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German Pages 350 Year 2014
Karin Wilhelm, Kerstin Gust (Hg.)
NEUE S TÄ D T E FÜR EINEN NEUEN S TA AT
Urban Studies
Karin Wilhelm, Kerstin Gust (Hg.)
Neue Städte für einen neuen Staat. Die städtebauliche Erfindung des modernen Israel und der Wiederaufbau in der BRD. Eine Annäherung
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ▷ http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2013 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Gestaltung: Alexander Fuchs, Wiyumi Lektorat: Kerstin Gust, Karin Wilhelm Korrektorat: Viola van Beek Übersetzung aus dem Englischen (Beiträge Benvenisti, Ben-Rafael, Efrat, Kallus, Kark, Sharett): Annette Wiethüchter Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Schrift: Arnhem, Fred Smeijers ISBN 978-3-8376-2204-1 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: ▷ http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: ▷ [email protected]
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Mit freundlicher Unterstützung von Braunschweigischer Hochschulbund e.V.
I N H A LT S V E R Z E I C H N I S Neue Städte für einen neuen Staat. Die städtebauliche Erfindung des modernen Israel und der Wiederaufbau in der BRD. Eine Annäherung Karin Wilhelm, Kerstin Gust . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Vorwort Michael Göke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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DIE INTELLEKTUELLENDISKURSE IM 2 0 . JA H R H U N D E R T. E D G A R S A L I N U N D DA S I S R A E L E CO N O M I C A N D S O C I O L O G I C A L R E S E A RC H P RO J E C T ( I E S R P ) . . . . . . . . . . . . . .
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Deutsch-jüdische Identitäten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Andreas Nachama, Julius H. Schoeps . . . . . . . . . .
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Edgar Salin – Aspekte seines Lebens und Denkens Anton Föllmi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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»Urbanität« in Zeiten der Krise: Der Basler Arbeitsrappen Korinna Schönhärl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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»… Träume, die verwirklicht werden …« Salins Suche nach Urbanität Karin Wilhelm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Edgar Salin und das Israel Economic and Sociological Research Project (IESRP). Facetten einer Annäherung Joachim Trezib . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 II D E R S TA AT S - U N D S TÄ D T E B AU I N I S R A E L . . . . .
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Die Erfindung des modernen Israel und der Sharon-Plan. Betrachtungen über ein Unbehagen Zvi Efrat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Konzepte der Initiativplanung in den ersten Jahren des Staates Israel Ruth Kark . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112
Planung einer »Heimstatt« für die Nation Rachel Kallus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 Städtebau und architektonische Kultur als Faktoren der israelischen Identitätspolitik nach 1948 Anna Minta . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 III D E R S TA AT S - U N D S TÄ D T E B AU I N D E R B R D . . . 155 Der Wiederaufbau in der Bundesrepublik – eine Leerstelle der deutschen Literatur? Mar tin Peschken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 Symbolpolitik im Wiederaufbau: Der Abriss des Stadtkirchenturmes in Pforzheim 1962 Georg Wagner-Kyora . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 »Weder historische Allüren noch falsche Pracht« – Architekten in der Bundesrepublik Deutschland Jörn Düwel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 Ein goldenes Zeitalter der Raumplanung. Das lange Jahrzehnt 1960–1975 im Rückblick aus einer Zeit der Unbestimmtheit Thomas Siever ts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 IV D I E Ö KO N O M I E U N D D I E NAT I O NA L E N R AU M ( P L A N U N G S ) M O D E L L E I M 2 0 . JA H R H U N D E R T. Z U M I N T E L L E K T U E L L E N U M F E L D E D G A R S A L I N S . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 Edgar Salins Konzeption des modernen Kapitalismus. Von Marx, Sombart und Weber zu einer europäischen Perspektive für die Globalisierung Ber tram Schefold . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 Zwischen Humanismus und Nationalismus. Die Rezeption völkisch-nationalen Denkens im deutschsprachigen Zionismus Stefan Vog t . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 Siedlung und Landvolk. Die agrarpolitischen Annäherungen zwischen Edgar Salin und der »Sering-Schule« Willi Oberkrome . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237
Nachklänge völkisch-romantischer Naturaneignung? Von der Jugendbewegung des Kaiserreiches bis zur Umweltgeschichtsschreibung in der Bundesrepublik Deutschland Joachim Wolschke-Bulmahn . . . . . . . . . . . . . . . 252 Zum Kulturdiskurs der Bundesrepublik Deutschland in den Jahren des Wiederaufbaus A xel Schildt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268 V
A N NÄ H E RU N G E N : I S R A E L U N D D I E B R D NAC H 1 9 4 5 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 Die Kontroverse um Reparationen in Israel Yaakov Sharett . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 Von Deutschen, Juden und Projektionen. Zum deutsch-israelischen Verhältnis in der Nachkriegszeit Moshe Zuckermann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289
VI D E R N E U E S TA AT I S R A E L A M B E G I N N D E S 2 1 . JA H R H U N D E R T S – E I N K U R Z E R AU S B L I C K . . 305 Kibbuz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 Organisation und soziale Wertvorstellungen im Umbruch: Der Fall des Kibbuz Eliezer Ben-Rafael . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 306 Israel und Palästina – Der Konflikt zweier Welten Meron Benvenisti . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320 »Existenzrecht« und Existenz Moshe Zuckermann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 330
Kurzbiografien Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337 Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 Israel im Blick des ›Betrachters‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . 346
N E U E S TÄ D T E F Ü R E I N E N N E U E N S TA AT. D I E S TÄ D T E B AU L I C H E E R F I N D U N G D E S M O D E R N E N I S R A E L U N D D E R W I E D E R AU F B AU I N D E R B R D. E I N E A N NÄ H E RU N G Karin Wilhelm, Kerstin Gust Ein Buch zu veröffentlichen, das sich mit Fragen der Landesplanung, des Städtebaus und damit der politisch-kulturellen Identitätsbildung in Israel und der Bundesrepublik Deutschland (BRD) nach den Staatsgründungen in den Jahren 1948 und 1949 befasst, erscheint selbst nach 60 Jahren des deutsch-israelischen Abkommens vom September 1952 zur Aufnahme diplomatischer Beziehungen immer noch als Wagnis. So ist unser Versuch, die Entwicklungen der israelischen und bundesdeutschen Gesellschaft in ihren jeweiligen Raumkonzepten für neue Städte nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges unter explizit vergleichenden Perspektiven zu betrachten, nicht ohne Risiko. Schließlich haben sich die Autorinnen und Autoren dieses Aufsatzbandes aus Israel, der Schweiz und Deutschland dieser Themenbetrachtung vor dem Hintergrund der Täter-Positionen und der Opfer-Positionen widmen müssen, die es doch auf den ersten Blick zu verbieten scheinen, über Ähnlichkeiten oder gar Gemeinsamkeiten nachzudenken. Unterschiede und grundsätzliche Differenzen, so darf vermutet werden, haben den Aufbau des jeweils neu gegründeten Staatsgebildes offenbar mehr geprägt als verbindende Problemlösungen, hatte man es doch mit einer vollkommen anderen historischen Situation zu tun. Und doch sind es eben jene bedrückende Dialektik und Janusköpfigkeit einer dramatischen Täter-Opfer-Relation, die gleichsam wie ein unsichtbares Band zwischen den sich neu konstituierenden Staaten und Gesellschaften Israels und der BRD auf unterschiedlichen Ebenen wirkten. Noch heute scheint es aus der Sicht der israelischen Gesellschaft keineswegs geklärt zu sein, ob man überhaupt mit »den Deutschen« ins Gespräch kommen solle und sogar über intellektuell Verbindendes im Rahmen von Landesplanungsprozessen in den Jahren zwischen 1950 und 1967 nachdenken könne. Abb. 1 Noch vor knapp 20 Jahren konstatierte der israelische Historiker Moshe Zimmermann auf einem Symposion aus Anlass der 30-Jahr-Feier diplomatischer Beziehungen zwischen Israel und der BRD eine Art »Schizophrenie« der Israelis, die zwar die »Kooperation mit der deutschen Diplomatie und Wertschätzung der deutschen Wirtschaft« akzeptierten, aber zugleich von »Schrecken und Furcht vor allem, was mit dem deutschen Namen in Verbindung steht« beherrscht seien.1 Dieser Haltung
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vieler Israelis entspreche ein zuweilen aggressiver »Antiisraelismus« in der BRD, der, so führte Zimmermanns Kollege Michael Wolffsohn auf derselben Tagung aus, eben nicht nur akzidentell, sondern »strukturell« sei.2 Der pessimistischen Position Wolffsohns wurde auf der Bonner Tagung durchaus heftig widersprochen. Gerade die Diskussionsteilnehmer aus dem diplomatischen Dienst hielten seine Aussage wie die zuvor getroffenen Feststellungen Zimmermanns für schematisch und daher für falsch. Wie nahe die jeweiligen Beurteilungen der Wirklichkeit tatsächlich kamen, soll hier nicht diskutiert werden. Diese Kontroverse offenbart aber allemal, dass es gravierende Zwischentöne im Verhältnis der beiden Länder gab und gibt, die die Labilität der Beziehungen zwischen Israelis und Bundesdeutschen signalisieren (Moshe Zuckermann, S. 289). Annäherungen I.: »We had to win or we would be thrown into the sea« 3 Das Verhältnis zwischen Israel und der BRD wurde in den ersten beiden Jahrzehnten nach den Staatsgründungen durch zwei Faktoren geprägt. Zum einen ist die Schuld an dem bürokratisierten Judenmord während der nationalsozialistischen Diktatur zu nennen, die die Konturen der Annäherung der beiden neuen Staatsgebilde seit den 1950er Jahren vorgezeichnet hat (Axel Schildt, S. 268). Zum anderen formte sich in diesen frühen Jahren mit den sogenannten Wiedergutmachungszahlungen an Israel auf Seiten der BRD-Bevölkerung zunächst eine merkwürdige Mischung aus Neugier und Berührungsangst für einen Staat, der militärisch um sein Existenzrecht kämpfen musste und dem man in seinem Bestreben nach territorialer Unversehrtheit finanziell und politisch beizustehen hatte. Die Annäherungen der beiden Länder und das Verständnis füreinander haben sich bis heute im Fadenkreuz dieser besonderen ethischen und (welt-)politischen Voraussetzungen durchaus umstritten vollzogen (Yaakov Sharett, S. 279). Im öffentlichen Diskurs entwickelte sich in der BRD auf dieser Basis für diese junge, mutige Nation eine Begeisterung, der vor allem im gewerkschaftsnahen Jugendmilieu geradezu schwärmerische Komponenten für das egalitär definierte zionistische Kibbuz-System und 1
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Zimmermann, Moshe: »Deutsch-Israelische Beziehungen«, in: Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland (Hg.): Zeit-Fragen. Israel und die Bundesrepublik Deutschland. Dreißig Jahre diplomatische Beziehungen, Berlin 1996, S. 37–51, hier S. 40. Ebd. Sharon, Arieh: Kibbutz + Bauhaus. an architect’s way in a new land, Tel Aviv/ Stuttgart 1976, S. 78.
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den »Arbeiterzionismus« (Zertal/Eldar) anhafteten (Eliezer Ben-Rafael, S. 306). In der BRD berichtete man fasziniert vom Einwanderungsland für die Juden aus aller Welt, die jetzt begannen, auf dem Boden des alten Palästina eine neue, friedliche Gesellschaft voller Respekt für die religiösen und kulturellen Traditionen der Juden, der Moslems und Christen zu errichten – so meinte man. Mit Aufmerksamkeit verfolgte man die Bildung neuer kultureller Identitäten und rezipierte die Kunstszene Israels mit großer Sympathie. Noch bis in die 1970er Jahre hinein gehörten etwa die Satiren des in Ungarn geborenen und 1949 nach Israel eingewanderten Schriftstellers Ephraim Kishon zum heiß geliebten Lesestoff der Bundesdeutschen. In Kishons Erzählungen las man zwar von Problemen in der israelischen Einwanderungsgesellschaft, erfuhr von der sozialen Ungleichheit zwischen den aschkenasischen und den sephardischen Juden, aber doch auf eine so vergnügliche Weise, dass mit der Bewunderung für den legendären jüdischen Humor die wirklichen ethnischen Probleme Israels überlesen werden konnten.4 Auch die Kriege, die Israel um sein Existenz- 1 — Theodor Heuss und David Ben-Gurion, Staat und Volk im Werden, recht mit den arabischen Nachbarn führte, Buchumschlag, Ner-Tamid-Verlag trübten dieses unbeschwert erscheinende Is- München. Veröffentlichung aus rael-Bild kaum, vielmehr machte sich Bewun- Anlass der Reden des Bundespräsidenten während eines Aufenthaltes derung für den kleinen »David« (Israel) breit, in Israel im Jahr 1960. der so ungemein erfolgreich gegen den Riesen »Goliath« – beispielsweise im Jahr 1967 gegen Ägypten, Jordanien und Syrien – zu kämpfen wusste. Erst in den Auswirkungen, die nach dem sogenannten Sechs-Tage-Krieg (5. bis 10. Juni 1967) mit der Besetzung der Sinai-Halbinsel, des Westjordanlandes, des Gazastreifens und mit der Übernahme Ostjerusalems durch die Israelis zutage traten und in deren Folge die ersten Siedler in die besetzten Gebiete kamen, ebbte die bundesdeutsche Begeisterung für Israel allmählich ab. Die Annäherung der israelischen und bundesdeutschen Staatsbürger und das Verständnis füreinander gerieten ins Stocken. Der Enthusiasmus der 1960er Jahre ist dann seit den 1970er Jahren tatsächlich einer Form des immer lauter werdenden »Antiisraelismus« gewichen, der sich für »die Deutschen« nach der Shoah jahr4
Zu diesem Komplex siehe: Zuckermann, Moshe: Israel – Deutschland – Israel, Wien, 2007, vor allem S. 133–141.
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zehntelang – zumindest offiziell – verboten hatte. Die Erfahrungen mit dem sich territorial erweiternden Israel und mit seiner neu er worbenen Besatzungsmentalität machten das Land in der BRD – und nicht allein bei den politisch »Linken« – zum lautstark attackierten Zionismusfall. Der Präsident der Deutsch-Israelischen Gesellschaft, Heinz Westphal, mutmaßte auf der Bonner Tagung 1995: »Daß immer mehr Deutsche Israel weniger Sympathien entgegenbringen als zum Beispiel in den Tagen des 67er-Krieges, könnte damit zusammenhängen, daß es eine jüngere Generation gibt, die Israel nicht mehr in der Rolle des Underdog, sondern als militärischen Sieger erlebt hat. Israel ist eine Besatzungsmacht.« 5 Bereits 1967 hatte die bundesdeutsche Presse vermutet, dass sich mit der messianischen Siedlerbewegung Israels kein friedliches, völkerrechtlich abgesichertes Miteinander ergeben würde, sondern eine Situation der »Feindschaft«.6 Abb. 2 Dass sich mit der Kontrolle der durch Israel besetzten palästinensischen Gebiete und der hier entstandenen illegalen 2 — Gelobtes Land – Erobertes Land, Der Spiegel, Titelseite, 20.11.1967. Siedlungen tatsächlich ein scheinbar unüberschaubares Konfliktpotenzial für die Region ergeben hat, ist durch die Aufstände in den Palästinensergebieten mit der ersten Intifada im Jahr 1987 (Gazastreifen, Westjordanland, Jerusalem) und der zweiten Intifada im Jahr 2000 (Jerusalem, Gazastreifen) später deutlich geworden (Meron Benvenisti, S. 320; Moshe Zuckermann, S. 330). Annäherungen II.: »[…] eine unzureichende Siedlungsstruktur erneuern und ergänzen« 7 Von den Siedlungen in den nach dem Sechs-Tage-Krieg besetzten Gebieten wird in diesem Buch nicht die Rede sein; der Aufsatzband versucht vielmehr, die konzeptionellen Wurzeln der verschiedenen Annäherungsebenen zwischen Israel und der BRD in der Städtebaupraxis der jeweiligen Länder in den Jahren nach dem UN-Teilungsplan für Palästina von 1947 und dem Unabhängigkeitskrieg von 1948 zu rekonstruieren. Es geht also darum, die New Towns, die »Neuen Städte 5 6 7
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Wie Anm. 1, S. 102. »Juden und Araber. Eine mächtige Legende«, in: DER SPIEGEL, 20.11.1967, 21. Jg., Nr. 48, S. 127–142, hier S. 142. Hillebrecht, Rudolf/Salin, Edgar: »Vorwort«, in: Spiegel, Erika: Neue Städte/ New Towns in Israel, Stuttgart 1966, o.S.
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Israels« und deren bundesdeutsche Parallelentwicklung im Wiederaufbau der kriegszerstörten Städte zu betrachten und zu beurteilen. Die israelische Raumpolitik des Nation Building ist in der jungen BRD aufmerksam rezipiert und von einigen Städtebauern als vorbildlich für die eigenen Planungsvorgaben im Wiederaufbau deutscher Städte betrachtet worden. Wenn möglich, reiste man schon frühzeitig nach Israel, wie der Hannoveraner Stadtbaurat Rudolf Hillebrecht (1962), um neben den archäologisch interessanten Stätten vor allem die neuen Städte zu besuchen, die in der Folge des ersten Landesplanungskonzeptes des am Bauhaus Dessau ausgebildeten Architekten und Stadtplaners Arieh Sharon (Sharon-Plan, 1950) entstanden. Zwei Jahre später (1964) folgte der Düsseldorfer Stadtplanungsamtsleiter Friedrich Tamms den Spuren Hillebrechts, ein Mann immerhin, der zum engsten Kreis der Mitarbeiter des ehemaligen Generalbauinspektors für die Reichshauptstadt (Berlin ab 1937) Albert Speer gehört hatte.8 Über die Eindrücke, die man dort gewonnen hatte, berichteten die Reisenden auf Tagungen und in Fachpublikationen. Im Jahr 1976 erschien der reich bebilderte, autobiografisch geprägte Arbeitsbericht Sharons im Stuttgarter Karl Krämer Verlag, der die deutsche Leserschaft mit einer bestechend qualitätvollen Architekturmoderne in Israel vertraut machte. Für das Vorwort hatte man Bruno Zevi, den italienischen Architekturhistoriker und Schüler von Walter Gropius, gewonnen, der wie viele seiner Intellektuellenfreunde im Denkraum der Moderne das Hohelied auf die Arbeit des Architekten und Planers Sharon anstimmte und darin nicht nur die quantitative Leistung der israelischen Landesplanung lobte, sondern die symbolische Bedeutung der in großem Maßstab realisierten Architekturmoderne betonte. »Israel ist ein fast einzigartiges Phänomen in unserem Jahrhundert […]. Für die Avantgarde im Allgemeinen war moderne Architektur die Prophezeiung einer neuen Gesellschaft, für Sharon war sie das geeignetste Werkzeug, um einer wachsenden Gemeinschaft eine ihr entsprechende Gestalt zu geben. Das erklärt, warum er fähig war, das Bauhaus mit den primitiven Zuständen des öden Lebens in Einklang zu bringen […]: Jedes Bauwerk, jeder Stein wurde zum Glaubensbekenntnis, mit einem Schimmer von Sehnsucht […]« 9 (Anna Minta, S. 141). Zevi sah in Sharon gleichsam den Agenten der im Jahr 1896 durch Theodor Herzl in dem Essay Der Judenstaat entworfenen Vision des neuen zionistischen Städtebaus 8
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Wir danken Niels Gutschow für diesen wertvollen Hinweis. Friedrich Tamms hatte zum »Arbeitskreis für den Wiederaufbau bombenzerstörter Städte« unter Albert Speer gehört. Zevi, Bruno: »Vorwort«, in: Sharon, Arieh: Kibbutz + Bauhaus. an architect’s way in a new land, Tel Aviv/Stuttgart 1976, S. 8.
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(Stefan Vogt, S. 228). Herzl hatte die Siedlungsformen eines zionistischen Planstaates aus der Kritik an der europäischen Industriestadt des 19. Jahrhunderts als ein Modell der Gartenstadt skizziert: »Ich denke keineswegs an die traurigen Arbeiterkasernen der europäischen Städte […]. Unsere Arbeiterhäuser müssen zwar auch einförmig aussehen, […] aber diese einzelnen Häuser mit ihren Gärtchen sollen an jedem Ort zu schönen Gesamtkörpern vereinigt werden.« 10 In Sharons Planungsvorgaben schien Herzls Projekt Wirklichkeit zu werden. Die Bewunderung für dieses Planungsprojekt in großem Maßstab und die damit intendierte Formierung einer modernen Solidargemeinschaft teilten die europäischen Städtebauer jener Ära allenthalben (Thomas Sieverts, S. 193). Mit dieser Sicht auf die Stadterweiterungen und die Neugründungen von Siedlungen haben viele europäische Intellektuelle Israel bereist und sind nicht müde geworden, das Land als Vorbild einer neuen Solidargemeinschaft in gleichsam paradisisch-kultivierter Natur zu beschreiben. Diese neuen Städte Israels bildeten mithin die Folie, auf der sich das zuweilen naive Bild vom »Staat der Hoffnung« gründete, in dem die Menschen »Mut, Liebe, Pioniergeist und Zähigkeit« (Marion Gräfin Dönhoff) bewiesen. Bei genauerer Betrachtung aber hatte sich schon in den 1950er Jahren gezeigt, dass diese Fassade einer konfliktfreien Gesellschaft in durchgrünten neuen Städten Risse zeigte (Zvi Efrat, S. 95; Ruth Kark, S. 112; Rachel Kallus, S. 126; Anna Minta, S. 141). Dahinter schwelten die sozialpolitischen Probleme einer aus unterschiedlichen Kulturkreisen des Judentums zusammengewürfelten Einwanderungsgesellschaft, die auf einem Territorium siedelte, das zur Hälfte aus Wüste bestand und auf dem mit den eingesessenen arabisch-palästinensischen Bewohnern nachbarschaftlich gelebt werden musste. Die Probleme dieser politisch-territorialen Gemengelage sind alsbald Themen gewesen, die im Geflecht der Wiedergutmachung zu einem intensiven Wirtschafts- und Wissenschaftsaustausch zwischen Israel und der BRD führten. Eine zentrale Figur für den Wissenschaftstransfer wurde der seit 1927 in Basel lehrende Nationalökonom Edgar Salin (1892–1974).
10 Herzl, Theodor: Der Judenstaat, Zürich 1953, S. 46.
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Annäherungen III.: »Israels neue Städte als Fehlinvestitionen« 11 Salin war der Spross einer alteingesessenen jüdischen Familie in Frankfurt am Main, der die prägenden Studienjahre in Heidelberg im Bann Stefan Georges und seines Kreises sowie unter dem Einfluss Max und Alfred Webers verbracht hat. Im Jahr 1925 war Salin an der Gründung der Friedrich-List-Gesellschaft beteiligt, die sich während der NS-Zeit in Deutschland auflöste und 1955 neu konstituierte (Michael Göke, S. 23, Anton Föllmi, S. 34, Bertram Schefold, S. 209). Der universalistisch gebildete, charismatisch wirkende und im internationalen Wirtschaftsdiskurs einflussreiche Salin hatte im Jahr 1927 eine Wirtschaftsprofessur an der Universität Basel übernommen und brillierte frühzeitig mit zahlreichen Schriften und Vorträgen, die zwischen Nationalökonomie, Soziologie, Philosophie und eigenen schriftstellerischen Werken oszillierten. Von der AbendlandPrägung und Nähe zu den Ideologemen der sogenannten Konservativen Revolution in den Jahren der Weimarer Republik löste sich Salin nach und nach und vertrat inzwischen demokratiepolitische Positionen, die durch die Erfahrungen mit den Modellen einer Bürgerdemokratie schweizerischer Prägung beeinflusst worden waren (Korinna Schönhärl, S. 46; Karin Wilhelm, S. 64; Willi Oberkrome, S. 237). Unter seiner Leitung gewann um 1960 ein Forschungsprojekt Konturen, das den Wissenschafts- und Kulturaustausch zwischen der Schweiz, Israel und der BRD profilieren konnte. Im Zusammenhang mit der Lehrtätigkeit in Basel entwickelte Salin den Plan für eine Untersuchungsreihe, in der sich schweizerische, israelische und deutsche Wissenschaftler mit Entwicklungsproblemen auseinandersetzen sollten, die ein Jahrzehnt nach der Staatsgründung Israels unübersehbar geworden waren. In Einzelstudien sollten am Beispiel Israels strukturelle Probleme der Energieentwicklung, der Bevölkerungspolitik und der Urbanisierung untersucht werden, die Lösungen für Entwicklungsländer beinhalten sollten. Unter dem Namen Israel Economic and Sociological Research Project (IESRP oder Israel Research Project) wurde das Projekt von der List Gesellschaft in Kooperation mit dem Schweizerischen Nationalfonds, der Ford Foundation, dem Advisory Board for the Israel Economic and Sociological Research Project, der List Gesellschaft in Basel, und der List-Muttergesellschaft in Deutschland finanziert und außerdem durch private Spenden getragen. Für das Jahr 1963 hatte man 23 Einzelstudien vor11 Berndt, Heide: »Neue Städte in Israel«, in: Städtebau und Kapitalismus, Das Argument. Berliner Hefte für Probleme der Gesellschaft, 9. Jg., Heft 4, Sept. 1967, S. 310.
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gesehen, die, wenn möglich, zweisprachig erscheinen sollten (Joachim Trezib, S. 80). Diese Studien, von denen schließlich 15 Einzelstudien zur Wirtschafts- und Finanzpolitik, zur Energie-, Verkehrs- und Siedlungspolitik veröffentlicht wurden, diagnostizierten zehn Jahre nach dem Sharon-Plan eine beunruhigende Stagnation in der Fortentwicklung des Landes. Ein Grund dafür lag in der mangelnden Wirtschaftskraft des Landes und auch die Eingliederung der Einwanderer war nicht in der Weise verlaufen, wie dies im Sharon-Plan vorgesehen war. Vor diesem Hintergrund erhielten zwei Einzelstudien besondere Bedeutung. Die Untersuchung zur »Bahn der drei Meere« und die Bestandsaufnahme Erika Spiegels zu den »Neuen Städten in Israel«. Prüfte die Bahn-Studie die Erschließung der Wüstenregion des Negev bis Eilat, um neue Handelswege zwischen dem Roten Meer und dem Mittelmeer auszuloten, so analysierte die Stadt-Studie die bestehenden und künftigen Standorte für Ansiedlungen, die attraktiv genug sein könnten, um die Neusiedler an den Standort zu binden. In beiden Projekten sah Salin einen bedeutenden Beitrag zur »Befriedung des Vorderen und Mittleren Orients«. Insbesondere das Bahn-Projekt lag Salin am Herzen, zumal er dafür in der BRD von politisch entscheidender Stelle, dem Bundesminister für Verkehr und damaligen Präsidenten der Handelskammer Braunschweig, HansChristoph Seebohm, Unterstützung erfuhr. Die »Bahn der drei Meere« blieb jedoch ein Projekt ebenso wie Salins Vorschlag, den 160 Millionen Deutsche Mark teuren Bau »nach dem Ende der Reparationen […] als Geschenk des deutschen Volkes dem israelischen Volk« zu übergeben.12 Als »krönenden Abschluß« des List-Projektes betrachtete Salin die letzte Studie, Erika Spiegels Neue Städte/New Towns in Israel, die im Jahr 1966 in englischer und deutscher Sprache publiziert wurde. Abb. 3/4 In diesem Grundlagenwerk hat sich die Autorin mit den nicht länger zu übersehenden landes- und stadtplanerischen Mängeln der Sharon-Programmatik vorsichtig, aber klar auseinandergesetzt. Ihre Untersuchung zeichnete sich durch den großen Respekt vor der Aufbauleistung der Israelis aus und dokumentierte diese Haltung in der empirischen Bestandsaufnahme der zwischen 1948 und 1956 erweiterten elf bestehenden Städte sowie der 19 Städte, die »auf der grünen Wiese« gegründet worden waren. Spiegel kam zu 12 Salin, Edgar: »Über den volkswirtschaftlichen Nutzen des Bahnbaus in einer unterentwickelten Region Israels«, in: Regeling, Dietrich/Voss, Reimar: Die Bahn der drei Meere, Gutachten, Basel 1963, S. 7–16, hier S. 15f. Die Schriftenreihe der Israel-Studien wurde durch Salin und Prof. Dr. Harry W. Zimmermann, der nach einer sehr komplizierten Emigrationsgeschichte mit Hilfe Salins nach Basel gekommen war, herausgegeben.
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3 — Edgar Salin während eines Studienaufenthaltes im Weizmann-Institut, Rehovot.
dem Schluss, dass die ins Stocken geratene Stadtentwicklung mit allgemeinen Entwicklungsproblemen in Verbindung stand. Der neue Staat Israel hatte sich ohne bedeutende eigene Bodenschätze, ohne hinreichende Wasserreservoirs und ohne eine verkehrstüchtige Erschließung des Hinterlandes modernisieren und daher ungewöhnlich komplexe Problemlagen lösen müssen. Um die Qualitäten der Siedlungsgründungen angemessen beurteilen zu können, empfahl die Autorin daher, sie mit den Agglomerationen aus »Slums und Barackenstädten« zu vergleichen, die in den Entwicklungsländern oder am Rand der westlichen Metropolen in jener Zeit entstanden. Erst in diesem Kontext seien die Aufbauleistungen der neuen Städte nach gartenstädtischen Prinzipien und den Vorbildern der englischen Planungen eines Patrick Abercrombie wirklich zu beurteilen. Spiegel kam zu dem Schluss: »Obwohl kaum geleugnet werden kann, daß die gartenstädtischen Anfänge als schwere Hypothek auf den meisten Neugründungen lasten und das ihre zu dem oft beklagten Fehlen einer lebendigen abwechslungsreichen, ›urbanen‹ Atmosphäre beitragen, hat die städtebauliche Entwicklung doch seither einen […] stetigen […] Verlauf genommen […].« 13 Abb. 5 13 Spiegel, Erika: Neue Städte/New Towns in Israel, Stuttgart-Vaihingen 1966, S. 180f.
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4 — Stand der Studien zum Israel Research Project der List Gesellschaft 1963. Veröffentlichungen der List Gesellschaft e.V., 1963.
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5 — Erika Spiegel, Neue Städte/New Towns in Israel, Buchumschlag 1966.
Als ein Jahr nach der Veröffentlichung eine Mitarbeiterin Alexander Mitscherlichs am Frankfurter Sigmund-Freud-Institut, die Stadtsoziologin Heide Berndt, das Buch von Spiegel in der Zeitschrift Das Argument rezensierte, legte sie bereits eine andere Sicht der Dinge nahe. Für Berndt lag die Bedeutung der Untersuchung Spiegels nicht mehr in der Verneigung vor dem israelischen Experiment, sondern in der »aufklärerischen Wirkung […] gegenüber ideologischen Rezepten […] wie der Gartenstadtidee […]«. Denn hier hatte man, so Berndt: »Um des ideologischen Prinzips willen […] keine Mühen und Kosten gescheut […] Grünflächen, bzw. Grünkeile auch in der dürrsten Wüste anzulegen.« 14 Was in Israel im Geiste der Bauhaus-Moderne städtebaulich geschehen war, offenbarte in Berndts Augen jetzt die Absurdität eines BRD-Städtebaus, der soeben die Herrschaft im am Autoverkehr orientierten Wiederaufbauprojekt der Ära Konrad Adenauers nach den Vorgaben der sogenannten funktionalen, durch Grünzonen aufgelockerten Stadt übernommen hatte (Georg WagnerKyora, S. 167, Jörn Düwel, S. 181). Anders als die Protagonisten der im Schlepptau des Congrès Internationaux d‘Architecture Moderne planenden deutschen Stadtentwickler konnte Berndt in Israels neuen Städten nichts Beispielhaftes mehr entdecken, zumal die isra14 Berndt, Heide: »Neue Städte in Israel«, in: Städtebau und Kapitalismus, Das Argument. Berliner Hefte für Probleme der Gesellschaft, 9. Jg., Heft 4, Sept. 1967, S. 310.
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elische Situation in ihrer politischen Dimension einzigartig sei: »Die Gründe für diese wahnwitzigen Experimente [die neuen Städte Sharons, Anm. d. Hg.] liegen in der politischen Geschichte Israels; zionistische Heilsvorstellungen und araberfeindliche Kolonisationsbestrebungen spielen eine wichtige Rolle darin.« 15 Ob sich hier eine »antiisraelische« Gemütslage ankündigte, sei dahin gestellt. Berndt hat damals jene Position allemal mitbegründet, die in Hinblick auf die bundesdeutsche Kahlschlagmentalität am Traditionsbestand der kriegszerstörten Städte die radikale Kritik am Städtebau der Nachkriegsära einleitete. Im Aufbaugeschehen der 1950er Jahre war man im Kulturdiskurs gegenüber solchen Themen noch zurückhaltend gewesen (Martin Peschken, S. 155). Jetzt wandte sich die nach 1945 geborene westdeutsche Forschergeneration solchen Fragen in Hinblick auf die jüngste Vergangenheit grundsätzlich zu. In der Stadtforschung begann die Suche nach den »biografischen Verflechtungen« (Werner Durth) der bundesdeutschen Wiederaufbauakteure mit der NS-Zeit. Die Nähe der bundesdeutschen Städtebaumoderne zu den Destruktionspositionen und Naturideologemen aus den Jahren der NS-Herrschaft wurde systematisch und als systemisch begründet beschrieben (Joachim Wolschke-Bulmahn, S. 252). Im Zuge dieser Entwicklungen verflüchtigte sich die Kenntnis von der wissenschaftspolitischen Bedeutung des Israel Research Projects der List Gesellschaft, ein Vorgang, der durch die Ereignisse nach dem Sechs-Tage-Krieg befördert worden ist. Damit verschwand auch das Wissen um den in der Schweiz lebenden Salin, der in seiner Biografie die Geschichte des deutschen Judentums zwischen Antisemitismus und Assimilation im 20. Jahrhundert repräsentiert hat (Andreas Nachama, Julius H. Schoeps, S. 25). Nachtrag Den Besuchern, die heute nach Israel reisen, kann es passieren, dass sie in eine Zivilschutzübung hineingeraten, welche die Bevölkerung in Friedenszeiten auf ein adäquates Verhalten für echte Raketenangriffe oder Kriegssituationen vorbereiten soll. Laut heulende Sirenen signalisieren dann, dass man so schnell wie möglich einen Luftschutzraum aufsuchen muss. Uns ist ein Fall dieser Art beim Besuch des Shrine of the Book (1950–1960) des Architekten Friederich Kiesler in Jerusalem widerfahren. Mit anderen in einem Keller versammelt, verspürt man plötzlich den Anflug von Furcht und erahnt die Situation der Angst, in der die Israelis und Palästinenser seit Jahrzehnten leben. Tritt man danach aus dem Schutzraum ins helle Tageslicht 15 Ebd.
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und sieht am Horizont die berüchtigte Sperrmauer, welche die Berliner unmittelbar an die Zeiten ihrer Stadtteilung erinnert, kann man die Verletzlichkeit der Menschen diesseits und jenseits dieser Sperranlage ermessen. Man ahnt die Ausweglosigkeit der Lage, in der sich die gesamte Region scheinbar befindet. Danksagung Der Aufsatzband basiert auf dem internationalen Symposion Neue Städte für einen neuen Staat. Edgar Salin und das Israel-Projekt der List Gesellschaft (1958–1967), das im Dezember 2011 in der Vertretung des Landes Niedersachsen beim Bund in Berlin stattgefunden hat und gemeinsam mit Prof. Dr. Julius H. Schoeps und dem MosesMendelssohn-Zentrum für europäisch-jüdische Studien der Universität Potsdam und mit freundlicher Unterstützung der Gesellschaft für Stadtgeschichte und Urbanisierungsforschung e.V. in Darmstadt, Prof. Dr. Celina Kress (HafenCity Universität Hamburg/Center for Metropolitan Studies, Berlin), veranstaltet wurde.16 Unser Dank gilt der Deutschen Forschungsgemeinschaft und dem Niedersächsischen Ministerium für Wissenschaft und Kultur für die großzügige Förderung des Symposions. Weiterhin möchten wir Dipl.-Ing. Dr. des. Joachim Trezib (Geschichte und Theorie der Architektur und Stadt GTAS/Technische Universität Braunschweig) für die konzeptionelle und organisatorische Mitarbeit in der Vorbereitung des Symposions danken. Dr. Martin Peschken, Edeltraut Kusidlo mit Katharina Keese und Robert Tubbenthal (GTAS) sowie Stefanie Sembill mit allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Landesvertretung Niedersachsen sei für die Vorbereitung und Durchführung der Tagung an dieser Stelle noch einmal gedankt.
16 Das Symposion beruhte auf ersten Arbeitsergebnissen des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Forschungsprojektes Edgar Salin und das Israel-Projekt der List Gesellschaft: Städtebau(theorie) und Raumplanung der 1950er und 1960er Jahre als ›Nation Building‹ am Institut für Geschichte und Theorie der Architektur und Stadt (GTAS), Prof. Dr. Karin Wilhelm und Dipl.-Ing. Dr. des. Joachim Trezib.
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VO RW O R T Michael Göke Der vorliegende Band ist das Ergebnis des internationalen Symposions Neue Städte für einen neuen Staat. Edgar Salin und das IsraelProjekt der List Gesellschaft (1958–1967), das sich vom 2. bis zum 4. Dezember 2011 in Berlin mit einem unter Ökonomen weitgehend unbekannten Kapitel der List Gesellschaft e.V. beschäftigte. Die List Gesellschaft wurde im Jahr 1954 von Edgar Salin als Nachfolgerin der Friedrich-List-Gesellschaft gegründet, die seit 1925 mit ihren Konferenzen und Gutachten hohes nationales und internationales Ansehen genoss und sich im Jahr 1935 selbst auflöste, um sich dem drohenden Eingriff der Nationalsozialisten zu entziehen. Mit ihrer Vorgängerin teilt die heutige List Gesellschaft die Aufgabe, wirtschafts- und gesellschaftspolitische Probleme zu erforschen, Lösungen wissenschaftlich zu erarbeiten und die Ergebnisse für die Praxis in der Wirtschaft, Verwaltung und Politik nutzbar zu machen. Ihre Aktivitäten dienen laut Satzung der Förderung eines Dialogs von Wissenschaft und Praxis über wirtschafts-, finanz- und gesellschaftspolitische Fragen. Dieser Zweck wird insbesondere verwirklicht durch wissenschaftliche Veranstaltungen, Expertengespräche und die quartalsweise Herausgabe der renommierten Zeitschrift List Forum für Wirtschafts- und Finanzpolitik. Die List Gesellschaft ist heute eine internationale Vereinigung von rund 400 persönlichen und institutionellen Mitgliedern aus Wirtschaft, Wissenschaft, Politik, Verbänden und öffentlicher Verwaltung. In Zeiten einer zunehmenden Formalisierung und Mathematisierung der Volkswirtschaftslehre sind die anwendungsorientierten wissenschaftlichen Problemlösungen von besonderer Bedeutung. Die praktisch verwendbaren Lösungen gesellschaftlicher Probleme können aber nur durch einen wissenschaftlich fundierten Dialog aller betroffenen Kreise erreicht werden. Diesen Dialog zu fördern, sieht die List Gesellschaft als ihre Aufgabe an. Das Symposion Neue Städte für einen neuen Staat steht ganz in dieser Tradition. Wir freuen uns, dass Frau Prof. Dr. Karin Wilhelm mit der von ihr initiierten und organisierten Tagung und dem vorliegenden Tagungsband das Anliegen und die Geschichte der List Gesellschaft über den Kreis ihrer Mitglieder hinaus bekannt macht.
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KAPITEL I DIE INTELLEKTUELLENDISKURSE IM 2 0 . JA H R H U N D E R T. E D G A R S A L I N U N D DA S I S R A E L E CO N O M I C A N D S O C I O L O G I C A L R E S E A RC H P RO J E C T ( I E S R P )
D E U T S C H - J Ü D I S C H E I D E N T I TÄT E N I N D E R E R S T E N H Ä L F T E D E S 2 0 . JA H R H U N D E R T S Andreas Nachama im Gespräch mit Julius H. Schoeps Julius H. Schoeps: Wir sind gebeten worden, ein Gespräch darüber zu führen, was das eigentlich war, das deutsche Judentum vor 1933. Darüber streiten sich die Historiker. Wie wir wissen, gibt es das berühmte Verdikt von Gershom Scholem, der bekanntlich behauptet hat, es hätte nie so etwas wie eine deutsch-jüdische Symbiose gegeben. Das ist eine Feststellung, die er im Jahr 1965 formulierte, die aber nach meiner Meinung nur bedingt zutreffend ist. Wenn man sich das Beziehungsverhältnis von Deutschen und Juden vor 1933 insgesamt ansieht, dann ist das ein Verhältnis mit Brüchen. Dennoch glaube ich, dass es so etwas wie eine deutsch-jüdische Symbiose gegeben hat, nicht nur ein Gegeneinander, sondern auch ein Miteinander von Deutschen und Juden. Darüber sollten wir miteinander sprechen. Andreas Nachama: Ich würde immer sagen, dass es eine jüdisch-deutsche Symbiose war. Es gab eine Symbiose, die sozusagen im Gefolge von Moses Mendelssohn erfolgte. Durch die Französische Revolution wurden die Tore des Gettos aufgestoßen, alle waren vor dem Gesetz gleich und man hat die Konsequenzen daraus gezogen. Innerhalb des Judentums durch die sogenannte Reform oder Reformation – die Erneuerung des Judentums – und in der Gesellschaft dadurch, dass man sich in die Fragen der Gesellschaft eingemischt hat, weil man sich einbezogen gefühlt hat und deshalb Anteil genommen hat. Man wollte diese neue, auf den Prinzipien der Französischen Revolution beruhende Gesellschaft, in der alle vor dem Gesetz gleich sind, mitprägen. Man dachte, dass dieses jüdische Erbe der Gleichheit, das in den Heiligen Schriften, in der Bibel und im Schöpfungsbericht steht, in einen gesellschaftlichen Diskurs eingebracht werden
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könnte. Ich glaube, so ist der Ausgangspunkt, ist die Motivation gewesen, von der aus man sich im 19. Jahrhundert an zwei verschiedenen Fronten engagierte. Und ich würde schon sagen, dass es zwei verschiedene Fronten waren, die innerhalb des Judentums zum Tragen kamen: das Judentum zu reformieren und sich in der Gesellschaft Anteil nehmend zu engagieren. JS: Da stimme ich im Großen und Ganzen zu. Interessant ist vielleicht in diesem Zusammenhang, sich die Äußerungen jüdischer Vertreter seit 1701 bis in die Zeit des Ersten Weltkrieges hinein anzusehen. Die in Preußen beispielsweise fühlten sich dem Herrscherhaus verbunden. Es gibt ein höchst interessantes Dokument von 1701, ein Huldigungsgedicht eines Schutzjuden auf den Großen Kurfürsten. Solche Huldigungsgedichte und Ergebenheitsadressen hat es durch die Jahrzehnte gegeben und sie beweisen, wie sehr sich die Juden in der preußisch-deutschen Gesellschaft verwurzelt fühlten. Wir reden allerdings von Preußen, nicht von Württemberg, Baden und so weiter. Dort war es ein bisschen anders, aber doch ähnlich. In Preußen jedenfalls war die Tendenz feststellbar, dass die Juden um die Anpassung kämpften, so zu sein, wie alle anderen auch. Es gibt viele schriftliche Belege zu diesem Thema, die man hier zitieren könnte, aber das würde zu weit führen. Interessant ist aus meiner Sicht eigentlich nur, dass das Selbstverständnis, das sich herausbildete, ein spezifisch preußisch-jüdisches, eine berlinisch-jüdische Identität war. AN: Ich würde sogar noch ein Stück weiter gehen und sagen, dass es etwas damit zu tun hat, dass der Große Kurfürst Friedrich Wilhelm Juden und Hugenotten nach Brandenburg-Preußen geholt hat. Das heißt, hier waren Juden nicht in einer vollkommenen Sonderstellung. Sie waren in einer Sonderstellung, aber sie waren mit anderen zusammen in dieser Sonderstellung. Es gab Privilegien für Hugenotten, es gab Privilegien für Juden – vielleicht waren sie für Hugenotten weitergehend –, aber es gab auch Holländer und andere, die mit speziellen Privilegien eingeladen wurden. Von diesem Ausgangspunkt, dass man Teil eines Siedlungsprojektes dieses Kurfürsten war, hat man sich als Teil – auch damals schon – der Gesellschaft und, wenn man in der frühen Neuzeit davon sprechen kann, dieses Staates, dieses werdenden Staates gefühlt. Ganz anders, und das muss man in diesem Zusammenhang einfach sagen, war es in Polen. Das berühmte Schtetl in Polen und Russland war eine jüdische Ansiedlung, die quasi isoliert von der polnischen Gesellschaft war. Dort hat man seinen eigenen Mikrokosmos gehabt, der nicht nur,
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wie die französische oder hugenottische Gemeinde in Berlin, auf die Religionsangelegenheiten oder vielleicht auf innere Streitigkeiten beschränkt war, sondern man hat alles komplett von der Gesellschaft getrennt organisiert und durchgeführt. Und das sind die beiden für das 19. und 20. Jahrhundert dann sehr prägenden unterschiedlichen Einstellungen, die die Leute gehabt haben. Kamen polnische Juden nach Deutschland, wurden sie oft in dieses – ich sage es jetzt einmal – Nachfolgeprojekt der Ansiedlungen durch den Großen Kurfürsten einbezogen. Umgekehrt blieb es in Polen bis zur Zerstörung durch die Einsatzgruppen der Wehrmacht quasi bei diesen gesonderten Strukturen. Und das ist, so meine ich, einer der großen Unterschiede. JS: Das ist sicherlich zutreffend, dass es da einen großen Unterschied gab. Aber versuchen wir doch noch einmal herauszubekommen, was eigentlich diese Identifikation der Juden mit Preußen und den Hohenzollern ausmachte? Wie beispielsweise ist zu bewerten, dass in den Synagogen von Berlin und Potsdam der Preußenadler an der Bima, dem Altar, angebracht war.1 Man stelle sich vor, der Preußenadler als Symbol, um das sich die Juden scharten. Eigentlich kann man sich das heute kaum noch vorstellen. Aber es war so. Und es ging so weiter. Im Zuge des Anpassungsprozesses an die Umgebungsgesellschaft passten sich die Juden in Sprache, Kleidung und Auftreten komplett an. Äußerlich gab es faktisch kaum noch Unterschiede zwischen Juden und Nichtjuden, insbesondere nicht, was das Aussehen, die Kleidung und das Auftreten betraf. Es gibt zwar die These, dass es noch eine geheime, unterschwellige Sprache im jüdischen Bevölkerungsteil gab, aber da habe ich so meine Zweifel. Das Hebräische beherrschten nur noch wenige, und das Judendeutsch schimmerte nur noch in bestimmten, in jüdischen Familien gebrauchten Sprachwendungen durch. AN: Ich würde das ähnlich beschreiben, würde aber schon sagen, dass es nicht nur eine äußerliche Anpassung war. Ich würde es schon so begreifen, dass die Juden sich mit diesem Staat identifizieren konnten, in dem Friedrich der Große gesagt hat, dass hier jeder nach seiner Fasson selig werden kann, und wo auf einmal, ganz anders als in Habsburg oder anderswo, die Religion nicht mehr das bestimmende Merkmal war. Man muss dazu natürlich auch sagen, dass es nicht nur die Juden betraf, sondern auch die einheimische Bevölkerung. Das Herrscherhaus war calvinistisch, war lutherisch, das heißt, das 1
Platz in der Synagoge, von dem aus die Tora gelesen wurde.
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Bekenntnis »cuis regio eius religio« – »wer herrscht, bestimmt den Glauben« – spielte in Brandenburg-Preußen, ich will nicht sagen keine Rolle, aber eine weitaus geringere Rolle als anderswo. Und das hat natürlich für die jüdische Bevölkerung und natürlich insbesondere für diejenigen, die intellektuell darüber nachgedacht haben, eine ungeheure Attraktion gehabt. JS: Das hatte damit zu tun, dass der brandenburgisch-preußische Staat kein Nationalstaat war, sondern sich als ein übernationaler Staat begriff. In Preußen konnten Juden, Holländer, Polen und andere Minderheiten ohne größere Probleme miteinander leben. Das wird heute zunehmend übersehen. Das hat allerdings nicht verhindert, dass sie nur bedingt akzeptiert wurden. Rechtlich wurden sie zwar mit der Zeit gleichgestellt, gesellschaftlich blieben sie aber immer Außenseiter, nicht am Rande, sondern in der Mitte der Gesellschaft. In bestimmte Berufe wurden sie nicht hereingelassen, sodass sie die Berufe ergriffen, die Juden offenstanden. Sie wurden Rechtsanwälte, obwohl sie lieber Staatsanwälte oder Richter geworden wären. Sie wurden Schauspieler, sie wurden Schriftsteller, alles Berufe also, die Nichtjuden als nicht sehr seriös ansahen. Der Vorwurf beispielsweise, den man Juden machte, sie seien Intellektuelle, sie seien Träumer, hängt in erster Linie damit zusammen, dass bestimmte Berufe ihnen verschlossen blieben. Wären ihnen die bürgerlichen Berufe offengestanden, dann hätten sie sich kaum noch von den Nichtjuden unterschieden. AN: Ich würde noch einen Schritt weiter gehen und würde sagen, dass wenn die Landverteilung, der Grundbesitz, nicht über Jahrhunderte in Brandenburg-Preußen so betoniert gewesen wäre, wie er war, auch da ein Entwicklungsfeld gewesen wäre. Das war aber den Juden und anderen auch verschlossen. Das wollten die alten Eliten nichts preisgeben! Erst als die Städte explodierten, und die Bauern im Umkreis der Städte ihr Land als Bauland verkaufen durften, sind die Dinge ins Rollen gekommen. In dem Augenblick spielten Juden auch hier eine Rolle, bis dahin war der Landbesitz kein Thema der Debatte. Es waren ja nicht nur die herkömmlichen Berufe, die ihnen verwehrt waren, es war auch ein Stück Ökonomie. Denn der Großgrundbesitz war ein ganz wichtiger Punkt der damaligen Ökonomie, der eine wesentliche Rolle gespielt hat. JS: Es gab einige Ausnahmen, Juden, die Landbesitz erwerben konnten, was in der Tat aber mit größten Schwierigkeiten verbunden war. Aber das, was Du angesprochen hast, scheint mir ganz entscheidend
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zu sein: Der Zuzug der Juden in die großen Städte spielte eine bedeutsame Rolle. Die Städte übten auf Juden eine große Attraktivität aus. Warum? Ich glaube, dass die sich entwickelnden Großstädte wie Berlin den Juden Möglichkeiten der Betätigung eröffneten, die auf dem Land nicht gegeben waren. In dieser Frage, so scheint mir, sind wir beide der gleichen Meinung. AN: Ich weiß nicht mehr, ob es Marx oder Engels war, der auf die industrialisierten Städte und die Industrieschlote bezogen gesagt hat, dass man hier den Fortschritt riechen kann. Ich denke, das ist einer der wesentlichen Punkte, denn es entstand etwas ganz Neues. Nicht nur das urbane Leben und das Kulturleben mit den Salons und anderem. Es entstand auch eine neue Form von Ökonomie, nämlich das massenhafte Herstellen von Produkten in Fabriken. Und da haben sich dann die Juden auch hineinbegeben – in die in vielfacher Hinsicht explodierenden Großstädte: industriell explodierend, kulturell explodierend, explodierende Bevölkerungszahlen. Und natürlich auch in dem Sinne einer sich anonymisierenden Großstadt, wo man ein Zuziehender unter den Zuziehenden war, und es im ersten Augenblick keine so große Rolle gespielt hat, ob man Jude war. JS: Vielleicht haben die Juden eher als andere begriffen, wo die Perspektiven für sie in der Zukunft lagen. Wenn Juden im Bankwesen eine Rolle spielten und sich dort meinetwegen im Eisenbahnbau engagierten – die Rothschilds, die Mendelssohns, die Oppenheims und wie sie alle heißen –, lässt das darauf schließen, dass sie wussten oder eine Vorstellung davon hatten, wohin sich die Gesellschaft entwickeln würde. Ich bleibe nach wie vor bei der These, dass wenn man sie in traditionelle Stellungen und Berufe hineingelassen hätte, das vielleicht anders gekommen wäre. AN: Gut, aber die Kritik von Gershom Scholem war ja keine ökonomische Kritik, sondern geisteswissenschaftlich fundiert, und hat natürlich auch etwas mit der inneren Entwicklung des Judentums zu tun gehabt: hin zu einer reformierten, einer quasi rational sich begründenden Religion. Dafür stehen die Namen von Abraham Geiger und anderen.2 Das hat Scholem abgelehnt; deshalb ja seine großen Werke über Mystik. Scholem meinte, wir fliehen derart in eine Religion, die so nicht gemeint ist, sondern die in Wirklichkeit eine mystische Religion ist. Er hat in beide Richtungen argumentiert. Gegen 2
Gemeint ist hier Abraham Geiger (1810–1874), einer der herausragenden Köpfe der jüdischen Reformbewegung.
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das moderne Judentum und damit auch gegen die Situation in der Gesellschaft, von der die Juden meinten, sie mit der jüdisch-deutschen Symbiose erreicht zu haben. JS: Wenn man sich vorstellt, was Juden alles versucht haben, um in dieser Gesellschaft Fuß zu fassen, dann stößt man auf die erstaunlichsten Phänomene. Ich denke zum Beispiel daran, dass der Mendelssohn-Schüler David Friedländer im Jahr 1799 ein anonymes Sendschreiben an den Probst Teller in Berlin geschickt hat, in dem er den Vorschlag machte, eine Vernunftreligion zu schaffen, die für Christen und Juden gleichermaßen akzeptabel wäre. Er schlug vor, dass die Juden auf Ritualgesetze und die Christen auf die Christologie verzichten sollten. Die Debatte, die damals durch diesen Vorschlag ausgelöst wurde, hat die Gebildeten sehr beschäftigt. Der berühmte Theologe Friedrich Schleiermacher erklärte damals, die Juden wollten ein Christentum ohne Christus. Den Juden ging es damals allerdings nicht darum, den Christen Christus abspenstig zu machen, sondern darum, akzeptiert und gleichgestellt zu werden. Sie waren dafür bereit, auf bestimmte religiöse Traditionen zu verzichten. Scholem hat mit diesen Konzepten nichts anfangen können. Wahrscheinlich hat er Friedländer als Abtrünnigen, als Apostaten gesehen, was dieser aber mit Sicherheit nicht war. AN: Ich denke, das war ganz sicherlich schon etwas, was die Leute im 19. Jahrhundert bewegt hat. Ich glaube sogar, dass die Taufbewegung, also diejenigen, die in das Christentum hineinkonvertiert sind, nicht nur das »Eintrittsbehavior«, wie Heil das so schön gesagt hat, in die bürgerliche Gesellschaft war, sondern auch der Überzeugung geschuldet ist, dass sie meinten, dass das Christentum mit den Zehn Geboten, mit bestimmten sittlichen Forderungen eigentlich nur das macht, was das Judentum auch fordert.3 Das, was hier nur im theoretischen Schreiben behauptet wird, das war für viele die gelebte Wirklichkeit. Juden haben sich nicht nur angepasst, sondern am Ende auch gesagt, das eben vieles im Christentum ist, was im Judentum auch enthalten ist. Es sind diese Schriften wie das Buch von Geiger gewesen, die das formuliert haben, und Geigers Buch wurde sehr gut rezensiert und angenommen. Als er das gleiche in Hinsicht auf jüdische Quellen im Christentum untersucht hat, ist das auf größte Kritik gestoßen. Die gleiche Untersuchung, nur auf den anderen Fall angewendet. Daran kann man natürlich ein Stück weit erkennen, was da los war: Die Juden haben auf dem Weg in die Gesell3
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Hier ist ein Begriff des Althistorikers Matthäus Heil gemeint.
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schaft nach den Gemeinsamkeiten gesucht, und die Gesellschaft hat demgegenüber versucht, die Unterschiede herauszustellen. JS: In diesem Zusammenhang komme ich auf die von Dir, lieber Andreas, angesprochene Taufbewegung zurück. Man sollte sie nicht überbewerten, aber es hat sie gegeben. Sie war ein Großstadtphänomen – nicht so sehr auf dem Land verbreitet. Das war ein interessantes Phänomen, das bis heute die Historiker beschäftigt. In Berlin nahmen Juden die Taufe und heirateten dann untereinander. Als Getaufte heiratete man in getaufte Familien hinein, sodass, als 1933 die Nazis an der Macht waren, Familien zu Juden wurden, die faktisch mit dem Judentum nichts mehr zu tun hatten. Ich würde das als eine moderne Form des Marranentums bezeichnen.4 Das ist auf Berlin bezogen ein höchst interessantes Phänomen. Manche der Entwicklungen lassen sich aus diesem Sachverhalt heraus erklären. AN: Ich würde das gar nicht bezweifeln, aber ich würde am Ende eben schon sagen, dass der große Unterschied im intellektuellen Diskurs um diese Fragen der gewesen ist, ob man eben nach Gemeinsamkeiten oder nach Trennendem suchte. Die christliche Umgebungsgesellschaft hat eher nach dem Trennenden gesucht, und aus dem Jüdischen heraus, egal, ob als Teil einer Taufbewegung oder als jüdische Gemeinde, wurde nach dem Gemeinsamen gesucht. Um das Gemeinsame hervorzuheben, wurden zum Beispiel große Stiftungen gemacht. Ein berühmter Fall ist die Nofretete oder ein anderer, die Villa Massimo, und andere Dinge, die von jüdischen Industriellen, die es sich leisten konnten, in die Gesellschaft hineingestiftet wurden. Das war ja auch etwas, dass man eben nach dem antiken oder ägyptischen gemeinsamen Nenner gesucht hat, der verbindend sein könnte. Und so hat man solche großartigen Stiftungen gemacht, weil man meinte, dass man damit das Gemeinsame, auch das gemeinsame Erbe, hervorheben könne. Das war natürlich eine gigantische Fehlspekulation. Aber das ist eine andere Sache. JS: Da könnte man in demselben Zusammenhang die Frage stellen, wie es kommt, dass so viele Juden begeisterte Goethe-Anhänger waren. Der Sohn des Rabbiners Abraham Geiger, der Literaturwissenschaftler Ludwig Geiger, gab das Goethe-Jahrbuch heraus und hat Bücher über Bücher über Goethe und seine Zeit geschrieben. Akzeptiert haben das die völkischen Germanisten natürlich nicht. Aber was bedeu4
Mit Marranentum bezeichnet man das Phänomen des »geheimen Juden«, der gezwungen war, seine Religion unerkannt im Verborgenen zu praktizieren.
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tete das? Männer wie Ludwig Geiger waren bemüht, sich mit dem Deutschtum zu identifizieren. Warum? AN: Als Weg in die Gesellschaft! Ich würde schon sagen, dass die Gesellschaft des 19. und 20. Jahrhunderts – vollkommen gleichgültig ob jüdisch oder aus der Position der Umgebungsgesellschaft betrachtet – eine Gesellschaft war, deren Hauptfrage darin bestand, zu prüfen, ob die Errungenschaften der Französischen Revolution realisiert werden können. Wird der Bauer, um einmal ein anderes Beispiel zu nehmen, rechtlich und sozial wirklich mit dem Patrizier aus der Stadt und mit dem Stadtbürger gleichgestellt? Der Nationalsozialismus in seinem Rassenwahn war einer der Versuche, diese Errungenschaften der Französischen Revolution gigantisch zurückzudrehen – für alle zurückzudrehen. Da steht an der Spitze der »Herrenmensch« und wer auch immer darunter stehen mag; man hat eine neue soziale Pyramide hergestellt. Das ist ja am Ende nichts anderes als das Zurückdrehen der Errungenschaften dieser Französischen Revolution. Und darum ging es in allen gesellschaftlichen Fragen – auch bei Marx und Engels. Alle haben am Ende das Gleiche aufgeworfen: Man muss es nicht nur zu einer rechtlichen, sondern auch zu einer sozialen Gleichheit bringen! Das waren die bewegenden Fragen, und da haben die Juden auf ihre Weise versucht, ihren Weg in die Gesellschaft zu finden. Das war meiner Meinung nach der eigentliche Hintergrund dieses Diskurses zwischen Gesellschaft und Judentum als Idee und Judentum als Menschengruppe beziehungsweise Volk. Da stellt sich jetzt eine weitere Frage: Wie verhält es sich in diesem Zusammenhang mit dem von Theodor Herzl begründeten Zionismus? Der Zionismus ist durch Herzl geprägt worden; von dieser Vorstellung, eine Gesellschaft zu schaffen, in der es einen sozialen Ausgleich geben wird. So verstehe ich jedenfalls die Kibbuz-Bewegung, und so würde ich zunächst einmal den Ansatz sehen wollen. So ist es ja auch, wenn ich Edgar Salin richtig verstehe. Das ist sein Einfluss auf Ludwig Erhard und die soziale Marktwirtschaft gewesen, diese Überlegungen, zu einer Gesellschaft zu kommen, in der es diese Art von sozialem Ausgleich gibt. Diesen Ausgleich hat man seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts im Sinn gehabt, den ein Großteil des städtischen Judentums auch gelebt hat. Das Interessante in der Entwicklung des Zionismus ist nun, dass mit dem großen Einfluss, den die polnisch geprägten Einwanderer nach Israel gebracht haben, eine ganz andere Staatsidee und eine ganz andere Organisationsidee zum Tragen kam. Sie wollten ihr eigenes Schtetl haben. Die Betonung des Trennenden kommt eher, würde ich jedenfalls sagen, durch andere Einflüsse als dem großstädtisch geprägten Judentum zum Tragen.
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JS: Ich stimme mit Dir im Großen und Ganzen überein. Der Zionismus herzlscher Prägung ist im deutschen Kulturraum entstanden. Daran besteht kein Zweifel. Wenn man zum Beispiel den Roman Altneuland (1902) von Theodor Herzl zur Hand nimmt, den Roman, in dem er den jüdischen Staat beschreibt, wie er ihn sich vorstellte, und wie er in 20 Jahren aussehen sollte, also ungefähr im Jahr 1922, findet man einige interessante Passagen. An einer Stelle des Romans, in dem beschrieben wird, wie die Sozialprobleme in »Altneuland« gelöst worden sind und wie die verschiedenen Bevölkerungsgruppen miteinander ohne Probleme leben, fällt der Satz: »Es ist völlig gleichgültig, wo man Gott anbetet. Das kann in der Kirche sein, in der Moschee, in der Synagoge, aber auch im Konzertsaal.« Das hat mich, als ich es das erste Mal las, geradezu fasziniert. Wenn man Herzls Schriften und seine Briefe studiert, findet man immer wieder ähnliche Aussagen. Herzl war ein Mann der Visionen, aber auch mit Charisma. Manche seiner Zeitgenossen glaubten, in ihm den Messias vor sich zu haben. Er hat sich gegen diese Sicht nicht gewehrt. Drei Wochen vor seinem Tod beispielsweise schrieb er in einem Brief an seinen Nachfolger in der Leitung der zionistischen Bewegung, an David Wolffsohn, den ominösen Satz: »Macht keinen Unsinn, während ich tot bin.«
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EDGAR SALIN – ASPEKTE SEINES LEBENS UND DENKENS 1 Anton (Toni) Föllmi 2 Edgar Salin wurde am 10. Februar 1892 in Frankfurt am Main geboren. Sein Vater Alfred Salin war Fabrikant und maßgeblicher Miteigentümer der Nackenheimer Kapselfabrik, die er zusammen mit dem Vater des Schriftstellers Carl Zuckmayer betrieb.3 Mütterlicherseits stammte Salin aus der bekannten alteingesessenen jüdischen Frankfurter Bankiersfamilie Schiff. Er war in erster Ehe mit Antonie Charlotte Trützschler von Falkenstein verheiratet, in zweiter Ehe mit Isolde Maria Baur aus Mannheim. Aus erster Ehe hatte er eine Tochter und einen Sohn. Am 17. Mai 1974 starb Salin in Veytaux am Genfer See. Es war sein ausdrücklicher Wunsch, in aller Stille auf jenem Friedhof beigesetzt zu werden, auf dem seine in der Emigration verstorbenen Eltern Alfred und Paula Salin ruhen. Von Edgar Salin heute ein Bild zu zeichnen, das auch denen, die ihn nicht kannten, einen Eindruck vom Zauber seiner Persönlichkeit, vom Reichtum seines Wesens und Wissens, von Art und Gehalt seines wissenschaftlichen und schriftstellerischen Werkes vermittelt, vermöchte wohl nur der ihm Wesensgleiche, den es nicht gibt, nicht geben kann. Denn er ist einzig in seiner Art gewesen. Wirtschaft und Gesellschaft boten sich Salin in stets neuen Erscheinungen und Prozessen dar, und wie kaum ein anderer hat er die Konsequenz daraus gezogen und sich zeitlebens einem Zwang zur Spezialisierung beharrlich widersetzt. So verdanken ihm die politische Ökonomie ausgeprägt persönliche Beiträge und die Wirtschaftspolitik nicht nur richtungsweisende Stellungnahmen, sondern auch konkrete Leistungen.
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Siehe dazu den Beitrag von Bertram Schefold in diesem Band, S. 209. Anton Föllmi hat unsere Forschungen zu Edgar Salin in Basel mit Wohlwollen und großer Sympathie begleitet. Seine Erkrankung und sein Tod (3.12.2011) haben eine Teilnahme an dem Symposion Neue Städte für einen neuen Staat vom 2.–4.12.2011 in Berlin leider verhindert. Der vorliegende Beitrag ist eine unveröffentlichte Fassung, die 2004 in Auszügen publiziert wurde: Anton Föllmi: »Edgar Salin – Aspekte seines Lebens und Denkens«, in: Hugger, Paul (Hg.): Edgar Salin. Im Sonderzug nach Alaska. Tagebuch einer amerikanischen Reise 1910, Basel 2004, den wir in dankbarer Erinnerung aufgenommen haben. An einigen für das Verständnis wesentlich erscheinenden Stellen haben wir uns zu kurzen, erläuternden Fußnoten entschlossen. Heute Vereinigte Nackenheimer Kapselfabrik GmbH mit Hauptsitz in Mainz.
