliche vielleicht entgegenwirken sollte (vermutlich sollte es aber nur der hohen Suchtgefahr entgegenwirken). Vgl. auch Degener (2001), S. 467 f. 348 Vgl. zur Kausalität des Unterlassens oben C.III.2.2. 349 Gegen die analytische Trennbarkeit aber Koriath (2007), S. 91, der andererseits jedoch die Kausalität des Unterlassens bejaht (S. 132), obwohl auch dieses kein isolierbares Einzelereignis ist, sondern eher wie eine Eigenschaft eines Handelns aufgefasst werden kann.
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zu verhindern oder die Erfolgsverhinderung zu verursachen). Wenn andererseits im Hinblick auf eine Erfolgsverursachung die Kausalität der Risikoerhöhung nicht gegeben ist, war die Norm zwar eventuell konkret, aber nicht konkretgenerell geeignet, weil das Eignungsurteil nicht generalisierbar ist. Die Norm war gegebenenfalls nur zufällig und aufgrund ex ante nicht absehbarer Umstände konkret geeignet. Die Beschreibung mit Hilfe des Begriffs der Eignung ist deshalb vorteilhaft, weil sie neutral im Hinblick darauf ist, ob die Verursachung geboten oder verboten ist. Sie kann auch von der strittigen Frage der Kausalität des Unterlassens absehen. Vor allem aber verdeutlicht sie den Hintergrund dieser Zurechnungskriterien: den Bezug auf die teleologische Ableitung der Handlungsnormen aus Verursachungsnormen. Für diese ist der Begriff der Eignung zentral. 2. Das Erfordernis der konkret-generellen Eignung der Handlungsnormen kann insbesondere bei denjenigen Fahrlässigkeitsdelikten relevant werden, die allein auf einem Handlungsverbotsverstoß beruhen. Zum Beispiel ist das Autofahren jedem verboten, der fahruntüchtig ist. Wenn er gleichwohl gefahren ist und einen Unfall verursacht hat, muss in gleicher Weise die „Kausalität der Fahruntüchtigkeit“ für den Unfall nachgewiesen werden. Wenn diese Kausalität fehlt, etwa weil der Unfall in einem technischen Fehler des Autos wie dem Platzen der Reifen begründet war, bleibt die verbotswidrige Handlung zwar kausal, und der Erfolg wäre entfallen, wenn der Täter das Fahrverbot befolgt hätte – diese Wirkung wäre aber nur eine (dann freilich nicht real festzustellende) Reflexwirkung der Norm gewesen. Im Hinblick auf ein alkoholbedingtes Fahrverbot muss der Unfall also Folge des alkoholbedingten Defekts, der Verringerung der kognitiven Fähigkeiten des Fahrers sein. Einen interessanten Fall, der den zuletzt mit dem zuerst geschilderten Fall kombiniert, betrifft die Entscheidung BGHSt 24/31. Ein alkoholisierter Fahrer, der als absolut fahruntauglich galt, verursachte einen Unfall, der auch für einen nüchternen Fahrer nicht vermeidbar gewesen wäre. Der BGH prüft die konkretgenerelle Eignung nicht des absoluten Fahrverbots – diese wäre zu verneinen, weil die Fahruntüchtigkeit die Erfolgsverursachung nicht bedingt hat – sondern des Gebots, die Geschwindigkeit der verminderten Fahrfähigkeit anzupassen (§ 3 Abs. 1 StVO) sowie des zu diesem Gebot komplementären Verbots. In der Tat kann man das Handeln des Autofahrers auf zwei unterschiedliche (generalisierte) Verbote zurückführen, von dem das letztere komplementär zu dem akzessorischen Gebot ist, mit den Umständen angepasster Geschwindigkeit zu fahren. 350 Im Fall war nicht geklärt, ob bei Gebotseinhaltung der Unfall nicht passiert wäre. Gegebenenfalls wäre zunächst die konkrete Eignung der Norm (= Kausalität der 350 Ein normentheoretisch interessanter Fall: Das Fahren ist zwar absolut verboten. Zugleich gelten selbstverständlich auch für den verboten Handelnden die Straßenverkehregeln (generalisierte Gebote wie Verbote). Es besteht eine „Verbotshäufung“.
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Normwidrigkeit) zu bejahen. In Frage stünde dann die Kausalität der Risikoerhöhung bzw. die konkret-generelle Eignung der Norm. Es wäre wohl richtig, auch diese zu bejahen. Dass das Handlungsgebot, mit angepasster Geschwindigkeit zu fahren, einem betrunkenen Fahrer bessere Reaktionsmöglichkeiten verschaffen kann als einem Normalfahrer, lässt sich als generalisierbarer Eignungsaspekt und als Normintention („Schutzzweck der Norm“) bejahen, weil es gerade den risikoerhöhenden Umstand betrifft, die grundsätzlich verlangsamte Reaktion. 351 3. Im selben Jahr wie zum Ziegenhaarfall (1929) hatte das Reichsgericht zu einem Fall Stellung zu nehmen, der zugleich die Bedeutung akzessorischer Gebote aufzeigt und nochmals das soeben angesprochene Erfordernis illustriert, dass die Handlungsnormen zur Erfolgsverhinderung konkret-generell geeignet sein müssen. Es ist der „Radleuchtenfall“: „Die beiden Angeklagten, die Brüder Josef und Paul Z., fuhren in dunkler Nacht auf unbeleuchteten Fahrrädern auf der Landstraße, und zwar Paul Z. rechts, Josef Z. schräg links hinter ihm, etwa in der Mitte der Straße. An einer Weggabelung stieß das Rad Josef Z.’s, der wegen Wind und Regens mit gesenktem Kopfe fuhr, mit dem entgegenkommenden Fahrrade des Landwirts K. zusammen, das gleichfalls unbeleuchtet war.“ 352 K. fiel, erholte sich scheinbar, fuhr 2 km weiter, kam dann aber von der Straße ab, fiel in einen Graben und ertrank. „Beim Sturz vom Rade hatte er einen Schädelbruch mit Blutaustritt ins Gehirn erlitten, der wahrscheinlich für sich allein auch zum Tode geführt hätte.“ Josef Z. wurde wegen fahrlässiger Tötung verurteilt. Es ist anzunehmen, dass das Reichsgericht hier wie im Ziegenhaarfall auf das „Tun“ abgestellt hat, weil die Ursächlichkeit des Handelns für den Tod des K. nicht in Zweifel gezogen werden kann. Man hätte nur, wie schon im Radlerfall des BGH, die Frage stellen können, ob die Erfolgszurechnung deswegen entfallen sollte, weil K. selbst sorgfaltswidrig handelte und den Unfall deshalb gleichwertig mitverursacht hatte. Diese Frage ist aber nur im Strafmaß zu berücksichtigen. Strittig war die Strafbarkeit des Paul Z. wegen fahrlässiger Tötung. In Betracht kommt die Anknüpfung an das Handeln (unbeleuchtetes Fahren) oder an das Unterlassen der Beleuchtung. Letzteren Falls galten, auch vor der Normierung des § 13 StGB, zusätzliche Voraussetzungen. RGSt 63/392 (394): „Wer durch eine Unterlassung einen rechtswidrigen Erfolg herbeiführt, kann nur dann dafür strafrechtlich verantwortlich gemacht werden, wenn er nicht nur imstande, sondern auch im besonderen Fall rechtlich verpflichtet war, den Eintritt des Erfolges durch Handeln zu verhindern, sei es, dass die Verhinderung durch Gesetz 351 Die Literatur lehnt die Entscheidung des BGH überwiegend ab, indem sie lediglich die konkret-generelle Eignung des unbedingten Fahrverbots diskutiert, nicht die des akzessorischen Gebots. Vgl. Sch / Sch / Cramer / Sternberg-Lieben (2006), § 15 StGB, Rn. 158, 174 m.w. N. 352 RGSt 63/392.
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oder Gewohnheitsrecht geboten, sei es, dass die Verpflichtung zur Verhinderung durch Vertrag oder schlüssige Handlung rechtswirksam übernommen worden war.“
Zuerst wäre der hier entfalteten Methode gemäß nach der Kausalität des Handelns zu fragen. Das Reichsgericht stellte und beantwortete diese Frage nicht, sondern prüfte nur das Unterlassen. Man kann jedoch in der Tat annehmen, dass das Antreten und Fortsetzen der Fahrt durch Paul Z. mitursächlich für das konkrete Geschehen war. Josef und Paul Z. fuhren zusammen. Somit hatte erfahrungsgemäß das Handeln des einen in irgendeiner Weise Einfluss auf das Handeln des anderen. Paul Z. war an dem Geschehen beteiligt, und ohne seine Beteiligung wäre der Verlauf ein anderer gewesen, so dass der Unfall wahrscheinlich nicht oder anders passiert wäre. Wenn ein Handeln notwendige Bedingung des Erfolgs war, ist das ein starkes Indiz für die Kausalität des Handelns, auch wenn man wie hier nicht der Bedingungstheorie folgt. 353 Das Antreten und Fortsetzen der Fahrt ohne Beleuchtung war auch verboten. Der Fall führt somit (nach heutiger Dogmatik) in Probleme der Erfolgszurechnung auf ein verbotenes und verursachendes Handeln, auf die Frage, ob ein Verstoß gegen ein Verursachungsverbot angenommen werden kann. Die Erfolgszurechnung ist indes zu verneinen. Das Verbot, unbeleuchtet zu fahren, kann nicht den Zweck haben zu verhindern, dass ein anderer, der ebenfalls unbeleuchtet fährt, zu einer bestimmten Zeit am ungünstigen Ort ist. Es ist nicht generell geeignet, das zu verhindern. Es fehlt der teleologische Zusammenhang zwischen Normwidrigkeit und Erfolgsverursachung. Weil ein Begehungsdelikt somit nicht angenommen werden konnte, musste das Reichsgericht prüfen, ob das Unterlassen der gebotenen Beleuchtung zur Grundlage der Erfolgszurechnung im Rahmen eines Unterlassungsdelikts gemacht werden konnte, ob also ein Verhinderungsgebotsverstoß anzunehmen war. 354 Das Reichsgericht unterstellt zunächst, dass die Kausalität des Unterlassens für den Erfolg gegeben war. 355 Wenn Paul Z. sein Fahrrad beleuchtet hätte, dann hätte Josef Z. den K. bemerkt und wäre ausgewichen. Das Beleuchten hätte
353 Die Kausalität des Handelns des Paul Z. scheint Puppe (2002), § 3/11 ff. in ihrer Besprechung dieses Falls zu verneinen. Das setzt allerdings die Akzeptanz ihrer Theorie von der „i.n.u.s.-Bedingung“ voraus. Die hypothetische hinreichende Ersatzursache, dass Josef Z. ohne Paul Z. gefahren wäre, kommt aber nicht in Betracht. Die kausale Erklärung des Erfolgs würde ohne den Verweis auf das Handeln und Unterlassen von Paul Z. zwar nicht unschlüssig, wie Puppe sich ausdrückt, aber unvollständig und insofern auch unwahr, weil die Fahrt ohne Paul Z. anders verlaufen wäre. 354 Allein ein Begehungsdelikt prüft hingegen Brammsen (2002), S. 209 f. mit den Argumenten, dass ein erfolgtauglicher Energieeinsatz des Paul Z. und damit „Tun“ (besser: „Handeln“) gegeben sei und dass Tun und Unterlassen einander ausschließende Verhaltensformen seien (S. 212). Das ist falsch. Verursachungsgeeignetes Handeln und das Unterlassen verhinderungsgeeigneten Handelns können nebeneinander bestehen. 355 RGSt 63/392 (394).
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den Unfall verhindert. 356 Ein Unterlassen des Verhinderns (i. S. d. § 13 StGB) ist somit hypothetisch gegeben. Allerdings fehlt wohl eine besondere Garantenstellung des Paul Z. gegenüber K. und Josef Z. insofern, alle denkbaren Schäden von ihnen fernzuhalten. Eine Garantenstellung besteht nur insoweit, nicht durch eigene gefährliche Handlungen zu verursachen, so das Reichsgericht, das eine Erfolgshaftung des Paul Z. verneint. Das ungleiche Strafmaß für Paul und Josef Z kann man durchaus als ungerecht empfinden, weil nur der Zufall entschied, wer von beiden direkt verursachte. Doch ist das die Besonderheit, die der Erfolgshaftung bei fahrlässigem Handeln innewohnt. Es kann zufälliges Geschehen zugerechnet werden, wenn die Norm gerade dessen Verhinderung bezweckte. 357 Im Strafmaß der Fahrlässigkeit ist das berücksichtigt. Man könnte nur dann eine Zurechnung annehmen, wenn man eine Nebentäterschaft bei der Fahrlässigkeit akzeptierte. 358 Teile der Literatur leiten die Lösung dieses Falls aus dem Schutzzweck der verletzten Sorgfaltsnorm ab, hier des Gebots, das Fahrrad zu beleuchten. 359 Die Lösung des Reichsgerichts ist aber präziser. Das Argument aus dem Schutzzweck der Norm darf die normativen Vorgaben, die sich aus § 13 StGB ergeben, nicht überspielen. Wenn eine Norm eine Handlung gebietet, die verhindert hätte, dass andere verursachen, ist § 13 StGB einschlägig, wenn aus der Missachtung dieser Handlungsnorm die Strafbarkeit wegen eines begehungsgleichen Unterlassungsdelikts begründet werden soll. 4. Ein Fall, der wiederum eine Beleuchtungspflicht zum Gegenstand hat und der mit dem Verweis auf den Schutzzweck nur unbefriedigend gelöst wird, ist folgender: Ein Gastwirt hielt seine Gaststätte geöffnet, unterließ aber, im Eingangsbereich für die gebotene Beleuchtung zu sorgen. Ein vorübergehender Passant stürzte auf dem Gehsteig und brach sich den Arm. Bei ausreichender Beleuchtung des Eingangsbereiches wäre der Unfall nicht passiert. 360 Wenn der Passant nicht die Absicht hatte, die Gaststätte aufzusuchen, war der Sturz nicht durch den Betrieb der Gaststätte verursacht. In Betracht kommt nur die Strafbarkeit wegen des Unterlassens, den Unfall durch ausreichende Beleuchtung zu verhindern. Die Garantenstellung des Gastwirts, die sich grundsätzlich 356 Auch wenn niemand diese verhindernde Wirkung hätte feststellen können, weil der Unfall ja nicht passiert wäre. Hieran sieht man, dass die Verben „verursachen“ und „verhindern“ nicht eigentlich als Handlungsbegriffe konzipierbar sind, sondern dass sie ermöglichen, beliebige (auch nicht intendierte, unvorhersehbare oder sogar nicht bemerkbare) Wirkungen auf Handlungen zuzurechnen. 357 Zu diesem „Dilemma der Fahrlässigkeit“ vgl. Koriath (1994), S. 655. 358 Vgl. schon Exner (1930), S. 585 f. 359 Jescheck (1978), § 55 I 2b bb, Roxin (2006), AT I, § 11/85, Sch / Sch / Cramer / Sternberg-Lieben (2006), § 15 StGB, Rn. 158. 360 Fall bei Puppe (2002), § 3/15.
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aus dem Gesichtspunkt der Eröffnung einer Gefahrenquelle herleitet, erstreckt sich jedoch nicht auf Fußgänger, die seine Gaststätte nicht aufsuchen wollen. Wenn der Fußgänger hingegen die Gaststätte aufsuchen wollte und sein Weg zur Gaststätte dadurch motiviert war, kann man annehmen, dass der Sturz durch den Betrieb der Gaststätte verursacht (bedingt) war. Dann ist zu fragen, ob der Betrieb der Gaststätte verboten war, was zu verneinen ist. Zum Gebot des Beleuchtens gibt es kein komplementäres Verbot, die Gaststätte andernfalls zu betreiben. Das folgt aus der öffentlich-rechtlichen Regelung der Gaststättenerlaubnis. Dieser Erlaubnis gegenüber wird das Gebot eher den Charakter einer Auflage haben. Die Gebotsmissachtung führt nicht unmittelbar zur Aufhebung der Erlaubnis. 361 Aus diesem Grund kann in diesem Fall auch strafrechtlich nur ein begehungsgleiches Unterlassungsdelikt in Betracht gezogen werden. Was öffentlich-rechtlich als ausdrücklich erlaubt gilt, kann das Strafrecht nicht als verboten ansehen. c) Das im Nachhinein vorsorgliche Handeln 1. Im Gaststättenfall betrifft das Handlungsgebot vergleichbar einem akzessorischen Gebot ein Handeln, welches das eigene Verursachen von vornherein verhindern kann. Das Gebot ist aber nicht akzessorisch, weil ein Handlungsverbot, das dem Gebot komplementär liegt, nicht postuliert werden kann. Das ist auch das Charakteristikum der folgenden Fallgruppe. Sie betrifft das Gebot von Vorsorgehandlungen, die anders als in der unter (a.) erörterten Fallgruppe nicht dem gefährlichen Bezugshandeln vorausgehen oder es begleiten, sondern die auf es folgen sollen. Wiederum kann ein Fall des Reichsgerichts die Struktur verdeutlichen: In einem Wirtschaftsgebäude des Angeklagten (A) brach ein Brand aus, „durch den dieses Gebäude ... sowie erhebliche Vorräte an Heu, Öhmd [Grummet] und Getreide ... und andere Gegenstände vernichtet wurden. Die erste Ursache lag in der Selbstentzündung des Öhmds. Das LG legt dem Angeklagten als fahrlässige, für das Ausbrechen des Brandes ursächliche Unterlassung zur Last, dass er nicht rechtzeitig die Heustocksonde zur Untersuchung des Öhmdstockes angefordert habe. Es verurteilt ihn wegen fahrlässiger Bandstiftung.“ 362 In diesem Urteil formulierte das Reichsgericht, das wohl von der Prüfung eines fahrlässigen Unterlassungsdelikts ausging, nochmals die Anforderungen zur Annahme einer Kausalität des Unterlassens und verneinte sie im vorliegenden Fall. Im Hinblick auf die Frage, ob ein fahrlässiges Begehungs- oder Unterlassungsdelikt zu prüfen war, ist zu bemerken, dass einerseits das Einlagern der 361 Im Gegensatz zur Auflage enthält die Inhaltsbestimmung zu einem Verwaltungsakt neben einem Gebot ein komplementäres Verbot des Bezugshandeln. Missachtet der Handelnde eine Inhaltsbestimmung, handelt er verboten. Unterlässt er, eine Auflage zu erfüllen, bleibt die Bezugshandlung erlaubt. 362 RGSt 75/49.
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Öhmdstöcke für den Erfolg ursächlich war und dass andererseits eventuell ein Unterlassen des Verhinderns im Sinne des § 13 StGB gegeben war, weil A unterließ, rechtzeitig die Untersuchung des Öhmdstocks einzuleiten. Die Abgrenzung wird durch die Frage entschieden, ob das verursachende Handeln (= Tun) als verboten angesehen werden kann. Nur in diesem Fall kommt der Verstoß gegen ein Verursachungsverbot in Betracht. Eine Handlung, die erlaubt ist, kann nicht bestraft werden, auch wenn sie sich als ein Verursachen herausstellt. 363 Hier galt jedenfalls ein Gebot, die Öhmdstöcke zu kontrollieren. Ob zu diesem Gebot ein komplementäres Verbot des Einlagerns angenommen werden kann, ist zweifelhaft. Zwei Möglichkeiten sind denkbar, den normativen Status dieser Bezugshandlung zu konstruieren. Erstens kann sie als verboten definiert werden, wenn die Vorsorgehandlung nicht folgt. Es käme dann ein Verstoß gegen ein Verursachungsverbot in Betracht. Nimmt man dies an, wäre der normative Status der Haupthandlung ex ante nicht eindeutig bestimmbar. Sie könnte nur als bedingt erlaubt oder bedingt verboten gelten, wobei die Bedingung zeitlich auf die Handlung folgt. Es entstünde ein normativer Schwebezustand. Als endgültig verboten könnte das Handeln entweder erst dann gelten, wenn die gebotene Zusatzhandlung nicht unverzüglich folgt oder dann, wenn sie endgültig nicht vorgenommen wurde. In der retrospektiven Beurteilung steht freilich fest, ob der Handelnde endgültig unterließ, das Gebot zu erfüllen. Gegebenenfalls könnte das Handeln als endgültig verboten gekennzeichnet werden, doch wäre das nicht der Status ex ante. Diese Lösung ist mindestens ungewöhnlich, weil sie neben geboten / verboten und erlaubt bzw. rechtmäßig / rechtswidrig einen weiteren Wert einführen muss, den der Unbestimmbarkeit des normativen Status. Die Bezugshandlung kann aber auch als erlaubt definiert werden, unabhängig davon, ob die gebotene Zusatzhandlung unterlassen wird oder nicht. Der Vorteil dieser Lösung ist die größere Klarheit. Der normative Status der Bezugshandlung bleibt nicht in der Schwebe. Das Unterlassen ist zwar gebotswidrig, begründet aber nicht die Verbotswidrigkeit der Bezugshandlung. Die Konsequenz daraus ist, dass die erlaubt bleibende Bezugshandlung nicht Anknüpfungspunkt einer Strafbarkeit wegen Verursachens sein kann. Die normentheoretische Analyse zwingt nicht dazu, einer der Lösungen zu folgen. Sie hilft aber, die Struktur der Fallgestaltungen und die Konsequenzen einer Fallentscheidung offen zu legen und kann aufzeigen, worauf man sich festlegt, wenn man in einem Fall für die Prüfung eines Begehungs- oder Unterlassungsdelikts votiert. Legt man in diesem Fall den Schwerpunkt auf das Verursachen (Tun), muss die verursachende Handlung gemäß der ersten Lösung und trotz der aufgezeigten Schwierigkeiten als verboten angesehen werden. Die 363
Vgl. B.V.2.4. und C.III.5.
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bessere Lösung ist aber, ein Verbot dieser Handlung nicht anzunehmen, weil diese ex ante eben nicht verboten war. Es ist an das Unterlassen der Gebotsbefolgung anzuknüpfen. Weil die alleinige Missachtung eines Handlungsgebots einen Verursachungsverbotsverstoß nicht begründen kann, wird das Gebot der verhinderungsgeeigneten Handlung einem gesonderten Verhinderungsgebot zugeordnet. Die von § 13 StGB geforderte Garantenstellung ergibt sich daraus, dass A für die Überwachung einer Gefahrenquelle verantwortlich ist, die er selbst geschaffen hat. Folgt man dieser Lösung, wird deutlich, dass die Garantenpflichten aus der Eröffnung einer Gefahrenquelle teleologisch gesehen mit den akzessorischen Geboten eng verwandt sind. Beide haben den Zweck zu verhindern, dass der Handelnde durch sein Handeln einen unerwünschten Erfolg verursacht. Auch die besondere Verantwortlichkeit dafür, dass man nicht verursacht, ist insoweit bei den Begehungs- wie Unterlassungsdelikten die gleiche, weil die starke Legitimation der Normen, die bei den Verursachungsverboten selbstverständlich ist, auch bei den Verhinderungsgeboten greift. Die Verwandtschaft der Gebote nachträglicher Vorsorgehandlungen zu den akzessorischen Geboten zeigt sich weiterhin daran, dass sie die Vornahme einer Bezugshandlung voraussetzen, etwa das Einlagern des Öhmds. Anders als akzessorische Gebote sind sie aber ausnahmslos unbedingt, wie es für Handlungsgebote, die auf ein Verhinderungsgebot bezogen sind, charakteristisch ist. Weil der Handelnde die Bezugshandlung schon vorgenommen hat, ist ihm unbedingt geboten, entweder diese rückgängig zu machen oder die Zusatzhandlung auszuführen. Weil er sich festgelegt hat, steht die Befolgung dieses (alternativen) Gebots nicht mehr in seinem Belieben. 364 2. An dieser Differenzierung ändert sich auch dann nichts, wenn der Handelnde die Gefahr vorsätzlich geschaffen hat, um eine Verletzung zu verursachen. Wenn die Gefahrschaffung grundsätzlich erlaubt ist und das Gebot einer Vorsorgehandlung nach sich zieht, kann der Handelnde gegebenenfalls nicht wegen Tuns, sondern nur wegen Unterlassens bestraft werden. Anderer Auffassung ist Röhl: „Wer eine Grube gräbt, ohne sie abzusichern, in der Hoffnung, es werde alsbald jemand hineinfallen, hat den Sturz handelnd herbeigeführt. Wer dagegen ein Grube gräbt, um darin bestimmte Arbeiten zu verrichten, ohne die Grube abzusichern, dem ist eine Unterlassung vorzuwerfen, wenn jemand hineinfällt.“ 365 Je nachdem, ob das Graben der Grube Mittel zu einem erlaubten oder verbotenen Zweck ist, wäre die Handlung selbst erlaubt oder verboten. Das widerspricht dem geltenden Recht. Der verbotene Zweck kann nur dann das Verbot einer grundsätzlich erlaubten Handlung begründen, wenn schon der Versuch einer Straftat begonnen hat. Hierzu genügt das Graben der Grube nicht. Deshalb muss man 364 Das kann auch bei akzessorischen Geboten der Fall sein, ist aber nicht die Regel, vgl. B.III.2.2., B.III.3.7. 365 Röhl (2001), S. 465 f.
