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German Pages 246 Year 2014
Wulf Kellerwessel Nicholas Rescher – das philosophische System
Reading Rescher
Band 5
Wulf Kellerwessel
Nicholas Rescher – das philosophische System Einführung – Überblick – Diskussionen
ISBN 978-1-61451-800-6 e-ISBN 978-1-61451-808-2 ISSN 2198-2481 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2014 Walter de Gruyter Inc., Boston/Berlin Printing: CPI books GmbH, Leck ♾ Printed on acid-free paper Printed in Germany www.degruyter.com
Vorwort Teile der Philosophie von Nicholas Rescher beschäftigten mich bereits während der Zeit meines Philosophiestudiums: So wurde zunächst im Rahmen der Auseinandersetzung mit modernen Wahrheitstheorien Reschers berühmte Kohärenztheorie der Wahrheit Gegenstand meines philosophischen Interesses. Im weiteren Verlauf des Studiums der Philosophie interessierte mich im Bereich der Erkenntnistheorie das Thema „Skeptizismus“ – und da lag bzw. liegt eine Beschäftigung mit Reschers Skeptizismuskritik nahe. Während der Zeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Philosophie und Wissenschaftstheorie des Philosophischen Instituts der RWTH Aachen fand Reschers Studie „Die Grenzen der Wissenschaft“ mein Interesse, und Gleiches gilt für Reschers Monographie zum Thema „Rationalität“ (die ich seinerzeit für den „Philosophischen Literaturanzeiger“ besprechen konnte). Reschers wissenschaftstheoretische Konzeption des Fortschritts wurde schließlich Thema meines (später auch publizierten) Habilitationsvortrags, nachdem Reschers normative Ethik ausführlich in meiner Habilitationsschrift kritisch erörtert wurde. Schließlich entstand für eine Festschrift noch eine Studie zu Reschers Dialektik. So lag es nahe, ein Buch zu verfassen, das sich mit Reschers philosophischem System insgesamt beschäftigt, welches nicht von einer Schülerin oder einem Schüler Reschers stammt, und welches durchaus – trotz etlicher Übereinstimmungen in wichtigen Punkten – in kritischer Distanz zum Werk Reschers steht. Wenngleich diverse Vorarbeiten schon geleistet waren, zu denen noch ein Literaturbericht für den „Philosophischen Literaturanzeiger“ und eine Vorstellung der vierzehnbändigen „Collected Papers“ Reschers für die „Information Philosophie“ hinzukommen, hat sich die Arbeit an dieser Studie deutlich länger hingezogen als es ursprünglich vorgesehen war. Dazu hat – neben anderen philosophischen Arbeiten – nicht zuletzt die Umfassendheit von Reschers sich weiter entfaltendem System beigetragen, dessen Darstellung weit mehr Teilthemen zu bearbeiten notwendig gemacht hat, als durch die früheren Vorarbeiten schon vorlagen. Zudem wurde bei der Arbeit eine Schwierigkeit immer deutlicher: Wenn man eine einführende Studie, die Beiträge aus etlichen philosophischen Disziplinen angemessen berücksichtigen soll, zu verfassen versucht, stößt man an die Grenzen der bisherigen eigenen Arbeit. Denn bisher hatte ich zu einigen Disziplinen und diversen Themen, die Rescher behandelt hat, nicht gearbeitet. Auch dies hat zu deutlichen Verzögerungen geführt. Für die immense benötigte Geduld, die Herr Dr. Rafael Hüntelmann vom Ontos Verlag aufgebracht hat, möchte ich an dieser Stelle herzlich danken – genauso wie für sein Interesse an meiner Arbeit.
VI | Vorwort
Danken möchte ich an dieser Stelle auch herzlich Herrn Stephan Padel, der Teile des Manuskripts sorgfältig abgetippt hat, für das Formatieren Frau Hannah Klus und Katja Meiners, M.A., sowie für das Korrekturlesen des Manuskripts Frau Kristina Patricia Krüger, BA, Frau Stefanie Menzel und Frau Carolin Kruff, M.A. Für kritische Hinweise danke ich Herrn PD Dr. Joachim Bromand und Herrn Raoul Bußmann, M.A. Ein besonders herzlicher Dank geht an Nicholas Rescher selbst, der mir zahlreiche seiner jüngeren Texte hat zukommen lassen und mein Anliegen, dieses Buch zu schreiben, unterstützt hat. Die Auseinandersetzung mit seinen Gedanken hat mich über Jahre hinweg begleitet und mir zahlreiche interessante Stunden beschert. Dafür möchte ich mich herzlich bedanken. Aachen, im März 2014
Inhalt Vorwort | V 1 1.1 1.2
Einleitung | 1 Interessen und Arbeitsschwerpunkte Reschers | 2 Aufbau der Studie | 4
2 2.1 2.2 2.3 2.4
Philosophiehistorische Einflüsse: Kant, Peirce, Hegel und die Analytische Philosophie | 11 Kants Idealismus in Reschers Perspektive | 11 Peirce und der Pragmatismus Reschers | 13 Methodischer Einfluss: Hegels und Reschers Dialektik | 17 Analytisches Philosophieren | 24
3 3.1 3.2 3.3 3.4
Reschers philosophisches System – ein Überblick | 26 Systemdenken | 26 Reschers Sicht der Philosophiegeschichte | 28 Metaphilosophie | 31 Theorie der Rationalität und Objektivität | 41
4 4.1 4.2 4.3 4.3.1 4.3.2
Reschers philosophisches System | 53 Reschers Anthropologie | 53 Philosophie des Geistes – Rescher über Willensfreiheit | 60 Erkenntnistheorie | 68 Kritik am kognitiven Skeptizismus | 69 Erkenntnistheoretische Grundpositionen: Idealismus, Realismus, Pragmatismus und Kohärentismus | 79 Kohärenztheorie der Wahrheit im Zusammenhang mit der Erkenntnis der Welt | 91 Grenzen der Erkenntnis – mit Blick auf das Alltagswissen: „Epistemetrics“ | 102 Wissenschaftstheorie | 103 Metaphysik | 120 Reschers Ontologie: Prozessontologie | 135 Religionsphilosophie | 145 Sprachphilosophie | 154 Ethik | 167 Moralbegründung und Normenhierarchie | 168
4.3.3 4.3.4 4.4 4.5 4.6 4.7 4.8 4.9 4.9.1
VIII | Inhalt
4.9.2 4.10 4.11 4.11.1 4.11.2 4.11.3 5
Werte und Ideale | 182 Reschers Sozialphilosophie und Politische Philosophie | 186 Anwendungsethiken | 209 Technikphilosophie und Technikethik | 210 Medizinethik | 213 Bioethik | 216 Schlussbetrachtung | 220
Literatur- und Siglenverzeichnis | 229 Personenregister | 237
1 Einleitung Reschers Beiträge zur Philosophie – einleitende Hinweise Das sehr umfassende Œuvre von Nicholas Rescher sticht unter den Werken gegenwärtiger Philosophen zweifelsohne in mehreren Hinsichten heraus: So verbindet er in seinen inzwischen deutlich über hundert Buchpublikationen1 und über tausend Aufsätzen2 Positionen des Idealismus, des Pragmatismus und Methoden sowie Standards der Analytischen Philosophie auf fruchtbare Art und Weise miteinander. Hatte Rescher sich zunächst vor allem mit recht speziellen Themen wie der Logik in der arabischen Philosophie auseinandergesetzt, so hat sich sein Feld philosophischer Betätigungen anschließend immens erweitert. Im Laufe seiner wissenschaftlichen Entwicklung beschäftigte sich Rescher mit den unterschiedlichsten philosophischen und philosophiehistorischen Gebieten, und es gibt tatsächlich nur sehr wenige philosophische Disziplinen, zu denen Rescher keine substantiellen Beiträge geleistet hat. Aber Reschers Philosophie fällt nicht nur durch die immense Breite seines Wirkens auf. Sie zeichnet sich darüber hinaus auch dadurch aus, dass Rescher besondere Ambitionen hatte und hat, ein umfassendes philosophisches System zu konzipieren.3 Er beabsichtigt also nicht, es nur bei der Untersuchung einzelner philosophischer Fragen oder Problemstellungen zu belassen. Rescher intendiert in seiner Philosophie, anders als die meisten der gegenwärtigen Philosophen, ein ausgesprochen umfassendes System zu konzipieren, welches Antworten auf die „großen Fragen“ der Philosophie gibt. Zu diesen großen Fragen der Philosophie gehören beispielsweise Fragen „nach der Stellung des || 1 Aufgrund der Vielzahl der herangezogenen Texte Reschers, die oft auch in demselben Jahr publiziert wurden, werden Reschers Schriften mit Erscheinungsjahr und nachgestellten Siglen angeführt, wenn sie zitiert oder paraphrasiert werden oder auf sie verwiesen wird. Schriften anderer Verfasser werden gemäß amerikanischer Zitationsweise mit Namen und Erscheinungsjahr angegeben. Da Rescher zahllose Texte (Buchteile oder Aufsätze) im Rahmen der Entwicklung seines Systems mehrfach, zum Teil vielfach und außerdem bisweilen in veränderter Form publiziert hat, erheben die Verweise auf Textstellen von Rescher keinesfalls den Anspruch, alle entsprechenden Passagen anzuführen. 2 Vgl. hierzu die Literaturliste am Ende dieses Buches, die eine Auswahl von Reschers Monographien enthält, sowie die 14-bändigen „Collected Papers“ nennt (fortan zitiert als CP mit Bandangabe). Eine sehr stark komprimierte Darstellung dieser Aufsatzauswahl findet sich in Kellerwessel 2008. 3 Laut J. Kekes reicht kaum ein Philosoph aus der langen Geschichte der Philosophie an Rescher heran, sofern es um Ambitionen und Breite der Interessen geht; vgl. Kekes 1998, 60.
2 | Einleitung Menschen in der Natur, der Willensfreiheit, nach Pflicht und Obliegenheit, Wissen und Unwissen“ (Rescher 1997 STS, 61). Thematisiert werden demnach für Rescher die „big problems regarding life, the world, and the human condition“ (Rescher 2010 PT, 22). Dabei geht es in der Philosophie um eine Reihe zentraler Begriffe, meint Rescher: „mind“, „matter“, „causality“, „nature“, „reality“, „truth“, „knowledge“, „agency“, „personhood“, „good“, „right“, „justice“, etc. (vgl. Rescher 2010 PT, 25). Diese Begriffe aus der normalen Sprache bedürfen seines Erachtens der genaueren Klärung. Dabei vereinigt Rescher – wie erwähnt – in seinem Systemdenken idealistische Positionen mit pragmatisch-realistischen Überlegungen im Kontext genauer Analysen und stützt sich auf diverse klassische Positionen der Philosophie, um sie durch entsprechende Veränderungen in sein philosophisches System zu integrieren. Produktiv einbezogen wird somit – auch unter Rückgriff auf eine spezifische Form der Dialektik – in Teilen die Philosophiegeschichte. Reschers eigene philosophische Positionen stehen daher oftmals in einem engen Zusammenhang mit seinen Interpretationen und Wertungen von Positionen einzelner philosophischer Klassiker.
1.1 Interessen und Arbeitsschwerpunkte Reschers Rescher und die Disziplinen der Philosophie Wie kaum ein anderer Philosoph der Gegenwart hat Rescher (fast) alle Disziplinen der Philosophie durch seine Publikationen abgedeckt. In der Praktischen Philosophie finden sich Studien zur Ethik, einige (vergleichsweise wenige) Beiträge zu anwendungsethischen Fragestellungen, Beiträge zur Politischen Philosophie resp. Sozialphilosophie und zur Anthropologie, im theoretischen Bereich finden sich Studien zur Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie, zur Ontologie sowie zur Metaphysik, zur Logik (etwa zur epistemischen Logik4), einschließlich
|| 4 Rescher: Epistemic Logic. A Survey of the Logic of Knowledge (Rescher 2005 EL) enthält ein System epistemischer Logik samt allgemeiner Grundprinzipien und erörtert eine Reihe spezieller Thematiken wie „metaknowledge“, das Wissen von Kollektiven, propositionales Wissen, aber auch andere Wissensformen („Wissen was“ oder „Wissen wer“), nicht wissbare Wahrheiten, unbegrenztes Wissen vs. Wissensgrenzen, Wissen im Kontext der Begriffe „Notwendigkeit“ und „Möglichkeit“, Folgerungen aus Wissensansprüchen und anderes mehr. Inhaltliche Bezüge zu Reschers anderen Arbeiten auf dem Gebiet der Erkenntnistheorie werden dabei deutlich.
Interessen und Arbeitsschwerpunkte Reschers | 3
der Geschichte der Logik5, sowie Überlegungen zur Philosophie des Geistes und zur Sprachphilosophie. Ferner gibt es Beiträge zu den Teildisziplinen der Philosophie der kulturellen Welt in Form von Texten zur Religionsphilosophie und Technikphilosophie. Nicht zuletzt hat Rescher auch auf Gebieten gearbeitet, die im englischsprachigen Raum der „metaphilosophy“ zugerechnet werden. Hier geht es um philosophische Methoden einschließlich der Methoden der angemessenen Interpretation von philosophischen Texten. Insofern kann man wohl zu Recht feststellen, dass Reschers philosophisches Themenspektrum eine außerordentliche Breite aufweist, zumal Rescher noch zusätzlich eine Vielzahl von Monographien vorgelegt hat, in denen einzelne Begriffe umfassend untersucht oder besondere Teilthemen einzelner philosophischer Disziplinen ausführlich erörtert werden.6
Rescher und die Geschichte der Philosophie Dass zudem auch Reschers philosophiehistorische Interessen außerordentlich breit sind, kann anhand von Hinweisen auf einige seiner Studien verdeutlicht werden.7 So finden sich unter seinen Werken Bücher zur antiken Philosophie8, zu Leibniz9, zu Kant10 und Studien zum Pragmatismus insbesondere von Peir-
|| 5 Vgl. zum Beispiel die Texte in: Rescher: Studies in the History of Logic (Rescher CP X). 6 Vgl. zum Beispiel: Rescher 2011 BS (über „Collectives“), die Studie „Predicting the Future. An Introduction to the Theory of Forecasting“ (Rescher 1998 PF), in der es um die Möglichkeit von Vorher- bzw. Voraussagen geht, „What If? Thought Experimentation in Philosophy“ (Rescher 2005 WI) über Gedankenexperimente, „Error“, eine Studie, in der es um den Umgang mit Fehlern geht (Rescher 2007 E), „Aporetics“, eine Monographie, die sich mit Aporien, kontrafaktischen Konditionalsätzen und Paradoxa befasst (Rescher 2009 A). Zudem gibt es eine Studie über das Thema „Ignorance“ (Rescher 2009 I), in der Rescher die Vielfalt des Nichtwissens, seine Gründe und seine Folgen breit erörtert (vgl. hierzu auch Rescher 2006 PD, Kap. 7). Darüber hinaus gibt es weitere Untersuchungen zu einzelnen Begriffen; vgl. beispielsweise Rescher 2007 IPD, Kap. 8 „Regret“. 7 Vgl. etwa Teil 1 von Rescher 1969 EPA. Zu weiteren philosophiehistorischen Zusammenhängen vgl. auch Moutafakis 2007, Introduction. 8 Vgl. beispielsweise „Cosmos and Cognition. Studies in Greek Philosophy“ (Rescher 2005 CC). In diesem Band wird Reschers Bemühen, eine Reihe antiker philosophischer Positionen als kohärente zu interpretieren, deutlich spürbar. Zudem zeigt sich in Einzelheiten, wo antike philosophische Überzeugungen für Rescher in seinem System fruchtbar gemacht werden können. 9 Vgl. CP XIII, Rescher 1981 L, Rescher 2003 L und Rescher 2008 EP, Kap. 9. 10 Vgl. Rescher 2000 KRR.
4 | Einleitung ce11. Über das Gesagte hinaus hat sich Rescher auch mit der Philosophie des Common Sense12 beschäftigt und sich mit der Entwicklung philosophischer Disziplinen in der Philosophiegeschichte befasst.13 Sieht man von den besonders ausführlichen Auseinandersetzungen mit diversen Klassikern der Philosophie ab, auf die weiter unten gesondert eingegangen wird, ist zudem noch festzuhalten, dass sich in Reschers Werken viele kürzere kritische Bemerkungen zu einer Vielzahl wichtiger Philosophen verschiedener Epochen und Strömungen finden. Und auch Auseinandersetzungen mit wichtigen Gegenwartsphilosophen (z.B. Putnam, Davidson oder Wittgenstein) hat Rescher in seinen Werken geführt.
Reschers Systemdenken und die Philosophiegeschichte Vor allem aber sind Reschers Arbeiten zur systematischen Philosophie und zur Philosophiegeschichte eng miteinander verknüpft. Denn zum einen geht Rescher von einer dialektischen Begriffsentwicklung aus, nach der sich Begrifflichkeiten im Verlauf der Philosophiegeschichte ausdifferenzieren (vgl. Kap. 2.3). Da sich mit diesen Entwicklungen zum anderen aber auch Fragen und Problemstellungen weiterentwickeln, sind damit für Rescher die philosophischen Themen in einem geschichtlichen Prozess zu verorten.
1.2 Aufbau der Studie Die vorliegende Studie hat das Ziel, einen breiten Überblick und einen Einblick in Reschers philosophisches System zu geben.14 Sie intendiert daher nicht, alle
|| 11 So befasst sich Rescher mit Peirce in Rescher 1978 PPS, mit dem Pragmatismus unter anderem in Rescher 1977 MP, CP III und in Rescher 2000 RP. 12 Vgl. die Monographie Rescher 2006 CS, die sich mit dem Common Sense in der Geschichte der Philosophie befasst und eine breite Darstellung der Rolle und Funktion des Common Sense in der Philosophie enthält. 13 Vgl. den Aufsatz „The Taxonomy of Philosophy and its Fate“ in Rescher CP I, 61-87. In ihm zeichnet Rescher die zunehmende Ausdifferenzierung der philosophischen Disziplinen von Aristoteles bis zur Gegenwart nach. Vgl. auch Rescher 1994 SPI, Kap. 9. 14 Dabei dürfte es sich um die erste umfassende Darstellung zu Reschers philosophischem System in deutscher Sprache handeln. Die Rezeption Reschers im deutschen Sprachraum wird im Folgenden nicht nachgezeichnet. Vgl. aber unter anderem Wüstehube 1995a, Wüstehube 1995b, Wüstehube 1996 und Wüstehube 1998 sowie Kellerwessel 1994, Kellerwessel 2003b und Kellerwessel 2005. Zudem gab es in der Zeitschrift „Deutsche Zeitschrift für Philosophie“ ein
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Details oder Einzelthesen zu berücksichtigen, sondern die wesentlichen Auffassungen und Begründungen in ihrem (komplexen) Zusammenhang zu erklären.
Allgemeines zum Aufbau der Studie Demgemäß sollen innerhalb der verschiedenen Systemteile, die sich philosophischen Disziplinen und (zentralen) Teilthemen dieser zuordnen lassen (vgl. Kap. 4), die Positionen und Hauptpunkte der Philosophie Reschers zur Sprache kommen, und auch geklärt werden, wie diese jeweils miteinander zusammenhängen. Darüber hinaus sollen aber auch einige Probleme aufgeworfen und Alternativen kurz angerissen werden, um zu verdeutlichen, welche Gegenpositionen in der Philosophie vorhanden sind und was gegebenenfalls zugunsten dieser spricht. Dies hat in erster Linie die Funktion, Reschers Positionen besser verständlich zu machen, etwa indem so (problematische oder strittige) Voraussetzungen deutlich gemacht oder Begriffsverständnisse und Methoden problematisiert werden. Deshalb sollen jene Einwände und alternativen Vorschläge auch nur vergleichsweise kürzer präsentiert werden, und die mit ihnen angesprochenen Kontroversen lediglich angedeutet, aber nicht ausdiskutiert werden.
Aufbau der Kapitel – Kapitel 2 Aus diesem Vorhaben erklärt sich der Aufbau der Studie. Zum besseren Verständnis der sehr komplexen Philosophie Reschers wird nach der Einleitung zunächst in Kap. 2 mit einem kurzen Blick auf die philosophiehistorischen bzw. philosophischen Einflüsse auf Reschers Denken begonnen, und versucht, etwas genauer zu erfassen, worin der jeweilige Einfluss besteht. Deshalb stehen am Anfang der folgenden Darlegungen die philosophiehistorischen Einflüsse von I. Kant, dessen Idealismus deutlich prägende Wirkung auf Rescher entfaltet hat, und der Pragmatismus in der Version, wie er in der Philosophie von Ch. S. Peirce vorliegt. Aber auch auf die immense Einflussnahme durch den Idealismus, der sich mit dem Namen G.W.F. Hegel verbindet, ist einzugehen. Vor allem ist hier ein methodischer Einfluss festzustellen, der von Hegels Dialektik ausgeht. Schließlich ist zu erwähnen, dass auch die Analytische Philosophie auf Rescher gewirkt hat, wenngleich tendenziell eher im Sinne formaler Einflussnahme. Die genannten Einflüsse bestehen aber nicht in vollständigen Übernahmen durch || Symposium zu Reschers Kritik am Konsens-Denken (Rescher 1993 P); vgl. Deutsche Zeitschrift für Philosophie 42 (1994), Heft 2.
6 | Einleitung Rescher, sondern zeigen sich in modifizierten Übernahmen einzelner Positionen oder Thesen, die in Reschers System eingepasst werden. Dies soll in Kap. 2 nachvollziehbar herauszustellen versucht werden.
Aufbau von Kapitel 3 Reschers Philosophie, so wie sie inzwischen vorliegt, versteht man wohl am ehesten, wenn man sie als Ausdruck eines umfassenden Systemdenkens interpretiert. Daher beginnt die Vorstellung von Reschers philosophischem System mit diesem Punkt (vgl. Kap. 3.1), von dem aus sich dann – so ist zu hoffen – alles Weitere erschließen lässt. Das Systemdenken Reschers ist allerdings verknüpft mit Auffassungen über den Gang der Philosophiegeschichte, die gleichfalls thematisiert werden (vgl. Kap. 3.2). Einzugehen ist in diesem Kontext aber auch auf einige Punkte von Reschers Metaphilosophie. In diesen geht es, neben anderen, spezifischeren Punkten, um die geeigneten Methoden des Philosophierens (vgl. Kap. 3.3). Schließlich gibt es einige zentrale Begriffe in der Philosophie Reschers, die nicht nur für eine einzelne philosophische Disziplin Relevanz besitzen, sondern grundlegendere bzw. systematischere Bedeutung haben. Zu diesen Begriffen gehören vor allem die Begriffe „Rationalität“ und „Objektivität“. Rationalität ist für Rescher nicht nur ein Vermögen, welches in theoretischen Bereichen zur Anwendung kommt. Neben einer erkenntnistheoretischen Rationalität gibt es rationales Handeln und Urteilen auch im Bereich des Praktischen, also z.B. auch im Bereich der Moral. Gleiches kann zudem für Reschers Auffassung hinsichtlich des Begriffs der Objektivität festgehalten werden. Auch dieser ist sowohl für die Theoretische als auch für die Praktische Philosophie innerhalb des Rescherschen Systems sehr bedeutsam. Deshalb werden auch Reschers Auffassungen zum Thema „Objektivität“ ausführlicher erläutert (vgl. Kap. 3.4). Dabei spielen Regeln und ihre Hierarchien eine wichtige Rolle, weshalb in diesem Zusammenhang auch das Thema „Regeln“ angesprochen wird.
Aufbau von Kapitel 4 Im Anschluss an diese, die philosophischen Teildisziplinen übergreifenden Überlegungen, soll dann gezeigt werden, wie die Beiträge Reschers zu einzelnen philosophischen Themenfeldern sich zu diesen Vorgaben verhalten bzw. wie sie sich in ein möglichst umfassendes und kohärentes System mit diesen Vorgaben einfügen. Deshalb beginnen die Kapitel, die Reschers Beiträge zu einzelnen Disziplinen vorstellen, auch damit, aufzuzeigen, wie diese Beiträge in das Gesamtsystem hineinpassen. Hier spielen vor allem immer wieder Bezüge
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zum Pragmatismus, aber auch zu Reschers weitem Begriff von Rationalität hinein. Zu beachten ist zudem, auf welche Art und Weise die Orientierung an Begriffen im Rahmen des Begriffsidealismus von Rescher interessante Bezüge ergibt. Bedeutsam werden somit interne, aber auch disziplinenexterne Zusammenhänge, die nicht selten dazu führen, dass Rescher einseitige Betrachtungen und monokausale, übervereinfachende Erklärungen von vorneherein vermeidet. Im Rahmen der etwas detaillierter ausgeführten Vorstellungen der Rescherschen Überlegungen ist zudem vorgesehen, zu erklären, in welcher Weise sich aufgrund des sich durchziehenden Kohärentismus resp. der systematischen Bezüge untereinander weitere Begründungen ergeben, wobei „Begründungen“ in diesem Zusammenhang heißt: gegenseitige Stützung im Kontext eines Kohärentismus. Wie zuvor erwähnt wurde, war und ist Rescher auf einer Vielzahl philosophischer Arbeitsgebiete tätig. Dies soll in der folgenden Darstellung, die Reschers System veranschaulichen und zugänglich machen soll, berücksichtigt werden, indem auf eine große Anzahl (ohne Anspruch auf Vollständigkeit) relevanter Teilgebiete eingegangen wird (vgl. die Unterkapitel zu Kap. 4). Bei der Vorstellung dieser soll, nachdem die Positionierungen im Feld des philosophischen Systems erfolgt sind, das Augenmerk zuerst auf die allgemeinen, grundlegenden Annahmen gelegt werden, ehe danach auf besonders bedeutsam scheinende Einzelheiten eingegangen wird (wiederum ohne Anspruch auf Vollständigkeit). Mit einzubeziehen ist dabei nicht selten Reschers Kritik an alternativen Positionen, aus denen er bisweilen seine eigenen Einstellungen heraus entwickelt hat. Am Anfang der Darstellung und Diskussion von Reschers Beiträgen zu den philosophischen Disziplinen steht die Anthropologie (siehe Kap. 4.1), in der Rescher vor allem allgemein zu erfassen versucht, was der Mensch ist, und welche Rolle sein Wissen von der Welt samt dessen praktischer Anwendung für ihn spielt. Reschers Anthropologie ist sehr allgemein gehalten und sowohl für die theoretischen wie für die praktischen Disziplinen von großer Bedeutung. Deshalb steht sie am Anfang von Kap. 4. Begonnen wird im Anschluss an die anthropologischen Erörterungen im Feld der Theoretischen Philosophie mit der Philosophie des Geistes, wobei ein deutlicher Schwerpunkt auf Reschers Ausführungen zu dem Thema „Willensfreiheit“ liegt. Rescher verteidigt in seinen Schriften die menschliche Willensfreiheit. Dies passt in den Zusammenhang seiner philosophischen Positionen in mehrfacher Hinsicht: Ist der Mensch frei, kann er auch moralisch verantwortlich sein; außerdem harmoniert diese Vorstellung mit dem Selbstbildnis des Menschen als einem freien Wesen. Sofern dies zugleich eine Annahme des
8 | Einleitung Common Sense ist, der in Reschers System Berücksichtigung findet, resultiert daraus ein weiteres Zusammenpassen. Eine besonders intensiv von Rescher bearbeitete philosophische Disziplin ist die Erkenntnistheorie, was mit der großen Bedeutung des (praktischen) Wissens für den Menschen für das Leben in der Welt und seine Orientierung in der Welt zusammenhängen mag. In dem entsprechenden Unterkap. 4.3 werden Reschers Grundüberzeugungen und Grundannahmen vorgestellt, und es soll darüber hinaus herausgestellt werden, wie sich diese epistemischen Überzeugungen in sein philosophisches System einpassen. Dabei wird ein besonderes Augenmerk auf Reschers Version einer Kohärenztheorie der Wahrheit gelegt, die integraler Bestandteil von Reschers Erkenntnistheorie ist. Aber auch weitere zentrale Positionen sollen erörtert werden, etwa Reschers Antiskeptizismus und vor allem seine kohärentistische, pragmatische, fallibilistische, idealistische und doch zugleich realistische Erkenntnistheorie. Sie wird sowohl hinsichtlich ihrer Methodik erörtert als auch mit Blick auf ihre Resultate vorgestellt. Dazu treten noch kürzere Ausführungen zu einem weiteren erkenntnistheoretischen Thema, dem Rescher wiederholt seine Aufmerksamkeit geschenkt hat: den Grenzen menschlicher Erkenntnis. Im Rahmen der Wissenschaftstheorie (vgl. Kap. 4.4) geht es sodann um Reschers Verständnis von Wissenschaft im Allgemeinen. Zu erörtern sind hier zunächst vor allem die wissenschaftlichen Verfahren, was in diesem Fall heißt, dass hier Reschers pragmatisches Verständnis der wissenschaftlichen Methode der Erkenntnisgewinnung vorgestellt wird. Doch auch einige etwas speziellere Fragen der Wissenschaftstheorie haben Reschers Aufmerksamkeit wiederholt gefunden und sind offenkundig von Bedeutung für sein philosophisches System. Zu nennen sind hier vor allem die Fragen nach dem wissenschaftlichen Fortschritt und den möglichen Grenzen der wissenschaftlichen Erkenntnis. Grundlegend für Reschers Theoretische Philosophie sind einige metaphysische und ontologische Überzeugungen. Im Rahmen seiner Metaphysik (vgl. Kap. 4.5) geht es vor allem um die Klärung einiger einschlägiger allgemeiner Begriffe wie „Wirklichkeit“ bzw. „Realität“, „Fiktion“, „Existenz“, „Essenz“ und „Kategorie“, aber auch um die Termini „Notwendigkeit“ und „Möglichkeit“, was bei Rescher zu einer Kritik an den gegenwärtigen „Mögliche-WeltenKonzeptionen“ führt. Zudem geht es um „Werttatsachen“, was auf die Verbindung mit der Praktischen Philosophie von Rescher hinweist. Thematisiert wird darüber hinaus (in kürzerer Form) Reschers „Optimalismus“, also seine Überlegung hinsichtlich der Güte der Welt. Weiterhin zu erörtern sind Reschers Vorstellungen im Rahmen der Ontologie (vgl. Kap. 4.6). Rescher ist Vertreter einer sogenannten „Prozessontologie“, die es näher zu charakterisieren gilt. Dies soll erfolgen, indem auch auf die
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Gegenposition, die etwa P.F. Strawson vertreten hat, eingegangen wird. Zudem ist auch hier aufzuzeigen, wie die Prozessontologie in den Rahmen der Philosophie von Rescher eingepasst ist. Dabei ist kurz auf verschiedene Bezüge einzugehen, wie z.B. (nochmals) auf den Begriff der Person, auf den Kontext von Naturphilosophie und Evolution und anderes mehr. Im Weiteren ist außerdem sinnvollerweise auf Reschers Beitrag zur Religionsphilosophie einzugehen (vgl. Kap. 4.7). Relevant sind hier Überlegungen zu Gottesbeweisen (auch im Kontext axiologischer Überlegungen) und in Verbindung damit zum sprachphilosophischen Status des Wortes „existieren“, aber auch zum Begriff „Gott“ in prozesstheologischer Perspektive, was einen Bezug zu Reschers Ontologie anzeigt. Erläutert werden soll allerdings auch, welchen methodischen Stellenwert Hinweise auf Gott für die Philosophie Reschers haben. Einzugehen ist darüber hinaus im Rahmen der Theoretischen Philosophie auf Reschers Darlegungen zur Sprachphilosophie (vgl. Kap. 4.8). Diese sind zwar weniger ausführlich als manch andere Beiträge Reschers zu den theoretischen Disziplinen der Philosophie, aber gleichwohl finden sich etliche Annahmen, Argumentationen und Hinweise sprachphilosophischer Natur. Sie betreffen vor allem – aber nicht nur – die pragmatisch interessante Frage, wie wir Menschen über Dinge erfolgreich kommunizieren können. Einbezogen sind dabei Überlegungen, die zu den Themen „Informationsweitergabe“, „Objektivität“ und „Referenz“ („Bezugnahme“) gehören. Zudem differenziert Rescher zwischen Semantik und Pragmatik und versucht diese Unterscheidung systematisch fruchtbar zu machen. Ferner spielt der Begriff „Begriffsschema“ eine Rolle, auf den kurz eingegangen wird (und damit auf eine Kontroverse mit D. Davidson). Viel Aufmerksamkeit hat bei Rescher neben der Theoretischen Philosophie auch die Praktische Philosophie erfahren. So hat er im Lauf der Jahre eine umfassende Ethik konzipiert, die wiederum als Teil seines philosophischen Systems zu verstehen ist (vgl. Kap. 4.9). Vorgestellt werden sollen Reschers Überzeugungen hinsichtlich einer Moralbegründung, die auf anthropologische resp. ontologische Annahmen zurückverweist, aber auch seine Ideen zur Aufstellung einer Regel- bzw. Normenhierarchie, die einen Pluralismus, aber keinen Relativismus zulässt. Einzugehen ist darüber hinaus auf die Wertkonzeption Reschers, der zufolge Werte tertiäre Eigenschaften darstellen, und auf die Funktion von Idealen in der Moralphilosophie. Ferner sollen auch Reschers Politische Philosophie und seine Sozialphilosophie Gegenstand der Betrachtung sein (vgl. Kap. 4.10). Erörtert werden in diesem Kontext Reschers Überlegungen zum Thema „Gerechtigkeit“, die er zunächst in kritischer Auseinandersetzung mit dem Utilitarismus entwickelt
10 | Einleitung hat, und seine Überlegungen zum Thema „Fairness“. Außerdem soll es im Rahmen der Politischen Philosophie um Reschers kritische Überlegungen zum Thema „Konsens“ gehen. Hier wird vor allem auch seine Auseinandersetzung mit Habermas Gegenstand der Erörterungen werden. Gleichfalls werden die (quantitativ weniger umfassenderen) Beiträge zu den verschiedenen Anwendungsethiken wenigstens teilweise in den Blick genommen (vgl. Kap. 4.11). So finden sich in seinem Werk Überlegungen zum Zusammenhang von Technik und Glück, die der philosophischen Disziplin der Technikethik zugeordnet werden können, aber auch (wenige) Beiträge zur Medizinethik und zur Bioethik. Auf diese Überlegungen zur praktischen Konsequenz des Systemgebäudes von Rescher soll zum Abschluss von Kap. 4 eingegangen werden. Neben der Darstellung resp. Rekonstruktion des jeweiligen philosophischen Systemteils und seiner Hauptkomponenten erfolgt aber auch eine Problematisierung bzw. eine kurze kritische Diskussion des Systems und einiger seiner zentralen Komponenten, und zwar in Form einer Schlussbetrachtung am Ende der jeweiligen Kapitel bzw. Unterkapitel, die etwaige Probleme benennt und auf Ergänzungen wie Alternativen kurz verweist. Hierbei geht es jedoch nicht um eine vollständige Ausarbeitung aller denkbaren Detailkritiken.
Zu Kapitel 5 Zudem soll das Schlusskapitel (vgl. Kap. 5) eine kritische Diskussion des idealistischen und kohärentistischen Ansatzes insgesamt enthalten. Während in Kap. 4 vornehmlich kritische Diskussionen zu Aspekten von Reschers Philosophie, die einzelnen Disziplinen zugeordnet werden können, bzw. Detailkontroversen thematisiert werden, gilt dies nicht für Kap. 5. Dort geht es darum, auf einer in höchstem Maße allgemeinen Ebene die Positionen und Methoden Reschers (kurz) zu problematisieren bzw. kritische Anmerkungen zu diesen allgemeinen Punkten anzusprechen. Auch hier geht es aber nicht um eine Vollständigkeit beanspruchende oder abschließende Diskussion, sondern lediglich um kritische Beiträge, die den Status von Anregungen haben sollen.
2 Philosophiehistorische Einflüsse: Kant, Peirce, Hegel und die Analytische Philosophie Rescher ist philosophisch von mehreren Denkern deutlich beeinflusst worden. Zu nennen sind – neben den akademischen Lehrern und damit Vertretern der Analytischen Philosophie – wohl vor allem Kant, Hegel und Peirce. Dabei scheinen die genannten Philosophen in unterschiedlicher Intensität auf Inhalte, aber auch auf methodische Überlegungen eingewirkt zu haben.
2.1 Kants Idealismus in Reschers Perspektive Kants Theoretische Philosophie und Rescher Deutlich erkennbar ist vor allem die Wirkung der kritischen Philosophie von Kant auf Rescher, und zwar insbesondere im Bereich der Theoretischen Philosophie.1 Rescher ist primär am philosophischen System von Kant und an dessen Grundlagen interessiert, wie sie in dessen „Kritik der reinen Vernunft“ entfaltet sind. Zudem wird Kant nicht nur als Vertreter des Kritizismus gewürdigt, sondern auch als ein Vorläufer des Pragmatismus, also als „Protopragmatist“, verstanden. Kants bevorzugte Mittel der Problemlösung seien begriffliche Unterscheidungen, die er immer wieder in den Rahmen eines systematischen Ansatzes einführt – ein Verfahren, das Rescher adaptiert hat. Kants Vorstellungen von Idealität seien überdies nicht ontologisch zu verstehen, sondern funktional bzw. nach Rescher pragmatisch. Was man bei Kant finde, seien gedankliche Werkzeuge, mit deren Hilfe man der Welt und den Teilen der Welt auf die Spur kommen könne. Auch dies ist etwas, was sich bei Rescher innerhalb seines Denkens wiederfindet: Begriffsbildungen, mit deren Hilfe die Welt, wie sie für uns Menschen (zugänglich) ist, zu erfassen sei. Entsprechend sei, so Rescher, Kants Annahme eines Dings-an-sich auch kein metaphysisches Zugeständnis, welches ohnehin nicht zu den Fundamenten der kritischen Philosophie Kants passen würde. Es sei lediglich ein durch Abstraktion gewonnener Grenzbegriff, über den man nichts Positives wissen
|| 1 Vgl. zum Folgenden vor allem Rescher 2000 KRR.
12 | Philosophiehistorische Einflüsse: Kant, Peirce, Hegel und die Analytische Philosophie könne (anderenfalls würde Kants System inkonsistent), den man aber denken könne. Über einzelne Dinge-an-sich ließe sich demgemäß auch gar nichts positiv aussagen, feststellen lasse sich lediglich ex negativo, dass sie nicht raumzeitlich etc. sind, und damit auch nicht für Menschen erkennbar sein können. Sie würden nur aus dem Grunde hinzugedacht, weil für Kant Erkennbares erscheint, es also Erscheinung von etwas sein müsste. Insofern seien Dinge-an-sich Postulate des menschlichen Verstandes; sie bewerkstelligen, so Rescher mit Kant, dass unsere Erfahrungen von Dingen von bloßen (imaginierten) Vorstellungen von Dingen unterscheidbar sind – im Rahmen unseres Begriffsschemas. Kausale Beziehungen zwischen Dingen-an-sich und Erscheinungen werden demzufolge konsistenter Weise nicht gewusst oder entdeckt, sondern gedacht; sie sicherten Ansprüche auf Objektivität. Grundlegend für Kants Erkenntnistheorie ist, so Rescher, die Systematizität des Erkennens; sie sei für das Verstehen vorausgesetzt. Denn einzelne Phänomene würden verstehbar, wenn sie unter allgemeine Gesetze gebracht werden können, und diese allgemeinen Gesetze selbst würden verständlich, wenn sie in einen kohärenten, geordneten Rahmen eingepasst wären. Dabei unterstelle Kant, und auch dies übernimmt Rescher von ihm, die Systematizität des Wissens; sie sei nicht das Resultat einer Entdeckung, sondern von vornherein anzunehmen. Das besagt, dass die Annahme der Systematizität der Natur eine methodische Leitlinie darstellt, die aus Vernunftgründen angenommen wird. Für das Verstehen der Natur bedürfe es jedoch der Annahme bzw. Unterstellung von Zwecken in der Natur. Teleologische Konzeptionen wären zwar ohne theoretische Rechtfertigung und ohne faktische Entsprechung, aber nützlich im Untersuchen der Natur: Sie zwingen zur Systematisierung (Unvollständigkeiten oder Inkohärenzen seien schließlich zu vermeiden). So sei Kant ein Vorläufer des Pragmatismus, genauer: eines methodischen Pragmatismus, da er nicht einzelne Erkenntnisse aufgrund von Nutzenerwägungen akzeptiert, sondern Methoden aufgrund ihrer Nützlichkeit verwendet.
Kants Ethik und Reschers Philosophie Aber auch in der Moralphilosophie gibt es deutliche Bezüge Reschers zu Kant. Dies verdeutlichen Reschers Darlegungen zu Kants Kategorischem Imperativ, dem Herzstück der Ethik Kants, wie sie sowohl in der „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ als auch in der „Kritik der praktischen Vernunft“ entfaltet sind. Diesem Imperativ zufolge sind diejenigen Handlungen zulässig, die einer Maxime, also einem subjektiven Bestimmungsgrund des Akteurs, folgen, der universalisierbar ist. Inakzeptabel sind demnach Handlungen gemäß nicht universalisierbaren Maximen resp. subjektiven Bestimmungsgründen, die nicht
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ohne Widerspruch verallgemeinert gedacht werden können, und Handlungsweisen, die Maximen gemäß sind, die von Vernunftwesen nicht ohne Widerspruch gewollt werden können. Gegen Kants Konzeption werden allerdings immer wieder Gegenbeispiele angeführt, die verdeutlichen sollen, dass Kants Position inakzeptabel ist, da – moralisch gute – Handlungen ausgeschlossen (z.B. alles den Armen geben) oder moralisch akzeptable eliminiert werden (z.B. keine Kinder zeugen oder gebären) oder unvertretbare eingeschlossen wären (einer kranken Person Medizin verschreiben – was eben nicht jeder darf, da dies nur medizinisch Ausgebildeten zukommt). Um dergleichen Probleme zu beseitigen schlägt Rescher vor, die Kantsche Universalisierung zu konditionalisieren, was zu einem pragmatischen, also auf Anwendungen bezogenen Verfahren durchaus passe: Neben der Handlung und ihren Gründen seien die relevanten Handlungsumstände einzubeziehen (sodass z.B. alle Ärzte Medizin verschreiben dürfen, aber nicht alle Akteure). Entsprechend würden universelle Regeln gelten, die aber je nach Handlungssituation unterschiedliche Anpassungen erfahren müssten. Dies wiederum sei konsistent mit Kants Grundidee, der zufolge man als Vernunftwesen rational handeln soll. Allerdings wird noch gezeigt werden, dass Rescher in Fragen der Moralphilosophie durchaus eigene Wege geht (vgl. Kap. 4.9), auch wenn einige der Grundintentionen Kants gewahrt bleiben und beide eine deontologische Moralkonzeption vertreten.
2.2 Peirce und der Pragmatismus Reschers Klassischer Pragmatismus und Reschers Philosophie Unstrittig ist die Beeinflussung Reschers durch den Pragmatismus, insbesondere durch den Pragmatismus von Ch. S. Peirce2. Dabei bezeichnet der Begriff „Pragmatismus“ eine Vielzahl unterschiedlicher Positionen, die unterschiedlichen philosophischen Disziplinen zugeordnet werden können. Gemeinsam ist ihnen, kurz gesagt, dass sie die Geeignetheit von Theorien, Hypothesen, Annahmen usw. an der funktionalen Effektivität messen. Auffassungen, Theorien oder Verfahrensweisen werden nicht um ihrer selbst willen angenommen, sondern um bestimmte Ziele erfolgreich zu verfolgen (vgl. hierzu Rescher 2007 IPD, Kap. 11).
|| 2 Vgl. zum Folgenden Rescher 2000 RP, aber auch die „Studies in Pragmatism“ (Rescher CP II).
14 | Philosophiehistorische Einflüsse: Kant, Peirce, Hegel und die Analytische Philosophie
„Linker Pragmatismus“ versus „rechter Pragmatismus“ Für Rescher ist es sehr wichtig, festzuhalten, wie uneinheitlich die Strömung des Pragmatismus war und ist, denn im Grunde genommen zerfällt für ihn der Pragmatismus in zwei Teilströmungen. Er selbst knüpft nicht an beide an, sondern nur an eine der zwei Strömungen. Ihm geht es in diesem Zusammenhang vor allem darum, sich von den relativistischen Positionen, die Reschers Auffassung nach in der Nachfolge des Pragmatismus entstanden sind, abzugrenzen. Vor allem R. Rorty wird auf diese Weise zu einem Antipoden Reschers im modernen Pragmatismus resp. Neopragmatismus. Denn für Rescher gilt es, rationale Standards aufrechtzuerhalten bzw. zu installieren, und damit den Pragmatismus als eine Position zu entwickeln, die Begriffe wie „Wahrheit“ oder „Richtigkeit“ klärt und nicht abschafft. Die beiden stark divergierenden Teilströmungen des Pragmatismus bezeichnet Rescher als „pragmatism of the left“ und „pragmatism of the right“. Dem „linken Pragmatismus“ zufolge sind Wahrheiten menschlich erzeugte und nicht entdeckte Konstrukte, er akzentuiert soziale Konsense und Konventionen und steht der Annahme rationaler, allgemeiner und objektiver Standards kritisch gegenüber; er betont bei epistemischen wie moralischen Standards deren Abhängigkeit von menschlichen bzw. gesellschaftlichen Konventionen. Moralität habe daher gemäß dem „linken Pragmatismus“ keine Basis außerhalb sozialer Konventionalität; entsprechend vertrete er relativistische Positionen. Demgegenüber stehe ein „rechter Pragmatismus“, der sich von der anderen Version markant unterscheidet: Er sieht die Wissenschaften als durch Wahrheitssuche geprägt und akzeptiert das Vorhandensein von rationalen, allgemeinverbindlichen Normen und objektiven Standards, die in der – falliblen, also vorläufig für wahr erachtete Ergebnisse hervorbringenden – Wissenschaft wirksam sind. Generell können gemäß dieser Auffassung Standards und Methoden anhand ihrer Wirksamkeit beim Erreichen angestrebter Ziele getestet und validiert werden.3 Dies gelte neben dem Bereich des Theoretischen auch für den Bereich des Praktischen bzw. Moralischen, sodass eine von der jeweiligen Gesellschaft unabhängige, nicht relative Begründungsbasis für Normen bestehe. Denn nach Rescher bestehen auch für den Menschen Ziele, die ihm als Mensch vorgegeben seien (vgl. Kap. 4.1), die sich objektiv rational bewerten lassen und die effektiv und effizient zu verfolgen wären. Verfechter jenes „linken Pragmatismus“ seien vor allem W. James, F.C.S. Schiller und R. Rorty, Vertreter jenes „rechten Pragmatismus“ neben Ch.S. Peir-
|| 3 Diese Methoden sind deshalb nach Rescher ein Produkt der kulturellen Evolution; vgl. Rescher 2011 PE, 49 ff.
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ce und C.I. Lewis in der Gegenwart H. Putnam – und Rescher selbst. Reschers Pragmatismus steht damit der Philosophie von Peirce oder auch C.I. Lewis sehr viel näher als der von James oder Schiller oder auch dem Neopragmatismus von R. Rorty, deren Positionen insgesamt kritisch bewertet werden.4
Reschers Pragmatismus als Form des „rechten Pragmatismus“ Daher versucht Rescher, einen an Peirce anknüpfenden, methodenorientierten, objektiven Pragmatismus zu entwickeln. Im Zentrum seiner Konzeption stehen demgemäß Ausarbeitungen und Begründungen von Standards bzw. Prinzipien, mit deren Hilfe Ideen, Theorien und Verfahrensweisen pragmatisch und objektiv bewertet werden können. Dies unterscheidet Reschers Version eines Pragmatismus bereits deutlich von einem („linken“) Pragmatismus, der im Gegensatz dazu einzelne Thesen am Erfolg (für ein Individuum) testet (wie es bei James und Schiller vorgesehen sei). Geteilt wird mit dieser Vorstellung lediglich, dass Erfolg grundsätzlich als Testkriterium herangezogen werden kann. Durch die genannte Abweichung vom Thesen-Pragmatismus ergibt sich, dass man einem ansonsten triftigen Kritikpunkt entgeht: dem Einwand, dass es durchaus nützliche Irrtümer oder scheinbare Wahrheiten („Wahrheiten“ im Sinne des „linken“ Pragmatismus) geben kann (vgl. hierzu Moore 2007, Kap. 3). Zudem bietet Reschers Konzeption den Vorteil, die Wissenschaft von der Natur als ein methodisch geleitetes, sich selbst korrigierendes, fallible Ergebnisse erzeugendes und auf Wahrheitssuche ausgerichtetes Unternehmen zu verstehen – eine antiskeptische Auffassung, die auch der Unterbestimmtheit von Theorien durch Daten gerecht werde. In Abweichung von Peirce nimmt Rescher jedoch nicht an, dass der wissenschaftliche Prozess sich einer letzten Wahrheit annähert.
Pragmatismus, Realismus und begrifflicher Idealismus Von großer Bedeutung ist für Rescher, dass man eine geistesunabhängige Wirklichkeit zu unterstellen bzw. zu postulieren habe, um die erkenntnistheoretischen und die naturwissenschaftlichen Tätigkeiten angemessen erfassen zu können – und zwar aus pragmatischen Gründen. Das besagt: Man kann Rescher zufolge aufgrund funktionalistischer bzw. pragmatischer Überlegungen einen Realismus (gemeint ist: das Vorhandensein einer geistunabhängigen Realität)
|| 4 Vgl. zu Reschers Sicht auf den Pragmatismus und seine Varianten auch die tabellarische Übersicht in Rescher 2008 BV, 91.
16 | Philosophiehistorische Einflüsse: Kant, Peirce, Hegel und die Analytische Philosophie postulieren. Genauer: Rescher präsupponiert bzw. postuliert aus methodischen Überlegungen einen Realismus und eine erreichbare Objektivität, deren Annahmen sich pragmatisch bewährt hätten und die dafür aufkämen, – dass man Wahrheit und Falschheit unterscheiden kann, – dass man zwischen Realität und Erscheinung differenzieren kann, – dass man eine Basis für die intersubjektive Kommunikation über etwas hat, – dass man gemeinsam forschen kann, – einen Fallibilismus hinsichtlich menschlichen Wissens akzeptieren zu können – und zudem eine Basis für objektiv geltende Erfahrungen zu haben. So könne das Wahrheitsstreben als Streben nach Korrespondenz zwischen Aussagen und Sachverhalten verstanden, und der Unterscheidung zwischen objektiver Wirklichkeit und subjektiver Erscheinung Sinn im Kontext eines Pragmatismus abgewonnen werden (vgl. hierzu Rescher 2001 CM, 113 ff.). Im Auge zu behalten ist in diesem Kontext, dass Rescher in Verbindung mit der realistischen Grundannahme einen begrifflichen Idealismus vertritt, nach dem nicht nur, wie schon erwähnt wurde, eine vom Menschen unabhängig existierende Welt vorhanden bzw. zu postulieren ist, sondern nach dem die Eigenschaften physischer Gegenstände vom Geist und vor allem von Begriffen, die wir verwenden, abhängen. Die Welt „für uns“ sei zu unterscheiden von „der wahren Welt“ (siehe dazu auch die obigen Ausführungen zur Kant-Rezeption von Rescher), Letzteres im Sinne von Peirce verstanden als ‚Welt, wie eine ideale Wissenschaft sie sehe’; eine wahre Welt, die aber von unserem Begriffssystem unterstellt wird, und dies letztlich wiederum aus pragmatischen Gründen. So hängen bei Rescher begrifflicher Idealismus, Realismus und Pragmatismus eng zusammen. Diese drei Komponenten zusammen ermöglichen Rescher zufolge die wissenschaftliche Erforschung der Welt und die Orientierung des Menschen in dieser Welt. Zudem kann, meint Rescher, so die informative Rede über die durch sie unterstellten objektiv vorhandenen Gegenstände und Kausalitäten zwischen ihnen einsichtig gemacht werden. Hat man die genannten Unterstellungen einmal gemacht, lässt sich dies Rescher zufolge auch im Nachhinein rechtfertigen, da diese Unterstellungen außerordentlich erfolgreich sind. Dieses Vorgehen passt ferner kohärent zu einem sprachphilosophischen Pragmatismus, der zwischen pragmatischen Gebrauchsbedingungen (Bedingungen der Behauptbarkeit) sowie (auf der semantischen Ebene liegenden) Wahrheitsbedingungen unterscheidet, und die „Bedeutung“ unter Rückgriff auf beide Ebenen zu klären versucht.
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Objektive Standards, wie sie der „rechte Pragmatismus“ befürwortet, gibt es laut Rescher auch im Bereich des Praktischen resp. des Moralischen. Beispielsweise ergeben sich für die vernunftbegabten Menschen aufgrund ihrer Bedürfnisse bestimmte grundlegende, allgemeinmenschliche Werte und Ziele. Zu diesen zählt, so Rescher, die Befolgung eines Imperativs, sich rational zu verhalten, was zu Kooperationen verpflichte, vor allem aber gebiete, seiner ontologischen Verpflichtung der Selbstverwirklichung („ontological duty of selfrealization“) nachzukommen, also seine Fähigkeiten zum Guten und zum Rationalen auszubilden. Damit unterscheidet sich diese „rechte“ Form des Pragmatismus einmal mehr deutlich von der laut Rescher irrationalistischen, skeptizistischen oder relativistischen „linken“ Version des Pragmatismus.
2.3 Methodischer Einfluss: Hegels und Reschers Dialektik Einführende Hinweise zu Reschers Dialektik Reschers Idee der Entwicklung von philosophischen Theorien im Verlaufe der Geschichte (siehe hierzu Kap. 3.2) ist deutlich durch die Ideen G.W.F. Hegels mitgeprägt. Vor allem spielt Hegels Dialektik in diesem Zusammenhang eine besondere Rolle. Gleichwohl ist hervorzuheben, dass Rescher keinesfalls Hegels Dialektik unverändert übernimmt. Im Gegenteil: Rescher nimmt substantielle Veränderungen an der Begriffsbestimmung von „Dialektik“ vor.5 Im Rahmen der Überlegungen zur Dialektik ist für Rescher nämlich der Versuch zentral, die Nützlichkeit der Verbindung des von Hegel entlehnten Begriffs von Dialektik mit pragmatischen Ideen aufzuzeigen, was zu einer wichtigen Differenz im Dialektikverständnis führt, denn es gibt Rescher zufolge – anders als für Hegel – immer mehrere Alternativen im Denken bzw. eine Mehrzahl von Möglichkeiten, sich kritisch mit einer bereits vorhandenen Position auseinanderzusetzen und diese weiterzuentwickeln. Dies führt wiederum zu weiteren Diskrepanzen, und schließt – contra Hegel – aus, dass es eine für jedes Zeitalter charakteristische Philosophie gebe, der dann eine andere zeitlich nachfolge. Vielmehr, so || 5 Diese spezifische Begriffsbestimmung kristallisiert sich in einigen Werken von Rescher heraus, unter anderem bereits in der Monographie „Dialectics“ von 1977 (Rescher 1977 D) und der Schrift mit dem deutschen Titel „Der Streit der Systeme“ (Rescher 1997 STS). Sie wird vor allem in „Dialectics. A Classical Approach to Inquiry“ (Rescher 2007 D) ausführlich entfaltet. Vgl. zu Reschers Dialektik im Vergleich zur hegelschen Dialektik auch Kellerwessel (2003b). Die nachfolgenden Ausführungen basieren auf diesem Text. Vgl. zu Reschers Dialektik ferner Rescher 2009 A, Kap. 8 und Rescher 2006 PD, vor allem Kap. 8.
18 | Philosophiehistorische Einflüsse: Kant, Peirce, Hegel und die Analytische Philosophie Rescher, gebe es immer parallel verschiedene philosophische Theorien, die miteinander konkurrierten (vgl. Rescher 2006 PD, 89). Da Philosophie ein kreativer Prozess sei, gibt es nach Rescher kein inneres philosophisches Entwicklungsgesetz (vgl. Rescher 2006 PD, 91).
Reschers „Dialectics“ Reschers erste, sehr ausführliche Erörterung zum Thema „Dialektik“ findet sich in seiner Monographie „Dialectics“ von 1977 (Rescher 1977 D). Bereits in diesem Text versteht Rescher die dialektische Methode als ein Instrument „for probing and evaluating pro factors and the con factors and for setting them out systematically“ (Rescher 1977 D, 51). Sie dient also der Abwägung wie der Systematisierung von Abwägungsresultaten. Reschers Dialektik ist demnach ein Bestandteil der „rational inquiry“, wird also als eine Methode zum Gewinn von Erkenntnissen verstanden. Sie geht von plausiblen (also nicht gewiss wahren) Annahmen aus, „whose role in inquiry is (at this stage) one of regulative facilitation“ (Rescher 1977 D, 56). Im weiteren Verlauf einer Untersuchung können sie neu validiert werden und sich gegebenenfalls auch als falsch herausstellen. Dabei fasst Rescher den Begriff „Dialektik“ als ausgesprochen allgemeines Untersuchungsverfahren auf. Es ist gekennzeichnet durch einen Startpunkt (einen „input“ z.B. in Form einer plausiblen Annahme), dem eine Erwiderung oder Antwort („response“) entgegensteht (sei es eine Gegenreaktion oder ein „reply“ oder dergleichen). Diese sorgt für eine Transformation bzw. Revision, die als Modifikation, Verfeinerung oder Verkomplizierung des ursprünglichen Ausgangspunktes in Erscheinung tritt (vgl. Rescher 2007 D, 1). Diese veränderte Position kann dann Gegenstand einer weiteren Operation werden. Der sich so ergebende Prozess ist iterierbar, was zu Weiterentwicklungen führt. In diesen Forschungsprozess ist nach Rescher eine Form dialektischer Logik einbezogen, die aber nicht in Konflikt mit der klassischen Logik stehen darf. Vor allem ist nach Rescher der Satz vom zu vermeidenden Widerspruch, formal „¬(p∧¬p)“6, in seiner prinzipiellen Geltung nicht anzutasten.7 Doch dies geschieht nach Rescher nicht, denn jeder zugelassene dialektische Widerspruch || 6 „p“ steht hier für eine beliebige Aussage, „¬p“ für ihre Negation. 7 Gegen die Preisgabe des Satzes vom zu vermeidenden Widerspruch durch Vertreter dialektischer Positionen hat sich schon 1940 Popper in „Was ist Dialektik?“ vehement ausgesprochen (vgl. Popper 1997, 458 ff. und 475 f.). Wie Popper zutreffend darlegt, nimmt ein solches Zulassen von Widersprüchen jeglicher Kritik die Spitze, und da sich bei weiter verwendeter klassischer zweiwertiger Logik aus kontradiktorischen Satzpaaren beliebige weitere Sätze ableiten lassen, folgten aus einer Theorie, die diese enthält, beliebige weitere Sätze.
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von „p“ und „¬p“ besteht nur, wenn „¬p“ auf „p“ zeitlich folgt. „¬p“ und „p“ werden also nicht zeitgleich als geltend (oder wahr) behauptet.8 Es werden demnach keine Inkonsistenzen zugelassen und keine Regeln der klassischen Logik verletzt.
Reschers Dialektik – Kernpunkte Diese grundlegende Konzeption aus der Monographie „Dialectics“ von 1977 hat Rescher später beibehalten (vgl. Rescher 2007 D, 78). An diese Überlegungen zur dialektischen Logik knüpft Rescher in „Rationalität. Eine philosophische Untersuchung über das Wesen und die Begründung der Vernunft“ (Rescher 1993 R, 99 ff.) an. Dialektisches, also nicht lineares und nicht deduktives Denken, sei eine Sache der wiederholten Betrachtung alter Probleme von neu erreichten Gesichtspunkten aus. Die Grundidee ist ein mehrstufiger Prozess, durch den wir ein und denselben Gegenstand von verschiedenen und untereinander inkonsistenten Gesichtspunkten aus untersuchen. Das Problem ist, einen Argumentationsgang in verschiedenen Phasen oder ‚Momenten‘ zu entwickeln (Rescher 1993 R, 99).
Auch hier werde nicht gegen den Satz vom zu vermeidenden Widerspruch verstoßen, da verschiedene gegeneinander verschobene Perspektiven eingenommen würden, die zumindest ihr partielles Recht hätten. Außerdem werden die ins Spiel gebrachten Thesen oder Sätze nur als plausible Kandidaten für Wahrheiten erachtet, und nicht als Wahrheiten, deren Wahrheit feststehen würde. Ein Betrachten von entsprechend verschiedenen, inkompatiblen Perspektiven bzw. ein Ausgehen von einer Anzahl miteinander in Konflikt stehenden plausiblen Sätzen könne so zu einer erweiterten Erkenntnis führen; man „erfasst alle erfolgversprechenden ‚Daten‘ – so inkonsistent sie auch sein mögen – und passt sie, so gut man kann, in eine kohärente Struktur“ (Rescher 1993 R, 106). In diesem Sinne könne es sinnvoll sein, „dialektisch vorzugehen und ein Problem von verschiedenen Seiten, in jeweils unterschiedlichem Licht in konsistenter Perspektive, zu betrachten“ (Rescher 1993 R, 103). Dabei wird Dialektik als Hegelscher Aufstieg und als „ein Sich-erheben über die Ebene antagonistischer Positionen zu einer ‚höheren‘ Konzeption, in der Gegensätze miteinander versöhnt werden“ (Rescher 1997 STS, 97) verstanden. Im dialektischen Prozess „geben wir die Anfangsthese preis und bewegen uns
|| 8 Deshalb bestehe auch kein Problem mit der logischen Ableitungsmöglichkeit des ex falso quodlibet.
20 | Philosophiehistorische Einflüsse: Kant, Peirce, Hegel und die Analytische Philosophie auf ihre Gegenposition zu, aber nur um zu einer gebührend eingegrenzten Synthese zu gelangen“ (Rescher 1997 STS, 97). Hierbei nimmt Rescher Bezug auf F.P. Ramsey, der seines Erachtens zu Recht betont hat, dass die Wahrheit oft nicht bei einer von zwei vertretenen entgegengesetzten Positionen liege, sondern bei einer dritten Option, die „wir nur dadurch entdecken können, dass wir etwas, das von beiden Disputanten als offensichtlich wahr angenommen wird, ablehnen“ (Rescher 1997 STS, 98). So gelange man zu einer höheren Synthese, ohne These und Antithese gänzlich preiszugeben. Die Inkonsistenz zweier Thesen untereinander wird also nicht durch die vollständige Ablehnung einer von beiden beseitigt, „sondern durch den subtileren und konstruktiveren Kunstgriff der näheren Bestimmung der These“ (Rescher 1997 STS, 98). Insoweit stimmt Reschers Dialektik mit der Hegelschen Dialektik überein, nach der ein Schritt von These und Antithese zu einer Synthese im dreifachen Wortsinne die ursprüngliche These aufhebt: Sie wird auch bei Rescher bewahrt (und nicht wegen der Inkonsistenz gänzlich getilgt), sie wird (von der Gegenthese) negiert und schließlich durch die Synthesenbildung in veränderter Form bzw. mit geändertem Gehalt auf ein höheres Niveau gehoben. Denn jede nähere Bestimmung führt nach Reschers Auffassung die Diskussion weiter, indem sie zusätzliche Differenzierungen einführt. Dieses dialektische Verfahren besagt also zum einen, dass auch letztlich abgelehnte Thesen etwas Aufgreifenswertes enthalten (obschon die Ablehnung wegen der anderen, abzulehnenden bzw. zu überwindenden Komponenten gerechtfertigt ist), und zum anderen, dass durch Differenzierung neue Begriffsexplikationen resp. Begriffe und Themen ins Spiel kommen, die erlauben, Diskussionen weiterzuführen bzw. neue Streitfragen aufzuwerfen. Durch dieses dialektische Vorgehen gelangen also neue Begriffe und Thesen in die Diskussion, und es findet, so Rescher weiter, ein fortwährender Austausch von Einwänden und Erwiderungen statt, „der die Diskussion beständig auf einen neuen Boden stellt“ (Rescher 1997 STS, 98). Letztlich lasse sich diese charakterisieren als „kreative Innovation, deren Ergebnis nicht vorhersehbar ist“ (Rescher 1997 STS, 98). Damit liegt nun allerdings eine Abweichung von der Hegelschen Position vor, da diese im Grunde von immer nur einer korrekten Weiterentwicklung ausgeht. Nach Rescher bestehen dagegen wegen der Pluralität kognitiver Werte (vgl. Rescher 1997 STS, 137 und 166) immer verschiedene Möglichkeiten der Weiterentwicklung (vgl. Rescher 2007 D, 47 f.). Entsprechend lasse sich die bisherige philosophiehistorische Entwicklung als dialektische beschreiben, aber keine zuverlässige Prognose der künftigen philosophischen Fortentwicklung machen (vgl. Rescher 1997 STS, 127). Deshalb schließt Rescher einen Aufstieg zu einer immer umfassenderen Perspektive, die in einer letzten umgreifenden Konfliktlösung aller philosophischen Streitfragen kulminiert,
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aus. Dementsprechend meint Rescher: „Es gibt keine Formulierung einer Position, die alle Probleme zum Verschwinden bringt, alle Fragen beantwortet und alle Schwierigkeiten löst“ (Rescher 1997 STS, 110, vgl. auch 111). Das heißt: Nach Rescher ist, anders als für Hegel, der dialektische Prozess aus internen Gründen des Pluralismus unabschließbar, und aus dem gleichen Grund ist seine künftige Entwicklung inhaltlich noch nicht bestimmt.
Anwendungsfelder der Dialektik Von besonderer Bedeutung für die Dialektik von Rescher ist die beträchtliche Breite ihrer Anwendung. In „Dialectics“ (Rescher 2007 D) unterscheidet Rescher eine Reihe von Anwendungsfeldern, denen er jeweils eigene Kapitel widmet: Hier ist die Rede von einer „Disputational Dialectic“, von einer „Cognitive Dialectic“, von einer „Methodological Dialectic“, von einer „Ontological Dialectic“ und schließlich von einer „Philosophical Dialectic“.9 Gemeinsam ist diesen diversen Dialektiken ihre Form bzw. Struktur, die sich in den verschiedenen Anwendungsbereichen unterschiedlich ausprägt, wobei weitere „Unterformen“ noch hinzukommen. Dies soll im Folgenden kurz exemplarisch verdeutlicht werden. Im Bereich von Diskursen beispielsweise können einzelne Sprechakte analysiert werden als Behauptungen, denen eine Bestreitung oder ein Infragestellen entgegensteht, was wiederum zu Bestätigung oder Qualifizierung führen kann (vgl. Rescher 2007 D, 2). Diskurse können nach dem Verfahrensschema „Argument – Gegenargument – harmonisierender Beschluss“ verlaufen (vgl. Rescher 2007 D, 3). In stärker formalisierten Disputationen wird dieses Verfahren durch weitere Differenzierungen deutlich komplexer (was sich Rescher zufolge in Form einer dialogischen Logik genauer darstellen lässt, vgl. Rescher 2007 D, Kap. 2). Im Bereich des Wissenserwerbs bzw. der Wissenserweiterung sieht Rescher die Methode der „cognitive dialectic“ am Werk. Ein mutmaßliches Wissen wird durch eine kritische Fragestellung herausgefordert, und die Beantwortung dieser Fragestellung führt zu einer Revision des Wissens (vgl. Rescher 2007 D, 38). Das revidierte Wissen hat dabei wiederum kohärent in den bereits vorhandenen Wissenskorpus zu passen. Entscheidend für ein auf diese Weise erzeugtes oder
|| 9 Zudem enthält der Band eine Geschichte der Dialektik als Kap. 7. Sie setzt bei der Vorsokratik an und widmet sich unter anderem Aristoteles, Kant, Fichte, Schelling, Schleiermacher, Hegel, Herbart, Mill, Marx und Engels, Horkheimer und Adorno. Zur Dialektik in der vorsokratischen Philosophie vgl. auch Rescher 2009 A, Kap. 8.
22 | Philosophiehistorische Einflüsse: Kant, Peirce, Hegel und die Analytische Philosophie erweitertes bzw. modifiziertes Wissen ist dabei der pragmatische Erfolg in seiner weiteren Verwendung (vgl. Rescher 2007 D, 43 ff.). Theoretische Kohärenz und Anwendungserfolg werden damit die beiden zentralen Aspekte, wenn es um die kritische Prüfung des (neuen) Wissens geht, das mithilfe solcher dialektischer Prozesse gewonnen werden soll. Neben solchen Verfahren der kognitiven Dialektik, die der Wissenserweiterung dienen, gibt es Rescher zufolge auch noch eine kognitive Dialektik im Bereich der Hermeneutik bzw. der Bedeutungsklärung (vgl. Rescher 2007 D, 48 ff.). Wird einer These widersprochen, bestehe die Option, mit einer Bedeutungspräzisierung auf den Einwand zu reagieren. Der Bereich der Dialektik beschränkt sich aber Rescher zufolge nicht auf die Epistemologie bzw. die kognitive Dialektik. Auch in evolutionären oder kosmologischen Vorgängen ist seines Erachtens ein dialektisches Geschehen auszumachen (vgl. Rescher 2007 D, 85 bzw. Kap. 5). Darüber hinaus spielt die Ontologie im Rahmen dialektischer Erkenntnisprozesse eine Rolle, da ontologische Vorgaben in Erkenntnisprozesse (etwa beim Testen von Theorien) involviert sind.
Dialektik und Philosophiegeschichte Zentral ist die Dialektik auch für die Philosophie und ihre Geschichte (siehe Kap. 3.2), denn, so Rescher, auch das Sichentwickeln von Theorien in ihrer zeitlichen Abfolge weist dialektische Strukturen auf. Philosophische Positionen stehen (oft) in der Relation der Negation zueinander, bilden also zusammengenommen eine aporetische Ausgangssituation mit jeweils plausiblen Annahmen. Dies kann durch die Weiterentwicklung statt der Elimination plausibel scheinender Überzeugungen überwunden werden, also durch die Aufhebung von These und Antithese in eine Synthese. Dadurch wird vermieden, plausible Annahmen ganz aufzugeben. Allerdings stehen bei der Auflösung solcher aporetischer „Cluster“ von Annahmen immer mehrere Optionen zur Auswahl (vgl. z.B. Rescher 2007 D, 93 und 97), was zum Pluralismus und der grundsätzlichen Offenheit der Philosophie(entwicklung) führt (vgl. Kap. 3.2). Aufgrund dieser Verfahrensweisen können Begriffe weiter elaboriert und verfeinert, Thesen differenzierter und komplexer formuliert sowie Systeme weiter ausgearbeitet werden. Damit kommt es, so Rescher, zu immer weiteren Unterscheidungen und Ausdifferenzierungen. Reschers Dialektik und seine dialektische Logik dienen der schrittweisen Verbesserung von Begriffssystemen. Involviert in die Verfahrensschritte ist dabei sowohl ein Fallibilismus als auch ein Pragmatismus. Diese – von Rescher ausdrücklich als rational verstandene – Methode der Dialektik wird von vernünftigen Handelnden immer schon befolgt, und zwar wegen ihrer faktischen
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Erfolge. Entsprechend kann bei Rescher das Ausbleiben eines pragmatischen Erfolgs beim Einsatz der Methode in kritischer Absicht argumentativ gegen die Methodennutzung gerichtet werden.
Reschers Dialektik als Dialektik ohne Anfangspunkt Rescher sucht ferner – anders als Hegel in seiner „Wissenschaft der Logik“ oder der „Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften“ – keinen Anfangspunkt im Sinne eines ersten und zugleich allgemeinsten Begriffs. Während die Hegelsche Dialektik ihr System von einem möglichst allgemeinen Anfang aus zu (re)konstruieren beabsichtigt, lässt Reschers Verständnis von Dialektik Klärungen zu, die an einen jeweiligen Stand von Diskussionen anknüpfen. Nach Rescher lassen sich demnach mithilfe dialektischer Überlegungen Fragen behandeln, deren genauer theoretischer Platz im System noch nicht festliegt. Reschers Dialektik scheint somit den pragmatischen Vorteil der Praktikabilität zu haben, weil sie anwendbar ist, auch ohne dass bestimmte systematische Vorklärungen bereits erfolgt sind. Sie setzt, wie geschildert, bei beliebigen Diskussionsständen an. Dies passt sicherlich zum Pragmatismus Reschers. Zugleich nimmt dieses Vorgehen ein Risiko des Sich-als-falsch-Erweisens resp. einen Fallibilismus in Kauf, den Rescher aber ohnehin akzeptiert.
Abschlussbemerkung zu Reschers Dialektik Reschers flexible Dialektik kennt keine strikt einlinige Begriffsentwicklung. Weil es Rescher zufolge zu jedem Zeitpunkt der dialektischen Entwicklung verschiedene Möglichkeiten der Weiterentwicklung gibt, wird sich im Rahmen seines Verständnisses von Dialektik eine vorhersehbare oder im Vorhinein festliegende Entwicklung nicht finden lassen. Damit bleibt Raum für Kreativität im Erarbeiten kohärenter Systeme bzw. des je eigenen kohärenten philosophischen Überzeugungssystems. Somit ist Reschers Methode flexibel und erlaubt problemlos Korrekturen, aber sie ist und bleibt methodisch wenig festgelegt. Damit wäre sie für einen geplanten Aufbau genau eines zeitlos gültigen Systems wenig geeignet, aber dies ist auch nicht beabsichtigt, da das Wissen grundsätzlich als auf verschiedene Art und Weise erweiterbar betrachtet wird. Daher kann sich aus Reschers Dialektik kein einheitliches und zugleich abschließbares philosophisches System ergeben. Reschers Kohärentismus ist und bleibt daher aus systematischen Gründen pluralistisch.
24 | Philosophiehistorische Einflüsse: Kant, Peirce, Hegel und die Analytische Philosophie
2.4 Analytisches Philosophieren Die vornehmlich formale Beeinflussung Reschers durch die Analytische Philosophie lässt sich vielfach aufweisen. Rescher selbst bekundet Einflüsse auf sein Philosophieren durch die Berliner Schule des Logischen Empirismus, also durch H. Reichenbach, G. Hempel, P. Oppenheim und andere10. Dabei unterstreicht Rescher sehr deutlich, dass die Einflussnahmen insbesondere formaler Natur sind; Vorbildcharakter haben vor allem die Bedeutsamkeit methodischer Klarheit und das immense kritische Potential der Analytischen Philosophie. Inhaltlich hält er hingegen vieles aus der Analytischen Philosophie für (programmatisch) überholt, wobei Reschers Kritik sich überwiegend an den Hauptströmungen der früheren Analytischen Philosophie und ihren Hauptvertretern orientiert.
Rescher über die Analytische Philosophie Die Analytische Philosophie ist nach Rescher ohnehin deutlich weniger durch gemeinsame inhaltliche Positionen als durch methodische Übereinstimmungen gekennzeichnet, wie er anhand diverser Analysen vor allem zu B. Russell, G.E. Moore, L. Wittgenstein, F.P. Ramsey und J.L. Austin aufzeigt (vgl. Rescher 2001 MM, 23 ff.). Bei all diesen stünden sprachphilosophische Analysen und Kritiken an der traditionellen Philosophie, die Nähe zur Naturwissenschaft und die Verabschiedung philosophischer Probleme (anstelle ihrer Lösung) im Zentrum. Systemdenken, Philosophiegeschichte, Weisheitslehren, das Einbeziehen irrationaler Komponenten, aber auch die Bewahrung der Philosophie als autonomer Disziplin spielten hingegen keine besondere Rolle. Dies gilt nach Reschers Auffassung nicht nur für die frühe Analytische Philosophie, sondern auch für die spätere, also beispielsweise auch für G. Ryle, P.F. Strawson, W.V.O. Quine, C.I. Lewis, W.K. Frankena oder R.M. Chisholm. Allerdings hätten die Programme der frühen Analytischen Philosophie durch sich im Laufe ihrer Entwicklung ergebene Probleme gravierende Modifikationen erfahren. Dazu gehört neben der Aufgabe bestimmter Annahmen vornehmlich die zunehmende Komplexität im Bereich epistemologischer und logischer Theoriebildung, die deutlich zu verzeichnen ist, und die „Rückkehr“ gewisser ethischer Problemstellungen, die in der Philosophie des Wiener Kreises zunächst nicht im Mittelpunkt gestanden hätten. Das besagt für Rescher: Das analytische Programm hat sich aufgrund || 10 Vgl. beispielsweise Reschers „Studies in 20th Century Philosophy“ (Rescher CP I) und Rescher 2001 MM.
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seiner Komplexitäten enthüllenden Methoden selbst destruiert. Traditionelle Probleme der Philosophie seien dementsprechend wiedergekehrt, allerdings nun in subtilerer Form. Aus diesem Grund sind Rescher zufolge einige programmatische Positionen der Analytischen Philosophie gescheitert, während sich die analytische Methodik, die sich durch logische und sprachphilosophische Klarheit auszeichne, durchaus bewährt habe. Das Analytische Philosophieren hat nach seiner Auffassung einen „Werkzeugkasten“ mit methodischen und begrifflichen Hilfsmitteln hinterlassen, aber auch eine Reihe wichtiger begrifflicher Unterscheidungen (vgl. Rescher 2001 MM, 35) – neben einer Vielzahl überzeugender Kritiken an philosophiehistorischen Positionen. Moniert wird von Rescher an der Analytischen Philosophie neben diversen Reduktionismen vor allem auch ihre Neigung, Einzelheiten und Detailfragen in den Mittelpunkt zu stellen resp. nur noch Einzelheiten und Detailpunkte zu klären. Was Rescher fehlt, ist ein systematisches Angehen der „großen Fragen“ der Philosophie. Deshalb setzt er sich mit seinen Vorstellungen von den Zielen der Analytischen Philosophie deutlich ab. Dabei mag hier offenbleiben, ob Philosophen wie Strawson und Ryle nicht doch deutlich systematischer sind, als es auf den ersten Anschein wirken könnte, und ob der späte Wittgenstein nicht an einer derart grundlegenden Frage der Philosophie gearbeitet hat, deren Beantwortung für alle „großen Fragen“ der Philosophie Relevanz zukommt.
3 Reschers philosophisches System – ein Überblick 3.1 Systemdenken Reschers Interessenfokus richtet sich in hohem Maße auf die großen (traditionellen) Probleme bzw. die „großen Fragen“ der Philosophie, die er im Rahmen einer umfassenden Theorie – einem philosophischen Systementwurf – zu lösen beabsichtigt (vgl. hierzu Rescher 1994 SPI, vor allem Kap. 1 und 2 sowie Rescher 1994 PSPI). Ferner intendiert Rescher darzulegen, welches die drängenden philosophischen Probleme sind, und wie sich die disziplinäre Zuschneidung des Faches durch zunehmende Spezialisierung von der Antike bis zur Gegenwart ausdifferenziert hat. Gerade weil Rescher auch Probleme in dieser weit fortgeschrittenen Spezialisierung sieht (vgl. z.B. Rescher 2008 EP, Kap. 12, sowie Rescher 2007 IPD, Kap. 12), die den Blick auf das Ganze der Philosophie aus dem Blick zu verlieren drohe, hebt er die von ihm präferierte Bedeutung des systematischen Philosophierens hervor, und in Verbindung damit idealistische Konzeptionen der Gegenwart. Die Bedeutung der Systematik spiegelt sich in Reschers Betonung des Wertes der Kohärenz wider.
System und Systematisierung Dabei spielt das Systemdenken auf verschiedene Weise eine Rolle für Rescher. Exemplarisch verdeutlichen lässt sich dies vor allem an der Studie „Cognitive Harmony“ (Rescher 2005 CH). In ihr thematisiert Rescher die Rolle des Systematisierens von Faktenkenntnissen bzw. Wahrheiten als einer regulativen Idee der Theoretischen Philosophie. Eine apriorische Garantie für eine gelungene epistemologische Systematisierung gibt es ihm zufolge zwar nicht, aber es besteht seines Erachtens die Aussicht auf eine rationale Selektion einer entsprechenden Theorie. Als Parameter der Systematisierung nennt Rescher vor allem „simplicity, regularity, uniformity, comprehensiveness, cohesiveness, unity, harmony, economy“ (Rescher 2005 CH, 17) sowie „wholeness“, „self-sufficiency“, „consonance“ und „mutual supportiveness“ (Rescher 2005 CH, 25 f.), was die Komplexität des Themas verdeutlicht. Aufgrund methodischer Vorannahmen sind die Parameter aber nicht nur regulative Prinzipien des Untersuchens, vielmehr unterstellt man nach Rescher der Welt eine gewisse Harmonie bzw. eine interne Systematizität – und zwar aus Nützlichkeitserwägungen, also aufgrund des Pragmatismus (vgl. Rescher 2005 CH, 44). Wäre die Welt entgegen dieser An-
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nahme völlig zufallsbestimmt, ließe sie sich gar nicht erforschen; insofern ist ihre Systematizität nicht nur eine begriffliche Vorannahme bzw. Vorbedingung („conceptual precondition“, Rescher 2005 CH, 47) des erfolgreichen Forschens, sondern auch eine „causal precondition“ (Rescher 2005 CH, 47).1 Systematizität wird also auf der Seite des zu Erforschenden unterstellt, aber auch vom Forschenden beim Forschen in Anspruch genommen. Doch soll die Philosophie auch insgesamt nach Harmonie streben, meint Rescher, also über den Bereich der Theoretischen Philosophie hinausgehend eine umfassende Systematik ausbilden. Angesprochen ist damit die Forderung, dass die Erkenntnisse aus den verschiedenen theoretischen und praktischen Disziplinen der Philosophie systematisch zusammenpassen sollen. Denn, wie Rescher anhand von Beispielen darlegt, kann die Einnahme bestimmter erkenntnistheoretischer Positionen Einfluss darauf haben, welche moralphilosophischen Optionen überhaupt offenbleiben, und auf ähnliche Weise würden auch andere Disziplinen (etwa Sprachphilosophie und Metaphysik) miteinander verbunden sein (vgl. Rescher 1994 SPI, Kap. 2). Da es nach Reschers Sichtweise keinerlei feststehende Vorgaben in der Philosophie gibt, müssen alle Konsequenzen mitbedacht, bei der Betrachtung der Akzeptabilität einer Position einbezogen und betreffs ihrer pragmatischen Verwendungsmöglichkeit mit bewertet werden. Weil es jedoch keine inhaltlichen Vorgaben für die Philosophie gebe, wird, so Rescher, durch die Forderung nach Harmonisierung auch kein substantielles inhaltliches Vorurteil in sie hineingetragen.
Kurzer kritischer Hinweis Allerdings ist auch zu bedenken, dass dieser kohärentistische Zug der Philosophie von Rescher zu einer Problematik führt, die im Weiteren noch des Öfteren anzusprechen ist, denn wenn es kein Fundament gibt, bleibt die theoretische Möglichkeit verschiedener Theorien über die Natur bzw. divergierender „Kenntnisse“ von der Welt, die aus Harmonisierungsbestrebungen resultieren können. Denn sie könnten verschiedene Datenmengen berücksichtigen und im Rahmen der Systematisierung verschiedene Parameter auf unterschiedliche Weise gewichten. Werden diese Ergebnisse dann – im Kontext von Resultaten aus anderen Teilgebieten – weiter verwendet, können sich erneut verschiedene Optionen auftun, die sich aus verschiedenen Schritten des Kohärentmachens ergeben.
|| 1 Mithilfe dieser Annahmen und der genannten Parameter lassen sich dann auch induktive Vorgehensweisen legitimieren.