Kapitel I
Die bewusstseinsbildenden Studienjahre und der Ruf nach Basel In den Jahren 1910 bis 1913 studierte Salin in Heidelberg, München und Berlin Nationalökonomie und Jurisprudenz, daneben auch Philosophie, Kunst- und Literaturgeschichte. Im Juli 1913 promovierte der 22-Jährige in Heidelberg bei Alfred Weber mit einer Dissertation über »Die wirtschaftliche Entwicklung in Alaska« (summa cum laude) zum Doktor der Philosophie. In diesem umfangreichen wirtschaftsgeografischen Werk, mit frühen Erwägungen zum Konzentrationsprozess, sind die Erfahrungen seiner Amerikareise verwertet. In den Vordergrund seiner Betrachtung stellte Salin eine eingehende Analyse der damaligen wirtschaftlichen, vor allem der agraren und industriellen Verhältnisse Alaskas. Er kam zum Schluss, dass die Kolonialpolitik der Vereinigten Staaten in Alaska versagt habe. Im Jahr 1920 habilitierte sich Salin in Heidelberg mit einer Studie über »Platon und die griechische Utopie«. 1924 wurde er Professor, lehrte im Sommersemester 1927 als Gastprofessor in Kiel, und dann, von 1927 bis zu seiner Emeritierung im Jahre 1962 und noch weit darüber hinaus, wirkte er als ordentlicher Professor an der Universität Basel, als Nachfolger seines berühmten Vorgängers Julius Landmann.4 Zwischen diesen beiden Gelehrten bestand eine enge Freundschaft. Salins Lehrauftrag in Basel war wie folgt umschrieben: »Nationalökonomie, insbesondere Geld-, Kredit-, Bank-, Börsen- und Versicherungswesen, Handelsgeschichte und Handelspolitik, Finanzwissenschaft, Volkswirtschaftspolitik und Verkehrswirtschaftslehre«. Im Protokoll der Expertenkommission, die Salin dem Regierungsrat zur Wahl vorschlug, ist unter anderem zu lesen: »[…] würde man Salin nach Basel gewinnen, so müsste […] wohl streng darauf geachtet werden, dass er seinem Pflichtprogramm absolut nachkommt und sich nicht eher auf dem Gebiet seiner schönen Neigungen betätigt.« Dass Salins Lehrgebiet so detailliert umschrieben wurde, mutet seltsam an. Wollte man ihn auf praktische Aspekte seines Faches einschränken und damit den jungen Adler zum vornherein domestizieren? Salin wurde dann auf Anraten von Landmann mit sieben von acht Stimmen gewählt. Ausschlaggebend für diese Wahl war gerade die universelle Persönlichkeit Salins, welche ihn als Kandidat aus dem Kreis der Mitbewerber heraushob. Alfred Weber gab in seinem Gutachten über seinen Schüler folgendes Urteil ab: »Von Salin kann ich aus genauer Kenntnis sagen, dass seine Lehrbegabung und seine Lehrerfolge ungewöhnlich groß sind. Ich kenne ihn auch 4
Julius Landmann erhielt im Jahr 1909/10 einen Ruf für Nationalökonomie und Statistik an die Universität Basel; die Professur hatte er bis 1927 inne.
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als außergewöhnliche Arbeitskraft, einen Mann umfassendster Bildung und halte ihn überhaupt für einen der begabtesten der jüngeren Nationalökonomen Deutschlands.« Trotz der Basel nachgerühmten humanistischen Tradition und Aufgeschlossenheit hatte es Salin anfänglich nicht leicht, den Kontakt zur Stadt und ihrer Bürgerschaft zu finden. Die Nationalökonomie war damals in Basel traditionsgemäß nicht verwurzelt. Im Gegenteil: als eine junge Wissenschaft war sie gewissermaßen als Anhängsel der Philosophisch-Historischen Fakultät zugeteilt, Salin bereiteten diese Vorurteile erhebliche Anfangsschwierigkeiten und Enttäuschungen. Aber er war nicht der Mann, der davor kapitulierte. Mit unbeirrbarer Konsequenz und geistiger Überlegenheit verfolgte er seine Linie. Es ist ihm denn auch gelungen, das weite Gebiet der modernen Nationalökonomie gegenüber allen Widerständen zu einem weit über Basel hinaus wirkenden Renommee zu entwickeln. Platon und die Geschichte des frühen Christentums Salins Analysen wurzeln stets in der Historie. Diese Auffassung zeigte sich schon in seiner Habilitationsschrift Platon und die griechische Utopie (1921), in der er eine soziologische Analyse der altgriechischen politischen Kultur mit einem Blick auf die Realität seiner Zeit verbunden hat. Dieses platonisch-geschichtlich geprägte Denken zieht sich durch sein gesamtes Lebenswerk. Von wesentlicher Bedeutung sind dabei die Einwirkungen von Vorbildfiguren. In aller Deutlichkeit waren dies Max und Alfred Weber, Friedrich Gundolf und vor allem Stefan George. In dieser Platon-Studie hatte Salin bereits den Stil und die Darstellungsform gefunden, denen er sich während seines ganzen Lebens verpflichtet fühlte. Er setzte sich zur Aufgabe, zunächst induktiv den Gehalt der platonischen Utopie zu finden, um nachher den Forschungsweg umzukehren und zur »Deutung vom Wesen her« zu gelangen: »Es lässt sich nichts dichten und nichts denken, das nicht gelebt und erlebt ist. So sind die Kräfte, die der Dichter und der Weise fasst und bildet, als existent zu nehmen, auch wenn der aufs ›Reale‹, der ›objektiv‹ gerichtete Blick sie schwer erkennt.« Salins lebenslange intensive Beschäftigung mit Platon fand einen fruchtbaren Niederschlag auch in seinen Platon-Übersetzungen, die in den Jahren 1942 bis 1952 in der Sammlung Klosterberg im Basler Verlag Benno Schwabe & Co. in fünf Bänden erschienen sind. Platons Werke gehören zu jenen seltenen Schöpfungen von Hellas, die über alle Zusammenbrüche hinweg unverkürzt und unversehrt bis auf den heutigen Tag erhalten blieben. Für Salin hat Platons Bild und Wort zeitlebens »die besinnliche, die richtende und die mahnende Kraft bewahrt«. Im Platon-Buch gelang ihm der Nachweis, dass
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Aristoteles Mitarbeiter an Platons »Gesetzen« gewesen ist. Eine ähnliche Entdeckung, wieder Platon und Aristoteles betreffend, machte Salin bei der Übersetzung des Phaidros.5 Aus der Neubildung des Wortes »du bist ein artitelaes« = ein jüngst erst Eingeweihter, und aus anderem geht hervor, dass Phaidros kein anderer als der junge Aristoteles sein muss, der zur Zeit der Abfassung des Dialoges gerade in die platonische Akademie eingetreten war. Die an Platon anschließende Beschäftigung Salins mit dem frühen Christentum lehrte ihn, dass das christliche Reich, sein Wesen und seine Aufgabe von allen antiken Bildern und Fragen völlig verschieden sind. Daher sei von der Antike her weniger Verständnis zu gewinnen als im Leben und in der Lehre Jesu selbst. Die Geschichte des frühen Christentums ist für Salin nicht eine Fachangelegenheit der Theologen, sondern – wie er in seinem 1926 erschienenen Buch Civitas Dei urteilte – »der Brennpunkt allen damaligen Geschehens und ein lebendiges Vorbild allen staatlichen Menschtums und aller gläubigen Gemeinschaft: Mit der Geburt des Menschensohnes hebt an und in dem Reich des Ein-Gottes erfüllt sich die erste nachantike Weltzeit, der christliche Aion«. Jacob Burckhardt und Friedrich Wilhelm Nietzsche – das »Geistergespräch« Salins dichterische Leidenschaft findet sich auch in seinem Buch Jacob Burckhardt und Nietzsche 6, und zwar vor allem in der Identifikation mit dem späten Nietzsche. Nietzsche hatte, wie Salin sich ausdrückte, »den harten entschleiernden Blick des Sehers« und »Künder des neuen Menschen« und »Vorbote eines neuen Geistes«. Das »Geistergespräch« der beiden Denker sei »darum so unwiederholbar und so erschütternd, weil in ihnen ein später Träger der alten, der Goetheschen Welt und ein früher Rufer der neuen sich begegneten, befreundeten, entfremdeten und weil hierdurch sich im Leben ereignete, was sich jetzt nur im Geist noch nachvollziehen lässt«. Nietzsche sei »nach seinem eigenen Bewusstsein, seinen eigenen Worten: ein Verhängnis. Ein Verhängnis für sich, für sein Volk, für Europa und die Welt.« Die Interpretation von zwei so unterschiedlichen Persönlichkeiten wie Burckhardt und Nietzsche konnte im Jahr 1938, als diese Vorlesungsreihe Salins erstmals veröffentlicht wurde, nicht ohne Widerspruch aufgenommen werden. Sie war eine Herausforderung an die deutschen Machthaber, aber auch an die braunen Tendenzen in der 5 6
Platon: Dialoge Gastmahl.Phaidros, übertragen von Edgar Salin. Basel 1952. Salin, Edgar: Jacob Burckhardt und Nietzsche. Basel 1948 (Erstveröffentlichung 1937).
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Schweiz. Das Buch, dem eine tiefe Verbundenheit Salins zu Nietzsche zu entnehmen ist, entwickelte sich in der Schweiz schließlich zum Hauptangriffspunkt gegen die Person Salins. Ein unbekannter Autor schrieb gar von einer »typischen jüdischen Zersetzung«. Salin sprach hier nicht nur von den beiden großen Baslern, sondern er gab zugleich zu erkennen, wie er Basel sah, speziell das Verhältnis von Stadt und Universität, und wie er sich selbst als Basler Professor verstand. Wir lesen einen Lobpreis Basels als von einem humanistischen Geist geprägter Polis. Die Polis zeigt sich nach Salin darin, dass diese Familien keine »Pfeffersäcke« sind und keine Kapitalisten, dass sie Bibel, Wirtschaft und Politik mit Geist im Sinne von Kunst und Wissenschaft verbinden. Bei Salins knapper Bestimmung von Basels Eigenart fällt auf, wie sehr er in Typen dachte. Polis ist ihm ein soziologischer Typus, innerhalb dessen es zu Vorgängen und Konstellationen kommt, die sich im Laufe der Geschichte wiederholen. Das Denken in Typen – Salin nennt es mythisch – erlaubte es, Ordnung in die tausendfache Hydra der Empirie zu bringen, und um Ordnung ging es Salin in hohem Maße. Ordnung freilich nicht im Sinne zementierter Verhältnisse. Das zeigt sich an der Aufgabe, die Salin innerhalb der Basler Polis der Universität zuweist. Er versteht sie als Stätte, wo durch die, die dort lehren, geistig Neues, auch Provozierendes in die Stadt komme und in ihrer Jugend »Gedanken und Pläne von sprengender Kühnheit« freisetze. Damit ist der Universität die Rolle eines beständigen Ferments zugewiesen, fast einer institutionalisierten geistigen Opposition, die jedoch im besten Fall langfristige Veränderungen bewirken kann. Salin beschreibt Burckhardt und Nietzsche als Verkörperungen gegensätzlicher Professorentypen. Beide hielten Distanz zu ihrer »Jetztzeit«, der baslerischen und der deutschen nach der Reichsgründung, beide diagnostizierten eine fundamentale Krise der europäischen Kultur. Pfarrerssöhne beide, hatten sie mit dem Christentum gebrochen, in Arthur Schopenhauers Pessimismus zunächst Ersatz gefunden und im Rückgriff auf die Antike und deren Renaissancen. Darauf basierte ihre zeitweilige »mythische Sternenfreundschaft«. Die Differenz zwischen Burckhardt und Nietzsche sah Salin darin, wie sie sich zu ihrem eigentlichen Auftrag verhielten, Ferment eines Neuen zu sein. Burckhardt erscheint bei ihm als Weiser, der seine Einsichten kaum je in den akademischen Unterricht einfließen ließ, sie im letzten auch in seinen großen Werken eher verbarg. Erst recht war Burckhardt für Salin in seiner Lebensführung der Basler mit der Maske, der sich in einer Art Schutzfärbung der philiströsen Umgebung anpasste und höchstens in Briefen bekannte, wie er wirklich dachte.
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Ganz anders Nietzsche. In ihm zeichnet Salin den Universitätslehrer, den seine Einsichten dazu trieben, sich mit seinen Fachkollegen zu überwerfen, zum öffentlichen Kritiker seiner Zeit zu werden und der schließlich eine den Nihilismus überwindende Zukunftsvision hervorbrachte. Salin stellt Nietzsche auch so dar, als habe er, anders als Burckhardt, das Christentum nicht einfach preisgegeben, sondern es aus seinem Geist über sich hinausgedacht. Der Wahnsinn als Tod zu Lebzeiten erscheint bei ihm als Überschreiten noch der letzten Grenzen. Dass Salin Burckhardt und Nietzsche nicht für sich, sondern als Verkörperungen von Basler Professorentypen darstellte, bedeutet, dass sie ihre Vorläufer hatten, zum Beispiel im Paar Erasmus von Rotterdam und Paracelsus, und ihre Nachfahren.7 Auch seine Kollegen beurteilte Salin ganz offenbar nach dieser Typologie, wie sich bei der berüchtigten Verabschiedung von Karl Barth im Jahr 1962 zeigte, dem er »nietzschesche-antinietzschesche Verwegenheit« bescheinigte, aber auch, ähnlich wie Burckhardt, eine »Basler Maske«.8 Barth reagierte darauf eher gelassen: »Und auch das kleine Drama oder Dramolet, das sich am 1. März in unserer Aula merkwürdigerweise gerade an meine letzte Vorlesung über die Liebe anschloss, hat jedenfalls meinen inneren Frieden in keiner Weise zu stören vermocht.« Es ist keine Frage mehr, welchem Typus Salin sich selbst zurechnete. Er verstand sich von Nietzsche her. Das hieß, dass er nicht einer sein wollte, der sich versteckte, gar der Basler Gesellschaft anpasste, um insgeheim über sie zu spotten, sondern hervortrat mit Kritik im Kleinen und im Großen, aber auch in der Bereitschaft, zu Veränderung und Erneuerung der Polis lehrend und lebend beizutragen. Mit Nietzsche, allerdings gegen dessen eigenes einsiedlerisches Leben, und mit Stefan George war Salin des Glaubens, dass es auf eine kleine Schar wahrhaft Gebildeter ankomme.
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Der ab 1521 in Basel ansässige und lehrende Humanist Erasmus von Rotterdam holte im Jahr 1526 den eigenwilligen Arzt Paracelsus nach Basel, wo er hochgeschätzte Vorlesungen hielt. Paracelsus verließ die Stadt zwei Jahre später, Erasmus starb im Jahr 1536 in Basel. Friedrich Gundolf, der ab 1920 eine Professur für Literaturwissenschaften in Heidelberg innehatte und zum engsten Kreis um Stefan George gehörte, veröffentlichte im Jahr 1927 ein Buch über Paracelsus, das Salin, der Gundolf im George-Kreis eng verbunden war, außerordentlich schätzte. Karl Barth, in Basel geborener evangelischer Theologe, Mitglied der »Bekennenden Kirche«, von 1935–1962 Professor für Systematische Theologie an der Universität Basel.
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Der Basler Arbeitsrappen zur Stimulierung der lokalen Wirtschaft 9 In der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen galt Salins zentrales Interesse der sich auflösenden Weltwirtschaft und dem Problem der Arbeitslosigkeit. Als Präsident des Staatlichen Einigungsamtes diente er von 1929 an während der Weltwirtschaftskrise der Stadt Basel und machte sich hier um den Ausbau der Gesamtarbeitsverträge, des Arbeitsrechts und als Vermittler in Arbeitskonflikten verdient. Ein sogenannter Arbeitsrappen war im Wesentlichen seine Schöpfung. Jedem Verdienenden wurde ein Prozent des Einkommens abgezogen; mit dem Geld subventionierte der Staat die Bautätigkeit, und das wiederum belebte die Konjunktur. »Arbeitsrappen nenne ich die Abgabe von 1 Rappen auf 1 Franken, also von 1 % jeden Lohnes und jeden Gehaltes, abzuziehen und einzuzahlen durch den Arbeitgeber. Die Begründung einer solchen Abgabe scheint mir darin zu liegen, dass derjenige, der das Glück hat, als Arbeiter, als Angestellter, als Beamter in Arbeit zu sein, einen Rappen beitragen kann und in der Regel auch gerne beitragen wird, um Arbeitslosen zu Arbeit zu verhelfen. Vermutlich würde übrigens eine solche Abgabe, so wenig sie den Einzelnen belastet, dennoch selbst in den Anlaufjahren mehr ergeben als der Anleihedienst erfordert – eine erwünschte Reservebildung für andere Aufgaben und spätere Zeiten.« Diese eindeutig keynesianische Maßnahme ist noch heute in Basels Stadtbild sichtbar. Viele Bauten, Renovationen und Verbesserungen an Gebäuden stammen aus jener Zeit. Aus dem Verständnis heraus, dass Demokratie nur als soziale Demokratie praktikabel ist, erkannte Salin die Notwendigkeit einer aktiven Sozialpolitik an. Der Basler Arbeitsrappen und sein Engagement im Einigungsamt des Kantons Basel-Stadt sind deshalb unter diesem Aspekt zu betrachten. Die Arbeitsbeschaffungsmaßnahme des Arbeitsrappens sollte auf die gesamte Basler Wirtschaft stimulierend wirken. Der währungspolitische Mahner Im weit gespannten Geisteskreis Salins nahmen die internationalen Währungsprobleme einen wichtigen Platz ein. Salin schenkte diesem Problem sein besonderes Interesse, weil er um die überragende Bedeutung einer geordneten internationalen Währungsordnung für die Weltwirtschaft wusste. Sein vorausschauender Geist, sein theoretisches Fundament, seine Menschenkenntnis und seine geistige Unabhängigkeit sowie sein Mut und zuweilen auch seine Lust, gegen den Strom zu schwimmen, machten ihn auf währungspolitischem 9
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Siehe dazu den Beitrag von Korinna Schönhärl in diesem Band, S. 46.
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Gebiet zu einem beachteten Mahner. Einer liberalen Grundeinstellung verhaftet, war sein letztes Ziel stets darauf gerichtet, ein Abgleiten auf die schiefe Ebene der Devisenbewirtschaftung zu verhindern und ein freiheitliches Währungssystem zu erstreben und zu erhalten. Salins über Jahrzehnte kontinuierliche Befassung mit währungstheoretischen und währungspolitischen Problemstellungen empfing sicher einen Anreiz aus seiner im Grundsatz staatswirtschaftlichen Orientierung – eine Einstellung, die er auch in einem Brief an Alfred Weber vom 29. Dezember 1930 betonte: »Im ganzen habe ich den Eindruck, dass ich heute weniger in der Stellung zur Theorie als in der Stellung zur Wirklichkeit von Ihnen differiere. Der Beweis liesse sich leicht führen anhand des Königsberger Vertrags, den ich fast wörtlich unterschreiben könnte: nur mit dem einzigen Unterschied, dass ich die Entwicklung zu einer stärker staatlich geregelten Wirtschaft, nennt man sie nun staatskapitalistisch oder staatssozialistisch nicht mehr für völlig rückgängig zu machen halte.« Die Schlüsselstellung des Geld- und Kreditwesens als Instrument staatlicher Politik formulierte Salin in einem Vortragsmanuskript des gleichen Jahres 1930 auch aus historischer Sicht: »[…] denn wirklich ist das Geld- und Kreditwesen im System des Hochkapitalismus derjenige Teil der Wirtschaft, der die wechselnden Geschicke all ihrer übrigen Gebiete widerspiegelt und seinerseits ihre Gestaltung und Entwicklung zu fördern und zu hemmen vermag, und zugleich jener Teil, auf dessen Regelung von der Antike bis zur Gegenwart der Staat kaum jemals Verzicht geleistet hat.« In dieser Betrachtungsweise wird auch Salins Affinität zu Georg Friedrich Knapps ›staatlicher Theorie des Geldes‹ verständlich und – sehr viel folgenreicher – sein Vertreten keynesianischer Positionen.10 Die Befassung mit Postulaten von John Maynard Keynes war für Salin schon zu Beginn der 1920er Jahre durch dessen Ablehnung der Versailler Verträge in der Schrift The Economic Consequences of the Peace angeregt worden.11 In der Behandlung der Reparationsfrage hat sich Salin in seiner Ablehnungshaltung auch als nationaler Ökonom profiliert und als scharfer Kritiker der Verhandlungsführung der Reichsregierung exponiert. Die finanz- und währungspolitisch im deutschen Interesse anzustrebende Lösung der Reparationsfrage 10 Georg Friedrich Knapp (1842–1926), Nationalökonom. Prägend sein Werk: Staatliche Theorie des Geldes, (Erstveröffentlichung 1905). 11 Das zuerst im Jahr 1919 auf Englisch und im Jahr 1920 in deutscher Übersetzung erschienene Buch von Keynes, The Economic Consequences of the Peace, ist 2006 von Dorothea Hauser unter dem Titel Krieg und Frieden. Die wirtschaftlichen Folgen des Vertrags von Versailles neu herausgegeben worden.
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dürfte für ihn unabhängig von seiner staatswirtschaftlichen Orientierung der unmittelbar zeitbezogene und auf Jahre aktuelle Anlass gewesen sein, mit währungspolitischen Fragen an die Öffentlichkeit zu treten. Früh schon setzte sich Salin mit den Fragen einer möglichen europäischen Währungsunion auseinander: »Notwendig für eine Währungsunion, die Bestand haben soll, ist nicht nur die Einigung über die Währungspolitik, sondern ist eine gemeinsame Wirtschaftspolitik, Verkehrspolitik, Sozialpolitik und Bildungspolitik.« Salin sprach hier absichtlich von »gemeinsamer Politik«, ohne damit sagen zu wollen, dass bereits am Anfang alle partikulären Souveränitätsrechte aufgegeben werden müssen. Jede gemeinsame Währungspolitik setze aber voraus, dass vorher eine im Grundsatz gemeinsame Wirtschaftspolitik geschaffen sei. »Geschieht dies nicht, so besteht die Gefahr, dass in einem Land eine Arbeitslosigkeit entsteht, zu deren Bekämpfung inflationäre Maßnahmen ergriffen werden, die auf die Dauer selbst innerhalb der Union die vorherige Parität als nicht mehr haltbar erscheinen lassen; wird aber innerhalb der Union die Parität aufgegeben, so ist sie auch nach außen nicht mehr zu halten.« Für notwendig hielt Salin die Schaffung einer festen Recheneinheit und die Schaffung einer europäischen Zentralbank. »Sollte die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft sich eines Tages zu einem Bundesstaat entwickeln, so wäre gewiss ein kleiner Zuschuss schweizerischen Geistes nicht von Übel […]. Aus einer wirtschaftlichen Union wird aber nur dann eine politische Union, wenn durch politische und militärische Kräfte ein Zusammenhalt erzwungen und gesichert wird.« Salin vertrat vielfach keynesianische Positionen, hat es bis zuletzt jedoch abgelehnt, von einer keynesianischen Revolution zu sprechen. Er bezeichnete Keynes’ Lehre als »eine Spätfrucht des Liberalismus!«. Salin hielt Keynes’ Traktat über die Währungsreform (1923) für dessen bestes, die große Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes (1936) für dessen »vergänglichstes Werk«. Der »Traktat« sei »die Bombe« gewesen, die in eine Unzahl von Schriften über die Inflation, ihre Gründe und Heilmittel fiel. Im »Traktat« habe Keynes alles Zeitgemäße so eindeutig gesagt, »dass auch in Zukunft jeder Währungspräsident hier alles Wesentliche über die Chancen, die Waffen und die Grenzen seiner Macht finden wird«. Nur wer die Grenzen der Theorie kenne und wer sich bewusst sei, dass die Theorie nur einen ganz kleinen Teil zur Politik beitragen könne, sei »weise«, bekannte Salin. In seinen letzten Lebensjahren konnte Salin noch mit besonderer Genugtuung verzeichnen, dass die tatsächliche Entwicklung auf dem Gebiet der Weltwährungs-
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politik seinen einst viel umstrittenen Prognosen entsprochen hatte. Er gehörte zu den ersten Experten, die im Jahr 1960 einem allgemeinen »Alignement der Währungen«, also einer Korrektur der Währungsordnung von Bretton Woods, das Wort redeten.12 Die alte und die neue List Gesellschaft Im Jahr 1925 hat Salin die Initiative ergriffen und nach langwierigen Vorbereitungen mit Gleichgesinnten in Heidelberg die Gründung der Friedrich-List-Gesellschaft zustande gebracht. Friedrich List (1789–1846) war ein deutscher Nationalökonom und Politiker, Professor in Tübingen. Als Verfechter der deutschen zollpolitischen Einigung geriet er in Gegensatz zur württembergischen Regierung, verlor seine Professur und wurde zu Festungshaft verurteilt, der er sich durch Flucht in die Schweiz, anschließend in die USA entzog. List wurde später zum Vorkämpfer des Eisenbahnbaus in Deutschland und zum Propagandisten des Deutschen Zollvereins. Mit seiner »Theorie der produktiven Kräfte«, die er der klassischen »Theorie der Werte« entgegensetzte, wurde List zum Vorläufer der historischen Schule der Nationalökonomie. Wenn man heute die Fülle der Aktivitäten überblickt, die von der jungen Gesellschaft damals entfaltet wurden, so verdient insbesondere zweierlei hervorgehoben zu werden: Einmal die erste und einzige Gesamtausgabe der Schriften, Reden und Briefe von List. Mit den zehn Bänden dieser Ausgabe hat List recht eigentlich seinen ihm zukommenden Platz in der politischen Ökonomie gefunden. Als zweites fällt bei der Prüfung der damaligen Tätigkeiten der Friedrich-List-Gesellschaft die rege Verbindung der Wissenschaft mit Wirtschaft, Politik und Verwaltung auf. Durch Gutachten und Konferenzen über aktuelle Probleme wurden rationale wissenschaftliche Grundlagen für die Handelnden erstellt, und regelmäßig geschah dies in ständigem Kontakt zwischen der Wissenschaft und Praxis. Diese Kooperation ist seinerzeit die Richtschnur für die Arbeit der Gesellschaft gewesen und ist es auch bis heute geblieben, in der im Jahr 1954 wiederum durch Salin neu begründeten List Gesellschaft, nachdem sich die erste Friedrich-ListGesellschaft im Jahr 1935 selbst aufgelöst hatte, in der Überzeugung, es sei eher zu schweigen, als sich dem Ungeist zu unterwerfen.
12 Im Jahr 1944 wurde auf der Konferenz in Bretton Woods (USA) die Neuordnung des internationalen Währungssystems mit weitreichenden Folgen für die Weltwirtschaft ausgehandelt.
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Der »Fall Israel« 13 Ein Erlebnis eigener Art war für Salin die Konfrontation mit den Problemen der israelischen Wirtschaft. Hier fand er ein Land, dessen Gegebenheiten sich dem Verständnis nur dann erschließen, wenn die geschichtlichen Voraussetzungen und geistigen Triebkräfte in ihrem vollen Gewicht erkannt werden. Hier fand er – wie in einem Retortenversuch im Laboratorium – den schlagenden Beweis für seine Annahme, dass der Wert jeder schematischen Behandlung von Entwicklungsproblemen beschränkt ist. Für die israelische Wirtschaftspolitik kann nur ein realistischer Zugang von Nutzen sein, da die Rate der Bevölkerungsvermehrung, das heißt das Ausmaß der Einwanderung, alle anderen Daten verändert. Die israelische Wirklichkeit passt zu keinem theoretischen Modell und lässt sich mit ökonomischen Abstraktionen nicht erfassen. Für Salin war der »Fall Israel« geradezu der klassische Beweis für die Richtigkeit und universelle Geltung der von ihm Zeit seines Lebens konsequent vertretenen methodologischen Richtung. Hier ist wohl auch die Wurzel für seinen Wunsch zu suchen, wirtschaftliche und gesellschaftliche Gegebenheiten in Israel in zahlreichen Einzelarbeiten wissenschaftlich untersuchen zu lassen und auf der Grundlage solcher Arbeiten zu einer Gesamtschau der Probleme des Landes und insbesondere des damaligen erstaunlichen Wachstums der israelischen Wirtschaft zu gelangen. Im Auf und Ab des Spiels der politischen Kräfte, im Wirrwarr der Meinungen und dem Aufeinanderprallen der Gegensätze, im unübersichtlichen Knäuel der politischen Intrigen und den Ränken partikularistischer Wirtschaftsinteressen bleibt zu hoffen, dass die mahnende und warnende Stimme Salins auch heute nicht ungehört verhallt: »Nicht im Ringen der beiden Weltmächte, sondern am Schicksal von Israel wird sich erweisen, ob Europa, ob das Abendland noch jene geistige und moralische Macht besitzt, der es seinen Bestand verdankt und durch die allein es weiterdauern kann.« 14 In den Jahren 1958 bis 1969 hat Salin Israel acht Mal besucht. In Publikationen und Gesprächen mit führenden Persönlichkeiten der israelischen Wirtschaft und Politik forderte Salin eine produktive Lösung des Problems der arabischen Flüchtlinge. Er setzte sich ein für die Idee einer Bahnverbindung zwischen dem Roten, dem Toten und dem Mittelländischen Meer, einer »Bahn der drei Meere«. Die Bahn sollte die Transportkosten von Phosphaten aus dem Negev verbilligen und Entwicklungsgebiete erschließen.
13 Siehe dazu den Beitrag von Joachim Trezib in diesem Band, S. 80. 14 Siehe dazu den Beitrag von Karin Wilhelm in diesem Band, S. 64.
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Salin hatte keine positive Beziehung zu seinem Judentum. Er hat sich nie mit seinem Judentum abgefunden. Nachdem aber durch den Staat Israel das Judentum aus einer religiösen und sozialen zu einer auch politischen Wirklichkeit geworden war, lernte er um. Der Zauber von Salins Persönlichkeit Salin war die besondere Gnade des Schicksals beschieden, dass er seinen hervorragenden Intellekt bis in das hohe Alter behalten konnte und deswegen bis zuletzt immer noch von vielen Seiten zu Rate gezogen wurde. Der einst sprühende Feuergeist wurde zum ruhigen, abgeklärten Denker und Sucher. Dementsprechend ist er auch mit dem Tod in eindrücklicher Ergebenheit fertiggeworden. Irgendwie lag über seinem Sterben jene erhabene Größe, die er zeitlebens zahlreichen Hilfe suchenden Flüchtlingen und Bedrängten, aber auch vielen seiner Studenten bei ihren menschlichen und beruflichen Problemen mit beispielhafter Spontanität zuteil werden ließ. Auch auf Salin lässt sich das Wort, das Conrad Ferdinand Meyer seiner Dichtung Huttens letzte Tage als Motto voranstellte, übertragen: »Ich bin kein ausgeklügelt Buch. Ich bin ein Mensch mit seinem Widerspruch.« 15 Salin konnte im Angriff gegen Auffassungen, die den seinen entgegengesetzt waren oder ihm banausisch oder ohne Niveau erschienen, von schneidender Schärfe sein. Zugleich aber begegnete er vielen Kollegen, die im gegnerischen Lager standen, mit Achtung und häufig auch mit freundschaftlicher Wärme. Er stand mit ihnen in einem Verhältnis, das Wilhelm Röpke mit einem auf Salin bezogenen und von ihm akzeptierten Wort als festes »agreement to disagree« bezeichnete. Gerade darin äußert sich aber ein wichtiger Charakterzug Salins: seine Großzügigkeit gegenüber allen Beiträgen zur Wissenschaft, die seinen Qualitätsansprüchen genügten.
15 Conrad Ferdinand Meyer (1825–1898), Schweizer Lyriker, hat mit dem im Jahr 1872 erschienenen Versepos Huttens letzte Tage im deutschen Sprachraum seines patriotischen Pathos wegen große Aufmerksamkeit erregt. Heute werden seine Werke international eher selten rezipiert; zum deutschsprachigen Bildungsgut gehört bis heute Meyers Gedicht Die Füße im Feuer (1882).
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» U R B A N I TÄT « I N Z E I T E N D E R K R I S E : DER BASLER ARBEITSRAPPEN Korinna Schönhärl Urbanitätsdiskurse In seinem Buch Urbanität als Habitus gibt Peter Dirksmeier einen Überblick über die verschiedenen Versuche, den so schwierigen Begriff der »Urbanität« zu definieren. Gerade in einer Zeit der hitzigen Debatten über demokratische Mitbestimmung bei großen Planungsvorhaben in den Städten wie im Fall des Stuttgarter Hauptbahnhofs oder der dritten Startbahn am Münchner Flughafen ist dieser Definitionsversuch von großem Interesse. Für die 1960er und frühen 1970er Jahre bespricht Dirksmeier die beiden völlig gegensätzlichen Modelle von Hans Paul Bahrdt und Edgar Salin.1 Bahrdt sei vom physischen Baukörper der Stadt ausgegangen und habe unter Urbanität vor allem eine bedürfnisgerechte Planung des Raumes im Spannungsfeld der Dialektik von Privatheit und Öffentlichkeit verstanden.2 Salin dagegen sei von den Städtern ausgegangen und habe mit Urbanität eine »rein geistige, exklusiv auf den Städter fixierte Kultur« gemeint, »eine Spielart des Humanismus als Garanten von Sitte und Bildung«.3 Entscheidend für seine Konzeption sei das aktive städtische Bürgertum, das die Erfahrung der Fremdheit in der Stadt verarbeiten könne. Dementsprechend sei es ihm nicht um die Formung des Raumes gegangen, sondern vielmehr um die der anonymen Menschenmasse, und zwar zu einem lebendigen Organismus, einer Gemeinschaft von Stadtbürgern mit Verantwortungsbewusstsein für das Gemeinwesen und mit der Bereitschaft, sich in politische Dinge involvieren zu lassen. Salins provokante These sei, dass die Stadt in dieser Form gar nicht mehr existiere und durch Baukunst auch nicht wiederzubeleben sei.4 Salin formulierte: »Die Stadt ist tot, und es müssen ganz andere Zeiten und Menschen kommen, ehe sie wieder erstehen kann.« 5 Am wenigsten sei dies durch irgendeine bestimmte 1 2 3
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Dirksmeier, Peter: Urbanität als Habitus. Zur Sozialgeographie städtischen Lebens auf dem Land, Bielefeld 2009, S. 23f. Vgl. ebd., S. 24; Dirksmeier zitiert aus Bahrdt, Hans Paul: Die moderne Großstadt. Soziologische Überlegungen zum Städtebau, Reinbek bei Hamburg 1969. P. Dirksmeier: Urbanität als Habitus, S. 24. Hier bezieht sich Dirksmeier auf Salin, Edgar: »Urbanität«, in: Deutscher Städtetag (Hg.): Erneuerung unserer Städte. Vorträge, Aussprachen und Ergebnisse der 11. Hauptversammlung des Deutschen Städtetages, Augsburg 1.–3. Juni 1960 (= Neue Schriften des Deutschen Städtetages 6), Stuttgart 1960, S. 9–34. Vgl. P. Dirksmeier: Urbanität als Habitus, S. 24. Salin, Edgar: Von der Urbanität zu »Urbanistik«, in: Kyklos 23 (1970), S. 869–881, hier S. 874.
Kapitel I
Stadtform oder ein Bauwerk zu erreichen. Dirksmeier kommentiert kritisch, dass der Ökonom »darüber hinaus jedoch nicht willens oder in der Lage (ist), einen neuartigen Weg aufzuzeigen, wie der Stadt wieder Form gegeben werden kann. Seine Ausführungen sind daher letztlich lediglich (sic) eine intellektualistisch-kulturpessimistische Kritik der Moderne und ihres technikgläubigen Städtebaus.« 6 Gewiss prallen hier ganz verschiedene Denkweisen aufeinander, und verstimmen mag Dirksmeier auch das Gefühl, Salin feiere in besagtem Aufsatz vor allem die eigene Generation, während er alles Nachkommende abwerte. Was bei Dirksmeier dagegen überrascht, ist der Vorwurf, Salin hätte die Praxis nicht im Blick gehabt, denn gerade die Verbindung von Theorie und Praxis war zeitlebens eines der wichtigsten Ziele Salins im Sinne der »politischen Ökonomie«.7 Woher rührt dieser Vorwurf des destruktiven Kulturpessimismus? Hat er damit zu tun, dass Salin Mitglied des Kreises um den kulturkritischen Dichter Stefan George war,8 der dem Umfeld der »Konservativen Revolution« zugeordnet wird und vielen Entwicklungen der modernen Gesellschaft scharf ablehnend gegenüberstand? 9 Haben Salins Überlegungen zur Urbanität denn Berührungspunkte mit der dichterischen Welt Georges, in der er sich tief verwurzelt fühlte? Sind sie des Weiteren überhaupt so wolkig und praxisfern, wie Dirksmeier sie versteht? Oder hatte Salin selbst Vorstellungen davon, wie sich sein Urbanitätsmodell in praktisches ökonomisches oder städteplanerisches Handeln umsetzen ließ? Um diese Fragen zu klären, soll im Folgenden Salins stadtgestalterisches Wirken als Ökonom in Basel untersucht werden, wo er den größten Teil seines Lebens verbrachte. Edgar Salin und die Weltwirtschaftskrise in Basel Salin, ein in Heidelberg promovierter Nationalökonom und glühender Verehrer des Dichters George, wurde im Jahr 1927 im Alter von 35 Jahren auf den Lehrstuhl für Staatswissenschaften in Basel berufen, und zwar als Nachfolger des Georgeaners Julius Landmann.10 6 7
P. Dirksmeier: Urbanität als Habitus, S. 24f. Schönhärl, Korinna: Wissen und Visionen. Theorie und Politik der Ökonomen im Stefan George-Kreis, Berlin 2009, S. 272–276. 8 Salin selbst förderte diese Aura durch die Publikation seiner Erinnerungen an George, in: Salin, Edgar: Um George. Erinnerung und Zeugnis, Godesberg 1948. Das Verhältnis war jedoch nur wenige Jahre intensiv, nach 1921 brach der Dichter den Kontakt zu Salin ab. 9 Zur Kulturkritik Georges und seines Kreises siehe z.B. Groppe, Carola: Die Macht der Bildung. Das deutsche Bürgertum und der George-Kreis 1890–1933, Köln 2001, S. 213–246. 10 Zu Details der Biografie mit ausführlichen bibliografischen Angaben, K. Schönhärl: Wissen und Visionen, S. 71–83; von S. 277–279 einige Ausführungen über den Arbeitsrappen, die Grundlage dieses erweiterten Aufsatzes sind.
»Urbanität« in Zeiten der Krise: Der Basler Arbeitsrappen
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Daneben war er seit 1929 auch Präsident des Baseler Einigungsamtes, das in den Tarifverhandlungen zwischen den Arbeitnehmern und Arbeitgebern vermitteln sollte.11 Die ökonomische Situation, in der Salin sein Amt antrat, war alles andere als einfach: Im Oktober 1929 läutete der Zusammenbruch der New Yorker Börse den Beginn einer Wirtschaftskrise ein, die bald globale Dimensionen erreichte. Zahlreiche Banken mussten Konkurs anmelden, und schnell griff die Krise auch auf die Realwirtschaft über, mit verheerenden Folgen weltweit.12 Sie machte auch vor der Schweiz nicht halt, wo die Industrieproduktion zwischen 1929 und 1932 um 20 Prozent zurückging und die Arbeitslosigkeit von 0,4 Prozent im Jahr 1929 auf, rechnet man die Dunkelziffer mit, wohl über 20 Prozent im Jahr 1936 stieg.13 Betroffen war zunächst die Exportindustrie, da die Kundschaft im Ausland ihre Einkäufe in der Schweiz drastisch reduzierte. Hinzu kam, dass die Schweizer die Goldparität des Franken beibehielten, und zwar selbst dann noch, als im Jahr 1931 andere Regierungen, beispielsweise die englische, ihre Währung abwerteten. Das führte dazu, dass sich die Preise für schweizerische Waren im Vergleich zu ausländischen erhöhten, was die schweizerischen Erzeugnisse im Ausland unattraktiver machte und die Exportindustrie in weitere Bedrängnis brachte.14 Erst als 1936 auch Frankreich den Goldstandard verließ, wertete die Schweiz, wo es im Jahr 1935/36 zu einem erneuten Tiefpunkt der wirtschaftlichen Entwicklung gekommen war, den Franken um 30 Prozent ab.15 Die Krise zeigte ihre Auswirkungen auch im Kanton Basel-Stadt. Immerhin blieb zu Beginn zumindest die Binnenkonjunktur stabil, was man insbesondere dem Baugewerbe zu verdanken hatte. Dank eines großen Kapitalangebots einerseits und einer großen Nachfrage
11 Zu Salins Tätigkeit als Schlichter vgl. Schmitt, Hubert Ralph: Soziologische Aspekte im Denken und Werk von Edgar Salin: Edgar Salin als Kultur-, Literaturund Wirtschaftssoziologe, Würzburg 1987, S. 128. Das Einigungsamt war erst 1914 gegründet worden, siehe Berner, Hans: Kleine Geschichte der Stadt Basel, Basel 2008, S. 206. 12 Genaueres zu Ursachen und Verlauf der Weltwirtschaftskrise in: Eichengreen, Barry/Temin, Peter: »The Gold Standard and the Great Depression«, in: Contemporary European History 9 (2000), S. 183–207. 13 Vgl. Zurlinden, Mathias: »Goldstandard, Deflation und Depression: Die schweizerische Volkswirtschaft in der Weltwirtschaftskrise«, Quartalsheft 2 (2003), S. 86–116, 87, 94. Zurlinden führt aus, dass viele Arbeitslose sich wohl nicht arbeitslos meldeten. Trägt man dieser Tatsache durch einen anderen Berechnungsschlüssel Rechnung, kommt man auf eine Quote von 20,9 Prozent für 1936, obwohl die offizielle Zahl nur 6,4 Prozent betrug. 14 Vgl. ebd., S. 92. 15 Vgl. ebd., S. 88, 92.
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nach Wohnraum andererseits wurde hier weiterhin investiert.16 Die Lage sah sogar so vielversprechend aus, dass viele Bauarbeiter nach Basel zuwanderten, um von der guten Auftragslage und den steigenden Reallöhnen zu profitieren.17 Erst in den Jahren 1933 und 1934 hatten die Auswirkungen der Krise sich so weit ausgebreitet, dass auch die Basler Bauwirtschaft einen schlimmen Einbruch hinnehmen musste. Die Zahl der Arbeitslosen in der Bauindustrie in BaselStadt kletterte von 666 Arbeitslosen im Durchschnitt des Jahres 1930 auf 3039 im Jahr 1936, das heißt, die sektorale Arbeitslosigkeit im Baugewerbe betrug 20,7 Prozent und damit mehr als das Doppelte des kantonalen Durchschnitts der Arbeitslosigkeit (8,3 Prozent).18 Vor allem die vielen zugewanderten Bauarbeiter standen nun auf der Straße und machten bis 1936 je 60 Prozent der Gesamtarbeitslosen aus.19 Die politischen Entscheidungsträger in Basel reagierten auf die Krise, ebenso wie die auf Bundesebene,20 ganz im Sinne der neoklassischen ökonomischen Theorie: Man senkte die Löhne, um die Preise der Produktion wieder konkurrenzfähig zu machen.21 So wurden beispielsweise die Löhne in der Bauindustrie bis 1936 um 20 Prozent reduziert.22 Zudem gewährte die Kantonsregierung Zuschüsse für die Exportindustrie, um Geschäftsaufgaben in diesem Bereich zu verhindern. Aber diese Maßnahmen konnten den auch im Vergleich zu anderen Kantonen deutlichen Anstieg der Arbeitslosigkeit in Basel (im Jahr 1936 8,3 Prozent gegenüber 4,84 Prozent im schweizerischen Durchschnitt) nicht verhindern.23 In dieser angespannten ökonomischen Situation sollte Salin nun zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern in den Tarifauseinandersetzungen vermitteln, eine Aufgabe, die sich alles andere als einfach gestaltete, gab es doch keine Zuwächse zu verteilen, sondern galt vielmehr, Kürzungen durchzusetzen. Dies führte zu heftigen sozialen Unruhen im Kanton: »Demonstrationen, Tumulte 16 Jacques Stohler spricht für die Phase von 1929–32 von Spekulationsbauten, die vom wirtschaftlichen wie vom sozialen Standpunkt aus gleich schädlich gewesen seien, vgl. Stohler, Jacques: Der Basler Arbeitsrappen. Eine Studie zur Beschäftigungstheorie und Beschäftigungspolitik regionaler Körperschaften, Basel 1957, S. 46 (Die Dissertation entstand unter der Betreuung von Edgar Salin; Salin widmete Stohlers Andenken 1970 auch das Heft 23 der Zeitschrift Kyklos, in dem einer seiner Urbanitätsaufsätze abgedruckt ist, vgl. E. Salin: Urbanistik, FN 12, S. 878). 17 Vgl. Bauer, Hans: Die Entwicklung des Basler Arbeitsrappens, in: Meier, Eugen A.: Der Basler Arbeitsrappen 1936–1984, Basel 1984, S. 9–22, 10. 18 Vgl. J. Stohler: Der Basler Arbeitsrappen, S. 44f. 19 Vgl. ebd., S. 48. 20 Die schweizerische Finanzpolitik war klar auf einen Budgetausgleich ausgerichtet, siehe M. Zurlinden: »Goldstandard, Deflation und Depression«, S. 97. 21 Vgl. ebd. H. Bauer: Die Entwicklung des Basler Arbeitsrappens, S. 9. 22 Vgl. ebd. 23 Vgl. Statistisches Lexikon der Schweiz, http://www.bfs.admin.ch/bfs/portal/de/ index/infothek/lexikon/lex/2.topic.3.html vom 9.11.2012.
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und Zusammenstöße mit der Polizei und Bürgerwehr kennzeichneten die Jahre von 1929 bis 1931.« 24 Gerade die Bauarbeiter waren für ihre Streikfreudigkeit bekannt in der Stadt,25 in der sich die Spannungen zwischen den sozialen Klassen seit Ende des Ersten Weltkrieges immer mehr zugespitzt hatten und es mehrmals zu der gewaltsamen Niederschlagung von Streiks gekommen war.26 Mit der Gründung der Kommunistischen Partei im Jahr 1921 hatte sich zudem ein Flügel der Arbeiterschaft abgespalten und radikalisiert.27 Für Salin wurde schnell klar, dass weitere Sparmaßnahmen keinen Weg aus der Krise bedeuteten. Er argumentierte, dass eine weitere Senkung der Löhne lediglich die Kaufkraft der Bevölkerung und damit die Binnennachfrage weiter schwächen müsste.28 Er präferierte deshalb das Gegenteil: die großzügige Auftragsvergabe vonseiten der öffentlichen Hand.29 Was uns heute, nach dem Erscheinen von John Maynard Keynes’ General Theory,30 unter dem Stichwort »keynesianische Wirtschaftspolitik« geläufig ist, wurde in der Zeit der Weltwirtschaftskrise von zahlreichen Ökonomen als theoretisches Konzept zwar in der einen oder anderen Weise angedacht, als man wahrnahm, dass die bisherige Sparpolitik keinen Ausweg aus der Krise bot.31 Die Möglichkeit, ihre Überlegungen so direkt in ökonomisches Handeln umzusetzen, wie sie sich Salin bot, hatten jedoch die wenigsten von ihnen. Die Idee des Arbeitsrappens Im Wahlkampf von 1935, der den »Siedepunkt der Klassenkampfatmosphäre« 32 in Basel darstellte, hatten die Sozialdemokraten überraschend vier von sieben Sitzen im Regierungsrat der Stadt Basel gewonnen,33 auch weil sie ihren Wählern ein größeres Bauprogramm 24 25 26 27 28
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H. Berner, Kleine Geschichte der Stadt Basel, S. 212. Die Bauarbeiter hatten z.B. 1903 und 1905 gestreikt, vgl. ebd. S. 206. Vgl. ebd., S. 211. Vgl. Teuteberg, René: Basler Geschichte, 2. Aufl., Basel 1986, S. 354–357. Auch hier genauere Informationen über die Streiks von 1918/19, S. 364f. Z.B. in einem unpublizierten Manuskript von 1932, in dem er für den Erhalt der Kaufkraft plädierte, vgl. Netzband, Karl-Bernhard: Zum 10. Todestag Edgar Salins, in: List Forum 12, 4 (1984, Januar), S. 205–227, hier S. 221. Salin, Edgar: »Lebendige Demokratie. Der Basler Arbeitsrappen von 1936«, in Eschenburg, Theodor (Hg.): Festgabe für Carlo Schmid zum 65. Geburtstag, Tübingen 1962, S. 153–170, hier S. 155. Keynes, John Maynard: The General Theory of Employment, Interest and Money, London 1936. Köster, Roman: Die Wissenschaft der Außenseiter. Die Krise der Nationalökonomie in der Weimarer Republik, Göttingen 2011, S. 267f. R. Teuteberg: Basler Geschichte, S. 369. Vgl. H. Berner: Kleine Geschichte der Stadt Basel, S. 213. Als Ursachen für die Kräfteverschiebung nennt Berner auch den Einbruch der Baukonjunktur im Jahr 1934, die besonders hohe Arbeitslosigkeit sowie die gewaltsamen Polizeieinsätze bei den Demonstrationen der letzten Jahre.
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in Aussicht gestellt hatten, um die Arbeitslosigkeit zu senken. Wie aber sollte man dieses im hoch verschuldeten Kanton finanzieren? Genau diese Frage, die die sozialistische Regierungsmehrheit an Salin herantrug, war der Ausgangspunkt seiner Überlegungen. Eine weitere Verschuldung schien nicht durchsetzbar, da der Finanzminister ein Anhänger der Deflationspolitik war.34 Die politischen Parteien schienen in dieser Situation kaum zu einem Konsens fähig. In dieser Lage entwickelte Salin zusammen mit dem Gewerbeverbandspräsidenten und dem Gewerkschaftssekretär, also der Arbeitgeber- und der Arbeitnehmerseite, das Konzept des sogenannten Arbeitsrappens. Es besagte, dass jeder in Arbeit stehende Arbeiter von jedem verdienten Franken einen Rappen, also ein Prozent, an einen Fonds abgeben sollte. Dieser Fonds wiederum sollte zur Sicherung einer Anleihe dienen, mit der die entsprechenden Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen finanziert werden konnten. Diese Spezialfundierung war notwendig, weil die potenziellen Investoren der öffentlichen Hand inzwischen misstrauten und nicht davon überzeugt waren, ihr Geld zurückzubekommen. In den Vorjahren waren Anleihen schon nicht mehr vollständig gezeichnet worden.35 Bei der Arbeitsrappen-Anleihe konnten sie beruhigt sein, da sie durch die streng zweckgebundene Abgabe gesichert war. Nur die ganz geringen Einkommen von weniger als 1000 Franken pro Jahr waren von der Abgabe befreit, ansonsten wurden alle Einkommen aus selbstständiger und nicht selbstständiger Arbeit belastet.36 Die so flüssig gemachten Gelder sollten für Maßnahmen ausgegeben werden, die einer möglichst großen Anzahl von Arbeitern zu einer Beschäftigung verhalfen – dies war dezidiert das vorrangige Ziel der Maßnahmen.37 Die staatlichen Gelder sollten private Initiativen ermutigen und den Arbeitern so mehr Geld in die Tasche bringen. Durch diese gezielten staatlichen Injektionen in den Einkommens kreislauf sollte die Gesamtwirtschaft angekurbelt werden.38 So wurde beispielsweise beim Ausbau des Basler Hafens auf die Verwendung von Baggern verzichtet, und der Aushub wurde in – teurerer – Handarbeit vorgenommen.39 Abb. 1 Das gesamte Volumen der Anleihe war zweckgebunden erstens für staatliche Bauten, deren Rentabilität gewährleistet war oder bei denen eine besonders große Zahl von Arbeits34 35 36 37
Vgl. E. Salin: Lebendige Demokratie, S. 155. Vgl. H. Teuteberg: Basler Geschichte, S. 367f. Vgl. J. Stohler: Der Basler Arbeitsrappen, S. 54. Vgl. H. Bauer: Die Entwicklung des Basler Arbeitsrappens, S. 12 sowie J. Stohler: Der Basler Arbeitsrappen, S. 50f. 38 Vgl. ebd., S. 50. 39 Vgl. H. Bauer: Die Entwicklung des Basler Arbeitsrappens, S.15.
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1 — Aufnahme vom Bau des Hafenbeckens 2 im Rheinhafen Basel-Kleinhüningen, circa 1938, Fotograf unbekannt.
kräften beschäftigt werden konnte, zweitens für die Subventionierung (bis zu 15 Prozent, rückzahlbar innerhalb von drei Jahren) von Bauten gemeinnütziger Körperschaften sowie drittens für die Gewährung von Baukrediten an solche Körperschaften.40 Aber das Arbeitsrappengesetz griff darüber hinaus noch auf andere Weise in die Wirtschaft des Kantons ein. So wurde die Geltung der Gesamtarbeitsverträge zwischen Arbeitgebern- und Arbeitnehmern für zehn Jahre fest verankert, sodass eine weitere Absenkung der Löhne nicht mehr zu befürchten war.41 Auch wurden der Stundenlohn und annehmbare Arbeitsbedingungen garantiert und einklagbar gemacht. Dafür waren beide Seiten an eine Friedenspflicht gebunden, das heißt, Streiks und Arbeitskämpfe, wie es sie in den Jahren zuvor oft in Basel gegeben hatte, waren für diese Zeit ausgeschlossen.42 Die Gesamtarbeitsverträge wurden durch das Einigungsamt kontrolliert, das Verletzungen ahnden konnte.43 Für viele Gewerbe wurden sogar erst im Zusammenhang des Arbeitsrappens Gesamtarbeitsverträge ausgearbeitet.44 Denn es wurde festgelegt, dass durch die Anleihe geförderte Aufträge nur solchen Firmen übertragen werden konnten, die einem Gesamtarbeitsvertrag beigetreten waren (und damit also die tariflich festgelegten Löhne bezahlten). Das führte in der Folge zu einer Flut von Beitritten, denn natürlich 40 Vgl. J. Stohler: Der Basler Arbeitsrappen, S. 53. 41 Vgl. ebd., S. 58. 42 Vgl. H. Bauer: Die Entwicklung des Basler Arbeitsrappens, S. 11; J. Stohler: Der Basler Arbeitsrappen, S. 60. 43 Vgl. H. Bauer: Die Entwicklung des Basler Arbeitsrappens, S. 13. 44 Vgl. Salin, Edgar: Der Arbeitsrappen und seine wirtschaftliche und sozialpolitische Bedeutung, Referat von Prof. Dr. E. Salin, Basel, am Kongress des Christlichen Holzund Bauarbeiterverbandes der Schweiz. Schwyz, 25. Juni 1939, Zürich 1939, S. 4.
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wollte sich kein Unternehmen die Chance auf die Arbeitsrappen-Aufträge entgehen lassen. Firmen von außerhalb des Kantons, deren Arbeitnehmer keine Arbeitsrappen-Abgabe leisteten, waren von den Aufträgen ausgeschlossen. Über die Auftragsvergabe entschied ein neu gegründeter Arbeitsbeschaffungsrat. Größere Bauprojekte mussten per Volksentscheid bewilligt werden.45 Dieses Konzept veröffentlichten Salin und seine Verbündeten im Februar 1936 und legten es im Juni dem Großen Rat der Stadt Basel vor, der es am 11. September nach heftigen Debatten annahm.46 Letztendlich hatten nur die Kommunisten es abgelehnt, während die Sozialisten, Liberalen und die Gewerbepartei es befürworteten und die radikale Partei schwankte.47 Damit der Plan in Kraft treten konnte, musste er im direktdemokratischen Basel allerdings zusätzlich in einer Volksabstimmung akzeptiert werden.48 Diese wurde für den Oktober angesetzt. Von seinen Gegnern wurde die »Negersteuer« 49 im Vorfeld heftig befehdet, weil sie die Gewerbefreiheit einschränke, die Einkommen zusätzlich belaste und zu einseitig das Baugewerbe fördere.50 Das Gesetz wurde schließlich dennoch mit 13.625 Jastimmen zu 12.027 Neinstimmen knapp angenommen und konnte in Kraft treten.51 Die erste Rate der Anleihe, die schon im Oktober 1936 aufgelegt wurde, betrug 10,5 Millionen Franken.52 Sie wurde zu 3,5 Prozent verzinst und war innerhalb von sechs Jahren tilgbar. In der Tat wurde sie vollständig gezeichnet und erwies sich, ebenso wie die weiteren Arbeitsrappen-Anleihen in den nächsten Jahren, als großer Erfolg. Im Hinblick auf die Arbeitsbeschaffung zahlte sich das Konzept wirtschaftlich und politisch aus: Die Arbeitslosigkeit in Basel ging bis 1938 um ein Drittel zurück, und die Sozialdemokraten konnten ihre Mehrheit im Regierungsrat bei den Wahlen erfolgreich verteidigen.53
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Vgl. H. Bauer: Die Entwicklung des Basler Arbeitsrappens, S. 14. Vgl. J. Stohler: Der Basler Arbeitsrappen, S. 49. Vgl. E. Salin: Lebendige Demokratie, S. 163. Vgl. H. Bauer: Die Entwicklung des Basler Arbeitsrappens, S. 12. R. Teuteberg: Basler Geschichte, S. 368. Der öffentliche Diskurs über den Arbeitsrappen im Vorfeld der Abstimmung und in den Jahren danach wurde bisher noch nicht eingehend untersucht. Auf Grund der reichhaltigen Quellen eröffnet sich hier ein überaus vielversprechendes Forschungsfeld. 51 Gesetz vom 11.09.1936 über dringliche Maßnahmen zur Milderung der Wirtschaftskrise im Kanton Basel-Stadt, Basler Gesetzessammlung, Bd. 37, S. 144ff., zitiert nach J. Stohler, S. 49. Das Frauenstimmrecht wurde im Kanton Basel-Stadt erst 1966 eingeführt, was die geringe Zahl der abgegebenen Stimmen erklärt. 52 Vgl. ebd., S. 52. 53 Vgl. H. Berner: Kleine Geschichte der Stadt Basel, S. 215.
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Bauprojekte Der Arbeitsrappen wurde in Basel von 1936 bis in das Jahr 1984 erhoben.54 Bei der Einführung mitten in der Weltwirtschaftskrise stand der Gedanke der Arbeitsbeschaffung im Vordergrund. Einen wichtigen Posten stellte deshalb der schon erwähnte Ausbau des Hafens durch die Anlage eines zweiten Hafenbeckens dar.55 Hier nahmen bereits im November 1936 drei Firmen unter Beschäftigung von 120 Arbeitslosen ihre Arbeit auf, die im Sommer 1940 abgeschlossen war. Daneben wurde ein Neubau des Schlachthofes in Angriff genommen: 56 eine Erweiterung der Hauptwerkstätten der Basler Straßenbahnen,57 ein Neubau des Bürgerspitals 58 sowie Um- und Er weiterungsbauten an zahlreichen anderen Spitälern, Altersheimen und Kinderkrippen.59 Die Historisch und Antiquarische Gesellschaft zu Basel konnte eine Unterstützung der Restaurationsarbeiten im römischen Theater in Augst erwirken,60 die Öffentliche Krankenkasse den Neubau eines Verwaltungsgebäudes,61 und auch der Ausbau des Stadions St. Jakob wurde begonnen.62 Entscheidend für die Unterstützung war jeweils nur, dass Arbeitsplätze erhalten oder neu geschaffen wurden und dass die beteiligten Firmen Mitglieder des Gesamtarbeitsvertrages waren. Mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges und der Mobilmachung trat das Problem der Arbeitslosigkeit zunächst in den Hintergrund. Dennoch wurde der Arbeitsrappen beibehalten: Eine Initiative zu seiner Abschaffung im Jahr 1941 scheiterte, da die Bevölkerung die geförderten Projekte offensichtlich als sinnvoll erachtete. 54 Die Bauvorhaben, die in Basel im Zuge dieses Programms durchgeführt wurden, illustriert Meier, Eugen A.: Der Basler Arbeitsrappen 1936–1984: Die Geschichte eines genialen Sozialwerkes und dessen Auswirkungen auf die städtebauliche Entwicklung Basels, Basel 1984. 55 Vgl. E. A. Meier: Der Basler Arbeitsrappen, S. 392. 56 Vgl. ebd., S. 397. 57 Vgl. ebd., S. 406f. 58 Der Neubau des Bürgerspitals, seit 1973 Kantonsspital, wurde seit 1917 diskutiert, siehe Architektengemeinschaft E.&P. Vischer/ Baur, Hermann /Bräuning, Leu & Düring, Architekten BSA, SIA, Basel: Neubau des Bürgerspitals in Basel, in: Werk. Schweizerische Monatszeitschrift für Architektur, Kunst, Künstlerisches Gewerbe 31, Heft 4 (1944), S. 109–111. Der ausführende Hermann Baur war einer der führenden Architekten Basels, in dessen Werk »sowohl die Formensprache des Neuen Bauens wie auch die über das Individuelle hinausgehenden stilistischen Veränderungen des 20. Jh.« verwirklicht sind, vgl. Jehle-Schulte Strathaus, Ulrike: Baur, Hermann, in: Historisches Lexikon der Schweiz, http://www.his-dhs-dss.ch/textes/d/D27313.php vom 12.11.2012. 59 Vgl. E. A. Meier: Der Basler Arbeitsrappen, S. 411f. 60 Vgl. ebd., S. 467ff. 61 Ebd., S. 475. Die erst 1914 gegründete ÖKK war eine Krankenkasse für breite Bevölkerungsschichten und ein wesentliches Element der Basler Sozialpolitik, siehe H. Berner: Kleine Geschichte der Stadt Basel, S. 206. 62 Vgl. E. A. Meier: Der Basler Arbeitsrappen, S. 487.
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Neben das Ziel der Arbeitsbeschaffung trat das Ziel einer umfassenden Verbesserung des Lebensraumes Stadt. Entsprechend wurden nun immer mehr kulturelle und soziale Projekte sowie solche der Hygiene und Gesundheitsvorsorge mithilfe des Arbeitsrappens gefördert. Im Jahr 1940 begann man etwa mit dem Bau einer Kehrichtverbrennungsanlage. Im Krieg wurde die Automobilindustrie durch Kredite unterstützt,63 aber auch der Buchdruck und das Schreinergewerbe, um die negativen Kriegsfolgen abzufedern.64 Im Mittelpunkt stand damit nicht mehr die bloße Schaffung von Arbeitsplätzen, sondern die Qualität der Maßnahmen, die man aus den Anleihen finanzieren konnte. Nach dem Krieg erlebte die Wirtschaft auch in der Schweiz Boomjahre, und über mangelnde Arbeitsplätze konnte man sich auch in Basel nicht beklagen. Dennoch wurde der Arbeitsrappen auch weiterhin beibehalten, und das Geld für verschiedene Projekte im öffentlichen Raum verwandt: Anfang der 1950er Jahre wurden das Elefantenhaus und zahlreiche andere Bauten im Zoologischen Garten neu gebaut.65 Immer wichtiger wurde die Altstadtsanierung, auf die große Summen verwandt wurden: Man offerierte renovierungswilligen Hausbesitzern günstige Kredite. Das Stadtbild Basels, das schon Ende des 19. Jahrhundert stark historisiert worden war,66 veränderte sich durch die Sanierungsmaßnahmen weiter. Ziel der Restaurierungen war es, die Lebensbedingungen zu verbessern und die ursprüngliche Bebauung (oder das, was man als solche postulierte) so weit wie möglich wiederherzustellen, wobei insbesondere spätere Zubauten entfernt wurden. Abb. 2 Daneben wurden mit der Anleihe aber auch Kirchenrenovierungen finanziert (beispielsweise die Leonhardskirche und die Predigerkirche) 67 und der Bau eines Lehrlingsund Mädchenheims.68 Durch einen Anschlusskredit zur Sanierung schützenswerter Bauwerke aus ordentlichen Staatsmitteln konnte das Projekt von 1975 bis 1983 noch einmal weitergeführt werden.
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Vgl. ebd., S. 496ff. Vgl. ebd., S. 498f. Vgl. ebd., S. 490. Vgl. Vinken, Gerhard: »Die neuen Ränder der alten Stadt. Modernisierung und ›Altstadt-Konstruktion‹ im gründerzeitlichen Basel«, in: Stadtformen. Die Architektur der Stadt zwischen Imagination und Konstruktion, Lampugnani, Vittorio Magnago/Noell, Matthias (Hg.): Zürich 2005, S. 131–141. 67 Vgl. E. A. Meier: Der Basler Arbeitsrappen, S. 440. 68 Vgl. H. Bauer: Die Entwicklung des Basler Arbeitsrappens, S. 20.
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2 — Zwei Modelle zur »Altstadtsanierung« (»heutiger Zustand« und »projektierter Zustand«), 1943. Foto: Atelier Eidenbenz.
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Keynesianische Wirtschaftspolitik Salin legte später großen Wert darauf, dass er sein erstes Gutachten zur Einführung des Arbeitsrappens geschrieben habe, ehe die Allgemeine Theorie von Keynes publiziert und bekannt geworden sei. Die Ausgangssituation von Keynes’ Arbeit sei der seinen aber ebenso ähnlich wie die Schlussfolgerungen.69 In der Tat hatte Salin mit seinem Konzept eine wichtige Strömung der Nationalökonomie getroffen. Er entfernte sich von der alten kathedersozialistischen und konservativen Vorstellung von Sozialpolitik, die lediglich durch Sozialfürsorge die Folgen des kapitalistischen Liberalismus abmildern und das Auseinanderfallen des Staates in Arm und Reich verhindern wollte. Stattdessen berief er sich ebenso wie Keynes auf das Recht jedes einzelnen Bürgers auf Arbeit.70 Salin nannte diese Haltung »ein Gefühl der Verpflichtung gegenüber jedem Staatsbürger, ihn als produktives Glied der Gemeinschaft in den Staats- und Wirtschaftsbau einzuschalten«.71 Da die Probleme in der überkommenen Wirtschaftsordnung begründet seien, müsse diese grundlegend reformiert werden, und zwar durch eine aktive staatliche Konjunkturpolitik, die die Privatwirtschaft unterstützen und stärken, aber sie nicht aufheben solle.72 Salin, der bereits kurz nach dem Ersten Weltkrieg mit gemeinwirtschaftlichen Ideen sympathisiert hatte,73 sah hier eine Möglichkeit, seine Vorstellung von einem starken, die Wirtschaft gestaltenden Staat in die Praxis umzusetzen. Er hielt nichts davon, dass der Staat sich als »Nachtwächterstaat« aus der Gestaltung der Wirtschaft heraushalten sollte, wie die neoklassische Wirtschaftstheorie das forderte. Vielmehr war er der festen Überzeugung, dass der Staat lenkend und aktiv gestaltend in die Wirtschaft eingreifen und diese formen sollte. Die bei vielen Denkern im Umfeld der Konservativen 69 Vgl. E. Salin: Lebendige Demokratie, S. 158. Salins Gutachten: Salin, Edgar: Wege und Ziele der Arbeitsbeschaffung im Kanton Basel-Stadt, in: Ratschlag und Entwurf zu einem Gesetz über dringliche Maßnahmen zur Milderung der Wirtschaftskrise im Kanton Basel-Stadt, Drucksache Nr. 3579, Anhang B, S. 29. August 1936. J. Stohler analysiert genau die beschäftigungstheoretische Grundlage des Arbeitsrappens, vgl. Der Basler Arbeitsrappen, S. 95–175, insbesondere S. 126–131. Er arbeitet Übereinstimmungen und Abweichungen des Basler Programms mit der modernen Beschäftigungstheorie heraus: »In dieser Absage an die »do-nothing-policy« liegt die grundsätzliche Übereinstimmung des Basler Programms von 1936 mit einer Beschäftigungspolitik, die sich aus der modernen makroökonomischen Theorie deduzieren läßt.« (S. 124). 70 Vgl. Salin, Edgar: Von der Sozialpolitik zum Recht auf Arbeit. Bemerkungen zur Sinndeutung der neuen Wirtschaftspolitik, Basel 1941, S. 260ff. 71 Ebd., S. 290. 72 Vgl. Salin, Edgar: Entwicklungshilfe – Mittel des Aufstiegs oder des Verfalls? Diskussionsleiter: Edgar Salin, Referent: D. F. Schumacher, Korreferent: Walter Rau (Bergedorfer Protokolle, Bd. 9), Hamburg 1965, S. 122. 73 Vgl. K. Schönhärl: Wissen und Visionen, S. 261ff.