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beide Fälle gleich und im oben dargelegten Sinn entscheiden. Weil das Graben nicht verboten ist, aber das Gebot nachträglicher Sicherungshandlungen nach sich zieht, kommt nur das Unterlassen des Absicherns in Betracht. Röhls Auffassung ist in seiner Konzeption der Fahrlässigkeit begründet. Alle Fahrlässigkeitsdelikte seien Unterlassungsdelikte. Ein verbotenes Handeln könne bei Fahrlässigkeit nie vorliegen. 366 Der Grund dafür sei, dass der Vorsatz den Handlungssinn bestimme und deshalb das fahrlässige Verursachen keine (verbotsfähige) „Handlung“ sei. Dass bei einer fahrlässigen Verursachung die Wirkung des Handelns nicht bezweckt ist, ändert aber nichts daran, dass ein verbotenes Handeln und ein Verursachen gegeben sind. 367 Röhls Konstruktion, die nur die verbotsakzessorischen Gebote kennt, die Geltung komplementärer Verbote aber leugnet, folgt auch nicht zwingend aus dem zugrunde liegenden finalen Handlungsbegriff. Weiterhin setzen nicht alle fahrlässigen Handlungen eine Gebotsmissachtung voraus. So ist es unbedingt verboten, im fahruntüchtigen Zustand Auto zu fahren. 3. Zur Fallgruppe der gebotenen nachträglichen Vorsorgehandlungen gehört auch ein Gebot, das der Regelung des Rücktritts vom Versuch (§ 24 Abs. 1 S. 1 Alt. 2 StGB) zugrunde liegt. Das Gebot, die Vollendung des versuchten Delikts zu verhindern, betrifft ebenfalls Handlungen, die geeignet sind zu verhindern, dass der Handelnde einen unerwünschten Erfolg selbst verursacht, was er freilich zuvor vorsätzlich versucht hat. Dieses „Bezugshandeln“ ist zwar verboten, doch ist das Gebot gleichwohl nicht akzessorisch zu dem Verbot, weil es nicht komplementär zu ihm ist. Die Gebotsbefolgung kann nicht mehr nachträglich aus der verbotenen Versuchshandlung eine erlaubte machen. Die Verbotsübertretung ist lediglich eine objektiv-inhaltliche Bedingung des Gebots. Das Handlungsgebot ist somit nicht auf ein Verursachungsverbot bezogen, sondern auf ein gesondertes Verhinderungsgebot. Weil es in § 24 StGB um eine Belohnung der Gebotsbefolgung, nicht um eine Sanktionierung der -nichtbefolgung geht, ist § 13 StGB insoweit nicht einschlägig. Gleichwohl kann man eine besondere Pflichtenstellung des Versuchenden bejahen. Dass das anschließende Unterlassen des Verhinderns (der „unterlassene Rücktritt vom Versuch“) meist nicht gesondert berücksichtig wird, ergibt sich in diesen Fällen wohl erst aus einer Konkurrenzerwägung. Das vorsätzliche Delikt berücksichtig in seinem höheren Strafrahmen, dass der vorsätzliche Täter typischerweise seine Tat bis zur Vollendung führt und dadurch sowohl das Verursachungs- als auch das entsprechende Verhinderungsgebot missachtet. 4. Weil das Begehungsdelikt ein verbotenes ursächliches Handeln voraussetzt, kann die Abgrenzung zum Unterlassungsdelikt in Grenzfällen davon abhängig 366
Röhl (2001), S. 472 ff. Dagegen schon Engisch (1973), S. 187 f. Zur Unterscheidung zwischen dem „Handeln“ und der „Handlung“ siehe oben, C.II.3. 367
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sein, ob man einen Sachverhalt als Handlung interpretiert, zum Beispiel im folgenden Fall: A stellte sein Auto nachts am Straßenrand außerhalb einer Ortschaft ab. In dieser Situation war ihm gem. § 14 Abs. 2 und § 17 Abs. 4 S. 2 StVO geboten, die Standbeleuchtung oder das Warnblinklicht einzuschalten, was er unterließ. A blieb im Auto. Der Motorradfahrer B bemerkte das Auto zu spät, fuhr auf und verletzte sich schwer. Wenn A die Beleuchtung angelassen oder eine vorschriftsmäßige Stand- oder Warnleuchte eingestellt hätte und wenn auch B die erforderliche Sorgfalt beachtet hätte, wäre der Unfall nicht passiert. Neben der Strafbarkeit aus dem einfachen Unterlassungsdelikt des § 315c Abs. 1 Nr. 2g StGB kommt das Erfolgsdelikt des § 229 StGB (fahrlässige Körperverletzung) in Betracht. Fraglich ist, ob die Begehungs- oder Unterlassungsvariante gegeben und somit § 13 StGB einschlägig ist. Hier lautet das Gebot: Wenn jemand am Straßenrand anhält, muss er sein Auto ausreichend beleuchten. Hat er angehalten, gilt das unbedingte, aber alternative Gebot, die Beleuchtung anzustellen (bzw. anzulassen) oder wieder wegzufahren. Zwar kann das Anhalten, das für den Unfall ursächlich war, wohl nicht als verboten gelten, wenn der Fahrer erst anschließend die Beleuchtung ausstellt oder unterlässt einzustellen. Zweifelhaft ist aber, ob das anschließende unbeleuchtete Stehenbleiben als ein komplementär verbotenes, ursächliches Handeln angesehen werden kann und damit ein Begehungsdelikt anzunehmen ist. Das Stehenbleiben könnte unter dem Aspekt als eigenständige Handlung interpretiert werden, dass A jederzeit die Möglichkeit hatte, wegzufahren und deshalb eine dauernde Entscheidung für eine positiv benennbare Handlungsalternative gegeben ist. Handlungen können aus einem parallelen Unterlassen durchaus ihre Hauptbedeutung beziehen, zum Beispiel im Fall des Erduldens. Doch liegt die alternative Interpretation im Sinne bloßen Unterlassens des Wegfahrens näher, insbesondere wenn man wie Engisch eine gewisse Leistung (Energieeinsatz) in den Handlungsbegriff aufnimmt. 368 Jedenfalls ein Unterlassungsdelikt liegt in den alternativen Fällen vor, in denen A das Auto verlässt oder am Straßenrand mit dem Auto liegen bleibt und nicht mehr jederzeit wegfahren kann.
2. Handlungsverbote im Hinblick auf das Verhindern eigenen Verhinderns Das Verhindern eigenen Verhinderns tritt in drei Konstellationen auf. Ähnlich wie beim Verhindern eigenen Verursachens gibt es entweder ein Handeln, das von vornherein eigenes Verhindern verhindern kann oder ein Handeln, das im Nachhinein diese Wirkung hat. Sozusagen dazwischen liegt das Abbrechen eines schon teilweise erfolgreichen Verhinderns mit der Folge, dass die bisher verhin368
Siehe unter C.VI.6.
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derte Wirkung eintreten kann. Diese Fallgruppe ist praktisch wichtig geworden, weil ihr das Abschalten eines lebenserhaltenden Apparats angehört. a) Das Abbrechen eines andauernden Verhinderungshandelns 1. Das Loslassen eines Hundes (Fall 1) A hatte seinen Hund im Wald frei laufen lassen, was erlaubt war. Als A bemerkte, dass sich die Joggerin B nähert, nahm er den Hund an sich und hielt ihn fest, weil er wusste, dass der Hund auf Jogger manchmal aggressiv reagiert. B lief an A vorüber, und A ließ seinen Hund wieder los, doch zu zeitig. Der rannte der B hinterher und biss ihr ins Bein. Das Loslassen des Hundes war ursächlich dafür, dass der Hund B gebissen hat. Diese verursachende Handlung ist durch ein Handlungsverbot erfasst. Gleichwohl kann sich die Erfolgszurechnung nicht auf ein Verursachungsverbot stützen. Eine fahrlässige Körperverletzung (§ 229 StGB) kommt nur als Unterlassungsdelikt (§ 13 StGB) in Betracht. Das Handlungsverbot kann nicht einem Verursachungsverbot unterstellt werden, weil es als akzessorisch zu qualifizieren und einem Verhinderungsgebot zuzuordnen ist. Es betrifft ein Handeln, das von vornherein verhindern konnte, dass der Handelnde den tatbestandlichen Erfolg durch ein komplementär gebotenes Bezugshandeln verhindert. A hätte den Hund weiter festhalten sollen. Das Loslassen macht es dem A unmöglich, den Hund weiter festzuhalten. Mit dem Verbot des Loslassens ist teleologisch notwendig das Gebot des Festhaltens verbunden. Die beiden Handlungsnormen galten bis zum Verbotsverstoß gleichzeitig und verweisen aufeinander. Doch scheint auch die genau umgekehrte Deutung möglich, dass das Gebot als akzessorisches auf das Verbot bezogen werden kann. 369 Das Verbot des Loslassens betrifft ein erfolgsverursachendes Handeln, und das Gebot des Festhaltens ein Handeln, das dieses eigene Verursachen von vornherein verhindert hätte. Es ist typisch für akzessorisch verbotene Handlungen, dass sie auch als ein Verursachen des Erfolgs interpretiert werden können. Diese Deutung verfehlte aber den teleologischen Sinn der Normen. Ein akzessorisches Gebot betrifft zwar immer ein Handeln, dass die Gefährlichkeit des Bezugshandelns von vornherein ausschließt. Dieses Bezugshandeln ist aber unter der Voraussetzung der vorherigen oder gleichzeitigen Gebotsbeachtung grundsätzlich erlaubt und steht jederzeit im Belieben des Handelnden (außer wenn der Handelnde das Bezugshandeln schon begonnen hat). 370 Hier aber war es in der Handlungssituation unbedingt verboten, 369 Zur grundsätzlichen Vertauschbarkeit des Bezugspunkts der teleologischen Interpretation unter B.III.1.4. Die Vertauschbarkeit ist aber nicht gegeben, wenn die Handlungsnormen genau denselben Zweck haben, eine ganz bestimmte Veränderung, hier die Verletzung der B, zu verhindern. 370 Siehe unter B.III.2.2.
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den Hund loszulassen. Dagegen ist das Gebot des Festhaltens, anders als in der Regel die akzessorischen Gebote, in der Handlungssituation unbedingt. Seine Erfüllung steht nicht im Belieben des Handelnden. Das quasi „Bezugshandeln“ zum gebotenen Festhalten ist nicht das Loslassen, sondern das Spazierengehen mit dem freilaufenden Hund. Weil dieses aber (wie unterstellt sei) erlaubt ist und das Vorsorgehandeln erst nachträglich folgt, liegt eine Konstellation vor, die der Fallgruppe unter V.1.c) angehört. Ein wie hier dem gefährlichen Handeln (dem Laufenlassen des Hundes) nachfolgendes Vorsorgehandeln (das Festhalten) ist Gegenstand eines selbständigen Gebots. Dieses Gebot, den Hund an sich zu nehmen und festzuhalten, galt zuerst und unbedingt. Auf dieses ist das Verbot, den Hund loszulassen, akzessorisch bezogen. Wenn dagegen unbedingt verboten wäre, Hunde beim Spazierengehen frei laufen zu lassen, wäre das Gebot des Anleinens akzessorisch. Es beträfe ein Handeln, das von vornherein verhindern kann, dass der Handelnde durch das Bezugshandeln verursacht. Dieses wäre bei Gebotsmissachtung verboten, und das Gebot wäre durch die Vornahme des gefährlichen Bezugshandelns subjektiv bedingt. Abgesehen von dieser normentheoretischen Erwägung wird im Hinblick auf die strafrechtliche Fallentscheidung ein anderes Argument entscheidend. Die Zuordnung des komplementären Normenpaares auf ein Verursachungsverbot und die Annahme eines Begehungsdelikts würde die gesetzlichen Voraussetzungen des § 13 StGB unterlaufen. Wenn das Handlungsverbot ein unbedingt zu erfüllendes Handlungsgebot impliziert, dessen Missachtung nur bei gegebener Garantenstellung eine begehungsgleiche Bestrafung rechtfertigt, gilt § 13 StGB auch für dieses Verbot. Die Garantenstellung ist im vorliegenden Fall freilich anzunehmen. A hat zwar die Gefahr erlaubtermaßen geschaffen, ist aber im Gegenzug für die Abwehr drohender Schäden verantwortlich. 371 Diese Entscheidung, nur ein Verhinderungsgebotsverstoß anzunehmen, bestätigt sich auch durch den Vergleich mit dem parallelen Phänomen der akzessorischen und komplementären Gebote in Bezug auf Verursachungsverbote. 372 Der Verstoß gegen ein akzessorisches Gebot wird, obwohl auch ein Unterlassen des Verhinderns gegeben ist, nur durch die Annahme eines Verursachungsverbotsverstoßes als Begehungsdelikt berücksichtigt. In der hier behandelten, parallelen Fallgruppe ist umgekehrt trotz gegebenen Verursachens nur ein Unterlassungsdelikt anzunehmen. Während dort der Gebots- im Verbotsverstoß berücksichtigt ist, ist es hier der Verbots- im Gebotsverstoß. Fälle dieser Art hat Roxin treffend als Fälle des Unterlassens durch Tun bezeichnet. 373 Ausgedrückt wird damit, dass ein und dasselbe Handeln als Verursachen und Unterlassen des Verhinderns des
371 372 373
Vgl. C.V.1.c). Vgl. C.V.1.a). Roxin (1969), siehe C.VI.8. Vgl. auch C.VI.2.
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tatbestandlichen Erfolgs gedeutet werden kann, dass aber nur ein Unterlassungsdelikt in Frage kommt. 2. Jakobs hat zur Konstellation des Beendens eines verhindernden Handelns einen weiteren Fall gebildet, der im gleichen Sinn zu lösen ist: „Die Blumen auf einem tiefer gelegenen Grundstück in trockener Gegend verdorren (§ 303 StGB), wenn auf dem höher gelegenen Grundstück die Berieselungsanlage, deren Sickerwasser das tiefere tränkt, abgeschaltet wird.“ 374 Das Verbot des Abstellens impliziert ein Gebot des Weiterbetreibens der Berieselungsanlage, das nur unter den Voraussetzungen des § 13 StGB postulierbar ist. Eine Garantenstellung des Besitzers des oberen Gartens ist nicht anzunehmen. Mit der Fallkonstellation, dass ein Handelnder das eigene Verhindern beendet und weiteres Verhindern verhindert, hatte sich auch eine Entscheidung des Reichsgerichts in Zivilsachen aus dem Jahr 1910 auseinanderzusetzen. 375 Ein Kriegsschiff ankerte an einer Reede, um von zwei kleinen Prahmen Kohlen aufzunehmen. Aufgrund aufkommender Winde warf das Schiff auf Befehl des Kapitäns die festgemachten Prahme los und fuhr mit voller Kraft in Sicherheit. Die Prahme waren daraufhin ohne den Schutz des großen Schiffs dem stürmischen Wetter und starken Wellen ausgeliefert. Einer schaffte es nicht mehr zu ankern und sank. Hätte der Kapitän nicht befohlen abzufahren, sondern an der Stelle zu bleiben und zumindest noch zu warten, hätte er das Unglück verhindert. 376 Auch hier stand die Wahl zwischen einer Handlung, die den Erfolg mitverursacht und einer Handlung, die ihn verhindert hätte. 377 Man könnte in diesen Fällen zwar versuchen, die Kausalität der Handlung für den Eintritt des bis dahin verhinderten Erfolgs zu verneinen. Das ist aber nur definitorisch zu leisten. 378 Die Notwendigkeit von Einschränkungen des Kausalbegriffs, die oft auf bestimmte Fallprobleme zugeschnitten scheinen, lässt sich jedoch nicht ohne Rückgriff auf wertende Argumente begründen. Ein Vorschlag einer solchen Definition wäre etwa, dass eine Handlung nur dann ein Verursachen ist, wenn es nicht eine Alternativhandlung gab, die den Erfolg verhindert hätte und die somit nicht bloß ein Unterlassen des Verursachens wäre, oder dass 374
Jakobs (1993), 7/61, vgl. C.VI.9. Zu diesem Fall auch Haas (2002), S. 188 f., 193. RGZ 75/80. 376 In dem Fall ging es um einen Schadensersatzanspruch, den der Eigentümer der Prähme aus § 904 S. 2 BGB aufgrund der gerechtfertigten „Einwirkung“ auf seine Sache, stellte. Das Reichsgericht versagte diesen Anspruch mit dem Argument, dass das Eigentum an den Prähmen unabhängig von § 904 BGB kein Ausschließungsrecht gegen das Wegfahren gewährt hatte. 377 Das Verharren am Ort wäre hier eine besondere „Leistung“ und deshalb Handlung. Als Gegenbeispiel siehe C.V.1.c)4. 378 Z. B. Haas (2002), S. 192 ff. durch Definition eines Begriffs des „Bewirkens“. Siehe hierzu C.VI.10. 375
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ein Verursachen nur anzunehmen sei, wenn der Erfolg nicht nur dann entfiele, wenn man die Handlung wegdenkt, sondern auch entfiele, wenn man den Handelnden aus der Situation wegdenkt. Solche Definitionen laufen Gefahr, einer beschreibenden Begrifflichkeit Wertungen zu unterschieben, die zwar dem Ergebnis entsprechen, das intuitiv für richtig erachtet wird, die aber letztlich nicht oder auf der falschen Ebene der Kausalitätstheorie begründet werden. Ein Definitionsversuch kann aber erst sekundär auf eine Explikation der ausschlaggebenden Wertungen folgen. Die Analyse dieser Wertungen vermag nur ein normentheoretisch orientierter Ansatz zu leisten. 3. Das Abschalten eines Reanimators (Fall 2) Der wichtigste Fall innerhalb der Fallgruppe des Abbrechens andauernder Verhinderungshandlungen ist der Reanimatorfall. Er hat die Diskussion um die Abgrenzung des Begehungs- vom Unterlassungsdelikt maßgeblich angeregt: Der Arzt A stellt eine lebenserhaltende Maschine ab, die er selbst in Gang gesetzt hatte. Patient B stirbt daraufhin. A verursacht somit einerseits den Tod des B, andererseits unterlässt er, diesen zu verhindern. Deswegen stellt sich das Problem der Abgrenzung des Begehungs- vom Unterlassungsdelikt. Wenn die Tätigkeit der Maschine dem Arzt als eigenes Handeln zuzurechnen ist, würde die Annahme des Verbots, sie abzuschalten, teleologisch notwendig zugleich das Gebot nach sich ziehen, sie weiter zu betreiben und dadurch den Todeseintritt zu verhindern. In diesem Fall wäre das Handlungsverbot als gebotsakzessorisches auf das komplementäre Handlungsgebot und übergeordnete Verhinderungsgebot bezogen. Gegenstand des Verbots ist eine Handlung, die von vornherein verhindert, dass der Handelnde selbst weiterhin verhindern kann. Schaltet der Arzt den Apparat ab, nimmt er sich die Möglichkeit, den Tod des Patienten zu verhindern. Das akzessorische Verbot, das komplementäre Gebot des Weiterbeatmens und das zugrunde liegende Gebot des Verhinderns zu postulieren, ist nur unter den Voraussetzungen des § 13 StGB möglich, also nur, wenn eine Garantenstellung noch besteht und das Gebot verhinderungsgeeigneter Handlungen gerechtfertigt werden kann. Wenn das nicht der Fall ist, darf der Arzt den Apparat abschalten, ohne wegen dieses Tuns aus dem Begehungsdelikt strafbar zu sein. Die Notwendigkeit, hier wie in den zuvor behandelten Fällen zugleich mit dem Verbot ein Gebot anzunehmen, ist nicht allein teleologisch begründet, sondern ergibt sich auch aus einer allgemeinen Konsistenzforderung in Bezug auf Normen. 379 Grundsätzlich ist ein Verbot im Hinblick darauf, ob alternative Handlungen geboten oder verboten sind, unbestimmt. Die Ableitung eines Handlungsgebots aus einem Verbot scheint im Fall strenger Alternativität zweier Handlungen jedoch möglich. Diese Sonderfälle treten zumindest immer dann auf, wenn 379
Siehe bereits unter B.III.3.4.
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zu entscheiden ist, ob eine Handlung, die schon begonnen wurde und die noch andauert, fortgesetzt oder beendet werden soll. In diesen Fällen ist es nicht nur konsequent, mit dem Gebot der einen Handlung die streng alternative Handlung zu verbieten, sondern auch umgekehrt mit dem Verbot der einen Handlung die andere zu gebieten. Deshalb kann in einem Normensystem mit Rationalitätsanspruch dem A nicht freigestellt sein, das Verhindern zu unterlassen oder das weitere Verhindern ihm sogar verboten sein und zugleich die Handlung verboten sein, die mit dem Aufhören des Verhinderns notwendig verbunden ist. 380 Welche Normen in der konkreten Situation gelten, muss entschieden werden. Wenn man das Abschalten verbietet und damit das Verhindern gebietet, bedarf dieses Gebot der Rechtfertigung. Kann sie im Gesetz nicht gefunden werden, so kann aus dem Gesetz auch nicht das Verbot abgeleitet werden. Das Verbot des Abschaltens entfällt also im selben Moment wie das Verhinderungsgebot und das Handlungsgebot. Obwohl der behandelnde Arzt A den Tod des B durch eine Handlung verursacht hat, kommt somit ein Begehungsdelikt nicht in Betracht. Ob er wegen des Unterlassens, den Erfolg zu verhindern, nach § 212 i.V. m. § 13 StGB strafbar ist, hängt von der Postulierbarkeit eines Garantengebots ab, den Patienten weiter zu behandeln. Die Fragen, wann genau die Garantenstellung des A oder die mutmaßliche Einwilligung des B entfällt und wann ein Gebot einer verhinderungsgeeigneten Handlung nicht mehr zweckdienlich wäre, sind hier nicht zu diskutieren. Angenommen, dass ein Handlungsgebot nicht mehr postuliert werden kann, ist der Arzt wegen § 13 StGB weder aus dem Begehungsdelikt des § 212 StGB noch aus dem Unterlassungsdelikt zu bestrafen. 4. Diese Lösung des Reanimatorfalls entspricht im Ergebnis der heute herrschenden Meinung. 381 Roxin nimmt kausales Tun an, ordnet es jedoch dem Unterlassen unter („Unterlassen durch Tun“). 382 Weiterhin vertritt Schneider im Hinblick auf den Reanimatorfall ein Konzept, das dem hier entwickelten ähnlich ist. Er fragt zunächst, ob beschreibend ein Handeln (Körperbewegen) oder Unterlassen gegeben ist und fragt anschließend nach der diesbezüglichen „Erwartung der Rechtsordnung“, wobei insbesondere der „Schutzzweck der Norm“ entscheidend sei. 383 Er nimmt dann für den Reanimatorfall (im Schwerpunkt) 380
Vgl. auch Hirsch (1987), S. 606: „Wenn jedoch eine solche Rettungshandlung von niemand mehr verlangt werden würde, dann auch nicht ihre Unterbindung durch ein Tun.“ 381 Zuerst Geilen (1968), S. 151. Eine fallbezogene Darstellung des Meinungsstandes findet sich bei Schneider (1997), S. 164 ff. Anders entscheidet etwa Haas (2002), S. 232, der bei bestehendem Garantengebot (kraft Fiktion) Tun annimmt. Nach dem Wegfall des Gebots entfällt der Rechtsgrund der Fiktion. Dieser ist die Gleichstellung des Einwirkens auf die rettende Sphäre mit dem unmittelbaren Einwirken auf das Rechtsgut, wenn ein subjektives Recht an der Sphäre besteht. Vgl. C.VI.10. 382 Roxin (1969), S. 395 – 401. Zustimmend Engisch (1973), S. 178. 383 Schneider (1997), S. 174 f., 148 ff.
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ein Unterlassen an. Dieses Ergebnis sollte mit dem hier entwickelten Konzept sowohl im Hinblick auf die Begrifflichkeit als auch auf die normativen Erwägungen differenzierter und präziser begründet werden. Statt des oft dominierenden Fallvergleichs kann mit abstrakten Prinzipien argumentiert werden, die der Lösung aller Abgrenzungsprobleme zugrunde liegen. Es ist erwiesen, dass neben der beschreibenden Ebene (Tun / Unterlassen) die Normenebene (Begehungs- / Unterlassungsdelikt) beachtet werden muss. Deswegen sind normentheoretische Überlegungen in die Auslegung der Deliktstatbestände einzubeziehen. Gegen diese Tendenz der wertenden Betrachtung treten einige Autoren ein, die allein die Kausalität des „Tuns“ für den Erfolg ausschlaggebend sein lassen und deshalb ein Begehungsdelikt prüfen. 384 Dass ein „Tun“ gegeben ist, ist in diesen Fällen aber nicht problematisch. Man kann die Deliktsprüfung deshalb auch mit einem Begehungsdelikt beginnen, muss aber bei der Frage, ob das Verursachen normwidrig ist, offen legen, dass § 13 StGB einschlägig ist. Nach heutigem Verständnis könnte das bei einem Vorsatzdelikt erst auf der Prüfungsstufe der „objektiven Zurechnung“ thematisiert werden, auf der die Frage nach dem Handlung- und Verursachungsverbotsverstoß beantwortet werden muss. 385 Die hier begründete Lösung des Reanimatorfalls beruht auf einer Annahme, die nicht problematisiert wurde. Die Zurechnung der Arbeit der Maschine an den Arzt ist nicht zweifelsfrei. So kann etwa ein anderer Arzt als A die Maschine in Gang gesetzt haben, Assistenzarzt C überwacht den Betrieb, Schwester S sorgt für das Nachfüllen der Infusionen etc. Alle diese Handlungen werden stillschweigend dem A zugerechnet. Der Respiratorfall verweist somit auf die Problematik der Unterscheidung von Tun und Unterlassen in arbeitsteiligen Organisationen. 386 Wegen der Zufälligkeit der Arbeitsorganisation und der darin begründeten Austauschbarkeit von Tun und Unterlassen ist darauf zu achten, dass im Ergebnis Wertungsgleichheit zwischen Begehungs- und Unterlassungsdelikten hergestellt wird. Wenn man die Zurechnung des verhindernden Handelns anderer Organisationsmitglieder zum Arzt ablehnt, bleibt nur die Deutung seines Handelns als ein Verursachen. Er sollte jedoch, wenn er nicht mehr Garant zur Gefahrabwendung ist, auch aus dem Begehungsdelikt nicht strafbar sein. 387
384 Z. B. Samson (1974), S. 601. Weiterhin Kargl (1999), S. 478 ff., der auf die kognitiv-emotionale Differenz zwischen direktem Verursachen und (bloßem) Unterlassen des Verhinderns verweist und Brammsen (2002), S. 210, der „Tun“ als „angriffsobjektsgefährdenden Energieeinsatz“ definiert. 385 Vgl. oben B.V.3.5. 386 Siehe unter C.V.4.4. 387 Fortführung der Problematik unter C.V.3. Fall 5.5. und 6.