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3.2 Reschers Sicht der Philosophiegeschichte Philosophiegeschichte, Dialektik und Pluralismus Reschers Verständnis der Dialektik ist relevant für seine Sicht auf die Geschichte der Philosophie, mit der er sich im Rahmen seiner Philosophie intensiv und vielfältig auseinandersetzt. Das besagt auch, dass Reschers philosophisches System so umfassend ist, dass auch die Philosophiegeschichte in ihm integriert ist. Diese Geschichte ist geprägt durch einen beträchtlichen Pluralismus von theoretischen Entwürfen, die oft im Widerspruch zueinander stehen. Nach Reschers Begriff der Dialektik (siehe Kap. 2.3) gibt es aber an jedem Entwicklungspunkt einer dialektischen Weiterentwicklung mehrere Möglichkeiten des Fortschreitens der Entwicklung (und eben nicht nur genau eine vermittels Negation). In der Folge sind daher viele divergierende philosophische Positionen entstanden, die sich auf heterogene Art und Weise weiterentwickelt haben.
Philosophiehistorie und Gründe für den Pluralismus Diese Uneinigkeiten in der Philosophie(geschichte) resultieren Rescher zufolge aus der „logischen Struktur des philosophischen Gedankens“ (Rescher 1984 STS, 22)2. Nicht entscheidend sind hingegen die (zahlreichen) faktischen Missverständnisse; die philosophische Vielfalt ist nach Rescher unvermeidlich (vgl. Rescher 1984 STS, 31) – und diskreditiert demgemäß die Philosophie auch nicht. Die Breite ihrer Themen, die Vielzahl ihrer Methoden und die vielfachen kognitiven „Erbschaften“, die ihre Nachwirkungen entfalten, aber auch die heterogenen Ausgangsdaten (Common-Sense-Meinungen3, wissenschaftliche Positionen, Lehren, Traditionen und anderes mehr, vgl. Rescher 1984 STS, 34) – all dies trägt zum philosophischen Pluralismus bei, zumal die genannten Daten allesamt korrigierbar sind und daher selbst Veränderungen unterliegen. Bei
|| 2 Reschers Schrift „Der Streit der Systeme“, 1997 erschienen, wird hier und im Folgenden nach der erweiterten dt. Übersetzung zitiert. 3 Vgl. zum Thema „Common Sense“ Rescher 2005 CS. In dieser Schrift wird nicht nur die Vielfalt von Common-Sense-Annahmen verdeutlicht, sondern auch darauf verwiesen, dass Common-Sense-Annahmen nicht weiter begründet werden (können) und für gewiss gehalten werden, aber nicht in einem absoluten Sinne gewiss seien (vgl. Rescher 2005 CS, 31 bzw. 29). Sie scheinen evident zu sein, wurzeln in der Alltagserfahrung und werden von jedermann akzeptiert bzw. sollten von allen Personen akzeptiert werden (vgl. Rescher 2005 CS, 38 bzw. 40). Abweichungen vom Common Sense sind Rescher zufolge begründungspflichtig (vgl. Rescher 2005 CS, 26 f.).
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ihnen handelt es sich durchgängig nur um plausible Vorstellungen, nicht um dauerhafte, unumstößliche Wahrheiten. Gravierend ist aber vor allem, dass diese Daten nach Rescher miteinander auch noch inkonsistent sind (vgl. Rescher 1984 STS, 36). Sie ziehen folglich eine Vielzahl von Geltungsansprüchen nach sich, die einander widersprechen. Daher besteht der Drang, dem entgegenzuwirken, und Konsistenz sowie Kohärenz herzustellen.
Aporien in der Philosophiegeschichte Dies kann wiederum auf jeweils verschiedene Art und Weise versucht werden. Der Weg dessen lässt sich wie folgt beschreiben: Philosophen bilden zunächst ihre je eigene Position aus. Die so entstandenen Positionen und Theorien widersprechen einander und passen nicht harmonisch zusammen. Daraus resultieren einander widersprechende Annahmen, die Rescher als „aporetische Cluster“ (vgl. Rescher 1984 STS, 38) auffasst. Für diese einzelnen Positionen stehen zwar jeweils gute Gründe zur Verfügung, nimmt man sie aber zusammen, sind sie untereinander inkonsistent. Dabei definiert Rescher „Aporie“ wie folgt: „An apory is a group of contentions that are individually plausible but collectively inconsistent“ (Rescher 2006 PD, 17). Aporien enthalten also zu vermeidende Inkonsistenzen; daher sind sie aufzulösen. Rescher führt verschiedene philosophiegeschichtliche Exempel solcher Cluster an (vgl. Rescher 1984 STS, 38 ff., Rescher 1994 SPI, 22 ff., sowie die zahlreichen Beispiele in Rescher 2001 PR, Kap. 7, Rescher 2009 A, passim, sowie Rescher 2006 PD, Kap. 6), zu nennen sind beispielsweise: 1) die vorsokratischen Vorstellungen davon, was die Wirklichkeit ausmacht, und ihre Weiterentwicklung in der antiken Philosophie, 2) empiristische Auffassungen über Wissen, Empirie und Werte, 3) die antiken Vorstellungen über den Zusammenhang von Recht und Unrecht mit den Sitten sowie dem weiteren Zusammenhang mit der physischen Natur, 4) Thesen über den Zusammenhang von Tugend und Glückseligkeit in der antiken Philosophie, 5) das Theodizeeproblem, 6) Thesen über Willensfreiheit und Determinismus, 7) Annahmen über Wissen, Sinneserfahrungen und Gewissheit (auch bereits aus der Antike) – und andere mehr (vgl. hierzu Rescher 1984 STS, Kap. 2 und Kap. 4).
30 | Reschers philosophisches System – ein Überblick Umgang mit Aporien in der Philosophie(geschichte) Bezüglich all dieser Cluster könne man Verschiedenes unternehmen, um die in ihnen enthaltenen Aporien zu vermeiden und die vorliegenden Inkonsistenzen zu eliminieren: Man kann eine (oder mehrere) der miteinander konfligierenden Annahmen streichen, um so Konsistenz wiederherzustellen. Dabei besteht aber eine Auswahl unter den jeweils (meist drei oder vier) miteinander unvereinbaren grundlegenden Hypothesen. Je nachdem, auf welche Annahme bzw. auf welche Annahmen man verzichtet, ergeben sich in der Folge deutlich verschiedene Positionen. Eben daraus ergibt sich der von Rescher immer wieder erwähnte Pluralismus. Dieser ist aufgrund der diversen gleichermaßen wählbaren Optionen unvermeidlich, und durch nachfolgende, weitere Veränderungen der Ausgangsthesen wird er verstärkt resp. erweitert. Übergreifende Positionen, die alle in den einzelnen Clustern enthaltenen Grundannahmen teilen, gebe es hingegen nicht (vgl. Rescher 1984 STS, 49). Stattdessen verändern sich die Positionen Rescher zufolge in ihrer Entwicklung von den Ausgangspositionen vermittels „wechselseitiger Interaktion“ (Rescher 1984 STS, 53) der Philosophen immer weiter. Zentral ist in diesem Prozess, dass die ursprünglichen Ausgangsthesen im Verlauf der Entwicklung immer näher bestimmt und damit begrifflich ausdifferenziert werden, um jene aporetischen Cluster aufzulösen (vgl. Rescher 1984 STS, 95, Rescher 2001 PR, Kap. 9) – für Rescher, wie erwähnt, eine Form des Hegelschen Aufstiegs in der Dialektik (vgl. Rescher 1984 STS, 97).
Entwicklung der Philosophie und Aporien Solche Differenzierungsvorgänge führen damit die Philosophie(geschichte) weiter – aber nicht derart, dass sie auf eine stabile konsistente wahre Theorie zuführte. Vielmehr trägt die Entwicklung allenfalls zu kurzzeitigen Konfliktlösungen bei, weil im weiteren Fortgang immer wieder neue Aporien zutage treten, die wiederum einer eigenen Auflösung bedürfen (vgl. Rescher 1984 STS, 104). Dies leitet dann zu neuen Antworten an, die ihrerseits aber wieder Aporien in sich tragen (vgl. Rescher 1984 STS, 114). Vorhersagbar ist dieser Prozess jedoch nicht, es bleibt also offen, wie welche künftigen Aporien sich ergeben und welche wie gelöst werden (vgl. Rescher 1984 STS, 127). Deshalb lässt sich die Philosophiegeschichte nicht prognostizieren. Durchgängig bestehen verschiedene mögliche Weiterentwicklungen, bei denen unterschiedliche kognitive Werte, Beweisverfahren, Ausgangsdaten etc. involviert sind, was den Pluralismus philosophischer Schulbildungen unterstützt (vgl. Rescher 1984 STS, 163 ff.). Was für den einen Philosophen akzeptabel ist, ist es für den anderen Philosophen nicht – auch wenn daraus keine schrankenlose Beliebigkeit resultiert, also auch kein unbegrenzter Relativismus, denn die Vernunft zieht gewisse
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Grenzen (vgl. hierzu Rescher 1984 STS, 204 ff.).4 Deshalb geht Rescher von einem gewissen Pluralismus aus, aber nicht von einem schrankenlosen Relativismus.
3.3 Metaphilosophie Unter „metaphilosophy“ bzw. „Metaphilosophie“ versteht Rescher, wie im angloamerikanischen Raum heutzutage üblich, das „Philosophieren über Philosophie“5, also Überlegungen zur Methodik der Philosophie. Rescher definiert „metaphilosophy“ entsprechend: „Metaphilosophy is the philosophical examination of the practice of philosophizing itself. Its definitive aim is to study the methods of the field in an endeavor to illuminate its promise and prospects“ (Rescher 2006 PD, 1). Das heißt: Im Rahmen metaphilosophischer Fragestellungen wird erörtert, was die Aufgabe bzw. die Ziele der Philosophie sind, und wie die Philosophie verfahren soll, um diese Ziele zu erreichen. Es geht um die Auswahl der geeigneten Methode(n) und Zwecke der Philosophie. Für Rescher ist Philosophie für den Menschen als Fragenden ein unverzichtbares Unterfangen, um sich in der Welt adäquat orientieren zu können, und dazu bedarf er des theoretischen wie auch des praktischen Wissens. Um diese Kenntnisse zu erlangen, ist der Mensch gezwungen, von seinen kognitiven Fähigkeiten Gebrauch zu machen, und, nach Rescher, ein umfassendes philosophisches System zu entwickeln – Philosophie ist also unvermeidlich (vgl. Rescher 2007 IPD, Kap. 1). Dieses System hat dabei vor allem konsistent, also widerspruchsfrei, und kohärent zu sein; seine Positionen und Inhalte sollen demnach ein zusammenhängendes Ganzes bilden. In diesem System ist die Rolle, die Fragen und Antworten spielen, zu klären, da sie nach Rescher den „Motor“ der Systementwicklung darstellen, sowie die Rolle von Diskursen aufzuklären – insbesondere die des philosophischen Diskurses. Dazu bedarf es vor allem auch einer angemessenen Verfahrensweise der Interpretation von Texten. Weitere Aspekte treten für Rescher hinzu: Der oben bereits erwähnte (produktive) Umgang mit Aporien, die Rolle von Plausibilitäten und Differenzierungen, die Frage, was eine gute philosophische Erklärung ausmacht und was nicht, und schließlich der Stellenwert kohärenztheore-
|| 4 Vgl. hierzu auch das Kap. 3.4 zu Reschers Begriff der Vernunft und seinem Verständnis von Objektivität. 5 Vgl. zu diesem Thema Rescher 2001 PR sowie seine „Studies in Metaphilosophy“, Rescher CP IX.
32 | Reschers philosophisches System – ein Überblick tischer Überlegungen sowie des Systemcharakters der Philosophie, womit zugleich die Frage nach den Grundsätzen einer philosophischen Theorie mit angesprochen ist.
Systemgedanke und Rationalität Rescher hat sich diesen (und einigen weiteren) Themenstellungen ausführlich in „Philosophical Reasoning“ (Rescher 2001 PR) zugewandt. Im Zentrum dieses Werkes steht die These, dass die Philosophie ein umfassendes System anzustreben habe, innerhalb dessen die großen philosophischen Fragen miteinander kohärente Antworten erhalten. Es gehe um die Integration des menschlichen Wissens insgesamt, also um Informationen über die Welt, um praktisches Wissen und um Evaluationen, wobei insbesondere „Warum“-Fragen zu beantworten, also Gründe anzuführen seien. Dabei ist nach Rescher für den Menschen, der als Produkt der Evolution auf Wissen angewiesen ist, das Fragenstellen und das rationale Untersuchen unverzichtbar. Rationalität sei daher auch das wesentliche Instrument der Philosophie, wobei „rational“ bedeute, angemessene Ziele auf intelligente Art und Weise zu verfolgen. Schlüsselbegriffe sind für ihn dabei „Konsistenz“ und „Kohärenz“, denn dieser Eigenschaften bedarf ein philosophisches System laut Rescher unbedingt. Inkonsistente Systeme sind „selfdefeating“ (Rescher 2001 PR, 12), und da ein möglichst sicheres und untereinander zusammenpassendes Wissen gesucht wird, sei auch Kohärenz unverzichtbar.
Philosophische Verfahren – Systematisierung Dabei versucht Rescher darzulegen, dass das Systematisieren das geeignete philosophische Instrument resp. die philosophische Methode sei, um die zentralen Fragen nach dem Wahren, Guten und dem richtigen Handeln (vgl. Rescher 2001 PR, 21) kohärent und umfassend beantworten zu können (vgl. Rescher 2001 PR, 1). Damit soll auch ein Gegenentwurf zur Fragmentierung der Gegenwartsphilosophie vorgelegt werden. Im Zentrum der Philosophie sollen nach Rescher die (traditionellen) „großen Fragen“ der Philosophie stehen; die Antworten auf diese sollen ein kohärentes System bilden, das vorhandene Daten einbindet. Dieses System soll vor allem die internen Zusammenhänge der Überzeugungen, Werte und Handlungen deutlich machen; anvisiert ist letztendlich ein „traveler’s guidebook to reality at large“ (Rescher 2001 PR, 2). Einzubeziehen in das System sind dabei Informationen, Mittel und Zielvorstellungen, die mithilfe rationaler Überlegungen kohärent zu machen sind (vgl. Rescher 2001 PR, 5) – vermittels der Philosophie, die für rationale Wesen eben unvermeidlich
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sei (vgl. Rescher 2001 PR, 6). Das Verfolgen von Zielen, für die gute Gründe vorhanden sind, ist unser „evolutionary destiny“ (Rescher 2001 PR, 7).
Philosophie und das Stellen von Fragen Aufgrund der vorgegebenen Lebensumstände ist der Mensch nach Rescher – anthropologisch betrachtet – zum Fragestellen verdammt; unsere Art sei als „Homo quaerens“ näher zu charakterisieren (siehe Kap. 4.1). Wir müssen Fragen stellen, weil wir Wissen erreichen wollen und dieses Wissen zwecks effizienter und effektiver Zielverfolgung benötigen. Zwar mag dies zu Fehlern wie beispielsweise Fehlinformationen führen, aber ein Verzicht auf das Fragen ist keine Option, da wir Menschen aufgrund unserer Lebensumstände auf Informationsgewinne angewiesen sind. Daher müssen wir Menschen unsere Intelligenz nutzen, um Wissen zu erlangen und in der Welt zu überleben.
Leitlinien des Philosophierens Um zu (philosophischem) Wissen zu gelangen, hat man nach Rescher eine Reihe von Leitlinien zu befolgen, wenn man seine Erfolgsaussichten nicht von vornherein unnötig herabsetzen will (vgl. hierzu Reschers „Studies in Metaphilosophy“ aus dem Jahr 2006, CP IX, 171 ff.). Zu diesen Leitlinien gehören vor allem die folgenden: – keine Erklärungswege (methodisch) verschließen, – deutlich machen, was behauptet, aber auch, was ausgeschlossen bzw. negiert wird, – „topics“ identifizieren, – alle Annahmen substantiell absichern resp. begründen und dabei das – Augenmerk auf das schwächste (Begründungs-)Glied einer Kette richten, – das am wenigsten Inakzeptable wählen, – nichts Unmögliches annehmen oder fordern, – Unklares nicht durch Unklareres erklären, – nichts unnötig verkomplizieren und – keine unnötigen Entitäten einführen (Ockhams Rasiermesser).6 Dabei steht allerdings das Gebot, konsistent zu bleiben, als Metaprinzip über allen anderen Regeln.
|| 6 Eine noch umfassendere Liste, die diese Vorschriften näher erläutert, findet sich beispielsweise in Rescher 2006 PD, 3-10.
34 | Reschers philosophisches System – ein Überblick Regeln wissenschaftlichen und philosophischen Arbeitens Hinzu kommen allgemeine Regeln wissenschaftlicher Arbeit, die teilweise wissenschaftsethischen Charakter haben. Sie besagen, kurz gefasst (vgl. Rescher 2011 PE, 42): – sei klar, vermeide unpräzise Äquivokationen und Dunkelheit, – sei ehrlich, manipuliere keine Daten etc., – sei sorgfältig, – habe einen offenen Geist (ignoriere Schwierigkeiten nicht, übergehe keine möglichen Alternativen), – verfolge Ambitionen, suche Allgemeines.
Philosophisches Wissen und Ausgangsdaten Philosophisches Wissen zeichnet sich dabei, so Rescher, durch rationale Kohärenz und Konsistenz bzw. Systematizität aus (vgl. Rescher 2001 PR, 11); Inkonsistenzen zerstören jenes benötigte Wissen bzw. entwerten die nötigen Informationen. Wichtige Daten des philosophischen Wissens können dabei Überzeugungen des Common Sense sein (vgl. Rescher 2001 PR, 15), wissenschaftliche Ergebnisse, Alltagserlebnisse, gängige Meinungen, Traditionen und Lehren aus der Geschichte (vgl. Rescher 1994 SPI, 38, 2001 PR, 16). Sie sind zu beachten, aber – schon wegen der internen Inkonsistenzen – nicht alle zugleich zu akzeptieren. Sie haben den anfänglichen Status plausibler Daten, nicht den Status von (unumstößlichen) Wahrheiten. Sie können also nur teilweise in ein konsistentes philosophisches System Eingang finden. Sätze über solche Daten sind deshalb als fallibel anzusehen.
Die Rolle von Vorannahmen und Fragen Um Informationen zu gewinnen, ist der Mensch nach Rescher darauf angewiesen, Fragen zu stellen, die immer schon auf jeweiligen bestimmten Vorannahmen beruhen, und nach geeigneten Antworten zu suchen. Diese führen aber (oft) zu neuen Fragen, so dass ein fortlaufender Prozess von Fragen und Antworten entsteht. So gibt es neue Antworten, aber auch neue Fragen (was zur Verabschiedung bestimmter älterer Fragen und Antworten führen kann).7 Wichtig ist für Rescher, dass jede Frage auf Vorannahmen beruht, die ihrerseits aber auch infrage gestellt werden können. Insgesamt stellt sich die philosophische Entwicklung so als ein dynamisches Zusammenspiel von (zu beantwortenden || 7 Vgl. hierzu auch die Verfahrensweise von Reschers Wissenschaftstheorie, Kap. 4.4.
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oder zurückzuweisenden) Fragen und Antworten dar, die zu neuen, veränderten Fragestellungen führen. Infolge dieses Zusammenspiels entstünden philosophische Theorien, deren Gütegrade durch Breite, Kohärenz, argumentative Stützen und soziale Verwendbarkeit mitbestimmt sind. Sie enthalten jedoch keine materiellen infalliblen Wahrheiten resp. unumstößliche Gewissheiten über die Welt.
Theorieentwicklung und theoretische Vorzugswürdigkeit Der Hinweis auf die stets involvierten Vorannahmen macht dabei deutlich, dass für Rescher ein Aufbau des (philosophischen) Wissens auf einer voraussetzungslosen Grundlage nicht möglich ist. Zu jedem Zeitpunkt, in dem sich Wissensfragen stellen, gibt es einen Anknüpfungspunkt, der jedoch nicht sakrosankt ist. Das Fragenstellen und Antwortgeben führt daher durchgängig zu einer Veränderung bzw. Verbesserung des schon vorhandenen Wissenskorpus. Im für Rescher idealen Fall stellen jene Veränderungen des Wissens eine systematische Verbesserung dar. Eine Theorie erweist sich als vorzugswürdig gegenüber einer anderen, wenn – sie ein breiteres Fragenspektrum aufweist, – sie kohärenter und weniger mit Anomalien durchsetzt ist, – sie einfacher ist bzw. eine geringere Komplexität aufweist, – ihre Prinzipien besser mit Gründen abgesichert sind, – sie besser mit dem vortheoretischen Wissen zusammenpasst – und mit dem (sozialen) Leben in höherem Maße verträglich ist (vgl. Rescher 2001 PR, 31). Für eine philosophische Theorie gilt noch eine weitere Bedingung: Die philosophische Theorie soll auch mit ihren eigenen metaphilosophischen Annahmen kohärent sein. Schließlich ist nach Rescher die Philosophie die selbstreflektierte Wissenschaft schlechthin, und deshalb muss ihre Methode mit ihren Resultaten zusammenpassen.
Das Ziel der Philosophie Philosophie zielt demnach auf eine möglichst umfassende, widerspruchsfreie und in sich harmonische, also kohärente Gesamttheorie ab; „what we want is a coherent story that makes sense overall, a global narrative“ (Rescher 2001 PR, 45). Damit besteht die Aufgabe der Philosophie nach Rescher darin, eine Gesamtdarstellung der Conditio humana zu verfassen, die alle wichtigen Bezüge sozialer wie physischer Art einbezieht. Aufgrund der Fehlbarkeit des Menschen soll diese Gesamtdarstellung rational gestützte Vermutungen inkorporieren und
36 | Reschers philosophisches System – ein Überblick bestmögliche Antworten auf die „großen Fragen“ geben. Bewertungen sollen keine bloßen Vermutungen darstellen, sondern verantwortbar sein, auch wenn es keinerlei Garantien für die Korrektheit von Antworten gebe (vgl. Rescher 2001 PR, 48 ff.).
Umgang mit philosophischer Tradition und mit philosophischen Texten Beim Erarbeiten philosophischer Lösungen für philosophische Probleme kann auf frühere Lösungsansätze und die in ihnen verwendete Begrifflichkeit zurückgegriffen werden, und dies wird auch sehr häufig praktiziert. Daher ist der philosophisch angemessene Umgang mit Theorien und Texten aus der philosophischen Tradition für Rescher von großer Bedeutung. Angesichts von Reschers Überzeugungen hinsichtlich von „Objektivität“ und sprachlicher Bedeutung ist es einsichtig, dass Rescher gegen einen postmodernen, dekonstruktivistischen Umgang mit philosophischen Texten und Theorien opponiert, denn dieser verfahre nach Belieben und führe daher zu einem Relativismus, den Rescher ablehnt.8 Verschiedene Interpretationen eines Textes sind seines Erachtens nicht per se gleich gut oder gleichermaßen akzeptabel, auch wenn es mehrere Interpretationen eines Textes geben kann (wie zum Beispiel der Bibel oder der Dialoge Platons; vgl. Rescher 2010 PT, 6; vgl. ferner Rescher 1994 SPI, 84 ff.). Rationale Bewertungen von Interpretationen sind nach Reschers Auffassung grundsätzlich möglich, und rationale Kritiken sind es damit ebenfalls. Statt „Dekonstruktion“ ist „Rekonstruktion“ der nach Rescher richtige Umgang mit philosophischen Texten. Zu den Aufgaben eines Exegeten können Begriffsklärungen ebenso gehören wie das Auflösen von Verständnisschwierigkeiten – um zu klären, was der Text für den Leser bedeutet. Entscheidende Fragen für ein angemessenes Textverständnis (vgl. Rescher 2007 IP, Kap. 11, vor allem 153) betreffen – die Problemstellung, an der der Autor eines Textes arbeitet, – die eingegangenen Vorannahmen (Präsuppositionen), – die vom Autor vertretene Position (als Antwort auf die gestellte Ausgangsfrage bzw. Reaktion auf das Ausgangsproblem), – alternativ denkbare Antworten mitsamt ihrer Relation zu der von dem Verfasser präsentierten und favorisierten Antwort – und ihre jeweiligen Begründungen, die ihrerseits gegeneinander abzuwägen sind.
|| 8 Vgl. Rescher 2001 PR, Kap. 5; vgl. zum Thema auch Rescher 1994 SPI, Teil 3, Rescher 1995 SR, Kap.11, Rescher 1998 CP, Kap. 11, Rescher 2007 IP, Kap. 2 und 3, Rescher 2010 PT, Kap. 6.
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Vagheiten, Unklarheiten oder auch interne Widersprüche zu klären und zu beseitigen sind dabei weitere wichtige Schritte zu einem adäquaten Verständnis – und dies muss einer Bewertung der philosophischen Position(en) vorausgehen. Unverzichtbar ist, so Rescher, ein wohlwollendes Interpretieren gemäß dem „principle of interpretative charity“ (vgl. Rescher 2007 IP, 154) bzw. dem „principle of hermeneutical optimization“ (Rescher 2001 PR, 67), das besagt, dass man Kohärenzen im Werk eines Autors maximieren soll, und dass man von den vielen denkbaren Interpretationen zu einer plausiblen Interpretation gelangen soll (vgl. Rescher 2007 IP, 27). Dabei hat die Interpretation bestmöglich zum Text selbst zu passen – und unter Umständen zu weiteren Teilen eines Textkorpus eines Philosophen. Interpretationen müssen demnach dem Kriterium der Kohärenz genügen, möglichst umfassend (bzw. reichhaltig) und ausgearbeitet sein – auch wenn Interpretationen Rescher zufolge nicht „perfekt“ gemacht werden können.
Textinterpretation und Kritik Gleichwohl können auch wohlwollende Interpretationen insofern an Grenzen stoßen, als dass philosophische Texte den philosophischen Standards nicht entsprechen oder nur partiell genügen. Dann tritt zu Recht Kritik auf den Plan – z.B. bei Inkonsistenzen, Inkohärenzen, Irrationalität, mangelnder Sensibilität oder Antworten, die nicht zur aufgeworfenen Frage passen (vgl. Rescher 2001 PR, 112).9 Zu kritisieren sind nach Rescher bei philosophischen Texten logischbegriffliche Inkonsistenzen, Inkonsistenzen mit anderen Äußerungen des Verfassers oder der Verfasser, Widersprüche zu naturwissenschaftlichen Erkenntnissen, unbegründete Verletzungen des Common Sense und des allgemein vorhandenen Wissens (vgl. Rescher 2010 PT, 13).
Textinterpretation und Entwicklung philosophischer Theorien Philosophische Texte, die für sich allein betrachtet plausible Überlegungen zu enthalten scheinen, führen jedoch wie erwähnt miteinander in Verbindung || 9 Aufgrund der damit implizit angesprochenen Standards kann Rescher überdies „Leitlinien“ für das Verfassen philosophischer Texte angeben. Gefordert werden von Rescher (vgl. Rescher 2007 IP, Kap. 1) Breite, Klarheit, Kenntnis der philosophischen Tradition, das Befolgen logischer Regeln, das Vermeiden unnötiger technischer Mittel, die Vermeidung philosophiehistorischer Übervorsicht und die Berücksichtigung von Ansprüchen, die sich aus dem Common Sense, den Wissenschaften, dem Alltagsleben und den Lehren der Geschichte sowie der Tradition ergeben, sofern sie plausible Ausgangsdaten bereitstellen.
38 | Reschers philosophisches System – ein Überblick gebracht zu aporetischen Inkonsistenzen. Die Elimination einzelner solcher Annahmen stelle zwar die gesuchte Konsistenz wieder her, gehe aber auch mit Erkenntnisverlusten einher. Sofern wissenschaftstheoretische Werte wie Allgemeinheit, Einfachheit etc. nicht eine entscheidende Rolle spielen, sei der beste Weg aus den Inkonsistenzen die Modifikation bzw. Ausdifferenzierung von Thesen. Diese führe zu einer wachsenden „sophistication in conceptual machinery“ (Rescher 2001 PR, 127) und einer dauernden Problemverschiebung. Trotz der angestrebten Einfachheit werden philosophische Theorien daher zunehmend komplexer (vgl. Rescher 2001 PR, 197 f.).
Kohärenz ohne Fundament Da die Philosophie Rescher zufolge immer an bestehende, fallible Daten oder Überlegungen anknüpft, gebe es keine fundamentalen, axiomatischen oder selbstevidenten Grundlagen, von denen ausgehend ein System geschaffen werden könnte. Deshalb sei ein „foundationalism“ bzw. ein System mit einem festen Fundament, welches als evident, unveränderlich und/oder gewiss betrachtet wird, und welches entsprechende Prinzipien aufweist, aus denen alles weitere deduziert werden könne, nicht zu erlangen. Daher bleibe als Alternative nur die Kohärenz als Kriterium für Akzeptabilität oder Wahrheit – zumal die Philosophie trotz der Einteilung in etliche Disziplinen ein zusammenhängendes Ganzes ausmache. Deshalb sei die Systematisierung in der Philosophie auch derart wichtig, zumal die Hinnahme von Disziplingrenzen übergreifenden Inkonsistenzen nicht akzeptabel sei.
Holismus Insofern plädiert Rescher im Rahmen seiner Metaphilosophie – also bei der Diskussion philosophischer Ziele und Methoden – für ein holistisches Theoriemodell, welches keine vermeintlich selbstevidenten Grundlagen braucht, sondern lediglich erste plausible bzw. präsumtiv als wahr akzeptierte – aber eben auch revidierbare – Grundannahmen bzw. Daten, die Teil einer umfassenden Systematisierung und damit zugleich Teil einer Validierung im Nachhinein (Retrovalidierung) werden.10 Ihre Rechtfertigung erhalten sie im Nachhinein
|| 10 Vgl. zu Präsumtionen vor allem Rescher 2006 P. Vgl. zum Begriff des Datums und zur Rolle von Daten in kohärenten Auffassungen auch Rescher 2009 A, 12 ff. Vgl. ferner Bonjour 1979, 161 f. und Wüstehube 1998, 101 ff. Zum Begriff „retrojustification“ vgl. Rescher 1992 SPI, 266 ff.
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genau dann, wenn sich ihre Annahme im Erkenntnisprozess als nützlich erweist bzw. pragmatisch bewährt (vgl. Rescher 2006 P, 53 f.).
Die Rolle der Präsumtionen Präsumtionen („presumptions“) werden also im Zuge des Versuchs, Erkenntnisse zu gewinnen, als anfängliche plausible Wahrheitskandidaten betrachtet bzw. als selbstverständlich angenommen. Sie helfen bei der Informationsbeschaffung und werden aus diesem pragmatischen Grund eingeführt und verwendet; sie dienen demnach einem bestimmten Zweck. Mit Präsumtionen als ersten Daten kann man Untersuchungen beginnen (vgl. Rescher 2006 P, 45 und 48 ff.). Sie werden dabei provisorisch und nur tentativ akzeptiert, aber nicht als unwiderlegliche Auffassungen betrachtet. Nichts Gewichtiges darf zunächst gegen sie sprechen (vgl. Rescher 2006 P, 1 ff.); spricht später etwas gegen sie, sind sie aufzugeben. Rescher vergleicht sie verschiedentlich mit Angeklagten, die nicht verurteilt sind: Sie gelten so lange als unschuldig, bis sie für schuldig befunden werden. Präsumtionen werden analog als wahr betrachtet, solange nichts anderes bzw. Gegenteiliges festgestellt worden ist. Sie spielen Rescher zufolge in einer Reihe von philosophischen Disziplinen eine wichtige Rolle: In der Sprachphilosophie, in der Erkenntnistheorie und in der Wissenschaftstheorie sind sie laut Rescher aus pragmatischen Gründen besonders wichtig (vgl. Rescher 2006 P, 11). Präsumtionen sind dabei sehr allgemein; anders als Präsuppositionen, die sich auf einzelne Sätze und besondere logische Zusammenhänge zwischen diesen beziehen, werden sie aus pragmatischen Gründen allgemein unterstellt (vgl. Rescher 2006 P, 21 f.). Präsumtionen sind auch von bloßen Annahmen zu unterscheiden; Letztere kann man für spezielle Zwecke annehmen („um des Arguments willen“) oder verwerfen; Präsumtionen haben dagegen einen stärkeren Anspruch auf Zustimmung. Solange sie als Präsumtionen aufgefasst werden, stimmt man ihnen zu (vgl. Rescher 2006 P, 30 f.; zu weiteren Differenzierungen 33 ff.).
Daten und ihre Verwendung Entsprechend dem geschilderten Ansatz, der auf ein Kohärentmachen von Wahrheitskandidaten im Verlauf der Forschung zielt, kann nach Rescher auf eine durchgehende Hierarchisierung der Theorieteile verzichtet werden, und neben Deduktion und Induktion könnten weitere Begründungsverfahren Verwendung finden. Allerdings bedürfe jedes Datum einer Stützung; nicht jede beliebige Annahme sei ein Datum. Daten könnten sein: (Sätze über) Beobach-
40 | Reschers philosophisches System – ein Überblick tungen und Erinnerungen (von einem selbst oder einer anderen Person), Allgemeinwissen und Wissen aus dem Common Sense11, historische Quellen, methodische Überlegungen, Messresultate, Berechnungsergebnisse und anderes mehr. Dabei müssten die akzeptierten Daten vor allem auch mit schon vorhandenen Erfahrungsdaten kohärent zusammenpassen, womit gewährleistet werden soll, dass eine Theorie über die Welt und nicht bloß über eine Fiktion vorliegt. Allerdings würden in den philosophischen Systemen immer wieder Inkonsistenzen erscheinen, die durch weitere Modifikationen ausgemerzt würden, die ihrerseits zu weiteren inkonsistenten Annahmen führten. Daher wird es nach Rescher, wie erwähnt, auch keine endgültige Theorie geben. Philosophie wird so zu einem fortdauernden Prozess.12
Kritische Diskussion: Kohärentismus und „foundationalism“ als metaphilosophische Optionen Reschers Metaphilosophie passt offensichtlich kohärent in sein Gesamtsystem. Gleichwohl scheinen mir auch hier einige Bedenken angebracht. Diese setzen gerade bei diesem Systemdenken und seinem Kohärentismus an, denn dieser hat eine wesentliche Eigenschaft: Im Zentrum von Reschers favorisierter Methode steht ein Systemdenken, das strikt auf Kohärenz setzt und einen „foundationalism“ ablehnt und kritisiert. Hierzu wäre aber kritisch anzumerken, dass die Suche nach einem sprachphilosophisch gesicherten Fundament – in Verbindung mit nachgeordneten, auf Kohärenz abzielenden Theoriebildungen – eine weitere Option darstellen könnte, die eine Reihe von Rescher kritisch herausgestellten Schwierigkeiten des „foundationalism“ meiden könnte. Insofern scheinen mehr Optionen im Spiel zu sein als Rescher annimmt. Überhaupt scheinen sprachphilosophische Überlegungen in ihrem möglichen Einfluss auf philosophische Methoden wenig Beachtung zu finden. Infolge des Ausblendens sprachphilosophisch-sinnkritischer Überlegungen bleibt es in der Folge auch unklar, welche dieser „großen Fragestellungen“ überhaupt sinnvoll beantwortbar scheinen bzw. ob sie sich alle rational beantworten lassen. Fraglich erscheint auch das deutliche, aber einseitige Plädoyer zugunsten der Systematizität. Angesichts vieler aktueller anwendungsethischer Probleme sollten auf der Agenda der Philosophie entsprechende spezielle Unter-
|| 11 Vgl. hierzu auch Rescher 2006 P, 97 ff. 12 Vgl. hierzu auch die Hinweise im Kapitel zu Reschers Prozessontologie (siehe Kap. 4.6).
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suchungen auch bei einem fehlenden System weit oben stehen – zumindest dann, wenn ihre Lösungen besonders dringlich sind.
3.4 Theorie der Rationalität und Objektivität Die Theorie der Rationalität von Rescher Reschers Theorie der Rationalität13 bzw. Vernunft behandelt vor allem die Fragen, was Rationalität ist, wie sie funktioniert, warum man rational sein sollte, weshalb man der Vernunft vertrauen kann und wie sich dies begründen lässt. Darüber hinaus erörtert Rescher aber auch normative Aspekte der Rationalität sowie Fragen, ob man rational begründet Wertungen vornehmen kann und ob rationales Handeln sich für den Akteur auszahlt. Die Theorie, die Rescher entwickelt hat, umgreift also nicht nur theoretische Aspekte, sondern auch praktische14 resp. normative und evaluative.
Definition und Teilbereiche der Rationalität Rationales Verhalten bestimmt Rescher als ein „von der eigenen Intelligenz Gebrauch machen, um herauszubekommen, was in den jeweiligen Umständen am besten zu tun ist“ (Rescher 1993 R, 1 f.), was wiederum auch auf die pragmatische Dimension von Reschers Philosophie verweist. Denn Rescher versteht den Pragmatismus als ein effizientes Verfolgen des Realisierens von Zwecken auf einem intelligenten Weg (vgl. Rescher 2008 EP, 2 f.). Rationalität habe mit drei verschiedenen Entscheidungskontexten zu tun und sei entsprechend ausdifferenziert in drei Formen der Vernunft: 1) kognitive Vernunft – sie entscheidet in Fragen des Akzeptierens oder Ablehnens von Thesen, 2) praktische Vernunft, die Handlungen betrifft, und 3) evaluative Vernunft, die für Bewertungen zuständig ist.
|| 13 Rescher ist vielfach in seinen Werken auf das Thema „Rationalität“ eingegangen. Dies unterstreichen auch einige seiner Buchtitel. Vgl. zum Thema unter anderem auch Rescher 1992 SPI, Teil 1. Vgl. ferner Marsonet 2008, 52-58, Wüstehube 1995, Wüstehube 1996, Wüstehube 1998, 98-147. S Zur Unterscheidung theoretischer und praktischer Gründe vgl. auch Rescher 2008 BV, Kap. 7.
42 | Reschers philosophisches System – ein Überblick Rationalität und ihre Ebenenhierarchie Dabei ist Rescher zufolge die Vernunft resp. Rationalität durch eine Hierarchie von Ebenen gekennzeichnet, die vom Allgemeinen absteigt zu konkreten Entscheidungen (vgl. hierzu und zum Folgenden Rescher 1993 R, 195 f.). An der Spitze stehen definierende Rationalitätsprinzipien, die festlegen, worum es sich bei der Rationalität handelt. Diese prinzipiellen, also grundlegenden Festlegungen bestimmen Kriterien der Akzeptabilität und Adäquatheit von rationalen Normen und Standards. Darunter, auf der zweiten Ebene, finden sich herrschende Normen und Standards der Rationalität. Zu diesen gehören beispielsweise im Fall kognitiver Vernunft Erfordernisse wie „Kohärenz, Konsistenz, Einfachheit“ (Rescher 1993 R, 196) sowie die Regeln der Logik bzw. des induktiven Argumentierens. Wiederum eine Ebene tiefer finden sich nach Rescher Regeln des rationalen bzw. vernünftigen Vorgehens; mit ihrer Hilfe soll geklärt werden können, wie die allgemeinen Ziele der Rationalität im Kontext besonderer Umstände umgesetzt werden können. Zu diesen gehören beispielsweise besondere logische Schlussregeln wie der Modus ponens. Am unteren Ende der Hierarchie stehen schließlich die rationalen bzw. vernünftigen Entscheidungen, also Einzelfalllösungen für konkrete Entscheidungsfälle.15
Regeln – allgemein Grundsätzlich – also nicht nur im Fall der Rationalität bzw. Vernunft – geht Rescher davon aus, dass es Prinzipien und Regeln gibt, die rational einsichtig sind. Regeln versteht er als allgemeine Vorschriften, die besagen, was man in bestimmten Situationen tun oder unterlassen sollte bzw. was zu tun oder unterlassen erlaubt resp. empfehlenswert ist (vgl. Rescher 2010 RP, 1 ff.). Die grundlegenden Regeln der Rationalität (wie auch die der Moral) sind seiner Auffassung nach kategorische Regeln (vgl. Rescher 2010 RP, 6; vgl. zu weiteren Klassifizierungen Rescher 2010 RP, 6 ff.). Regeln sind dabei nach Rescher Teil von Hierarchien, und Regeln der Rationalität gehören zu den höherstufigen Regeln. Die Regel, rational zu sein, wäre ein Beispiel für eine solche höherstufige Regel. Solch höherstufige Regeln sind aber sehr abstrakt und daher ist es oft schwierig, sie unmittelbar in einer bestimmten Situation anzuwenden (vgl. Rescher 2010 RP, 19 f.). Deshalb gibt es auch anwendungsnähere, konkretere
|| 15 Weitere Hierarchien formuliert Rescher auch für die Moralphilosophie (siehe Kap. 4.9.1) und für den Common Sense. Innerhalb des Common Sense unterscheidet Rescher zwischen Prinzipien, Generalisierungen bzw. Verallgemeinerungen und Auffassungen über Einzelheiten (vgl. Rescher 2005 CS, 41).
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Regeln. Dies gilt, wie oben bereits skizziert wurde, auch für den Bereich der Vernunft bzw. Rationalität.
Hierarchische Regeln der Vernunft Die Regeln der Vernunft bzw. Rationalität befinden sich, so Rescher, in einer Hierarchie, die aus ersten Prinzipien besteht, die definieren, was „Rationalität“ bzw. „Vernunft“ ist („defining principles of rationality“), aus Standards und Kriterien der Rationalität („governing standards and criteria of rationality“), aus Verfahrensregeln („rules of rational procedure“) und konkreteren Anwendungsregelungen („rationally warranted rulings“). Damit kommt bei der Vernunft eine Hierarchie vor, die sich auch bei anderen zielorientierten Gegebenheiten zeigt: Es gibt Prinzipien, die das oberste Ziel bestimmen bzw. charakterisieren, anleitende Normen, Verfahrensregeln und schließlich spezifische Regelungen (vgl. Rescher 2010 RP, 27 ff.). Als Prinzip der Rationalität führt Rescher z.B. den Satz „Accept no claim without reason“ (Rescher 2010 RP, 83) an; es gilt als Prinzip nach Rescher universal (vgl. Rescher 2010 RP, 84). Regeln der unteren Ebenen sind, so Rescher, grundsätzlich revidierbar; sie werden aufgrund von Erfahrung pragmatisch gerechtfertigt. Die Prinzipien hingegen gelten apriorisch, meint Rescher (vgl. Rescher 2010 RP, 88 f.).
Gründe und Merkmale der Vernunft Entscheidend sind in allen drei Bereichen der Vernunft, so Rescher, Gründe; daher sieht er sich auch als berechtigt, eine Einheit der Vernunft zu behaupten. Gute oder auch zwingende Gründe sind dabei für Rescher solche, die den wirklichen und besten Interessen möglichst effizient dienen – ein weiterer Verweis auf den Pragmatismus Reschers. Rationalität strebe dabei, da sie wirkliche und beste Interessen verfolge, nach angemessenen, nicht aber nach beliebigen Zielen. Zudem gelte: „Rationalität ist realistisch; sie verlangt nicht mehr, als möglich ist“ (Rescher 1993 R, 9), und soll daher die jeweilig relevanten Umstände von Handlungen einbeziehen. Merkmale der Rationalität seien vornehmlich: – Konsistenz (logische Widersprüche gelte es zu vermeiden), – Uniformität (gleichen Fällen sollte gleiche Behandlung widerfahren), – Kohärenz (Überzeugungen, Ziele, Werte und Handlungen sollten übereinstimmen), – Simplizität (überflüssige Komplikationen gelte es auszusparen) und – Ökonomie bzw. Effizienz.
44 | Reschers philosophisches System – ein Überblick Eines der wichtigsten Merkmale ist die Konsistenz, zu der Rescher Folgendes ausführt: Grundlegende Selbstwidersprüche, die das Konsistenzgebot verletzen, dürften grundsätzlich nicht akzeptiert werden – im Gegensatz zu schwachen (begrenzten) Inkonsistenzen (wie z.B. unterschiedliche Daten aus verschiedenen Quellen zu einem Ereignis). Diese könnten in nicht strikt deduktiven, sondern in einem „dialektisch-zyklischen“ Denken (siehe Kap. 2.3 und 3.3) ihren kognitiven Nutzen haben.
Zweckrationalität als Teil der Rationalität In den oben genannten Begriff der Effizienz spielt der Begriff der Zweckrationalität hinein. Zweckrationalität stellt für Rescher einen Teil der Rationalität dar, aber eben auch nur einen Teil. Gemäß dem Kriterium der Zweckrationalität ist ein Verfolgen untauglicher Mittel, aber von unangemessenen Zielen irrational. Präferierbarkeit zähle, nicht faktisches Präferieren; primär gehe es nicht um das Wollen, sondern darum, „was wir wollen sollten“ (Rescher 1993 R, 122). Entsprechend ist Nutzenmaximierung nicht per se rational, wenngleich sie innerhalb der Rationalität eine dienende Rolle spielt.
Reschers „functionalistic version of pragmatism“ Zuletzt Genanntes erörtert Rescher unter dem Label „functionalistic version of pragmatism“ (Rescher 2003 RPP, 1) näher. Diese funktionalistische Version des Pragmatismus „takes considerations of purposive effectiveness to provide the test-standard for the adequacy of the operative principles of human endeavour“ (Rescher 2003 RPP, 1). Funktionalität, Effektivität und Rationalität werden also laut Rescher in einem engen Bezug zueinander gesehen, wenn es darum geht, Ziele zu verfolgen. Diese seien zum Teil den Menschen als Menschen vorgegeben, und bei ihrer geschickten Verfolgung bzw. der effizienten Wahl der Mittel sei pragmatisch zu verfahren. Ziele und ihre Bewertungen seien dabei objektiv (siehe dazu unten). Ebenso möglich sind, meint Rescher, vernünftige, objektive Bewertungen von Präferenzen und Wünschen; es geht also trotz des Hinweises auf den Nutzen für einzelne Personen um Präferierbarkeit bzw. Wünschbarkeit resp. beste Interessen. Nicht entscheidend sind demzufolge beim rationalen Verfolgen von Zielen ausschließlich subjektive Zwecksetzungen. Sind hingegen objektive Ziele als vorgegebene gewählt, dann hat die theoretische Vernunft die Aufgabe, nach pragmatisch besten Mitteln für ihre Umsetzung zu suchen. Rationale Entscheidungen hängen allerdings von den jeweils zur Verfügung stehenden Informationen ab. Wenn sich die vorhandene Informationsmenge
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ändert, kann deshalb selbstverständlich eine zuvor aufgrund rationaler Überlegungen getroffene Entscheidung wegen neuer rationaler Erwägungen aufgrund veränderter Informationslage zu verwerfen sein. Informationen sind aber für den Menschen als einem endlichen Wesen immer unvollständig, und deshalb sei auch nur eine praktikable Rationalität (im Gegensatz zu einer idealen, die alles Wichtige in Betracht ziehe) erreichbar. Rationalität ist demnach für den Menschen grundsätzlich limitiert; die gerade zur Verfügung stehenden Informationen begrenzen immer die rational wählbaren Möglichkeiten. Um vernünftige Entscheidungen zu treffen, bietet es sich Rescher zufolge an, sich an bestimmte Vorgaben zu halten. So sollte man für Entscheidungen hinreichende Evidenzen haben, alle relevanten zur Verfügung stehenden Informationen heranziehen sowie größte Präzision und den größten Detaillierungsgrad anstreben (vgl. Rescher 2008 BV, 79 f.). Zu beachten sei aber, dass die Sicherheit einer Erkenntnis im Allgemeinen in einem inversen Verhältnis zu ihrer Genauigkeit steht – ungefähres, ungenaues Wissen ist oft sicherer als genaueres resp. detailliertes Wissen.
Warum der Vernunft folgen? In Anbetracht der mit der Begrenztheit menschlichen Denkens zusammenhängenden Feststellung, dass rationale Entscheidungen fehlgehen können, stellt sich für Rescher die Frage, aus welchem Grund man der Vernunft folgen solle16 bzw. wie sich die Rationalität ihrerseits begründen lässt. Rationale Problemlösungen, so Reschers Antwort, sind schlicht die besten, d.h. solche, die intelligente Menschen annehmen sollten; weitere Gründe einzufordern sei nicht sinnvoll, und außerrationale Gründe für die Rationalität gebe es nicht. Die Frage „Warum das Rationale tun?“ sei töricht, „es ist eine Bitte um weitere Gründe zu einem Zeitpunkt, zu dem, ex hypothesis, alle benötigten Gründe bereits vorhanden sind“ (Rescher 1993 R, 39). Ferner bemerkt Rescher, dass sich die Frage „Warum rational sein?“ als Frage nach rationalen Gründen letztlich nicht mehr ernsthaft stelle: „If I want a reason at all, I must want a rational reason. I care of reasons at all, I am already within the project of rationality” (Rescher 2003 E, 205). Wer die Frage nach rationalen oder objektiven Gründen aufwerfe, befinde sich also schon im Kontext von Rationalität und Objektivität. Dennoch sei ein skeptischer Einwand, hier liege ein vitiöser Zirkel vor, nicht angebracht, denn: „Die einzigen Gründe, rational zu sein, nach denen zu fragen sinnvoll ist, sind rationale Gründe“ (Rescher 1993 R, 50). Daraus folgert Re|| 16 Vgl. hierzu auch Moutafakis 2007, 39 ff.
46 | Reschers philosophisches System – ein Überblick scher: „Die Rechtfertigung der Rationalität muss alles in allem reflexiv und selbstbezüglich sein“ (Rescher 1993 R, 51). Rationalität stelle insofern einen kreisförmigen Prozess dar. Somit liege kein vitiöser Zirkel vor; vielmehr sorge die Rationalität für ihre eigene Rechtfertigung. Zudem lasse sich die Vernunft pragmatisch rechtfertigen, denn wahrscheinlich (aber nicht in jedem einzelnen Fall) zahle sich Rationalität und ein ihr gemäßes Handeln aus. Rationaler Erkenntniserwerb und das Handeln gemäß objektiven Erkenntnissen dürfte die besten Erfolgschancen haben.
Rationalität versus Skeptizismus Derartige Überlegungen nutzt Rescher auch für seine Auseinandersetzungen mit skeptischen Positionen (siehe hierzu ausführlicher Kap. 4.3.1). Sofern skeptische Positionen davon ausgehen, man bräuchte für die kognitive Rationalität immer schon gerechtfertigte Annahmen als Basis, die selbst wieder skeptisch hinterfragt werden könnten, werden sie von Rescher zurückgewiesen. Denn die Rationalität könne von bloß präsumtiven Rechtfertigungen (wie sie bei naheliegenden Vermutungen vorliegen) ausgehen und benötige nicht (immer) diskursive Rechtfertigungen. Weist ein Skeptiker solche vorläufigen Annahmen zurück, blockiert er nach Rescher lediglich Diskussionen über die Welt und verhindert nützliche Resultate wie auch nachträgliche Rechtfertigungen; er scheut im Grunde nur, das geringste Risiko einzugehen. Um so Irrtümer einer Art zu vermeiden, nämlich etwas zu akzeptieren, das abzulehnen ist, meidet er auch das Zustimmen zu etwas, was man akzeptieren sollte. Damit begeht er eine besondere Art von Irrtümern, und dies in großer Zahl. Rationaler wäre es hingegen, die Gesamtmenge begangener Irrtümer zu minimieren. Dazu müssten skeptische Positionen aber aufgegeben werden.
Einheit der Vernunft Über die Beleuchtung der verschiedenen Aspekte der Vernunft versucht Rescher vor allem auch die systematische Einheit der kognitiven, pragmatischen und evaluativen Vernunft aufzuzeigen. Dabei trachtet er nachzuweisen, dass die verschiedenen Dimensionen der Vernunft einander überschneiden. So braucht nach Rescher beispielsweise praktische, handlungsorientierte Rationalität Zwecksetzungen und damit evaluative Vernunft, und kognitive Vernunft, um Gründe für Handlungen zu erkennen und zu beurteilen. Menschliche Rationalität ist als menschliche zwar einheitlich (trotz ihrer Binnendifferenzierung in kognitive, praktische und evaluative Rationalität), sie schließt aber nicht aus, dass einzelne Menschen oder Menschengruppen in
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unterschiedlichen Situationen verschiedene Überzeugungen haben bzw. ausbilden – denn rationale Urteile seien stets relativ zu den jeweils zur Verfügung stehenden Informationen und damit zu ihren Grundlagen. Rationalität verhindert also in der Meinungsbildung keinen Pluralismus. Das bedeute aber keinesfalls, jede Überzeugung sei gleichermaßen berechtigt oder es sei gleich, welche Position man vertrete.
Rationale Standards Dennoch gebe es gute Gründe für die je eigene Meinungsbildung, sofern man bestimmten Standards folge und ihnen genüge – Standards, die ihrerseits für einen selbst als rational gerechtfertigt erscheinen. Denn es gehöre vielmehr zur „Rationalität, dass es rationaler Weise unmöglich ist, zwei miteinander nicht übereinstimmende Rationalitätsstandards als gleichermaßen verdienstvoll anzusehen“ (Rescher 1993 R, 167). Dem eigenen, tatsächlich akzeptierten Standard komme „lokale Absolutheit“ zu, da es keine Alternative zu den jeweils eigenen Standards gebe, und von ihnen sei Gebrauch zu machen, wenn man über Rationalität nachdenke (was allerdings einen Wechsel oder interne Revisionen nicht ausschlösse) oder andere Kulturen einschätze. Rationalität habe neben dem subjektiven Aspekt (der persönliche Situationen berücksichtige) auch einen universalen, da sie objektive Standards inkorporiere, die angeben, was jede Person unter denselben Umständen tun sollte. Eine Verbindung der Aspekte bestehe aufgrund der oben genannten Hierarchie von Prinzipien, Normen, Standards, Regeln und Entscheidungen.
Antirelativismus Aus dem universalen Aspekt der Rationalität kann zudem, meint Rescher, eine Kritik am Relativismus gewonnen werden. Wenn etwas für eine Person rational anzunehmen oder zu tun ist, dann ist es Rescher zufolge so, dass es für jede andere Person in gleichen Umständen rational ist, dieses anzunehmen oder auszuführen (vgl. Rescher 2003 E, 154). Rationale Akzeptierbarkeit führt einen inhärenten Anspruch auf Universalität mit sich (vgl. Rescher 2003 E, 154). Objektive Annahmen soll man machen, dies verbindet sie mit rationalen Auffassungen, und was für eine Person in einer bestimmten Situation rational ist, ist es für jede andere in gleicher Lage auch (vgl. Rescher 2003 E, 155). Dass man in unterschiedlichen Situationen verschieden agiert oder handelt, eröffnet dem Relativismus hingegen keinen Spielraum (vgl. Rescher 2003 E, 156). Durchgehend gibt es bestimmte Prinzipien, die zu befolgen rational ist, meint Rescher (vgl. Rescher 2003 E, 165); sie sind nicht relativ auf bestimmte Kulturen – außer
48 | Reschers philosophisches System – ein Überblick in dem Sinn, dass möglicherweise einzelne Kulturen sie nicht ausgebildet haben (vgl. Rescher 2003 E, 165 f.). Wenn Anthropologen beispielsweise behaupten, es gäbe verschiedene Rationalitäten, so sagen sie etwas Unzutreffendes. Haben Angehörige anderer Kulturen eine signifikant andere Vorstellung von Rationalität, so haben sie genau betrachtet die Vorstellung von etwas anderem als Rationalität – haben sie eine relevant andere Vorstellung von Eisen, haben sie bei Lichte betrachtet die Vorstellung von etwas anderem als Eisen (vgl. Rescher 2003 E, 199). Das heißt, if a conception of theirs (whatever it be) is not close to what we call rationality, then it is just not a conception of rationality – it does not address the topic we are discussing when we put the theme of rationality on the agenda (Rescher 2003 E, 199).
Zumindest in den Grundlagen herrscht Rescher zufolge Einheitlichkeit.
Rationalität und Anthropologie Rationalität ist zudem für Rescher ein Bestandteil der Humanität; das sich „selbst als rational denken müssen“ sei Kern der menschlichen Selbstdefinition. Damit passt diese Bestimmung von Rationalität kohärent zu Reschers Anthropologie. Überdies sei rationales Verhalten eine Pflicht für die Menschen, da es Bestandteil seiner Selbstdefinition sei und das „reflexive Glück“ bzw. die Zufriedenheit des Geistes befördere.
Objektivität Aufgrund der zuvor gemachten Ausführungen lässt sich nachvollziehen, dass neben dem Begriff der „Rationalität“ bzw. „Vernunft“ auch der Begriff „Objektivität“ für Reschers philosophisches System immense Bedeutung hat. Gibt es eine menschheitsübergreifende Vernunft und allgemeinverbindliche Standards, wie Rescher sagt, eröffnet dies die Möglichkeit objektiver Erkenntnisse. Da Rescher Vernunft nicht nur als theoretische Vernunft auffasst, sondern auch eine praktische und eine evaluative Vernunft als gegeben ansieht, kann für ihn auch der Objektivitätsbegriff weite Anwendungsbereiche haben.
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Einwände gegen die Annahme von Objektivität Angesichts der Annahme vom Vorhandensein von Objektivität kritisiert Rescher vor allem drei Einwände, durch die er die Objektivitätsannahme herausgefordert sieht: 1) den kulturellen Relativismus, 2) Einwände gegen die Annahme, der zufolge jeder seine eigenen Annahmen treffen kann und soll, weil dies der „political correctness“ gemäß sei, und 3) postmoderne Aversionen gegen (normative) Standards (vgl. Rescher 1997 O, 1). Insbesondere in der umfassenden Studie „Objectivity. The Obligations of Impersonal Reason“ sucht Rescher angesichts der genannten gegenläufigen Auffassungen, die Objektivität zu rehabilitieren. Denn ein die denkbare Objektivität bestreitender Relativismus bezüglich Wahrheit und moralischer Richtigkeit sei verheerend, er destruiere den Begriff der Wahrheit ebenso wie den Begriff des moralisch Richtigen, meint Rescher. Wenn Beliebiges „wahr“ oder „richtig“ wird bzw. sein soll, gibt es kein „wahr“ oder „richtig“ mehr. Doch sei die Verabschiedung des Objektivitätsbegriffs nicht überzeugend zu rechtfertigen (vgl. Rescher 1997 O, 2). Objektivität bezieht sich Rescher zufolge einerseits auf eine Objektseite, andererseits auf ein Subjekt, das „impersonal“ entscheiden muss, wenn es „objektiv“ sein will. Dies betrifft also die geeignete epistemische Einstellung; ein objektiv urteilendes Subjekt muss Faktoren wie Vorurteile, Leidenschaften, Loyalität, Bindungen, Gefühle, ideologische oder politische Vormeinungen, aber auch ein Wunschdenken vermeiden (vgl. Rescher 1997 O, 5). Relevant werden dagegen unpersönliche resp. objektive Standards – und standardisierte Resultate. Vernunft ist (siehe Kap. 3.4) nach Rescher universell, und vernünftige Gründe sind es daher ebenso, womit sie unpersönlich sind. Objektivität setzt dabei Rationalität voraus. Involviert sind bei rationalen bzw. Objektivität beanspruchenden Auffassungen und Entscheidungen nicht nur Konsistenz und Kohärenz, sondern auch das intelligente Verfolgen verfolgenswerter Ziele gemäß sorgsamer Bewertungen angesichts vorhandener Evidenzen. Objektive Erkenntnisse müssen auf Rationalität aufbauen; Urteile etwa erhalten Objektivität, wenn sie sich auf die Universalität und die „impersonality“ (Rescher 1997 O, 17) der Vernunft stützen (vgl. auch Rescher 2008 BV, 139 f.). Zwar kommt eine objektive Erkenntnis nicht ohne (erkennendes) Subjekt aus, aber dies ist für Rescher nicht der entscheidende Punkt. Von Bedeutung sei vielmehr, dass keine subjektiven Besonderheiten bei der Urteilsbildung relevant sind. Objektivität ist nicht „außerhalb“ des oder „über“ dem Menschen angesiedelt, sondern Produkt eines bestimmten Einsetzens menschlicher Erkenntnisvermögen bzw.
50 | Reschers philosophisches System – ein Überblick Erkenntnisse (vgl. Rescher 1997 O, 23). Diese Erkenntnisse sind vor allem regelgemäß; sie folgen „unseren“ Standards. Dass es „unsere“ Standards der Rationalität sind, die für objektive Erkenntnisse oder Bewertungen aufkommen, heißt nach Rescher nicht, dass man auch einfach andere, fremde Standards (z.B. aus anderen Kulturen oder Lebensformen) heranziehen könnte. Schließlich geht es, so Rescher, um unsere Begriffe der Rationalität und Objektivität, die erläutert werden sollen. Deren Bindekraft bzw. Geltung wird nicht dadurch eingeschränkt, dass sie aus einer – nämlich unserer – Kultur entstammen. Genese und Geltung sind demnach strikt zu unterscheiden (vgl. Rescher 1997 O, 26). Andere menschliche Populationen mögen zwar andere Gewohnheiten und Entscheidungsverfahren haben, wie empirisch arbeitende Anthropologen berichten, und wohl auch andere Ziele – aber sie haben keine andere Vernunft oder Objektivität im Sinne unserer Begriffe von Vernunft und Objektivität. Es ist darüber hinaus für Rescher auch nachvollziehbar, dass wir – allen relativistischen Gegenvorschlägen zum Trotz – an unseren Standards der Rationalität und Objektivität festhalten. Wir tun dies, weil wir sie für die Besseren halten. Täten wir dies nicht, würden wir sie gegen andere austauschen, die wir damit wiederum aus Gründen unserer Rationalität zu den Unseren machten (vgl. Rescher 1997 O, 60). Anders formuliert: Andere Begriffe von „Rationalität“ als die Unseren gibt es nach Rescher nicht, nur andere Verfahrensweisen des Problemlösens etwa. Unsere Begriffe sind nicht beliebig auf überzeugende Weise zu verändern, denn es gebe inhärente Standards, mit denen Veränderungen wie z.B. vorgeschlagene Erweiterungen bewertet werden (vgl. Rescher CP XIV). Ebenso wenig wie anthropologisch feststellbare Verhaltensunterschiede, so Rescher weiter, schließen verschiedene historische Kontexte Objektivität aus, noch tun dies Gruppenunterschiede, persönliche Eigenheiten, geschlechtliche Unterschiede, Verschiedenheiten von Klassen und deren denkbare Einflüsse – noch lässt sich postmodern Objektivität zur Illusion erklären, weil es nur Meinungen und keinerlei Wissen gebe (vgl. hierzu Rescher 1997 O, Kap. 2). Vielmehr, so Rescher, lässt sich der Relativismus zurückweisen. Was rational sei, liege (im idealen Fall) fest, und wir sind an unsere Vorstellung von Rationalität gebunden. Alle menschlichen Untersuchungen sind zielgerichtet – und einige Weisen des Untersuchens sind unter den möglichen Verfahrensweisen pragmatisch betrachtet besser als andere, um das vorgegebene Ziel zu erreichen. Deshalb gibt es vernünftige, objektiv vorzugswürdige Verfahren des Untersuchens – ein Methodenrelativismus ist also abzulehnen. Je nach Themenbereich gibt es also objektiv bevorzugenswerte Verfahrensweisen.
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Objektivität in der Praktischen Philosophie Dies gilt auch in der Praktischen Philosophie, in der nach Rescher die begriffliche Analyse unseres Moralbegriffs beispielsweise einen Relativismus ausschließt, der Objektivitätsansprüchen entgegengesetzt ist (vgl. Rescher 1997 O, Kap. 9.6). So gehören zum Begriff „Moral“ bestimmte Inhalte (wie ein Mordverbot und anderes mehr, vgl. Rescher 1997 O, 147, und siehe Kap. 4.9.1). Auch Werte können nach Rescher objektiv sein (vgl. Rescher 1997 O, Kap. 11) – sie sind mehr als bloßer Geschmack, denn beim Werten geht es nicht um persönliche Präferenzen, sondern um Vorzugswürdigkeit. Auch beim Wertzusprechen gebe es Standards, die bestimmte faktisch vorgenommene Wertungen als „verrückt“ („crazy“, Rescher 1997 O, 173) erscheinen lassen. Die evaluative Vernunft sagt einem jeden, dass Präferenzen „absurd“ sind, die absichtlich und grundlos die eigene Natur verletzten oder eigene Gelegenheiten bzw. Optionen verringern. Damit zeige sich, dass auch die wertende Vernunft objektiv sein könne (vgl. Rescher 1997 O, 174). Einzelne Wertungen – z.B. zugunsten der Gesundheit, der Funktionstüchtigkeit von Körper und Geist oder auch zugunsten des Vorhandenseins benötigter Ressourcen – sind (im Gegensatz zu anderen) universal. Insofern gibt es auch hier im Bereich der Evaluation Objektivität. Bestimmte Dinge sind deshalb positiv zu werten, weil sie unabdingbar sind für das menschliche Wohlergehen (vgl. Rescher 1997 O, 181). Demgemäß spielt hier eine Relativität auf Personen hin keine Rolle. Wertet hier jemand anders als die Standards es vorgeben, verhält er sich irrational; er verfehlt objektive Werte (vgl. Rescher 1997 O, 185), die sich nach Standards des Geeignetseins bzw. Ungeeignetseins ergeben, und insofern nicht auf persönlichen Idiosynkrasien oder Vorlieben basieren. Dass es keinen faktischen Konsens im Einzelnen darüber gebe, was „rational“ bzw. „vernünftig“ sei, ist nicht entscheidend, meint Rescher, denn in vielen Punkten könne ein Dissens bestehen, für den gute Gründe sprechen (vgl. Rescher 1993 P, 9). Daraus, dass bisher kein Konsens erzielt wurde, kann nicht gefolgert werden, dass ein Konsens unmöglich erreicht werden könne (vgl. Rescher 1993 R, 204). „Das Argument ‚kein Konsens, also keine Objektivität’ ist deshalb äußerst fehlerhaft“ (Rescher 1993 R, 205).
Objektivität und Rationalität Objektivität, so lässt sich zusammenfassen, hängt nach Reschers Auffassung also von der Rationalität und ihren Vorgaben ab. Rescher zufolge sorgt die Universalität der Rationalität für Standards – auch für die der Objektivität. Sie beschränken sich nicht nur auf das Feld des Erkenntnisgewinns (Epistemologie und Wissenschaftstheorie sowie Sprachphilosophie), sondern betreffen auch den normativen und evaluativen Bereich. In allen diesen Bereichen, in denen es
52 | Reschers philosophisches System – ein Überblick bereichsspezifische Anwendungen der Vernunft oder Rationalität gibt, intendiert Rescher daher auch zu objektiv gültigen Resultaten zu gelangen.
4 Reschers philosophisches System 4.1 Reschers Anthropologie Anthropologische Überlegungen haben im philosophischen System Reschers eine wichtige Position: Wie für Kant bündeln sich in der Anthropologie als Lehre vom Menschen auch für Rescher zentrale Fragen. Vereinigt bei Kant die anthropologische Frage „Was ist der Mensch?“ die spezielleren Fragen nach den Wissensmöglichkeiten, nach dem richtigen, gesollten Handeln und der möglichen Hoffnung, so ist bei Rescher die zentrale Frage der Anthropologie nach dem Menschsein und seinen Bestimmungen relevant. Ihre Beantwortung führt auf die allgemeine begriffliche Bestimmung des Menschen und steht somit an der Schnittstelle, an der sich die Beiträge der Theoretischen und der Praktischen Philosophie mit der Philosophie der kulturellen Welt verbinden. Der Mensch ist, so Reschers Position, als Mensch pragmatisch zum Handeln in der Welt gezwungen, um zu überleben, und er ist in der Lage, dies aufgrund von Überlegungen zu tun, also aufgrund von Deliberation. Damit kommen praktische und in der Folge moralische sowie soziale Fragen ebenso ins Spiel wie theoretische, die nach Rescher begrifflich zu klären und rational zu lösen sind. Die bisherigen Ergebnisse der Handlungen und Entscheidungen, die unsere kulturelle Welt geformt haben (und weiter formen), stellen eine Basis dar, die ihrerseits mit der Natur als Grundlage zusammenhängt.
Anthropologie und Evolution Rescher sieht den Menschen in zweierlei Hinsicht als Teil einer Evolution (vgl. zum Thema Rescher 2011 PE, aber auch Rescher 1990 UI). Für ihn ist der Mensch zunächst, genetisch betrachtet, ein Produkt der biologischen Evolution. Als Ergebnis der biologischen Entwicklungen besetzt er seine „ökologische Nische“. Dies ist die Nische intelligenter Lebewesen (vgl. Rescher 2011 PE, 13). Die Evolution hat Rescher zufolge auch den menschlichen Geist und Willen hervorgebracht (vgl. Rescher 2011 PE, Kap. 2 und 6; vgl. hierzu auch Kap. 4.3.4). Insoweit kann man den Menschen als Resultat kausaler Entwicklungen ansehen. Darüber hinaus aber hat der Mensch selbst Entwicklungen in Gang gesetzt, die Rescher zufolge auch evolutionären Charakter haben. Diese Entwicklungen sind allerdings kulturell und zielgerichtet, wodurch sie sich von der biologischen Evolution unterscheiden (vgl. zum Thema Rescher 2011 PE, zur kulturellen Evolution vor allem Kap. 1 und 4).
54 | Reschers philosophisches System Insbesondere die Studie „Human Interests. Human Reflections on Philosophical Anthropology“ (Rescher 1990 HI) und die „Collected Papers VII: Studies in Philosophical Anthropology“ dokumentieren Reschers facettenreiche Anthropologie. In ihr geht es, wie erwähnt, um das Erfassen der menschlichen Existenz im Allgemeinen und um den Zusammenhang mit dem menschlichen Zusammenleben im Besonderen. Daher sind Fragen nach dem guten Leben involviert (vgl. Rescher 1990 HI, 1), und diese werden von Rescher als normativ verstanden.1
Philosophische Anthropologie: Allgemeine Bestimmung des Menschen Die Aufgabe der philosophischen Anthropologie ist für Rescher eine normative (im Gegensatz zur empirischen Anthropologie) bzw. evaluative. Ziel ist es, herauszufinden, wie man als Mensch idealerweise lebt bzw. sein Leben führen sollte. Anthropologisch betrachtet ist nach Rescher der Mensch ein Natur- und Geistwesen, welches sich in der Natur bzw. der Welt zurechtfinden muss. Aus diesem Grund ist er gezwungen, Entscheidungen zu treffen (ein „Homo optans“) und dabei Bewertungen vorzunehmen (als „Homo aestimans“2), was bedeutet, dass er Vor- und Nachteile abwägen muss. Perfekte Lösungen erscheinen angesichts dieser oft komplexen Situation kaum erreichbar oder auch nur sinnvoll erwartbar. Sofern Menschen rational entschieden, ließe sich ihr Tun, sobald die notwendigen Hintergrundinformationen vorhanden wären, vorhersagen. Gleichwohl wird der Mensch im Rahmen eines Kompatibilismus als frei handelnd gesehen, trotz der Kausalität in der Natur (siehe Kap. 4.2). Zudem ist der Mensch Rescher zufolge nicht nur Bewohner der realen Welt, sondern auch der Welt der Phantasie und der Fiktion. So kann er über die Welt, wie sie ist, nachdenken, aber auch über bestehende, nicht realisierte Möglichkeiten Vermutungen anstellen. Insofern ist der Mensch Bürger zweier Welten: der realen Welt und der Welt der Gedanken (vgl. Rescher 2005 WI, 161). Damit ist der Mensch auch ein „Homo imaginas“ (Rescher 2005 WI, 168). Gleichwohl ist der Mensch Rescher zufolge in seinen Fähigkeiten beschränkt, denn es ist ihm eigen, Fehler zu machen bzw. Irrtümer zu begehen: „Error is commonplace in human affairs because Homo sapiens are limited creatures whose needs and wants outrun their available capabilities“ (Rescher
|| 1 Dabei klärt Rescher – vor allem in „Human Interest“ – eine Vielzahl von Detailfragen, auf die im Folgenden nicht näher eingegangen wird. Vgl. zu Reschers Anthropologie auch Rescher 2003 RPP, Kap. 3, und Felt 2008. 2 In „Error“ auch als „Homo valuens“ bezeichnet; vgl. Rescher 2007 E, 10.
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2007 E, 2). Das Begehen von Fehlern und Irrtümern ist daher unvermeidlich. Da der Mensch nicht nur kognitiv tätig ist, sondern auch wertet und Entscheidungen trifft, sind nicht nur im theoretischen Bereich, sondern auch im Bereich des Praktischen Fehler- und Irrtumsmöglichkeiten gegeben. Aber der Mensch ist auch in der Lage, Fehler und Irrtümer als solche zu erkennen, aus ihnen zu lernen, und Fortschritte im Wissen zu erzielen (vgl. Rescher 2007 E, 8 und 18).
Allgemeinmenschliche Bedürfnisse und Ziele Rescher zufolge sind dem Menschen als Menschen diverse Ziele vorgegeben. So hat der Mensch zunächst ein Interesse am Überleben und den dazu benötigten Gütern wie beispielsweise Luft, Nahrung und Obdach (vgl. Rescher 2008 EP, 9). Darüber hinaus strebt der Mensch, so Rescher weiter, aber auch nach einem zufriedenstellenden Leben. Auch dafür sind bestimmte Güter notwendig: Laut Rescher sind dies unter anderem Selbstrespekt, Gemeinschaft mit anderen Menschen sowie die Selbstbestimmung über die wichtigsten eigenen Angelegenheiten (vgl. Rescher 2008 EP, 9). Aus diesen Bedürfnissen ergeben sich Präferenzen, die nicht beliebig, sondern dem Menschen als Menschen vorgegeben sind. Damit sind dem menschlichen Handeln Rescher zufolge bestimmte Handlungsziele gesetzt, und diese werden von ihm als objektiv gegeben verstanden. Soweit die Mittel zur Erreichung der genannten Ziele ebenfalls festgelegt sind, sind auch diese nach Reschers Sicht der Dinge als objektiv zu verstehen. Gleiches gilt zudem für diverse Wertungen, die eben die angeführten Ziele betreffen – manche Ziele hat man als Mensch zu schätzen, z.B. weil sie überlebensnotwendig sind oder ohne sie kein Selbstrespekt möglich ist. Deshalb gibt es für Rescher auch objektive Werte, die menschlichen Personen vorgegeben sind (vgl. Rescher 2008 EP, 10).
Personsein In „Human Interests“ lautet die Ausgangsfrage: „What is a Person?“. Rescher nennt im Rahmen seiner anthropologischen Überlegungen sieben Merkmale, die als notwendige und hinreichende Bedingung des Personseins anzunehmen sind (vgl. Rescher 1990 HI, 6 f.3): Intelligenz (Informationsaufnahme, verarbeitung), die Fähigkeit, wertende Affekte zu haben, Handlungsfähigkeit,
|| 3 Vgl. zum Personenbegriff Reschers auch Martin 1998.
56 | Reschers philosophisches System Rationalität bzw. Vernunft4 (die bei Überzeugungen und Wertungen zum Tragen kommt), Selbstverständnis, Selbstwertgefühl und die Fähigkeit, andere Menschen als Menschen zu erkennen und anzuerkennen. Man muss zum Personsein also nicht nur Fakten wissen und Handlungen ausführen können, sondern dies auch selbst erkennen. Kurz gesagt: Der Mensch erkennt, handelt und wertet – und weiß als Person, dass er dies tut. Besondere Bedeutung kommt nach Rescher der Freiheit des Menschen bzw. der Person zu: Personen sind frei und verantwortlich handelnde Wesen – „frei“ in dem Sinne, dass sie jeweils anders hätten handeln können (vgl. Rescher 1990 HI, 8; vgl. Kap. 4.2) – was wiederum so zu verstehen ist, dass sie bei veränderten Umständen anders gehandelt hätten. Der Mensch ist also Rescher zufolge nicht instinktgesteuert, und er muss verstanden werden als frei von externer Kontrolle – was, wie Rescher sagt, kompatibel ist „with an internally routed determinism via an agent’s own motives and ‚status of mind’“ (Rescher 1990 HI, 9; siehe Kap. 4.2). Personen sind demnach rationale und frei handelnde Akteure; sie werden in ihren Handlungen intern bestimmt durch ihre je eigenen Motive und ihren je eigenen mentalen Zustand. Sie sollen auch demgemäß behandelt werden – als autonome, freie, verantwortliche, rational handelnde Wesen. Anderes wäre nach Rescher ein moralischer Fehler. Zum Personsein gehört demzufolge, dass Personen sich selbst festlegen, ihre je eigenen Wertungen vornehmen und so ein Bild von sich haben. Dazu gehört es einerseits – hier schließt Rescher sich Hegel an –, dass man zu einem Selbstbild durch ein Inbeziehungsetzen zu anderen Personen gelangt, und andererseits – hier schließt Rescher sich Nietzsche an – sich selbst zu dem macht, was man ist. Konstitutiv für Personen ist es, sich selbst als Person zu sehen, als ein Wesen mit Wert und mit Rechten: Personsein ist also kein naturalistischer Begriff, sondern ein sozialer bzw. kultureller. Ein Problem dieser recht anspruchsvollen Bestimmung des Personseins ergibt sich allerdings dadurch, dass viele behinderte Personen, aber auch Kinder bis zu einem bestimmten Lebensalter die genannten Standards nicht erfüllen. Rescher intendiert jedoch nicht, diesen Gruppen generell den Personenstatus zu verweigern. Strikt betrachtet seien sie zwar keine Personen, aber im Zweifelsfall solle man sie doch wie Personen behandeln – dies gehöre für die anderen Personen zu ihrem Personsein hinzu. Diesen Einschluss in den Kreis der Personen solle man, so Rescher weiter, selbst „nonhuman rational agents in the universe“ (Rescher 1990 HI, 15) nicht verweigern. Im Gegenteil: Wer den Versuch unter-
|| 4 Rationalität schließt hier die wertende Vernunft ebenso ein wie die (moralische) Anerkennung anderer als Personen (siehe Kap. 4.9.1); sie hat also moralische Konsequenzen.
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nimmt, den Personenkreis zu eng zu ziehen und beispielsweise Frauen oder Fremde auszuschließen trachtet, zeigt nur, dass er nicht über den angemessenen Begriff einer Person verfügt.5
Selbstverwirklichung Letztgenannter Punkt führt auf die moralische Dimension des Personseins. Zum Personsein gehört eine Reihe von Vermögen bzw. Fähigkeiten, und nach Rescher ist es eine wichtige Aufgabe für eine jede Person, diese Fähigkeiten auch zu entwickeln. Ihm zufolge gibt es einen (auch für die normative Ethik relevanten) anthropologischen Imperativ, dem zufolge Menschen resp. Personen ihre Fähigkeiten zu entwickeln haben: Man soll sich vernünftig bzw. rational verhalten, weil dies zur Selbstdefinition als Person gehöre, und weil Rationalitätsausübung zum Selbstwert beiträgt. Rationalität „becomes a matter of duty for us, of ontological obligation“ (Rescher 1990 HI, 19). Jener ontologische Imperativ zur Selbstverwirklichung („self-realization“) führt zu weiteren Imperativen (rationaler und moralischer Art; siehe Kap. 4.9.1) und hängt mit unserem Menschsein bzw. unserer Natur für Rescher aufs Engste zusammen; in ihm treffen sich unsere Eigeninteressen und Verpflichtungen (vgl. Rescher 1990 HI, 20). Als freie Wesen können wir uns zwar anders entscheiden und in der Folge entgegen dem ontologischen Imperativ handeln, aber wir sollen jenem ontologischen Imperativ folgen, meint Rescher. Hier träfen sich Ontologie und Axiologie (Wertlehre) – die ontologisch geforderte Ausbildung unserer Fähigkeiten als Person passt zum Selbstbild als Person. Demgemäß kommt es nach Rescher nicht allein und nicht primär darauf an, sein Glück zu verfolgen, sondern „etwas aus sich zu machen“ und das richtige, angemessene Leben zu wählen (vgl. Rescher 1990 HI, 33). Der Mensch ist – als Mensch – dazu in der Lage, er „is capable of at least partial self-construction – able to make himself into the sort of being he ought (ontological considered) to be“ (Rescher 1990 HI, 35).6 Damit erhält der Mensch den Auftrag, sich selbst zu einem vernünftigen Wesen zu entwickeln. || 5 Computer, die zwar einige Merkmale des Personseins zu eigen haben, fallen aus der Personengruppe heraus, weil es zweifelhaft ist, dass sie handeln, und weil sie über kein Selbstbild verfügen, wie es Personen eigen ist. 6 Diese Fähigkeit bzw. der Vernunftcharakter und die Befähigung zur Moralität ist dabei für Rescher das wichtigste Element des Mensch- oder Personseins. Fragen der Geschlechtlichkeit sind dagegen sekundär (vgl. Rescher 1990 HI, 56 f.); Männer und Frauen gleichen sich in dieser Hinsicht. Beide Geschlechter sind befähigt, vernünftig und moralisch zu leben. Die einschlägigen Prinzipien gelten also gleichermaßen für Frauen und Männer.
58 | Reschers philosophisches System Grenzen Allerdings sind unsere Lebensumstände als Mensch nicht nur von unseren Fähigkeiten und Entscheidungspotentialen bestimmt. Ein wesentlicher Faktor des Menschseins sind verschiedene Grenzen und Begrenztheiten, mit denen Menschen zurande kommen müssen (vgl. Rescher 1990 HI, Kap. 8 „Limits and Limitations“). Zeit, theoretisches und praktisches Wissen, Ressourcen (Nahrungsmittel und anderes), Fähigkeiten und Talente, Macht und die Fähigkeit, sich zu freuen – sie alle sind begrenzt und die zur Verfügung stehenden Mengen reichen nicht, die Menschen zufriedenzustellen (vgl. Rescher 1990 HI, 73). Man kann diese Grenzen zu ignorieren versuchen, sie defätistisch hinnehmen oder sie – realistisch – akzeptieren (vgl. Rescher 1990 HI, 74), meint Rescher. Gleichwohl bestehe das Bedürfnis, diese Grenzen zu überwinden. Doch dies erscheint nicht möglich. Warum also – so die „quest of Sisyphus“ (Rescher 1990 HI, Kap. 9) nicht einfach aufgeben? Nach Rescher können wir dies – als Menschen – nicht. Wir können gemäß seiner Auffassung die Suche nach praktischem und theoretischem Wissen sowie zufriedenstellenden Lebensbedingungen gar nicht aufgeben.
Glück und Unglück Als Menschen müssen wir auch damit zurande kommen, dass es in unserem Leben so etwas wie „Glück“ und „Unglück“ oder „Schicksal“ gibt (vgl. Rescher 1990 HI, Kap. 10, „Luck“). Es geschehen Menschen Dinge, die ihnen per Zufall zustoßen, und die gute oder schlechte Resultate haben, Wohltaten oder Verluste bedeuten. Diese Dinge sind weder vorhersehbar noch beabsichtigt, sie liegen außerhalb des Planbaren und jenseits des Bereichs, den ein Mensch kontrollieren kann. „Luck“, Glück oder Schicksal, fordert den Menschen jedoch zu bestimmten Verhaltensmöglichkeiten heraus. Jenes „luck“ sorge für ein dem Menschen nicht vorhersagbares Glück oder Unglück („good vs. bad luck“), wobei jenes „bad luck“ in einer nicht völlig vorherbestimmten Welt in Kauf zu nehmen sei. Eine denkbare alternative vollkommen vorprogrammierte Welt wäre psychisch schwer erträglich, und demnach auch laut Rescher nicht vorzugswürdig. Im Grunde bleiben angesichts dessen nur Risikovermeidungsstrategien, Versicherungen bzw. Absicherung und Wahrscheinlichkeitsberechnungen. Sie dienen in erster Linie zur Vermeidung von Unglücken bzw. Schicksalsschlägen. Angesichts dessen kann der Mensch in verschiedenem Grade optimistisch oder pessimistisch eingestellt sein (vgl. Rescher 1990 HI, Kap. 12) – und Rescher plädiert für einen Optimismus, weil dieser zum menschlichen Leben dazugehöre. Für sich oder seine Nachfolger soll man ein gewisses Maß an Hoffnung erhalten, denn ohne Hoffnung auf bessere Zeiten werde das Leben „inhumane“ (vgl.