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Revolution, ganz besonders aber im George-Kreis typische Semantik von der Formung und Auflösung als sich ausschließende Gegensatzpaare konnte Salin dabei ebenso bruchlos in seine ökonomische Argumentation übernehmen wie die von dem Ganzen, das mehr sei als die Summe seiner Teile.74 »Formung der Stadt, der Stadt Form geben, die Stadt in Form bringen heißt: die Stadt aus einer Agglomeration einer anonymen Masse wieder in einen lebendigen Organismus, in eine Gemeinschaft von Stadtbürgern verwandeln.« 75 Aber nicht nur diese semantische Ebene zeigt Salins enge Bindung an den George-Kreis. Vielmehr erklärte der Ökonom den Dichter auch gleich zur Verkörperung jener Urbanität, um die es ihm ging: »Unter den Menschen meiner Lebenszeit wüßte ich keinen zu nennen, der urbaner als er im Umgang gewesen wäre, und diese deutsche Urbanität war so besonders reich, weil sie ohne den soziologischen Raum und darum besonders frei und stark sich entwickeln mußte; sie vertrug sich bei George durchaus mit seiner bäuerlichen Abkunft und wurde nur reizvoller durch bleibend-bäuerliche Züge.« 76 In einem Vortrag von 1939, also drei Jahre nach der Verabschiedung des Arbeitsrappengesetzes, interpretierte Salin dieses als einen »Akt echter Solidarität«, und zwar zwischen Arbeitern und Arbeitslosen ebenso wie zwischen Meistern und Arbeitern, also zwischen allen Einwohnern der Stadt als ganzer. »Durch eine feste Ordnung« sei die Solidarität herbeigeführt und für eine gewisse Zeit gesichert worden.77 Durch die Beschäftigung der Arbeitslosen sei zudem die »Gefahr des Klassenkampfes« und einer Radikalisierung der Arbeiter gebannt worden, und das in einer Stadt mit stark klassenkämpferischer Arbeiterschaft.78 Wichtig für die Erstellung und Einhaltung dieser Ordnung und für den nötigen »Opferwillen für die Allgemeinheit« 79 erschien ihm die Erziehung zur Solidarität und Kollegialität durch den Staat. »Ihr seid alle wie auf einem gleichen Schiff, das man flott erhalten muss.« 80 Durch die Kooperation der Arbeitgeber und Arbeitnehmer würden die Stadtbewohner zur Solidarität erzogen: Salin hielt »Erziehungsarbeit« für notwendig, um das Konzept in die Tat umzusetzen.81 Aus Stadtbewohnern müssten Stadtbürger
74 Ausführlicher zu den für den George-Kreis typischen Semantiken in K. Schönhärl: Wissen und Visionen, S. 18–25. 75 E. Salin: Urbanität, S. 31. 76 Ebd., S. 19f. 77 E. Salin: Arbeitsrappen, S. 1, 3. 78 Ebd. 79 E. Salin: Lebendige Demokratie, S. 163. 80 E. Salin: Arbeitsrappen, S. 4. 81 Ebd., S. 12.
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werden.82 Beschäftigungspolitische Programme könne man nie gegen den Widerstand der Einwohner durchführen, sondern nur durch ihre Kooperation 83 – es sei denn, man verordnet ihre Durchführung diktatorisch von oben. Den Abstand, ja Gegensatz des ArbeitsrappenKonzepts zum wirtschaftspolitischen Liberalismus unterschlug Salin im Rückblick nicht (im Vorfeld hatte er mit diesen Details lange hinter dem Berg gehalten, um das Zustandekommen nicht zu gefährden, wie er später selbst gestand) 84: Das Gesetz legte weitgehende staatliche Eingriffe in die Gestaltung der Wirtschaft fest. So wurde eine staatliche Kontrolle der Arbeitsverträge, der Löhne, Preise und Submissionsverordnungen 85, die Beschränkung der Zahl der Betriebe, beispielsweise durch Meister- und Gesellenprüfungen, die Vergabe von Konzessionen und die Verpflichtung zur Stellung von Kautionen festgelegt.86 Außerdem wurden die Firmen von außerhalb des Kantons von der Auftragsvergabe ausgeschlossen. Der freie Wettbewerb werde so entscheidend eingeschränkt, gab Salin zu. Er führte auch aus, welche Kritik es an diesem System gegeben habe: »Die einen sagten: das sei berufsständische Ordnung; die andern: faszistische (sic) Ordnung; die dritten: das führt zum Korporationsstaat.« 87 In der Tat stellt sich die Frage, inwiefern staatlich gesteuerte Wirtschaft in einem liberalen, demokratischen Staat möglich ist – ein Problem, das Salin durchaus sah und ernst nahm. Auch Keynes war sich wohl bewusst, dass eine solche Politik sich in einem autoritären Staat viel leichter durchsetzen lassen würde als in einer funktionierenden Demokratie.88 Salins Antwort auf die Vorwürfe war bezeichnend: »Wir sagten damals, dass es uns gleich sei, wie man es nenne; die Hauptsache sei die Ordnung, die in der gewerblichen Wirtschaft endlich einmal geschaffen werden müsse.« 89 Ordnung und Formung, die dem
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Vgl. E. Salin: Urbanität, S. 33. Vgl. J. Stohler: Der Basler Arbeitsrappen, S. 128. Vgl. E. Salin: Lebendige Demokratie, S. 159. Submission bedeutet, dass der Staat seine Aufträge mittels öffentlicher Ausschreibung vergeben muss, vgl. J. Stohler: Arbeitsrappen, S. 66. Vgl. E. Salin: Sozialpolitik, S. 273. E. Salin: Arbeitsrappen, S. 11. In Keynes' Vorwort zur deutschen Ausgabe: Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes, München und Leipzig 1936, ist die Rede davon, dass seine wirtschaftspolitischen Forderungen sich in einem totalen Staat leichter umsetzen ließen als in einem demokratischen. Es ist jedoch nicht klar, ob dieser Einschub wirklich von Keynes selbst stammt, vgl. Schefold, Bertram: The General Theory' for a totalitarian state? A note on Keynes' preface to the German edition of 1936, in: Cambridge Journal of Economics 4 (1980), S. 175–176. Weitere Äußerungen Salins zu der Problematik in K. Schönhärl: Wissen und Visionen, S. 274. Ebd., S. 11.
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Chaos und der Auflösung Einhalt gebieten sollte – darum ging es Salin ganz wie seinem »Meister« Stefan George. Allerdings wurde der Arbeitsrappen in Basel gerade nicht von oben diktatorisch verordnet, sondern vielmehr in einem Bürgerentscheid akzeptiert, ebenso wie jedes der großen Bauprojekte, die später darüber finanziert wurden. Gerade die direkte Basler Demokratie ermöglichte die Umsetzung von Salins beschäftigungspolitischem Programm. Für den neokonservativen Ökonomen war das eine ganz neue Erfahrung: Nach dem Ersten Weltkrieg war er noch für eine völlige Unterordnung des Einzelnen unter die Interessen der Gemeinschaft eingetreten 90 und hatte sich über die moderne Demokratie, wie er sie in der Weimarer Republik erlebte, höchst kritisch geäußert. Ihm hatte eine antimoderne, streng hierarchische Gemeinschaft statt einer individualisierten Gesellschaft als ideales Staatsmodell vorgeschwebt.91 Dass man seine Vorstellung von Wirtschaftspolitik in einer modernen Massendemokratie umsetzen könne, hatte er nicht für möglich gehalten. Hier in Basel machte er nun die Erfahrung, dass seine Vorstellung von einem starken, die Wirtschaft formenden Staat sich gerade in der direkten Demokratie umsetzen ließ. Insbesondere die Volksabstimmung über die Einführung des Arbeitsrappens im Jahr 1936 machte es für Salin nötig, seinen »Vorsatz, dem eigentlichen politischen Kampf fernzubleiben, trotz aller persönlichen und politischen Bedenken aufzugeben« 92 und sich mitten in den basisdemokratischen Entscheidungsprozess hineinzubegeben, um für die Realisierung der Pläne zu kämpfen. Er setzte sich mit Regierungsräten, Verbänden und Parteien auseinander, er verhandelte mit Arbeitgebern und Gewerkschaften und kam in direkten Kontakt mit der Wahlbevölkerung: »Vom 21. September bis zum 30. September verging kaum ein Abend ohne Versammlung, Referat, Diskussionsrede, Schlußvotum.« 93 Salin war offensichtlich zu dem Ergebnis gekommen, dass seine Vorstellung vom starken Staat mit der Verfassung der Demokratie, zumindest der Schweizer Basisdemokratie, vereinbar war. Fast 30 Jahre später, im Jahr 1962, bewertete er rückblickend in einem Artikel mit dem bezeichnenden Titel Lebendige Demokratie. Der Basler Arbeitsrappen von 1936 90 Auch in den 1970er Jahren stellt er in seinen Schriften zur Stadtplanung das Gemeinwohl über das Eigenwohl, z.B. was den Umgang mit Eigentum anging. Er zitierte hierzu aus dem Grundgesetz, dass Eigentum verpflichte und dem Wohl der Allgemeinheit dienen solle, s. E. Salin: Urbanistik, S. 877; ähnlich in Salin, Edgar: Werner Bockelmann. 1907–1968, in: Mitteilungen der List Gesellschaft, Fasc. 6, Nr. 10 (1968), S. 241–251, 248. 91 Vgl. K. Schönhärl: Wissen und Visionen, S. 264–268. 92 E. Salin: Lebendige Demokratie, S. 165. 93 Ebd., S. 165.
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die persönliche Bedeutung seines Einsatzes für eine demokratische Entscheidung. Er sei damals zu der Einsicht gekommen: »Die Politik ist die Stätte des Kompromißes. Wie sehr haben wir in unsrer Jugend uns gegen diese Einsicht gesträubt, wie verächtlich erschien uns ein Kompromiß, aus dem wir gleich auf eine ›kompromißlerische Haltung‹ und auf Rückgratlosigkeit schlossen.« 94 Nach der Erfahrung des Arbeitsrappens hatte sich Salins Haltung deutlich gewandelt: »Freie Diskussion aber war, ist und bleibt ein Lebenselement aller echten, funktionsfähigen Demokratie.« 95 Der Umzug und die aktive politische Wirkung in der Schweiz sowie die Beobachtung des nationalsozialistischen Deutschland vom neutralen Basel aus hatten das Umdenken bewirkt: »Erst die lebendige Demokratie der Schweiz hat mich eines Besseren belehrt«, räsonierte Salin.96 »Erst die aktive Mitwirkung an der Sozialverwaltung und an der Gesetzgebung der Stadt« habe »den Frankfurter zum Bürger von Basel […] werden lassen«,97 und als solchen zum Demokraten. Auch Salin selbst wurde also durch die Arbeit am Arbeitsrappen geformt. Ausdrücklich betonte er, die lebendige Demokratie müsse ihre Existenz in Notzeiten dadurch sichern, dass sie »durch schöpferische Bewältigung von Sachfragen die Aktivbürgerschaft zu unabhängigem Denken und zu unabhängiger Stimmabgabe aufruft und nötigt«.98 Dann seien im kleinen Raum auch »heute noch die Möglichkeiten der klassischen Demokratie vorhanden«,99 insbesondere in der Basisdemokratie.100 Mit »kleinem Raum« meinte Salin ausdrücklich die Stadt: »Alle klassische Demokratie war und ist eine Demokratie der Stadt.« 101 Auch wenn der Ökonom nach wie vor die Schwierigkeit betonte, die demokratische Entscheidungsfindung und Willensbildung im Vergleich zur Monarchie für die Stadtplanung bedeuteten, hatte er seine Bewertung der Demokratie, und vor allem der Demokratie in der Stadt, entscheidend modifiziert.102 Das »Leben der Demokratie« verdanke sich »nur dem fortdauernden, einsatzbereiten Staatsbewußtsein der Gesamtheit der demokratischen Bürgerschaft« 103 wie es beispielsweise im Arbeitsrappen zum Ausdruck komme, aber von ihm wieder94 95 96 97 98 99 100 101 102
Ebd., S. 154. Ebd., S. 153. Ebd., S. 154. Ebd., S. 155. Ebenso auch in E. Salin: Urbanität, S. 33. E. Salin: Lebendige Demokratie, S. 169. Ebd., S. 168. Vgl. Ebd., S. 169. Ebd., S. 168. Vgl. Salin, Edgar: »Zum Geleit«, in: Die Stadt zwischen Gestern und Morgen. Planung, Verwaltung, Baurecht und Verkehr, in: Bockelmann, Werner/ Hillebrecht, Rudolf/ Lehr, Albert Maria (Hg.), Basel/Tübingen 1961, S. VII–XIII, X. 103 E. Salin, Lebendige Demokratie, S. 170.
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um gefördert werde. Mit dieser Definition schließt sich der Kreis zu dem Begriff der Urbanität im Werk Salins, von dem dieser Aufsatz ausging. Im Arbeitsrappen sah Salin ein Paradebeispiel dafür, wie das Konzept zur Lösung einer Sachfrage die Bürger einer Stadt, inklusive seines Schöpfers, erziehen und die Bürgergemeinschaft der Stadtbürger im Sinne der Urbanität formen konnte. Urbanität als Solidarität der Bürger Der Aufsatz ging von der Frage aus, ob Salins Deutung des Begriffs der Urbanität, die vom Bürger und nicht vom Stadtraum ausgeht, nur praxisferne Kulturkritik ist, wie Dirksmeier urteilt. Um dies zu überprüfen, wurde ein Fall untersucht, in dem der Ökonom die Möglichkeit hatte, praktisch an der Stadtentwicklung mitzuwirken: Basel in den 1930er Jahren. In dem von der Weltwirtschaftskrise geschüttelten Kanton trug er maßgeblich zur Etablierung des Arbeitsrappens bei, der durch eine Abgabe auf alle Löhne die Etablierung eines groß angelegten Arbeitsbeschaffungsprogramms ermöglichte. Es zeigte sich, dass Salin das Konzept vor allem als Ausdruck der Solidarität der Stadtbürger untereinander verstanden wissen wollte, die den sozialen Frieden sicherte. Die konkreten Bauprojekte waren für ihn dagegen nur von nachrangiger Bedeutung. Wichtig war vielmehr die Formung einer Gemeinschaft der verantwortungsvollen Bürger. Bei der Beschreibung dieser positiven Auswirkungen des Arbeitsrappens bediente sich Salin der Semantiken von dem Ganzen und seinen Teilen sowie von der Auflösung und Formung, die im George-Kreis typisch waren und hier einen stark transzendenten Sinngehalt aufwiesen: »Jeder Künstler und also auch jeder Städtebauer weiß, daß jede Form einen Gehalt birgt, einen Geist ausdrückt.« 104 Dennoch war das Konzept in der Basler Spielart gerade nicht im hierarchischen Sinne von oben verordnet, sondern basisdemokratisch legitimiert, was Salins Einschätzung des wirtschaftspolitischen Potenzials der Demokratie als Staatsform nachhaltig positiv beeinflusste. Das Beispiel zeigt, dass Salin hier eine Möglichkeit sah, Urbanität von den Bürgern der Stadt und ihrer Gemeinschaft her und erst in zweiter Linie vom urbanen Raum aus zu denken und diese Vorstellungen in praktisches ökonomisches Handeln umzusetzen – zumindest noch in den 1930er Jahren. Die Hoffnung, die Salin in die Urbanität setzte, scheint sich in den nächsten Jahrzehnten jedoch stark verdüstert zu haben, sodass er sie 1960 auf dem Städtetag in Augsburg provokanterweise für abgestorben erklärte.105 Dieses Urteil traf er 104 E. Salin: Urbanität, S. 24f. 105 Ebd., S. 23f. Siehe dazu den Beitrag von Karin Wilhelm in diesem Band, S. 64.
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nicht nur für die deutschen Städte, wo er das Absterben der Urbanität vor allem auf die Herrschaft des Nationalsozialismus zurückführte, sondern auch für die Schweizer Städte und insbesondere für Basel.106 Ob die Tatsache, dass der Arbeitsrappen sich inzwischen von einem Solidaritäts- zu einem reinen Stadtverschönerungsprogramm entwickelt hatte, dabei eine Rolle spielte, kann nur vermutet werden. Noch zehn Jahre später jedenfalls, im Alter von 78 Jahren, warnte Salin davor, »dass das Gebilde, das man dann noch Stadt nennt, in Wirklichkeit einem Ameisenhaufen gleicht« 107 – der Leser fühlt sich nun an Georges abfälliges Bild von der »anglo-amerikanischen Normalameise« 108 erinnert. Dirksmeiers Unverständnis bei einer solchen Begrifflichkeit ist begreiflich, da er Salins praktische Stadtformungsversuche offenbar nicht kennt. Die Möglichkeit, dass die Urbanität in seinem Sinne wiedergeboren werden könnte, schloss Salin, dessen Freude an der Provokation seines Publikums man bei der Beurteilung seiner Schriften nie ganz außer Acht lassen darf, allerdings auch in seinen letzten Lebensjahren nicht aus.109 »Auch die neue Stadt kann nur dann ihre Form finden, wenn es gelingt, ihre Einwohner am Stadtregiment zu interessieren, sie politisch zu erziehen und sie durch Mitverantwortung zu echten Bürgern werden zu lassen.« 110 Es ist ein spannendes Denkexperiment, sich Salins Kommentare zu den Auseinandersetzungen um das Planungsvorhaben Stuttgart 21 vorzustellen.
106 1970 schrieb Salin, das »langsame[s] Verblassen« der Urbanität in den Stadtkantonen der Schweiz bedürfe einer gesonderten Darstellung. Er nannte hier Basel, Genf und Bern, die eine »Urbanität antiken Stils entwickelt« hätten, »da eine hohe Bildung sich mit der Teilnahme am Stadtregiment vereinigte.« Diese sei dann jedoch verblasst und das alte Bürgertum und Patriziat habe in der Vermassung der Kantone seine Bedeutung verloren (E. Salin: Urbanistik, S. 876). 107 E. Salin: Urbanistik, S. 879. 108 Edith Landmann zitiert Stefan George: »Was er kommen sähe, sei die Vernichtung aller eigentlichen Völker und der Sieg der anglo-amerikanischen Normalameise.« Landmann, Edith: Gespräche mit Stefan George, Düsseldorf/München 1963, S. 34. 109 Vgl. E. Salin: Zum Geleit, S. XIII. Auch Salin: Urbanität, S. 32. Die zentrale Rolle sollte dabei die Bildung spielen, vgl. ebd., S. 29. 110 E. Salin: Urbanität, S. 32.
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» … T R ÄU M E , D I E V E RW I R K L I C H T W E R D E N … « 1 S A L I N S S U C H E NAC H U R B A N I TÄT Karin Wilhelm Edgar Salin hat in den Debatten über die Entwicklung der wieder aufzubauenden Städte in der Bundesrepublik Deutschland (BRD) eine außergewöhnlich interessante und einflussreiche Rolle gespielt. Diese Wirkung verdankt sich vor allem einem Vortrag, den er auf Einladung des Vorstands des Deutschen Städtetages in Augsburg 1960 zum Generalthema Erneuerung unserer Städte gehalten hat. Präsident des Städtetages war zu jener Zeit der Regierende Bürgermeister von Berlin Willy Brandt, dem Salin als Mitglied der List Gesellschaft seit Längerem verbunden war und der im Verlauf der Tagung selbst Ergebnisse einer der Arbeitskreise vortrug. Als Hauptredner begrüßte man Salin, den »Professor der Staatswissenschaften an der Universität Basel«, und ehrte zugleich den »Schriftführer der List Gesellschaft«, der als Mitbegründer und Spiritus Rector der List Gesellschaft die Programmatik der Stadterneuerung umreißen sollte. Dem kam Salin in seinem Vortrag mit dem kurz und knapp formulierten Titel Urbanität nach, in dem er zunächst einmal allgemein über Formen der stadtbürgerlichen Existenz referierte, über die im Wiederaufbau des kriegszerstörten, mental zerrütteten Deutschland, wie er meinte, zu selten nachgedacht worden sei. Der Vortragstext nahm damit einen anderen Verlauf als es viele Praktiker des Städtebaus von einem Ökonomen aus der wohlhabenden Schweiz damals er wartet hatten. Salin sprach nämlich nicht als Technokrat, als einer, der mit weitschweifigen Statistiken die Lage der wirtschaftlichen Sachzwänge dokumentierte und aus wirtschaftspolitischen Standortanalysen anwendungsorientierte Rezepturen zur Stadterneuerung entwickelte. Salin sprach vielmehr als Platon-Kenner, der jetzt mit 68 Jahren die Rolle des nachdenklichen Mahners übernahm und sich als Kulturkritiker europäischer Prägung anschickte, die philosophisch politische Dimension des Begriffes und seiner Geschichte zu rekonstruieren.2 Gleich zu Beginn dieser Rede warnte Salin daher seine Hörer 1
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E. Salin an Dr. Chaim Pozner, Genf. Brief vom 16.5.1948, die Ausrufung des Staates Israel betreffend. »Sie sind zu klug, um nicht selbst zu wissen, dass Träume, die verwirklicht werden, meist dann im Licht des Tages sehr anders aussehen,…« In: UB Basel, T. MAT 1. Auf die Komplexität dieses Themas kann hier nur hingewiesen werden. In einem unveröffentlichten Vortrag Salins an der Berkeley University in San Francisco, im September 1952, »Platon. Defender or Oppressor of Democracy?« hat Salin den Demokratiebegriff als idealtypischen Charakter im Sinne Max Webers vorgestellt und darauf hingewiesen, »[…] that Plato never envisioned democracy
Kapitel I
davor, dass er auf diese Weise zu Ergebnissen kommen werde, die, wie er sagte, »den Betreuern der heutigen Städte nicht immer angenehm klingen werden«.3 Schon in dieser Formulierung deutete sich an, dass Salin das Phänomen der Urbanität vorrangig nicht als Faktum der Stadtraumgestaltung betrachten sollte, sondern als eine Erscheinungsform mentaler Sittlichkeit. Auch für den Vortragstext zur Urbanität von 1960 gilt, was Korinna Schönhärl in ihrer grundlegenden Untersuchung zum Darstellungsmodus der Reden und Schriften Salins herausgearbeitet hat, dass am Beginn der Darlegungen »fast immer ein historischer Rückblick« 4 steht. In dieser Weise hat Salin auch in Augsburg das Denken über den Begriff der Urbanität, über seine Bedeutung und seinen geschichtlichen Bedeutungswandel vorgetragen. So begann er seine Rede mit einem Rekurs auf das Athen des Perikles, wo sich aus seiner Perspektive gleichsam der Urknall der urbanen Kultur des Abendlandes ereignet hatte.5 In dieser als glücklich beschriebenen Zeit einer Polis-Demokratie, die in der Totenrede des Thukydides anschaulich zur Sprache gebracht und in der Kunstform der »sokratischen Dialoge« des Platon gleichsam poetisiert erinnert worden war,6 verortete Salin den Beginn dessen, was er als wahrhaftige Urbanität sodann entwickelt hat: die Haltung eines Menschen, »[…] den nicht der Adel der Geburt und noch weniger der Reichtum an die Spitze führt, sondern der Adel von Bildung und Leistung und Geist, die Vornehmheit der inneren und äußeren Haltung und der sichere Umgang mit Lehrern und Freunden, mit Hoch- und Gleich- und Niedrigstehenden«.7
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in a modern style […]«, UB Basel, NL114, B 355, S. 11. Zur Begriffsgeschichte der Platon-Rezeption durch Salin siehe auch: Schönhärl, Korinna: Wissen und Visionen. Theorie und Politik der Ökonomen im Stefan George-Kreis, Berlin 2009, S. 248–290; siehe dazu den Beitrag von Korinna Schönhärl in diesem Band, S. 46. Salin, Edgar: »Urbanität«, in: Deutscher Städtetag (Hg.): Erneuerung unserer Städte. Vorträge, Aussprachen und Ergebnisse der 11. Hauptversammlung des Deutschen Städtetages, Augsburg 1.–3. Juni 1960 (= Neue Schriften des Deutschen Städtetages 6), Stuttgart 1960, S. 9. Salin hat die Thematik später wiederholt in Vorträgen und Aufsätzen aufgegriffen. Wie Anm. 2, S. 164. »Das Wort Urbanität gebraucht […] Perikles in der großen Leichenrede, die Athen und die Athener feierte, nicht. Aber die Tugenden, die er an seinen Athenern preist […] machen die Urbanität aus: tätiger Bürgersinn, Liebe zum Schönen […], Liebe zum Geistigen, […]«, in: E. Salin: Urbanität, S.10. »Es sei daran erinnert, dass nach dem Willen Platons und dem Wissen des Aristoteles der Platonische Dialog eine Kunstform ist, die zwischen Poesie und Prosa die Mitte hält, […].« Salin, Edgar: Platon. Phaidros, Frankfurt a.M./Hamburg 1963, S. 92. Wie Anm. 3, S. 11.
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Platons Schriften haben Salin bekanntermaßen seit seiner Habilitation über Platon und die griechische Utopie von 1920 immer wieder beschäftigt.8 Einige der Schriften Platons hat er dann in den Jahren der NS-Herrschaft in Deutschland teilweise neu übersetzt, die unmittelbar nach dem Kriegsende publiziert wurden. In seinem Augsburger Vortrag hat Salin darauf hingewiesen, dass er das griechische Adjektiv asteios (von to astu, die Stadt oder ho astos, der Bürger abgeleitet), mit »zartfühlend […] also urban« 9 zu übersetzen pflegte. Seine Übersetzung des Phaidros hat diesen Gehalt des Urbanen dann literarisch verdeutlicht, um mit dem Wort »urban« die besondere Haltung einer Rede zu beschreiben, die über die Kraft verfügt, »volksbeglückend« und darin gemeinschaftsorientierend zu wirken.10 In dieser Bedeutung von asteios deutete Salin ein stadtbürgerliches Verhalten, das er in einem knapp gefassten Tugendkatalog, den Sokrates mit den Seinen verkörpert hatte, verdichtete: »[…] tätiger Bürgersinn, Liebe zum Schönen, ohne sich zu versteigen, Liebe zum Geistigen, ohne zu verweichlichen.« 11 In dieser Deutung erfüllte sich Urbanität in der Verantwortung des Einzelnen für die Gemeinschaft, also in tätiger Fürsorge für andere. Der wahrhaft urbane Mensch durfte daher, so Salin: »[…] nicht in reiner Kontemplation […]« verharren, sondern hatte »aus dem Reich der Ideen zur harten Wirklichkeit […]« zurückzukehren. 8
Salin, Edgar: Platon und die griechische Utopie, München/Leipzig 1921. Vier Jahre später hat sich Salin in dem Beitrag Der ›Sozialismus‹ in Hellas (1925) mit der Platon-Rezeption seiner Zeitgenossen kritisch auseinandergesetzt. Gegenüber den »sozialistisch« angelegten Interpretationen vertrat Salin die Auffassung, dass die Herrschaftsjahre des Perikles als »Nomosdemokratie« zu charakterisieren seien. Mit dem Hinweis auf die Beschreibungen des Perikles bei Thukydides (Der Peloponnesische Krieg, 2. Buch/65) betonte Salin die geistesaristokratisch begründeten, politischen Führungsfähigkeiten des Perikles, der »[…] die Masse in Freiheit im Zaume (hielt) und […] sich nicht von ihr führen (ließ), […]. So war es dem Namen nach eine Demokratie, in Wirklichkeit die Herrschaft des ersten Mannes.« Salin, Edgar: »Der ›Sozialismus‹ in Hellas«, in: Salin, Edgar (Hg.): Eberhard Gothein zum siebzigsten Geburtstag als Festgabe. Bilder und Studien aus drei Jahrtausenden, München/Leipzig 1925, S. 17–59, hier S. 49. Der Artikel von 1925 wandte sich im Geiste der Elitenherrschaft gegen jene Platon-Interpreten und Polis-Interpretationen der Zeitgenossen, die die Gleichheitsvorstellungen der modernen Demokratie bereits in der perikleischen Zeit verwirklicht sahen. Hier kann nur angedeutet werden, dass Salin sein Demokratieverständnis vor allem in den Erfahrungen mit der Basler Kommunalpolitik in den Jahren ab 1936 korrigiert und zum Teil revidiert hat. Der Urbanitätsbeitrag von 1960 ist dafür ein Beispiel. Siehe dazu auch: Schönhärl, Korinna: »Die Nationalökonomen im George-Kreis und ihre Vorstellungen von Wirtschaft und Staat«, in: Köster, Roman/Plumpe, Werner/Schefold, Bertram/Schönhärl, Korinna (Hg.): Das Ideal des schönen Lebens und die Wirklichkeit der Weimarer Republik. Vorstellungen von Staat und Gemeinschaft im George-Kreis, Berlin 2009, S. 174–194. 9 Wie Anm. 3, S. 11. 10 Salin, Edgar: Platon. Phaidros, Basel 1952, S. 114. 11 Wie Anm. 3, S. 10.
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Damit hatte Salin Urbanität als eine stadtbürgerliche Eigenschaft beschrieben, als ein gleichsam geistaristokratisch geprägtes Habitusmodell, das sich unabhängig vom physischen Baubestand einer Stadt formierte und sich im Raum der politischen Öffentlichkeit ereignete, mithin in einer Kultur des »Verwachsenseins mit der Stadt als gesellschaftlichem und politischen Gebilde«.12 Es war diese Aussage Salins, die in den Ohren der anwesenden Städteplaner und Kommunalpolitiker »nicht angenehm klingen« konnte. Immerhin gingen sie davon aus, dass es die Fähigkeit und das Vorrecht ihrer Profession sei, Urbanität im Stadtbild zu erzeugen. Es sei an dieser Stelle kurz angemerkt, dass wir aus dieser Aussage nicht den Schluss ziehen dürfen, Salin habe die Bedeutung des Raumes grundsätzlich unterschätzt. Das Gegenteil ist der Fall, denn im Eingedenken an die Standortlehre Alfred Webers entfaltete Salin in seinen wirtschaftstheoretischen Positionen immer auch eine planungsorientierte, territorial argumentierende Raumtheorie und eine definierte Stadtbildvorstellung, die allerdings am Vorkriegsbestand der ehemaligen deutschen Handels- und freien Reichsstädte, wie Frankfurt am Main und vor allem an Basel, orientiert blieb. Salins Urbanitätskonzept, das er in den Jahren nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges mehrfach expliziert hat, ist unzweifelhaft einer Platon-Lektüre geschuldet geblieben, die mit »den Augen Stefan Georges« geleistet worden war.13 Und doch sollte nicht übersehen werden, dass hier ebenso Georg Wilhelm Friedrich Hegels Darstellung der »attischen Urbanität« noch einmal aufschien. Schließlich gehörte Hegel wie einst Platon mittlerweile selbst zu jenen »geharnischten« Geistern, die im 19. Jahrhundert, so Franz Rosenzweig, an der Tafel jener Platz genommen hatten, die im beginnenden 20. Jahrhundert die »Messung des Staates der Gegenwart am Maßstab der Polis« vorzunehmen gelernt hatten.14 Im intellektuellen Umkreis Salins jedenfalls befand man sich mit diesen Gästen immer noch in lebhaftem Gespräch, wenn es darum ging, Staats- und Stadtverfassungen oder Vergesellschaftungsprozesse neu zu durchdenken. Dass Salin schließlich ein, um es mit einem Begriff der heutigen Stadtsoziologie zu sagen, durchaus »praktologisch« orientiertes Urbanitätskonzept verfolgte, also Urbanität als Folge einer nicht vordringlich 12 Wie Anm. 3, S. 31. 13 Salins Verweise auf die Architektur und vor allem die Skulptur der griechischen Klassik sind »georgianisch« geprägt. Siehe dazu: Karlauf, Thomas: Stefan George. Die Entdeckung des Charisma, München 2007, S. 401ff. 14 Rosenzweig, Franz: Hegel und der Staat, Frankfurt a.M. 2010, S. 28 (Erstausgabe 1920). Der mit Salin eng befreundete Emil E(rwin) von Beckerath hat Rosenzweigs Veröffentlichung aktiv unterstützt. Salin dürfte Rosenzweigs Buch bekannt gewesen sein.
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raumgebundenen humanen Praxis thematisieren konnte, war in Hegels Darstellung vorbereitet worden und wirkte nach. Dieser Einfluss sei kurz skizziert: Dem großen Komplex der Philosophie Platons hatte Hegel in den Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie breiten Raum gegeben. Bereits in der Darstellungsform des dialogischen Philosophierens, im Wechselspiel des Streitgesprächs also, hatte er jenen Ausdruck gefunden, den er als »edelste […] Urbanität gebildeter Menschen« charakterisierte. Dieser faszinierend zivilisierten Form des Dialogs attestierte Hegel eine »Feinheit des Betragens«, die auf der Akzeptanz des Anderen gründete. Im Gegensatz zu einem Bellizismus der Sprache und einer aggressiven Gestik des Sprechenden zeigte sich Urbanität in Hegels Platon-Interpretation gerade in der vornehmen Eigenschaft einer aufmerksam respektvollen »Unterredung«. Denn, so Hegel: »Urbanität bleibt […] dabei stehen, dem anderen die persönliche vollkommene Freiheit seiner Sinnesart, Meinungen zuzugestehen, – das Recht, sich zu äußern (und) einem jeden, mit dem man spricht, einzuräumen […] in seiner Gegenäußerung, Widerspruch […] auszudrücken […] Bei aller Energie der Äußerung ist dies immer anerkannt, daß der andere auch verständige, denkende Person ist […] Diese Urbanität ist nicht Schonung, es ist größte Freimütigkeit; sie macht die Anmut der Dialoge Platons.« 15 Salin wird dieses diskurstheoretische Modell in den Debatten über die Modalitäten einer »lebendigen Demokratie« wieder aufgreifen. »Freie Diskussion aber war, ist und bleibt ein Lebenselement aller echten, funktionsfähigen Demokratie.« 16 Hier dürfen wir den absoluten Gegensatz zu einem Kommunikationsmuster entdecken, das Jürgen Habermas einmal (in Hinsicht auf die geistige Auseinandersetzung mit dem Bund Freiheit der Wissenschaft) als »paramilitärischen Einsatz an der semantischen Bürgerkriegsfront« 17 genannt hat. Was Salin in seinem Augsburger Vortrag im Begriffsfeld der »humanistischen Urbanität« explizierte, basierte auf Vorstellungen eines dialogbereiten Verhaltenskodexes, wie ihn Hegel mit Platon verfeinert hatte. Die Blüte, den Verfall und die vielfältigen Ansätze zur Neubelebung einer Urbanität im Sinne dieser »sokratischen Dialoge« hat Salin seinem Augsburger Publikum sodann im Gang durch die 15 Hegel, G.W.F.: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie II, Werke Band 19, Frankfurt a.M. 1998, S. 25. Ich danke Max Plügge für wertvolle Hinweise. 16 Salin, Edgar: »Lebendige Demokratie. Der Basler Arbeitsrappen von 1936«, in: Eschenburg, Theodor, u.a. (Hg.): Festgabe für Carlo Schmidt, Tübingen 1962, S. 153–170, hier S. 153. 17 Habermas, Jürgen: Einleitung, in: Stichworte zur ›Geistigen Situation der Zeit‹, Band 1: Nation und Republik, Frankfurt a.M. 1979, S. 21.
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abendländische Stadt- und Staatsgeschichte vorgetragen, um Urbanität schließlich auf einen humanistisch geprägten Kanon von Bürgertugenden zuzuspitzen, der für ihn mit dem Jahr 1933 unwiederbringlich ausgelöscht worden war. Schließlich war die Anmut der »humanistischen Urbanität«, wie die Wohlgestalt der deutschen Städte, in den Rassetheorien und den daraus folgenden Gräueltaten der NSHerrschaft ausgelöscht worden. Kein noch so wohlmeinend ambitionierter Wiederaufbau oder Stadterneuerungsprozess konnte diese Leerstelle der verlorenen Urbanität im Aufbauprojekt der bundesrepublikanischen Gesellschaft daher aus sich heraus füllen. Also riet Salin den anwesenden Planern, Städtebauern, Architekten und Politikern, das »Wort ›Urbanität‹ ganz zu vermeiden […]«.18 Allerdings leuchtete, und da argumentierte wieder der Verehrer Stefan Georges und Friedrich Nietzsches, der Hoffnungsschimmer ihrer Rückkehr durchaus auf; denn eine neue Urbanität ließ sich eventuell in einer angemessenen »Erziehung« der Jugend wiedererlangen. Erst ein bildungsorientierter »Lebensstil« und der zivilisierte, toleranzbegabte Habitus eines Stadtbürgers könnte dazu befähigen, auch in Deutschland das gesellschaftspolitische Projekt einer neuen Urbanität zu begründen. Salins Augsburger Position zur Urbanität ist von den Pragmatikern des bundesdeutschen Städtebaus hinter vorgehaltener Hand als schöngeistige Begriffshuberei eines Altphilologen belächelt worden. Tatsächlich haben einige der maßgeblich am Wiederaufbaudiskurs der BRD beteiligten Stadtbaudirektoren und Städtebauprofessoren in Anlehnung an Salins bildungsbürgerlich geprägten Urbanitätsbegriff fortan ein wenig despektierlich über die »Urbanitäter« gesprochen, ein Wort, das die Weltfremdheit dieses Ansatzes betonen sollte. Immerhin sah man sich im autoverliebten Wirtschaftswunderland der BRD mit Entwicklungsprozessen konfrontiert, die die Städte zu »strukturlos wuchernden Gebilden« 19 verformten, die ebenfalls ein Mitglied der List Gesellschaft, der gerade 40-jährige Göttinger Soziologe Hans Paul Bahrdt damals untersuchte, um anders als Salin eine neue Phase der »Urbanisierung« mithilfe eines selbstreflexiven Städtebaus unmittelbar einzuleiten. Also musste man handeln, im Hier und Jetzt! Das Warten auf die neue Urbanität im Sinne einer politischen Kultur Salins wurde von vielen der bundesdeutschen Planer und Architekten vor dem Hintergrund der akuten Stadterneuerungsthematik daher als eher zweitrangig eingeschätzt. 18 Wie Anm. 3, S. 24. 19 Bahrdt, Hans Paul: Die moderne Großstadt. Soziologische Überlegungen zum Städtebau, Reinbek bei Hamburg 1961, S. 119. Es sei hier darauf hingewiesen, dass zum Begriff der Urbanität in den vergangenen Jahren mehrere Untersuchungen entstanden sind.
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Dennoch darf Salins Urbanitätsverständnis als Auslöser einer nachhaltigen Politisierung des westdeutschen Städtebaudiskurses betrachtet werden, deren Saat allerdings erst allmählich aufging. Die Basis dafür hat Salin gleichfalls im Augsburger Urbanitätsvortrag gelegt, denn im zweiten Teil seines Vortrags sprach er all jene Probleme an, die den Erneuerungsprozess der bundesdeutschen Städte begleiteten: die Eingliederung der Flüchtlinge, die Deformierung von Stadt und Landschaft durch die Zunahme des Individualverkehrs, die Verschmutzung der Umwelt durch Industrieabgase, schließlich die Frage »der Abfuhr oder Verwendung des Atommülls« 20, eine Problematik, die bis heute nicht gelöst ist. Was der im Kanton Basel geprägte Wirtschaftsprofessor schließlich einforderte, war ein kommunales Selbstverwaltungsmodell der Städte und Gemeinden im Feld der Stadtsanierung, das ihm seit der Durchsetzung des »Arbeitsrappens« (1936) der Basler »Referendumsdemokratie« auf den verschiedenen Ebenen der Bürgerbeteiligung vertraut und schätzenswert geworden war. Sein in der Zentralschweiz geborener Schüler Lucius Burckhardt (Burckhardt promovierte bei Salin und Karl Jaspers), hatte diese Gedanken schon 1953 in einem Buch mit dem vielsagenden Titel Wir selber bauen unsere Stadt (das Salin gelesen hat) aufgegriffen und weitergeführt. Burckhardt, seit 1973 Professor für Sozioökonomie urbaner Systeme an der Gesamthochschule Kassel, sollte einer der einflussreichsten Vertreter eines demokratisch zu planenden Städtebaus werden, der die Planungspraxis in der BRD zeitweilig im Urbanitätsverständnis Salins verändern konnte. Im Umfeld der Internationalen Bauausstellung Berlin (West, IBA 1984) ist dieser Ansatz zur Mieterbeteiligung im Modell der »Behutsamen Stadterneuerung« später konsequent umgesetzt worden und beeinflusst die zivilgesellschaftlich strukturierte Planungskultur bis heute. Betrachtet man diese Zusammenhänge, so wird man nicht übersehen können, dass Salins scheinbar schöngeistige Positionen im Urbanitätsvortrag gleichsam subkutan zu wirken begannen.21 Schon im Anschluss an die Augsburger Tagung vertiefte sich der Kontakt zu dem Hannoveraner Stadtbaurat Rudolf Hillebrecht und Salin wurde in Ausschüsse des Städtetages wie den Arbeitskreis für Stadtentwicklung, der dem Ministerium für Stadtentwicklung und Städtebau angegliedert war, berufen. In diesem Gremium, dem Salin zeitweilig vorsaß und das er im Jahr 1968 ein wenig desillusioniert verließ, begegnete er in Hillebrecht einem Mann, der trotz seiner Eingebundenheit in die Planungspraxis der NS-Herrschaft Salins 20 Wie Anm: 3, S. 28. 21 Siehe dazu den Beitrag von Thomas Sieverts in diesem Band, S. 193.
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1 — Arno Scholz, Israel – Land der Hoffnung. Berlin 1959, Buchumschlag. Ein Exemplar des Bildbandes befand sich der Privatbibliothek des Hannoveraner Architekten Dieter Oesterlen, Entwurfsprofessor an der TU Braunschweig 1953–1976. Das Foto zeigt eines der ersten Strandhotels in Eilat am Roten Meer.
Wertschätzung errang. In diesen Jahren intensivierten Salin und Hillebrecht ihren Austausch über die Stadtplanungsprozesse im Allgemeinen und solche in Israel im Besonderen. Bereits 1961 hatte Hillebrecht mit einer Gruppe von Studenten der Technischen Hochschule Hannover Israel bereist und begleitete 1963, wie die Herausgeberin der deutschen Wochenzeitung DIE ZEIT Marion Gräfin Dönhoff, eine Delegation der List Gesellschaft in das Land, das ökonomisch mit der »Deviseneinnahme durch den Tourismus« 22 zu rechnen begonnen hatte. Abb. 1 Durch Hillebrecht kam später der Kontakt zu Erika Spiegel zustande, die 1966 ihre Untersuchung zu den »Neuen Städten«, den »New Towns« in Israel vorlegte, dem fulminanten Abschluss der Veröffentlichungen im Rahmen des Israel Economic and Sociological Research Projects (IESRP oder Israel Research Project). Urbanität im Versuchsstadium. Fremdbilder des jungen Israel Zum Zeitpunkt des Urbanitätsvortrages von 1960 hatte Salin die Ansätze seines urbanen Gesellschaftsmodells bereits vor Augen. Wir finden es in den Bildern und Schilderungen des jungen Staates Israel, die seit der Staatsgründung in internationalen Zeitschriften und Reiseberichten kursierten und an deren Prägung Salin mit der Initia22 Hillebrecht, Rudolf: »Städtebau und Architektur in Israel«, in: Theorie und Praxis im Städtebau der Gegenwart. Vortragsfolge im SS 1962, Zentralinstitut für Städtebau TU Berlin, S. 55–64, hier S. 56.
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tive zum Israel Research Project mitzuschreiben begann. Wenngleich nicht unkritisch, so doch fasziniert von der Abendlandprägung des alten Palästina hat er fortan die Geburt des modernen israelischen Staatsgebildes, auf diesem geschichts- und mythengesättigten Territorium begleitet. Salin lernte Israel im Jahr 1958 als Gast des Weizmann-Instituts kennen, zu einem Zeitpunkt also, als die Beziehungen zwischen der BRD und Israel allmählich in Bewegung kamen. Im März des Jahres 1960 hatten sich David Ben-Gurion und Konrad Adenauer in New York getroffen und Verhandlungen über Maßnahmen begonnen, die schließlich zur Aufnahme diplomatischer Beziehungen im Jahr 1965 führten. Im Zuge dieser Vertragsverhandlungen setzte ein Wissenschaftsaustausch ein, der nun auch bundesdeutsche Experten verstärkt nach Israel brachte und den Salin im Rahmen der List Gesellschaft förderte.23 Salin verfügte bereits über gute Kontakte zur israelischen Finanzwelt und hatte einen international anerkannten Ruf als Verkehrs- und Währungsexperte. Seine wissenschaftlich-publizistischen Arbeiten galten in jenen Jahren vorzugsweise den einschneidenden Veränderungen, die im Bereich der Datentechnologie und der atomaren Energiegewinnung zutage traten; seit 1956 diskutierte man in den Mitteilungen der List Gesellschaft intensiv die effektive Nutzung des Atoms zur Energiegewinnung. Als Zeitzeuge von Hiroshima und Nagasaki war Salin über die tödliche Bedrohung des Atoms aufgeklärt, dennoch setzte er, obwohl angesichts seiner Kulturkritik der Moderne eher technikkritisch eingestellt, wie viele seiner Zeitgenossen auf die »friedliche Nutzung der Atomenergie«. Die Nutzung der Kernkraft schien ihm bei dem zu erwartenden weltweiten Energiehunger und gerade in sogenannten Entwicklungsländern, oder wie er sie lieber nannte, den »Aufbauländern«, ohne nennenswerte Kohle-, Öl- oder Wasserressourcen unumgänglich zu sein. Noch hielt man den Einsatz von Sonne und Wind aufgrund der unausgereiften Speichertechnologien auch im Rahmen des Israel Research Projects eher für Zukunftsmusik. Salin hat daher das zukünftige Energiekonzept für Israel in der Nutzung der Atomkraft begrüßt, eine Position, die in der Untersuchung Guido Fischlers zur Energiewirtschaft in Israel von 1965, also zehn Jahre nach Salins Schrift zur Ökonomik der Atomkraft 24, allerdings weniger positiv beurteilt werden sollte. Zum Zeitpunkt seiner ersten Israelreisen war Salin jedenfalls vom Traum der friedlichen Atomnutzung beseelt. Im Juli 1959 veröffent23 Siehe dazu den Beitrag von Joachim Trezib in diesem Band, S. 80. 24 Salin, Edgar: Ökonomik der Atomkraft. Vor einer neuen Etappe der industriellen Revolution, Köln 1955; Fischler, Guido: Energiewirtschaft in Israel (Veröffentlichung der List Gesellschaft, Bd. 42), Basel/Tübingen 1965.
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lichte er in den Mitteilungen der List Gesellschaft unter dem Titel Israelische Impressionen einen Bericht über seine Israelreise, die er im Jahr zuvor mit dem befreundeten Constantin von Dietze unternommen hatte. Salin kam in seinem Beitrag auch auf das in Rehovot angesiedelte Weizmann-Institut zu sprechen, das ihn mit den naturwissenschaftlichen und kernphysikalischen Instituten ungemein beeindruckte und wie die Neuauflage der platonischen Akademie vorgekommen zu sein schien. Das der Wüste abgerungene, inmitten der mit Bäumen eingefriedeten Landschaft gelegene Areal des Instituts hatte Salin als märchenhaft schön empfunden. Er habe sich, so schrieb er, in dieser hinreißend »blühenden Heim- und Arbeitsstätte« des Weizmann-Instituts wie in einem »Zaubergarten« gefühlt, »in dem nichts mehr an die einstige Wüste, sondern Bäume und Bauten eher an Schilderungen aus Tausendundeiner Nacht und an Bilder persischer Miniaturen erinnern«.25 Im Umfeld dieses paradiesischen Ortes entstand soeben das zum Weizmann-Institut gehörende »Atomzentrum«, das Salin in diesem Zusammenhang en passant erwähnte und keineswegs als Störfaktor im Garten Eden empfunden hat. Der wohlwollende Blick auf diesen Bau durfte sich auf eine architektonische Programmatik gründen, die gleichsam das Sinnbild eines neuen Bundes zwischen gelobtem Land und dem technisch modernisierten Nationalstaat des multikulturell geprägten Israel in Szene setzte. In der mit reichlich Wasserreservoirs ausgestatteten Region von Nahal Soreq errichteten die Israelis damals nach den Plänen des amerikanischen Architekten Philip Johnson ein architektonisch hoch ambitioniertes Ensemble für den ersten Forschungsrektor des neuen Staates. Das dominante Bauwerk dieser monolithischen Anlage bestand in einem über 20 Meter aufragenden, paraboloiden Betonkoloss, der von einem Arkadenhof umgeben war und in diesem Motiv den heiligen Ort der herodianischen Tempelanlage Jerusalems paraphrasierte. Abb. 2 Salin, der wie die meisten Reisenden aus Europa in den kargen oder schon blühenden Landschaften in und um Jerusalem die Spuren der Heiligen Schrift und in den Ruinen der Ansiedelungen früherer Jahrhunderte die Erzählungen zum Werden des Abendlandes entdeckte, notierte mit Genugtuung: »In Israel aber ist alle Vergangenheit lebendige Gegenwart.« 26 Diesen »langen Schatten der Vergangenheit« (Aleida Assmann) verfestigte nun das architektursymbolische Konzept Johnsons. Die Aufgabe, ein technologisches Hochleistungsprojekt zu verräumlichen, hat Johnson gleichsam ab25 Salin, Edgar: »Israelische Impressionen«, in: Mitteilungen der List Gesellschaft, Fasc.2, Nr. 10, Basel 1959, S. 235. 26 Wie Anm. 23, S. 226.
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2 — Philip Johnson, Entwurfszeichnung zum Arkadenhof des Atomreaktors in Rehovot (Soreq Nuclear Research Center), um 1958. Aus: Architectural Forum, Heft 11, 1959. 3 — Atomreaktor Rehovot, Entwurf Philip Johnson, um 1960. Aus L'Architecture d'Aujourd'hui, Heft 100, 1962.
gekoppelt vom Funktionswert des Reaktors im Formenkanon archaischer Raumbilder gelöst, die die Geschichte Palästinas zwischen Eroberung, Verteidigung, Zerstörung und abermaliger Eroberung im »Neuen Staat der Hoffnung« evozierten. In den Augen der gebildeten Besucher und Abendlandsucher aus Europa jedenfalls ließen sich derartige Assoziationen zwischen einer Kreuzfahrerfeste bei Caesarea, diesem »Bollwerk gegen Meer und Feind« 27, das kein Israelreisender zu besuchen vergaß, und der erhabenen Architektur einer Kernreaktoranlage unweit Jerusalems – die nur wenige wirklich besuchen durften – überaus leicht herstellen. Abb. 3 Weltliches in die sakrale Sphäre miteinzubeziehen und Sakrales zu säkularisieren, wurde als ein Charakteristikum der neuen israelischen Mentalitätsprägung wahrgenommen. Aus einer Melange dieser Art war schon das Selbstbild konturiert, das der Staat Israel in seinem Gründungsakt vor den Augen der Welt entworfen hatte. In einem großformatigen Text- und Bildband, den Reisende aus dem Um27 Wie Anm. 22, S. 55.
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kreis Salins wie der Hannoveraner Stadtbaurat Rudolf Hillebrecht studiert haben, war zu lesen: »Als Israel am 11. Mai 1949 als Mitglied in die UNO aufgenommen wurde, verlas vor dem Forum der Vereinten Nationen Israels Außenminister Moshe Sharett aus dem Buche des (Propheten, Anm. d. Verf.) Isaia die Botschaft vom kommenden Friedensreich.« 28 Mit diesem Israelbild im Kopf und den Versen Friedrich Hölderlins auf den Lippen besuchte auch der Wirtschaftsprofessor aus der Schweiz diesen neuen »Staat der Hoffnung«. Der Mut der jüdischen Einwanderer aus Ost- und Westeuropa, die die Shoa überlebt hatten, und die Neuankömmlinge aus dem Maghreb oder aus anderen Weltregionen repräsentierten eben jene Haltung, die Salin mit dem Begriff der Urbanität in Augsburg aufleben ließ: den Geist der fürsorglichen Gemeinschaft und den Willen zum Gespräch mit den Anderen (gemeint sind die arabischen Staaten), doch so lange nur – und da argumentierte der Realist Salin, der natürlich die militärisch erfochtene territoriale Unabhängigkeit (1948) Israels vor Augen hatte –, wie auch diese Anderen die Regeln der zivilisierten politischen Rede einzuhalten gewillt sein würden. Schließlich war das »Friedensreich« Israel, wie Marion Gräfin Dönhoff noch 1963 bemerkte, »vom lodernden Hass und den düsteren Drohungen der arabischen Nachbarn umwölkt […]«, die Zukunft des Landes mithin gefährdet.29 Es sei hier nur angemerkt, dass Salin damals von der Notwendigkeit und Möglichkeit des Ausgleichs zwischen den arabischen Staaten und Israel überzeugt war. Noch 1969 hat er in einem Interview die Integration der arabischen Flüchtlinge in die israelische Gesellschaft als dringlich bezeichnet und eine Schweizer Initiative propagiert, die ein Siedlungsprojekt zur Rückführung der palästinensischen Flüchtlinge auf israelisches Staatsgebiet realisieren wollte. Es sei noch einmal die Perspektive betrachtet, unter der Salin die Möglichkeit zur Durchsetzung von Urbanität im oben beschrieben Sinne für den Staat Israel um 1960 gesehen hat. Salins Israelschilderungen sind unzweideutig vom projektiven Blick des abendländischen Illusionismus geprägt gewesen. Entsprechend fand Salin in Israel, was er finden wollte, ein Schicksalsland, in dem sich zu erweisen habe, und mit dieser Aussage beendete er die Impressionen, »[…] ob Europa, ob das Abendland noch jene geistige und moralische Kraft besitzt, der es seinen Bestand verdankt und durch die allein es weiterdauern kann«.30 Die Garantie für das Überleben seines in der Shoa ins Wanken geratenen Abendlandes entdeckte Salin in der 28 Schubert, Kurt: Israel. Staat der Hoffnung, Stuttgart 1957, S. 11. 29 Dönhoff, Marion: »Israel – wohin? […]« (1963), in: Dönhoff, Marion: Welt in Bewegung. Berichte aus vier Erdteilen, Düsseldorf/Köln 1965, S. 262. 30 Wie Anm. 26, S. 238.
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Eigentümlichkeit der sich soeben formenden israelischen Mentalität. Er hat sie, wie Marion Gräfin Dönhoff, mit dem in Israel ansässigen europäischen Judentum und seinen »[…] intellektuell sehr hoch stehenden Menschen« 31 identifiziert. So klingen in Salins Israelskizze jene Topoi an, die in der BRD gerade auch in der von den Architekten und Stadtplanern begeistert rezipierten Reiseliteratur jener Jahre allgegenwärtig waren.32 Sie finden sich vor allem in den reich ausgestatteten Bildbänden jener Jahre, die immer wieder in Gestalt fröhlich lachender Israeli die Jugendlichkeit und Vielfalt der israelischen Gesellschaft zeigten, in der die Gleichheit der Geschlechter in der Landesverteidigung durchgesetzt zu sein schien und vor allem die Neubildung einer gemeinsamen Sprache für die jüdischen Einwanderer aus den unterschiedlichen Kulturkreisen den Prozess des Nation Building kulturell zu formen vermochte. Abb. 4/5 Und nicht zuletzt sind es die Bilder der neuen Städte und modernen Staats- und Siedlungsbauten, die Israel gleichsam als Experimentierfeld neuer Stadt- und moderner Gesellschaftsmodelle räumlich erfahrbar werden ließen, eines Gesellschaftsmodells, das für die Probleme der in Palästina ansässigen Araber und nomadisierenden Beduinen noch Gehör zu haben schien. Salins Israelbild und Urbanitätsvorstellung basierten ganz handfest auf der Erfahrung mit dieser jungen Nation, die in seinen Augen tatsächlich »die abendländische Idee von Urbanität in die harte Wirklichkeit überführte«. Schließlich war er wie viele damals fasziniert vom ungebrochen freiwilligen Pioniergeist der jüdischen Einwanderer, ihn erstaunte das Arbeitsethos dieser Menschen, das er wie Marion Gräfin Dönhoff als geradezu preußisch angehauchte Selbstdisziplin wahrnahm. Und er registrierte begeistert die gebrauchswertorientierte Lebensweise der jüdischen Kolonisten, die die Verweigerung des kulturindustriell gelenkten Konsums US-amerikanischer Provenienz im Gemeinschaftsprojekt des Kibbuz gelebt hatten. Mit der Staatsgründung wurde dieser Lebensstil im Bau der neuen Städte gleichsam zukunftsorientierend zivilisatorisch. Ihr Aufbau, die jeweilige Raumstruktur glichen Spiegelbildern der gelebten Urbanität Israels, so jedenfalls in den Augen des Platon- Exegeten 31 Wie Anm. 30, S. 258. 32 Siehe dazu: Wilhelm, Karin: »Die Suche nach Urbanität«, in: Projekt Israel. Die Moderne als Instrument staatlicher Landnahme – Architektur und Städtebau der 50er und 60er Jahre in Israel, Bauwelt 4.12, 20. 1. 2012, 103. Jg., S. 30–33.
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4 — Militärdienst – Marschübung. Aus dem Bildband: Die Kinder Israels. Text (deutsch): Max. M. Bender, Tel Aviv 1961. 5 — „Israelis lernen Hebräisch, die Sprache ihrer neuen Heimat“. Aus: Henri Amouroux, Israel – Erlebtes Land, Hamburg 1961.
von 1958. Der Ökonom allerdings registrierte zwei Jahre später schon die sich abzeichnende Krise dieser neuen Städte. Deshalb sollte Erika Spiegels Untersuchung ja auch die sich abzeichnenden städtebaulichen Mängel (Aufenthaltsattraktivität) der frühen 1950er-JahrePlanungen beschreiben und nicht nur planungstechnische Aspekte dokumentieren, die bei weiteren Industrieansiedlungen und Verkehrskonzepten hätten beachtet werden müssen. Für den Salin von 1958 jedenfalls dämmerte in der städtebaulichen Kolonisierung Israels am Horizont der Geschichte eine Möglichkeit, die zum Programm der abendländischen Kulturkritik gehört hatte: die Idee, die amerikanische Form der Modernisierung unter Vermeidung ihrer Fehlentwicklungen wiederholen zu können. Denn trat man in Israel nicht unter vergleichbaren Voraussetzungen an? Auch Nordamerika war aus dem arbeitsamen Pioniergeist heraus entstanden. Auch Amerika hatte seine Erfolgsgeschichte in der Eroberung durch Urbarmachung eines weiten, gleichsam leeren Raumes geschrieben. Aber Amerika hatte seinen freiheitlichen Geist in einer rassistischen Sklavenhaltergesellschaft verloren und verschleuderte diesen Geist inzwischen im Konsumismus seiner Massengesellschaft. Demgegenüber versprach jetzt der neue Staat Israel zum Ort des Gelingens einer gerechten Gesellschaft, eben der anderen »Neuen Welt« zu werden. In den Augen Salins schien Israel gleichsam dazu ausersehen, und ich benutze einen Begriff des israelischen Soziologen Shmuel Noah Eisenstadt, ein »anderes, antinomisches Kulturprogramm« der Moderne, als es Amerika hervorgebracht hatte, zu realisieren; eines, das die gerechte, auf Freiwilligkeit basierende Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums aus der jüdischen Tradition
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des Arbeiterzionismus ohne Ansehung der Herkunft würde garantieren können. Und was schien darin anderes auf als das europäisch, durch Platon geprägte Kulturprogramm der Urbanität? Dieses Programm konnte jedoch, das wusste der Wirtschaftsanalytiker, allein unter Beachtung der weltwirtschaftlichen Entwicklungen des Hochkapitalismus entworfen werden, mithin auf Basis einer kalkulierten, geostrategisch konzipierten technischen Modernisierung des Landes. Das ausgezeichnete Territorium für diese antinomische Modernisierung fand sich in der Wüste Negev. Deshalb spielte deren Binnenkolonisierung in den Untersuchungen des Israel Research Projects eine zentrale Rolle, weshalb Salin die als Friedensprojekt deklarierte Bahn der drei Meere 33 mit Verve betrieb. Dass der Entwicklungsprozess der Negev-Region die gouvernementale Logik der europäisch-amerikanischen Modernisierung aber keineswegs außer Kraft setzen konnte, deutete sich acht Jahre nach dem Impressionenaufsatz in der Untersuchung Erika Spiegels zu den »Neuen Städten in Israel« an. Vorsichtig beschrieb sie die Lebenssituation der »[…] 21.000 Beduinen […]« 34, die im Siedlungsraum von Beer Sheva sesshaft gemacht werden sollten. Bei ihr liest man zwischen den Zeilen, wie die Verstädterung der Wüstenregion nach europäischen Mustern die Lebensgrundlage der Nomaden allmählich zerstörte. »Das Malerische verkümmert in Israel. Eigentlich gibt es nur noch malerische Seelen«, bemerkte der französische Journalist und ehemalige Résistance-Kämpfer Henri Amouroux, der Israel in den 1950er Jahren mehrfach bereist hat. Über Beer Sheva schrieb er: »[…] Zivilisation und Vernunft schlagen allenthalben Breschen in die alten arabischen Viertel. Die Frauen ersetzen Amphoren durch Blechkanister und Männer […] verlassen das Zelt.« 35 Abb. 6 Am Ende des Israel Research Projects stand nach 1967 die Ahnung, dass die Rückgewinnung von Urbanität im Sinne Salins auch in Israel scheitern und nur als Traum überleben sollte. Das Bild, das der junge Staat Israel von sich selbst vermittelt hat und das in der frühen BRD dankbar in Bildern einer glücklichen Gesellschaft voller Elan, Zuversicht und Zivilcourage reproduziert wurde, ist inzwischen verblasst. Aber vielleicht ist Salins Utopie der Urbanität lebendiger als wir meinen – vielleicht hat sie sich nur verpuppt, um dort, wo schon einmal Zelte zu sehen waren, auch heute wieder auf öffentlichen Plätzen oder Straßen Zelte der Urbanität als politische Haltung aufzuschlagen: in Tel Aviv, in Kairo, in New York oder in Stuttgart, in Istanbul oder auch anderswo. Abb. 7 33 Regling, Dietrich/Voss, Reimar: Die Bahn der drei Meere (Gutachten), Tübingen 1963. 34 Spiegel, Erika: Neue Städte/New Towns in Israel, Stuttgart/Bern 1966, S. 137. 35 Amouroux, Henri: Israel – Erlebtes Land, Hamburg 1961, S. 137.
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6 — Beduinenzelte, Foto: Rudolf Hillebrecht, 1962.
7 — Tel Aviv, Tent Camp, 27. Juli 2011, Foto: Ran Yaniv Hartstein.
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E D G A R S A L I N U N D DA S I S R A E L E CO N O M I C A N D S O C I O L O G I C A L R E S E A RC H P RO J E C T ( I E S R P ) . FAC E T T E N E I N E R A N NÄ H E RU N G 1 Joachim Trezib Wie an das Werk und Wirken Edgar Salins im Allgemeinen, so ist auch an das salinsche Israel Economic and Sociological Research Project (IESRP), dessen Konzeption und Realisierung sich über den Zeitraum von 1958 bis 1967 erstreckte und somit einen nicht unerheblichen Teil der Lebenszeit des Ökonomen ausfüllte, eine Annäherung wohl nur facettenweise denkbar. Das gilt zunächst schon einmal für die Genese, die epistemologischen und wissenschaftspolitischen Perspektiven und vor allem für die inhaltliche Komplexität des Projektes.2 In seiner Gesamtheit repräsentiert das Israel Research Project gleichsam ein Panoramabild des Staates Israel, wie es sich in der Momentaufnahme der frühen 1960er Jahre in all seinen Aspekten der Entwicklung darbietet.3 Mutatis mutandis bedeutet eine Annäherung an das Israel Research Project, aber auch eine Annäherung an einzelne Entwicklungslinien in der Biografie und im Werdegang des Wissenschaftlers Salin, die in der Auseinandersetzung mit dem Faszinosum »Israel« offengelegt wurden und sich im Rückblick plastisch abzeichnen. Was den biografischen Aspekt angeht, so lief diese Auseinandersetzung übrigens nicht ganz ohne innere Hemmnisse ab. Wie Michael Land1
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Der Beitrag basiert auf Ergebnissen des von der DFG finanzierten Forschungsprojektes: Edgar Salin und das Israel-Projekt der List Gesellschaft: Städtebau(theorie) und Raumplanung der 1950er und 1960er Jahre als ›Nation Building‹, das von November 2008 bis Ende Januar 2013 am Institut für Geschichte und Theorie der Architektur und Stadt der TU Braunschweig unter der Projektleitung von Prof. Dr. K. Wilhelm zusammen mit Dipl.-Ing. Dr. des. J. Trezib erarbeitet wurde. Dieser Anfangsbefund mag teilweise darauf beruhen, dass das Israel Research Project im Œuvre Salins, wie seine Frau Isamaria kurz nach seinem Tod in einem Brief an Samuel Scheps konstatierte, »im Bewußtsein der europäischen Öffentlichkeit immer wieder hinter seinen hiesigen Arbeiten zurücktrat« (Central Zionist Archives, A496 (NL Samuel Scheps): Schreiben von Isamaria Salin an Samuel Scheps vom 29.9.1975); freilich eine (vermeintliche) Randständigkeit, die von Salin womöglich nicht ganz unintendiert war. So hatte Salin im Herbst 1968, als in Israel über ein Stiftungs-Institut für Entwicklungspolitik, das seinen Namen tragen sollte, in einem Brief an Yaacov Bach geschrieben, er lege Wert darauf, »mit [s]einem Namen nicht im Vordergrund zu stehen.« Nicht zuletzt legt das Israel Research Project mit diesem panoramaartigen Anspruch eindrucksvoll Zeugnis für die von Salin Zeit seines Lebens vehement vertretene Ansicht ab, dass das Verständnis der wirtschaftlichen Erscheinungsformen eine rein empirisch oder historisch operierende Wissenschaft zu transzendieren hat und nur im Rahmen eines kultursoziologischen »Gesamt« sinnvoll zu erfassen ist und theoretisch und praktisch fruchtbar wirken kann.