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b) Die Zurücknahme eines beendeten Verhinderungshandelns 1. Das Lösen eines Verbands (Fall 3) A fand auf einer einsamen Landstraße den Verunfallten B, der bewusstlos war. Er bemerkte, dass dieser aus einer Wunde am Oberschenkel stark blutete. Mit einem Gurt band er das Bein des B oberhalb der Blutungsstelle ab. Nach kurzer Zeit löste A die Binde wieder und verließ den Verunfallten, worauf B verblutete und starb. Hätte A die Binde nicht gelöst, wäre B lebend gefunden und mit Sicherheit gerettet worden. A ist jedenfalls wegen unterlassener Hilfeleistung strafbar, weil er unterließ, weitere Hilfe zu leisten. Ein Totschlag durch Unterlassen scheidet aus, weil A kein Garant für B war. Die Erfolgszurechnung kommt deshalb nur in Betracht, wenn ein Verursachungsverbotsverstoß im Rahmen eines Totschlags gegeben ist. Das Abnehmen der Binde war eine todesursächliche Handlung. Fraglich ist, ob das Verbot dieser Handlung auf ein Verursachungsverbot oder auf ein Verhinderungsgebot bezogen ist. Letzteren Falls müsste das Verbot gebotsakzessorisch sein. Für den Bezug auf ein Verhinderungsgebot spricht zunächst, dass das Abnehmen des Verbandes verhindert hat, dass A durch ein anderes, gebotenes Handeln (das Anlegen des Verbandes) den Tod des B verhindert. Das Verbot des Abnehmens der Binde ist aber nicht akzessorisch zum Gebot dieses verhinderungsgeeigneten Handelns, weil es nicht komplementär zu diesem Gebot ist. Das Gebot war im Moment des Verbotsverstoßes bereits erfüllt. Die verhinderungsgeeignete Handlung, auf die sich das Verbot seinem teleologischen Sinn nach bezieht, war schon beendet. Das Verbot der zurücknehmenden Handlung impliziert auch nicht notwendig ein Gebot weiteren verhinderungsgeeigneten Handelns. Das wäre in einer Fallvariation anders: Wenn A nur dadurch verhindern kann, dass B aus einer Wunde in der Leistengegend verblutet, dass er sich dauerhaft auf die Wunde kniet, impliziert das Verbot des Ablassens ein Handlungsgebot, die Arterie weiter abzudrücken. Im Ausgangsfall galten für A ebenfalls noch andere Handlungsgebote, zum Beispiel das Gebot, medizinische Hilfe herbeizuholen. Im Verhältnis zu diesen Geboten ist das Verbot, die Binde abzunehmen, akzidentiell. 388 Man kann die verbotene Handlung schon deshalb als verboten ansehen, weil sie zu diesen dringenden Geboten in Widerspruch steht. Das Verbot ist diesen Geboten aber nicht akzessorisch, weil es mit ihnen im Hinblick auf die Handlungswirkungen nicht so eng verknüpft ist wie mit dem Gebot, die Binde anzulegen. Das verbotene Handeln schließt die Verhinderungseignung der weiteren gebotenen Handlungen nicht von vornherein aus. Es wäre auch nicht teleologisch widersprüchlich, zwar das Verbot, nicht aber die weiteren Gebote anzunehmen.
388
Siehe B.III.3.
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2. Das Beenden eines verhindernden Handelns ist somit unter den Voraussetzungen des § 13 StGB als ein Unterlassungsdelikt, die Rücknahme eines verhindernden Handelns hingegen als Begehungsdelikt strafbar. Das Beenden und Rücknehmen unterscheiden sich darin, dass ersten Falls nur ein andauerndes oder ständig wiederholtes Handeln verhindernde Wirkung entfaltet, während im zweiten Fall das Handeln bereits einen dauerhaft verhindernden Effekt hat, der nur durch eine gesonderte Handlung rückgängig gemacht werden kann. 389 Die Rücknahme von verhindernden Handlungen kann leicht beim Delikt der Freiheitsberaubung auftreten. Wenn A die Tür zu einem Raum aufschließt, in dem B eingesperrt ist, ist die Freiheitsberaubung unmittelbar beendet. Überlegt er es sich darauf anders, liegt erneut eine Freiheitsberaubung vor. 390 Die unterschiedliche Bewertung der beiden Fallgruppen hat ihren Grund darin, dass das Verbot, das Verhindern zu beenden, anders als das Verbot des zurücknehmenden Handelns seinem teleologischen Sinn nach notwendig das komplementäre Gebot eines weiteren Verhinderungshandelns impliziert. Es ist akzessorisch zu diesem Gebot und kann nicht einem Verursachungsverbot untergeordnet werden. Für die begehungsgleiche Bestrafung der Missachtung des Gebots wie des Verbots gelten die Voraussetzungen, die § 13 StGB aufstellt. Die notwendige Verbindung von Gebot und komplementärem Verbot entscheidet auch in der spiegelbildlichen Fallgruppe des Verhinderns eigenen Verursachens über die Zuordnung zum Begehungs- oder Unterlassungsdelikt. Dort gibt es eine gefährliche Bezugshandlung und eine gebotene Vorsorgehandlung. Wenn ein Verbot der Bezugshandlung postuliert werden kann, bleibt das Gebot der Vorsorgehandlung dem Verursachungsverbot untergeordnet, weil es komplementär und akzessorisch zu diesem Handlungsverbot ist. Bei gegebenem Verstoß gegen das Handlungsgebot und -verbot wird nur ein Begehungsdelikt angenommen. Ein Verbot der Bezugshandlung kann aber nicht angenommen werden, wenn die gebotene Vorsorgehandlung zeitlich auf die Bezugshandlung folgen sollte. Das Unterlassen der Gebotsbefolgung kann dann keinen Verbotsverstoß mehr begründen. Das Gebot wird einem Verhinderungsgebot zugeordnet. Es wird somit deutlich, dass in beiden Fallgruppen letztlich das zeitliche Verhältnis der beiden je relevanten Handlungen entscheidend ist. Wenn die gebotene bzw. verbotene Handlung auf ihre Bezugshandlung folgt, ist die Entscheidung anders, als wenn sie dieser voraus- oder einhergeht. Diese Strukturparallele hat ihren Grund darin, dass in den Fällen des anschließenden Vorsorgehandelns die verursachende Handlung erlaubt ist und deshalb das Gebot des Vorsorgehandelns § 13 StGB unterstellt werden muss. In den Fällen des anschließenden Verhinderns eigenen Verhinderns ist die verursachende Handlung hingegen verboten, ohne dass § 13 StGB mehr einschlägig ist, weil im Handlungsverbot kein Gebot impliziert ist. 389 390
Vgl. Roxin (1969), S. 398 f. Anders Herzberg (2003), S. 275.
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3. Das Rückholen eines Briefs (Fall 4) Die Rücknahme einer eigenen Verhinderungshandlung wird oftmals anhand von Fällen problematisiert, die ausführlich erst an späterer Stelle behandelt werden, weil andere Handelnde ins Spiel kommen. So auch im „Postrückholfall“: A gibt einen Brief zur Post, in welchem er den Plan eines Mords anzeigt. Einige Stunden später überlegt er es sich anders und lässt sich den Brief wieder herausgeben. A ist wegen unterlassener Verbrechensanzeige gem. § 138 StGB strafbar. Weil er nicht Garant war, kommt ein erfolgsbezogenes Unterlassungsdelikt nicht in Betracht. Er könnte aber wegen des Rückholens des Briefs zu bestrafen sein. Insoweit kommt als Handlungsdelikt eine Beihilfe zum Mord gem. §§ 211, 27 StGB in Betracht. Zur Mittäterschaft genügte der Tatbeitrag des A nicht. Roxin verneint in diesen Fällen des „Rücktritts vom Gebotserfüllungsversuch“ ein Handlungsdelikt: „Der positive und der negative Energieeinsatz heben einander auf, so dass [der] Täter nicht anders zu behandeln [ist] als ein von vornherein Rettungsunwilliger.“ Bemerkenswert ist, dass er ein Argument verwendet, das auf den hier entfalteten normentheoretischen Ansatz verweist: „Das Tun wird dadurch nicht zu einem Unterlassen; man wird vielmehr unseren Befund so deuten müssen, dass der Gebotstatbestand als sekundäre Folgenorm das Verbot des geschilderten erfolgsbewirkenden Tuns in sich enthält.“ 391 Entscheidend ist aber nicht allein der teleologische Sinn des Verbots, sondern die Frage, ob das Verbot zu einem Gebot komplementär und damit akzessorisch ist. Roxin versucht hingegen, in freierer Wertung, den Zeitpunkt genau zu bestimmen, ab wann die Rücknahme der Rettungshandlung als Handlungsdelikt zu behandeln ist und nimmt an, „dass das Unterlassen durch Tun in ein Begehungsdelikt umschlägt, sobald die Gebotserfüllung aus dem Versuchs- in das Vollendungsstadium eingetreten ist, d. h. sobald der rettende Kausalverlauf die Sphäre des Opfers erreicht hat.“ 392 Im Fall 3 war dieses Stadium schon erreicht. Vorliegend wäre, weil A die Post schon abgeschickt hatte, das Verbot des Rückholens dem ersten Anschein nach nicht mit einem weiteren Gebot an A verknüpft, so dass ein Handlungsdelikt in Betracht kommt. An diesem Ergebnis sind Zweifel angebracht. Wie gezeigt, versucht Roxin, über Sphären abzugrenzen. Dieses Kriterium zielt in die richtige Richtung. Es geht in diesem Fall letztlich darum, ob der Transport des Briefs durch die Post dem A zuzurechnen ist. Das ist (wie im Reanimatorfall) nach allgemeinen Regeln zu entscheiden und hier zu befürworten, weil A den Transport in Auftrag gegeben und bezahlt hat. Wenn man dem A das Handeln der Postangestellten insoweit zurechnet, dann waren in der Tat noch weitere Handlungen erforderlich, bis das Gebot, den Brief dem Empfänger zu übermitteln, erfüllt gewesen wäre. Das Verbot des Rückholens 391 392
Beide Zitate Roxin (1969), S. 382 f. Roxin (1969), S. 386 f.
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liefe auf das Gebot des Weitertransports hinaus. Demnach wäre das Rückholen erst dann ein Handlungsdelikt, wenn der Brief den Empfänger schon erreicht hätte. Hinter Roxins Sphärentheorie, die eher räumliche Assoziationen weckt, steht das Problem der Zurechnung von Handlungen zum Verdienst. Somit ist der Postrückholfall nicht wie die Rücknahme einer (beendeten) Verhinderungshandlung, sondern wie das Abbrechen eines gebotenen Rettungshandelns zu begreifen. 4. Die gefährliche Rettungshandlung (Fall 5) Das hier entwickelte Kriterium hat gegenüber der Sphärenbetrachtung den Vorteil größerer Klarheit und Gesetzesnähe. Zwar erscheint es zunächst strenger als diese, doch bringt die genaue Analyse des Einzelfalls differenzierte Lösungsmöglichkeiten zutage, so auch im folgenden Fall, den Roxin gebildet hat: 393 A lässt dem B, der in eine Gletscherspalte gestürzt war, eine Strickleiter herunter. Nachdem B zur Hälfte heraufgeklettert ist, lässt A die Leiter fallen, so dass B in den Abgrund stürzt und stirbt. Das Handeln des A ist als unterlassene Hilfeleistung (§ 323c StGB) strafbar. Fraglich ist, ob der Erfolg zuzurechnen ist. Ein Unterlassungsdelikt kommt nicht in Betracht, weil A nicht Garant war, wohl aber ein Begehungsdelikt, weil er durch ein verbotenes Handeln den Erfolg verursacht hat. Roxin bejaht ohne Rücksicht auf die Sphärenabgrenzung ein Begehungsdelikt, weil es keinen Wertungsunterschied zu dem Fall geben dürfe, dass A die Leiter irgendwo festmacht und dann wieder löst, einem eindeutigen Fall der Zurücknahme einer beendeten Rettungshandlung. Es sei „nicht zu verlangen, dass der zum Helfen Verpflichtete schon jeder weiteren Mitwirkung ledig ist.“ 394 Genau diese notwendige Verbindung des Verbots mit Geboten weiteren Handelns wird nach der hier entwickelten Konzeption grundsätzlich entscheidend. Das Verbot des Loslassens ist mit dem Gebot des Festhaltens notwendig verbunden. Gleichwohl ist Roxin im Ergebnis zuzustimmen, weil dieser Fall signifikante Unterschiede zur Fallgruppe (a) aufweist. Diese betrifft lediglich das Beenden einer andauernden verhindernden Handlung, das zur Folge hat, dass die bis dahin unterdrückte Ursache in der bis dahin verhinderten Wirkung resultiert. Der Erfolg aber, den A durch das Fallenlassen verursacht, ist ein anderer als der, den er durch das Heraufziehen verhindern sollte. Er bringt den Hilfsbedürftigen zunächst in eine zusätzliche Gefahr. Anschließend überholt die von ihm gesetzte eigenständige Ursache den ursprünglich drohenden Kausalverlauf. Auf dessen Verhinderung richtet sich das Verhinderungsgebot, auf das Verursachen des Absturzes ein Verursachungsverbot. Weil die Normintention je eine andere ist, können die komplementären Handlungsnormen doppelt zugeordnet werden. Es ist sowohl ein (rechtlich nicht relevanter) Verhinderungsgebotsverstoß als auch ein Verursachungsgebotsverstoß anzunehmen. Dass in der ersten Sichtwei393 394
Roxin (1969), S. 387. Roxin (1969), S. 387.
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se das Verbot akzessorisch ist und in der zweiten das Gebot, ist möglich, weil der Begriff der Akzessorietät lediglich die teleologische Zuordnung der Normen markiert. 395 Das komplementäre Verhältnis ist in beiden Konstellationen strukturidentisch. Das Gebot betrifft ein Handeln, das sowohl geeignet ist, den drohenden Tod durch Erfrieren zu verhindern als auch zu verhindern, dass der Handelnde selbst den Tod durch Absturz verursacht (insoweit als akzessorisches Gebot). Entsprechend betrifft das Verbot des Loslassens ein Handeln, das sowohl das Verhindern des Erfolgs verhindert (insoweit als akzessorisches Verbot), als auch den Erfolg direkt verursacht. Dieser Fall gibt auch ein weiteres Beispiel dafür, dass das akzessorische Gebot nach dem Beginn des gefährlichen Handelns dringend und unbedingt gilt, wodurch das komplementäre Verbot zugleich akzidentiell zum Gebot wird. 396 Der Grund, warum in den bisher geschilderten Fällen die doppelte Zuordnung der Handlungsnormen zu einem Verhinderungsgebot und einem Verursachungsverbot abzulehnen war, ist zum einen, dass sich der Vorwurf mit der Annahme eines einfachen Verursachungsnormverstoßes sozusagen verbraucht, weil wegen des komplementären Verhältnisses beider Normen der Gebotsverstoß im Verbotsverstoß bzw. der Verbotsverstoß im Gebotsverstoß impliziert ist. 397 Das ist vorliegend nicht der Fall, weil sich die Verursachungsnormen auf unterschiedliche Gefahren beziehen. Zum anderen spricht auch das Argument aus § 13 StGB nicht gegen die zusätzliche Zuordnung zum Verursachungsverbot. Wenn jemand eine gefährliche Handlung beginnt, hat er die von ihm selbst geschaffene Gefahr weitgehend zu mindern, damit er nicht verursacht. Das Gebot hat deswegen im Verursachungsverbot und im komplementären Handlungsverbot eine ausreichende Rechtfertigung. c) Das Unmöglichmachen eines erwarteten Verhinderungshandelns 1. Das Verlassen eines Gefährdeten (Fall 6) Folgenden Fall hat Herzberg diskutiert: „Die Nachbarin N will den Tod des von seiner Mutter vernachlässigten Säuglings und geht aus dem Haus, weil sie genau weiß, dass sie sonst das Kind erbärmlich schreien hören und aus Mitleid versorgen würde. Infolge dieser aktiven Selbstausschaltung kommt es zum Tod.“ 398 Herzberg bejaht eine absichtliche Todesverursachung durch N. Die verursachende Handlung sei wegen § 323c StGB auch verboten. Er verneint jedoch ein Begehungsdelikt, weil der Erfolg nicht von der Existenz des Handelnden 395 396 397 398
Vgl. B.III.1.4. Vgl. B.III.2.2. und B.III.3.7. Vgl. C.V.1.a) und C.V.2.a)1. Herzberg (2003), S. 274.
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abhänge. 399 Deswegen könne man auch keine Sonderverantwortung unter dem Gesichtpunkt drohender Auswirkungen der eigenen Person annehmen, wie sie jedes Begehungsdelikt voraussetze. Dieses Kriterium ergibt sich seiner Ansicht nach aus § 13 StGB, der auch auf Begehungsdelikte Anwendung finde, weil auch diese Unterlassungsdelikte seien. 400 In den Fällen des vorsätzlichen Unmöglichmachens des sonst gebotenen eigenen Verhinderns ist die Annahme eines Verursachens jedoch unsicher. Als Verhindern eigenen Verhinderns und damit als Verursachen könnte es nur angesehen werden, wenn hinreichend sicher wäre, dass der Handelnde andernfalls verhindert hätte. Sein Wille, dies nicht zu tun, manifestiert sich bei Vorsatzdelikten aber in der verbotenen Handlung, hier im Weggehen. Die Wahrscheinlichkeit, dass er seinen Vorsatz aufgegeben und noch verhindert hätte, ist meist zu gering, um noch ein Verursachen bejahen zu können. Ein Unterlassen durch Tun (i. e. handelndes Verursachen) in Roxins Sinn liegt deshalb wohl gar nicht vor. Doch ist die Lösung des Falls unabhängig von der Frage der Kausalität des Handelns zu begründen. Wenn man der N verbieten würde wegzugehen, müsste man teleologisch notwendig auch die Gebote postulieren, am Ort zu bleiben und das Kind zu versorgen. Diese Handlungsgebote ergeben sich aus § 323c StGB. Sie haben den Zweck, das Verhindern zu verursachen. Das Verbot des Weggehens ist seinem teleologischen Sinn nach ein akzessorisches Verbot zu diesen Geboten, weil es ein Handeln betrifft, das geeignet ist zu verhindern, dass der Handelnde durch das gebotene Bezugshandeln den Erfolg verhindert. Die Entfernung vom Ort macht es der N unmöglich, zu helfen. Somit geben nicht Überlegungen im Hinblick darauf, ob das Weggehen eine verursachende und verbotene Handlung ist, den Ausschlag, sondern die Interpretation des § 212 StGB (Totschlag). Die Strafbarkeit aus § 212 StGB setzt einen Verursachungsverbotsverstoß und somit die Missachtung eines Handlungsverbots voraus, das nicht bloß akzessorisch zu einem Gebot ist. 401 Die Missachtung eines akzessorischen Verbots, das mit einem komplementären Gebot verhinderungsgeeigneten Handelns notwendig verbunden ist, kann nur unter den Voraussetzungen des § 13 StGB eine begehungsgleiche Bestrafung rechtfertigen. Ein erfolgsbezogenes Unterlassungsdelikt ist deshalb nicht anzunehmen. N war nicht Garantin. Sie ist wegen einfachen Unterlassens nach § 323c StGB strafbar. 2. Das gleiche gilt bei fahrlässigem Handeln wie im folgenden Fall, den der BGH entschieden hat: „Die Angeklagte ließ am Vormittag ... ihre damals 3 Jahre alte Tochter M für längere Zeit allein in der Wohnung zurück. Obwohl M schon 399 Dieses Argument ähnelt dem von Armin Kaufmann (1959), S. 57 ff.: Die Unterlassung ist kausal für den Erfolg, nicht aber der Unterlassende. Siehe C.III.4.2. 400 Vgl. Herzberg (1972), S. 172 f. und oben C.III.2. 401 Siehe C.IV.3.
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früher in einem unbeaufsichtigten Moment die Herdplatten eingeschaltet hatte, traf die Angeklagte gegen diese Möglichkeit keine Vorkehrungen. Im Laufe des Tages setzte M die Herdplatten erneut in Gang, Durch die Hitzeentwicklung fing neben den Herdplatten liegendes Papier Feuer, es kam zu einem Küchenbrand; M erstickte.“ 402 Die Vorinstanz des BGH hatte ein fahrlässiges Begehungsdelikt, ein verbotenes Verursachen angenommen. Dass A ihre Tochter verlassen hat, ist unter der Voraussetzung für den Unfall ursächlich, dass sie andernfalls auf M aufgepasst und den Brand pflichtgemäß verhindert hätte. Dass es A verboten war wegzugehen, wenn sie nicht der ihr bekannten Gefahr anderweit vorbeugt, nimmt das Gericht an. Diesem Handlungsverbot stehen aber das Gebot, bei M zu bleiben, wenn nicht anderweit Vorsorge getroffen ist, sowie die Gebote gegenüber, im Fall des Verlassens der Wohnung für adäquaten Ersatz der eigenen Leistung zu sorgen, mindestens aber die vom Herd ausgehende Gefahr zu bannen. Das erstgenannte Gebot ist objektiv, die beiden anderen subjektiv bedingt: „Wenn der Handelnde X will, soll er Y ausführen.“ Verbot und Gebote sind gleichzeitig relevant und einander komplementär. Akzessorisch ist das Verbot. Sein Gegenstand ist ein Handeln, das von vornherein verhindert, dass A den Unfall verhindern kann. Der BGH hat deshalb zutreffend entschieden, dass ein fahrlässiges Unterlassungsdelikt anzunehmen war. Interessant an diesem Fall ist das Phänomen (gestuft) alternativer Gebote, die einen Spielraum möglichen Handelns eröffnen. 3. Die Missachtung akzessorischer Verbote kann entweder zur Folge haben, dass dem Handelnden die Gebotsbeachtung unmöglich wird, weil er nicht mehr in der Lage ist, die geforderten Handlungen auszuführen, oder dass die Handlungsgebote sinnlos werden, weil die geforderten Handlungen ihre Verursachungseignung einbüßen und wirkungslos wären. Gleichwohl wird die Missachtung dieser Gebote angenommen und zur Grundlage der Erfolgszurechnung im Rahmen eines Unterlassungsdelikts gemacht. Die Verbotsmissachtung berechtigt zu einer Ausnahme vom Prinzip des ultra posse nemo obligatur. 403 So auch in den Fällen der omissio libera in causa, in denen ein Bewacher- oder Beschützergarant, zum Beispiel ein Schrankenwärter oder ein Bademeister, sich betrinkt, deshalb gar nicht mehr oder nicht optimal seinen Aufgaben nachkommen und verhindern kann, dass andere Schaden erleiden. 404
3. Normen im Hinblick auf fremdes Verhindern 1. Eine weitere Fallgruppe wird mit der vorherigen gern in einem Zug behandelt. Sie gibt aber besondere Probleme auf. Das Handeln anderer Handelnder 402 403 404
BGH, NStZ 1999, S. 607 f. Zu dieser Ausnahme und deren Rechtfertigung bereits unter B.III.2.3. und B.V.2.5. Vgl. Bertel (1965), S. 53 ff., Roxin (1969), S. 383 und Hruschka (1979), S. 421.
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kommt in den Blick, die den Vorsatz haben oder die bereits versuchen, einen tatbestandlichen Erfolg zu verhindern. Folgende Fallgestaltungen sind zu unterscheiden: Fall 1: A hindert den B mit Gewalt, dem C zu helfen, zum Beispiel indem er B einsperrt oder ein Rettungsmittel zerstört, über das B verfügt. Damit nimmt A dem B die einzige Möglichkeit, dem C zu helfen. Andernfalls hätte B den Tod des C verhindert. Fall 2: A fordert den B auf, dem C, der sich in Lebensgefahr befindet, nicht zu helfen. B unterlässt daraufhin die Hilfe. Sein Handeln hätte den Tod des C verhindert. Beispiele für die Aufforderung: A verspricht dem B eine Belohnung, droht, ihn zu denunzieren oder bedroht ihn gar mit einer Pistole. Fall 3: B, der die Möglichkeit hat, dem C zu helfen, möchte dies nicht. A unterlässt, ihn dazu zu zwingen oder dazu zu überreden. Fall 4.1: B benötigt dringend ein Werkzeug zur Rettung des C (z. B. ein Mobiltelefon, ein Auto, ein Boot etc.). A, der verfügungsberechtigt ist, verschweigt, dass er es besitzt. Hätte B das Werkzeug gehabt, hätte er den C gerettet. Fall 4.2: B fragt den A nach dem Werkzeug, und A antwortet wahrheitswidrig, dass er es nicht besitze. Fall 5.1: B bittet den A darum, das benötigte Werkzeug herauszugeben. A verweigert die Herausgabe und verbietet dem B, es zu benutzen. B unternimmt nichts weiteres, um an das Werkzeug zu gelangen. Fall 5.2: A verweigert die Herausgabe des Werkzeugs, doch B möchte es ihm wegnehmen. A wehrt sich erfolgsreich dagegen oder zerstört es sogar. Fall 5.3: A versteckt oder zerstört das Werkzeug, bevor B darauf zugreifen kann. Fall 5.4: Der Sorgeberechtigte A verweigert dem Arzt B gegenüber die Zustimmung zu einer indizierten ärztlichen Behandlung. 405 Fall 5.5: Der Sorgeberechtigte S. und der Arzt T. weisen das Pflegepersonal schriftlich an, die Sondennahrung für Frau S. auf Tee umzustellen. 406 Fall 6: Schließlich wird nochmals eine Variante des Respiratorfalls relevant: A, nicht der behandelnde Arzt B, schaltet den lebenserhaltenden Apparat ab. Der Patient C stirbt daraufhin. Er hätte sonst noch eine Zeit lang gelebt. 2. Auch in dieser Fallgruppe ist zuerst zu untersuchen, ob der Handelnde den Erfolg verursacht hat. Wichtig ist zu beachten, dass die Kausalbeziehung über 405 406
Engisch (1973), S. 179. BGHSt 40/257.