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Rescher 1990 HI, 137); „the extinction of hope is the ultimate evil“ (Rescher 1990 HI, 137). Schließlich kann das Leben, so Rescher, einen Sinn für den Menschen haben. Denn der Mensch hat gemäß seiner Philosophie einen Wert, der mit dem verbunden ist, was er tut oder tun kann. Das Leben von Individuen kann einen Wert darstellen, weil es gute Ergebnisse hervorbringen kann (vgl. Rescher 1990 HI, 165).
Diskussion zu einigen Aspekten von Reschers Anthropologie Es dürfte heutzutage kaum zu bezweifeln sein, dass (normalsinnige) Menschen als Produkt der biologischen und einer kulturellen Evolution in der Welt und innerhalb der jeweiligen Gesellschaft Entscheidungen treffen und (zumindest implizit) andauernd werten (müssen), und dass sie sich die dazu benötigten Informationen beschaffen müssen. Dies gehört wohl zur Conditio humana. Insoweit scheinen Reschers Darstellungen zur Anthropologie gut nachvollziehbar. Gleichwohl bleibt damit noch offen, in welchem genauen Ausmaß dies geschieht oder geschehen muss. Eher problematisch erscheint hingegen Reschers Personenbegriff, auch wenn selbstverständlich zu akzeptieren ist, dass man keine Menschengruppen wie Frauen oder ethnische Minderheiten ausschließen darf. Es scheint, als wäre die Diskursfähigkeit bereits ein guter Grund, Angehörige dieser und anderer Gruppen als Person zu betrachten und zu behandeln. Der Personenbegriff von Rescher ist jedoch sehr anspruchsvoll, was exemplarisch der von ihm formulierte Anspruch über den Umgang mit behinderten Personen verdeutlicht. Denn es ist fraglich, ob alle (erwachsenen) Menschen Reschers Begriff der Person entsprechen. Offenbar können zumindest viele (sehr) schwer geistig Behinderte die Kriterien des Personenbegriffs, die Rescher formuliert, kaum erfüllen. Sie aus pragmatischen Gründen als Personen zu betrachten, liegt nahe – könnte aber den berühmten Vorwurf des Speziesismus (von P. Singer) auf sich ziehen, demzufolge eine unbegründete und unberechtigte Bevorzugung der eigenen biologischen Rasse vorliegt. Insofern stelle sich auch die Anschlussfrage, ob es auch nicht-menschliche Personen gibt, die als solche zu behandeln wären, also ob auch Angehörige anderer Arten als „Person“ zu bezeichnen sein und moralisch einen Personenstatus erhalten sollten. Schwerer noch zu klären sein dürfte die Frage, ob der Optimismus zum menschlichen Leben dazugehört. Je nach Lebenserfahrungen, die ein Mensch gemacht hat, und je nach seiner gegenwärtigen Lebenslage scheint ein Optimismus schwer zu erlangen, und er scheint kaum für jeden in jeder Lage zu empfehlen oder gar zu verordnen zu sein. Hier stellt sich vornehmlich die Frage,
60 | Reschers philosophisches System wie sich eine solche Empfehlung philosophisch begründen lassen könnte oder ob der Verweis auf pragmatische Vorteile genügen kann. Angesichts drohender Schicksalsschläge, deren Vorhandensein dem Optimismus zuwiderlaufen könnte, ist der Versicherungsgedanke Reschers wohl naheliegender. Ein weiteres, meines Erachtens gravierenderes Problem stellt der von Rescher angenommene ontologische Imperativ zur Selbstentwicklung dar. Sieht man an dieser Stelle auch von den spezifischen Problemen ab, die dieser Imperativ im Kontext der Ethik mit sich bringt (vgl. Kap. 4.9.1), so stellen sich doch an dieser Stelle bereits allgemeine Fragen. So stellt sich zum einen die Frage danach, was es genau bedeuten soll, man sei „ontologisch verpflichtet“ (vgl. Martin 1998, 115), und zum anderen die Frage, weshalb aus der Möglichkeit der Selbstentwicklung (diese um des Arguments willen zugestanden) eine Pflicht resultieren soll (vgl. Martin 1998, 116). Schließlich gibt es keinen allgemein gültigen Schluss von der Möglichkeit etwas zu tun, auf eine Pflicht, dieses etwas zu tun, und davon, wie etwas ist, kann nicht ohne Weiteres darauf geschlossen werden, wie etwas sein soll.
4.2 Philosophie des Geistes – Rescher über Willensfreiheit Im Bereich der Philosophie des Geistes hat Rescher zu einem zentralen Thema intensiv gearbeitet7 und eine umfassende Studie vorgelegt, und zwar zum Thema „Willensfreiheit“. Die Monographie hierzu, „Free Will. A Philosophical Reappraisal“ (Rescher 2009 FW), befasst sich mit zwei Hauptaspekten der Debatte um Freiheit und Determinismus: Zum einen geht es Rescher um den Nachweis einer „metaphysischen Freiheit“ („metaphysical freedom“), also um das Einsichtigmachen, dass die Menschen nicht aufgrund externer Kausalstrukturen vollständig in ihrem Handeln vor- und fremdbestimmt sind. Zum anderen intendiert Rescher aufzuzeigen, dass die Menschen grundsätzlich auch in moralischer Perspektive als frei handelnd zu betrachten sind, so dass ihnen (wenn keine besonderen Ausnahmen vorliegen) die moralische Verantwortung für ihre Handlungen zukommt. Dabei setze die moralische Freiheit die metaphysische
|| 7 Vgl. zum Thema auch Rescher 2006 PPD, Kap. 5, Rescher 2008 BV, Kap. 3. und 4, Rescher 2009 I, 111 ff. sowie Rescher 2010 PT, Kap. 8. Wie Rescher 2011 PE, Kap. 6 verdeutlicht, geht er dabei davon aus, dass sich die menschliche Willensfreiheit aus der natürlichen Evolution des Menschen ergeben hat. Vgl. hierzu auch Moutafakis 2007, 21 ff.
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Freiheit (ebenso wie die Abwesenheit von Manipulation oder Zwang) voraus (vgl. Rescher 2009 FW, Kap. 2).8
Menschliche Willensfreiheit und menschlicher Wille Reschers Kernthese besagt, dass Menschen oft frei entscheiden und überlegen können, und dass sie oft gemäß dieser Überlegungen und Entscheidungen auch handeln können (vgl. Rescher 2009 FW, 2). „Willensfreiheit“ wird von Rescher näher bestimmt als „the capacity productively to make rather than merely passively be involved in effecting choices and decisions“ (Rescher 2009 FW, 4). Menschen können demnach wählen und Entscheidungen treffen; sie sind in Entscheidungsfindungen nicht nur passiv involviert. „Wille“ wird definiert als „capacity or power of making deliberative choices regarding one’s actions, and thereby guiding one’s actions by means of thought“ (Rescher 2009 FW, 16). Gemäß dieser Vorstellung kann der Mensch also überlegen, was er tun wird. Diese aktive Fähigkeit, die Rescher den Menschen zuschreibt, soll sich gleichwohl bruchlos in eine von Ursache-Wirkung-Verhältnissen bestimmte Welt einfügen (vgl. Rescher 2009 FW, 5 und 8). Rescher sieht also keinen Widerspruch zwischen der Kausalstruktur der Welt und der menschlichen Willensfreiheit – und opponiert gegen einen Determinismus (etwa von La Mettrie oder von Holbach), der davon ausgeht, Entscheidungen des menschlichen Willens seien immer determiniert (vgl. Rescher 2009 FW, 6). Rescher zufolge ist der menschliche Wille dagegen nicht von der in der Natur herrschenden Kausalität, die vom Akteur unabhängig ist, bestimmt (vgl. Rescher 2009 FW, 6); menschliche Akteure können zwar durch starke Motivationen festgelegt sein – aber diese sind nicht unabhängig vom Akteur („agent-independent“). Insgesamt passe die Annahme eines freien Willens auch besser zum Selbstbild der Menschen: Sähe man sich als fremdbestimmt an, müsste man sich als eine Art Automat betrachten – und dies ist kaum vorstellbar, meint Rescher (vgl. Rescher 2009 FW, 10). Als Menschen betrachten wir uns selbst als rationale Wesen, also als Wesen, die gemäß guter Gründe Entscheidungen treffen – und unsere Entscheidungen nicht deshalb treffen, weil dies ein Ergebnis von Kausalstrukturen ist, denen der Mensch unterworfen ist.
|| 8 Nicht thematisch ist dabei in diesem Zusammenhang für Rescher die Frage nach praktischen Handlungsfreiheiten, ökonomischer Freiheit oder sozialer Unabhängigkeit (vgl. Rescher 2009 FW, XI).
62 | Reschers philosophisches System Bedingungen freien Handelns Wie aber kann der Mensch in der von Ursache-Wirkung-Verhältnissen durchzogenen Natur frei entscheiden und frei handeln? Nach Rescher müssen dazu drei Bedingungen erfüllt sein (vgl. Rescher 2009 FW, 49 f.): 1) Der Handelnde kontrolliert mittels seiner Gedanken sein Tun und das Ergebnis. 2) Der Akteur bringt seine Entscheidungen selbst vermittels Überlegung („deliberation“) hervor (im Kontext der ihm zur Verfügung stehenden Informationen und im Zusammenspiel mit seinen Wertvorstellungen, Präferenzen und Neigungen). 3) Der Handelnde „remains in charge of the outcome of the choice or decision until the point of decision ‚itself‘“ (Rescher 2009 FW, 50), d.h. der Akteur behält bis zum Fallen bzw. Treffen der Entscheidung zugunsten einer Handlung oder Unterlassung das Heft in der Hand und bleibt die entscheidende Instanz. Hätte er andere Überlegungen durchgeführt, hätte er anders entscheiden können; wäre er anders vorgegangen, hätte er anders entscheiden können – dies ist für Rescher wichtig. Das bedeutet auch: Die biologische Ausstattung, das „bio-physical make up“, und die gemachten Erfahrungen kontrollieren nicht die Entscheidungen und Handlungen eines Akteurs (vgl. Rescher 2009 FW, 53).
Freiheit und Kausalität Wie aber soll dies kompatibel mit der Vorstellung sein, dass die Welt durch kausale Strukturen festgelegt ist – und wir Menschen Teil dieser Welt sind? Zwar könnte es sein, so räumt Rescher ein, dass das „Prinzip der Kausalität“ nur ein metaphysisches Postulat sei (vgl. Rescher 2009 FW, 57), doch seine immense Akzeptanz unter Wissenschaftlern und Theoretikern erfordert es seines Erachtens, die Willensfreiheitsthematik auch in seinem Kontext zu erörtern und die Willensfreiheit angemessen zu verorten. Gesetzt also, alle Ereignisse (und Handlungen) könnten durch kausale Vorgänge, die bis zu einem Zeitpunkt X vor dem Ereignis vonstatten gehen, bestimmt werden bzw. sein, dann wäre auch das Geschehen an diesem Zeitpunkt durch Vergangenes determiniert. Dies ließe sich beliebig weiter iterieren – man findet keinen Anfangspunkt (vgl. Rescher 2009 FW, 60). Kann man also bis zu einem Punkt zurückgehen, ist damit noch nicht viel zugunsten eines Determinismus erreicht, denn dieser Punkt könnte ein Punkt freier Entscheidung (gewesen) sein: „With X as the point of decision, we have it that: The results that issues from a genuinely free decision just are not and cannot be the causally inevitable product of choice-antecedent events“ (Rescher 2009 FW, 60). Ereignisse wären damit von gewählten Weltzu-
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ständen an vorhersagbar, aber nicht von beliebig weit in der Vergangenheit zurückliegenden Zuständen (vgl. Rescher 2009 FW, 60). Einzelne Akte des Willens könnten demnach kausale Ketten in Gang bringen. Damit scheint für Rescher gegeben, dass Willensfreiheit und Kausalität einander nicht grundsätzlich ausschließen müssen.
„Pre-determination“ und „precedence determination“ Anders verhielte es sich jedoch, wenn alle Handlungen und Entscheidungen durch kausale Strukturen im Vorhinein bereits festliegen würden, wenn also eine alles erfassende „causally predeterminated“ (Rescher 2009 FW, 61) wäre. Dann läge alles Künftige bereits fest – und dann gilt: „Free will is thus inconsistent with a decision’s pre-determination“ (Rescher 2009 FW, 61). Allerdings ist, so Rescher, zwischen dieser „pre-determination“ und einer anderen Form von Determinismus zu unterscheiden. Diese zweite Form nennt Rescher „precedence determination“ (vgl. Rescher 2009 FW, 61 f.). Nach ihr ist, was geschieht, durch alles Vorige – also alle früheren Ereignisse und Vorgänge – festgelegt. Daher gestattet sie keine Vorhersage, was für die „pre-determination“ nicht zu gelten braucht. Jener „precedence determinism“ sei damit vereinbar, dass ein Akteur sich bis unmittelbar vor dem Zeitpunkt entscheiden resp. vorentscheiden kann. Das heißt, zu einem bestimmten Zeitpunkt fällt eine Entscheidung aufgrund der vorangegangenen Prozesse. Ist ein Mensch in einer bestimmten Entscheidungssituation und entscheidet sich zugunsten einer Handlungsalternative, so würde er sich Rescher zufolge unter genau gleichen Umständen wieder so entscheiden: „identical end-game deliberations must end in identical results“ (Rescher 2009 FW, 62). Das heißt aber auch, die Determination liegt nur im Punkt der Entscheidung vor: „Determination occurs, but only at the point of resolution itself“ (Rescher 2009 FW, 62). Also erst, wenn die Entscheidung zu einer Handlung oder Unterlassung erfolgt, ist von einer Determination auszugehen – zuvor kann der Mensch frei überlegen: „the outcome of a decision is never settled as fact until ‚all returns are in‘ [,] that is, until the moment of decision itself“ (Rescher 2009 FW, 63).
„Eventuations“ Derartige Entscheidungen fallen, so führt Rescher weiter aus, in „temporally punctform, instantaneous occurences“ (Rescher 2009 FW, 64), die er in Abgrenzung zu zeitlich ausgedehnten Ereignissen („events“) als „eventuations“ bezeichnet. Sie markieren Endpunkte (oder Anfangspunkte) von Überlegungsvorgängen und sind nicht zeitlich ausgedehnt. Daher unterliegen sie – anders als
64 | Reschers philosophisches System zeitlich ausgedehnte Prozesse – nicht den Bedingungen von Ereignissen, die kausal determiniert sind: „Natural causality relates to events not eventuations“ (Rescher 2009 FW, 65). Selbst wenn man also ein Prinzip einer umfassenden Kausalität akzeptiert und annimmt, jedes zeitlich ausgedehnte Ereignis sei kausal bestimmt, so sind es doch Rescher zufolge nicht die punktuellen Ereignisse, also nicht die „eventuations“; sie sind nicht Teil des Kausalgeschehens und daher nicht determiniert, meint Rescher. Dabei sind diese zeitlich nicht ausgedehnten „eventuations“ nicht „übernatürlich“, sondern außerhalb der Natur (extra- oder supranatural, nicht supernatural). Diese zeitlich nicht ausgedehnten Punkte sind „descriptive mind-constructs“ (Rescher 2009 FW, 65), also theoretische Entitäten bzw. Produkt unserer Konzeptualisierung der Natur (vgl. Rescher 2009 FW, 65 f.). Sie markieren somit Anfangs- oder Endpunkte von Entscheidungsprozessen; Überlegungsprozesse kulminieren in ihnen (vgl. Rescher 2009 FW, 67). Als theoretische Entität ist eine solche „eventuation“ nicht (empirisch) beobachtbar. Ihre Annahme erklärt am besten, wie wir entscheiden, und was wir selbst beim Treffen von Entscheidungen erleben (vgl. Rescher 2009 FW, 67 f.). Dabei soll sich diese Überlegung auch in die von Rescher vertretene Prozessontologie (siehe Kap. 4.6) nahtlos einfügen, da diese neben Prozessen in der Natur auch Prozessgrenzen annehme, die nicht Teil der Naturordnung seien (vgl. Rescher 2009 FW, 68). Diese Grenzpunkte gehörten somit einer anderen Kategorie an als natürliche Ereignisse (vgl. Rescher 2009 FW, 69). Sie ließen sich entsprechend nicht verstehen als etwas, das durch kausale Zusammenhänge mit Ereignissen vorbestimmt ist. Sie liegen Rescher zufolge jenseits oder außerhalb kausaler Zusammenhänge. So ließen sich die Annahme der Naturkausalität und die Annahme der menschlichen Willensfreiheit miteinander versöhnen (vgl. Rescher 2009 FW, 71). Freie Willensentscheide schaffen kausale Ketten nicht ab; sie lenken kausale Einflüsse um („uninterrupted but redirected“, Rescher 2009 FW, 72). Diese Entscheidungspunkte seien „a matter of agent causality“ (Rescher 2009 FW, 72), wurzeln daher in den Überlegungen eines Entscheidens, das nach Gründen verfährt. Da Personen gemäß Zielen, die sie haben, Entscheidungen träfen, gehörten jene „eventuations“ eher in einen finalursächlichen Kontext (vgl. Rescher 2009 FW, 74); sie würden durch Motivationsstrukturen beeinflusst. Vorhersagbar seien solche Entscheidungen daher nur probabilistisch, da sie eben nicht kausal determiniert sind (vgl. ebenda). Sie können nur im Nachhinein „ex post facto“ erklärt werden (vgl. Rescher 2009 FW, 75).
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Willensfreiheit und Motivation Der freie Wille, um den es Rescher geht, ist aber nicht zu verwechseln mit völliger Unbestimmtheit. Entscheidungen, die Akteure treffen, sind nicht frei von Einflussfaktoren. Sofern diese aber keine externe Bestimmung darstellen, sondern interne Faktoren sind, bliebe die Willensfreiheit erhalten. Statt kausaler Notwendigkeit sei hier eine motivationale Bestimmung („motivational determinism“, Rescher 2009 FW, 79) am Werk. Diese sorge mit dafür, dass Entscheidungen einem Akteur zugerechnet werden könnten; sie unterscheiden die eigene Entscheidung von zwangsweiser Fremdbestimmung: „To make a decision in the light of one’s motives is not a matter of being compelled against one’s will – it is itself what willing is all about“ (Rescher 2009 FW, 79). Akteure entscheiden also so, dass interne Einflussfaktoren eine Rolle spielen; Handlungsentscheidungen erscheinen somit nicht als völlig unmotiviert. Daher spricht Rescher von einem „motivational determinism“, der die Freiheit des Akteurs bei der Willensbildung nicht ausschließt. Zu unterscheiden seien allerdings Einflussfaktoren, die die Willensfreiheit nicht ausschließen (Erziehung, Sitten, freundliche Überredung – also soziale Einflüsse), von denen, die diesen Effekt haben (Hypnose, Gehirnwäsche oder dergleichen; vgl. Rescher 2009 FW, 81). Derartige Manipulationen schließen den freien Willensentscheid des Individuums aus. Der „motivationale Determinismus“ geht schließlich davon aus, dass die Entscheidung im Moment der Entscheidungsfindung von den dann vorhandenen Faktoren wie „psychischer Zustand“, „Informationsstand“, „Neigungen“, „Dispositionen“ und „Charakter“ bestimmt wird (vgl. Rescher 2009 FW, 85). Die Natur ist also „selbstdeterminiert“ („self-determination“), und zwar nicht durch vorhergehende Faktoren, sondern durch die im Entscheidungsmoment „thenexisting“ (nicht: „pre-existing“) eigenen Faktoren (vgl. Rescher 2009 FW, 85). Mithilfe dieser Überlegungen könne auch erklärt werden, was es bedeutet zu sagen, dass eine freie Person hätte anders handeln können: Ein Mensch hätte sich, hätte er andere Überlegungen gemacht, anders entschieden – z.B. wenn er über andere Gründe verfügt hätte (vgl. Rescher 2009 FW, 129). Gründe oder Motive hätten einen anderen Einfluss haben können, aber eben nicht einen zwingenden (vgl. Rescher 2009 FW, 131).
Geist und Gehirn Geist und Gehirn („mind“ und „matter“) spielen bei Entscheidungen zusammen; es liegt aber keine einseitige kausale Beziehung und Einflussnahme vor, meint Rescher (vgl. Rescher 2009 FW, Kap. 8). Man könne sich die Beziehung eher durch einen Dualismus vor Augen führen, in dem es zwei Faktoren gibt, die in verschiedenen Sprachen wiedergegeben werden. Stellt man den einen
66 | Reschers philosophisches System „still“, nimmt ihn also als feste Variable, erscheint die andere Variable als abhängig (und umgekehrt). Es gebe keinerlei Subordinationsverhältnis, sondern ein Zusammenspielen. Ärgert sich z.B. eine Person, tritt ein bestimmtes Erregungsmuster im Gehirn auf; reizt man ein Gehirn, tritt ein bestimmtes Verhalten (z.B. des Ärgerns) auf. Im ersten Fall erscheint die Person aktiv, im zweiten passiv. Nimmt man die Verbundenheit zweier solcher Variablen an, bliebe die Frage, welche abhängig und welche unabhängig ist, offen – und Rescher versucht nicht, diese Frage der Philosophie des Geistes zu lösen (vgl. Rescher 2009 FW, 142).
Freiheit und Selbstbild Aus diesen Darlegungen ergibt sich für Rescher, dass es gute Gründe gibt, einen freien Willen des Menschen anzunehmen. Dies passe zum Selbstbild der Menschen als frei handelnde Wesen (vgl. Rescher 2009 FW, 147), auch wenn es keinen strikten Beweis („demonstration“) für die Willensfreiheit gebe (vgl. Rescher 2009 FW, 148).
Freiheit und eigene Erfahrungen Aber die Annahme eines freien Willens fügt sich kohärent in Reschers philosophisches System ein und passt zu seinen anthropologischen Überzeugungen. Es harmoniert zudem mit den je eigenen Erfahrungen, sich frei zu entscheiden, und sie ist ohne Schwierigkeiten mit der Auffassung zu vereinbaren, nach der man andere Menschen als frei und damit moralisch verantwortlich betrachtet. Es passt ferner nahtlos mit der Vorstellung zusammen, dass man bei zu treffenden Entscheidungen mit anderen Menschen gemeinsam nachdenkt – und es harmoniert mit dem Selbstbild, demzufolge man sich auch selbst als moralisch verantwortlichen, freien Akteur sieht (vgl. Rescher 2009 FW, 149). Zwar sind diese Annahmen, die mit dem je eigenen Freiheitsgefühl verbunden sind, nicht infallibel und beweiskräftig, aber sie machen die Freiheitsannahme durchaus einsehbar und nachvollziehbar, meint Rescher (vgl. Rescher 2009 FW, 150). Ferner passt diese Vorstellung vom freien Willen damit zusammen, dass man die Handlungen anderer Menschen nicht vorhersagen kann, wenn man nicht über die relevanten persönlichen Daten (Ziele, Wünsche, Neigungen und anderes) der betroffenen Person in ausreichendem Maße verfügt (vgl. Rescher 2009 I, 111 ff.).
Philosophie des Geistes – Rescher über Willensfreiheit | 67
Die Freiheitsannahme und die Naturwissenschaften Zudem steht die Freiheitsannahme Rescher zufolge nicht im Konflikt mit der Wissenschaft, und insbesondere nicht mit der gegenwärtigen Neurowissenschaft. Diese Wissenschaft kann zwar erklären, wie z.B. Kopfschmerzen entstehen, aber sie kann Kopfschmerzen nicht „wegerklären“. Analoges gilt nach Rescher auch für freie Willensentscheide (vgl. Rescher 2009 FW, 151) – die Neurowissenschaft kann zwar (vielleicht) Gehirnzustände beschreiben, die vorliegen, wenn ein Proband glaubt, eine freie Entscheidung zu treffen, aber eben nicht das freie Entscheiden auf den Gehirnzustand reduzieren. Die Neurowissenschaft erforscht also Rescher zufolge etwas anderes!
Reschers Fazit Kann es daher bei der Annahme bleiben, dass der Mensch einen freien Willen hat und ihn (wenn nicht bestimmte, besonders ungünstige Umstände vorliegen) auszuüben in der Lage ist, bleibt die Möglichkeit moralischer Verantwortung offen (vgl. Rescher 2009 FW, 160), auf die Rescher im Rahmen seiner Moralphilosophie baut. Dass es einen solchen freien Willen gibt, lässt sich zwar wie gesagt nicht strikt beweisen, aber eben einsichtig machen. Reschers Fazit lautet daher: The upshot may be stated as follows: Given a sensible understanding of what free will is and requires, there are good reasons to accept its reality and cogent reasons for rejecting the traditional counter-arguments and objections (Rescher 2009 FW, 162).
Diskussion zu Reschers Darlegungen zur Willensfreiheit Am Ende dieses Kapitels, welches Reschers Überlegungen zum Thema „menschliche Willensfreiheit“ vorstellt, ist sicherlich nicht der geeignete Ort, um dieses strittige, schwierige und hochkomplexe Thema erschöpfend oder abschließend zu behandeln. Festgehalten sei daher hier lediglich, dass Rescher einen Lösungsansatz vorschlägt, der mit dem verbreiteten Selbstbild des Menschen als einem frei handelnden, nicht durch die Natur oder ihre Gesetzen determinierten Wesen, das selbst seine Entscheidungen treffen kann und nicht durch ihm unbewusste Vorgänge bestimmt ist, vereinbar ist. Damit bleibt zudem die Option, den Menschen (sofern er erwachsen und normalsinnig ist und keine besonderen Umstände vorliegen) als moralisch verantwortlich zu sehen. Dies ist ein Punkt, den auch P.F. Strawson nachdrücklich betont hat (vgl. Strawson 1978). Setzt man wie Strawson die Bedeutsamkeit der praktischen Vernunft entsprechend hoch an, so müssten wir uns aufgrund der Fähigkeit zur
68 | Reschers philosophisches System Ausübung der praktischen Vernunft nicht als determiniert betrachten. Ob bzw. inwieweit Reschers Annahme punktueller Entscheidungen überzeugen kann und ob die Differenzierung zwischen „pre-determination“ und „precedence determination“ die Frage entscheidend klären kann, bleibe dahingestellt. Ergänzend scheint zudem darauf hingewiesen werden zu können, dass die These des umfassenden Determinismus, nach dem Menschen keine autonomen Wesen sein können und durch ihre natürliche Ausstattung plus den Input durch die Sinnesorgane festgelegt sind, ihrerseits kaum zu belegen sein dürfte.9 Formuliert man sie als eine „Allaussage“, ist sie ohnehin aus wissenschaftstheoretischer Sicht schwer beweisbar bzw. nicht zu überprüfen, aber auch abgesehen davon besteht ein schwerwiegendes Beweisproblem. Schließlich kann man den (überlegten) Handlungen und Unterlassungen im Alltag nicht ansehen, ob sie determiniert sind oder nicht. Schließlich kann ein aus der Sicht der Diskurstheorie vorgetragenes Argument ergänzt werden, welches die Möglichkeit, für den Determinismus zu argumentieren, grundsätzlich infrage stellen soll. Diesem Argument nach wäre ein Sprechakt, der die Determinismusposition vertritt oder zu ihren Gunsten zu argumentieren versucht, als ein nicht vom Sprecher frei gewähltes Argument zu sehen. Es handelte sich hierbei um etwas, was seinerseits verursacht wäre, und vom Sprecher nicht zu verantworten wäre, wie es ansonsten bei Argumenten in einem Diskurs der Fall sein sollte. Damit wäre fraglich, ob man es als selbst gewähltes Argument betrachten kann, oder ob es sich nicht selbst aufhebt, weil man nach dieser Auffassung keine frei gewählten Argumente, die einen Geltungsanspruch erheben, formulieren kann.
4.3 Erkenntnistheorie Fragen der (allgemeinen) Erkenntnistheorie durchziehen Reschers Werke. Ihnen hat er also in besonderem Maße seine Aufmerksamkeit geschenkt, was ihre besondere Bedeutung für Reschers philosophisches System unterstreicht. Reschers Erkenntnistheorie lässt sich durch eine Reihe von Merkmalen charakterisieren, die diese Epistemologie zugleich auch als integralen Bestandteil des philosophischen Gesamtsystems deutlich werden lassen. Sieht man von dem grundlegenden Antiskeptizismus ab, so sind vor allem der Idealismus, der Kohärentismus (einschließlich einer Kohärenztheorie der Wahrheit) anstelle
|| 9 Vgl. hierzu Keil 2007 und Keil 2009.
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eines „foundationalism“10, der Fallibilismus und ein Pragmatismus die hervorstechenden Charakteristika. Im Rahmen der mit diesen Merkmalsangaben charakterisierten Erkenntnistheorie hat Rescher dann versucht zu bestimmen, was Erkenntnis ist, mit welchen Verfahren man sie gewinnen und absichern kann, aber auch welche Grenzen der Erkenntnis vorgegeben sind. Infolgedessen wird in diesem Kapitel zunächst Reschers Kritik am Skeptizismus vorgestellt, ehe auf Reschers eigene epistemologische Position ausführlicher eingegangen wird. Im Anschluss folgt den Ausführungen zu den allgemeinen Grundlagen Reschers eine kurze Darstellung zu Reschers wahrheitstheoretischer Konzeption und zu seinen Auffassungen über die Grenzen des Wissens.
4.3.1 Kritik am kognitiven Skeptizismus Reschers Positionen in der Philosophie im Allgemeinen, aber auch speziell in der Theoretischen Philosophie stehen in Opposition zum Skeptizismus (vgl. hierzu vor allem Rescher 1980 S)11. Rescher kritisiert in seiner Auseinandersetzung mit skeptizistischen Positionen eine Reihe einzelner skeptischer Argumentationen. Dabei versucht er herauszustellen, dass skeptizistische Annahmen in der Regel „überzogen“ sind, wenn sie nicht begrifflich inakzeptabel sind. Jenes „Überzogensein“ ergibt sich dabei nicht selten, wenn man – wie Rescher – pragmatische Argumente bei der Kritik skeptischer Positionen mit heranzieht.
Das Anfangsproblem des Skeptizismus resp. das Münchhausen-Trilemma In der Studie „Scepticism. A Critical Reappraisal“ (Rescher 1980 S) setzt Rescher sich mit einer Vielzahl skeptischer Positionen und Argumentationen im Einzelnen auseinander, die sich gegen allgemeine Wissensaussprüche richten, die
|| 10 Für den philosophischen Terminus „foundationalism“ gibt es keine geeignete deutsche Entsprechung, die sich allgemein durchgesetzt hat. Das Wort „Fundamentalismus“ ist im Deutschen anders besetzt und findet zumeist nur im politischen und religiösen Bereich als „politischer Fundamentalismus“ oder „religiöser Fundamentalismus“ Verwendung. „foundationalism“ meint hingegen eine philosophische Position, die eine feste Grundlage annimmt, die (zumeist) ihrerseits als nicht weiter zu begründen gilt (etwa, weil sie als evident angesehen wird), und aus der vermittels Deduktion weitere philosophische Gehalte entwickelt werden können. Im Folgenden wird daher durchgängig der englische Terminus verwendet. 11 Vgl. zum Thema ferner Rescher 1977 MP, Kap. 12, Rescher 1992 SPI, 20-35, Rescher 2001 CM, Kap. 5, Rescher 2007 E, Kap. 3. Vgl. auch Wüstehube 1998, 112 ff. und Willaschek 1998.
70 | Reschers philosophisches System also ein Wissen von Sätzen oder Propositionen über empirische Sachverhalte generell in Zweifel ziehen. Gleichwohl sieht Rescher die gravierenden Probleme eines jeden Versuchs der Widerlegung des Skeptizismus: Bei einem derartigen Unterfangen scheint keinerlei Rückgriff auf sichere oder unproblematische Prämissen möglich, denn der skeptische Opponent würde schließlich eine jede derartige Prämisse wiederum in Zweifel ziehen. Dadurch ergeben sich gravierende Begründungsprobleme, auf die bereits Agrippina und K. Popper aufmerksam gemacht haben, und die in das von H. Albert sogenannte „MünchhausenTrilemma“ führen. Dies besagt: Eine zur Stützung einer These vorgebrachte Prämisse müsste entweder selbst wieder begründet werden, sodass sich das Begründungsproblem verschiebt, oder die Prämisse wird „dogmatisch“ festgesetzt – was ein Skeptiker nicht zu akzeptieren braucht. Ihm steht es frei, auch diese Prämisse wiederum anzuzweifeln. Verzichtet man deshalb auf solche dogmatischen Setzungen und versucht stattdessen, die Prämissen gegenüber dem Skeptizisten zu begründen, eröffnet man diesem neue Möglichkeiten, seinen skeptischen Zweifel zu artikulieren. Reagiert man darauf nun mit weiteren Prämissen, droht ein unendlicher und damit nicht erfolgreich abzuschließender Begründungsregress, oder man greift in den entstehenden Begründungsketten auf bereits Genanntes, erst noch zu Begründendes zurück – und begeht einen vitiösen Zirkelschluss. Verfechter von deduktiv verfahrenden Begründungen, die letzte Begründungen beinhalten sollen, scheinen damit vor die Wahl zwischen drei nicht zu akzeptierenden Optionen gestellt zu sein: Dogmatismus, infiniter Regress oder vitiöser Zirkelschluss.
Pragmatismus und Skeptizismus Um sich dieser Problematik von vornherein zu entziehen, verfolgt Rescher einen anderen Weg, der kohärent zu seinem Pragmatismus passt: Er versucht, pragmatisch inakzeptable Konsequenzen aus der skeptischen Position abzuleiten, so dass es angesichts dieser Konsequenzen als nicht vernünftig erscheint, die skeptizistische Haltung einzunehmen. Damit soll zugleich aufgezeigt werden, dass der Skeptizismus insgesamt zwar überwindbar ist, er aber gleichwohl sein partielles Recht bewahrt, weil er Grenzen des Wissens aufzeigt bzw. mit seiner Hilfe Erkenntnisgrenzen aufgezeigt werden können. Dennoch besteht Reschers Intention darin, aufzudecken, dass bei realistisch anzunehmenden Grenzen des Wissens diese Begrenzungen keinerlei Unerreichbarkeit von Wissen überhaupt bedeuten (vgl. hierzu Rescher 1980 S, Einleitung).
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Das Zirkelargument Eines der wichtigsten Argumente zugunsten des Skeptizismus ist das sogenannte „Zirkelargument“. Es besagt, dass man zur Auszeichnung eines Satzes (oder eines Gedankens, eines Urteils, einer Proposition oder einer Äußerung) als „wahr“ einen Maßstab für Wahrheit braucht. Die Wahrheit von Sätzen (Gedanken, Urteilen etc.) bezweifelt der Skeptizist, und er insistiert darauf, dass auch ein Satz, der als Maßstab für Wahrheit fungieren soll, selbst wahr sein müsste. Genau ein solcher selbst wahrer Maßstab (in Form eines Satzes etc.) für Wahrheit stehe aber nicht zur Verfügung, behauptet der Skeptizismus. Wer nun versuche, einen solchen formulierten Maßstab einzuführen, begehe eine Form des Zirkelschlusses. Träfe diese Argumentation zu, ließe sich keinerlei Maßstab für wahre Sätze etablieren, und der Skeptizismus, verstanden als Wahrheitsskeptizismus, behielte letztlich Recht. Rescher meint jedoch, dem Skeptizismus bzw. dieser Argumentation mithilfe einer Differenzierung begegnen zu können. So bezieht sich der skeptizistische Zweifel zunächst auf die Wahrheit von Aussagen über (tatsächliche oder vermeintliche) Fakten. Sätze, die hingegen einen Maßstab der Wahrheit angeben, seien von diesen faktenbezogenen Sätzen zu unterscheiden – denn Wahrheitsmaßstäbe ausformulierende Sätze beziehen sich nicht unmittelbar auf Fakten in der Welt. Sie geben ein theoretisches Wissen an und gehören zu den Sätzen der Methode – und damit auf eine andere Ebene als empirische Sätze: auf eine Ebene der Reflexion. Jener skeptische Zirkeleinwand verdeutliche lediglich, dass es kein einheitliches Wahrheitskriterium für alle Aussagen resp. aussagenden Sätze gebe. Entscheidend für Reschers Zurückweisung des Skeptizismus ist also zunächst eine Binnendifferenzierung bzw. Ebenenunterscheidung.
Metawissen Eine Binnendifferenzierung von Sätzen nehme der Skeptizismus darüber hinaus selbst vor. Wenn er behauptet, Faktenaussagen bzw. Argumenten ließe sich immer ein entsprechender gegenteilig aussagender Satz bzw. ein entsprechendes Gegenargument gegenüberstellen (gemäß dem auf Pyrrhon zurückgehenden Grundgedanken bei Sextus Empiricus), er also eine skeptizistische Kernthese vertritt, macht er von einer Differenzierung selbst Gebrauch. Denn um das Letztgenannte zu formulieren, bedarf es eines Satzes, der Wissen über Wissen artikuliert, also ein Metawissen – und dieser Satz ist von Sätzen, die sich auf Fakten unmittelbar beziehen, zu unterscheiden. Geht ein Skeptizist nicht davon aus, dass hier eine Differenzierung zu machen ist, werde seine Position selbstdestruktiv, meint Rescher. Denn dann kann gegen seine erkenntnistheoretische
72 | Reschers philosophisches System Position eine kontradiktorische Gegenposition angeführt werden. Intendiert der Skeptizist daher an seiner skeptischen Position gegenüber Faktenaussagen festzuhalten, muss er, so Rescher, auf der Reflexionsebene ein Metawissen anerkennen und artikulieren (vgl. hierzu Rescher 1980 S, Kap. 1).
Sätze und Propositionen über die Empirie Damit ist aber über den Wissensanspruch von Aussagen bzw. Sätzen über (tatsächliche oder bloß vermeintliche) Fakten der Empirie noch nicht entschieden; es ist also noch zu klären, ob ein solcher Anspruch auf Wissen über Sachverhalte in der Welt zu Recht erhoben werden kann oder dem skeptischen Zweifel verfällt. Denn behauptet ein Sprecher oder Subjekt S, er wisse einen Satz resp. von der Proposition (dem Gehalt eines Aussagesatzes) p, so wird nicht nur vorausgesetzt, dass S p akzeptiert, sondern auch die Wahrheit von p – für die S Gründe haben müsste. Doch – so der skeptische Einwand – diese Gründe könnten sich insgesamt als „nicht überzeugend“ erweisen und p falsch sein. Nicht einmal für Aussagen über etwas, was man gerade wahrnimmt, sei Irrtumsfreiheit garantiert. Sätze über die Welt (wie zum Beispiel „Die Katze ist auf der Matte“) könnten sich immer als falsch herausstellen; es könnte sich durchweg anders verhalten, als S glaube.
Das „No-certainty“-Argument In diesem Sinne könne nun der Skeptiker behaupten, es gebe keine Gewissheiten über die Welt. Dies ist der Kern des „No-certainty“-Arguments (vgl. Rescher 1980 S, Kap. 3; vgl. zum Thema ferner Rescher 2005 CS, 74 ff.). Jede empirische Aussage behaupte (durch ihren Wahrheitsanspruch) mehr, als sich beweisen ließe bzw. mehr als begründet einsichtig gemacht werden kann. Logisch betrachtet sei es daher nicht auszuschließen, dass es sich in jedem einzelnen Fall anders verhält als es die jeweilige Aussage behauptet. Schließlich könnte es sogar jenen teuflischen Dämon von Descartes geben, der den Menschen permanent vorgaukelt, empirische Erkenntnisse zu haben, ohne dass dies tatsächlich der Fall ist. Dann wären alle Behauptungen über die Empirie falsch. Demgemäß kann der Skeptiker jedes (gewisses oder tatsächliches) Wissen in Form (gewiss) wahrer Sätze über Sachverhalte in der Welt bestreiten. Er kann daher folgendes Argument formulieren: 1) Alle Wissensansprüche beanspruchen Gewissheit bzw. „wirkliches“ Wissen zu sein. 2) Wissensansprüche erfüllen derartige Ansprüche nicht.
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3)
Folglich gilt: Alle Wissensansprüche führen nicht zu Gewissheiten resp. „wirklichem“ Wissen.
Reschers Kritik am „No-certainty“-Argument Nach Rescher ist aber die Konsequenz dieses Schlusses nicht ein Ergebnis, das Bestand haben kann. Das Argument des Skeptikers gilt es seines Erachtens selbst wieder kritisch zu reflektieren, und dabei ist auch die pragmatische Funktion von Wissensansprüchen einzubeziehen. Geschieht dies, stellt sich nach Rescher heraus, dass jene Wissen beanspruchenden Propositionen, Aussagen oder Sätze gar nicht gegen jeden bloß denkbaren bzw. gegen jeden logisch möglichen Einwand gefeit sein müssen, sondern nur gegen jeden realistischen. Worauf Sprecher oder Erkenntnissubjekte abzielen, sind Rescher zufolge praktische Gewissheiten, die sich jenseits vernünftiger Zweifel befinden, nicht aber kategorische Gewissheiten jenseits aller (denk)möglicher Zweifel. Praktische Gewissheiten anzustreben genüge daher auch. Mit diesen Überlegungen folgt Rescher den pragmatischen Vorstellungen von Ch. S. Peirce, der den Descartes’schen Zweifel mithilfe eines fingierten täuschenden Dämons als bloßen „paper doubt“ verwarf. Entscheidend sind für Peirce wie für Rescher reale Irrtumsmöglichkeiten, also Irrtümer, die aus tatsächlichen Situationen des Forschens oder Erkenntnisgewinns entstammen. Diese Irrtümer und nur diese gilt es zu überwinden, und nicht bloß denkbare Zweifel, die zudem nicht einmal plausibel seien – bzw. die im Grunde genommen noch zweifelhafter erscheinen als dasjenige, was einen faktisch als Umgebung des Forschens und Erkennens umgibt.
Praktische Gewissheit Gewissheiten, die angestrebt werden, sind nach dieser pragmatischen Auffassung Gewissheiten nur im folgenden Sinn: Eine Proposition p gilt als gewiss, wenn p so sicher wie nur irgend möglich ist, d.h. wenn alles Erdenkliche getan ist, um p zu prüfen, so dass keine weiteren Prüfungen mehr sinnvoll zu sein scheinen (vgl. Rescher 1980 S, 40).12 Gewissheit ist damit nicht, wie die Skeptiker meinen, ein unerreichbares Ideal, sondern ein pragmatisch betrachtet durchaus zu erlangendes Ziel. Es wird erreicht, wenn alles menschenmöglich Sinnvolle getan wurde, um es zu erlangen (vgl. Rescher 1980 S, 41). Gewisshei-
|| 12 Wie Rescher 2011 OC, 1 ff. verdeutlicht, ist allerdings zwischen dem subjektiven „etwas für gewiss halten“ und dem nicht subjektiven „gewiss sein“ zu unterscheiden.
74 | Reschers philosophisches System ten gibt es demnach; es sind Gewissheiten aus dem Leben und Gewissheiten aus unserer Welt des Handelns, für die bloß vorstellbare Möglichkeiten von Irrtümern schlicht irrelevant sind. Eine Verteidigung von Aussagen gegen unvernünftige Zweifel sei, so Rescher, gar nicht notwendig. Aufgrund dieser pragmatischen Annahmen kommt Rescher zu dem Ergebnis, dass Aussagen wie „Ich weiß, dass p, aber es ist nicht sicher, dass p“ oder „Ich weiß, dass p, aber non-p ist möglich“ pragmatisch inkonsistent sind. Sie resultierten etwa aus folgendem, pragmatisch zu beanstandenden Verfahren: Erst behauptet der Sprecher S die Proposition p und gibt damit zugleich an, gute Gründe für p zu haben, aber dann zieht S die Proposition p zurück – obwohl er zuvor zu Verstehen gegeben hat, dass gute Gründe für das Akzeptieren von p vorhanden sind (vgl. Rescher 1980 S, 47).
„Wissen“ im Pragmatismus Reschers Wissen braucht gemäß dieser pragmatischen Sichtweise also nicht gegen jede Korrekturmöglichkeit gefeit zu sein; Sätze, die Wissen ausdrücken, können sich (zukünftig) als falsch herausstellen. Das Wissen ist nach dem pragmatischen Verständnis von Rescher fallibel. Unser Wissenskorpus verändert sich stets; er ist, meint Rescher, nicht abgeschlossen (vgl. z.B. Rescher 1996 PM, 132). Unser Wissen muss auch nicht beliebig hohen Ansprüchen an Exaktheit oder Korrektheit genügen, meint er. Daher ließen sich – wiederum aufgrund pragmatischer Annahmen – zu hohe Ansprüche an das Wissen, wie der Skeptizismus sie einfordere, abweisen. Gegen in seinen Augen überzogene Anforderungen an das Wissen hinsichtlich „Exaktheit“, „Korrektheit“ oder „Unkorrigierbarkeit“ setzt Rescher wiederum „realistische“, d.h. in seinen Augen realistisch erfüllbare Bedingungen. Anforderungen, die bloß theoretisch im Sinne von „bloß logisch möglich“ erscheinen, werden von ihm als ungeeignet zurückgewiesen (vgl. Rescher 1980 S, 50 f.). Notwendig für die Rechtfertigung von Ansprüchen, etwas zu wissen, ist das Nichtvorhandensein von Gegenevidenzen (die ihrerseits einsichtig sind). Wissensrechtfertigungen sind damit nach Rescher von strikten Beweisen zu unterscheiden; eine pragmatische „justification“ ist keine „demonstration“, womit Rescher auf eine Unterscheidung zurückgreift, die auch H. Feigl in seinen antiskeptischen Überlegungen verwendet.13 Skeptische Einwände gegen die Möglichkeit von Wissen setzen, so Reschers Pointe, einfach die Standards zu hoch – so hoch, dass sie unerfüllbar werden. Gerade dies verun-
|| 13 Vgl. Feigl 1981 und dazu Kellerwessel 2010.
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möglicht jedes Wissen – und steht, so Rescher, in Konflikt mit der Anforderung an das auch von Skeptizisten beanspruchte Metawissen zweiter Stufe.14
Wahrheit versus Behauptbarkeit Der Skeptizist zieht somit Rescher zufolge die Berechtigung von Wissensansprüchen ungerechtfertigterweise allgemein in Zweifel, weil er darauf insistiert, dass grundsätzlich Fehlermöglichkeiten im Erkenntnisprozess vorliegen können, und die oben genannte Wissensbedingung (der zufolge Sätze, die ein Wissen ausdrücken, wahr sein müssen) verletzt sein kann. Doch auch dies ist nach Rescher nicht entscheidend: Differenziert man zwischen Wahrheitsbedingungen auf der einen Seite und Gebrauchs- bzw. Behauptbarkeitsbedingungen auf der anderen Seite, dann ließe sich – gegen den Skeptizisten – zugunsten der Berechtigung von Wissensansprüchen argumentieren (vgl. hierzu Rescher 1980 S, Kap. 5). Für die laut Rescher berechtigte Behauptung von Wissen sind die Behauptbarkeitsbedingungen einschlägig15, nicht die Wahrheitsbedingungen (siehe hierzu auch das Kap. 4.8). Wer über Plausibilität bei gleichzeitiger Abwesenheit von einsichtigen Gegenevidenzen verfüge und zudem mutmaßlich gute Gründe bzw. Wahrheitskandidaten („presumptions“) auf seiner Seite habe, könne in der Praxis Wissensansprüche zu Recht erheben. Dies gelte auch für den Fall, dass sich etwa im Laufe der Forschung oder bei verbessertem Erkenntnisstand die Wissensbehauptung letztlich als unzutreffend erweist, weil die behauptete Proposition p sich als falsch herausstellt. Bessere verfügbare Einsichten im Nachhinein verhindern demzufolge nicht grundsätzlich, dass Ansprüche, p zu wissen, gerechtfertigt behauptet werden können – so die Position von Rescher. Die Gebrauchs- bzw. Behauptbarkeitsbedingungen sind schwächer als die Wahrheitsbedingung bzw. schließen die Wahrheitsbedingung nicht ein. Wissensansprüche könnten deshalb nach Reschers Auffassung mit Recht erhoben werden, auch wenn der Anspruch, etwas zu wissen, sich später als falsch erweisen kann. Offenbar genügen Rescher also andere, weniger anspruchsvolle Regeln als Behauptbarkeitsbedingung, die pragmatischen Aspekten und den Regeln der alltäglichen Sprachverwendung genügen.
|| 14 In seiner Schrift über den Common Sense weist Rescher auf einen weiteren interessanten Punkt hin: Skeptizisten müssen annehmen, dass sie ein Wissen um die Bedeutung ihrer Äußerungen haben, also ein semantisches Wissen (vgl. Rescher 2005 CS, 118 f.). 15 Vgl. hierzu auch Rescher 2008 EP, 7 f.
76 | Reschers philosophisches System Fallibilität statt zu hoher Ansprüche an das Wissen Dazu zählt nach Rescher eben auch, dass zu einem bestimmten Zeitpunkt erhobene Wissensansprüche nicht unkorrigierbar zu sein haben. Auch ein solcher Anspruch wird von Rescher als zu hoch und damit als unrealistisch zurückgewiesen (vgl. Rescher 1980 S, Kap. 6). Entsprechend hält er ein skeptisches Gegenargument gegen die Möglichkeit des Wissens, weil dieses immer korrigierbar sei, für verfehlt, sofern wiederum nur mögliche bzw. bloß denkbare Optionen ins Spiel gebracht werden.
Eingeschränkte Zweifelsmöglichkeiten Ferner weist Rescher darauf hin, dass bei einer beträchtlichen Anzahl von Aussagen keine – eindeutig relevanten – speziellen Zweifel in bestimmten Situationen artikulierbar seien. Rescher verweist in diesem Kontext auf die auch von L. Wittgenstein in „Über Gewißheit“ (vgl. Wittgenstein 1984) erörterten sogenannten Moore-Sätze. G.E. Moore hatte aufzuzeigen versucht (vgl. Moore 1969a und Moore 1969b), dass sich Sätze wie „Hier ist meine Hand“ und andere, geäußert in entsprechenden, geeigneten Situationen, als dem Zweifel gegenüber resistent verhalten. „Reale“ (in Reschers Sinn verstandene) Irrtumsmöglichkeiten und entsprechende Korrekturen scheinen hier ausgeschlossen – es lassen sich keine speziellen Zweifel anführen, meint Rescher, und allgemeine (die beispielsweise den täuschenden Dämon, den Descartes einführt, ins Spiel bringen) sind Reschers Ansicht nach nicht relevant. Geht man – als Pragmatiker – davon aus, dass wir (stets fallibles) Wissen von der Welt zum Handeln und zum erfolgreichen (erfolgten) Überleben benötigen, scheinen jene allgemeinen Zweifel pragmatisch schwer aufrechtzuerhalten. Und spezielle Zweifel an den Moore-Sätzen (zu denen unter anderem auch Sätze wie „Es gibt Menschen“, „Es gibt materielle Gegenstände“ etc. gehören) scheinen in der Tat kaum vorstellbar.
Wissensstandards des Skeptizismus Was den Skeptizismus also Rescher zufolge insgesamt motiviert, sind zu hoch angesetzte Standards für Wissen. Dies hat zunächst einmal in den Augen Reschers einen gravierenden Nachteil pragmatischer Natur: Durch die so hoch angesetzten Standards begehen Skeptizisten einen erkenntnistheoretischen Fehler, der ihre Position unattraktiv werden lässt. Denn bei ihrem Bestreben, nur in höchstem Maße sicheres Wissen zuzulassen, verschließen sie sich Wissensbereiche. Sie verpassen somit die Möglichkeit, Wissen zu erwerben und machen sich damit einer „culpable ignorance“ (Rescher 2009 I, 12) schuldig. Anders formuliert: Ihr Fehler ist ein Irrtum der Auslassung („omission error“,
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Rescher 2009 I, 145); beim Versuch, die Risiken durch Wissensannahmen zu vermeiden, die sich als falsch herausstellen, verschließen sie sich die Möglichkeit, Wissen zu erwerben, welches sich erwerben ließe (vgl. Rescher 2009 I, 145).
Exaktheit des Wissens Skeptizisten scheinen einzufordern, dass Wissen ein perfektes, unumstößliches Wissen ist. Perfektibilität kann aber aus pragmatischer Sicht kein sinnvoll einzuforderndes Kriterium sein. Dies betrifft in ähnlicher Form auch zu hoch veranschlagte Ansprüche an Exaktheit. Diesbezüglich hat Rescher mehrfach darauf verwiesen, dass gerade ein nicht so exaktes Wissen zur Sicherheit des Wissens beitragen kann. Betrachte ich beispielsweise einen Baum und sage, er sei ungefähr 10 m hoch, kann ich falsch liegen. Sage ich hingegen, der Baum habe eine Höhe von zwischen 5 und 50 m, erscheint der Satz resp. das mit ihm beanspruchte Wissen schon deutlich sicherer. Ändere ich die Zahlenangaben in „zwischen 1 und 100 m“ dürfte ein Irrtum praktisch (unter unterstellten normalen Sichtbedingungen) ausgeschlossen sein. Der Preis für die zunehmende Sicherheit ist die zunehmende Ungenauigkeit der Wissensangabe – aber dies ist nicht dasselbe wie ein vollständiger Wissensverlust.
Kohärentes Wissen Damit bleibt im Kontext von Reschers Kritik am Skeptizismus noch ein letzter Punkt zu erörtern – die Frage, ob nicht ein sicheres Wissensfundament unverzichtbar ist (vgl. hierzu Rescher 1980 S, Kap. 9). Im Rahmen des Kohärentismus von Rescher ist es aber so, dass es ein infallibles, also feststehendes Fundament des Wissens gar nicht geben muss. Auf eine selbstevidente Ausgangsbasis oder dergleichen verzichtet der Kohärentismus, der mit falliblen, also korrigierbaren Präsumtionen beginnt. Am Anfang steht damit also ein Alltagswissen, das unter Umständen korrigiert wird, oder fallibles wissenschaftliches Wissen – also ein Wissen, welches ohne besondere epistemische Auszeichnung hinsichtlich Sicherheit oder Exaktheit auskommt (siehe hierzu noch die weiteren Ausführungen in Kap. 4.3.2).16
|| 16 Gegen skeptische Positionen in der Theoretischen Philosophie argumentiert Rescher ferner in Rescher 1977, Kap. 12, Rescher 1988, Kap. 4, Rescher 1992, 15-35, und Rescher 1993a, Kap. 5; gegen relativistische Positionen bezieht Rescher beispielsweise in Rescher 1994e, Teil III und Rescher 1993a, Kap. 6 Stellung.
78 | Reschers philosophisches System Kurze kritische Diskussion zu Reschers Auseinandersetzung mit dem Skeptizismus An dieser Stelle kann nicht die umfassende Diskussion um den Skeptizismus und den Fallibilismus in der Philosophie aufgenommen und weitergeführt werden. Und auch die pragmatische Kritik am Skeptizismus wird hier nicht weiter verfolgt werden. Allerdings erscheinen etliche Überlegungen Reschers nachvollziehbar – insbesondere diejenigen, welche die hohen Wissensstandards des Skeptizismus und den Zusammenhang von Sicherheit und Ungenauigkeit betreffen. Positiv zu sehen ist zudem auch die Differenzierung von empirischem Wissen und Metawissen. Auf ein wichtiges Problem ist allerdings hinzuweisen: Nach Rescher kann ein Satz über die Empirie bzw. eine entsprechende Proposition gewusst werden, obwohl sie sich später als falsch herausstellt. Damit kann also ein falscher Satz gewusst werden – und dies ist eine mehr als strittige Vorstellung, da sie die Auffassung preisgibt, nach der nur wahre Sätze bzw. Propositionen Gegenstand des Wissens sein können. Etwas ausführlicher soll hier vornehmlich eine zentrale Grundüberzeugung Reschers diskutiert werden: sein „anti-foundationalism“ bzw. Kohärentismus. Seine Ablehnung des „foundationalism“ stützt sich auf das Problem, welches basale Sätze über Wahrnehmungen aufweisen: mangelnde Intersubjektivität bzw. Objektivität. Doch auch wenn man die versuchte Begründung sicheren Wissens etwa von Descartes nicht akzeptiert – z.B. weil dieser vieles Wissen resp. Metawissen (bzw. die Logik, die Sprache und Regeln der Argumentation) gar nicht wirklich in Zweifel zieht – so gibt es doch andere Argumentationsversuche, die zugunsten sicheren, infalliblen Wissens und zuungunsten des Skeptizismus und Fallibilismus sprechen könnten. Diesbezüglich stellt sich aber die Frage, ob nicht sinnkritisch überprüfte Aussagen eine zuverlässige Basis bilden können − Aussagen, wie sie etwa Wittgenstein in „Über Gewißheit“ als nicht sinnvoll bezweifelbar auszuzeichnen unternimmt (vgl. hierzu auch Kellerwessel 1998b). Eine weitere antiskeptische und antifallibilistische Strategie könnte in dem Aufdecken dessen bestehen, was zur Formulierung skeptischer und fallibilistischer Annahmen selbst schon in Anspruch genommen werden muss. Auch dies könnte ein Weg sein, zu sicherem Wissen zu gelangen (vgl. hierzu Kuhlmann 1985 und für die Moralphilosophie Kellerwessel 2003a, Kap. 3). Damit bestünde noch eine von Rescher nicht eigens argumentativ zurückgewiesene Alternative, die gegebenenfalls durch kohärentistische Überlegungen ergänzt werden könnte. Sie würde zugleich ein Problem vermeiden, welches Reschers unfundierter Kohärentismus haben könnte: das Vorhandensein verschiedener, bloß relativ gültiger kohärenter Systeme, die ihre jeweils eigenen Daten selektieren.
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4.3.2 Erkenntnistheoretische Grundpositionen: Idealismus, Realismus, Pragmatismus und Kohärentismus Im Rahmen seiner Erkenntnistheorie spielt für Rescher eine besondere Form des Idealismus eine grundlegende Rolle. Dieser soll zunächst vorgestellt werden, ehe danach weitere zentrale Bestandteile der Epistemologie Reschers thematisiert werden.
Idealismus Reschers Idealismus lässt sich zunächst durch seine erkenntnistheoretische Opposition zu einem metaphysischen Realismus charakterisieren. Diese Form des Realismus nimmt eine strukturierte Welt gänzlich unabhängig von unseren Erkenntnismöglichkeiten an. Dies ist eine Annahme, die Rescher kritisiert: „Aber […] hinsichtlich des Reiches der Erkenntnis ist es uns nicht gegeben, eine Linie zu ziehen zwischen dem, was innen, und dem, was außen liegt – da wir ja ex hypothesi zu letzterem keinen Zugang haben“ (Rescher 1985 GW, 237 f.; vgl. Rescher 1992 SPI, 80). Jedes Beziehen der Erkenntnis auf die Wirklichkeit geschieht Rescher zufolge schon innerhalb des Erkennens selbst, so dass das menschliche Erkennungsvermögen bei jedem Erkennen von Ausschnitten der Welt immer schon involviert sei. Ein tatsächlich durchgeführter Vergleich mit einer von dieser Verbindung entkoppelten „wirklichen Wirklichkeit“ ist folglich ausgeschlossen. Eine Vorstellung, nach der Erkenntnis über etwas außerhalb der Erkenntnis liegendes beansprucht wird, ist, meint Rescher, paradox (vgl. Rescher 1985 GW, 237). Ein etwaig anvisierter Vergleich zwischen unseren Erkenntnissen und einer realistisch verstandenen Wirklichkeit, die von diesem Erkennen gänzlich unabhängig ist, scheint damit für Rescher ausgeschlossen zu sein. Entsprechend ist für einen Idealisten der involvierte realistische Begriff der Wirklichkeit nicht zu übernehmen. Daher setzt Rescher diesem seinen idealistischen Wirklichkeitsbegriff entgegen, der ein solches Verfahren des Vergleichs mit der Wirklichkeit, wie der metaphysische Realismus es erfordere, ausschließt: Nach Rescher ist Wirklichkeit prinzipiell zu verstehen als „Wirklichkeit-für-uns“. Thus reality-as-it-is-for-us – our picture of reality, as defined in terms of a complex of accepted-thesis-about-the-real – must ultimately rest on a probatively effective body of rational considerations. The considerations ,rationalize‘ at the methodological level those mechanics of inquiry by which our picture of reality is constituted. The methodological approach thus commits us to a version of the Hegelian dictum that the real is the rational (Rescher 1977 MP, 79).
80 | Reschers philosophisches System Das Wirkliche als Erkanntes ist also aufgrund seiner Abhängigkeit von menschlicher Rationalität selbst rational erklärbar, behauptet Rescher.
Formen des Idealismus Wenn nun die so begründete menschliche Rationalität für die Erkenntnis der Wirklichkeit bzw. der materiellen Welt entscheidend ist, also ein Idealismus die zu präferierende epistemologische Position darstellt, stellt sich die weitergehende Frage nach einer exakteren Bestimmung der Relation von „mind“ und „matter“ bzw. „Geist“ und „Welt“ oder „Natur“. Rescher zufolge bestehen für den Idealismus sechs Antwortmöglichkeiten17 auf die Fragestellung (vgl. zum Folgenden Rescher 1997 SIVT), von denen seines Erachtens einige unbefriedigend sind, andere aber überzeugend und miteinander kombinierbar scheinen. Die gegebenen Antworten sind für Rescher konstitutiv für sechs verschiedene Formen des Idealismus: 1) Zunächst könne der Idealismus als eine Theorie verstanden werden, die besagt, dass der Geist die Welt verursacht. Ein solcher Idealismus wäre jedoch inkompatibel mit der Erkenntnis, dass der Geist ein Produkt (der Evolution) der Natur sei – und folglich nicht die Ursache der Welt bzw. der Natur sein kann. 2) Eine weitere Version des Idealismus, verstanden als absoluter Idealismus, verortet den Geist außerhalb der Natur bzw. Welt. Auch diese Position lehnt Rescher ab. Sie laufe letzten Endes auf einen philosophisch nicht legitimen Rückgriff auf Annahmen über Gott (als Geist außerhalb der Welt) hinaus, der als Erklärungsgrund herangezogen würde. 3) Eine dritte Fassung bezeichnet Rescher als „kosmischen Idealismus“. Dieser kosmische Idealismus versteht Geist als eine naturdurchdringende Kraft der Rationalität. 4) Ferner bestehe eine vierte Version eines Idealismus: der personale Idealismus. Nach diesem bringt jeder einzelne Geist die Welt hervor. Eine solche idealistische Version führt nach Rescher jedoch in einen inakzeptablen Solipsismus.
|| 17 In Rescher 1992 SPI, 305, findet sich überdies eine Tabelle mit acht idealistischen Versionen, zu denen im Text noch weitere Varianten hinzutreten. Doch wird hier nicht zu jeder einzelnen explizit und eindeutig Stellung bezogen. Zum „conceptual idealism“ vgl. insbesondere auch Rescher 1992 SPI, 310 ff.
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5)
6)
Fünftens gibt es laut Rescher einen „social idealism“, nach dem die Welt mithilfe von Sprache und Theorien, und folglich nicht von einem Individuum allein, konzipiert wird. Eine derartige, für Rescher akzeptable Position führe zu einer sechsten Version des Idealismus, dem begrifflichen Idealismus („conceptual idealism“).18
Reschers begrifflicher Idealismus Den genannten begrifflichen Idealismus19 vertritt Rescher. Ihm zufolge bestimmen Begriffe die Erfahrung der Natur, so wie sie für uns verstehbar ist. Das heißt: Begriffe konzeptualisieren die Natur. Ihre Qualitäten beziehen sich demnach relativ auf die genannten Begriffe und stehen damit in einer Relation zum Bereich des Geistigen. Dieser wird allerdings nicht individuell verstanden, was den gravierenden Unterschied zum als vierten genannten personalen Idealismus ausmacht, und zugleich die Verbindung zwischen dem als fünften erwähnten „social idealism“ und dem „conceptual idealism“ verdeutlicht. „Mind“ („Geist“) wird von Rescher damit verstanden als „explicative resource for our understanding of the real“ (Rescher 1997 SI, 244). Epistemisch gehe man von „mind“ zu „matter“, ontologisch jedoch von „matter“ zu „mind“, womit die Kompatibilität dieses Idealismus mit der Evolutionstheorie (die ihrerseits Teil des Begriffssystems ist) gewährleistet ist. Dies unterscheidet Reschers begrifflichen Idealismus also auch von der oben als erster genannten Version eines Idealismus. Und weil Begriffe allgemein verbindlich seien, können nach Rescher die Resultate dieses begrifflichen Idealismus20 allgemeine bzw. objektive Verbindlichkeit beanspruchen.
Realismus Reschers Idealismus ist mit einem Realismus verbunden, der mit den idealistischen Vorstellungen harmonieren soll. Er wird eingeführt, um die Erkennbarkeit der Welt zu erklären. Das heißt, Rescher unterstellt einen Realismus bzw. nimmt einen solchen präsumtiv an, und das heißt weiterhin, dass die Natur der Realität nicht durch den menschlichen Geist bestimmt sei, es bestehe eine
|| 18 Vgl. zur Ablehung verschiedener Varianten des Idealismus auch Rescher 1995 RPI, 148. 19 Vgl. hierzu auch Marsonet 2008, 89-95, und Rockmore 2008, 287-308. 20 Vgl. zu Reschers Idealismus, wie er in frühen Publikationen vorliegt, auch Bonjour 1976 und Yolton 1976.
82 | Reschers philosophisches System „mind-transcendence“ (Rescher 2003 E, 349) und keinerlei Subordinationsverhältnis zwischen Realität und menschlichem Geist. Dieser Realismus sei deshalb anzunehmen, weil er gestattet, 1) Wahrheit als Korrespondenz (zwischen Propositionen bzw. Sätzen und Teilen der Welt) zu verstehen, 2) die Unterscheidung von Realität und Erscheinung aufrechtzuerhalten, 3) eine Kommunikationsbasis darzustellen, 4) eine Basis für gemeinsame Forschungen bereitzustellen, 5) den Fallibilismus zu erklären und 6) die Realität als Ursache für unser Lernen ebenso zu verstehen wie als Quelle der Objektivität der Erkenntnis. Gleichwohl sei die Realitätsunterstellung eine durch den erkennenden Menschen – insofern vertritt Rescher zugleich einen realistischen wie idealistischen Standpunkt: „This approach endorses in object-level realism that rests on a presuppositional idealism at the justificatory infralevel“ (Rescher 2003 E, 361).
Erkenntnis bzw. Wissen von der realistisch verstandenen Welt Wenn nach den bisher gemachten Ausführungen zum einen ein genereller Skeptizismus nicht haltbar ist, zum anderen aber in der Welt der Erscheinungen, wie sie uns gemäß Reschers Idealismus gegeben ist, Erkenntnisse möglich sind, stellt sich zunächst die Frage nach einer genaueren Beschreibung dessen, was Erkenntnis ist – also die Frage nach einer näheren Charakterisierung des Begriffs resp. nach einer Definition. Rescher setzt beim Versuch der Bestimmung dieses Begriffs in seiner umfassendsten Studie zur Erkenntnistheorie, „Epistemology. An Introduction to the Theory of Knowledge“ aus dem Jahr 2003 (Rescher 2003 E) bei der tradierten, auf Diskussionen in Platons „Theaitetos“ zurückgehenden Begriffsbestimmung Wissen als „wahre, gerechtfertigte Meinung“ („true justified belief“) an. Eine Proposition p gilt demnach als von einem Sprecher S gewusst, – wenn S (tatsächlich) p glaubt, – wenn p darüber hinaus auch wahr ist und – wenn S zudem gerechtfertigt darin ist, p zu glauben. Diesen Definitionsversuch kann man aber wegen der berühmten Gegenbeispiele von E.L. Gettier nicht ohne Weiteres akzeptieren – dies sieht auch Rescher. Allerdings gestalten sich diverse Versuche, diesen Definitionsversuch zu verbessern, Rescher zufolge ebenfalls nicht als überzeugend – weder eine Ersetzung durch „auf geeignete Weise gerechtfertigt“ noch der Reliabilismus oder kausale
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Definitionen sind seines Erachtens überzeugend (vgl. Rescher 2003 E, 3 ff.). Allerdings betont Rescher, dass die Fälle, in denen die genannten Definitionen von Wissen fehlgehen, eher ungewöhnlich sind. Daher meint Rescher, wie oben schon erwähnt wurde, man solle zwischen Wahrheitsbedingungen auf der einen Seite und den schwächeren Behauptbarkeitsbedingungen (siehe hierzu auch Kap. 4.8) auf der anderen Seite differenzieren. Im Alltag bzw. im Allgemeinen ließe sich „Wissen“ als „gerechtfertigte wahre Meinung“ bestimmen – hat jemand eine gerechtfertigte wahre Meinung (bzw. eine auf Zeit für wahr gehaltene Ansicht), ist er berechtigt, diese als propositionales Wissen zu behaupten.
„Standardism“ In diesem Zusammenhang führt Rescher (s)einen „standardism“ ein (vgl. Rescher 1994 S), dem zufolge Wissen „standardly“ als wahre gerechtfertigte Meinung bestimmt werden könne (vgl. Rescher 1994 S, Kap. 3.1 bzw. 72). Damit liege keine Definition vor, sondern nur eine angemessene Begriffserklärung des alltäglichen Gebrauchs (vgl. Rescher 2010 PT, 30). Grundlegend für diesen „standardism“ ist die Idee, Generalisierungen bzw. generelle Aussagen nicht als Universalisierungen bzw. ausnahmslose Geltung beanspruchende Aussagen zu verstehen, sondern als schwächere Aussagen, die nur Gültigkeit dafür beanspruchen, dass es sich in der Regel resp. unter normalen Umständen so verhält, wie der Satz behauptet (vgl. Rescher 1994 S, 3). Rescher spricht demgemäß auch von einer „limited rather than strict universality“ (Rescher 1994 S, 3 f.), die normale Umstände voraussetze. Diesem „standardism“ liegt das folgende Prinzip zugrunde: „General epistemic theses are always to be constructed in the standardistic (rather than strictly universalistic) mode“ (Rescher 1994 S, 76). „Alle As sind Bs“ sei also zu interpretieren als „Normalerweise sind alle As Bs“, nicht als „Ausnahmslos alle As sind Bs“ (vgl. Rescher 1994 S, 8). Verallgemeinerungen seien „quasi-universal“ (und mit einem „Ceteris-paribus“-Vorbehalt) zu sehen.21 Zudem bedürfen nach Reschers Auffassung Allsätze nicht, um eine Bedeutung zu haben, ihrer Verifikation (wie es im Logischen Positivismus formuliert wurde), sondern es bedarf nur einer standardisierten Überprüfung (vgl. Rescher 2010 PT, 31 f.). Tatsächlich universale Allaussagen seien angesichts der Komplexität der Daten schwer zu finden – auch wenn es sie gebe (vgl. Rescher 1994 S, 76 ff.). || 21 Vgl. zum Thema „standardism“ auch Rescher 1994 SPI, Kap. 7.
84 | Reschers philosophisches System Zudem meint Rescher, der Begriff des Wissens sei weiter auszudifferenzieren. Neben propositionalem Wissen gebe es auch Wissen vermittels aktueller Wahrnehmung sowie (implizites) inferentielles Wissen (Folgerungen, die man z.B. aus einem Wissen aus der Wahrnehmung oder aus anderem Gewussten zieht). Insbesondere aber betont Rescher, dass das Wissen einer Person Teil eines Wissenskorpus ist, der bestimmten Bedingungen zu genügen hat: Insbesondere müssen die gewussten Propositionen miteinander konsistent sein, zudem muss man Rescher zufolge wissen, dass man p weiß – und man muss über gute Gründe für p verfügen.
Fallibilismus des Wissens Was nach Reschers Auffassung hingegen nicht vonnöten ist, ist, wie oben bereits ausgeführt wurde, dass das Wissen infallibel ist. Zwischen dem, wie es ist, und dem, wie wir etwas sehen oder annehmen, kann immer eine Differenz bestehen, die erst im Laufe der Zeit bei fortschreitender Erkenntnis bemerkt wird. Es ist nach Reschers Auffassung grundsätzlich bei empirischem Wissen von einer Irrtumsmöglichkeit auszugehen. Gewissheiten, die über Alltagsgewissheiten hinausgehen, kann man, wie oben erläutert wurde, Rescher zufolge kaum erlangen – und wenn, dann nur auf Kosten von Informationsgehalten, indem man Aussagen in hohem Maße verändert und zunehmend vage macht und dabei ebenfalls zunehmend unbestimmt lässt (siehe Kap. 4.3.1)22. Allgemeine Wissensbehauptungen (im Gegensatz zu speziellen), Behauptungen darüber, wie etwas ist (und nicht nur zu sein scheint), genaue und bestimmte (statt vager und unbestimmter) Aussagen und nicht näher qualifizierte Behauptungen sind irrtumsanfälliger. Dies macht das (wissenschaftliche) Wissen von der Welt nicht zur Illusion, führt aber dazu, dass alles Wissen nur vorläufig ist. Es hat den Charakter der Mutmaßlichkeit bzw. Vorläufigkeit. Wahrheiten kann man nur vermuten; die Kluft zwischen dem, wie es tatsächlich ist, und dem, wie es scheint, kann nicht mit sicheren logischen Mitteln überbrückt werden (vgl. Rescher 2003 E, 35). Tatsächliche Wahrheit und nur mutmaßliche Wahrheiten bleiben für Rescher daher zu unterscheiden – und wir verfügen mit Blick auf die realistisch verstandene Welt bzw. Natur nur über mutmaßliche, vorläufige „Wahrheiten“. Dennoch bleibt nichts anderes, als weiter zu versuchen, Wissen zu erlangen bzw. zu verbessern. Wir können – als Mensch – aufgrund unserer anthropologischen Bedingungen nicht auf das anvisierte Wissen verzichten. Daher gilt: „We have no alternative to proceeding on || 22 Vgl. hierzu beispielsweise Rescher 2009 I, 142 ff.
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the ‚working hypothesis‘ that in science matters our truth to is the truth.“ (Rescher 2003 E, 36). Als Erkenntnissuchender muss man unterstellen, die Wahrheit zu treffen – bis sich erweist, dass man sie verfehlt hat: „Fallibilism is our destiny“ (Rescher 2003 E, 36).
Fallibilismus und Skeptizismus Doch auch wenn das Wissen insgesamt unter dem Vorbehalt des Fallibilismus steht, kann man unter geeigneten Umständen behaupten, Wissen zu haben (siehe oben). Reschers Fallibilismus führt demnach nicht in einen Skeptizismus (siehe hierzu Kap. 4.3.1). Logisch infallibles Wissen gibt es seines Erachtens zwar nicht – aber hinreichend verlässliches Wissen gebe es. Dieses verwendet man im Alltag, und auf dieses Wissen verlässt man sich im Leben aus pragmatischen Gründen. Man kann es erhalten, wenn man alle realistischen, ernsthaften und praktisch relevanten Zweifelsgründe (aber eben nicht alle logisch denkbaren) beseitigt hat (vgl. Rescher 2003 E, 40): „certainity of knowledge is the certainity of life“ (Rescher 2003 E, 41). Es geht also lediglich um den Ausschluss von realistischen Irrtumsmöglichkeiten – nicht mehr, aber auch nicht weniger, wie Rescher betont. Theoretisch betrachtet verbleiben Irrtumsmöglichkeiten zwar immer, sie sind aber pragmatisch betrachtet zumeist (sofern nicht doch auch ein konkreter Anlass zum Zweifel vorliegt) irrelevant. Aufgrund solcher verbleibender Fehlermöglichkeiten auf Wissensgewinne ganz zu verzichten, wie der Skeptizismus vorschlägt, ist nach Rescher letztlich irrational, weil er alle Erfolge beim Wissenserwerb unterminiert.
Subjektive Wahrnehmung und objektive Geltung – der Weg der Kohärenz Doch auch wenn man Rescher in seiner Skeptizismuskritik folgt, verbleibt zu klären, wie aus subjektiven Eindrücken oder Wissensbehauptungen Wissen werden kann, das objektiv gültig sein soll. Erfahrungen sind schließlich zunächst immer an einzelne Individuen gebunden und somit subjektiv. Wahrnehmungen oder Erfahrungen verbürgen nicht, dass es sich objektiv so verhält, wie es subjektiv wahrgenommen oder wie etwas subjektiv erfahren wird (vgl. Rescher 2003 E, 61 f.). Wie etwas erscheint, kann, wie bereits erwähnt worden ist, davon abweichen, wie es ist (anderen erscheint oder einem selbst später erscheint). Behauptungen darüber, wie etwas ist (z.B. „Die Katze ist auf der Matte“), gehen immer über Behauptungen darüber hinaus, wie etwas dem Sprecher erscheint („Mir scheint, die Katze ist auf der Matte“). Daher braucht es nach Rescher andere Mittel, um vom Subjektiven zum Objektiven zu gelangen.
86 | Reschers philosophisches System Der Schritt von der subjektiven Wahrnehmung zu der Wissensbehauptung mit objektivem Anspruch wird durch eine „policy“ (Rescher 2003 E, 66) gestützt – nämlich der, dass man seinen Sinnen traut. Es kommen nämlich nach Reschers Auffassung im Erkenntnisprozess bestimmte Prinzipien zur Anwendung, die zwar nicht generell gelten, aber pragmatisch betrachtet sinnvolle Präsumtionen darstellen: „Es ist, wie es scheint“ (vgl. Rescher 2003 E, 73) ist ein Beispiel für solche Präsumtionen. Man unterstellt, so Rescher, das Zutreffen dieser Prinzipien, sofern nicht im Einzelfall Gegengründe vorliegen. Dies tut man aufgrund der vielfach erzielten praktischen Erfolge bei der Verwendung dieser Prinzipien: Es zahlt sich aus, sie anzuwenden, da man so Erkenntnisse vermehren kann (vgl. Rescher 2003 E, 73). Zwar erreicht man Rescher zufolge auch auf diese Weise keine infalliblen Gewissheiten, aber doch mutmaßliches Wissen, das nicht nur subjektiv ist, sondern objektiv verbindlich. Das Wissen bleibt dabei vorläufig; man stützt sich auf dieses, solange keine besonderen Gründe dagegen sprechen. Einzelne Wissensbestandteile gelten Rescher als gerechtfertigt, wenn eine dauerhafte Präsumtion („standing presumption“) zu ihren Gunsten spricht, ohne dass ein Gegengrund vorliegt. Für solche Präsumtionen könnten zudem natürliche Neigungen, Analogien oder Kohärenzen sprechen. Derartige Teile unseres Wissens anzunehmen, ist Rescher zufolge rational. Anderes Wissen kann mithilfe solch präsumtiv gerechtfertigten Wissens auf andere Weise eine Rechtfertigung erfahren: nämlich mithilfe diskursiver Rechtfertigung. Diskursive Rechtfertigungen von Wissen setzen andere Wissensbestandteile voraus, die als Begründung fungieren können. So gelangt man Rescher zufolge mithilfe von Präsumtionen, die sich pragmatisch bewährt haben, zu objektivem Wissen.
Präsumtionen Am Anfang des Erkenntnisgewinns steht nach Rescher das präsumtive Wissen. Dies kann zunächst nicht diskursiv, aber auch nicht anderweitig weitergehend gerechtfertigt werden. Es enthält seine Rechtfertigung ex post, im Nachhinein als „retrovalidation“ (Rescher 2003 E, 96) – es wird aufgrund seines Nutzens, also aus pragmatischen Gründen, retrospektiv positiv gewertet und dadurch gerechtfertigt. Damit kann das Wissen ohne ein infallibles Fundament auskommen, meint Rescher. Präsumtiv verstandene Grundsätze sorgen zunächst für ein hinreichend verlässliches Wissen: „Vertraue Deinen Sinnen“, „Vertraue den Aussagen anderer Personen“ bzw. „Was andere sagen, ist wahr“, „Vertraue den gängigen Erkenntnishilfen“ und „Die einfachste Erklärung von Daten ist korrekt“ sowie „Vertraue den Experten oder Autoritäten“ – sofern keine Gegengründe vorliegen. Diese Grundsätze sind effizient und ermöglichen es Rescher
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zufolge, den Menschen mit dem von ihm benötigten Wissen zu versorgen. So zu verfahren erhält zwar keine theoretische Begründung, aber eine praktische Rechtfertigung (vgl. Rescher 2001 CM, 29 f., Rescher 2003 E, 99, die Übersicht in Rescher 2006 P, 31 sowie Rescher 2009 A, 17).
Kritik am „foundationalism“ Zugleich verwirft Rescher jegliche Form eines „foundationalism“ in der Erkenntnistheorie, verstanden als die Annahme, es gebe infallible, selbstevidente Grundsätze, aus denen sich alles Wissen vermittels Deduktion ableiten ließe.23 Alternative Erkenntnistheorien, die ein festes Fundament annehmen und als Basis für Deduktion oder Induktion verwenden, sind Rescher zufolge nämlich mit gravierenden Schwierigkeiten behaftet, die ein auf Kohärenz abzielendes, systematisches Theoriegebäude nicht aufweise. Ein solches kohärentes Theoriegebäude, wie Rescher es favorisiert, kann auf subjektive Beobachtungssätze, Basissätze, Protokollsätze, Evidenzen u.ä., die als Basis für ein objektives Wissensfundament aufkommen sollen, verzichten und eigene frühere Annahmen aus Gründen der Kohärenz im Nachhinein korrigieren.
Kohärentismus An die Stelle eines „foundationalism“ setzt Rescher einen Kohärentismus, also die Vorstellung, man gehe von falliblen Sätzen (Daten) – die unter Umständen später revidiert werden – aus und versucht ein „Netz“ miteinander verbundenen Wissens zu erzeugen. An die Stelle einer Hierarchie von Wissensbehauptungen tritt also eine andere Ordnung: An die Stelle einer Abstufung tritt ein Nebeneinander-Geordnetsein dieser Behauptungen resp. Sätze. Diese Behauptungen gelten dabei als inferentiell miteinander verbunden. So entfällt die problematische Annahme von fundamentalen Selbstevidenzen, die als Basis des Wissens dienen, Rescher zufolge gänzlich. Die „Wahrheit“ von Sätzen wird hierbei nicht als durch wahrheitserhaltende Deduktion aus diesen Grundsätzen weitergegeben verstanden. „Wahrheit“ ist eine Frage des Passens insgesamt (siehe Kap. 4.3.3 und vgl. Rescher 2003 E, 119). Die zentralen Unterschiede zwischen Reschers Kohärentismus und einem
|| 23 Bonjour geht allerdings davon aus, dass es – anders als Rescher meint – auch schwächere Formen eines „foundationalism“ gebe, die von Reschers Kritik nicht getroffen werden. Vgl. Bonjour 1979, 163. Zu Reschers Kritik an ersten Prinzipien vgl. auch Rescher 2001 PR, Kap. 16 und Rescher 2007 IP, Kap. 7.