Kapitel I
mann mit Berufung auf Salins Schwester in diesem Zusammenhang ein wenig maliziös bemerkt hat, habe sich Salin »nie mit seinem Judentum abgefunden« 4 und erst, »nachdem durch den Staat Israel das Judentum aus einer religiösen und sozialen zu einer auch politischen Wirklichkeit geworden war«, schließlich »umgelernt«.5 Ungeachtet dieser psychologischen Reflexe war Salin als Initiator des Israel Research Projects eng in den politischen Prozess der Annäherung zwischen der Bundesrepublik Deutschland (BRD) und Israel eingebunden.6 Der Ökonom brachte als Abkömmling einer bekannten alteingesessenen jüdischen Frankfurter Bankiersfamilie 7 und als Deutscher, der seit 1927 und somit auch während des NS-Regimes in der Schweiz gelebt hatte, alle Voraussetzungen mit, um in diesem Prozess als Brückenbauer zu wirken. Hierbei kam dem Basler Gelehrten, dessen Beziehungen zu Deutschland sich nach dem Krieg, wie die Soziologin Erika Spiegel einmal bemerkt hat, »vollkommen unbefangen« 8 gestalteten, zugute, dass er im Rahmen der im Jahr 1954 mit dem Bundespräsidenten Theodor Heuss als Schirmherrn re-institutionalisierten »neuen« List Gesellschaft an die sehr weit verzweigten politischen Kontakte der alten, im Jahr 1933 aufgelösten List Gesellschaft wieder anknüpfen beziehungsweise sie sogar noch erweitern konnte. Zu der alten List Gesellschaft hatten alle gezählt, die im politisch-konservativen Spektrum der Weimarer Republik Rang und Namen hatten, so beispielsweise Werner Sombart, Max Sering, Johannes Popitz, Thilo von Wilmowski, Paul Silverberg, der Vorstand der Gutehoffnungshütte Paul Reusch, der Reichsbankdirektor und Reichskanzler Hans Luther und, Salin auch persönlich besonders eng verbunden, der Ökonom Erwin von Beckerath.9 Nicht zuletzt 4 5 6
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Landmann, Michael: Figuren um Stefan George, Amsterdam 1982, S. 103. Ebd. Obwohl der Prozess der deutsch-israelischen Annäherung, der im Jahr 1952 mit dem Abschluß des Haager Abkommens begonnen hatte, sich bis zu Beginn der 1960er Jahre zu einer veritablen Wirtschaftskooperation ausgewachsen hatte, blieb das deutsch-israelische Verhältnis auch nach der Belastungsprobe der Suez-Krise, die zu einer spürbaren Annäherung geführt hatte, überaus prekär und konnte nur auf dem Weg inoffizieller, quasi-diplomatischer Kontakte aufrecht erhalten werden. Vgl. zur deutsch-israelischen Wirtschaftskooperation konzise etwa Kleinschmidt, Christian: »Von der ›Shilumim‹ zur Entwicklungshilfe. Deutsch-israelische Wirtschaftskontakte 1950–1966«, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, 97, 2 (2010), S. 176–192. Mütterlicherseits stammte Salin von der aus Frankfurt stammenden Familie Schiff ab, die sich einer weit zurückreichenden rabbinischen Tradition rühmen durfte. Vgl. Jewish Encyclopedia, XI, New York 1916, S. 97. Aufgezeichnetes Interview mit Prof. Dr. Erika Spiegel vom 13.7.2009. Vgl. hierzu Brügelmann, Herrmann: Politische Ökonomie in kritischen Jahren. Die Friedrich List Gesellschaft e.V. von 1925–1935. Mit einer Einleitung von Edgar Salin in memoriam Bernhard Harms, Tübingen 1956, hier S. 3–25. Zur neuen
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empfahl sich Salin als deutsch-israelischer Mittler, da er als eine der ersten Personen außerhalb Deutschlands bereits im August 1942 Informationen über den Massenmord an den europäischen Juden aus sicherer Quelle erhalten und über das Palästina-Amt in Genf an die alliierten Streitkräfte weitergeleitet hatte.10 Der erste Kontakt Salins erster direkter Kontakt mit Israel datiert auf das Jahr 1958, als er als »one of the outstanding authorities in the field of the economic aspects of atomic energy« 11 zur Einweihung des Center for Nuclear Research an das Weizmann-Institut nach Rehovot eingeladen wurde. Das überrascht, denn Salin war, abgesehen von einigen, in ihrem Umfang eher begrenzten Abhandlungen zur »Ökonomik der Atomkraft«,12 bis zu den 1950er Jahren keineswegs als Sachverständiger für Atomfragen in Erscheinung getreten. Salins Verbindung zum Weizmann-Institut muss an dieser Stelle ein wenig näher expliziert werden, da die zeithistorische Relevanz des Israel Research Projects ohne seine Vorgeschichte kaum zu verstehen ist. Seit Mitte der 1950er Jahre weilte Josef Cohn, der Repräsentant des europäischen Komitees des Weizmann-Instituts, vermehrt in der Schweiz und in der BRD, um wissenschaftliche und auch wirtschaftliche Kontakte für das Weizmann-Institut in Europa zu etablieren. Cohn, der Salin aus seinen Studienzeiten flüchtig bekannt war,13 hatte als langjähriger Vertrauter des im Jahr 1952 verstorbenen Chaim Weizmann einen wesentlichen Anteil am Aufbau des Weizmann-Instituts geleistet. Seit 1956 bestanden erste informelle Kontakte des Weizmann-Instituts zu deutschen Kernphysikern, insbesondere zu dem damals am Conseil Européen pour la Recherche Nucléaire (CERN) in Genf arbeitenden Wolfgang Gentner, einem Physiker und Gründer der Max-PlanckGesellschaft.14 Cohn versuchte, diese wissenschaftlichen Kontakte zu intensivieren beziehungsweise durch wirtschaftliche Kooperationen mit deutschen Unternehmen und durch die Einwerbung von Bundes-
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List Gesellschaft vgl. u.a. Bundesarchiv Kassel N 1221/194 (NL Theodor Heuss): Korrespondenz Heuss-Salin/List Gesellschaft. Vgl. Salin, Edgar: »Über Artur Sommer, den Menschen und List-Forscher«, in: Mitteilungen der List Gesellschaft, 6, 4/5 (30. November 1967), S. 81–90. Archives of the Weizmann Institute, 1–82 (75): Schreiben von Dr. Josef Cohn an Alfred Bonné vom 13. Dezember 1958. Salin, Edgar: Ökonomik der Atomkraft. Vor einer neuen Etappe der industriellen Revolution, Köln 1955. Wie Anm. 10. Vgl. hierzu Nickel, Dietmar K.: »Wolfgang Gentner und die Begründung der deutsch-israelischen Wissenschaftsbeziehungen«, in: Hoffmann, Dieter/ Schmidt-Rohr, Ullrich (Hg): Wolfgang Gentner. Festschrift zum 100. Geburtstag, Berlin, Heidelberg 2006, S. 147–170, hier S. 147–152.
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1 — Edgar Salin bei der Einweihung des sogenannten »Swiss Pavilion« am Weizmann-Institut im November 1958.
mitteln zu untermauern, und nahm daher Anfang 1958 auf Vermittlung von Adenauers Sohn Max Kontakt zum Bundeskanzler auf.15 Im Zuge dieser Bemühungen trat Cohn im Frühjahr 1958 auch mit Salin in Verbindung, worauf es zu der zuvor erwähnten Einladung Salins zum Atomkongress in Rehovot im Mai 1958 und zu den ersten Schritten des Israel Economic and Sociological Research Projects kam.16 Abb. 1/2 Bedauerlicherweise lässt sich weder aus dem Nachlass Salins noch aus den Aktenbeständen des Archives des Weizmann-Instituts vollständig rekonstruieren, welchen Inhalt die ersten Gespräche zwischen Salin und Cohn hatten.17 Der weitere Verlauf der bundesdeutschen Kontakte, und damit auch der Kontakte Salins zum WeizmannInstitut, erschließt sich indessen – zumindest in Teilen – aus den im Bundesarchiv befindlichen Überlieferungen des Bundeskanzleramtes und ist rasch erzählt; was hiermit auch skizzenhaft geschehen soll. Nach seinem ersten Gespräch mit Adenauer, das sich allerdings noch bis März 1959 verzögern sollte, wurde Cohn unmittelbar an Siegfried Balke, den Bundesminister für Atomkernenergie, außerdem an Ulrich Haberland, den Generaldirektor der Farbenfabriken Bayer AG, und an Herrmann Josef Abs, den stellvertretenden Vorsitzenden der Kreditanstalt für Wiederaufbau, verwiesen.18 Letzteres 15 Ebd., S. 152ff., sowie Bundesarchiv Kassel 136/5971: Schreiben von Max Adenauer an Konrad Adenauer vom 27.1.1958. 16 Central Zionist Archives, A496 (NL Samuel Scheps): Schreiben von Samuel Scheps an Josef Cohn vom 20.2.1975; Schreiben von Samuel Scheps an Yaacov Bach vom 25.2.1975. Salin konnte die für Mai geplante Reise nicht antreten und besuchte das Weizmann-Institut erst im November 1958, anlässlich der Eröffnung des sogenannten »Swiss Pavilion«. 17 Der Briefwechsel zwischen Cohn und Salin ist im Nachlass Salins in Basel nicht enthalten. Die im Archiv des Weizmann-Instituts befindlichen Quellen sind nicht frei zugänglich und nur in Teilen einsehbar. Womöglich könnten die Zusammenhänge aus einer genaueren Kenntnis dieser Quellen rekonstruiert werden. 18 Bundesarchiv Kassel 136/5971: Schreiben des Bundeskanzlers Adenauer an Bundesminister Siegfried Balke, Herrmann J. Abs und Ulrich Haberland, 19. März 1959.
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2 — Bildliche Darstellung der israelischen Wirtschaftsentwicklung zwischen 1948 und 1965 mit den Schlüsselfaktoren Bevölkerung, Industrie, Export, Landwirtschaft, Aufforstung, Landgewinnung, Wohnbau, Bildung und Schiffahrt.
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ist sicherlich als Hinweis darauf zu werten, dass es bei der Anbahnung der deutsch-israelischen Wissenschaftskooperation von vornherein um praxisrelevante Bezüge ging. Im Herbst 1959 wurde dann unter dem Vorsitz von Abs, der wie Max Adenauer in der Zwischenzeit eine Reise nach Israel unternommen hatte, ein sogenanntes Beschaffungskomitee eingerichtet, dem über 70 führende Vertreter aus der deutschen Wirtschaft, der Industrie und dem Bankenwesen, so auch Edgar Salin, angehörten.19 Dieses Beschaffungskomitee versuchte, die sich anbahnende deutsch-israelische Wissenschaftskooperation mit den möglichen Interessengebieten der deutschen Wirtschaft zu koordinieren und Fördergelder für Investitionen wissenschaftlicher Art in Israel zu mobilisieren.20 Im Zuge dieser Bemühungen wurde dem Weizmann-Institut unter anderem der Ankauf eines sogenannten Tandem-Teilchenbeschleunigers ermöglicht. Nach der Reise einer Delegation der Max-Planck-Gesellschaft nach Israel im Dezember 1959 wurde im Frühjahr 1960 schließlich eine erste, im Übrigen außerparlamentarisch genehmigte, Spende aus Bundesmitteln in Höhe von drei Millionen D-Mark an das Weizmann-Institut überwiesen; eine Zahlung, die den Beginn einer langjährigen bundesdeutschen Förderung des Weizmann-Instituts markierte. Das Israel Economic and Sociological Research Project Im Einklang mit diesen wirtschaftlichen Interessen orientierte sich die Konzeption des Israel Research Projects, wie schon aus den frühen projektinternen Denkschriften Salins hervorgeht, an der Leitlinie einer »Study of Israel as a Pilot Project for the Development of New States« 21 und sollte fast alle Bereiche der Entwicklungspolitik behandeln. Abb. 3 Allerdings bot das Weizmann-Institut als naturwissenschaftliche Forschungsstätte für ein solch umfassendes sozio-ökonomisches Forschungsprojekt weder eine geeignete Kooperationsbasis, noch stand in Israel ein adäquater institutioneller Rahmen zur Verfügung. Durch die Etablierung einer gemeinnützigen Gesellschaft in 19 Archives of the Weizmann Institute, 1–74 (80): Minutes of the Executive Council vom 5.11.1959, S. 11. Weitere Mitglieder des Kommittees waren u.a. Peter Bartmann, Werner Brockelmann, Otto Hahn, Erich Teltschow und Karl Winnaker. Ein Mitglied im Exekutivrat des Weizmann-Instituts äußerte anläßlich der Sitzung vom 5.11.1959 Bedenken gegen diese Aktivitäten mit dem Hinweis »[that] some of the names and some of the institutions mentioned had also been among those responsible for the massacre of 6 million Jews.« 20 Ziel des Beschaffungskommittes war die Eruierung der Frage »on how German industry and science could contribute to Israel through scientific cooperation with the Weizmann Institute«, ebd. 21 NL Bach (SAIB Braunschweig) 1961: Schreiben von Yaacov Bach an Edgar Salin (in Kopie an Dr. Foerder) vom 29. Juni 1961 mit Anlage: Outline for a Study of Israel as a Pilot Project for the Development of New States.
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3 — Das israelische Städteund Siedlungssystem in einer Darstellung des Jahres 1964: links der Stand im Jahr 1948, in der Mitte im Jahr 1964 und rechts die Projektion für das Jahr 1982.
Israel, die unter dem Vorsitz von David Horowitz und Yeshayahu Foerder stand, wurde jedoch im Verlauf des Jahres 1961 ein solcher Rahmen geschaffen. Horowitz, der Chef der israelischen Notenbank, und Foerder, der Vorstandsvorsitzende von Leumi, der größten Bank Israels, stellten die vermutlich einflussreichsten Persönlichkeiten des israelischen Banken- und Finanzwesens der 1950er und 1960er Jahre dar und waren Salin aller Wahrscheinlichkeit nach über seine engen Kontakte zu der in Basel ansässigen, sogenannten Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) bereits lange vor seinem ersten Aufenthalt in Israel bekannt. Ihr Engagement im Rahmen des Israel Research Projects deutet jedenfalls klar darauf hin, dass die Idee der kommerziellen oder zumindest praktischen Verwertbarkeit der Forschungsstudien des Israel Research Projects bereits in einem frühen Stadium ein zentrales Anliegen darstellte.22 Was die wissenschaftliche Seite des Israel Research Projects anging, so wurden im Frühjahr 1961 zwei weitgehend unabhängig voneinander arbeitende Forschungsgruppen eingerichtet. Eine mit deutschen und Schweizer Wissenschaftlern an der Universität Basel, die 22 Auf die Beziehungen Edgar Salins zur BIZ, die ein ganz eigenes Kapitel in seiner Biografie darstellen, kann hier nicht näher eingegangen werden. Zur Geschichte der BIZ seit ihrer Gründung und insbesondere während des Zweiten Weltkriegs s.a. Trepp, Gian: Bankgeschäfte mit dem Feind. Die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich im Zweiten Weltkrieg. Von Hitlers Europabank zum Instrument des Marshall-Plans, Zürich 1997.
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von Harry Zimmermann, der Salin noch aus den Tagen seiner innigeren Beziehung zu Stefan George bekannt war, geleitet wurde. Eine andere, unter der Leitung des israelischen Wirtschaftswissenschaftlers Nadav Halevi, wurde mit israelischen Wissenschaftlern an der Hebrew University gebildet. Personell war das Projekt ungefähr paritätisch mit israelischen und deutschsprachigen Wissenschaftlern besetzt, bei denen es sich überwiegend um Graduierte der jeweiligen Schulen handelte. Bis 1962 hatten die Forschungsgruppen in Abstimmung mit Salin, Horowitz und Foerder dann ihre Themenschwerpunkte festgelegt, die jeweils einem einzelnen Bearbeiter zugewiesenen waren. Von außen betrachtet könnte der Eindruck entstehen, dass es sich bei den Forschungsfeldern des Israel Research Projects letztlich um mehr oder weniger separate Studiengebiete handelte. Dieser Eindruck täuscht jedoch. Insgesamt lässt sich innerhalb des Projektes eine Unterscheidung zwischen den stärker analytisch orientierten Studien und dem weiten Feld der, wie es in den zeitgenössischen Memoranden immer wieder hieß, »action minded studies« treffen.23 Zu den ersten zählten vor allem die spezifischen finanzwissenschaftlichen Studien, wie beispielsweise The Development of the Securities Market in Israel; letztere bildeten jedoch eindeutig den Schwerpunkt. Diese »aktionsgerichteten«, praxisrelevanten Studien, die teilweise einen Gutachtencharakter hatten, fanden ihren gemeinsamen Nenner in ihrer Ausrichtung auf die Strukturplanung, insbesondere auf die Raum-, Regional- und Stadtplanung. Seit Beginn der 1960er Jahre hatte die Idee der Planung Salin zunehmend in den Bann geschlagen. So fand im Juni 1963 eine große Konferenz der List Gesellschaft zu dem Thema »Planung ohne Planwirtschaft« statt.24 Der Staat Israel, dessen Existenz und rapide Entwicklung sich nahezu vollständig den Prozessen einer gelenkten Planung verdankte, bot diesbezüglich ein reiches Anschauungsmaterial: »Wir Oekonomen und Soziologen«, vermerkte Salin, »sind hier einmal in der angenehmen Lage, […] nicht einen vergangenen Koerper zu sezieren, sondern [einen] lebendigen in der Entwicklung zu sehen.« 25 Es kann im Rahmen dieser knappen Abhandlung nicht ausführlich auf die einzelnen strukturpolitischen Studien des Israel Research Projects eingegangen werden. Stattdessen werden sich die folgenden 23 Vgl. NL Bach (SAIB Braunschweig) 1962: Bericht Edgar Salins (ohne Titel), Basel, den 12. November 1962, S. 3; s.a. ebd.: Schreiben von Yaacov Bach an Edgar Salin vom 21. Juni 1970. 24 Vgl. Salin, Edgar: »Planung – der Begriff, seine Bedeutung, seine Geschichte«, in: Alfred Plitzko (Hg.): Planung ohne Planwirtschaft. Frankfurter Gespräch der List Gesellschaft, 7.–9. Juni 1963, Basel, Tübingen 1964, S. 2–11. 25 Archives of the Weizmann Institute, 1–82 (75): Prof. Salin – Dinner Party Dedication Swiss Pavilion, November 3, 1958.
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Abschnitte im Wesentlichen mit einer einzigen Studie, nämlich Erika Spiegels Neue Städte/New Towns in Israel 26, beschäftigen und deren Verknüpfung mit den anderen Einzelstudien des Israel Research Projects aufzeigen. Diese angesichts der gebotenen Kürze notwendige thematische Pointierung ist keineswegs willkürlich, da Spiegels Buch von Salin selbst als »Krönung« 27 des Israel Research Projects empfunden wurde; ein Umstand, der auch darin zum Ausdruck kommt, dass Spiegels Arbeit als einzige Studie des Projektes der List Gesellschaft zweisprachig auf Deutsch und auf Englisch publiziert wurde.28 Tatsächlich bildet Spiegels Arbeit bis heute eine der detail- und kenntnisreichsten und in ihrem Gesamtbild evokativsten Darstellungen des Phänomens der israelischen Urbanisierung nach 1948. Spiegels Bericht über die neuen Städte profitierte in hohem Maße von der Tatsache, dass die Autorin den Prozess der Urbanisierung Mitte der 1960er Jahre noch in the making erlebt und auch die an der Planung beteiligten Akteure persönlich kennengelernt hatte. Wie sich Spiegel in einem 2009 geführten Interview erinnerte, fuhr sie damals in Israel in einem von der Bank Leumi gestellten Auto von Stadt zu Stadt und nahm dabei, mit einer Schreibmaschine »bewaffnet«, einen City Engineer nach dem anderen »ins Kreuzverhör«.29 Übrigens wurde Spiegel bei ihrer ersten Israelreise im Jahr 1963 von dem Hannoveraner Stadtbaurat Rudolf Hillebrecht begleitet, ein Umstand, der damals »in allen interessierten Stadtverwaltungen [und] auch bei den Ministerien warm begrüsst« 30 wurde. Dabei konnte Spiegel in Ihrer Untersuchung, die in einigen Abschnitten deutlich die Prägung durch ihren Lehrer Alfred Weber verrät, die ersten Abschnitte der israelischen Stadt-, Regional- und Landesplanung bereits bilanzierend überschauen. Wie es in einer Denkschrift der List Gesellschaft von 1963 hieß, stand hinter der Arbeit 26 Spiegel, Erika: »Neue Städte/New Towns in Israel«, in: Veröffentlichungen der List Gesellschaft, 50, Stuttgart 1966. 27 Bach, Jaacov: »Edgar Salin zum 80. Geburtstag«, in: Mitteilungen der List Gesellschaft, 7, 14 (1969–72), S. 359. 28 Die Wahl Erika Spiegels als Bearbeiterin dieses Themas verdankte sich einer spontanen Eingebung Salins, dem die Bekanntschaft Spiegels mit den Töchtern Sombarts offenbar als Garant der Eignung verbürgte; ein Versprechen, das dann sowohl durch das Buch als auch durch die Karriere Spiegels in der bundesdeutschen Stadt- und Regionalplanung vollständig eingelöst wurde. Vgl. aufgezeichnetes Interview mit Prof. Dr. Erika Spiegel vom 13.7.2009. 29 Ebd. So machte sie auf ihrer ersten Israelreise im Jahr 1963 u.a. mit den Planern Shimshon Amitai, Eliezer Brutzkus, Jacob Dash – dem damaligen Leiter der Planungsbehörde im Innenministerium –, Ariel Kahane, Yehuda Karmon, Gad Landau und Hanan Mertens Bekanntschaft; vgl. NL Bach (GTAS Braunschweig) 1963: Bericht über die Reise des Schriftführers der List Gesellschaft, Prof. Dr. Edgar SALIN nach ISRAEL vom 14. bis 30. Mai 1963, Basel, im Juni 1963. 30 Ebd., S. 2.
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Spiegels die Absicht, nicht nur eine »Bestandsaufnahme« zu liefern, sondern »auf möglichst objektive Weise Vor- und Nachteile, Erfolge und Mißerfolge der israelischen Landesplanung aufzudecken und Vorschläge für Verbesserungen und Aenderungen zu unterbreiten«.31 Was die Bestandsaufnahme der israelischen Landesplanung beziehungsweise des Physical Planning in den frühen 1960er Jahren offenbarte, war im Wesentlichen das sichtbare Ergebnis des zwischen 1948 und 1952 erarbeiteten, sogenannten Sharon-Plans, der als nationaler Masterplan die Vorgaben der gesamten sozialräumlichen Entwicklung Israels für die nächsten 20 Jahre formuliert hatte.32 Die Grundidee des Sharon-Plans bestand im Konzept der Population Dispersal (»Bevölkerungsverteilung«), durch welche die von den Planern als »polar« identifizierte Siedlungsstruktur von Palästina vor 1948 – das heißt der eklatant ausgeprägte Stadt-Land-Gegensatz mit den Großstädten Jerusalem, Haifa und Tel Aviv auf der einen Seite und den jüdischen Landwirtschaftssiedlungen auf der anderen Seite – aufgehoben und in eine ausgewogenere demografische Verteilungsstruktur überführt werden sollte. Das strukturpolitische Instrument hierzu stellten die »Neuen Städte« dar, die auch als »Entwicklungsstädte« bezeichnet wurden, wobei die Neugründung dieser Städte im Einklang mit der Notwendigkeit stand, rasch Wohnraum für die seit 1948 in das Land strömenden Massen jüdischer Einwanderer schaffen zu müssen. Als Bezugspunkt für diesen Dezentralisierungs-Diskurs verwiesen die israelischen Planer einerseits auf das Vorbild der britischen New Town Schemes der Nachkriegsjahre, anderseits – »ausdrücklich«, wie Spiegel vermerkte – auf das sogenannte System der zentralen Orte, das im Jahr 1933 durch den deutschen Humangeografen Walter Christaller entwickelt worden war. 33 In der Gesamtheit sollte eine Siedlungsstruktur von wirtschaftlich optimal integrierten, semiautarken Landwirtschaftsregionen mit gartenstädtisch konzipierten Regionalzentren entstehen. Obwohl diese Konzeption auf dem Papier zu überzeugen schien, wurden bis zu den 1960er Jahren doch gravierende Fehlentwicklungen in der israelischen Landesplanung erkennbar. Zu diesen Fehlent-
31 Ebd., S. 7, [Herv. i. O.]. 32 Vgl. Efrat, Zvi: »The Plan. Drafting The Israeli National Space«, in: Segal, Rafi/ Weizmann, Eyal (Hg.): A Civilian Occupation. The Politics of Israeli Architecture, Tel Aviv, London 2002, S. 59–78. 33 Siehe dazu: Trezib, Joachim: »Der große Traum«, in: bauhaus. Die Zeitschrift der Stiftung Bauhaus Dessau, 2 (Nov. 2011), S. 12–21; vgl. auch Trezib, Joachim: Technokraten des Raums. Die Theorie der »zentralen Orte«, der »Sharon-Plan« und der »Generalplan Ost«. Unveröffentlichte Dissertation, Karlsruhe 2011.
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wicklungen, die von Spiegel sehr genau beschrieben wurden, zählten die in vielen Fällen mangelhaften Standortperspektiven der neuen Städte, das Versäumnis der Ansiedlung von lokalen Industrien, die oftmals ungenügende infrastrukturelle Anbindung, die nicht zufriedenstellende soziale Integration der städtischen Neuansiedler und die kaum geglückte Einbindung der Entwicklungsstädte in das vor der Staatsgründung entstandene Wirtschaftssystem der Kibbuz-Organisationen. All diese Phänomene führten zu einem stagnierenden Arbeitsmarkt in den neuen Städten und mitunter auch zu starken Abwanderungstendenzen, sodass ausgerechnet eines der Kardinalthemen in der israelischen Landesplanung – die forcierte Bevölkerungsansiedlung in den nördlichen und südlichen Peripherien des Landes – nur zum Teil erfüllt werden konnte. An dieser Stelle zeigt sich nun sehr deutlich, wie die Einzelstudien des Projektes der List Gesellschaft argumentativ miteinander verzahnt waren. So erarbeitete René Freys Studie Strukturwandlungen der israelischen Volkswirtschaft 34 Empfehlungen für eine staatlich gelenkte Wachstumspolitik durch eine stärkere Subventionierung der Industrie und durch räumliche Umstrukturierungsmaßnahmen zur Förderung zukünftiger Wachstums4 — Die »Bahn der drei Meere« regionen, allen voran des rohstoffreichen Nesollte das Rückgrat für die wirtgev. Bernd Menzinger eruierte in seiner seeschaftliche Erschließung des Negev konstituieren. Aus: Regling, D./ wirtschaftlichen Studie zu den Häfen Haifa Voß, R.: Die Bahn der drei Meere, und Ashdod die Möglichkeiten zu einer besBasel, Tübingen 1963. seren außenwirtschaftlichen Integration des israelischen Städtesystems, 35 Jacques Kleiner suchte in Die Textilindustrie in Israel 36 die Chancen zur Generierung lokaler Arbeitsmärkte in den israelischen Entwicklungsgebieten auszuloten. Egon Meyer und Martin Pallmann schließlich skizzierten in ihren Studien zu den damals bereits im Umbruch befindlichen Moshav- und Kibbuz-Organisationen Lösungsansätze für eine bessere Einbindung dieser für Israel so spezifischen Lebens- und Siedlungs34 Frey, René: »Strukturwandlungen der israelischen Volkswirtschaft, global und regional 1948–1975«, in: Veröffentlichungen der List Gesellschaft, 39, Tübingen 1965. 35 Menzinger, Bernd: »Der Hafen Haifa«, in: Veröffentlichungen der List Gesellschaft, 51, Tübingen 1966. 36 Kleiner, Jacques: »Die Textilindustrie in Israel. The Textile Industry in Israel«, in: Veröffentlichungen der List Gesellschaft, 47, Tübingen 1966.
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5 — Die Grundstoffindustrie in S'dom am Toten Meer bildete einen Grundpfeiler der ökonomischen Entwicklung des jungen Israel. Sie sollte an die »Bahn der drei Meere« angeschlossen werden. Die graphische Darstellung zeigt die Gewinnung von Pottasche.
formen in die regionale Binnenwirtschaft.37 Schließlich müssen in diesem Zusammenhang noch zwei der inhaltlich knappsten, aber dennoch wichtigsten Einzelstudien des Israel Research Projects genannt werden: Guido Fischlers Energiewirtschaft in Israel 38 und das von den deutschen Eisenbahn-Ingenieuren Dietrich Regling und Reimar Voß verfasste Gutachten Die Bahn der drei Meere.39 Zusammen mit den zuvor genannten Studien ließen diese beiden Arbeiten die grandiose Vision für einen strukturpolitischen Ausbau des südlichen Negev zu einer zukünftigen Entwicklungsregion entstehen; eine Region, in der sprichwörtlich »aus Wüsten Gärten wurden«.40 Abb. 4 So sollte durch den vorgeschlagenen Bau eines Atomkraftwerks an der Küste zwischen Ashqelon und Ashdod eine standortunabhängige, autarke und kostengünstige Energieversorgung geschaffen werden, die zudem die erforderlichen Grundlasten für eine Desalination von Meerwasser in einem großindustriellen Rahmen liefern und somit die Erschließung vollkommen neuer landwirtschaftlicher Gebiete möglich machen würde. Was die Pläne für den Bau einer Eisenbahnlinie angeht, so sollte die bestehende, wenn auch veraltete, Ver37 Vgl. Pallmann, Martin: »Der Kibbuz. Zum Strukturwandel eines konkreten Kommunetyps in einer nichtsozialistischen Umgebung«, in: Veröffentlichungen der List-Gesellschaft, 48, Tübingen 1966; Meyer, Egon: »Der Moschav«, in: Veröffentlichungen der List Gesellschaft, 52, Tübingen 1967. 38 Fischler, Guido: »Energiewirtschaft in Israel«, in: Veröffentlichungen der List Gesellschaft, 42, Tübingen 1965. 39 Regling, Dietrich/Voß, Reimar: »Die Bahn der drei Meere«, in: Veröffentlichungen der List Gesellschaft, 31, Tübingen 1963. 40 Salin, Edgar: »Wo aus Wüsten Gärten wurden. In Israel ist das Gestern lebendiges Heute«, in: DIE ZEIT, 12 (24. Dezember 1958). Für eine kurze Zusammenfassung dieser Entwicklungsperspektive vgl. auch Trezib, Joachim: »Ära einer Politik des guten Willens«, in: Bauwelt, 4, 12 (Januar 2012). S. 26–29.
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6 — Zu Beginn der 1960er Jahre war die große Welle der israelischen Stadtneugründungen weitgehend zu ihrem Abschluß gekommen. Das Israel Research Project sollte der Entwicklung des Städtesystems neuen Aufschwung verleihen. Im Bild die Neueinwanderersiedlung Bat Yam. Aus: Sharon, Arieh: Physical Master Plan of Israel, Tel Aviv 1951.
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bindung zwischen Tel Aviv, Ramleh und Beer Sheva über S‘dom am Toten Meer hinaus bis nach Eilat ergänzt und somit eine durchgängige Nord-Süd-Verbindung von Haifa bis zum Roten Meer realisiert werden. Abb. 5 Durch diese verkehrsmäßige Arrondierung sollten zum einen die bestehenden Städte in der nördlichen Negev-Region, wie Arad und Mitzpe Ramon, in den Genuss von Standortvorteilen für die örtliche Grundstoffindustrie gelangen, zum anderen sollte an der Grenze zu Jordanien eine ganze Kette neuer Siedlungen und Städte als Industriestandorte zur Ausbeutung der Phosphat-, Tonerde- und Kupfererzvorkommen im Negev geschaffen werden. Abb. 6 Speziell dieses Eisenbahn-Gutachten, das übrigens als erste von allen Studien fertiggestellt wurde, zeigt, wie weit die praxisrelevanten, strukturpolitischen Ambitionen des Projektes der List Gesellschaft tatsächlich gingen. Denn für den Bau der Bahnlinie, deren Konzeption laut Salin auf eine Anregung des deutschen Bundesministers für Verkehr Christoph Seebohm zurückging und über deren Realisierung schon seit Januar 1962 mit Vertretern der israelischen Regierung verhandelt wurde, hatte Salin bereits eine äußerst zinsgünstige Finanzierung aus Bundesmitteln in Aussicht stellen können; 41 sogar die Schienen aus deutscher Fertigung standen schon bereit. »Gescheitert«, wie Salin rückblickend nicht ohne Bitterkeit bemerkte, »ist das Projekt durch wachsenden Widerstand in Israel. […] Militärische Gegengründe wurden geltend gemacht.« 42 Wie aus den vorangehenden Ausführungen deutlich geworden sein dürfte, lässt eine Annäherung an das Israel Research Project in der Tat eine Vielzahl von beziehungsreichen Facetten aufscheinen, die sich gleichsam gegenseitig im breiteren zeithistorischen, ideengeschichtlichen und biografischen Kontext der Zeit Salins widerspiegeln und vollkommen unterschiedliche Denk- und Mentalitätsräume in einer gemeinsamen Perspektive sichtbar werden lassen. En passant ermöglicht das Israel Research Project nicht zuletzt eine Entdeckungsreise durch die Planungsdiskurse der jungen BRD. Bei aller Fortschrittsrhetorik blieben diese Diskurse den politischen Eliten in der Ära des Wirtschaftswunders eher suspekt, da sie sich allzu leicht entweder mit dem Systemgegner im Osten oder der nationalsozialistischen Vergangenheit identifizieren ließen. Demgegenüber bot sich Israel für die Planungsdisziplinen als Bezugspunkt an, der – wenn man so will – einen unbelasteten Re-Import möglich machte. In Israel, so konstatierte Salin in seinem Exposé zum Gutachten für 41 Vgl. Salin, Edgar: »Zur Erinnerung an Hans-Christoph Seebohm«, in: Mitteilungen der List Gesellschaft 6, 7 (1968). S. 166–171. 42 Ebd., S. 170.
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die Bahn der drei Meere, werde eine Planung verwirklicht, um die auf Dauer »auch die ältesten, auch die neo-liberalsten Industriestaaten nicht herumkommen« werden; eine Planung, die, wiewohl sie in keiner Weise mit »totaler Planwirtschaft« gleichzusetzen sei, »in dieser Art bisher wohl nur in Sowjetrußland stattgefunden« habe. 43 Salins Attacken gegen die »Ordo-Liberalen« anlässlich der Tagung des Vereins für Socialpolitik im September 1960 in Bad Kissingen 44 sowie seine Auseinandersetzung mit dem Thema einer »Planung ohne Planwirtschaft« und einer nachhaltigen Stadt- und Regionalplanung verhalfen den fachlich verengten, intellektuell eher kargen bundesdeutschen Diskursen zu neuem Profil.45 Rückblickend mag die Reflexion solcher Fragestellungen nicht nur zeithistorisches Interesse wachrufen – sie könnte sich heute, da das neoliberale Dogma trotz aller Krisensymptome unangefochten dominiert, unvermutet wieder als aktuell erweisen. Eben diese Reflexionsebenen machen die Beschäftigung mit dem salinschen Israel Research Project zu einer solch ungemein spannenden Angelegenheit.
43 Regling, Dietrich/Voß, Reimar: »Die Bahn der drei Meere«, Veröffentlichungen der List Gesellschaft, 31. Tübingen 1963, S. 13. 44 Siehe dazu Salin, Edgar: »Soziologische Aspekte der Konzentration«, Sonderdruck aus: Verhandlungen auf der Tagung in Bad Kissingen vom 18.–21 September 1960, Berlin 1961. 45 Siehe dazu Anm. 24; sowie Salin, Edgar/Bruhn, Niels/Marti, Michel (Hg.): Polis und Regio. Von der Stadt- zur Regionalplanung, Frankfurter Gespräch der List Gesellschaft, 8.–10. Mai 1967.
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KAPITEL II D E R S TA AT S - U N D S TÄ D T E B AU I N I S R A E L
DIE ERFINDUNG DES MODERNEN ISRAEL U N D D E R S H A RO N - P L A N . 1 B E T R AC H T U N G E N Ü B E R E I N U N B E H AG E N Zvi Efrat »Von vornherein wird alles auf eine planvolle Art festgestellt sein. An der Ausarbeitung dieses Planes, den ich nur anzudeuten vermag, werden sich unsere scharfsinnigsten Köpfe beteiligen. Alle sozialwissenschaftlichen und technischen Errungenschaften der Zeit, in der wir leben, und der immer höheren Zeit, in welche die langwierige Ausführung des Planes fallen wird, sind für den Zweck zu verwenden. Alle glücklichen Erfindungen, die schon da sind und die noch kommen werden, sind zu benützen. So kann es eine in der Geschichte beispiellose Form der Landnahme und Staatsgründung werden, mit bisher nicht dagewesenen Chancen des Gelingens.« Theodor Herzl, Der Judenstaat, Wien 1896.2 So wie es jetzt aussieht – allzu dicht bebaut in der Mitte und dünn besiedelt und monoton an den Rändern –, wurde das Land Israel in einer »in der Geschichte beispiellose[n] Form der Landnahme und Staatsgründung« erschaffen.3 Im Gegensatz zu der allgemeinen Auffassung und zum Erscheinungsbild dieses Raumes ist er nicht das Resultat von Improvisation, Notlösungen oder Bauspekulantentum, sondern einer beispiellosen Landesplanung mit dem Ziel, eines der umfassendsten, strengstens geregelten und effizientesten Versuchsmodelle der modernen Architektur zu realisieren. Präzedenzfälle für das zentrale israelische Aufbauprogramm finden sich in Josef Stalins Fünfjahresplan für die Sowjetunion, in den Bau- und Infrastrukturprojekten des amerikanischen New Deals der 1930er Jahre, in den Regionalplanungen der Nationalsozialisten für das von HitlerDeutschland besetzte Polen und in den nach dem Zweiten Weltkrieg 1
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Dieser Beitrag ist eine überarbeitete Fassung des Kapitels Mold in: Efrat, Zvi: The Israeli Project: Building and Architecture 1948–1973, Tel Aviv Museum of Art, 2005 (Hebräisch). Hier zitiert nach Herzl, Theodor: Der Judenstaat, Zürich 1953, S. 86. Ebd., S. 86.
Kapitel II
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in Großbritannien entstandenen neuen Städten. Die allumfassende Vision des israelischen Aufbauprogramms aber, das alle anderen Vorbilder und Begründungen übertraf, hatte ihre Wurzeln in den utopischen Vorstellungen der Zionisten und deren Erfahrungen in der Urbarmachung von Brachland. Zum Verständnis dieser Wurzeln sind einige Erläuterungen notwendig, damit deutlich wird, auf welcher Basis der Nationalplan für Israel unmittelbar nach der Staatsgründung ausgearbeitet wurde. Schon der Begriff »HaMiph’al HaZioni«, der für ein »zionistisches Vorhaben« steht, impliziert den extrem institutionalisierten, ausdrücklich künstlichen und aktiv konstruktiven Charakter des staatsbildenden Landnahme- und Aufbauprogramms der Juden in Palästina im 20. Jahrhundert. Jeder Versuch, den Zionismus durch die Überbetonung von Aspekten wie der spontanen Einwanderung, den organisch gewachsenen Siedlungen oder Marktkräften zu »normalisieren«, verkennt das grundlegende Denkgebäude dieser Bewegung – ihre auf den Begriffen »Negation«, »Inversion« und »Synthese« gegründete Rhetorik, ihr Selbstverständnis als zwangsweise regulierende oder gar »messianische« Erlösung an diesem spezifischen Punkt der Geschichte der Juden in gerade diesem geografischen Raum. Deshalb bildete die zentralisierte staatliche Planung den ultimativen Tropus, der Worten Taten folgen ließ – den in Materie übersetzten Geist des Zionismus, der sich aus zahlreichen Schichten fiktionaler Prosa, ideologischer Manifeste und programmatischer Protokolle zusammensetzte und die Landschaft mit jedem neuen räumlichen oder architektonischen Projekt prägte. Die zentrale staatliche Planung betraf nicht nur die landesweite Raumordnung und Sozialtechnik, sondern wirkte auch als »Apparat« für die Bildung eines neuen Nationalethos. Das zeigte sich am deutlichsten in den konsequenten Bemühungen der Regierung, die Gewichtung des politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Lebens von der Stadt auf das Land und von der Mitte an die Peripherie zu verlagern. In der Regel waren es die Zionisten, die in den ersten 50 Jahren nach der Staatsgründung bahnbrechende neue ländliche Siedlungsmodelle entwickelten und umsetzten, die von einer ausgeklügelten Logistik-Kette unterstützt wurden, welche von der Herstellung und Organisation bis zum Marketing ihrer Erzeugnisse reichte. Eine Stadt haben sie aber nie geplant oder gar gebaut. Tatsächlich wurde die moderne Großstadt sowohl in den literarischen Utopien als auch in der offiziellen Propaganda stets als Anathema der zionistischen Konzepte der Landnahme und Rekultivierung von Brachflächen dargestellt – als störende Wucherung und Gefahr für die fundamentalen Werte der wieder auflebenden hebräischen Zivilisation. Von Anfang an war das »zionistische Vorhaben« also von revolu-
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1 — Die Gründung der Neuen Städte in Israel in den frühen 1950er Jahren: Tiberius, Hedera, Ludd, Ramleh, Hartuv, Migdal Ashkelon und Beer Sheva. Plakat aus der National Plan Exhibition, Tel Aviv Museum, 1950; Plan: Arieh Sharon, Leiter des Ministry of Labor’s Planning Division.
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2 — Premierminister David Ben-Gurion bei der Vermessung der Wegstrecke nach Sodom, 1952. Fotograf: Fritz Cohen.
tionären Zielen, einer zentral gesteuerten Planung und einem durchorganisierten Vorgehen geprägt. Der Durchbruch zum grundlegenden »Umbau« des Landes fand aber erst nach der Gründung des Staates Israel statt. Nach dem Ende des britischen Palästina-Mandates im Jahr 1947 folgten ein administratives Vakuum, der Unabhängigkeitskrieg von 1948 mit seinen Zerstörungen, der Austausch von Flüchtlingspopulationen während dieses Krieges und unmittelbar danach, die Konfiszierung und Verstaatlichung von über 90 Prozent der Landesfläche, der Erlass von Notgesetzen – die überwiegend noch heute in Kraft sind – sowie Sparauflagen, das praktisch absolute Machtmonopol der israelischen Arbeiterpartei Mapai in sämtlichen staatlichen und gewerkschaftlichen Institutionen und schließlich die moralische und materielle Unterstützung des neuen Staates durch die politischen Supermächte der Welt. All das war der Anlass und die vordergründige Legitimation für ein national-jüdisches Aufbauprogramm, mitsamt dem Verdrängungsprozess, das noch kühner war als alle seine literarischen Vorläufer. Schon wenige Wochen nach der Unabhängigkeitserklärung und noch während des Krieges von 1948 wurde Arieh Sharon – ein Bauhaus-Absolvent und einer der angesehensten Architekten der israelischen Arbeiterbewegung – mit der Bildung der Planungsabteilung beauftragt, die der Regierung unterstellt war. Nach etwa einem Jahr legte er seinen Nationalplan für Israel vor, den Sharon-Plan, der nach ihm benannt wurde, und lieferte damit der politischen Führung des neuen Staates ein wirksames Instrument zur Neugestaltung des Landes, das in den folgenden Jahren und Jahrzehnten dessen Erscheinungsbild prägen sollte. Abb. 1
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In der ersten Sitzung des Government Districts and Zones Planning Committees am 6. Dezember 1948 erläuterte Sharon nicht nur seine eigenen Vorstellungen als Architekt, der überraschend die Chance hatte, ein ganzes Land zu planen, sondern auch die von Premierminister David Ben-Gurion, seinem Vorgesetzten: »Es freut mich, dass ich die Gelegenheit habe, Ihnen über unsere Arbeit zu berichten und die dabei auftauchenden Probleme und Schwierigkeiten mit ihnen zu diskutieren. Diejenigen, die auf dem Gebiet der Bauplanung tätig sind, empfinden seit vielen Jahren den Mangel an zentraler und nationaler Projektierung – ein Faktor, der unsere Arbeit behindert und unsere landesweite Aufbauleistung beschränkt. […] Uns wird gesagt, dass verschiedene reiche Länder viele Jahre lang ohne zentrale Planungsämter existiert und sich dabei gut entwickelt haben. Darauf sollte man erwidern, indem man betont, dass wohlhabende Nationen sich Experimente und fehlende Planungen vielleicht leisten können. Man muss aber auch auf die unheilbaren chronischen Krankheiten der Großstädte in diesen Ländern hinweisen. Wir wissen, dass wir nicht in der Lage sind, derartige Krankheiten zu überstehen. […] Die Inbesitznahme des Landes macht es möglich, die Landesfläche zu ordnen und umzugestalten und durch zentrale Planung für das körperliche und geistige Wohl der Menschen zu sorgen. Die ›Alte Welt‹ ist bereits degeneriert, krank, und bringt Monsterstädte hervor. Hier aber gibt es die Chance für einen Neubeginn – sozusagen auf einer tabula rasa. Im Gegensatz zu dort gibt es hier nicht genug Platz, keinen Spielraum für unkontrollierte Entwicklung, keine Orte des Verfalls.« 4 Abb. 2 Dem aufmerksamen Leser dieses Textes fällt nicht nur auf, wie häufig Sharon hygienische und medizinische Metaphern verwendet, sondern auch merkwürdige Formulierungen wie »Orte des Verfalls« oder »Neubeginn […] auf einer tabula rasa«. Dabei weckt er unwillkürliche Assoziationen mit der ungeschicktesten aller zionistischen Parolen: »Ein Land ohne Menschen für ein Volk ohne Land«. Sharon und seinem Planerteam wurde die vordringliche nationale Aufgabe übertragen, Behelfsunterkünfte für die Massen von neuen jüdischen Einwanderern zu bauen und die Grenzgebiete des Landes zu besiedeln, um die Waffenstillstandslinien von 1948 zu befestigen sowie Gebietsabtretungen und die Rückkehr der palästinensischen Kriegsflüchtlinge zu verhindern. In Erfüllung dieser Aufgaben planten Sharon und seine Mitarbeiter ein landesweites Netzwerk von Übergangslagern und Siedlungen entlang der neuen Staatsgren4
Protokoll des Government Districts and Zones Planning Committees vom 6. Dezember 1948.
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zen und siedelten neue jüdische Einwanderer in den verlassenen arabischen Dörfern an. Zeitgleich wurde ein Rahmenplan für die langfristige, intensive und umfassende Entwicklung des Landes skizziert, ausgehend von einer, im Jahr 1966 erreichten Bevölkerungszahl von 2,65 Millionen Menschen, die überall im Land verstreut in Siedlungen leben und arbeiten sollten, um so die »Anomalie« beziehungsweise das »Kolonistenmuster« der jüdischen Einwanderung in Palästina während der Zeit des britischen Mandates zu revidieren. Unmittelbar nach der Staatsgründung lebten nämlich zwei Drittel der jüdischen Einwohner in den drei Großstädten Tel Aviv, Jerusalem und Haifa und 82 Prozent im flachen Küstenland. Der SharonPlan zielte darauf ab, nur 45 Prozent der Bevölkerung in Großstädten unterzubringen und 55 Prozent in neuen Städten von mittlerer Größe oder in ländlichen Siedlungen. Die im Jahr 1948 bestehende »Anomalie« hat Artur Glikson, einer der führenden Mitarbeiter Sharons, am besten beschrieben: »Es gab mindestens ›zwei Israels‹ im Lande. Das eine gekennzeichnet von übermäßiger Konzentration in drei Großstädten, das andere von extremen sozialen, institutionellen und sogar ökonomischen Dezentralisierungstrends in kleinen Dörfern, deren Einwohner Selbstversorger waren. [Glikson hat die Siedlungen der einheimischen Palästinenser nicht einmal erwähnt, und andere Planer seiner Zeit taten es nur selten. Anm. d. Verf.] Da die kollektiv oder genossenschaftlich organisierten Dorfgemeinschaften autark lebten und aus weltanschaulicher Überzeugung das Stadtleben ablehnten, gab es kein ländliches Hinterland, in dem Kleinstädte als Bindeglieder zwischen großen urbanen Ballungsräumen und Dörfern hätten gebaut werden können. […] Die Planer beschlossen daher, die fehlenden Glieder dieser Hierarchiekette zu schmieden. […] Der landesweite Raumordnungsplan teilte die Siedlungen nach Größen in fünf Kategorien ein: (a) Dörfer […], (b) Großdörfer […], (c) Kleinstadt-Oberzentren […], (d) mittelgroße Städte […], (e) Großstädte […]. Die Typen b–d stellten natürlich die fehlenden Glieder dar.« 5 Der Nationalplan wurde in fünf Kategorien unterteilt: Landwirtschaft, Industrie, Verkehr, Forste/Parks und die neuen Städte. Die ländlichen Siedlungen galten als wichtigster Faktor für die Entwicklung und wirtschaftliche Unabhängigkeit des Landes. Dementsprechend wurde eine Landbevölkerung mit 600.000 Bauern als Zielvorgabe gesetzt, die 75 Prozent der Lebensmittel zur Ernährung der Bevölkerung produzieren sollten. Der Nationalplan umfasste ein Bewässerungssystem, das Wasser aus Nord-Israel und der Schfela-Ebene 5
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Glikson, Artur, in: Cohen, Erik: The City in the Zionist Ideology, The Jerusalem Quarterly, Nr. 4, 1977, S. 132.
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in den Norden der Negev-Wüste und in die Berge Judäas leiten sollte, um das Wüstenland urbar und bewohnbar zu machen und so die Gegenmittel für die größte Angst des Premierministers zu schaffen, seinen Horror Vacui. Das Protokoll der zwölften Kabinettssitzung vom 3. Mai 1949 enthält Ben-Gurions bedeutungsschwere Worte: »Wenn Sie auf die Landkarte schauen, sehen Sie, dass der Süden viele leere Stellen hat, und nichts schreckt mich so sehr wie diese Leere – nicht weil die Natur Leere nicht ertragen könnte, sondern weil die Menschen sie nicht aushalten können und die Politik sie nicht aushalten kann.« Die im Sharon-Plan enthaltenen Pläne für die Industriegebiete beruhen auf den Ideen der sozialen und ökologischen Reformbewegungen, die ab der Mitte des 19. Jahrhunderts in den westlichen Industrieländern wirkten, und beinhalten beispielsweise den Gedanken, dass die angemessene geografische Verteilung von Fabriken die Stadt und die Lebensbedingungen der Arbeiter verbessern würde. In Israel, einem Land ohne Industriegeschichte und ohne die damit einhergehenden Missstände, kamen nur die »Nachwirkungen« der Reformer zum Tragen, was man Sharons Erläuterungstext entnehmen kann: »Die mittelgroße, effizienter strukturierte Stadt würde den Fabrikarbeitern das Leben erleichtern, indem sie ihnen komfortable, preiswerte Sozialwohnungen, gute Verkehrsmittel für die Arbeitswege und Parks als Erholungsflächen bietet.« 6 Der Sharon-Plan entwarf auch das gesamte nationale Verkehrsnetz mit einem neuen Hafen, zwei Flughäfen, Eisenbahnlinien für den Güterverkehr und einem verzweigten Straßennetz, um die verstreuten Dörfer und Kleinstädte anzubinden. Dies stand im Gegensatz zu der vernünftigen Idee einer Haupteisenbahnlinie oder einem Straßensystem, das die Ballungszentren und Großstädte direkt und effizient miteinander verbindet. Die Planung der neuen Städte basierte vermutlich auf Standortfaktoren, die in den Anlagen zum Sharon-Plan aufgeführt wurden, etwa: »Ein Standort von hoher Lebensqualität, mit gut bebaubaren Flächen, Nähe zu Beschäftigungszentren, Steinbrüchen und Hauptverkehrsadern«. In Wirklichkeit erwiesen sich diese Faktoren aufgrund von falschen Annahmen über die natürlichen Ressourcen oder Einwanderungsraten als irregeleitet oder sie mussten größeren »wissenschaftlichen« Regionalplanungen untergeordnet werden. Ein leitender Planer aus Sharons Team hat die oft surrealen Situationen vor Ort so beschrieben: In einer Sitzung der Planungsabteilung, die im Jahr 1951 auf dem Höhepunkt der Masseneinwanderung von Juden 6
Sharon, Arieh: Physical Planning in Israel, Hamadpis Hamemshalti, 1951, S. 8 (Hebräisch).
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aus dem Irak stattfand, fand der Direktor der Einwandererbehörde, Giora Yoseftal, bildhafte Worte für die damalige Situation: »Früher brachten wir Einwanderer dort unter, wo es bereits eine Stadt und Arbeitsplätze gab – dann auch dort, wo es Siedlungen ohne Arbeitsplätze gab – dann zwangen uns die immer größeren Einwanderwellen dazu, Aufnahmelager auf Flächen einzurichten, auf denen später neue Städte gebaut werden sollen. Jetzt sind wir sogar dazu bereit, Aufnahmelager auf Flächen einzurichten, die wir uns als Orte künftiger Städte erträumen. Sagen Sie uns, wo Ihre Traumstadt entstehen soll, und wir werden dort unverzüglich ein Aufnahmelager einrichten.« 7 Aus städtebaulicher Sicht war der Sharon-Plan keineswegs innovativ. Statt origineller Ideen präsentierte er ein Konglomerat aus Modellen, Theorien und Experimenten, von denen einige bereits unter der britischen Mandatsregierung vor allem von Mitgliedern des Settlement Reform Forums entwickelt worden waren. Andere wurden als gebrauchsfertige Lösungen aus Europa importiert und schlagartig »eingebürgert«, wie im Fall von den von Walter Christaller entwickelten Schemata. Nur in seiner Gesamtheit und Zielsetzung, die staatliche Vision auf einen Schlag zu realisieren und ein ganzes Land generalstabsmäßig räumlich zu ordnen und zu bebauen, ist der Sharon-Plan einzigartig. Dieser ehrgeizige Plan wäre eine historische Anekdote geblieben, wenn er nicht weitestgehend »wortgetreu« umgesetzt worden wäre, häufig unter Abkürzung der vorschriftsmäßigen Planungsabläufe, aber immer und überall mit den systematisch reproduzierten Standards von Flächennutzung, Bautypen und -methoden. Abb. 3 Da er nicht gesetzlich festgeschrieben und somit nicht durch gerichtliche Verfahren anfechtbar war, mutierte der Sharon-Plan innerhalb von nicht einmal zehn Jahren von einem Grundlagenpapier zu einem Mega-Großbauprojekt, das Dutzende neuer Städte und Hunderte ländlicher Siedlungen hervorbrachte. Schon bald nach der Veröffentlichung des Plans erkannten Sharon und seine Planer, dass sie der Regierung ein allzu leicht verständliches Bauhandbuch geliefert hatten. Trotz ihres Engagements für eine zentralisierte Planung und trotz ihrer Parteitreue bemühten sie sich darum, die Eins-zu-eins-Umsetzung ihres Rahmenplans zu verlangsamen, um eine Anpassung an die örtlichen Gegebenheiten zu ermöglichen. Der von ihnen zu Papier gebrachte »genetische Code« war jedoch längst vielfach »geklont«
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Brutzkus, Eliezer: The Rural Settlement and the Urban Settlement in the State of Israel. Which is Preferable?, in: Journal of Environmental Planning, Nr. 33, 1985, S. 57 (Hebräisch).
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3 — Diagramm der Regionalplanung für die Region Lachish Mitte der 1960er Jahre.
und überall im Land verbreitet worden, wo seine Vitalität und Langlebigkeit sich selbst unter den widrigsten Umständen behauptete. In der ersten Dekade nach der Staatsgründung verwandelte sich das ganze Land in eine riesige Baustelle. Die Formulierung »Eroberung des Landes« fand ihren direktesten und konkreten Ausdruck in der langfristigen Raumplanung und im Bau der nationalen Infrastruktur, die es dem Staat Israel ermöglichen würde, zwei- bis dreimal so viele Einwanderer aufzunehmen als zuvor und die Bevölkerung – dem politischen Willen gemäß – überall im Land verstreut anzusiedeln. Die transformative Kraft des Sharon-Plans und seine fast automatische Umsetzung lassen sich auf zwei Grundsätze der Raumordnung zurückführen: 1. Die Deterritorialisierung, die bei den Palästinensern wirksam, bei den Juden jedoch weitgehend vergeblich angewandt wurde, und 2. die Dezentralisierung gemäß der militärischen Maxime, die bereits vor der Staatsgründung galt und noch heute gilt, de jure oder de facto Wehrsiedlungen an strategisch wichtigen Orten zu bauen. Diese Grundsätze prägten eine »heilige Mission«, die alle Einzelschritte und Prozesse der Umsetzung des Nationalplans bestimmte – auch wenn sie gelegentlich mit den üblichen Berufspraktiken unvereinbar oder unwirtschaftlich waren, und selbst wenn sie die »Heimholung des Volkes Israel« aus der Diaspora und die Schmelztiegel-Rhethorik
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umkehrten und tatsächlich zur strengen geografischen und sozialen Trennung von alteingesessenen und neuen Einwanderern führten. Die Masseneinwanderung war beides zugleich: Problem und Lösung. Ein »Problem«, weil die Wünsche der Einwanderer im Hinblick auf ihre künftigen Wohnorte im Voraus bekannt waren und für die Behörden eine Gefahr für die zionistische Siedlungspolitik darstellten. Eingehende Studien des Planungskomitees zu den Siedlungsmustern in den Ländern der »Neuen Welt« zeigten, dass ohne die staatliche Intervention auch in Israel die erste Einwanderergeneration zweifellos vor allem in die Städte im Küstengebiet ziehen und so die von den Briten hinterlassene »Anomalie« und die Verlassenheit der ländlichen Gegenden noch verstärken würde.8 Eine »Lösung«, weil die historische Chance, das Land Israel neu zu formen, ohne die statistische Größe der Massen neuer Immigranten nicht bestanden hätte. Trotz erheblicher propagandistischer Bemühungen seitens der Regierung, die Migration der Bevölkerung in die Randgebiete des Landes zu lenken, wussten sowohl die Politiker als auch die Planer genau, dass der Sharon-Plan nicht auf freiwilliger Basis realisiert werden konnte. Eliezer Brutzkus, ein Mitglied des Teams von Sharon, beschrieb dessen Erfolg im Vergleich zum Bau der neuen Arbeiterstädte in der Sowjetunion folgendermaßen: »Um die Wahrheit zu sagen, wurden die Ergebnisse auch hier gegen den freien Willen der Angesiedelten, nämlich der Immigranten, erzielt, und zwar durch ein Vorgehen nach dem Grundsatz ›direkt vom Schiff in die Entwicklungsgebiete‹. Dabei darf man nicht vergessen, dass der Bau neuer Städte und die Besiedlung der Grenzgebiete deshalb gelangen, weil vor allem neue Einwanderer und weniger alteingesessene Siedler dorthin dirigiert wurden.« 9 Die buchstäbliche und erzwungene Marginalisierung der neuen Einwanderer wurde mit »wissenschaftlichen« Argumenten gerechtfertigt, und zwar von Planern, die routinemäßig nach dem Prinzip der »Bevölkerungsverteilung« arbeiteten, einem Konzept, das seit den 1920er Jahren im städtebaulichen Diskurs in Deutschland kursierte und zeitgleich auch in den entsprechenden zionistischen Berufsgruppen und politischen Foren. Der sowjetische Städtebau war bei dem von oben dekretierten Bau und der Besiedlung Hunderter neuer Provinz- und Grenzstädte zwar effizient, bildete aber nicht die wichtigste Inspirationsquelle für die israelischen Planer. Nach dem Zweiten Weltkrieg boten verschiedene Neubau- und Wiederaufbau8 9
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Nach Eliezer Brutzkus umfassen die Länder der »Neuen Welt« Australien, Argentinien, den Westen der USA und Kanada. Brutzkus, Eliezer: Transformations in the National Network of Urban Centers, Handasa Ve’adrichalut, Nr. 3, 1964, S. 43 (Hebräisch).
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projekte in Westeuropa – vor allem die von der britischen LabourRegierung gegründeten Satellitenstädte rund um London – bessere Vorbilder und wurden von Sharon und seinem Team gründlich analysiert. Patrick Abercromby, der »Vater« der neuen Städte und vielleicht einer der bedeutendsten britischen Stadtplaner der Nachkriegszeit, besuchte mehrfach Israel und traf dort auch Ben-Gurion, während Sharon nach England flog, um seine Entwürfe von Abercromby begutachten zu lassen, bevor er der Regierung von Ben-Gurion seinen Nationalplan vorlegte. Wenn man sich heute die Verteilung und Komposition der in den 1950er Jahren gebauten Siedlungen in Israel anschaut, so scheint im »städtebaulichen Versuchslabor« des Landes ein neues räumlichbauliches Amalgam entstanden zu sein – ein ungleiches Paar aus grüner Vorstadt eines westlichen Wohlfahrtsstaates und abgelegener Industriestadt am Rand des bolschewistischen Imperiums. Dieser Zusammenschluss illustriert zwei vom Nationalplan vorprogrammierte Paradoxien: einerseits den Versuch, rationale Mechanismen für eine »organische regionale« und damit quasihistorische Besiedlung zu erfinden und zu koordinieren, und andererseits die uneingeschränkte Ideologie eines »antiurbanen Urbanismus«, der so viele Städte und so wenig Urbanität wie möglich beinhaltet. Um dies zu erreichen, wurde mit dem Sharon-Plan im Wesentlichen die Aufteilung des Staatsgebietes in 24 Landkreise vorgeschlagen, die rechnerisch bemessen etwa gleich groß sein und eine gleich große Bevölkerung haben sollten. Die Landkreise – jeder mit einer Kreisstadt vorgesehen – wurden nach geografischen Gegebenheiten ausgewiesen und die Dörfer jeweils um einen größeren Ort als ländliches Oberzentrum gruppiert. Die Größe, Ausmaße und Einwohnerzahlen, die zugeordneten Anbauflächen und Arbeitsplätze galten als verlässliche Kriterien, um die beabsichtigten Wechselbeziehungen zwischen der Landesmitte und der Peripherie, der Stadt und dem Land, der Industrie und der Landwirtschaft zu erreichen. Brutzkus beschrieb es folgendermaßen: »Vom Standpunkt nationaler und regionaler Planung interessiert uns nicht die Stadt an sich, sondern die Stadt in ihrer Position und ihrem Status im Rahmen der allgemeinen Gesetzmäßigkeiten der Siedlungsstruktur einer Region oder des ganzen Landes.« 10 Im Widerspruch zu dieser Aussage stand, dass »die Stadt an sich« – das bedeutete die abwertend als »Entwicklungsstadt« bezeichnete 10 Brutzkus, Eliezer: The New Towns in the Framework of the National and Regional Planning, in: Journal of the Israeli Association for Urban Planning, 1952, S. 7 (Hebräisch).
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Kreisstadt – im Mittelpunkt der gemeinsamen Bemühungen aller beteiligten Planer stand und dass ihre optimalen Formen und Größen der Gegenstand ausführlicher Diskussionen waren. Das bevorzugte Modell war schließlich eine grüne, kleinteilige Stadt für 20.000 bis 50.000 Einwohner, ausgehend von der Annahme, dass es dort weder Orientierungslosigkeit und Entfremdung noch soziale Missstände, Bauspekulantentum und andere gravierende Probleme geben würde, wie sie in Großstädten herrschen. Die für die Länder der Neuen Welt typischen Gesellschaftsmuster und illegalen Siedlungen sollten um jeden Preis vermieden werden. Der Nationalplan übernahm deshalb das historische europäische Siedlungsmuster, bei dem die Mehrheit der Bevölkerung in Dörfern und Kleinstädten inmitten von landwirtschaftlichen Flächen und Wäldern lebt und nur eine Minderheit in den Großstädten. Natürlich geht dieses hierarchische Besiedlungsnetz auf die vorindustrielle Agrarkultur zurück und zeugt von einem langsamen, organischen Wachstum über Jahrhunderte. Die israelischen Planer sollten und wollten dagegen diesen Prozess in einer einzigen heroischen Dekade abschließen und untermauerten ihr ehrgeiziges Aufbauprojekt mit zahlreichen Architektur- und Raumordnungsstudien, indem sie Stadtpläne und landesweite Siedlungsmodelle entwarfen und deren Wechselbeziehungen und das »Durchhaltevermögen« in Kriegs- und Krisenzeiten analysierten. Sie beschrieben die Länder der Neuen Welt als strukturell bipolar und als »junge Kolonien«, die im Gegensatz zu den historisch gewachsenen Dörfern und Städten in Europa standen: »In neuen Ländern (Australien, Argentinien, der Westen der USA und Kanada), die Ende des 19. Jahrhunderts ›von außen‹, das heißt von Einwanderern besiedelt wurden, finden wir ganz andere Siedlungsmuster. […] Bevölkerung, Industrie und Versorgungssektor konzentrierten sich dort in nur wenigen Städten und ließen eine ›polare‹ Struktur ohne ein Netz kleiner und mittelgroßer Zentren entstehen. Diese Struktur zeugt davon, dass die Besiedlung eines Landes oder einer Region noch jung ist.« 11 Im Gegensatz dazu stellt sich die wie im Zeitraffer erfolgte Entwicklung Israels als revolutionär und zugleich restaurativ dar: »Im Kern stellt die ›geografische Revolution‹, die mit der Gründung des Staates einsetzte und noch andauert, nicht nur eine ›Verteilung der Bevölkerung‹ dar, sondern noch mehr eine Auflösung der polaren Struktur und den Aufbau eines grundlegenden, hierarchischen Netzwerks von Siedlungszentren. […] Das Ziel ist es, zwischen den beiden Polen Großstadt und ländlicher Primärzelle drei weitere zentrale 11 Ebd.
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ländliche Orte zu schaffen und die Produktions- und Versorgungsfunktionen allmählich […] in dieses neue Netzwerk umzulenken.« 12 Das Konzept der Auflösung der polaren Struktur beruht auf den großartigen Raumordnungstheorien jener Zeit mit ihren verschiedenen Formensprachen. Die eine ist Ebenezer Howards Konzept der Gartenstadt, das er im Jahr 1898 in seiner Schrift To-morrow: A Peaceful Path to Real Reform und im Jahr 1902 in seinem Buch Garden Cities of To-morrow erläuterte und mit seinem universell einsetzbaren radial-hexagonalen Plan von Siedlungen im Grünen illustrierte. Das zweite ist Walter Christallers »Theorie der zentralen Orte«, die er im Jahr 1939 in seiner Doktorarbeit Die zentralen Orte in Süddeutschland darlegte und als »hexagonales regionales Hierarchieraster aus Ortschaften und Städten abbildete«.13 Das Hexagon ist das gemeinsame Leitmotiv dieser beiden Siedlungsbau-Lehren, ihre Vektoren weisen allerdings in entgegengesetzte Richtungen. Die Gartenstadt wächst radial ringförmig vom Zentrum in die Landschaft hinein, während die zentralen Orte sich rhizomartig vom Dorf zur Stadt vergrößern. Während die Gartenstadt das Vorbild für die neuen Städte in Israel lieferte, gab die »Theorie der zentralen Orte« den israelischen Planern ein umfassendes Gliederungswerkzeug an die Hand, mit dem sie den Umfang und das Ausmaß ihrer raumplanerischen Ideen und regionalen Eingriffe erweitern konnten. Joachim Trezib schätzt die Arbeit der israelischen Planer richtig ein, wenn er schreibt, dass »[…] das Modell der zentralen Orte ihnen als ökonometrische Heuristik zur räumlichen Verteilung der Einwandererwellen diente und damit auch für die Platzierung neuer Städte und ihrer Unterzentren – ein Planungsmodell, das nicht ohne Ironie als ›Planung nach Zahlen‹ bezeichnet wurde«.14 Es wäre weit gefasst, aber durchaus nicht falsch, zu behaupten, dass Christallers »Theorie der zentralen Orte« das Rahmenwerk für die Siedlungsstruktur des Staates Israel lieferte. Die scheinbar widersinnige Absicht der Zionisten, eine regressive Revolution zu veranstalten oder eine neuartige »Alte Welt« zu schaffen, lässt sich nicht nur in der Verteilung der 12 Ebd. 13 Vgl. Fehl, Gerhard: »The Nazi Garden City«, in: Ward, Stephan Victor (Hg.): The Garden City: Past, Present and Future, London; New York 1992. Hierbei handelt es sich um eine kritische Untersuchung der Übereinstimmungen zwischen Gartenstadt-Prinzipien und den Regeln für deutsche Vorkriegsplanungen. Zur gründlichen Erläuterung von Walter Christallers Theorie und deren Auswirkungen auf die israelische Siedlungs- und Landesplanungen vgl. auch Trezib, Joachim: Technokraten des Raums. Die Theorie der »zentralen Orte«, der »Sharon-Plan« und der »Generalplan Ost«. Unveröffentlichte Dissertation, Karlsruhe 2011. 14 Trezib, Joachim: Der Große Traum, in: bauhaus. Die Zeitschrift der Stiftung Bauhaus Dessau 2 (2011), S. 12–21.