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mindestens einen anderen Handelnden vermittelt und deshalb als Verursachen des Verhinderns oder Verhindern des Verhinderns quasi reflexiv angelegt ist. Die Konstellationen, die im Hinblick auf fremdes Verhindern relevant werden, sind wie folgt präzise zu beschreiben: Die erste Konstellation betrifft ein Handeln, das im Hinblick auf einen gegebenen Erfolg (im Folgenden: die Veränderung V) verboten sein kann. Es geht um das Verhindern, dass der andere V verhindert. Das ist gleichbedeutend mit dem Verursachen, dass der andere V nicht verhindert. Zu unterscheiden ist hierbei zwischen − der ersten Variante, dem Verhindern, dass der andere V überhaupt verhindern kann. Das ist gleich einem Verursachen, dass der andere V gar nicht verhindern kann (z. B. obiger Fall 1) − und der zweiten Variante, dem Verhindern, dass der andere V verhindert im Sinne eines Verursachen, dass der andere unterlässt, V zu verhindern, obwohl ihm das möglich wäre (Fall 2). Die zweite Konstellation betrifft ein Unterlassen, das im Hinblick auf einen Erfolg V gebotswidrig sein kann. Es ist das Unterlassen zu verhindern, dass der andere V nicht verhindert. Das ist gleichbedeutend mit dem Unterlassen zu verursachen, dass der andere V verhindert. Zu unterscheiden ist wiederum zwischen − Variante 1, dem Unterlassen zu verhindern, dass der andere V nicht verhindern kann, als einem Unterlassen zu verursachen, dass er V verhindern kann (Fall 4.1) − und Variante 2, dem Unterlassen zu verhindern, dass der andere unterlässt, V zu verhindern, als einem Unterlassen zu verursachen, dass der andere nicht unterlässt, V zu verhindern (Fall 3). Es liegt nahe, die Grenze von Tun und Unterlassen zwischen diesen beiden Konstellationen zu ziehen. Das ist im Hinblick auf das Gebot zu verursachen, dass andere verhindern, richtig und unproblematisch. Das Verursachen des Verhinderns kann wie das Verhindern des Verursachens abgekürzt als ein Verhindern bezeichnet werden. Jedoch ist zweifelhaft, ob das Verhindern des Verhinderns als ein Verursachen (Tun) angesehen werden kann. Es birgt zwei Probleme. Zum einen ist die Annahme eines Verhinderns (auch des einfachen Verhinderns eines Ereignisses oder des Verhinderns des Verursachens) immer mit einer Kausalhypothese darüber verbunden, was sonst passiert wäre. Im Fall des Verhinderns eines Handelns ist diese Hypothese unsicherer als bei der Naturkausalität, da man den anderen Handelnden größere Freiheitsgrade unterstellen kann. Ein grundsätzlicher Einwand gegen die praktische Möglichkeit, auch hier hohe Wahrscheinlichkeiten geltend zu machen, ist das aber nicht. Das zweite Problem ist, dass die Handlungen desje-
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C. Strafrechtsdogmatik
nigen, der unterlässt zu verhindern oder der einfach nicht mehr die Möglichkeit hat zu verhindern, nicht ursächlich für den Erfolg sind. Sollten hingegen die Handlungen desjenigen, der das Nichtverhindern verursacht, ursächlich für den Erfolg sein? 407 Entgegen dem ersten Anschein wäre das nicht widersprüchlich. Wer verursacht, dass ein anderer unterlässt zu verhindern oder gar nicht mehr die Möglichkeit des Verhinderns hat, verursacht den Erfolg durch ein Handeln. Negative Umstände wie das Nichtverhindern oder das Unterlassen des Verhinderns können durchaus als ursächlich für einen Erfolg bezeichnet werden. Die Leugnung der Kausalität des Unterlassens kann richtigerweise nur heißen, dass ein verursachendes Handeln, also ein Verursachen im Sinne der Tatbestände des Strafgesetzes, nicht gegeben ist. Verursachen bezeichnet ein Handeln. Das Unterlassen oder auch das bloße Nichtverhindern können hingegen durchaus als mitursächliche Umstände gelten. 408 Wer diese nur negativ zu beschreibenden Umstände durch ein Handeln verursacht, verursacht mittelbar auch den Erfolg. Ein weiterer Einwand ist noch zu bedenken: nämlich ob man im Hinblick auf Handlungen und Unterlassungen anderer überhaupt vom Verursachen reden kann, ob hier die Kategorie der Kausalität angebracht ist. Dieses Thema taucht somit zum dritten Mal auf, zuvor zur Frage „indeterminierter“ Systeme und der „psychischen Kausalität“. 409 Wiederum kann nur darauf verwiesen werden, dass auch in psychischen und sozialen Zusammenhängen die Annahme eines erfahrungsmäßigen Zusammenhangs zwischen zwei Umständen begründet werden kann. Dass das verstehende Nachvollziehen von Gründen diesen Zusammenhang erst sichtbar macht, ändert nichts am Prinzip, sondern ist ein besonderer Vorteil gegenüber einer rein extern-beobachtenden Erklärung des Vorgangs. Die Retrospektive bietet hier noch die wenigsten Probleme, weil der Sachverhalt abgeschlossen vorliegt und die Abfolge von Handlung A auf Handlung B leicht erklärt werden kann. Dass eine Anstiftung eine Ursache für die Haupttat war, wird in vielen Fällen nicht zweifelhaft sein – noch trivialer: dass die Antwort eine Folge der vorhergehenden Frage ist oder dieser Satz durch die vorhergehenden mitbestimmt wird. Schwierig kann nur die Prognose sein, die für die Frage getroffen werden muss, ob überhaupt die Möglichkeit des Verhinderns bestand, ob die Normwidrigkeit kausal war – oder ob ein anderer tatsächlich verhindert hätte. Wie hätte er gehandelt? Die Antwort hierauf beansprucht nicht Wahrheit, sondern Wahrscheinlichkeit, schon deshalb, weil die Annahme expe407 Mehrheitlich wird diese Frage bejaht. Nachweise zur älteren Diskussion bei Roxin (1969), S. 382, Fn. 11, vgl. insbesondere Armin Kaufmann (1959), S. 201 ff. Gut erörtert Haas (2002), S. 139 – 211 (mit umfassenden Nachweisen) die Konsequenzen der Kausalitätsbegriffe auf die Konstellationen des Verhinderns des Verhinderns. Er selbst verneint wegen seines engeren Kausalitätsbegriffs ein „Bewirken“ in den hier angesprochenen Fällen. 408 Hierzu unter C.III.3.2. ff. 409 Siehe oben C.III.3.3., C.V.1.b)bb)6. Vgl. auch B.II.5.
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rimentell nicht verifizierbar ist. Man wird grundsätzlich der Selbstauskunft des anderen Glauben schenken müssen. Wenn allerdings über die abstrakt-theoretischen Zweifel hinaus keine begründeten konkreten Zweifel daran bestehen, dass der andere den Erfolg höchstwahrscheinlich verhindert hätte, steht auch von dieser Seite der Annahme der Kausalität des Verhinderns des Verhinderns für den Erfolg nichts im Weg. 410 3. Dass diese Annahmen jedenfalls zu wertungsrichtigen Lösungen führen, wird aus den Normzwecken und den gegebenen Strukturparallelen im teleologischen Normenmodell deutlich. Im Hinblick auf das fremde Verursachen oder Verhindern lassen sich folgende erweiterte Verursachungsnormen explizieren: (1) Verursachungsverbote (1.1) Das Verbot zu verursachen, dass ein anderer verursacht. − Dieses Verbot liegt etwa den Verboten der Anstiftung, mittelbaren Täterschaft, Mittäterschaft und der Beihilfe zu einem Begehungsdelikt zugrunde. Es kann aber auch bei Fahrlässigkeitsdelikten relevant sein. (1.2) Das Verbot zu verhindern, dass ein anderer verhindert. Das entspricht dem Verbot zu verursachen, dass ein anderer nicht verhindert, d. h. (1.2.1) dass er entweder unterlässt zu verhindern − Hierauf ist das Verbot der Anstiftung zu einem Unterlassungsdelikt zu beziehen. (1.2.2) oder dass er die Möglichkeit hierzu nicht mehr hat. − Hieraus ergibt sich etwa das Verbot, Rettungsbemühungen anderer zu untergraben. (2) Verhinderungsgebote (2.1) Das Gebot zu verhindern, dass ein anderer verursacht. − Hieraus ergeben sich etwa die Garantenpflicht zur Überwachung gefährlicher oder gefährdeter Personen. (2.2) Das Gebot zu verursachen, dass ein anderer verhindert. − Hierauf beruht die Garantenpflicht zum Herbeiholen von Hilfe (Feuerwehr, Notarzt). Parallel dazu gilt, bezogen auf ein Veränderungsgebot: 411
410 411
Eine alternative Lösung wäre, normgemäßes Handeln des anderen zu unterstellen. Siehe unter B.I.
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C. Strafrechtsdogmatik
(3) Verursachungsgebote (3.1) Das Gebot zu verursachen, dass ein anderer verursacht. (3.2) Das Gebot zu verhindern, dass ein anderer verhindert. (4) Verhinderungsverbote (4.1) Das Verbot zu verhindern, dass ein anderer verursacht. (4.2) Das Verbot zu verursachen, dass ein anderer verhindert. Auf die erweiterten Verursachungsnormen ist im Hinblick auf Erfolgsdelikte das Verbot der Teilnahme an einer fremden Strafat bezogen. Die Teilnahmeformen sind ferner durch je charakteristische Handlungsnormen gekennzeichnet. 412 Diese sind aus den Verursachungsnormen teleologisch abgeleitet und betreffen verursachungsgeeignete Handlungen. So liegt der Anstiftung das generelle Verbot zugrunde, einen anderen zu einem Delikt zu „bestimmen“ (§ 26 StGB). 413 Der tatbestandliche Erfolg ist dem Teilnehmer (Anstifter, Gehilfen) indes nicht zuzurechnen, weil der Haupttäter voll verantwortlich handelt. 414 Die Teilnahme ist demnach ein einfaches Handlungsdelikt. 4. Zur Lösung der hier gestellten Fälle: Das Handeln des A in Fall (1) ist als verbotenes Verursachen (Tun) zu beurteilen und gem. § 212 StGB zu bestrafen. A hat verhindert, dass B verhindern konnte. Ein Verursachen ist aber nur anzunehmen, wenn plausibel gemacht werden kann, dass B sich auch für die Rettung entschieden hätte und wenn eine hohe Rettungswahrscheinlichkeit bestand. 415 Das Auffordern zum Unterlassen des Verhinderns (Fall 2) ist als ein Verursachen, dass der andere das Verhindern unterlässt, ebenfalls ein Verhindern des Verhinderns und somit Verursachen des Erfolgs. Allerdings ist A nicht als vorsätzlicher Begehungstäter zu bestrafen, wenn B frei verantwortlich gehandelt hat. 416 Dann kommt nur die Teilnahme am Unterlassensdelikt in Betracht. A ist als Anstifter strafbar, wenn B als Garant nach §§ 212, 13 oder als Nichtgarant nach § 323c StGB strafbar ist. Wenn B nicht verpflichtet war, konnte auch für A diesbezüglich keine Pflicht gelten. B hat sich frei entschieden, nicht zu helfen. Deshalb ist eine über B vermittelte Zurechnung des Erfolgs an A ausgeschlossen. A kann keinesfalls in höherem Maß verantwortlich gemacht werden als B. 412
Zur normentheoretischen Deutung der Teilnahme Renzikowski (1997), S. 4 f.,
127 ff. 413 414 415 416
Zur Konkretisierung dieses Merkmals etwa Amelung (2006). Zur entsprechenden Zurechnungsregel bereits unter B.V.2.7. Ebenso Roxin (1969), S. 388. Täterschaft eines Begehungsdelikts nimmt Armin Kaufmann (1959), S. 190 ff. an.
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Das gilt auch für die Beihilfe zum Unterlassen, wenn etwa im Postrückholfall derjenige, der den Brief zurückholen möchte, einen anderen damit beauftragt. 417 In den Fällen, in denen B sich nicht frei entschieden hat (etwa im Fall 1), unvorsätzlich oder schuldlos handelte (etwa weil ihn A mit einer Pistole bedrohte), kommt dagegen eine Begehungstäterschaft des A in Betracht. Ob insoweit ein Fall mittelbarer Täterschaft des Unterlassensdelikts (als Begehungsdelikt) oder direkter Täterschaft im Sinne des § 25 Abs. 1 StGB gegeben wäre, kann dahinstehen. Fall (3) ist das Beispiel für ein Unterlassen des Verursachens, dass ein anderer verhindert, in der Variante des Unterlassens zu verhindern, dass der andere unterlässt zu verhindern. A ist nur dann aus §§ 212, 13 StGB zu bestrafen, wenn er selbst Garant ist, sonst gegebenenfalls nur aus § 323c StGB. Im Fall (4.1) ist eine verursachende Handlung des A nicht gegeben. Das Verschweigen ist ein bloßes Unterlassen. Man müsste also eine Pflicht des A annehmen, dem B das Werkzeug anzubieten, um das Verhindern des Erfolgs zu ermöglichen. Ein Verhinderungsgebot zu postulieren, ist nur möglich, wenn A selbst Garant i. S. d. § 13 StGB war. Das gilt auch, wenn A geleugnet hat, ein passendes Werkzeug zu besitzen (Fall 4.2.). Das Verbot des Leugnens liefe auf ein Gebot des Offenbarens hinaus und wäre somit ein gebotsakzessorisches und komplementäres Verbot zu diesem Gebot. Das Gebot des Offenbarens und damit das Verbot des Leugnens können somit nur unter den Voraussetzungen des § 13 StGB eine begehungsgleiche Bestrafung begründen. 418 Andernfalls kommt nur die einfache Unterlassensstrafbarkeit aus § 323c StGB in Betracht. Die Fallfolge (5) schließt an den Fall (1) an. Es steht jeweils wiederum in Frage, ob das Handeln des A ursächlich für den Erfolg war und ob es verboten war. Ursächlich war es, wenn es als Verhindern des Verhinderns interpretiert werden kann. Das ist für die Fälle (5.2) und (5.3) zu bejahen, wenn plausibel gemacht werden kann, dass B andernfalls verhindert hätte. Die Handlungen des A waren angesichts der Notstandssituation verboten, weil seine Verfügungsgewalt über das Werkzeug wegen § 904 BGB beschränkt war. Die Einwirkung des B in diesem Fall eines Notstands zu verbieten, war dem A nicht erlaubt. Erst recht durfte er diese nicht verhindern. Fall (5.1.) betrifft das bloße Verbieten der Werkzeugbenutzung als Sprechhandlung. Auch sie hatte die Wirkung, dass B von dem Vorhaben, das Werk417
Siehe C.V.2.b)3., vgl. Roxin (1969), S. 391 f. Eine vergleichbare Sachlage findet sich beim Ableugnen des Besitzes gegenüber dem pfändungswilligen Gerichtsvollzieher. Eine Strafbarkeit nach § 288 StGB kommt nicht in Betracht, doch muss trotz gegebener Täuschung i. S. d. § 263 StGB der Betrug zum Nachteil des Gläubigers deshalb verneint werden, weil eine Pflicht, wahre Angaben zu machen, gerade nicht postuliert werden kann, vgl. Roxin (1969), S. 403 f. 418
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zeug zu benutzen, Abstand nahm und deshalb den Erfolg nicht mehr effektiv verhindern konnte. Die Handlung verursachte, dass B unterließ zu verhindern. In Frage kommt deshalb ein verbotenes „Tun“. Doch kann die Handlung verboten werden? Das ist zu bejahen, weil das Verweigern der zumutbaren Hilfe schon aus § 323c StGB strafbar und somit verboten ist. § 323c StGB ist indes ein Unterlassensdelikt. Das Verbot, die Benutzung des Werkzeugs zu verbieten, ist ein gebotsakzessorisches und komplementäres Verbot zu dem Gebot, die Benutzung zu erlauben oder selbst tätig zu werden, um den Erfolg zu verhindern. Das Verbieten der Benutzung ist zwar eine Handlung, die geeignet ist zu verhindern, dass der andere verhindert. Das Verbot des Verbietens impliziert aber ein Gebot des Erlaubens. Das geforderte Erlauben wäre ein Verursachen des Verhinderns gewesen. Deshalb ist das Verbot einem Verhinderungsgebot zuzuordnen. Die Verbotsmissachtung kann somit nur unter den Voraussetzungen des § 13 StGB als begehungsgleiches Unterlassungsdelikt aus § 212 StGB bestraft werden. 419 Diese Lösung trifft auf alle ähnlichen Fallkonstellationen zu, in denen der Handelnde bloß die Herausgabe des Gegenstands verweigert. Sobald A in bestimmter Weise handeln soll, um das Verhindern zu ermöglichen, ist eine Garantenstellung erforderlich. Das wurde schon im Fall (4.2) deutlich. Aus der Gewalt über eine Sache allein kann keine Garantenstellung abgeleitet werden. In den Fällen (5.2) und (5.3), die den Entzug eines eigenen Rettungsmittels thematisieren, ist das Verbot der Gegenwehr oder des Zerstörens des Werkzeugs im Gegensatz zu den Fällen (4.2) und (5.1) nicht bloß gebotsakzessorisch und komplementär zu einem Gebot, weil kein Gebot postuliert würde. A hätte den Zugriff des B nur dulden müssen. Das Gebot der Duldung erschöpft sich aber im Verbot des Intervenierens. Deswegen ist das Verbot des Eingreifens selbständig auf ein Verursachungsverbot bezogen. Indem er interveniert, verhindert A, dass B verhindert. Sein Handeln ist ein Tun (Verursachen). 420 Das Dulden als Handeln hat die Besonderheit, dass es seine Bedeutung gerade daraus gewinnt, dass es ein bewusstes Unterlassen des Widerspruchs oder der Gegenwehr, ein Geschehenlassen ist. Das Handeln bestimmt sich aus seiner Unterlassensbedeutung, aus dem Unterlassen, das es zugleich ist. Das Gebot der Gegenwehr kann als Verbot des Duldens formuliert werden und das Gebot des Duldens als Verbot der Gegenwehr. Die Beurteilung ändert sich, wenn das Erdulden selbst eine Leistung, ein „Energieeinsatz“ wäre, wenn eine ganz bestimmte Handlung gefordert wird, die ein Dulden ist. Nur dann kann das Erdulden auch als Verhindern (hier: Verur419
Anders Engisch (1973), S. 180 f., dazu sogleich zum Fall (5.4). Ebenso entscheidet für ähnliche Fälle (Festhalten eines eigenen Rettungsboots bzw. vorausschauendes Durchtrennen eines eigenen Telefonkabels) Roxin (1969), S. 388 ff. mit dem Argument, dass es wegen § 904 BGB nicht darauf ankommen könne, ob das Rettungsmittel im Eigentum des Täters steht (Vergleich zum Fall 1). 420
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sachen fremden Verhinderns) aufgefasst werden. So war es in den Fällen, in denen der Handelnde verhindernd an einer Stelle hätte verharren können, wie in dem Fall, in dem der Kapitän zum Schutz der Prahme an Ort und Stelle hätte bleiben können. 421 Der Unterschied besteht also zwischen bloßem Dulden mit reiner Unterlassensbedeutung und aktivem Abschirmen. Das Gebot, genau an einem Ort zu bleiben, wäre letztlich gleichbedeutend mit dem Gebot, dorthin zu gehen. Der Handelnde war nur schon am Ort. Deswegen kann ein „Dableiben“ aktive Bedeutung gewinnen. In den hier gebildeten Fällen kam es dagegen nur darauf an, dass derjenige, der zum Dulden verpflichtet ist, andere einfach handeln lassen soll. Bei der Entscheidung dieser Fälle kann der von Engisch herausgestellte Gesichtspunkt des Energieeinsatzes im Sinne einer „Leistung“ als Merkmal einer zurechenbaren Handlung behilflich sein. 422 Die Grenze zwischen Unterlassungs- und Begehungsdelikt liegt hier also zwischen dem Gebot an den Verfügungsberechtigten, anderen Rettungswilligen die eigenen Sachen zur Verfügung zu stellen und dem Verbot, den Zugriff anderer auf die eigenen Sachen zu verhindern. In Fällen wie (5.3), in denen der Handelnde sein Werkzeug vorausschauend zerstört, muss wiederum die Wahrscheinlichkeit, dass der andere verhindert hätte, plausibel gemacht werden, weil andernfalls kein Verhindern des Verhinderns angenommen werden kann. A wäre dann nur gem. § 323c StGB strafbar. Auch das Gebot verhinderungsgeeigneten Handelns, das dieser Norm zugrunde liegt, impliziert das (akzessorische) Verbot, sich dieses Handeln unmöglich zu machen. Beide Handlungsnormen sind aus einem Verhinderungsgebot abgeleitet. 423 Wenn die Benutzung des zurückgehaltenen Rettungsmittels nicht die einzige Rettungsmöglichkeit gewesen ist, die der Rettungswillige ergreifen konnte, stellt sich das Problem der Mitverantwortlichkeit des anderen. Dann hat der Täter nicht verursacht, dass der andere nicht mehr verhindern konnte, sondern nur, dass er das Verhindern unterließ. Wenn er vorsätzlich und rechtswidrig unterließ, ist die Erfolgszurechnung an A ausgeschlossen. Wenn er dagegen fahrlässig unterließ, erscheint es möglich, demjenigen den Erfolg zuzurechnen, der das ursprüngliche Rettungsvorhaben vereitelt hat. Auch im Fall (5.4.) kommt auf der beschreibenden Ebene sowohl ein Verhindern fremden Verhinderns (= Verursachen = „Tun“) als auch ein Unterlassen des Verursachens fremden Verhinderns (= Unterlassen des Verhinderns) in Betracht. Der Sorgeberechtigte sagt „Nein“ und hätte „Ja“ sagen sollen. Entscheidend ist auch hier, dass mit dem Verbot, die Zustimmung zu verweigern, notwendig ein Handlungsgebot angenommen würde, welches nicht als verbotsakzessorisch 421 422 423
Siehe C.V.2.a)2. Ähnlich schon im Fall des Stehenbleibens mit einem Auto unter C.V.1.c)4. Vgl. Roxin (1969), S. 390.
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zum Verbot aufgefasst werden kann, weil es nicht bedingt ist durch eine andere Handlung des Handelnden selbst. Verboten ist, „Nein“ zu sagen, und geboten ist, „Ja“ zu sagen. Die Normen liegen komplementär, doch akzessorisch ist das Verbot, nicht das Gebot. Anders, im Sinne des Tuns, löst diesen Fall Engisch, 424 und gerade hier wird die Schwäche eines Ansatzes deutlich, der bei Handlungsweisen, bei denen sowohl das Handeln als auch das Unterlassen rechtlich relevant sind, schon aus dem Handlungsbegriff die Lösung herleiten will. 425 Doch gerade Engischs Energiekriterium lässt diesen Fall ebenfalls ambivalent und zwingt nicht dazu, wie er selbst bemerkt, entweder auf den Energieeinsatz der Genehmigungsverweigerung oder auf den unterlassenen Energieeinsatz der Zustimmung abzustellen. Diese Frage kann erst die Analyse der Handlungsnormen beantworten, die im Fall postuliert werden. Der Fall (5.5.) schließt an den Reanimatorfall an. 426 Weil der Pflegedienstleiter das Vormundschaftsgericht informierte und dieses der Umstellung der Nahrung, die den baldigen Tod der Patientin zur Folge hätte, nicht zustimmte, kommt nur ein versuchtes Delikt in Betracht. Auf der beschreibenden Ebene ist es ein Versuch sowohl des Verursachens als auch des Unterlassens des Verhinderns. Die Aufforderung an das Pflegepersonal wäre, wenn dieses sie erfüllt hätte und Frau S. daraufhin gestorben wäre, ein Verursachen, dass andere den Tod der S. nicht verhindern und damit ein Verursachen des Todes. Es wäre aber zugleich ein Unterlassen zu verursachen, dass andere den Tod der S. verhindern. Das Pflegepersonal arbeitete auf Anweisung des Arztes bzw. prinzipiell nur nach Zustimmung des Sorgeberechtigten. Das durch die Anweisung bzw. Zustimmung gegebene Verursachen des Verhinderns ist abgekürzt ausgedrückt zugleich eigenes Verhindern. Man kann das Handeln des Pflegepersonals dem Arzt bzw. dem S. gegebenenfalls direkt zum Verdienst (als Gebotserfüllung) zurechnen. 427 Somit kommt zunächst mit der Anstiftung sowohl ein Handlungsdelikt als auch im Hinblick auf das eigene Unterlassen des Verhinderns ein Unterlassungsdelikt in Betracht. Entscheidend ist wiederum, dass das Handlungsverbot akzessorischen Charakter hat. Mit dem Verbot der Anweisung an das Pflegepersonal sind zugleich Gebote weiteren Handelns verbunden, nämlich die Behandlung bzw. dahingehende Weisung aufrechtzuerhalten. Deshalb kann gemäß der im Reanimatorfall entwickelten Argumentation das verursachungsgeeignete Handeln im Hinblick auf § 13 StGB nur dann die Erfolgs- und auch die Versuchsstrafbarkeit begründen, wenn eine Garantenpflicht gegeben ist, was hier der Fall ist. 424
Engisch (1972), S. 180. Zu Engischs Konzept siehe C.VI.6. 426 Siehe C.V.2.a)3. f. 427 Die gleiche Problematik wurde schon anlässlich des Reanimatorfalls (unter C.V.2.a)4.) sowie des Postrückholfalls (unter C.V.2.b)3.) thematisiert. 425
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Die Anweisung, die Behandlung abzubrechen, ist deshalb als der Versuch eines Unterlassungsdelikts strafbar. Der BGH nimmt hingegen einen Versuch des Totschlags durch Unterlassen in mittelbarer Täterschaft an. Er bestätigt zunächst die hier vertretene Auffassung zum Reanimatorfall sowohl für das Pflegepersonal und den Arzt als auch für den Sorgeberechtigten: BGHSt 40/257 (261 f.): „Das Pflegepersonal sollte nach der Vorstellung der Angeklagten mithin bis spätestens 15. März 1993 die Zuführung der kalorienreichen Ernährung beenden. Das stellt aus der Sicht des Pflegepersonals ein Unterlassen dar. Denn in der Nichtvornahme der gebotenen Handlung liegt das strafrechtlich relevante Geschehen ... Durch ein derartiges Untätigsein war auch das Verhalten der Angeklagten geprägt: Der Angeklagte S. war aufgrund seiner verwandtschaftlichen Beziehung und zusätzlich als Pfleger, der Angeklagte Dr. T. aufgrund des ärztlichen Behandlungsvertrages verpflichtet, mit Hilfe des Pflegepersonals die Grundversorgung der Frau S. sicherzustellen; daraus ergab sich ihre gemeinsame Garantenstellung gegenüber der Schutzbefohlenen. In dem Verstoß gegen diese Verpflichtung lag der eigentliche Unwert ihres Verhaltens. 428 Nicht die schriftliche Anordnung (also das vorgeschaltete aktive Tun) und noch weniger die Verabreichung von Tee anstelle der notwendigen Sondennahrung waren das Mittel zum Zweck, sondern die Nichtvornahme der gebotenen (künstlichen) Ernährung.“
Im Anschluss daran erörtert der BGH die Frage, ob seitens T. und S. ein Versuch der Anstiftung zum Totschlag oder ein Versuch der mittelbaren Täterschaft eines Unterlassungsdelikts gegeben ist. Er bejaht schließlich den Versuch mittelbarer Täterschaft, weil sich die Angeklagten vorstellten, dass ihr Handeln und deshalb auch das des Pflegepersonals erlaubt wäre. Der zur Annahme mittelbarer Täterschaft vorausgesetzte Defekt des Pflegepersonals habe somit nach der Vorstellung von S. und T. in einem (vermeidbaren) Verbotsirrtum gelegen. Der BGH widerspricht mit dieser Lösung seiner eigenen zutreffenden Feststellung, dass in dem Verstoß gegen die Pflicht, die Versorgung der Frau S. sicherzustellen, „der eigentliche Unwert“ des Verhaltens lag. Die mittelbare Täterschaft eines Unterlassungsdelikts ist ein Begehungsdelikt. Sie setzt ein Verursachen, dass ein anderer unterlässt zu verhindern und damit ein „Tun“ voraus. Ein Unterlassungsdelikt hingegen wäre die mittelbare Täterschaft durch (eigenes) Unterlassen. Sie kommt in Betracht, wenn der Handelnde unterlässt, fremdes Verursachen zu verhindern, so wenn ein Schrankenwärter absichtlich die Schranke nicht herunterlässt, damit der Zugführer ein Unglück verursacht. Dann ist es jedoch näher liegend, ein unmittelbares Unterlassungsdelikt anzunehmen. Eventuell meint der BGH aber eine „mittelbare Täterschaft eines Unterlassungsdelikts durch Unterlassen.“ Doch selbst wenn für einen verpflichteten Arzt eine Anstiftung zum Unterlassungsdelikt des Pflegepersonals anzunehmen wäre, wäre das eigene Un428
keit.“
Hinter dieser Formulierung steht die Formel vom „Schwerpunkt der Vorwerfbar-
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terlassungsdelikt vorrangig. Wenn nämlich das Pflegepersonal ganz ausfallen würde, müsste der Arzt selbst für die ausreichende Ernährung der Patientin sorgen. Fall (6) zeigt einen weiteren Aspekt des Reanimatorfalls. Der eingreifende Dritte verhindert, dass der Arzt weiterhin den Tod des Patienten verhindert. Dieses Verhindern des Verhinderns ist, noch eindeutiger als in den vorhergehenden Fällen, ein Verursachen des Todes. Weil das Abschalten des Apparats eine verursachungsgeeignete Handlung ist, ist es verboten. Ein Gebot korrespondiert für denjenigen nicht, dem die Behandlung nicht zugerechnet werden kann. Das Verbot ist somit nicht wie für den behandelnden Arzt gebotsakzessorisch, sondern es ist selbständig auf ein Verursachungsverbot bezogen. § 212 StGB ist direkt anwendbar. A ist wegen eines Begehungsdelikts strafbar. Wenn allerdings die Garantenpflicht des Arztes entfällt und das Behandlungsgebot wegen eines (mutmaßlich) willenswidrigen Eingriffs in den Körper in ein Verbot der Weiterbehandlung umschlägt (§ 223 StGB), ist A berechtigt, wenn er selbst Garant ist, den Apparat abzuschalten, um das Fortdauern der Körperverletzung zu verhindern. In diesem Fall ist eine Normenkollision gegeben, die wertungsstimmig nur zugunsten des Gebots, den Apparat abzuschalten, aufgelöst werden kann. Ein Gebot des Abschaltens kann (unter dem Vorbehalt der Zumutbarkeit) etwa für den Ehepartner oder Betreuer des Patienten in Betracht kommen.