88 | Reschers philosophisches System „foundationalism“ sind zusammengefasst diese: Es gibt im Kohärentismus keine Selbstevidenzen oder dergleichen, das Netz des Wissens ist nicht hierarchisch, und es gibt keine in ihrem epistemischen Stellenwert besonders ausgezeichneten Sätze (vgl. Rescher 2003 E, 121, Rescher 2001 PR, 142). Damit entfällt zugleich eine Zweiteilung des Wissens in „fundamental“ bzw. „basal“ und „abgeleitet“. Stattdessen kann in einem kohärenten Netz von beliebigen Punkten aus anderes (fallibles) Wissen begründet werden, wobei diese „beliebigen Punkte“ gleichfalls fallibles Wissen darstellen. Im Grunde handelt es sich bei all diesen Sätzen gemäß Reschers Fallibilismus um Wahrheitskandidaten oder um vorläufig für wahr Gehaltenes, nicht um dauerhafte oder infallible Wahrheiten. Dabei kann es sich um diskursive Elemente handeln, aber auch um andere Daten (vgl. Rescher 2003 E, 125). Gleich, worum es sich aber handelt: Es kann reevaluiert werden, ist und bleibt also fallibel. Selbst nicht-diskursive Daten werden nicht als selbstevidente „inputs“ aufgefasst. Was auch immer gewusst wird, muss nach Rescher demnach in das Wissenssystem eingepasst werden können: „Systematicity becomes the controlling standard of truth and its work shifts from justification to validation“ (Rescher 2003 E, 127). Damit kann auch der problematische Übergang vom Subjektiven auf das Objektive besser gemeistert werden als im „foundationalism“, meint Rescher. Diese Gegenposition muss nicht nur von selbstevidenten Ausgangssätzen ausgehen, sondern auch annehmen, dass diese besonders gehaltreich sind, denn aus ihnen soll schließlich alles Weitere durch Deduktion abgeleitet werden. Beides steht aber Rescher zufolge in Konflikt miteinander – und ist mit seinem Fallibilismus nicht in Einklang zu bringen.
Kohärentismus und nochmals Wissensdefinition Des Weiteren verändert der Kohärentismus die Bedeutung von „gerechtfertigter wahrer Meinung“, die (mit den entsprechenden Qualifikationen – siehe oben) als begriffliche Bestimmung des Wissens gilt. Das näher bestimmte Kriterium für Wissen lautet nach Rescher daher „duly fitted into a systematization of candidates for cognition“ (Rescher 2003 E, 127). Gerechtfertigtes Wissen ist laut Rescher also nicht bestimmt als „von basalem Wissen abgeleitet“, sondern als „angemessen mit dem übrigen Wissenskorpus verbunden“ (vgl. Rescher 2003 E, 129). Im Kohärentismus ist die Rechtfertigung nun keine mehr, die rein deduktiv verläuft, also durch eine Ableitung aus Grundannahmen, die besonders ausgewiesen sein resp. besondere Merkmale aufweisen müssten. „Gerechtfertigt sein“ heißt nun, Teil des kohärenten Gesamtsystems des Wissens zu sein. „Gerecht-
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fertigt“ ist laut Rescher, was auf geeignete Weise zu dem passt, was man bereits weiß bzw. zum fraglichen Zeitpunkt zu wissen glaubt.
Kohärentismus und neues Wissen Damit kann der Kohärentismus noch eine weitere Schwierigkeit des „foundationalism“ von vornherein vermeiden (vgl. Rescher 2003 E, 129 f.). Beim „foundationalism“ muss alles Wissen bereits implizit in den Grundsätzen enthalten sein, meint Rescher. Da danach nur noch deduktiv verfahren wird, gelangt man nicht zu neuem Wissen – es sei denn, man verfährt auch induktiv. Dann aber ist nicht zu sehen, weshalb ein „Wissen“ resultieren soll, da Induktionsschlüsse nicht wahrheitserhaltend sind. Der kohärenztheoretische Ansatz kann dagegen neues Wissen inkorporieren, da er neue Daten aufnehmen kann, sofern sie zum bereits vorhandenen Wissenskorpus passen.
Nichtfiktionalität Einzubeziehen sind für Rescher in ein solches kohärentes Theoriegebäude Daten, die eine Quelle für plausible Wahrheitskandidaten sein können. Dies schließt, meint Rescher, fiktionale und zugleich kohärente Theorien aus. Ideale Kohärenz führt dann zu einer insgesamt wahren Theorie – auch ohne dass „Wahrheit“ kohärenztheoretisch bestimmt sei.
Epistemologischer Antirelativismus aufgrund bewährter Standards Ferner führt, so Rescher weiter, diese Auffassung nicht zu einem Relativismus, nach dem gewählte divergierende Standards der Erkenntnis zu relativen Erkenntnissen führten. Denn, so Rescher, sinnvollerweise wende man die je eigenen Standards an, die man aufgrund positiver Erfahrungen anderen Standards gegenüber vorziehe bzw. die man annimmt, weil jede rationale Person sie annehmen sollte. „Andere Rationalitäten“ gibt es nicht – auch nicht in fremden Kulturen, in denen andere Praxen (der Erkenntnisgewinnung) etabliert sein sollten oder sind (siehe oben). Entsprechend bestünden keine echten Alternativen: Die eigenen Standards akzeptiere man, weil man sie für das Beste hält; sie haben sich funktional bewährt.
Kritische Hinweise Für Reschers Positionen scheint zunächst einiges zu sprechen: So stützt er sich nicht auf einen problematischen metaphysischen Realismus und auch nicht auf
90 | Reschers philosophisches System einige gleichfalls problematisch scheinende Versionen des Idealismus, die oben genannt wurden und beispielsweise auf einen Solipsismus hinauslaufen, mit unserem wissenschaftlichen Wissen unvereinbar sind oder religiöse Überzeugungen als Begründungsinstanz für philosophische Positionen heranziehen. Zudem scheint grundsätzlich durch das Einbeziehen des Realismus unsere alltagsrealistische Sichtweise mit Reschers Theorie vereinbar zu sein – wenn man davon absieht, dass der Alltagsrealismus die Welt schlicht ungefragt bzw. unbefragt voraussetzt und nicht präsumtiv einfordert. Denn die Realität aufgrund von pragmatischen Vorzügen zu unterstellen ist wohl etwas anderes, als sie schlicht anzunehmen. Reschers Theorie ist offensichtlich sehr umfassend und voraussetzungsreich, denn sie enthält mehrere gravierende Postulate. Selbst wenn man einräumte, dass ein tradierter, philosophischer „foundationalism“ wie bei Descartes nicht ohne Probleme ist, so bleibt damit zunächst offen, ob es nicht andere Versionen eines „foundationalism“ mit einer anderen Begründung geben kann – insbesondere einen sprachphilosophischen. Ein solcher könnte mit unserem Alltagswissen kompatibel sein und einiges Wissen, auf das wir uns im alltäglichen Leben verlassen (müssen) als infallible Elemente enthalten (wie etwa die genannten Moore-Sätze). Ferner könnte er wissenschaftliches Wissen als fallibel einstufen. Damit würde die Schwäche des Kohärentismus, dass grundsätzlich verschiedene Auffassungen kohärent sein können, die unter Umständen verschieden mit Daten umgehen und auf verschiedene Art und Weise kohärent gemacht werden können, vermieden – ein Punkt, auf den noch zurückzukommen sein wird. Dies scheint insofern relevant, als dass Daten nicht festlegen, wie sie in einer Theorie erklärt werden: Theorien sind immer von den verwendeten Daten unterbestimmt; zu einer Datenmenge kann es immer mehr als eine passende Theorie geben. Unmittelbar sinnkritisch zu befragen sind meines Erachtens einige Ausführungen zum unterstellten Realismus. Die Realität soll grundsätzlich (vgl. Rescher 2003 E, 336) über das menschliche Erkenntnisvermögen hinausreichen und an irgendwelche (d.h. auch: nicht unbedingt menschliche) Erkenntnispotentiale gebunden sein; zudem unterstellt der Realismus „Dinge an sich“ (vgl. Rescher 2003 E, 346), die jenseits unserer Erkennbarkeit liegen. Aber lässt sich dergleichen sinnvoll annehmen bzw. formulieren? Kann man Folgendes sinnvoll behaupten, wie Rescher es unternimmt: „The limits of our knowledge […] are not the limits of the world“ (Rescher 2003 E, 349) – wenn jenes „wir“ alle mit uns zur Kommunikation fähigen Wesen einschließt? Ist eine Präsumtion von Fakten sinnvoll formulierbar, die niemals als Wahrheiten ausgedrückt werden – auch wenn sich dafür nie ein Beispiel angeben lassen wird (vgl. Rescher 2003 E, 342)? Muss man, wie Rescher annimmt (vgl. Rescher 2003 E, 360), aus Gründen
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der Praktikabilität eine realistische Welt unterstellen, die über eine geteilte intersubjektive Weltauffassung hinausgeht? Ferner lässt sich in diesem Zusammenhang noch ein weiteres Problem aufwerfen: Die Unterscheidung von „Welt an sich“ und „Welt für uns“. Es scheint, als sei die Differenzierung, die die Frage nach dem Zusammenhang beider Welten nach sich zu ziehen scheint, vermeidbar. Schließlich verfügen wir Menschen über eine Sprache, mit der wir über die Welt sprechen können; wir können mithilfe bezugnehmender Termini auf die Welt bzw. Teile der Welt referieren (vgl. hierzu auch Kap. 4.8), und mithilfe von Prädikaten diesen Eigenschaften zu- und absprechen. Durch den Gebrauch der Sprache können wir uns auf eine gemeinsame Welt beziehen, in der wir zahllose Objekte eindeutig identifizieren können, auch wenn wir nur einige ihrer Eigenschaften kennen, und wissen, dass wir in Wahrnehmungssituationen nicht über Wahrnehmungen aller Eigenschaften dieser Objekte verfügen (können). Daher erscheint es gar nicht als erforderlich, eine „wirkliche Welt an sich“ von einer „Welt für uns“ zu trennen. Damit sind zweifelsohne nicht alle und auch nicht alle wichtigen Teilthemen von Reschers Erkenntnistheorie angesprochen. Immerhin machen diese Fragen aber hoffentlich deutlich, dass Reschers Konzeption der Erkenntnistheorie außerordentlich umfassende Annahmen bezüglich Entitäten macht, um eine Reihe wichtiger epistemologischer Probleme einer Lösung zuzuführen.
4.3.3 Kohärenztheorie der Wahrheit im Zusammenhang mit der Erkenntnis der Welt Ein wesentliches Element der Theoretischen Philosophie Reschers insgesamt, aber auch der Erkenntnistheorie, ist seine früh entwickelte Wahrheitstheorie – eine an idealistische Vorgänger anschließende Kohärenztheorie der Wahrheit, die sich allerdings in relevanten Punkten von den früheren Kohärenztheorien der Wahrheit unterscheidet. Umfassend entwickelt hat Rescher sie in seiner frühen Monographie „The Coherence Theory of Truth“ (aus dem Jahre 1973)24. || 24 Ein Auszug aus dieser Monographie ist ins Deutsche übersetzt und 1977 publiziert worden (Rescher 1977 CCT). Verweise auf die Ausführungen zur Wahrheitstheorie beziehen sich auf diese Übersetzung. Reschers Studie „The Coherence Theory of Truth“ enthält über die im Haupttext gemachten Ausführungen unter anderem detaillierte Kritiken an anderen Wahrheitstheorien und umfassendere Überlegungen zur Kohärenz von Erkenntnissystemen. Vgl. zu Reschers Wahrheitstheorie auch Rescher 1992 SPI, Kap. 10 und 12 sowie Airaksinen 1979, Coomann 1983, Puntel 1983, Kap. 5.4. bzw. 182-204, Puntel 1998, Brown 2008, Marsonet 2008, 5865. Im Folgenden wird in erster Linie der Grundgedanke der Theorie präsentiert und ausge-
92 | Reschers philosophisches System Diese Version der Kohärenztheorie der Wahrheit25 hat als ihr Hauptanliegen nicht, eine Definition von Wahrheit anzugeben, vielmehr steht in ihrem Zentrum die Festlegung von Kriterien, mit deren Hilfe die Wahrheit oder Falschheit einer Aussage überprüft werden kann (vgl. Rescher 1977 CCT, 337 f.). Damit erweist sich diese Konzeption Reschers als eine pragmatische: Sie zielt nicht auf abstrakte Definitionen, sondern auf praktisch handhabbare Entscheidungskriterien ab. Anders gesagt: Sie ist nicht in erster Linie semantisch orientiert, sondern epistemologisch. Nicht entscheidend ist für sie ferner, was faktisch für wahr gehalten wird, sondern was rationalerweise für wahr gehalten werden kann (vgl. Rescher 1977 CCT, 340). Reschers Pragmatismus weist also einmal mehr einen normativen Aspekt auf.
Reschers Kritik an der Korrespondenztheorie der Wahrheit Die Korrespondenztheorie der Wahrheit, die eine Alternative zur Kohärenztheorie darstellt, kritisiert Rescher (vgl. hierzu Rescher 1977 CCT, 344 f.). Sie führe zu zu vielen Schwierigkeiten. So kann sie nicht erklären, welche Allsätze der Wissenschaften berechtigterweise als wahr betrachtet werden (da Allsätze grundsätzlich nicht auf Korrespondenz hin testbar seien); nicht auf Korrespondenz hin prüfbar seien fernerhin Sätze über die Vergangenheit, modale Sätze oder auch irrationale Konditionalsätze.
Kritik an der pragmatischen Wahrheitstheorie von W. James Ebenfalls nicht akzeptabel scheint Rescher eine pragmatische Wahrheitstheorie wie die von W. James zu sein, der zufolge eine Person einen Satz für wahr zu halten berechtigt ist, wenn dies resp. dieser Satz sich als nützlich erweist – denn auch Irrtümer können schließlich (für einige Personen, auf Zeit, unter bestimmten Umständen …) von Nutzen sein26. Diese Ablehnung passt überdies in Reschers Pragmatismus, da dieser ein Methodenpragmatismus ist; er verpflichtet demzufolge keineswegs, aus Nutzenerwägungen einzelne Sätze für wahr zu halten. || führt, wie diese Theorie der Wahrheit in Reschers philosophisches System passt. Zahllose Details und Differenzierungen der Kohärenztheorie Reschers werden deshalb nicht einbezogen. 25 Darauf, dass eine solche Theorie der Wahrheit, die den Begriff der Kohärenz in das Zentrum stellt, besonders gut in Reschers System passt, hat M. Marsonet hingewiesen; vgl. Marsonet 2008, 59. 26 Vgl. hierzu die Kritik von Moore an James in Moore (2007), Kap. 3.
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Reschers Kritik an der Konsenstheorie der Wahrheit Zudem verwirft Rescher die Konsenstheorie der Wahrheit. Zunächst bezweifelt er generell die Umsetzbarkeit von offenen und unbegrenzten Diskursen, wie sie die Konsenstheorie der Wahrheit, wie sie von Diskurstheoretikern wie K.-O. Apel vertreten wird, vorsieht; solche Diskurse sind Rescher zufolge utopisch (vgl. Rescher 1993 P, 46). Rescher teilt aber auch die positive Einschätzung von Konsensen nicht, denn Konsense verbürgen keine Wahrheit (vgl. Rescher 1993 P, 46)27. Stimmen die Menschen hinsichtlich der Wahrheit von etwas überein, könne man zudem „in der Regel den Grund für dieses Übereinstimmen anzweifeln“ (Rescher 1995 RPI, 155). Zumeist aber stimmen, so Rescher, die Menschen ohnehin nicht in Fragen der Wahrheit überein. Was es daher bräuchte, wären Idealisierungen und Abstraktionen, die für Standards der Akzeptabilität aufkämen. Diese könnten jedoch wiederum nicht ein Resultat von Konsensen sein (vgl. Rescher 1995 RPI, 155). Abgesehen davon erscheint jene Aussicht auf Konsens, den die Konsenstheoretiker annähmen, Rescher als „ziemlich illusorisch“ (Rescher 1995 RPI, 156). Was es mit Blick auf eine Wahrheitstheorie bräuchte, seien keine Mechanismen, die auf Konsense abzielten, sondern eine Theorie, die den vorhandenen Meinungsunterschieden angemessen Rechnung trage (vgl. Rescher 1995 RPI, 156).
Reschers Kohärenztheorie der Wahrheit im Kontext seiner Epistemologie Aber nicht nur weil die angeführten substantiellen Wahrheitstheorien (Korrespondenztheorie, Konsenstheorie, James’ pragmatische Wahrheitstheorie) von Rescher als nicht akzeptabel befunden werden, vertritt er eine Kohärenztheorie. Sie passt in sein philosophisches System insgesamt und hat auch selbst systematischen Charakter, denn nach ihr hängen die Wahrheitswerte von Sätzen von der Akzeptanz anderer, systematisch passender Sätze ab. Dabei gibt es jedoch – gemäß der oben geschilderten Erkenntnistheorie von Rescher – keinerlei basale oder fundamentale Sätze über die Empirie, also keine Sätze, an deren Wahrheit unter allen Umständen festzuhalten wäre, und demnach auch keine Beobachtungs-, Protokoll- oder Basissätze (wie sie in der Philosophie des Wiener Kreises Verwendung fanden), die als unbezweifelbare Sätze mit der Wirklichkeit korrespondierten.
|| 27 Vgl. zur weiteren Kritik Rescher 1993 P, Kap. 3. Auf das Thema „Konsens“ wird in Kap. 4.10 nochmals eingegangen.
94 | Reschers philosophisches System Definition versus Kriterium Dennoch spielt der Gedanke der Korrespondenz in Reschers Theorie der Wahrheit eine Rolle: Wahrheit kann definitorisch als Übereinstimmung mit der Wirklichkeit (im Sinne von: „unserer Wirklichkeit“), also als Korrespondenz bestimmt werden – aber das entscheidende Kriterium für das Feststellen von Wahrheit bleibt nach Rescher die Kohärenz. Auf Korrespondenzannahmen kann man schließlich schon deshalb nicht verzichten, weil auch eine fiktionale Erzählung beispielsweise vollkommen kohärent sein kann, aber dennoch nicht wahr ist in dem Sinne, dass sie eine wahre Darstellung tatsächlicher Sachverhalte oder Begebenheiten in der Welt darstellt. Wahre Aussagen sollen etwas zum Ausdruck bringen, was tatsächlich der Fall ist; dies unterscheidet sie von fiktionalen Aussagen. Daher ist nach Rescher der Anspruch auf Übereinstimmung nicht aufzugeben oder ersatzlos zu streichen. Insofern bleibt das Übereinstimmen mit der Wirklichkeit für uns zentral – aber nicht kriteriell entscheidend.
Kohärenz, Konsistenz und Wahrheit Entscheidend für eine Kohärenztheorie der Wahrheit ist nach Rescher, dass die Sätze, die wahr sein sollen, untereinander widerspruchsfrei vereinbar (konsistent) sein sollen, aber darüber hinaus auch systematisch umfassend sind (alle relevanten Daten also berücksichtigt werden) und miteinander zusammenhängen.28 Das besagt: Jede Aussage muss mit allen anderen Aussagen eines kohärenten Satzsystems nicht nur konsistent vereinbar sein, sondern es muss auch logische Beziehungen zwischen den Sätzen geben.29 Zudem müssen zumindest einige der Sätze schon (präsumtiv) als wahr akzeptiert sein, die andere wahre Sätze implizieren können. Welche Sätze einer jeweiligen Satzmenge als „wahr“ klassifiziert werden können, lässt sich jedoch nicht allein mit formalen Mitteln festlegen. Hier bedarf es also zusätzlicher inhaltlicher Annahmen, die sich für Reschers System aus anderen Quellen der Erkenntnis (wie z.B. den Naturwissenschaften) entnehmen lassen.
|| 28 Vgl. hierzu die formale Darstellung in Puntel 1983, 192 ff. 29 Diese Verbindung darf allerdings nicht darin bestehen, dass man dem System der Sätze einfach noch die logische Summe dieser Sätze bzw. eine Konjunktion aller Sätze des Systems hinzufügt, denn dies würde die geforderte Verknüpfung trivialisieren.
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Umgang mit Inkonsistenzen Die Kohärenz fungiert sonach als epistemisches Korrektiv. Kandidaten für wahre Sätze werden aus einer ursprünglichen Menge von Sätzen, die nach Rescher durchaus inkonsistent sein kann, entnommen und zu bestehenden Sätzen, die schon als wahre ausgezeichnet sind, hinzugefügt. Auf diesem Wege gelangen weitere Sätze – nun als wahre Sätze – in eine Theorie. Die Sätze, die zur Auswahl stehen, sind dabei als Daten zu betrachten, die nur als potentiell wahr bzw. präsumtiv30 für wahr gehalten bzw. als plausibel erachtet werden.31 Sie gelten, wie schon betont wurde, nicht als feststehende Wahrheiten oder gar zeitlose Gewissheiten. Sie werden nur zunächst einmal akzeptiert, solange nichts gegen sie spricht. Diese Daten sind also Ausgangsdaten. Sofern diese Sätze, die Ausgangsdaten darstellen, oder neu hinzukommende Sätze zu Inkonsistenzen führen, muss ihre Aufnahme zu anderweitigen Änderungen der umfassenden Satzmenge führen. Ergeben sich hingegen keine Inkonsistenzen, können neue Sätze einfach aufgenommen, also hinzugefügt werden (vgl. Rescher 2003 E, Kap. 8). Bei der Auswahl von Sätzen können durchaus pragmatische Überlegungen eine gewichtige Rolle spielen. Je umfassender die so entstehende Menge von Sätzen bzw. Wahrheitskandidaten wird, desto mehr Informationen enthält sie, von denen man aufgrund der bestehenden Kohärenz Rescher zufolge rational berechtigt ist, sie für wahr zu halten. Daher ist es sinnvoll, möglichst viele Daten aufzunehmen. Dabei ist nach Reschers Vorstellungen vom wissenschaftlichen Fortschritt (siehe Kap. 4.4) resp. allgemeiner vom Erkenntnisfortschritt nicht davon auszugehen, dass die Satzmenge kohärenter Sätze „stabil“, also über die Zeit hinweg unverändert bleibt. Vielmehr kann die Satzmenge wachsen. Aber sie kann sich auch auf andere Weise verändern, denn durch neue Informationen können, wie bereits erwähnt, Inkohärenzen und Inkonsistenzen entstehen, die es auszumerzen gilt. Damit können auch bislang für wahr gehaltene Sätze wieder aus dem Satzkorpus entfernt und durch andere, plausibler scheinende ersetzt werden – einer der Wege des wissenschaftlichen Fortschritts. Zudem können Sätze und die in ihnen enthaltenen Begriffe gemäß der Dialektik Reschers weiter ausdifferenziert werden (siehe Kap. 2.3). Entscheidend ist das systematisch beste Zusammenpassen. „Gerechtfertigt sein“ wird geradezu zu einem „zusammenpassen“ (vgl. Rescher 2003 E, 135). Damit soll – wegen || 30 Vgl. zum Begriff „Präsumtion“ Kap. 3.3 und Kap. 4.3.2 sowie Rescher 2009 A, 19 ff. 31 Vgl. zur Rolle von Daten in kohärenten Satzsystemen auch Rescher 2009 A, 12ff. Da auch Sätze über Beobachtungen Daten sind, soll vermieden werden können, dass es verschiedene kohärente Satzsysteme geben kann, welche die Wirklichkeit beschreiben, ohne dass eine Entscheidung zwischen diesen Satzsystemen gefällt werden könne.
96 | Reschers philosophisches System der Passung mit den Erfahrungsdaten – der Erkenntnis der Welt, wie sie für uns ist, näher gekommen werden. Mithilfe eines letztlich zyklischen Erkenntnisverfahrens werden bislang akzeptierte Erkenntnisse zum Ausdruck bringende Sätze im Nachhinein überprüft, unter Umständen korrigiert bzw. verbessert (vgl. Rescher 2003 E, 140 f.). Damit passt diese Kohärenztheorie zum von Rescher akzeptierten Fallibilismus. Aufgrund ihres holistischen Charakters passt sie ebenfalls in sein Systemdenken.
Argumente zugunsten der Kohärenztheorie der Wahrheit Die Leistungen einer solchen auf Kohärenz abzielenden Theorie der Wahrheit liegen auf der Hand: Sie gestattet für eine Reihe von Satzklassen die Bestimmung von Wahrheitswerten, mit denen eine Korrespondenztheorie sich schwer tut. Gemeint sind die oben schon erwähnten Sätze über die Vergangenheit, Allsätze der Wissenschaft, kontrafaktische Konditionalsätze und modale Aussagen. Ergänzen ließen sich zudem wohl auch Sätze der Mathematik, deren denkbare Korrespondenz eben ausgesprochen strittig ist.
Relativismus als Herausforderung der Kohärenztheorie der Wahrheit Problematisch erscheint jedoch, dass nicht grundsätzlich ausgeschlossen werden kann, dass es verschiedene in sich kohärente Satzmengen gibt, die jeweils nach der kriteriellen Kohärenztheorie der Wahrheit allesamt wahr sein können, also ihre Sätzen als „wahr“ auszeichnen – sich aber gleichwohl widersprechen, also untereinander verglichen Sätze enthalten, die im Widerspruch zueinander stehen. Tritt ein solcher Fall ein, ließe sich nach dem Kriterium der Kohärenz keine Entscheidung zugunsten einer von zwei kohärenten Theorien treffen. Damit drohte ein für Rescher nicht akzeptabler Relativismus. Rescher glaubt jedoch, einen Relativismus grundsätzlich vermeiden zu können. Denn: „What is at issue her is not mere coherence, but coherence with the data“ (Rescher 2003 E, 138). Es geht also um Kohärenzen mit plausiblen Sätzen plus „coherence with the data of experience“ (Rescher 2003 E, 139), also mit denjenigen Daten, die für die Erkenntnisse aufkommen können. Somit scheinen in sich kohärente, aber nicht zu den Erfahrungen von der Welt passende (fiktionale) Satzmengen vermieden werden zu können. Der Relativismus kann sich aber schon dann ergeben, wenn in einer Satzmenge eine Inkohärenz festgestellt wird, die auf verschiedene Art und Weise beseitigt werden kann, z.B. – durch die vollständige Eliminierung eines Satzes oder mehrerer Sätze, oder
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durch die Einschränkung der beanspruchten Geltung eines Satzes bzw. mehrerer Sätze, oder durch Hinzufügen eines weiteren Satzes oder mehrerer Sätze, oder durch Abschwächung eines Satzes oder zweier bzw. mehrerer Sätze, usw.
Es gibt demnach grundsätzlich immer mehrere Möglichkeiten, aus nicht kohärenten Mengen von Sätzen kohärente Mengen von Sätzen zu erzeugen. Ist Kohärenz das Kriterium für Wahrheit, ist das Zustandekommen mehrerer, einander widersprechender Theorien, die für „wahr“ gehalten werden und beanspruchen, „wahre“ Sätze zu enthalten, nicht auszuschließen. Dies wiederum passt auch zu Reschers Vorstellung von der Entwicklung von (philosophischen) Theorien – auch hier gibt es seiner Dialektik zufolge immer mehrere Möglichkeiten, mit aufgekommenen Schwierigkeiten umzugehen und theoretisch auf sie zu reagieren (vgl. Kap. 2.3). Intendiert man, derartige Schwierigkeiten auszuräumen, bedarf es eines Kriteriums, das zwischen diesen Optionen eine Entscheidung zugunsten von nur einer Möglichkeit herbeiführt. Für Theorien über unsere Welt liegt es nahe, sich zur Entscheidungsfindung weitere geeignete Daten zu verschaffen. Das heißt, es liegt nahe, weitere Sätze mithilfe von bereits akzeptierten oder neuen Methoden zu gewinnen, die dann pragmatisch zugunsten einer der vorhandenen Alternativen den Ausschlag geben können. Es bedarf also einer Relation des Passens letztlich mit Daten, über die in Sätzen Aussagen getroffen werden.
Gewinnen eines kohärenten und wahren Systems der Erkenntnis Im Rahmen des Pragmatismus von Rescher bietet es sich an, bei der Suche nach neuen Daten auf Effektivität und Effizienz zu achten, ohne zu übergehen, dass diese Daten auch auf theoretisch akzeptablem Weg gewonnen werden müssen (vgl. Rescher 2003 E, 142 f.). Neben der praktischen Implementation bedarf es daher auch der bereits erwähnten theoretischen Retrovalidierung, die für die Kohärenz aufkommt – auch mit den grundlegenden Annahmen des Systems, die aber fallibel bleiben. Ein ideal kohärentes epistemisches System erschiene Rescher demnach als ein wahres System. Beim Erwerb von Wissen und dem Konstruieren von Erklärungen oder Theorien gibt es allerdings keine Garantien dafür, dass diese wahr sind. Vielmehr dürften sie immer unvollständig und verbesserungsbedürftig bleiben (vgl. Rescher 2003 E, 146). Damit aber könnte noch einmal ein Problem im Zusammenhang mit dem Relativismus entstehen: Schließlich ist nach Rescher das Ideal nicht erreichbar; ideale Kohärenz ist also nicht zu erlangen. Stattdessen gibt es nur unvollkommenes, fehlerhaftes Wissen. Trotzdem, so
98 | Reschers philosophisches System Rescher, ergibt sich deshalb kein Relativismus. Denn „Wissen“ hat seiner Auffassung nach einen normativen Aspekt: Objektive Gründe können Wissen stützen. Und „objektiv“ heißt: Was für eine Person anzunehmen vernünftig ist, ist für eine andere Person in gleichen Umständen ebenfalls dasjenige, was rational akzeptierbar ist. Das besagt: Was überhaupt rational akzeptierbar ist, ist universal akzeptabel (vgl. Kap. 3.4 und Rescher 2003 E, 154). Einige Beispiele für Sätze, die jede vernünftige Person anzunehmen habe, nennt Rescher explizit: G.E. Moores berühmte Aussage „Das ist meine Hand“, aber auch Ch.S. Peirce’ These, dass ein Stein, lässt man ihn los, zu Boden fällt (vgl. Rescher 2003 E, 155). Zwar mag bestimmtes Wissen, das spezieller Natur ist, von besonderen Kontexten abhängen – aber dies stellt keinen Relativismus dar, weil es die Universalität der Vernunft und damit auch der vernünftigen Akzeptierbarkeit nicht tangiert. Und andere Formen von Rationalität gibt es nicht (vgl. Kap. 3.4). Wer ihre Grundsätze nicht akzeptiert oder einhält, ist nicht dabei, Erkenntnisse zu gewinnen, und von etwaigen anderen Grundsätzen kann man nicht rational überzeugt werden, sofern man anderslautende Vorschläge für Verfahren des Erkenntnisgewinns anhand der schon vorhandenen Rationalstandards prüft (vgl. Kap. 3.4 und Rescher 2003 E, 166). Verbesserungen sind demnach nur „von innen“ – also als Weiterentwicklung oder Ergänzung – denkbar.
Ideale versus für Menschen erreichbare Erkenntnis Verhält man sich bei der Suche nach Erkenntnis rational, verfährt man gemäß den Vorgaben der Vernunft und kann demzufolge objektive – aber fallible – Resultate erzielen. Ideale Rationalität würde zwecks angestrebter Optimalität alles einbeziehen, was relevant werden könnte, praktikable Rationalität fordert „nur“, das Bestmögliche zu tun, sich der Idealität also anzunähern, auch wenn sie nicht erreichbar ist. Zudem stehen – je nach Erkenntnissituation – nur in beschränktem Ausmaß relevante Informationen zur Verfügung, so dass das situativ Optimale, was zu tun ist, weit hinter den Idealvorstellungen zurückbleibt. Gleichwohl bleibt der Nutzen der Ratio im Erkenntnisprozess für Rescher alternativlos: Nur die Rationalität verspricht Erfolg im Erkenntnisfortgang (vgl. Rescher 2003 E, 195), und zwar „in the long run“. Zu erklären ist nun noch, was Gegenstand der Erkenntnis sein kann, und warum dies der Fall ist. Nach Rescher sind Menschen aufgrund ihrer anthropologischen Ausgestaltung in der Lage, die Welt resp. die Natur im Allgemeinen zu erkennen (so wie sie „für uns“ ist; siehe die obigen Ausführungen zum Idealismus in Kap. 4.3.2), weil wir Teil der Welt bzw. der Natur – genauer: ein Produkt der Evolution – sind (vgl. Kap. 4.1 und Rescher 2011 PE). Was die Welt gestaltet, hat auch den Menschen hervorgebracht (vgl. Rescher 2003 E, 283) –
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mitsamt seinen Sinnesorganen und kognitiven Fähigkeiten. Rescher schließt hier also Überlegungen aus der Evolutionären Erkenntnistheorie ein (vgl. hierzu ausführlich Rescher 1990 UI). Der Mensch als Produkt der Evolution ist derart mit sinnlichen und kognitiven Fähigkeiten ausgestattet, dass er überleben konnte und kann. Dies sei nur erklärlich, wenn die genannten Fertigkeiten der Menschen zur Welt passen, die Welt muss also – bildlich gesprochen – (partiell) „kooperieren“. Da die Natur intelligentes Leben selbst hervorgebracht hat, erschließt sie sich nach Reschers Auffassung auch intelligenten Lebewesen: Mind must be attuned to nature since intelligence is a generalized guide to conduct that has evolved as a natural product of nature’s operations. And nature must be substantially accessible to mind if intelligence manages to evolve within nature by a specifically evolutionary route (Rescher 2003 E, 287).
Die Intelligenz des Menschen – ein Vermögen des praktischen Problemlösens – geht also aus dem Evolutionsprozess hervor, und es hat sich in der Welt bzw. Natur bewährt, wenn es zu einem weiter fortlaufenden Evolutionsprozess führt. Dies kann nur geschehen, wenn die menschlichen Fähigkeiten des Erkennens zur Natur als Erkanntem grundsätzlich passen.
Grenzen des Wissens Dieses grundsätzliche Zusammenpassen besagt aber nicht, dass Menschen alles Wissen erlangen können – es gibt vielmehr Wissensgrenzen, die Rescher aufzuzeigen beabsichtigt. Dabei lässt sich jedoch nicht im Detail angeben, was wir nicht wissen: Nicht eine einzige uns unbekannte, nicht gewusste wahre Aussage lässt sich anführen – führten wir sie als wahre Aussage an, würden wir sie schließlich doch wissen. Aber sieht man auch von den zu jedem Zeitpunkt vorhandenen Fragen der Wissenschaften ab (siehe hierzu Kap. 4.4), so setzen uns Verfahren der Erkenntnisgewinnung, technische Geräte oder auch ökonomische Umstände Grenzen des Erkennens. Jeder Gegenstand, der Erkenntnisinteressen des Menschen weckt, hat zudem unter anderem wegen seiner Dispositionen mehr Merkmale oder Eigenschaften, als praktisch von Menschen herausgefunden werden können (vgl. Rescher 2003 E, 33). Grundsätzlich ließen sich immer neue Charakteristika von Gegenständen oder Relationen zwischen Dingen und/oder Ereignissen herausfinden. Daher bleibt unsere Erkenntnis immer hinter dem grundsätzlich Erkennbaren zurück; es lässt sich immer Neues entdecken – was zu Reschers Realismus passt (vgl. Rescher 2003 E, 346). Dies bedeutet für Rescher zugleich, dass unsere Begriffe, mit denen wir die Welt zu erfassen versuchen, nie vollständig bestimmt sein können, weil nie alle relevan-
100 | Reschers philosophisches System ten Merkmale des bezeichneten Objekts wahrheitsgemäß erfasst seien (vgl. Rescher 2003 E, 348), aber grundsätzlich zur Bestimmung des Begriffs verwendet werden könnten. Die reale Welt enthält geist- resp. erkenntnisunabhängige Entitäten (als Unterstellung, vgl. auch Rescher 2003 E, 351); Rescher spricht von „a realm of thought-transcendent objective physical reality“ (Rescher 2003 E, 349), über die wir nur in einem gewissen Ausmaß verlässlich Informationen gewinnen können, und über die wir kommunizieren (können). Grundlegend ist durchweg die Annahme einer objektiv existierenden Welt mit wirklichen Dingen und Ereignissen, in der wir leben, erkennen und sprechen. Diese Welt ist also nicht entdeckt, ihre Annahme nicht Ergebnis einer empirischen Entdeckung, sondern Produkt einer transzendentalen Argumentation, der zufolge die Akzeptanz einer realistisch aufgefassten Welt für uns unvermeidlich sei: Reale Dinge werden nicht inferentiell aus Daten („phenomenal data“, Rescher 2003 E, 354) erschlossen, sondern von vornhinein als gegeben unterstellt (siehe Kap. 4.3.2). Über sie können Wahrheiten entdeckt resp. über sie können wahre, aber fallible Sätze formuliert werden, für die nach Rescher Kohärenz das zentrale Kriterium ist, obschon Wahrheit vermittels des Kriteriums der Korrespondenz definiert ist.
Wahrheit und realistisch verstandene Welt Diese Annahme einer erkennbaren Welt, über die sich kohärente Theorien bilden lassen, zahlt sich Rescher zufolge pragmatisch auch aus. Diese Unterstellung einer geistunabhängigen Welt ist nicht nur für unsere Kommunikation über etwas – die Welt – entscheidend als Bedingung der Möglichkeit, sondern sie kommt für Wahrheit im Sinne der Korrespondenz auf, und sie kommt damit auch für die epistemisch wichtige Unterscheidung von Schein und Sein auf. Des Weiteren erklärt sie, warum unser Wissen fehlerhaft, unvollkommen und fallibel ist. Schließlich, und auch dies ist epistemologisch wichtig, lässt sich mithilfe der Realitätsunterstellung erklären, wovon wir Daten haben, was also die kausale Quelle unserer Sinneserfahrungen ist. Damit wird der Realismus in epistemischer Hinsicht „not a factual discovery, but a practical postulate“ (Rescher 2003 E, 360). Der Reschersche Idealismus erzwingt also geradezu ein Postulat des Realismus, und beide Positionen zusammengenommen gestatten Rescher zufolge objektive und für wahr gehaltene Erkenntnisse, die aber als fallibel zu bestimmen bleiben.
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Kurze Diskussion zu Reschers Wahrheitstheorie Offensichtlich fügt sich Reschers Kohärenztheorie der Wahrheit nahtlos in seine Erkenntnistheorie ein; sie passt in Reschers sowohl idealistisches wie realistisches Theoriegebäude. Dennoch lassen sich an dieser Stelle einige kritische Erwägungen anfügen. Zur Kohärenztheorie der Wahrheit, wie sie von Rescher vertreten wird, bestehen zahlreiche Alternativen. Auch wenn man die zahlreichen nicht substantiellen Theorien der Wahrheit nicht für geeignet hält, die Bedeutung von „wahr“ und „falsch“ zu erfassen, verbleiben neben der Kohärenztheorie weitere Wahrheitstheorien. Wenn man auch die pragmatische Wahrheitstheorie von W. James verwirft, weil sich Wahrheit und Nützlichkeit nicht so zueinander verhalten, wie James annahm, so verbleiben immer noch mindestens zwei weitere prominente Kandidaten: die Korrespondenztheorie und die Konsenstheorie. Die Korrespondenztheorie liegt in verschiedenen Versionen vor, z.B. in der sehr voraussetzungsreichen von B. Russell und der ontologisch wesentlich sparsameren von J.R. Searle. Dieser korrespondenztheoretischen Auffassung räumt Rescher ein partielles Recht ein. Die Konsenstheorie liegt gleichfalls in mehreren Varianten vor, beispielsweise in der von Ch.S. Peirce oder der von J. Habermas; sie wird von Rescher jedoch missbilligt. Eine Diskussion zu einer erschöpfenden Klärung, welche dieser Theorien (falls überhaupt eine) zu bevorzugen ist, soll hier aber nicht geführt werden. Hingewiesen werden soll daher an dieser Stelle nur auf einen Punkt der Kohärenztheorie von Rescher. Hat man ein beliebiges System von Sätzen, das man bislang für wahr gehalten hat, und kommt aufgrund neuer Informationen oder Daten dazu, die Kohärenz wieder herstellen zu müssen, damit das System wahr bleiben kann, so bestehen zu jedem Zeitpunkt – theoretisch betrachtet – verschiedene Möglichkeiten, das Satzsystem wieder kohärent zu gestalten. Stützt man sich ausschließlich auf das Kohärenzkriterium, scheint also durchweg die Option zu verbleiben, dass es unterschiedliche für wahr gehaltene Satzsysteme bzw. Theorien geben kann (die einander in unterschiedlichem Maße ähneln können). In diesem Punkt wäre eine teilweise Vorgabe in Form eines (gut begründeten) Fundaments wohl insoweit von Vorteil, als dass es den Bereich der denkbaren Modifikationen einschränken könnte. Inwieweit Daten, wie Rescher sie versteht, dies leisten können, wo sie doch allesamt als fallibel betrachtet werden, scheint fraglich. Zumindest denkbar wäre – wenn man schon auf ein nicht als fallibel angesehenes Fundament verzichtet – die Daten zu hierarchisieren, so dass man im Konfliktfall eine Regelung dafür hat, welche Veränderungen am System vorgenommen werden sollten. Dies wäre dann analog zu Quines Verfahrensweise, der das Wissen als Netz konzipiert, dessen innere Teile bei Konflikten weniger revisionsanfällig sind als diejenigen an der Peripherie.
102 | Reschers philosophisches System 4.3.4 Grenzen der Erkenntnis – mit Blick auf das Alltagswissen: „Epistemetrics“ Ein weiteres Teilthema der Erkenntnistheorie von Rescher befasst sich mit der Frage, wie viel Wissen Menschen erwerben können bzw. wo die quantitativen Wissensgrenzen zu ziehen sind. Dabei geht es im Rahmen der Epistemologie nicht speziell um die Grenzen wissenschaftlichen Wissens (siehe hierzu Kap. 4.4), sondern um Wissen im Allgemeinen, so dass auch das Alltagswissen berücksichtigt wird.
Zur Entwicklung der Menge des Wissens Die Frage nach der Wissensmenge beschäftigt Rescher sehr ausführlich in seiner epistemologischen Studie „Epistemetrics“ (Rescher 2006 E). Dieses Buch „develops the theory of knowledge from a quantitative perspective that serves to throw light on the scope and limits of human knowledge“ (Rescher 2006 E, IX). Dabei greift Rescher den oben bereits angeführten Gedanken auf, dass die Sicherheit des Wissens gegenläufig zur Präzision der Wissen beanspruchenden Aussage ist, und dass im Alltag wie in den Wissenschaften für Wissen mehr als Richtigkeit gefordert ist: Zum Wissen gehört auch ein näher zu bestimmender Informationsgehalt (vgl. Rescher 2006 E, 7). Wissen ist nach Rescher mehr als bloße Information – zum Wissen gehört für ihn, wie erwähnt, dass es organisiert bzw. systematisiert ist (vgl. Rescher 2006 E, Kap. 2, besonders 9); Wissen erscheint als wahre, systematisierte Information. Im Verlaufe der Wissensentwicklung ist dabei nach Rescher – und dies passt zweifelsohne zu seinem Gedanken von der Entwicklung der Philosophie durch begriffliche Ausdifferenzierung – ein immer höherer Detaillierungsgrad und eine zunehmende Komplexität zu verzeichnen (vgl. hierzu Rescher 2006 E, Kap. 3). Theorien stehen deshalb in dem Spannungsfeld von erwünschter Vereinfachung bzw. Einfachheit und Breite des durch sie erfassten Bereichs. Neue Theorien müssen zu neuen Daten passen und sie erklären, führen aber auch zu neuen Entdeckungen, also neuen Daten. Daher ist der Prozess des Wissenserwerbs fortlaufend; die Geschichte der Naturwissenschaften zeigt überdies die zunehmende Komplexität mehr als deutlich. Gleichzeitig zeigt sich, dass die Wissenschaften nicht nur kumulativ sind, also ausschließlich zusätzliches Wissen „anhäufen“ (siehe Kap. 4.4). Die Bedeutsamkeit neuen Wissens lässt sich dabei, so Rescher, daran ablesen, wie viel es hinzufügt und verändert. Dabei wird es zunehmend schwieriger, neues Wissen zu erzeugen, und der Zustrom qualitativ hochwertigen Wissens verlangsame sich (vgl. Rescher 2006 E, Kap. 6).
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Wissensmenge und Individuum Ein einzelner Mensch kann aber nur einen winzigen Teil des Wissens aufnehmen, wie Rescher im Anschluss an Überlegungen von G.W. Leibniz darlegt (vgl. Rescher 2006 E, Kap. 7). Es gibt zu viele Aussagen und zu viele Wahrheiten, und die Fakten können, wie oben schon gezeigt wurde, nicht erschöpfend erkannt werden: Sie können nicht aufgezählt werden, da jedes einzelne Ding zahllose Eigenschaften und Relationen aufweise. Menschliches Wissen bleibe daher zwangsläufig unvollständig, und die Welt kann in unserer Sprache nicht in all ihren Einzelheiten erfasst werden (vgl. Rescher 2006 E, Kap. 8, besonders 95 f.). Dennoch ist ein Wachstum des Wissens immer möglich – auch wenn es schwieriger wird, neue Erkenntnisse zu erlangen, die sich in generalisierten Sätzen formulieren lassen. Selbst Allsätze können, verstanden gemäß Reschers „standardism“ (vgl. Kap. 4.3.2), gewusst werden – auch wenn der begrenzte Mensch nicht auch alle ihre Anwendungsfälle kennt.
Konstante Wissensbegrenzungen? Konkrete Grenzen des Wissens sind – im Gegensatz zu den genannten allgemeinen Beschränkungen des Wissens – nicht anzugeben, denn es lässt sich, so Rescher, keine Grenze ziehen zwischen dem, was man weiß, und dem, was man nicht weiß (vgl. Rescher 2009 I, 5). So kann man keine unbekannten Fakten anführen – wohl aber unbeantwortete Fragen (vgl. Rescher 2009 I, 39). Aber man kann auch nicht sagen, dass solche Fragen unbeantwortbar sind und bleiben, denn man kann, so Rescher, nicht absehen, wie sich das künftige wissenschaftliche Wissen entwickeln wird, so dass eine Beantwortung solcher Fragen nicht auszuschließen ist (vgl. Rescher 2009 I, 43 und 73). Auf Grenzen des Wissens wird im folgenden Kapitel nochmals eingegangen, dann aber im Kontext der Wissenschaftstheorie Reschers, und damit mit einem anderen Fokus: demjenigen auf etwaige Grenzen wissenschaftlichen Wissens.
4.4 Wissenschaftstheorie Im Rahmen seiner ausgesprochen vielfältigen Überlegungen zur Wissenschaftstheorie32 geht es Rescher in hohem Maße um Fragestellungen, die mit wissen-
|| 32 Vgl. zu Reschers Wissenschaftstheorie neben den im Haupttext genannten Texten beispielsweise auch Rescher 1992 SPI, Kap. 4-8, 13, 16 und 17. Vgl. zu Reschers Wissenschaftstheorie ferner auch Almeder 2008, 1-28, und Marsonet 2008, Kap. 5. – Wenn im Folgenden von
104 | Reschers philosophisches System schaftlichen Methoden, Wissensmöglichkeiten, dem Anwachsen wissenschaftlichen Wissens resp. dem wissenschaftlichen Fortschritt und etwaigen Grenzen des wissenschaftlichen Wissens zu tun haben. Dabei kommen für Rescher verschiedene Möglichkeiten in Betracht, die unser Wissen limitieren können: Unsere Wissenschaft selbst, unsere kognitiven Fähigkeiten und ihre Begrenztheit, technische Grenzziehungen33, aber auch zufällige Entwicklungen oder ökonomische Zwänge könnten von Belang sein. Nachfolgend werden einige allgemeine miteinander zusammenhängende Überlegungen Reschers zur Wissenschaftstheorie vorgestellt und diskutiert. Dabei geht es primär um seine Ausführungen zur pragmatischen Methode sowie um seine Darlegungen zum Thema des naturwissenschaftlichen Fortschritts und die Fragen nach den möglichen Grenzen der Wissenschaft.
Die pragmatische Methode des Erkenntnisgewinns Sowohl in der Erkenntnistheorie als auch in der Wissenschaftstheorie favorisiert Rescher einen an Peirce anknüpfenden Methodenpragmatismus. Methoden des Erkenntnisgewinns werden nach Rescher aufgrund ihres Erfolgs bzw. ihres Nutzens gewählt und beibehalten. Das mithilfe dieser pragmatisch ausgezeichneten Verfahrensweise gewonnene Wissen wird somit, folgt man Rescher, zugleich auch gerechtfertigt. Wissen wird demnach mit Rückgriff auf die Methode seiner Gewinnung begründet. Auch wissenschaftliches Wissen wird also nach Rescher methodisch gerechtfertigt (vgl. Rescher 1977 MP, 1). Allgemeine wissenschaftliche Methoden, die befolgt werden, sollen spezielle Wissensansprüche begründen (vgl. Rescher 1977 MP, 1 f.). Diese Methoden der Wissenschaft werden angewandt, um ein Ziel zu erreichen, sind also Rescher zufolge teleologisch ausgerichtet: auf den Erwerb von Wissen. Gerechtfertigt sind sie – pragmatisch – durch ihren Erfolg in der Anwendung, also dem erfolgreichen Gewinn von Wissen. Methoden lassen sich so mithilfe des Erfolgskriteriums evaluieren. Daher kommt nach Rescher ein einfaches Schema zur Anwendung: Man beginnt mit einer Methode, die ein Problem der Erkenntnis lösen soll, wendet sie auf ein Erkenntnisproblem an, erzielt damit bestimmte Resultate, die man versucht, weiter einzusetzen und zu nutzen. Sodann kann man prüfen, ob die
|| Wissenschaft(en) die Rede ist, sind zumeist die Naturwissenschaften gemeint. Inwieweit die verschiedenen Überlegungen auch auf andere Wissenschaften zutreffen (wie z.B. auf Geistesoder Sozialwissenschaften), bleibe dahingestellt. 33 Vgl. zum Thema auch Leiber/Wagner-Döbler 2008.
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so erzielten Ergebnisse dem ursprünglichen Ziel, ein Erkenntnisproblem der Wissenschaft zu beheben, nahekommen bzw. es erreichen – oder ob sie es verfehlen. Damit kann wiederum die gewählte Methode mit Blick auf ihren Erfolg evaluiert werden (vgl. Rescher 1977 MP, 2). Wichtig ist dabei, eine allgemeine Methode wiederholt anzuwenden; einmalige Erfolge garantieren nicht, dass die angewandte Methode allgemein erfolgreich ist. Liegen hingegen nach wiederholten Anwendungen ausreichende Ergebnisse vor, kann man nach Rescher die Methode bewerten und aufgrund der Evaluation Verbesserungen einzuführen versuchen (vgl. Rescher 1977 MP, 6). Wichtig ist dabei im Rahmen der pragmatischen Theorie das Zusammenspiel von Theorie und Praxis: Theoretische Überlegungen methodischer Art werden durch praktische Anwendungen getestet – die dann zu neuerlichen theoretischen Verbesserungen führen können, die wiederum anhand praktischer Verwendbarkeit bzw. Brauchbarkeit bewertet werden. Der Vorgang ist also iterierbar und zyklisch. So kann der Erkenntnisfortschritt mithilfe immer wieder erfolgender Verbesserungen der Methoden erklärt werden, die eingesetzt werden, um Erkenntnisse zu gewinnen. Entscheidend ist jeweils der pragmatische Erfolg. Die anfangs gewählte Methode wird somit im Nachhinein gerechtfertigt. Sie kann aber – wie bereits erwähnt – auch Veränderungen unterliegen. Das heißt: Anfangs gemachte Annahmen werden nicht als sakrosankt angesehen – Hypothesen, die anfänglich angenommen werden, können, da sie nur Mutmaßungen sind, revidiert werden. Werden sie hingegen bestätigt, werden sie als begründete bzw. gerechtfertigte Annahme weiter gebraucht werden können, aber nur auf Zeit; sie gelten in Reschers System als fallibel.
Methodenpragmatismus in den Wissenschaften Da sich einzelne Annahmen zunächst bewähren und als nützlich erweisen, sich aber später doch als falsch herausstellen können, vertritt Rescher allerdings ausschließlich eine pragmatische Methodenrechtfertigung. Einzelne Hypothesen auf diese Art und Weise zu begründen resp. einen Thesenpragmatismus hält Rescher für verfehlt (vgl. Rescher 1977 MP, Kap. 4, „Deficiences of Theory Pragmatism“). Daher setzt Rescher darauf, dass einzelne Annahmen mithilfe überzeugender, sprich pragmatisch bewährter, Methoden begründet werden. Somit ist das Wissen insgesamt letztlich mit der Anwendung verbunden, die methodisch angeleitet ist. Damit wird Wissen im Sinne eines „knowledge that“ rückgebunden an die Praxis und ein „how-to knowledge“ (Rescher 1977 MP, 70). Wahrheiten von Hypothesen sind sonach vermittels Methoden mit dem pragmatischen Nutzen indirekt verbunden (vgl. Rescher 1977 MP, 71). Und da Methoden interpersonell und öffentlich sind resp. Standards befolgen, wird somit auch
106 | Reschers philosophisches System eine personen- oder gruppenrelative Wahrheit vermieden. Die erzielten Erkenntnisse der Wissenschaft sind demnach objektiv, bleiben aber fallibel – so wie nach Reschers philosophischem System auch die übrigen Erkenntnisse von der Welt.
Reschers Bestimmung des Begriffs „naturwissenschaftlicher Fortschritt“ im Kontext des Akkumulationsmodells und der These wissenschaftlicher Revolutionen Im Rahmen seiner Überlegungen zur Reichweite menschlichen Wissens, welches durch die Naturwissenschaften hervorgebracht wurde und wird, stellt sich für Rescher die Frage nach der genaueren Bestimmung des Begriffs des naturwissenschaftlichen Fortschritts34. Dabei entwickelt Rescher eine eigenständige Auffassung vom naturwissenschaftlichen Fortschritt, welche mit seinem Pragmatismus und mit seinem Realismus harmoniert. Im Wiener Kreis bestand eine gewisse Einhelligkeit darüber, dass es eine gradlinige, auf Wissensvermehrung bzw. -kumulation festgelegte Entwicklung in den Naturwissenschaften gibt. Doch ist diese Übereinstimmung im Verlauf der wissenschaftstheoretischen Entwicklung verloren gegangen. Grund dafür sind unter anderem die fallibilistische Konzeption von K. Popper35, aber auch und vor allem die Theorien von Th.S. Kuhn und P. Feyerabend36, nach denen die naturwissenschaftliche Entwicklung Brüche aufweist, die eine fortwährende Wissensvermehrung ausschließen, die also keinen stetigen Zuwachs an Wissen unterstellen, sondern etwa aufgrund von Paradigmenwechseln auch Verluste an wissenschaftlichen Erkenntnissen annehmen. Denn es verändern sich mit den neu entwickelten Theorien auch die Theoriesprachen (die Bedeutung wissenschaftlicher Termini), die Erkenntnisziele und die Erklärungsbereiche bzw. die als relevant angesehenen Fragen sowie die methodischen Standards. Infolge dessen gehe in der Entwicklung der Naturwissenschaften beim Übergang zu neuen Theorien auch Wissen verloren. Zwar gebe es Phasen des kumulativen Wissenszuwachses, von Kuhn „Normalwissenschaft“ genannt, in denen dieser Zuwachs an wissenschaftlicher Kenntnis als Fortschritt auszumachen sei. Aber die – besonders wichtigen – Umbrüche, jene Paradigmenwechsel bzw. wissen|| 34 Die folgenden Darlegungen und Auseinadersetzungen basieren auf einem früheren Vortrag bzw. Aufsatz; vgl. Kellerwessel 2002/03. Vgl. zu Reschers Auffassungen über den naturwissenschaftlichen Fortschritt neben den im Haupttext genannten Publikationen beispielsweise auch Rescher 2003 E, Kap. 12. 35 Vgl. Popper 1935/1984 und Popper 1963/1994. 36 Vgl. Kuhn 1970, Feyerabend 1975/1986 sowie Feyerabend 1980.
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schaftlichen Revolutionen, die zu den bedeutsamsten Errungenschaften führten, seien nicht von dieser Art. Entsprechend könne ihr Fortschritt nicht mithilfe des Kumulationsmodells angemessen erfasst werden. Auch nach Rescher entwickelt sich die Naturwissenschaft „in der Hauptsache nicht durch Addition, sondern durch Ausscheidung und Ersetzung“. Er meint daher auch: „Die Lehre von der konvergierenden Akkumulation muss […] aufgegeben werden“ (Rescher 1996 SNE, 146 f.). Dennoch schreite die Naturwissenschaft fort. Entsprechend konzipiert Rescher seine Bestimmung des Begriffs des naturwissenschaftlichen Fortschritts. Diese ist ausgearbeitet in „Die Grenzen der Wissenschaft“ (Rescher 1985 GW).37 In diesem Buch versucht Rescher den Begriff des Fortschritts so zu bestimmen, dass sich ein nicht relativistisches Konzept ergibt, welches die Geschichte der Naturwissenschaften adäquat berücksichtigt.
Naturwissenschaftlicher Fortschritt und metaphysischer Realismus Dabei ist von vornherein festzuhalten, dass für den idealistischen Philosophen Rescher eine nicht relativistische metaphysisch-realistische Begriffsbestimmung grundsätzlich ausgeschlossen ist38; das naturwissenschaftliche Fortschreiten kann nicht als eine „(immer) weitere Annäherung an die Realität“ definiert werden. Denn um festzustellen, ob eine derartige Bestimmung (im Einzelfall) erfüllt ist oder nicht, also eine bestimmte Veränderung als fortschrittlich anzusehen ist oder nicht, müsste man schon einen theorieunabhängigen Zugang zur Wirklichkeit haben, mit dessen Hilfe sodann der Grad der Annäherung an die Realität gemessen werden könnte. Wäre aber die Wirklichkeit in diesem Sinne bereits bekannt, stellte sich die Frage nach einer progressiven Kenntniszunahme nicht mehr. Denn dann verfügte man bereits über die Erkenntnis des relevanten Wirklichkeitsausschnitts, und es bedürfte keiner naturwissenschaftli-
|| 37 Dieses Werk, das im Original den Titel „The Limits of Science“ (von 1984) trägt, wird nach der deutschen Übersetzung aus dem Jahr 1985 zitiert. Vgl. zu Reschers Wissenschaftstheorie: Almeder 2000, Marsonet 1996, Kap. 5, Marsonet 1998, Mittelstraß 2000 und Temple 1982, die allerdings (primär) nicht speziell auf Reschers Darlegungen zur näheren inhaltlichen Bestimmung des Begriffs „Fortschritt“ in „Die Grenzen der Wissenschaft“ eingehen. Dies gilt auch für die Kontroverse über Reschers Wissenschaftstheorie zwischen Niemann und Puntel. Niemann 1995 hatte Reschers Wissenschaftstheorie als relativistische Theorie gedeutet und heftig kritisiert, Puntel 1996 ihm eine massive Fehldeutung vorgeworfen, worauf Niemann 1997 antwortet und worauf Puntel 1997 nochmals repliziert hat. 38 Vgl. zur Auseinandersetzung mit dem wissenschaftlichen Realismus auch Rescher 2000 NN, Kap. 5 sowie Rescher 1987 SR.
108 | Reschers philosophisches System chen Forschung mehr. Ein solches realistisches Modell des Fortschritts präsupponiert demnach inakzeptablerweise Kenntnisse, die faktisch fehlen, meint Rescher.
Fortschritt im Kontext von wissenschaftlichen Fragen und Antworten Der Wissenschaft von der Natur geht es im weitesten Sinne um die Erfassung der Wirklichkeit für uns (siehe Kap. 4.3.2). Bei der Frage des wissenschaftlichen Fortschritts sei infolgedessen nicht nur die Natur (als das zu Erforschende) zu berücksichtigen, sondern auch die Perspektive des Forschers. Daher ist die Rolle der an die Natur gestellten Fragen hoch bedeutsam, zielt die wissenschaftliche Erforschung doch darauf ab, „unsere Fragen nach dem was und wie von Naturphänomenen zu lösen“ (Rescher 1985 GW, 74)39. Wissenschaftliches Vorgehen ist demnach ein Prozess des Stellens von Fragen und des Findens von Antworten. Im Zuge der Entwicklung des Wissens sind daher laufend neue Antworten bzw. Daten zu integrieren, d.h. in die systematischen wissenschaftlichen Kenntnisse einzufügen und kohärent einzupassen. Diese Erweiterungen des Wissens führen, so Rescher, dann zu neuen offenen Fragen. Das Zusammenspiel von Fragen und Antworten auf diese, die wieder neue Fragen aufwerfen, treibt die Entwicklung der Wissenschaften an. Die Fragen der Wissenschaft haben ihrerseits je eigene Voraussetzungen und legen einen Bereich sinnvoller Antwortmöglichkeiten fest. Weil Fragen Voraussetzungen haben, unterliegen sie ihrerseits Bewertungen. Basieren Fragen auf Voraussetzungen, die hinfällig geworden sind, weil sie nicht mehr in das aktuelle Wissenskorpus kohärent einzupassen sind, können sie verworfen werden (vgl. Rescher 1985 GW, 75 und 77). Mit dem Wissensstand verändert sich der Bereich sinnvoller Fragestellungen (vgl. Rescher 1985 GW, 77); einzelne Fragen, die zu einem Zeitpunkt als „wissenschaftlich“ galten, können später als unwissenschaftlich ausgeschlossen werden. Der Naturwissenschaft gehe es daher nicht nur um die Beantwortung von berechtigten Fragen, sondern auch um deren Auffindung. Neben dem Fortschreiten der Naturwissenschaften durch das Finden von Antworten auf gestellte Fragen gebe es auch ein Auflösen von Fragestellungen: Fragen, die zu einem bestimmten Zeitpunkt auf als falsch (resp. als inkohärent) betrachteten Voraussetzungen beruhen, werden aufgrund von „Unangemessenheit“ eliminiert. Ausgeschlossen werden können ferner nicht entscheidbare Fragestellungen. || 39 Vgl. zur Rolle der Fragen in den Naturwissenschaften auch Rescher 1996 SNE, 147 ff.
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Entscheidend für Rescher ist nun, dass Fragen als gelöst angesehen werden können, wenn sie entweder beantwortet oder verworfen sind (vgl. Rescher 1985 GW, 81). Werden also Theorien auf ihre Leistungsfähigkeit hin untersucht, können nur zulässige Fragen und Fragestellungen, die im Bereich des Erklärbaren liegen, herangezogen werden. Die Zulässigkeit von Fragen und Antworten sollte, so Rescher, in ihrem jeweiligen historischen Kontext gesehen werden. Dies hat eine weitreichende Konsequenz: Auch was einmal als eine wissenschaftliche Wahrheit galt, kann diesen Status wieder verlieren. Naturwissenschaftliche Erkenntnisse gelten als nur vorläufig; sie sind für Rescher wie für Popper fallibel. Aus dem Zusammenhang von Fragen und Antworten ergeben sich für Rescher Folgen für die Bestimmung des Fortschritts. So ließen sich drei Arten von Erkenntnisfortschritten im Kontext des Zusammenspiels von Fragen und Antworten ausmachen:40 – Es kann neue Antworten auf alte Fragen geben. – Neue Fragen können sich ergeben. – Untaugliche Fragen können mitsamt ihren Antworten verworfen resp. ausgeschieden werden. Dass neue Antworten einen Fortschritt darstellen können, ist unstrittig; dass die Veränderung des Fragespektrums einen Progress ausmachen kann, erklärt sich aus dem Zusammenhang mit akzeptierten Voraussetzungen und der damit verbundenen internen Vorgabe von Möglichkeiten der Antwort. Dies macht auch verständlich, weshalb der Fortschritt mit einer sich ergebenden Dynamik der Fragen zusammenhängt. Entwickeln sich neue Fragen aus bereits gegebenen Antworten und stecken diese die Suche nach neuen Antworten, die ihrerseits zu neuen Fragen führen, ab, wird der Prozesscharakter deutlich. Das Eliminieren von Fragen trägt zur Zielgerichtetheit der Suche nach Antworten bei – und mit dem Ausschluss von Fragen werden Felder der Suche nach Antworten getilgt. Dies wiederum kann einen gerichteteren Progress begünstigen. Allerdings schließt Reschers Explikation auch einen zulässigen Verlust von Fragen ein. Dieser Verlust ist auch ein Verlust von Fragevoraussetzungen, die zu einem bestimmten Zeitpunkt der Forschung wissenschaftlich akzeptiert waren. Es droht also, könnte man meinen, ein Verlust von Wissen. Dies hat, wissenschaftstheoretisch betrachtet, gravierende Konsequenzen: Denn damit droht die Vergleichbarkeit von Theorien, die einander im Forschungsprozess ablösen,
|| 40 Vgl. zum Folgenden Rescher 1985 GW, 87, und Rescher 1996 SNE, 150, sowie Rescher 2001 CP, 67.
110 | Reschers philosophisches System verloren zu gehen. Das heißt, Theorien wären möglicherweise, wie Kuhn ebenfalls meint, inkommensurabel. Dies könnte die Idee des Fortschritts unterminieren.
Naturwissenschaftlicher Fortschritt und Fragendynamik – sechs problematische Ansätze Gleichwohl bedarf es Rescher zufolge noch einer genaueren Erklärung, wie Fortschritt vermittels der Fragendynamik näher bestimmt werden kann. Aus diesem Grund untersucht er insgesamt sechs Ansätze, die mittels der Annahme eines sich verändernden Bereichs wissenschaftlicher Fragen und Antworten diesen Begriff zu klären beabsichtigen. Sie alle sind aber für Rescher inakzeptabel, wie die folgende kurze Überschau verdeutlicht. 1) Modell der Wissensakkumulation: Es können „entwickeltere Stadien der Wissenschaft als solche durch ihre Fähigkeit charakterisiert werden, zusätzliche Fragen zu beantworten“ (Rescher 1985 GW, 96). Doch dagegen ist einzuwenden, dass bestimmte Fragen im Verlauf der Wissenschaftsentwicklung nicht mehr gestellt werden konnten, weil ihre Voraussetzungen nicht mehr als gegeben zu unterstellen waren. Daher ist jenes Akkumulationsmodell, welches Fortschritt nur durch die Annahme einer wachsenden Menge beantworteter Fragen definieren will, empirisch unangemessen und somit inakzeptabel: Es wird dem tatsächlichen Verlauf der Naturwissenschaften nicht gerecht. 2) Modell der Fragenvermehrung: „Wissenschaftlicher Fortschritt wird hier als ein Prozess gesehen, das Fragespektrum durch die Eröffnung neuer Fragen zu erweitern“ (Rescher 1985 GW, 99). Doch diese Bestimmung scheint unhaltbar: „Genau wie Fortschritt manchmal die Aufgabe alter Antworten einschließt, so führt er manchmal dazu, alte Fragen zurückzuweisen“ (Rescher 1985 GW, 99). 3) Modell der quantitativen Relation beantworteter Fragen von Theorien und ihren Nachfolgern: Nach diesem Modell schreitet die Wissenschaft fort, „weil die neuere Theorie mehr (d.h. nicht unbedingt: alle früheren) Fragen beantwortet“ (Rescher 1985 GW, 99); demnach zählte der quantitative Zuwachs beantworteter Fragen als entscheidendes Fortschrittsmerkmal. Dies scheint historisch angemessener zu sein, denn es schließt nicht aus, dass Fragen im Zuge der wissenschaftlichen Weiterentwicklung obsolet werden. Doch auch diese Position ist nicht überzeugend, denn es bleibt unklar, was als beantwortete Frage zählt bzw. welche beantworteten Fragen zu berücksichtigen sind. Schon die Anzahl der von einer Theorie beantworteten Fragen festzustellen ist problematisch, und nicht jede Antwort erscheint an-
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4)
5)
6)
gemessen (vgl. Rescher 1985 GW, 99 f.). Hinzu kommt, dass allein das Wegfallen von Fragestellungen im Einzelfall als Zeichen des Fortschreitens angesehen werden kann. Folglich ist die Definition des Fortschritts einer Theorie nur durch die Anzahl der von ihr beantwortbaren Fragen untauglich und dieser dritte Definitionsversuch inadäquat. Modell der „Abnahme der bloßen Anzahl unbeantwortbarer Fragen“ (Rescher 1985 GW, 100): Gemäß dieser vierten Variante wird Fortschritt mithilfe der Betrachtung wissenschaftlicher Fragen definitorisch zu erfassen versucht und berücksichtigt, dass die Wissenschaften versuchen, möglichst viele ihrer Fragen zu beantworten. Doch auch dieser Versuch scheitert, denn wiederum dürften nur angemessene Antworten berücksichtigt werden. Modell der „verhältnismäßige[n] Abnahme unbeantworteter Fragen“ (Rescher 1985 GW, 101): Dies verwendet „die Proportion von beantworteten und unbeantworteten Fragen als Prüfstein“ (Rescher 1985 GW, 101). Damit könnte scheinbar das Problem der vorigen Fortschrittsdefinition umgangen werden: Auch wenn eine neue Theorie neue Fragestellungen aufwirft, zählt sie als fortschrittlich gegenüber ihrer Vorgängerin, wenn sie mehr Fragen als diese beantworten kann und sich somit die Proportion von beantworteten und unbeantworteten Fragen ändert. Doch auch diese Begriffsbestimmung ist problematisch, denn: „Es ist theoretisch durchaus möglich, dass eine Zunahme der Fähigkeit, Fragen zu lösen, durch eine Erweiterung unseres Problemhorizontes […] mehr als aufgehoben werden könnte“ (Rescher 1985 GW, 101). Das heißt: Die Anzahl beantwortbarer Fragen steigt an, und die Anzahl unbeantwortbarer (durch die neue Theorie erst möglich gewordener) Fragen nimmt in einem höheren Maße zu. Gerade dies könnte der Effekt einer besonders innovativen Theorieneukonzeption sein. Mit ihr läge in einem solchen Fall nach der fünften Überlegung kein Fortschritt vor, obgleich eine Wissenszunahme zu konstatieren wäre und durch das Aufwerfen neuer Fragen ein Beitrag zur Fortentwicklung der Wissenschaft geleistet würde. Modell der „verhältnismäßigen Abnahme beantworteter Fragen“ (Rescher 1985 GW, 102). Für dieses Modell spricht: Wenn neue Fragen ihrerseits gewusste Vorbedingungen haben, ist beim Anwachsen von Fragemöglichkeiten ein Wissenszuwachs an kohärentem Wissen vorausgesetzt und zu erwarten; zudem kommt zum Tragen, dass das Beantworten von zuvor offenen Fragen einen Fortschritt markieren kann. Aber auch diese Bestimmung bringt gravierende Schwierigkeiten hervor. Schließlich kann die Wissenschaft zeitweilig dadurch fortschreiten, dass nur die Anzahl kohärent beantworteter Fragen zunimmt – ohne eine Zunahme offener Fragen. Dies
112 | Reschers philosophisches System aber wäre nach dieser Konzeption dann kein Fall eines Fortschreitens. Die Begriffsbestimmung schlösse inakzeptablerweise die reine Akkumulation von Wissen aus dem Bereich des Fortschrittlichen aus.
Naturwissenschaftlicher Fortschritt und bedeutsame Fragen Alle diese Zugänge zum Fortschritt der Wissenschaften vermittels des Verhältnisses von Fragen und Antworten werden offenkundig dem Verlauf der Geschichte der Naturwissenschaften nicht gerecht. Keiner erfasst ausreichend die Gehalte des Begriffs „wissenschaftlicher Fortschritt“, zu denen wohl gehört, das Wissensvermehrungen (steigende Beantwortungen von Fragen), Wissenskorrekturen oder Eröffnungen neuer Perspektiven (durch das Stellen neuer, noch unbeantworteter Fragen) stattfinden. Die bisher untersuchten Vorschläge schließen alle eine rein quantitative Bewertung von Fragen und Antworten ein. Allen gemachten Annahmen ermangelt es an einer qualitativen Berücksichtigung von Fragen und Antworten, also an der Bemessung von Bedeutsamkeiten der Fragen und Antworten. Schließlich ist noch ein letztes Defizit der Theorien zu verzeichnen: Alle diskutierten Positionen berücksichtigen keine wissenschaftstheoretischen Kriterien41 wie z.B. Konsistenz, Einfachheit (im Sinne von Voraussetzungsarmut) und Exaktheit, und erst recht berücksichtigen sie nicht die für Reschers Position besonders bedeutsamen wissenschaftlichen Werte der Systematizität und Kohärenz. Rescher nimmt daher eine qualitative Perspektive ein: Für den Fortschritt relevant sind seines Erachtens bedeutsame Fragen und Antworten, und der Grad der Wichtigkeit hängt mit der Stellung in unserem System des Wissens zusammen. „Die ‚Bedeutung‘ einer […] Frage läuft letzten Endes darauf hinaus, wie wesentlich die Korrektur unseres Systems wissenschaftlicher Überzeugungen […] ist, die durch unsere Beschäftigung mit ihr herbeigeführt wird“ (Rescher 1985 GW, 109 f.). Neben bloßen Erweiterungen seien zentrale Revisionen zu beachten; diese seien faktisch meist bedeutsamer. Eine solche Perspektivenänderung hat bedeutsame Folgen, sofern sie unser Wissenssystem gravierend verändert. Fortschrittlichkeit ist, so Rescher, ein komparativer Begriff, der relativ auf einen bestimmten jeweiligen Forschungsstand ist (vgl. Rescher 1985 GW, 110). Aber der Prüfstein für den Fortschritt könne nicht die Leistungsfähigkeit von
|| 41 Rescher nennt eine Reihe solcher Kriterien, die er als Präsumtionen der Wissenschaft auffasst: „regularity (causality, rulishness, lawfulness), continuity, simplicity, connectedness, coherence, unity, completeness“; Rescher 2006 P, 124). Vgl. ferner die Übersicht ebenda, 125.
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Theorien im Problemlösen sein, denn diese soll sich auf die bedeutsamen Fragen beziehen, und welche dies sind, hängt wiederum von der Theorie selbst ab, meint Rescher. Demnach drohte also eine zirkelhafte Erklärung. Eine (potentielle) Nachfolgetheorie ändert schließlich unter Umständen das begriffliche Raster ihrer Vorgängerin, gibt neue Antworten – und stellt andere Fragen (vgl. Rescher 1982 WF, 51 f.).
Fortschritt durch pragmatischen Vergleich Dennoch bestehe aufgrund dieses Sachverhalts nicht, wie Kuhn meint, eine Inkommensurabilität zwischen einer Theorie und ihrer Nachfolgerin. Denn, so Rescher, es gibt einen unabhängigen Vergleichsmaßstab. An die Stelle des kognitiven Vergleichs (der die Probleme der Inkommensurabilität heraufbeschwöre) solle ein pragmatisches Vergleichen treten: „Eine fortschrittlich überlegene Wissenschaft manifestiert sich als solche nicht durch die Spitzfindigkeit ihrer Theorien, sondern durch ihre Überlegenheit in der Anwendung […], d.h. durch die erhöhte Kraft ihrer Voraussagen und Kontrollmöglichkeiten. Der letztlich entscheidende Schiedsrichter einer Theorie ist die Praxis“ (Rescher 1985 GW, 111). Die technologische bzw. anwendungsbezogene technische Seite der Wissenschaften entscheide über den Fortschritt (vgl. Rescher 1982 WF, 205 f. und Rescher 1977 MP, 185 f.); ausschlaggebend wird somit eine „pragmatische[…] Kommensurabilität“ (Rescher 1982 WF, 207). Diese könne auch für den wissenschaftlichen Fortschritt aufkommen. Wissenschaftlicher Fortschritt bemisst sich laut Rescher also nicht quantitativ; entscheidend seien wichtige Fragen und Antworten, insbesondere diejenigen, die begriffliche Änderungen nach sich ziehen. Das Messen des Fortschritts bedürfe deshalb eines theorienexternen Maßstabes. Dieser sei ein pragmatischer, er bestehe in der Wissenschaftsanwendung, das heißt in Vorhersagen, Kontrollen und technischen Anwendungen im Alltag.
Die Grenzen wissenschaftlicher Erkenntnis Neben methodischen Fragen der wissenschaftlichen Erkenntnis und der Frage, wie wissenschaftlicher Fortschritt näher zu bestimmen ist, hat Rescher sich intensiv und vielfach Gedanken dazu gemacht, ob es Grenzen der wissenschaft-
114 | Reschers philosophisches System lichen Erkenntnis gibt.42 Dabei sind zum einen Fragen relevant, die erwartbare ökonomische Probleme einbeziehen, und zum anderen solche, die auf die beschränkte Kognitionsfähigkeit des Menschen Bezug nehmen. Mit dem Zusammenhang von Ökonomie und wissenschaftlichem Erkenntnisfortschritt hat Rescher43 sich vor allem ausführlich in der aus dem Jahr 1978 stammenden Schrift „Scientific Progress“ auseinandergesetzt – eine Studie, die deutsch unter dem Titel „Wissenschaftlicher Fortschritt. Eine Studie über die Ökonomie der Forschung“ erschienen ist (Rescher 1982 WF). In ihr legt Rescher – neben vielem anderen – dar, dass es keine guten Gründe für die Auffassung gibt, dass die Wissenschaft von der Natur sich erschöpft und endet, und dass hingegen gute Gründe für die Annahme vorliegen, dass die Entwicklung der Naturwissenschaft sich verlangsame. Potentiell sei die Naturwissenschaft zwar grenzenlos – die Natur ist es (sie liefert unbegrenzt Daten), und der Mensch ist unbegrenzt darin, diese (neu) zu strukturieren. Wissenschaft ist nach Rescher schließlich nicht nur kumulativ und beschränkt sich nicht auf das Sammeln von immer mehr Daten; es gibt in ihr auch (spektakuläre) Neuerungen und Substitutionen (siehe oben). Gleichwohl gibt es Faktoren, die für eine Verlangsamung sprechen: vor allem der erhöhte Aufwand, in reifen Wissenschaften Neues zu entdecken, rapide steigende Kosten (durch zunehmend teurer werdende Technik, von der die Wissenschaften immer stärker abhängig werden) und der Mehraufwand bei der Datenbeschaffung in zunehmend spezialisierten Wissenschaften. Philosophisch von großem Interesse ist aber vor allem auch, ob es kognitive Grenzen der menschlichen wissenschaftlichen Erkenntnisse gibt. Diese Thematik hat Rescher immer wieder beschäftigt. Mit Bezug auf wissenschaftliche Erkenntnisse ist vor allem auf die Studie „Die Grenzen der Wissenschaft“ zu verweisen, auf die oben bereits eingegangen wurde. In der Einleitung formuliert Rescher vier Thesen zu denkbaren kognitiven Grenzen der Wissenschaften: 1) Naturwissenschaften sind unbegrenzt. 2) Sie können (wegen des schon behandelten Themas „wissenschaftlicher Fortschritt“; siehe oben) nie alle ihre Fragen beantworten. 3) Dennoch lassen sich keine konkreten Beispiele für unlösbare Fragen angeben.
|| 42 Vgl. neben den im Haupttext genannten Schriften Reschers beispielsweise auch Rescher 2008 EP, Kap. 3 und Rescher 2009 I, Kap. 5. Hinzuweisen ist ferner auf Texte in Rescher CP V, Rescher CP XI, insbesondere Kap. 5, 7 und 9. 43 Vgl. zum Thema auch Wible 2008.
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4)
Evaluative und andere Fragestellungen können sie – da diese wissenschaftsextern sind – nicht erfolgreich angehen.
Wieso aber ist die Wissenschaft von der Natur Rescher zufolge unbegrenzt? Schließlich ist doch jede wissenschaftliche Erklärung begrenzt, lässt also einiges offen: Einzeltatsachen, Gesetzmäßigkeiten und Wissenschaft insgesamt erscheinen von Grenzen umgeben. Doch ist dies nach Rescher kein Argument für eine prinzipielle Begrenztheit (vgl. zum Folgenden Rescher 1985 GW, Kap. 1). Offengebliebene Einzelheiten könnten (noch) geklärt werden, letzte axiomatische Gesetze seien Teil eines Wissenskorpus, in dem sie eine Erklärung finden könnten oder expliziert werden können – und ein explanatorisches Fundament (als „Untergrenze“) braucht es nach Reschers Wissenschaftsverständnis nicht. Schließlich ersetzt Reschers Theoretische Philosophie insgesamt einen solchen „foundationalism“ durch ein umfassendes kohärentes System. In diesem sind auch Veränderungen in wichtigen Teilen stets denkbar – auch in der Zukunft. Einzuräumen ist ferner, dass die Welt niemals vollständig beschrieben werden kann, da über jedes Objekt in der Welt eine endlose Zahl von Tatsachen festgestellt werden könnte.44 Deskriptive Vollständigkeit ist also unerreichbar. Aber dies bedeutet nicht, dass nicht jede beliebige einzelne Tatsache Gegenstand der Forschung werden kann. Aufgrund der Frage- und Antwortdynamik bleiben also immer Fragen offen, die jedoch künftiger Forschungsgegenstand werden können, meint Rescher. Da zu jedem Zeitpunkt neue Begriffe eingeführt werden können, neue Gesetze formulierbar sind oder neue Klassifikationen vorgeschlagen werden können, bleibt die Naturwissenschaft potentiell grenzenlos. Zwar werde es wohl immer zu einem Zeitpunkt ungelöste Fragen geben, sowie Fragen, die sich in bestimmten Rahmen nicht beantworten lassen – aber auch diese könnten zu einem anderen Zeitpunkt in umfassenderen Rahmen grundsätzlich eine Antwort finden. Nach Rescher (vgl. Rescher 1985 GW, Kap. 5) konvergiert die wissenschaftliche Erkenntnis auch nicht, da immer wieder durchgreifende Neuerungen vonstatten gehen. Schließlich sind alle ihre Erkenntnisse fallibel, obwohl ihre Resultate hinsichtlich der praktischen Leistungsfähigkeit zunehmen (siehe oben und vgl. Rescher 1985 GW, Kap. 6). Einzuräumen ist nach Rescher vor allem aber auch, dass die künftige Naturwissenschaft und ihre Resultate nicht vorhergesehen werden können. Genauere Vorhersagen wissenschaftlicher Entwicklungen und möglicher Grenzverschiebungen hält Rescher angesichts der Flexibilität (und angesichts allgemeinerer prognostischer Schwierigkeiten) für kaum möglich. Ihre künfti|| 44 Vgl. auch Rescher 2009 I, 74.