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Städte und Siedlungen auf der Landkarte ausmachen, sondern auch in dem Versuch, die Architektur der Städte als Kreuzung zwischen mechanistischen Planungsmethoden – welche die traditionelle Stadt mit Wohnblöcken für die Massen und breiten Straßen effizienter gestalten sollten – und pittoresken Modellen zu gestalten, die der »Stadtberuhigung« dienen sollten – als kleine, autonome Ortschaften abseits von stark befahrenen Straßen, Industriegebieten und umgeben von idyllischen grünen Landschaften. Abb. 4 Dementsprechend wurden »Nachbarschafts-Einheiten« bei der Planung der neuen Städte als Hauptstrukturelemente eingesetzt. Theoretisch handelte es sich dabei um geschlossene Stadtteile mit biomorphen Konturen ohne orthogonale Straßennetze, flexibel und voller Leben. Tatsächlich aber ergab diese Einteilung abgeschnittene Geisterstadtteile mit unterschiedlichen, bunt durcheinander gewürfelten Haustypen sowie Läden, Bildungsstätten und Freizeiteinrichtungen, die nur die Bewohner dieses einen Viertels versorgten. Die Größe jedes Quartiers wurde abgeleitet aus den geschätzten Aufnahmekapazitäten von Kindergärten und Schulen, der optimalen Größe des Einkaufszentrums und der erwünschten Länge der Verkehrswege im jeweiligen Stadtteil. Die fließenden Konturen, die großzügigen Freiflächen innerhalb und zwischen den Vierteln, die Platzierung der Bildungs- und Freizeiteinrichtungen auf Grünflächen oder Waldstücken jeweils im Zentrum, die großen Abstände und Grünflächen zwischen Wohn- und Industriegebieten, die vielen identischen Sozialwohnblöcke auf ungeteilten Geländen, anstelle von spekulativ errichteten Häusern auf Standardparzellen – all das stellte das größte aller Täuschungsmanöver dar. Demnach sollte die neue israelische Stadt ein aufgeblasener Kibbuz sein, in dem eine homogene Gruppe von Einwohnern ohne Privatkapital und vor unvorhergesehenen Marktkräften geschützt gemeinschaftlich und egalitär lebt. Die Kibbuzim und sogar die Wohnblöcke der Arbeitergenossenschaften in den bestehenden Städten waren als exklusive, herrschaftliche Behausungen für die Mitglieder einer sozialen Avantgarde-Bewegung gebaut worden, die neuen Städte dagegen wurden nach oberflächlichen Gesichtspunkten errichtet, einer von oben diktierten fachlichen und bürokratischen Doktrin folgend, die ahnungslosen Neuankömmlingen – passiven Subjekten eines nationalen Experimentes – aufgezwungen wurde. Nach der Gründung der ersten neuen Siedlungen wurde klar, dass die progressiven Prinzipien der Gebietsaufteilung und die großzügigen »ökologischen« Anlagen einfach nicht funktionierten. Aufgrund der erforderlichen Zufahrtsstraßen und Infrastrukturen stellten die in ländlicher Umgebung isolierten »Fertigbaustädte« nämlich eine
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4 — Die ersten Wohngebäude in Mitzpe Ramon in der Wüste Negev in den späten 1950er Jahren.
übermäßige Belastung für den Staatshaushalt dar. Die für die Arbeitsplatzbeschaffung in so entlegenen Ortschaften nötigen Mittel und der erforderliche Unternehmergeist hielten nicht Schritt mit der Zuweisung von immer mehr Einwanderern in die neuen Städte. In Kiryat Shmona entstand die erste Fabrik beispielsweise erst zehn Jahre nach dem Bau der Stadt. Die schon zuvor in Israel lebenden Menschen blieben meist in den Städten und ignorierten die nationale Herausforderung. Die Einwohner der Landkommunen verfügten bereits über eigene, gut organisierte Vertriebsnetze. Sie brauchten die neuen Städte mit ihren Angeboten nicht und missachteten die regionalen Entwicklungsvisionen der Planer. Die großen städtischen Flächen, die auf dem Papier grün gefärbt worden waren, ließen sich aufgrund des Klimas, nicht ausreichend verfügbarer Wassermengen und mangelnder Pflege nicht erhalten und durchschneiden seitdem als Brachflächen die Struktur vieler Städte. Die autonomen, nach innen gerichteten Stadtteile hemmten die Entwicklung des Straßenlebens und die von der offiziellen Staatspropaganda regelmäßig denunzierte »Entfremdung und Degeneration« der Großstadt wurde einfach in Windeseile durch die Homogenität, Abgelegenheit und ungenügende Versorgung der neuen Dörfer und Städte ersetzt. Abb. 5
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Heute, rund 65 Jahre nach seiner offiziellen Veröffentlichung, setzt sich der Sharon-Plan immer noch durch. Die darin niedergelegte Vision der Besiedlung und Modernisierung des Landes ist zum größten Teil realisiert worden. Die neuen Siedlungen bestehen mehr oder weniger genau so, wie sie ursprünglich geplant wurden und zeigen sich heute allerdings in ihrer realen Gestalt häufig als ausgedörrte Gartenstädte, lethargische Orte der Arbeit, von der Bevölkerung gemiedenen Oberzentren, als homogene Schmelztiegel oder unterentwickelte Außenposten, die nach wie vor darum kämpfen, den steuerlichen Sonderstatus zu erhalten, den die aufeinanderfolgenden Regierungen den »Gebieten von nationaler Priorität« eingeräumt haben. Aus den Einwohnern der neuen Städte und Siedlungen, die einen historischen Anteil an der Realisierung der Parole »Bynian Ha’aretz«, dem »Aufbau des Landes« der 1950er Jahre hatten, wurden in den 1970er Jahren Initiatoren der sozialen Unruhen und politischer Umstürze, welche die Likud-Partei an die Macht brachten und der Arbeiterpartei ihren ersten Machtverlust bescherten. Die Bürger des sogenannten »zweiten Israel«, das heißt der neuen Städte, konnten nun gegen das gönnerhafte Entwicklungsprojekt der Linken protestieren und eine Wiedergutmachung für ihre Benachteiligung bei der Förderung von privatem Hausbau und Grundstückserwerb fordern. Aufeinanderfolgende »rechte« Regierungen gaben das Programm von Neubau-Siedlungen nicht auf, sondern setzten es sogar noch radikaler und effizienter fort, um ihre politischen Ziele und Bestrebungen nach Landgewinn durchzusetzen. Der sozialistischen Begründung des Schmelztiegels beraubt, weit entfernt von ihren Ursprüngen in der Gartenstadt-Reformbewegung und abgeschnitten von der regionalen Vision des Ausgleichs zwischen Stadt und Land erschienen die
5 — Die neue Stadt Karmiel in der Region Galiläa, 1964. Abb. 4+5 aus: Efrat, Zvi: The Israeli Project: Building and Architecture 1948–1973, Tel Aviv Museum of Art, 2005.
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neuen Siedlungen den Politikern der Rechten als einfaches Mittel der Wahl, um politische »Tatsachen auf Grund und Boden« zu schaffen und die Westbank und den Gazastreifen irreversibel mit Zivilisten zu besetzen. Je nach wechselndem politischem Geschmack und den veränderten Konsumtrends haben sich die Pläne für neue Ortschaften erheblich verändert, aber das Siedlungsprogramm an sich wurde und wird fortgeführt. Dieser Prozess stellt die Entropie einer immer schneller, immer schlimmer werdenden Lage dar: Die neuen Ortschaften sind dazu verdammt, schnell zu altern, ausgebeutet und teilweise verlassen zu werden, weil anderswo ein noch neuerer Ort mit noch attraktiveren Steuervorteilen, noch herrlicheren Sonnenuntergängen und noch besseren Infrastrukturen lockt.
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KO N Z E P T E D E R I N I T I AT I V P L A N U N G I N D E N E R S T E N JA H R E N D E S S TA AT E S I S R A E L Ruth Kark Von 1948 bis 1952 durchlebte der junge Staat Israel eine Periode enormer Umwälzungen, die auch in der Stadt- und Raumplanung des Landes eine neue Ära eröffneten. Der Zustrom von rund 700.000 Einwanderern verdoppelte die jüdische Bevölkerung innerhalb von vier Jahren und machte es erforderlich, parallel zu der Gründung des neuen Staates und des Aufbaus der staatlichen Verwaltungsstrukturen mit neuen Planungsmethoden und Baumaßnahmen zu experimentieren. Zudem mussten die Einwanderer, die weiterhin in gewaltigen Wellen in das Land strömten, integriert und schließlich die infolge des Unabhängigkeitskrieges von 1948 erfolgte Vergrößerung des Staatsgebiets bewältigt werden. Israel verfolgte vorausschauende Planungsstrategien nach europäischen Vorbildern, um die Kartierung von Siedlungsräumen im neuen Staat zu ermöglichen. In diesem Prozess gab es Erfolge zu verzeichnen, aber natürlich auch Fehlschläge.1 Die Demonstrationen junger Israelis im Jahr 2011 für erschwinglichen Wohnraum erscheinen heute wie ein Echo der Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit, welche die Planer der 1950er Jahre zu erfüllen versuchten. Dieser Beitrag berichtet von einem Forschungsprojekt, das sich mit dem Entwicklungsprozess der nationalen Planungsstrategie befasst hat, mit »tikhnun Yozem artzi«, einem im Jahr 1948 geprägten hebräischen Begriff für eine Initiativplanung oder »einleitende« staatliche Stadt- und Raumplanung in den ersten Jahren nach der Staatsgründung von 1948 bis 1952. Unsere Studie konzentrierte sich auf die Bemühungen der damaligen Regierung, neue Konzepte und staatliche Rahmenwerke zu schaffen und dadurch gleichzeitig die Strukturen der zionistischen Bewegung und der jüdischen Siedlungen (»Jishuw«) in Palästina sowie weiterer vor der Gründung Israels etablierter politischer und siedlerischer Institutionen zu ersetzen. Mit unserer Studie haben wir die Entwicklung neuer Stadtplanungsmodelle und daraus folgender städtebaulicher Maßnahmen bis zu deren Anfängen zurückverfolgt. Der Aufbau des Staates Israel erfolgte, als sich das Staatsgebiet von 15.000 Quadratkilometern – so der Beschluss der UN-General1
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Vgl. Kark, Ruth: Planning, Housing and Land Policy 1948–1952: The Formation of Concepts and Governmental Frameworks, in Troen, S. Ilan/ Lucas, Noah (Hg.): Israel: The First Decade of Independence, New York 1995. S. 461–493.
Kapitel II
versammlung zur Teilung Palästinas – nach dem Unabhängigkeitskrieg von 1948 auf über 20.000 Quadratkilometer vergrößerte – eine ausgedehnte Landfläche in staatlichem Besitz, die verwaltet werden musste. Die daraus folgende drastische Veränderung der israelischen Landkarte erforderte die Formulierung einer grundlegenden Planungspolitik für die künftige landesweite Raumordnung.2 Der staatlichen Verwaltung sowie der Regierung und den Parteien kann man für die ersten fünf Jahre nach der Staatsgründung keine »reine Weste« bescheinigen. Auch die allgemein akzeptierten Konventionen im Hinblick auf gesellschaftliche Fragen und den Bau von Siedlungen wirkten sich nicht unbedingt positiv aus. In der Stadtplanung und Raumordnung des Landes war die neue Situation der Beginn einer neuen Zeit. Die Hauptfaktoren für die weitere Entwicklung waren die Vertreibung der Araber im Krieg von 1948, deren Gründe hier nicht erörtert werden können, und die wachsende Zahl jüdischer Einwohner, die das Erscheinungsbild der Städte und ländlichen Siedlungen radikal veränderten. Die damaligen Planungsinitiativen litten unter den Machtkämpfen und Interessenskonflikten zwischen Privatpersonen, Behörden und Ministerien. Es gab aber auch gelungene Fälle von Kooperation, Koordination und differenzierten Lösungen in den Bereichen der Flächennutzung und des Wohnungs- und Siedlungsbaus. Ständig suchten die Planer nach Lösungen und lernten aus Fehlern, um geeignete Mittel und Wege sowie Arbeitsmethoden zu finden. Dabei gab es auch Beispiele von unnötig verschwenderischer Ausführung. Dennoch erscheint die ganze Entwicklungsgeschichte dieser Zeit wie eine faszinierende, kreative Dialektik der Entscheidungsfindungen und der Ausarbeitung kurz- und langfristiger gesetzlicher Regelungen in einer Zeit voller Spannungen, revolutionärer Umwälzungen und Gefährdungen der nationalen Sicherheit im jungen Staat Israel – insbesondere im Bereich der staatlichen Raumordnungs- und Wohnungsbauprogramme. Die »Wiedergeburt« Israels als souveräner Nationalstaat erforderte die Bildung eines geeigneten Regierungsapparates und der hierfür notwendigen Rahmenbedingungen. Dan Horowitz und Moshe Lissak haben angemerkt, dass dieser Prozess paradoxe Züge aufwies. Die Staatsgründung hatte den politischen Status des Landes, den Verlauf seiner Grenzen und seine Bevölkerungszahl radikal verändert. Dennoch spiegelten die neuen Strukturen auch die Kontinuität und Konsolidierung wenigstens eines Teils der organisatorischen und ideologischen Prinzipien und Konzepte, die sich in jener 2
Vgl. Shimshoni, David: Israel Democracy: The Middle of the Journey, New York, 1982, S. 380; Lucas, Noah: The Modern History of Israel, London, 1974, S. 329–31.
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Zeit herausgebildet hatten, als Palästina noch britisches Mandatsgebiet war. Die Hauptlast dieser Übergangsphase vom »Jischuw« zum Aufbau des Nationalstaates trugen jene Parteien, die im Jahr 1948 an der Bildung der gesellschaftlichen, behördlichen und politischen Strukturen beteiligt gewesen waren.3 Nationale Planungsinitiativen des Ministry of Labor and Construction Die Grundlagen für die nationalen Planungsinitiativen wurden noch unter der Interimsregierung in nicht einmal einem Jahr, vom 14. Mai 1948 bis zum 10. März 1949, durch das Ministry of Labor and Construction unter Minister Mordechai Bentov und der sozialistischen Mapam-Partei gelegt. Nach dem Ende der Mandatszeit wurde eine Kommission für Stadt- und Landesplanung gebildet. Gegen Ende des Jahres 1947 reorganisierte sich dieser »Ad-hoc-Ausschuss« zusammen mit der Bürgerverwaltung (Peoples Administration), um die Arbeit der drei Mandatsressorts für Öffentliches Bauwesen, Landvermessung und Stadtplanung fortzuführen und die zivilen sowie militärischen Bauvorhaben zu überwachen. Die Übergangsregierung beauftragte den Ingenieur Jacob Reiser von der Jewish Agency for Palestine mit dieser Aufgabe.4 Angesichts der Umbruchsituation in Palästina am Ende des Zweiten Weltkrieges und im neuen Staat Israel bestand Minister Bentov auf der Notwendigkeit einer umfassenden, systematischen Landesplanung: Die Eingliederung und Versorgung der Einwanderer, die Verteilung der Bevölkerung im ganzen Land, der Bau von Wohnungen und anderen Gebäuden, der Siedlungsund Städtebau, die Schaffung industrieller und verkehrstechnischer Infrastrukturen, der Aufbau des Bildungs- und Gesundheitswesens, der Bau von Kultureinrichtungen 5 – das waren die Hauptaufgaben seines Ministeriums, dem die Bauingenieur- und Architektenverbände sowie der Circle of Settlement Reform zuarbeiteten.6
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Vgl. Horowitz, Dan/Lissak, Moshe: The Origins of Israeli Polity, Tel Aviv 1977, S. 273–275; Kimmerling, Baruch: Zionism and Territory: The Socio-Territorial Dimensions of Zionist Politics, Berkeley, 1983, S. 19–25; N. Lucas: Modern History, S. 298–318. Israel State Archives (ISA), RG43, Container G/5444, Akte 1639, Jacob Reiser an David Ben-Gurion, 22. Juni 1948. Vgl. Bentov, Mordechai: »Introduction«, in Solow, A. A.: Observations on the Organization of Town and Country Planning Activities, Tel Aviv 1949, S. 3–4. ISA RG43, Container G5463, Akte 1958, Eliezer Brutzkus’ Kommentare zum Problem der Organisation und Durchführung von Planungsprojekten, 11. Januar 1950; siehe auch Reichman, Shalom: »Three Dilemmas in the Evolution of Jewish Settlement in Palestine: Colonization, Urbanization and Reconstruction«, City and Region, 2, Nr. 3, 1975, S. 47–56 (Hebräisch).
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Sämtliche Planungsaufgaben fielen in das Ressort von Minister Bentov, weshalb er sein Ministerium im Juni 1948 komplett umstrukturieren musste. Bentov schuf eine Planungsabteilung, die »die Grundlagen für eine staatliche Initiativplanung« erarbeiten sollte, sowie eine Bauabteilung und erstellte ein neues Organigramm für die 89 Beamten und Mitarbeiter seines Ministeriums.7 Abb. 1 Diese Reform wurde nicht ohne den Vorwurf an Bentov umgesetzt, er habe die verwaltungstechnischen Strukturen aus politischen, vor allem aber parteipolitischen Gründen nur noch verkompliziert und die Leitung seines Ministeriums auf eine »kryptisch-kommissarische« Basis gestellt.8 Shalom Reichmann und Mira Yehudai haben die Organisationsstruktur der neu eingerichteten Planning Authority beschrieben.9 Geleitet wurde sie von Arieh Sharon, einem erfolgreichen, sozialistisch gesonnenen Architekten, der trotz seiner fehlenden Qualifikation als Stadtplaner aufgrund seines Ansehens und Organisationstalentes auf diesen Posten berufen wurde. Sharon gelang es, die besten und begabtesten Architekten und Städtebauer zu engagieren, die es damals in Israel gab. Die Planning Authority war in fünf Abteilungen aufgeteilt: erstens das Department of Regulative Planning, ein Erbe der Funktion des Advisor for Town Planning der britischen Mandatsregierung, zweitens das Department for ProActive National Planning, welches es vorher nicht gegeben hatte. Es hatte die Oberaufsicht über die regionalen Planungsämter, die mit der Erstellung von Regionalplanungen beauftragt waren, um auf der Basis der nationalen Zielsetzung, »die Bevölkerung möglichst gleichmäßig überall im Land anzusiedeln […] und das Land je nach physischen und wirtschaftlichen Gegebenheiten in geografische Zonen einzuteilen und städtische Zentren für diese Regionen zu planen. Zudem waren die besten Orte für Industrieansiedlungen zu bestimmen und ein Verkehrsnetz anzulegen, dass dem ganzen Land auf vernünftige Weise dienen« würde. Drittens und viertens wurde ein Research and Survey Department eingerichtet. Letzteres war die größte Abteilung, die die Aufgabe hatte, die Daten für die Entwicklung der gesamten Landesplanung zu sammeln und aufzubereiten. Fünftens gab es ein Architectural Department, das für den Entwurf und die Bauleitung von Regierungsbauten und anderen öffentlichen Gebäuden wie Krankenhäusern und Schulen zuständig war. Diese 7 8
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ISA, RG43, Container G/5463, Akte 1960. ISA RG43, Container G/5444, Akte 1639, Gespräch zwischen Jacob Reiser und Mordechai Bentov, 16. Juni 1948; Reiser an Bentov, 30. Juni 1948, und Z. Sharf an Reiser, 8. Juli 1948. Vgl. Reichman, Shalom/Yehudai, Mira: A Survey of Proactive Planning 1948–1965, Jerusalem 1984 (Hebräisch).
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1 — Organigramm der ersten Planning Authority.
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Pläne mussten mit dem Department for Pro-Active National Planning und dem Department of National Housing, dem einzigen Testlabor für Wohnungsbau des Landes, abgestimmt werden.10 Parallel zum Aufbau der Planning Authority bildete Minister Bentov im August 1948 eine »Ad-hoc-Kommission« von Spezialisten, den Unterausschuss für besondere Raumordnungsprobleme, sowie einen Ausschuss, der den Entwurf für die neuen Planungsgesetze ausarbeiten sollte. Außerdem schlug er die Schaffung eines National Planning Council und einer Ministerialkommission vor, die sämtliche Raumplanungen und Wirtschaftsförderungen koordinieren und leiten sollten, um das künftige Erscheinungsbild Israels festzulegen. Der Premierminister David Ben-Gurion lehnte diese Vorschläge ab.11 So holte Minister Bentov den international anerkannten Stadtplaner und Wohnungsbauexperten Anatole A. Solow für die Monate Dezember 1948 und Januar 1949 nach Israel, obwohl Arieh Sharon und die Leiter der Planning Authority dagegen waren. Solow, ein amerikanischer Architekt russischer Abstammung, hatte in Europa studiert. Er nannte die Initiativplanung eine »kreative Planung« und legte im Februar 1949 der israelischen Regierung sein 40 Seiten starkes Gutachten mit seinen »Feststellungen zur Organisation der Stadt- und Landesplanungen des Ministry of Labor and Construction« vor. Die konkreten Auswirkungen des Gutachtens – Bentov erhielt es kurz bevor er das Kabinett verließ – waren minimal. Aufgrund von Verzögerungen bei der Drucklegung erreichte es die Regierungsmitglieder sogar erst ein volles Jahr später.12 Die im Ministry of Labor and Construction angesiedelte Planning Authority stand für Kontinuität, aber auch für Veränderungen ein. Der von der britischen Mandatsregierung abgesteckte Planungsrahmen wurde nun um weitere Ebenen kreativer Landesplanung erweitert. Die Aufteilung der Planning Authority Die Bildung der ersten israelischen Regierung im März 1949 hatte weitreichende Auswirkungen auf die gesamte staatliche Planungsorganisation. Die fünf von Minister Bentov eingerichteten Abteilungen der Planning Authority wurden aufgelöst und deren Aufgaben drei Ministerien zugewiesen. Der Wohnungsbau war nun die Aufgabe des Ministry of Labor and National Security. Für die Stadt- und 10 ISA, RG43, Container G/5463, Akte 195, Arieh Sharon: Review of the Structure of Planning, 6. Januar 1950. 11 Vgl. Kahane, A.: »Twenty-Five Years of National Planning in Israel«, Engineering and Architecture, 20, Nr. 8, August 1962, S. 255–256 (Hebräisch). 12 ISA RG43, Container G/5463, Akte 1958. Sharon, Arieh: Review of the Structure of Planning, 6. Januar 1950.
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Regionalplanung, die Landvermessung und geografischen Studien sowie die Architektur und das Bauwesen war das neu geschaffene Planning Department zuständig, das direkt dem Premierminister, das heißt der Staatskanzlei, unterstand. Dazu gehörte das separate Department for Economic Coordination and Planning. Ab August 1949 übernahm das Innenministerium die Verantwortlichkeiten für die Regulierungsplanung.13 Diese Umstrukturierungen erfolgten nach reiflichen Überlegungen und Gesprächen aller Beteiligten auf sämtlichen politischen und administrativen Ebenen des neuen Staates. Eine Studie des Autors Ilan Troen hat gezeigt, dass Ben-Gurion bei seiner Entscheidung, die Planning Authority in die Staatskanzlei zu integrieren, offenbar dem Rat von Alfred Bonne gefolgt ist, der in den Jahren 1943 bis 1948 Vorsitzender des Planungsausschusses der Jewish Agency for Israel war. Der Premierminister und sein Mitarbeiterstab erkannten die Wichtigkeit dieser Planungsbehörde und ihres Beitrags zur Umsetzung des nationalen Aufbauprogramms. Gemäß seiner eigenen Auffassung von Staatsführung war es für BenGurion selbstverständlich, dass alle Regierungsaufgaben, die eine Kooperation verschiedener Ministerien erforderten, unter seiner – des Premierministers – direkter Aufsicht stehen sollten.14 Darüber hinaus basierte diese Entscheidung wohl auch auf bürokratischen Erwägungen. Die Anregung zu diesem Schritt kam von Staatssekretär Zeev Sarig, der die Staatskanzlei von der Verpflichtung befreien wollte, sich mit der Öffentlichkeit auseinanderzusetzen, und diese lästige Aufgabe dem Innenministerium zuschob. Arieh Sharon, der Direktor der ersten Planning Authority, aus der das der Staatskanzlei unterstellte Engineering Planning Department geworden war, unterbreitete Ben-Gurion im März 1949 einen Maßnahmenkatalog. Dieses Dokument enthielt die Feststellung des landesweiten Ist-Zustands sowie dreierlei Raumordnungspläne, die nationale, regionale und lokale Belange berücksichtigten. Sharons Abteilung befasste sich primär mit koordinierten, aufeinander abgestimmten Raumordnungsprojekten unter der Berücksichtigung sozialer und wirtschaftlicher Aspekte auf nationaler und lokaler Ebene. Die Pläne erfüllten die Kriterien der gleichmäßigen Verteilung von Wohnorten und Industrieansiedlungen im ganzen Land. Außerdem plante Sharons Abteilung eine Reihe von Nationalparks und Landschaftsschutzgebieten und unterteilte Israel in vier Hauptregionen – den Norden, die Mitte, Jerusalem und den Süden – sowie 24 weitere Planungszonen 13 Arieh Sharon an David Ben-Gurion, 28. März 1949, in: A. Sharon: Review. 14 Vgl. A. Bonne, zitiert in Troen, S. Ilan: »The Turnabout in the Zionist Planning Policy – From Rural Settlement to Urban Systems«, in: Contemporary Jewry, Annual for Study and Research 5 (1989), S. 233–34 (Hebräisch).
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2 — Die vier Hauptregionen des Nationalplans von Arieh Sharon, 1951. Aus: Sharon, Arieh: Physical Planning in Israel, 1951.
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ein.15 Abb. 2 Der große Zustrom von Einwanderern zwang Sharon und sein Engineering Planning Department, ein detailliertes Wohnungsbauprogramm zu entwickeln und Brachflächen und andere Grundstücke zur Bebauung freizugeben, noch bevor nachhaltige Entwicklungsprinzipien festgelegt werden konnten. Es fehlte auch die Zeit, um die für das staatliche Bauwesen notwendigen gesetzlichen Rahmenbedingungen für landesweite oder regionale Raumordnungspläne und Stadtentwicklungsprojekte auszuarbeiten. Im Jahr 1951 fielen dann zwei Entscheidungen zur internen behördlichen Organisation und der Organisation der Planungsarbeit: Erstens, das Planning Department der Staatskanzlei sowie das Urban and Rural Town Planning Department des Innenministeriums zu einer einzigen Abteilung unter der Ägide des Innenministers zusammenzulegen, und zweitens, einen Obersten Planungsrat zu gründen. Beide Entscheidungen wurden im Januar 1952 umgesetzt. Das war ein herber Schlag für Arieh Sharon, der Ben-Gurion im Mai 1950 und Levi Eschkol im September 1951 am Vorabend der dritten Regierungsbildung vorgeschlagen hatte, ein Ministry of Planning mit gesetzlicher Autorität einzurichten. Dieses Ministerium sollte dem Vorbild des Ministeriums für Planung und Städtebau folgen, dass im Jahr 1942 in England eingerichtet wurde und sich an den Planungsmodellen in Belgien, Frankreich und den Niederlanden zu Beginn der 1950er Jahre orientieren. In den Obersten Planungsrat berief die Regierung Vertreter verschiedener Ministerien. Erst am Vorabend des Tages, an dem das neue Planungsamt und der Planungsrat ihre Arbeit aufnahmen, wurde Ben-Gurion bewusst, was diese Aufteilung der Zuständigkeiten real bedeutete. 1952 schrieb er an Haim Shapira: »Ich war überrascht zu erleben, dass der Innenminister den Planungsrat auch über den Bau von Straßen, Bahntrassen, Flughäfen, Hafenanlagen und Parks bestimmen ließ. Entsprach das wirklich dem [ursprünglichen] Beschluss der Regierung?« 16 Versuche der Kräftebündelung Das National Housing Department hatte im Jahr 1948 seine Arbeit aufgenommen. Im Januar hatte es eine Bestandsaufnahme durchgeführt und ermittelt, dass 525.000 Einwohner in 239.000 Wohneinheiten lebten. Zu den grundlegenden Strategien der Regierung gehörte in den ersten Jahren des neuen Staates die Ausarbeitung von Richtlinien zur gleichmäßig im Land verteilten Ansiedlung der 15 A. Sharon: Review. 16 ISA, RG43, Container G/5451, Akte 1799, M. Shapira an D. Ben-Gurion, 16. Januar 1952; ebd., D. Ben-Gurion an Z. Sharf, 24. Januar 1952.
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Bevölkerung. Hierfür schuf sie zwei Institutionen, die für eine rasche Lösung der Wohnungsnot sorgen sollten: Es entstanden die Wohnungsbaugesellschaft Amidar in Partnerschaft mit der Jewish Agency for Palestine, die vor allem die neuen Einwanderer unterbringen sollte, sowie ein eigenes Housing Department.17 Trotz allseitiger bester Absichten gab es schon bald nach der Gründung von Amidar im Verlauf des Jahres 1949 Konflikte zwischen dem Planning Department der Staatskanzlei und dem Jewish National Fund über die Flächenzuweisungen für den Wohnungsbau, das heißt über die Wahl von Grundstücken für insgesamt 31.000 Wohneinheiten – davon 15.587 in Groß- und Kleinstädten, die restlichen in Moshav- und Kibbuz-Siedlungen. Ursprünglich sollte Amidar sämtliche Wohnungsbauprojekte steuern und die Verteilung der Einwanderer im ganzen Land durchführen, kam diesen Aufgaben aber nicht nach.18 Die Einsetzung einer staatlichen Planungs- und Bauabteilung zur Lösung der Wohnungsnot Vor dem Hintergrund der oben beschriebenen Situation wurde im Ministry of Labor and National Security ein Housing Department eingerichtet, dessen Bautätigkeiten aus dem staatlichen Etat für Landesentwicklung finanziert wurden. Das Dezernat »erbte« etliche Mitarbeiter des unter Bentov geschaffenen National Housing Department und wurde von David Zaslavsky geleitet.19 Schon im Jahr 1950 wurde klar, dass in den verschiedenen Planungsämtern und -abteilungen vielfach doppelte Arbeit geleistet wurde. Deshalb war das Housing Department von 1949 bis 1952 auch für die Koordination von Bautätigkeiten durch Wohnungsbaugesellschaften wie Amidar in abgelegenen Regionen, in Entwicklungsgebieten in der Nähe von Städten und in Moshav-Siedlungen zuständig.20 Die Planung und Durchführung von staatlichen Wohnungsbauprogrammen Im Wohnungsbausektor Israels lassen sich für die Zeit von 1948 bis 1952 drei unterschiedliche Phasen ausmachen. Die erste war durch »abstrakte« Planungen auf dem Papier und fehlende politische Vorgaben gekennzeichnet. Die Bevölkerung von Großstädten wie Haifa 17 Vgl. Israel Government Year Book 1950, S. 174–75. 18 Vgl. Gilboa, S.: »Public Construction as a Solution to the Shortage of Permanent Housing for New Immigrants: The Amidar Company 1949–52«. Seminararbeit, Tutor: Ruth Kark, Jerusalem 1991 (Hebräisch). 19 Vgl. Zaslavsky, David: Immigrant Housing in Israel: Building, Planning, and Development, 1950–1953, Tel Aviv 1954, S. 1–13 (Hebräisch). 20 ISA, RG109, Container G/2373, Akte 6101, D, David Tene an Golda Meyerson, Oktober 1953.
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und Jerusalem war insgesamt um rund 145.000 Einwanderer gewachsen, die zunächst in den von Arabern verlassenen Häusern untergebracht wurden.21 Die zweite Phase begann Ende 1949 mit der Einrichtung des Housing Department im Ministry of Labor in Kooperation mit der Jewish Agency for Palestine. Diese Periode war gekennzeichnet durch die große Zahl von verschiedenen Aufgaben und Tätigkeiten, die sich mit der Zeit noch vervielfachten. Ein weiteres Phänomen dieser Phase waren die Versäumnisse in der staatlichen Planungs- und Bautätigkeit, vor allem im Bereich der Planung neuer Städte: Im Jahr 1952 befanden sich von den 56 vorgesehenen noch 49 in der Planung, und nur sieben waren fertiggestellt worden. In den 1950er und 1960er Jahren wurden von den geplanten neuen Städten insgesamt 24 realisiert. Sie entstanden überall an den Grenzen des Landes – vom äußersten Norden (Kiryat Shmona) bis zur Wüste Negev (Beer Sheva). Ursprünglich sollten dort vor allem jüdische Einwanderer aus muslimischen Ländern angesiedelt werden, die bis dahin in behelfsmäßigen Zeltstädten gelebt hatten. Die Neustädte sollten auch Gewerbe- und Industriegebiete umfassen, in denen die Einwohner ihren Lebensunterhalt verdienen konnten. Abb. 3 Die dritte Phase, in deren Verlauf Wohnbauten für Einwanderer und bedürftige Altsiedler entstanden, setzte im April 1952 ein. Das Housing Department spielte bei der Planung und Bauausführung eine maßgebliche Rolle. In einem Artikel darüber stellte Zaslavsky damals fest, dass zwar erhebliche Investitionen in wachsende ländliche Siedlungen getätigt, die Städte aber – die doch 80 Prozent der Bevölkerung aufnehmen sollten – vernachlässigt wurden. Bis 1953 gab es keine mit staatlichen Vollmachten ausgestatteten Stadtentwicklungsämter in Israel.22 Der Entwurf einer neuen Raumordnung – Veränderung des nationalen Katasters Am Ende des Unabhängigkeitskrieges von 1948 war das israelische Staatsgebiet auf eine Fläche von rund 20,6 Millionen Dunams angewachsen, was einer Fläche von 20.600 Quadratkilometern entspricht. Es umfasste Ländereien und Gebiete, die während des Krieges von Arabern verlassen worden waren – insgesamt etwa 4,2 bis 5,8 Millionen Dunams (4200 bis 5800 Quadratkilometer).23 Avraham Granott, 21 Vgl. Reichman, Shalom: From Foothold to Settled Territory, 1918–1948, Jerusalem, 1979, S. 97–98; Barkai, Haim: The Beginnings of the Israeli Economy, Jerusalem 1990, S. 33–35 (Hebräisch). 22 Housing Problems Committee, 3. Dezember 1952; D. Zaslavsky: Immigrant Housing, S. 9; S. Gilboa: Public Construction, S. 13–14. 23 Ein metrischer Dunam entspricht 1000 qm.
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ein Experte für Landpolitik, schrieb in einem Buch: »[…] [Es] ist ein neuer wichtiger Faktor aufgetaucht, nämlich die Konzentration ausgedehnter Flächen in staatlicher Hand […] und die deutliche Reduktion von privatem Grundeigentum auf nicht mehr als zehn Prozent des ganzen Landes.« 24 Die Ausarbeitung der geeigneten politischen Vorgaben und Gesetze für den nationalen Wohnungs-, Siedlungsund Städtebau nahm längere Zeit in Anspruch. Aharon Zisling, Landwirtschaftsminister und Mitglied der Mapam-Partei, war mit der Landpolitik befasst und entwarf das nationale Bodenrecht auf der Basis der Verstaatlichung von privatem Grundeigentum. Seine politischen Überzeugungen prägten auch das erste, im März 1949 verabschiedete, staatliche Vierjahresprogramm auf der Grundlage von verschiedenen strategischen Prinzipien. Eines davon hieß: Die Beschränkung der Größe von privatem Grundbesitz, festgelegt im Gesetz von 1951 über die Zuständigkeiten kommunaler Baubehörden, das den zionistischen Institutionen die Hauptverantwortung für die Entwicklung ländlicher Siedlungen übertrug. Von dem Darlehen der USA über 35 Millionen US-Dollar wurden zum Beispiel rund zwei Drittel für den Bau von 286 Dörfern auf Staatsland verwendet.25 Aus programmatischer Sicht wird diese Entwicklungsphase unterschiedlich bewertet. Zweifellos litten die Planungen darunter, dass so viele verschiedene zionistische, staatliche und kommunale Behörden und Organisationen mit den gleichen Aufgaben befasst waren und sich in ihren Kompetenzen überschnitten. Außerdem bestand eine Diskrepanz zwischen der relativ gelungenen Verteilung der Einwanderer im ganzen Land und dem Erfolg, beziehungsweise Misserfolg, der Behörden bei der Schaffung einer ausreichenden Anzahl von Arbeitsplätzen und dem Bau von genügend sozialen Einrichtungen und Schulen. Am Ende der untersuchten Entwicklungsperiode nahm die Macht der Exekutive zu. Das Housing Department entwickelte sich zum Ministry of Housing, während Raum- und Flächennutzungsplanung an Bedeutung verloren und eigene Ministerien für Planung und Landesentwicklung nicht wie vorgeschlagen geschaffen wurden. Die geografische Verteilung der Einwanderer der 1950er Jahre war die Ursache für das über viele Jahre bestehende sozioökonomische Ungleichgewicht in der Bevölkerung und den Konflikt zwischen den ersten Siedlern und den Neubürgern Israels. Die 24 Granott, Abraham: Agrarian Reform and the Record of Israel, London 1956, S. 253–255. Siehe auch Jiryis, Sabri: »The Legal Structure for Expropriation and Absorption of Arab Lands in Israel«, in: Journal of Palestine Studies, 3, 1973, S. 82–104. 25 Ausführliche Studien zu den »Neuen Städten« publiziert in: Lichfield, Nathaniel: Israel’s New Towns, 4 Bände, Tel Aviv 1971/72.
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Qualität der staatlichen Landesentwicklung und Bauplanung sowie frühe Bemühungen um die gleichmäßige Verteilung der Einwohner im Staatsgebiet haben daher die Entwicklung Israels nachhaltig geprägt.
3 — Übersichtskarte der neuen Städte, 1948–1965.
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P L A N U N G E I N E R » H E I M S TAT T « F Ü R D I E NAT I O N Rachel Kallus Am Ende der 1950er Jahre baute das israelische Department of Construction and Housing in der »Entwicklungsstadt« Kiryat-Gat im Süden des Landes eine moderne Vorstadt, die als Mustersiedlung für die Aufnahme von Einwanderern und deren Integration in die alteingesessene Bevölkerung konzipiert war. Ihr Entwerfer, der Architekt Artur Glikson, bezeichnete sie als »integrative Wohnstätte« (Integrative Habitation Unit). Das Projekt sollte unter Berücksichtigung verschiedener städtebaulicher und raumplanerischer Aspekte ein nach ökologischen und soziologischen Kriterien angelegtes Wohnviertel schaffen, das auf optimale Weise den Zusammenhang und den Zusammenhalt der unterschiedlichen Bewohner fördern würde. Die »integrative Wohnstätte« gehörte zu der erklärten Politik des Departments of Construction and Housing, nicht mehr einfach nur Wohnraum zu schaffen, sondern in den Neubau-Siedlungen auch für eine soziale Durchmischung und die gesellschaftliche Strukturierung der Einwohnerschaft zu sorgen, um so politische mit architektonischen Aufgaben zu kombinieren, um »reale Orte für reale Menschen« zu bauen. Da hier die Wohnbedürfnisse der unterschiedlichen ethnischen Gruppen berücksichtigt wurden, bildete der neue Vorort von Kiryat-Gat ein Modell für gesellschaftliche Integration, das eine Alternative zu den vorherigen »kontextneutralen« staatlichen Wohnungsbauprojekten in den immer größer werdenden Städten Israels darstellte. Als Stadtteil von Kiryat-Gat, dem Zentrum der Region Lachisch, wurde die »integrative Wohnstätte« als strukturelles Glied in der Hierarchie »Stadtquartier-Stadt-Region« konzipiert. Da die Stadt bei der Projektierung der »integrativen Wohnstätte« die Bedürfnisse der Einwohner berücksichtigte, war das Projekt Teil eines nationalen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und planerischen Aufbau-Netzwerks. Bei aller sorgfältigen Gestaltung des spezifischen Ortes entstand die »integrative Wohnstätte« aber im Rahmen des staatlichen Wohnungsbau- und Stadtentwicklungsprogramms. Das Hauptentwurfsziel bestand darin, die landesweite Modernisierung Israels im Bereich des Wohnungs- und Städtebaus zu realisieren und die politisch angestrebte Eingliederung der neu in das Land strömenden Einwanderer in das nationale Siedlungsprogramm einzubinden. Die hauptsächlich aus Afrika stammenden Immigranten galten für die landwirtschaftliche Pionierarbeit als untauglich und mussten daher in den Städten untergebracht werden. Die neuen Vorstädte, in
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denen sie Aufnahme finden sollten, galten im Kontext des nationalen wirtschaftlichen Aufbaus als Bindeglieder zwischen der Stadt- und Landesentwicklung. Der vorliegende Beitrag stellt die »integrative Wohnstätte« als Stadtteil von Kiryat-Gat und auch als Ortschaft in der Region Lachisch vor und befasst sich dabei schwerpunktmäßig mit der Rolle von Architektur und Bauwesen beim Aufbau des Staates Israel. Das besondere Interesse galt dem Versuchscharakter dieses Vorhabens und der Art und Weise, in der ein Wohnquartier zum Prüffeld für die Ansiedlung von Menschen in einem bestimmten Stadt- oder Landschaftsraum wird. Der Blick auf diese spezielle Siedlung ermöglichte die Untersuchung der Frage, wie die Architektur materielle und soziale Lebenswelten für den Alltag der Menschen gestaltet. Die Studie hat nachgewiesen, dass und auf welche Weise professionelle Kenntnisse und Praktiken das Alltagsleben der Einwohner durch die Gestaltung von Räumen, Bauvolumen, Materialien und Bewegungsabläufen geprägt werden, wie sich das persönliche Selbstverständnis und die Identifikation der Menschen mit ihrem Wohnort herausbilden und wie ein Staatsgebiet räumlich gegliedert wird. Die Studie hat schließlich auch den dualen Charakter des Wohnumfeldes als Privatsphäre und als öffentlicher Raum identifiziert. Das Wohnviertel Das Projekt in Kiryat-Gat war der Versuch, die »integrative Wohnstätte« entgegen den Idealen der Architekturmoderne, die besonders von der CIAM-Bewegung propagiert wurden, »menschengerecht« zu gestalten. Angesichts der zunehmenden Betonung spiritueller und emotionaler Werte in der Wissenschaft und Technologie 1 führte die Planung der »integrativen Wohnstätte« zu einem neuen Verständnis der architektonischen Praxis und stellte den Versuch dar, wissenschaftliche mit soziokulturellen Erkenntnissen zu verknüpfen.2 Um dieses Experiment wirklich zu verstehen, muss man es im Licht einer pragmatischen Moderne betrachten, die mit den schwie1
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In seiner gesamten Laufbahn als Architekt stand Glikson unter dem Einfluss von Ernst Fuhrmann (1886–1956), den er als seinen Mentor bezeichnete. Fuhrmann war Schriftsteller, Philosoph, als Biologe Autodidakt, Direktor des Folkwang Verlages und Museums und Gründer des Folkwang-Auriga Verlages. In mehreren Büchern entwickelte er seine »Biosophie«, die Theorie von den Pflanzen als Lebewesen mit latenten Bioenergien und ähnlichen Instinkten wie die der Tiere [oder bei den Tieren]. Im Jahr 1938 emigrierte er in die USA und blieb bis zu seinem Tod mit Glikson in Kontakt. Glikson hatte auch Verbindung zum Team 10, das den städtebaulichen Teil des CIAM anfocht und so eine Spaltung unter den CIAM-Mitgliedern herbeiführte. Im September 1965 nahm er an der Tagung des Team 10 in Berlin teil und stellte dort das Projekt der »integrativen Wohnstätte« für Kiryat-Gat vor.
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1 — Das Zentrum mit Bewegungsmustern, Artur Glikson, 1967.
2 — Gesamtplan des Stadtviertels, Artur Glikson, 1967.
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rigen materiellen, politischen und gesellschaftlichen Bedingungen zu kämpfen hatte, die damals – kurz nach dem Ende des britischen Mandates über Palästina – im neuen Staat Israel herrschten. Demgegenüber schien das Projekt der »integrativen Wohnstätte« einem behutsameren, fast schon poetischen architektonischen Kurs zu folgen. Natürlich gab es auch hier professionelles Elitedenken, bürokratische Restriktionen und die »Komplizenschaft« mit einer Politik der extremen Ausgrenzung, aber auch eine größere Flexibilität im Hinblick auf die Art der Modernisierung Israels. Bei der Planung ging es auch um das Verständnis der persönlichen und kulturellen Identität der Bewohner, das sich in der formalen Gestaltung und der Berücksichtigung der soziopolitischen Gegebenheiten niederschlug. Dadurch wurden das Gemeinschaftsgefühl der Bewohner und ihre Identifikation mit dem Ort gefördert, der »verlorene Stadtraum« wiedergefunden und die »Wohnmaschine« vermenschlicht. Mit ihrer Studie von 1978 begutachteten Josef Slijper, ein offizieller Vertreter des Ministry of Construction and Housing, und der Ingenieur Asher Stoop den Erfolg der »integrativen Wohnstätte« und versuchten, ihre Effektivität im Hinblick auf die ethnische Durchmischung, die soziale Integration und den nachbarschaftlichen Zusammenhalt zu messen. Wie andere Forscher auch stuften die Soziologen Judith Shuval 3 sowie Yona Ginsberg und der Architekt und Planer Robert Marans 4 die »integrative Wohnstätte« als eine rein sozialtechnische Übung ein und waren damit auf einer Linie mit der Staatsdoktrin des »Schmelztiegels Israel«. Vor Beginn der eigentlichen Entwurfs- und Planungsphase erfolgten mehrere systematische Analysen zu der Frage der potenziellen Auswirkungen dieser Vorstadt und ihrer Gestaltung auf die soziale und ethnisch-kulturelle Eingliederung der Immigranten aus Nordafrika, Asien und Europa, denn in der »integrativen Wohnstätte« sollten diese mit bereits einheimischen Israelis zusammenleben.5 Die Studien ermittelten die Zusammensetzung der verschiedenen Gruppen und Familien nach Alter und Geschlecht, dem derzeitigen und möglichen künftigen Wohnbedarf, den Besitzverhältnissen und den erforderlichen Versorgungseinrichtungen und bevorzugten Lebensbedingungen der Einwanderer. Weitere Daten zu deren gesellschaftlichen Beziehungen 3 4
5
Vgl. Shuval, Judith: Housing Patterns and Social Relations in the Experimental Neighborhood in Kiryat Gat, Jerusalem 1966 (Hebräisch). Vgl. Ginsberg, Yona/Marans, Robert: Social Mix in Housing: Does Ethnicity Make a Difference? Working Paper 42, Ramat Aviv: Tel Aviv University, Center for Urban and Regional Studies, 1977. Vgl. Shuval, Judith: Research Toward Planning the Experimental Neighborhood in Kiryat Gat, Jerusalem 1959 (Hebräisch).
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3 — Impressionen des Stadtviertels in den frühen Jahren. Abb. 1–3 aus: Man, Region, World; Artur Glikson on Regional Planning, Ministry of Housing Quarterly 3, 1967 (Sonderpublikation des Israel Ministry of Housing zum Werk Artur Gliksons).
über die Familien hinaus, ihrem Selbstverständnis, ihren Führungspersönlichkeiten und dem Stand ihrer Assimilation flossen in die Planung von Mischformen verschiedener Haustypen und Häusergruppierungen mit ein, die das gute nachbarschaftliche Leben der Bewohner fördern sollten.6 Tatsächlich trug das Viertel der »integrativen Wohnstätte« dazu bei, die einzelnen Bewohner in das israelische »Volkskollektiv« einzugliedern, die Formgebung und die architektonische Gestaltung spielten aber bei ihrer Planung eine ebenso wichtige Rolle. Die sorgfältig detaillierten Pläne zeigen Gebäudehierarchien nach ethnisch-kulturellen, sozioökonomischen und persönlichen Eigenschaften der künftigen Bewohner und belegen das Bemühen, deren diesbezügliches Beziehungsgeflecht in das architektonische Wechselspiel aus Massen und Freiräumen zu übersetzen. Abb. 1 Das Stadtteilzentrum für die gemischten Nutzungen bildete die Landmarke des Viertels. Der Entwurf sah ein axiales Straßen- und Wegenetz sowie eine Reihe öffentlicher Plätze für die nachbarschaftlichen Begegnungen vor. Die kommunalen Einrichtungen wurden zur Förderung von gemeinschaftlichen Aktivitäten in der Mitte der »integrativen Wohnstätte« platziert. Abb. 2 Der Entwurf sah sechs Areale mit Wohnblöcken für jeweils 175 bis 200 Familien beziehungsweise insgesamt rund 1000 Bewohner vor. Die Anzahl und Größe der Wohnblöcke richtete sich jeweils nach 6
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Die Studien im Vorfeld der Planung wurden von der Soziologin Judith Shuval geleitet. Mit einem Studentenprojekt (1950) über die Sozialisierung von Kriegsveteranen, die am MIT, Cambridge, USA, Architektur mit Schwerpunkt Wohnungsbau studierten, bestätigte sie den maßgeblichen Einfluss dieser Studie. Die Umfragen unter Kriegsveteranen, genannt Westgate Studies, wurden damals unter der Leitung der Psychologie-Professoren Leon Festinger, Stanley Schachter und Kurt Back durchgeführt.
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der Leistungskapazität der kommerziellen und öffentlichen Einrichtungen eines jeden Areals. Dazu gehörten ein Kindergarten, ein Spielplatz für Fünf- bis Achtjährige und ein kleiner Platz als Treffpunkt für die Anwohner. Die kleineren Häuserkomplexe sollten nicht nur der sozialen Durchmischung der Bevölkerung dienen, sondern auch das Stadtbild durch eine architektonische Vielgestaltigkeit beleben. Durch das Wechselspiel von hohen und niedrigeren Bauten wurden die Flächen besser ausgenutzt und das städtische Flair der »integrativen Wohnstätte« gesteigert. Eine Reihe von Wohnblöcken wurde, flankiert von einem Grünzug, so platziert, dass diese eine dreidimensionale Trennlinie bildeten und die Eigenständigkeit und Geschlossenheit der in einiger Entfernung vom Stadtzentrum errichteten Siedlung – einer Stadt in der Stadt – betonten. Abb. 3 Die grundlegenden Ziele der Planung hießen also: die Schaffung einer neuen Gesellschaft, die Integration von Einwanderern verschiedener Ethnien, die Förderung der gesellschaftlichen Mobilität und die soziale Durchmischung. Sie gaben den staatlichen Vorgaben auf der lokalen Ebene eine konkrete Form. Durch den Wohnungsbau konnte der Staat die Privatsphäre der Familien durchdringen und deren Leben bis in das kleinste Detail mitbestimmen. Die Wohnungsbaubeamten behaupteten wiederholt, dass die Immigranten dazu erzogen werden müssten, die im Land üblichen Wohnformen zu übernehmen, da es in ihren Ursprungsländern Lebensgewohnheiten gebe, die in Israel nicht berücksichtigt werden könnten. Deshalb sei es zwingend notwendig, so die Beamten, diese Gewohnheiten zu brechen.7 Die Wohnung sollte zum »Erziehungswerkzeug für das richtige Familienleben« werden.8 In einem amtlichen Untersuchungsbericht hieß es, die ethnische Zugehörigkeit der Immigranten dürfe nicht berücksichtigt werden, weil diese zusammen mit den bereits länger in Israel lebenden Bürgern einen einheitlichen, israelischen Lebensstil entwickeln sollten.9 Die »integrative Wohnstätte« galt als wirksames Mittel zur Erreichung dieser Ziele. Glikson war von der Notwendigkeit der staatlichen Wohnungsbau- und Landesplanung überzeugt, die mit seinen 7 8 9
Vgl. Drabkin-Darin, Haim (Hg.): Public Housing in Israel: Survey and Evaluation of Activities in Israel’s First Decade (1948–1958), Tel Aviv 1959, S. 80. So heißt es in einem amtlichen Dokument aus den 1950er Jahren. Batsheva Foundation: »Research of Immigrants Housing Types«, in: Engineering and Architecture, 17 (1959), S. 186 (Hebräisch).
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eigenen, in der Realität der modernen Welt verankerten Zielen als Architekt übereinstimmten. »Der Zustand, in dem menschliche Lebensprozesse ohne Vermittlung von Planern Architektur hervorbrachten, war das ›verlorene Paradies‹«, schrieb er. »Im jetzigen Stadium müssen Wohnungen […] gezielt geplant werden, und die vielfältige Bedeutung der vom Menschen gebauten Umwelt muss im Vordergrund aller Überlegungen des Architekten stehen.« 10 Gliksons Fragen, die er mit den Mitteln der Architektur untersuchte, betrafen also zuallererst die Suche nach den zweckdienlichsten Bau- und Wohnformen für die gesellschaftliche Integration der Alt- und Neubürger Israels. Demnach war die »integrative Wohnstätte« nicht nur eine sorgfältig geplante Siedlung, sondern vor allem ein soziales Experiment, das die staatlichen Ziele des Wirtschaftswachstums und der nationalen und gesellschaftlichen Einheit in einen dafür geeigneten Wohn- und Lebensraum übersetzte. Die Stadt Die »integrative Wohnstätte« markierte einen Wendepunkt in der Stadt- und Landesplanung des neuen Staates. Anders als frühere Wohnungsbauprojekte, die als funktionale und administrative StadtKomponenten geplant wurden, stellte die »integrative Wohnstätte« den Versuch dar, eine lebensfähige städtische Siedlung auf der Basis von Kriterien zu entwickeln, die Einzelbauten, Gebäudegruppen und die Gesamtanlage in eine Stadt integrieren würden. Entgegen dem Grundsatz des Departments of Construction and Housing, »Häuser, nicht Viertel zu bauen«, schlugen die Planer hier vor, die »innere Verbindung zwischen Haus und Viertel« zu stärken, »um wahrhaft städtische Wohnbauformen zu schaffen«.11 Das Projekt stellte andere staatliche Wohnungsbauprojekte infrage, bei denen die Phasen für die Entwurfs- und Ausführungsplanung jeweils separat durchgeführt worden waren. Es sollte die Dichotomie zwischen den Architekten und Stadtplanern überwinden.12 Diese Aufteilung hatte sich aus der Tatsache ergeben, dass zwei separate Abteilungen in zwei verschiedenen Ministerien jeweils mit den architektonischen und städtebaulichen Aufgaben betraut wurden. Die Trennung zwischen den politischen Planungsvorgaben und den architektonisch-gestalterischen 10 Glikson, Artur: »The Concept of Habitational Unit«, in: Le Carré Bleu 1: S. 2–8 (1966), hier S. 4. 11 Tzipor, G.: »Discussion of Residential Neighborhoods«, in: Architecture, 1: 4–15 (1973), S. 4 (Hebräisch). 12 Vgl. Glikson, Artur: »Some Problems of Housing in Israel’s New Towns and Suburbs«, in Drabkin-Darin, Haim (Hg.): Public Housing in Israel: Survey and Evaluation of Activities in Israel’s First Decade (1948–1958), Tel Aviv, 1959, S. 93–102, hier S. 96.
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4 — Schematischer Entwurf, Kiryat-Gat, 1967.
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5 — Schematischer Entwurf der sub-urbanen Einheit von Kiryat-Gat, 1967. Abb. 4+5 aus: Stoop, G.: »A Master Plan for Kiryat Gat«, in: Man, Region, World; Artur Glikson on Regional Planning, Ministry of Housing Quarterly 3, 1967, S. 71–81. (Sonderpublikation des Israel Ministry of Housing zum Werk Artur Gliksons).
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Entscheidungen führte zwar zum Bau von standardmäßig entworfenen Wohngebäuden auf exakt nach den Auflagen der Landesplanung bemessenen Grundstücken, allerdings ohne eine vorherige städtebauliche Planung. Ein zeitgenössischer Architekt bemerkte, dass die Häuser ohne Rücksicht auf die Topografie einfach irgendwo hingesetzt worden seien. »Wenn der Baugrund eben war, standen die Häuser auf Pfählen, wenn er abschüssig war, auf verschieden hohen Pfählen.« 13 Bei der koordinierten, integrierten Planung und Ausführung der »integrativen Wohnstätte« sollten derartige Probleme gar nicht erst aufkommen. Als realisierte Vision des Stadtraumes als ein »Behältnis voll gesellschaftlicher Energie« stellte die »integrative Wohnstätte« deutlich sichtbar ein Abbild der städtebaulichen Wohnvierteleinheit dar. Dennoch unterschied sie sich grundlegend von dem Konzept des »Wohnviertels« (The Neighborhood Unit), das der amerikanische Planer, Soziologe und Erzieher Clarence A. Perry allein auf der Basis der dort vorgesehenen pädagogischen Einrichtungen entworfen hatte.14 Die »integrative Wohnstätte« in Kiryat-Gat war primär eine architektonisch gestaltete Siedlung, die mittels der effektiven und umfassenden Einbeziehung der natürlichen Umgebung die Assimilation der Einwanderer in die israelische Gesellschaft bewirken sollte. Die Siedlung sollte mithilfe von gut gestalteten Innenräumen sowohl visuelle und funktionale Beziehungen zu der Umgebung als auch eine Identifikation der Bewohner mit ihrem Wohnort herstellen.15 Den deutlichsten Ausdruck fand dieser Anspruch in Gliksons Masterplan für Kiryat-Gat, in dem das dicht bebaute Wohnviertel von Fußwegen und Straßen durchzogen und auf der Basis der landschaftlich-topografischen Gegebenheiten an die Stadt angeschlossen ist.16 Abb. 4/5 Die Studien visualisierten nicht nur die verschiedenen Stadtteile sondern zeigten auch, wie sorgfältig die Gebäude der »integrativen Wohnstätte« mit Bezug zu ihrer Umgebung platziert wurden.17 So wurden beispielsweise die archäologische Stätte Tell es-Safi, die Schlucht des Wadi nordöstlich der Stadt und die Berge des Hebron mit einbezogen. Die Siedlung war nicht nur als Teil der 13 Wie Anm. 4. 14 Perry, Clarence A.: »The Neighborhood Unit, a Scheme of Arrangement for the Family-Life Community«, New York 1929; Reprint in: Neighborhood and Community Planning, Regional Survey of New York and its Environs, Vol. VII, 1974. 15 Vgl. Glikson, Artur: »The Concept of Habitational Unit«, in: Le Carré Bleu 1: S. 2–8 (1966), S. 2. 16 Vgl. Stoop, G., »A Master Plan for Kiryat Gat«, in: Ministry of Housing Quarterly 3: S. 71–81 (Israel Ministry of Housing: Man, Region, World; Artur Glikson: On Regional Planning, 1967) S. 80f. 17 Ebd., S. 78.
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Stadtstruktur geplant, sondern auch als »Baustein« einer größeren Übergangszone zwischen dem Landleben einerseits und dem Stadtleben mit modernen technischen Einrichtungen andererseits.18 Die Region Das Projekt der »integrativen Wohnstätte« war ein Teil des staatlichen Entwicklungsprogramms für die Region Lachisch und gehörte damit auch zu den Raumordnungsaufgaben für das größere ländliche Gebiet, in dem Kiryat-Gat liegt. Der ehrgeizige Regionalplan für Lachisch sah eine gleichmäßige Verteilung von verschieden großen Siedlungen in diesem Gebiet vor, das dadurch eine einheitliche soziale und wirtschaftliche Einheit bilden sollte.19 Politische Interessen waren nicht im Spiel, da die Region damals ein politisch und verwaltungsmäßig noch »unbeschriebenes Blatt« war, sodass sie allein auf der Basis der natürlichen und geografischen Bedingungen unterteilt und entwickelt werden konnte. Die Raumplaner befassten sich mit der Erstellung von Flächennutzungsplänen, der Planung von Verkehrsinfrastrukturen und der Vergrößerung von ländlichen Siedlungen, um effiziente Mittel und Wege zur Aufnahme und der sozialen wie wirtschaftlichen Integration der Einwanderer zu finden. Auf der nationalen Ebene wurden diese Planungen mit der Bauplanung zahlreicher Produktionsstätten verbunden, was die Verteilung von Siedlungen in verschiedener Art und Größe im ganzen Land erforderte, die insgesamt den Rahmen des regionalen ökonomischen und gesellschaftlichen »Betriebssystems« bilden würden. Auf dieser Basis entstanden strukturelle Verbindungen zwischen kleinen ländlichen Siedlungen und der Stadt Kiryat-Gat als größter regionaler Wirtschaftseinheit und Hauptort der Region Lachisch. Die Wirtschaft der Stadt basierte vor allem auf der Verarbeitung regional erzeugter »Rohstoffe«, darunter Baumwolle, Wolle und Zuckerrüben. Die Fabriken in der Stadt beschäftigten vor allem Einwanderer, die in den ländlichen Siedlungen lebten.20 Glikson war dagegen, dass in der Region ausschließlich die ländliche Entwicklung gefördert werden sollte, denn für ihn war die Industrieproduktion das geeignete Mittel zur Assimilation der Einwanderer und ein wichtiger Faktor für eine ausgewogene Modernisierung des Gebie-
18 Vgl. Glikson, Artur: »National Planning for the Redistribution of Population and the Establishment of New Town«, International Federation for Housing and Planning, Jerusalem, 27th World Congress for Housing and Planning, 1964. 19 Settlement Study Center: The Lakhish Region, Background Study for Research in Regional Development Planning, Rehovot, 1970. 20 Vgl. Rokeah, A. (Hg.): Lakhish, Realization of a Plan, Rehovot 1978 (Hebräisch).
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tes.21 Er wandte sich gegen die Absicht, Immigranten nur als Landwirte auszubilden, und war davon überzeugt, dass eine Stadt als Industriezentrum die Bedürfnisse der neuen Staatsbürger erfüllen würde, vor allem jene der Immigranten aus Nordafrika, die dort in Kleinstädten gelebt hatten und deshalb nicht für das Landleben gemacht waren. Gliksons Ansichten waren bei den führenden Siedlern, die aus Israel eine Agrargesellschaft machen wollten, nicht sehr beliebt.22 Nach der Fertigstellung der nationalen Wasserhauptleitung im Jahr 1964 galt der mittlere Süden Israels als besonders geeignet für die landwirtschaftliche Entwicklung. Infolge der durch den Wasserleitungsbau ermöglichten Bewässerung der Felder wuchs die Bevölkerung, und die im staatlichen Landesplan (Sharon-Plan, 1951) festgeschriebene Verteilung von kleinen Siedlungen auf dem Land wurde realisiert. Dies wurde von offizieller Seite auch als Mittel der Abschreckung gesehen, da es die Palästinenser, die als Flüchtlinge oder Vertriebene seit 1948 in den Hebron-Bergen lebten, davon abhalten würde, in ihre Dörfer zurückzukehren. Tatsächlich war das von den israelischen Planern als »Neuland« eingestufte Gebiet relativ dicht besiedelt gewesen, was die britischen Übersichtskarten, die vor 1948 datieren, belegen. Es gab dort viele kleine Dörfer und sogar einige relativ große Städte wie etwa Iraq el Manshiya und El Felija. Obwohl Glikson sich mit größter Sorgfalt um die Ausgewogenheit von »Mensch, Wohnort und Arbeit« bemühte und die natürlichen und topografischen Gegebenheiten berücksichtigte, war er offenbar – wie andere israelische Architekten seiner Zeit auch – entweder blind für die Existenz der früheren Bewohner der Region oder er zog es vor, diese Tatsache einfach zu verdrängen.23 Aufgrund ihrer durchgängigen Siedlungshierarchie bildete die Region Lachisch als Integrations- und Sozialisierungselement einen integralen Bestandteil der Stadt und der »integrativen Wohnstätte«. In diesem Rahmen bildete letztere nicht nur einen Stadtteil, sondern einen »regionalen Baustein«, der die Stadt und ihre verschiedenen Viertel in das größere nationale, soziale, ökonomische und planerische System einband. 21 Vgl. Weitz, Raanan: »Rural Development through Regional Planning in Israel«, in: Journal of Farm Economics 47(3) (Aug. 1965), S. 634–651. 22 Dieser Streit zwischen Glikson und den führenden Zionisten wiederholte sich bei anderen Projekten, insbesondere in der Planungsphase für die Insel Kreta. 1964 wurde ein umfassender, auf zehn Jahre angelegter Entwicklungsplan für die Insel Kreta von israelischen Planern gemeinsam mit dem Greek Ministry of Coordination vorbereitet. Dem israelischen Team gehörte Glikson als Experte für Regionalplanung an. Vgl.: Agidav Ltd.: Crete Development Plan 1965–75, Tel Aviv 1965. 23 Vgl. Glikson, Artur: The Ecological Basis of Planning, The Hague 1971.
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Das Spannungsverhältnis zwischen dem öffentlich-nationalen Raum und dem privaten Raum ist die Grundvoraussetzung für einen »Vertrag«, den der Staat mit seinen Bürgern schließt, wobei der Staat als herrschende politische Körperschaft von eben diesen Bürgern legitimiert wird. Der Wohnungsbau ist eines der wichtigsten Instrumente, mit denen der Staat seine Macht etabliert, und zwar aufgrund der Verpflichtung, dem Volk Wohnungen »mit Mindeststandards« zu liefern. Der Wohnungsbau trägt aber auch dazu bei, die Bürger an einen Ort zu binden und so die enge Verbindung zwischen der Heimat und der kollektiven Identität zu fördern.24 Die nationalen Bautraditionen werden nicht nur von Monumentalbauten begründet, sondern auch von den »Alltagsarchitekturen«, das heißt Wohnhäusern und Wohnvierteln.25 Étienne Balibar hat behauptet, dass der Nationalstaat seine Bedeutung aus einer »fiktiven Volkszugehörigkeit« bezieht, die ganz wesentlich auf der Zugehörigkeit zu einer Familie oder Schule beruht und an der das Haus oder die Wohnung sowie die Nachbarschaft einen ebenso wichtigen Anteil haben. Neubauviertel bieten die idealen Voraussetzungen für die Bildung von Volksgemeinschaften, weil sie territoriale Grenzen gestalten und das Entstehen der soziokulturellen Identität der Bewohner fördern.26 Ein Wohnviertel bietet nicht nur ein Dach über dem Kopf, sondern auch ein Lebensumfeld, in dem die Beziehung zwischen dem Individuum und dem Staat ganz neu definiert wird. Das Quartier gibt dem Einzelnen und der Nation einen Raum zum Leben, stellt die konkrete Umsetzung der nationalen Bestrebungen dar und prägt das Bild und das Selbstverständnis eines Volkes. Es ist somit ein wirksames »konstruktives Fördermittel« einer spezifischen Wahrnehmung des jeweiligen Lebensraumes, weil es die Gestaltung des täglichen Lebens bestimmt. Von Anfang an folgte Israels Landesplanung einer zweifachen Agenda. Nach außen sollte sie dazu beitragen, die Regierungsstrukturen des neuen Staates im ganzen Land zu etablieren. Nach innen sollten mit der Agenda Siedlungen gebaut werden, in denen sich die Einwohner zu Hause fühlen, ein besseres Leben haben und Sinn und Befriedigung in ihrem Alltag finden würden. Die Architektur – vor allem die moderne Architektur – spielte dabei eine wesentliche Rolle als Mittel der Interpretation oder der Veränderung des Lebensumfeldes. Das gilt nicht nur für Israel, aber die israelische Erfahrung zeigt besonders deutlich, wie die gebaute Umwelt des Landes konti24 Vgl. Anderson, Benedict: Imagined Communities, London, 1983. 25 Vgl. Vale, Lawrence: Architecture, Power and National Identity, New Haven 1992. 26 Balibar, Étienne: »The Nation-Form: History and Ideology«, in: Balibar, Étienne/ Wallerstein, Immanuel: Race, Nation, Class, London 1991, S. 86–106.