4. Normen im Hinblick auf fremdes Verursachen 1. Fremdes Verursachen kann ein Handelnder entweder selbst verursachen oder unterlassen zu verhindern. Im ersten Fall kommt ein Begehungs- oder Handlungsdelikt, im zweiten ein Unterlassungs- oder einfaches Unterlassensdelikt in Betracht. Die §§ 25 ff. StGB regeln, in welcher Weise das (Mit-)Verursachen fremden Verursachens strafbar ist. Wenn der Haupttäter vorsätzlich und rechtswidrig handelte, kommt Anstiftung oder Beihilfe in Betracht, bei rechtswidrig-schuldlosem Handeln des Haupttäters darüber hinaus mittelbare Täterschaft. Wenn der Haupttäter fahrlässig oder nicht normwidrig handelte, greifen die §§ 26 f. StGB nicht. In diesen Fällen kommt (vorsätzlich) mittelbare Täterschaft oder ein fahrlässiges Begehungsdelikt in Frage. Andererseits steht beim Unterlassen des Verhinderns fremden Verursachens sowohl eine Beihilfe (durch Unterlassen) zum vorsätzlichen Begehungsdelikt als auch ein eigenständiges (vorsätzliches oder fahrlässiges) Unterlassungsdelikt im Raum. Vorliegend sind nur einige Sonderfälle zu behandeln, die im Hinblick auf die Abgrenzung des Begehungs- vom Unterlassungsdelikt interessant sind. 2. Folgenden Fall hat Haas gebildet: A steht mit seinem Wagen an einem Stauende und sieht, dass B ungebremst auf den Stau zufährt. A schafft es gerade
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noch, zur Seite zu fahren. B fährt auf das Auto des C auf. Dieser wird verletzt. 429 Der Fall hat die Besonderheit, dass A durch das Wegfahren verursacht, dass B die Verletzung des C verursacht. Somit verursacht auch A mittelbar den Schaden. Wenn B fahrlässig handelt, kommt sogar mittelbare Täterschaft des A in Betracht. Gleichwohl kann ein Begehungsdelikt nicht angenommen werden. Würde man das Verbot wegzufahren postulieren, hieße das, dem A zu gebieten, dass er stehen bleibt. Das Stehenbleiben wäre eine Handlung, deren Wirkung wäre, dass A verhindert, dass B den Schaden verursacht. Es wäre nicht bloß ein „Erdulden“ als ein Unterlassen der Gegenwehr, die ja gar nicht mehr möglich wäre, sondern ein aktives Abschirmen. 430 Das Wegfahren ist somit zugleich als Verursachen (dass B verursacht) und als Unterlassen des Verhinderns (dass B verursacht) zu deuten. Weil mit dem Verbot des Wegfahrens notwendig ein Handlungsgebot postuliert würde, ist § 13 StGB einschlägig, so dass der Rückgriff auf das Tun versperrt ist. Das Verbot des Wegfahrens wäre ein gebotsakzessorisches und komplementäres Verbot zum Gebot des Stehenbleibens. Wegen der fehlenden Garantenstellung des A sind diese Normen indes nicht anzunehmen. 3. Weil im Hinblick auf das Verursachen fremden, vorsätzlich-rechtswidrigen und schuldhaften Verursachens eine Erfolgszurechnung ausgeschlossen ist, ist das Verhindern, dass ein anderer verhindert, dass ein Dritter vorsätzlichschuldhaft verursacht, nach den Teilnahmeregeln zu beurteilen. So wäre etwa im Postrückholfall eine Beihilfe anzunehmen, wenn sich der Absender den Brief nach Empfang bei der Polizei herausgeben ließe. 431 Einen anderen Fall des Verursachens fremden vorsätzlichen Verursachens, der im Hinblick auf die Abgrenzung zwischen der Beihilfe als einem Handlungsdelikt von einem straflosen Unterlassen des Verhinderns fraglich ist, hat Roxin gebildet: „A ist Mitwisser eines Diebstahlsplans und stellt dem Täter eine Benachrichtigung des Eigentümers und damit die Verhinderung der Tat in Aussicht. Schließlich lässt er sich aber doch durch Geld und gute Worte die Zusicherung abringen, dass er vor wie nach der Tat von einer Anzeige absehen werde.“ 432 Roxin nimmt auch in diesem Fall ein „Unterlassen durch Tun“ an, das wegen fehlender Anzeigepflicht nach § 138 StGB nicht strafbar ist. Ausschlaggebend sei, dass das Widerrufen des Anzeigewillens weniger schwer wiege als die Rücknahme eines eigenen Verhinderungshandelns, das etwa im Postrückholfall straflos war. Das Ergebnis ist richtig, der Vergleich vermag aber nicht zu überzeugen. Zwar ist auch hier ein Verursachen des Verursachens, also ein Tun gegeben, doch auf dem Weg einer direkten Einflussnahme auf den Täter. Nach der hier entwickelten Lösung kann nur in Frage stehen, ob mit dem Verbot der Zusage, den Plan nicht zu verraten, 429 430 431 432
Haas (2002), S. 192. Vgl. C.V.1.c)4., C.V.2.a)2. und C.V.3.4., Fall (5.2 / 3). Vgl. C.V.2.b)3. Roxin (1969), S. 404 f.
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C. Strafrechtsdogmatik
notwendig das Gebot einer verhindernden Handlung postuliert würde. Das ist der Fall. Ein Gebot der Anzeige wäre zwar nicht notwendig impliziert, wohl aber das Gebot, sich nicht festzulegen und die Frage offen zu lassen. Dieses Handeln wäre geeignet zu verhindern, dass der andere den Diebstahl begeht. Ein Verhinderungsgebot lässt sich für Nichtgaranten aber nicht aufstellen. 4. Zuletzt sei das Thema der funktionalen Zuständigkeit für die Gebotsbeachtung in arbeitsteiligen Organisationen wieder aufgenommen. Der Fall eines Schrankenwärters wurde bereits erwähnt. 433 Das Gebot, die Schranken zu schließen, ist für die Bahn ein akzessorisches Gebot. Es bezeichnet ein Handeln, das geeignet ist zu verhindern, dass der eigene Betrieb Schäden verursacht. Die Gebotsbeachtung obliegt dem Schrankenwärter. Für diesen wird das Gebot zum selbständigen Gebot einer Handlung, die geeignet ist zu verhindern, dass andere Handelnde (etwa die Lokführer) Schäden verursachen. Weil der Schrankenwärter Garant ist, wäre im Fall eines Unfalls, der durch eine Gebotsmissachtung bedingt ist, ein Unterlassungsdelikt gem. § 13 StGB gegeben. Auch akzessorische Verbote gelten für den Bahnwärter, etwa das Verbot, sich zu betrinken. 434 Dieses Verbot ist akzessorisch, weil es ein Handeln betrifft, welches das gleichzeitig oder anschließend gebotene Handeln unmöglich machen kann. Es liegt komplementär zum Gebot dieses Handelns, weil es seinem Sinn nach notwendig darauf verweist. Der Verbotsverstoß ist im Gebotsverstoß mit berücksichtigt. Auch der anfänglich behandelte Ziegenhaarfall kann Aspekte der Pflichtenverteilung in arbeitsteiligen Organisationen verdeutlichen. 435 Der Unternehmer, der die Anweisung zum Aushändigen der Felle gab, ohne zuvor deren Desinfektion zu besorgen und der damit das fahrlässige Verursachen eines anderen fahrlässig verursacht hat, ist Adressat eines akzessorischen Gebots. Für den Arbeiter hingegen, dem zum Beispiel am Fließband die Aufgabe des Desinfizierens übertragen war, wird das Gebot verselbständigt. Er macht sich gegebenenfalls wegen eines Unterlassungsdelikts strafbar. 436 Das Gebot betrifft für ihn ein Handeln, das verhindern kann, dass andere Arbeiter, welche die Felle auf das Fließband gelegt haben, verursachen. Es zeigt sich auch, dass in arbeitsteiligen Organisationen die Frage, ob ein Begehungs- oder Unterlassungsdelikt anzunehmen ist, von den Zufälligkeiten der Einrichtung des Betriebs abhängen kann. 437 Wenn der Arbeiter die desinfizierten Felle an einer bestimmten Stelle ablegen soll und stattdessen nicht desinfizierte Felle ablegt, ist er wegen eines Begehungsdelikts strafbar, weil das Ablegen ein verbotenes und verursachendes Handeln ist. Die Zufälligkeit der Abgrenzung wird wertungsmäßig dadurch ausgeglichen, dass 433 434 435 436 437
Siehe bereits B.III.2.1. und zum Reanimatorfall C.V.2.a)4. Siehe bereits C.V.2.c)3. Siehe C.V.1.a). Vgl. Philipps (1974), S. 145 ff. Vgl. Philipps (1974), S. 140 ff.
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eine Garantenstellung zur Gefahrabwendung jedenfalls anzunehmen ist. Die präzise Abgrenzung des Begehungs- vom Unterlassungsdelikt bleibt aber möglich und sinnvoll.
VI. Theoriegeschichte und -vergleich 1. Die Grenzziehung zwischen dem Begehungs- und Unterlassungsdelikt in Zweifelsfällen lässt sich unter Einbeziehung normentheoretischer Überlegungen nach kohärenten Kriterien durchführen. Diese Kriterien erklären sich vor dem Hintergrund der allgemein normentheoretischen Erwägungen zu teleologischen Normbeziehungen. Wollte man der hier entwickelten Abgrenzungsmethode einen Namen geben, würde sie wohl unter dem Titel „Theorie der akzessorischen Normen“ firmieren. Die wichtigsten Theorien, die bisher zur Abgrenzung vorgeschlagen wurden, sollen abschließend vorgestellt und verglichen werden. Eine Theorieeinteilung erscheint zu diesem Zweck eher irreführend als nutzbringend. Selbst die Gegenüberstellung von Theorien, die beschreibende Kriterien bevorzugen und Theorien, die bewertende Kriterien aufstellen, ist eine Simplifizierung, die zu Missverständnissen führt. Zwei Fragen sind genau voneinander zu trennen. Die erste ist die nach der begrifflichen Fassung von „Tun“ und „Unterlassen“. Das Begriffssystem des jeweiligen Autors ist zu explizieren. Die Analyse wird hier weitgehende Konvergenzen aufzeigen. Tun ist „Verursachen“ im Gegensatz zum „Unterlassen des Verhinderns“. Die andere Frage ist die der Abgrenzung des Begehungs- vom Unterlassungsdelikt. Hier wird sich zeigen, dass es bereits verschiedene Ansätze gibt, normative Kriterien einzubeziehen. 2. Die Diskussion um die Abgrenzung des Begehungs- vom Unterlassungsdelikt war lange davon bestimmt, die „unechten Unterlassungsdelikte“ als Begehungsdelikte erweisen zu können („Kommissivdelikte per omissionem“). 438 Darunter verstand man vor allem Fälle, in denen der Handelnde den Erfolg zwar verursacht hat, das verursachende Handeln aber nicht normwidrig war und die Normwidrigkeit erst in der anschließenden Missachtung eines Handlungsgebots bestand. Hintergrund war, dass eine § 13 StGB vergleichbare Regel fehlte. Diese Diskussion konnte keine gesetzeskonforme und widerspruchsfreie Lösung erbringen. In ihr findet sich aber der Ursprung der Garantenlehre. 439 Weiterhin hat Merkel darauf aufmerksam gemacht, dass es durchaus möglich ist, aus Verursachungsverboten Handlungsgebote und aus Verhinderungsgeboten Handlungsverbote abzuleiten. 440 So beschreibt er Gebote von Handlungen, 438
Siehe schon unter C.III.2. Der Begriff des Garanten findet sich zuerst bei Binding (1914), S. 553 f., 561, dann bei Nagler (1938), S. 59. 440 Merkel (1912), S. 51 f. 439
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die „ergänzende Bedingungen der Rechtmäßigkeit des Verhaltens“ sind. 441 Er überspielt aber, dass es für die Abgrenzung des Begehungs- vom Unterlassungsdelikt gerade entscheidend ist, ob aus der Gebotsmissachtung der Verstoß gegen ein Handlungsverbot folgt. Wenn das der Fall ist, hat es durchaus Sinn, den Begriff des unechten Unterlassungsdelikts als eines unterlassensimplizierenden Begehungsdelikts zu verwenden. Umgekehrt kann man auch von „unechten Begehungsdelikten“ oder von der „Unterlassung durch Begehung“ sprechen, wenn in entsprechender Weise der Verstoß gegen ein abgeleitetes Verbot nicht gesondert in Anschlag gebracht wird, sondern im Unterlassungsdelikt aufgeht. 442 3. Die wohl einflussreichste Konzeption zur strafrechtlichen Begriffsbildung, auf welche die folgenden Konzeptionen zumeist bewusst bezogen sind, hat v. Liszt in seinem Strafrechtslehrbuch entwickelt. 443 Der Grundbegriff in v. Liszts Straftatsystem ist die „Handlung“. Die strafrechtlich relevante Handlung setzt eine Willensbetätigung (willkürliches Verhalten) und einen Erfolg voraus, an dessen Eintritt das StGB Strafe knüpft (§ 28 I-III). „Handlung“ ist der Oberbegriff zu „Tun“ und „Unterlassen“ (§ 28 III 1). Diese unterscheiden sich nach der Art der Relation von Verhalten und Erfolg. Tun ist das Verursachen des tatbestandlichen Erfolgs durch ein willkürliches Verhalten in Form einer Körperbewegung (§ 29 I, II). 444 Unterlassen ist das Unterlassen des Verhinderns des Erfolgs, indem sich der Handelnde willkürlich verhält (§ 30 I). 445 Eine Kausalität des Unterlassens des Verhinderns nimmt v. Liszt nicht an (§ 30 III). 446 Diese Frage ist für ihn nicht entscheidend, weil in diesen Fällen jedenfalls keine verursachende Körperbewegung gegeben ist. 447 Handlung (als Oberbegriff), Tun (kausale Handlung = Verursachen), Unterlassen des Verhinderns, willkürliches Verhalten und Körperbewegung werden als beschreibende (vornormative) Begriffe eingeführt, auch wenn sich der bezeichnete Erfolg am Strafgesetz orientiert. Diese Konzeption unterscheidet sich 441
Merkel (1912), S. 133 ff. So v. Overbeck (1922), S. 319 ff. (320). 443 v. Liszt (1900). Im Text sind die Kapitelparagraphen des Lehrbuchs angegeben. 444 Kargl (1999), S. 462 weist darauf hin, dass das Kriterium der Willkürlichkeit letztlich nicht „naturalistisch“ ist und gar nicht so fern der „Finalität“ steht. Rödig (1986), S. 60 erachtet es als nicht als bereits im Grundsatz verfehlt, die Fragen nach dem Ob einer Handlung und ggf. nach der Erfolgsverursachung von der Finalität (Vorsatz) zu trennen. 445 Die Unterscheidung von Tun und Unterlassen wie hier, C.III.1. Der Begriff des (willkürlichen) Verhaltens (i.w. S.) ist bei v. Liszt somit wohl ein Oberbegriff zum (hier so genannten) „Handeln“ (= „Verhalten in Form einer Körperbewegung“) und dem Unterlassen. Hier insoweit ablehnend C.II.2.1. 446 Anders in älteren Auflagen. 447 Deswegen das viel zitierte Wort vom unfruchtbarsten Streit, den die strafrechtliche Wissenschaft je geführt hat, (1900), § 30 III, vgl. oben C.III.2.4. Kritisch zu v. Liszts Begriffssystem Schmidhäuser (1989 b), S. 137 f. 442
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grundsätzlich von den idealistischen Systemen des 19. Jahrhunderts, welche die Begriffe von Handlung, Zurechnung und Verbrechen weitgehend synonym setzten. 448 Hierdurch entstand das Problem, wie ein bloß beschreibender Begriff als Grundbegriff der Strafrechtswissenschaft fungieren soll. 449 Den Begriff der Handlung als Oberbegriff zu Tun und Unterlassen einzusetzen, war üblich. 450 Man kannte einen allgemeinen Begriff der Handlung im weiten Sinn, der das Unterlassen umfassen sollte und einen Begriff der Handlung im positiven Sinn, welcher der Unterlassung entgegengesetzt wurde. 451 Zumeist wurde wie selbstverständlich der Erfolg in den Begriff der Handlung einbezogen („kausaler Handlungsbegriff“ i. e. S.). 452 Somit resultierten drei mögliche Handlungsbegriffe: (1) der Systemgrundbegriff „Handeln“, der bei v. Liszt das Tun (Verursachen) und das Unterlassen des Verhinderns umfasst, (2) der Begriff des Handelns als Verursachen (Tun) und (3) der Begriff des Handelns als einfaches Verhalten („willkürliches Körperverhalten“). 453 Im Hinblick auf die Abgrenzung des Begehungs- vom Unterlassungsdelikt wird oft behauptet, dass v. Liszt streng nach dem Kriterium der (verursachenden) Körperbewegung vorgegangen sei. 454 Das ist wohl eher eine Unterstellung, weil er die problematischen Fälle zur Abgrenzung gar nicht behandelt hat. Diese kamen erst seit den 1920er Jahren in den Blick, ungefähr in Folge des Ziegenhaarfalls. 455 Vor dem Hintergrund seines Begriffssystems könnte man v. Liszt eher der „Verursachungstheorie“ zurechnen, welche das Kriterium der Kausalität für ausschlaggebend erachtet. Das Kriterium der Körperbewegung erfreut sich noch heute als Definitionsmerkmal des einfachen Handelns großer Beliebt448 Darstellung und Kritik der älteren Lehre bei Radbruch (1904), S. 84 –109 (2. / III.), Welzel (1969), S. 38 f., Otter (1973), S. 30 ff., 72 ff., 88 ff. 449 Kritik unter C.IV.2.2. 450 Kritik unter C.II.2. und C.III.3. Gegen die Möglichkeit, einen Oberbegriff zu bilden, nachdrücklich Radbruch (1903), S. 130 ff. (2.V.). 451 Radbruch (1903), S. 130 (2. / V.). Kritisch etwa Welzel (1969), S. 200, Otter (1973), S. 36. Zum Hintergrund in der damaligen Gesetzesterminologie Schmidhäuser (1989 b), S. 134 f. 452 Etwa Radbruch (1903), S. 74 (2. / I.); v. Liszt (1900), § 28, Fn. 1: Es sei nur eine Frage der Terminologie. Anders aber Beling, der die Handlungsfolgen nicht in seinen Begriff der Handlung aufnahm und Handlung als gewollte Körperbewegung definierte. 453 Die Definition der Basishandlung als Körperbewegung war ebenfalls verbreitet, z. B. Kelsen (1911), S. 72 ff. Kritik am Kriterium der Willkürlichkeit und dem Willen als Kernmerkmal des Handlungsbegriffs bei Kargl (1991), S. 533 f., der für die Einbeziehung einer kognitiven Komponente argumentiert. 454 Z. B. zuletzt Stoffers (1992), S. 70 f., Schneider (1997), S. 55 f. Kargl (1999), S. 463 f., Brammsen (2002), S. 200. Berichtigend Haas (2002), S. 119. 455 RGSt 63/211, siehe unter C.V.1.a). Vgl. die Bemerkung Engischs (1973), S. 184. Ein Abgrenzungsproblem stellt der Fall Nr. 10 bei v. Liszt / Rosenfeld (1929), S. 5 (ohne Lösung).
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heit. 456 Es ist zur Definition indes unwesentlich und überflüssig, weil es allein den mechanischen Ablauf von Handlungen erfassen kann, der für die meisten Handlungen völlig sekundär und nichts sagend ist. Es schließt auch ein Handeln aus, das mit Körperruhe verbunden ist. 457 Weiterhin kann es die Zurechnung von Leistungen eines technischen Apparats nicht erfassen. 458 4. Die kausale Handlungslehre v. Liszts fand ihren schärfsten Kritiker in Welzel. Die Kritik setzt an dem Begriff „Tun“ an (= Verursachen durch eine Körperbewegung, Begriff [2] bei v. Liszt). Welzels zentrale Erkenntnis war, dass der Handlungsbegriff nicht, wie vor allem anfänglich bei v. Liszt, auf mechanischkausale Aspekte reduziert werden kann. Das Handeln (als Verursachen) ist vielmehr durch die finale, zwecksetzende und steuernde Determination des kausalen Geschehens durch den Handelnden gekennzeichnet. Welzel betont somit gegenüber der positivistischen Auffassung im Anschluss an den Idealismus das geistigsinnhafte Moment des Handelns. 459 Als Autor, der sich oft auf die „Ontologie“ (Seinsgesetzlichkeit) beruft, kann man aber auch Welzel zur „naturalistischen Richtung“ der Strafrechtsdogmatik zurechnen. 460 Der finale Handlungsbegriff definiert die Handlung als „Zwecktätigkeit“. 461 Die Distanz zwischen dem elementaren Handeln und den verursachten Veränderungen überbrückt er dadurch, dass er diese als bezweckt ausweist. Er impliziert kausal verursachte Erfolge, jedoch nur, soweit sie vom Handelnden bezweckt waren. Wenn der bezweckte Erfolg nicht erreicht wird, ist nur ein Versuch der finalen Handlung gegeben. 462 Welzel kennt deswegen auch einen Begriff, der dem Begriff (3) äquivalent ist (willkürliche Körperbewegung), 463 und darüber hinaus einen Begriff, der dem Begriff (1) äquivalent ist. Das ist der vage ge456 Herzberg (1972), S. 69, 91, 183, Schneider (1997), S. 142 ff., 158, Haas (2002), S. 119 ff. (mit Verweis auf „Basishandlungen“), Biewald (2003), S. 63 (unter Hinzunahme von „Lautäußerungen“). 457 Siehe unter B.V.1.3. und C.V.4.2. mit weiteren Verweisen. 458 Siehe etwa den Reanimatorfall unter V.2.c)3. Signifikant sind auch die Schwierigkeiten Herzbergs (1972), S. 278 in einem anderen Fall (Einlassen von Wasser in ein Schwimmbecken und Unterlassen des gebotenen Abstellens). 459 Welzel (1935). Zur Kritik des Ausblendens des spezifisch Sozialen durch den kausalen Handlungsbegriff schon Radbruch (1930), S. 161 f. Vgl. auch Engisch (1944), S. 147 ff. Vertiefend zum Gegensatz von positivistischer und idealistischer Sicht auf Handeln und Gesellschaft Amelung (1972), S. 350 ff., Kargl (1991), S. 488 –510. In diesem Zusammenhang kann Talcott Parsons nicht unerwähnt bleiben, der in seiner Handlungstheorie (v. a. in „The Structure of Social Action“ von 1937), die er zur selben Zeit wie Welzel entwickelte, die positivistische und idealistische Tradition zu vereinen beabsichtigte. Hierzu zusammenfassend Kargl (1992), S. 282 ff., Joas / Knöbl (2004), S. 43 –71. 460 Vgl. etwa Haas (2002), S. 17 ff. 461 Welzel (1961), S. 1 ff., 7 ff., (1969), S. 33 ff., 39 ff. 462 Welzel (1961), S. 3, (1969), S. 35. 463 Welzel (1961), S. 3, vgl. auch (1969), S. 41 f.