116 | Reschers philosophisches System gen Fragen basieren schließlich auf ihren bis dahin erzielten Ergebnissen resp. Zwischenresultaten. Das aber spricht wiederum nicht dafür, anzunehmen, dass die Wissenschaften von der Natur begrenzt seien (vgl. Rescher 1985 GW, Kap. 7). Ein weiterer denkbarer „Grenzpunkt“ für die Wissenschaft könnte aber noch vorliegen: nämlich dann, wenn sich ein wissenschaftliches Problem nicht lösen lässt, wenn also eine von der Wissenschaft selbst erzeugte Frage, die in ihren Bereich fällt, dauerhaft und nicht nur vorübergehend offenbleibt (vgl. hierzu Rescher 1985 GW, Kap. 8). Rescher meint, der Nachweis tatsächlich unumstößlicher wissenschaftlicher, unlösbarer Probleme (etwa wie der von R. Du Bois-Reymond) lasse sich nicht führen (so wie E. Haeckel es bereits herausgestellt habe45). Rescher geht vielmehr davon aus, dass man annehmen könne, es ließen sich für alle wissenschaftlichen Fragen Antworten finden – auch wenn dies unter Umständen methodischer Veränderungen in den Wissenschaften bedürfte. Fragen, die über die wissenschaftlichen Kräfte hinausgehen, dürften überdies kaum als wissenschaftliche Fragen ausweisbar sein. Auch wenn die Wissenschaft also immer (einige) offene Fragen mit sich führt, nie alles prognostiziert werden kann und sie mutmaßlich aus theoretischen Gründen nicht an ein Ende gelangt – und damit eben nie vollkommen wird und die Wirklichkeit nie vollständig erkannt werden kann –, so könnte sie aus (oben schon angesprochenen) praktischen Gründen enden. Die Ökonomie könnte also Schranken setzen.46 Zudem bleiben u.a. logische und naturgesetzliche Grenzen (die auch den Computereinsatz betreffen), und die menschliche Aufnahmefähigkeit von Wissen bleibt begrenzt.
Unvorhersagbarkeit der Naturwissenschaften Ein weiterer Aspekt, den Rescher verschiedentlich betont hat, besteht in der Unvorhersagbarkeit der künftigen Naturwissenschaften (vgl. Rescher 1998 PF, 177 ff., Rescher 2001 CM, 64 ff., Rescher 2009 I, 73 ff., Rescher CP XI, Kap. 8).
|| 45 Auf die berühmte Kontroverse zwischen Bois-Reymond und Haeckel ist Rescher des Öfteren zu sprechen gekommen; vgl. zum Beispiel Rescher 2009 I, 69 ff. 46 Rescher spekuliert übrigens außerdem darüber, ob unsere menschliche Wissenschaft nicht durch eine fremde, extraterrestrische Wissenschaft übertroffen werden könnte, also jene extraterrestrische Wissenschaft vergleichsweise fortschrittlicher sein könnte (vgl. Rescher 1985 GW, Kap. 11). Rescher mutmaßt aber, dass eine solche fremde Wissenschaft von unserer zu stark abwiche, als dass ein Vergleich sinnvoll sei, der zu ungunsten der irdischen Wissenschaft ausfiele. Schließlich gibt er zu bedenken, dass die Wissenschaft auf unsere Welt und unsere ökologische Nische zugeschnitten sei, so dass andere extraterrestrische Bestrebungen unvergleichlich seien.
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Zwar besteht die Möglichkeit, aktuelle wissenschaftliche Forschung zu untersuchen und mittels Extrapolation zu einigen Prognosen über ihren künftigen Verlauf zu gelangen, aber da zu jeder Zeit die Möglichkeit zu umfassenderen kognitiven Veränderungen besteht, ist die künftige Entwicklung der Wissenschaften (von der Natur) nicht prognostizierbar. Insbesondere begriffliche Innovationen sind nicht auszuschließen, und Gleiches gilt für wissenschaftliche Revolutionen. Zudem bestehen nach Rescher allgemein große Schwierigkeiten betreffs Vorhersagen über die Zukunft (vgl. hierzu Rescher 1998 PF, 66 f.). Denn wenn man etwas über die Zukunft zu sagen intendiert, kann man lediglich auf bereits gemachte Erfahrungen zurückgreifen, und mithilfe dieser Erfahrungswerte induktiv etwas über Zukünftiges formulieren. Dieser methodische Weg wird aber, so Rescher, nicht deshalb gewählt, weil er in so hohem Maße verlässlich ist hinsichtlich seiner Prognosen, sondern weil kein anderer (besserer) Weg zur Verfügung steht. Sagt man etwas über die Zukunft voraus, beschreibt man, wie man sich diese Zukunft vorstellt. Dabei bestehen Rescher zufolge zwei mögliche Fehlertypen: So können Entwicklungen, die stattfinden werden, gar nicht gesehen werden, und es können Irrtümer über künftige Entwicklungen formuliert werden. Diese Fehlermöglichkeiten können nicht ausgeschlossen werden, meint Rescher. Auch wenn wir im Alltagsleben zahllose Prognosen über (zeitlich nahe liegende) künftige Ereignisse machen, und dabei in der Praxis oft erfolgreich sind, so ändert dies nichts an der grundsätzlichen Schwierigkeit, Prognosen zu erstellen. Gleichwohl geht Rescher davon aus, dass sich sinnvolle Prognosen artikulieren lassen, z.B. im Bereich des Sozialen (vgl. Rescher 1998, 206). Schließlich ist ein weiterer Aspekt zu beachten, der eine Rolle spielt, wenn es um die Frage geht, ob die Wissenschaft an ein Ende kommen kann. Dieser betrifft die enge Verzahnung moderner Naturwissenschaft mit technischen Neuerungen. Bislang führen technische Innovationen, die ihrerseits Folge des wissenschaftlichen Fortschritts sind, zu immer neuen naturwissenschaftlichen Erkenntnissen (zum Beispiel durch verbesserte Computer, Teleskope und andere Beobachtungsinstrumente, Messinstrumente usw.). Eine an ein Ende kommende Naturwissenschaft bedürfte einer perfekten Technik, die nicht weiter verbessert werden könnte und die ihrerseits vollständig kontrolliert werde. Doch damit sei nicht zu rechnen, meint Rescher (vgl. hierzu Rescher 2009 I, 76 ff.).
118 | Reschers philosophisches System Kritische Diskussion zu Reschers Bestimmung des wissenschaftlichen Fortschritts Reschers Überlegungen zur Wissenschaftstheorie sind vielfältig und sprechen eine Reihe von wissenschaftstheoretischen Teilthemen an. Diese verdienten allesamt weitere Erörterungen und Diskussionen. Dies gilt z.B. für eine genauere Fassung der genannten wissenschaftstheoretischen Kriterien und die Rechtfertigung von Methoden der Wissenschaft. Von besonderem Interesse scheint auch Reschers Neukonzeption des wissenschaftlichen Fortschritts, der den Progress in der Pragmatik festzumachen sucht. Aber dies lässt sich weiter kritisch hinterfragen: Bleibt tatsächlich nur die Pragmatik im Sinne von Überlegenheit in der Anwendung als Gradmesser des Fortschritts? Dies scheint nicht generell der Fall zu sein, da Reschers Anwendungskriterium für einige Bereiche der Wissenschaft, die über einen Erkenntniszugewinn verfügen, kaum passt, weil es faktisch keine Verwertung der Erkenntnisse aus diesen Gebieten gibt und ebenso keine verwertbaren Prognosen. Dies betrifft z.B. Theorien – der Paläontologie (über das Aussterben der Saurier oder anderer prähistorischer Tier- und Pflanzenarten), – der Biologie (über die frühen Vorfahren des Menschen), – der Astronomie (über Schwarze Löcher oder die räumlichen Veränderungen weit entfernter Galaxien etc.) und – der Astrophysik (über die Entwicklung des Weltalls in den ersten Sekunden nach dem Urknall oder über das vermutete kältebedingte Ende allen Lebens im All). Bei den genannten Beispielfällen bedingt die zeitliche bzw. räumliche Ferne der behandelten Phänomene, dass es auch künftig keine technologischen Anwendungen derartiger Theorien geben wird. Diese Theorien wären aber nach der Begriffsbestimmung von Rescher nicht als fortschrittlich zu charakterisieren – trotz faktischer Wissenszuwächse. Daran zeigt sich, dass nicht alle naturwissenschaftlichen Bereiche so eng mit Anwendungen verkoppelt sind, wie sie es sein müssten, damit Reschers pragmatische Fortschrittstheorie auf sie sinnvoll anwendbar würde. Diese kann also kaum für die gesamten Naturwissenschaften aufkommen. Doch auch betreffs Theorien, für die Reschers Kriterium anwendbar scheint, bleiben theoretische Probleme bestehen: Bewähren sich bestimmte Theorien im Alltag nicht, könnten Fehler in der (ingenieurwissenschaftlichen) Anwendung der Theorien gemacht werden, ohne dass die angewendete Theorie (die Grundlage der Anwendung) fehlerbehaftet ist. Entsprechend könnte eine „bessere“ Theorie (das ist eine solche, die bei gemäßer Anwendung sich praktisch besser bewährte als ihre Vorgängerin) als nicht fortschrittlich gelten, obschon sie es
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wäre, was erkennbar würde, wenn die Anwendungsfehler vermieden würden. Umgekehrt könnte Reschers Überlegungen zufolge eine Theorie als fortgeschrittenere im Vergleich zu einer anderen gelten, weil ihre Fehler in der Anwendung (noch) nicht zutage getreten sind bzw. diese Anwendungen den Fehler kompensieren. Analoges kann auch bei Prognosen nicht ausgeschlossen werden. Erschwerend kommt hinzu, dass es strittig sein kann, welche Prognosen sich tatsächlich aus einer Theorie ergeben. Schließlich müsste auch klar gezeigt werden, was als ein technischer Fortschritt gilt und was nicht – schließlich gilt auch hier, dass Veränderung nicht gleichbedeutend ist mit Fortschritt. All dies legt nahe, naturwissenschaftlichen Fortschritt zumindest nicht allein nach pragmatischen Erfolgskriterien zu bestimmen – zumal, wissenschaftshistorisch betrachtet, die technische Umsetzbarkeit in den Naturwissenschaften zumindest bis zur Renaissance keineswegs durchweg eine nennenswerte Rolle spielte. Das Einpassen des technischen Fortschritts in ein kohärentes philosophisches System scheint demnach komplexer zu sein als „Die Grenzen der Wissenschaft“ annehmen. Neben dem pragmatisch sichtbar werdenden Erfolg scheinen weitere Kriterien sinnvoll in Anschlag zu bringen sein (Einfachheit, Voraussetzungsarmut, theoretische Fruchtbarkeit bzw. Erklärungskraft). Gleichwohl dürfte Rescher ein neues Kriterium in den wissenschaftstheoretischen Diskurs eingeführt haben, was den zuvor diskutierten wissenschaftlichen Wert der Fruchtbarkeit einer Theorie um einen wichtigen Aspekt bereichert.47 Was Reschers Überlegungen zu einem denkbaren Ende der wissenschaftlichen Forschung und des wissenschaftlichen Fortschritts betrifft, so könnte man unter anderem hinzufügen, dass die Menschen das Interesse an weiterer Forschung verlieren oder zu der Auffassung gelangen, sie hätten alles für sie wichtige erforscht. Oder, etwas abgeschwächt, sie könnten zu der Meinung gelangen, dass ein weiterer wissenschaftlicher Fortschritt ab einem bestimmten Punkt den immensen Aufwand nicht mehr lohne, so dass die Forschungsaktivitäten nicht mehr weitergeführt werden. All diese Punkte scheinen aber kaum mit Reschers anthropologischen Annahmen zusammenzupassen. Gleichwohl ist nicht auszuschließen, dass Derartiges passieren könnte. Insgesamt scheint all dies recht spekulativ bzw. zu spekulativ, nämlich insofern, als dass die Naturwissenschaften eben in ihrem Fortgang nicht vorhersagbar sind.
|| 47 Reschers Kriterium scheint zudem ein exzellentes Kriterium für den Fortschritt in den Ingenieurwissenschaften darzustellen.
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4.5 Metaphysik Metaphysische Überlegungen sind ein zentraler Bestandteil des philosophischen Systems von Rescher. Seine Metaphysik48 ist eine realistische, die (siehe oben) in Reschers System mit einem Idealismus, aber auch mit pragmatischen Gedanken verbunden ist.
Metaphysik: Themen und Begriffsverständnis von Rescher Neben den zentralen metaphysischen Fragen nach der Wirklichkeit im Allgemeinen enthalten Reschers Beiträge zur Metaphysik auch Überlegungen zu grundlegenden Kategorien der Wirklichkeit, zur Komplexität der Realität, zur Naturgesetzlichkeit, zum Begriffspaar „Möglichkeit-Unmöglichkeit“ und damit zum Thema „mögliche Welten“ sowie zur Frage danach, ob die Wirklichkeit als vernünftig charakterisiert werden kann. Dabei geht die Metaphysik in die Ontologie über, die Rescher als Teil der Metaphysik betrachtet. So gibt es für Reschers Metaphysik besonders wichtige ontologische Termini (natürlich, künstlich, weltlich, außerweltlich bzw. überweltlich, real, fiktional, physisch, psychisch bzw. mental, notwendig, kontingent) und Protokategorien (Ursache/Wirkung, Substanz/Prozess, Vorbedingung/Ergebnis, aktiv/passiv, Art/Gattung, Einheit/Vielheit, Fall/Klasse; vgl. Rescher 2008 BV, 154 f.). Aber auch andere allgemeine Klassifikationsbegriffe sind ontologisch relevant. Eng verbunden mit metaphysischen Themen sind bei Rescher also ontologische Überlegungen – Rescher vertritt eine Prozessontologie als Alternative zu einer Substanzontologie (siehe Kap. 4.6) –, aber auch wissenschaftstheoretische und erkenntnistheoretische Positionen, die sich mit der Frage der Erkennbarkeit der Realität bzw. mit den Grenzen der Erkennbarkeit der Wirklichkeit befassen. „Metaphysik“ wird dabei von Rescher als Untersuchung der Existenz auf höchster Allgemeinheitsstufe verstanden (vgl. Rescher 2006 M, 13, Rescher 2008 BV, 149); in ihr geht es um die angemessene Erfassung des Begriffs der Existenz sowie die mit diesem Begriff verbundenen weiteren wichtigen Begriffe und Prinzipien. Dabei erweisen sich Gedanken über die Natur und Vernünftigkeit der Wirklichkeit, die Unterscheidung des Realen vom Irrealen sowie zur Möglichkeit als besonders wichtig (vgl. Rescher 2006 M, 13). Darüber hinaus ist – aufgrund der Komplexität der Wirklichkeit – die Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen der Erkennbarkeit der realen Welt für Rescher höchst bedeutsam,
|| 48 Vgl. zur Metaphysik von Rescher auch Marsonet 2008, Kap. 6.3, und Jarowski 2008.
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womit die Schnittstelle zur Erkenntnistheorie und Wissenschaftstheorie benannt ist (siehe Kap. 4.3 und 4.4).
Wirklichkeit und Essenz Die Wirklichkeit ist, wie Rescher darlegt, sehr komplex und vielschichtig. Es gibt seines Erachtens die verschiedensten Arten von „Dingen“, die sich als Teil der Wirklichkeit erfassen lassen: physische Gegenstände als Teil der raumzeitlichen Welt mit ihrer kausalen Struktur, mathematische Entitäten in einem „Reich“ von Quantitäten und Strukturen, Wahrnehmungsgegenstände oder -eigenschaften (wie z.B. Farben oder Gerüche), Begriffe in einem „realm of ideas“ und weitere (vgl. Rescher 2006 M, 17). Was es gibt, gehört demnach verschiedenen Kategorien an, meint Rescher, und kann mithilfe solcher Kategorien näher charakterisiert werden.
Beobachtbarkeit und Konzeptualisierbarkeit Im Mittelpunkt stehen dabei aufgrund ihrer besonderen Wirklichkeit konkrete Dinge. Für die Annahme ihres Vorhandenseins ist Beobachtbarkeit eine hinreichende Bedingung, aber keine notwendige (wie es ein radikaler Empirismus annimmt). Nach Rescher ist letztlich all das unter den konkreten Objekten als existierend anzunehmen, was in den jeweils besten verfügbaren Erklärungen als existierend unterstellt wird. Neben der Beobachtbarkeit tritt also Konzeptualisierbarkeit als zweite denkbare, hinreichende Bedingung der Existenz einzelner raum-zeitlicher Gegenstände hinzu. Da mathematische oder andere abstrakte Gegenstände nicht deshalb als vorhanden betrachtet werden, weil sie beobachtbar wären – denn dies sind sie nicht –, sondern weil sie konzeptionalisierbar sind und in Erklärungen Verwendung finden, lässt sich das Existenzkriterium der Konzeptionalisierung laut Rescher auf mehrere Bereiche übertragen. Offensichtlich ist wiederum sein Kohärentismus einschlägig.
Abstrakta Angesichts dieser Überlegungen stellt sich zudem die Frage, wie es in Reschers Überlegungen um die Abstrakta bestellt ist, denn „abstrakte Gegenstände“ bedürfen offensichtlich ebenfalls eines Geistes, der sie erzeugt, bzw. eines Sprachverwenders, der sie mittels Bildung oder Verwendung abstrakter Begriffe hervorbringt. Geometrische Figuren, Zahlen, Formen oder abstrakte Handlungstypen („types“, nicht „tokens“) bedürfen keiner materiellen Realisation, also nicht eines Vorhandenseins als konkretes Objekt: Sie „existieren“ nur als abs-
122 | Reschers philosophisches System trakte Entitäten, meint Rescher (vgl. Rescher 2006 M, 209) – ihnen liegen keine individuellen Gegenstände zugrunde.
Existenz, Erklärung und Erkenntnis Wovon aber kann man dann sagen, dass es existiert? Nach Rescher existiert, was eine aktive kausale Rolle in der Welt spielt (und dazu gehören unter anderem auch Eigenschaften und Relationen) und was eine Rolle in einer Erklärung von etwas Existierendem spielt – weshalb z.B. auch Abstrakta zum Existenten dazuzählen können. Dies schließt aber das Zutreffen der Annahme, fiktionale Gegenstände existierten, für Rescher offenbar aus. Dazu tritt für Rescher noch ein weiterer Aspekt: Um von etwas sagen zu können, es existiere, muss es erkennbar resp. kognitiv und konzeptualisierbar zugänglich sein. Das bedeutet nach Rescher jedoch nicht, dass es für Menschen kognitiv zugänglich sein muss – eine solche Auffassung könnte nicht kohärent mit dem Gesamtsystem von Rescher zusammenpassen und würde den von ihm angenommen Realismus sehr nah an den Antirealismus (z.B. von M. Dummett) heranbringen. Da Rescher nicht ausschließt, dass es eine andere als die menschliche Intelligenz gibt, also nicht menschliche intelligente und erkennende Wesen vorhanden sind, wird von ihm Dasjenige als existierend betrachtet, was der Erkenntnis irgendeines intelligenten Wesens zugänglich ist (vgl. Rescher 2006 M, 24 ff., bes. 28 f.). Damit wird „sein“ und „erkennbar sein“ identisch, was zu Reschers Idealismus passt, ohne dass die Realität existierender Dinge in einem nicht mehr als realistisch zu verstehenden Rahmen limitiert wird. Reale Dinge – und nicht nur Dinge, wie sie uns (Menschen) erscheinen – sind nach Rescher auch die Gegenstände unserer Kommunikation bzw. unserer Intentionen, wenn wir miteinander über etwas sprechen (vgl. Rescher 2006 M, 29 ff.). In dieser Hinsicht sind reale Gegenstände auch vorausgesetzt für den sprachlichen Gedankenaustausch zwischen Menschen (siehe hierzu auch das Kap. 4.8). Geht es um die sprachliche Bezugnahme auf Bestandteile der Welt wie z.B. Einzeldinge oder Ereignisse – also um die Referenz von Termini auf Dinge oder das Bezugnehmen auf Geschehnisse, die real sind und nicht nur als täuschende Erscheinung vorliegen –, wird von einer sehr grundlegenden Voraussetzung bzw. sprachlichen Konvention Gebrauch gemacht. Kommunikation bedürfe nicht nur der gleichen Begrifflichkeit, sondern auch der gleichen thematisch werdenden Gegenstände oder Ereignisse („topics“, vgl. Rescher 2006 M, 31) in der geteilten Welt.
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Existenz der Welt als pragmatische Präsumtion Dabei habe die Unterstellung der gemeinsamen Realität einen apriorischen Status: Die gemeinsam erfahrene Welt wird von vornherein unterstellt – ihre Idee ist eine Präsumtion (Rescher 2006 M, 33). Wir unterstellen für unsere Kommunikation eine objektive Welt bzw. Realität, was wiederum mit Reschers Pragmatismus kohärent ist. Realität wird nicht erst qua Deduktion erschlossen und kann auch nicht vermittels deduktivem Vorgehen erschlossen werden, sondern wird im Vorhinein als Gegebenheit akzeptiert, damit Erfahrungen (von der Realität) möglich werden (vgl. Rescher 2006 M, 161 f.). Die Annahme einer realistisch verstandenen Wirklichkeit erfolgt also aufgrund pragmatischer Erwägungen (vgl. Rescher 2006 M, 164), jene Präsumtion der realen Welt, die unabhängig von unserem Geist existiert, basiert letztlich auf einer „pragmatic resource“ (Rescher 2006 M, 175). Gleichwohl ist dies nach Reschers Überzeugung keine letztlich ungerechtfertigte Entscheidung, denn die Unterstellung der realen Welt und ihrer Gegenstände sowie der in ihr vorhandenen Vorgänge lässt sich, so Rescher, aufgrund der Erfolge und des Nutzens der Annahme im Nachhinein rechtfertigen (vgl. Rescher 2006 M, 176 ff.). Diese Grundunterscheidung ist mit diesem (wissenschaftlichen) Erwerb von Kenntnissen der Welt, die lebensnotwendig sind, vereinbar, womit die Brücke zu Reschers anthropologischen, epistemologischen und wissenschaftstheoretischen Ansichten geschlagen ist.
„Reale Dinge“ Führt man den zuletzt wiedergegebenen Gedanken mit dem vorher Ausgeführten zusammen, ergibt sich nach Rescher eine umfassende Charakterisierung realer Dinge. Als ein „Etwas“ haben reale Dinge eine gewisse Einheit, und sie haben einen Platz in der Welt der Kausalitäten, sie sind „öffentlich“ (also intersubjektiv) zugänglich und bestehen unabhängig vom Geist („mind“) in dem Sinne, dass sie nicht durch den Geist erschaffen, sondern entdeckt werden, und dass man etwas über sie lernen kann. Beachtenswert an dieser Bestimmung von Rescher ist vor allem, dass sie eine sehr große Bandbreite von Dingen für existierend erklärt. Gemäß dem zuvor bereits Gesagten werden die Existenzannahmen nicht auf Annahmen über die Existenz von materiellen Dingen beschränkt. Auch Zahlen, Mengen, Eigenschaften, Relationen oder Prozesse können so als Realitäten aufgefasst werden, die Teil der Rescherschen realistisch verstandenen Welt sind, und trotz der ontologisch betrachtet unabhängig vom (menschlichen) Geist gedachten Existenz von dem Menschen erkannt werden können (vgl. Rescher 2006 M, 35).
124 | Reschers philosophisches System Metaphysik, Ontologie und Erkenntnis in pragmatischer Hinsicht Dabei wird – aus pragmatischen Gründen – die vorgängige ontologische These als Vorbedingung der nachgeschalteten erkenntnistheoretischen Annahme akzeptiert; jene ontologische Annahme ermöglicht, so Rescher, dass wir objektive Erkenntnisse von der Welt erhalten können. Der Realismus in der Metaphysik bzw. der Ontologie erhält damit eine funktionale Begründung. Ist erst einmal jenes Postulat der Realität auf pragmatischer Grundlage akzeptiert, gestattet dies eine systematische Erforschung und Erfassung der Welt, die zu begründeten Annahmen zu führen vermag. Dies ist deshalb möglich, weil unser Begriffssystem auf die Welt Anwendung finden kann. Aufgrund von gemeinsamen Nützlichkeitserwägungen ergibt es sich, dass die Unterstellung der Realität zur Erforschung der Welt ein mehr als geeignetes Mittel darstellt. Der pragmatische Nutzen der metaphysischen Vorannahmen zeigt sich nach Reschers Ansicht im Folgenden: 1) Wir können über die Realität sprechen, also auf sie Bezug nehmen, sowie zwischen Wahrheit und Falschheit im Sinne der Korrespondenz differenzieren. 2) Es lassen sich ferner mithilfe der unterstellten Realität die bloße Erscheinung und die faktische Wirklichkeit voneinander unterscheiden. 3) Damit kann eine intersubjektiv verbindliche Kommunikation in Gang kommen und erhalten werden (da es eine objektive Bezugsgröße gibt und nicht nur subjektive, sprecherrelative Eindrücke als Bezugspunkte vorhanden sind), die sich 4) als gemeinsame Realität darstellt, die gemeinsamer Forschungsgegenstand werden kann. 5) Es kann mithilfe der metaphysischen Annahme der Realität Rescher zufolge gewährleistet werden, dass es Wahrheiten gibt, denen es nachzuforschen lohnt – eben Wahrheiten über die objektiv vorhandene Wirklichkeit. Dies wiederum kann 6) auch noch dafür aufkommen, dass das Wissen von der Welt fallibel ist; und 7) schließlich wird diese Welt nicht als vom Geist erzeugt aufgefasst (vgl. Kap. 4.3.2); damit wird sie in ontologischer Hinsicht also unabhängig von uns verstanden, so dass die Menschen bzw. die intelligenten Lebewesen sich über sie täuschen können. Dies hängt wiederum damit zusammen, dass die Menschen resp. die intelligenten Wesen mit der Welt interagieren, und zwar beim (naturwissenschaftlichen) Forschen auf kausale Art und Weise, indem sie durch Erfahrungen in der Welt lernen (vgl. hierzu Rescher 2006 M, 36-43).
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Reschers Metaphysik: Realismus und Idealismus Mithilfe dieser Erläuterungen zum ontologischen Realismus von Rescher kann auch verdeutlicht werden, wie sein Idealismus zu seiner Metaphysik passt. Reschers Realismus resultiert, wie oben dargestellt wurde, aus methodischen Entscheidungen – und dies gilt auch für seinen Idealismus (vgl. Rescher 2006 M, 47). Denn dieser Idealismus bestreitet schließlich nicht die Existenz materieller Gegenstände, die unabhängig vom Geist existieren. Die Teile der materiellen Welt und ihr Interagieren untereinander gelten in Reschers Version des Idealismus nicht als geistig verursacht. Diese Bestandteile der Welt werden vielmehr als Ursache von Wahrnehmungen verstanden. Gleichwohl vertritt Rescher damit eine idealistische Position: Die Vorstellung einer Welt, die von Naturgesetzen beherrscht und angefüllt mit materiellen Gegenständen ist, ist eine „idea of ours“ (Rescher 2006 M, 48), also selbst eine Idee, die wiederum aufgrund pragmatischer Zwecksetzung gewählt resp. theoretisch akzeptiert wird. Zusammengefasst heißt dies: Reschers „approach endorses an object-level realism that rests on presuppositional idealism at the justificatory infralevel“ (Rescher 2006 M, 48). Der in Reschers Metaphysik integrierte Realismus gründet auf einem Idealismus, der aus pragmatischen Gründen als Methode gewählt wird. Damit ist und bleibt aber ein realistisches Verständnis der Welt vorhanden, was die Frage nach sich zieht, wie die Welt erfasst werden kann. Konkreter formuliert ist dies für Rescher im Rahmen der Metaphysik die Frage nach den ontologischen Kategorien, mit deren Hilfe die Welt allgemein eingeteilt werden kann.
Kategorien Kategorien werden – wie bei Aristoteles – mit allgemeinen Fragen korreliert bzw. – wie bei G. Ryle – durch sinnvolle Möglichkeiten des Austausches von Begriffen gebildet (vgl. Rescher 2006 M, 52). Gleiche begriffliche Möglichkeiten der Beantwortung einer Frage bzw. nicht zu beanstandende Ersetzung von Begriffen verweisen darauf, dass dasjenige, was ausgetauscht bzw. ersetzt werden kann, in eine Kategorie fällt. So gehören z.B. „rot“ und „grün“ in dieselbe Kategorie der Farben, weil ein Austausch der Wörter in „Gras ist grün“ zu „Gras ist rot“ einen sinnvollen neuen Satz ergibt – wenngleich einen falschen. Würde statt „grün“ nun „launisch“ eingesetzt und ein Satz wie „Gras ist launisch“ gebildet, ergibt sich ein sinnloser Satz. Daher gehört „launisch“ in eine andere Kategorie als die genannten Farbprädikate. Metaphysisch von Relevanz sind für Rescher allerdings die Kategorien, die in hohem oder höchstem Maße als allgemein zu betrachten sind. Rescher listet eine Reihe solcher kategorialer Bestimmungen zusammen mit den korrelieren-
126 | Reschers philosophisches System den Fragen, den sogenannten „Proto-Categorial-Questions“, auf (vgl. Rescher 2006 M, 56). Zu diesen Kategorien gehören die der Substanz, der Quantität, der Art (im Sinne einer Qualität), der Eigenschaft, der Relation, der Zeit und des Raumes, der Ursache, des Zweckes, der Position im Sinne von Unterordnung bzw. Einordnung, der Zusammensetzung, des Prozesses, der Ursache, der Funktion bzw. des Ziels und andere mehr.49 Sie werden von Rescher als Teil eines Begriffsschemas betrachtet.
Begriffsschemata Von besonderer Bedeutung für Rescher ist in diesem Rahmen der Metaphysik darüber hinaus die Frage, ob es eine Mehrzahl verschiedener Begriffsschemata gibt oder ob nur ein Begriffsschema vorhanden ist. Daher setzt er sich kritisch mit D. Davidsons These auseinander, nach der die Rede von verschiedenen Begriffsschemata als nicht sinnvoll zurückzuweisen wäre (vgl. Rescher 2006 M, 59 ff. und Rescher 1994 SPI, Kap. 4). Rescher zufolge sind Differenzen zwischen begrifflichen Schemata aufgrund kultureller Unterschiede anzunehmen, da in verschiedenen Kulturen aus verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten grundlegend verschiedene Erklärungen verwendet wurden. Davidson hatte bekanntlich dafür argumentiert, dass – kurz gesagt – ein fremdes Begriffsschema, um als solches überhaupt identifiziert werden zu können, übersetzbar zu sein hat. Damit aber ist es Davidson zufolge nicht fremd in dem Sinne, dass es eine unverständliche Alternative zu dem je eigenen Begriffsschema sein kann. Folgt man hingegen Rescher, ist das entscheidende Element nicht das der Übersetzbarkeit, sondern das der Interpretierbarkeit. Wir müssten lediglich einige der fremden Äußerungen paraphrasieren können und in der Lage sein, es vermittels Interpretationen in Teilen zu rekonstruieren – und dies schließt massive Unterschiede zwischen den Begriffsschemata nicht aus (vgl. Rescher 2006 M, 63).
Güte eines Begriffsschemas: Kategorisierungsleistung Gleichwohl könne man nicht davon ausgehen, dass die divergierenden Begriffsschemata allesamt von gleicher Güte wären. Begriffsschemata identifizieren und klassifizieren Unterschiede – und dies kann auf verschiedene Art und Weise als fehlerhaft geschehen. Formale Fehler bestehen nach Rescher etwa in mangelnder Präzision, fehlender Eindeutigkeit in der Zuordnung und ungenü|| 49 Vgl. hierzu die Übersichten in Rescher 2001 CM, 47 resp. 50, und Rescher 2008 BV, 153.
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gender Erschöpfung des jeweiligen Gegenstandsbereichs; inhaltlich fehlerhaft sind unanwendbare, triviale oder zwecklose Kategorisierungen. Denn Kategorisierungen dienten schließlich pragmatischen Zwecksetzungen; sie werden Reschers Auffassung nach verwendet, um die Wirklichkeit zu erfassen bzw. ihre Teile zu ordnen. Diese Einteilung bleibt Rescher zufolge zwar unvollständig, weil schon einzelne Teile der Welt zahllose Eigenschaften und Relationen aufweisen und so auf zahllose Weise beschrieben resp. erfasst und kategorisiert werden können – trotzdem könnten Einteilungen unterschiedlich umfassend sein.
Kategorisierungen: Ebenen und Kriterien Die Kategorien können gemäß Reschers Auffassung immer auch auf verschiedenen Ebenen der Abstraktion gebildet werden (Buchstaben, Silben, Wörter, Sätze, Absätze, Kapitel, Bücher, Bücherkategorien, Bücher in Einzelsprachen etc.; vgl. Rescher 2006 M, 90) und verschiedene Kriterien verwenden; dieser Vorgang der Kategorieneinteilung und -bildung ist daher nicht beschränkt. Dinge haben insofern nach Rescher eine unbegrenzte „cognitive depth“ (Rescher 2006 M, 92), die – selbst bei begrenzten Datenakquisitionen – auch dafür aufkommt, dass Kategorienbildungen immer weiter (im Zuge der Forschung) verbessert werden können. Unter anderem aus diesem Grund kann die wissenschaftliche Forschung im Prinzip unbegrenzt weitergehen, sofern nicht andere Faktoren dies unterbinden (vgl. Kap. 4.4). Unser Wissen von der Welt kann grundsätzlich endlos erweitert und verbessert werden, es können immer neue Eigenschaften und Relationen entdeckt werden, und es können immer neue Zusammenhänge in falliblen Gesetzesformulierungen zu erfassen versucht werden.50
„Möglichkeit“ und „Unmöglichkeit“ Welche Rolle spielt nun aber im Rahmen dieser Realismus, Idealismus und Pragmatismus vereinigenden Konzeption der Begriff der Möglichkeit, der nach Rescher zu den Kernbegriffen der Metaphysik zählt, und der Gegenbegriff der Unmöglichkeit? Und welche Bedeutung kann im Rahmen dieses Systems „Nicht|| 50 Allerdings besteht nach Rescher keine Verpflichtung auf eine Ding- oder Substanzontologie. An deren Stelle kann seines Erachtens eine Prozessontologie treten. Dies schränkt die zuvor gemachten Ausführungen aber nicht ein, da auch Prozesse klassifiziert werden könnten, ihre Eigenschaften und Relationen Gegenstand der Forschung sein könnten, und weil diese Prozesse naturgesetzlich erfasst werden könnten. Siehe zu Reschers Prozessontologie Kap. 4.6.
128 | Reschers philosophisches System existierendes“ spielen? Wie verhalten sich diese metaphysischen Begriffe zu Reschers Realismus? Diesen Fragen wendet Rescher sich in Kap. 9 seiner Studie „Metaphysics. The Key Issues from a Realistic Perspective“ zu. Dabei bestimmt er passend zu seinem philosophischen System etwas als „möglich“, wenn es logisch konsistent und begrifflich kohärent ist. Nicht verwirklichte Möglichkeiten lassen sich als hypothetische Varianten vorhandener „features“ charakterisieren – doch dies erschöpft den philosophischen Begriff der „possibilia“ (der nichtwirklichen, aber möglichen Objekte) nicht. Abgelehnt wird allerdings die Vorstellung von „impossibilia“ (wie Rescher sie A. Meinong zuschreibt, der meinte, „runde Vierecke“ könnten zwar nicht existieren, aber „subsistieren“). Selbstwidersprüchliche impossibilia (wie z.B. „kinderlose Eltern“), die auf logisch inkonsistenten Begriffsbildungen beruhen, gelten Rescher als sinnlos, weil sie unverständlich sind (vgl. Rescher 2006 M, 200). Possibilia hingegen können sinnvoll sein; sie werden nicht entdeckt (wie Fakten oder Sachverhalte, die wirklich sind), sondern festgelegt. Infrage kommen hier mögliche Dinge, aber vor allem auch mögliche Sachverhalte.
Fiktive Figuren, Quasi-Existenz und mögliche Welten Unter den möglichen Dingen haben vor allem die bereits erwähnten fiktionalen Charaktere besondere Aufmerksamkeit erfahren. Hier ist es nach Rescher fraglich, ob z.B. fiktionale Personen bzw. Figuren als nicht-existierende Einwohner einer möglichen Welt aufgefasst werden (wie von P. van Inwagen), oder ob man ihnen diesen „quasi-existenziellen“ Status absprechen sollte. Rescher votiert entschieden für diese letztgenannte Position: Hamlet, der Osterhase und der gegenwärtige König von Frankreich sind nicht real, sondern bloße Gedankenobjekte bzw. Diskussionsgegenstände. Diskurse erzeugen keine realen Objekte (vgl. Rescher 2006 M, 202); Diskurse verleihen keinerlei authentische Existenz, kommen also nicht für eine Existenz außerhalb des Denkens und Sprechens auf. Insofern sei die Rede von der Existenz im Sinne einer Quasi-Existenz in einer möglichen Welt aufzugeben. Eine Figur in der Vorstellung, in Gedanken oder auch in Diskursen zu sein führt allein nicht zur Existenz oder „SemiExistenz“, meint Rescher. Würden fiktive Dinge und Wesen Teil unserer Ontologie, würde diese „uncomfortably large“ (Rescher 2006 M, 203) – schließlich wären neben mythologischen Wesen, Hexen, Osterhasen auch ideale Gase oder perfekte Motoren – und vieles andere mehr – aufzunehmen (vgl. Rescher 2006 M, 203). Hier empfiehlt sich aus pragmatischen Überlegungen daher nach Rescher die Anwendung von „Ockhams Rasiermesser“. Das besagt: Zweifelsohne können die genannten
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Figuren und Dinge in Diskursen thematisiert werden, aber dies allein verleiht eben keinen besonderen ontologischen Status – sie sind per Definition schlicht unwirklich bzw. irreal. Denn jene „non-existent“ Entitäten der Fiktion sind nur in einem abgeleiteten Sinne vorhanden – in Abhängigkeit vom Geist bzw. Sprachgebrauch (vgl. Rescher 2006 M, 207). Es mag reale Gedanken von ihnen geben oder reale Überzeugungen von ihnen – aber nicht sie selbst (vgl. Rescher 2006 M, 210; vgl. auch Rescher 1998 CPP, 37 f., wo Rescher meint, es gebe keinen Bedarf, fiktionalen Figuren einen besonderen ontologischen Status zuzuschreiben). Um dies zu erklären, bedarf es nicht der Annahme einer QuasiExistenz oder der Hypothese nicht-existierender möglicher Objekte („possibilia“). Demgemäß haben solche fiktionalen Figuren, Tiere oder Gegenstände anders als reale Dinge, Lebewesen und Personen auch nur eine begrenzte „descriptive depth“ (Rescher 2006 M, 212), über sie lassen sich nur begrenzt viele Fragen stellen, da ihre Details (Merkmale) durch ihren jeweiligen fiktionalen Kontext eng begrenzt sind. Über Don Quichotte beispielsweise kann man (sieht man von Typus-Eigenschaften ab) nur so viel aussagen wie Cervantes erzählt hat. Fiktive Gestalten verfügen nicht über die Potentiale realer Personen, jene sind also weniger komplex als diese, da letztgenannte, also reale und damit begrenzte Personen jene fiktiven Gestalten hervorbringen: „The cognitive depth of fiction is always finit because – unlike reality – it is a finite product of a finite mind“ (Rescher 2006 M, 213).
„De re“ und „de dicto“ Ist der ontologische Status fiktiver, möglicher aber nicht realer Gegenstände und Personen geklärt, so ist damit die Diskussion um Möglichkeiten im Allgemeinen noch nicht beendet. Denn es besteht ja neben den bloß möglichen fiktionalen Gegenständen noch die Option, dass anderes möglich ist (siehe oben). Um diese weitergehende Thematik zu klären, erinnert Rescher zunächst an die Unterscheidung von „de re“ und „de dicto“. „De-re-possibilia“ meinen nicht wirkliche Dinge – Dinge, die aber real existieren könnten, „de-dicto-possibilia“ oder Zustände betreffen hingegen die sprachliche Formulierbarkeit möglicher, aber nicht wirklicher Gegenstände. Aufgrund des zuvor Ausgeführten ist klar, dass jene bloß propositionalen oder sententialen de-dicto-possibilia für Rescher keine Probleme darstellen, da sie keine Existenz von Dingen oder Personen, also von Einzeldingen überhaupt, behaupten. Anders verhält es sich mit den dere-Possibilia, die von den de-dicto-possibilia weder vorausgesetzt noch impliziert werden, da diese nur das Sprechen, also den Sprachgebrauch, beträfen. Diskurse über mögliche nicht-wirkliche Dinge oder Zustände erzeugen, wie
130 | Reschers philosophisches System bereits festgehalten wurde, keine Dinge oder Zustände, und Gleiches gilt für fiktionale Texte. De-re-possibilia verhalten sich dagegen auf andere Weise – hier geht es um die Hypostasierung von Objekten. Aber: Möglichkeiten für nicht aktuale Objekte sind keine Aktualitäten bloß möglicher Objekte (Rescher 2006 M, 215: „Possibilities for unactualized objects are not actualities for possibilized objects“). Bloß möglichen Objekten kommt daher ganz allgemein kein ontologischer Status im Sinne einer Existenz zu. Sie verdanken sich – und bleiben abhängig von – geistigen Zuständen, Intentionen oder (ausformulierten) Gedanken. Bezüglich fiktionaler oder nur möglicher Objekte ist Rescher demzufolge Nominalist (vgl. Rescher 2006 M, 222). Erzählungsabhängige Figuren etc. verwandeln sich nicht in erzählungsunabhängige mögliche Objekte; sie führen keinerlei schattenartiges „Quasi-Leben“. Kurz gesagt: „no languages: no discussion, no discourse, no ‚creatures of the mind‘“ (Rescher 2006 M, 223). De-repossibilia brauchen demzufolge nicht nur de-dicto-possibilia, sondern sind auf diese zurückzuführen bzw. zu reduzieren. Fiktionale bzw. mögliche Objekte sind demzufolge keine genuinen Objekte (vgl. Rescher 2006 M, 224 f.), sie sind und bleiben bloße Gedankenobjekte.
Mögliche Welten In der modernen Metaphysik, wie sie insbesondere von Vertretern der jüngeren Analytischen Philosophie (z.B. von S.A. Kripke oder D. Lewis) entwickelt wurde, wird neben einzelnen möglichen, nicht realen Dingen vor allem von möglichen Welten gesprochen. Sie werden eingeführt, um sprachphilosophische oder wissenschaftstheoretische Probleme zu lösen51, aber auch um näher zu klären, was „notwendig“ oder „möglich“ bedeutet. Im Rahmen seiner metaphysischen Diskussionen um diese Begriffe sieht Rescher diese Entwicklung und ihre Resultate sehr kritisch (vgl. Rescher 2006 M, Kap. 19)52. Solche möglichen Welten müssen mögliche individuelle Dinge resp. Objekte enthalten, konsistent sein – und diese Entitäten müssen darüber hinaus auch identifizierbar bzw. beschreibbar sein. Hierin liegt nach Reschers Sicht der Dinge die Schwierigkeit: dass sie nicht vollständig beschreibbar sind. Entweder werden diese Mögliche-Welten-Konzeptionen in unvertretbar hohem Maße spekulativ – nämlich wenn man mögliche Welten wie D. Lewis als Gegenstücke zur realen Welt konzipiert, die uns kognitiv nicht zugänglich sind. Hier
|| 51 Vgl. zum Beispiel: Kripke, S.A.: Name und Notwendigkeit. Frankfurt/Main 1981. 52 Vgl. weiterhin Rescher 2001 CP, Kap. 10, Rescher 2008 EP, Kap. 9.
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stellt sich die kritische Frage, wie man eine solche Gegenstück-Welt korrekt identifizieren können soll (vgl. Rescher 2006 M, 235). Jeder Beginn einer Veränderung in der möglichen Welt im Vergleich zur realen Welt zöge eine weitere Veränderung nach sich – etwa eine auf die jeweiligen Ursachen der Veränderung bezogene. Diese setze einen nicht-abschließbaren Prozess in Gang. Wir können keine ganze Welt neu erzeugen – zu vieles bliebe offen und es verblieben bloße Vermutungen oder Postulate. Oder man fasst mögliche Welten bloß als Satzmenge(n) auf, dann aber verfehle man die Erzeugung einer Welt von Dingen, Ereignissen und Vorgängen. Daher sind Konzeptionen möglicher Welten grundsätzlich für Rescher problematisch; beide Weisen ihrer Erzeugung sind nicht ohne grundlegende Schwierigkeiten. Aber dies ist in den Augen von Rescher nicht gravierend, weil man in der Metaphysik auf mögliche Welten mühelos verzichten kann, denn das Phänomen der Kontingenz lässt sich, folgt man Rescher, auch ohne ihre Hilfe zufriedenstellend metaphysisch klären. Schließlich kann man mögliche Szenarien entwerfen, hat also Möglichkeiten zur Erklärung von Zufälligem bzw. Kontingentem, ohne auf nicht wirkliche mögliche Dinge zurückzugreifen. Die genannten de-dicto-Möglichkeiten sind für Rescher allein ausreichend, um den Begriff des Kontingenten bzw. Zufälligen zu erläutern – und dies zieht keine de-repossibilia nach sich: Andere Möglichkeiten (in) dieser Welt lassen sich erklären, ohne den Versuch zu machen, auf andere mögliche Welten zu rekurrieren. So könnte Caesar sich anders verhalten haben als er sich tatsächlich verhalten hat – aber dies zu behaupten, macht es nicht notwendig, einen möglichen Caesar zusätzlich zur historisch-realen Person anzunehmen und in Erklärungen zu verwenden. Täte man dies, müsste man gemäß der Bestimmung der Dinge, die in der Ontologie ihren Platz haben, jenen möglichen, aber nicht realen Caesar aufnehmen. Aber dergleichen ist gar nicht vonnöten, und bloß möglichen Dingen braucht eben laut Rescher keine besondere Existenz- oder Subsistenzweise zugeschrieben zu werden. Für Reschers realistische Ontologie sind sie daher aufgrund der wiedergegebenen Überlegungen und Argumente kohärenterweise verzichtbar.
Werte und Werttatsachen Anders als es, wie geschildert, bei bloß möglichen Objekten der Fall ist, nimmt Rescher in seine realistische Ontologie aber Werte bzw. Werttatsachen auf (vgl. Rescher 2006 M, Kap. 13). Um die realistisch aufgefasste Welt wissenschaftlich angemessen im Sinne des Pragmatismus Reschers zu erfassen, spielen bestimmte Werte erklärende Rollen – und dies führt gemäß dem oben genannten Kriterium Reschers zu ihrer Aufnahme in die Ontologie, wie sie Rescher konzipiert.
132 | Reschers philosophisches System Dies lässt sich wie folgt näher erklären: Um wissenschaftlich erfasst werden zu können, braucht nach Rescher der von der Wissenschaft zu erfassende Gegenstand, die Welt, bestimmte Eigenschaften. Damit effektive, effiziente und fruchtbare wissenschaftliche Untersuchungen der Welt denkbar sind, muss die Welt, so Rescher, „user-friendly“ sein (vgl. Rescher 2006 M, 298), also mit Blick auf die untersuchenden Menschen „benutzerfreundlich“. Dafür hat unter anderem gemäß Reschers Theoriegebäude die Evolution gesorgt: Würden unsere Erkenntnisvermögen nicht gut genug sein und nicht hinreichend brauchbare Resultate erzeugen, würde die Menschheit nicht überlebt haben. Da die Menschen aber bis heute existieren, hat sich ihr Vermögen des Erkennens pragmatisch bewährt.
Optimalismus53 Die Welt, wie sie ist, und die in ihr enthaltenen Dinge sind demnach, so Rescher, gut für uns Menschen. Daher nimmt Rescher einen Wertgrundsatz an, demzufolge die Welt insgesamt (aber nicht in allen ihren Einzelheiten) für uns optimal eingerichtet ist – eine Anlehnung an Leibniz. Damit wird keine Ursache für das angenommene Gutsein der Welt benannt, sondern ein Wert angenommen; die „Erklärung“ ist also nicht naturalistisch, sondern axiologisch (vgl. Rescher 2011 OC, 82 ff.). Die Welt erscheint gemäß Reschers Optimalismus so, dass sie optimal zu unseren Erkenntnisbestrebungen und -zielen passt. Fragt man, ob die Welt rational sei, frage man bereits nach einem vernünftigen Grund, und die beste Erklärung ist nach Rescher, dass die Welt vernünftig ist, und dass wir als vernünftige Wesen darin einen Wert sehen bzw. einen Wert unterstellen (vgl. vor allem Rescher 2006 M, 39). Zudem müsse man die Natur so verstehen, dass – wenn sie intelligentes Leben hervorbringe – sie auch diesem zuträgliche Lebensbedingungen bietet und für das intelligente Leben geeignet ist, wozu gehört, dass jene Intelligenz die Natur ihrerseits rational verstehen kann – in diesem Sinne sei das Wirkliche das Vernünftige (im Sinne von Hegel). Entsprechend seien die „großen Fragen“ wie etwa nach der Existenz der Welt nicht nur zulässig, sondern ließen sich auch plausibel beantworten. Die Welt müsse deshalb zwar nicht als „perfekt“ betrachtet werden, aber doch als bestmögliche. Unter anderem muss sie, wenn intelligentes Leben evolutionär möglich ist, Regularitäten aufweisen, damit
|| 53 Vgl. zum Thema auch Rescher 2008 BV, Kap. 1., und Rescher CP XII.
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Leben sich orientieren und erhalten kann, und vielfältig sowie verstehbar sein – und das habe Wert. Reschers „Optimalismus“ beansprucht überdies, grundsätzlich empirisch falsifizierbar zu sein, aber auch mit den empirischen Fakten in Einklang zu stehen. Auch wenn er zu den Wissenschaften von der Natur nicht in Widerspruch stehe, sei der Optimalismus selbst eher meta-wissenschaftlich, da er anderen Fragen nachgehe (Warum-Fragen). Da er zudem „Gott“ nicht für Erklärungen verwendet, sei er auch von theistischen Annahmen und von der Theologie unabhängig. Damit spielen Werte eine Rolle in der Erklärung von der Welt und erfüllen eines der oben genannten metaphysischen Kriterien für die Existenz von Entitäten; sie sind konzeptualisierbar. Somit werden sie von Rescher in seine Ontologie aufgenommen. Allerdings lässt sich aus diesen Überlegungen nicht darüber hinaus auch noch folgern, dass die Welt deshalb von einem vernünftigen Wesen (etwa „Gott“) erschaffen wurde. Dies wird durch die Gesamtkonzeption der Metaphysik von Rescher zwar nicht ausgeschlossen bzw. ist mit seinen metaphysischen Annahmen nicht logisch unvereinbar – aber da Alternativen denkbar sind, lässt sich die theoretische Annahme nach Reschers Auffassungen nicht folgern (siehe hierzu auch Kap. 4.7). Gleichwohl geht Rescher im Rahmen seines Optimalismus davon aus, dass ein Universum, welches intelligentes Leben hervorbringt, am besten verstanden werden kann, als ob es von einem intelligenten Wesen kreiert sei (was mit einem Theismus zusammenpasse, ihn aber nicht impliziere oder beinhalte). Aus den Ausführungen zur Relation zwischen Welt und Mensch, der nach Erkenntnis strebt, ergibt sich also nach Rescher, dass die existierende Welt, so wie sie ist, als erkennbare, einen Wert für den Menschen hat. Dass sie vorhanden ist, hat demnach einen Wert. Aber dies besagt nicht, dass alles in ihr perfekt sei. Vielmehr ist es nach Rescher ausgeschlossen, dass etwas in allen Hinsichten perfekt sein kann – dergleichen ist wegen unterschiedlicher Ansprüche seines Erachtens gar nicht realisierbar (vgl. Rescher 2006 M, 318). Daher schließt Rescher sich der Auffassung von Leibniz an. Die Welt ist die beste aller möglichen bzw. genauer: Sie ist bestmöglich – aber sie ist nicht absolut die beste im Sinne von „in all ihren Einzelheiten perfekt“.
Metaphysik und Optimalismus – kritische Anmerkungen Reschers Ausführungen zur Metaphysik sprechen eine große Anzahl miteinander zusammenhängender Themen an, die er in sein philosophisches System vollständig zu integrieren sucht. Die an Aristoteles und G. Ryle angelehnte Ka-
134 | Reschers philosophisches System tegorienbildung erscheint dabei unproblematisch; sie beruht offenbar auf Regeln der Sprache, die eruiert werden können, und die über eine normierende Kraft verfügen. Zustimmen kann man auch den Ausführungen zu fiktiven Gestalten, und Reschers Kritik an der Annahme von möglichen Welten verdient breitere Aufmerksamkeit. Sie stellt ein in der Philosophie häufig verwendetes Instrument infrage, das auch in der Analytischen Philosophie problematisiert wird. Gleichfalls von großem Interesse ist Reschers Auseinandersetzung mit D. Davidson.54 Ob es tatsächlich keine fremden Begriffsschemata geben kann, da zum Erkennen eines Begriffsschemas bereits eine (partielle) Übersetzbarkeit vorliegen muss, wäre genauer zu prüfen. Reschers Idee, dass an die Stelle des Kriteriums der Übersetzbarkeit das Kriterium der Interpretierbarkeit entscheide, wäre weiter zu verfolgen. Rescher räumt die Möglichkeit solcher Schemata ein, die sich nicht übersetzen, aber dennoch interpretieren ließen. Hier stellt sich die Frage, ob zur Interpretation nicht ein Verstehen erforderlich ist, das zugleich dann für eine Übersetzung (Übertragung) ausreicht. Wäre dies der Fall, gäbe es doch keine grundlegend verschiedenen Begriffsschemata (i.S.v. Davidson). Sollte es hingegen (i.S.v. Rescher) verschiedene begriffliche Schemata geben, stellt sich noch die kritische Nachfrage des pragmatischen Vergleichs. Hier geht es nach Rescher um die Frage des Erreichens selbst gesteckter Ziele. Wenn jedoch die Schemata neben eigenen Zielen auch eigene Standards bzw. eigene Erfolgskriterien haben, wird ein Vergleich schwierig, und es droht ein möglicherweise weitreichender Relativismus. Fraglich erscheint überdies, ob eine – aufgrund der schwachen Forderung der Konzeptionalisierbarkeit – so reichhaltige Ontologie, wie Rescher sie im Rahmen seiner Metaphysik ansetzt, tatsächlich vonnöten ist. Notorisch strittig sind in der Philosophie abstrakte Entitäten nicht erst seit dem mittelalterlichen Universalienstreit – doch dieser Streitpunkt zwischen Nominalismus, Konzeptualismus und Universalienrealismus kann hier nicht einer Lösung zugeführt werden. Gleichwohl scheint auch hier notwendig, genauer zu untersuchen, was sich angesichts der Sprachregeln behaupten lässt. Kritisch zu sehen ist wohl auch der Optimalismus Reschers. Denn selbst wenn man Rescher durchaus zustimmt, dass die Welt (partiell) erkennbar ist, besagt dies noch nicht, dass sich nicht bessere Welten vorstellen ließen. So könnte eine besser erkennbare Welt eine Alternative darstellen – ganz abgesehen davon, dass eine Welt, die weniger Übel für Mensch und Tier beinhalten || 54 Vgl. hierzu die ausführlichere Erörterung in Quante 1998.
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würde, vorzugswürdig sein könnte – ein Punkt, der im Rahmen der Theodizeeproblematik intensiv diskutiert wird. Darüber hinaus erscheint es als nicht unproblematisch, bei der Erklärung der Güte der Welt für uns Menschen eine rein werthafte bzw. axiologische Erklärung anzugeben. Selbst wenn man sie akzeptierte, bliebe noch die Frage nach ihrer Entstehung bzw. dem Zustandekommen der Eigenschaften der Welt, die sie für uns erkennbar macht. Eine axiologische Erklärung, so könnte man einwenden, kann allenfalls eine Antwort auf die Ausgangsfrage sein, wenn man diese in einem bestimmten Sinn versteht. Dieser Sinn ist aber nicht der einzige, denn man kann nach einer kausalen Erklärung fragen – ob es auf diese aber eine befriedigende Antwort gibt oder geben wird, muss hier offenbleiben.
4.6 Reschers Ontologie: Prozessontologie Im vorangehenden Kapitel, das Reschers Metaphysik vorstellt, wurde noch nicht intensiver der Frage nachgegangen, ob nach Rescher die grundlegenden Bestandteile der Welt Einzeldinge bzw. Dinge sind oder doch eher Prozesse. Dies zu klären fällt für Rescher in den Bereich der Ontologie; und diese fällt für ihn als zentrale Komponente wiederum in den Bereich der Metaphysik (vgl. Rescher 2008 BV, 149)55. Die Aufgabe der Ontologie ist, folgt man Rescher, die unterschiedlichen Status von Objekten zu klären, seien es als wirklich aufgefasste materielle Objekte, seien es abstrakte Gegenstände, Gegenstände der Mathematik, hypothetisch angenommene Objekte oder fiktionale Entitäten (vgl. Kap. 4.5 und Rescher 2008 BV, 150). Die Ontologie soll – als Teil der Metaphysik – die verschiedenen Entitäten klassifizieren.
Dingontologie versus Prozessontologie Während die meisten Metaphysiker oder Ontologen der neuzeitlichen und modernen abendländischen Philosophie Einzeldingen den ontologischen Vorrang vor Prozessen einräumen, gibt es doch auch einige Philosophen, die Prozesse oder Ereignisse als grundlegend ansehen. Zu ihnen zählt Rescher. Vertreter einer Prozessontologie ordnen Dinge und Substanzen ontologisch Prozessen nach (vgl. Rescher 2006 PDD, 1 und 3): Dinge werden verstanden als prozessuale Zustände und/oder als Prozessen grundsätzlich unterworfen. Dabei
|| 55 Vgl. zu Reschers Prozessmetaphysik insgesamt Rescher 1996 PM. Kap. 1 beleuchtet den philosophiehistorischen Hintergrund. Vgl. ferner Rescher 2006 PDD, Kap. 1 und 2.
136 | Reschers philosophisches System wird unterstrichen, dass es auch Prozesse gibt, in denen „Dinge“ gar nicht (primär) involviert scheinen (beispielsweise Blitz, Donner, Sturm). Trotz der verschiedenen Versionen der Prozessontologie sehen Vertreter prozessontologischer Positionen ein Verständnis der Welt und der Realität in prozessualer Begrifflichkeit als bevorzugenswert im Vergleich zur Dingontologie und der „Dingsprache“ an. Zugleich werden damit Veränderungen als zentrales Merkmal der Wirklichkeit hervorgehoben bzw. als grundlegende Eigenschaft der Welt betrachtet. Und da die Metaphysik (siehe Kap. 4.5) die Wirklichkeit in ihren allgemeinen Strukturen adäquat erfassen soll, muss die Ontologie, so Rescher, dem Prozesscharakter der Welt angemessen Rechnung tragen (vgl. Rescher 1996 PM, 7 f.).56
Kernpunkte der Prozessontologie Reschers Damit legt sich die „process metaphysics“ bzw. die Prozessontologie auf zwei Grundüberzeugungen fest: 1) In der als dynamisch betrachteten Welt sind Dinge Prozessen unterworfen; 2) Prozesse sind fundamentaler als Dinge bzw. haben gegenüber Dingen eine ontologische Priorität (vgl. Rescher 1996 PM, 28). Das heißt, Prozesse, Aktivitäten, Ereignisse und Geschehnisse werden gemäß Reschers Ontologie im Vergleich zur entgegengesetzten Dingontologie aufgewertet; Aktivität wird priorisiert gegenüber Substanz, Prozesse gegenüber Produkten und Resultaten, Wandel im Vergleich zur Dauer und Neuerung im Vergleich zur Kontinuität (vgl. Rescher 1996 PM, 31). Damit werden „Zeit“ und „Veränderung“ besonders wichtige Kategorien, und „Prozess“ wird die primäre ontologische Beschreibungsinstanz. Zugleich sollen Begriffe, die in dieses semantische Feld gehören (Kraft, Energie u.a.), einen höheren Stellenwert zugesprochen bekommen als in der bisherigen Ontologie. Vor allem aber werden die auch und gerade für die Dingontologie wichtigen ontologischen Kategorien wie „Natur“, „Person“ oder „Substanz“ in der Terminologie von „Prozessen“ erklärt. Prozesse, die demzufolge also im Mittelpunkt der ontologischen Betrachtung stehen, werden von Rescher in zwei Hauptgruppen eingeteilt. Es gibt solche, die Dinge hervorbringen, und solche, die Zustände verändern (vgl. Rescher 1996 PM, 41). Das bedeutet mit Blick auf die oben angesprochene Prioritätsfrage, dass es auch prozessuale Veränderungen gibt, die gar nicht auf die Erzeu|| 56 Philosophiehistorisch betrachtet gibt es Ansätze zur Erfassung der Welt im Rahmen der Metaphysik bzw. Ontologie in ihrem Prozesscharakter bereits bei den Vorsokratikern – zu erinnern ist dabei insbesondere an Heraklit. Nach dessen Auffassung ist die Welt weniger durch Dinge charakterisiert als durch natürliche Prozesse (vgl. zur Geschichte der Prozessontologie auch Rescher 1996 PM, Kap. 1).
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gung bestimmter Dinge hinauslaufen (beispielsweise Erdbeben oder Stürme im Gegensatz zu Fabrikationsprozessen in einem Werk).
Einzeldinge in der Prozessontologie Die Verpflichtung auf eine Prozessontologie bedeutet aber keineswegs, dass das Vorhandensein von Einzeldingen bestritten werden müsste. Einzeldinge, wie vor allem die paradigmatischen materiellen Gegenstände (Möbelstücke, Lebewesen, Planeten), werden „rekonzeptionalisiert“, also begrifflich neu gefasst und neu bestimmt. Genauer: Einzeldinge werden nach prozessualer Veränderung oder (derzeitiger) Stabilität klassifiziert. Die Rolle in Veränderungsprozessen verleiht dieser Neubeschreibung die Einheit, nicht die Substanz, die Form oder die materiellen Komponenten (vgl. Rescher 1996 PM, 52). Oder anders formuliert: Einzeldinge erscheinen nicht als Träger von Kräften, sondern als Bündel von Kräften (vgl. Rescher 1996 PM, 53). Sie werden als Teil kontinuierlicher, offener Prozesse betrachtet, in denen fließende Vorgänge möglich sind.
Eigenschaften von Prozessen Prozesse wiederum lassen sich hierarchisieren, d.h. sie lassen sich in je kleinere untergeordnete bzw. größere übergeordnete Prozesse einordnen. Die Bandbreite reicht von Prozessen auf der Mikroebene bis hin zu Prozessen kosmischen Ausmaßes. Dabei tragen kleinere Veränderungen zu großen Prozessen bei; die jeweils nächstkleinere Stufe kann selbst wieder als Bündel von wiederum kleineren Vorgängen gefasst werden, die wiederum als weiteres Unterbündel von noch kleineren Prozessen erfasst werden können usw. (vgl. Rescher 1996 PM, 54 f.). Alle prozessualen Vorgänge lassen sich Rescher zufolge raum-zeitlich situieren, aber auch inhaltlich spezifizieren (vgl. Rescher 1996 PM, 56 f.). Das heißt, sie lassen sich einerseits individuieren und andererseits identifizieren – ein Vorgang, der nach Rescher selbst Prozesscharakter hat. Dies kann vermittels Benennungen, aber auch durch Zeigehandlungen (Ostension) erfolgen. Nicht notwendig erscheinen Rescher dagegen materielle Dinge, wenn es um das Identifizieren von Prozessen geht: „processes can be identified without bringing substantial things into it“ (Rescher 1996 PM, 57). Für Rescher ist geradezu der entgegengesetzte Weg zu verfolgen: Die Einheit von Dingen lässt sich als prozessuale Einheit erklären. Während Prozesse nicht weiter durch anderes zu erklären sind, meint Rescher, – mithin also als irreduzibel erscheinen –, scheint dies für (materielle) Dinge nicht zu gelten, denn „to be a substance is to act as a
138 | Reschers philosophisches System substance“ (Rescher 1996 PM, 57), womit der Prozesscharakter deutlich werden soll.
Versionen der Prozessontologie Die Prozessontologie liegt in zwei verschiedenen Versionen vor, meint Rescher: einer stärkeren kausalen und einer schwächeren explanatorischen. Die erste Version bewegt sich auf der Ebene der Ontologie und behauptet, dass Prozesse ontologisch grundlegend sind und Dinge kausal hervorbringen, wobei Dinge als Erscheinungen von Prozessen zu verstehen sind. Die schwächere Version, die als „begrifflich“ näher zu charakterisieren ist, sieht Prozesse als explanatorisch vorgängig gegenüber Dingen, so dass Dingidentifikationen auf Prozesse Bezug nehmen müssten; Identifikationen von Prozessen erscheinen daher als grundlegender. Um ein Ding zu erklären, sei man darauf angewiesen, prozessuale Begebenheiten des Dinges einzubeziehen (vgl. Rescher 1996 PM, 57 f.). Dies verpflichte Vertreter der Prozessontologie jedoch keineswegs zu einem Immaterialismus, wie er bei G. Berkeley zu finden ist, legt aber in gewisser Weise auch einen speziellen, eingeschränkten Idealismus nahe, nach dem der Geist („mind“) Dinge zwar nicht hervorbringt, aber mittels Prozessen identifiziert, klassifiziert und erklärt (vgl. Rescher 1996 PM, 58) – eine These, die Rescher im Rahmen seines begrifflichen Idealismus vertritt. Verfechter der Prozessontologie, so führt Rescher weiter aus, tendieren dabei im Grunde genommen zu einem Realismus hinsichtlich Prozessen und einem Idealismus hinsichtlich von Dingen. Prozesse werden als Einheiten betrachtet, die ihre (von dem erkennenden Menschen unabhängige) Struktur haben – eine allerdings mindestens teilweise erkennbare Struktur. Insofern ist diese Konzeption eine realistische. Substanzen erscheinen Rescher dagegen weniger unmittelbar zugänglich: Sie erschienen nur innerhalb von Prozessen, und seien auch immer das Produkt von Theoriebildungen. Dazu bedarf es geistiger Fähigkeiten (wie etwa der Generalisierung), und dies erklärt, weshalb Substanzen laut Rescher in einer idealistischen Perspektive betrachtet werden (vgl. Rescher 1996 PM, 58).
Auseinandersetzung mit Strawson über Dinge Vor diesem Hintergrund führt Rescher auch seine Auseinandersetzung mit P.F. Strawson, der in seiner Schrift „Einzelding und logisches Subjekt“ (Strawson 1972) materielle Einzeldinge als grundlegend betrachtet. Strawson zufolge sind diese Objekte im Rahmen seiner deskriptiven Metaphysik deshalb grundlegend, weil mit ihrer Hilfe und der möglichen intersubjektiven Referenz auf Einzeldinge sowie der Reidentifizierung von Einzeldingen die Orientierung in der Welt
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möglich wird. Materielle Einzeldinge lassen sich von jeweils anderen Einzeldingen unterscheiden und eindeutig raum-zeitlich (unter anderem letztlich in Relationen zum Sprecher, der sie benennt und identifiziert) lokalisieren; damit lässt sich wiederum ein intersubjektiver Bezugsrahmen für die Sprachteilnehmer aufspannen. Nach Strawson sind dabei materielle Einzeldinge, zu denen auch die Körper der Sprachverwender zählen, unverzichtbar. Sie können Strawson zufolge also nicht durch anderes ersetzt werden. Rescher vertritt diese Ansicht dezidiert nicht (vgl. hierzu Rescher 2006 M, Kap. 6.6, Rescher 2006 PDD, 11 ff. und Rescher 1996 PM, Kap. 3.4). Er wendet ein, dass alle von Strawson angeführten wichtigen Merkmale von Dingen (beispielsweise raum-zeitliche Erstreckung, Verschiedenheit, interpersonelle Zugänglichkeit) von Prozessen genauso besessen werden. Prozesse seien in der gleichen Weise wiederzuerkennen und zu identifizieren – z.B. durch Zeigehandlungen. Daher biete Strawsons Dingontologie keinen Vorteil, zumal Dinge in der Begrifflichkeit der Prozessontologie erfasst werden könnten – als Prozesse. Prozesse haben, so Rescher, Positionen und Dauer, und könnten deshalb für ein Koordinatensystem mit Orientierungspunkten dienen. Und damit bestehe eine bevorzugenswerte Alternative gegenüber der Dingontologie (von Strawson), meint Rescher. Dies gilt für ihn umso mehr, als er in der Substanzontologie gravierende Schwierigkeiten entdeckt. So tut sie sich gemäß Reschers Sichtweise schwer, Prozesse, wie sie etwa in der Entwicklung von Menschen vorliegen, angemessen zu klären. Dass eine Person X im Jahr 1900 geboren wurde und dass X im Jahr 1920 ein junger Erwachsener war, lässt sich in der Sprache der Dingontologie zwar sagen, doch verkürze dies den Sachverhalt, denn es werde so nicht deutlich, dass die Geburt im Jahre 1900 der Grund dafür ist, dass X im Jahr 1920 erwachsen ist (vgl. Rescher 1996 PN, 64). Substanzen würden – von ausgearbeiteteren Versionen der Dingontologie einmal abgesehen – als Objekte betrachtet, die sich nicht im Laufe der Zeit verändern, und die mit sich selbst identisch blieben – obwohl sich ihre Eigenschaften veränderten. Weitere Probleme ergäben sich mit dem Zustandekommen von Einzeldingen (vgl. Rescher 1996 PM, 66), da auch dieses oft Zeit in Anspruch nehme und letztlich prozessual verlaufe.
Universalien in der Prozessontologie Des Weiteren sieht Rescher gewichtige Argumente zugunsten der Prozessontologie, wenn man statt Einzeldingen Universalien betrachtet (vgl. hierzu Rescher 1996 PM, Kap. 4). Universalien wie Farben oder natürliche Arten ließen sich prozessontologisch adäquat erfassen, meint Rescher. Universalien werden nicht
140 | Reschers philosophisches System als Dinge aufgefasst, und Bezeichnungen für Universalien nicht als Dingbezeichnungen. Universalien lassen sich, so Rescher, vielmehr als Prozesse erfassen und erklären. Damit meint er Folgendes: Dass z.B. etwas rot sei, erscheint als Resultat eines Prozesses, und dass Verschiedenes als rot erscheint, ist schlicht das Resultat verschiedener Prozesse, die (mindestens) eine Ähnlichkeit aufweisen. Das besagt: „Universals can be conceptualized as structural features of processes“ (Rescher 1996 PM, 73). Jene strukturellen Besonderheiten können dabei schon bekannt sein, sie können aber auch neu sein, wenn z.B. neuartige Dinge (oder Lebewesen) oder Sachverhalte oder Prozesse entstehen, neues Wissen, neue Fragen oder neue Informationen hervorgebracht werden oder neue Ereignisse auftreten (vgl. Rescher 1996 PM, 75), wie es in der Wissenschaft gängig ist (siehe Kap. 4.4).
Naturphilosophie In diese Prozessontologie, und dies ist für ein möglichst umfassendes philosophisches System bedeutsam, lässt sich auch eine am Begriff des Prozesses orientierte Naturphilosophie integrieren. Die Natur wird dabei so interpretiert, als bestehe sie aus einer Vielzahl hierarchisch geordneter verschiedenartiger Prozesse, die ihrerseits verschiedene Merkmale aufweisen können. Neben mentalen, symbolischen und mathematischen Prozessen stehen die physikalischen Prozesse der Natur. Sie haben ihren raum-zeitlichen Platz und werden als kausal betrachtet und erscheinen damit (direkt oder indirekt) als miteinander verbunden. Involviert in diese Naturprozesse sind Naturgesetze, die ihrerseits als prozessual verstanden werden: auch sie gelten als „merely transitory stabilities“ (Rescher 1996 PM, 91), können sich also nach Reschers Auffassung im Laufe der kosmologischen Entwicklung verändern. Sie erscheinen als „little more than islands of relative stability in a sea of process“ (Rescher 1996 PM, 91). Selbst die Raum-Zeit wird als Prozess gesehen (vgl. Rescher 1996 PM, 95).
Evolution57 Mühelos zu integrieren in diese prozessorientierte Naturphilosophie ist laut Rescher des Weiteren die oben bereits angesprochene Evolution in der Biologie, doch auch die ebenfalls schon erwähnte kulturelle Evolution lässt sich als Teil der Prozessontologie auffassen (vgl. Rescher 1996 PM, 100). Anders als die ungelenkte bzw. ungerichtete biologische Evolution ist die kulturelle Evolution || 57 Vgl. zum Thema auch Rescher 2008 BV, Kap. 2.
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Rescher zufolge, und hier schließt er sich Teilhard de Chardin an, durch kognitive Einflüsse als zielgerichtet anzusehen. Sie ist, anders gesagt, progressiv – eine Eigenschaft, die manche Prozessontologen auch der biologischen Evolution zuschreiben (vgl. Rescher 1996 PM, 102).
Das prozessontologische Verständnis von „Person“ Als einen weiteren bedeutsamen Vorzug der Prozessontologie sieht Rescher die prozessontologische Auffassung von dem Begriff der Person an. Nach Rescher lässt sich der für die abendländische Philosophie so wichtige Begriff „Person“ und der Begriff des „Ich“ bzw. des „Selbst“ nicht adäquat als Substanz oder Ding fassen. Wie schon zuvor D. Hume geht Rescher davon aus, dass allenfalls der Leib als „Ding“ oder „Substanz“ zu verstehen ist – nicht aber die „Person“, die schließlich mehr ist als nur ein bloßer Körper (vgl. Rescher 1996 PM, 106). Das Selbst (etc.) erscheint als ein System von Prozessen (vgl. Rescher 1996 PM, 108), die Person als Zentrum von Erfahrungen. Die Einheit der Person lasse sich als eine Erzähleinheit auffassen; „Person“ braucht dabei nicht als Ding jenseits von Aktivitäten und Erfahrungen aufgefasst zu werden. Der Geist („mind“) erscheint demzufolge auch nicht als ein „Gespenst in der Maschine“ des Körpers (so G. Ryles Kritik an R. Descartes’ Ontologie und Personenvorstellung). Geist („mind“) sei eine Funktionseinheit, und Personen würden als etwas aufgefasst, was sich durch einen besonderen aktiven Lebensweg auszeichnet (vgl. Rescher 1996 PM, 109). „Mind“ wird von Rescher so nicht verstanden, als sei es eine Substanz oder ein Ding, sondern „mind“ wird aufgefasst als „processual unifier of the manifold of mental processes that constitute a particular mental life“ (Rescher 1996 PM, 109). Dabei seien mentale Vorgänge vorhanden, die generell nicht auf physische Vorgänge reduzierbar seien. Mentale und physische Vorgänge hingen zwar zusammen, aber mentale Abläufe oder Geschehnisse haben eine Bedeutungsdimension, die sie nicht reduzierbar machen (vgl. Rescher 1996 PM, 114). Epistemisch oder hermeneutisch betrachtet sind demzufolge in der Theorie von Rescher mentale Vorgänge primär, ontologisch betrachtet hängt hingegen der Geist vom Körper ab (vgl. Rescher 1996 PM, 115).
Information und Kommunikation Mithilfe des Prozessbegriffs kann, so Rescher weiter, unsere fortlaufende Informationsaufnahme und unsere sich wandelnde Menge des Erkannten ebenso erfasst werden, wie auch speziell die Entwicklung wissenschaftlicher Erkenntnis. Das besagt: Für Rescher erscheint auch die Kommunikation als ein Prozess – ein Prozess der Informationsübertragung (vgl. Rescher 1996 PM, 135). Dies gilt
142 | Reschers philosophisches System sowohl für alltägliche Kommunikationsabläufe, die Erkenntnisse vermitteln, als auch für das wissenschaftliche Kommunizieren. Insofern lassen sich Erkenntnistheorie, Wissenschaftstheorie und sprachphilosophische Überlegungen an die Prozessontologie systematisch kohärent anschließen, meint Rescher. Selbst religionsphilosophische Gedanken können markante Verbindungen zur Prozessontologie aufweisen, wie Reschers „Prozesstheologie“ zeigt (siehe hierzu Kap. 4.7).
Philosophiegeschichte und Prozessphilosophie selbst in der Sicht der Prozessontologie Klärungsbedarf besteht für Rescher im Rahmen der Prozessontologie noch in einem weiteren Punkt: Wie verhält sich die Philosophie selbst mit Blick auf die angenommene umfassende Prozessualisierung der Welt? Kann die Prozessphilosophie selbst als feststehende Position behauptet werden? Diesen Fragen wendet Rescher sich in „Process Metaphysics“ im Abschlusskapitel (Kap. 10) zu. Und dies tut er aus einem guten Grund, denn ein Einwand liegt schließlich sehr nahe: Wenn sich tatsächlich alles in der Welt ändert, wie die Prozessontologie behauptet – wie kann sie dann selbst so etwas formulieren, denn schließlich müsste sich die Formulierung bzw. die Prozessontologie selbst ebenfalls (permanent) verändern! Das heißt, man kann es nicht einfach dabei belassen, zu behaupten, alles ändere sich. Rescher muss daher etwas in Anspruch nehmen – und nimmt es auch in Anspruch: die vergleichsweise Stabilität sprachlicher Behauptungen bzw. Ausdrücke. Doch damit sind die Probleme noch nicht erschöpft, denn die zentrale These der Prozessontologie, alles wandele sich, sieht wie ein Fixpunkt aus. Doch Rescher glaubt, diesem Einwand begegnen zu können (vgl. Rescher 1996 PM, 167). Die Behauptung, alles in der Natur ändere sich, ist mit unveränderlich wahren Aussagen über die Natur grundsätzlich vereinbar. Das gilt selbst dann, wenn man den Begriff der Natur so weit fasst, dass auch die menschlichen Ansichten über die Natur der sich wandelnden Natur zugeschlagen werden. Auch in diesem Fall wäre es möglich, dem Satz „Alles in der Natur ändert sich“ zeitlose Wahrheit zuzusprechen. Gleichwohl konzediert Rescher, dass auch die Prozessphilosophie im Fluss ist: „The philosophy of process is also a philosophy in process“ (Rescher 1996 PM, 167). Sie ist in der Entwicklung begriffen und (noch) nicht vollständig ausgearbeitet, insofern ist sie „still in many ways incomplete and imperfect“ (Rescher 1996 PM, 168). Mehr als eine Annäherung an die zutreffende Erfassung der Welt sei jedoch ohnehin von einer Metaphysik nicht zu erwarten (vgl. Rescher 1996 PM, 168) – und definitive Wahrheiten werden durch Reschers Fallibilismus
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ohnehin ausgeschlossen. Und was die Auseinandersetzung mit der Dingontologie betrifft, so räumt Rescher ein, sei eine definitive Entscheidung auf theoretischer Ebene kaum zu erwarten (vgl. Rescher 1996 PM, 172). Hier gehe es vielmehr um eine vergleichende Abwägung von Vor- und Nachteilen der beiden einander entgegenstehenden Konzeptionen. Die Prozessontologie scheint Rescher hier die bessere Alternative zu sein – sie komme insbesondere mit den Begriffen der Identität und der Individuation besser zurecht als die Dingontologie, und biete insgesamt eine natürliche plausible Erklärung der Natur der Dinge (vgl. Rescher 1996 PM, 172).
Diskussionspunkte und kritische Hinweise Mit dem Gesagten scheinen in knapper Form die wesentlichen Punkte von Reschers Prozessontologie genannt. Damit stellt sich neben Detailfragen wie beispielsweise der Frage, ob sich Naturgesetze tatsächlich, wie Rescher annimmt, selbst als Prozessen unterworfen verstehen lassen, aber noch die philosophisch relevante Anschlussfrage: Ist eine solche Prozessontologie tatsächlich gegenüber einer Dingontologie zu präferieren? Für die Prozessontologie scheint zunächst zu sprechen, dass es gängige und untadelige Redeweisen gibt, in denen von Vorgängen berichtet wird, in denen Dinge keine oder zumindest keine nennenswerte Rolle spielen – z.B. „Es regnet“, „Es donnert“ oder „Es blitzt“. Aber diese Redeweisen machen zusammengenommen nur einen Bruchteil unseres Redens über die Welt aus. Selbst eine Reihe von Prozessen werden in der Sprache der Dingontologie beschrieben: „Kontinente verschieben sich“, „Das Tier verhungert“, „Der Lack blättert ab“ usw. In den meisten Fällen, in denen von Prozessen gesprochen wird, scheinen involvierte Dinge benannt zu werden, und von ihnen wird dann etwas prädiziert. Insofern die normale Sprache nicht als untauglich oder zumindest sehr weitgehend als missverständlich betrachtet wird oder zu betrachten ist, scheint der Hinweis auf die wenigen anders erfassten Vorgänge als nicht besonders gewichtig. Es scheint sich um Ausnahmen zu handeln, und das heißt um Ausnahmen von der Regel. Warum sollte daher die Rede der Prozessontologie vorzuziehen sein? Zumindest erscheint es fraglich, ob die Prozessontologie unserer normalen Sprache gerecht wird. Die Alternative, die insbesondere P.F. Strawson vertreten und stark gemacht hat, bietet jedenfalls Vorteile. Sie ermöglicht es, nachvollziehbar zu erklären, weshalb wir uns mit unserer Sprache auf die Welt in einer Weise beziehen können, so dass wir uns (intersubjektiv verbindlich) in ihr orientieren können – und zwar, weil sie einen Mechanismus enthält, mit dem wir uns auf Dinge und ihre Eigenschaften beziehen können, die in einer raumzeitlichen Welt eindeutig identifizierbar sind (vgl. hierzu auch Kellerwessel
144 | Reschers philosophisches System 1995, Kap. 3.1). Sie trennt Bezeichnungen resp. Benennungen für Einzeldinge (logische Subjekte) von Bezeichnungen für Eigenschaften (logische Prädikate), was gestattet, Veränderungen von Eigenschaften als Veränderungen an identifizierten Dingen oder Personen zu beschreiben. Nach Strawson können wir uns so auf verschiedene Objekte (Personen, Gegenstände) beziehen, weil die Sprache für solche eindeutig identifizierende Beziehung der Referenz bzw. Bezugnahme aufkommt. Sie ermöglicht uns ferner, uns selbst als Sprecher und Hörer in Raum und Zeit zu lokalisieren, und damit, uns zu orientieren. Ob eine prozessontologische Auffassung dies ebenso gut ermöglicht, scheint offen, denn die von Rescher behauptete Identifikation von Prozessen ist durchgängig so einfach wie die von Dingen, sofern es sich bei diesen um „mittelgroße Trockengüter“ resp. nicht flüssige und nicht gasförmige Dinge des Alltags handelt. Prozesse wie etwa Tiefdruckgebiete oder Stürme haben eben keine klaren Grenzen, die so offenkundig sind wie z.B. die Grenzen eines Möbelstückes. Im Lichte Strawsons, der eine sogenannte „deskriptive Metaphysik“ vertritt, erscheint Rescher als ein Vertreter einer „revisionären Metaphysik“. Ob dies vorzugswürdig ist, bleibt strittig. Dies gilt umso mehr, als dass die oben von Rescher genannte Schwierigkeit der normalen Sprache kaum zu bestehen scheint, denn die normale Sprache hat gar keine grundlegenden Probleme damit, Veränderungen an Dingen zu beschreiben oder festzuhalten, wenn Entitäten sich (in großem oder kleinem Maß) verändern – eben weil sie diese kontinuierlich identifizieren kann. Beispielsweise scheint die sogenannte „Bündeltheorie“ der Spätphilosophie L. Wittgensteins eine anwendbare Konzeption zu sein, die erläutert, wie dies geschehen kann: Entitäten haben viele Eigenschaften, die eine unterschiedliche Gewichtung aufweisen, und von denen manche, aber nicht alle, verzichtbar bzw. ersetzbar sind, wenn es um die Identifikation oder Reidentifikation von Dingen, Lebewesen oder Personen geht (vgl. hierzu Kellerwessel 1995, Kap. 2.1.7 und Kellerwessel 2009, 137 ff.). Entscheidend scheint der sprachliche Zugriff zu sein, der intersubjektiv möglich ist (durch den erfolgten Spracherwerb und die Regeln der Sprache). Auch hinsichtlich Universalien scheint die normale Sprache keine unüberwindlichen Probleme zu haben oder aufzuwerfen. Sie erscheinen in der Funktion logischer Prädikate, und auch dies wird über den Spracherwerb gelernt (auch wenn selbst sehr kompetente Sprecher dies nicht explizit wissen, sondern nur über ein – implizites – Know-how verfügen).