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nuierlich modernisiert, geformt und umgeformt wurde und welche Rolle die Architektur in diesem Prozess spielte. Die Siedlung der »integrativen Wohnstätte« präsentierte die Wohnung als soziokulturelles Konstrukt eines nationalen Systems. Ihre Position in diesem System – in dem soziale und politische Ziele durch gezielte Eingriffe erreicht wurden – basierte auf ihrer spezifischen geografischen Lage. Die Siedlung wurde aber auch als Anschauungsbeispiel konzipiert, sozusagen als eine Blaupause für Integration und Sozialisation. Sie sollte ein Quartier sein, das den neuen Siedlern in ihren neuen Wohnungen dabei helfen sollte, sich einzugliedern, sich zu bilden und Wurzeln zu schlagen.27 Die modernistische Vorstellung von einem »Habitat« – bezogen auf die Lebensweise und Kultur in bestimmten Regionen – ist an die Stelle der früheren Begriffe wie »Heimstatt« oder »Wohnstätte« getreten. Zwar mag dieser Ausdruck die möglichen Widersprüche mit dem Konzept internationaler Planungsansätze überwinden, im Architekturdiskurs der Nachkriegszeit hat er aber wohl eine theoretisch konstruierte »Heimstatt« bedeutet, die oft weit entfernt von den Bedingungen ist, unter denen Menschen täglich leben, und die diesem Alltagsleben überhaupt nicht entspricht – im Gegenteil.28 Das widerlegt Gliksons Versuch, »die Gefahr [zu vermeiden], eine weitere langweilige Siedlung zu bauen«.29 Da er aber »wissenschaftliche Forschungen« anstellte, um »ein abwechslungsreiches und realistisches Programm zur Basis einer integralen Planung« zu entwickeln, gelang sein Versuch, und die »integrative Wohnstätte« fügte sich in die Strukturen und die hegemoniale Staatsdoktrin ein. Das könnte allerdings auch der Grund dafür sein, dass dieses Neubauviertel später so trostlos aussah. Obwohl es von Fachleuten hoch gelobt wurde, war seine Existenz von Anfang an gefährdet.30 Als Sozialbausiedlung stigmatisiert, in der hauptsächlich Immigranten untergebracht wurden und die noch dazu relativ weit vom Stadtzentrum entfernt liegt, hat es den von Glikson und seinem Team erwarteten gesell-
27 Vgl. Glikson, Artur: »Some Problems of Housing in Israel’s New Towns and Suburbs«, in: Drabkin-Darin, Haim (Hg.) Public Housing in Israel: Survey and Evaluation of Activities in Israel’s First Decade (1948–1958), Tel Aviv 1959, S. 93–102, hier S. 93. 28 Vgl. Eleb, Monique: »An Alternative to Functionalist Universalism: Ecochard, Candilis and ATBAT-Afrique«, in: Goldhagen Williams, Sarah/Legault, Réjean (Hg): Anxious Modernisms. Experimentations in Postwar Architectural Culture, Cambridge 2000, S. 55–74. 29 Glikson, Artur: »Urban Design in New Towns and Neighborhoods, Landscape Architecture 52(3), S. 169–172, 1962. 30 Wie Anm. 3.
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schaftlichen Status nie erreicht.31 Die »integrative Wohnstätte« hat den niedrigsten Sozialstatus und die niedrigsten Immobilienwerte aller Stadtviertel von Kiryat-Gat und ist inzwischen vom Department of Construction and Housing zum Sanierungsgebiet erklärt worden. Für die Behörden und die Bewohner ist das Stadtviertel ein Problemfall geblieben. Dennoch stellt die »integrative Wohnstätte« ein kühnes städtebauliches Projekt dar, das nicht nur als Ausdruck architektonischer Überlegungen über den Sinn und Zweck von menschlichen Behausungen und den Charakter der städtischen Umwelt gesehen werden sollte, sondern als die Materialisation einer kollektiven nationalen Identität.
31 Vgl. Marans, Robert: »Kiryat Gat, Israel: A New Town«, in: United Nations: The Role of Housing in Promoting Social Integration, New York 1978, S. 79–124.
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S TÄ D T E B AU U N D A RC H I T E K T O N I S C H E K U LT U R A L S FA K T O R E N D E R I S R A E L I S C H E N I D E N T I TÄT S P O L I T I K NAC H 1 9 4 8 Anna Minta Der Aspekt der jüdischen Identität und ihrer Bedeutung für die (Re-) Konstituierung der jüdischen Nation wurde in der zionistischen Bewegung seit dem Ende des 19. Jahrhunderts kontrovers diskutiert. Auf den anfangs alle zwei Jahre stattfindenden Zionisten-Kongressen stritt man, ob die Kolonisierung Palästinas oder die allgemeine Kulturarbeit die zentrale Grundlage der Nationsbildung darstellen müsse. Die sogenannten Kulturzionisten kritisierten die Assimilationsbestrebungen der Juden in Europa, die zur Entfremdung von den eigenen Traditionen und damit zur Identitätskrise des Judentums geführt hätten.1 Durch eine kulturell-religiöse Rückbesinnung auf die eigenen Traditionen hofften sie auf das Wiedererstehen der jüdischen Nation als Vorbereitung auf einen eigenen jüdischen Staat. Nach der Staatsgründung Israels im Mai 1948 stellte folglich das Nation Building – die politische, kulturelle und soziale Formung des Staates und der Nation – eine der zentralen Aufgaben der israelischen Planungspolitik dar. Dabei galt es, die Einwohner und die heterogenen, häufig mittellos einwandernden Juden zu einer nationalen Gemeinschaft zusammenzuführen und zugleich die Existenz des Staates gegen die aggressive Politik der arabischen Nachbarstaaten rhetorisch-ideologisch und auch militärisch zu verteidigen. Beim Aufbau Israels verwies man immer wieder auf die Geschichte des jüdischen Volkes von seinen biblischen Anfängen an, die als historische Realität gesetzt wurden, um über diese historische Konstruktion den Staat zu legitimieren. Die Unabhängigkeitserklärung vom Mai 1948 bringt dies programmatisch zum Ausdruck: »Im Lande Israel entstand das jüdische Volk. Hier prägte sich sein geistiges, religiöses und politisches Wesen. Hier lebte es frei und unabhängig. Hier schuf es eine nationale und universelle Kultur […]. Durch Gewalt vertrieben, blieb das jüdische Volk auch in der Verbannung seiner Heimat in Treue verbunden. Nie wich seine Hoffnung. Nie verstummte sein Gebet um Heimkehr und Freiheit.« Dieses dauerhafte Sehnen nach dem verheißenen Land und die katastrophale Erfahrung des Holocaust, die Ermordung von Millionen von Juden, 1
Zu den frühen Diskussionen im Zionismus vgl. Berkowitz, Michael: Zionist Culture and the West European Jewry Before the First World War, Cambridge/ MA 1993.
Kapitel II
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machte, so die Unabhängigkeitserklärung, eine Staatsgründung notwendig, da nur ein eigener Staat für die Sicherheit des jüdischen Volkes garantieren könne. Dabei betonte die Unabhängigkeitserklärung, dass es sich nicht um die Geburt, sondern die Wiedergeburt der jüdischen Nation handle, die nicht ein neues Land einnehme, sondern in die alte Heimat zurückkehre.2 Die Broschüre des israelischen Pavillons auf der Weltausstellung in Brüssel im Jahr 1958 griff zehn Jahre nach der Staatsgründung diese Idealvorstellung von einem Staat und einer Nation auf: Der Umschlag zeigt einen jungen Israeli, der sich um einen OlivenbaumSetzling kümmert.3 Abb. 1 Historisch steht dies in der Tradition der seit den 1930er Jahren organisierten »Ölbaum-Spende« zum Anpflanzen von Wäldern in Palästina. Chaim Weizmann, der Präsident der Zionistischen Weltorganisation und nach 1948 der erste Staatspräsident Israels, erklärte die symbolische Funktion dieser Bäume im Jahr 1935: »[W]as bedeuten uns, der heimkehrenden Generation, Bäume? In der ersten Reihe sind sie ein Symbol aufrechter Kraft: wir möchten hier ein starkes, aufrechtes, würdiges Volk haben, das fest im Boden wurzelt.« 4 Das Motiv der Baumpflanzung steht damit sinnbildlich für den Prozess, die Bevölkerung im Land zu verankern. Die Broschüre der Weltausstellung illustrierte grafisch diesen Prozess, wie aus den einzelnen Einwanderern eine nationale Gemeinschaft erwächst: Um dem Land zu dienen, müsse ein jeder sich neu orientieren, sodass aus dem Städter ein Bauer, aus der Damenschneiderin eine Fischerin, aus dem Gelehrten ein Handwerker und aus dem religiösen Schuhmacher ein Soldat werde. Im Folgenden wird aufgezeigt, welche Rolle die Architektur und der Siedlungsbau in dem Nationsbildungsprozess spielen. Hierbei steht die Frage im Zentrum, wie über eine räumlich und architektonisch gestaltete Umgebung nationale Identität im Sinne einer nationalen Erzählung generiert und vermittelt wird.5 2
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In der englischen Übersetzung wird das besonders deutlich, da hier von »re-gain«, »re-claim«, »re-birth« etc. die Rede ist. Zu Erinnerungskultur und Geschichtsverständnis in Israel vgl. auch Zerubavel, Yael: Recovered Roots. Collective Memory and the Making of Israeli National Tradition, Chicago 1995. Vgl. Him, George: Israel. L’Histoire D’Un Peuple, Jerusalem 1958. Weizman, Chaim, in: Karnenu. Organ des Hauptbüros des KKL [Jüdischer Nationalfond], Tweeth 5696 [Jan. 1936], in: Central Zionist Archives (CZA), Jerusalem, A238, S. 13. Die Ausführungen basieren auf meinen grundlegenden Studien: Minta, Anna: Israel bauen. Architektur, Städtebau und Denkmalpolitik nach der Staatsgründung 1948, Berlin 2004 und Minta, Anna: »›Translated into Stone and Concrete‹. Architecture and Building Policy as Instruments of State Construction and the Creation of National Identity in Israel after 1948«, in: Munio Weinraub – Amos Gitai. Architecture and Film in Israel, Ausst.-Kat. Architekturmuseum der TU München in der Pinakothek der Moderne, München 2008, S. 51–71.
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Landesplanung und Siedlungsbau Raumplanerische Prozesse erhielten in der Zeit nach 1948, die von politisch-militärischen Auseinandersetzungen und territorialer Expansion geprägt war, eine besonders strategische Funktion. Das Planen und Bauen sowie die politische und ideologische Rechtfertigung des Baugeschehens dienten dazu, den physischen sowie den kulturellen Raum in Palästina zu besetzen und den territorialen Ansprüchen Israels einen sichtbaren und möglichst dauerhaften Ausdruck zu verleihen. Die Planungspolitik ist ein Instrument, den Raum geopolitisch aber auch kulturell-symbolisch neu zu organisieren. Die nach 1948 eingeleitete Bau- und Siedlungspolitik schrieb, wie der Premierminister David Ben-Gurion im Jahr 1949 erklärte, die territorialen Errungenschaften des Unabhängigkeitskrieges fort: »We have conquered territories, but without settlements they have no decisive value, not in the Negev, nor in Galilee, nor in Jerusalem. Settlement – that is the real conquest.« 6 Vor allem auf die eroberten sowie die dünn besiedelten, peripheren 1 — Israel. L’histoire d’un peuple, Gebiete konzentrierten sich die staatlichen Jerusalem 1958. Broschüre des Israelischen Pavillons auf der WeltPlanungsaktivitäten, da ihre Zugehörigkeit ausstellung in Brüssel 1958. zum israelischen Staatsgebiet aufgrund der Territorialkonflikte mit den arabischen Nachbarländern besonders gefährdet war. Gleich nach der Staatsgründung, noch während des Unabhängigkeitskrieges gegen die arabischen Nachbarstaaten, wurde auf oberster staatlicher Ebene unter der Leitung des am Bauhaus ausgebildeten Architekten Arieh Sharon ein Landesentwicklungsplan, der sogenannte Nationalplan, erarbeitet, der die Richtlinien der physischen Planung und infrastrukturellen Förderung für Israel festlegte.7 Mit ihm wurde eine dezentrale und hierarchisch gegliederte Siedlungs- und Wirtschaftsstruktur festgelegt, um eine möglichst breite wirtschafts- und humangeografische Streuung zu erzielen. Bis in die Mitte der 1960er Jahre entstanden in Israel fast 30 neue Entwicklungsstädte, die in ihrer Gartenstadt-Ideologie als Weiterentwicklung des antiurbanen, landwirtschaftlichen Siedlungs- und 6
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Ben-Gurion, Israeli State Archives (ISA), Außenministerium, 130.02/2447/3: Konsultationen 4.12.49, zit. nach Segev, Tom: 1949. The first Israelis, New York 1998 (hebr. Originalausgabe 1986), S. 97. Vgl. Sharon, Arieh: Physical Planning in Israel, Israel 1951; Dash, Jacob/Efrat, Elisha: The Israel Physical Master Plan, Jerusalem 1964.
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2 — Beer Sheva, Modellsiedlung Shikun Le-dogma, Planungsteam: Avraham Yaski & Amnon Alexandroni, N. Zolotov, Dov & Ram Carmi, D. & H. Havkin, Tichnun Co. Ltd mit M. Tchetchik und B. Komforti als abgeordnete Architekten des Wohnungsbauministeriums, Siedlungsplan 1958–59. Aus: Journal of the Engineers and Architects in Israel, Vol. XVII, No. 7–8, 1959.
Gesellschaftsideals der zionistischen Bewegung gelesen werden müssen.8 Die Einwohnerzahl der Wüstenstadt Beer Sheva sollte mit diesen Planungen von 8000 auf bis zu 60.000 Einwohner erhöht und als regionales Negev-Zentrum ausgebaut werden.9 Städtebaulich wurde das Konzept der aufgelockerten und durchgrünten Stadt umgesetzt, das trotz des Wüstenklimas große Grünflächen zwischen den locker gruppierten Bauten vorsah. Die biblischen Verheißungen Jesajas vom Erblühen der Wüste erfüllten sich nicht. Die neuen Städte scheiterten in ihrer Funktion als attraktive Siedlungsgebiete, mit denen sich die Einwohner identifizieren und als soziale Gemeinschaft entwickeln sollten. Nur wenige Jahre später zeigten sich bereits in dem ersten, im Jahr 1951 errichteten Wohnquartier Aleph die Probleme der Planungsideologie: Die Vegetation der enormen Freiflächen verkamen aufgrund des Wüstenklimas. Schattenlose Flächen entstanden, die die einzelnen Siedlungseinheiten isolierten und verhinderten, dass ein zusammenhängender Stadtorganismus entstehen konnte. Die Siedlungen selbst zeichneten sich durch eine monotone, regelmäßige Anordnung von standardisierten Wohneinheiten ohne formale Vielfalt aus. Ihre konstruktiv-technologische Qualität zeigte 8 9
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Vgl. Spiegel, Erika: Neue Städte in Israel, Stuttgart 1966; Lichfield, Nathaniel: Israel’s New Towns. A Report to the Ministry of Housing, 2 Bde, Jerusalem 1970. Diskussion der städtebaulichen Entwicklung von Beer Sheva: Minta, 2004 (wie Anm. 5), S. 274–329.
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häufig große Mängel, da sie in kürzester Zeit und mit noch wenig erprobter Bautechnik errichtet worden waren. Planerische Kurskorrektur: regionalistisches Bauen Am Ende der 1950er Jahre begann man daher, mit neuen, unkonventionellen Wohn- und Siedlungsmodellen zu experimentieren. Das Ziel war es, die Wohnqualität und Attraktivität der neuen Entwicklungsstädte zu steigern, um das Projekt einer flächendeckenden Präsenz jüdischer Siedlungen nicht zu gefährden. Es ist vor allem eine junge und in Israel ausgebildete Generation von Architekten, die sich kritisch mit dem Land und seinen klimatischen Bedingungen auseinandersetzte und sich folgerichtig von dem zionistischen Ideal der aufgelockerten Gartenstadt abwendete. Im Einklang mit den internationalen Entwicklungen in der Architektur begannen die Architekten, sich von den Doktrinen der Spätmoderne zu lösen. Urbanität, Verdichtung, architektonische Vielfalt und die Förderung des infrastrukturellen Ausbaus wurden zu Schlagworten in der neuen Planungsdebatte. Junge Architekten wie Avraham Yaski und Ram Karmi, die beide am Technion in Haifa studiert hatten, orientierten sich an der Architektur des Brutalismus und entwickelten neue Siedlungsstrukturen in Beer Sheva. Durch Kriterien wie urbane Dichte, das gegenseitige Verschatten der Baukörper, die Abgrenzung des Gebäudes vom Außenraum und dessen Öffnung nach innen versuchten sie, sich mit dem unwirtlichen Wüstenklima auseinanderzusetzen. Yaski und ein Planungsteam progressiver Architekten entwarfen ab 1959 für Beer Sheva eine Mustersiedlung Shikun le-dogma nach dem städtebaulichen Leitbild der verdichteten Stadt.10 Abb. 2 Mit hohen Zeilenbauten setzten sie die Siedlung markant von der Umgebung ab. Indem sie die Gebäude auf Stützen stellten, war über die Freifläche unterhalb des Gebäudes ein Wechsel von innen nach außen für Fußgänger problemlos möglich. Die Planer gliederten die gesamte Siedlungsstruktur in drei Subzentren. Deren Mittelpunkte markierten sie mit Punkthochhäusern als deutlich sichtbare Höhendominante und gruppierten um sie herum kleinere Einrichtungen wie einen Kindergarten, eine Synagoge und Geschäfte. Für die Wohnbebauung experimentierten die Architekten Zolotov & Havkin mit einer ineinander verschränkten Bebauung aus Einfamilienhäusern, die sich gegenseitig verschatten. Moshe Lofenfeld und Giora Gamerman 10 Vgl. Yaski, Avraham: »Shikun le-dogma«, in: Israel Builds 1970. State of Israel, Ministry of Housing, Jerusalem 1970, S. 4.72–4.82; Lifschitz, B.: »Shikun le-dogma«, in: Journal of the Association of Engineers and Architects in Israel. Handasa we-Adrikhalut, Vol. XVII, No. 7–8, July–August 1959: S. 187–190 (Hebräisch).
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3 — Moshe Lofenfeld und Giora Gamerman: Schubladen- und Pyramidenhäuser (Beit Diroth und Beit Piramidoth), Beer Sheva, erster Preis des Wettbewerbs im Frühjahr 1962 (teilrealisiert), Zeichnung aus Privatbesitz M. Lofenfeld.
folgten ab 1962 mit ihren »Schubladen- und Pyramidenhäusern« (Beit Diroth und Beit Piramidoth) ähnlichen Ansätzen zu einem klimagerechten Bauen: Die auskragenden Balkone der Hochhäuser verschatten die Fassade und die pyramidale Struktur der Appartementwohnungen erzeugt ebenfalls einen verschatteten Innenraum, der als ein vor dem heißen Wüstenklima geschützter Gemeinschaftsraum geplant war.11 Abb. 3 Dieses Konzept einer »inneren Straße«, die durch die Überbauung mit Wohnungen und Geschäften entsteht, nutzte auch Karmi bei seinem Nachbarschaftszentrum Merkaz ha’Negev, das von 1960 bis 1963 entstanden ist.12 In diesen experimentellen Mustersiedlungen kombinierten die Architekten letztendlich die gleichen urbanen Elemente wie ihre Vorgänger-Generation in den Gartenstädten: Diese reichten von verschiedenen Formen des Wohnungsbaus bis zu Gemeinschaftseinrichtungen und gemeinschaftlich-öffentlichen Freiflächen. Mit dem neuen Selbstbewusstsein der jungen Generation lösten sie sich jedoch vom Ideal der Gartenstadt und setzten sich klar mit den regionalen Gegebenheiten auseinander. Die brutalistisch anmutenden Gebäude sind nicht mehr der Ausdruck einer tradierten zionistischen Utopie, sondern das Ergebnis der Auseinandersetzung mit dem realen Ort und seinen topografischen und klimatischen Bedingungen: Der jüdische Staat war Realität geworden, und nun galt es, ihn über 11 Dokumentation des Wettbewerbs 1962 in: Journal of the Association of Engineers and Architects in Israel, Vol. XX, No. 4–5; vgl. auch Harlap, Amiram: New Israeli Architecture, Rutherford u.a. 1982, S. 114–115. Allgemein zur Architekturentwicklung in Israel vgl. Elhanani, Aba: The Struggle for Independence. The Israeli Architecture in the Twentieth Century, Tel Aviv 1998 (Hebräisch). 12 Vgl. O. A.: »Civic Center«, in: Architectura/Architecture in Israel, No. 3, July–September 1966, S. 30–41 (Englisch/Hebräisch).
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eine regionalistische, selbstbewusst-demonstrative Architektur fest im Land zu verankern. Im Gegensatz zu diesen ambitionierten Wohnund Stadtexperimenten wurde der Großteil des Wohnungsbaus in einer industriell-seriellen Massenfertigung realisiert, da die wirtschaftliche Situation Israels und die zunehmende Einwanderung von Juden aus aller Welt, insbesondere aus armen Ländern, die Bereitstellung von günstigem Wohnraum in großem Maßstab dringend notwendig machte. Die neue Programmatik: Gemeinschaftsbauten und Identifikationsorte Parallel zu der Diskussion um die neuen Siedlungsmodelle erkannte man auch, dass der massenhafte Wohnungsbau allein nicht ausreichte, um funktionierende, attraktive Siedlungen und Städte zu schaffen. Der Premierminister Ben-Gurion hatte bereits im Jahr 1950 auf die doppelte Verantwortung beim Staats- und Nationsaufbau hingewiesen: »The tremendous task depends upon two undertakings, which call for the nation’s utmost effort: land settlement and education.« 13 Ein Staat und eine Nation entstünden nicht automatisch, wenn die Bevölkerung mit Wohnungen und Arbeitsplätzen versorgt sei. Zu einer Nation müsse die Bevölkerung durch Bildung und kulturelles Traditionsbewusstsein erzogen werden. Diese Integrationsarbeit, die Ben-Gurion pathetisch mit »spiritual absorption« umschrieb, führte zu der Gründung von Bildungsinstitutionen, die man als wichtige Katalysatoren einer nationalen Identitätsstiftung verstand. In Israel, wie auch in anderen Ländern, fand eine Welle von Universitätsgründungen statt.14 In Israel wurde ab 1953 der Givat Ram Campus der Hebräischen Universität in Jerusalem errichtet, anstelle des auf jordanischem Territorium auf dem Berg Skopus gelegenen historischen Campus, der bereits im Jahr 1918 gegründet worden war. Die Bauten stehen mit ihren kubischen, flach gedeckten Volumina, den ornamentlosen Fassaden und den Stützenkonstruktionen stark in der Tradition der Spätmoderne. So zeigt auch die unter der Leitung von Yaski von 1955 bis 1961 gebaute National- und Universitätsbibliothek auf dem Campus als aufgeständerter Kubus mit Fensterbändern und einem 13 Ben-Gurion, David: »Mission and Dedication«, in: Government Year Book. State of Israel, Jerusalem 5711 (1950), S. 7–42, hier S. 34. 14 Beispielsweise in der Bundesrepublik Deutschland, wo nach der Universität in Bochum (1961) weitere Gründungen in Regensburg, Dortmund, Konstanz, Düsseldorf, Mannheim, Ulm, Bielefeld, Trier etc. folgten; ebenso wurden auch in Großbritannien, unter anderem in Sussex, York, East Anglia, Essex, Warwick, Kent und Lancaster, in den 1960er und 1970er Jahren Universitäten gegründet.
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skulpturalen Dachaufbau starke Bezüge zu Le Corbusiers Villa Savoye (1929–1931).15 Im Jahr 1963 zeichnete der Architekt Oscar Niemeyer erste Pläne für den hoch über der Stadt auf dem Berg Carmel liegenden Campus der Haifa Universität und versuchte, ihr architektonische Zeichenhaftigkeit zu verleihen.16 Wie in seinem Entwurf für die kurz zuvor gegründete neue Hauptstadt Brasília kombinierte er abstrakte geometrische Baukörper und fügte sie locker in die Landschaft ein: Für die Verwaltung sah er eine Hochhausscheibe vor, die Bibliothek und das Auditorium brachte er in einer auf der Spitze stehenden Pyramide unter und die Fakultäten sollten in blockartigen Gebäuden angesiedelt werden. Mit stark veränderten Plänen erfolgte dann der Bau der Universität als Gegenstück zum Technion in Haifa. Die im Jahr 1956 gegründete Universität von Tel Aviv und die im Jahr 1969 etablierte Ben-Gurion-Universität des Negev in Beer Sheva folgen stärker einer Architektur des béton brut. Aufgrund des gemäßigten Klimas öffnen sich die Bauten in Tel Aviv verstärkt dem Außenraum, wie es Arieh Sharon im Jahr 1970 in den seriellen und dennoch expressiven Fassaden der medizinischen Fakultäten und Arieh El-Hanani zur gleichen Zeit für die sozialwissenschaftliche Fakultät im Betonraster der Fassade durchsetzte. Die rasterartige Struktur des Masterplans der Ben-Gurion-Universität in Beer Sheva sah eine Verdichtung der Gebäudeblöcke der Fakultäten und zeichenhafte Solitärbauten für die Bibliothek und Aula vor. Die auskragenden Obergeschosse und Betonlamellen, die als Verschattungselemente und zum Brechen des Sonnenlichts dienen, sowie die reduzierten Fensterflächen kennzeichnen gleichermaßen die Tendenzen eines expressiven Brutalismus und einer regionalistischen Architektur. Von 1975 bis 1987 errichteten Amnon Niv und Rafael Reifer die skulptural anmutende geisteswissenschaftliche Fakultät, ein Sichtbeton-Gebäude im Stil des Brutalismus. Avraham Yaski und Yaakov Gil variierten diese Motive und bauten ab 1974 die natur- und ingenieurwissenschaftliche Fakultät. Die von Nadler, Nadler, Bixon & Gil und Shimshon Amitai im Jahr 1970 entworfene Bibliothek bildet inmitten des Campusgeländes ein Architekturmonument, das zugleich hermetisch nach innen abgeschottet ist und mit nur wenigen Öffnungen nach Norden funktional auf die klimatischen Bedingungen der Negev-Wüste reagiert. Ram Carmi setzte mit seinem von 1973 bis 1976 teilweise realisierten Studentenwohnheim 15 Vgl. Levin, Michael: »The Transportation of Villa Savoye into the National Library. Le Corbusier’s Influence on Two Generations of Architects in Israel«, in: Journal of Jewish Art, Vol. 3–4, 1977, S. 103–121. 16 Kurzbeschreibungen der im Folgenden erwähnten Bauten vgl. Harlap, 1982 und Elhanani, 1998 (wie Anm. 11).
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4 — Ram Carmi, Zlotowski Studentenwohnheim, Ben-Gurion-Universität des Negev, Beer Sheva, 1973–1976 (teilrealisiert), Nordostfassade, um 1977. Foto aus Privatbesitz R. Carmi.
ein architektonisches Bollwerk in den Negev, das seinen Anspruch auf eine dauerhafte Existenz mithilfe der brutalistischen Betonarchitektur sinnfällig zum Ausdruck bringt. Abb. 4 Diese Universitätsgründungen stehen in der Tradition von BenGurions proklamierten »spiritual absorption […the] synthesis and reshaping, the transformation of this human clay into a cultured, creative, independent nation, aspiring to a vision«.17 Im Sinne der zionistischen Kulturarbeit bildete die Errichtung kultureller und politischer Institutionen einen zentralen Aspekt des Staats- und Nationsaufbaus. Solche Maßnahmen fanden vorrangig in Jerusalem statt, um den im Unabhängigkeitskrieg eroberten Westteil territorial dem Staat anzugliedern und zugleich um seine herausragende Bedeutung für das Judentum hervorzuheben. Jerusalem: Aufbau einer identitätsstiftenden Hauptstadt Mit dem Argument der Zionsliebe begründete der israelische Präsident Weizmann im Jahr 1948 den jüdischen Anspruch auf Jerusalem: »Jerusalem is to us the quintessence of the Palestine idea. Its restoration symbolizes the redemption of Israel. […] To us Jerusalem has both a spiritual and a temporal significance. It is the City of God, the seat of our ancient sanctuary. But it is also the capital of David and Solomon, the City of the Great King, the metropolis of our ancient commonwealth. […] It is the centre of our ancient national glory. […] It embodies all that is noblest in our hopes for the 17 Ben-Gurion, David: »Mission and Dedication”, in: Government Year Book. State of Israel. Jerusalem 5711 (1950), S. 7–42, hier S. 35.
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5 — Joseph Klarwein, Knesset, Jerusalem, 1957–1966; im Vordergrund David Palombo, Eingangstor zur Knesset in Gedenken an den Holocaust gestaltet, 1966, Eisen und Stahl. Fotograf: Yaacov Saar, 1986.
future. Jerusalem is the eternal mother of the Jewish people […] even though our commonwealth was destroyed, we never gave up Jerusalem.« 18 Im Unabhängigkeitskrieg habe Israel, so Weizmann weiter, durch heroisch-kriegerischen Einsatz den Westteil Jerusalems erobert und mit dem Blut der gefallenen Soldaten seine Besitzansprüche auf die Heilige Stadt erneuert: »Last year we have sealed afresh our covenant with our ancient mother-city with the blood of our sons and daughters. […] It gives us the right to claim that Jerusalem is and should remain ours.« Der Planungspolitik für Jerusalem lag folglich eine narrative Struktur zugrunde, in der nationale Institutionen versuchten, über die architektonische Gestalt und städtebauliche Verortung die jüdische Geschichte und Identität zu vermitteln. Bemerkenswert ist der Prozess, ein neues urbanes Zentrum aufzubauen, nachdem die Altstadt und der Tempelberg im Ostteil Jerusalems nach der Teilung der Stadt nicht mehr zugängig waren. Ein neues Zentrum mit unterschiedlichen Institutionen sollte daher eine möglichst vergleichbare nationale Bedeutung erlangen, um ersatzweise als Identifikationsort zu dienen. Diese neu entwickelte Repräsentations- und Erinnerungslandschaft umfasste politische, kulturelle und kommemorative Einrichtungen. Zuvorderst stand der Bau eines Regierungsviertels, der Kirya, nachdem die Regierung im Jahr 1950 den Umzug von Tel Aviv nach Jerusalem beschlossen hatte.19 Der Masterplan der Architekten Munio Gitai (vormals: Weinraub) und Al Mansfeld, der nur in Teilen re18 Chaim Weizmann, Ansprache vor dem Military Governor‘s Council of Jerusalem, 01.12.1948, zit. nach o. A.: »Chaim Weizmann: Israel Claims Jerusalem«, in: The Palestine Post, 02.12.1948, S. 2. 19 Vgl. Minta, Anna: »Masterplan Kirya / Regierungsviertel, Jerusalem, 1950«, in: Munio Weinraub – Amos Gitai. Architecture and Film in Israel. Ausst.-Kat. Architekturmuseum der TU München in der Pinakothek der Moderne, München 2008, S. 112–117; grundlegend zur Baupolitik und den Planungsprozessen für Jerusalem: Minta, 2004 (wie Anm. 5), S. 90–246.
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alisiert wurde, sah ein hierarchisches Konzept vor: Auf der einen Seite waren das Parlament mit dem Abgeordneten-Hochhaus und der Sitz des Premierministers und des Präsidenten angeordnet, während sich auf der anderen Seite der Oberste Gerichtshof und das Justizministerium gruppierten. Zwischen diesen beiden Polen sollten die verschiedenen Ministerien und andere regierungsamtliche Institutionen angesiedelt werden. Für das Parlament, die Knesset, wurde im Jahr 1956 ein nationaler Architektur-Wettbewerb ausgeschrieben, den der deutschstämmige Architekt Joseph Klarwein gewann. Er entwarf einen flachen, rechteckigen Kubus, der an allen Seiten von regelmäßigen, elf Meter hohen Pfeilern umgeben ist. Während die Jury die Monumentalität und die zeitlosen, abstrakten Verweise auf die klassische Tempelarchitektur besonders würdigte, erhob die Architektenschaft Israels scharfe Vorwürfe. Der Gebäudeentwurf sei nicht modern, nicht funktional und in seiner Uniformität langweilig. Man warf Klarwein vor, mit der Übernahme »pseudo-neoklassischer Vorbilder« und dem Gebrauch von dekorativen Repräsentationsformeln des »europäischen Kleinbürgertums« ein charakterloses Gebäude geschaffen zu haben.20 Klarwein hingegen rechtfertigte sich mit dem Verweis auf den herodianischen Tempel, der mutmaßlich von Säulenhallen umgeben war. So wie das Parlamentsgebäude in der architektonischen Tradition des antiken Tempels stünde, so knüpfe auch Israel an die biblischen Wurzeln des jüdischen Volkes an. Mit der Knesset erhielte Israel nun ein neues, politisches Heiligtum. Aufgrund der Proteste musste Klarwein den Entwurf überarbeiten. Im Jahr 1966 erfolgte die Einweihung der Knesset, die in ihrer Architektur und Ausstattung die Geschichte des jüdischen Volkes nachzeichnet und sich selbst zum selbstbewussten Monument des jüdischen Staates mit seinen Ansprüchen auf eine historische Kontinuität und politische Dauerhaftigkeit erklärt. Abb. 5 Der israelische Künstler David Palombo gestaltete das bronzene Eingangstor zu dem Gelände in Gedenken an den Holocaust als zerborstene Materie. Am Eingang in die Knesset errichtete er aus Findlingen und abstrakten Bronzeelementen ein Denkmal mit ewiger Flamme für die gefallenen Soldaten Israels. Mit dem Gang über das Gelände durchwandert man damit den jüngsten Teil der jüdischen Geschichte: vom Holocaust zum Unabhängigkeitskrieg und hin zu dem Gebäude selbst als Symbol der Staatsgründung. In der Knesset finden sich zahlreiche Kunstwerke renommierter jüdischer Künstler, wie Marc 20 Benor-Kalter, J./Rau, Heinz: »Architects Flay Knesset Design: Plan Must Reflect Needs«, in: The Jerusalem Post, 06.09.1957, S. 5.
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Chagalls Gobelins mit biblischen Szenen, Dani Karavans abstrakte Wandgestaltung des himmlischen und irdischen Jerusalem im Plenarsaal sowie Kopien von Fußbodenmosaiken aus antiken Synagogen Palästinas. Die Knesset inszenierte sich über Fragmente der jüdischen Vergangenheit als architektonischer und institutioneller Schlusspunkt der nationalen Entwicklung. Dabei ging es nicht allein um eine historisch-legitimierende Identitätsstiftung, sondern auch um eine architektonische Demonstration territorialer Ansprüche. Eine vergleichbare architektonisch-narrative Intention lässt sich auch in den kulturellen Institutionen wie dem benachbarten Israel Museum (1960–1987) von Al Mansfeld und Dora Gad und dem ihm angegliederten Schrein des Buches (1957–1965) der Architekten Frederick Kiesler und Armand Bartos beobachten.21 Der Schrein des Buches dient zur Ausstellung der im Jahr 1947 in einer Höhle am Toten Meer gefundenen Schriftrollen und anderer antiker Grabungsfunde. In ihren Inhalten legen die Schriftrollen Zeugnis von der Kultur, dem Kampf und der Opferbereitschaft des jüdischen Volkes ab – nationale Tugenden, die der junge Staat ebenso für sich instrumentalisierte wie die Fundgeschichte. Nachdem die Schriften jahrhundertelang in Höhlen verborgen geblieben waren, fiel ihr Auffinden mit der Staatsgründung zusammen, sodass sie zum Symbol für die Wiedergeburt des jüdischen Volkes als Staatsnation wurden. Zugleich stellen sie eine kulturhistorische Traditionslinie auf, die der Legitimation und mythischen Überhöhung Israels dient. »The earth had given forth seeds of truth«, zitierte der Architekt Kiesler die Bibel und verglich das Begrabensein der Schriftrollen mit der Exilzeit des jüdischen Volkes: »Both coming out of the darkness.« Die Architekten bemühten sich, dieses doppelte Ereignis der Wiedergeburt in eine architektonische Form zu übersetzen. Als Abbild des Fundortes – den Tonkrügen in den Höhlen – entwarfen sie ein höhlenartiges Inneres und eine Kuppel. Ursprünglich war geplant, dass aus dem zentralen Ausstellungsraum eine Wasserfontäne nach außen spritzen sollte. Die Botschaft der Schriften wäre damit symbolisch ins Freie katapultiert worden – als Zeichen ihres Wiederauffindens sowie der staatlichen Wiedergeburt des jüdischen Volkes. Aus konservatorischen Gründen reduzierte sich diese Symbolik auf die schwarze Basaltwand, die für die Zeit der Dunkelheit und des Exils und, im Kontrast zur weißen Kuppel, als Zeichen der Wiedergeburt und Kontinuität des Lebens steht. Entsprechend des zionistischen Ethos, durch die Einwanderung in Palästina das Land und 21 Vgl. Minta, 2004 (wie Anm. 5), S. 136–166; Lelke, Roland: Der endlose Raum in Frederick Kieslers Schrein des Buches, Aachen 1999.
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sich selbst zu erlösen, steht in der Architektur und der Ausstellung der selbstbewusste Kampf des jüdischen Volkes für sein Schicksal im Vordergrund und nicht die biblische Prophezeiung einer transzendenten, göttlichen Erlösung. Eine ähnlich kämpferische Interpretation der Nationalgeschichte prägt auch die nationalen Denkmalanlagen auf dem Berg der Erinnerung, dem Har ha’Zikaron. Dort befinden sich zentrale Gedenkstätten, darunter der zionistische und militärische Ehrenfriedhof und das Grabmal des Zionistenführers Theodor Herzl. Seine sterblichen Überreste wurden im Jahr 1949 von Wien nach Israel überführt und in einem Staatsakt beigesetzt. Der Premierminister Ben-Gurion erinnerte an die biblischen Erzählungen, denen zufolge die Israeliten beim Auszug aus Ägypten die Gebeine Josephs in das verheißene Land überführten. So wie der damalige Exodus in die Freiheit geführt habe so habe Theodor Herzl mit seinen zionistischen Visionen das jüdische Volk zu einem souveränen Staat geleitet. Die Beisetzung Herzls sei, so Ben-Gurion, kein Trauerakt, sondern ein »march of triumph symbolizing the victory of a vision fulfilled«.22 Angrenzend an diese Ehrenfriedhöfe wurde ab 1953 die Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem errichtet, um die Holocaust-Opfer ebenfalls in den Kampf für einen jüdischen Staat zu integrieren. Einen ersten Entwurf lieferte der Architekt Munio Gitai bereits im Jahr 1942, als die Nachrichten über den Massenmord an den europäischen Juden bekannt wurden.23 Ein komplexer Erinnerungspark sollte entstehen, der sich aus verschiedenen Elementen des Gedenkens und der Heldenverehrung zusammensetzt. Im unteren Bereich der ovalen Anlage liegen ein Kongresszentrum, ein Archiv, eine Bibliothek, eine Synagoge und Unterkunftsmöglichkeiten. Eine hierarchische Abfolge von Denkmälern für die unbekannten Märtyrer, Getto-Kämpfer, Partisanen und die »Gerechten der Völker« führt hinauf zum höchsten Punkt auf dem Gelände mit der monumentalen Halle, die der Erinnerung an die jüdischen Soldaten des Zweiten Weltkrieges gewidmet ist. Von hier aus öffnet sich der Blick in die Landschaft – ein Blick auf die alte und neue Heimat Israel.
22 David Ben-Gurion, zit. nach: o. A.: Herzl laid to Rest in Jerusalem after »March of Triumph« seen by 400,000, in: The Palestine Post, 18.08.1949, S. 1. Zu den Ehrenfriedhöfen und ihrer Konzeption vgl. auch Minta, 2004 (wie Anm. 5), S. 189–198; Azaryahu, Maoz: »Mount Herzl: The Creation of Israel‘s National Cemetery«, in: Israel Studies, 1,1996, S. 46–74. 23 Vgl. Shani, Neta: »Yad Vashem«, in: Munio Weinraub – Amos Gitai. Architecture and Film in Israel, Ausst.-Kat. Architekturmuseum der TU München in der Pinakothek der Moderne. München 2008, S. 150–157; Minta, 2004 (wie Anm. 5), S. 172–189.
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In diesem Konzept wurde die heroische Umdeutung des Holocaust vorweggenommen, wie es das im Jahr 1953 verabschiedete Martyrs’ and Heroes’ Remembrance (Yad Vashem) Law schließlich festschrieb. Mit ihrem Namen verweist die neu eingesetzte Gedenkautorität auf ihre Aufgabe, an die Märtyrer und Helden und nicht explizit an die Opfer zu erinnern. Die Ausführung erfolgte nach veränderten Plänen, die Arieh El-Hanani aus Basaltfindlingen aufgeschichtete Gedenkhalle Ohel Yizkor aus dem Jahr 1961 in das Zentrum setzte und ihr mit der »Säule des Heldentums« eine spezifischheroische Lesart vorgab. Das Gedenken in Yad Vashem endet nicht mit der Dokumentation des Holocausts, wie das Geschichtsmuseum deutlich machte, sondern thematisierte der nationalen Narration folgend die Staatsgründung und die weltweite Einwanderung der Juden nach Israel. In dem im Jahr 2005 eröffneten Museumsneubau setzte der Architekt Moshe Safdie diese teleologische Geschichtskonstruktion spektakulär in Architektur um, indem er den Neubau weit über den Hang hinausragen lässt: Nach der unterirdischen Geschichtspräsentation des Holocausts wird der Besucher mit dem grandiosen Blick auf das Panorama der Jerusalemer Berge in die staatliche Realität Israels zurückgeführt.24 Der Har ha’Zikaron mit seinen Gedenkstätten erfüllt als nationale Erinnerungslandschaft folglich eine doppelte Aufgabe: Er ist ein architektonisches Abbild der staatlich strukturierten und interpretierten Geschichtsschreibung und er dient als Ort der politischen und kulturellen Rückversicherung der Konstruktion einer nationalen Identität, die auf gemeinsamen Werten wie dem Judentum, dem Zionismus und der Kampf- und Opferbereitschaft aufbaut. Architektur, Städtebau und Denkmalpolitik sind geo- und kulturpolitische Instrumentarien des Staates, wie die Analyse der verschiedenen Projekte in Israel gezeigt hat: Sie schaffen eine architektonische Präsenz und zugleich eine ideologisch aufgeladene Repräsentanz, die innen- wie außenpolitisch eingesetzt wird, um den Staat in seiner Existenz zu sichern. Die nationale Historiografie etabliert Israel in historisch-teleologischer Konsequenz als Synthese aus der biblischen Geschichte, der messianischen Erwartung und der Erfüllung zionistischer Forderungen. Aus ihnen ergibt sich in der historisch-teleologischen Konsequenz der Anspruch auf die jüdische Heimstätte in Palästina-Israel, wobei diese identitätsstiftende Geschichtskonstruktion auch in der Architektur erfahrbar ist. 24 Zur teleologischen Konstruktion der Gründung Israels nach dem Holocaust und ihrer Vermittlung in der Architektur vgl. Minta, Anna: »Horror vacui. Die (Un)Erträglichkeit von Leere in der Architektur Israels«, in: kritische berichte, 39, Heft 2, 2011, S. 7–21.
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KAPITEL III D E R S TA AT S - U N D S TÄ D T E B AU I N D E R B R D
D E R W I E D E R AU F B AU I N D E R BU N D E S R E P U B L I K – E I N E L E E R S T E L L E D E R D E U T S C H E N L I T E R AT U R ? Mar tin Peschken »In der Literatur der Bundesrepublik ist der Wiederaufbau der Städte nicht behandelt worden.« 1 Die schöne Lakonie, mit der Detlev Schöttker die dichterische Produktion eines ganzen Jahrzehnts zusammenfasst, ist kaum verfälschend. Einzelne vom Gegenteil zeugende Passagen anzuführen, würde den Befund eher noch zuspitzen, dass die historisch beispiellose Bautätigkeit der 1950er Jahre im westlichen Nachkriegsdeutschland nicht zu einem eigenen Thema literarischer Gestaltung geworden ist. Obwohl selbstverständlich Literaten nicht dazu verpflichtet sind, Architektur und Städtebau zum Gegenstand ihrer Arbeit zu machen, ist dies doch sehr bemerkenswert. Denn es handelt sich ja nicht einfach um irgendeine Epoche in der Geschichte des Bauens in Deutschland. Die Dynamik des Bauwesens in den 50er Jahren übertraf dem Volumen nach diejenige der ›Gründerzeit‹ im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts. Der Vergleich hilft, sich einmal vor Augen zu führen, wie allgegenwärtig in der damaligen Lebenswelt die Baugruben und -kräne gewesen sein müssen, das Emporwachsen der neuen Geschäfts- und Verwaltungshäuser in den Innenstädten, wie die gewohnten Wege unkenntlich wurden; was schließlich die Rohbauten der Siedlungen verheißen haben mögen, – Gegenbilder zu den noch präsenten Ruinen und bereits geräumten Baulücken –, auf deren Fertigstellung die Ausgebombten und Vertriebenen, die unfreiwillig zusammengedrängt Behausten doch so sehnsüchtig gewartet haben müssen. Unmöglich, so scheint es, das was vorging im Land, nicht zur Kenntnis zu nehmen, ob man es nun erwartungsfroh bestaunte oder es erschreckend fand. Besprochen und gefeiert wurde es auch. Durchblättert man auch nur oberflächlich die deutschen Zeitschriften jener Zeit, so bildet die sich neu gestaltende Umwelt, insbesondere die Innenwelten des 1
Schöttker, Detlev: »Die Wirklichkeit unserer Städte. Wiederaufbau, Kulturkritik und Literatur«, in: Merkur. 707, Nr. 4/2008, Jg. 707, S. 318–327, hier S. 319.
Kapitel III
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Wohnens und die Konsum- und Freizeiträume, die Bühne für den Auftritt des Wirtschaftswunders. Revue – Die Weltillustrierte vermeldet am 5. August 1950, kaum dass also fünf Jahre seit Kriegsende vergangen sind: »Der Kurfürstendamm wird wieder zum Inbegriff der Eleganz und der Repräsentation. Schöne Cafés, einladende Restaurants, moderne Lichtspielhäuser und Theater lassen die zweieinhalb Millionen West-Berliner vergessen, daß sie auf einer Insel inmitten der planwirtschaftlichen Ostzone wohnen.« Darüber hinaus wird der gewonnene Abstand vom Elend der jüngsten Vergangenheit bereits mit der Gegnerschaft zum Sozialismus getauscht. Dieses Szenario ist freilich mehr Beschwörung noch als schon Realität. Die Straßen im Hintergrund des illustrierenden Fotos in der Revue liegen teils in wüstem Zustand. Panoramatische Ansichten deutscher Städte sind in deutschen Zeitschriften jener Zeit noch sehr selten – mit Ausnahme des Hamburger Hafens, dem stolz präsentierten ›Tor zur Welt‹. Tatsächlich bilden die Illustrierten überwiegend die Mobilien des Stadtlebens ab, und zwar aus naher Sicht: flanierende Menschen in eleganter Kleidung, Straßencafés mit Leichtmöbeln, fröhlich gestreifte Markisen, Pavillons und nächtliche Leuchtreklamen, und selbstverständlich Autos, nicht selten sehr luxuriöse Autos, die die immer noch leeren oder ruinösen Straßen und Plätze aus dem Bild halten, so gut es geht. Das Fotobuch Deutschland 10 Jahre danach, von dem Fotografen Otto Michael Artus im Jahr 1956 veröffentlicht und im Grunde ein frühes deutsches Coffee Table Book, preist das Wiederaufgebaute durch perspektivgleiche Gegenüberstellung mit derselben Situation im Zustand der Zerstörung. Die Erläuterungen lesen sich oft, als hätten anstelle von Kriegsgegnern eher Naturkatastrophen die Städte heimgesucht, deren Bewältigung nur die »bewundernswerten Leistungen ungebrochenen deutschen Lebensmutes und zähen Bürgersinns« 2 demonstriere. Jedoch: »Nicht immer ist es ausschließlich der Wiederaufbau, der die Wandlung des neuen Deutschlands kennzeichnet. […] Dort wo die Parteigrößen des Naziregimes sich ihre Feudal-Bauten errichteten, sind die Trümmer – und damit, so ist zu hoffen, die Erinnerung an Deutschlands dunkelste Zeit – verschwunden«,3 heißt es zu einem Doppelfoto vom Obersalzberg, wo nach der Beseitigung der Ruinen von Hermann Görings Villa nun wieder ein »unverdorbener« Blick auf die heimatliche Bergwelt möglich sei. Spricht sich hier recht unverhohlen die Überzeugung aus, dass als Grundlage für einen deutschen Neubeginn die Verdrängung 2 3
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Artus, Otto Michael: Deutschland. 10 Jahre danach, Frankfurt/Main 1956, S. 59. Ebd., S. 66.
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der schuldhaften Vergangenheit nötig sei, so löst sich die Bewältigung der Kriegsniederlage in dem Beitrag der Revue bereits in einer Neupositionierung an der Front des Kalten Krieges auf. Die Beispiele mögen hier genügen, um die starke Diskrepanz zu illustrieren, die zwischen der Abwesenheit des Wiederaufbaus in der Dichtung und der ausgesprochenen Präsenz des Themas in den populären Medien herrscht.4 Nun geben diese sicher auch leichtfertig gearbeiteten Texte nicht alle Stimmlagen im Land wieder. Unter den Architekten und Planern wurde der Wiederaufbau selbstverständlich auch kritisch begleitet.5 Dennoch kann man aus dem eben skizzierten lauthalsen Stolz eine erste Vermutung ableiten, warum das Baugeschehen in der deutschen Literatur eine so deutliche Leerstelle hinterlassen hat. Möglicherweise war es – bestärkt von solchem Echo – für kritische Geister zum Symbol geworden für den Unwillen der Nation, aus dem sogenannten Zusammenbruch die Konsequenzen für einen wirklichen Neuanfang zu ziehen, wie unterschiedlich dieser Neuanfang auch hätte ausfallen sollen. Solchen Geistern mögen die zertrümmerten Städte in ihrem »Zustand der Naturalisierung, der stark an die Ruinenästhetik der Romantik erinnert« passender zur mentalen Verfassung der Deutschen vorgekommen sein,6 von der schließlich niemand ernsthaft hoffen konnte, dass sie sich ebenso wundersam geschwind ändern würde wie die wirtschaftliche Situation des Landes. In diesem Sinn beobachtet der amerikanische Dichter Edwin in Wolfgang Koeppens Tauben im Gras (1951) die unheimliche Energie, mit der die Deutschen die Trümmer der von ihnen selbst ausgelösten Katastrophe beseitigen: »Er hatte schon vorher die Zerstörungen des Krieges gesehen, wem in Europa waren sie unbekannt? […] Doch was er hier in dem wohl betroffensten Ort seiner Wanderschaft aus dem Fenster des Konsulatswagens sah, […] war aufgeräumt, geordnet, verpflastert, schon wieder hergestellt und grade darum so schrecklich, so hinfällig: es war nie wieder gut zu machen.« 7 Die Reparaturen an der zerstörten Stadt erscheinen demnach schon in der 4
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Vgl. Warnke, Stephanie: Stein auf Stein. Architektur und Medien im geteilten Berlin 1950–70, Frankfurt/Main 2009; Müller-Toovey, Doris: Bilder des Aufbaus. Eine vergleichende Studie bildkünstlerischer Darstellungen im Osten und Westen Deutschlands nach 1945, Frankfurt/Main 2005. Vgl. den Beitrag von Jörn Düwel S. 181 in diesem Band. Mielke, Christine: »Europas zerstörte Städte. Literarisch-mediale Repräsentationen ihrer doppelten Existenz«, in: Degler, Frank (Hg.): Europa / Erzählen. Zu Politik, Geschichte und Literatur eines Kontinents, St. Ingbert 2008, S. 149–168, hier S. 151. Koeppen, Wolfgang: Werke. Band 4: Tauben im Gras, hg. von Hans-Ulrich Treichel, Frankfurt/Main 2006, S. 45.
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Vorbereitung der eigentlichen Aufbauarbeiten als evidentes Symptom für den geistigen Zustand der Deutschen. Wenn bereits hier die Ambivalenz der kollektiven Anstrengung so überaus sinnfällig wird, – wäre dann nicht zu erwarten, dass der rasante Wiederaufbau in den nun folgenden Jahren breiten Raum in der deutschen Literatur einnimmt? W. G. Sebald schrieb in Luftkrieg und Literatur über den Erfahrungsgehalt der Nachkriegsliteratur, dass sich die »Nachgeborenen, wenn sie sich einzig auf die Zeugenschaft der Schriftsteller verlassen wollten, kaum ein Bild machen könnten vom Verlauf, von den Ausmaßen, von der Natur und den Folgen« des Luftkriegs auf die deutschen Städte.8 Das trifft offenbar für den Aufbau einer neuen Lebenswelt in der jungen Bundesrepublik ebenso zu. Für die Literatur in der DDR gilt das nicht im selben Maße, was zumindest teilweise auf die von der Politik geforderte Einbindung der Autoren in das Projekt des sozialistischen Aufbaus zurückzuführen ist. Hierauf hat Schöttker schon hingewiesen: Seine Referenzromane sind Erik Neutzschs Spur der Steine und Brigitte Reimanns Franziska Linkerhand, die sich beide mit dem »Wie« des jedenfalls als identitätsstiftend verstandenen sozialistischen Aufbaus kritisch auseinandersetzen. Et was Vergleichbares, es sei noch einmal gesagt, findet sich in der westdeutschen Literatur nicht.9 Anhand zweier Romane der 1950er Jahre soll hier den möglichen Gründen dieser Abwesenheit einmal vertiefend nachgespürt werden. Beide Bücher wurden schon kurz nach ihrem Erscheinen als Schlüsselwerke zum Verständnis der Epoche wahrgenommen. Es handelt sich zum einen um Wolfgang Koeppens Das Treibhaus von 1953, von dem Kurt Sontheimer sogar glaubte, dass es »zum Verständnis deutscher Politik der Adenauer-Zeit fast unersetzlich« sei.10 Der Roman stellt insofern überhaupt eine Ausnahme zum bisherigen Befund dar, als dass die Aufbauarbeiten einen bemerkenswerten, wenn auch nicht zentralen Teil der literarischen Gestaltung ausmachen. Der zweite Text ist Martin Walsers im Jahr 1957 erschienenes Buch Ehen in Philippsburg, in dem die Bezugnahme auf den Wiederaufbau gleichsam ex negativo erfolgt.
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Sebald, W. G.: Luftkrieg und Literatur, Frankfurt/Main 2001, S. 75. In Heinrich Bölls Romanen spielen Bauten zwar häufig eine Rolle, allerdings nicht der Wiederaufbau als Kollektiverfahrung. Vgl. Vogt, Jochen: »Lebst Du noch? Und wohnst Du schon? Luftkrieg, Wiederaufbau und Architekturkritik bei Heinrich Böll«, in: Jung, Werner/Schubert, Jochen (Hg.): »Ich sammle Augenblicke«. Heinrich Böll 1917–1985, Bielefeld 2008, S. 183–195, hier S. 185. 10 Sontheimer, Kurt: Die Adenauer-Ära. Grundlegung der Bundesrepublik, München 1991, S. 30f.
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Walser zeichnet in dem Roman das Gesellschaftspanorama einer fiktiven, aber prototypisch zu verstehenden westdeutschen Stadt Anfang der 1950er Jahre. Die Hauptfiguren, deren Perspektive die Erzählung in den Kapiteln wechselweise einnimmt, bewegen sich durch diese Stadt, als wäre sie schon immer so gewesen, wie sie gegenwärtig ist. Ein junger Mann, Hans Beumann, kommt nach Philippsburg, um Karriere als Journalist zu machen. Als Neuankömmling aus der Provinz nimmt Beumann die baulichen Unterschiede der Stadt deutlich wahr, vor allem die sozialräumliche Differenzierung zwischen der kleinbürgerlichen Lebenswelt in der »Oststadt«, wo er sich als Untermieter einquartiert hat, und dem Villenviertel, in dem die Familie einer ehemaligen Kommilitonin lebt. Besonders beeindruckt ihn die »City«, wo inmitten großstädtischer Anonymität, Lärm und schattenloser Sonnenhitze das 14-stöckige Hochhaus – Sitz des lokalen Pressemoguls und Ziel von Beumanns Ehrgeiz – gläsernen Glanz verstrahlt. Aus Beumanns Perspektive erscheint besonders das Innenleben dieses Hauses mit den schnellen Aufzügen und lichtdurchfluteten Räumen als ultramodern und von fast stoffloser Unwirklichkeit. Es ist eine leicht erotisierte Welt, in der der Habitus und die Verrichtungen der Sekretärinnen eine einzige Verheißung sind, die jedem herkömmlichen Begriff Beumanns von Arbeit widerspricht. Dem beengten Milieu der Oststadt – der öffentlich zum Trocknen ausgehängten Wäsche, der sozialen Kontrolle durch den moralisierenden Klatsch der Hausfrauen – ist das Leben in den Villenvierteln gegenübergestellt. Diese Menschen scheinen überhaupt nur in wechselnd dekorierten Innenräumen, in Gärten und Automobilen zu leben. Was am Rand der Straßen liegt, die Stadt als Ganzes, das nehmen sie nicht wahr. Die Amnesie der Gesellschaft gegenüber der Kollektiverfahrung des Krieges und des Zusammenbruchs scheint vollständig, den Neuling Beumann übrigens eingeschlossen. Dass die Philippsburger sozusagen nicht bei Sinnen sind, macht Walser dem Leser durch einen Kunstgriff im letzten Kapitel deutlich. Wir sehen Beumann über die Schulter und lesen mit ihm im Journal des einbeinigen Schriftstellers Klaff, der sich kurze Zeit zuvor das Leben genommen hat. Durch Klaffs schriftlich fixierte Gedanken sickert die Erinnerung an die NS-Zeit und an die ersten Nachkriegsjahre sowie die Gegenwart des Kalten Krieges in das eigentümlich schlafwandlerische und zugleich doch so vitale Philippsburg, ohne es freilich klarspülen zu können. »Ich bin froh, dass es keine Granate, sondern eine Straßenbahn war«, schreibt Klaff über den Verlust seines Beines, aber »mein Chef kann mir das nie verzeihen. Er fordert von seinen Angestellten eine andere Vergangenheit. Nicht umsonst
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trägt er zu jeder Jahreszeit hohe schwarze Schnürschuhe und sagt fast täglich, Deutschland sei das Herz Europas.« 11 Jenseits dieses Tagebuchs eines Außenseiters wird in der Philippsburger Welt nie derart unverstellt über die Herkunft von Denk- und Verhaltensweisen gedacht oder gesprochen, selbst in den inneren Zirkeln der Politiker und Presseleute nicht. Wie überhaupt, was von außen eindringt, allenfalls Material ist für das selbstgefällige Spiel. Durch den Kontrast mit den Gedanken des Schriftstellers wird auch die Abwesenheit des Wiederaufbaus in Walsers Roman bedeutsam, insofern sich diese Leerstelle in die Gesamtkonzeption der totalen Verdrängung einpasst. Die satirisch überspitzte Einkapselung der Philippsburger in eine immerwährende Gegenwart macht es ihnen offenbar unmöglich, den Blick auf etwas zu wenden, das die Signatur einer historischen Zäsur in sich trägt. Ganz transparent ist dagegen der historische Hintergrund von Koeppens Roman Das Treibhaus: Es handelt sich um die in den frühen 50er Jahren debattierte Westintegration der Bundesrepublik. Felix Keetenheuve, sozialdemokratischer Abgeordneter des Bundestages und ehemals Journalist, wird zum Spielball der Fraktionspolitik, als das Parlament sich auf eine entscheidende Anhörung vorbereitet, die die Wiederbewaffnung zum Gegenstand hat. Seine Position als bekennender Pazifist und integre Persönlichkeit wird einerseits benötigt, um gegenüber der Öffentlichkeit die oppositionelle Rolle der SPD zu demonstrieren, während im Hintergrund verborgene Interessenskoalitionen sein Plädoyer in der Sache längst haben gegenstandslos werden lassen. – Keetenheuve war nach seiner Rückkehr aus dem Exil sowohl in der eigenen Partei als auch im Privatleben ein Außenseiter geblieben. Die Erzählung folgt im Wesentlichen den sprunghaften, häufig ins Surreale abgleitenden Gedankenströmen der Hauptfigur, in denen sich ein immer größer werdendes Befremden äußert gegenüber den gesellschaftlichen Formationen der Nachkriegszeit und dem Selbstverständnis der politischen Klasse. Im Verlauf des Romans glaubt Keetenheuve – eigentlich »sehr für das Werden; er hatte bisher nur Untergänge gesehen« 12 –, die Sinnlosigkeit seines politischen Engagements zu erkennen. Als Person des öffentlichen Lebens und, in einer Nebenhandlung, auch privat kompromittiert, wird sich Keetenheuve zum Schluss »selbst eine Last«.13 Das Buch endet mit seinem Freitod im Rhein. 11 Walser, Martin: Werke. Band 1: Ehen in Philippsburg, hg. von Helmuth Kiesel, Frankfurt/Main 1997, S. 301. 12 Koeppen, Wolfgang: Werke, Band 5: Das Treibhaus, hg. von Arne Grafe, Frankfurt/Main 2010, S. 184. 13 Ebd.
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Während Keetenheuve sein Land – zumindest als Idee – liebt »so gut wie jeder, der’s laut beteuerte, vielleicht sogar mehr noch«,14 verdichtet sich sein Ekel vor der Wirklichkeit der westdeutschen Verhältnisse zu jenem Bild des Treibhauses, das dem Buch den Titel gibt. Zunächst bringt ihn nur die stickige Wetterlage der Godesberger Bucht zu diesem Vergleich (wie sie ähnlich auch den Talkessel von Stuttgart beherrscht, wo Koeppen in einem fensterlosen Zimmer des Bunkerhotels einen großen Teil des Manuskriptes verfasste). Die Assoziation schlägt aber bald um in eine Metapher für die restaurative Atmosphäre der jungen deutschen Republik. Unterschiedliche Gesinnungstypen, nicht selten mit diametral entgegengesetzten politischen Vergangenheiten, gelangen im Umkreis des Parlaments zu neuer Macht. In deren künstlichem Nebeneinander kann Keetenheuve allerdings keinerlei Willen zur Gemeinschaftsbildung im demokratischen Sinn erkennen. Die Treibhaus-Konfiguration bildet auch der Stadtraum ab: Die Bodenlage stellt sozusagen die Bonner Residenzlandschaft mit ihren kaiserzeitlichen Villen dar, deren »Siesta der pensionierten Rosendörfer« 15 selbst der Krieg nicht ernsthaft hatte in Unordnung bringen können. Hier emsig hineingestellt werden, als die Symbole der neuen Zeit, repräsentative Verwaltungsbauten der Industrie, der Banken und Interessensverbände. Unter den Neubauten, die der Hauptstadtfunktion Rechnung tragen, hinterlässt ausgerechnet das amerikanische Hochkommissariat den schillerndsten Eindruck. Keetenheuve erscheint das Gebäude zwar als »eine nüchterne Konstruktion aus Beton, Stahl und Glas und doch, wie es da stand, ein romantisches Schloß aus dem deutschen Märchen, ein Wolkenkratzer, vom Broadway hierher verschlagen«.16 Offenbar dient die etwas irritierende literarische Überhöhung des im Grunde wenig spektakulären realen Vorbildes dazu, den Unterschied zur übrigen Lebenssphäre hervorzuheben.17 Keetenheuve scheint es, als sei er in den »Palast eines mächtigen Zauberers« 18 eingedrungen. Es ist die passende Szenerie für Auftritte von lässiger Eleganz oder modisch-existenzialistischem Ennui, die sich abspielen zwischen »nettbestrumpften Mädchen« und »jungen Männern in
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Ebd., S. 67. Ebd., S. 91. Ebd., S. 96. Es handelt sich um den nur fünf- bis achtgeschossigen Verwaltungsbau für die HICOG (High Commission of Germany) und die US-amerikanische Botschaft, die 1950/52 unter Einbezug von Schloss Deichmannsaue in Bonn Mehlem von der Architektengruppe Apel, Letocha, Rohrer, Herdt und Ruf realisiert wurden. 18 W. Koeppen: Treibhaus, S. 96.
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kurzen Socken, die wie unzufriedene Engel aussahen«.19 Die erotisch aufgeladene Atmosphäre ist derjenigen im gläsernen Pressehaus in Walsers Philippsburg ganz ähnlich. Mit dem Blick in den hiesigen ›Außenposten‹ Amerikas öffnet sich ein Fenster in eine mögliche Zukunft, an der sich Deutschland wahrscheinlich orientieren wird. Der Europäer und vor allem der »Moralist« Keetenheuve (Kurt Sontheimer) kann dieses Bild jedoch nicht uneingeschränkt verheißungsvoll finden, so angezogen davon er als Tagträumer auch sein mag. Dagegen nimmt Koeppens Protagonist Anstoß an der fehlenden Repräsentativität der eigentlichen Bundesbauten, die allerdings zum Zeitpunkt des Romans beziehungsweise seiner Abfassung größtenteils noch in der Planung sind. Den Abgeordnetentrakt des Bundeshauses von Hans Schwippert etwa vergleicht er mit der »aseptische[n] Abteilung einer Klinik«.20 Aber auch was im Siedlungswesen vor sich geht, kann Keetenheuve nicht als Teilerfolg, geschweige denn als angemessene Modernisierung gelten lassen. In einer Ausschuss-Sitzung wird über »Bergarbeiterwohnungen auf neuem Siedlungsland bei den Halden« 21 debattiert. Dem Abgeordneten schwindet der Sinn angesichts der Art und Weise, wie hier Lebensqualität in »Quadratmeter errechnet [wird], die jedem Siedler zugebilligt werden sollten, und ein anderer Sachverständiger hatte sich ausgedacht, wie primitiv und wie billig man die Mauern ziehen könne«.22 Obwohl er seine Einwände öffentlich nicht äußert, lässt uns Keetenheuves innerer Monolog nicht darüber im Zweifel, dass er die Lebenswelt der »Giebelhäuser […] im Schrebergartenglück« für nichts als »wässerige Limonade« hält, als Lippenbekenntnis der Politiker zum sozialen Fortschritt. »Er meinte die Situation zu durchschauen: sie barg Gift und Bazillen. Was waren denn diese Siedlungen anders als die nationalsozialistischen Siedlungen der Kinderreichen, als SA- und SS-Siedlungen, nur billiger, nur enger, nur schäbiger, nur dürftiger? Und wenn man die Blaupausen betrachtete, es war der Nazistil, in dem weitergebaut wurde, und wenn man die Namen der Baumeister las, es waren die Nazibaumeister, die weiterbauten«, und man hieß »den braunen Stil gut und [fand] die Architekten in Ordnung«.23 19 20 21 22 23
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Ebd., S. 98. Ebd., S. 72. Ebd., S. 103. Ebd. Ebd., S. 106. Möglicherweise ist dieser Passus ein Reflex auf den Streit zwischen dem Architektenring Düsseldorf und dem Leiter des dortigen Stadtplanungsamtes Friedrich Tamms zu Beginn der 1950er Jahre. Vgl. Durth, Werner: Deutsche Architekten. Biographische Verflechtungen 1900–1970, Braunschweig 1986, S. 297–312.