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haltene Begriff des Verhaltens, der die finale Handlung und die Unterlassung einer finalen (also ebenfalls kausalen, nämlich verhindernden) Handlung umfasst, 464 aber wohl nicht mehr als Oberbegriff konzipiert ist. 465 Darüber hinaus muss Welzel auch einen Begriff des bloßen, nichtintentionalen Verursachens (quasi 2) in sein Konzept aufnehmen, der jedoch nicht als Handlungsbegriff interpretierbar ist, sondern lediglich Wirkungen auf eine (anderweit finale) Handlung zuordnet. 466 Für das Problem der Abgrenzung des Begehungs- vom Unterlassungsdelikt ist folgende Stelle aus Welzels Lehrbuch zentral: „Hat der Täter den tatbestandsmäßigen Erfolg vorsätzlich oder fahrlässig verursacht, ist ein Begehungsdelikt verwirklicht. Fehlt dagegen dem deliktischen Verhalten 467 die Kausalität für den Erfolg, kommt nur ein Unterlassungsdelikt in Betracht ... Allerdings kann neben dem Begehungsdelikt ein zeitlich voran- oder nachgehendes Unterlassen der möglichen Abwendung des verursachten Erfolges den Tatbestand eines Unterlassungsdeliktes erfüllen. Diese Frage betrifft allerdings nicht die Unterscheidung zwischen Handlung und Unterlassung, sondern wirft nur Fragen der Garantenstellung und der Konkurrenz von Begehungs- und Unterlassungsdelikt auf.“ 468
Diese Lehre ist zutreffend, bleibt aber beim Abgrenzungsproblem letztlich unbestimmt. Welzel wird vielfach so verstanden, als ob allein die Kausalität ausschlaggebend sei, doch das ist ungenau. 469 Richtig ist, dass für ihn eine „Handlung“ Kausalität für einen Erfolg voraussetzt. Dass er das Unterlassen des Verhinderns für nicht kausal hält, ist für seine Abgrenzungslehre nicht wesentlich. 470 Mit der Feststellung von Kausalität ist jedenfalls die weitere Deliktsprü464
Vgl. Armin Kaufmann (1959), S. 26 f. Vgl. oben C.II.2.1. 466 Vgl. (1938), S. 503: „Der Unterschied zwischen der Handlung als Sinnausdruck und der ‚Handlung‘ als bloßer vermeidbarer Verursachung ... verbietet, die finale Handlung und die vermeidbare Verursachung in ihrer objektiven Struktur irgendwie gleichzustellen.“ Vgl. auch S. 518 f. 467 „Verhalten“ steht hier als Oberbegriff zur (verursachenden) „Handlung“ und zur Unterlassung einer (verursachenden = verhindernden) Handlung. 468 Welzel (1969), S. 203. Vgl. auch Armin Kaufmann (1959), S. 63, 201 f., 203. Weitere Vertreter des Kausalitätskriteriums sind Spendel (1961), S. 194 (Vorrang des Verursachens), Arthur Kaufmann / Hassemer (1964), S. 156, Samson (1974), S. 587 ff. 469 Diese Zuordnung bei Stoffers (1992), S. 85 ff., 119 ff., 190 ff., Schneider (1997), S. 65 ff., Haas (2002), S. 124 ff. Weitere Vertreter des Kausalitätskriteriums sind Spendel (1961), S. 194 (Vorrang des Verursachens), Arthur Kaufmann / Hassemer (1964), S. 156, Samson (1974), S. 587 ff. 470 Entgegen Engisch (1977), S. 325, Schneider (1997), S. 126 und Haas (2002), S. 125 f., 171 f. ist aus der Bejahung der Kausalität des Unterlassens ein Argument gegen die „Kausalitätstheorie“ nicht abzuleiten, weil diese nur die Kausalität eines Handelns meint. 465
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fung nicht präjudiziert. Es kommt entscheidend auf Vorsatz oder Fahrlässigkeit der Handlung im Hinblick auf den Erfolg an. Abstrakt ausgedrückt ist die erste wichtige Frage also, ob die (kausale) Handlung „deliktisch“ = verboten ist. Hier wäre etwa im Hinblick auf den Reanimatorfall zu präzisieren, wann ein Verbot angenommen werden kann und wann nicht. Wenn eine deliktische „Handlung“ mit einem deliktischen = gebotswidrigen Unterlassen des Verhinderns einhergeht, sucht Welzel die Lösung auf der Konkurrenzebene. 471 Nicht deutlich wird, welche Kriterien dann ausschlaggebend sein sollen. 5. Aus der Kritik an v. Liszt erwuchsen auch Handlungstheorie und Abgrenzungskriterium von Schmidt. 472 „Tun“ definiert er wie v. Liszt als Verursachen und „Unterlassen“ als Unterlassen der Erfolgsabwendung. Wenn beides gegeben ist, entscheidet der „soziale Handlungssinn“ über die Abgrenzung von Begehung und Unterlassung. 473 Dieses Kriterium ermöglicht, auch dann auf das Unterlassen des Verhinderns abzustellen, wenn verursachende Körperbewegungen gegeben sind. So liegt nach Schmidt der Handlungssinn bei einem nicht erfolgreichen ärztlichen Heileingriff entsprechend dem Zweck des Eingriffs (Verhinderung) nicht in der Erfolgsverursachung, sondern im Nichtabwenden des Erfolgs. 474 Schmidts Intention war, das ärztliche Handeln in diesem Fall nicht als „tatbestandlich“ ansehen zu müssen, wenn nicht eine Pflicht verletzt wurde. Das war ihm nur durch die Annahme eines Unterlassungsdelikts möglich, weil er die Frage der Fahrlässigkeit (und damit Normwidrigkeit) beim „Tun“ erst in der Schuld behandelte. 475 Die Genese seiner Abgrenzungstheorie liegt damit in einer Art Problemverschiebung. Das Abgrenzungskriterium des sozialen Handlungssinns steht in unmittelbarem Zusammenhang mit der von Schmidt erfundenen „sozialen Handlungslehre“. 471
Für die Lösung auf der Tatbestandsebene unter C.V.1.a). Darstellung und Kritik bei Engisch (1939), S. 418 ff., (1973), S. 169, Welp (1968), S. 104 ff., Stoffers (1992), S. 82 ff., 103 f., 143 ff., Schneider (1997), S. 77 f., 131, Brammsen (2002), S. 196 f., Haas (2002), S. 35 ff., 115 ff. Zustimmend Bloy (1978), S. 611 ff., Tag (2003), S. 47 f. 473 Schmidt (1939), S. 78 ff. 474 Schmidt (1939), S. 78 ff., (1969), S. 345 ff. Insoweit kommt es ihm gar nicht auf die Möglichkeit oder Wahrscheinlichkeit der Erfolgsabwendung an, wie in seiner Polemik gegen das Reichsgericht (1939 S. 86 ff.) deutlich wird. Das Nichtabwenden des Erfolgs ist für ihn unabhängig von der Möglichkeit des Verhinderns ursächlich (vgl. schon oben C.III.3.3.). Zur Strafbarkeit genügt ihm die bloße Missachtung eines Handlungsgebots, ohne dass es auf die „Kausalität der Normwidrigkeit“ für den Erfolg ankommt, Schmidt (1939), S. 80 ff., (1969), S. 347. Kritisch hierzu Engisch (1939), S. 425 ff. Zwei weitere Argumente: (1) Widerspruch gegen das ultra-posse-Prinzip. (2) Das Erfordernis der Vermeidbarkeit des Erfolgs lässt sich auch aus dem Gleichstellungserfordernis des § 13 StGB herleiten. 475 Vgl. Schmidt (1939), S. 171. Zuerst abweichend Engisch. Vgl. unter B.V.3. Zur weiteren Entwicklung Duttge (2001), S. 64 ff. 472
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Handlungen definiert Schmidt als „Verhaltensweisen mit sozialer Sinnhaftigkeit, wie sie die Erfahrung im sozialen Leben uns verstehen lehrt.“ 476 Das Merkmal des Handlungssinns bedeutet eine bewusste Abkehr von der naturalistischen Beschreibung der Handlung als Körperbewegung und berücksichtigt die soziale Bedeutung dieser Bewegung. 477 „Handlung“ bleibt dabei in der Tradition v. Liszts der Oberbegriff zu Tun und Unterlassen. 478 Über den sozialen Handlungssinn und somit über das Vorliegen und die Art einer „Handlung“ entscheidet einerseits der Zweck, den der Handelnde verfolgt (z. B. beim ärztlichen Heileingriff) und andererseits ein (juristischer) Beobachter, der etwa auch fahrlässiges Verursachen als Handlung zurechnen kann, so zum Beispiel die Autoraserei mit tödlicher Folge. 479 Zur Kritik ist anzuführen, dass der soziale Handlungssinn nicht zutreffend erklärt, warum in den Fällen des nicht erfolgreichen ärztlichen Eingriffs nicht an das Tun (Verursachen) angeknüpft wird, nämlich deshalb, weil bei gegebener Einwilligung oder beim anschließenden Unterlassen gebotener Vorsichtsmaßnahmen das verursachende Handeln ex ante nicht als verboten gelten kann und deswegen auch nicht rechtswidrig ist. 480 Das Kriterium des sozialen Handlungssinns vermengt hingegen beschreibende und bewertende Aspekte. Es installiert eine Vorprüfung, ob die „Handlung“ im Verursachen oder Nichtverhindern liegt. In dieser Vorprüfung werden in freier Argumentation die Weichen der Deliktsprüfung gestellt. Die Bezugnahme auf eine angeblich vorgegebene Wertung, die lediglich gedeutet werden müsse, verschleiert aber nur die eigene Wertung. Der Ansatz ist deshalb zu unpräzise. 481 6. Im Kontrast zu v. Liszt ist auch das „Energiekriterium“ von Engisch zu sehen. 482 Den Begriff der Handlung definiert dieser als „das willkürliche Bewirken objektiv bezweckbarer Folgen seitens eines Menschen“. 483 Jede Handlung 476
Schmidt (1939), S. 75. Schmidt (1969), S. 340 ff. 478 Schmidt (1969), S. 350. 479 Schmidt (1939), S. 75 f., Fn. 29. 480 Zutreffend schon Engisch (1939), S. 425. 481 Kritisch schon Engisch (1939), S. 422 – 425. Vgl. weiterhin Welp (1968), S. 104 ff., Stoffers (1992), S. 103 f., Schneider (1997), S. 131, Haas (2002), S. 34 ff., 115 ff. m.w. N. 482 Darstellung und Kritik bei Samson (1974), S. 585 ff., Stoffers (1993), S. 72 ff., 97 ff., 229 ff., Schneider (1997), S. 57 ff., 90 ff., Kargl (1999), S. 465 f., Brammsen (2002), S. 200 ff. und Haas (2002), S. 117 ff., 121 ff. Den Begriff des Energieaufwands verwenden auch Androulakis (1963), S. 52 ff., Welp (1968), S. 110 f., Brammsen (2002), S. 205 ff., (nahestehend) Haas (2002), S. 123 f. und Roxin (2003), AT II, § 31/69 ff. 483 Engisch (1944), S. 164, auch S. 161, (1953), S. 171. Begründend (1950), S. 38: „So oder so ersteht vor unseren Augen die Handlung als eine sinnvolle Gestalt, die bezweckte, berechnete oder berechenbare Folgen untrennbar in sich schließt. Nur sie ist ‚Tat‘ im Sinne Kants.“ Das Merkmal der objektiven Bezweckbarkeit hat Honig eingeführt (siehe 477
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ist somit ein Verursachen, nicht aber umgekehrt. Als verursachte Handlungsfolge kann dabei auch die Körperbewegung und psychische Verfassung angesehen werden. 484 Der Begriff der Handlung ist wie bei v. Liszt als Oberbegriff zu Tun und Unterlassen aufgefasst. 485 „Tun“ wird definiert als (Verursachen durch) Energieeinsatz, „Unterlassen“ als (Verursachen durch) Nichteinsatz von Energie in eine bestimmte Richtung, also als Unterlassen des Verhinderns eines bestimmten Erfolgs. 486 Diese Begriffsdisposition ist etwas ambivalent, wie in folgender Aussage deutlich wird: Es bestehe nach der Theorie vom gesetzmäßigen Zusammenhang kein wesentlicher Unterschied in der Kausalität, „wenn es sich auf der einen Seite um Verursachung eines Erfolges durch aktives Tun, auf der anderen Seite um die Verursachung eines Erfolges durch Unterlassung eines solchen Energieeinsatzes, der mit Sicherheit zur Abwendung des Erfolges geführt hätte, handelt.“ 487 Hier verschiebt sich die Konzeption etwas: „Tun“ ist nicht mehr der direkte Unterbegriff zum „Handeln“ im Sinne von „Verursachen“. Es ist jetzt vielmehr so zu rekonstruieren, dass die Unterbegriffe einerseits das „objektiv bezweckbare Verursachen durch Tun / Energieeinsatz“ (Begriff 2 bei v. Liszt) und andererseits das „Verursachen durch Unterlassen eines Tuns“ sind, wobei letzteres nur gegeben ist, wenn zugleich ein Unterlassen des Verhinderns eines Erfolgs anzunehmen ist. 488 Es ist ein gewisser Nachteil dieser Konzeption, dass sie in den Begriff des Tuns sowohl das einfache Handeln (Energieeinsatz) als auch das erfolgsimplizierende Handeln (die „Handlung“ durch Tun) einblenden muss, weil der Begriff der „Handlung“, wie bei v. Liszt, als Oberbegriff besetzt ist. Der Begriff des Tuns = Energieeinsatzes ist demnach ein ungefähres Äquivalent zum Begriff der Körperbewegung, der sich nach der Kritik am Naturalismus als zu eng herausgestellt hatte. 489 Der Begriff des Energieeinsatzes bedeutet soviel wie eine willentliche Leistung oder Anstrengung. 490 Er zielt entweder auf die Zurechnung als Leistung und damit die Interpretation des Handelns oder direkt auf die intendierte Leistung des Handelnden: B.V.3.3). Es vermeidet die Probleme der finalen Handlungslehre im Hinblick auf die Fahrlässigkeit, bleibt aber ebenfalls beschreibend und verschiebt die Wertung in die Konstruktion eines vernünftig-zweckhaft Handelnden. Das „objektive“ Eignungsurteil wird deshalb besser offen normbezogen konzipiert: „Sind die postulierten Normen konkretgenerell geeignet, den gegebenen Erfolg zu verhindern?“ Die Eignung der Normen hängt wiederum von der „objektiven“ (generellen) Eignung des Handelns ab. Siehe hierzu B.II.3. / 4., B.V.2. und C.V.1.b). 484 Engisch (1944), S. 161, auch (1973), S. 172 in Bezug auf die Körperruhe. 485 Engisch (1944), S. 164. 486 Engisch (1944), S. 164. 487 Engisch (1977), S. 325, Fn. 22. 488 Zur Kritik dieser Konstruktion des Oberbegriffs zu „Verursachen“ und „Unterlassen des Verhinderns“ siehe oben C.III.3.5. 489 Besonders deutlich auch schon Engisch (1931), S. 29. 490 Engisch (1973), S. 172, 175.
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„Tun ist Energieeinsatz in einer bestimmten Richtung, Unterlassen als ‚etwas nicht Tun‘ dagegen: Nichteinsatz von Energie in einer bestimmten Richtung. Gewöhnlich wird stattdessen gesagt: Tun ist Vornahme einer Handlung, Unterlassen Nichtvornahme einer Handlung. Demgegenüber will die eben wiedergegebene Bestimmung einerseits etwas bestimmter sein, andererseits eine zu große Enge des Verständnisses abwehren. ‚Energie‘ bedeutet hier nichts Physikalisches. Gemeint ist dasselbe, was der alltägliche Sprachgebrauch unter ‚Energie‘ versteht: der willkürliche Krafteinsatz. Dieser braucht dann aber nicht nach außen zu wirken (insofern ist Schmidt u. a. zuzustimmen, wenn sie gegen die Identifizierung des Tuns mit der Körperbewegung polemisieren. Andererseits ist nach außen wirkende Energie immer als Körperbewegung bemerkbar). Es gibt ja auch nach innen gerichtete Energie: ein Sichzusammennehmen, Gespanntsein, Nachdenken usw.“ 491
Die Unterscheidung von Handeln und Unterlassen und die Präzisierung des Begriffs des Handelns sind für Engisch deshalb wichtig, weil von ihr die Unterscheidung von Gebot und Verbot abhängt, wie er deutlich betont hat. 492 Jede Norm, die auf einen Energieeinsatz (also eine Leistung) zielt, ist ein Gebot, und jede Norm, die auf den Nichteinsatz von Energie in eine bestimmte Richtung abzielt, ist ein Verbot. Wegen des aufgezeigten Zusammenziehens der Begriffe war es ihm aber nicht so leicht möglich, im Hinblick auf den Norminhalt zwischen dem einfachen Handeln und dem handelnden Verursachen tatbestandlicher Erfolge („Tun“) zu unterscheiden. Gerade diese Unterscheidung ist aber normenanalytisch sehr fruchtbar. Mit ihrer Hilfe erweist sich, dass zwar nicht die Unterscheidung von Tun und Unterlassen davon abhängig ist, ob und welche Gebote oder Verbote postuliert werden, wie Engisch zu Recht betont hat, wohl aber die Annahme eines Begehungs- oder Unterlassungsdelikts, für die entscheidend ist, ob ein Verursachungsverbot oder ein Verhinderungsgebot und je zugehörige Handlungsnormen missachtet wurden. 493 Dem Problem der „zweideutigen Handlungsweisen“ 494 hat Engisch ausführliche Überlegungen gewidmet, vor allem anlässlich des „Ziegenhaarfalls“ und des „Reanimatorfalls“. 495 Wegen der Annahme der Unterlassungskausalität 496 kann er zur Abgrenzung des Begehungs- vom Unterlassungsdelikt nicht einfach dem Verursachungskriterium folgen. Er greift vielmehr, wie v. Liszt, auf das verursachende Handeln zurück und beschreibt dieses als Energieeinsatz.
491
Engisch (1939), S. 423 f. Vgl. auch (1973), S. 170 ff., 178. Engisch (1933), S. 239 f., (1939), S. 424. 493 Vgl. Engisch (1973), S. 186 f. Die Kritik Philipps (1974), S. 15 f., Fn. 1 an Engischs These von der Vorrangigkeit der Unterscheidung von Tun und Unterlassen ist insoweit zu präzisieren. 494 Engisch (1973), S. 165. 495 Siehe unter C.V.1.a) und C.V.2.a)3. 496 Begründet Engisch (1931), S. 29 ff., (1939), S. 425 –427, (1963), S. 264 f. 492
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Ein prinzipieller Unterschied zwischen den Kriterien der Körperbewegung, des Energieeinsatzes und dem Kausalitätskriterium besteht deshalb nicht. 497 Engisch geht dabei anscheinend davon aus, dass bei zweideutigen Handlungsweisen schon aus dem Begriff des Tuns (Energieeinsatzes) die Abgrenzung des Begehungs- vom Unterlassungsdelikt folgt. Doch liegt in diesen Fällen das Problem gerade darin, dass sowohl ein Energieeinsatz als auch das Unterlassen eines alternativen Energieeinsatzes gegeben ist. In der Falldiskussion geht Engisch entsprechend zu einer wertenden und fallbezogenen Argumentation über. Dabei versucht er, tatsächliche Gegebenheiten herauszustreichen und dringt deshalb nicht zur Analyse der Normenebene vor. 498 Der Vorteil des Energiebegriffs liegt letztlich darin, dass er als Bestandteil der Handlungsdefinition abstrakter angelegt ist als der Begriff der Körperbewegung. Es schlägt die Brücke zwischen der handelnden Verursachung von Erfolgen in der natürlichen Umwelt und in der sinnbezogenen Welt menschlichen Handelns. So können auch Sprachhandlungen oder Leistungen technischer Apparate als Energieeinsatz des Handelnden plausibel gemacht werden. 499 Man kann demgemäß das Handeln als Entscheiden definieren 500 und „die Handlung“ als Leistung (Energieeinsatz), die einem Handelnden zurechenbar ist. 7. Die Rechtsprechung bemüht in zweifelhaften Fällen der Abgrenzung des Begehungs- vom Unterlassungsdelikt das Kriterium des „Schwerpunkts der Vorwerfbarkeit“. 501 Der Entstehungsgrund dieses Abgrenzungskriteriums liegt vergleichbar wie schon bei demjenigen Schmidts in einer Problemverschiebung, die Mezger anlässlich des schon erwähnten Ziegenhaarfalls vornahm. 502 Die Identifikation eines Schwerpunkts der Vorwerfbarkeit setzt voraus, dass die Begriffe „Tun“ und „Unterlassen“ vornormativ konzipiert sind. 503 Weil die Abgren497 Vgl. Engisch (1977), S. 325, Fn. 325. Das Energiekriterium zielt auf das Verursachen des Erfolgs durch Energieeinsatz bzw. mit v. Liszt durch eine Körperbewegung. 498 Vgl. Engisch (1973), S. 168 (Fälle) mit S. 177 – 184 (Stellungnahmen). Zum Reanimatorfall weiterhin (1977), S. 324 ff., die „Bedeutung“ und das „Gewicht“ des Energieeinsatzes herausstellend. Kritisch auch Kargl (1999), S. 465 f. 499 Engisch (1973), S. 325, Fn. 22 stellt jedoch im Reanimatorfall ausschließlich auf den realen Energieeinsatz des Arztes ab (z. B. das Anstellen und Betreuen der Maschine) und sieht den Energieeinsatz des Reanimators nur als an den des Arztes anschießend. Doch kann man darüber hinaus den Energieeinsatz der Maschine dem Arzt zurechnen, weil sie für ihn arbeitet und er deren Betrieb auch zu verantworten hat. Hier liegt in der Tat ein Punkt, in dem vor der normativen Analyse eine Entscheidung getroffen wird, die von einer Interpretation abhängt. 500 Siehe unter C.II.3. 501 Zuerst eher nebenbei BGHSt 6/46 (59), später etwa BGH, NStZ 1999, S. 607 f., BGH, NStZ 2003, S. 657 f. Monographisch zur Schwerpunktformel Stoffers (1992). 502 Hierzu unter C.V.1.b)aa)3. 503 Vgl. Stoffers (1992), S. 46 f., 53 f.
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zung von Begehung und Unterlassung nur bei gegebenem Erfolg problematisch werden kann, ist der Bezugspunkt der Schwerpunktformel ein verursachendes Handeln (Tun) und andererseits ein Unterlassen des Verhinderns. Die Abgrenzungsformel ist in der Literatur vielfach kritisiert worden. 504 Sie hat den Vorteil der Flexibilität, jedoch den Nachteil, keine kohärenten Kriterien anbieten zu können, sondern sich ausschließlich auf den Einzelfall zu beziehen. Zu Recht wurde gegen sie eingewendet, dass sie Ziel und Ergebnis der Abgrenzungsbemühung bezeichnet, nicht deren Kriterium. 505 Sie nimmt auch vorweg, dass sowohl das Handeln als auch das Unterlassen „vorwerfbar“ sind. Gleichwohl kann die implizite Behauptung des BGH, dass normative Kriterien zentral für die Abgrenzung seien, Geltung beanspruchen. Auf eine Systematisierung und Explikation dieser Kriterien zielt etwa Roxin, der eher fallvergleichend vorgeht, in gleicher Weise wie die hier entwickelte Methode, die normentheoretisch ansetzt. Nur über eine Analyse der Wertungen kann man zu begründeten Ergebnissen und konsistenten Entscheidungsprämissen gelangen. Die Normen und Normrelationen, die den Wertungen zugrunde liegen, bilden dabei die Grundlage für die Wertungsvergleichbarkeit der Fälle. 8. Die nächste wichtige Etappe in der Theorieentwicklung ist mit Roxin erreicht. Er formulierte zunächst folgenden Gedanken, der die Abgrenzungsmethode zutreffend beschreibt, der allerdings auf den Bereich der Fahrlässigkeitsdelikte begrenzt ist: „Die Abgrenzung von Tun und Unterlassen ... ist prinzipiell nicht ‚zweifelhaft‘. Es ist vielmehr lediglich festzustellen, ob ein positives Tun [= Handeln] für den Erfolg kausal ist. Lässt sich das bejahen, so ist – da bei Vorsatzdelikten die Frage ohnehin nicht problematisch ist – nur noch zu ermitteln, ob dieses Tun nach allgemeinen Regeln fahrlässig [= verbotswidrig] ist. Ist das der Fall, so ist ausgeschlossen, die strafrechtliche Haftung dadurch zu umgehen, dass man die Tat ihrem Handlungssinn nach als Unterlassungsdelikt versteht. Wenn dagegen das positive Tun nicht kausal oder nicht fahrlässig ist, so hat man immer noch zu prüfen, ob der Handelnde ein anderes, rechtlich gebotenes Verhalten, das den Erfolg abgewendet hätte, unterlassen hat.“ 506
Diese Methode dürfte aber für Vorsatz und Fahrlässigkeit nicht divergieren. 507 Beide Deliktstypen setzen die Verbotswidrigkeit von Handeln und Verursachen voraus. Nach der Feststellung eines Tuns (= Verursachens) muss deshalb in jedem Fall untersucht werden, ob die verursachende Handlung verboten ist.
504 Nachweise und Replik bei Stoffers (1992), S. 54 ff. Aktuell z. B. Haas (2002), S. 112 ff. 505 Roxin (1962), S. 415, 417 f., Herzberg (2003), S. 275. 506 Roxin (1962), S. 415. Ebenso Jescheck (1978), § 58 II 2. 507 Ebenso Herzberg (2003), S. 273 f.
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Die Unvollständigkeit der von Roxin vorgeschlagenen Methode ist darin begründet, nicht zu beachten, dass die Handlung von einem Handlungsverbot und einem Verursachungsverbot erfasst sein muss, um als Begehungsdelikt angesehen werden zu können. Wenn ein Handlungsverbot postulierbar ist, ist dieses nicht notwenig einem Verursachungsverbot zuzuordnen, sondern kann teleologisch als hier so genanntes akzessorisches Verbot auch auf ein Verhinderungsgebot bezogen sein. Dessen Statuierung müsste sich an § 13 StGB rechtfertigen. Deswegen ist die Schlussfolgerung Roxins, dass jedes verbotene Verursachen ein Begehungsdelikt sein muss, falsch. Er hat diese Folgerung deshalb auch nicht auf die Vorsatzdelikte übertragen, für die er die Figur des „Unterlassens durch Tun“ propagiert hat. 508 Gerade das sind aber Fälle, in denen das Verbot einer Handlung, die man oft auch als verursachend ansehen kann, nicht einem Verursachungsverbot, sondern nur einem Verhinderungsgebot zuzuordnen ist. Dass diese Fälle nur als vorsätzliches Tun und Unterlassen auftauchen, ist nicht erwiesen. Roxins Verdienst ist aber, herausgestellt zu haben, dass die Abgrenzung von Begehungs- und erfolgsbezogenem Unterlassungsdelikt von normativen – das heißt: normentheoretischen – Erwägungen abhängt. Er schreibt vollkommen zutreffend: „Der methodische Ertrag solcher Bemühungen scheint mir in der Befestigung der Einsicht zu liegen, dass die Zuweisung zu den Begehungs- und Unterlassungstatbeständen von normativen Kriterien und nicht notwendig von der ontischen Qualität eines Verhaltens abhängt, ferner auch in der Erkenntnis, dass die vom BGH empfohlene Art, Begehungs- und Unterlassungsdelikt in einer rational nicht weiter aufzuhellenden Weise nach dem Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit voneinander abzugrenzen, in Zukunft einer zwischen den verschiedenen Fallgruppen nach rechtlichen Maßstäben in kontrollierbarer Argumentation differenzierenden Betrachtungsweise wird weichen müssen.“ 509
9. Wie Schmidt, Mezger, Engisch und Roxin hat auch Jakobs einen Ausweg aus der „Verursachungstheorie“ hin zur Wertungsoffenheit gefunden. Als begriffliche Grundlegung definiert er Handlung als vermeidbare Verursachung eines Erfolgs (= „Tun“) und Unterlassung als vermeidbare Nichthinderung eines Erfolgs. 510 Der Erfolg kann wie bei Engisch in einer einfachen Körperbewegung bestehen. Weil Jakobs die Kausalität des Unterlassens verneint, also nur die Handlung kausal werden kann, kommt als Oberbegriff zu Handlung und Unterlassung nur der Begriff des Verhaltens in Betracht. Dieser wird definiert als „Vermeidbarkeit einer [hypothetischen] Erfolgsdifferenz“ (zwischen Handeln und Unterlassen). Der Begriff der Vermeidbarkeit wird somit an die Stelle gesetzt, an der bei Engisch die Bezweckbarkeit steht. 508 509 510
Roxin (1969), S. 381 ff. Roxin (1969), S. 392 f. Jakobs (1993), 6/28, 32.