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4.7 Religionsphilosophie Zweifelsohne kommen Reschers Überlegungen zur Religionsphilosophie – betrachtet man diese Beiträge rein quantitativ – nur eine untergeordnete Bedeutung innerhalb seines philosophischen Werkes zu. Aber auch inhaltlich gibt es für Rescher einen guten Grund, weite Teile seines philosophischen Systems ohne Rückgriff auf „Gott“ als erklärende Instanz zu konzipieren: „Gott“ als Erklärung gilt es seines Erachtens für die Philosophie zu vermeiden. Gleichwohl ist sehr deutlich, dass Reschers philosophisches System mit der Annahme der Existenz Gottes durchaus ganz und gar kompatibel ist.58 Da Rescher aber Rationalität auch in religionsphilosophischen Fragen involviert sieht, ergeben sich für ihn kohärenztheoretisch geprägte Überlegungen zu Teilthemen der Religionsphilosophie, die auf die Einpassung diverser religionsphilosophischer Annahmen in sein Gesamtsystem hinauslaufen. Daher formuliert Rescher auch, er „seeks to harmonize the commitments of faith with the fruits of inquiry proceeding under the auspices of reason“ (Rescher 2007 IPR, Preface). Dabei bestehen in der Religionsphilosophie von Rescher Bezüge zu seiner „Prozessontologie“ – in Form einer Prozesstheologie (eine prozessuale Religionsphilosophie resp. Gottesvorstellung) – und zum Pragmatismus. Darüber hinaus befasst sich Rescher aber auch mit Fragen nach dem Zusammenhang von (Natur-)Wissenschaft, Philosophie der Religion und seinem philosophischen System, und selbstverständlich mit Fragen nach der Beweisbarkeit der Existenz Gottes. Die Zusammengehörigkeit dieser Thematiken verdeutlicht vor allem Reschers Textsammlung „Issues in the Philosophy of Religion“, die im Jahre 2007 erstmals erschien (Rescher 2007 IPR).
Doxastische und axiologische Perspektive In dieser Textsammlung führt Rescher schon am Anfang im Rahmen der Diskussion theistischer Vorstellungen eine Grundunterscheidung ein: Theistische Annahmen können auf doxastischen Überzeugungen beruhen, aber auch auf wertorientierten, also axiologischen. Letztgenannte Version nimmt einen Gott deshalb als existierend an, weil diese Annahme ein Wertinteresse befriedigt, also Wünschen entgegenkommt. Die traditionell in der abendländischen Philosophie sehr viel verbreitetere Version theistischer Vorstellungen sieht die Frage
|| 58 Rescher selbst ist übrigens römisch-katholisch (geworden) (vgl. hierzu sein persönliches Statement, das seine Motive darlegt, in Rescher 2007 IPR, Kap. 11), aber dennoch scheint seine philosophische Gottesvorstellung nicht stark konfessionell geprägt.
146 | Reschers philosophisches System nach dem Vorhandensein Gottes dagegen als eine epistemisch anzugehende Frage an und versucht, die Existenz Gottes zu begründen bzw. kognitiv einsichtig zu machen (vgl. hierzu Rescher 2007 IPR, Kap. 1); sie verfährt also doxastisch. Im Rahmen dieses doxastischen Zugangs zum Thema lassen sich gemäß Reschers Auffassung drei Grundoptionen unterscheiden: Glaube (Theismus), Unglaube (Atheismus) und Nichtglaube (Agnostizismus). Dem entsprechen im axiologischen Kontext eine positive (wünschende, hoffende), eine negative und eine indifferente Haltung. Zentral scheinen Rescher in diesem Kontext – anders als der Mehrzahl der abendländischen Philosophen – Überlegungen zu Werten, nicht zu Fragestellungen der Erkenntnistheorie. Ihn interessieren primär Fragen wie die, ob man auf (die Existenz von) Gott hoffen soll. Da Rescher zufolge ein Beweis der Nichtexistenz von Gott (im doxastischen Zusammenhang) kaum möglich erscheint, im doxastischen Modus also zumindest der Agnostizismus rational wählbar ist, könne man einen axiologischen Theismus annehmen – also auf die Existenz Gottes setzen resp. hoffen. Selbst wenn im Kontext der Doxa der Vertreter des Theismus die Beweislast gegenüber dem Atheismus trage, so gelte dies nicht für den Wertebereich. Hier, so Rescher, gehe es nicht um Existenzbeweise oder -behauptungen, sondern darum, was man begehrt oder erhofft. Betrachtet man menschliche Hoffnungen, führt dies im Rahmen des Systems von Rescher zurück auf seine anthropologischen Annahmen. Menschen sollen (siehe Kap. 4.1 und 4.9) das Beste aus sich machen, und dazu gehört Rescher zufolge auch, bestimmte Wertvorstellungen anzunehmen. Dieser Gedanke spielt in der axiologischen Gottesvorstellung insoweit eine Rolle, als man – nach Rescher – Gott nicht aus egoistischen Motiven annehmen soll, sondern weil es einen moralisch herausfordert, das Beste aus sich zu machen. Daher ist die Annahme der Existenz Gottes wegen der gleichzeitigen Akzeptanz eines entsprechenden zu realisierenden Wertbereichs für Rescher eine zu bevorzugende Lösung. Diese Überlegung setzt sich, wie Rescher sieht, einem naheliegenden Einwand aus: Das Gesagte führt – bestenfalls – dazu, dass man wünscht und wünschen sollte, Gott existiere. Dies aber ist keine hinreichende Basis für einen Schluss auf ein tatsächliches Vorhandensein Gottes. Rescher räumt dies ein – führt aber ein auf Personen bezogenes Argument ein, das hier im Sinne theistischer Annahmen weiterführen soll: Wer nicht an so eine wertvolle Entität wie Gott glaubt – in doxastischem Sinne – „manifests a certain personal shortcoming, a defeatist failure of nerve“ (Rescher 2007 IPR, 10). Dies sei kein Fehler des Intellekts, sondern ein moralischer Fehler aufgrund mangelnder Imagination. Wer also den Schluss von Werthaftem auf das Sein nicht akzeptiert, macht
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zwar logisch betrachtet keinen Fehler, begeht aber nach Rescher einen persönlichen Fehler (vgl. Rescher 2007 IPR, 10 f.). Trotz der Neigung zu axiologischen Betrachtungsweisen im Kontext der Frage nach der möglichen Existenz eines Gottes geht Rescher aber auch auf doxastische Aspekte weiter ein. Zum einen diskutiert er, ob resp. wieweit man den Begriff „Gott“ adäquat verstehen kann, und zum anderen, ob nicht ein neu konzipierter, also revidierter ontologischer Gottesbeweis entworfen werden kann, der sich an die traditionellen Gottesbeweise anschließt, ihnen aber nicht gleicht, sondern nur ähnelt.
Der Begriff „Gott“und das Thema „Gottesbeweise“ Die Frage nach einem angemessenen Verständnis des Gottesbegriffs diskutiert Rescher im Anschluss an Überlegungen von Thomas von Aquin. Der hatte bekanntlich die Auffassung vertreten, dass man den Gottesbegriff nicht gänzlich verstehen könnte, obwohl man Gott eine Reihe von Eigenschaften zusprechen könnte und damit Eigenschaften des Wesens, das mit „Gott“ bezeichnet wird, anführen kann (wie z.B. Allwissenheit, Allgüte, Allmacht oder auch Unkörperlichkeit). Dies bedeutet, dass man „Gott“ einige Merkmale zuordnen kann. Damit, so Rescher, könne man viel darüber wissen, was Gott tue – aber nicht, wie er es tue. So weiß er dieser Ansicht nach zwar alles, aber man kann nicht sagen, wie er alles weiß. Erfasst Gott alles unmittelbar, so kann man auch mit Bezug auf dieses Wissen Gottes nur ex negativo mehr sagen: dass es nicht inferentiell ist oder auch, dass es nicht diskursiv ist. Allgemein gesagt: Gottes Eigenschaften ließen sich nur mithilfe negativer Angaben näher charakterisieren (vgl. Rescher 2007 IPR, 86 f.). Nach Thomas von Aquin liegt dies daran, dass dasjenige, was entsprechende Wörter wie „Wissen“ oder „Güte“ normalerweise bezeichnen, Gott in höherem Maße zukomme als Menschen. Damit ergibt sich für Rescher wohl doch eine begrenzte doxastische Möglichkeit, „Gott“ weiter zu bestimmen, wenngleich ex negativo. Daraus, so Rescher, könne man – weil man einiges über „Gott“ sagen kann – zumindest auch weiter schließen, dass die Welt so konstituiert sei, als hätte eine göttliche Macht sie erschaffen. Dies aber ist lediglich eine Beschreibung der Welt, keine Ursachen angebende Erklärung. Damit handelt es sich auch nicht um eine Version des teleologischen Gottesbeweises, der von der Geordnetheit oder Zielgerichtetheit der Welt(teile) kausal auf Gott als den Urheber der Welt zu schließen versucht und damit ein empirischer Beweisversuch ist. Allerdings verblieben noch weitere denkbare Versuche, die Existenz Gottes zu beweisen. Da jedoch empirische Gottesbeweise (wie der teleologische) Probleme bereiten, erwägt Rescher im Rahmen seines an Begriffen orientierten Phi-
148 | Reschers philosophisches System losophierens, ob nicht der ontologische Gottesbeweis, wie Anselm von Canterbury ihn konzipiert hat, modifiziert werden kann, so dass er zu überzeugen vermag (vgl. hierzu Rescher 2007 IPR, Kap. 2). Dabei knüpft Rescher allerdings an die Version des ontologischen Gottesbeweises an, die R. Descartes in seiner fünften Meditation vorgelegt hat. Diesem Beweisversuch zufolge gehört die Existenz zu Gott wie einige mathematische Eigenschaften zu bestimmten geometrischen Figuren. Wer in dem einen oder anderen Fall die jeweilige Zugehörigkeit bestreite, begehe einen logischen Widerspruch. Nach Descartes folgt die Existenz Gottes deduktiv aus der Definition von „Gott“. Die Existenz sei mit einem perfekten Wesen, wie Gott es eben per definitionem sei, notwendig verbunden. Problematisch an solchen Überlegungen ist aber, wie D. Hume und I. Kant bereits herausgestellt hatten, dass Existenz hier wie ein Prädikat erscheint resp. behandelt wird – und dies sei unzulässig oder zumindest problematisch. Gleichfalls inakzeptabel erscheint ein „in die Existenz hineindefinieren“. Wer die Existenz aus der Definition folgere, müsse die – tatsächlich strittige – Existenz demnach als Prämisse bereits verwenden, und darum kann man Rescher zufolge in dem Argumentationsverfahren einen Zirkelschluss erblicken. Und schließlich spräche von theologischer Warte aus gegen diesen ontologischen Gottesbeweis, dass Gottes Existenz als Ergebnis eines Syllogismus erscheine, und dies sei, so Rescher, nicht der rechte Zugang zum Thema der Existenz Gottes.
Rescher über „Gott“ und die Existenz Gottes Daher versucht Rescher, den Beweis so zu verändern, dass er von diesen drei kritischen Einwänden nicht getroffen werden kann. Der erste Schritt hierzu besteht in der Aufgabe einer exakten Definition von „Gott“. Zugleich wird daran festgehalten, dass die Bedeutung von „Gott“ erfahren werden kann. Das besagt für Rescher aber auch: Nur wer religiöse Erfahrungen mache, könne die Bedeutung von „Gott“ angemessen erfassen. Wer keine solchen religiösen Erfahrungen mache oder gemacht habe, bliebe ausgeschlossen von einem adäquaten Begriffsverständnis von „Gott“. Wer jedoch den Begriff auf Basis gemachter Erfahrungen richtig verstehe, könne zu einer rationalen, wohlbegründeten Behauptung der Existenz Gottes gelangen. Dabei werde die Existenz aber eben nicht aus dem Begriff gefolgert. Vielmehr sei die Aussage „Gott existiert“ für Menschen, die auf religiöse Erfahrungen zurückgreifen können, unvermeidlich im Sinne von „evident“ bzw. „selbstevident“, und die Wahrheit und Gültigkeit der Existenzbehauptung könne von ihnen erfasst werden. Wer dies nicht so sehe, zeige sein mangelndes Verständnis von dem Begriff „Gott“ und offenbare ein Fehlen religiöser Erfahrung. Für den Gläubigen stelle sich die Frage nach
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der Existenz Gottes hingegen nicht mehr. „Gott existiert“ sei zwar nicht analytisch („existieren“ also kein Prädikat Gottes), aber synthetisch a priori – auch wenn es zur Einsicht einer religiösen Erfahrung bedürfe. Aufgrund dieses Gedankenganges sind Rescher zufolge die drei genannten Einwände hinfällig: Erstens wird „existieren“ nicht als Prädikat aufgefasst, zweitens wird Gott nicht qua Definition zu einem existenten Wesen gemacht, also nicht „in die Existenz hineindefiniert“, denn es gibt keine Folgerung von der Definition auf die Existenz, und drittens werde deutlich, dass „Gott“ nicht unpassenderweise bloß formal bestimmt werde. Das Problem des nicht angemessenen Zugangs stellt sich so gar nicht. Damit liege ein veränderter „Gottesbeweis“ vor, aber keine „logically valid demonstration from self-evident premises“ (Rescher 2007 IPR, 21), die einen nicht religiösen Menschen, sei er Agnostiker oder Atheist, rational zur Aufgabe seiner Position zwingen könnte. Dies könne dieser „Beweis“ schon deshalb gar nicht leisten, weil er auf religiöse Erfahrung zurückgreife. Er überzeuge somit nur diejenigen, die im Grunde genommen keiner Überzeugung bedürften – der veränderte „Beweis“ sei also im Grunde genommen kein Beweis, denn ein Existenzbeweis, der über das Erfahrbare hinausgehe, lasse sich – als strikter Beweis – nicht führen. In diesem Punkt, so Rescher, sei Hume zuzustimmen.
Gott und die Philosophie Des Weiteren bleibt es nach Rescher dabei, dass „Gott“ nicht als erklärende Instanz in der (Theoretischen) Philosophie verwendet werden soll (vgl. Rescher 2007 IPR, 43); die Philosophie Reschers, soweit es den Bereich des Wissens, Erklärens oder Beschreibens angeht, bleibt säkular. Fragen über die Welt, die nicht von Gott handeln, sollen naturalistische Antworten erhalten. Rescher vertritt also trotz der oben gemachten Darlegungen einen „philosophical secularism“ (Rescher 2007 IPR, 44); Naturerklärungen sollen durch Bekanntes („familiar“) erfolgen, nicht durch Unbekanntes („unfamiliar“). „Give unto nature what is natures and unto God what is God’s“ (Rescher 2007 IPR, 45), lautet Reschers diesbezügliches Motto. „Gott“ ist also keine zulässige naturwissenschaftliche oder wissenschaftstheoretische Erklärungsinstanz. Gott ist außerdem aus der Erkenntnistheorie, der Ästhetik, der Wissenschaftstheorie und der Philosophie der Mathematik herauszuhalten (vgl. Rescher 2007 IPR, 45), und in der Ethik komme ihm nur eine Rolle am Rande zu. Vor allem in der Religionsphilosophie ist seine Rolle zentral – denn „Gott“ soll als erklärende Instanz nur dann herangezogen werden, wenn es unvermeidlich ist (vgl. Rescher 2007 IPR, 50).
150 | Reschers philosophisches System Gott und der (religiöse) Pragmatismus Diese Annahme passt wiederum damit zusammen, dass man „Gott“ – auch im Rahmen einer pragmatischen Sichtweise wie der von Rescher – nicht dafür nutzen kann, ihn zu beliebigen erwarteten Vorteilen einzusetzen. Dies gilt insbesondere, weil Rescher bekanntlich nicht einzelne Annahmen pragmatisch zu rechtfertigen sucht, sondern nur Methoden. In dem Kontext methodologischer Überlegungen soll Gott außen vor bleiben. Religion soll nach Rescher ohnehin nicht aus pragmatischen Gründen individueller Vorteile angenommen werden – dies verträgt sich seiner Auffassung nach mit dem Begriff der Religion nicht (vgl. hierzu und allgemein zu den Zusammenhängen von Religion und Pragmatismus im Rahmen der Rescherschen Philosophie Rescher 2007 IPR, Kap. 3). Wer Religion nur aus Vorteilsgründen wählt, verfehle die Religion – auch wenn eine religiöse Sichtweise der Welt Rescher zufolge dem Gläubigen große Vorteile einbringt. Zu diesen zählt Rescher: ein wachsendes Vertrauen in die Welt, die eine wohlwollende Macht eingerichtet habe, ein besseres Verständnis der eigenen Rolle in der Welt, aber auch eine größere Solidarität mit den Mitmenschen (vgl. Rescher 2007 IPR, 28). Aber diese Vorteile ließen sich nicht prudentiell wählen, und ein rein pragmatischer Zugriff auf die oder eine Religion verhindert gerade, die Vorteile zu erlangen – es sei denn, dass die Person sich aufgrund der zunächst aus pragmatischen Gründen angenommenen Religion entsprechend in ihrer Persönlichkeit verändert. Damit glaubt Rescher eine Option aufgezeigt zu haben, die einen Antagonismus zwischen Religion und Pragmatismus aufhebt. Darüber hinaus aber muss, und auch darauf weist Rescher hin, ein Pragmatist trotz seiner Orientierung am Kriterium des Nutzens nicht auf das alleinige Verfolgen von Selbstinteressen oder Eigennutz beschränkt sein – so dass Religiösität, die eine selbstlose Moral mit einschließen mag, und Pragmatismus kohärent zusammenpassen können.
Gott in prozesstheologischer Perspektive Ist damit geklärt, wie die Religionsphilosophie mit dem Rescherschen Pragmatismus einhergehen kann, bleibt aufzuklären, wie die religionsphilosophischen Erläuterungen des Gottesbegriffs mit der Prozessontologie von Rescher harmonieren können (vgl. hierzu Rescher 2007 IPR, Kap. 4 und Rescher PDD 2006, 18 ff.). Traditionell wird Gott als Person oder als besondere Substanz im Sinne einer bleibenden (ewigen, unveränderlichen) Einheit aufgefasst. Gerade dies aber passt nicht recht zu einer Ontologie, die wie die Prozessontologie (siehe Kap. 4.6) Prozesse als primär ansieht. Daher stellt sich die Frage: Wie kann Reschers System bezüglich dieses Aspekts stimmig werden? Reschers Antwort
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auf diese Frage ist eine „prozesstheologische“; sie besagt, dass Gott nicht als Substanz oder Person zu betrachten ist. „Gott“ bezeichnet gemäß dieser Auffassung einen Prozess (vgl. Rescher 1996 PM, Kap. 9). Dafür spricht – ex negativo argumentiert –, dass, wenn Gott eine Substanz wäre, diese besondere Substanz eine Vielzahl von Eigenschaften aufwiese, die für Substanzen gänzlich untypisch sind: Selbst eigene Ursache zu sein, notwendige (statt nur kontingente) Eigenschaften haben, außerhalb von Raum, Zeit und Kausalverhältnissen zu sein – all dies ist für Substanzen wie für Personen ganz und gar untypisch. Deshalb bietet sich für Rescher eine andere Explikation des Begriffs „Gott“ an, die unter „Gott“ eben keine Substanz versteht. Das heißt: Man sollte Gott nicht als materielles oder physikalisches Objekt verstehen – auch wenn er vermittels Prozessen in die materielle Welt einwirkt. Allerdings kontrolliere Gott nicht die Welt, er beeinflusse sie lediglich. Das heißt, er nehme Einfluss auf die (kausalen) Vorgänge in der Welt – und sei selbst „in terms of a process“ (Rescher 2007 IPR, 33) zu fassen. Wenn man ihn gleichwohl als „Person“ konzipiere, ließe sich der dabei verwendete Personenbegriff wiederum prozessontologisch erklären (siehe hierzu Kap. 4.6). Da Prozesse ineinander übergehen bzw. einander durchdringen können, ließe sich, verstehe man Gott als Prozess, sein Einwirken mühelos erklären. Allerdings, so Rescher weiter, ist ein derartiges prozessontologisches Gottesverständnis durch einige signifikante Abweichungen vom Verständnis, nach dem Gott Person sei, gekennzeichnet: So ist nach Reschers Auffassung die „processualist’s deity […] not the God of the great absolutist omnis (omnipotence, omniscience, omnibenevolence)“ (Rescher 2007 IPR, 36). Gleichwohl wisse Gott alles, was gewusst werden könne – aber dazu gehört Rescher zufolge nicht ein Wissen um die frei wählbaren, künftigen Handlungen von Menschen. Gottes Existenz und seine Wirkungsweisen seien insgesamt aber leichter zu erfassen, wenn man davon ausgeht, Gott sei ein Prozess (vgl. Rescher 2007 IPR, 33). Er könne den Kosmos, der selbst ein Prozess sei, steuern, was mit jüdischchristlichen Gottesvorstellungen zusammenpasse. Gott werde in diesen monotheistischen Religionen wie in der Prozesstheologie als Repräsentant einer zweckhaften Ordnung gesehen, und nicht nur als umfassende kausale Ursache. Die Werthaftigkeit des Universums, die man nach Rescher anzuerkennen habe (siehe oben), lege dabei eine urhebende Instanz – Gott – nahe. Anzuerkennen sei dies umso mehr, als dass die verschiedensten Prozesse, seien sie kosmischer, biologischer oder sozialer Natur, als Fortschritt und nicht als bloße Veränderung zu sehen seien.
152 | Reschers philosophisches System Gott und die Naturwissenschaften Trotz dieser Ausführungen, die für Rescher die Annahme der Existenz Gottes nach sich ziehen, bleibt es dabei: Die Naturwissenschaften brauchen Gott nicht als erklärende Instanz und können nach Rescher auch seine Existenz nicht beweisen; d.h., Naturwissenschaftler können methodische Atheisten sein (vgl. Rescher 2007 IPR, 53). Die Naturwissenschaften stehen Rescher zufolge auch nicht in Konkurrenz zur Religion. Letztere habe mit Wert- und Bedeutungsfragen zu tun, Erstere mit Erklärungen von Vorgängen in der Welt. Damit befasst sich die Naturwissenschaft mit allgemeinen Angelegenheiten des Universums, die Religion habe dagegen einen Bezug zum Einzelnen im Sinne von „zum einzelnen Menschen“. Ergebnis der Wissenschaften sei ein Wissen, was man tun kann; Religion sei hingegen damit befasst, was man tun soll. Wie aber, so stellt sich die Anschlussfrage, verhält es sich mit den derzeit populären Konflikten zwischen Wissenschaft(en) und Religion(en)? Immerhin scheinen Religion und Wissenschaft miteinander unverträgliche Thesen anzunehmen, die den Ursprung des Universums (göttliche Schöpfung versus Urknall) und der Menschen (göttliche Schöpfung versus biologische Evolution) betreffen. Rescher meint, ein vertieftes Verständnis von Religion und Wissenschaft würde dartun, dass diese Konflikte letztlich bloß Scheinkonflikte seien. Dass sich Religion – und damit persönliche Bezüge und Werte – nicht auf Wissenschaft gründen könne, sei unerheblich, und dass Religion keine Antworten auf wissenschaftliche Fragen geben könne, ebenso; sie ist eben mit Wertfragen befasst, nicht mit faktenbezogenen Fragestellungen. Der Glaube an Gott hat, so Rescher, nichts mit Wissenschaft zu tun, sondern mit persönlichen Einstellungen wie beispielsweise mit einem Weltvertrauen. Entsprechend stehe auch die Evolution nicht in Konkurrenz mit religiösen Überzeugungen – und sie sei auch keine Erklärung für diese Annahmen der Religion. Die Welt sehe zwar aus, als habe sie ein „intelligent design“ eines Designers – aber dies ist alles: Sie sieht schlicht so aus – und kann diesen Anschein auch ohne einen intelligenten Urheber erhalten haben (vgl. hierzu auch Rescher 2007 IPR, Kap. 7.5-7.6).
Religion – nicht verpflichtend, aber empfohlen Ein moderner (naturwissenschaftlicher) Mensch müsse nicht religiös sein oder werden, es sei denn, er wolle es. Die Religion anzunehmen sei keine Verpflichtung, denn man kann ein (moralisch) gutes Leben auch ohne sie führen. Demgemäß kann es auch keinerlei Verpflichtung zu einer bestimmten Religion geben. Damit werde keinem schrankenlosen Relativismus das Wort geredet, sondern nur einem Kontextualismus: Die Umstände des Lebens einer Person können seine Entscheidungen zur Religion beeinflussen. Lediglich aus pragma-
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tischen Gründen ließe sich Religion empfehlen: Religionen dienten dem Leben bzw. erleichterten es, geben Bedeutung und Weltverständnisse und motivierten zu moralischem bzw. sozialem Handeln. Religion befördere das positive Denken mehr als alle anderen Weltanschauungen, und das macht sie in der Perspektive des Pragmatismus zu einer vorzugswürdigen Optionen gegenüber anderen nicht religiösen Alternativen, meint Rescher.
Kurze kritische Diskussionen zu Reschers Religionsphilosophie Auch wenn man Reschers Auffassungen teilt, nach denen Gott nicht als erklärende Instanz für die Philosophie und die Wissenschaften von der Natur Verwendung finden sollte, und auch wenn man Reschers Einschätzung teilt, dass der Glaube an Gott in pragmatischer Perspektive Vorteile bietet, so verbleiben noch zu diskutierende Punkte. Zunächst kann man sicherlich anderer Auffassung sein, wenn es darum geht, ob die Einnahme der Position des Atheismus oder Agnostizismus als ein persönlicher Fehler zu werten ist. Denn immerhin sind Fragen der Existenz Gottes bis heute höchst umstritten, und denjenigen, welche die Existenz Gottes bezweifeln oder verneinen, kann man zumindest in vielen Fällen kaum nachsagen, sie hätten ihre Auffassungen leichtfertig oder leichtgläubig gebildet. Zumindest sofern kein schlagender Beweis für die Existenz Gottes vorliegt, der jedem rationalen Menschen einsichtig sein müsste, scheinen die genannten Positionen nicht einmal unvernünftig zu sein. Rescher selbst sieht sich, wie dargestellt wurde, nicht in der Lage, einen schlagenden Gottesbeweis zu erbringen, und kann mit seinen Überlegungen lediglich bereits Gläubige bestärken, die meinen, bereits religiöse Erfahrungen gemacht zu haben, wobei näher zu klären wäre, was der Begriff „religiöse Erfahrung“ (im Rahmen des Systems von Rescher) bedeutet. Seine weiteren Darlegungen beziehen sich auf Wertvorstellungen, zu denen man, ohne deswegen unvernünftig zu sein, andere Positionen ausbilden kann. Sofern Menschen nicht religiös sind, können sie sich wohl auch kaum aus pragmatischen Gründen einfach für einen religiösen Glauben entscheiden. Reschers Prozesstheologie wirft darüber hinaus aber weitere Diskussionspunkte auf. Schreibt man im Rahmen prozessontologischer Vorstellungen wie Rescher dem als Prozess verstandenen Gott bestimmte Eigenschaften zu, so schreibt man zugleich einem Prozess prozessuntypische Eigenschaften zu. Daher erscheint es bezweifelbar, dass die Prozessvorstellung an diesem Punkt gegenüber der Dingontologie resp. der Auffassung, Gott sei keine prozesshafte Entität, einen Vorteil habe. Zudem verschärfen derartige prozesstheologische Annahmen unter Umständen ein Problem, das ohnehin für Schwierigkeiten in der Religionsphiloso-
154 | Reschers philosophisches System phie sorgt. Gemeint ist die – sprachphilosophisch-religionsphilosophische – Frage, welchen sprachlichen Status der Terminus „Gott“ hat und wie es sich mit seiner Bezugnahme bzw. Referenz verhält (vgl. zum Thema ausführlich Kellerwessel 2011). Geht man davon aus, der Referent von „Gott“ werde über Eigenschaften oder Eigenschaftsbündel bestimmt, genügen Eigenschaften, die nur ex negativo zugesprochen werden, theoretisch kaum, um einen Referenten eindeutig zu identifizieren. Noch problematischer ist es, wenn die zugesprochenen Eigenschaften mit Ausdrücken formuliert werden, denen die üblichen Bedeutungen abgesprochen werden, und in denen die unterstellten neuen Bedeutungen nicht hinreichend bzw. wiederum nur ex negativo expliziert werden. Dass die Definition von Gott nur derjenige verstehe, der Gott erfahren habe, ist wiederum eine nicht unumstrittene Position: Sie privilegiert Gläubige epistemisch – und führt unter Umständen zu einer Immunisierung gegenüber einer Problematisierung, was philosophisch bedenklich erscheint.
4.8 Sprachphilosophie Rescher hat auf dem Gebiet der Sprachphilosophie weniger publiziert als z.B. auf dem Gebiet der Wissenschafts- oder der Erkenntnistheorie. Gleichwohl finden sich auch diverse Beiträge zur Philosophie der Sprache.59 Viele von diesen finden sich in „Communicative Pragmatism and Other Philosophical Essays on Language“ (Rescher 1998 CP), andere finden sich in verschiedenen Werken Reschers verstreut. Sie passen kohärent in das System Reschers, da sie pragmatische Elemente mit einem Begriffsrealismus verbinden, der seinerseits mit dem allgemeinen Realismus und seiner Einbettung in einen umfassenden Idealismus zusammenpasst. Insgesamt intendiert Rescher in seiner Philosophie der Sprache aufzuzeigen, wie pragmatisch erfolgreich über eine von den Kommunizierenden gemeinsam geteilte Welt und ihre einzelnen Bestandteile gesprochen werden kann, so dass objektive Aussagen, die wahr oder falsch sind, erzeugt werden (können). Weil nach Reschers Position zudem auch eine objektive Referenz bzw. Bezugnahme auf Dinge oder Ereignisse in der Welt möglich ist,60 lässt sich auch erklären, weshalb (mindestens in einigen Fällen) verschiedene wissenschaftliche Annahmen dieselben Gegenstände betreffen, auch wenn unter|| 59 So finden sich auch Ausführungen zu spezielleren Thematiken wie z.B. zu Propositionen mit semantisch ähnlichem Gehalt bzw. zu beinahe synonymen Propositionen; vgl. Rescher 2011 OC, Kap. 7. Vgl. ferner Rescher 2008 EP, Kap. 2. 60 Rescher hat allerdings keine umfassende Referenztheorie vorgelegt. Vgl. zum Thema „Referenztheorien“ Kellerwessel 1995.
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schiedliche oder gar entgegengesetzte Aussagen über sie getroffen werden. Damit liegt zugleich eine Option vor, (natur-)wissenschaftlichen Fortschritt einsichtig zu machen, der die Erforschung bestimmter Entitäten betrifft, auch wenn diese von verschiedenen Theorien auf unterschiedliche Art und Weise beschrieben werden.
Sprache und pragmatische Informationsübermittlung Eine Ausgangsfrage, die sich für Rescher im Zusammenhang mit dem Gebrauch von Sprache stellt, ist eine pragmatische (vgl. hierzu und zum Folgenden Rescher 1998 CP, Kap. 1, „Communicative Pragmatism“): Welche allgemeinen Prinzipien liegen der erfolgreichen Informationsübermittlung mittels sprachlicher Kommunikation zugrunde? Oder anders formuliert: Welche Voraussetzungen sind im Spiel, wenn erfolgreich – bzw. effektiv – kommuniziert wird? Dabei geht es, so Rescher, darum, dass derjenige, der Informationen empfängt, klärt, ob der Informationsgebende vertrauenswürdig ist, und beabsichtigt, dass seine Aussagen akzeptiert werden. So geht es letztlich darum, warum der Empfangende das Ausgesagte tatsächlich akzeptieren soll. Entsprechend lassen sich pragmatische Regeln für das effiziente Kommunizieren angeben, meint Rescher: Sprecher müssen sich so (sorgsam) äußern, dass sie ihre Glaubwürdigkeit nicht riskieren, so klar sein, dass sich keine Interpretationsschwierigkeiten ergeben, weder zu ausführlich noch zu knapp sein und anderes mehr. Es gebe also zunächst eine Regel der sprachlichen Ökonomie. Wird gegen sie verstoßen, erschwere oder verhindere dies eine pragmatisch erfolgreiche Kommunikation.
Semantik und Pragmatik Neben derartigen pragmatischen Erwägungen, die auf Brauchbarkeit bzw. Nützlichkeit ausgerichtet sind, spielt die Pragmatik, nun verstanden als das Handeln mit Sprache, in Reschers Überlegungen eine Rolle. Einschlägig ist hier das Begriffspaar „Semantik“-„Pragmatik“. Rescher unterscheidet zwischen der allgemeinen Bedeutung einer Aussage – dies betrifft die Semantik – und der besonderen Rolle einer Aussage in einer bestimmten Gesprächssituation – dies ist Gegenstand der Pragmatik. Verschiedenartige Kommunikationssituationen können situativ verschiedene Auswirkungen auf Kommunikationsvorgänge haben. Vor allem, so Rescher, können verschiedenartige Präsumtionen involviert sein (vgl. Rescher 1998 CP, 10). Im Mittelpunkt von Reschers Interessen stehen, wie gesagt, Kommunikationsvorgänge, in denen es um Informationsweitergaben geht. Demgemäß unter-
156 | Reschers philosophisches System sucht er mithilfe einiger weniger Gedankenexperimente mit verschiedenen Modi der Informationsübermittlung einige zentrale Präsumtionen der Weitergabe von Informationen.
Präsuppositionen der Informationsweitergabe Zunächst kontrastiert Rescher zwei fiktive Sprachgemeinschaften,61 die unterschiedlich mit weitergegebenen Informationen umgehen: Die eine Sprechergemeinschaft besteht nur aus Lügnern – sie sagen immer das Gegenteil von dem, wovon sie überzeugt sind –, die andere Gemeinschaft aus Täuschern. Diese vermengen Aussagen, die sie für wahr resp. falsch halten. Die notorischen Lügner, so Rescher, wären verstehbar und sogar angemessen verstehbar, wenn ihr Sprachverhalten durchschaut wird: Ihre Sprachgemeinschaft könnte pragmatisch erfolgreich kommunizieren und fortbestehen. Anders verhalte es sich mit den Täuschern, sie wären nicht zu verstehen und könnten ihre Sprache nicht lehren. Eine derartige Sprache von permanent täuschenden Sprachverwendern kann so also nicht fortbestehen. Im Anschluss untersucht Rescher zwei weitere fiktive Sprachgemeinschaften: Die erste besteht aus vertrauensvollen Sprachteilnehmern, sie halten alle Aussagen für wahr(haft). Die zweite Gemeinschaft besteht dagegen aus völlig misstrauischen Sprechern und Hörern – sie unterstellen durchweg Unwahrheit und Unaufrichtigkeit. Auch hier gilt nach Rescher: Die zweite Kommunikationsgemeinschaft kann nicht erfolgreich kommunizieren; in ihr können Informationen nicht weitergegeben werden (vgl. Rescher 1998 CP, 19 ff.). Kommunikation erfordert also, pragmatisch betrachtet, Vertrauen und Koordination bzw. Zusammenarbeit (die bei den permanenten Täuschern und den durchgehend Misstrauenden fehlt). Sprecher müssten demnach so agieren, dass ihnen vertraut werden kann (was bei den Täuschern ausgeschlossen ist), und Hörer müssen ein gewisses Maß an Vertrauen aufbringen. Ist beides gegeben, kann über die Welt nachprüfbar gesprochen werden. Damit kann nach Rescher Objektivität erreicht werden, und zwar in Form verständlicher, objektiv wahrer oder falscher Aussagen. Pragmatisch nützlich, aber auch für das Handeln mit Sprache unverzichtbar ist demzufolge ein Vertrauensvorschuss in die Verständlichkeit, Aufrichtigkeit und intendierte Wahrheit von Aussagen (der zurückgenommen werden kann, wenn sich gute Gründe für eine Rücknahme ergeben). Es ist also nach Rescher vernünftig, (zunächst) sprachlich auf die angegebene Art und Weise zu || 61 Vgl. hierzu auch Rescher 2008 EP, 19 f. sowie Rescher 2011 PE, 40 f.
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kooperieren. Nur so ist eine Informationsweitergabe grundsätzlich als erfolgreiche möglich. Dabei ist aber noch zu klären, was an Information weitergegeben wird bzw. werden kann. Rescher veranschaulicht dies am Beispiel „Die Katze sitzt auf der Matte“ („p“), gesprochen von ihm selbst. Welche Information wird mit ihr weitergegeben? 1) Dass die Katze auf der Matte sitzt, also dass p, 2) dass Rescher denkt, dass die Katze auf der Matte sitzt, also dass Rescher denkt, dass p, oder auch 3) dass Rescher sagt, dass die Katze auf der Matte sitzt, also dass Rescher sagt, dass p? Den Übergang von 3) „Rescher sagt p“ zu 2) „Rescher denkt p“ kann man nur vollziehen, wenn man etwas annimmt wie 4) „Wenn Rescher etwas sagt, ist er davon überzeugt“. Von 2) kann man zu 1) nur übergehen (also von „Rescher denkt, dass p“ auf „p“), sofern man akzeptiert: 5) Wenn Rescher etwas annimmt, verhält es sich entsprechend („Wenn Rescher p akzeptiert, dann gilt normalerweise p“). Würde man in jedem Fall als Hörer auf Sicherheit setzen, könnte man von der Äußerung, dass p, nicht zu p gelangen – und das scheint pragmatisch betrachtet nicht nützlich zu sein, da es den sprachlichen Informationsfluss unterbände. Solange also keine Gegengründe vorliegen, ist es von Vorteil für den Informationserhalt, Sprechern Aufrichtigkeit zu unterstellen und ihre Aussagen (zunächst) als wahr zu akzeptieren. Es gibt daher, so Rescher, einige wichtige Kommunikationsprinzipien, die als Präsumtion zu unterstellen sind, auch wenn sich in Einzelfällen zeigt, dass gegen sie verstoßen wird: – Es ist, wie es scheint. – Was Menschen sagen, ist wahr. – Einfache Erklärungen, die zu Daten passen, sind korrekt.62 Es sind, so Rescher, Metaregeln, denen man solange folge, bis Anzeichen aufkommen, die gegen ihr Zutreffen im konkreten Fall sprechen (vgl. Rescher 1998 CP, 17). Informationsweitergabe bedarf demnach eines Vertrauensvorschusses (vgl. auch Rescher 1998 CP, 72) – und dies lässt sich als Methode des Kommunizierens aufgrund des immensen Nutzens rechtfertigen, meint Rescher. Dies gilt seines Erachtens sowohl für die Alltagsgespräche wie für den wissenschaftlichen Informationsaustausch.
|| 62 Diese Präsumtionen wurden in anderen Zusammenhängen oben bereits erwähnt. Vgl. zum Themenkomplex auch Rescher 2006 P, Kap. 7.
158 | Reschers philosophisches System Für den Informationsfluss in den Wissenschaften gelten allerdings besondere weitere Bedingungen. So akzeptiert man Rescher zufolge, mit Sprechern nicht bekannt zu sein, und erwartet besondere Allgemeinheit sowie Präzision – nicht aber besondere Sicherheit; Aussagen der Wissenschaft sind in höherem Maße genau und deshalb fehleranfälliger als solche der Alltagskommunikation, die ihrerseits in besonderem Ausmaß auf Korrektheit sowie Sicherheit bedacht sind, wofür man als Sprecher Vagheiten oder Ungenauigkeiten in Kauf nimmt. Sie zielten (oft) auf Handlungskoordination ab, und dafür spiele die Vertrauenswürdigkeit der Sprecher eine größere Rolle.
Sprache und Objektivität Gemeinsam ist der Alltagskommunikation wie der wissenschaftlichen Kommunikation die Verpflichtung auf Objektivität (vgl. hierzu Rescher 1998 CP, 25 ff.). Dies hängt für Rescher damit zusammen, dass man sich in beiden Kommunikationsformen über die Welt verständigt, über „real things“, zu denen kein Sprecher einen privilegierten Zugang hat. Der Unterschied zwischen dem, was wir denken, wie etwas ist, und dem, wie es tatsächlich ist, wird hier für Rescher relevant. Wir können zwar aufgrund unseres beschränkten epistemischen Zugangs zur Welt nie sicher sein, etwas vollständig über etwas zu wissen – auch wenn wir vollständig sagen könnten, wie etwas, beispielsweise ein Ding, uns erscheint. Aber dieses „Ding-wie-es-uns-erscheint“ ist nicht der Gegenstand bzw. das Referenzobjekt unserer Kommunikation, denn eine solche Annahme würde in einen Solipsismus führen, weil jeder Sprecher sich nur auf seine Erscheinungen beziehen (können) würde – und diese sind per se anderen gar nicht zugänglich. Hier trifft sich Reschers Sprachauffassung mit Wittgensteins Privatsprachenkritik aus dessen „Philosophischen Untersuchungen“,63 die sprachliche und damit regelgeleitete Bezugnahmen auf völlig Privates ausschließt. Rescher nimmt daher an, dass die Gegenstände der Kommunikation nicht Erscheinungen (für Sprecher) sind, sondern Gegenstände, die Teil einer (alltags-)realistischen Welt sind. Damit sind sie Teile einer gemeinsamen und geteilten Welt, und ihre Gegenstände sind verschiedenen Menschen bzw. Kommunikanten grundsätzlich gleichermaßen zugänglich. Verschiedene Sprecher können also Aussagen über dieselben (wieder erkennbaren) Gegenstände oder Ereignisse machen; es gibt intersubjektiv identifizierbare Einzeldinge oder Einzelheiten. Sprecher und Hörer, oder „Sender“ und „Empfänger“, wie Rescher auch sagt (vgl. Rescher 2008 EP, 14), müssen || 63 Vgl. Wittgenstein 1971, §§ 243 ff.; vgl. hierzu Kellerwessel 2009, 223 ff.
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also in der Lage sein, über ein gemeinsames Objekt zu reden bzw. dieses auch intendieren (vgl. Rescher 1993 P, 145). Genauer: Es wird vorausgesetzt, dass man über gemeinsame Objekte spricht (sofern nicht im Einzelfall der begründete Verdacht besteht, dies sei misslungen bzw. misslinge gerade). Es wird nicht erst gelernt, dass man über gemeinsame Objekte spricht, sondern von vornherein unterstellt – und diese Unterstellung kann sich, wie gesagt, im Einzelfall als falsch herausstellen; sie ist demnach als fallibel zu betrachten. Angenommen werden also gleiche Referenzobjekte, gleiche Namen und Benennungen und ein allgemein ähnliches Sprach- und Denkverhalten (vgl. Rescher 1998 CP, 26). „All in all, we presume a uniformity/commonality of communicative process insofar as other things are anything like equal, and so except where specific counterindications exist“ (Rescher 1998 CP, 26). Ohne diese Unterstellung vorab gebe es keine effektive Kommunikation, und nach Rescher wohl auch überhaupt keine Kommunikation über etwas. Halten sich die Kommunikationsteilnehmer an diese Vorgaben, machen sie sich verständlich, und die Kommunikation kann nach Rescher objektive Gehalte haben: Vor allem aus pragmatischen Gründen ist es ihm zufolge allerdings auch noch wichtig, nicht nur verstanden zu werden, sondern akzeptable Annahmen zu machen – und diese sollen objektiv sein.
Geteilte Referenz und Bedeutung Deshalb nehme man auch zu Recht an, Sprecher verhielten sich ähnlich wie die anderen Sprecher auch, und verfolgten z.B. beim Referieren ähnliche Intentionen. So könne man beispielsweise unterstellen, auch Anaximander von Milet (einer der Vorsokratiker) habe mit dem entsprechenden griechischen Wort über den Planeten Erde gesprochen, den wir heute mit „Erde“ benennen. Dies gilt auch, wenn man annimmt, dass Anaximander eine deutlich abweichende Auffassung von der Erde hatte, vergleicht man sie mit der heutigen. Das heißt, um objektive Referenzen zu erhalten, muss man es zulassen, dass grundsätzlich von ein und demselben Referenzobjekt (wie dem Planeten Erde bzw. der Erde) Verschiedenes bzw. einander Ausschließendes prädiziert wird wie beispielsweise „… ist eine Kugel“ resp. „… ist eine Scheibe“. Die Begriffe, die man sich von etwas macht (Rescher spricht von „conceptions of things“, Rescher 1998 CP, 28), können durchaus merklich voneinander divergieren, ohne dass damit per se von Verschiedenem im Sinne von verschiedenen Referenten die Rede wäre (vgl. auch Rescher 2007 E, 30). In „What If? Thought Experimentation in Philosophy“ unterscheidet Rescher zwischen zwei Arten von Bedeutung („meaning“), der „referential meaning“ und der „conceptual meaning“ (vgl. Rescher 2005 WI, 26 f.). Letztgenannte Bedeutung bezieht sich auf dasjenige, was Sprecher anneh-
160 | Reschers philosophisches System men bzw. wie sie den jeweiligen Terminus verstehen und im Diskurs verwenden. Die erstgenannte Bedeutung hängt hingegen von dem jeweiligen Bezugsobjekt ab. Diese Bedeutung, so Rescher, ist „nicht im Kopf“ („is not in anybody’s individual head“); sie wird von Rescher als „objektiv“ verstanden.
Objektive Wahrheit und Fallibilität in der Sprache Zwar beanspruchen Sprecher, wahre Aussagen zu machen, aber für eine gelingende Kommunikation über etwas ist nicht vorausgesetzt, dass Sprecher tatsächlich wahre Auffassungen haben und zum Ausdruck bringen, behauptet Rescher. Vielmehr, so Rescher, sei von der Fallibilität von Aussagen über Teile der Welt durchgängig auszugehen. Dies ermögliche eben die Kommunikation über Dinge oder Ereignisse – auch wenn diesen verschiedene Eigenschaften (durch Prädikate) zu- oder abgesprochen werden. Dennoch versuchten Sprecher, wahre Aussagen zu treffen, also von bestimmten Objekten, auf die Bezug genommen wird, wahre Eigenschaften zu prädizieren. Angestrebt werden damit objektiv wahre Behauptungen, und generell wird eine realistische Weltsicht, der zufolge es reale Dinge gibt (raumzeitliche Entitäten), die wie ihre Eigenschaften grundsätzlich objektiv festgestellt werden können, angenommen. Das heißt, auch eine mögliche erreichbare Objektivität wird unterstellt, um Kommunikation als sinnvolle vorstellen zu können: „The commitment to objectivity is basic to any prospect of communicative discourse with another about a shared world of ‚real things‘“ (Rescher 1998 CP, 29). Damit spielt auch der Realismus – verstanden als Präsumtion oder Postulat (vgl. Rescher 1998 CP, 30; siehe auch Kap. 4.3.2), nicht als Folgerung – für Reschers Philosophie der Sprache eine wichtige Rolle. Um Informationen über die Welt und ihre Bestandteile austauschen zu können, muss man deren Vorhandensein eben unterstellen. Damit der Austausch sinnvoll sein kann, bedarf es der epistemischen Zugänglichkeit der Welt und ihrer Objekte für die Kommunikationsteilnehmer. Der beabsichtigte Austausch von Informationen über die Welt resp. Teile der Welt setzt also voraus, dass Sprecher einander verstehen können, wenn sie über Einzelheiten der Welt sprechen und Aussagen überprüfen. Nicht vorausgesetzt ist hingegen die Wahrheit solcher Aussagen oder die tatsächliche Übereinstimmung hinsichtlich der Wahrheit oder Falschheit dieser Aussagen (vgl. Rescher 1998 CP, 30). Sollten die Aussagen falsch sein bzw. sich als falsch erweisen lassen, so deshalb, weil sie nicht zu der realistisch verstandenen Welt passen. Alle diese Ausführungen dokumentieren, dass Reschers Grundannahmen der Sprachphilosophie in beträchtlichem Ausmaß zu seiner Theoretischen Philosophie, insbesondere seiner Erkenntnistheorie mit der Präsumtion des Rea-
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lismus, zusammenpassen. Der Realismus erklärt in Reschers System nicht nur Erkenntnismöglichkeiten (siehe Kap. 4.3) und Forschungspraxen (siehe Kap. 4.4), sondern auch die Möglichkeit, über die Welt sinnvoll und erfolgreich zu kommunizieren. Zudem gestattet diese Konzeption, einen gehaltvollen Begriff von Wahrheit einzuführen. Zusammengefasst bedeutet dies: Inter-subjectively valid communication can only be based on common access to an objective order of things. All our ventures at communication and communal inquiry are predicated on the stance that we communaly inhabit a shared world of objectively existing things. […] Only through reference to the real world as a common object and shared focus of our diverse and imperfect epistemic strivings are we able to effect communicative contact with one another (Rescher 1998 CP, 32).
Die reale Welt, Sprecher und die Referenzen der Sprache bzw. des Sprachgebrauchs ermöglichen demnach die alltägliche wie wissenschaftliche Kommunikation über die als objektiv gegeben betrachtete Welt. Eine solche Kommunikation wäre hingegen unmöglich, gäbe es keine gemeinsam geteilte Welt. Da es diese Welt jedoch gebe, könnten Sprecher beabsichtigen, über sie zu sprechen – Rescher spricht in diesem Kontext von unserer „submission to fundamental communicative convention“ bzw. einem „social contract“ (Rescher 1998 CP, 32). Konventionen legen im Sprachgebrauch Referenzen fest, „Mond“ nimmt auf den Mond Bezug, so wie „Sphinx“ auf die Sphinx referiert. Und Menschen, welche die Sprache verwenden, gebrauchen sie Rescher zufolge in der Absicht, über die Referenzobjekte zu sprechen, also über Teile der realen Welt. Referenzen liegen demnach fest bzw. geteilte Referenzen sind von vornherein zu unterstellen. Der in das Kommunizieren involvierte Realismus ist praktisch nicht aufzugeben, meint Rescher, da in diesem Falle die Kommunikation über die Welt unmöglich gemacht würde. Das heißt wiederum für Rescher, dass die Annahme einer realen Welt und realer Bezugsobjekte pragmatisch gerechtfertigt ist (vgl. Rescher 1998 CP, 36).
Wahrheits- und Gebrauchsbedingungen Die oben bereits angeführte Unterscheidung von Semantik und Pragmatik sucht Rescher allerdings noch weiter fruchtbar zu machen (vgl. Rescher 1998 CP, Kap. 3, „Truth conditions versus use conditions“; vgl. auch Rescher 2006 P, 106 ff.). Relevant ist für Rescher in diesem Zusammenhang vor allem die Unterscheidung von Wahrheitsbedingungen und Gebrauchsbedingungen. Die Wahrheitsbedingungen hängen, so Rescher, mit der Welt, über die etwas ausgesagt wird, unmittelbar zusammen. Die Gebrauchsbedingungen haben hingegen etwas damit zu tun, ob eine Aussage in bestimmten Kommunikationskontexten mit
162 | Reschers philosophisches System guten Gründen vorgebracht werden kann. Hier geht es also darum, ob eine Aussage angesichts der Äußerungsumstände gerechtfertigt werden kann bzw. der Sprecher darin gerechtfertigt ist, einen bestimmten Satz zu äußern. Relevant sind dabei für Rescher insbesondere epistemische Zusammenhänge, aber auch weitere Bestandteile der Kommunikationssituation können bedeutsam sein. Werden Gebrauchsbedingungen verletzt, sagt dies nicht notwendig, die Aussage sei falsch; sie ist „nur“ unpassend oder unbegründet. Werden hingegen die Wahrheitsbedingungen übertreten, bedeutet dies das Falschsein der getätigten Äußerung. Gebrauchsbedingungen sind, so Rescher, nicht alle in Regeln expliziert; trotzdem können Sprecher sie beherrschen bzw. ihnen folgen. Sind die Wahrheitsbedingungen in einem Einzelfall erfüllt, wären auch die – epistemisch interpretierten – Gebrauchsbedingungen erfüllt. Das Umgekehrte sei hingegen nicht der Fall. Selbst wenn ein Sprecher über gute Gründe für eine Aussage verfügt, besagt dies keineswegs, die Aussage sei auch wahr. Gute Gründe verschafften nur eine erhöhte Wahrscheinlichkeit für die Aussagenwahrheit. Hier spielt die Fallibilität bzw. die von Rescher allgemein angenommene Fehlbarkeit des menschlichen Wissens herein. Vom Wahrsein, dass p, könne auf p geschlossen werden; davon, dass in einer Gesprächssituation die Gebrauchsbedingungen von p erfüllt sind, lässt sich nicht auf die Wahrheit von p schließen. Lediglich praktische Gründe könnten in solch einem Fall auf die Akzeptanz von p durch Hörer führen. Die Wahrheitsbedingungen von Aussagen gehören nach Rescher also zur Semantik resp. zur Relation Sprache-Welt, die Gebrauchsbedingungen zur Pragmatik. Allerdings tragen pragmatische Aspekte zur sprachlichen Bedeutung genauso bei wie die Aspekte der semantischen Ebene, meint Rescher (vgl. Rescher 1998 CP, 66). Beide Aspekte der Bedeutung sind ihm zufolge miteinander verwoben. Insbesondere das Erlernen von Sprache hängt mit dem Lernen des Sprachgebrauchs zusammen, genauer: mit dem Erwerb der Fähigkeit, Sprache angemessen zu verwenden. Die semantische Ebene sei jedoch nicht zu vernachlässigen: Um einen Aussagesatz zu verstehen, ist es nach Rescher erforderlich, die logischen Konsequenzen des Satzes zu kennen, und diese wiederum haben mit Wahrheitsbedingungen zu tun, sind also semantischer Natur. Ohne ein Wissen um die Wahrheitsbedingungen einer Aussage wisse man nicht genau, was sie behauptet; ohne ein Wissen um die Gebrauchsbedingungen wisse man nicht, ob zu Recht ein Geltungsanspruch (der Wahrheit) erhoben wird (vgl. hierzu Rescher 1998 CP, 66 f.). Ein angemessenes Verstehen von Aussagen setzt also ein erlerntes Wissen sowohl der Folgen der Aussagen als auch der Äußerungsbedingungen voraus. Bedeutung wäre damit weder allein durch Wahrheitsbedingungen noch allein durch Gebrauch zu erklären; beides hält Rescher für einseitig.
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Vorteilhaft erscheint ihm der gebrauchstheoretische Ansatz unter anderem, weil mit seiner Hilfe auch sprachliche Bedeutungen geklärt werden können, wo Wahrheitswerte nicht vorkommen, also z.B. bei Fragen oder Befehlen (vgl. Rescher 1998 CP, 72), denn hier sind Gebrauchsbedingungen vorgegeben. Ähnliches gilt für das Verstehen von kontrafaktischen Konditionalsätzen (vgl. Rescher 1998 CP, 73). Nicht behauptende Äußerungen lassen sich also über den gebrauchstheoretischen pragmatischen Ansatz klären, nicht aber über einen wahrheitstheoretischen semantischen.
Sprache, Semantik und Objektivität Ein weiterer wichtiger Aspekt von Reschers Sprachphilosophie hängt mit der bereits erwähnten Objektivität zusammen. Rescher zufolge versuchen Sprecher – zumindest ist dies in Abwesenheit gegenteiliger Indikatoren zu unterstellen – objektiv wahre Äußerungen zustande zu bringen. Dazu ist vorausgesetzt, dass die Sprache – wie oben geschildert – bei der Rede über die Welt im Zusammenhang mit der Welt Objektivität überhaupt zulässt. Über die bereits geschilderten objektiven Bezugnahmemöglichkeiten hinaus gibt es hier nach Reschers Sprachphilosophie einen weiteren wichtigen Aspekt: Sprache enthält objektive Standards (vgl. Rescher 1998 CP, Kap. 5, „Objectivity and Communication“) bzw. Begriffe objektiver Bedeutungen oder zumindest objektive Bedeutungskomponenten, die als notwendige Merkmale oder Eigenschaften von Begriffen aufgefasst werden können. Sie lassen sich erkennen, weil bestimmte Begriffe untereinander nicht korrekt kombiniert werden können. Da sie zudem unabhängig von bestimmten einzelnen Gesprächskontexten sind, handelt es sich nach Rescher um semantische Merkmale. Einige Beispiele mögen dies deutlich machen: Folgendes kann man z.B. nicht sagen: „X bemerkt, dass p, aber irrt sich“ oder „X weiß, dass p, aber p ist falsch“. Zum Wissensbegriff gehört offenbar, dass das Gewusste auch wahr ist bzw. zum Aussagezeitpunkt für wahr gehalten wird, und zum Bemerken eines Sachverhalts gehört, dass dieser Sachverhalt tatsächlich besteht. Es gibt demzufolge nach Rescher begriffliche Standards bzw. Festlegungen, die bindenden Charakter haben. Gleichwohl geht aus Reschers Konzeption auch hervor, dass zwischen wahren Aussagen und wahren Begriffen („true or correct conception“, Rescher 1998 CP, 92) zu unterscheiden sei – und dass zum Verfügen über einen ‚wahren Begriff‘ eines Dinges das Wissen um alle wichtigen Eigenschaften des betreffenden Dinges gehört; „we must get the essentials right“ (Rescher 1998 CP, 93). Man bedürfte also eines umfassenden korrekten Bildes – und dafür lässt sich kaum aufkommen. Zwar muss (siehe oben) jenes begrifflich erfasste Objekt als Referent identifizierbar sein, aber weder muss zwischen Sprecher und Hörer ein
164 | Reschers philosophisches System Konsens über die wichtigen oder gar essentiellen Eigenschaften des Referenzobjekts bestehen, noch kann man im Rahmen von Reschers philosophischem System davon ausgehen, diese Eigenschaften wären bekannt und die Zuschreibung der genannten Merkmale infallibel (vgl. auch Rescher 1993 P, 141 f.). Zur Verständigung darüber, worauf Bezug genommen wird, ist dies nicht einschlägig, und zum weiteren Informationsaustausch braucht es keine gemeinsamen, umfassend semantisch bestimmten Begriffe, sondern nur gemeinsame „topics“. Demnach dürften also nur einige begriffliche Merkmale festliegen bzw. qua Standards vorgegeben sein. Sie ließen sich wohl als notwendige, aber nicht hinreichende Merkmale charakterisieren. Sie erlauben die Identifikation des Gemeinten, bestimmen dieses aber weder vollständig noch auf eine infallible Art und Weise. Selbst wenn ein Sprecher seine Auffassungen über eine Entität in hohem Maße ändert, dem Referenten eines Terminus also andere Eigenschaften mittels Prädikaten zu- bzw. abspricht als zuvor, bedarf es der Identifikation des Referenzobjekts, und dabei, so scheint es aus Reschers Überlegungen zu folgen, kann auf semantische Eigenschaften von Termen zurückgegriffen werden, die ihrerseits den Charakter des Objektiven haben. Solange mithilfe dieser Merkmale Referenzobjekte in der Kommunikation identifiziert werden, scheinen sich aus der Semantik Vorgaben für den adäquaten Gebrauch von Sprache zu ergeben, die ihrerseits eine gewisse Stabilität brauchen.
Kommunikation und Prozess Gleichwohl nimmt Rescher an, dass Kommunikation sich im Rahmen seiner Auffassung zur Prozessualität der Vorgänge in der Welt selbst als Prozess verstehen lässt. Kommunikation sorgt für Informationsflüsse. Diese sorgen wiederum für sich verändernde Kenntnisse von Kommunikationsteilnehmern. Insofern zeigt sich für Rescher auch hier, dass Wissensstände Veränderungen unterliegen, die durch Prozesse hervorgerufen werden. Eine grundsätzliche Schwierigkeit besteht für ihn zudem darin, dass Sprache die Welt mit ihren stetigen Veränderungen oft nur näherungsweise und metaphorisch erfassen kann (vgl. hierzu Rescher 2001 PM, 134 ff.).
Kommunikation ohne Konsens Kommunikation bedarf darüber hinaus, meint Rescher, keiner faktischen Konsense, und erst Recht keiner Konsense, um rationale Diskurse zu führen. Konsense können allenfalls als Präsumtion angenommen werden. Jedoch kann man Rescher zufolge nicht davon ausgehen – contra Habermas –, dass Konsense das Ziel von Diskursen wären. Denn auch ohne einen Konsens zu erreichen könnten
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Sprachteilnehmer von Diskursen profitieren, und Diskurse könnten der Klärung von Standpunkten dienen bzw. das gegenseitige Verstehen befördern. Einen Grundkonsens müsse man aber als Diskursteilnehmer nicht annehmen; ein solches Ideal sei in der realen Praxis kaum zu erreichen (vgl. Rescher 1993 P, 151 ff.).
Kritische Diskussion Rescher hat zweifelsohne einen interessanten Beitrag zur Sprachphilosophie vorgelegt, der sich schwerpunktmäßig auf Fragen der gelingenden Informationsübermittlung bezieht.64 Damit wird nur ein kleiner Ausschnitt aus dem großen Bereich sprachphilosophischer Themen in den Blick genommen – Rescher geht es nicht um die vielen Sprachspiele im Sinne des späten Wittgenstein oder die Vielzahl möglicher Sprechakte wie bei J.L. Austin oder J.R. Searle. Reschers Interessenschwerpunkt hat offenbar mit der erkenntnistheoretischen Dimension der Sprache zu tun. Er hat zudem keine umfassende Bedeutungstheorie entwickelt und auch keine umfassende Referenztheorie, die Eigennamen, Art-, Stoff- und Gattungsnamen, bestimmte Kennzeichnungen und indexikalische Ausdrücke einzeln untersucht.65 Gleichwohl ist für seine Überlegungen die Möglichkeit des nachvollziehbaren Referierens hoch bedeutsam – denn sie ist für die Kommunikation über die Welt in der normalen Sprache wie in der Wissenschaftssprache mehr als wichtig. Der von Rescher im Kontext seiner sprachphilosophischen Überlegungen angesprochene Zusammenhang von Semantik und Pragmatik ist zweifelsfrei sehr komplex. Rescher geht es in erster Linie darum, Wahrheits- und Behauptbarkeitsbedingungen voneinander zu unterscheiden. Weiter wäre in diesem Kontext zu eruieren, wie sich das Verhältnis von Semantik und Pragmatik genauer gestaltet. Folgt man einer spätwittgensteinschen Perspektive, müsste man annehmen, die Sprachgebrauchsmöglichkeiten seien primär, und die semantischen Bedeutungen aus ihr zu gewinnen. Zugleich aber dienen etablierte semantische Bedeutungen resp. die mit ihnen verbundenen sprachlichen Normierungen (Regeln) zur Korrektur fehlerhaften Sprachgebrauchs (vgl. hierzu Kellerwessel 1998a).
|| 64 Krüger 1994, 297 spricht im Zusammenhang mit Reschers Kommunikationsauffassung sogar von einer „informationstheoretischen Reduktion“; vgl. auch ebd., 298. Vgl. auch Gunnarsson 1994, 323. 65 Vgl. hierzu Kellerwessel 1995.
166 | Reschers philosophisches System Weiter zu diskutieren wäre außerdem folgender Punkt: Rescher geht davon aus, man müsse zum Verstehen einer Behauptung wissen, welche (logischen) Folgen eine Aussage hat. In der Tat würde man wohl nicht annehmen, ein Sprecher verstehe eine Behauptung, wenn er keine einzige Folge von ihr angeben könnte.66 Sicherlich kann man aber nicht erwarten, dass ein Sprecher alle Konsequenzen kennt oder auch nur annährend alle, denn es gibt zumindest in sehr vielen Fällen unzählige Folgerungen (ist etwas rot, ist es nicht grün und nicht grau, aber auch nicht hellgrau, mausgrau usw.). Hier besteht also weiterer Klärungsbedarf. Wie bereits gesagt, liegt in Reschers Sprachphilosophie eine weitgehende Beschränkung auf Behauptungen, Aussagen, Propositionen und damit auf den Geltungsanspruch der Wahrheit (und Verständlichkeit) als Untersuchungsgegenstände vor. Zu prüfen wäre noch, wie es im Rahmen dieser Überlegungen um die Bedeutung moralischer Termini und um den Anspruch auf moralische Richtigkeit (und den der Aufrichtigkeit bei expressiven Äußerungen) bestellt ist. Geht man davon aus, dass sich die vielen Sprechakte nicht auf den Sprechakt der Behauptung reduzieren lassen, besteht hier ein Ergänzungsbedarf. Dies unterstreicht nochmals, dass Rescher keine umfassende Bedeutungstheorie vorgelegt hat. Eine umfassendere Theorie wäre aber vonnöten, da von Rescher unterstellt wird, dass Begriffe Bedeutungen haben. Rescher selbst expliziert in seiner Philosophie die Bedeutung zahlreicher Begriffe und geht davon aus, dass diese Explikationen angemessen sind. Was hier zu ergänzen wäre, wäre ein Verfahren, das eben auch nachweist, dass diese Explikationen zutreffend sind. Im Kontext des Fallibilismus wäre zudem ein zusätzlicher Punkt zu klären: Sind diese Begriffsbestimmungen ihrerseits zur Gänze als fallibel anzusehen oder als partiell fallibel oder als nicht fallibel? Unklar scheint hier, was als fallibel anzusehen ist und was nicht. Es stellt sich also die Frage, ob es notwendige Bedingungen eines Begriffs bzw. seiner korrekten Verwendung gibt, die unverändert gelten oder nicht. Ein Problem resultierte, wenn Veränderungen im Spiel sind: Dann wären möglicherweise einige Bedeutungserklärungen und in der Folge damit wohl auch Behauptungen heute richtig, aber zu einem späteren Zeitpunkt falsch und umgekehrt. Diese Hinweise sollen vor allem eines verdeutlichen: Im Grunde wäre eine weitere Ausarbeitung nötig, die den Zusammenhang von Semantik und Pragmatik weitergehend klärte. Dies gilt auch für die von Rescher angesprochene
|| 66 Möglicherweise lassen sich über Inferenzen die Bedeutungen von Aussagen oder Behauptungen klären, wie es R. Brandom im Rahmen seiner Inferentiellen Semantik unternimmt.
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Rolle der Präsumtionen: Als Postulate mögen sie akzeptabel sein, sofern man sie wie folgt versteht: Es handelt sich nicht darum, dass einzelne Sprecher explizit Präsumtionen formulieren, sondern darum, dass im Sprachgebrauch die genannten Präsumtionen implizit enthalten und als solche theoretisch zu rekonstruieren sind. In diesem Sinne würden sie zu Überlegungen von Wittgenstein passen, der eine noch näher zu explizierende Tiefengrammatik der Sprache annahm, in der grundlegende Regeln enthalten sind. Nimmt man Reschers Präsumtionen in diesem Sinn, wäre das Aufdecken noch unvollständig, da nur einige solche Voraussetzungen von Rescher explizit gemacht wurden. Auch bezüglich dieser Präsumtionen stellt sich noch eine Anschlussfrage, die ihren Status betrifft. Dieser ist insofern unklar, als dass noch zu klären ansteht, ob diese Präsumtionen ihrerseits fallibel oder infallibel sein sollen, und ob sie lediglich für unsere Sprache(n) oder für Sprache überhaupt gelten (sollen).
4.9 Ethik Integraler Bestandteil von Reschers System sind neben seinen Beiträgen zu den theoretischen Disziplinen der Philosophie auch umfassende Studien zu den praktischen Disziplinen. Insbesondere zur Moralphilosophie hat Rescher ausgiebig gearbeitet und eine ausgesprochen eigenständige Ethik konzipiert und ausgearbeitet. Diese soll in diesem Kapitel Gegenstand der Untersuchung sein; im nächsten soll dann Reschers Sozialphilosophie erörtert werden. Klassifiziert man Reschers Beiträge zur Ethik, so ist zunächst zu konstatieren, dass es ihm nicht primär um einen tugendethischen Ansatz geht, sondern um eine normative Moralkonzeption. Diese ist allerdings im Vergleich zu anderen Normenethiken ergänzt durch weitere Bestandteile wie beispielsweise durch Überlegungen zu moralischen Werten und Idealen. Grundsätzlich geht Rescher davon aus, dass im Bereich der Moral richtige wie falsche Einschätzungen getroffen werden können – und zwar objektiv richtige und falsche. Das heißt, es gibt seines Erachtens im Bereich der Praktischen Philosophie Irrtümer, die sich als solche feststellen lassen (vgl. Rescher 2007 E, Kap. 5). Moralische Irrtümer sind kontraproduktiv (vgl. Rescher 2007 E, 69) und stellen Fehlurteile dar (vgl. Rescher 2007 E, 70). Diese gilt es zu vermeiden, auch um moralische Urteile adäquat zu begründen.
168 | Reschers philosophisches System 4.9.1 Moralbegründung und Normenhierarchie Reschers Ethik unterscheidet sich von anderen modernen deontologischen Ansätzen67 nicht nur aufgrund ihres Eingebundenseins in ein sehr komplexes philosophisches System; es divergiert von den heutzutage verbreiteten Ansätzen der Analytischen Ethik vor allem durch eine andersgeartete Begründung: Reschers normative Moralkonzeption basiert auf einer allgemeinen ontologischen Basis. Ein an alle Menschen gerichteter ontologischer Imperativ stellt Rescher zufolge die begründungstheoretische letzte Grundlage des moralischen Teilsystems von Reschers philosophischem Gesamtsystem dar. Obschon auch rationalitätstheoretische Aspekte eine wichtige Rolle in dieser Moraltheorie innehaben, wird Reschers Konzept durch eine spezifisch an die Menschen gebundene Ontologie getragen. Dieser engen Bindung an bzw. eher Integration in das philosophische System insgesamt ist auch geschuldet, dass Rescher gegen die am Konsens orientierte Diskursethik von beispielsweise J. Habermas opponiert (vgl. Rescher 1993 P und Rescher 1995 IC). Reschers Moralphilosophie ist wiederum am Begriff der Kohärenz orientiert und kohäriert mit der Theoretischen Philosophie insofern, als dass der Begriff der Rationalität – verstanden als praktische Rationalität – eine enge Verbindung zur Theoretischen Philosophie herstellt. Darüber hinaus wendet sich Rescher nicht nur im Zusammenhang mit der Theoretischen Philosophie, sondern auch im Bereich der Praktischen Philosophie gegen den Skeptizismus und den Relativismus; und Reschers Ethikkonzeption zielt zudem auf eine Kritik des Nihilismus ab (vgl. Rescher 1989 MA, X). Der zentrale Begründungsansatz seiner Ethik ist sehr ausführlich in Reschers „Moral Absolutes. An Essay on the Nature and Rationale for Morality“ (Rescher 1989 MA) enthalten. Das wichtigste inhaltliche Bestandstück der normativen Ethik von Rescher bildet eine fünfstufige Hierarchie von Regeln, die von Universalität beanspruchenden, abstrakten Normierungen bis hin zu kontextbezogenen und -relativen, konkreten Handlungsanweisungen reicht.68 Die Umfassendheit dieser moralphilosophischen Konzeption von Rescher zeigt sich auch darin, dass er nicht zuletzt auch die Frage, warum man moralisch sein solle, zu beantworten sucht.
|| 67 Vgl. hierzu Kellerwessel 2003a, Kap. 2 und 3. Die folgenden Ausführungen über Reschers normative Ethik basieren auf Kap. 2.3.5 der genannten Schrift. Einige Passagen wurden bis auf die geänderte Zitatsweise übernommen. 68 Vgl. hierzu auch die oben gemachten Ausführungen zu Hierarchien von Prinzipien und Regeln in Kap. 3.4.
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Rationalität und Moral Rationalität und Moralität hängen nach Reschers System zwar deutlich miteinander zusammen, sind aber keineswegs miteinander identisch. Wichtig ist für Rescher, dass Rationalität und Moral nicht zwangsläufig in Konflikt miteinander stehen: Moralisch zu sein oder zu handeln, heiße nicht per se, von den Vorgaben der Rationalität abzuweichen (vgl. Rescher 1975 U, IX); Interessen anderer zu berücksichtigen, sei nicht grundsätzlich irrational (vgl. Rescher 1975 U, 39). Auch wenn die Klugheit des Selbstinteresses nicht immer zu moralischem Verhalten passe, weshalb Moralität nicht aus Prudentialität ableitbar sei (vgl. Rescher 1975 U, 99 f.), so sei es doch oft im Eigeninteresse, die Interessen anderer zu beachten (vgl. Rescher 1987 RMO, 30). Überdies wäre es im Interesse eines jeden, die Gesellschaft so einzurichten, dass Moralität und kluges Selbstinteresse zusammenfallen (vgl. Rescher 1975 U, 102 ff.). Das Eigeninteresse sei mit dem Gemeinwohl zu harmonisieren. Weil das menschliche Leben ein gesellschaftliches ist, ist das allgemeine Beste eben auch Teil des jeweils eigenen Besten, behauptet Rescher (vgl. Rescher 1987 RMO, 31).
Das Ziel der Moraltheorie von Rescher In Übereinstimmung mit diesen Überlegungen zum Verhältnis von Rationalität und Moralität entwickelt Rescher seine Ethikkonzeption, deren Ziel er in „Moral Absolutes“ erläutert: „The aim of the work is […] to defend the view that morality makes certain binding claims on all rational agents, claims that are universal, invariable, and changeless“ (Rescher 1989 MA, IX). Diese zu begründenden, universellen, zeitenthobenen und verpflichtenden moralischen Ansprüche seien aber sehr abstrakt, und kommen jene festliegenden und grundlegenden Prinzipien der Moral zur Anwendung, ergäben sich Handlungsspielräume und mithin ein Pluralismus. Untergeordnete, anwendungsbezogene Regeln seien also variabel; den fundamentalen Moralprinzipien komme hingegen Absolutheit („absoluteness“) zu.
Der Verpflichtungscharakter der Moral Für Rescher ergeben sich zwei Hauptfragen der Moralphilosophie: Was ist moralisch gefordert? Warum soll man der Moral folgen? (vgl. Rescher 1989 MA, 3 f.). Sich ergebende Verpflichtungen brauchen Motive (die nicht begründender Natur sind) ebenso wie Gründe. Dabei seien Hinweise auf jeweils faktisch geltende Sitten unzureichend – denn aus diesen ergäben sich nur „lokale“ Verpflichtungen. Die grundlegenden moralischen Verpflichtungen seien aber universell, gelten also prinzipiell für alle Personen in gleicher Weise als verbindlich
170 | Reschers philosophisches System und verpflichtend (vgl. hierzu und zum Folgenden Rescher 1989 MA, 8 f.). Ferner müssten sich für moralische Verpflichtungen einschlägige Gründe angeben lassen. Gültige moralische Verpflichtungen bedürfen daher nach Rescher eines universalen Moralprinzips. Es liegt seines Erachtens im Begriff der Moral, dass, wenn jemand in einer bestimmten Situation moralische Pflichten oder Ansprüche zu Recht hat, jeder andere in genau derselben Situation diese Pflichten oder Ansprüche auch hat. Dieser allgemeine Verpflichtungscharakter ergebe sich begrifflich, und aus der genannten Begründungsweise resultiere eine Hierarchisierung von Normierungen: Geltende Verpflichtungen gelten für alle in gleicher Weise, weil die Unterordnung moralischer Prinzipien unter höhere bzw. grundlegendere Moralprinzipien, die für alle gelten, der einzige Weg ist, auf dem moralische Prinzipien begründet werden können. Moralisch fundamentale Normierungen sind demzufolge allgemein, das heißt auf alle Akteure anwendbar. Deshalb können sie auch von jedem Handelnden als rechtfertigender Grund für eine Handlung angegeben werden, sobald die Handlung unter die entsprechende Normierung fällt. Dabei könne die resultierende Universalität insofern als bedingt angesehen werden, als dass bestimmte geltende Normierungen nur zur Anwendung kommen, wenn bestimmte Vorbedingungen erfüllt sind. Zum Beispiel sei Diebstahl immer moralisch falsch (unter „normalen Umständen“, wenn also nicht ein besonderer Grund für ihn vorliegt wie beispielsweise beim Mundraub), und dies gilt Rescher zufolge auch, wenn in einer besonderen Gesellschaft gar kein Privateigentum oder Eigentum vorhanden sein sollte, so dass faktisch das Ausführen eines Diebstahls nicht möglich ist (vgl. Rescher 1989 MA, 11). Überdies beinhaltet das Konzept von Rescher, dass eine weitere Anwendungsbedingung Berücksichtigung finden muss: Bestimmte einzelne Normierungen dürfen übertreten werden, wenn ihre Einhaltung zugleich eine Verletzung einer höherstufigeren bzw. wichtigeren Norm einschlösse. Beispielsweise ist gemäß dieser Überzeugung eine lebensrettende Notlüge zugunsten eines unschuldig Verfolgten zulässig. Einzelne Handlungen sind also mitsamt ihren vernünftigen Erklärungen (Rechtfertigungen) zu prüfen (vgl. Rescher 1989 MA, 25 und 33 sowie Rescher 1994a, 94 f.).69
|| 69 Dies bedeutet für Rescher jedoch keineswegs, dass genau diejenigen Handlungen zulässig wären, über deren Zulässigkeit sich faktisch ein Konsens erzielen lassen könnte; vgl. Rescher 1993 P, passim.
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Begriff und Inhalt der Moral Inhaltlich Grundlegendes der Moralität liegt für Rescher bereits durch unseren Begriff von Moral fest. Was von diesem zu sehr abweicht, stelle keine alternative Moral dar, sondern gar keine. Schließlich insistiert Rescher aus begrifflichen Gründen, also letztlich aufgrund seines Verständnisses von Begriffen, darauf, dass eine vollkommen andere Moral gar nicht möglich ist: Weichen herrschende Normierungen in einer fremden Gesellschaft zu weit von den „unsrigen“ ab, herrschte in jener fremden Gesellschaft nicht eine andere Moral, sondern keine. Es gäbe dort nichts, was wir Moral nennen. Aus begrifflichen Gründen also sei eine völlig andere Moral auszuschließen (vgl. hierzu Rescher 1989 MA, 40 ff.). Was zur Moral gehöre, liegt demnach für Rescher teilweise begrifflich fest und ist insoweit demzufolge nicht relativ. Das heißt, eine Gesellschaft, in der etwa der Missbrauch von Frauen, das Misshandeln von Fremden und ein sich Ergötzen am Leid Unschuldiger üblich ist, hat laut Rescher keineswegs eine andere Moral, sondern gar keine Moral; ein derartiges Verhalten ist für ihn mit dem Begriff der Moral nicht kompatibel (vgl. Rescher 1989 MA, 40). Analoges gelte für einzelne Personen: Wer meint, das Verursachen unnötigen Leides sei moralisch nicht falsch, hat nicht verstanden, was „Moral“ überhaupt bedeutet (vgl. Rescher 1993 SPI, 80). Aufgrund von „conceptual reasons“ können, so Rescher weiter, andere etwas unter den gleichen Begriff Fallendes nicht auf völlig andere Art und Weise verfolgen. Die Respektierung der Interessen anderer bzw. der anderen überhaupt sei aufgrund dessen für die Moral unverzichtbar (vgl. Rescher 1989 MA, 40). Das Grundlegende der Moral wird dabei von Rescher als begrifflich festliegend verstanden, deshalb wird es auch als zeitlich invariant gedacht. Nur dasjenige, was nicht zur Grundlage gehört, unterliege zeitlichen Änderungen (vgl. Rescher 1989 MA, 38). Etwaige Verbesserungen beruhten auf den jetzigen Standards (vgl. Rescher 1989 MA, 46) – anderenfalls wäre ja auch nicht klar, dass es sich tatsächlich um Verbesserungen handelt und nicht nur um Veränderungen, und jene Standards bzw. Grundlagen seien eben infallibel. Was jedoch nicht derart grundlegend ist, sei zeitlich veränderbar.70 Aufgrund begrifflicher Festlegungen beträfen die allgemeinen höherstufigen Prinzipien der Moral den Wert aller Personen und ihre Rechte bezüglich Sicherheit und Freiheit (vgl. Rescher 1989 MA, 41). Bei diesen Prinzipien hande|| 70 Intendiert man aber, Personen oder Handlungen aus der (weiter entfernteren) Vergangenheit zu beurteilen, sei zu berücksichtigen, was der damalige Wissensstand hinsichtlich der Moral war. Heutzutage gewusste Standards seien nicht ohne Weiteres auf die Vergangenheit zu übertragen, meint Rescher in „By the Standards of Their Day“, vgl. z.B.: Rescher 2003 RPP, Kap. 6, Rescher 2006 PPD, Kap. 3.
172 | Reschers philosophisches System le es sich aber nicht um Axiome, sondern um sogenannte „truisms“ (Rescher 1998 R, 253). Sie gelten zunächst als plausible Prämissen. Von ihnen ausgehend wird weder deduziert noch induziert, ihre Wahrheit oder Geltung sei durch plausible Konklusionen und durch ihr Eingehen in eine kohärente Ethikkonzeption darzutun (vgl. Rescher 1998 R, 231). In diesem Sinne als grundlegend falsch anzusehen sind eine Reihe von Handlungen wie „murder […]; taking improper advantage of people; inflicting pointless harms; lying and deception for selfish advantage, betraying a trust for personal gain; breaking promises out of sheer perversity“ und andere (Rescher 1993 SPI, 197, Rescher 1997 O, 146 f., Rescher 2005 CS, 180 f.). Bezüglich dieser Handlungsweisen gelte, dass sie immer, überall und für jede Person moralisch falsch sind (vgl. Rescher 1989 MA, 44). Solche Handlungsweisen verstießen gegen die Essenz der Moral, die universell und absolut ist (vgl. Rescher 1989 MA, 49), sie verstießen gegen die allgemeinen Interessen, wie nicht verletzt zu werden, nicht belogen zu werden, nicht ungerechtfertigt benachteiligt zu werden oder um die Möglichkeit zur Selbstentfaltung gebracht zu werden (vgl. Rescher 1989 MA, 18).
Hierarchie der Moralprinzipien Diese Kernpunkte ergeben sich für Rescher aus dem Begriff der Moral. Demgemäß leitet er ein oberstes Prinzip ab, welches sich aus der Definition bzw. aus der Funktion des Moralbegriffs ergibt: „Act with due heed of the interests of others“ (Rescher 1989 MA, 48 bzw. Rescher 1993 SPI, 189; ähnlich in Rescher 2010 RP, 34). Die gebührende Achtung für die Interessen anderer ist demnach für Rescher absolut und universell (vgl. Rerscher 2010 RP, 187).71 Da die vorhandenen Interessen aber variieren könnten, ergäben sich auf den unteren Ebenen der Hierarchie der Rescherschen Moralkonzeption Spielräume für einen Pluralismus. Das oberste bzw. erste Level liege also strikt fest – es definiere „Moral“. Auf der zweiten Ebene fänden sich dann „Basic Principles and Values“ 72, also grundlegende Prinzipien und Werte. Dazu gehören beispielsweise Prinzipien wie „Do not unjustly deprive others of life, liberty or opportunity of selfdevelopment“. Auch sie gelten nach Rescher universell und absolut. Ebene drei umfasst sodann „Governing Rules“ wie das Verbot des Lügens. Erst die vierte || 71 In Rescher 1994 S, Kap. 4, führt Rescher allerdings seinen „standardism“ in die Ethik ein, in der moralische Regeln als generelle Aussagen verstanden werden, die unter besonderen Bedingungen Ausnahmen zulassen (vgl. Rescher 1994 S, 94). 72 Vgl. hierzu und zum Folgenden Rescher 1989 MA, 50 ff., Rescher 1993 SPI, 191 ff., Rescher 1997 O, 137 ff. sowie Rescher 2010 RP, 33 ff.; hier ist die Rede von „Governing Rules and Values“.