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In diesen Siedlungstypen meint Keetenheuve sogar architektonische Komplizen der nationalsozialistischen Kriegstreiberei zu erkennen. Er imaginiert einen Bergarbeiter, der zum Feierabend in eine solche Siedlung zurückkehrt und sich dort seinem »Ekel vor den Gerüchen des Essens und der Verdauung, vor den Ausdünstungen […] das unaufhörliche Gequatsch« 24 der eigenen Familie und der unwürdigen Tuchfühlung mit den Nachbarn ausgesetzt findet. Die Mobilmachung der Deutschen sei so leicht gefallen, meint Keetenheuve, weil diese Männer »ihren Alltag haßten, weil sie das häßliche enge Leben nicht mehr ertragen konnten, weil der Krieg mit seinem Schrecken auch Flucht und Befreiung war, die Möglichkeit des Reisens […] die Möglichkeit, in Rothschilds Villa zu wohnen«.25 Im Kontext des Romangeschehens wird allerdings auch deutlich, dass Keetenheuves Engführung des Leitbilds Kleinfamilie mit Antisemitismus, Marschbereitschaft und Architektur auch seine persönlichen Bindungsschwierigkeiten illustrieren soll. Indessen weiß der Politiker in ihm wohl, dass der Wohnungsnotstand dringend nach Lösungen verlangt: »Jedes Dach war besser als keins. Er wußte es. Er kannte Barackenlager und Nissenhütten, er kannte Bunkerwohnungen, Trümmerunterkünfte, Notherbergen, er kannte auch die Slums in London und die Kellergelasse im Chinesenviertel des Rotterdamer Hafens, und er wußte, daß die Mindestwohnung, die der Ausschuß bauen wollte, ein Fortschritt gegen dieses Elend war. Aber er mochte die Beschwichtigung nicht.« 26 Gegen diese Beschwichtigung verwehrt sich Keetenheuves Einsicht, dass in der Moderne jeder Mensch allein sei und es auch bleiben werde. Eben war Keetenheuve noch aus dem amerikanischen Kommissariat gelaufen und hatte die dortige Mischung aus Eros und Ennui als schönen Schein, als innere Leere verworfen. Nun malt er seine eigene Vision von einem angemessenen, zeitgemäßen Dasein. Statt der »Beschwichtigung« der Stadtrandsiedlungen wünscht er sich den Bau von »profanen Klöstern« gleichsam existenzialistischer Kongregation: »Eremitenzellen für Massenmenschen«.27 Im Text wird das Vorbild hierfür benannt, es ist Le Corbusiers 1952 fertiggestellte, als Cité Radieuse bekannte L’Unité d’Habitation in Marseille. »Er wünschte, daß neue Architekten, junge begeisterte Baumeister, neue Pläne zeichneten, eine mächtige Wohnstadt, […] ein einziges strahlendes lichtfunkelndes Riesenhaus«, denn »es war nicht nötig, daß man, wenn man traurig war, auch noch fror; es war 24 25 26 27
Ebd., S. 105. Ebd., S. 104. Ebd., S. 106. Ebd., S. 108.
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nicht nötig, daß man, wenn man unglücklich war, auch noch hungerte; es war nicht nötig, daß man durch Schmutz wandelte, während man an das Nichts dachte.« 28 Er »wollte behaglich wohnen und dem Teufel etwas ablisten. Er war für das Glück in der Verzweiflung. Er war für Glück aus Komfort und Einsamkeit.« 29 Diese skeptische Vision von sozialer Kälte und dem Elend im Überfluss deutet schon auf die Entfremdungserfahrungen in den aufgebauten Stadtlandschaften voraus, deren Lebenswelt erst in den nachfolgenden Jahrzehnten, etwa in den Texten von Jürgen Becker, Rolf Dieter Brinkmann oder Peter Handke und nicht zuletzt im westdeutschen Autorenkino auf ihre Unwirtlichkeit hin seziert wird. In Koeppens Roman dient die existenzialistische Überhöhung von Le Corbusiers Unité vor allem der dramaturgischen Zuspitzung des Konflikts der Hauptfigur. Keetenheuve ist, wie Kurt Sontheimer schreibt, der »Intellektuelle, der naturgemäß ein Einzelgänger und ein Moralist ist, [der] in der Politik scheitern muß, wenn er sich treu bleiben will«.30 Am Ende scheitert Keetenheuve nicht nur an der Politik, sondern überhaupt daran, integer und am Leben zu bleiben. Sein Autor hatte dagegen durchaus keine Zweifel, dass zeitgenössische Architektur und Städtebau fähig sind, zukunftsweisende Lebenswelten zu schaffen. Es ist nur das heimische Bauwesen, das in seinen Augen so schlecht abschneidet. In einem Reisebericht für den Hessischen Rundfunk schreibt Koeppen im Jahr 1957 über den Wiederaufbau von Rotterdam: »Rotterdam war nicht schön, man darf es sagen; jetzt ist es schön. Es ist, als hätte sich hier das vermessene Wort von den Städten, die schöner wieder aufgebaut werden sollten, erfüllt. Rotterdam ist nun ein Beispiel guten Bauens. Es ist hier gelungen, was Frankfurt oder Düsseldorf nicht glückte. Die Stadt ist weit, klar, hoch, sie ist sachlich, aber nicht formenarm errichtet worden. Der Gang durch die neuen Geschäftsstraßen stimmt fröhlich. Die Architektur unserer Zeit weckt ein neues Lebensgefühl, das bisher nur der Süden schenkte. Läden, Cafés, Restaurants öffnen sich bereitwillig der Straße, schließen sich nicht ab, bilden mit der Gehbahn ein Forum, das demokratisch und gute Politik ist. […] Inmitten der Lichtflut der Neubauten und des stärksten Verkehrs, im Zentrum des Wiederaufbaus, den man nur bewundern kann, steht ein schlichtes weißes Kreuz und erinnert an die, die fielen. Trauer und ein wenig Wehmut befällt dann den Besucher. Eine Stadt geht unter. Eine Stadt steht wieder auf. Aber es ist nicht mehr die alte Stadt.« 31 28 29 30 31
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Ebd. Ebd., S. 107. K. Sontheimer: Adenauer-Ära, S. 30. Koeppen, Wolfgang: »Im Spiegel der Grachten – in die Niederlande« (1957/58),
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Für Koeppens Zweifel an der Architektur des westdeutschen Wiederaufbaus ist also unerheblich, dass er seine Romantrilogie Tauben im Gras (1951), Das Treibhaus und Der Tod in Rom (1954) abgeschlossen hatte, bevor der Höhepunkt des Baubooms überhaupt erreicht war. Im Kontrast zum lichten Beispiel Rotterdam konturieren sich in seiner Skepsis bereits jene Bedenken, die Adolf Arndt in der Rede Demokratie als Bauherr 1960 der zeitgenössischen Bauwelt mitgibt: Ob es in der Bundesrepublik denn bisher gelungen sei, die Lebensräume und architektonischen Repräsentationen zu schaffen, in denen ein humanes Miteinander und die politische Mündigkeit der demokratischen Gemeinschaft den Menschen auch erlebbar wären.32 Koeppens Das Treibhaus enthält hierzu eine Gedankenfülle, die im Licht der eingangs aufgestellten Behauptung außerordentlich ist, obgleich die Passagen zu Architektur und Städtebau im literarischen Gefüge selbst nur ein Nebengeräusch sind zum Basso continuo der pessimistischen Kritik an den politischen, gesellschaftlichen und geistigen Verhältnissen.33 Der Autor reibt sich offensichtlich an einer Diskrepanz zwischen der Geschwindigkeit des materiellen Wiederaufbaus und der Zeit, die es eigentlich bräuchte, um die mentalen Voraussetzungen einer gefestigten, in einer politischen Kultur verankerten Demokratie zu schaffen. Sein Unbehagen wurde mit Sicherheit vom Großteil der westdeutschen Schriftsteller geteilt, die wir heute noch unter dem Stichwort ›Restaurationskritik‹ subsumieren. In diesem problematischen Begriff lässt sich vielleicht wenig mehr zusammenfassen als die Überzeugung, dass geordnete Verhältnisse zu früh wiederhergestellt wurden. Denn es bleibt im Begriff der Restauration ja unterschiedslos, auf welche historischen Verhältnisse sich diese Wiederherstellung genau bezieht. Die geschwinde Transformation der Trümmerlandschaft in eine funktionierende, den allgemeinen Lebensstandard der Vorkriegszeit bald sogar überin: ders.: Werke. Band 8: Nach Rußland und anderswohin, hg. von Walter Erhart. Frankfurt/Main 2007, S. 78–103, hier S. 100ff. In der Beschreibung deutlich zu erkennen ist das bis 1953 errichtete Lijnbaan-Ladenzentrum von Johannes van den Broek und Jacob Bakema. 32 Vgl. Wilhelm, Karin: »›Demokratie als Bauherr‹. Überlegungen zum Charakter der Berliner politischen Repräsentationsbauten«, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zu Das Parlament. Nr. 34–35/2001, Jg. 51, S. 7–15. 33 Eine interessante Kritik am Treibhaus als politischem Buch übt der Politologe Theo Stammen, demzufolge Koeppen die Demokratiekrise mit überholten politischen Kategorien beschreibe, die »bereits gegen die Wirklichkeit der Weimarer Verfassung von ihren linken wie rechten Kritikern ins Feld geführt worden waren und so zu deren weiteren Destabilisierung entscheidend beigetragen haben – z.B. durch Antipluralismus, Antiparlamentarismus und Antiparteienaffekt.« (Stammen, Theo: »Erfahrungen und Vorurteile – Zu Wolfgang Koeppens früher Parlamentarismus- und Demokratiekritik«, in: Jahrbuch der Internationalen Wolfgang Koeppen-Gesellschaft. Nr. 2/2003, S. 335–344, hier S. 342).
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treffende städtische Welt muss den Restaurationskritikern Symptom oder (Mit-)Ursache der Amnesie der Nation gegenüber ihrer Vorgeschichte gewesen sein. Hier besteht eine deutliche Parallele zu der Rede von der ›verpassten Chance‹ in den Fachkreisen von Architektur und Städtebau, deren allgemeinsten Gehalt Ulrich Conrads in der Frage artikulierte: »Gab es niemanden, der neues Planen und neues Bauen vom Ereignis der Selbstzerstörung Deutschlands her bedachte, niemanden, der angesichts der Trümmer, die ja nicht nur äußere waren, tiefere Folgerungen auch für das Bauen zog?« 34 Warum das Phänomen dann in der westdeutschen Literatur nicht expliziter behandelt wurde, ist damit allerdings noch nicht erklärt. Hier tut sich offensichtlich noch ein ganzes Forschungsfeld für die Mentalitätsgeschichte der frühen Bundesrepublik auf.
34 Conrads, Ulrich: »Grundzüge deutscher Nachkriegsarchitektur«, in: ders./Marschall, Werner: Neue deutsche Architektur 2. Stuttgart 1962, S. 5–14, hier S. 7.
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S Y M B O L P O L I T I K I M W I E D E R AU F BAU : D E R A B R I S S D E S S TA D T K I RC H E N T U R M E S I N P F O R Z H E I M 1 9 6 2 Georg Wagner-Kyora Wiederaufbau nach dem Bombenkrieg: Erinnerungskultur versus Geschichtsmythen Die badische Industriegroßstadt Pforzheim sieht sich seit Jahrzehnten mit den besonderen Herausforderungen ihrer lokalen Erinnerungspolitik konfrontiert, welche die Geschichte von Kriegszerstörung und Wiederaufbau zum Gegenstand haben. Stärker als in vergleichbaren Städten der Bundesrepublik Deutschland (BRD) prallten hier die gegensätzlichen Erwartungen einer vielfach gebrochenen Erinnerungskultur aufeinander. Diese hatten ein unablässiges Ringen mit den divergenten Anforderungen von Geschichte und Geschichtspolitik auf der lokalen Ebene zur Folge. Als Außenstehender wird man jedoch nicht von groben Verwerfungen sprechen können, welche die unablässige Reflexion über das eigene Stadtschicksal kennzeichneten. Eher beobachten wir ein Übermaß von nicht gänzlich aufgeklärten Erinnerungsmarken, die sich fallweise auch schon einmal gegenseitig im Wege standen. So verweist die Bewertung der inzwischen gut aufgearbeiteten Erinnerungskultur zum Bombenkrieg in Pforzheim auf die spezifischen Anfälligkeiten für eine Mythenbildung: »Die Bombennächte waren derart einschneidende Erlebnisse für die Überlebenden gewesen, dass dieses traumatische Ereignis fortan immer im Vordergrund stand und eine Erinnerung an das ›Davor‹ erschwerte. So nimmt es auch nicht Wunder, dass in Erinnerungstexten, in Büchern, Broschüren oder Zeitungsartikeln das Ereignis selbst wie auch die Folgen in Form von Trümmern und Toten ausführlich behandelt wurden, die Zeit zuvor hingegen selten.« 1 In der Ausklammerung der lokalen NS-Geschichte überdeckte der ›Commemorative Noise‹ 2 das Gedenken an die anderen Opfergruppen.3 Doch diese distanzierte Wahrnehmung der lokalen Erinnerungskultur reflektiert indirekt auch Versäumnisse der bundesdeutschen Geschichtswissenschaft, die sich vergleichsweise spät, näm-
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Groh, Christian: »Elemente der Erinnerung an den 23. Februar 1945 in Pforzheim«, in: ders. (Hg.): Neue Beiträge zur Pforzheimer Stadtgeschichte, Bd. 2, Heidelberg u.a. 2008, S. 209–229, hier S. 216. Vgl. Koshar, Rudy: Germany´s Transient Pasts. Preservation and National Memory in the Twentieth Century, Chapel Hill/London 1998. Wie Anm. 1, S. 214f.
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lich erst seit den 1990er Jahren dieser Thematik zugewandt hatte.4 Denn dass die lokale Öffentlichkeit Pforzheims keineswegs im Stadium einer bloß ungefähren Geschichtsdeutung verharrte, belegt eine intensive jahrzehntelange Memorialpraxis der Stadt.5 Verspätet trug die Fachwissenschaft dazu bei, den Mythencharakter des Bombenkrieges in den lokalen Erinnerungskulturen zu erklären.6 In gleicher Weise gilt es nun weiter zu fragen: Welche Rolle nahm in der Nachkriegszeit die lokale Erinnerungskultur im Rahmen des Wiederaufbaus kriegszerstörter Baudenkmale ein? Und wie grenzte sich diese von allfälligen Wiederaufbau-Mythen ab? Die populäre Geschichtsaneignung und die elitären Geschichtsdeutungen der unmittelbaren Nachkriegs- und der Adenauer-Zeit 7 fanden kaum einen Widerhall in der Reflexion über den Bombenkrieg, auch wenn sie, worauf ebenfalls erst kürzlich hingewiesen wurde, immer schon ubiquitär verbreitet gewesen ist.8 Eher gegensätzlich verhielt es sich mit den Wiederaufbaudebatten: Diese wurden offensiv in der Öffentlichkeit ausgetragen – solange sie nicht Kontroversen bewirkten, welche das politische Gleichgewicht des lokalen Machtgefüges tangierten oder es gar störten. Für eine solche Störung der Erwartungshaltung ist die lange Wiederaufbaudebatte über den Pforzheimer Stadtkirchenturm allerdings ein hervorragendes Beispiel. Im Folgenden soll deshalb zunächst in die Rahmung der vielfach verschlungenen lokalen Erinnerungsmentalität in Pforzheim während der beiden ersten Wiederaufbaujahrzehnte eingeführt werden. Hierzu dient ein Überblick über den frühen Wiederaufbau der Pforzheimer Schlosskirche, der in vielerlei Weise als der unmittelbare Vorgänger des viel umstritteneren Wiederaufbaus der Pforzheimer Stadtkirche angesehen werden kann. Am Beispiel der langen Wiederaufbaudebatte über den Pforzheimer Stadtkirchenturm in den Jahren zwischen 1954 und 1962 soll dann auf die spezifische Verknüp4
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Vgl. Thiessen, Malte: »Geschichte und Nachgeschichte der Bomben. Sammelrezension über neue Forschungen zu Luftkrieg und seiner Erinnerung«, in: C. Groh: Elemente der Erinnerung, S. 231–256, hier S. 232–234. Ebd., S. 225–228. Vgl. insbesondere: Thiessen, Malte: Eingebrannt ins Gedächtnis. Hamburgs Gedenken an Luftkrieg und Kriegsende 1943 bis 2005, Hamburg 2007, hier S. 71–85, 99–108, 143–162. Außerdem: Süß, Dietmar: Tod aus der Luft. Kriegsgesellschaft und Luftkrieg in Deutschland und England, München 2011. Vgl. hierzu die vorsichtige Instrumentalisierung der Bombenkriegserfahrung in den Reden des ersten und bedeutenden Pforzheimer Oberbürgermeisters Brandenburg zugunsten eines Pazifismus´ während des Kalten Krieges in: C. Groh: Elemente der Erinnerung, S. 223f. Vgl. Groh, Christian: »Sehen wir Pforzheim!« Der Bombenkrieg als Trauma der Stadtgeschichte«, in: Fraisl, Bettina/Stromberger, Monika (Hg.): Stadt und Trauma. Annäherungen, Konzepte, Analysen, Würzburg 2004, S. 123–143; zitiert nach: M. Thiessen: Geschichte und Nachgeschichte der Bomben, S. 246.
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1 — Die Pforzheimer Grabkreuze – Blick in die Calwer Straße nach Nord-Osten, circa 1945, Fotograf: unbekannt.
fung von Geschichtswahrnehmung, lokaler Erinnerungskultur und dem vielfach umstrittenen Diskursfeld des Wiederaufbaus einer Turmruine genauer eingegangen werden. Dieser scheiterte in Pforzheim nicht zuletzt deshalb, weil dem Stadtkirchenturm eine Wahrzeichenfunktion nicht (mehr) eindeutig zugeschrieben werden konnte, sodass eine Vielzahl von divergenten Erinnerungsangeboten entstanden. Meine These lautet demzufolge, dass es die kontrovers ausgetragenen Selbstverständigungsprozesse in den städtischen Erinnerungsgemeinschaften waren, welche eine ungerichtete Vielzahl an Wiederaufbauoptionen und daran geknüpfter Erinnerungspraktiken in den bundesdeutschen Städten zur Folge hatten. Sie sind im Rahmen einer Mentalitätsgeschichte der lokalen Gesellschaften zu analysieren. Ähnlich wie in allen anderen kriegszerstörten Städten Europas dienten die Debatten um die Bewahrung von kriegszerstörten Wahrzeichen auch im Fall von Pforzheim als Forum für die Selbstverständigung einer neu entstehenden lokalen Öffentlichkeit über die Grundlagen ihrer städtischen Traditionspolitik. Sie wurden zum Ausgangspunkt eines vielfach gebrochenen, wenngleich äußerst erfolgreichen mentalen Anpassungsprozesses an eine neu konstituierte Gesellschaft des Wiederaufbaus. Hierzu zählte von Beginn an eine überaus starke Symbolpolitik in der zerstörten Stadt. Zu nennen sind in diesem Zusammenhang insbesondere die Pforzheimer Grabkreuze. Abb. 1 Es handelte sich
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2 — Blick zur Schlosskirche, Ansicht von Süd-Westen, auf der linken Seite liegt das Landratsamt, circa 1958, Fotograf: Wendel.
um einfache Holzkreuzstelen, die als Grabmonumente an sichtbaren Points de vue aufgestellt wurden, um das unmittelbare Totengedenken an die Bombenkriegsopfer zu markieren.9 In der Schwarz-WeißFotografie der vielfach publizierten Gedächtnismonografien wiesen sie die Trümmerlandschaft pointiert als Ort mit einer starken visuellen erinnerungskulturellen Dimension aus. Diese Bildpraxis hat maßgeblich zu einer tiefen Verankerung der Kriegserfahrung im erinnerungskulturellen Gedächtnis der Stadtbewohner beigetragen. Trauer und nicht Rache ist auch deshalb von Anfang an das Leitmotiv der Pforzheimer Kriegserinnerung geworden. Und diese Erinnerungsmentalität strahlte schon früh in das Wiederaufbaugeschehen aus. Expertenkultur und Wiederaufbaumentalität Die Einblicke in die lokale Expertenkultur der Geschichtsdeuter und Wiederaufbaulenker 10 belegen, dass es in Pforzheim, wie in allen anderen Wiederaufbaustädten auch, eine verschwindend kleine Gruppe von Bildungsbürgern aus dem lokalen Umfeld der sich professionalisierenden städtischen und der regionalen Denkmalpflege war, welche von Anfang an entscheidenden Einfluss auf das Wiederaufbaugeschehen nahm. Hier standen sich erkennbar zwei Gruppen gegenüber, die repräsentativ für die Lagerung des Erinnerungsgedenkens in der ›Stunde Null‹, dem Übergang von der nationalsozialistischen Diktatur zur Besatzungs- und Trümmergesellschaft in der 9
Eine Fotografie ist abgebildet in: Wagner-Kyora, Georg: »›Die Seele Pforzheims retten‹. Wiederaufbau in Pforzheim zwischen radikaler Moderne und Traditionsrest«, in: C. Groh: Neue Beiträge zur Pforzheimer Stadtgeschichte, S. 143–177, hier S. 156. 10 Vgl. ebd., S. 152–177.
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unmittelbaren Nachkriegszeit, auftraten: Der Pforzheimer Publizist und ehrenamtliche städtische Denkmalpfleger Alfons Kirchenmaier, der bereits in den 1930er Jahren die maßgebliche Denkmalliste der Stadt verfasst hatte, trat als engagierter Verfechter einer Sicherung der noch vorhandenen Ruinenreste im Stadtbild auf und vertrat diese vergleichsweise moderne Sicht auf die verschwundene Denkmallandschaft seiner Stadt auch in der persönlichen Konfrontation gegenüber den abrisswilligen Bauarbeitern. Ihm gegenüber standen die einflussreichen Honoratioren aus dem Umfeld der regionalen badischen Denkmalpflege. Sie formulierten schon bald eine ideologisch gefestigte nationalkonservative Sichtweise auf die lokale Baukultur, zeigten aber an der konkreten Sicherung von Relikten wenig Interesse. Ihr prominentester Vertreter war der Karlsruher Professor Otto Haupt, der spätere Chef des wiedergegründeten badischen Landesamtes für Denkmalpflege. Kirchenmaier und Haupt können in verschiedener Hinsicht als die Exponenten eines unterschwellig ausgetragenen Kulturkampfes in der lokalen Erinnerungspolitik des rekonstruktiven Wiederaufbaus der Schlosskirche gelten. Abb. 2 Während Kirchenmaier von Anfang an den Schulterschluss mit den Alliierten suchte und als bekennender Freund der Amerikaner seinen Einfluss geltend machte, um die Reste der in Ruinen gefallenen Kulturdenkmale zu bewahren, versuchten Haupt und sein Netzwerk regionale nationalkonservative Stereotype in den Wiederaufbau einzubringen, um restaurative Impulse zu verbreitern. Dies geschah nicht unbedingt in einer reaktionär nationalsozialistischen Gesinnung, aber doch in jener, die uns heute als Abwehrtendenz gegenüber den Remigranten und Modernen nur allzu vertraut geworden ist und die die späteren Adenauer-Jahre so weidlich vermuffte.11 Kirchenmaiers Position hingegen war durch ein komplettes Schuldeingeständnis angesichts des Versagens der bildungsbürgerlichen Eliten vor den Nationalsozialisten markiert, das ansonsten unter vielen Pforzheimern wie auch bundesdeutschen Intellektuellen ausgeblieben war.12 11 Vgl. Schildt, Axel: »Die Ideenlandschaft der Wiederaufbau-Jahre zwischen Kulturpessimismus und Moderne und die Anfänge des Vortragsprogramms der Reuchlin-Gesellschaft«, in: C. Groh: Neue Beiträge zur Pforzheimer Stadtgeschichte, S. 125–141, hier S. 130f. 12 Kennzeichnend hierfür ist die Gründungsrede des Chefs der SchlosskirchenStiftung Otto Haupt, in der er im Gegensatz zu Kirchenmaier jegliche Schuldeingeständnisse zugunsten seiner nationalkonservativen Geschichtsdeutung vermied. Otto Haupt, Ansprache in der Gründungsversammlung der Stiftung der Freunde der Schlosskirche, Pforzheim am 21.2.1946, Stadtarchiv Pforzheim (StAPf) 2/5, vgl. die ausführliche Darstellung dazu in: G. Wagner-Kyora: »Die Seele Pforzheims retten«, hier S. 168–175. Zu Kirchenmaier vgl. ebd., S. 152–159.
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Beide Positionen trafen sich allerdings in dem gemeinsamen Bemühen um die Gründung eines Wiederaufbauvereins der Stiftung der Freunde der Schlosskirche. Sie konnte schon im Februar 1946 durchgesetzt werden. Während die einen für das elitäre Netzwerk der Stiftung zuständig waren, dem schon bei Gründung die Créme de la Créme der Pforzheimer Kaufmannschaft angehörte, kümmerten sich die anderen ehrenamtlich um die fachgerechte Enttrümmerung und den schrittweisen Wiederaufbau der bis auf die noch aufragenden Außenmauern und die bedeutende Grabkrypta ansonsten völlig zerstörten Pforzheimer Schlosskirche.13 Das konkrete Unternehmerhandeln in der Beschaffung der Baumaterialien, der Rekrutierung der Bauarbeiter, ihre dauerhafte Entlohnung und Versorgung wie auch die denkmalgerechte Planung und Durchführung sowie die Überwachung des rekonstruktiven Wiederaufbaus zählten damit zu den Aufgaben des engeren Kreises um den Pforzheimer Denkmalpfleger Kirchenmaier. Neben ihm waren es der Denkmalpfleger Oskar Trost und der Zeichner Oskar Elsässer, die eine Ausweitung ihrer Wiederaufbaupraxis in ein bildungsbürgerliches Erziehungsideal anstrebten und damit die ideelle Konsensplattform der Schlosskirchen-Stiftung wesentlich erweiterten.14 Es zählt zu den erstaunlichen Leistungen der Stiftung, dass sich damit schon frühzeitig die gewandelte Sichtweise auf die jüngere Katastrophengeschichte der Stadt Pforzheim im kollektiven Gedächtnis durchsetzte, die Kirchenmaier schon von Anfang an vertreten hatte. Bereits im Folgejahr 1947 berichtete er von einer eigentümlichen Exkursionspraxis: Im Rahmen der wöchentlichen Erkundungsgänge durch die langsam enttrümmerte Wiederaufbaulandschaft wurden kunstgeschichtliche Führungen durch Pforzheim abgehalten. Da es überhaupt nur weniges und darunter auch nur noch recht wenig Historisches zu besichtigen gab, waren diese bildungsbürgerlichen Reisen durch die eigene Stadt gleichzeitig auch Gedenkdefilees, vorbei an den teilweise schon wieder verschwundenen Grabkreuzen, den zu bizarrer Höhe angehäuften Trümmerbergen und den Schuttwagen mit Trümmern sowie entlang der Presslufthämmer des Wiederaufbaus in der planierten Stadt.15 13 Wie Anm. 9, S. 162–164. 14 Sie wäre ansonsten auf eine bloße Zurschaustellung der eigenen Bauerfolge beschränkt geblieben, wie sie sich in einer frühen Berichtspublikation ablesen lässt, welche den Fortgang der Enttrümmerungs- und Sicherungsarbeiten allgemeinverständlich zusammenfasste. Schlosskirche und Park in Pforzheim, in: Nachrichtendienst für Denkmal-, Natur- und Heimatschutz (Karlsruhe), 15.5.1946, StAPf St. 2/5. 15 Diese Wochenexkursionen entwickelten sich aus einer Denkmalausstellung von Steinplastiken aus der Schlosskirche. 1950/51 wurden sie dann zu »Kunstfahrten«
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Aber im kontinuierlichen Gedenken an das Zerstörte und die Toten sollten sich diese Begehungen nicht erschöpfen. Sie verfolgten nämlich auch den Zweck, wieder und wieder die bestmögliche Form des Wiederaufbaus zu erörtern. So sollte etwa am Bahnhofsplatz gezielt niedrig-geschossig gebaut werden, um dem künftigen Besucher ein visuelles Aha-Erlebnis zu verschaffen: die unverstellte Begegnung mit der Stadtlandschaft Pforzheim in ihrer dort beginnenden Talsituation.16 Auch die Schlosskirche sollte durch gezielte Eingriffe in die Nachbarbebauung im Stadtbild monumental überhöht werden, damit ihre Berglage besser zur Geltung käme. Die Stadtkirche, ihr zunächst noch als historisch gleichwertig empfundenes Pendant in der Innenstadt, würde somit visuell mit dieser ältesten Kirche der Stadt verbunden werden können, dadurch dass beide Türme als Markierungen der Unter- und der Oberstadt wirkten. Und auch räumlich sollten diese Stadtteile aneinanderrücken, indem durch eine Veränderung des Systems der Hauptstraßen der Fahrverkehr radikal aufgewertet würde – zulasten des historischen Stadtgrundrisses. Schon in einem Gutachten der Stadtverwaltung Pforzheim aus dem Jahr 1948 wurde die radikale Beräumung als Chance einer völlig neu orientierten Stadtplanung anerkannt.17 Stadtplanung und der umstrittene Wiederaufbau des Pforzheimer Stadtkirchenturmes Im Spektrum der bundesdeutschen Wiederaufbaustädte hatte Pforzheim die städtebauliche Entscheidung zugunsten einer Stadt der Neuaufbau-Moderne schließlich besonders konsequent ausgeführt. Abb. 3 Dennoch oder besser: gerade deshalb hatte sich eine tief verankerte, eigenständige lokale Memorialkultur herausgebildet, welche die Erinnerung an das apokalyptische Bombardement der Stadt vom 23. Februar 1945 diskursiv widerspiegelte. Der Turm der zerstörten Stadtkirche nahm hierin eine zentrale Funktion als Membran in die Umgebung umfunktioniert, die ebenfalls von der Schlosskirchen-Stiftung organisiert wurden. Alfons Kirchenmaier: Berichte des Geschäftsführers der Schlosskirchenstiftung 1947 und 1950/51, StAPf St 2/1. Vgl. G. Wagner-Kyora: »Die Seele Pforzheims retten«, S. 166. 16 Denkschrift Dr.-Ing. Walter Fries v. 10.1.1946 zur »Neugestaltung des Bahnhofsplatzes und des früheren Schlossbereiches«, StAPf St 2/3. 17 Stadtverwaltung Pforzheim, Gutachten über den Allgemeinen Verkehrs- und Bebauungsplan der Stadt Pforzheim, Pforzheim 1948, StAPf, zitiert nach: Groh, Christian: »Freie Bahn dem Tüchtigen!« Moderner Wiederaufbau und städtische Identität am Beispiel Pforzheims«, in: Wagner-Kyora, Georg (Hg.): Wiederaufbau europäischer Städte. Rekonstruktionen, die Moderne und die lokale Identitätspolitik seit 1945/Rebuilding European Cities. Reconstructions, Modernity and the Local Politics of Identitiy Construction since 1945, erscheint Stuttgart 2013. Das Zitat aus dem Aufsatztitel entstammt dem besagten Gutachten.
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der erinnerungskulturellen Strömungen und ihrer kollektiv prägenden emotionalen Steigerung ein. Als einer der wenigen erhalten gebliebenen baulichen Reste der insgesamt völlig zerstörten Bebauung blieb er vorerst noch ein markanter städtebaulicher Point de vue der Innenstadt. In der Erfahrung dieses scharfen Kontrasts lag seine Popularität begründet. Da fast das gesamte Stadtbild der badischen Industriegroßstadt verschwunden und in der Neubebauung das moderne Weichbild, die Stadt des Wiederaufbaus, entstanden war, wurde der Stadtkirchenturm infolgedessen in seiner emotionalen und erinnerungskulturellen Bedeutung wesentlich gesteigert. »Erst dieser Tage sagte ein Mann, der vom Fotografieren sehr viel versteht und versuchte, eine Stelle zu finden, von der aus man ein Gesamtbild Pforzheims aufnehmen kann, das einen Begriff von der schönen Lage der Stadt gibt, er sei bloß froh, dass der Stadtkirchenturm noch stehe. Ihr Turm gibt dem Bild der Innenstadt zweifellos einen eindrucksvollen Mittelpunkt und belebt den sonst recht nüchternen Anblick der neuen Stadt. […] An einem sonnigen Vormittag, vom Ufer her aufgenommen, ist das Bild der dunkelrot leuchtenden Stadtkirchenruine zwischen den modernen hellen Bauten der Oberen Au ungemein fesselnd – eine Illustration des alten und neuen Pforzheim.« 18 Viele andere zeitgenössische Stimmen wie diese belegen, dass der Wiederaufbau als eine Epoche der Kollektiverfahrung radikaler und allumfassender Zerstörungen, des Überlebens und Verdrängens, der Heimkehr und des Ankommens sowie schließlich eines konsensstiftenden Neuaufbaus neben und zwischen den Ruinen eine eigenständige Sinndeutungskonstruktion hervorgebracht hatte. Sie ließ sich in der städtischen Architektur dieser Jahrzehnte ablesen. So entfaltete die bundesdeutsche Stadt des kompromisslosen Neuen ihre Symbolfunktionen im Kontrast zu den wenigen, zumeist als annähernde Neubauten erhalten gebliebenen Wiederaufbau-Baudenkmalen. In ihrem städtebaulichen Gestaltungsanspruch waren sie aufgrund ihrer Verinselung zwischen Neubauten einerseits reduziert worden, sie wurden andererseits aber auch als historische Relikte der zerstörten Stadt in ihrer konsensstiftenden Sinndeutung noch erweitert. Dementsprechend entwickelten sich um die Auswahl und Bewahrung solcher Relikte oftmals äußerst konflikthaltige Entscheidungsprozesse. In Pforzheim, wie in allen anderen deutschen Wiederaufbaustädten auch, entstand dadurch ein widersprüchliches Spannungsverhältnis zum dominierenden städtebaulichen Planungsprozess der 18 O.T. (Autorenkürzel): »Turm der Stadtkirche als Denkmal der Geschichte. Die Stadtkirche ist ein Mahnmal inmitten der neu erstehenden Stadt«, in: Pforzheimer Kurier, 24.1.1957, StA Pf ZGS 1 L 2686.
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3 — Blick vom Rathaus nach Norden auf die Schlosskirche, circa 1985, Fotograf: unbekannt.
Neuaufbaustadt. Denn die Parameter ihrer architekturhistorischen Bewertung und, mehr noch, ihrer geschichtspolitischen Bedeutungskonstruktion mussten erst mühsam, in einem volatilen Gleichgewicht des öffentlich Sagbaren über die lokale Zerstörungsgeschichte, ausgehandelt werden. Was beim schnellen Wiederaufbau der Schlosskirche noch kaum problematisiert worden war, trat in der öffentlichen Debatte um den Erhalt oder den Abriss des Stadtkirchenturmes mit unverminderter Heftigkeit hervor. Vielen schien in den Ruinen der verschwundenen Baudenkmale die ansonsten schnell verdrängte Kriegs- und Zerstörungsgeschichte ex negativo aufgehoben zu sein: Ihre materielle Wiederherstellung schien die Gefahr einer ständigen Vergegenwärtigung dieser ›Bad History‹ heraufzubeschwören und damit restaurative, wenn nicht gar reaktionäre Tendenzen befördern zu können. Der rekonstruktive Wiederaufbau entfachte deshalb heute kaum mehr verständliche Widerstände in der lokalen Öffentlichkeit. So entzündete sich um den Abriss und den Neuaufbau des Turmes der zerstörten Pforzheimer Stadtkirche eine mehr als anderthalb Jahrzehnte andauernde Wiederaufbaukontroverse. Trotz des überaus großen Widerstands in der Bevölkerung scheiterte die Bewahrung dieses Reliktes im Rahmen eines Mahnmal-Konzeptes – so wie es zeitgleich in Berlin mit dem integrativen Konzept des Neu-
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baus der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche verwirklicht wurde.19 In Pforzheim schlug die Erinnerungskultur im Wiederaufbau jedoch eine andere Richtung ein: Gerade in der kompromisslosen Neuerfindung des gesamten baulichen Erscheinungsbildes der Stadt sollte die Erinnerung an die eigene Zerstörungsgeschichte in widersprüchlicher Weise bewahrt werden. Diese vergleichsweise radikale Ausrichtung der lokalen Erinnerungskultur im Wiederaufbau setzt den Rahmen, um das Schicksal des umkämpften Stadtkirchenturmes verstehen zu können. Die Ruine der Stadtkirche wurde in großen Teilen bereits bis 1954 abgerissen, der Abriss des Turmes und der Nordwand folgte jedoch erst 1962/63. Bis 1968 wurde ein schöner Neubau an ihrer Stelle errichtet. Seine städtebauliche Wirkung sollte diejenige der alten Stadtkirche noch übertreffen. So jedenfalls wurde es in der Bilanz ihres ›Wiederaufbaus‹ aus dem Jahr 1968 dargestellt, der tatsächlich ein vollständiger Neubau geworden war. Emphatisch feierte der Architekt der neuen Stadtkirche, der städtische Baurat Vogel, sein Werk: »Das neue kommunale Stadtherz des zerstörten Pforzheim, die Repräsentation eines so bedeutenden Gemeinwesens, wird einmal von der ehrwürdigen Schlosskirche und der neu entstehenden Stadtkirche bergseitig und zu Tale begrenzt werden. Eine einmalige städtebauliche Situation! Wiewohl diese moderne, planerische Festlegung für Pforzheim etwas Neues ist, so hat die europäische, besonders die deutsche historische Stadtbaukunst hierfür hervorragende Beispiele hervorgebracht.« Der Rückbezug auf die Stadttopografie kennzeichnete das Gesamtkonzept in überraschender, auch in widersprüchlicher Art und Weise. Denn trotz des Abrisses der Stadtkirchenruine war es die Integration der wenigen im Stadtbild wieder hergestellten sakralen Baudenkmale, welche den Städtebau Pforzheims nachhaltig prägen sollten, darunter auch die Schlosskirche, die Franziskanerkirche und die Barfüßerkirche. Diese Kirchen konnten und sollten als Relikte des Historischen im Stadtraum wahrgenommen werden. Dennoch wurden sie städtebaulich eher zusammenhanglos mit der Architektur und Verkehrsführung der Neuaufbaustadt kompiliert und konfrontiert: »Das neue Pforzheimer Stadtherz wird das Rathaus, [den] Theater- [und den] Stadthallenbau und die dazugehörigen Plätze und Verkehrsflächen von großer Lebendigkeit und reicher Gliederung enthalten, das dem pulsierenden Leben einer Industriestadt entspricht. So konnte nur Ruhe, schlichte Körperlichkeit, die 19 Vgl. Kress, Celina: »Anker oder Ärgernis. Die Berliner Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche zwischen Wiederaufbaustreit und Urban Icon«, in: G. Wagner-Kyora: Wiederaufbau europäischer Städte, erscheint Stuttgart 2013.
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schon die Schlosskirche in so hohem Maße zum Ausdruck bringt, auch das städtebauliche Anliegen der neuen Stadtkirche sein, dem Sinnbild ihrer geistlichen Aufgabe im Leben dieser Stadt.« 20 Folgt man der zeitgenössischen Einschätzung des Pforzheimer Baurats, so war in der Abfolge von Flaggschiffbauten und großen Verkehrsflächen eine städtebauliche Neuinterpretation der urbanen Wirkungszusammenhänge entstanden. In diese Gesamtkonzeption aus Moderne, Topografie und Geschichte hatte sich seiner Meinung nach auch der Neubau der Stadtkirche einzuordnen. Demgegenüber verblasste ihre traditionelle Raumwirkung und vor allem auch ihre konkrete historische Bedeutung als wichtigste Pforzheimer Hauptkirche und die damit verknüpfte erinnerungskulturelle Dimension. Wiederaufbaupläne und öffentliche Meinung Der ursprüngliche Plan, den Turm der zerstörten Stadtkirche zu bewahren und daran einen Neubau des Kirchenschiffes anzulagern, ein Konzept also, das in ähnlicher Weise bis 1965 für den Neubau-Wiederaufbau der Berliner Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche umgesetzt wurde, wurde jedoch verworfen. Noch bis 1962 erhalten geblieben waren der massive neogotische Turm der Pforzheimer Stadtkirche von 80 Meter Höhe und die Südwand des zerstörten Kirchenschiffes, die immer einmal wieder in einen Neubau hatten integriert werden sollen. Ursprünglich waren zudem alle vier Ecktürme und alle weiteren Umfassungsmauern sowie Teile der Dachkonstruktion stehen geblieben, aber bis 1947 eingerissen und beseitigt worden – auch hier ergibt sich eine Parallele zu dem Berliner Baubefund der zerstörten Hauptkirche und ihrer zwischenzeitlichen Teilabrisse. Vergleichbar eindrucksvoll war auch die außergewöhnlich günstige Lage. Die Pforzheimer Stadtkirche lag an der topografisch exponiertesten Stelle der Stadt, am pittoresken Zusammenfluss der beiden Stadtgewässer Enz und Nagold. Zusammen mit der Höhe ihres Turmes hatte diese Lage die außergewöhnlich starke repräsentative Bedeutung der Kirche als lokales Identifikationsbauwerk begründet, die zudem in ihrer langen Gemeindegeschichte wurzelte. Diese drei Komponenten waren im Rahmen des frühen Planungsprozesses noch stark beachtet worden, wobei das Alte und das Neue miteinander verbunden werden konnten. So sollte der Neubau von der Nagoldstraße zur Enzstraße und damit ein Stück weit in nördliche Richtung verlegt werden. Gleichzeitig wurde erwogen, die Ruine der 20 Baurat Vogel: »Ein Beitrag zur Stadtentwicklung Pforzheims«, undat. (Pforzheimer Zeitung April 1968), Stadtarchiv Pforzheim (StAPf) ZGS 1 F-2686. Vogel resümierte eine eigene Grundsatzausführung v. 26.1.1961.
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Nordwand und den Stadtkirchenturm in ein Neubaukonzept zu integrieren. Damit wäre der neben der alten Stadtkirche gelegene Lindenplatz überbaut worden. Im neu entstehenden Platzbereich zwischen der Südwand und dem sich nördlich davon erstreckenden neuen Kirchenschiff wäre so ein zusätzlicher sakraler Bereich entstanden, der als Erinnerungshof hätte konzipiert werden können, als ein Mahnmalbereich mit starker räumlicher Ausstrahlung. Am weitesten ging der Wettbewerbsvorschlag, beide Elemente auch baulich eng miteinander zu verknüpfen, das neue Kirchenschiff also unmittelbar an die ehemalige Nordwand der zerstörten Stadtkirche heranzurücken. Demnach wäre das neue Gebäude hofseitig, also auf dem Grund der zerstörten alten Kirche, geschlossen worden und nur über die Kirchenruine begehbar gewesen. Durch eine südliche Glaswand, die einzige Fensteröffnung im neuen Kirchenschiff, sollte somit der Ausblick auf den Ruinenhof, die Südseite und den Turmsockel ermöglicht werden. Kirchenbesucher hätten dann also immer zuerst die Ruine betreten müssen, um die neue Kirche zu erreichen, und von dieser aus ständig auf den Ruinenhof geblickt. In dieser Steigerung der erinnerungskulturellen Raumerfahrung wäre die Kriegserinnerung alltäglich erfahrbar gewesen und quasi zum Eintrittsbillet in die Nutzung der neuen Stadtkirche aufgerückt. Das aber wurde von der Gemeindeführung nicht akzeptiert. Deshalb wurde diese Mahnmalskirche nicht gebaut, obwohl der Wunsch zum Erhalt des alten Stadtkirchenturmes in der Bevölkerung bereits stark verankert gewesen war. Vielmehr wurden die Ruine und der Turm der Stadtkirche abgerissen und durch das neue Kirchenschiff vollständig überbaut. Damit rückte der Neubau an den ursprünglichen Bauplatz der Stadtkirche und der neue Turm an ihre nördliche Seitenfront. Als frei stehender Kampanile wurde er vom Kirchenschiff abgetrennt und in seiner Wirkung damit noch hervorgehoben. Städtebaulich bewirkte der neue Turm am Zusammenfluss von Enz und Nagold eine zentrale Blickbeziehung in die Innenstadt hinein, welche die Bedeutung auch dieses Bauwerkes steigerte, wenngleich nicht in gleicher Weise, wie das der alten Kirche mitsamt ihrem Turm möglich gewesen war. Politische Aspekte der Memorialsymbolik Der politische Entscheidungsprozess ist von der Konfrontation zwischen der öffentlichen Meinung der Stadtbevölkerung, die auf die Bewahrung des Turmes als Mahnmal des Bombenkrieges abzielte, und der Option eines radikalen Neubaus, die von den lokalen Eliten propagiert wurde, dissonant geprägt worden. Als der Kirchengemeinderat Ende 1954 den Stadtkirchenturm abreißen lassen wollte,
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erhob sich plötzlich ein Sturm der Entrüstung in der Pforzheimer Bevölkerung. Er war so gewaltig, dass die Zeitgenossen von »Einstimmigkeit« sprachen, im Wunsch, den alten Turm bewahren zu wollen. Abrupt mussten die Kirchenoberen und die Stadtverwaltung ihr Vorhaben im Dezember 1954 fallenlassen – zunächst.21 Es kennzeichnet das Ungewöhnliche in der Erfahrung dieser polarisierten Stimmungslage, dass darüber fast keine Quellen erhalten geblieben sind. Niemand schien darauf vorbereitet gewesen zu sein, und so gab es auch noch keinen Ort, an dem der Protest gegen den Abriss hätte kanalisiert und verhandelt werden können. Selbst die drei Pforzheimer Zeitungen, die das bundesdeutsche Parteienspektrum reflektierten, berichteten kaum oder nur gefiltert durch Leserbriefe von dieser Protestlawine, die folgenlos blieb. Stattdessen wurde eine auf acht Jahre gültige alternative Wiederaufbauversion verankert, wonach zwar das Kirchenschiff neu errichtet werden sollte, nicht aber der Turm. Unklar bleibt, inwieweit diese Version einen breiten Rückhalt fand. Jedenfalls erstreckte sie sich nicht auf die relevanten lokalen Entscheidungsebenen – und damit auch nicht auf die Lokalpresse. Ganz im Gegenteil: Schon früh publizierten die beiden maßgeblichen Pforzheimer Zeitungen ausschließlich die Akteursperspektive der Lokalpolitiker und der Kirchenoberen, wonach der Gesamteindruck des alten Stadtkirchenturmes »ungünstig und niederdrückend« sei und der »Vorwärtsbewegung«, welche die Stadt vorgeblich erfasst habe, entgegenstehe.22 Demgegenüber beharrte die Stadtbevölkerung unbeeindruckt auf dem mehrheitlich akzeptierten Mahnmal-Konzept. Es lud den alten Kirchturm unmissverständlich mit der Bedeutung der Kriegserfahrung durch das Bombardement vom 23. Februar 1945 auf und wollte den Turm nicht nur bewahren, sondern durch bauliche Einfassungen eines Kirchenneubaus sogar noch aufwerten. Letztlich konnte die Pforzheimer Wiederaufbaugesellschaft nicht offen über den Krieg und die Zerstörung debattieren, wenn sie die Geschichte des Pforzheimer Stadtbildes reflektierte, weil sie dessen konkrete historische Bezüge in Hinblick auf die eigene Sinndeutung gezielt ausblendete. Sie meinte, dies tun zu müssen, um der eigenen 21 Vgl. die retrospektive Wahrnehmung: »Ich glaube, dass der Wille in Pforzheim, die alte Kirche nach Kräften zu erhalten, so stark ist, dass die Architekten und Kunstsachverständigen machtlos sind. Sie mussten sich mit der gegebenen Tatsache abfinden. […] Ein guter und stilistisch einwandfreier Plan wäre sofort nebenrunter gerutscht, wenn er den Abbruch der alten Kirche vorgesehen hätte.« Leserbrief F.R., Pforzheim, in: Pforzheimer Kurier, 8.2.1961, StAPf ZGS 1 F 2686 II. 22 W.h. (Autorenkürzel): »Stadtkirche am Lindenplatz – ein sterbendes Gotteshaus«, in: Pforzheimer Kurier, 2.2.1952, StA Pf ZGS 1 F 2686 II.
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Zukunftsorientierung nicht im Weg zu stehen. Eine Aufarbeitung der Geschichte und die damit einhergehende, zumindest partielle Schuldzuweisung an das Kollektiv der Überlebenden war zu diesem Zeitpunkt noch undenkbar. Sie musste deshalb umgangen werden. Und das bedeutete, dass über die Vergangenheit geschwiegen wurde. Ein Memorial-Solitär als Mahnmal, der neogotische Turm der Stadtkirche, hätte nicht nur das Aufbauparadigma der lokalen Städtebaupolitik entscheidend gestört und damit ihr visionäres Leitbild einer von der Vergangenheit unbelasteten Gegenwartsgesellschaft, sondern auch die erinnerungskulturelle Dimension der Pforzheimer, die das zukunftsorientierte Beschweigen der NS- und Kriegsgeschichte der Stadt vorzogen. Infolgedessen musste der Turm weichen, auch wenn die Pforzheimer Bevölkerung in seiner Ruine das Andenken an den Bruch in der Stadtgeschichte räumlich und visuell hatte bewahren wollen. Abb. 4 Das Bedürfnis nach einem Identitätsanker im Gedenken an die vielen Bombentoten und die totale Kriegszerstörung der Stadt wich einem nach vorne gerichteten Konsensangebot einer von der Vergangenheit unbelasteten Stadt der Moderne, welche im Neubau der Stadtkirche dieses Gedenken nur als Fehlstelle bewahrte.23
4 — Sprengung des Stadtkirchenturmes, 1962, Fotograf: unbekannt.
23 Insbesondere in der Innenraumgestaltung ist der Neubau der Pforzheimer Stadtkirche als Gesamtkunstwerk einer Gedächtniskirche konzipiert worden. Dementsprechend nahm die Gemeinde auch im Kirchenprogramm diese Funktion wahr und entsprach damit letztlich doch dem in der Bevölkerung verankerten Wunsch nach kontinuierlicher Trauerarbeit im andauernden Kriegsgedenken. Auch in dieser Nutzungsfunktion als Memorialkirche ergeben sich somit, anders als im Vergleich zu den Ruinenkirchen, die als nicht genutzte Denkmale dem Kult entzogen waren, direkte Parallelen zur öffentlichen Wahrnehmung der Berliner Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche und ihrer seither ausgeübten gemeindlichen und auch nationalpolitisch akzentuierten kultischen Praxis.
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» W E D E R H I S T O R I S C H E A L LÜ R E N N O C H FA L S C H E P R AC H T « – A RC H I T E K T E N I N D E R BU N D E S R E P U B L I K D E U T S C H L A N D Jörn Düwel Mit der Zerschlagung des Nationalsozialismus war durch die Besatzungsmächte auch die Reichskulturkammer ersatzlos abgeschafft worden. Damit waren den Architekten die erst 1934 erlangte gesetzlich geschützte Berufsbezeichnung und die Berufskammer zunächst wieder abhandengekommen. Erste Regungen zur Neugründung eines Bundes Deutscher Architekten (BDA) mit dem Ziel der erneuten gesetzlichen Errichtung eines berufspolitischen Rahmens waren schon im Oktober 1946 von Hamburg ausgegangen. Am 26. März 1947 berichtete der BDA Hauptverwaltung Hamburg über eine Zusammenkunft, die am Vortag in Hannover stattgefunden und den BDA als »Grundzelle« hervorgebracht hatte. Die gründenden Verbände waren damals Schleswig-Holstein, Hamburg, Niedersachsen und Bremen, die in der britischen Zone vereinigt waren. Bereits im Herbst 1947 trat ein Organisationsausschuss zusammen, in den jede der drei westlichen Besatzungszonen Vertreter entsandte, mit dem Ziel, einen westdeutschen BDA zu errichten. Am 12. November 1948 war es dann soweit: In Frankfurt am Main wurde ein zentraler Bund Deutscher Architekten ins Leben gerufen. Zu diesem Zeitpunkt zählte der BDA – die Architekten in der sowjetischen Besatzungszone blieben ausgeschlossen – insgesamt 4135 Mitglieder. Im Mai 1949, erst ein halbes Jahr nach der Gründungszeremonie, berichtete die Zeitschrift Bau-Rundschau unter der Überschrift »Der neue BDA« über das Selbstverständnis und die Ziele der Architektenvertretung. Demnach beanspruchte der BDA, in seiner 30-jährigen Geschichte bis 1933, ein wesentlicher »Kulturfaktor« mit »internationalem Ansehen« gewesen zu sein. Es hieß, »sein Einfluss auf die Baukultur, auf die moralische Grundhaltung der Architekten und schließlich auch auf die den jungen Architekten mitzugebenden Ideale sei unbestritten«. Bestritten wurde indes, das der BDA in der Reichskulturkammer »weder rechtlich noch ideell« irgendeine Gemeinsamkeit mit dem 1903 gegründeten BDA gehabt habe. Unerwähnt blieb, dass die allermeisten Mitglieder des BDA der Nachkriegszeit selbstverständlich auch in der Reichskulturkammer zum BDA gehört hatten. Zumindest von einem personell neu besetzten BDA konnte also keine Rede sein. Im Hinblick auf die Mitgliedschaft im Verband formulierte man, es solle wieder eine »Gemeinschaft Gleichgesinnter mit gleichen Zielen« sein.
Kapitel III
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»Es ist ein toller Beruf«, schwärmte Otto Bartning, es sei ein »fast übermenschlicher Beruf«, ergänzte er 1950 vielsagend auf dem ersten Bundestag des BDA nach seiner Neugründung. Übermenschlich seien die Herausforderungen für die Profession, schließlich sei die Gegenwart »eine zerrissene, von unbeherrschten Kräften brodelnde Zeit«. Aus seiner Diagnose leitete Bartning, der neu gewählte Vorsitzende des BDA, für Architekten die vor ihnen liegende Aufgabe ab: »Um nichts Geringeres geht es, als alle diese Kräfte aufzufangen, zusammenzufügen und umzuschaffen zu gültiger Gestalt.« 1 Sowohl der zeitgenössische Befund – »eine zerrissene, von unbeherrschten Kräften brodelnde Zeit« – als auch die Beschreibung der Aufgabe – das Zusammenfügen und Umschaffen »zu gültiger Gestalt« – waren wortgleiche Wiederholungen von Einschätzungen und Zielen der 1920er und 1930er Jahre. In dieser Tradition der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts stehend, begriff Bartning den Architekten auch als »Kapellmeister«, dem es obliegt, ein Thema zu finden, »das Thema unserer Zeit, und die Symphonie selber (zu) komponieren«. Aber, so gab er zu bedenken, im Vergleich zu der fern zurückliegenden Zeit habe sich das »altgeschulte Orchester verlaufen oder (sei) verludert«. Mit anderen Worten, nun komme es wie nie zuvor auf den Architekten an, um dem »neuen Menschen«, um »unserm Volk Halt und Gestalt im gebauten Raum zu geben«.2 Denn, fügte er hinzu, es gehe »um den gültigen Ausdruck unseres Volkes«. Dieser vertrage, so dozierte er, »weder historische Allüren noch falsche Pracht, sondern nur absolute Einfalt und Ehrlichkeit und den Stolz der Armut«. Alle Einwände ausschließend hieß es, »alles andere ist falsch und macht uns lächerlich«. Das Denunzieren und Verurteilen einzelner architektonischer und städtebaulicher Formen war in der Bundesrepublik Deutschland (BRD) bereits gebräuchlich. Neu war die rigide Ablehnung der historischen Vorbilder als Staatsdoktrin. Schon auf diesem ersten Bundestag des BDA nach dem Kriegsende zeigte sich die zukünftige ideologische Konstruktion der formalästhetischen Wertmaßstäbe. Die Entscheidung, welche architektonischen und städtebaulichen Formen als »demokratisch« gelten und welche nicht, war bereits gefallen. Bartning griff auf den Wortschatz und die damit verbundenen geistigen Werte zurück, die in den 1920er Jahren und kaum verändert auch in den 1930er Jahren das öffentliche Reden über die Archi1
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Bartning, Otto: »Das heilige Bauen mit freien Architekten«, Rede auf dem Bundestag des BDA in Bad Dürkheim 1950, abgedruckt u.a. in: Bernhard Gaber: Die Entwicklung des Berufsstandes der freischaffenden Architekten, Essen 1966, S. 253–259. Ebd., S. 255.
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tektur und Stadt und die damit verbundenen gesellschaftlichen Visionen beherrscht hatten. Mit pathetischen Formeln verlieh Bartning seiner Forderung Nachdruck. Vor allem an die Bundesregierung, die auf dem Bundestag des BDA vom Minister für Wohnungsbau, Eberhard Wildermuth, vertreten wurde, appellierte der Verbandsvorsitzende: Wir »fordern, dass die sichtbare Gestalt unseres Landes, unseres Volkes, unseres Staates uns anvertraut wird – damit wir nicht in Gestaltlosigkeit, in Chaos untergehen«.3 Während in der Zeit des Nationalsozialismus vor allem zahlreiche junge, um 1905 geborene Architekten hervorgetreten waren und ungeahnte Energien entfesselt hatten, trat nach dem Krieg wieder eine ältere Generation nach vorn. Bartning ist gewissermaßen ein exemplarischer Repräsentant dieser Älteren, deren entscheidende Generationsprägung durch den Ersten Weltkrieg geschehen war. Der von vielen als Urkatastrophe erlebte Erste Weltkrieg hatte zahllose gesellschaftliche Utopien und Verheißungen von neuen Städten ausgelöst. In diesem revolutionären Klima war auch das Bauhaus entstanden, an dessen Zustandekommen neben Walter Gropius nicht zuletzt Bartning beteiligt war; beide Architekten sind 1883 geboren. Erwähnenswert ist zudem Bartnings Engagement in der Architektenvereinigung »Der Ring«. In diesem 1922 etablierten Kreis, der vehement für das Neue Bauen geworben hatte – auch Gropius und Ernst May gehörten dazu –, dominierten ebenfalls die um 1885 Geborenen. In der jungen BRD spielten sowohl die Vertreter des Bauhauses als auch des Rings eine entscheidende Rolle bei der Ausprägung des Verständnisses von »demokratischer Architektur«. Auffallend ist die nahezu wortgleiche Wiederaufnahme jener Konzepte und Ziele, die schon nach dem Ersten Weltkrieg formuliert worden waren. Die ihnen zugrunde liegenden Ideen setzten nach dem Ersten wie auch nach dem Zweiten Weltkrieg einen sozialistischen Staat voraus. Der von Bartning 1950 leidenschaftlich vorgetragene Appell, den Architekten weitestgehende Vollmachten für die Neuordnung der zerstörten Städte zu übertragen, verhallte folgenlos im politischen Raum – zahlreiche Architekten und auch Sozialreformer wie Alexander Mitscherlich hielten an dieser Forderung noch bis in die 1970er Jahre fest. Die Ignoranz vonseiten der Politik hatte verschiedene Gründe. Der früh einsetzende wirtschaftliche Aufschwung, den die junge BRD erlebte, hatte überraschend schnell auch die kühnsten Erwartungen übertroffen. Vom allgegenwärtigen Aufbau profitierten nicht zuletzt die Architekten, die bestens mit Aufträgen ausgelastet waren. Eine Neigung zu Grundsatzdebatten und visionären Entwür3
Ebd.
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fen, wie sie in den krisengeplagten 1920er Jahren allgegenwärtig war, verspürten die wenigsten. Während ihre Verbandsfunktionäre gebaute Räume für »neue Menschen« einforderten, freuten sich die meisten Architekten über viel Arbeit, der sie sich pragmatisch zugewandt hatten. Neben der in den darauffolgenden Jahrzehnten so nicht wieder erreichten Teilhabe von Architekten am ökonomischen Wachstum trug jedoch vor allem die föderale Struktur der BRD von Beginn an dazu bei, dass kein einheitliches und erst recht kein verbindliches baukulturelles Leitbild entstehen konnte. Nach dem zentralistischen Durchgreifen im Nationalsozialismus zählte der kulturelle Föderalismus zu den grundlegenden Prinzipien im Westen Deutschlands. Insofern war auch Bartnings lakonische Beschreibung des BDA – »11 Landesverbände und ein Sekretariat in Bonn« – in mehrfacher Hinsicht zutreffend. Rückblickend ist es beinahe erstaunlich, dass die junge BRD dem heftigen Drängen der sich öffentlich Gehör verschaffenden Architekten und der wortgewaltigen Sozialreformer konsequent widerstanden hat. Deren stets wiederholte Hauptforderung nach Vergesellschaftung von Grund und Boden, die zunächst durchaus Eingang in verschiedene Parteiprogramme gefunden hatte, hatte sich seit dem frühen 20. Jahrhundert nicht verändert. Demnach lag die eigentliche Ursache für die größten Unzulänglichkeiten in den Städten im Privateigentum an Grund und Boden. Deshalb war vom Staat der Zugriff darauf als Voraussetzung für einen grundlegend neuen Städtebau verlangt worden. Auf der ersten Leistungsbilanz des westdeutschen Wiederaufbaus 1951 in Hannover war – ganz in diesem Sinne – noch eine abgewandelte Losung von Karl Marx proklamiert worden. Die Bauausstellung Constructa fand unter dem inzwischen sozialistisch anmutenden Motto »Parlamentarier aller deutschen Länder, vereinigt euch, schafft ein neues Bau- und Bodenrecht« statt. Ein solcher Zugriff erforderte autoritäre Macht. Mit dem Kriegsende schienen zwar die materiellen Vorbedingungen erfüllt, die Macht über den Boden war den Planern jedoch nicht zugefallen. Sie beklagten deshalb bald die Blockaden bei der Anwendung der Grundsätze einer neuen Stadtplanung. Mit Bitterkeit konstatierte Hubert Hoffmann schon 1952, »die Restauration« habe »sich wie eine Flut über die Städte ergossen und jede Vernunft und Einsicht fortgespült«.4 Geradezu resigniert wandte sich auch Bartning, inzwischen 70-jährig, im Jahr 1953 an die Öffentlichkeit. Seine Rede auf der Jubiläumsveranstaltung zum 50. Jahrestag des BDA in Hamburg überschrieb er 4
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Hoffmann, Hubert: »Die Landschaft im Städtebau«, in: Die neue Stadt, 1952, S. 62.
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mit »Keine Zeit«. Hämisch konstatierte er, »für eine Nebensache, für reife Baupläne, blieb leider keine Zeit. Und so sind die Bauten, die unser schönes Land besetzen, gebaute Skizzen, verstorbene Hoffnungen und totgeborene Schemen«.5 Spätestens mit dem Ausbleiben der Reform des Bodenrechts war die Rede von der »verpassten Chance« weitverbreitet, mitunter waren die Aufbauleistungen sogar abschätzig als »Flickwerk« bezeichnet worden.6 Auf die halbherzige Modernisierung der 1950er Jahre folgte im kommenden Jahrzehnt, nicht zuletzt beflügelt durch die Weltraumerkundung, die Systemplanung mit Megastrukturen und Flächensanierungen. Hatte der BDA nach Kriegsende wegen der fehlenden gesetzlichen Grundlagen zunächst einen Alleinvertretungsanspruch für die Architektenschaft wahrgenommen, so gingen die berufspolitischen Aufgaben allmählich auf die Architektenkammern über. Die erste Architektenkammer auf Landesebene war im Jahr 1947 im Saarland eingerichtet worden. Keine fünf Monate nach der deutschen Kapitulation im Mai 1945 hatte das Regierungspräsidium Saar es als notwendig erachtet, einen teilweisen Ersatz für die Reichskulturkammer zu schaffen. Am 12. Oktober 1945 gab das Regierungspräsidium Saar die Gründung einer »Fachschaft für Architektur« in Auftrag, es dauerte dann beinahe zwei Jahre, bis daraus 1947 die Rechtsordnung für die Errichtung einer Architektenkammer des Saarlandes wurde. Weitere Bundesländer richteten in den folgenden Jahren eigene Architektenkammern ein. 1969 wurde schließlich die Bundesarchitektenkammer gegründet, noch bevor in Bayern, Berlin, Bremen, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen die letzten Landesarchitektenkammern entstanden waren. Spätestens mit der Bildung der Bundesarchitektenkammer kam es zu einer folgenreichen Bedeutungseinbuße für den BDA. Das Verhältnis der Kammern als Körperschaften des öffentlichen Rechts zum BDA als privatrechtlichem Verein war und ist ungleich: Erst die Kammerzugehörigkeit ermöglicht es, die Berufsbezeichnung Architekt zu tragen, die zugleich die Voraussetzung für ein selbständiges Arbeiten ist. Hingegen ist der BDA eine Vereinigung, deren Beitritt durch Berufung und auf freiwilliger Grundlage erfolgt und der ausschließlich von fachlichen Kriterien getragen wird.
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Bartning, Otto: »Keine Zeit«, Festvortrag auf der Jubiläumskundgebung des BDA am 3.9.1953 in Hamburg, in: Baukunst und Werkform, 1953, H.9, S. 444. Von den »verpassten Chancen« war vielfach die Rede, etwa bei Hoffmann, Hubert/Jasper, Karl: Neue deutsche Architektur, Stuttgart 1956; siehe auch May, Ernst: Wohnungsbau, in: Elsässer, Martin u.a. (Hg.): Handbuch moderner Architektur, Berlin 1957, S. 120ff.
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Vom Glück eines neuen Glaubens – Der Architekt als Erzieher Die DDR war ein Staat, der sich als Erzieher verstand. Insofern trafen sich dort die Vorstellungen der Architekten mit denen der Herrschenden. Das Erziehen zum Besseren war den Architekten allerdings schon vorher zu eigen. Dieses Selbstverständnis hatte sich schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts herausgebildet. Der Kunst der vergangenen Jahrzehnte habe, diagnostizierte Walter Gropius am Vorabend des Ersten Weltkrieges, »der moralische Sammelpunkt und damit die Lebensbedingung zu einer fruchtbaren Entwicklung« gefehlt. Diesen Moment sah er endlich gekommen: »In dem Maße, wie die Ideen der Zeit über das Materielle hinauswachsen, beginnt auch in der Kunst die Sehnsucht nach einheitlicher Form, nach einem neuen Stil zu erwachen.« 7 Eine Schlüsselrolle bei der Herausbildung dieses neuen Stils erkannte Gropius bei den Architekten. Sie seien berufen, die erträumte Harmonie – weit über das Gebaute hinausreichend – zu verwirklichen. Die »geistige Idee«, davon war er überzeugt, finde in der »künstlerischen Form« ihren sichtbaren Ausdruck: Denn nur der Künstler besitze die Fähigkeit, einem Produkt »Seele einzuhauchen«.8 Freilich ging es Gropius nicht um die Nobilitierung als Selbstzweck, vielmehr erkannte er darin eine gesellschaftliche Bedeutung. Seien erst die »häßlichen Industriekasernen« überwunden, werde das »Mitschaffen großer gemeinsamer Werte« zu einem Anliegen aller, schwärmte Gropius voller Zuversicht. Schließlich verlöre, behauptete er, »die lebendige Kraft der künstlerischen Idee« nie ihre Wirkung. Deshalb sei der Architekt berufen, im umfassendsten Sinne des Wortes erzieherisch auf das ganze Volk einzuwirken. Im Grunde, so glaubten mit Gropius viele der Sozial- und Lebensreformer, bedürfe es nur eines entschiedenen Impulses. Sei dieser gegeben, werde die Gesellschaft ihre »innere Zerfahrenheit« 9 überwinden. »Es beginnen sich langsam in unseren Tagen«, notierte Gropius stellvertretend für die Erwartungen vieler, »gemeinsame Gedanken von weltbewegender Bedeutung aus dem Chaos individualistischer Anschauungen abzulösen.« 10 Damit ist der Keim beschrieben, der sich in den mächtigen kollektivistischen Bewegungen im 20. Jahrhundert auf unterschiedliche Weise entwickelte: »Je mehr sich aber die geistigen Strömungen der Zeit ihr Flußbett selbst verbreitern und alles Hemmende in ihre frischen Strudel hineinreißen, 7
Gropius, Walter: »Der stilbildende Wert industrieller Bauformen«, in: Jahrbuch des Deutschen Werkbundes, 1914, S. 29. 8 Gropius, Walter: »Die Entwicklung moderner Industriebaukunst«, in: Jahrbuch des Deutschen Werkbundes, 1913, S. 18. 9 Wie Anm. 7. 10 Ebd.