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Im Hinblick auf die Fälle, die ein Abgrenzungsproblem stellen, meint Jakobs zwar, dass in jedem Fall handelnden Verursachens nur ein Begehungsdelikt einschlägig sein könne, rechnet aber etwa den Erfolg dann nicht zu, wenn und „weil der Organisationskreis des Verletzten seinerseits erfolgsbezogen organisiert“ 511 und der Handelnde nicht Garant (im Sinne des § 13 StGB) ist. 512 In diesen Fällen hat der Handelnde seinen Organisationskreis nicht „ohne Rücksicht auf andere Personen gestaltet.“ 513 Weil Jakobs somit den materiellen Grund der Gleichstellung von Begehung und begehungsgleichem Unterlassen des Verhinderns berücksichtigt, indem er auch beim Begehungsdelikt eine Garantenstellung voraussetzt, ist diese Lösung eine relativ äquivalente Konstruktion zu der hier vertretenen Auffassung. 514 Das Argument, dass § 13 StGB einschlägig ist, wenn notwendig ein Verhinderungsgebot postuliert würde, begründet aber schon allein das gleiche Ergebnis. Eine gesonderte Kategorie im Rahmen der Zurechnungslehre zu eröffnen, ist insoweit nicht nötig. „Nicht zurechnen“ heißt in den angesprochenen Fällen das Nichtpostulieren eines Handlungsverbots, so dass weder ein Verstoß gegen ein Verhinderungsgebot noch gegen ein Verursachungsverbot angenommen werden kann. 515 Das heißt, dass es darauf ankommt, ob das verursachende Handeln auch verboten werden kann. 10. In seiner Studie „Kausalität und Rechtsverletzung“ kombiniert auch Haas beschreibende und normative Kriterien, um das Begehungs- vom Unterlassungsdelikt abzugrenzen. Tun ist für ihn eine Körperbewegung. 516 Begehung ist die Verursachung des tatbestandlichen Erfolgs. 517 Der Begriff der verursachenden Handlung wird zu diesem Zweck anders als gewöhnlich definiert: „Verursachen im Sinne eines Eingriffs in subjektive Rechte ... ist ein Bewirken, das heißt ein auf Ausübung von Kraft beruhender, stetiger, aus Ereignissen bestehender, in physikalischen oder chemischen Parametern berechenbarer und damit praktisch deterministischer Prozess der Energieübertragung.“ 518 Für diesen Begriff des Bewirkens plädiert er einerseits, weil er die Kausalität des Unterlassens bejaht und andererseits wegen der großen Weite des herrschenden Kausalitätsbegriffs 511
Jakobs (1993), 7/60 – 64, 66, 68. A. a. O., 7/66. Zum Beispiel im Reanimatorfall (siehe C.V.2.a)3.). 513 A. a. O., 7/68. Zur Figur des Organisationskreises kritisch Haas (2002), S. 49 ff. m.w. N. 514 Vgl. auch Jakobs (1993), 29/14. 515 Vgl. oben B.V.2. 516 Haas (2002), S. 137 f., aber auch S. 112: Tun ist zugleich das Begehungsdelikt. Um die Begrifflichkeiten eindeutig zu trennen, empfiehlt es sich, streng zwischen Handeln, Tun (Verursachen) und Begehungsdelikt zu unterschieden. So ist Haas in Gefahr, der angeblichen Abgrenzungstheorie des „Körperbewegungskriteriums“ zugerechnet zu werden. 517 Haas (2002), S. 270. 518 (2002), S. 193 f. Vgl. schon oben, Fn. 228. 512
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der „Äquivalenztheorie“. 519 Seine Kausalitäts- und Abgrenzungstheorie bleibt deshalb weitgehend auf die Körperverletzungsdelikte beschränkt. Die Kausalität im sozialen und psychischen Bereich wird nicht erfasst. 520 Das Kriterium des Bewirkens liegt der Abgrenzung zugrunde, weil in diesem Begriff im Hinblick auf eine Rechtsverletzung die maßgeblichen Wertungen schon abgebildet seien. Das subjektive Recht als Abwehrrecht verbiete grundsätzlich nur das Bewirken. 521 Durch diesen restriktiven Begriff wird der Erfolgszurechnung im Hinblick auf das Verursachungsverbot eine feste Grenze gezogen. Sollen Erfolge darüber hinaus zugerechnet werden, bedürfe es einer Rechtsfiktion, die durch die Annahme eines subjektiven Rechts des Gefährdeten an der Rechtssphäre Dritter begründet werden könne. Das betrifft die Fälle des Abbruchs rettender Kausalverläufe durch Dritte, welche die Studie im Schwerpunkt behandelt. 522 Aufgrund dieser Rechtsfiktion wird die Abgrenzung von Begehung und Unterlassung zu einer auch normativ bestimmten Frage. 523 Schließlich gelangt Haas zu einem Ergebnis, das auch unabhängig von seinem Zurechnungsmodell Geltung beanspruchen kann: „In den Fällen, in denen eine Rechtsverletzung trotz positiven Tuns nur dann vermieden worden wäre, wenn der Täter noch eine weitere Handlung vollzogen hätte, ist der Täter nur wegen eines Unterlassens zu belangen.“ 524 Das entspricht der hier vertretenen These. Haas’ Ansatz ist deshalb interessant, weil er versucht, die zivilrechtliche Dogmatik der subjektiven Rechte mit den entsprechenden strafrechtlichen Rechtsverletzungsdelikten abzustimmen. 525 Er liefert damit für diese zentralen Delikte einen wichtigen Gedanken, der auch unabhängig von der Übernahme der dogmatischen Konstruktion diskutiert werden kann: Verursachungsverbote, die subjektive Rechte sind, seien nur dann verletzt, wenn der Rechtsinhaber auch ein Abwehrrecht gegen die konkrete Handlung hatte. Die Reichweite des Ausschlussrechts des subjektiven Rechts leitet Haas dabei aus der Nutzungsfunktion desselben ab. 526
519 520 521 522 523 524 525 526
(2002), S. 187 f., 189 f. (2002), S. 194. (2002), S. 137 f., 187, 194, 211. (2002), S. 231 ff. (2002), S. 111 f., S. 270. (2002), S. 270. Vgl. hierzu B.VI.6. Vgl. Haas (2002), S. 185 ff.
D. Zusammenfassung 1. Die vorliegende Untersuchung unternimmt in ihrem normentheoretischen Abschnitt den Versuch, abstrakte Prinzipien eines teleologisch angelegten Normensystems aufzuzeigen und somit die Analyse von Strukturparallelen im Zusammenhang verschiedener Arten von Normen zu ermöglichen. Die hierzu entwickelten Unterscheidungen werden im daran anschließenden Abschnitt, der hauptsächlich von der Abgrenzung des Begehungs- vom Unterlassungsdelikt handelt, für die Strafrechtsdogmatik nutzbar gemacht. 2. Zunächst werden verschiedene Normarten anhand ihres Inhalts und Zwecks identifiziert und miteinander in teleologischen Bezug gesetzt. 527 Inhalt und Zweck sind aufeinander bezogen, weil das Zweck-Mittel-Denken mit dem Ursache-Wirkung-Schema verbunden ist. Deshalb liegt es nahe, Verursachungs- und Handlungsnormen zu unterscheiden. Diese Unterscheidung ist in der Normentheorie und Strafrechtsdogmatik seit Binding eingeführt und kann weiter ausgebaut werden. So gibt es vier Arten von Verursachungsnormen: Verursachungsgebote und -verbote sowie Verhinderungsgebote und -verbote. Das Verhindern bezeichnet die inhaltliche Negation des Verursachens, als das Verursachen, dass etwas nicht der Fall ist. Aus einer Verursachungsnorm können sowohl Handlungsgebote als auch -verbote abgeleitet werden. Diese „Ableitung“ ist nicht logisch zwingend, sondern teleologisch wertend. Die Arbeit befasst sich deshalb nicht mit Themen der Normenlogik. Es geht vielmehr um inhaltlich angereicherte Folgerungsbeziehungen. Diese sind von großer praktischer Relevanz. Für die Ableitung von Handlungsnormen spielt ein prospektives Wahrscheinlichkeitsurteil über die Verursachungseignung eines Handelns eine wichtige Rolle. 528 Dieses Eignungsurteil hat in die Normsetzung selbst Eingang gefunden, wenn dem Handelnden Handlungsnormen vorgegeben sind. Wenn ihm hingegen Verursachungsnormen vorgegeben sind, ist ihm überlassen, das Eignungsurteil zu treffen und die Handlungsnormen abzuleiten. Oft werden beide Methoden gemischt, oder es ist bei gegebenen Handlungsnormen der Rückschluss auf deren Zweck möglich. Die Unterscheidung von Handlungs- und Verursachungsnormen kann mit der Unterscheidung von Konditional- und Zweckprogrammen, die Luhmann entwickelt hat, nahezu gleichgesetzt werden. 527 528
B.I. B.II.
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D. Zusammenfassung
3. In erster Linie folgen aus Verursachungsgeboten Gebote und aus Verursachungsverboten Verbote geeigneten Handelns. Im Hinblick auf die Abgrenzung des Begehungs- vom Unterlassungsdelikt wird es entscheidend, dass aus Verursachungsgeboten auch Handlungsverbote und aus Verursachungsverboten Handlungsgebote abgeleitet werden können. 529 Diese Handlungsnormen können als akzessorische bezeichnet werden. Sie sind zum einen dadurch gekennzeichnet, dass sie Handlungen gebieten oder verbieten, die von vornherein verhindern können, dass der Handelnde durch ein Bezugshandeln die in der Verursachungsnorm bezeichnete Veränderung (wie verboten oder geboten) verursacht oder verhindert und zum anderen, dass sie in einem komplementären Verhältnis zu anderen Handlungsnormen stehen, und zwar das akzessorische Gebot zu einem komplementären Verbot und das akzessorische Verbot zu einem komplementären Gebot. Diese komplementären Normen betreffen das Bezugshandeln, das geeignet ist, die Veränderung zu verursachen oder zu verhindern. Das komplementäre Verhältnis ist dadurch gekennzeichnet, dass die Normen ihrem teleologischen Sinn nach aufeinander verweisen: Weil A geboten ist, ist B verboten. 4. Weil die Handlungsnormen streng teleologisch konzipiert sind, wird es möglich, Normen, die mittelbar auf sie bezogen sind, von ihnen zu unterscheiden. 530 Insoweit kann auf Luhmann zurückgegriffen werden, der die reflexive Struktur der Erwartungen beschrieben hat. Von einem Handelnden wird nicht nur ein bestimmtes Handeln erwartet, sondern auch, dass er erwartet, was von ihm erwartet wird. Es gibt Normen, die sich auf die zutreffende Assoziation oder Ableitung von Handlungsnormen in der Handlungssituation beziehen. Eine weitere Normart bezeichnet die Erwartung, dass der Handelnde gemäß der eigenen Erwartungserwartung handelt, ohne dass diese Norm „objektiv“, das heißt abgesehen von der Erwartungserwartung, gelten würde. Dass diese hier so genannten Kenntnis- und Nachforschungsgebote sowie Putativnormen auch als Recht gelten, beweist sich an der Strafbarkeit der unbewussten Fahrlässigkeit, des vermeidbaren Verbotsirrtums und des unverständigen Versuchs. 5. Das Ableitungsverhältnis von Handlungs- aus Verursachungsnormen wird bei der Beurteilung eines Handelns für die Frage relevant, wann ein Verstoß gegen eine Verursachungsnorm anzunehmen ist. Der Begriff des Verursachens oder Nichtverursachens hat keine selbstverständliche Grenze. Hat ein Handelnder verursacht oder nicht verursacht, muss deshalb entschieden werden, ob er eine Verursachungsnorm missachtet hat – ob ihm also eine Veränderung oder deren Ausbleiben zugerechnet wird. Zurechnung ist die Annahme eines Verursachungsnormverstoßes. 531 Entscheidend für die Zurechnung ist der Inhalt der Verursachungsnorm. In einem Normensystem, das sich zweckrational legitimiert, 529 530 531
B.III. B.IV. B.V.2.
D. Zusammenfassung
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gibt es diesbezüglich drei wichtige Zurechnungsregeln. (1) Ein Verursachungsnormverstoß ist nur anzunehmen, wenn der Handelnde Handlungsnormen missachtet hat, die in der Handlungssituation galten. (2) Diese Handlungsnormen müssen auf die fragliche Verursachungsnorm beziehbar und deshalb generell geeignet sein, dem Zweck der Verursachungsnorm zu dienen. (3) Darüber hinaus kann der Nachweis erforderlich sein, dass die Handlungsnormen hierzu konkret bzw. konkret-generell geeignet waren. Eine alternative Konzeption der Verursachungsnormen dominierte am Beginn des 20. Jahrhunderts die Strafrechtsdogmatik. Ihr gemäß war die bloße Verursachung eines tatbestandlichen Erfolgs ungeachtet der Pflichtwidrigkeit des verursachenden Handelns als rechtswidrig zu bezeichnen. Diese Konzeption entschied über die Zurechnung erst auf der Schuldebene. Die heutige strafrechtliche Unrechtslehre entscheidet hingegen mit dem Rechtswidrigkeitsurteil zugleich über die Zurechnung des tatbestandlichen Erfolgs. 532 6. Handlungsnormen werden teleologisch aus den Verursachungsnormen abgeleitet. Veränderungs- und Zustandsnormen hingegen kann man im Wege der Abstraktion aus ihnen herleiten. 533 Das ist mit gewissen Schwierigkeiten verbunden. Sinnvoll ist die Einführung von Veränderungsnormen deshalb, weil sie die Zweckrichtung eines Paares von Verursachungs- und Verhinderungsnormen zusammenfassen. Im Hinblick auf das Strafrecht sind etwa überwiegend Verursachungsverbote und im Zusammenhang mit § 13 StGB Verhinderungsgebote relevant, die sich je unter dem Aspekt eines bestimmten Veränderungsverbots zusammenfassen lassen. Die Veränderungsnorm sieht anders als die Verursachungsnorm von der Handlung ab und fokussiert auf bestimmte Weltzustände. Es darf aber nicht außer Acht gelassen werden, dass diese Zustände nur im Hinblick auf die handelnd verursachte Veränderung verboten sind. Deshalb ist, wie schon bei den Verursachungsnormen, der teleologische Bezug zu Handlungsnormen mitzudenken. Die Identifikation und Präzisierung von Zustandsnormen bereitet Schwierigkeiten, weil schon grundsätzlich zweifelhaft ist, ob Veränderungen und Zustände Gegenstand von Normen sein können. Um der Strenge des Normenschemas (normgemäß / normwidrig) aus dem Weg zu gehen, kann man hier besser mit Bewertungen arbeiten. Entsprechend wird im Strafrecht der vor Veränderungen geschützte Zustand als Rechtsgut ausgewiesen. Hierbei ist jedoch zu beachten, dass aus Verboten allein die positive Bestimmung eines gebotenen Zustands nicht gefolgert werden kann. Das ist allerdings für Teile der strafrechtlichen Verbotsnormen möglich, insoweit einzelne Bestimmungsberechtigte einen Zustand für alle anderen verbindlich regeln dürfen. Soweit das der Fall ist, ist die Bezugnahme auf die erwartbaren und rechtsunterstützten Erwar-
532 533
B.V.3. B.VI.
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tungen eines Berechtigten eine Möglichkeit, aus den strafrechtlichen Verboten konkrete Zustandsgebote abzuleiten. 7. Der anschließende Abschnitt der Untersuchung zeigt auf, wie die skizzierte Normentheorie auf die strafrechtliche Zurechnungslehre angewendet werden kann. Hierbei steht die Abgrenzung des Begehungs- vom Unterlassungsdelikt im Mittelpunkt. Zunächst werden die Begriffe „Unterlassen“, „Handeln“ und „Tun“ diskutiert. Im Zusammenhang damit wird die Frage des Ober- und Grundbegriffs der Strafrechtsdogmatik behandelt. Das Unterlassen bestimmt sich primär als bloße Negation des Handelns. 534 Die Aussage über ein Unterlassen verweist deshalb auf die Projektion eines Handelns auf anderes Handeln durch einen Beobachter. Das Unterlassen „existiert“ nur als Produkt der Beobachtung. Im allgemeinen Sprachgebrauch wird darüber hinaus vorausgesetzt, dass das als unterlassen bezeichnete Handeln in der Handlungssituation möglich ist. Ein noch engerer Unterlassensbegriff setzt voraus, dass das bezeichnete Handeln von der Rechtsordnung oder einem beliebigen Beobachter erwartet wurde. Diese Definition dürfte aber zu eng sein. Interessanter als die Frage der Begriffskomponenten ist hingegen der besondere Zusammenhang der Begriffe von Handeln und Unterlassen. 535 Beide Begriffe setzen einander in der Weise voraus, dass von einem Handeln nur zu reden ist, wenn auch ein Unterlassen gegeben ist und umgekehrt. Es bietet sich deshalb an, das Handeln als andauerndes Entscheiden zu definieren, auf dessen Rückseite notwendig die nicht wahrgenommenen Möglichkeiten als unterlassene liegen bleiben. 536 Die Frage, ob zu „Handeln“ und „Unterlassen“ ein Oberbegriff zu bilden wäre, ist deshalb negativ zu beantworten. Handeln und Unterlassen sind zwei Aspekte desselben Phänomens, nämlich des Handelns. Der oftmals vorgeschlagene Begriff des Verhaltens ist ein bloßer Sammelbegriff. Im Strafrecht ist ferner das Begriffspaar „Tun und Unterlassen“ eingeführt. In der hier vorgeschlagenen Terminologie werden diese Begriffe ausschließlich im Zusammenhang mit der Unterscheidung von Begehungs- und Unterlassungsdelikten als Erfolgsdelikten verwendet. „Tun“ ist das Verursachen einer Veränderung im Gegensatz zum „Unterlassen“ des Verhinderns einer Veränderung. 537 Dieses Begriffspaar ist wie „Handeln und Unterlassen“ noch vornormativ konzipiert. Der Oberbegriff zu ihm kann unabhängig von der Frage der Kausalität des Unterlassens weder im Verursachen noch im Nichtverhindern gesehen werden, weil Verursachen ein kausales Handeln voraussetzt. 538 534 535 536 537 538
C.II.1. C.II.2. C.II.3. C.III.1. C.III.2. / 3. / 4.
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Schließlich wird das Begehungsdelikt als das normwidrige Tun (im Sinne handelnden Verursachens) und das Unterlassungsdelikt als normwidriges Unterlassen des Verhinderns definiert. Das Begehungsdelikt ist der Verstoß gegen ein Verursachungsverbot und das Unterlassungsdelikt die Missachtung eines Verhinderungsgebots. 539 Als adäquater Grundbegriff des Strafrechtssystems, der den Gegenstandsbereich des Strafrechts definiert, kommt allein der Begriff des Delikts in Betracht. Das Delikt ist ein Handeln, das einer strafrechtlich bewehrten Verhaltensnorm (Gebot oder Verbot) widerspricht. 540 Allein dieser Begriff beinhaltet das spezifische Merkmal, das strafrechtlich relevantes Handeln von beliebigem anderen Handeln unterscheidet. 8. An dieser Stelle wird die Brücke zur normentheoretischen Untersuchung geschlagen. Die Frage, ob in einem gegebenen Fall ein Begehungs- oder Unterlassungsdelikt vorliegt, wird normentheoretisch gewendet in die Frage, ob ein Verursachungsverbotsverstoß oder ein Verhinderungsgebotsverstoß gegeben ist. 541 Ein (ex post festzustellender) Verursachungsverbotsverstoß setzt die Missachtung eines in der Situation ex ante geltenden Handlungsverbots voraus, und die Missachtung eines Verhinderungsgebots kann nur angenommen werden, wenn der Handelnde auch Handlungsgebote missachtet hat. Die im ersten Teil der Arbeit behandelte teleologische Ableitung von Handlungsnormen aus Verursachungsnormen wird deshalb für die Beurteilung des normwidrig Handelnden umgekehrt relevant, im Rückschluss von den postulierbaren Handlungsnormen auf die übergeordnete Verursachungsnorm. Die Arten von Handlungsnormen weisen je charakteristische Merkmale auf. Deshalb lassen sich Regeln der Zuordnung von Handlungs- zu übergeordneten Verursachungsnormen aufstellen und begründen. Das Problem, das Begehungs- vom zugehörigen Unterlassungsdelikt abzugrenzen, entsteht nur, wenn ein Handelnder einen tatbestandlichen Erfolg handelnd verursacht hat. Kommt ausschließlich ein Verbot des verursachenden Handelns in Betracht, kann nur ein Begehungsdelikt vorliegen. Wenn auch die Geltung bestimmter Handlungsgebote angenommen werden muss, steht das Unterlassen eines Handelns im Raum. Dann gibt es drei Lösungsmöglichkeiten: die Zuordnung von Handlungsgeboten und -verboten entweder ausschließlich zu einem Verursachungsverbot oder zu einem Verhinderungsgebot oder teilweise zum einen und teilweise zum anderen. Die entscheidungsleitende Regel lautet: Die Missachtung akzessorischer Normen wird nicht gesondert berücksichtigt. Das akzessorische Handlungsgebot wird mit dem komplementären Handlungsverbot einem Verursachungsverbot zugeordnet, so dass nur ein Begehungsdelikt in Betracht kommt. 542 539 540 541 542
C.IV.1. C.IV.2. C.IV.3. C.V.1.a).
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Typisch für akzessorische Gebote ist neben deren teleologischem Sinn, dass sie inhaltlich subjektiv bedingt sind. Handlung A ist geboten, wenn der Handelnde B ausführen will. Entsprechend ist die Bezugshandlung B komplementär verboten, wenn der Handelnde nicht A ausführt. Die Bezugshandlung steht grundsätzlich im Belieben des Handelnden. Teleologisch kennzeichnend ist hingegen, dass Gegenstand der akzessorischen Normen ein Vorsorgehandeln ist, welches das eigene Verursachen von vornherein verhindern kann und das entweder vor dem Bezugshandeln oder handlungsbegleitend und -modifizierend zu beachten ist. Wenn ein solches Vorsorgehandeln dagegen auf das Bezugshandeln folgen sollte, stellt sich das Abgrenzungsproblem streng genommen gar nicht, weil dann ein ex ante geltendes, komplementäres Verbot des (gegebenenfalls verursachenden) Bezugshandelns nicht angenommen werden kann. Das Gebot ist deshalb selbständig einem Verhinderungsgebot zuzuordnen. Es ist ein Unterlassungsdelikt zu prüfen. 543 In den spiegelbildlichen Fällen des Verhinderns eigenen Verhinderns werden die akzessorischen Verbote einem Verhinderungsgebot untergeordnet. 544 Ein Handlungsverbot ist akzessorisch, wenn sein Gegenstand ein Handeln ist, das von vornherein verhindern kann, dass der Handelnde den Erfolg verhindert und wenn mit dem Verbot teleologisch notwendig das komplementäre Gebot eines verhinderungsgeeigneten Handelns anzunehmen wäre. Wenn das nicht der Fall ist, ist das Verbot selbständig einem Verursachungsverbot zuzuordnen. 545 Diese Regel stützt sich auch auf § 13 StGB. Jedes unbedingte Gebot eines verhinderungsgeeigneten Handelns, dessen Rechtsgeltung sich oftmals schon aus § 323c StGB ergibt, muss mit der Garantenstellung einen besonderen Geltungsgrund haben, wenn der Gebotsverstoß auch als Verstoß gegen ein Verhinderungsgebot begehungsgleich (als Erfolgsdelikt) bestraft werden soll. Wenn mit der Annahme eines Verbots die Aufstellung eines solchen Gebots teleologisch notwendig verbunden wäre, gilt diese Voraussetzung auch im Hinblick auf die Missachtung des Verbots. Diese Erwägung wird für den am meisten diskutierten Fall zur Abgrenzung des Begehungs- vom Unterlassungsdelikt entscheidungsleitend, in welchem ein Arzt einen lebenserhaltenden Apparat abschaltet. 546 Hier gilt, dass nur ein Unterlassungsdelikt in Betracht kommt, wenn ein Verbot des Abschaltens, etwa für den behandelnden Arzt, notwendig mit dem komplementären Gebot verbunden wäre, den Apparat weiterzubetreiben. Dieses akzessorische Verbot ist einem Verhinderungsgebot zuzuordnen, dessen Geltung aber in den problematischen Fällen zumeist nicht mehr begründet werden kann. 543 544 545 546
C.V.1.c). C.V.2.a) / c). C.V.2.b). C.V.2.a).