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Ebene nähert sich konkreten Anwendungen bzw. Umsetzungen. Sie beinhaltet „Operating Directives“, wird also konkreter. Die „Operating Directives“ besagen etwas wie „Das Töten von Menschen ist falsch – mit Ausnahme von Selbstverteidigungshandlungen oder wenn es im Rahmen geltender Gesetze erfolgt, wie im Krieg oder beim Vollziehen der Todesstrafe“. Hier sind demnach jeweilig faktisch vorliegende Situationen zu beachten, womit weiterreichende Differenzierungen ins Spiel kommen. So setzt hier ein Pluralismus ein, der auf der fünften und untersten Stufe noch deutlicher zum Vorschein kommt: Sie enthält besondere Einzelfallregelungen, womit der stufenweise Übergang von absoluten, abstrakten Normen auf kontextbezogene Regelungen abgeschlossen ist.73
Pluralismus – nicht Relativismus Weil in solchen Kontexten kulturelle Regelungen voneinander differieren können, ergibt sich der genannte Pluralismus. Diesen sondert Rescher aber sehr wohl von einem Relativismus ab, der grundlegendere Stufen betreffen könnte.74 Jener Pluralismus resultiere aus Standpunktverschiedenheiten und Divergenzen der jeweils gemachten Erfahrungen. Gleichwohl untersteht er den höheren universellen Normen. Daraus folgt, dass wenn in verschiedenen Gesellschaften differierende Normen faktisch gelten, diese nicht der Kritik entzogen sind. Sie könnten vielmehr auf der Basis der höherstufigen Normierungen kritisiert werden (vgl. Rescher 1989 MA, 59 f. und Rescher 1993 SPI, 203 f.), als deren oberste Instanz(en) nicht-relative Elemente in Erscheinung treten.75 Trotz des Pluralismus soll Reschers Konzeption also keineswegs ausschließen, dass Fragen der Moral objektiv und rational entschieden werden können. Schließlich gibt es Rescher zufolge einen objektiven Standard, der sich aus der Definition der Moral ergibt: die rational bzw. objektiv bestimmbaren Interessen anderer bzw. deren Beachtung oder Verletzung. Rescher spricht sich deshalb auch gegen einen normativen Relativismus aus, den er trotz seines Plädoyers zugunsten eines Pluralismus auszumerzen trachtet. Aus kulturellen Unterschieden bzw. verschiedenartigen Sitten folge deshalb kein normativer Relativismus, weil Sitten selbst ein Gegenstand moralischer || 73 Ein weiteres Beispiel einer solchen Hierarchie – das der Ehrlichkeit – führt Rescher 2005 CS, 187 an. Weitere Beispiele enthält diese Schrift in einem Schaubild; vgl. Rescher 2005 CS, 192. Vgl. auch Rescher 2010 RP, 34. In dieser Schrift findet sich auch ein umfassenderes Schaubild, welches weitere Beispiele anführt; vgl. Rescher RP 2010, 37. 74 Vgl. hierzu auch Rescher 1993 P, 2; zum Relativismus siehe unten. 75 Zur Frage, inwieweit damit eine transzendentale Normenbegründung vorliegen soll, vgl. die knappen Hinweise in Rescher 1994 PIIP, 893 ff.
174 | Reschers philosophisches System Kritik werden können (vgl. Rescher 1989 MA, 24 ff.)76. Vor allem aber sei man „rationally constrained by considerations of mere self-consistency to see one’s own moral position as rationally superior to the available alternatives“ (Rescher 1989 MA, 66) – würde man eine andere Moral als zu präferieren einschätzen, würde man sie übernehmen. Die je eigene Moral kann daher nicht als eine unter mehreren oder vielen angesehen werden, die alle gleich relative Gültigkeit hätten.
Warum moralisch sein? Klärungsbedarf besteht noch bezüglich der Frage, warum man moralisch sein bzw. handeln solle. Die bereits angesprochene, früh von Rescher vertretene Ansicht, es sei im Großen und Ganzen klug, moralisch zu sein und zu agieren, hat Rescher in späteren Publikationen beibehalten (vgl. Rescher 1989 MA, 80 und Rescher 1993 SPI, 207). Doch räumt er ein, dass nicht jede einzelne moralische Handlung im klugen Selbstinteresse des Akteurs zu sein scheint; und bisweilen sei ein prudentielles Vorgehen nicht moralisch (vgl. Rescher 1989 MA, 82). Aber eine bloß prudentielle Erklärung der Moral hält Rescher ohnehin nicht für ausreichend, weil sie nicht erklären kann, weshalb man moralisch sein soll (vgl. Rescher 1989 MA, 86 bzw. Rescher 1993 SPI, 210 f.). Kontraktualistische Antworten auf die Frage, warum man moralisch zu handeln habe, hält Rescher gleichfalls für verfehlt, denn sie geben keinen Grund an, weshalb man einen einmal geschlossenen Vertrag auch einhalten soll (vgl. Rescher 1989 MA, 87 bzw. Rescher 1993 SPI, 211 f. und Rescher 1997 O, 155 f.). Vielmehr lasse sich die angesprochene Fragestellung beantworten, wenn man von einer ontologischen Verpflichtung ausgehe, „an obligation you owe not only to yourself but to the world-system that has brought you forth“, und die besage, „realize your highest potential“ (Rescher 1987 RMO, 38). Dies bedeute wiederum, jeder solle sein Bestes tun, indem er die Interessen anderer beachte. Anders formuliert: Es gebe eine „ontological duty of self-realization“ (Rescher 1989 MA, 90 bzw. Rescher 1993 SPI, 214): „Our duty to be moral […] inheres in our common nature as free rational agents“ (Rescher 1994 RC, 387 bzw. Rescher 1994 SPI, 253). Letztlich liege die Geltung moralischer Normen begründet „in the fact that it is only through being moral that we can realize fully our nature as the sort of beings we potentially are – and that we ought to see ourselves as
|| 76 Vgl. hierzu auch Rescher 2005 CS, 174 ff. Hier führt Rescher aus, dass begründete moralische Normen nicht mit den in einer Gesellschaft befolgten moralischen bzw. sittlichen Regeln in eins zu setzen sind. Versucht man dies, begehe man eine „Anthropologists‘ Fallacy“.
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being“ (Rescher 1994 RC, 387 bzw. Rescher 1994 SPI, 253). Die Begründung der Moral passt somit zu Reschers anthropologischen Auffassungen zur gebotenen Selbstentwicklung (siehe Kap. 4.1). Zu unserer Natur gehört Rescher zufolge auch unsere Rationalität. Im Rahmen dieser Selbstverwirklichung geht es daher auch um die Selbstverwirklichung als rationales Wesen: the ultimate basis of our moral duty roots in the obligation we have as rational agents (towards ourselves and the world at large) to make the most and best of our opportunities for self-development. Moral obligation ultimately inheres in this ontological obligation to the realization of values in one’s own life (Rescher 2010 RP, 192).
Als rationales Wesen soll man demnach diejenigen moralischen Werte realisieren bzw. zur Geltung bringen, die man als vernünftig ansieht. Die dabei involvierte Vernunft ist die wertende Vernunft (siehe Kap. 3.4) bzw. „axiologische Vernunft“ (vgl. Rescher 2010 RP, 192).
Der ontologische Imperativ als Grundlage der Moralkonzeption Reschers Eine Verletzung dieser ontologischen Verpflichtung zur Selbstentfaltung der eigenen Möglichkeiten ist in den Augen Reschers nicht nur „ill-advised but somehow perverse and actually wicked“ (Rescher 1989 MA, 90 bzw. Rescher 1993 SPI, 214). Sein ontologisches Potential verkümmern zu lassen ist Rescher zufolge demnach grundsätzlich (moralisch) falsch. Jener ontologische Imperativ, demzufolge man das Beste aus sich zu machen hat, fordere nämlich nicht nur das Nutzen der eigenen Intelligenz und die Ausbildung von Fähigkeiten, die anderen von Nutzen sein könnten, sondern auch die gebührende Beachtung der Interessen anderer (vgl. Rescher 1989 MA, 92 bzw. Rescher 1993 SPI, 216 und Rescher 1997 O, 157). Der ontologische Imperativ schließt für Rescher also den Imperativ der Moral ein. Der verpflichtende Charakter der Normen wurzelt demnach Rescher zufolge zuletzt in dem ontologischen Imperativ: On this ontological perspective, the ultimate basis of moral duty roots in the obligation we have as rational agent (toward ourselves and the world at large) to make the most and best of our opportunities for self-development (Rescher 1989 MA, 93 bzw. Rescher 1993 77 SPI, 217 und Rescher 1997 O, 159).
|| 77 In einer Textstelle schwächt Rescher diese Verpflichtung gegenüber der Welt vorsichtig ab. Dort (vgl. Rescher 1993 SPI, 247 f.) heißt es, wenn die Verpflichtung nicht gegenüber der Welt im Großen und Ganzen bestehe, dann doch uns selbst gegenüber.
176 | Reschers philosophisches System Die Verpflichtung zur Normeneinhaltung bzw. auf die Moral resultiert laut Rescher letztlich also aus der ontologischen Verpflichtung, bestimmte Werte zu erzeugen bzw. zu steigern (vgl. Rescher 1989 MA, 94; vgl. ferner Rescher 1993 SPI, 217 f.). An dieser Stelle wird innerhalb der Ethikkonzeption Reschers entsprechend der Schritt vom Sein zum Sollen vollzogen („We here cross the boundary from an is of sorts […] to an ought“; Rescher 1989 MA, 94) – wer rational ist, soll rational handeln, und wer frei ist, soll moralisch handeln. Wer in der je eigenen Rationalität einen Wert erblickt, ist verpflichtet, in der Rationalität der anderen gleichfalls einen Wert zu sehen, meint Rescher (vgl. Rescher 1989 MA, 95). Wer aus sich nicht das Beste zu machen sucht, handelt nach Rescher nicht nach dem grundlegenden rationalen Imperativ („realize oneself as the sort of creature one happens to be“; Rescher 1987 RMO, 37) und weist somit die den Menschen gemäßen ontologischen Werte zurück. Wer so handelt, schädige daher seinen eigenen Charakter: „We should be moral not because it (somehow) pays, but because we ought to be so as part and parcel of our ontological obligation towards self-realization“ (Rescher 1987 RMO, 37; vgl. Rescher 1989 MA, 9093). Personen, die auf diese Weise agieren, würden demnach sich selbst und auch dem an sie gerichteten ontologischen Anspruch nicht gerecht – „an obligation you owe not only to yourself but to the world-system that has brought you forth“ (Rescher 1987 RMO, 38). Wer diese gebotene Selbstrealisation verfehlt, ist nach Reschers Auffassung ein „Soziopath“ (vgl. Rescher 1994 RC, 448) und kann nicht mehr unter die Kategorie „Personen“ gezählt werden. Denn jemand sei nur dann eine Person, wenn er oder sie ein intelligenter, wertender, zielorientierter, rationaler, sich selbst als frei und intelligent ansehender Mensch ist, der sich und andere achtet (vgl. zu dieser Definition Rescher 1993 SPI, 113 f.; siehe auch Kap. 4.1).78 Zum Personsein gehört das Moralischsein demnach konstitutiv hinzu. Aus all dem Gesagten ergibt sich, dass ein Verfehlen der Moral ein Verfehlen der ontologischen Möglichkeiten darstellt (vgl. Rescher 1989 MA, 97 bzw. Rescher 1993 SPI, 220 und Rescher 1997 O, 160); Selbstrespekt und Selbstwert erfahre man nur dann, wenn man moralisch sei, also andere mitsamt ihren Interessen berücksichtige. Dabei spielt dies in jeder moralisch relevanten Handlung eine Rolle: Ein Handlungsvollzug hat nämlich nach Reschers Sicht nicht nur direkte Konsequenzen, sondern auch indirekte Folgen. Mit einer jeden Handlung entscheidet ein Akteur auch, was er aus sich macht (vgl. Rescher 1989 MA, 99, Rescher 1993 SPI, 222 und Rescher 1997 O, 167). Weil der rationale || 78 Vgl. zur Kritik an dieser Bestimmung Kekes 1994, 418.
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ontologische Imperativ unter anderem gebiete, moralisch zu sein bzw. sich zu einer Selbstrespekt verdienenden Person zu machen, ist man Rescher zufolge irrational, wenn man auf diesen Selbstrespekt verzichte bzw. ihn nicht beachte (vgl. Rescher 1989 MA, 100 und Rescher 1993 SPI, 223 f.). „A rational agent that fails in endeavouring to realize its best or real interests is ipso facto failing to exercise that rationality to optimal effect“ (Rescher 1993 SPI, 223). Damit gilt es für Rescher als erwiesen: „morality and rational self-interest can – and should – live in peaceful coexistence“ (Rescher 1989 MA, 102). Im wirklichen Selbstinteresse lägen die Ausbildung der Rationalität und das moralische Handeln. Auch das Rationalsein ist, so Rescher weiter, eine Folge der ontologischen Verpflichtung; es gründe in der Forderung, das Beste aus sich zu machen (vgl. Rescher 1993 R, 205, dt. 242, wo von einer „duty to be rational“ die Rede ist). Schließlich gehöre Rationalität zu dem, was einen Menschen definiert (vgl. hierzu die ausführliche Darstellung in Rescher 1993 SPI, 21 f.).79 Letztlich sei es also rational, moralisch zu sein. Gleichwohl ist nach Reschers Ansicht Moral nicht durch Selbstsucht oder dergleichen zu begründen; moralisch zu sein sei vielmehr in einem wohlverstandenen, wirklichem Eigeninteresse, und dem nicht zu folgen, sei irrational (vgl. Rescher 1989 MA, 103 f., Rescher 1993 SPI, 227 und Rescher 1997 O, 162 f.). Mangelnde Motivation zur Moral sei zudem kein Grund, sich der Moral zu entziehen.
Kritische Diskussionen: Moral und ontologische Verpflichtung80 Rescher geht, wie verdeutlicht wurde, im Bereich der normativen Ethik davon aus, dass man als Mensch die moralische Aufgabe habe, seinen ontologischen Möglichkeiten gerecht zu werden – eine Annahme, die zu seinen anthropologischen Grundüberzeugungen kohärent passt. Doch dieses Argument der Realisierungspflicht erscheint in verschiedenen Hinsichten nicht unproblematisch, denn zweifelsohne hat man als Mensch auch die ontologische Möglichkeit, sich
|| 79 Wie aber bereits gesagt wurde (vgl. Kap. 3.4), ist für Rescher die Frage, weshalb man rational sein soll, nur durch eine rationale Erwiderung zu beantworten, was aber laut Rescher keinen vitiösen Zirkel darstellt, sondern einen notwendigen („essential“). Für eine Verteidigung der Rationalität müsse die Rationalität in Anspruch genommen werden, aber die genannte Frage aufzuwerfen heiße bereits, sich zur Ratio zu bekennen, da sie sinnvoll nur als eine Frage nach rationalen Gründen aufzufassen sei; vgl. Rescher 1995 SR, 24 f. und Rescher 1997 O, 121. 80 Eine ausführlichere kritische Diskussion zu Reschers normativer Ethik findet sich in Kellerwessel 2003a, 269-280.
178 | Reschers philosophisches System zu einem unmoralisch handelnden Menschen zu machen.81 Besteht demnach die Verpflichtung, sich zum Besten zu entwickeln, müsste man (zuvor) wissen, was tatsächlich das Beste ist. Das heißt: Man bedürfte eines Wissens um die zu realisierenden Werte bzw. einzuhaltenden Normen, um genau genug zu wissen, was man aus sich machen soll (vgl. Dupla 1998, 42). Geht man von der genannten Potentialität aus, bedarf es eines Wissens, was zu realisieren ist, was also moralisch gut ist. Dies liegt für Rescher im Vorhinein (weitgehend) fest (als „truisms“) – ergibt sich aber nicht ohne Weiteres vollständig aus dem Begriff der Moral. Weil nach Rescher moralische Werte bzw. tertiäre Qualitäten aus der Rationalität einzelner resultieren, stellt sich auch hier die Frage, weshalb Rescher von der Einheitlichkeit bezüglich der Auffassungen vom Guten ausgeht: „Wertdaten“ sind schließlich subjektabhängig und nicht zwangsläufig für alle gleich, so dass sie – auch bei interner Kohärenz – auch nicht unbedingt deckungsgleich sein müssen (vgl. Wüstehube 1995, 130). Demgemäß müssen auch keine einheitlichen Ansichten betreffs Normen resultieren, was wohl insbesondere dann der Fall ist, wenn die Möglichkeit einer geringfügig abweichenden Begriffsbestimmung von „Moral“ involviert ist. Das heißt: Liegen unterschiedliche Wertauffassungen zugrunde, ist nicht zu garantieren, dass bei vorliegender Kohärenz alle Menschen zu einer identischen Menge von grundlegenden Normen gelangen, die zudem in einem für alle gleichen hierarchischen Verhältnis zueinander stehen. Dabei kommt erschwerend hinzu, dass auch die Option besteht, um der internen Kohärenz willen einen Wert zu tilgen. Rescher müsste also nachweisen, dass bei einer gegebenen Wertansicht rationalerweise nur eine kohärente Wertemenge gebildet werden kann. Dies dürfte aber auszuschließen sein; zumindest hat Rescher kein Verfahren angegeben, welches rational zu präferieren ist und zu einem einheitlichen Resultat führt. Rescher hat demnach nicht überzeugend ausgeschlossen, dass verschiedene rationale Personen kohärente Moralsysteme bevorzugen können, die zumindest innerhalb einer gewissen Bandbreite voneinander abweichen. Tritt eine solche Abweichung ein, wäre von Rescher erst noch darzulegen, wie mit einem Verweis auf die jeweilige eigene Kohärenz und das jeweils eigene Begriffsverständnis eine eindeutige Lösung zugunsten eines der Systeme erzeugt werden kann. Zudem kann die Frage aufgeworfen werden, weshalb man nicht hinter seinen ontologischen Möglichkeiten zurückbleiben soll oder darf. Sollte hier implizit ein moralisches Argument vorhanden sein, tangierte dies wiederum die Möglichkeit, die Moral erst zu begründen; der Verdacht auf das Vorliegen eines || 81 Vgl. hierzu auch Gewirth 1993, 493 f.
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vitiösen Zirkels läge nahe. Sollte hier hingegen kein moralisches Argument involviert sein, lassen sich weitere Fragen aufwerfen: Warum soll ich, wenn ich meine ontologischen Möglichkeiten zu realisieren trachte, die Interessen anderer beachten – und nicht zum Beispiel meine Intelligenz zu primär eigenen Interessenwahrnehmungen einsetzen? Weshalb soll ich der Welt etwas schulden, nur weil sie mich hervorgebracht hat? Und: Was wäre beispielsweise gegen die stoische Weigerung, seine eigene Persönlichkeit voll zu entfalten, zu sagen? (vgl. Wüstehube 1995, 132 und Wüstehube 1998, 134). Rescher könnte zwar gegen eine solche Weigerung, sich moralisch zu entwickeln, auf den Selbstrespekt und den Selbstwert von Personen hinweisen. Aber abgesehen davon, dass dergleichen etwas sein könnte, was sich erst im Verlaufe der Entwicklung (zur Moral hin) einstellt, darf dergleichen nicht (wie Rescher einräumt, vgl. Rescher 1989 MA, 103) auf selbstsüchtigen Eigeninteressen basieren. Vielmehr ergebe es sich aufgrund von einem wohlverstandenen Eigeninteresse. Aber auch dies wirft noch eine Schwierigkeit auf: Sollte etwa das Einhalten einer Norm für mich eine gravierende Schädigung (im Vergleich zu einer Übertretung durch mich) bedeuten (z.B. eine extrem hohe Gefährdung für mein Leben), erlaubte mein wohlverstandenes Eigeninteresse dann nicht eine Abwägung zwischen dem Verlust an Selbstrespekt und den anderen Negativa? Falls ja, wären wohl nicht alle Normeinhaltungen durch den ontologischen Imperativ geboten, falls nein, wäre nicht der Teil des ontologischen Imperativs, dem Folge geleistet würde, als den anderen Teilen vorgeordnet verstanden, also die Moral als primär vorausgesetzt statt begründet? Es verbleiben also schwer beantwortbare Fragen. Die benannten Schwierigkeiten wären vielleicht weniger gravierend oder gar zu beseitigen, wenn der basale ontologische Imperativ die einzig mögliche Grundlage der Moral wäre und einheitliche Normierungen garantierte. Doch lässt sich die als faktisch vorhanden zugestandene Potentialität des Menschen nicht dazu gebrauchen, zwingend auf die Realisierung dieser bzw. auf ein Realisierungsgebot zu schließen. Denn wäre die Realisierung menschlicher Potentiale moralisch geboten, bräuchte dies wiederum eine Begründung – sofern man die Kohärenz mit dem philosophischen Gesamtsystem nicht wie Rescher als ausreichend betrachtet. Anderenfalls wäre die Annahme dieses Gebots keine taugliche Begründung der Moral, weil es selbst wiederum als begründungsbedürftig anzusehen ist: Schließlich gibt es keinen allgemeinen Schluss, der von einem beliebigen Potential auf ein Gebot zur Realisierung dieser Potentialität führt – ganz abgesehen davon, dass ein Umsetzen aller Möglichkeiten nicht moralisch wünschenswert sein kann. Denn auch alle Verletzungen von moralischen Normen sind schließlich Realisierungen menschlicher Potentiale.
180 | Reschers philosophisches System Gleichfalls bedenklich ist Reschers Erklärung bezüglich des Übergangs von einem Potential, sich moralisch verhalten zu können, zu einer Verpflichtung, gemäß der Moral zu handeln, soweit Rescher dabei auf das Selbstwertgefühl bzw. den Selbstrespekt zu sprechen kommt. Hier gilt es zu bedenken, dass sich augenscheinlich auch nicht-moralische Verhaltensweisen mit dem Selbstwertgefühl bzw. dem Selbstrespekt als kompatibel erweisen können. Selbstrespekt und -wertgefühl bzw. das wohlverstandene Eigeninteresse eines Betroffenen sind nicht in jedem Fall zwingende Gründe, moralische Potentiale zu entfalten. Hinweise auf diese Phänomene sind demnach keine sehr starken Argumente zugunsten eines Gebots, seine moralischen Potentiale zu entwickeln und zu gebrauchen.
Diskussion zu Reschers Explikation des Moralbegriffs Wichtig ist für Rescher zudem der begriffliche Ausschluss alternativer Moralen, denn er begründet seine begriffliche Explikation des Moralbegriffs nicht eigens als alternativlos, in dem er alle anderen (bisherigen) Explikationen mit überzeugenden Gründen eine nach der anderen zurückweist. Damit verbleibt die Möglichkeit zumindest partiell abweichender Begriffsbestimmungen. Dagegen führt Rescher lediglich seine Begriffsexplikation an. Aber eine andere Person könnte sich ihrerseits auf ihr Begriffsverständnis berufen, und dies könnte geringfügig oder vielleicht in etwas höherem Maße von Reschers Verständnis des Begriffs abweichen. Ernsthafte Schwierigkeiten bereitet auch Reschers Auffassung von Moral. Zwar erscheint es durchaus als zulässig, dass Rescher den Begriff der Moral in seinem Sinne bestimmt – doch daraus ergibt sich nicht, dass alle kompetenten Sprachverwender mit der Begriffsbestimmung von Rescher exakt übereinstimmen (müssen). Sofern sich hier Abweichungen ergeben (können), eröffnen sich Spielräume für Variationen von Normen. Woran es folglich mangelt, ist ein überzeugender Nachweis, dass alternative Begriffsbestimmungen ausgeschlossen sind – ein Problem, das vor allem bei wenig gravierenden inhaltlich abweichenden Bestimmungen deutlich wird. Dies legt nahe, dass eine gewisse Bandbreite bezüglich der Bestimmung des Moralbegriffs nicht von vornherein auszuschließen ist. Dies besagt, dass hier ein weitergehender Argumentationsbedarf vorhanden ist, will man eine Begriffsbestimmung vor der anderen auszeichnen. Rescher verweist im Grunde genommen lediglich darauf, dass sein Begriffsverständnis mit dem Sprachgebrauch übereinstimme. Ob dies in der Tat der Fall ist, bleibt aber offen. Unterstützt wird diese Auffassung Reschers mit dem Argument, er kläre eben „seinen“ oder „unseren“ Moralbegriff. Gerade dieses Argument ist aber zweischneidig: Jeder andere mit seinem (geringfügig) ande-
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ren Begriffsverständnis kann es ebenfalls verwenden und sodann eine andere kohärente Moral vertreten, da Rescher keinen unabhängigen Beweis der Unmöglichkeit einer alternativen Moral vorgelegt hat. Das heißt: Eine allgemeine Verbindlichkeit beanspruchende Moral lässt sich auf diese Weise von Rescher nicht hervorbringen – zumal moralische Werte als tertiäre Werte nicht als von der jeweiligen Konzeption unabhängige Instanz der Prüfung zu sehen sind. Der Schritt von Reschers Sprache zur Sprache überhaupt und damit zu einem Begriffssystem im Allgemeinen bedürfte weiterer Begründungen bzw. Klärungen. Selbst wenn Rescher also ein kohärentes System präsentieren kann, wäre noch darzutun, dass es alternativlos ist und seine Normierungen infolgedessen universelle Gültigkeit mit Recht beanspruchen.
Ein weiteres Problem von Reschers normativer Ethik: Kohärenz ohne Relativismus Sollte sich demgemäß ein variierendes Verständnis von „Moralität“ konsistent formulieren lassen, und sollten sich ferner Variationen von Grundbedürfnissen oder Interessen plausibel machen lassen, wären inhaltlich abweichende normative Ethikkonzeptionen möglich, die wie Reschers Theorie Anspruch auf Kohärenz erheben könnten. Sollte diese Alternative zudem betreffs der Einhaltung von Grundnormen zu abweichenden Resultaten gelangen, wäre ein keineswegs harmloser Relativismus nicht mehr definitiv abgewiesen. Gegen eine solche Theorie könnte von Rescher allenfalls noch der „ontologische Imperativ“ angeführt werden, doch auch dieser ist, wie erwähnt, problematisch. Dies bedeutet, es wäre weiter aufzuklären, ob Reschers Ethikkonzeption den Herausforderungen eines Relativismus völlig widerstehen kann und tatsächlich nur ein theoretisch harmloser Pluralismus zugelassen wird, wie Rescher annimmt.
Positive Würdigung Reschers Versuch, seine Ethikkonzeption argumentativ abzusichern, lässt sich also kritisieren. Trotz dieser Kritik sollen aber die positiven Aspekte seines Ansatzes nicht übergangen werden: Relevant ist sicher für eine jede Theorie der Moral Reschers Hinweis, dass eine zu starke Abweichung von unseren moralischen Vorstellungen nicht von uns als „moralisch“ qualifiziert werden kann. Zu akzeptieren ist zudem wohl Reschers Auffassung, dass das Begriffsverständnis kompetenter Sprachteilnehmer bezüglich des Begriffs „Moral“ nicht gänzlich übergangen werden kann. Aber noch ein weiterer wichtiger Punkt erscheint aufgreifenswert. Reschers Konzeption bietet eine triftige Erklärung dafür, warum man bisweilen einzelne
182 | Reschers philosophisches System Normen übertreten darf oder gar soll: wenn nämlich die Einhaltung einer Norm zugleich die Verletzung einer höheren Norm bedeutet oder zur Folge hat. Einem derartigen Normenkonflikt kann wohl nur durch eine Hierarchisierung von Normierungen begegnet werden – und damit kommt die Idee einer Systematik und Kohärenz ins Spiel: Soll eine Klärung moralisch zulässiger Normübertretungen ermöglicht sein, muss eine gewisse Systematisierung vorliegen – und Inkohärenzen müssen ausgeschlossen werden.82
4.9.2 Werte und Ideale Neben der normativen Ethik und moralischen Idealen sind auch Werte und Ideale Teil des philosophischen Systems von Rescher. Dabei sind diese Werte – Produkte menschlicher Evaluationen – relevant auch für Systemteile, die nicht der Moralphilosophie zuzurechnen sind, wenn etwa allgemein der Wert der Erkenntnis von Rescher betont wird oder auch die oft übersehene Rolle von Werten in den Wissenschaften. Gleichwohl sind zentrale Werte wie der Wert des Lebens, von Freiheit oder Glück insbesondere für die Moralphilosophie von Belang.
Werte Rescher erörtert Werte ausführlich in „On the Import and Rationale of Value Attribution“ (Rescher CP VIII, Kap. 2) und beginnt mit der Erörterung ihres Status. Wichtig ist für Rescher festzuhalten, dass Werte nicht bloß subjektiv sind. Nach seiner Sichtweise lassen Werte sich als tertiäre Eigenschaft fassen. Sind sekundäre Eigenschaften Wahrnehmungseigenschaften, die von Subjekten an Dingen wahrgenommen werden können, sind nach Rescher jene tertiäre Eigenschaften Produkte des Denkens bzw. können durch das Denken erfasst („recognize“) werden. Werte, verstanden als tertiäre Eigenschaften, sind der Kognition zugänglich, nicht der Wahrnehmung. Während sekundäre Eigenschaften affektive Reaktionen auslösen (können), so können die tertiären Eigenschaften reflexive Reaktionen bewirken.
|| 82 Vgl. für einen solchen Versuch Kellerwessel 2003a, Kap. 3.
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Werte als tertiäre Eigenschaften Tertiäre Eigenschaften sind Rescher zufolge nicht-subjektiv, relational, attributiv, dispositional und nicht anthropozentrisch. Nach Reschers spezifischem Werterealismus, einem „warrant realism“, sind Werte als rational begründbar anzusehen; Werturteile können zutreffend sein. Tertiäre Eigenschaften hängen zum einen mit Faktischem zusammen (Gegenstände oder Ereignisse, die bewertet werden, und Teil der Wirklichkeit sind), „tertiary properties carry us into a new, mind-correlative realism“ (Rescher 2004 VM, 16). Tertiäre Werte haben aber auch mit positiven oder negativen (Be-)Wertungen zu tun. Werte sind dabei grundsätzlich als in Zusammenhang mit Dispositionen zu sehen. Schreibt man etwas einen Wert zu, unterstellt man, andere werden, sofern sie vorurteilsfrei, intelligent und informiert sind, bei entsprechend erfolgter Reflexion genau so werten, was Werte Rescher zufolge objektiv werden lässt. Daher ist das Werten eine kognitive Disposition. Weiterhin gilt nach Rescher: Zwei gleiche zu bewertende Entitäten müssten auch gleiche Wertungen erhalten; Werte supervenieren auf deskriptive Eigenschaften. Unterscheiden sich Dinge in ihren primären oder sekundären Eigenschaften, differieren auch ihre tertiären, meint Rescher. Demgemäß lassen sich Werte nicht in naturalistischer Art und Weise auf Fakten reduzieren, auch lassen sich aus Fakten keine Werte ableiten. Rescher folgt hier G.E. Moore, der solche Schlussversuche als naturalistische Fehlschlüsse betrachtet. Deshalb sind tertiäre Werte auch nicht auf faktische Präferenzen oder dergleichen reduzierbar.
Werturteile und ihre Geltung Genausowenig wie Werte von der Natur vorgegeben sind, sind sie nach Reschers Auffassung rein subjektiv – sie sind nämlich, wie gesagt, nicht auf Präferenzen oder Vorlieben zurückzuführen, meint Rescher (vgl. hierzu Rescher CP VIII, Kap. 3 „How wide is the Gap between Facts and Values“). Worum es beim Werten gehe, ist, was präferiert zu werden verdient – und dies sind die positiven Werte. Dies lässt sich Rescher zufolge begründen: Er vertritt den schon erwähnten „warrant realism“, demzufolge Wertungen objektiv korrekt oder unkorrekt sein können, denn Wertungen hingen nicht nur aufgrund der Supervenienzbeziehung mit Fakten oder Dingen zusammen, sondern auch mit „geeigneten Überlegungen“ („appropriate considerations“). Diese Überlegungen führen dazu, dass Wertthesen oder Werturteile daraufhin überprüft werden, ob sie die Wertdaten („valuative data“) optimal systematisieren (vgl. Rescher CP VIII, 47). Gültige Werturteile werden für Rescher also durch ihre Einpassung in das Wertesystem gerechtfertigt (vgl. Rescher CP VIII, 48). Damit sind sie seiner Ansicht nach kritisierbar und korrigierbar. Dies verdeutlicht nochmals, warum Werte
184 | Reschers philosophisches System keine primären Eigenschaften sind, also keine inhärenten Eigenschaften von Dingen, und keine sekundären, die auf Sinneswahrnehmungen bezogen sind (vgl. Rescher CP VIII, 50). Als tertiäre Eigenschaften gehören sie in den Bereich der Kognition; für Werte (und gegen sie) kann argumentiert werden. Werte sind, so Rescher, „an instrumentality of reason“ (Rescher CP VIII, 17).
Eigenschaften von Werten Da Werte kognitiv sind, haben sie eine Reihe von Eigenschaften: Schon erwähnt wurde, dass Werte nach Rescher nicht subjektiv seien (vgl. Rescher CP VIII, 19 f.). Wertungen richteten sich nicht nach subjektivem Belieben, sondern nach normativen Vorgaben. Wer korrekt verfährt, wertet also entsprechend danach, ob die jeweilige Wertung verdient ist. Das Subjekt erzeugt diese normativen Vorgaben aber nicht nach eigenem Gutdünken, und daher sind Werte auch nicht subjektiv hervorgebracht (und nicht nur nicht subjektiv im Sinne von „beliebig“).
Vorgaben für das Bewerten Was aber sind solche normativen Vorgaben des Wertens? Werthaft für Menschen ist, so Rescher, was dem menschlichen Wohlergehen und der Entwicklung förderlich ist. Dazu gehören Nahrungsmittel, Freundschaften und anderes mehr. Dabei kommen die positiven Werte den bewerteten Gegenständen oder Umständen zu. Zugleich sind Werte relational, denn bei Wertzuschreibungen sind Objekte wie (menschliche) Subjekte involviert.
Verzicht auf Konsense bei Werten Letztgenanntes bedeutet zugleich aber auch, dass Konsense bei Werten bzw. Bewertungen nicht zwingend zu erwarten sind. Da sich die Menschen – auch in ihrer Rolle als bewertende Personen – unterscheiden, kommt es zu einem Pluralismus, denn Wertungen haben auch mit den bereits von einer Person gemachten Erfahrungen, welche von Person zu Person divergieren, zu tun. Deshalb ist bei den Bewertungen kein durchgehender Konsens zu erwarten. Selbst wenn bei grundlegenden Werten (wie dem Wert des menschlichen Lebens oder dem Wohlergehen) Übereinstimmung unter verständigen Menschen zu erwarten ist, so endet diese Übereinstimmung oft schon bei der Umsetzung solcher Werte. Ein Wertekonsens erscheint Rescher daher als unrealistisch und unvernünftig (vgl. Rescher 1993 P, 131 ff.).
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Ideale Reschers Moralphilosophie umfasst neben der normativen Ethik und der eben skizzierten Werttheorie weitere Aspekte, wie seine Überlegungen zur Funktion ethischer Ideale (vgl. hierzu vor allem Rescher 1987 EI). Ethische Ideale sind für Rescher deshalb sehr bedeutsam, weil auch sie menschliches Handeln beeinflussen (können). Zum moralisch guten Tun gehört gemäß Reschers Philosophie nicht nur die Einhaltung von Normen oder Regeln (siehe dazu Kap. 4.9.1). Menschen haben gemäß Reschers Vorstellung zudem die Aufgabe, das Beste aus sich zu machen (vgl. hierzu auch Kap. 4.1), und hier kommt den Idealen eine bedeutsame Rolle zu. Dies gilt auch dann, wenn Idealen etwas „Unrealistisches“ anhaftet oder sie unerreichbar zu sein scheinen (vgl. Rescher 1987 EI, 1), denn dem zum Trotz können sie, so Rescher, das Denken und Handeln von Menschen in die richtige Richtung lenken. Auch wenn Ideale also nicht tatsächlich in der Realität eins zu eins umsetzbar sind, ist es nicht durchweg unvernünftig, ihnen zu folgen. Im Gegenteil, meint Rescher: Das Verfolgen nicht erreichbarer Ziele, wie Ideale sie darstellen, hat unter Umständen einen guten Sinn (vgl. Rescher 1987 EI, 6) – wenngleich nicht unter allen Umständen. Voraussetzung dafür, dass das Verfolgen unerreichbarer Ziele pragmatisch sinnvoll ist, ist, dass diese idealen Ziele mit erreichbaren (Zwischen-)Zielen verbunden sind, die zu erreichen selbst schon einen Wert hat. Damit lässt sich nach Rescher pragmatisch rechtfertigen, dass man unerreichbare Ideale anstrebt.
Rolle(n) der Ideale Auch wenn Ideale nicht in der Realität umsetzbare Idealisierungen darstellen, können sie demzufolge Orientierungshilfen sein, zum Handeln motivieren und mithelfen, dass selbst wiederum wertvolle Resultate des Handelns realisiert werden. Ideale erscheinen damit als nützliche Instrumente, die das Kultivieren von Werten unterstützen. Fehlen Ideale, verkümmern die Menschen resp. die Gesellschaften, meint Rescher.
Pragmatismus, Ideale und Werte Alles in allem, so Reschers Fazit, sind Ideale also nicht um ihrer selbst willen wertvoll, sondern aus pragmatischen Gründen. Sie gehören, da sie zur Verwirklichung von Werten beitragen, die zu realisieren laut Rescher den Menschen aufgegeben ist, letztlich zum Gelingen unseres Lebens hinzu. Ist es die Aufgabe des Menschen, das Beste aus sich zu machen, und gehört das Realisieren von Werten dazu, und tragen Ideale hierzu wiederum bei, dann wird klar, dass auch
186 | Reschers philosophisches System Ideale zum Gelingen des menschlichen, moralisch akzeptablen Lebens ihren (indirekten) Beitrag leisten.
Kritische Anmerkungen zu Reschers Theorie der Werte und Ideale Neben Problemen der normativen Ethik lassen sich auch noch Bedenken gegen Reschers Ausführungen zu Idealen und Werten anführen. Denn auch wenn man Reschers Auffassungen zur Rolle von Idealen teilt, wäre noch zu prüfen, ob alle Menschen oder Gesellschaften ohne Ideale verkümmern bzw. anhand welcher Kriterien ein solches Verkümmern sich feststellen ließe. Und auch wenn man die Position Reschers übernimmt, nach der Werte tertiäre Eigenschaften sind, wäre weiter zu eruieren, ob sie objektiv sind (und nicht vielmehr nur intersubjektiv verbindlich sein können), und ob alle Werte dies sind. Denkbar wäre, dass es neben den genannten Werten bzw. hierarchisch betrachtet „unterhalb“ der genannten Werte noch weitere kulturrelative Werte gibt – zumindest in analoger Form wie es in der Normenhierarchie an untergeordneter Stelle kulturelle Divergenzen geben mag.
4.10 Reschers Sozialphilosophie und Politische Philosophie Im Rahmen der Sozialphilosophie bzw. der Politischen Philosophie hat sich Rescher zum einen mit Fragen der Gerechtigkeit, des Egalitarismus und der Fairness beschäftigt, und zum anderen mit den Themenfeldern der Demokratie und ihrer Entscheidungsprobleme bzw. -prozeduren. Beide Themenfelder werden nachfolgend erörtert.
Sozialphilosophie Die ersten wichtigen Beiträge Reschers zur Sozialphilosophie sind sehr früh entstanden und publiziert worden; sie datieren aus der Zeit vor der Entwicklung von Reschers (auch jetzt noch in Entwicklung und Vervollständigung begriffenen) System. Dies gilt sowohl für die Monographie „Distributive Justice“ aus dem Jahre 1966 als auch für die Studie „Welfare. The Social Issues in Philosophical Perspective“ von 1972, die später unter anderem durch „Public Concerns. Philosophical Studies of Social Issues” (erschienen 1995), „Fairness. Theory and
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Practice of Distributive Justice“ von 2002 sowie durch die „Studies in Social Philosophy“ (2006 erschienen; CP VI) ergänzt wurden.83 Gleichwohl verweisen einige Merkmale der früheren Schriften, deren Inhalte zum Teil in die späteren integriert worden sind, auf das im weiteren Verlauf entstandene System Reschers voraus. So kennzeichnet auch die früheren Werke eine Orientierung an begrifflicher Untersuchung, welche die Zusammenhänge der Empirie einbezieht (vor allem in Rescher 1972 W), und Probleme in größeren Kontexten durch Analyse und Begriffsdifferenzierung zu lösen sucht, wobei pragmatische Aspekte Eingang finden.
„Distributive Justice“ – gerechte Güterverteilung und Utilitarismus „Distributive Justice“, eine Studie über gerechte Güterverteilung, untersucht den Begriff der Verteilungsgerechtigkeit und die mit diesem Begriff zusammenhängenden Begriffe vor allem in kritischer Auseinandersetzung mit utilitaristischen Positionen. Dabei wird der Utilitarismus Rescher zufolge den angesprochenen komplexen Zusammenhängen von Gerechtigkeitsfragen nicht gerecht.84 Entsprechend lautet der Untertitel des Werks auch „A Constructive Critique of the Utilitarian Theory of Distribution“. Tatsächlich macht Rescher sehr deutlich, dass utilitaristische Erwägungen bei überzeugenden Lösungen für Gerechtigkeitsprobleme nicht allein als Problemlösung aufkommen können. Vielmehr gilt es, den Utilitarismus immens einzuschränken, und zwar vornehmlich hinsichtlich seiner Geltungsreichweite, so dass er letztlich nur eine deutlich untergeordnete Rolle im Kontext von Fragen gerechter Güterverteilung spielt. Demgemäß konzipiert Rescher eine differenzierte Gerechtigkeitstheorie (in ihren Grundzügen), die der Komplexität des Themas „Gerechtigkeit“ gerecht zu werden versucht, und den Utilitarismus auch teilweise integriert – indem auch der Aspekt der Nützlichkeit Berücksichtigung in der Gerechtigkeitskonzeption findet.
Verteilungsgerechtigkeit Insgesamt liegt der Hauptakzent von „Distributive Justice“ auf Fragen der Verteilungsgerechtigkeit (und nicht auf Fragen der ausgleichenden Gerechtigkeit,
|| 83 Zudem liegt ein kurzes Vorwort zu einer Monographie von Tibor Machan vor, vgl. Rescher 1995 F. 84 Vgl. zu Reschers Auseinandersetzung mit dem Utilitarismus auch Moutafakis 2007, Kap. 4.1 und 4.2.
188 | Reschers philosophisches System die Wiedergutmachungen betreffen). Um eine gerechte Verteilung erzielen zu können, bedarf es nach Rescher zunächst der Kriterien für eine ideal gerechte Verteilung, sowie einer Prozedur, um eine solche Gerechtigkeit in einer nichtidealen Welt zu realisieren (vgl. Rescher 1966 DJ, Kap. 1.2). Um diese Kriterien herauszufinden muss man, so Rescher, verschiedene Verteilungsoptionen gegeneinander abwägen und auf ihre Gerechtigkeit hin überprüfen. Neben einer Idealvorstellung braucht man daher eine relative Bewertung von Verteilungsszenarien; Letzteres kommt für die pragmatische Umsetzbarkeit auf.
Kritik am Utilitarismus Warum aber genügt Rescher der (einfache) Utilitarismus nicht, der als Kriterium für eine gerechte Verteilung das „größte Glück der größten Zahl“ resp. „den größten Nutzen für die größte Zahl“ ansetzt? Diese utilitaristischen Grundsätze verrechnen diverse Arten des persönlichen Glücks und Leids oder Nutzens interpersonell, so dass alle Personen, die in eine Verteilung einbezogen wurden, jeweils gleich („als einer“ und niemand als „mehr als einer“) zählen, was wiederum eine – ungerechtfertigte und ungerechte – Privilegierung Einzelner von vorneherein ausschließen soll. Zudem hat der Utilitarismus den Vorteil, philosophische Gerechtigkeitstheorien mit ökonomischen Betrachtungsweisen in Beziehung setzen zu können, da in der Ökonomie der Utilitarismus eine prominente Rolle innehat. Rescher verwirft den „einfachen Utilitarismus“ jedoch, da er schwerwiegende Bedenken dagegen hat, ein rein utilitaristisches Prinzip der Güterverteilung als „gerecht“ anzusehen. Diese Bedenken lassen sich mithilfe einer recht simplen Methode erarbeiten bzw. verdeutlichen. Man untersucht anhand hypothetischer Beispiele verschiedene Verteilungsszenarien, die sich mithilfe verschiedenartiger Verteilungsprinzipien erzeugen lassen − und vergleicht sie mit dem, was man intuitiv als gerecht betrachtet (vgl. Rescher 1966 DJ, Kap. 1.7). Man führt also einen Vergleich mit den je eigenen vortheoretischen Annahmen (resp. dem Common Sense) durch, oder, wie man wohl eher sagen sollte, mit seinem normalsprachlichen (bzw. regelkonformen) Begriffsverständnis von „gerecht“. Dabei betrachtet man von außen und im Nachhinein Verteilungen von Gütern, ohne die Betroffenen oder ihre Spezifika (Interessen etc.) gesondert zu berücksichtigen. Die Besonderheit des Utilitarismus besteht nun darin, dass er als zentrales Kriterium der Verteilungsgerechtigkeit den Gesamtnutzen ansetzt – unabhängig von der jeweiligen Binnenverteilung der zu verteilenden Güter kommt es also allein auf die Gesamtsumme der Güter an. Daher wäre für den einfachen Utilitarismus ein Verteilungsszenario, bei dem Person A zwei Einheiten erhielte, Per-
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son B zwei Einheiten bekäme und Person C sechs Einheiten des zu verteilenden Gutes zugesprochen bekäme (schematisch: 2/2/6) gegenüber einem weiteren denkbaren Szenario, in dem alle drei Betroffenen je drei Einheiten zugeteilt bekämen (3/3/3), vorzuziehen. Denn jenes erste Szenario verteilt zusammengenommen zehn Gütereinheiten, das zweite Szenario nur neun. Das erste Verteilungsszenario erhöht gegenüber dem zweiten die Menge zu verteilender Güter bei gleich bleibender Personenzahl der Nutzer und wäre somit aus utilitaristischer Sicht vorzugswürdig (vgl. Rescher 1966 DJ, Kap. 2.1). Die Verteilung unter den drei beteiligten Personen spielt für den einfachen Utilitarismus keine Rolle – aber die Verteilung des ersten Szenarios erscheint, sofern keine weiteren relevanten Gründe, die in den Personen liegen, vorhanden sind, kaum als „gerecht“. Denn schließlich teilt sie – ohne dass irgendein überzeugender Grund dafür vorläge – einer der drei Personen die dreifache Gütermenge im Vergleich zu den anderen Personen zu. Hier scheint die gleiche Verteilung, auch wenn mit ihr insgesamt weniger Güter verteilt werden, vortheoretisch als „gerecht“. Gleichwohl lassen sich Szenarien konzipieren, die von den Betroffenen mehrheitlich gewählt würden, die uneinheitlich resp. inegalitär verteilen, und nach einfacher utilitaristischer Sichtweise nicht schlechter wären als eine weniger ungleiche Güterdistribution. Zum Beispiel würde bei fünf Empfängern von Gütern und insgesamt je 17 Gütereinheiten utilitaristisch die Verteilung 5/5/5/1/1 nicht schlechter im Sinne von „ungerechter“ sein als die Verteilung 4/4/3/3/3, da die Grundgütermenge und die Anzahl der Betroffenen gleich sind. Aber diese 5/5/5/1/1-Verteilung könnte gewählt werden, sofern die drei von ihr Begünstigten für sie stimmen. Liegen aber – wie in dem Gedankenexperiment vorausgesetzt – keine besonderen Gründe für die Besserstellung einiger vor (beispielsweise wegen besonderer Verdienste oder bestehender Verträge), erscheint die Verteilung 4/4/3/3/3 gerechter als die andere, auch wenn sie nicht gewählt werden würde. Dafür kommt dieser einfache Utilitarismus jedoch nicht auf.
Weitere Kritik am Utilitarismus – Güterverteilung und Minima Doch die von Rescher herausgestellten Probleme des nicht restringierten Utilitarismus gehen noch weiter, denn es lassen sich weitere Szenarien vorstellen und miteinander vergleichen, die den Utilitarismus mit kritischen Fragen konfrontieren. Gesetzt, man vergleicht eine Gleichverteilung von Gütern (etwa: mit drei Personen oder Personengruppen), die eine bestimmte Gütermenge verteilt (etwa, weil sie Dinge erwirtschaftet hat), mit einer ungleichen Verteilung (eine Person oder eine Personengruppe wird schlechter gestellt als zuvor), die aber zu einer insgesamt größeren Gütermenge führt (da der denkbare Zugewinn an
190 | Reschers philosophisches System Gütern die Produktivität steigert) – dann stellt sich die kritische Frage, welche Nachteile man den weniger Begünstigten zumuten kann bzw. welche Benachteiligung als „nicht ungerecht“ bezeichnet werden kann (vgl. Rescher 1966 DJ, Kap. 2.2). Der einfache Utilitarismus zieht hier keine Grenze ein. Sofern der Gesamtnutzen erhöht wird bzw. die Menge zu verteilender Güter maximiert wird, kann der Güteranteil Einzelner oder einzelner Gruppen sinken. Dies erscheint Rescher jedoch als nicht gerecht, und daher plädiert er für das Einziehen einer Grenze, die ein Minimum an Gütern für jeden sichert (vgl. Rescher 1966 DJ, Kap. 2.2) – was den einfachen Utilitarismus einschränkt. Die Verringerung der Anzahl derer, die über eine nicht ausreichende Güterversorgung verfügen, ist für die Gerechtigkeit fundamentaler als andere Fragen der Güterdistribution, so Reschers Begründung.
Gleichheit und Gerechtigkeit Dazu treten weitere Überlegungen zur Frage einer gerechten Güterverteilung. Zum einen scheint ein unbegründetes Verzichten auf Güter einiger Personen zugunsten anderer rational nicht wählbar und kaum als gerecht, zum anderen aber dürfte der Verzicht auf eine nicht relevante Gütermenge durch eine ohnehin gut gestellte oder ausreichend versorgte Person, die zur signifikanten Besserstellung anderer, vergleichsweise schlechter Gestellter führt, durchaus rational wählbar und nicht per se als ungerecht anzusehen sein. Allerdings führt dies zu der Frage, wieweit dergleiche Umverteilungen als „gerecht“ angesehen werden können. So scheint, meint Rescher, eine Verteilung von 5/6/10 gerechter als eine Güterdistribution der Form 9/1/12 – obwohl die zweite insgesamt mehr Güter austeilt (22 Einheiten statt nur 21) und unterstellt werden kann, dass mit der Zuteilung von einem Güterquantum das oben genannte Minimum nicht unterschritten wird. Den Grund dafür sieht Rescher darin, dass das erste dieser beiden Verteilungsszenarien dem Aspekt der Gleichheit eher Rechnung trägt. Gleichheit hat demnach für Rescher durchaus mit Gerechtigkeit zu tun. Das heißt: Der Begriff der Gerechtigkeit steht für ihn in einem Zusammenhang mit dem Begriff der Gleichheit (vgl. Rescher 1966 DJ, Kap. 2.3). Diesem Aspekt resp. dem einzubeziehenden Egalitarismus wird der Utilitarismus nicht gerecht. Bei einer nach Rescher gerechten Verteilung ist im Gegensatz zum einfachen Utilitarismus auch der Aspekt der Gleichheit einzubeziehen.
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Ansprüche und Gerechtigkeit Darüber hinaus ist nach Rescher gegen den einfachen Utilitarismus einzuwenden, dass er Aspekte wie Ansprüche auf Güter und Verdienste nicht einbezieht. Zudem ist diese Form des Utilitarismus allgemein nicht sensitiv gegenüber den moralischen oder eben auch unmoralischen Verhaltensweisen potentieller Empfänger von Gütern. Dies widerstreite der Moral des Common Sense – und sei gerechtigkeitstheoretisch unbefriedigend (vgl. Rescher 1966 DJ, Kap. 3.1). Gerade wenn berechtigte Ansprüche auf Gütermengen im Spiel sind, ist aus Perspektive der Gerechtigkeit nicht die Glücks- oder Nutzenmaximierung bei der Güterverteilung auf die festliegende Personenmenge entscheidend. Vielmehr ist – entgegen jenem Utilitarismus – diejenige Verteilung als gerechter anzusehen, die den legitimen Ansprüchen betroffener Personen möglichst nahe kommt. Auch für diesen Aspekt kommt der Utilitarismus nicht auf, sofern er sich nur an Glück oder Nutzen insgesamt orientiert (vgl. Rescher 1966 DJ, Kap. 3.2 und 3.4). Damit aber ist er nach Rescher gerechtigkeitstheoretisch defizitär.
Ungleichheit Letztgenannter Punkt ist jedoch nur dann einschlägig, wenn es bereits im Vorhinein ungleiche zu Recht bestehende Ansprüche auf Güter gibt. Dies aber muss nicht in jedem Verteilungsszenario der Fall sein. Betrachtet man in solchen Szenarien der Güterdistribution solch ungleiche Ansprüche nicht, stellt sich die weitergehende Frage, ob auch ohne ungleiche legitime Ansprüche ungleiche Verteilungen gerecht sind. Bis hierher ist schließlich lediglich geklärt, dass Gleichheit eine zu berücksichtigende Größe darstellt, und dass bloße Gütermaximierung unabhängig von Verteilungen kein geeignetes Kriterium für die Gerechtigkeit einer Verteilung darstellt. Unter welcher Bedingung kann man – wenn überhaupt – nach Rescher nun davon ausgehen, dass eine ungleiche Verteilung von Gütern bei Berücksichtigung des Existenzminimums und unter Ausblendung von Ansprüchen besonderer Art als „gerecht“ betrachtet werden kann, wenn also keinerlei von Einzelnen verdiente besondere Ansprüche zu berücksichtigen sind, sondern nur „unverdiente“, die jedem Menschen als Menschen zukommen (vgl. zu dieser Differenzierung Rescher 1966 DJ, Kap. 3.8)? Welche Kriterien kämen als für die Gerechtigkeit einschlägige infrage? Rescher erwägt als kriterial einschlägig Gleichheit, Bedürfnisse, Fähigkeiten bzw. Verdienste, Leistung oder erbrachte Opfer, Produktivität, Erfordernisse oder Interesse der Allgemeinheit oder auch soziale Dienlichkeit (vgl. Rescher 1966 DJ, Kap. 4).
192 | Reschers philosophisches System Kriterien der Verteilungsgerechtigkeit Alle diese denkbaren Kriterien bedürfen weiterer Qualifikationen, meint Rescher. „Gleichheit“ etwa im Rahmen einer Gerechtigkeitstheorie müsse näher bestimmt werden – als Rechtsgleichheit, Chancengleichheit, gleiche Berücksichtigung, gleiche Belastung usw. Die Verteilung nach Bedürfnissen, für Rescher eine „sozialistische“ Idee, berücksichtige z.B. etwa vorhandene Ungleichheiten der Wünsche. Doch dies genüge nicht. Genauer zu klären wäre vor allem, was „Bedürfnisse“ sind. So könnte es sich um wirkliche Bedürfnisse handeln, aber auch um nur gefühlte85. Auch Fähigkeiten, die Gaben der Natur sind, also unverdient, scheinen kein geeignetes Kriterium einer gerechten Verteilung zu sein. Leistung oder erbrachte Opfer, nach Rescher ein puritanisches Kriterium, erscheinen gleichfalls als von minderer Güte. Immerhin kann eine spezifische Leistung zu moralisch schlechten Zwecken erbracht werden, also nutzen oder schaden, und Anstrengungen können ins Leere laufen. Aber auch die Zuteilung nach Bemühungen statt nach erbrachter Leistung könnte insgesamt nachteilig sein, da so möglicherweise untalentierte, uneffektive oder inkompetente Personen aufgrund dieser eher negativen Eigenschaften Ansprüche auf besondere Güterzuteilung erhalten könnten. Damit verbliebe Produktivität als Verteilungskriterium, doch auch dies ist nach Reschers Dafürhalten kein verwendbares alleiniges Kriterium, selbst wenn es ein Kriterium unter mehreren sein kann bzw. soll. Auch soziale Nützlichkeit bedarf als Kriterium weiterer Differenzierungen – und taugt nicht als alleiniges entscheidendes Gerechtigkeitskriterium. All jene Kriterien sind „monistisch“, und darin liegt Rescher zufolge gerade ihr Manko (vgl. Rescher 1966 DJ, Kap. 4.9). Sie berücksichtigen nur unzureichend die Vielfalt von Kriterien, die zu berechtigten Ansprüchen führen können. Gerechte Verteilungen müssten die Fülle von möglichen Ansprüchen adäquat berücksichtigen, die sich gegenseitig stützen, aber auch miteinander konfligieren können. Deshalb bedürfe es einer umfassenden Gerechtigkeitstheorie, die kontextsensitiv sei: Zu ihr gehöre – neben der gerechten Verteilung als Resultat ihrer Anwendung – auch ein gerechter Verteilungsmodus (der den historischen Stand der Güterverteilung und ihr Zustandekommen einbezieht). Zu berücksichtigen ist aber vor allem auch die Güterproduktion, sofern es um
|| 85 Dass gefühlte Bedürfnisse als Verteilungskriterium im Rahmen einer gerechten Verteilung ungeeignet sind, hat R. Dworkin herausgestellt: Wenn einer das Bedürfnis hat, seinen Durst nur mit Champagner zu stillen, und jemand anders nur das Bedürfnis nach Wasser hat, legitimiert dies allein moralisch sicher nicht die entsprechenden ungleichen Verteilungen (und Kosten); vgl. hierzu Dworkin 1981.
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Güter geht, die nicht im Überfluss vorhanden sind (und deshalb keine Gerechtigkeitsprobleme schaffen).
Gerechtigkeit im engen und im weiten Sinn Um diesen zusätzlichen, wichtigen Aspekt zu berücksichtigen, führt Rescher eine entscheidende Differenzierung ein: die zwischen Gerechtigkeit im engeren Sinne und Gerechtigkeit im weiteren Sinne. Geht man wiederum zunächst von einer bestimmten, festgelegten zu verteilenden Menge von Gütern aus, und bestehen zwischen den Empfängern untereinander (Einzelne oder Gruppen) keine Unterschiede hinsichtlich besonderer Ansprüche, würde der Gerechtigkeit im engeren Sinne durch Gleichverteilung entsprochen, meint Rescher. Diese ist unter diesen Umständen fair. Dies ändert sich hingegen, wenn die zu verteilende Gütermenge zunimmt: In einem solchen Fall ist es denkbar, dass alle mehr bekommen als zuvor bei der Gleichverteilung, aber ungleich mehr. Ein derartiges Verteilungsszenario ist für alle vorteilhaft und vernünftigerweise wählbar – und es ist nach Rescher auch gerecht, und zwar gerecht in einem weiteren Sinne. Eine Person, die jenes zweite Szenario wählt, handelt mit dieser Wahl nicht ungerecht, meint Rescher (vgl. Rescher 1966 DJ, Kap. 5.3.1; vgl. ferner Rescher 1995 PC, Kap. 2.8). Gerechtigkeit in diesem weiteren Sinne berücksichtigt – über die faire Gleichverteilung hinausgehend – das gemeinsame Gut resp. das Allgemeininteresse. Damit lassen sich nach Rescher ungleiche Verteilungen gerechtigkeitstheoretisch als zu präferierende Optionen ausweisen. Eine Theorie der Gerechtigkeit muss nach Rescher mehr als nur die – faire – Gleichverteilung berücksichtigen. Zu beachten ist dabei für ihn aber immer auch, dass Ungleichheiten zum relativen Vorteil aller dienen müssen. Damit liegt eine signifikante Beschränkung der fairen Wahl von Verteilungsmöglichkeiten vor. Insbesondere geht es nicht um die Wahl des Gütermaximums wie in einem einfachen Utilitarismus. Vielmehr sind utilitaristische Erwägungen der Nutzenerhöhung nur ein Bestandteil des Konzepts, zu dem die gerechte soziale Aufteilung der erhöhten Güterproduktion konstitutiv hinzutritt.
Gerechtigkeit und unteilbare Güter: Chancengleichheit Analog konzipiert Rescher für Güter, die sich nicht teilen lassen, die Idee, dass eine faire Chance auf den Erhalt des Gutes erforderlich ist. Das heißt, in einem solchen Fall ist als „Ersatz“ der Gleichverteilung die Chancengleichheit vorzusehen. Unteilbare Güter müssen so verteilt werden, dass alle Berechtigten gleiche Chancen haben, jenes unteilbare Gut zu erlangen.
194 | Reschers philosophisches System Gerechtigkeit und lebensbedrohliche Knappheit Im Falle extremer Knappheit sind nach Rescher ebenfalls weitere Qualifikationen vorzunehmen: Sinken beispielsweise bei der Gleichverteilung alle Empfänger unter das zum Leben Notwendige ab, während durch ungleiche Verteilung beispielsweise eine Mehrheit überleben könnte, sei die Idee fairer Gleichheit im Sinne der Gleichverteilung nicht zu berücksichtigen (vgl. Rescher 1966 DJ, Kap. 5.5). Liegt z.B. der Bedarf zum Überleben bei 1, und sind für drei Empfänger nur Güter im Umfang von insgesamt 2,1 verfügbar, ist die Verteilung 0,7/0,7/0,7, also die Gleichverteilung, nicht gegenüber der ungleichen Verteilung 1/1/0,1 zu präferieren, sofern alle potentiellen Empfänger die gleiche Chance auf den Erhalt der lebensnotwendigen Menge haben, meint Rescher. Hier gelte wegen der besonderen Umstände: Die Anzahl derer, die unter das Minimum fallen, sei zu minimieren. Sobald aber genug zum Überleben für alle vorhanden ist, wenn egalitär verteilt wird, ist die Gleichverteilung gerecht.
Wohlstandsgesellschaft In einer Wohlstandsgesellschaft sei es darüber hinaus plausibel bzw. bis zu einem bestimmten Punkt geboten, mehr als nur das Existenzminimum an die jeweils Schlechtestgestellten zu verteilen – anders, als es unter Knappheitsbedingungen der Fall sei (vgl. Rescher 1966 DJ, Kap. 5.6). In Wohlstandsgesellschaften gehe es nicht mehr um das Überleben im biologischen Sinne, also um das schiere Überleben, sondern um ein zufriedenstellendes Leben. Entsprechend gilt es hier, weitere Faktoren zu berücksichtigen (siehe dazu unten).
Zusammenfassung Insgesamt geht es also im Rahmen von Reschers Theorie einer gerechten Gesellschaft nicht nur um Ansprüche Einzelner, sondern auch um das gesamtgesellschaftliche Wohl. Ungleichheiten seien – trotz bestehendem Neid – unter Umständen zuzulassen. Hier sei es rational, den Neid der Begierde (nach mehr Gütern) unterzuordnen (vgl. Rescher 1966 DJ, Kap. 5.7). Liegt die Option vor, dass es dem Gesamtnutzen der Gesellschaft zuträglich ist, Ungleichheiten betreffs Güterverteilung zuzulassen, so sollen sie zugelassen werden, meint Rescher, wenn alle davon im Vergleich zu einer Gesellschaft mit Gleichverteilung an Gütern profitieren. Das heißt, von einem egalitaristischen Ausgangspunkt lassen sich bei bestimmten Rahmenbedingungen inegalitäre Verteilungen als rational wählbar und gerecht auszeichnen. Eine egalitäre Verteilung ist ausschließlich vorzugswürdig, wenn die Güter gerade zum Überleben der Gesellschaftsmitglieder ausreichen. In einer Mangelgesellschaft gilt dies nicht;
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hier gilt es, möglichst vielen das Überleben zu gewährleisten. Zu den modernen Überflussgesellschaften sind inegalitäre Verteilungen gegenüber Gleichverteilungen vorzuziehen, wenn die Ungleichheiten allen Gesellschaftsmitgliedern zugutekommen (vgl. Rescher 1966 DJ, Kap. 5.9). Damit ist von dem klassischen Utilitarismus mit seinem Prinzip des größten Glücks oder Nutzen für die größte Zahl wenig verblieben: Gerechtigkeit und Fairness werden bei Rescher nicht dem Nutzen unter-, sondern über- bzw. vorgeordnet (vgl. Rescher 1966 DJ, Kap. 6.2). An die Stelle utilitaristischer Verteilungsverfahren setzt Rescher also die Idee einer ausdifferenzierten, nicht monokriterialen fairen Verteilung, die gesellschaftsspezifisch je nach den vorliegenden Bedingungen auszugestalten sei.86
„Fairness“ In seiner Studie „Fairness. Theory and Practice of Distributive Justice“, die 2002 erschienen ist (Rescher 2002 F), geht es Rescher um eine korrekte Explikation des Begriffs der Fairness. Dabei zielt er darauf ab, diesen Begriff als integralen Bestandteil der Praktischen Philosophie wieder einzusetzen, da eine ökonomische oder ausschließlich entscheidungstheoretische Behandlung seines Erachtens zu kurz greift. Entscheidend für die Frage nach einer gerechten Verteilung sind nach Rescher nun die „idea of distributive equity“ (Rescher 2002 F, IX) als Kern und die gleiche Bedienung von zu Recht bestehenden Ansprüchen („valid claims“). Subjektive Bewertungen von fair zu verteilenden Gütern sind Rescher zufolge nicht einschlägig, und Gleichverteilungen oder Nutzenmaximierungen als solche nicht unbedingt fair (siehe oben). Denn Fairness habe vor allem mit Recht und Gerechtigkeit zu tun: Gleich gültige Ansprüche ungleich zu berücksichtigen sei ungerecht, unfair und unvernünftig – gleichgültig, ob die fairen Entscheidungen populär seien, zu Neidfreiheit führten oder auf demokratischem Weg andere Entscheidungen getroffen würden oder auch wohlwollende Entscheider zu anderen Resultaten gelangen würden (vgl. Rescher 2002 F, Kap. 3 und 4). Dabei gebe es einige wenige Ansprüche, die universal gültig sind (auf Leben und Freiheit z.B.); die allermeisten hängen von den jeweiligen gesetzlichen, gewohnheitsrechtlichen, sozialen oder politischen Umständen ab. Gleichwohl gebe es Standards der Unparteilichkeit, und Fairness lasse sich als prozeduraler Begriff verstehen, dessen Gehalt sich so explizieren lasse: „Treat people differently only in cases where there is a difference that actually makes a difference || 86 Vgl. zum Thema auch Moutafakis 2007, Kap. 4.3.
196 | Reschers philosophisches System in some contextually appropriate regard“ (Rescher 2002 F, 5). Verschieden sein können Ansprüche auf etwas in quantitativer wie in qualitativer Hinsicht, und fair (unparteiisch) ein Verfahren ihrer Befriedigung, welches ungeachtet des Geschlechts, der Hautfarbe, aber auch der Wünsche, Präferenzen etc. der Anspruchsteller verfährt.
Wohlfahrt Näher zu bestimmen ist im Rahmen von Reschers Sozialphilosophie, was als gerechtigkeitstheoretisches Minimum in einem modernen Wohlfahrtsstaat zu betrachten ist. Dieser Thematik wendet sich Rescher in „Welfare. Social Issue in Philosophical Perspective“ (Rescher 1972 W) zu, wobei sein Fokus auf den (damaligen) USA liegt, wenn er auf empirische Gegebenheiten Bezug nimmt. Dabei weist Rescher zunächst auf den immensen Wandel hin, den die Vorstellung öffentlicher Wohlfahrt resp. der Begriff der öffentlichen Wohlfahrt durchlaufen hat (vgl. Rescher 1972 W, Einleitung). War im 19. Jahrhundert vor allem die Idee eines Minimalstaats präsent, der für die Sicherheit vor physischer Verletzung aufkommen sollte, so trat im 20. Jahrhundert der Gedanke sozialer Sicherheit hinzu, der sich – in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts – zur sozialen Wohlfahrt entfaltet hat und damit dem Staat weiterreichende Aufgaben hat zukommen lassen.87 Gleichwohl verbleibt die Frage, wer was erhalten soll, und zudem die philosophisch zentrale Fragestellung, wer darüber entscheiden solle, wem etwas zusteht. Unterstellt man auch, dass es einen weitverbreiteten Common Sense bezüglich der sozialen Wohlfahrt für alle gibt, bliebe doch das gerechte Ausmaß der Wohlfahrtsverteilung klärungsbedürftig. Diese Klärung intendiert Rescher in seiner Studie „Welfare“ herbeizuführen. Wohlfahrt braucht individuelles Wohlergehen, und dazu bedarf es grundlegender „Ressourcen“, die den Einzelnen zur Verfügung stehen. Dazu gehören Gesundheit und materielle Mittel, um einen Gesundheitszustand aufrechtzuerhalten oder wiederherzustellen (Nahrungsmittel, Medikamente, medizinische Versorgung), und Mittel, um die psychische Gesundheit zu erhalten bzw. ein emotionales Wohlbefinden hervorzubringen. Nicht aber gehört „happiness“ („Freude“, „Glück“) zu den zu verteilenden Gütern (vgl. Rescher 1972 W, 5) – dies ist vielmehr das Ziel der Bemühungen. Doch die Aufgabe des Staates besteht damit nicht in einer utilitaristischen Glücksmaximierung, sondern in dem
|| 87 Diese Überlegungen werden auch in Rescher 1995 F kurz angesprochen. Hier weist Rescher zudem auf die Gefahr eines staatlichen Paternalismus hin; vgl. Rescher 1995 F, x.
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bestmöglichen gerechten Bereitstellen von Ressourcen der Wohlfahrt, die zum individuellen Glück beitragen oder führen können. Um all diese Komponenten des Wohlbefindens auch zu realisieren, bedarf es ferner der Fähigkeit des Individuums, am gesellschaftlichen Leben zu partizipieren (vgl. Rescher 1972 W, 7). Dringlich benötigt wird vor allem auch ein Maßstab, mit dessen Hilfe sich das Maß an Wohlergehen bestimmten lässt bzw. mit dessen Hilfe sich ablesen lässt, ob die Wohlfahrt einer Person sichergestellt ist oder nicht.
Kriterien der Wohlfahrt Als grundlegende Kriterien bzw. als Merkmale des Begriffs „Wohlfahrt“ nimmt Rescher Folgendes an (vgl. Rescher 1972 W, 12 f., vgl. auch die ausführlichen Listen 69 ff. und 72): – Körperliche Gesundheit (Lebenserwartung, körperlicher Zustand, körperliches Wohlbefinden im Sinne von Abwesenheit von Schmerz oder Unbehagen, körperliche Normalität – wozu z.B. Abwesenheit von Behinderung zählt), – geistige Gesundheit (Fähigkeit zur Selbstbestimmung, mentales Wohlbefinden, Zufriedenheit mit sich und der Umwelt, soziale Fähigkeiten), – materielles Wohlergehen (Einkommen, Besitz, materielle Sicherheit, Verfügung über Mittel, mit denen Dienstleistungen in Anspruch genommen werden können), – persönliches Vermögen (intellektuell und sozial) sowie – Ressourcen der Umgebung (Güter und Dienstleistungen für den persönlichen Bedarf und intakte Umwelt). Nach Rescher scheinen sich diese Punkte in „Welfare“ aus dem Begriff der Wohlfahrt zu ergeben; im Rahmen des später ausgearbeiteten Systems passen sie darüber hinaus wohl auch zu Reschers anthropologischen Vorstellungen vom Menschen, da die genannten Punkte relevant sind, um – gemäß dem ontologischen Imperativ – das Bestmögliche aus sich zu machen (siehe Kap. 4.1).
Umsetzung der Wohlfahrt Zu klären bleibt aber, wer das rechte Maß dieser Kriterien festlegen kann, darf oder soll. Gemäß Rescher ist das Entscheidungsverfahren nicht in das – subjektive – Belieben der Betroffenen zu legen, sondern informierten Entscheidern zu überlassen, die nach objektiven Kriterien verfahren (vgl. Rescher 1972 W, 15 ff.): „Wohlfahrt“ ist eine Frage objektiver Bedingungen, meint Rescher; die Kriterien
198 | Reschers philosophisches System bzw. ihr Erfülltsein ist eine Frage der Fakten. Die Urteile darüber sind subjektbezogen, aber nicht subjektiv. Dies wiederum harmoniert damit, dass es nicht die staatliche oder gesellschaftliche Aufgabe ist, unmittelbar Glück zu erzeugen – denn damit käme es in der Tat dem Individuum zu, über seinen Güterbedarf zu entscheiden. Dies ergibt sich jedoch nicht aus der Begriffsanalyse von „Wohlfahrt“ und ist daher nicht unmittelbar für das gesellschaftlich unterstützende Handeln relevant, meint Rescher – im Gegensatz zum Bereitstellen derjenigen Ressourcen, die nach einem breiten Konsens bereitzustellen sind (vgl. Rescher 1972 W, 62 ff.), und zu denen über das bisher Gesagte hinaus auch noch Rechtsgüter wie gleiche Rechte und politische sowie persönliche Freiheiten gehören (vgl. Rescher 1972 W, 72). Staatliche Interventionen haben Rescher zufolge grundsätzlich einer Reihe von Kriterien zu genügen (vgl. Rescher 1995 PC, Kap. 2: „On the Rationale of Governmental Regulation“). Abgesehen vom Kriterium der Wünschbarkeit treten weitere pragmatische Aspekte hinzu: tatsächliche Möglichkeit der Umsetzung, Effizienz und Effektivität (auch und besonders zu alternativen Institutionen). Grundsätzlich ist für Rescher zudem davon auszugehen, dass zunächst über Alternativen zu staatlichen Eingriffen nachgedacht wird, um politische Komplikationen und ein Überhandnehmen staatlicher Einflussnahme zu vermeiden.
Gesundheitsfürsorge und Armutsbekämpfung Wie erfolgreich ein Staat im Bereitstellen von Ressourcen für die Individuen sein kann, hängt in hohem Maße von den zufälligen Eigenschaften des Staates ab, insbesondere von seinen finanziellen Möglichkeiten. Rescher untersucht die zentralen Bereiche des Wohlfahrtsstaates und versucht, einzelne Komponenten genauer zu analysieren und Regelungen vorzuschlagen (unter – wie gesagt – Verwendung von Untersuchungsergebnissen empirischer Forschung in den USA). So ließe sich seines Erachtens der Gesundheitssektor verbessern, doch verbleiben, wie Rescher darlegt, einzelne grundlegende Probleme für einen Wohlfahrtsstaat im Bereich des Gesundheitswesens. Die Gesundheitsfürsorge ist bei zunehmendem Alter der Betroffenen und aufgrund des natürlichen Verlaufs eines menschlichen Lebens begrenzt. Auch in der Armutsbekämpfung seien Fortschritte möglich. Zur Verfügung zu stellen sind zur Armutsvermeidung diejenigen Mittel, die zum Überleben notwendig sind, aber auch alles, was basal ist, um einem adäquaten Anteil an einem guten Leben führen zu können (vgl. Rescher 1972 W, 94), was benötigt wird für „a tolerable comfortable existence“ (Rescher 1972 W, 94). Es geht also nicht allein um ein biomedizinisches Überleben, sondern um ein sozial ange-
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messenes Leben in der jeweiligen Gesellschaft (vgl. Rescher 1972 W, 95). Geht es im ersten Fall um die Vermeidung absoluter Armut durch das Zurverfügungstellen von Nahrung, Kleidung und Obdach, so im zweiten Fall um das Überwinden relativer Armut. Gleichwohl bleibt Armut im Sinne des „Nicht-genug-Habens“ und Armut im Sinne des „Nicht-so-viel-wie-andere-Habens“ zu unterscheiden. Zu differenzieren bleibe damit eben auch zwischen der Gleichverteilung als gerechter Verteilungsart (im engen Sinne von „gerecht“ in Rescher 1966 DJ, 9, siehe oben) und der ungleichen, aber gerechten Verteilung, die allen die relative Armut erspart und nicht nur das zum Überleben Notwendige zuteilt, sondern die Teilnahme an einem guten Leben belässt (im weiteren Sinne von „gerecht“). Dies kann durch entsprechende Verteilungen von Produktionszuwächsen erreicht werden, und zwar auch ohne dass die Bedürftigen oder Bedürftigsten die Zuwächse insgesamt erhalten (vgl. Rescher 1972 W, 102 ff. und vor allem 107 f.) – auch wenn dies die effektivste Methode des Ausgleichens darstelle.
Einzelstaatliche Leistungen Wie viel die Bedürftigen konkret erhalten, entscheide die jeweils betroffene Gesellschaft, denn der Staat sei ein Instrument der Bürger und daher nicht auf begrenzte Aufgabenfelder beschränkt, wie konservative Denker annähmen (vgl. Rescher 1972 W, 115). Die Legitimation staatlicher Unterstützung bzw. ihres Ausmaßes hängt damit von dem jeweiligen Staat resp. seinen Bürgern ab – und kann also nicht begrifflich ein für alle Mal ermittelt werden (vgl. Rescher 1972 W, 116). Demzufolge kann die Zuteilung von Gütern, die ein Wohlergehen erfordert, nicht apriori festgelegt werden. Rescher nimmt an, dass neben den wirtschaftlichen Möglichkeiten bzw. Leistungen die Erwartungen und Ansprüche von den jeweiligen Sitten und Gebräuchen einerseits und den bestehenden Rechten andererseits abhängen (vgl. Rescher CP VI, Kap. „Social Welfare: Some Philosophical Issues, 66). Begrifflich ergeben sich jedoch einige restriktive Bedingungen. Die staatliche Unterstützung muss mit Blick auf die staatlichen Möglichkeiten realistisch sein, sie hat effektiv, rechtlich unbedenklich bzw. sensitiv bezüglich der Rechte Einzelner zu sein (und vor allem Tendenzen zum Totalitarismus zu vermeiden), und sie soll Rechte und Werte Anderer möglichst wenig negativ beeinflussen (vgl. Rescher 1972 W, 118 f.). Ungeachtet dessen sei Wohlfahrt selbst als ein Recht zu begreifen (vgl. Rescher 1972 W, 124) – allerdings als ein Recht unter anderen Rechten. Dessen Wahrnehmung soll jedoch die Eigenverantwortlichkeit nicht untergraben (können), meint Rescher (vgl. Rescher 1972 W, 125).
200 | Reschers philosophisches System Staatliche Aufgaben Daraus resultieren politische Aufgaben für den Staat, die u.a. langfristige Vorhersage, Planung und Kontrolle und eine gerechte Lastenverteilung beinhalten (vgl. Rescher 1972 W, 130 ff.). Insbesondere droht in demokratischen Staaten, dass Mehrheiten Minderheiten benachteiligen; beispielsweise kann eine Mehrheit eine Güterverteilung von 3/3/3/-5/-5 durchsetzen bzw. eine gerechtere Güterverteilung 2/2/2/3/3 verhindern, und damit eben auch einen Wohlfahrtsstaat unterminieren (vgl. Rescher 1972 W, 139). Generell ist es nach Rescher fraglich, ob irgendein politisches Instrument garantieren könne, dass optimale Entscheidungen herbeigeführt werden, auch wenn die Erfahrung dafür spreche, dass sich demokratische Verfahren pragmatisch am besten bewährt hätten (vgl. Rescher 1972 W, 140).
Wohlfahrtsstaat und Demokratie Um einen Wohlfahrtsstaat etablieren oder erhalten zu können, ist es günstig, wenn einige Bedingungen in der Gesellschaft erfüllt sind: – Wohlfahrt muss als Wert angemessen geschätzt werden (persönlich, aber auch im Allgemeinen), – die Informationen über das Wohlfahrtssystem sollten entsprechend verbreitet sein, – das System der Verteilung sollte realistisch erscheinen – und die Bürger grundsätzlich darüber übereinstimmen, dass ein Wohlfahrtssystem politisch zu installieren sei (vgl. Rescher 1972 W, 141). Da Bürger potentiell der Leistungen eines Wohlfahrtsstaates bedürfen, ist die Demokratie, in der die Bürger entscheiden, diesem zuträglich: Sie entscheiden selbst, was ihnen zuträglich ist oder werden könnte (vgl. Rescher 1972 W, 142). Die entsprechenden Auffassungen können aber einem historischen Wandel unterliegen – was die bereits erwähnte Entstehung des Staates und seiner Befugnisse in Sachen Wohlfahrt erklären kann.
„Postwelfare-state“ Insofern kann man auch beginnen, zu überlegen, ob nicht weitere Aufgaben von den Bürgern dem Staat zugeschrieben werden können. Mit Blick auf diese Option spricht Rescher vom „postwelfare state“ (Rescher 1972 W, 156; vgl. auch Rescher CP VI, 70 ff.), der die Ziele des Wohlfahrtsstaates kritisch reflektierend erweitert. In den Blick kommen Werte der Erziehung, des Kunstverständnisses und -genusses und weitere Werte der Selbstrealisation, zu der maßgebliche
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kulturelle Entwicklungen gehören (vgl. Rescher 1972 W, 158), die ein Staat fördern kann, etwa durch die Finanzierung von Museen, Theatern, staatlichen Orchestern und Forschungseinrichtungen wie Universitäten und Bibliotheken. Letztendlich geht es Rescher hier um menschliche Ideale (vgl. Rescher 1972 W, 158) bzw. die von Rescher im Rahmen seiner Anthropologie eingeforderte Realisierung menschlicher Potentiale, die für ihn auch eine moralische Aufgabe darstellt (siehe Kap. 4.1 und 4.9). Diese Potentiale verweisen über den Bereich des Körperlichen hinaus in den Bereich des Geistigen und Kulturellen. Statt bloßem Schutz des Lebens – eine bleibende staatliche Aufgabe – tritt nun die Lebensverbesserung in den Blickpunkt (vgl. Rescher 1972 W, 168). Es gibt nach Rescher keinen überzeugenden Grund, den dort angesprochenen Bereich der staatlichen Zuständigkeit vorzuenthalten, sofern man Gesundheit oder Erziehung diesem Zuständigkeitsbereich zuspricht (vgl. Rescher 1972 W, 177).