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9. Problematisiert wurde die Abgrenzung des Begehungs- vom Unterlassungsdelikt zuerst in der Folge des Ziegenhaarfalls und ähnlicher Fallentscheidungen des Reichsgerichts, welche die Konstellation des Verhinderns eigenen Verursachens betreffen. 547 Diese Fallgruppe gibt den Anlass eines Exkurses, der die Konsequenzen der teleologischen Verknüpfung von Handlungs- und Verursachungsnormen in der Beurteilung eines Handelns thematisiert. 548 Das eigentliche Problem dieser Fälle lag nicht in der Abgrenzungsfrage, sondern darin, dass das unterlassene gebotene Handeln den Erfolg mit Wahrscheinlichkeit nicht verhindert hätte. Das Reichsgericht setzte im Ziegenhaarfall zwar eine Kausalität der Fahrlässigkeit im Sinne der conditio sine qua non voraus, stellte aber die Kausalitätsfrage nur im Hinblick auf das verbotene Handeln, nicht im Hinblick auf das Unterlassen. 549 Deswegen war die literarische Kritik einerseits darum bemüht, diese Fälle dem Unterlassungsdelikt zuzuschlagen (Mezger: „Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit“), so dass es auf die Kausalität des Unterlassens ankäme, oder andererseits darum, gesonderte Kriterien wie den Rechtswidrigkeitszusammenhang (Engisch) oder die Risikoerhöhung (Roxin) einzuführen, die Ersatz für das vom Reichsgericht behauptete Kausalitätskriterium bieten könnten. Der BGH folgt in seiner Rechtsprechung dem Reichsgericht zwar insoweit, als er die Kausalität der Fahrlässigkeit (= Normwidrigkeit) entscheidend sein lässt, doch wendet er dieses Kriterium zutreffend auf den Gebotsverstoß an. 550 Als wichtige Präzisierung des Kriteriums ist hinzuzufügen, dass nicht die Kausalität für den Erfolg schlechthin entscheidend ist, sondern abstrakter die Kausalität für die Erfolgsverursachung durch den normwidrig Handelnden selbst. Die Normwidrigkeit des Handelns muss kausal dafür sein, dass gerade der Handelnde den Erfolg verursacht hat. Auf andere hypothetische Erfolgsursachen kommt es deshalb nicht an. Das gilt für Fälle, in welchen andere, ebenfalls normwidrig Handelnde einen gleichen Erfolg verursacht hätten. Der Grund hierfür ist die Erwägung, dass der Zweck der Handlungsnormen auf den einzelnen Handelnden zugeschnitten ist. Sie können nur darauf angelegt sein zu verhindern, dass der Handelnde selbst verursacht oder verhindert. Das Erfordernis der Kausalität der Normwidrigkeit gilt sowohl für Fahrlässigkeits- als auch Vorsatz- und für Begehungs- wie Unterlassungsdelikte. Um ein Unterlassungsdelikt annehmen zu können, hätte das gebotene Handeln zur Überzeugung des Richters die Folge haben müssen, dass der Handelnde den Erfolg verhindert hätte. Es ist deshalb zutreffend, mit dem BGH die Wahrscheinlichkeitsmaßstäbe für die „Kausalität der Normwidrigkeit“ bei (unterlassensimplizierenden) Begehungs- und Unterlassungsdelikten identisch zu fassen und nicht 547 548 549 550
C.V.1.a). C.V.1.b). C.V.1.b)aa). C.V.1.b)bb).
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wie die Risikoerhöhungslehre unterschiedliche Wahrscheinlichkeitsmaßstäbe zu postulieren. Verallgemeinernd lässt sich festhalten, dass auf den Verstoß gegen geltende Handlungsnormen die Erfolgszurechnung nur dann gestützt werden kann, wenn die Handlungsnormen nachweislich geeignet waren zu verhindern, dass der Handelnde den Erfolg verursacht bzw. zu verursachen, dass er ihn verhindert. Die mit der Kausalität der Normwidrigkeit für das Verursachen oder Nichtverhindern festzustellende konkrete Eignung der Handlungsnormen, den Erfolg zu verhindern, ist ein in der retrospektiven Beurteilung des Handelns wichtiger Aspekt. Prospektiv ist es vor allem die generelle Eignung der Handlungsnormen, die ihre Geltung rechtfertigt. Die Eignung von Handlungsnormen ist dabei von der Eignung des gebotenen oder verbotenen Handelns abhängig. Das Urteil über dessen generelle Eignung ist an bestimmten tatsächlichen Umständen festzumachen, welche die Eignung nach Erfahrungsregeln begründen. Die prospektiv festzustellende generelle Eignung wird aber auch in der retrospektiven Beurteilung relevant. Eine andere Fallgruppe, die im Rahmen der Zurechnung ein Problem aufgibt, hat es mit diesem Umstand zu tun. Es kann trotz gegebener konkreter Eignung der Norm, den Erfolg zu verhindern, deren generelle Eignung fehlen – wenn der Erfolg etwa aufgrund eines Umstands verhindert worden wäre, der prospektiv nicht in das Eignungsurteil eingehen kann. Das sind Fälle, in denen die Normbefolgung den Erfolg nur zufällig verhindert hätte. Es fehlt hier die konkret-generelle Eignung der Norm. 551 Die teleologische Verknüpfung von Handlungs- und Verursachungsnorm ist somit in der retrospektiven Beurteilung eines Handelns von zentraler Bedeutung, wenn zu beantworten ist, ob ein Verursachungsnormverstoß vorliegt und somit einem Handelnden der von ihm verursachte oder nicht verhinderte Erfolg zuzurechnen ist. Dass die Handlungsnormen in dieser Weise streng auf ihre generelle und konkrete Eignung zu untersuchen sind, ist ein Erfordernis der Legitimation der erfolgsbezogenen Sanktionierung. Die wichtigsten Voraussetzungen der Erfolgszurechnung im Strafrecht sind somit die Verallgemeinerbarkeit der Handlungsnormen, die generelle Eignung der postulierten Handlungsnormen, Erfolge dieser Art zu verhindern (prospektives Urteil) sowie deren konkret-generelle Eignung, den gegebenen Erfolg zu verhindern (retrospektives Urteil). 552 10. Die Abgrenzung des Begehungs- vom Unterlassungsdelikt wird weiterhin in Fällen des Verhinderns oder des Abbruchs fremder Rettungsbemühungen problematisch. 553 Es gilt zunächst, dass andere Handelnde in der Normformulierung zu berücksichtigen sind, weil sie selbst Zurechnungspunkte je eigenen Handelns, 551 552 553
C.V.1.b)cc). B.V.2. C.IV.3.
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Verursachens und Verhinderns sind. Die Grenzlinie zwischen Begehung und Unterlassung liegt entsprechend zwischen dem Verstoß gegen das Gebot, fremdes Verhindern zu verursachen (bzw., insoweit jedoch unproblematisch, fremdes Verursachen zu verhindern) als Unterlassungsdelikt und gegen das Verbot, fremdes Verhindern zu verhindern (bzw., wiederum unproblematisch, fremdes Verursachen zu verursachen) als Begehungsdelikt. Diese Fälle sind gemäß derselben Regel zu entscheiden, die für den Abbruch eigener Rettungsbemühungen gilt. Wenn mit dem zu postulierenden Handlungsverbot ein komplementäres Handlungsgebot notwendig verbunden ist, ist ein Unterlassungsdelikt zu prüfen, weil der Gebotsverstoß nur unter den Voraussetzungen des § 13 StGB als Erfolgsdelikt (Verursachungsnormverstoß) strafbar sein kann.
Glossar Akzessorische Normen: Handlungsnormen, deren Gegenstand ein Handeln ist, das geeignet ist, von vornherein zu verhindern, dass der Handelnde eine Veränderung durch ein Bezugshandeln verursacht oder verhindert. Zu unterscheiden sind verbotsakzessorische Handlungsgebote und gebotsakzessorische Handlungsverbote. Verbotsakzessorisch ist ein Handlungsgebot, wenn es eine Handlung oder eine Handlungsmodifikation bezeichnet, die geeignet ist, von vornherein zu verhindern, dass derselbe Handelnde eine Veränderung (die gegebenenfalls in einem zugleich geltenden, übergeordneten Verursachungs- bzw. Verhinderungsverbot bezeichnet ist) durch ein Bezugshandeln verursacht bzw. verhindert und wenn das Bezugshandeln grundsätzlich erlaubt, aber ohne die gebotene Handlung komplementär verboten ist. Ein Handlungsverbot ist akzessorisch, wenn es eine Handlung betrifft, die geeignet ist, von vornherein zu verhindern, dass derselbe Handelnde eine Veränderung (die gegebenenfalls in einem übergeordneten Verursachungs- bzw. Verhinderungsgebot bezeichnet ist) durch ein Bezugshandeln verursacht bzw. verhindert und wenn das Bezugshandeln komplementär geboten ist. Akzidentielles Verbot: Gebotsakzidentiell ist ein Handlungsverbot, wenn dessen Gegenstand ein Handeln ist, das eine ausschließende Alternative zu einem zugleich gebotenen Handeln ist. Bezugshandeln: Dasjenige Handeln, auf dessen Verursachungseignung sich eine akzessorische Norm bezieht, indem sie Handlungen betrifft, die geeignet sind, die Eignung des Bezugshandelns zu mindern oder zu erhalten. Dieses ist Gegenstand einer komplementären Norm. Vgl. unter „Akzessorische Normen“ und „Komplementäres Verhältnis“. Delikt: Ein Handeln, das eine situationsbezogene Rechtsnorm (Gebot oder Verbot) missachtet, deren Missachtung ein Strafgesetz zur Voraussetzung einer Strafanordnung erklärt. Zu den Einteilungsmöglichkeiten vgl. C.IV.1. Handeln: Prozess, der als ein dauerndes Entscheiden zwischen vorgestellten Handlungsmöglichkeiten aufzufassen ist. Handlung: Abgrenzbare Einheit des Handelns, die durch äußere Aspekte wie Wirkungen oder durch den Zweck, den ein Handelnder verfolgt, definiert werden kann. Handlungsnormen: (1) I.w. S. alle Normen, die ein Handeln bezeichnen. (2) I. e. S., bezogen auf einen teleologischen Normenzusammenhang, sind es diejenigen Normen, die ein verursachungsgeeignetes Handeln bezeichnen, ohne dass die erstrebte oder zu vermeidende Wirkung des Handelns Inhalt der Norm ist. Kenntnisgebote: Gebote, die Situationshandlungsnormen zutreffend zu erkennen. Aus ihnen können Nachforschungsgebote folgen.
Glossar
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Komplementäres Verhältnis / Komplementäre Normen: Bezeichnet einen teleologischen Sinnzusammenhang zwischen einem Gebot und einem Verbot, die für denselben Handelnden relevant sind und von denen entweder das Verbot oder das Gebot als akzessorisch zu qualifizieren ist. Der Gegenstand einer Norm, die zu einer akzessorischen Norm komplementär liegt, ist die Bezugshandlung der akzessorischen Norm. Vgl. unter „Akzessorische Normen“, „Bezugshandlung“. Nachforschungsgebote: Gebote eines Handelns, das dem Handelnden die zutreffende Situations- und Normenkenntnis ermöglicht. Putativnormen: Handlungsnormen, deren Geltung allein in der Vorstellung des Handelnden begründet ist, dass diese Normen in der Situation für ihn gelten. Tun: Im Gegensatzpaar „Tun und Unterlassen“ bedeutet „Tun“ Verursachen. „Unterlassen“ bedeutet das Unterlassen des Verhinderns. Die hier vorgeschlagene Begriffsverwendung ist nicht üblich, ermöglicht aber größere Präzision. Ihr gemäß ist es überflüssig, von einem Verursachen durch Tun zu reden. Unterlassen: Ganz allgemein das Unterlassen eines Handelns, d. h. dessen Nichtvornahme. Veränderung: Ereignis, das einen Unterschied zwischen dem Davor und Danach begründet. Der Bezugspunkt der Veränderung ist oft als Zustand identifizierbar. Veränderungsnormen: Normen, die eine bestimmte Veränderung verbieten oder gebieten, die jedoch den Bezug auf das Gebot und Verbot eines bestimmten Handelns nicht aufgeben. Andernfalls bleiben reine Bewertungen bestehen. Verhaltensnorm: Oberbegriff zu Handlungs- und Verursachungsnormen. Gleichbedeutend mit dem Begriff der Bestimmungsnorm. Verhindern: Der Begriff ist die inhaltliche Negation zum „Verursachen“. Das Verhindern ist ein Verursachen, dass eine Veränderung nicht eintritt. Die bezeichnete Veränderung bleibt hypothetisch, real ist eine entsprechende Nichtveränderung. Verursachen: Der Begriff rechnet Wirkungen auf ein Handeln zu. Ein Verursachen durch Unterlassen ist ausgeschlossen. Der Begriff des Verursachens wird im engen Sinn verwendet, wenn das Verursachen einer Veränderung bezeichnet wird. Der Begriff wird im weiten Sinn verwendet, wenn auch das Verhindern einer Veränderung umfasst ist. Verursachungsgebote: (1) I. e. S. Gebote, eine Veränderung zu verursachen. (2) I.w. S. der Oberbegriff zu Verursachungsgeboten i. e. S. und Verhinderungsgeboten. Verursachungsnormen: Oberbegriff zu Verursachungsverboten und -geboten sowie Verhinderungsgeboten und -verboten. Verursachungsnormen sind Normen, die das Verursachen oder Verhindern einer bestimmten Veränderung verbieten oder gebieten. Im Gegensatz zu Handlungsnormen bezeichnen die Verursachungsnormen lediglich die Wirkung eines Handelns, nicht das Handeln selbst. Verursachungstheorie: Definition von Tun und Unterlassen als Verursachen und Nichtverhindern, verbunden mit der These, dass damit schon die Abgrenzung zwischen Begehungs- und Unterlassungsdelikten geleistet sei. In dieser reinen Form selten vertreten.
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Glossar
Verursachungsverbote: (1) I. e. S. Verbote, eine Veränderung zu verursachen. (2) Oberbegriff zu Verursachungsverboten i. e. S. und Verhinderungsverboten. Zurechnung: Die Annahme eines Normverstoßes. Die Zurechnung einer Veränderung oder von deren Ausbleiben bedeutet die Annahme eines Verursachungsnormverstoßes. Zustand: Ein Zustand ist die Nichtveränderung in bestimmten Hinsichten, ein unverändertes Fortdauern eines identifizierbaren Weltaspekts. Zustandsnormen: Abstraktion aus Veränderungsnormen. Aus einem Veränderungsverbot lässt sich ein Verbot eines (hypothetischen) Zustands und aus einem Veränderungsgebot ein Gebot eines (hypothetischen) Zustands ableiten. Die Ableitbarkeit eines Zustandsgebots aus dem Veränderungsverbot und entsprechend eines Zustandsverbots aus dem Veränderungsgebot ist hingegen zweifelhaft.
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Sachwortverzeichnis Abbruch rettender Kausalverläufe 157 ff., 184, 192 f. Abgrenzung des Begehungs- vom Unterlassungsdelikt 82, 107, 112 ff., 114 – 117, 144 – 171, 173, 175 f., 179 – 184, 189 f. – systematischer Ort 112, 116 f., 146, 150, 176 Ableitung / Beziehung, teleologische, von Normen 16 f., 22 ff., 25 ff., 27 f., 29 ff., 33, 47, 49, 56 ff., 76, 81, 112, 114 f., 124, 136, 162, 171, 185, siehe auch Zurechnung Ableitung von Normen aus generalisierten Handlungsnormen 28 f., 124 Ableitung von Zustandsnormen aus Veränderungsnormen 72 ff. Akzessorische Norm, siehe Handlungsnorm, Bezugshandeln Anstiftung 162, siehe auch Teilnahme Auflage (und Inhaltbestimmung) 140 Bedingte Norm 31 f., 36, 37, 116, 141, 143, 157 Bedingungstheorie, siehe Kausalität Begehungsdelikt, siehe Unterlassungsdelikt Beihilfe 153, 163, siehe auch Teilnahme Beobachterperspektive, siehe Standpunkt Beobachtung / Beobachter 22, 49, 84, 86 f., 91, 93 f. Bestimmungs- und Bewertungsnorm 11, 14, 27, 54 f., 65, 75, 195 Betrug (263 StGB) 23, 132 f., 163 Beurteilung eines Handelns 29 ff., 54 f., 107 Bewertung / Wert 53 f., 74 ff.
– Bewertung und Beschreibung 82, 95, 107, 112, 119, 122, 147 f., 150, 177, 181 f. Bezugshandeln (einer akzessorischen Norm) 32, 33, 113, 116, 141 f., 143, 145 f., 152, 194 Delikt 109 ff., 189, 194 Dulden / Verharren als Handeln oder Unterlassen 144, 147, 164 f., 169 Eigentum 77, 79 Eignung von Normen / Handlungen, konkrete / generelle 25 ff., 28, 47, 57 f., 59 f., 128, 134 ff., 178, 192 Energiekriterium 82, 144, 165, 166, 177 ff. Entscheiden 92 ff. Entscheidungen, höchstrichterliche – RGSt 15/151 (Apothekerfall) 118 ff. – RGSt 34/91 (Theatergarderobenfall) 46 f. – RGSt 63/211 (Ziegenhaarfall) 115 ff., 120 f., 126 f., 135, 170 f., 180, 191 – RGSt 63/392 (Radleuchtenfall) 118, 137 f. – RGSt 75/49 (Öhmdeinlagerung) 140 f. – RG JR 1926 II, Nr. 2302 (Kokainfall) 121 f., 129 f., 135 – BGHSt 11/1 (Radlerfall) 124 ff., 135 – BGHSt 13/13 (Referendarfall) 132 – BGHSt 21/59 (Zahnarztfall) 130 – BGHSt 24/31 (Alternativverhalten bei Trunkenheitsfahrt) 136 f. – BGHSt 30/228 (Massenkarambolage) 129, 131 f.
208
Sachwortverzeichnis
– BGHSt 40/157 (Behandlungsabbruch) 158, 166 ff., zum Reanimatorfall 148 ff., 166 f., 168, 179 f., 183, 190 – BGH NStZ 1999/607, 157 – BGH NStZ 2003/657, 116 Erfolg in seiner konkreten Gestalt 129 Erfolgsdelikt / erfolgsirrelevantes Delikt 109 Erfolgsunrecht (und Handlungsunrecht) 67 f., 73 Erwartung, normative / kognitive 13, 45 f., 79, 86 f. Fahrlässigkeit / Fahrlässigkeitsdelikt 46 f., 52 f., 61, 64, 67, 69, 114, 128, 143, 176, 178, 181, siehe auch Kausalität der Fahrlässigkeit Garantenstellung 81 f., 139, 142, 146, 148 f., 171 Gebote, alternative 40, 157 Gefahr, siehe Eignung, Risiko Gefährdungsdelikt 15, 21, 108 Generalisierte / generelle Norm 20, 26 f., 28 f., 31 f., 57 Grundbegriff der Strafrechtsdogmatik 88, 110, 111, siehe auch Unterlassen Handeln 22, 61, 90 ff., 92 ff., 107 f., 110, 120, 144, 194, siehe auch Unterlassen – normwidriges, siehe Delikt Handlung 22, 92, 110, 180, 194 – kausale Handlungslehre 67, 93, 172 f., 174 – finale Handlungslehre 67 f., 93, 143, 174 f., 178 – soziale Handlungslehre 82, 176 f. – negativer Handlungsbegriff 95 ff. Handlungsdelikt 108 f. Handlungsfähigkeit 88 Handlungsmöglichkeit 85 f., 92, 94, 100, 102, siehe auch Ultra-posse-Prinzip
Handlungsnorm (allgemein) 14, 16, 22 ff., 54, 56 f., 66, 68, 162, 186, 194 Handlungsnorm, akzessorische 16 f., 24, 32 ff., 113, 115, 152, 154 f., 186, 194 – Gebot 28, 35 f., 42 f., 47, 116, 118, 124, 141 f., 146 f., 189 f., 194 – Verbot 36 ff., 43 f., 58 f., 62, 145 ff., 151, 156, 157, 163 ff., 169 f., 190, 193, 194 Imperativentheorie 10 Irrtum 46, 48 Kausalität – als Kriterium der Abgrenzung des Begehung- vom Unterlassungsdelikt 82, 150, 173, 175, 179 f., 195 – alternative Kausalität 131 – Bedingungstheorie 99, 101, 103, 117 f., 118 ff., 122, 129, 131, 132 f., 138, 183 f. – der Normwidrigkeit / der Fahrlässigkeit 102 f., 118, 119 ff., 122 f., 124 ff., 128 – 137, 191 – des Unterlassens 99 ff., 105 ff., 117 f., 119 f., 121, 122, 123, 125, 131, 135 f., 138 f., 140, 160, 176, 178 – einschränkende Definition 147 f., 183 f. – im psychischen / sozialen Zusammenhang 27, 51, 102, 132 f., 138, 156 f., 158 ff., 162 – Theorie vom erfahrungsgemäßen Zusammenhang 49, 101, 132 Kenntnisgebot 30, 44 ff., 52, 58 f., 62, 186, 194 Körperbewegung 82, 93, 149, 172 –174, 177 – 180, 183 Komplementäres Verhältnis 32 ff., 113 f., 115, 195, siehe auch Handlungsnorm, akzessorische Legitimation / Legitimität 128, 134, 135
86, 123, 127,
Mittelbare Täterschaft (in Bezug auf Unterlassungsdelikte) 163, 167 f.
Sachwortverzeichnis Nachforschungsgebot 25, 45, 47, 186, 194 f. Negation 39 f., 50, 83 f. Norm – Gebot und Verbot 18, 39 f., 179 – Normarten / Normenmodell 16 – 21, 82, 185 – Norminhalt 16, 20 f., 24, 82, 179 – Normzweck 13 f., 24, 27, 53 f., 98, siehe auch Schutzzweck Normenlogik 14, 23 f., 33, 40 f., 185 Normentheorie – Gegenstand und Methode 9, 14, 24 – soziologische 12 f., 31 f., 45 f., 75 – der Strafrechtsdogmatik 10 f., 14 f. Normwissenschaft, theoretische/praktische 9, 110 Oberbegriff 89, 105, 109, 110 f., siehe auch Unterlassen Obliegenheit 46 f. omissio libera in causa 37 f., 62, 157, 170 Organisation, arbeitsteilige 35 f., 150, 166, 170 f. Organisationskreis 183 Persönlichkeitsäußerung 89 f., 105 Pflicht (Norm und Pflicht) 20, 56, 62 f., 64, 69 Putativnorm 48, 186, 195 Recht (subjektives) / Rechtsverletzung 77 – 80, 184, 187 f. Rechtfertigungselement, subjektives 131 Rechtsgut / Rechtsgutstheorie 20, 76 ff., 187 Rechtsnorm 10, 12 f., 20, 28, 29, 77, 79, 109 Rechtswidrigkeit 10, 11, 63 ff., 67 f., 69 f., 110, 187 Reduktion, teleologische 26 f.
209
Risiko, erlaubtes 25, 27 f., 30, 35, 53, 57, 69, 122, 126, 134 Risikoerhöhungslehre 126 ff., 134 f., 191 f. Risikokonkurrenz 126 Risikorealisierung 122 Rücktritt vom Versuch 143 Sanktionsnorm, siehe Verhaltensnorm Schuld 64, 67, 70, 110 Schutzzweck der Norm 133 f., 137, 139, 149 Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit 82, 123 f., 180 f., 191 Sein / Sollen 11 f., siehe auch Bewertung Situationsnorm 12, 20, 26, 28 ff., 44, 109 Sonderwissen 30, 45, 66 Sozialer Handlungssinn, siehe Handlung (soziale Handlungslehre) Standpunkt zur Nom, interner / externer 9, 13 Strafrechtsdogmatik 9, 81, 110 Straftatsystem, klassisches 63 f. Struktur (in Bezug auf Normen / Recht) 12 f., 45 Tat 110 Tatbestand 69 f., 107, 111, 112, 116 f. Tatsache 90 Tatumstandsirrtum 46 Teilnahme 108, 162, 168 Teilnehmerperspektive, siehe Standpunkt Tun, siehe Unterlassen, Verursachen Ultra-posse-Grundsatz 38, 45, 56, 58 f., 59, 61, 86, 111 f., 157 Unfallflucht (§ 142 StGB) 43 f., 108 Unrecht, siehe Rechtswidrigkeit Unrechtslehre 69 f. – objektive / klassische 63 ff., 75 – personale 67
210
Sachwortverzeichnis
Unterlassen, siehe auch Kausalität
– Tun und Unterlassen (des Verhinderns), Oberbegriff hierzu 82, 94 f., 96 ff., 103 f., 105 ff., 107 f., 173, 174 f., 178, 182, 188, 195
Verursachen (Begriff) 48 –53, 61, 68, 139, 195, siehe auch Kausalität Verursachungsnorm 14, 16, 18, 22 f., 48 ff., 66, 161 f., 185, 195 f. – Normverstoß 55 ff., 112, 186 f., 189, 192 Vorbereitungshandlung 25 Vorsatz, Vorsatzdelikt 15, 52 f., 64, 67, 68, 69, 131, 142 f., 181
– „Unterlassen durch Tun“ 146, 149, 172, 182
Wert, siehe Bewertung
– Begriff, Möglichkeits- und Erwartungstheorie 83 ff.,100, 111 f., 188, 195 – Handeln und Unterlassen, Oberbegriff hierzu 39 f., 88 ff., 94, 107 f., 120, 188
Unterlassene Hilfeleistung (§ 323c StGB) 108, 151, 154, 155 f., 163 Unterlassensdelikt 87, 108 f. Unterlassungsdelikt 81 f., 97 f., 107 f., 109, 112, 114, 116 f., 137 f., 179, 189, siehe auch Abgrenzung – unechtes (Begriff) 97 f., 171 f. Veränderung 22, 50 ff., 70, 195 Veränderungsnorm 17, 18 ff., 70 ff., 187, 195 Verbot, akzidentielles 38 ff., 148 f., 151, 155, 194 Verbotshäufung 136 Verbotsirrtum 46 Verhalten (als Oberbegriff) 120, 188
88 f., 105,
Verhaltens- und Sanktionsnorm 28, 56, 69, 107, 109, 195
10 – 15,
Verhindern (Begriff) 50, 139, 195 Versuch eines Delikts 42, 48, 108 f., 127, 143
Zeitbestimmungen von Geboten 41 f. Zurechnung – Begriff 55 f., 186, 196 – Erfolgszurechnung, objektive / normative Zurechnung 62 ff., 65, 68 ff., 115, 150, 183 – ordentliche / außerordentliche 61 f. – Regeln / Kriterien 55, 57 ff., 128 f., 133 – 136, 187, 192 Zurechnung / Zuschreibung von Handlungen 35, 84, 106, 150, 153 f., 165, 166, 180 Zustand 50 –52, 70 f., 77 f., 195 f. Zustandsnorm 17, 21, 70 ff., 78 ff., 187, 196 Zweck (und Mittel) 13, 14, 23, 53 f., siehe auch Normzweck, Schutzzweck Zweck- und Konditionalprogramm 31 f., 53, 185 Zweifelsgrundsatz (in dubio pro reo) 123, 125 ff., 132 f.