Politische Philosophie: Demokratie und demokratische Verfahren Obwohl Rescher im Rahmen seiner Sozialphilosophie explizit darauf hingewiesen hat, dass die Demokratie für den einzurichtenden, fair agierenden Wohlfahrtsstaat und seinen Nachfolger besonders günstige Bedingungen bietet (siehe oben), ist Rescher nicht der Auffassung, die Demokratie berge keine Probleme in sich. Insbesondere erörtert er die Problematiken, die sich aus Abstimmungsverfahren ergeben können. Bereits erwähnt wurde, dass – z.B. bezüglich Güterverteilungen – Mehrheiten vorhandene Minderheiten benachteiligen können. Doch über diese bereits bekannte Einsicht hinaus hat Rescher verdeutlicht, dass Allianzen von Wählern sinnvolle Maßnahmen blockieren können, und Sonderinteressen sich gegen Allgemeininteressen behaupten können, wenn bestimmte Bedingungen erfüllt sind (vgl. Rescher CP VII, „Studies in Social Philosophy”, Kap. 2: „Risking Democracy“). Derartige schwierige Bedingungen liegen vor, wenn eine sinnvolle politische Maßnahme im Allgemeininteresse auf verschiedene Arten und Weisen realisiert werden könnte – aber für keine dieser Möglichkeiten sich eine Mehrheit findet, so dass eine konkrete Maßnahme eingeschränkt wird bzw. verhindert werden kann, weil trotz dem allgemeinen Interesse im Abstrakten keine einzelne Konkretisierung mehrheitsfähig ist. So votieren (vgl. Rescher CP VII, 18) Wähler oft mehrheitlich für Einsparungen im Haushalt im Allgemeinen, lehnen aber die einzelnen konkreten Kürzungsvorschläge ebenfalls mehrheitlich ab, weil sie selbst von ihnen betroffen sind, wobei sie oft jeweils noch einige „Experten“ auf ihrer Seite haben. Das heißt: Auch mithilfe von Fachleuten lassen sich solche Entscheidungsblockaden nicht aufheben. So droht ein im Grunde von Niemandem intendierter allgemeiner Stillstand – trotz des vorhandenen Entscheidungsbedürfnisses.
202 | Reschers philosophisches System Wie aber kann dieses gravierende Problem einer Demokratie bzw. des demokratischen Abstimmungsverfahrens gelöst werden? Dazu, so Rescher, gibt es theoretisch verschiedene Optionen. Lässt man unerwünschte Möglichkeiten wie den Marxismus, der zwar dem Volk alle Gewalt verbal zuspricht, sie aber faktisch einer kleinen Gruppe vorbehält, beiseite, bleibt die Delegation von Entscheidungen an Repräsentanten (wie viele Liberale sie befürworten). Oder man greift auf Idealisierungen zurück und rekonstruiert z.B. Abstimmungsresultate vernünftiger und rationaler Entscheidungen wie in der Theorie von J. Rawls (vgl. Rescher CP VII, 24). Rescher präferiert – im Anschluss an J. Dewey – jedoch einen Weg, der die Bürger weniger unrealistisch einzuschätzen bemüht ist. „A variable defense of democracy must be prepared to take people as it actually finds them“ (Rescher CP VII, 24). Und um die Bürger „trustworthy“ zu machen, helfe nur, ihnen zu vertrauen. Deshalb sei ihr politischer Einfluss zu erweitern, indem Initiativen und Referenden gestärkt werden. Dies mache Experten keineswegs überflüssig; die politischen Entscheidungen sollten hingegen bei den Bürgern selbst liegen – eine Position, die, wie Rescher anmerkt (vgl. Rescher CP VII, 25), dem politischen Establishment nicht zusagen dürfte. Nach Rescher gibt es aber keinen Anlass, anzunehmen, dass die Qualität der Entscheidungen bei stärkerer Beachtung des Willens der Bürger unter die Qualität der direkten Entscheidungen durch das Establishment zurückgehen würde (vgl. Rescher CP VII, 27). Vielmehr sei zu hoffen und zu erwarten, dass bislang bestehende Blockaden aufgelöst werden könnten. Von Vorteil sei im Sinne der Demokratie ein solches Entscheidungsverfahren ohnehin (vgl. Rescher CP VII, 27 f.).
Konsense Rescher geht allgemein davon aus, dass der Begriff des Konsenses weniger wichtig ist als einige moderne Theorien dies nahelegen, und zwar insgesamt im Kontext der Philosophie – und speziell auch im Rahmen einer rationalen sozialen Ordnung. Dieser Punkt ist Rescher so wichtig, dass er ein ganzes Buch verfasst hat, welches sich mit dem Thema „Konsens“ in der Philosophie in kritischer Absicht befasst: „Pluralism. Against the Demand for Consens“ (Rescher 1993 P). Geht es um die Frage, ob die Suche nach einem Konsens resp. die Herbeiführung eines Konsenses an erster Stelle geboten ist, wenn es um eine vernünftige Gemeinschaft geht, ist Reschers Antwort eindeutig: „consensus is clearly no absolute“ (Rescher 1993 P, 156, Rescher CP VI, Studies in Social Philosophy, Kap. „Is consensus Required for a Rational Social Order?“, 29). Fakti-
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sche Konsense (wie z.B. im nationalsozialistischen Deutschen Reich) können ohnehin eher kritische Bedenken hervorrufen88, und auch anvisierte Konsense von philosophischer Seite etwa im Rahmen der Philosophie Hegels oder der Frankfurter Schule erscheinen Rescher als problematisch (vgl. Rescher 1993 P, 156, Rescher CP VI, 29), zumal in Zeiten des Pluralismus. Insbesondere unterschiedliche Daten bzw. Informationsstände und divergierendes Wissen sowie voneinander abweichende Wertungen führen nach Reschers Dafürhalten auf Dissense, die nicht unvernünftig sind. Und da das menschliche Wissen von der begrenzten menschlichen Informationsaufnahmefähigkeit mitbestimmt wird, ließen sie sich auch nicht vernünftigerweise vermeiden.
Konsens versus Dissens Rescher zufolge sind Dissense und Uneinigkeiten, wenn sie sich in vernünftigen Grenzen befinden („within reasonable bounds“), in einer gesunden Demokratie nicht nur zu tolerieren, sondern sogar gutzuheißen. Solche Dissense sollten nicht eskalieren, unproduktiv werden bzw. Ressourcen vergeuden, die Gemeinschaft fragmentieren und in Feindschaft umschlagen oder dazu führen, Alternativen nur deshalb zu verwerfen, weil sie von jeweils „Anderen“ unterbreitet werden (vgl. Rescher 1993 P, 161 f., Rescher CP VI, 31). Aber auch Konsense haben nach Rescher ihre Nachteile bzw. sind Bedenken ausgesetzt: Die Suche nach Konsens kann zur Uniformierung des Denkens führen, wo ein Pluralismus den individuellen Interessen eher entspräche und wo Ideenkonkurrenz zu besseren Resultaten führen könnte (vgl. Rescher 1993 P, 162, Rescher CP VI, 31 f.). Konsense können Innovation und Kreativität behindern, zu Mittelmaß und zu herabgesetzter Produktivität führen (vgl. Rescher 1993 P, 163, Rescher CP VI, 32), da Konkurrenz als Stimulans weniger präsent sei als bei Dissensen. Produktivität, Kreativität und die Suche nach exzellenten Lösungen könnten also durch einen Verzicht auf eine Konsenssuche begünstigt werden (vgl. Rescher 1993 P, 163, Rescher CP VI, 32). Daher wendet sich Rescher gegen philosophische Theorien des Politischen, die seiner Überzeugung nach den Konsens und das Zusammenstimmen vernünftiger Personen zu sehr betonen: Die Politische
|| 88 Allerdings ist zu bemerken, dass die Diskurstheorie faktischen Konsensen keineswegs etwas wie Richtigkeit zuschreibt. Auch Reschers Sorge, Konsense könnten durch Mehrheiten erzwungen werden oder auf Indoktrination beruhen (vgl. Rescher 1993 P, 20), scheinen zwar allgemein berechtigt, aber nicht die Diskurstheorie zu treffen, die auf ideale oder regelkonforme Diskurse setzt.
204 | Reschers philosophisches System Philosophie von J. Rawls und J. Habermas sind hier in erster Linie gemeint89. Konkurrenz scheint für Rescher in allen „cognitive domains“ (Rescher 1993 P, 166, Rescher CP VI, 34) einschließlich der Philosophie bevorzugenswert – zumal Konsense nicht wahrheitsverbürgend seien.
Grundkonsense? Gleichwohl scheint – gerade aus der Perspektive der eben genannten modernen Philosophen – Folgendes sehr naheliegend: Ein umfassender Konsens wird gar nicht anvisiert, sondern nur eine Übereinstimmung im Grundsätzlichen (prägnant formuliert z.B. in Rawls’ „Politischer Liberalismus“; vgl. Rawls 1998) bzw. im Festmachen von Verfahrensregeln (wie etwa den Habermas’schen Diskursregeln). Doch auch bezüglich dieses Einwandes konstatiert Rescher Schwierigkeiten (vgl. dazu Rescher 1993 P, 170 f., Rescher CP VI, 35 f.), denn selbst wenn ein Konsens über grundlegende Verfahrensweisen bestünde, verblieben massive Probleme bei der Implementierung von politischen Inhalten gemäß derartiger Verfahren. Jene Verfahrensweisen wären demzufolge nicht hinreichend. Doch Reschers Bedenken gehen noch weiter: Solche Weisen des Verfahrens vermittels eines Grundkonsenses seien auch nicht notwendig (vgl. Rescher 1993 P, 172 f., Rescher CP VI, 35 f.). Letztlich bedürfe es weniger des Konsenses in Verfahrensweisen als der Zustimmung bzw. eines Sichfügens oder Einwilligens („acquinescence“), dass letztinstanzlich oberste Gerichte entscheiden. Auch dies sei nicht als „Konsens“ zu bestimmen, etwa als „Konsens höherer Ordnung“, sondern als ein „Sichfügen“ oder ein „Zustimmen höherer Ordnung“. Um einen Konsens handele es sich nicht, weil hinter diesem Sichfügen eben nicht die Auffassung steht, es sei die vernünftigste Lösung erreicht. Auch eine Charakterisierung als „Konsens im Dissens“ oder ähnliches ist nach Rescher unangemessen; dies wäre ein Konsens in dem Sinne, wie ein „Papierdrache“ ein „Drache“ ist – also eine inadäquate begriffliche Explikation.
Sichfügen Die Zustimmung bzw. ein Sichfügen basiert Rescher zufolge – pragmatisch – auf einer Kosten-Nutzen-Kalkulation der Individuen. Eine Opposition gegen solche Einrichtungen, die auf einem Sichfügen beruhen, komme allerdings
|| 89 Vgl. Rescher 1993 P, 3 f., 166 f., Rescher CP VI, 33 f.; vgl. ferner auch Rescher 1995 RPI 157 ff. Vgl. zu Reschers allgemeiner Kritik an Habermas auch Wüstehube 1994 und Wüstehube 1998, 89-97. Zur Kritik an Reschers Kritik vgl. Gunnarsson 1994.
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dann auf, wenn Unterdrückung oder Ausbeutung durch die politischen Instanzen ins Spiel kommt – denn dagegen setzten sich reale Bürger zur Wehr (vgl. Rescher 1993 P, 173, Rescher CP VI, 36). Daher könne auch nicht davon ausgegangen werden, dass jene Fügsamkeit bestehende Ungerechtigkeiten perpetuiere, denn die Bürger hätten ja die Option, ihre Fügsamkeit zu beenden (wie es in Osteuropa am Ende des Jahrhunderts geschehen sei; vgl. Rescher CP VI, 37). Eine politisch wohleingerichtete Gesellschaft habe entsprechend keinen Bedarf an Konsensen der angesprochenen Art. Es ist nach Rescher daher auch kein geeignetes politisches Ideal (vgl. Rescher 1993 P, 195 f., Rescher CP VI, 39 f.). Ideale sollen anders als gedankliche Instrumente wie Idealisierungen Handlungen anleiten, und ein Konsens sei nur eine Idealisierung. Realistischer sei daher eine politische Organisation einer Gesellschaft, die auf Dissense und Fügsamkeit setzt – und auf das unrealistische Ideal eines Konsenses verzichtet.
Kritische Würdigung zu Reschers Theorie der Verteilungsgerechtigkeit Reschers Kritiken am einfachen Utilitarismus als Theorie gerechter Verteilung sind meines Erachtens vollkommen triftig. So fortschrittlich der Utilitarismus zur Zeit seiner Entstehung durch J. Bentham und J. St. Mill auch gewesen sein mag – in eine moderne Praktische Philosophie, die zentrale Normen und Menschenrechte in den Mittelpunkt stellt und zu begründen sucht, lässt sich ein einfacher utilitaristischer Ansatz nicht integrieren. In der Tat läuft Reschers Kritik auch nicht auf unwesentliche Detailverbesserungen oder Korrekturen von Einzelheiten hinaus, sondern zieht lediglich den einen Faktor des (Gesamt-)Nutzens mit heran, der dem Utilitarismus entnommen wird. Die von Rescher vorgenommenen Ergänzungen ändern das Gerechtigkeitskonzept des Utilitarismus jedoch grundlegend. So setzt Rescher eine komplexere Theorie der Verteilungsgerechtigkeit als adäquate Explikation des Begriffs „Gerechtigkeit“ an. Allerdings werden damit auch die Schwierigkeiten deutlich, vor die sich eine multikriterielle Theorie gestellt sieht, denn die diversen Kriterien Gleichheit, Bedürfnisse, Fähigkeiten, Verdienste, Leistungen, erbrachte Opfer, Produktivität, Erfordernisse und Interessen der Allgemeinheit sowie soziale Dienlichkeit – die alle weiterer Explikationen und Differenzierungen bedürfen – lassen sich nur schwerlich pragmatisch umsetzen. Zudem wären sie – je nach Explikation auf verschiedene Weise – weiter kritisch zu hinterfragen, ihre Relationen (Vorrangregelungen z.B.) und ihre relativen Gewichtungen herauszuarbeiten usw. Aber trotz dieser Schwierigkeiten scheint es zu überzeugen, dass die Versorgung mit Grundgütern primäres Ziel ist und bleibt, denn ohne ihre Gewährung für eine Person und ihr Überleben wird alles andere hinfällig. Dafür, dass
206 | Reschers philosophisches System über jene (Rechtsgleichheit und) Grundverbesserungen hinaus weitere Güter verteilt werden, gibt es gute Gründe. Doch bleibt im Rahmen von Reschers Philosophie darauf hinzuweisen, dass es für Rescher primär um eine kohärentistische Einpassung in das Gesamtsystem geht, und hier stellt sich die kritische Nachfrage, ob daraus eindeutige Antworten auf bestimmte soziale Fragen resultieren können. Schließlich sei noch darauf verwiesen, dass Rescher Begriffsexplikationen vornimmt, deren sprachphilosophische Basis noch näher zu bestimmen wäre. Problematisch erscheint hier der Rückgriff auf sprachliche Intuitionen, da Intuitionen begrifflich „subjektiv“ festliegen. Angestrebt wird aber eine mehr als subjektive Geltung. Dies legt nahe, um intersubjektive (oder objektive) Verbindlichkeit zu erzeugen, auf andere Begründungsinstanzen zurückzugreifen, und zwar auf Sprachregeln. Ein solcher Rückgriff muss, dies sei ausdrücklich angemerkt, keineswegs zu anderen Inhalten führen, wenn es um die Bestimmung der Semantik bzw. Bedeutung von „(Verteilungs-)Gerechtigkeit“ geht. Stimmte Reschers Sprach- bzw. Begriffsverständnis mit dem, was die Regeln vorgeben, völlig überein, wäre für eine Gleichheit der Begriffsbestimmung gesorgt. Aber es könnten (geringfügige) Abweichungen vorliegen, etwa weil der Begriff (Verteilungs-)Gerechtigkeit ein im Sinne Wittgensteins familienähnlicher Begriff ohne einhellig zu akzeptierende Definition und Bestimmung ist bzw. weil der Begriff nicht so eindeutig bestimmt und bestimmbar ist. Zu einem solchen Falle würden entweder (kleinere) Divergenzen einfach vorliegen oder bedürften einer Begründung. Analoges wie das zuvor Ausgeführte gilt auch für den Begriff „fairness“. Seine Bedeutung ist in der Philosophie schon lange umstritten, und er ist es auch in der Gegenwart.
Würdigung: Rescher über Wohlfahrt Wie die obigen Ausführungen zum Wohlfahrtsstaat hoffentlich haben deutlich werden lassen, gibt Rescher keine deduktive Begründung eines Wohlfahrtsstaates. Stattdessen arbeitet er heraus, was a) zum Begriff des Wohlfahrtsstaates gehört, und b) zu seiner Implementierung erforderlich ist. Das heißt, neben der Begriffsklärung finden sich Überlegungen zur pragmatischen Umsetzbarkeit. Platziert man die Ausführungen Reschers in ein Gesamtsystem, stellt sich heraus, dass die Überlegungen zur Wohlfahrt kohärent eingepasst werden können – sie passen sowohl zur Anthropologie als auch zur Moralphilosophie von Rescher. Zugleich trägt dieses systematische Konzept den empirischen Bedingungen Rechnung. Es wird nicht der Versuch gemacht, exakt zu bestimmen, was in
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einer Gesellschaft „Wohlfahrt“ ausmacht und welche Aufgaben der jeweilige Staat im Detail erfüllen sollte. Diese Berücksichtigung kontingenter Faktoren führt allerdings auch dazu, dass nicht alles Relevante geklärt wird oder geklärt werden kann. Offen bleibt, welche Lasten einzelnen Bürgern zugemutet werden bzw. welche Eingriffe dem Staat erlaubt werden, um den Wohlfahrtsstaat zu finanzieren. Einige Punkte ließen sich weiter ausführen, etwa weil die grundlegenden Rechte für alle Bürger gelten sollen (wie z.B. Menschenrechte), und daher ein Staat auch nicht um die allgemeine Wohlfahrt zu finanzieren diese Rechte verletzen darf. Letztlich lässt sich aber kaum – philosophisch allgemein und auch nicht im Rahmen des Systems von Rescher – genau festsetzen, was z.B. ein unzulässiger weil unzulässig hoher Eingriff ins Privatvermögen durch staatlich festgesetzte Steuern darstellt. Somit kann es der Philosophie wohl auch nur darum gehen, notwendige Bedingungen bzw. Minimalstandards für Rechte anzugeben.90 Fraglich mag aber auch scheinen, ob jener „Nachwohlfahrtsstaat“ von Rescher nicht über jene minimalen Standards hinausreicht oder wenigstens unter Umständen hinauszureichen droht. Werden über das zur Verfügung stellen von Ressourcen zur Verfolgung eigener Ziele staatliche Zielvorstellungen etabliert, geht man – einen Schritt zumindest – von einem liberalen Staatsverständnis unter Umständen hin zu einem Perfektionismus und Paternalismus. Damit nimmt Rescher in „Welfare“ eine derzeit in der Politischen Philosophie aktuelle Debatte vorweg. Klärungsbedarf besteht hier hinsichtlich dessen, was ein Staat fördern solle: Schulen und Universitäten sowie Forschungseinrichtungen und Bibliotheken plus Museen scheinen, sofern sie inhaltlich autonome Einrichtungen im Rahmen der Gesetze sind, vielleicht wegen ihres (potentiellen) Beitrags zum langfristigen Gemeinwohl eher infrage zu kommen als staatliche Orchester. Zentral bleibt aber die Frage, ob ein Staat, der derartige „nachwohlfahrtliche“ Maßnahmen ergreift, neutral gegenüber den Lebensbedürfnissen und Vorstellungen des jeweiligen Guten seiner Bürger bleibt (was ein entsprechend breiter Konsens in einer Gesellschaft anzeigen könnte). Sofern dies gewährleistet bleibt, dürfte eine Legitimation vermittels Zuspruch der Bürger in der Demokratie gemäß dem oben wiedergegebenen Kriterium denkbar sein. Zu ergänzen oder stärker zu akzentuieren scheinen aber angesichts der jüngsten Entwicklungen im „Nachwohlfahrtsstaat“ noch weitere staatliche Aufgaben wie etwa das Bereitstellen einer lebenswerten Umwelt. Insbesondere
|| 90 Vgl. zu weiteren kritischen Diskussionen von Reschers Überlegungen zur Wohlfahrt auch Brenkert 1976.
208 | Reschers philosophisches System Aufgaben des Klimaschutzes verweisen darüber hinaus auf überstaatliche Aufgaben, für die dringlich Lösungen gesucht und gefunden werden müssten. Bezüglich Reschers Vorstellungen zur verbesserten bzw. gesteigerten Beteiligung von Bürgern in der Demokratie stellt sich die Frage, wie viel mit Referenden z.B. gewonnen werden kann. Abgesehen von den mutmaßlichen unterschiedlichen Intensitäten des Engagements (je nach Thema, Staat, Erfolgsaussicht etc.) bedürften solche Vorschläge weiterer Ausarbeitungen und Ausdifferenzierungen (Letztere wohl ebenfalls je nach staatlicher Einrichtung auf unterschiedliche Weise). Nicht wenige – auch wichtige – Entscheidungen könnten wohl (wie zum Teil in der Schweiz) durch die Bürger selbst entschieden werden, und viele Entscheidungen von nur lokaler oder regionaler Bedeutung ebenfalls, aber andere Entscheidungen bedürften vielleicht einer zu großen Sach- und Fachkenntnis, über die kaum ein Bürger verfügt und die auch kaum ein Bürger sich aneignen mag oder kann. Ferner scheint es erwägenswert, bestimmte zentrale rechtliche Grundlagen (in Verfassungen) nicht nur zur Disposition zu stellen, denn auch derzeit vorhandene breite Konsense darüber könnten, wie die Vergangenheit gezeigt hat, in die Brüche gehen. Reschers Darlegungen und die seiner Opponenten, den Konsenstheoretikern, scheinen auf den ersten Blick weit auseinanderzuliegen. Doch wird es auf den zweiten Blick fraglich, ob dies tatsächlich der Fall ist. Rescher betrachtet weitgehend das Verhalten (realistisch konzipierter) Bürger in einem akzeptabel eingerichteten Staatswesen. Dieses kann, etwa aufgrund seiner Einrichtung, Dissense zulassen, weil zu der Einrichtung des Gemeinwesens eine Entscheidungsinstanz gehört, die letztlich beschließen kann. Warum aber präferieren vernünftige Bürger eine derartige Staatskonzeption? Zum einen vielleicht – als realistisch gefasste Bürger – aus pragmatischen Gründen, zum anderen aber mutmaßlich auch, weil sie als Vernunftwesen dieser (oder einer ähnlichen) Einrichtung zustimmen resp. zustimmen würden. Hinzuzufügen ist außerdem, dass Reschers Überzeugungen einen Respekt vor Rechten und Ansprüchen anderer Bürger beinhalten. Für diesen Respekt brauche es zwar keinen Konsens, meint Rescher, aber er ist seines Erachtens eine Vorbedingung des Zusammenlebens (vgl. Rescher 1993 P, 18). Damit scheint der Stellenwert grundlegender Rechte auch in Reschers Theorie sehr hoch zu sein. Diese scheinen des Weiteren auch das Recht, seine Ansprüche artikulieren zu können, einzuschließen.
Metakritische Überlegungen zum Thema „Konsens“ Rescher wendet sich jedoch explizit sehr klar gegen die oben benannten Konsensvorstellungen, die unter anderem von Habermas und Rawls entwickelt und
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vertreten werden. Und er geht nicht davon aus, dass sich derartige Konsense in den modernen Gesellschaften finden lassen. Doch scheint es zweifelhaft, ob nicht doch ein gewisser faktischer Konsens über Verfassungen oder zumindest wichtige Verfassungsinhalte in diesen Gesellschaften besteht, und ob dies nicht eine Staaten stabilisierende Wirkung hat. Inwieweit es weitere Konsense geben kann oder geben sollte, kann an dieser Stelle nicht weiter verfolgt werden. Lediglich darauf sei noch verwiesen, dass mutmaßlich ein breiterer Konsens auch darüber besteht, dass über Wahlen dasjenige bestimmt werden soll, worüber kein inhaltlicher Konsens besteht. Auch dies scheint ein formaler Konsens zu sein, dem eine große Anzahl der Bürger beipflichtet (aber nicht alle, denn schließlich lehnen einige die Demokratie ab, und etliche sind zu desinteressiert). Normativ von Interesse ist, ob es nicht mehr Konsens geben sollte, der auf Deliberationen beruht, die ihrerseits auf akzeptablen und zu akzeptierenden Regeln und Normen basieren. Solche Deliberationen könnten inadäquate Ansprüche einzelner Bürger vermittels Argumentation verändern, und so zu breiteren Konsensen führen, die einem bloßen Sichfügen gegenüber vorzuziehen sind, sofern sie die rationale Zustimmung der Bürger zu ihrem Staat erhöhen. Dies würde unter Umständen auch besser als jenes Sichfügen zu Reschers Anthropologie passen, die eine Selbstentwicklung des Menschen, seiner Vernunft und seiner Moral fordert. Und schließlich wäre noch weiter zu klären, wieso Rescher annimmt, dass Menschen bzw. Bürger einen Anspruch auf Respekt und Rechtseinhaltungen haben, die sie auch zu artikulieren das Recht haben. Hier scheint sich ein Recht auf Diskursteilnahme zu zeigen, also das Recht zur Teilnahme an verständigungsorientierten Prozeduren, bei denen wenigstens ein Konsens über die Einhaltung und Wahrung bestimmter Rechte anvisiert wird.91
4.11 Anwendungsethiken Dass Reschers philosophisches System der selbstgestellten Anforderung der Umfassendheit in hohem Maße entspricht, dürfte bereits deutlich geworden sein. Gleichwohl ist die komprimierte Darstellung dieses Systems noch um einige Punkte zu ergänzen. Denn Rescher hat über das bisher Ausgeführte hinausgehend auch verschiedentlich auf dem Gebiet der Anwendungsethiken bzw. angewandten Ethik gearbeitet. Dabei werden von ihm aber nicht alle wichtigen || 91 Vgl. hierzu auch die Ausführungen in Krüger 1994, 299 f.
210 | Reschers philosophisches System Fragen der einzelnen Anwendungsethiken erörtert, die (bis heute) in der Diskussion sind. Vielmehr hat Rescher einzelne wichtige Aspekte herausgegriffen und untersucht. Es sind insbesondere drei anwendungsethische Bereiche, auf denen er gearbeitet und publiziert hat. Dies sind die Technikethik (in Verbindung mit technikphilosophischen Themen), die Medizinethik und die Bioethik.92
4.11.1 Technikphilosophie und Technikethik Eine erste Ergänzung zum philosophischen System Reschers betrifft die Technikphilosophie und Technikethik. Rescher hat allerdings keine umfassende Technikphilosophie oder Technikethik konzipiert. Seine Überlegungen betreffen in erster Linie einen besonderen Punkt, der mit der Dienlichkeit der Technik für den Menschen zu tun hat, ein Thema, das zum pragmatischen Ansatz Reschers passt. Dass Rescher sich mit diesem Punkt befasst, liegt aber noch aus einem anderen Grund nahe: Denn die Technik prägt die westliche Welt, aber zunehmend auch alle anderen Weltteile, und nimmt so auf das Leben der Menschen in zunehmendem Ausmaß Einfluss. Und sie soll das Leben der Menschen verbessern – aber erreicht sie dies auch?
Technik, Glück und Glücksvermehrung Dieser Frage geht Rescher in seinem Vortrag aus dem Jahre 1977 nach, betitelt „Technological Process and Human Happiness“, der 1980 erstmals veröffentlicht wurde (in „Unpopular Essays on Technological Progress“, Rescher 1980 UE, Kap. 1). Genauer gesagt geht es Rescher darum zu klären, ob die Technik das Glück und die Zufriedenheit der Menschen erhöht, oder ob die mit dem technischen Fortschritt einhergehende Naturbeherrschung diesen gewünschten Effekt nicht hat.
„Negative benefits“ und „positive benefits“ Um diese Klärung vornehmen zu können, führt Rescher zunächst eine Differenzierung zwischen zwei Arten von Gutem ein: zwischen „negative benefits“, die
|| 92 Zu erwähnen ist darüber hinaus ein Beitrag zum moralischen Handeln in einer Befehlskette resp. in der Armee; vgl. hierzu „In the Line of Duty“ (Rescher 2006 CP VI, Kap. 9). Außerdem finden sich kurze Texte zur Wissenschaftsethik, vgl. Rescher CP XI, Kap. 12.
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Schlechtes reduzieren oder aufheben, und „positive benefits“, die positives Neues hervorbringen (vgl. Rescher 1980 UE, 5). Der Fortschritt in der Technik hat nun, so führt Rescher weiter aus, die „negative benefits“ drastisch erhöht – vieles Schlechte konnte reduziert werden, wie z.B. Leid oder mangelnder Komfort. Aber, so Rescher, das allein führt nicht zur ebenso umfassenden Steigerung von Freude oder Glück. „Glück“ ist nämlich nicht nur „Abwesenheit von Schmerz“ und „Freude“ mehr als „Abwesenheit von Sorge“ – das heißt, die Steigerung der „negative benefits“ zieht eine Erhöhung der „positive benefits“ nicht per se nach sich, meint Rescher.
Nachteile des Fortschritts Dazu kommt ein weiterer wichtiger Punkt, der für die Bilanz der Technik negativ zu Buche schlägt: die Schrecken des militärischen „Fortschritts“, exemplifiziert durch die Atombombe. Außerdem gibt es noch einen weiteren kritisch zu bewertenden Effekt des technischen bzw. technisch-wissenschaftlichen Fortschritts: Aufgrund verbesserter Medizintechnik und Agrartechnik ist die Bevölkerung enorm angewachsen, sodass der Erde eine Überbevölkerung droht (vgl. Rescher 1980 UE, 6).93 All diese zuletzt genannten Probleme, so Rescher, könnten aber – wenn man die Lage optimistisch einschätzt – mithilfe verbesserter Technik vielleicht bewältigt werden; jedenfalls könnte man dies „um des Arguments willen“ einmal annehmen – und dennoch zeigen, dass die Technik hinsichtlich der Beförderung des Glücks der Menschen nicht das leistet, was viele glauben.
Empirische Studien Nach Rescher besteht nämlich eine durch empirische Untersuchungen resp. Meinungsbefragungen in den USA bestätigte negative Korrelationen zwischen dem Fortschritt in der Technik und dem gefühlten Glück. Damit wird keineswegs bestritten, dass der technische Fortschritt auf verschiedenen Gebieten den materiellen Wohlstand gefördert habe, und ebenso wenig werde übersehen, dass die technischen Entwicklungen auch zu einer verbesserten Information und damit einhergehend zu einem verbesserten Wissensstand geführt haben
|| 93 Insbesondere die Überbevölkerung trägt zu einem weiteren, massiven Problem bei: der (permanent gewordenen) Umweltkrise – für die Rescher zumindest in „The Environmental Crisis and the Quality of Life“ (ein Vortrag, erstmals 1971 gehalten, publiziert erstmals 1974, wiederabgedruckt in Rescher 1980 VE, Kap. 2) keine rasche Lösung sah.
212 | Reschers philosophisches System (vgl. Rescher 1980 UE, 10). Darüber hinaus belegen diese Befragungen auch, dass die Menschen in den USA mit sehr großer Mehrheit nicht in einer früheren Epoche leben möchten bzw. gelebt haben möchten (vgl. Rescher 1980 UE, 11), also in Zeiten, in denen die Technik das Leben deutlich weniger bestimmte oder beeinflusste.
Technik und Erwartungen Es scheint aber, so Rescher, dass der Fortschritt auch Unzufriedenheit erzeugt. Der Grund dafür lässt sich seines Erachtens auch angeben: Mit dem technischen Fortschritt geht ein Anwachsen der Erwartungshaltungen einher. Mehr noch, die Erwartungen scheinen in umso größerem Ausmaß anzuwachsen, je mehr sich der technische Fortschritt entwickelt. Trifft diese (Zeit-)Diagnose zu, kann der Progress in der Technik gar nicht zum Glück der Menschen im Sinne der „positive benefits“ beitragen: Ihre Erwartungen können nicht eingeholt werden. Daher hält Rescher in seinem Fazit fest: „Does science and technological progress promote human happiness? I am afraid I have to say no“ (Rescher 1980 UE, 21). So wie die Wissenschaft in ihrer Entwicklung zu immer neuen Fragen führt und damit zu neuen Antworten, so führt der technische Fortschritt zu immer neuen Erwartungen. Da diese aber nicht unmittelbar erfüllt werden können, führe der Progress in der Technik – trotz der Erfolge im Bereich der „negative benefits“ – zur Enttäuschung. Die positive Rolle der Technik ist daher eher in den durch sie verbesserten Möglichkeiten, Leid zu vermeiden, zu sehen. Aufgrund des Zusammenhangs mit dem Erwecken und Enttäuschen von Hoffnungen bleibt die Technik uneindeutig zu bewerten.
Kritische Anschlussüberlegungen Reschers Überlegungen zum Thema „Technischer Fortschritt und Glück“ verdeutlichen wohl, dass die Begriffe „Technik“ und „Glück“ nicht zusammenhängen, sie sind nur kontingent miteinander verbunden (wobei es offenbleiben muss, ob die damaligen Daten aus den USA repräsentativ für die heutige Zeit und über den Befragungszeitraum hinaus sein können). Der entscheidende Punkt ist wohl, dass der technische Fortschritt positive wie negative Folgen und Nebenfolgen hat. Zu den zweifelsfrei positiven Folgen gehören wohl etliche Wirkungen der medizinischen Technik, aber auch andere Techniken, welche die Lebensqualität erhöhen (können). Dazu gehören Teile der Informationstechnologie, die zu Wissensvermehrung führen, und teilweise die bessere Transporttechnik sowie in Teilen die moderne Lebensmitteltechnik und anderes mehr. Zu den negativen Technikfolgen zählen neben der anhaltenden und im-
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mer deutlicher spürbaren Umwelt- und Klimabelastung, auf die Rescher in „The Environmental Crisis and the Quality of Life“ (Rescher 1980 UE, Kap. 2) hingewiesen hat, vor allem die nach wie vor bestehenden diversen Gefährdungen durch die Technik, wobei insbesondere die Waffentechnik zu nennen ist. Ein nach wie vor auch nicht in Ansätzen bewältigtes Problem stellt ferner vor allem der Luxus eines Teils der Menschheit dar, der durch die Technik ermöglicht wird, bei gleichzeitiger Weltarmut und bleibendem Welthunger eines großen Teils der Menschheit (für den allerdings nicht die Technik allein verantwortlich ist).94 Anhand dieses Fallbeispiels aus der Anwendungsethik wird aber auch deutlich, dass es Grenzen der philosophisch-begrifflichen Arbeit in der Angewandten Ethik gibt, denn für diese Analysen braucht es empirische Daten, die aufzunehmen und zu berücksichtigen sind. Das Einbeziehen empirischer Daten erweitert offenbar das philosophisch relevante Methodenrepertoire und gestattet die Anwendung philosophischer Überlegungen auf relevante gesellschaftliche Felder. Die mithilfe dieser empirischen Methode gewonnenen Daten bleiben aber fallibel, daher sind auch nur fallible Resultate zu erzielen – was aber der Dringlichkeit normativer Problemlösungen keinen Abbruch tut.
4.11.2 Medizinethik Sieht man von Reschers Beiträgen zur Technikethik ab, die nur einen Ausschnitt aus diesem Bereich thematisch erschließen, gibt es einen weiteren genuin anwendungsethischen Bereich, zu dem Rescher Beiträge publiziert hat: die Medizinethik. Doch auch hier gilt, was für die Technikethik von Rescher gilt: Sie erschließt nur einen Ausschnitt des anwendungsethischen Gesamtbereichs.
Wert des menschlichen Lebens Die zum Thema einschlägigen Beiträge finden sich in Reschers „Studies in Social Philosophy“ (Rescher CP VI)95. „The Social Value of a Life“, erstmals bereits 1982 veröffentlicht, untersucht kritisch Bewertungsverfahren, die Menschenleben zu erfassen suchen. Zwar schätzen Menschen ihr eigenes Leben sehr hoch, aber im Kontext von allgemeinen Bewertungen im Rahmen gesellschaftlicher Kosten stellen sich die Dinge anders dar. Zwar gibt es verschiedene Möglichkei-
|| 94 Vgl. zum Thema auch den Literaturbericht Kellerwessel 2012. 95 Dieser Text ist auch in Reschers „Public Concerns“ (Rescher 1995 PC) als Kap. 6 enthalten.
214 | Reschers philosophisches System ten, ein menschliches (Durchschnitts-)Leben zu taxieren (welche Ressourcen verbraucht es z.B. in medizinischer Hinsicht oder erzieherischer Perspektive, welche sozialen Beiträge erwirtschaftet es, welche gesellschaftlichen Ressourcen werden aufgewendet, z.B. für Vorsorgemaßnahmen, allgemeine Sicherheit oder Versicherungen?). Doch, so wendet Rescher ein, ein „sozialer Wert des Lebens“ lässt sich so generell nicht bestimmen. Der Wert eines Lebens ist nicht (nur) eine Frage von Kosten und Nutzen (vgl. Rescher CP VI, 131). Im Rahmen von Risikoanalysen ist die Frage „Wie viel ist es der Gesellschaft wert, eine Person vor dem Tod zu bewahren?“ eine irreführende: Tod bei der Arbeit, durch Ermordung oder während des Sporttreibens sind als ganz verschieden zu betrachten und zu bewerten. Und die Frage, ob ein Tod freiwillig erfolgt, ein hohes Todesrisiko billigend in Kauf genommen wird oder der Tod unfreiwillig eintritt, macht die weiteren bewertungsrelevanten Unterschiede deutlich. Nicht nur ob eine Person stirbt, ist relevant, sondern auch wie – hier sind deutliche begriffliche Unterschiede zu verzeichnen. Rescher schließt seine Überlegungen zu diesem Thema zum einen mit der schon genannten These als Fazit ab: Der soziale Wert des Lebens lässt sich nicht allgemein bestimmen. Zum anderen aber bewertet er dieses Ergebnis bzw. relativiert es hinsichtlich seiner Relevanz. Geht es um medizinethische Verbesserungsvorschläge, wie beispielsweise Seuchenprävention, braucht es keine solchen Wertangaben. Es genügen vielmehr, so Rescher, Abschätzungen, wie viele Menschenleben mutmaßlich mit welchen Mitteln gerettet (oder vor Behandlung bewahrt) werden können – „no life-valuation in economic terms is requisite at all“ (Rescher CP VI, 138).
Allokation Gleichwohl bleibt die Frage, wie man außergewöhnliche lebensrettende Maßnahmen einsetzt oder verteilt. Diesem Allokationsproblem widmet sich Rescher in „The Allocation of Exotic Medical Livesaving Therapy“ (Rescher, CP VI, Kap. 12).96 Sieht man von besonderen institutionellen Rahmenbedingungen (etwa von Spezialkliniken) ab, wären Forschungsinteressen, Effektivität, Erfolgswahrscheinlichkeit, Lebenserwartung, Familienstand, Zukunftsaussichten und sozialer Status des Patienten sowie bisherige aufgewendete Maßnahmen Einflussfaktoren für eine zu treffende Entscheidung, wer besondere Maßnahmen erhalten können soll. Diese Faktoren müssten, so Rescher, in ein rational akzep-
|| 96 Dieser Text ist als Kap. 12 in Reschers Textsammlung „Public Concerns“ (Rescher 1995 PC) enthalten.
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tables Verteilungssystem einbezogen werden; ein optimales System scheint ihm hingegen unerreichbar (vgl. Rescher CP VI, 151 f.). Letztendlich müsse man über Vorauswahlen und ein Punktesystem die Gruppe der zu versorgenden Patienten eingrenzen und gegebenenfalls, wenn keine anderen Entscheidungskriterien verblieben, eine Zufallsauswahl erzeugen (vgl. Rescher CP VI, 151): Dies würde auch den Entscheidern die Wahrnehmung ihrer Verantwortung erleichtern. Des Weiteren plädiert Rescher für ein System, welches die Gesundheitsfürsorge und die Zuteilung von Leistungen regelt. So führt er in „Ethical Issues Regarding the Delivery of Health-Care Services“ (Rescher, CP VI, Kap. 13) aus, dass Gleichheit zwar ein Wert sei, der hier relevant ist, aber der Gesamtnutzen nicht vernachlässigt werden darf.
Zu Reschers Beitrag zum Allokationsproblem in der Medizinethik Mit dem Thema der gerechten Verteilung medizinischer Güter und Dienstleistungen hat Rescher ein Thema angeschnitten, welches bis heute von außerordentlicher praktischer Relevanz ist, und dessen Bedeutsamkeit in der Zukunft wohl eher zu- als abnehmen wird. Denn zum einen steigen auch aufgrund des medizintechnischen Fortschritts die anbietbaren Dienstleistungen (z.B. in Form bestimmter neuer Operations- und Heilmethoden wie z.B. Transplantationen), und zum anderen werden (in den wohlhabenden Staaten) die Menschen im Durchschnitt älter, so dass der Bedarf an medizinischer Hilfe auch aus diesem Grund wohl weiter steigen wird – bei zunehmenden Kosten und knapper werdenden Ressourcen. In diesem weiten Feld für Gerechtigkeit zu sorgen, ist eine wichtige Aufgabe, für deren Grundlage die Medizinethik zuständig scheint. Hinzuweisen ist aber darauf, dass die Probleme der Medizinethik weit zahlreicher sind, als es die Diskussion bis hierher erkennen lässt. Sowohl in der medizinischen Forschung als auch im angemessenen Umgang mit Behinderungen und Leid (insbesondere am Lebensende) stellen sich sehr viele weitere Fragen. Für den Aspekt der Allokation sind einige davon gleichfalls relevant. So stellt sich beispielsweise die Frage, welche Forschungen (am Menschen) und welche Praktiken unter Umständen zulässig sein können, um das Angebot von transplantationsfähigem Material zu erhöhen, dieses Material zu verbessern oder gar kostengünstiger zu erzeugen. Über Reschers Beiträge hinaus stellen sich hier also weitere medizinethische Aufgaben. Inwieweit sie sich so beantworten lassen, dass sie in Reschers System hineinpassen, wäre zu klären.
216 | Reschers philosophisches System 4.11.3 Bioethik Reschers Wertlehre, auf die bereits eingegangen wurde (siehe Kap. 4.9.2), bietet auch einen Ansatzpunkt für seine Bioethik. Reschers Überlegungen zu einem der bedeutsamsten und nach wie vor hochaktuellen bioethischen Thema, der Frage nach einen Gebot der Arterhaltung, finden sich in einem Aufsatz mit dem Titel „Why Preserve Endangered Species?“ (Rescher 1980 WPES), der erstmals 1980 publiziert (in Rescher 1980 UE; wieder in Rescher 1995 PC, Kap. 14) und auch ins Deutsche übersetzt wurde. Er trägt in der Übersetzung den Titel „Wozu gefährdete Arten retten?“97.
Arterhaltung und Eigeninteressen Rescher setzt in diesem bioethischen Beitrag mit Überlegungen dazu ein, warum man in dem Aussterben einer biologischen Art einen Verlust sehen kann. Einschlägig können in diesem Zusammenhang, folgt man Rescher, zunächst zwei Kategorien von Klugheitserwägungen sein: Einerseits sind Arten als Studienobjekte von intellektuellem Interesse, andererseits kann es aber auch sein, dass Arten sich praktisch verwenden lassen, also ein materieller Nutzen durch ihr Vorhandensein erzielt werden kann. Sie hätten in diesem Fall einen instrumentellen Wert.
Werttheoretische Überlegungen Doch nach Rescher gibt es über die gerade eingenommene anthropozentrische Perspektive, die am Eigennutz orientiert ist, hinaus noch eine weitere: eine werttheoretische. Denn nach Rescher hat die Natur einen Eigenwert unabhängig von allen menschlichen Interessen: „Es wäre plausibler, der Natur jeden Wert überhaupt abzusprechen, als einen Wert allein aus der Perspektive menschlicher Wünsche zuzuschreiben und zu leugnen, dass andere Spezies einen Wert in sich selbst haben können“ (Rescher 1980 WPES, 181). Rescher meint, hier kommt eine evaluative Metaphysik ins Spiel, und knüpft an Aristoteles und Thomas von Aquin an – genauer an die Idee einer evaluativ und graduell abgestuften Reihung von Entitäten. Mithilfe metaphysischer Wertannahmen und ihrer Begründung sollen nicht-ästhetische, nicht-moralische und nichtpragmatische Werte festgestellt werden, die „das pure Sein der Dinge selbst,
|| 97 Dt. in: Birnbacher, D. (Hg.): Ökophilosophie. Stuttgart 1997, 178-201. Die Seitenangaben im Text beziehen sich auf die deutsche Ausgabe.
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nicht notwendigerweise nur den Bereich menschlicher Zwecke und Interessen“ (Rescher 1980 WPES, 181) betreffen. Die Grundlage dieser Werte soll, so Rescher weiter, in der „ontologischen Natur der Dinge“ innewohnen, und der Mensch soll in der Lage sein, diese Werte eigener Art zu entdecken (vgl. Rescher 1980 WPES, 183). Den Wert einer Spezies könne man anhand von Fähigkeiten und Möglichkeiten eruieren. Liebesbefähigung, Mut, Kunstschaffen, die Fähigkeit, Leid zu erfahren oder Todesfurcht wären Kriterien. Jede Spezies hat, so Reschers These, ihren intrinsischen Wert (vgl. Rescher 1980 WPES, 184) und sei daher zunächst als zu erhaltende Art zu betrachten. Die Pflicht zur Arterhaltung ist nach Reschers Sicht aber keine Pflicht der Klugheit und keine moralische Pflicht, da es hier in der Frage nach der Arterhaltung keine Individuen gibt, die Interessen hätten, um die es hier gehe. Zudem, so Rescher, gibt es zwischen verschiedenen biologischen Arten keine Wechselseitigkeit des gegenseitigen Betroffenseins von Pflichteinhaltungen oder dergleichen (vgl. Rescher 1980 WPES, 184). Diese Wechselseitigkeit betrachtet Rescher aber als konstitutiv für moralische Pflichten. Dies würde nur dann nicht einschlägig sein und entsprechend nicht gelten, wenn Menschen an einzelnen Spezies legitime Eigeninteressen hätten. Dann wäre die jeweilige Spezies aufgrund der involvierten menschlichen Interessen zu schätzen und ihr Schutz moralisch geboten. Allerdings räumt Rescher noch ungeborenen Menschen künftiger Generationen Rechte ein, die mit moralischen Pflichten jetzt lebender Menschen korrespondieren (vgl. Rescher 1980 WPES, 185). Und jenen künftigen Menschen gegenüber besteht, so Rescher, eine Pflicht zur Arterhaltung – eben weil die künftigen Menschen so wie die heutigen ein Interesse an der Spezieserhaltung hätten. Moralisch beachtenswerte Gründe an der Erhaltung einer Art, ohne dass wie in den eben skizzierten Fällen menschliche Interessen im Spiel sind, bestehen ansonsten nicht.
Arterhaltung und Wert(beförderung) Aber nach Reschers Sicht der Dinge besteht darüber hinaus noch eine „höhere“, noblere Verpflichtung der Arterhaltung (vgl. Rescher 1980 WPES, 185 f.). Diese Form des Verpflichtetseins bezieht sich nach Rescher nicht auf moralische Pflichten, sondern auf ethische Pflichten, die sich „an der Vermehrung des Wertes in der Gesamtheit der existierenden Dinge“ (Rescher 1980 WPES, 185) orientieren. Auch diese ethischen Pflichten gebe es wie die moralischen in zwei Formen: eine negative Erhaltungspflicht und eine positive Vermehrungspflicht. Die Erhaltungspflicht untersagt die Wertminderung, die Vermehrungsverpflichtung gebietet die Wertbeförderung, da
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Arten metaphysische Wertträger seien und Menschen eine Prima-facie-Verpflichtung zur Wertförderung haben, ergebe sich die ethische Pflicht, Arten zu fördern (vgl. Rescher 1980 WPES, 186).
Arten soll man also nach Rescher, zusammengefasst, aus Klugheitsgründen, aus moralischen Gründen bzw. legitimen Interessen anderer Menschen und aus ethischen Gründen des Werterhalts und der Wertvermehrung schützen. Dabei könnte mit jenen ethischen Gründen der allerdings erst später von Rescher konzipierte bzw. befürwortete ontologische Imperativ, demzufolge der Mensch seine moralischen Potentiale entfalten solle, zusammenhängen, denn die Wertebeförderung harmoniert mit dem ontologischen Imperativ, passt also kohärent zu dem genannten Imperativ. Tiere (Arten oder Individuen) haben zwar gemäß den Darlegungen von Rescher keine Rechte gegenüber Menschen, aber wir Menschen haben dieser Konzeption nach auch kein Recht zur Ausrottung von Tier- oder Pflanzenarten.
Wertehierarchie Allerdings erfährt dieses Konzept noch eine wesentliche Ergänzung. Dem Fortbestand von Arten kommt nämlich Rescher zufolge kein absoluter Wert zu. Aufgrund der oben angesprochenen Werthierarchie ist es z.B. zulässig, eine weniger wertvolle Art auszurotten, wenn dies der einzige Weg ist, eine höherwertige Spezies zu bewahren (vgl. Rescher 1980 WPES, 189). Intrinsische Werte sind demnach keine absoluten Werte; sie können von anderen intrinsischen Werten der Hierarchie überboten werden, wenn diese hierarchisch höher angesiedelt sind. Um die Menschheit zu schützen, also einen im Vergleich höheren Wert zu realisieren, erklärt Rescher die Ausrottung gefährlicher Mikroorganismen oder Insekten folgerichtig für zulässig. Artenschutz konkurriert also gemäß der Konzeption von Rescher mit menschlichen Interessen – und die jeweils aufzuwendenden Mittel sind gemäß der angenommenen Wertigkeiten zu verteilen (Tierschutz in einer Region könnte beispielsweise dort lebende Menschen in Sicherheit oder Wohlfahrt beeinträchtigen). Werte stehen im Rahmen dieser Überlegungen also im Mittelpunkt, und ein zentraler Wert für die menschliche Spezies ist Sicherheit und Wohlergehen. Daher erscheint es Rescher im Jahre 1980 auch nicht sinnvoll, zwecks Werterhöhung neue Arten zu erzeugen. Im Gegensatz zu bekannten Arten stellen sie unter Umständen eine zunächst unbekannte Gefahr da, die man vermeiden sollte – aus Klugheitserwägungen.
Anwendungsethiken | 219
Diskussion zu Reschers Beitrag zur Bioethik Der Arterhalt ist ein zentrales Thema der Tier- und Umweltethik. Nicht anthropologische Positionen innerhalb der Tier- und Ökoethik sind in der Regel sehr voraussetzungsreich und deshalb umstritten. Insofern Rescher diese Position meidet, spricht dies zunächst zugunsten seiner Überlegungen. Reschers Position fußt auf einer Theorie der Werte als einer metaphysischen Kategorie, die durch Begründung entstehen, und zwar als tertiäre Qualitäten. Dieser Ansatz lässt sich praktisch nutzen, wenn es um ökoethische oder tierethische Fragestellungen geht. Aber Reschers Grundannahmen bergen Schwierigkeiten. So ist es nicht ausgemacht, dass Menschen gleiche oder zumindest sehr ähnliche Werte annehmen bzw. gleichartige Werthierarchien für richtig erachten oder zu erachten hätten. Sofern dies nicht sicherzustellen ist, wird die Anwendung der Konzeption im Rahmen tier- und ökoethischer Überlegungen schwierig, selbst wenn es einen Konsens über Reschers Auffassung geben sollte, nach der der Schutz von Menschen Vorrang genießen sollte. Weiterhin wäre zu klären, ob Tieren – oder zumindest einigen Tieren – nicht doch Rechte zuzugestehen sind (wie T. Regan annimmt) oder ob höher entwickelte Tiere gar einen Personenstatus genießen sollten (wofür P. Singer argumentiert). Diese weit ausgreifenden Fragen können an dieser Stelle nicht weiter verfolgt werden; deutlich sollte aber sein, dass in diesem Bereich noch sehr umfassende Klärungen ausstehen. Hinzuweisen ist ergänzend noch auf folgenden Punkt: Eine sehr viel ausgearbeitete Ökoethik ließe sich wohl an Reschers System der Philosophie kohärent anschließen. Geht man von einem Zusammenhang „Mensch – Werte – Überleben“ aus, ist eine (hinreichend) intakte Umwelt eine Vorbedingung für das Überleben der Menschen bzw. der Menschheit. Da diese Rescher zufolge einen Wert hat, könnte seine Werttheorie als Basis für eine weitere Ausarbeitung dienen. Überlegungen dieser Art passen zudem zu Reschers angedachtem „Postsozialstaat“, denn im Rahmen einer derartigen Position könnte (mit pragmatischen Argumenten) dafür argumentiert werden, dass dem Staat im Bereich der Ökologie eine neue Aufgabe erwächst bzw. bereits erwachsen ist. Gleichwohl bliebe Reschers zugrunde gelegte Werttheorie überzeugend zu begründen.
5 Schlussbetrachtung Am Ende der Darstellung des philosophischen Systems von Nicholas Rescher und seiner hauptsächlichen Inhalte sollen nun – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – noch einige allgemeine denkbare Kritikpunkte kurz erörtert werden. Zunächst erfolgt aber eine kurze positive Würdigung, ehe danach noch einige kritische Überlegungen angesprochen werden.
Allgemeine positive Würdigung Zweifelsohne hat Rescher ein außerordentlich beeindruckendes philosophisches Werk vorgelegt. Sowohl hinsichtlich der Breite der philosophischen Arbeitsfelder als auch mit Blick auf die Umfassendheit seiner Beiträge zu einzelnen Disziplinen findet sich in der Gegenwartsphilosophie wohl kaum Vergleichbares. Aus seinen Beiträgen zur Philosophie und zur Philosophiegeschichte hat Rescher ein derart umfassendes System entwickelt, das in der modernen Philosophie wohl in der Tat einzigartig ist. Insbesondere wird es dem eigenen Anspruch, tatsächlich ein System zu sein, gerecht. Im Rahmen einer positiven Einschätzung bzw. Charakterisierung verdienen aber auch weitere Aspekte des Werks von Rescher herausgestellt zu werden: Da ist zunächst die Orientierung an Standards (der Rationalität), die einen postmodernen Relativismus ausschließen. Gleichfalls nicht denkbar in Reschers System ist irgendeine Form von Begründungslosigkeit, und auch dies ist ein Vorzug. Diese Orientierung an sprachlichen oder begrifflichen Regeln, die normativen Charakter haben, ist philosophisch angezeigt und entsprechend dem, was von Philosophie als begründungsorientierter Wissenschaft zu erwarten ist. Und schließlich ist die deutliche Berücksichtigung des Common Sense hervorzuheben, der bestimmte philosophische Theorien, die in der Geschichte der Philosophie tatsächlich vertreten wurden, von vornherein ausschließt. Darüber hinaus verfolgt Rescher ein ausgesprochen ambitioniertes Projekt: Er beabsichtigt, diejenigen philosophischen Fragen, denen in der Philosophiehistorie besondere Relevanz zukam, denen aber auch aktuell große Bedeutung beigemessen wird, in einer systematischen Theorie zu erörtern und zu beantworten. Auch damit schwimmt Rescher gegen den Strom, und zwar gegen den Mainstream des Analytischen Philosophierens, der solche Systementwürfe nicht mehr primär verfolgt. Dabei finden sich jedoch in Reschers Publikationen auch zahllose Detailklärungen, wie sie in der Analytischen Philosophie heute üblich sind. Deshalb kann Reschers Werk bzw. Teile daraus auch für analytisch verfahrende Philosophen von großem Interesse sein.
Schlussbetrachtung | 221
Systemdenken – Vorzüge und Nachteile Einige Vorzüge des Systemdenkens insgesamt lassen sich rasch aufzählen: Zu nennen sind neben der Systematik die aufgedeckten Zusammenhänge, die Breite des Spektrums, die umfassenden Erklärungen und die methodische Einheitlichkeit. Gleichwohl lassen sich auch Probleme des Systems und seiner allgemeinen Voraussetzungen nennen; dabei bleiben kritisch zu sehende einzelne Punkte hier außen vor, d.h. es werden keine Einzelheiten aus den vorangegangenen Kapiteln wieder aufgegriffen.
(Ontologischer) Voraussetzungsreichtum Zunächst ist zu konstatieren, dass Reschers System der Philosophie ontologisch ausgesprochen voraussetzungsreich ist. Dies gilt, auch wenn zu Recht „mögliche Welten“ von Rescher kritisch gesehen werden, zunächst bezüglich der Ethik, da objektive Werte (als tertiäre Eigenschaften) unterstellt werden. Doch noch in einer anderen Hinsicht bereitet die Ontologie allgemeine Schwierigkeiten (im Zusammenhang mit dem unterstellten Realismus Reschers). Nach Reschers System gibt es dasjenige, was die Wissenschaften (einschließlich der Philosophie) für Kausalerklärungen benötigen. Dies würde bedeuten, dass Änderungen der Wissenschaften Änderungen dessen nach sich ziehen können, was es gibt bzw. geben soll – doch wie passt das zu dem Realismus Reschers? Eigentlich müsste festliegen, was es gibt, sofern man einen Realismus wie Rescher vertritt, der sagt: Es gibt, was es gibt – unabhängig vom Stand der Forschung.
Methodenpragmatismus – ein Problem Ein Bedenken lässt sich auch mit Blick auf den Methodenpragmatismus formulieren: Es stellt sich nämlich die Frage, ob nicht auch eine Methode systematisch fehlerhaft sein könnte, und zwar selbst dann, wenn sie nützlich zu sein scheint – verstanden im im Sinne von „(auf Zeit) als praktisch bewährt“. Zwar ist einzuräumen, dass sich fehlerhafte Methoden – sofern ihre Anwendung nicht in der Praxis ihre theoretischen Fehler ausgleicht – „in the long run“ wohl zumeist als ungünstig erweisen dürften. Dennoch stellt sich die Frage, ob dies für alle Methoden gesagt werden kann. Insbesondere einige besondere „Methoden“ scheinen hier Bedenken hervorzurufen. Man denke beispielsweise an die Methode der „Befragung“ durch die Inquisition (sofern man dies als „Methode“ betrachtet). Diese ist nicht nur wegen der Gewaltandrohungen und der mit ihr allzu oft verbundenen Folter moralisch in höchstem Maße verabscheuenswert, sondern systematisch fehlerhaft: Die Geständnisse, die sie hervorzubringen
222 | Schlussbetrachtung hilft, werden nur wegen der drohenden oder praktizierten Folter gemacht, dürften aber in vielen Fällen kaum einen Wahrheitsgehalt haben. Doch auch andere Praktiken ließen sich anführen (wenn man sie denn als „Methode“ zu klassifizieren bereit ist): Rituelle Handlungen wie Gebete für Regen oder Regentänze können bei geeigneten klimatischen Verhältnissen sehr „erfolgreich“ sein, also Regen zeitlich nach sich ziehen. Weiterhin war für sehr viele Jahre vielleicht auch die Methode, Vulkane zu beruhigen, indem man von Zeit zu Zeit Menschen in den Vulkan wirft, „erfolgreich“, sofern er über einen längeren Zeitraum nicht ausbricht. Solche Verfahrensweisen erscheinen in hohem Maße irrational – und es müsste noch gezeigt werden, weshalb sie trotz unter Umständen langfristig „erfolgreichem“ Einsatz eben nicht gerechtfertigt werden können. Innerhalb von Reschers System kämen hier kohärenztheoretische Überlegungen in Betracht – aber auch diesbezüglich bestehen Einwände.
Schwierigkeiten mit der Kohärenz Einen zentralen Diskussionspunkt stellt in der Tat das Thema „Kohärenz“ dar. In Abgrenzung zu Rawls, der Kohärenz im Rahmen seiner Gerechtigkeitstheorie als Ziel eines komplexen Entscheidungsfindungsverfahrens anstrebt, J. NidaRümelin, dem es in seiner Ethikkonzeption auch auf Kohärenz mit den Meinungen moderner demokratischer Bürger ankommt, und dem medizinethischen Prinzipialismus von T. Beauchamp und J. Childress, die eine kohärente Medizinethik zu schaffen bestrebt sind, geht es Rescher um einen sehr viel umfassenderen Kohärentismus. Während die genannten anderen Philosophen sich auf Bereiche der Praktischen Philosophie beschränken, sucht Rescher nach einem kohärenten System, das die Praktische und die Theoretische Philosophie umfasst; außerdem soll es zu den Ergebnissen anderer Wissenschaften passen. Ein allerdings immer wieder gegen kohärentistische Konzeptionen und Theorien vorgetragenes Bedenken betrifft die schwer auszuschließende Möglichkeit, dass es mehrere, inhaltlich voneinander abweichende kohärente Systeme geben könnte. Dies kann man am Beispiel der Erkenntnistheorie erläutern. So wäre es denkbar, dass aufgrund präsumtiv angenommener Daten und deren nachträglicher Auswahl in einem System Annahmen enthalten sind, die in einem anderen System nicht enthalten sind. Reschers Insistieren auf der Bedeutsamkeit von Daten ist zweifelsohne wichtig, aber es ist nicht einhellig geklärt, dass damit das Aufkommen mehrerer Systeme unterschiedlichen Gehalts tatsächlich verhindert werden kann. Denn diese Daten sind Rescher zufolge nur als „präsumtiv“ zu klassifizieren, also als fallibel. Sie können deshalb revidiert werden. Und es ist nicht ausgemacht, dass aus einer als Ausgangspunkt genommenen Datenmenge nicht dadurch verschiedene Datenmengen werden,
Schlussbetrachtung | 223
dass die Ausgangsmenge auf verschiedene Art und Weise bearbeitet werden kann. Dabei scheint diese Schwierigkeit in der Wissenschaftstheorie noch gravierender, denn hier werden aufgrund des engen Zusammenhangs von Theorie und Datengewinnung möglicherweise verschiedene Datenmengen sehr unterschiedlich werden. Sofern solche Theorien dann auch noch unterschiedliche „Erfolge“ im Sinne des Pragmatismus aufweisen, wird es noch schwieriger, zwischen ihnen zu wählen – zumindest droht die Gefahr eines vitiösen Zirkels. Denn derartige Erfolge sind, so Bonjour, Annahmen, die in Sätzen oder Urteilen zum Ausdruck kommen, die ihrerseits mit den eingangs gemachten Präsumtionen und den Anfangsdaten zusammenhängen, und demnach kein unabhängiges Prüfkriterium darstellen (vgl. Bonjour 1979, 169 f.). Bonjour hat einen solchen Einwand wie den eben formulierten (vgl. Bonjour 1979) ausführlicher ausgearbeitet, und ihn prägnant in folgende kritische Frage gekleidet: „why can’t there be many such coherent systems, each with its own criteria of presumption and of truth, its own output of putatively factual truth, its own claims of pragmatic success“ (Bonjour 1979, 168; vgl. Bonjour 1976, 719)? Vermeiden ließe sich dies, so Bonjour weiter (vgl. Bonjour 1979, 169), nur, wenn es einen „genuine input“ aus der Welt gebe, der alternative Systeme ausschließe. Der von Rescher ins Spiel gebrachte „pragmatische Erfolg“ ist, so Bonjour, ein problematisches Kriterium, weil dieser Erfolg nicht so eng mit Wahrheit(en) verbunden ist, zumal bei Rescher die Annahme, es sei eine Wahrheit oder es seien Wahrheiten gefunden worden, als theoretischer Erfolg aufgefasst werde, was auf einen theoretischen Zirkel hinauslaufe (vgl. Bonjour 1976, 720). Letztlich könne die Datenmengenwahl nicht mit dem pragmatischen Erfolg und dieser Erfolg mit den gewählten Daten und der Kohärenz mit dem System erklärt werden (so Bonjour 1976, 721). Reschers Konzeption bleibt damit allgemein gesagt mit dem Problem konfrontiert, dass es mehr als nur ein kohärentes System geben kann, und dass diese so entstehenden Systeme einander widersprechen können. Vor allem als kaum zu überwindendes Problem verbleibt, dass von einem bestimmten Zustand eines kohärenten Systems von Sätzen oder Propositionen immer auf verschiedene Weise zu neuen kohärenten Systemen übergegangen werden kann. Der Grund dafür liegt darin, dass es immer verschiedene Weisen des Kohärenzerzeugens gibt. So kann man eine Annahme oder mehrere Überzeugungen verändern, z.B. indem man den Geltungsbereich eingrenzt oder die Thesen abschwächt (etwa, dass sie in weniger Fällen zutreffen als ursprünglich angenommen oder nur bei Vorliegen bestimmter Bedingungen); aber man kann auch eine Position oder mehrere Überzeugungen ganz streichen. Schließlich besteht die weitere Option des Hinzufügens von Überzeugungen. Letztlich las-
224 | Schlussbetrachtung sen sich beliebige Kombinationen der genannten Verfahrensweisen anwenden. Dabei zeigt sich aufgrund der Umfassendheit des philosophischen Systems eine besondere Schwierigkeit: Je umfassender ein System ist, umso mehr mögliche Inkohärenzen sind theoretisch möglich. Das besagt, dass der Bedarf an Kohärenzerzeugung besonders hoch ist. In Verbindung mit den jeweilig verschiedenen Möglichkeiten der Kohärenzherstellung scheint es daher schwierig, ein in sich kohärentes System vor anderen in sich kohärenten Systemen auszuzeichnen.
Ein nicht fallibles Fundament als Alternative – Common Sense Helfen könnte es hier, wenn man durch weitere Überlegungen bestimmte Systeme gegenüber anderen Systemen als priviligiert auszeichnen könnte. Besser noch wäre es, wenn man sogar nur ein System gegenüber allen anderen Systemen als vorzugswürdig auszeichnen könnte. An dieser Stelle wäre, so zumindest ein Vorschlag, zu überlegen, ob nicht der Common Sense eine bedeutendere Rolle spielt, als Rescher anzunehmen scheint. Auch wenn dieser, wie Rescher sagt, keine eigene philosophische Position darstellt, ist er – ganz im Sinne Reschers – zunächst ein Korrektiv für diejenigen philosophischen Positionen, die zu ihm, dem Common Sense, in Widerspruch stehen. Rescher selbst räumt dem Common Sense gegenüber ein: „Common Sense is a realistic guide in matters of what to think and what to do“ (Rescher 2005 CS, 55). Er ist demnach ein zuverlässiger Führer unter anderem beim Denken, der seine „Autorität“ aus dem Alltagsleben, also der tagtäglichen Praxis, zieht. Insofern ist er so vertraut und so gut bestätigt, dass er Rescher zufolge als evident und nicht mehr als begründungspflichtig oder auch nur der Begründung fähig erscheint (vgl. Rescher 2005 CS, 29, 31, 38 f.). Abweichungen von ihm sind nach Rescher erklärungsbzw. begründungspflichtig (vgl. Rescher 2005 CS, 27). Zudem gibt es CommonSense-Annahmen in verschiedenen Bereichen: Rescher nennt Beobachtungen, Selbstwahrnehmungen, Erinnerungen sowie unstrittige und offenkundige Fakten des gemeinsamen Lebens (vgl. Rescher 2005 CS, 52). Somit scheint – ein Stück weit contra Rescher, der bestreitet, dass sich aus dem Common Sense eine Philosophie ergebe (vgl. Rescher 2005 CS, 203 ff.; vgl. ferner 212 f. und 216) – doch eine erwägenswerte Basis auch für die Philosophie und ihre Erkenntnisbestrebungen vorzuliegen.1 Die von Rescher angeführten „truisms“ – dass man
|| 1 Rescher selbst hält den Common Sense nicht für vollständig verlässlich (vgl. Rescher 2005 CS, 64 ff.), aber dies hängt vielleicht zum Teil an zu hohen Ansprüchen. Rescher zufolge sind die Common-Sense-Gehalte trivial (vgl. Rescher 2005 CS, 66 ff.), doch dies kann meines Erach-
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selbst existiere und dieselbe Person wie am Vortag sei, und dass eine vom eigenen Geist unabhängige Welt (mit dauerhaften Naturgesetzen) existiere (vgl. Rescher 2005 CS, 204) – scheinen durchaus philosophisch folgenreich. Sie sind nämlich mit diversen Positionen, die in der Geschichte der Philosophie vertreten wurden, inkonsistent (so auch Rescher 2005 CS, 213). J. Kekes hat darauf aufmerksam gemacht, dass es eine Reihe weiterer Annahmen gibt, die sich mit spezifischen Gründen nur schwerlich bezweifeln lassen (sie ließen sich aber bezweifeln, wenn man einen Solipsismus oder einen Außenweltskeptizismus vertritt). Gemeint sind folgende Annahmen: „That hunger is removed by eating, fatigue by rest, […] that children must be fed“ (Kekes 1998, 72). Auch diese Annahmen scheinen Beispiele darzustellen, die einem Pluralismus Grenzen setzen und als Basis für Weiteres infrage kommen. Sie gelten, wie Kekes feststellt, unabhängig von bestimmten historischen Zeitpunkten oder kulturellen Zugehörigkeiten und sind unabhängig von subjektiven Einstellungen und Perspektiven.
Common Sense, Sprache und Sprachphilosophie Davon abgesehen ist der Common Sense weiter verwendbar, wenn sich aus ihm logische Ableitungen ergeben, die ebenfalls als korrigierende Kriterien Verwendung finden können. Entscheidender aber noch ist die normale Sprache und ihre Verbundenheit mit der alltäglichen Praxis des Sprachgebrauchs, die der Sprache und ihren Bestandteilen Bedeutung verleiht. Insofern wäre zu erwägen, welche Konsequenzen sich für die Philosophie ergeben, wenn man die normale Sprache und ihre Kontexte einbezieht, so wie es der späte Wittgenstein, Ryle, Austin oder auch Strawson unternommen haben. Unter anderem wäre möglich, dass sich zeigen ließe, dass nicht alle bisher gestellten philosophischen Fragen überhaupt sinnvoll gestellt werden können. Nimmt man derartige Ansätze der „Philosophie der normalen Sprache“ als Basis, und verbindet sie mit einer Praxis logisch korrekten Argumentierens und Begründens im Diskurs, würde sich – möglicherweise – ein auch kohärentes philosophisches System erarbeiten lassen, zu dem sich keine kohärenten Alternativen so leicht entwickeln ließen.
|| tens angesichts des oben Gesagten bezweifelt werden. – Überdies wäre genauer zu klären, was zum Common Sense gehört und was nicht (hierzu hat Moore bereits Überlegungen vorgestellt; vgl. Moore 1969b), und welche Bestandteile des Common Sense eigentlich philosophisch relevant sind. Hierzu hat Wittgenstein in „Über Gewißheit“ bemerkenswerte Beiträge geliefert.
226 | Schlussbetrachtung
Objektive Bedeutungen und ihre Erklärung – ergänzte Sprachphilosophie In diesem Zusammenhang scheint es von größter Wichtigkeit, die Bedeutung von Begriffen zu klären. Bei Rescher bestehen Ansätze dazu, die sowohl die Pragmatik als auch die Semantik berücksichtigen. Dennoch ist Reschers Sprachphilosophie unvollständig; sie stellt keine umfassende Bedeutungstheorie bereit. Damit fehlt auch die Möglichkeit, darzutun, dass sich bestimmte Bedeutungsexplikationen, die Rescher anführt und von denen er Gebrauch macht, mit dem normalen Sprachgebrauch in Einklang befinden. Genommen sind damit auch andere Möglichkeiten, die je eigenen Bedeutungsannahmen weiter zu unterfüttern – und das gilt eben auch, wenn sich diese als zutreffend erweisen (sollten). Hier scheint ein Ergänzungsbedarf für das philosophische System von Rescher zu bestehen. Die Frage wäre, ob sich dergleichen nahtlos in diese Theorie einfügen ließe. Dabei wäre auch zu klären, ob Reschers Theorie Potentiale enthält, mit deren Hilfe man in Zweifelsfällen entscheiden kann bzw. mithilfe derer bei Streitpunkten hinsichtlich einer Begriffsexplikation eine begründete Entscheidung herbeigeführt werden kann. Es scheint, Reschers Theorie wäre zu ergänzen um Analysen von Äußerungsbedingungen im Allgemeinen (und nicht nur bezüglich wahrheitsfähiger Sätze). Zu klären bliebe auch, wie man von sinnvollen Äußerungen zu Satzverständnissen und zu korrekten Bedeutungsexplikationen von Termini gelangen kann. Letztgenannter Punkt betrifft sowohl die Theoretische wie die Praktische Philosophie. Angesichts verschiedener Ansätze in der Semantik und Pragmatik stellt sich hier also die Frage nach der angemessenen sprachphilosophischen Methode. Meines Erachtens wäre in diesem Kontext an die „Philosophie der normalen Sprache“ oder an die des späten Wittgenstein zu denken. Denn nimmt man mit Rescher an, Begriffe hätten eine objektive Bedeutung, stellt sich die Anschlussfrage, wie man diese Bedeutungen nachvollziehbar herausfinden kann.
Aufgaben der Philosophie Abschließend sei noch kurz etwas zur Aufgabe der Philosophie resp. ihrer Methode angemerkt. Wie deutlich geworden sein sollte, schätzt Rescher das Erarbeiten eines umfassenden philosophischen Systems besonders, und sieht die Schaffung eines solchen Systems als oberstes Ziel der Philosophie an. Gegen das Hervorbringen eines umfassenden philosophischen Systems scheint grundsätzlich nichts zu sprechen. Zu Bedenken zu geben ist aber, dass dies nicht nur zu viel Arbeit bedeuten kann, sondern auch „too much careful work to be done“ (Marconi 1998, 90). Angesichts der heutigen Spezialisierungen in der Philosophie dürfte der Aufbau eines umfassenden Systems mit noch größeren Schwierigkeiten verbunden sein, als dies zu früheren Zeiten der Fall gewesen sein mag.
Schlussbetrachtung | 227
D. Marconi meint, es hätten weniger die großen Systeme überlebt als einzelne Argumentationen (vgl. ebenda). Stimmt man dem zu, scheint es fraglich, ob ein umfassendes philosophisches System, welches Bestand hat, überhaupt geschaffen werden kann. Zuletzt fraglich bleibt, ob die Philosophie tatsächlich systematisch und damit in dem Maße kohärent sein muss. Alternativ scheint es eben nach wie vor möglich und sinnvoll, auch – wie heute in der Analytischen Philosophie üblich – einzelne Begriffsanalysen durchzuführen, ohne bei der Analyse bereits darauf zu achten, wozu die Resultate kohärent passen (können). Zielt man auf ein umfassendes philosophisches System ab, erzeugen solche sorgsamen Begriffsanalysen – von denen Rescher selbst etliche vorgelegt hat – möglicherweise Schwierigkeiten. Dies geschieht genau dann, wenn eine solche Analyse mit einem vorliegenden System in Konflikt steht. Hier stellt sich dann die Vorrangfrage bzw. die Frage, wie das Ergebnis der Analyse mit dem System kohärent gemacht werden kann – womit das oben bereits benannte Problem nochmals erscheint, das besagt, dass dergleichen immer auf verschiedene Art und Weise vonstatten gehen kann. Dies scheint eine nennenswerte Schwierigkeit für ein modernes philosophisches System, denn solche Begriffsanalysen haben die Philosophie des 20. Jahrhunderts und der Gegenwart in großer Zahl hervorgebracht. Das Erarbeiten einer philosophischen Systematik ist zweifelsohne ein veritables Ziel, aber es scheint kaum das einzige mögliche Ziel des Philosophierens zu sein. Jedenfalls ist es keine begriffliche Wahrheit, dass Philosophie umfassend systematisch ist, und „Philosophie“ und „philosophisches System“ sind nicht synonym zu sein. Insofern lässt das Philosophieren wohl Raum für verschiedene Vorgehensweisen, Methoden und Ziele – sofern sie der Sprache bzw. begrifflich angemessen, rational und möglichst überzeugend begründet sind.
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Literatur- und Siglenverzeichnis | 231
2003 E 2003 L 2003 RPP 2004 VM 2005 CC 2005 CH 2005 CS 2005 EL 2005 WI 2006 M 2006 PD 2006 P 2006 PPD 2007 D 2007 E 2007 IPD 2007 IPH 2007 IPR 2008 BV 2008 EP 2009 A 2009 I 2010 PT 2010 RP 2011 OC 2011 PE 1995 RPI 2011 BS
Epistemology. An Introduction to the Theory of Knowledge. Albany, New York 2003. On Leibniz. Pittsburgh 2003. Rationality in Pragmatic Perspective. Lewiston, Queenston, Lampeter 2003. Value Matters. Studies in Axiology. Frankfurt/Main, Lancaster 2004. Cosmos and Cognition. Studies in Greek Philosophy. Frankfurt/Main u.a. 2005. Cognitive Harmony. The Role of Systematic Harmony in the Constitution of Knowledge. Pittsburgh 2005. Common-Sense: A New Look at an Old Philosophical Tradition. Milwaukee 2005. Epistemic Logic. A Survey of the Logic of Knowledge. Pittsburgh 2005. What If? Thought Experimentation in Philosophy. New Brunswick, London 2005. Metaphysics. The Key Issues from a Realistic Perspective. New York 2006. Philosophical Dialectics. An Essay on Metaphilosophy. Albany 2006. Presumption and the Practice of Tentative Cognition. Cambridge 2006. Process Philosophical Deliberations. Frankfurt/Main u.a. 2007. Dialectics. A Classical Approach. Frankfurt/Main u.a. 2007. Error. (On Our Predicament When Things Go Wrong). Pittsburgh 2007. Is Philosophy Dispensable? And Other Philosophical Essays. Frankfurt/Main u.a. 2007. Interpreting Philosophy. The Elements of Philosophical Hermeneutics. Frankfurt/Main u.a. 2007. Issues in the Philosophy of Religion. Frankfurt/Main u.a. 2007. Being and Value. And Other Philosophical Essays. Frankfurt/Main u.a. 2008. Epistemic Pragmatism. And Other Studies in the Theory of Knowledge. Frankfurt/Main u.a. 2008. Aporetics. Rational Deliberation in the Face of Inconsistency. Pittsburgh 2009. Ignorance. On the Wider Implications of Deficient Knowledge. Pittsburgh 2009. Philosophical Textuality. Studies on Issues of Discourse in Philosophy. Frankfurt/Main u.a. 2010. On Rules and Principles. A Philosophical Study of their Nature and Function. Frankfurt/Main u.a. 2010. On Certainty. And Other Essays on Cognition. Frankfurt/Main u.a. 2011. Productive Evolution. On Reconciling Evolution with Intelligent Design. Frankfurt/Main u.a. 2011. (mit. A. Wüstehube): Der Rationalitätsbegriff im „pragmatischen Idealismus“. Ein Gespräch. In: Wüstehube, A. (Hg.) (1995), S. 147-164. (mit P. Grim): Beyond Sets. A Venture in Collection-Theoretic Revisionism. Frankfurt/Main u.a. 2011.
232 | Literatur- und Siglenverzeichnis
Reschers Collected Papers werden unter der Sigle „CP“ plus Bandangabe zitiert: CP I CP II CP III CP IV CP V CP VI CP VII CP VIII CP IX CP X CP XI CP XII CP XIII CP XIV
Studies in 20th Century Philosophy. Collected Papers I. Frankfurt/Main 2005. Studies in Pragmatism. Collected Papers II. Frankfurt/Main 2005. Studies in Idealism. Collected Papers III. Frankfurt/Main 2005. Studies in Philosophical Inquiry. Collected Papers IV. Frankfurt/Main 2005. Studies in Cognitive Finitude. Collected Papers V. Frankfurt/Main 2006. Studies in Social Philosophy. Collected Papers VI. Frankfurt/Main 2006. Studies in Philosophical Anthropology. Collected Papers VII. Frankfurt/Main 2006. Studies in Value Theory. Collected Papers VIII. Frankfurt/Main 2006. Studies in Metaphilosophy. Collected Papers IX. Frankfurt/Main 2006. Studies in the History of Logic. Collected Papers X. Frankfurt/Main 2006. Studies in the Philosophy of Science. Collected Papers XI. Frankfurt/Main 2006. Studies in Metaphysical Optimalism. Collected Papers XII. Frankfurt/Main 2006. Studies in Leibniz’s Cosmology. Collected Papers XIII. Frankfurt/Main 2006. Studies in Epistemology. Collected Papers XIV. Frankfurt/Main 2006.
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Literatur- und Siglenverzeichnis | 233
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Personenregister Adorno, T.W. 21 Agrippina 70 Airaksinen 94 Albert, H. 70 Almeder, R. 106, 110 Anaximander 162 Apel, K.-O. 96 Aquin, T. von 150, 222 Aristoteles 4, 21, 128, 136, 222 Austin, J.L. 24, 168, 226 Beauchamp 223 Bentham, J. 211 Berkeley, G. 141 Bonjour, L. 39, 84, 90, 224 Brenkert, G.G. 213 Brown, B. 94 Canterbury, A. von 151 Childress 223 Chisholm, R.M. 24 Davidson, D. 4, 9, 129, 137 Descartes, R. 72f., 76, 81, 93, 144, 151 Dewey, J. 208 Du Bois-Reymond, R. 119 Dummett, M. 125 Dworkin, R. 197 Engels, F. 21 Feigl, H. 74 Felt, J.W. 54 Feyerabend, P. 109 Fichte, J.G 21 Frankena, W.K. 24 Gettier, E.L. 85 Gewirth, A. 181 Gunnarsson, L. 168, 209 Habermas, J. 10, 104, 168, 171, 209f., 214 Haeckel, E. 119 Hegel, G.W.F. 5, 11, 17, 19ff., 23, 30, 56, 82, 135, 208 Hempel, G. 24 Heraklit 139 Herbart, J.F. 21 Holbach, P.T. von 61 Horkheimer, M. 21 Hume, D. 144, 151f.
Inwagen, P.van 131 James, W. 14f., 95f., 104 Jarowski, W. 123 Kant, I. 3, 5, 11ff., 16, 21, 53, 151 Keil, G. 68 Kekes, J. 1, 179, 226 Kellerwessel, W. 1, 4, 17, 74, 81, 109, 146f., 157, 161, 168f., 171, 180, 185, 219 Kripke, S.A. 133 Krüger, H.-P. 168, 215 Kuhlmann, W. 81 Kuhn, T.S. 109, 113, 116 Leiber, T. 107 Leibniz, G.W. 3, 106, 135f. Lewis, C.I. 15, 24 Lewis, D. 133 Marconi, D. 228 Marsonet, M. 41, 84, 94, 106, 110, 123 Martin, R. 55, 60 Marx, K. 21, 207 Meinong, A. 131 Mill, J.S. 21, 211 Mittelstraß, J. 110 Moore, G.E. 15, 24, 76, 93, 95, 101, 186, 226 Nida-Rümelin, J. 223 Niemann, H.-J. 110 Nietzsche, F. 56 Oppenheim, P. 24 Peirce, C.S. 4f., 11, 13, 15f., 73, 101, 104, 107 Platon 36, 85 Popper, K. 18, 70, 109, 112 Puntel, L.B. 94, 97, 110 Putnam, H. 4, 15 Quine, W.V.O. 24, 104 Ramsey, F.P. 20, 24 Rawls, J. 207, 209f., 214, 223 Regan, T. 225 Reichenbach, H. 24 Rockmore, T. 84 Rorty, R. 14f. Russell, B. 24, 104 Ryle, G. 24f., 128, 136, 144, 226 Schelling, F.W.J. 21 Schiller, F.C.S. 14f.
238 | Personenregister
Schleiermacher, F. 21 Searle, J.R. 104, 168 Sextus Empiricus 71 Singer, P. 59, 225 Strawson, P.F. 9, 24f., 67, 141f., 146f., 226 Teilhard de Chardin, P. 144 Temple, D. 110
Wagner-Döbler, R. 107 Wible, J.R. 117 Willaschek, M. 69 Wittgenstein, L. 4, 24f., 76, 81, 147, 161, 168, 170, 212, 226f. Wüstehube, A. 4, 39, 41, 69, 181f., 209