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muß auch das Ausdrucksbild unserer gemeinsamen Lebensäußerungen an Einheitlichkeit gewinnen.« 11 Dieses »Endziel« war für Gropius schon 1914 nur erreichbar, wenn das »große Glück eines neuen Glaubens den Menschen« wieder zuteilwerde. Nahezu ein halbes Jahrhundert später zog Gropius eine gleichermaßen persönliche und gesellschaftliche Bilanz. Anlässlich der Verleihung des Goethepreises in Frankfurt am Main hielt er 1961 einen Vortrag über die Rolle des Architekten in der modernen Gesellschaft.12 Gropius nutzte die Gelegenheit, seine tiefe Enttäuschung auszudrücken. Enttäuscht war er von der Gesellschaft, die nicht in der Lage sei, verantwortlich zu handeln. Insofern überrascht es auch nicht, wenn er wiederum »Konfusion und Chaos« als Zeitdiagnose ausmachte. Was waren in seinen Augen die Ursachen für die beklagten Missstände? Gropius sah sie zuvorderst im verloren gegangenen Glauben, der dem Zufall und dem freien Spiel gewichen sei. Der große Reichtum habe eine »ästhetisierende Luxuskunst« begünstigt und sogar »zum Rückfall in eklektische Spielerei« geführt. Das Kernproblem sah Gropius in Grundsätzlicherem, denn Architekten dürften sich von den »evolutionären Kräften ihrer Zeit« nicht treiben lassen, vielmehr müssten sie diese selbst formen. Mit anderen Worten, Architekten seien in höchstem Maße dazu auserwählt, die Gesellschaft als Ganzes zu gestalten. Allerdings hatten die Architekten neben ihren Entwürfen keinerlei Vollmachten zu deren Verwirklichung. Das scheinbar Unabänderliche dieser Situation trieb Gropius geradezu in die Verzweiflung. Sein Resümee kann deshalb stellvertretend für eine verbreitete Auffassung der Profession gelesen werden. Er schrieb, es sei das Publikum selbst, das es aufgegeben habe, »darüber nachzudenken, wie es sich einen besseren Lebensrahmen schaffen« könne, »und das statt dessen gelernt« habe, »sich einem schnellen Umsatzsystem und Ersatzgenüssen zu verkaufen«. Welche Schlüsse zog der Architekt aus seiner Bestandsaufnahme? Wenn das Volk in der Demokratie nicht fähig sei, seine eigene Lage zu analysieren, dann seien sogar Zweifel an dieser Form von Herschaft angebracht. Unverhohlen sympathisierte Gropius mit jenen Herrschern, die sich »zu Recht oder Unrecht, als die echten Repräsentanten des Volkes fühlten«, solange diese »die Eingebung und das Können der Architekten durch ihre klare, unbestrittene Autorität in die Tat« umsetzten – nur dadurch sei es in der Geschichte überhaupt zu künstlerischen Höhepunkten gekommen. »Unserer« moder11 Ebd., S. 32. 12 Gropius, Walter: »Die Rolle des Architekten in der modernen Gesellschaft«, in: Bauen und Wohnen, 1961, H. 9, S. 319–321.
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nen Gesellschaft sprach Gropius solche Fähigkeiten rundheraus ab, »weil wir es versäumt haben, den ganz neuen Auftraggeber, nämlich den Durchschnittsbürger oder seinen gewählten Vertreter, für seine verantwortliche Rolle als Kulturträger richtig zu erziehen«.13 Heute erstaunt solch ein anmaßender Habitus, freilich berief sich Gropius auf »objektive Gestaltungsprinzipien von universaler Geltung, wie sie sich aus den Gesetzen der Natur und der Psychologie des Menschen ergeben«. Auf dieser Grundlage gründete der unerschütterliche Glaube an die Richtigkeit der eigenen Modelle zur Zukunft des Wohnens und Lebens, vor dieser Universalität mußte jede Kritik als Häresie erscheinen. Zu dieser Avantgarde zählte sich auch Ernst May. Bereits in der Weimarer Republik hatten May und Gropius ihre Vorstellungen vom Neuen Bauen öffentlichkeitswirksam umsetzen können, bevor der Nationalsozialismus ihr Wirken in Deutschland unterbrach. May kehrte erst 1954 nach Deutschland zurück, in Hamburg war er zum Chefplaner des damals größten Wohnungsbauunternehmens in Deutschland Neue Heimat berufen worden. Sogleich meldete er sich mit einem programmatischen Beitrag im ersten Monatsheft für neuzeitlichen Wohnungsbau zu Wort, das das Unternehmen herausgab. Geradezu euphorisch beschrieb er den Krieg nicht nur als Zerstörer, sondern »als revolutionären Neugestalter«.14 Ähnlich wie Gropius und viele andere Architekten betrachtete May die verheerenden Kriegszerstörungen als ungeahnte Chance, um die als universal erkannten Konzepte für eine »menschlichere« gebaute Umwelt endlich umsetzen zu können. Allerdings hat May offenbar nicht angenommen, dass die Vorschläge zum Neuaufbau der Städte ungeteilte Aufnahme finden könnten. Denn »die schwerste aller Proben«, hob May hervor, stehe »uns noch bevor: das ist die Einpassung des Menschen in die veränderte Welt«. Freilich war der Architekt zuversichtlich, er sah die Deutschen nicht als schwaches Volk, das an der eigenen Gestaltungskraft verzweifelt. »Wir wollen Bauten«, beschwor er, die mehr »einbauen als Geld und Material, nämlich Lebenskraft«.15 Wie weiterleben? Die Frage »Wie werden wir weiterleben?« stellte der BDA auf seinem 42. Bundestag im Jahr 1967. Kaum einer der eingeladenen Referenten ging mit dieser Frage offen um, stattdessen wurden erneut endgültige Antworten verkündet. Die Architekten sahen sich nach wie 13 Ebd., S. 320. 14 May, Ernst, Unser Ziel, in: neue heimat, 1954, H. 1, S. 4. 15 Ebd., S. 6.
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vor als Vorkämpfer für eine bessere Welt, wie ungeduldige Lehrer, die an begriffsstutzigen Schülern verzweifeln. Daher wandte man sich an die Politik. »Wir alle wissen, dass die unmittelbare Vorbedingung, welche die Stadt der Zukunft menschengerechter werden lassen könnte, die Bodenreform, ›auf der Strecke blieb‹«, behauptete Alexander Mitscherlich unwidersprochen und stellvertretend für das Plenum. Der Autor der weitverbreiteten Schrift Die Unwirtlichkeit unserer Städte (1965) verharrte nicht bei der vermeintlichen Misere, sondern schlug auch eine Lösung zu deren Abhilfe vor. Das Motiv für das Ausbleiben der Neuordnung der Besitzverhältnisse erkannte Mitscherlich im »unzureichenden Bewußtsein der Öffentlichkeit für die Voraussetzungen ihrer eigenen Existenz«. Die Öffentlichkeit, meinte er, lebe »emotionell tief in der Vergangenheit und rechtfertigt damit blinden Eigennutz, der durch nichts zu rechtfertigen« sei. Ohne Umschweife konstatierte Mitscherlich, »Neuigkeiten in der Stadtgestalt von morgen« werde es erst geben, wenn die bereits entstandene Realität der technischen Metropolen im öffentlichen Bewußtsein angenommen und verarbeitet werde.16 Die Aufgabe der Architekten bestehe deshalb darin, das »Problembewußtsein der Führenden, der Politker also, auf sogenannte ›vorgeordnete‹ politische Entscheidungen« zu richten. Ganz in diesem Sinne hatte sich auch Rudolf Hillebrecht, einer der einflussreichsten Architekten der BRD, im Jahr 1966 zu Wort gemeldet. Mantraartig wiederholte der Hannoveraner Stadtbaurat, der auch die Bundesregierung beriet, »politische Entscheidungen allein vermögen einen neuen Städtebau herbeizuführen«.17 Mit heiligem Ernst appellierten die Architekten, sofort zu handeln, »damit der Mensch nicht in seine Zukunft als ein Verhängnis seiner Gegenwart hineinstolpere«.18 Wie ein roter Faden durchzog ein Topos auch dieses Verbandstreffen der Architekten, das für die längste Zeit des kurzen 20. Jahrhunderts für die gesamte Profession charakteristisch war. Die Architekten sahen und verstanden sich als Schöpfer im messianischen Sinne. Insofern überrascht das Pathos nicht, mit dem die Leitlinien 1967 beschrieben wurden. Ausgehend von der Beschreibung der eigenen Zeit als »Schwelle, als Übergang, der zu sehen ist in dem Schritt vom ›Geschehenlassen‹ der Geschichte zum ›Gestalten‹ der Geschichte« wandele man sich »vom Schicksals16 Mitscherlich, Alexander: »Die Stadt der Zukunft«, in: Bund Deutscher Architekten (Hg.): Wie werden wir weiterleben? Dokumentation der Referate und Diskussionen des 42. Bundestages, o.O., o.J. (1967), S. 67. 17 Hillebrecht, Rudolf: »Städtebau heute?«, in: Mitteilungen der List Gesellschaft, 1966, Fasc. 5, Nr. 9, S. 188. 18 Simon, Alfred: »Einleitung«, in: Bund Deutscher Architekten (Hg.): Wie werden wir weiterleben? Dokumentation der Referate und Diskussionen des 42. Bundestages, o.O., o.J. (1967), S. VIII.
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opfer-Sein zum Schicksalsgestalter-Sein«. Die Zuversicht, jedenfalls die veröffentlichte, war beinahe grenzenlos. Die Standesvertretung der freien Architekten konstatierte, die Menschheit befände sich auf dem Wege zu einer gesellschaftlichen Reife, sie sei »auf dem Wege vom blinden zum wenigstens halbsehenden Fortschritt.« Heute mag dieser Fortschrittsglaube irritieren, vor etwa einem halben Jahrhundert war allerdings der Rahmen ein völlig anderer. In den 1960er Jahren faszinierte der Aufbruch in den Weltraum die Gesellschaft, es hieß, »Weltraum werde gewissermaßen Erdraum«. Was war darunter zu verstehen? Man sah sich am Beginn einer neuen Epoche, der sogenannten 45-Minuten-Welt. Innerhalb dieser kurzen Zeitspanne war man sich sicher, demnächst jeden Punkt der Erde von jedem anderen Punkt der Erde erreichen zu können. Ziemlich genau ein halbes Jahrhundert zuvor waren die technologischen Errungenschaften ähnlich begeistert begrüßt worden. Schon damals hatten die Architekten deshalb Veränderungen in kopernikanischem Ausmaß vorausgesagt. Um 1910 hatten die Visionen zum kommenden »Verkehr« ein völlig neues Raum-Zeit-Verständnis hervorgebracht, das auch die Städte komplett verändern sollte. Schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatte die Vorstellung die Planer und die Gesellschaft gleichermaßen beflügelt, die soziale Frage durch Technik zu lösen.19 Im Angesicht der Möglichkeiten, die sowohl der Weltraum als auch die Atomenergie zu bieten schienen, befanden sich auch die Architekten und Planer erneut auf einer Woge neuer Utopien. Lediglich Julius Posener warnte auf der Tagung von 1967, es drohe »die Gefahr, dass um der Machbarkeit, um der Möglichkeit willen gebaut« werde, »ehe gewußt wird«. Posener hatte seine Bedenken »aus der Sicht des Baugeschichtlers« vorgetragen, der mit Skepsis auf die Utopien der reinen Machbarkeit reagierte, in denen die Machbarkeit über die Grenzen dessen, was erträglich zu sein schien, hinausging. Hellsichtig gab Posener zu bedenken, die Ideen zur neuen Stadt setzten wiederum eine entsprechende Auffassung vom Menschen voraus. Diese Projektion sei allerdings gegenwärtig in ebenso starkem Maße ein Wunschbild wie schon in der Vergangenheit. Während der Großteil der Architekten und mithin die Gesellschaft ohne Selbstzweifel in großmaßstäblichen und dennoch bis ins Kleinste dringenden Überlegungen die gebaute Zukunft vorwegnahm, widersprach Posener; Menschen könnten nicht zu ihrem Glück gezwungen werden. Mit entwaffnender Offenheit stellte er sich gegen die vehement vorgetragenen ganzheitlichen Vorstellungen. Wir besäßen, wandte er ein, keine Kennt19 Vgl. Der Verkehr, Jahrbuch des Deutschen Werkbundes, 1914.
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nis der Bedürfnisse, die zu befriedigen seien: »Dies ist unser Dilemma.« 20 Ganz neu waren solche Widerworte gegen den breiten Fortschrittssog nicht, schon im Jahr 1964 hatte Wolf Jobst Siedler mit einem anschaulichen Buch auf die Verluste aufmerksam gemacht, die mit der völligen Entwertung des »Alten« in den Städten einhergegangen waren.21 Der Autor hatte mit einprägsamen Bildern das Neue gegen das preisgegebene Alte gestellt, seine unverhohlene Sympathie für die Vergangenheit trug ihm die schroffe Zurückweisung all jener ein, die sich als Träger des Fortschritts artikulierten. Die Kritik von Posener stand der von Siedler in nichts nach, blieb jedoch textimmanent und rief wohl auch deshalb keine wütenden Proteste hervor. Posener gehörte jedenfalls mit seiner Auffassung von der Zurückhaltung und Demut zu den Ausnahmen, die heute mit der Lupe gesucht werden müssen. »Vielleicht«, gab er höflich zu bedenken, »irrte man sich in den Annahmen, die man machte, vielleicht will ›der Mensch‹ lieber Enge als Weite, vielleicht will er Tuchfühlung, Nachbarschaft, Straßenlärm.« 22 Der Tragweite seiner Bemerkungen war sich Posener bewusst, schließlich führte er selbst die ob solcher Gedanken reflexhaft geäußerten Vorhaltungen an: Es seien nur »Angst- und Kampfrufe der Reaktion«, die dem Fortschritt im Wege stünden. Nein, beharrte er trotzig, schon der Funktionalismus der 1920er Jahre habe »für andere Wesen geplant, als für Sie und für mich«. Von der frühen Moderne bis in die eigene Gegenwart diagnostizierte Posener ein den Architekten eigenes dogmatisches Sendungsbewusstsein, das von der Fiktion eines Menschen ausgehe, den es gar nicht gäbe. Poseners Kritik liest sich mitunter wie eine Generalabrechnung mit der Hybris der Architekten. Dabei sind es Selbstverständlichkeiten, die er entzauberte. Bloßgestellt wurden die Begriffe, die hehre Ansprüche und Ziele vereinnahmten, tatsächlich aber leer waren. »Humane Städte« oder »menschengerechte Architektur« waren inflationär verwendete Mantelwörter, die sicher auch deshalb beliebt waren, weil sie vage blieben. Die Unbestimmtheit dieser Begriffe machte sie zu Leerformeln, zu geläufigen Schlagworten, unter denen sich jeder etwas anderes vorstellen konnte.
20 Posener, Julius: »Aus der Sicht des Baugeschichtlers«, in: Bund Deutscher Architekten (Hg.): Wie werden wir weiterleben? Dokumentation der Referate und Diskussionen des 42. Bundestages, o.O., o.J. (1967), S. 88. 21 Siedler, Wolf Jobst: Die gemordete Stadt, Berlin 1964. 22 Wie Anm. 20.
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Eine Zukunft für unsere Vergangenheit Trotz der zahlreicher werdenden Vorbehalte gegenüber den Leistungen der Architekten blieb deren Selbstverständnis geprägt vom Vertrauen in die Möglichkeiten des rationalen und koordinierten Planens und Handelns und damit eines unerschütterlichen Glaubens in die Gestaltbarkeit der Zukunft. Allerdings galt Planung nicht mehr allein als eine technische Herausforderung, sie wurde vielmehr als politische Aufgabe gesehen. Entgegen der früheren Auffassung, nach der aus der Kompetenz des Experten der richtige Plan erwachse, trat eine neue Sicht der Planung als eines politisch bestimmten Auswahlprozesses aus unterschiedlichen Wegen in die Zukunft an die Stelle. Das zentrale Thema der 1960er Jahre war die theoretische Durchdringung des planerischen Vorgehens mit dem Ziel einer funktionalstrukturellen Interpretation der Stadt. Man muss lange suchen, um die ersten Stimmen zu finden, die der verbreiteten Euphorie nicht beipflichteten. Zu jenen gehörte Hans Paul Bahrdt, der schon 1961 erkannte: »Der Großstädter von heute träumt nicht von einem ›Neuen Jerusalem‹, er will nicht die Stadt als Monument einer Idee oder Gemeinschaft.« 23 Zwei Jahre später schrieb er, »lebendige Städte sind weder sozial noch baulich geschlossene Systeme, in denen alles vorausbestimmt und festgelegt ist«. Vermutlich tritt damit im Jahr 1963 zum ersten Mal an die Stelle der wohlgeordneten Idealstadt, der neuen Stadt, die über Jahrzehnte hinweg ersehnt wurde, eine Akzeptanz von Brüchen und Diskontinuitäten, wie sie die historische Stadt seit jeher prägen. Bis zur allgemeinen Akzeptanz dieser prophetischen Sichtweise vergingen weitere anderthalb Jahrzehnte. Erst Mitte der 1970er Jahre fand sie breitere Beachtung. Das Europäische Jahr für Denkmalschutz wurde zum sichtbaren Fanal eines Wertewandels in der bundesdeutschen Gesellschaft.24
23 Bahrdt, Hans Paul: Die moderne Großstadt, Reinbek 1961, S. 58. 24 Siehe dazu: Scheel, Walter: »Vorwort«, in: Deutsches Nationalkomitee für das Europäische Jahr des Denkmalschutzes (Hg.): Eine Zukunft für unsere Vergangenheit. Denkmalschutz und Denkmalpflege in der Bundesrepublik Deutschland, München 1975, S. 3.
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E I N G O L D E N E S Z E I TA LT E R D E R R AU M P L A N U N G . DA S L A N G E JA H R Z E H N T 1 9 6 0 – 1 9 7 5 I M RÜ C K B L I C K AU S E I N E R Z E I T D E R U N B E S T I M M T H E I T Thomas Siever ts Liegt es am Altwerden oder daran, dass die ›Moderne‹ selbst historisch geworden ist, oder an den Ereignissen, die wir gegenwärtig in der Weltpolitik erleben, dass mein Verhältnis zur Geschichte sich gewandelt hat? Während meines Studiums in den 1950er Jahren und noch weit in die Praxisjahre hinein war die Stadt- und Baugeschichte ein Bildungsfach, das mit unserer Entwurfspraxis nichts zu tun hatte. Wir waren mit dem Kopf in der Zukunft unterwegs, auch noch – mit Blick auf die Zukunft – in der Gegenwart, aber die Vergangenheit schien abgetan und ohne Relevanz für uns. Seit einiger Zeit ist mir die Geschichte wieder zu einer lebendigen Wirkkraft geworden.1 In diesem Sinne will ich versuchen, über die 1960er und frühen 1970er Jahre zu reflektieren und diesen Abschnitt meiner beruflichen Biografie sozusagen zu historisieren. Dieser Versuch erfolgt in einer Zeit, die von ›Unbestimmtheit‹ gekennzeichnet ist, verbunden mit Erwartungen zukünftiger großer Umbrüche, verursacht von der Umstellung auf erneuerbare Energieformen, den Folgen des Klimawandels sowie der Globalisierung ökonomischer Krisen im weltweiten Maßstab bei gleichzeitigem Abnehmen des materiellen Wohlstands. Derartige Umbrüche werden auf ein Bau- und Stadtgefüge von historisch unvergleichbarer Komplexität treffen und eine in ihrer unökologischen Lebensweise höchst verwundbare Gesellschaft. Welche Folgen diese Umbrüche im Einzelnen auf die Städte haben werden, kann niemand voraussagen. Aber nach unseren historischen Erfahrungen mit der kompakten Eisenbahn- und Industriestadt im 19. Jahrhundert auf der Basis der Umstellung von Wasserkraft, Holz und Torf auf Steinkohle, etwas später dann auch auf Elektrizität, und mit der Entstehung der in der Fläche gewachsenen Auto- und Konsumstadt im 20. Jahrhundert auf der Basis von Öl und Gas werden auch die Auswirkungen der nächsten Energierevolution tiefgreifender Natur sein.2 Dieses Gefühl der fundamentalen Unbestimmtheit gab es vor fast 50 Jahren so nicht, sondern eher unsere Gewissheit eines not1 2
Gespräche mit Werner Durth und Harald Bodenschatz haben entscheidend zu diesem späten Lernprozess beigetragen, dafür schulde ich ihnen Dank! Bei dem Versuch der ›Historisierung‹ der eigenen beruflichen Biografie haben mir freundschaftliche Hinweise von Klaus Brake und Michael Wegener sehr geholfen. Darüber hinaus hat Klaus Brake das Manuskript kritisch durchgesehen. Beiden Kollegen danke ich herzlich.
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wendigen Aufbruchs: Unsere Zeit steht nicht nur in dieser Hinsicht, sondern in fast allen Aspekten in einem enormen Kontrast zu den 1960er und frühen 1970er Jahren – das Thema dieses Reflexionsversuchs –, die ich ›ein langes Jahrzehnt‹ genannt habe, weil sie eine Epoche bilden, die in vieler Hinsicht gemeinsame Merkmale aufweist, wie ich noch zu zeigen versuchen werde. Das Folgende beruht strikt auf persönlichen Erfahrungen und Erinnerungen und kann in keiner Weise Wissenschaftlichkeit beanspruchen.3 Ich kann nur für mich ins Feld führen, dass ich vielleicht ein typischer Vertreter jener Generation bin, die sich im besagten ›langen Jahrzehnt‹ intellektuell und beruflich entfalten konnte und von den Geistesströmungen jener Zeit geprägt worden ist. Ich kann auch nicht den Anspruch auf Objektivität beanspruchen, dazu habe ich selbst in der Entwicklung viel zu tief aktiv und zum Teil auch mitgestaltend gewirkt, um aus kühler Distanz diese Zeit analysieren und beschreiben zu können. Edgar Salin und die Polis und Regio-Tagung Mein Verhältnis zu Edgar Salin blieb eine kurze Episode mit subjektiven Eindrücken: Ich hatte 1967 eine Einladung als ›Nachwuchs-Wissenschaftler‹ zur Polis und Regio-Tagung der List Gesellschaft, deren Präsident Salin war, wahrscheinlich aufgrund meiner wissenschaftlichen Versuche, die ich mit Studenten und Schülern als Assistent an der Technischen Universität Berlin gemacht hatte und die wir zum Teil schon in der neuen Zeitschrift StadtBauwelt veröffentlicht hatten. In Salin begegnete mir ein Polyhistor von einer, für meine Generation unbegreiflich umfassenden Bildung, der alle Diskussionsbeiträge erst einmal historisch einordnete und alles positiv-skeptisch in einen historischen Zusammenhang stellte. Eine weitere Überraschung: Die Volkswirtschaftslehre gehörte bei ihm zu den Gesellschaftswissenschaften und zu ihrer Ideengeschichte. Das war uns damals eher fremd, waren wir doch eingefleischte Positivisten, die alles aus den Gesetzen einer marxistisch gedeuteten GesellschaftsMechanik erklären wollten. In meinen Erinnerungen erscheint mir Salin als eine in ihrem offenen Geist verehrungswürdige Persönlichkeit, das Gegenteil eines Dogmatikers und bei aller historischen Abgeklärtheit doch ungeheuer neugierig! Ich war natürlich sehr stolz auf diese Einladung, und seine Verabschiedung mit den Worten: »Sie haben Ihre Sache gut gemacht«, war so etwas wie ein Ritterschlag!
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Eine Lungenentzündung hat verhindert, dass ich Bibliotheksrecherchen anstellen konnte.
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In Israel haben mich damals vor allem die Kibbuzim leidenschaftlich interessiert, und ich habe explizit versucht, die Kibbuz-Idee als eine verschiedene kulturelle Hintergründe zu einer Dorfgemeinschaft integrierenden Siedlungsform, in meiner Diplomarbeit auf einen Entwurf von Dorf-Umsiedlungen in Ghana anzuwenden, die wegen des Aufstaus des Volta-Stausees erforderlich waren. Vorher hatte ich drei Monate als Straßenvermesser in Ghana gearbeitet. Im Jahr 1964 war ich das erste Mal in Israel auf einer Studienreise und fand dort die Gegenstände meiner Begeisterung noch in Blüte. Auf einer Reise im Sommer 2010 fand ich von der Kibbuz-Idee fast nichts mehr vor.4 Der Städtebau und die Architektur hatten mich seit dem Ende der Grundschulzeit brennend interessiert. Ich war am Kriegsende zehn, fast elf Jahre alt und kam 1946 mit dem ersten Sextaner-Jahrgang nach dem Krieg in Hamburg auf das humanistische Gymnasium. Ich kann mich aber auch als ein Produkt der Kultur- und Erziehungspolitik der in dieser Hinsicht klugen britischen Besatzungsmacht mit ihrer ›Re-education to Democracy‹ bezeichnen. Das Britische Kulturzentrum Die Brücke vermittelte die ersten Begegnungen mit der internationalen modernen Architektur. England blieb mit der LabourRegierung, dem National Health Service, der Free University, dem Greater London Council, der modernen Planungsgesetzgebung und vor allem mit dem New Town Program lange Jahre mein großes Vorbild. Deswegen habe ich 1957/58 in Liverpool studiert. Ich wuchs in den Elbvororten auf, in denen damals mehrere, in den späten 1940er und frühen 1950er Jahren umstrittene Architekten wohnten, zum Teil in meiner Nachbarschaft. Mit ihren Kindern ging ich gemeinsam zur Schule und mit manchen Familien verband mich die Hausmusik oder der Nachhilfeunterricht. Zu diesen Architekten und ihren Familien gehörte unter anderen Konstanty Gutschow, der Architekt des »Führers« in Hamburg, Bernhard Reichow, der Erfinder der organischen Stadtbaukunst, und Willem Bäumer, der Assistent und Freund von Paul Schmitthenner, die alle eher zum konservativen Lager gehörten und dem Dritten Reich nahegestanden hatten. Aber es wohnten dort auch, von mir etwas weiter entfernt, Rudi Lodders, einer der Architekten der Hamburger Grindel-Hochhäuser und Architekt der Borgward-Werke in Bremen, der aus der linken Jugendbewegung kam und eher zum Widerstand gehörte, und der Spötter Werner Hebebrand, der Oberbaudirektor von Hamburg, der mit Ernst May in Russland gewesen war und die Ausdrücke ›Prinz Bernhard von Organien‹ und den ›Urbanitäter‹ erfunden hatte, als der Begriff 4
Siehe dazu den Beitrag von Eliezer Ben-Rafael in diesen Band, S. 306.
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der »Urbanität« in Mode kam.5 Ich persönlich hatte zum Begriff der ›Urbanität‹ immer ein eher skeptisches Verhältnis: Mit Salin teilte ich die Meinung, dass man Urbanität nicht bauen könne und dass Urbanität in ihrer historisch entstandenen Ausprägung auch kaum wiederzubeleben sei. Insgesamt neigte ich zur Urbanitäts-Definition von Hans-Paul Bahrdt, wie er sie als »unvollständige Integration« verbunden mit einem spezifischen Verhalten, der Kleidung und dem Habitus in seinem Buch Die moderne Großstadt (1961) beschrieben hat. Etwas später (1963) kam dann auch noch Ernst May dazu, den ich kurz bei Friedrich und Ingeborg Spengelin kennengelernt habe. So habe ich als Jugendlicher die von Axel Schildt geschilderte Kontinuität der alten Eliten, sowohl die der Rechten als auch die der Linken, erlebt, ohne darüber nachzudenken und ohne die damit verbundenen Fragen zu durchschauen.6 Aber ich bin durch die verschiedenen Büros gestromert und war von den unterschiedlichen Büroatmosphären fasziniert. Das ›lange Jahrzehnt‹ Ich habe 1955 in Stuttgart mit dem Architekturstudium begonnen, 1957 im Büro von Friedrich und Ingeborg Spengelin als Zwischenpraktikant am ›Hauptstadt‹ Berlin-Wettbewerb mitgezeichnet und ging 1958 zur Fortsetzung des Studiums nach Berlin. 1962 habe ich in Berlin das Diplom gemacht, also gerade in der Zeit des Umbruchs von der Notzeit des Wiederaufbaus in den 1950er Jahren, in denen das Wort »Planung« fast etwas Umstürzlerisch-Kommunistisches hatte, zum Wirtschaftswunder und zu einer neuen Zeit, in der wieder über Planung geredet werden durfte. Einige Worte zum Verhältnis von der Architektur zum Städtebau: Es war die Zeit, in der sich die ›Raumplanung‹ von der ›Architektur‹ zu emanzipieren begann, ein Vorgang, der in England und in den USA schon Jahrzehnte vorher abgeschlossen war. Auf dem europäischen Kontinent dagegen hatte sich das ›Handwerk‹ des Städtebaus als systematische »Kunst« schon Ende des 19. Jahrhunderts an den Technischen Hochschulen herausgebildet, angesiedelt zwischen Bauingenieurwesen als ›Stadtbauwesen‹, Architektur und »Raum-Kunst«. In dieser Tradition habe ich in den 1950er Jahren noch studiert und ich fühle mich dieser Tradition noch heute verpflichtet. Ich habe mich während meiner Zeit als Hochschullehrer an der Architekturfakultät der Technischen Universität Darmstadt immer für das Zu5
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Die Formulierung nimmt Bezug auf Hans Bernhard Reichows Schrift: Organische Stadtbaukunst von der Großstadt zur Stadtlandschaft (1948). Zum Begriff »Urbanitäter« siehe den Beitrag von Karin Wilhelm in diesem Band, S. 64. Siehe dazu den Beitrag von Axel Schildt in diesem Band, S. 268.
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sammenbleiben von Architektur und Städtebau in einer gemeinsamen Fakultät eingesetzt. Aber auch ich hatte zwei Herzen in meiner Brust – das städtebaulich-räumliche, leidenschaftlich am Stadtbild interessierte und das wissenschaftlich-systematische Herz einer rationalen, wissenschaftlich begründeten Raumplanung. 1973 habe ich in der von der Bayerischen Akademie der Künste organisierten Vortragsreihe Information und Imagination unter dem Titel Bild und Berechnung im Städtebau über das Verhältnis dieser beiden Herzen zueinander nachgedacht und philosophiert.7 Am Ende meines Architekturstudiums in Berlin begann die Diskussion über den politischen Charakter des Planens und Bauens: Schon in den letzten Studienjahren bildeten sich an der Technischen Universität Berlin und im Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) Kreise von Interessierten, die, unzufrieden mit der technokratischen und vorwissenschaftlich-handwerklichen Architektenund Städtebauausbildung, nach einer neuen politischen und wissenschaftlichen Fundierung ihres Berufes suchten. Dabei schauten wir natürlich auch auf die DDR: Ost-Berlin konnten wir noch besuchen. Wir befreundeten uns mit Hermann Henselmann, dem persönlich faszinierenden Architekten der Stalinallee, und hatten nächtelange Debatten über »Markt« und »Plan« – eine Frage, die uns seinerzeit durchaus noch als sich ausschließende Alternativen offen schien. Das waren bereits ›Vorläufer‹ der Diskussionen, die dann 1968 mit Macht einsetzten – organisiert und protokolliert in zahlreichen, von den Studierenden selbst veranstalteten Arbeitsgruppen, an denen ich mich als junger Hochschullehrer auch beteiligte. Diese Diskussionen und Forderungen führten schließlich zu tief greifenden Änderungen in der Ausbildung. Ihren inhaltlichen und stilistischen Niederschlag fanden sie in der Planer-Flugschrift 1 und in der Planer-Flugschrift 2 (veröffentlicht in der Bauwelt 37, 1968, und in der StadtBauwelt 25, 1970), welche die seinerzeitige intellektuelle Stimmung unter interessierten Studierenden wiedergaben. Heute sind sie in ihrer Mischung aus praktischer Kritik, abstraktem wissenschaftsbegrifflichem Jargon und marxistischen Formeln nicht mehr leicht zu lesen. Wenn man sich aber die Mühe macht, ist der Inhalt erstaunlich aktuell. Freilich war der in diesen Flugschriften formulierte Anspruch an die kritische Gesellschaftsreflexion und an Interdisziplinarität im Universitätsalltag nicht einzulösen, aber die praktische »Errungenschaft« des Projektstudiums in Gruppen und die damit verbundene größere Studienfreiheit in der Zusammenstellung von Wahlfächern
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Sieverts, Thomas: Bild und Berechnung im Städtebau, München 1973, S. 85–119.
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und der Ergreifung eigener Initiativen haben sich nach meinen eigenen Lehrerfahrungen sehr positiv ausgewirkt. Einige Jahre früher, gegen 1965, hatten wir, die drei Studienkollegen Egbert Kossak, später Professor in Stuttgart und Oberbaudirektor in Hamburg, Herbert Zimmermann und ich, die Freie Planungsgruppe Berlin (FPB) als Genossenschaft nach sozialistischen Grundsätzen gegründet, in der die technische Zeichnerin mit zwei Kindern mehr verdiente als wir – seinerzeit noch ledige Chefs und Gesellschafter. Abb. 1 Wir entwickelten neue Methoden eines systematischen, ebenso auf die Gestaltung wie auf die Planungsprozesse ausgerichteten Städtebaus für die Beratung von kleinen Städten, die noch keine leistungsfähigen Stadtplanungsämter hatten. Auch diese Bürogründung war ein »Vorschein« auf die 68er-Bewegung, in die ich 1967 als an die Hochschule der Künste berufener junger Hochschullehrer und kaum älter als meine Studenten mitten hineingeriet und die ich mitzugestalten versuchte, bis dahingehend, dass ich 1968 das Osterfest 30 Stunden in Polizeigewahrsam verbrachte.8 Die sozialistische Binnenorganisation des Büros wurde zwar bald stillschweigend wieder aufgegeben, das Prinzip aber, dass der Städtebauer als ›ehrlicher Makler‹ der sich häufig widersprechenden Interessen an Stadtaneignung beziehungsweise Flächennutzung wirken und nicht als bauender Architekt tätig sein sollte, wurde lange aufrechterhalten. Diese neuen fachlichen Kompetenzen der Kommunen wurden nun erforderlich, denn jetzt wurden endlich auch neue Gesetze erlassen, die bestimmte Anforderungen an die Aufstellung, die Inhalte und die Verbindlichkeit von Bauleitplänen festsetzten: 1960 das Bundesbaugesetz (BBauG), 1962 die Baunutzungsverordnung (BauNVO) und schließlich 1970 das Städtebauförderungsgesetz (STBauFG) als eine rechtliche Grundlage für die nun immer wichtiger werdende Stadterneuerung. Einen wichtigen Ausdruck fand dieses ›lange Jahrzehnt‹ auch in den technischen, ja technokratischen Entwicklungslinien, die uns gleichzeitig erschreckten und faszinierten, uns auf jeden Fall aber nicht unberührt ließen: die Entwicklung der starren bauindustriellen Vorfertigung von schweren Bauteilen – weitergedacht bis zur industriellen Vorfertigung ganzer Städte, wie sie die Metabolisten in Japan gezeichnet, wenn auch nicht realisiert hatten. Als Realisierungsinstrument derartiger Entwicklungen entstand die gewerkschaftseigene Neue Heimat als größter europäischer Wohnungsbauträger seiner Zeit: In der Organisationsform und in dem Massenanspruch zeigten sich hier deutliche Parallelen zur DDR. Abb. 2 8
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Sieverts, Thomas: »In den Händen der Polizei. Mitgefangen-Mitgehangen. Der Bericht eines betroffenen Professors«, in: DIE ZEIT, Nr. 18, April 1968.
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1 — Egbert Kossak, Thomas Sieverts und Herbert Zimmermann gründeten um 1965 die Freie Planungsgruppe Berlin (FPB) als Genossenschaft nach sozialistischen Grundsätzen. Gruppenfoto eines Festes in den Räumen der FPB im Jahr 1969 in Berlin.
In dieser bewegten Zeit konnten wir mit der FPB neue Methoden der Darstellung und des Prozess-Entwurfes entwickeln: Neben die räumliche Kreativität des städtebaulich denkenden Architekten trat die Verfahrens-Kreativität des Stadtplaners.9 Gerade im Hinblick auf die benachteiligten Stadtnutzer wurde der technokratische Charakter des Städtebaus infrage gestellt und der politische Charakter trat immer deutlicher hervor. Das politische Klima in der Bundesrepublik Deutschland wandelte sich, dafür steht die Aufforderung von Willy Brandt (1969): »Mehr Demokratie wagen!«, die auf uns höchst motivierend gewirkt hat. Die öffentlichen Debatten um das Städtebauförderungsgesetz rückten das erste Mal die politische Dimension der Aushandlung von Interessenkonflikten in den Vordergrund, die einen Vorschein auf die Frage der aktiven Bürgerbeteiligung warfen. In der Großsiedlung Neu Kranichstein (Darmstadt) und im alten Arbeiterviertel Linden in Hannover wurden zum ersten Mal in Deutschland unabhängige ›Anwalts-Planer‹ für die Interessenmoderation zwischen den Bewohnern, der Verwaltung und den Bauträgern eingesetzt. Abb. 3 Wir waren dabei, ein zeitgemäßes Handlungsfeld abzustecken: Die Strukturierung der städtischen Umwelt als Aktionsund Aneignungsraum, wie das damals besonders Jane Jacobs propagierte. Für die Raumplaner stand damit auch deren gesellschaftlichpolitische Rolle zur Diskussion. Neben dieser Entwicklungsarbeit der praktischen Raumplanung suchten wir an den Hochschulen nach Methoden zur Systematisierung des städtebaulichen Entwerfens und nach wissenschaftlichen Methoden der Fundierung und Operationa9
Kossak, Egbert/Sieverts, Thomas/Zimmermann, Herbert: »Beratende Planung für kleine Städte«, in: StadtBauwelt 1968, Heft 17, S. 128.
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2 — Die Siedlung Heidelberg-Emmertsgrund (1970–1975) war ein damals umstrittener Versuch, die beengte Wohnraum-Situation in der Innenstadt durch ein neues Stadtviertel am Waldrand mit modernem, klimatisch gesundem Wohnen zu entspannen. Architekten: F. Angerer, A. von Branca, Beratung: A. Mitscherlich; Bauherr: Neue Heimat. Fotograf: Brugger (1975).
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3 — Die Siedlung Neu Kranichstein (1968–1970) entstand als einer der fünf geplanten »Waldsatelliten« zur Modernisierung der Stadtregion Darmstadt. Architekt: Ernst May; Bauherr GEWOBAG. Fotograf: Günther Jockel, 1980.
lisierung des Städtebaus. Die praktische städtebauliche Arbeit war damals noch ganz traditionell handwerklich organisiert: Computer als handliche Hilfsmittel gab es noch nicht, Pläne wurden gezeichnet, mit der Rasierklinge korrigiert und mit grafischen Folien beklebt – ein mühsames Geschäft! Meine erste Begegnung mit dem Computer – noch mit Lochkarten, Knipszange und zentralen Rechenzentren – hatte ich erst 1970 als Gastprofessor in Harvard: In einem von mir geleiteten Seminar zu Housing and User Needs, versuchten wir, erste Zeichenprogramme und Statistikprogramme für Clusteranalysen einzusetzen.10 An der Technischen Universität Darmstadt setzte ich ab 1971 diese Versuche mit jüngeren Kollegen, die in den USA studiert hatten, fort. Die methodischen Anregungen fanden wir in anderen wissenschaftlichen Disziplinen: 1) Die Meta-Wissenschaft der Kybernetik, die sich mit Systemen beschäftigte, die sich über Rückkopplung selbst stabilisierten, wurde als eine Art ›Überwissenschaft‹ auf Prozesse der Stadtentwicklung angewendet. 10 »Housing and User Needs«, in: Working Papers of the Urban Design Program No 1, Harvard University 1971.
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2) Die allgemeine Systemtheorie war der vielleicht umfassendste Versuch, zu verstehen, was die Welt im Innersten zusammenhält, für die Raumplanung besonders interessant als »Systems Dynamics« (J. W. Forrester), weil auch zeitliche Prozesse berechnet werden konnten. 3) Diese Theorie wurde kritisiert als eine immanent gesellschaftsstabilisierende, konservative Theorie, die auf ihre meist verdeckten Interessenszusammenhänge hin zu analysieren wäre: Ohne normative Ziele keine Planung! 4) Von dort ist es nicht weit zu einer praktischen politischen Theorie der Raumplanung, die danach fragt, wer von einer Planung bevorteilt beziehungsweise benachteiligt wird und wie die soziale Gerechtigkeit verbessert werden kann (etwa durch AnwaltsPlanung). 5) Die Juristen forderten eine Ausdifferenzierung der Rechtsnatur der Planung, mit den Regeln der Interessensabwägungen untereinander und mit den öffentlichen Zielen und entsprechenden Gesetzen. 6) Die Wirtschaftswissenschaften wurden mit der Bodenwert-Debatte im Sinne der Abschöpfung ›unverdienter‹ Bodenwertgewinne und mit den ersten Anfängen einer Umwelt-Ökonomik bedeutsam. 7) Die Semiotik, in der Form, wie Max Bense sie gelehrt hatte, bot eine theoretische Grundlage für die Analyse der Zeichenhaftigkeit der Umwelt und damit einen wissenschaftlichen Zugang zur Ästhetik des Stadtbildes.11 8) Die empirische und sozialpsychologische Sozialforschung eröffnete mit dem Buch »Image of the City« (Kevin Lynch) einen systematischen Zugang zum inneren (Erinnerungs-)Bild der Stadt. 9) Schließlich trat in dieser Zeit auch die Ökologie langsam hervor, als Metabolismus der Mensch-Umwelt-Beziehung, aber sie stand noch lange nicht im Mittelpunkt des Interesses. Die oben aufgeführten methodischen Ansätze erstrecken sich von ›harten‹, analytisch quantifizierbaren, zum Teil auch mathematisierbaren Ansätzen über die Praxis der Politik, des Rechts und der Wirtschaft bis zu ›weichen‹ Ansätzen der Kulturwissenschaften. Das Schöne in dieser Zeit des Aufbruchs und der Versuche mit neuen Ansprüchen und Methoden waren die Erfolgserlebnisse: Wie häufig in den Kinderjahren einer neuen Disziplin, waren noch mit einfachen Fragen und der einfachen Übertragung von Denkmodellen 11 Bense, Max: »Urbanismus und Semiotik«, in: Konzept 1. Architektur und Zeichensystem, Tübingen 1971, S. 99–104.
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und Methoden aus anderen Disziplinen schnell Erkenntnisse zu gewinnen. Sogar mit einfachen Versuchen des forschenden Lehrens und Lernens konnten wir damals Ergebnisse produzieren und publizieren, die auch bei Kollegen Aufmerksamkeit erzielten.12 Diese Zeit fröhlicher, ziemlich naiver Wissenschaft war natürlich bald vorbei, als die klassischen, spezialisiert entwickelten Wissenschaften mit ihren ausgefeilten Methoden sich des neuen Feldes der Raumplanung und der Raumökonomie annahmen: Sozialpsychologie, Landschaftsökologie, Verkehrswissenschaften und auch die sich gerade bildenden Kulturwissenschaften führten zu Spezialisierungen. Besonders aber veränderten die Versuche, Methoden der mathematisierten Modellbildung auf Raum- und Stadtentwicklung anzuwenden, die Zugänge. Es gab ein paar Jahre, in denen überhaupt nur die in mathematischer Form beschreibbaren Erkenntnisse als wirklich wissenschaftlich galten. Auch ich war einige Zeit fasziniert, angesteckt durch meine Erfahrungen in Harvard, und habe derartige Methoden auch an der Architekturfakultät der Technischen Universität Darmstadt eingeführt. Die Erfolge blieben aber, mit Ausnahme der Verkehrswissenschaften, eher mäßig. Die weiteren Forschungen zeigten dann auch bald, dass hochkomplexe sozioökonomische Systeme wie die Stadt aus erkenntnistheoretischen Gründen nicht in mathematischer Form dynamisch modellierbar sind. Der Hang zur mathematischen Modellbildung setzte sich auch in den Wirtschaftswissenschaften durch. Ich meine mich zu erinnern, dass gerade auch die Zeitschrift Kyklos der List Gesellschaft zu jener Zeit davon infiziert war! Und das ›Magische Dreieck‹ des Wirtschaftsministers Karl Schiller, mit dem er ein für alle Mal ein Instrument zur Stabilisierung der Wirtschaft haben wollte, war auch ein Kind dieser Zeit! Manche Versuche zur Verwissenschaftlichung und besonders zur mathematischen Modellbildung bargen auch die Gefahr, dass sie zu in sich abgeschlossenen Systemen neigten, die kaum anschlussfähig waren. Die Mathematisierung des Verkehrswe12 Eine Auswahl von Beispielen unseres Forschenden Lehrens und Lernens (Verf. bzw. Hg. Thomas Sieverts): Anwendung der Methoden von Kevin Lynch (Image of the City): Stadtvorstellungen (StadtBauwelt 9, S. 704, 1966); Anwendung der Semiotik nach Max Bense: Information einer Geschäftsstraße, Umwelt als Informationsfeld (StadtBauwelt 1968, Heft 20, S. 1496); Eine kurze Zusammenfassung unserer Studien: Spontaneous Architecture (Architectural Association Quarterly, Juli, S. 37–43, London 1969); (Grafische) Modelle zur Veranschaulichung von Stadtwachstumsprozessen (nach unterschiedlichen Regeln), Studienarbeiten (Theorie und Praxis der Infrastrukturpolitik, Duncker und Humblot, Berlin 1970, S. 107–124); Anwendung von ›Systems Dynamics‹ nach Forrester: Blum, Sieverts, Volwahsen: Dynamisches Simulationsmodell des Wohnungsmarktes in München (Hg.: Referat für Stadtforschung und Stadtentwicklung, München 1973).
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sens beispielsweise behandelte seinerzeit Fahrzeuge und Straßen als Analogon eines physikalischen Strömungs- und Gravitationssystemes und verlor dabei die menschlich-kulturelle Seite des Verkehrs als Kommunikationsform ganz aus den Augen. Der Glaube an die Wirkmächtigkeit von Wissenschaft in der Form der Systemtheorie, mit deren Hilfe man alle Politikfelder der Kommunalpolitik zielgerecht koordinieren könne, führte in zahlreichen Großstädten zur Einrichtung von integrierten Planungsstäben bei den Oberbürgermeistern. Diese wurden aber wegen der Nicht-Praktizierbarkeit der methodischen Ansätze, aus Überkomplexität und ihres im Kern apolitischen Charakters schon nach wenigen Jahren wieder aufgegeben. Der hier an eigenen Erfahrungen skizzierte Optimismus und Aufbruch, führte ab 1962 zur Gründung der Fakultäten für Raumplanung in Dortmund, Berlin und Oldenburg und wenig später in Kaiserslautern wie auch zur Gründung der neuen Fachzeitschrift StadtBauwelt 1964 und der Vereinigung der Stadt-, Regional- und Landesplanung (SRL) 1969. Der wesentliche Hintergrund dieses Aufbruchs war der weitverbreitete Glaube an ein immerwährendes Wirtschaftswachstum, das einen immer weiter ausdifferenzierten Wohlfahrtsstaat tragen könne, von dem man glaubte, dass man ihm fast beliebig viele staatsinterventionistische Aufgaben zumuten könne. Michael Wegener, der die Raumplanungsfakultät in der Universität Dortmund mit aufgebaut hat, schrieb dazu 2011: »Raumplanung ist eine Aufgabe politischer Entscheidungsträger zur Verteilung ökonomischer Ressourcen in Form von Standorten zur Sicherung ihrer eigenen Wiederwahl oder für oder gegen privatwirtschaftliche Interessen zur Verwirklichung von Wachstums- oder Gerechtigkeitszielen. Allen diesen Interpretationen waren wenige Grundannahmen gemeinsam: Der Staat ist ein auf Wachstum programmierter Wohlfahrtsstaat mit ›sozialer‹ Marktwirtschaft, und die Zukunft ist langfristig prognostizierbar und umfassend gestaltbar. Die Ziele der Raumentwicklung werden durch die Politik vorgegeben, und ihre Realisierung wird primär durch die öffentliche Planung der Gebietskörperschaften bestimmt. Private Akteure verfolgen ihre Interessen im Rahmen der durch die öffentliche Planung gesetzten Bedingungen. Aufgabe der öffentlichen Planung ist somit die effiziente und gerechte Zuordnung von Raumnutzungen und, bei Interessenkonflikten, die Abwägung zwischen den Interessen.« 13 Bei allem Bemühen um Pragmatismus lag der tiefere, weltanschauliche Hintergrund der Gründung der Fakultäten für Raumplanung 13 Wegener, Michael: »Zurück zu den Anfängen«, in: Informationen zur Raumentwicklung, Heft 11/12, 2008.
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in dem weitverbreiteten Glauben – den auch ich damals teilte – an die rationale Machbarkeit und Beherrschbarkeit der Welt: Wenn nur genügend geforscht würde, wäre die Entwicklung der Welt und der Gesellschaft durchschaubar und erklärbar und damit auch demokratisch steuerbar! In Bezug auf diese Haltung unterschieden sich beispielsweise die Fronten 1968 zwischen ›Rechten‹ und ›Linken‹ nur in Nuancen. Die ökologische Frage spielte noch kaum eine Rolle – der Glaube an die »Machbarkeit der Welt« herrschte auf beiden Seiten. Diese Grundhaltung war nicht nur intellektuell begründet, sie wurde auch biografisch erlebt: Nach dem Zweiten Weltkrieg lag unsere Welt in Trümmern, es musste unglaublich viel gebaut werden, aber damit konnte man die Welt auch verändern! Die ungeheuren Verluste an Menschen der Generationen vor uns eröffneten unserer Altersgruppe bereits in jungen Jahren breite Entfaltungsmöglichkeiten mit der Aussicht auf eine strahlende Zukunft. Meine Altersgruppe – zu jung, um noch in den Zweiten Weltkrieg eingezogen werden zu können, aber zu alt für die neue Wehrpflicht der Bundeswehr – stand vor der Aufgabe eines riesigen Aufbau- und Gestaltungsauftrages, verbunden mit Aufstiegschancen in Positionen, die eigentlich Älteren zugestanden hätten, die aber der Krieg grausam dezimiert hatte. Wir waren in vielfacher Hinsicht Kriegsgewinnler! Im Rückblick wird deutlich, wie wenige Jahre Altersunterschied das Leben des Einzelnen, wie sehr das Geburtsjahr seinerzeit das Schicksal bestimmt hat. Das Ende des ›Goldenen Zeitalters‹ der Raumplanung Dieses ›lange Jahrzehnt‹ forschenden Lehrens und Lernens und der damit verbundenen wissenschaftlichen, professionellen und politischen Hoffnungen fand um die Mitte der 1970er Jahre ein ziemlich abruptes Ende. 1975 setzte das Jahr des Denkmalschutzes eine Wendemarke. Es setzte eine breite, fundamentale Kritik ein. Diese Kritik betraf den ahistorischen Charakter vieler Ansätze, die technokratische ›Unsinnlichkeit‹ der Planungsresultate, die Staatsgläubigkeit, die Vernachlässigung ästhetisch-künstlerischer Aspekte und das zerstörerische Verhalten gegenüber der Natur. Nachdem 1972 die Grenzen des Wachstums des Club of Rome erschienen war, stand natürlich auch die Wachstumsgläubigkeit radikal infrage. Die Kritik und ihre politischen Träger lassen sich in drei Punkten zusammenfassen: 1) Die Politik der ›Neo-Konservativen‹ – verkörpert durch Margaret Thatcher und Ronald Reagan – wollte den Staat in seinen Wirkungsmöglichkeiten zurückdrängen und ihm deshalb radikal durch Steuersenkungen die Finanzmittel entziehen: Die Entwick-
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lung sollte weitgehend der Selbststeuerung des Marktes überlassen werden. 2) Die gerade aufkommende Politik der Grünen verkündete eine fundamentale Kritik am alten Wirtschaftswachstum und stellte damit das wichtige Fundament des immerwährenden Wachstums und eines immer weiter ausgreifenden Staatsinterventionismus radikal infrage. 3) Die sprachmächtige und publikationsfähige Schicht von Kulturträgern übte eine ätzende Kritik an dem Städtebau und der Architektur der Moderne und damit an einer der wichtigsten kulturellen Fundamente der Planung dieser Zeit. Damit wurde eine bis heute spürbare konservative Wende begründet.14 In diesem gesellschaftlichen Wandel kommt ganz allgemein die Auflösung des Fordismus und seiner eher kollektiven Strukturen zum Ausdruck. Die Träger der noch so jungen wissenschaftlich fundierten Planung – die Fakultäten der Raumplanung, die Planungsstäbe der Verwaltungen, der Berufsverband der Stadt-, Regional und Landesplaner und die Fachzeitschriften – haben das nicht immer produktiv verarbeiten und ohne Substanz- und Identitätsverlust verkraften können – übrigens nicht nur in Deutschland, sondern in der ganzen Welt. Ich zitiere noch einmal Michael Wegener: »Die Disziplin Raumplanung in der Bundesrepublik ist alt und müde geworden. Ihr einst utopischer und reformerischer Elan ist erschöpft. Angesichts der globalen ökologischen Herausforderung bedarf es einer Rückbesinnung auf den Elan ihrer Gründerzeit, diesmal aus sozialer und ökologischer Verantwortung. Notwendig wäre, dass die Raumplanungsfakultäten, -akademien und -institute mehr als bisher zu den wichtigen Fragen der räumlichen Organisation der Gesellschaft in ihrer eigenen Region, in Deutschland und in Europa gegenüber der Öffentlichkeit der Politik und der Planungspraxis Stellung beziehen.« 15 Die Raumplanung müsste sich heute neu erfinden. Die zu lösenden Aufgaben sind nach 50 Jahren tatsächlich von grundlegend anderer Natur: 1) Es geht in Mitteleuropa nicht mehr um das Prinzip des Beherrschens von Wachstum, sondern um den Umgang mit der Stagnation und Schrumpfung, im Sinne einer qualitativen Verbesserung bei zurückgehendem Einkommen. 14 Siehe dazu den Beitrag von Jörn Düwel in diesem Band, S. 181. 15 Siehe Anm. 12; auch Wegener, Michael: »Raumplanung als System-Rationalität oder die Rettung der Raumplanung durch die Ökologie«, in: Schmals, K. M.: »Was ist Raumplanung?«, Dortmunder Beiträge zur Raumplanung, Universität Dortmund 1999, S. 165–172.
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2) Es geht nicht mehr um die immer weitergehende Umwandlung von Natur in Technik, es geht um die Integration der Städte in den Naturkreislauf einschließlich der Erhaltung tolerabler Klimabedingungen bis zur Rückverwandlung von Technik in Natur. 3) Es geht nicht mehr primär um künstlerische Originalität, es geht um die Widerstandsfähigkeit (Resilienz) in Zeiten der Unbestimmtheit und der radikalen Transformation. Wir brauchen in der Raumplanung einen neuen Aufbruch! Wir haben jetzt fast ein halbes Jahrhundert Abstand von jenem »langen Jahrzehnt« des Aufbruchs in der räumlichen Planung. Wie würde es Salin aus heutiger Sicht beurteilen? Er hat dieses Jahrzehnt noch erlebt und seinerzeit mit seiner List Gesellschaft und ihrer Tochter, der Prognos AG, lebendig begleitet. Den Glauben an die »Machbarkeit der Welt« hat er wohl in seiner auf historischer Bildung beruhenden Skepsis nie geteilt. Wohl aber hielt er sie für in Teilen gestaltbar! Der Hochmut, alles ›wissenschaftlich‹ begreifen und operationalisieren zu können, und der Glaube an die »Machbarkeit« ist uns vergangen. Das »lange Jahrzehnt« des Aufbruchs ist Gegenstand der Historie geworden. Vieles von der seinerzeit verfassten Planungsliteratur erscheint heute eigenartig fern – bei meinem Umzug von Bonn nach München habe ich viel ›kritische‹ Fachliteratur aus jener Zeit weggeworfen, ihre ›Halbwertzeit‹ war lange abgelaufen. Das »lange Jahrzehnt« von 1960–1975 war für die Entfaltung der Idee einer demokratischen Raumplanung ein goldenes Zeitalter. Im Rückblick war zwar nicht alles Gold, was damals so geglänzt hat. Was jedoch heute zu fehlen scheint – etwas, was ich in jenem Jahrzehnt erlebt habe –, ist die Intensität der geistigen Auseinandersetzung mit der Raumentwicklung. Angesichts der schon in Gang gesetzten fundamentalen und globalen Veränderungen ist eine solche Auseinandersetzung eine dringende Notwendigkeit! Wir tun immer noch so, als könnten wir mehr oder weniger so weitermachen wie früher, anstatt uns gedanklich auf eine grundlegend neue Situation einzustellen, wie ich sie eingangs anzudeuten versucht habe.
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KAPITEL IV D I E Ö KO N O M I E U N D D I E NAT I O NA L E N R AU M ( P L A N U N G S ) M O D E L L E I M 2 0 . JA H R H U N D E R T. ZUM INTELLEKTUELLEN UMFELD EDGAR SALINS
E D G A R S A L I N S KO N Z E P T I O N D E S M O D E R N E N K A P I TA L I S M U S . VO N M A R X , S O M B A R T U N D W E B E R Z U E I N E R E U RO PÄ I S C H E N P E R S P E K T I V E F Ü R D I E G L O B A L I S I E RU N G 1 Ber tram Schefold I. Edgar Salin und der Kapitalismus, das ist das Kerngebiet, wo sich die Fragestellungen Salins, auch seine persönlichen und politischen Problematiken, kreuzen. Ich werde versuchen, die Darstellung dieses Themas aktueller zu gestalten, indem ich eine Kontroverse über den modernen Kapitalismus, nämlich die These der sogenannten California School miteinflechte, die von Wirtschaftshistorikern gegenwärtig geführt wird. Vielleicht darf ich mit einer persönlichen Erinnerung beginnen. Ich war der letzte Assistent Salins, und zwar im Rahmen der List Gesellschaft, nicht etwa als Assistent an seiner Professur, denn er war emeritiert (1962). Ich hatte damals schon ein Lektorat und wurde nun mit der phänomenalen Arbeitskraft dieses Mannes konfrontiert. Er pflegte um sieben Uhr morgens am Schreibtisch zu sitzen und ihn bis 24 Uhr abends nicht zu verlassen. Und so wollte er auch, dass sich sein Assistent entsprechend betätige; er rief zu meinem Entsetzen morgens um sieben Uhr an, um mich mit Aufgabenstellungen zu versehen. Da ich nun wusste, dass Salin ein Kavalier alter Schule war, und da ich damals vorübergehend wieder zu Hause lebte, vermochte ich meine Mutter dazu zu überreden, ihrerseits morgens um sieben Uhr aufzustehen, um eines dieser Telefone abzunehmen. Daraufhin wagte Salin es nicht ein weiteres Mal. Aber er machte einen 1
Dieser Beitrag gibt in gekürzter Fassung den frei gehaltenen Vortrag Bertram Schefolds aus Anlass des Symposions Neue Städte für einen neuen Staat. Edgar Salin und das Israel-Projekt der List Gesellschaft 1958–1967 in der Vertretung des Landes Niedersachsen beim Bund in Berlin vom 2.–4.12.2011 wieder. Zum Verständnis sind einigen Passagen mit erläuternden Fußnoten der Herausgeberinnen versehen.
Kapitel IV
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neuen Angriff, der in die Aufforderung mündete, ich müsse am Wochenende mit ihm an den Genfer See fahren. Und wieder ließ ich mir etwas einfallen und sagte: »Aber Herr Salin, ich habe mich schon mit meiner Freundin verabredet. Sie müssen sie mitnehmen.« Das geschah; sie wurde mitgenommen, mit großer Höflichkeit behandelt und durfte Salin zeichnen, während ich hinter ihm im Auto saß und wir über die Krise des Bretton-Woods-Systems sprachen.2 Einige biografische Bemerkungen gehören dazu. Salin ist in Frankfurt am Main geboren und ging an das Goethe-Gymnasium. Oft hörte man die Anekdote, dass Salin als ein ganz ausgezeichneter Schüler in gar keiner Weise zu schlagen war; sogar im Sport war er der Beste. Demgemäß wurde Salin im Goethe-Gymnasium auserkoren, die Abiturrede zu halten. Er sprach auf Altgriechisch über Marc Aurel. Berichtet wird weiter, dass der einige Jahre ältere Karl Reinhardt, der Sohn des Rektors des Gymnasiums, später berühmter Gräzist an der Frankfurter Universität, sich darüber wunderte, dass bei Salin Redefiguren aus den Reden von Lysias und Demosthenes vorkamen. Ich habe dann viel später (leider mit der deutschen Übersetzung daneben) Lysias gelesen und bemerkt, dass Salin in seinen sehr interessanten und wichtigen Arbeiten zur Wirtschaft des alten Griechenlands auf die frühere Lektüre des Lysias zurückgreift, der damals, als er ihn las, allerdings noch nicht ins Deutsche übersetzt war. Nach diesem so spektakulär guten Abitur wurde er von seinem Großonkel Jakob Heinrich Schiff nach New York eingeladen, um dort dessen Bank kennenzulernen. Schiff galt nach John Pierpont Morgan als der bedeutendste Bankier seiner Zeit in den Vereinigten Staaten. Er war so etwas wie ein geistiger Führer des Judentums in Amerika und hat auch sonst in den Vereinigten Staaten eine beachtete politische Rolle gespielt. Edgar Salin wurde nicht nur eingeladen, um die Bank und das fürstlich große Haus kennenzulernen, das Schiff in New York führte, sondern auch, um mit diesem in einem Sonderzug durch die Vereinigten Staaten zu reisen. Abb. 1 Der Ruf Schiffs war so groß, dass Gouverneure der Staaten, die durchquert wurden, dem Sonderzug entgegenreisten, an einem Ende des Staates in den Sonderzug einstiegen und am anderen Ende wieder ausstiegen. Unterwegs hatten sie ihre Konversationen mit Schiff, und Salin durfte dabei sein. Man fuhr auch mit einem gemieteten Dampfer nach Alaska und führte dort wiederum wirtschaftspolitisch aufschlussreiche Gespräche mit den Häuptern der Verwaltung, des 2
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Die Konferenz der Weltgemeinschaft zur Wiederherstellung stabiler Wechselkurse im Juli 1944 wurde nach dem US-amerikanischen Veranstaltungsort Bretton Woods benannt.
Bertram Schefold
1 — Miss Wise und Edgar Salin (beide kostümiert) im Yellowstone-Park, Amerikareise 1910.
Bergbaus, des Transportwesens. Salin zog daraus großen Nutzen, indem er später bei dem auf Standortfragen spezialisierten Alfred Weber eine Dissertation über die Goldfunde in Alaska schrieb. Es folgte die Teilnahme am Ersten Weltkrieg. Salin hatte sich freiwillig gemeldet, wie so viele seiner Generation. Er wurde im Krieg verwundet, und nachdem er sich von seiner schweren Verwundung erholt hatte, wurde er Referent der deutschen Gesandtschaft in Bern. Er erzählte mir gerne davon, wie stolz man in Bern war, es organisiert zu haben, dass Lenin im Sonderzug nach Russland spediert werden konnte. II. Salin, dem es sicher in die Wiege gelegt worden war, ein bedeutender Geschäftsmann zu werden, hatte sich aus wissenschaftlicher Neigung, aber vielleicht auch wegen der Begegnung mit Stefan George, entschlossen, sich der Wissenschaft zuzuwenden; sein Studium hat er von Anfang an im Zeichen des Dichters betrieben. Ein naher Freund war Norbert von Hellingrath, der den späten Friedrich Hölderlin entdeckte und der das Wesentliche dafür getan hat, dass Hölderlin in Deutschland in einer neuen Weise berühmt wurde, indem man das Werk des scheinbar schon Umnachteten von den Griechen her zu lesen lernte. Salin stand auch in Verbindung mit Friedrich Gundolf. Er setzte sich mit dessen Goethe-Buch auseinander. Bei der Vorbereitung seiner Habilitation über »Platon und die griechische Utopie« hatte er das Glück, seine Ergebnisse direkt mit George besprechen zu dürfen. Dieser riet, sich an Platon selbst und an die älteren griechischen Autoren zu halten und sich nicht in den – in der
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Sicht Georges (und wohl auch in der Sicht moderner Interpreten) – minderwertigeren Utopien spätantiker Autoren zu verlieren. Worin bestand die Bedeutung Georges für Salin? Das ist in zwei Worten natürlich nicht leicht zu sagen, aber eines, das bestimmt dazu gehörte, war die Freundschaft, die im Kreis gepflegt wurde. Es waren lauter junge Männer, die sämtlich besondere Begabungen aufwiesen. Tausende von Jungen in Deutschland mögen damals davon geträumt haben, von George in seinen Kreis aufgenommen zu werden. In seine Nähe zu gelangen, war eine ganz besondere Auszeichnung, und es stellte sich für George als gar nicht so einfach heraus, diesem Ansturm so zu begegnen, dass diejenigen, die wirklich zu ihm passten und die untereinander etwas bewirken konnten, sich zusammenfinden konnten. Es waren junge Menschen, die, wie Salin selbst, ehrgeizig waren, einen Anspruch an sich stellten und die sich deshalb nicht leicht führen ließen. George hat oft durchblicken lassen, dass er es mit ihnen nicht einfach hatte: wegen Eifersucht, die leicht aufkommen mochte, vor allem aber deswegen, weil es sein Ziel war, sie alle auf ein wesentliches Leben nach geistigen Orientierungen hinzulenken, mit jedem Einzelnen das Kommende, das ihm gemäße Ziel zu besprechen und dem jeweils gegenwärtigen Augenblick Bedeutung zu verleihen. Es war die Zeit, in der dieser George-Kreis sich vielleicht am engsten zusammenfügte. George hatte gerade Der Stern des Bundes publiziert und dieses, das man zuerst ein Geheimbuch nannte, wurde mit Ausbruch des Krieges ein wichtiges Dokument, das die jungen Männer mit sich trugen, als es in den Krieg ging. Was den Krieg selbst betrifft und die politische Haltung dieses George-Kreises, kann man feststellen, dass George selbst von Anfang an dem Krieg gegenüber skeptisch war, dass er im ganzen Jahrzehnt vor dem Ersten Weltkrieg immer wieder davor gewarnt hatte, wie die Politik fahrig auf Zusammenstöße hintrieb, wie er überhaupt den Wilhelminismus und der bürgerlichen Welt distanziert gegenüberstand; seine Gemeinschaftsbildung zielte darauf ab, ein anderes Menschentum zum Leben zu bringen. Aber er musste zugleich sehen, dass die Jungen um ihn sich von der Kriegsbegeisterung anstecken ließen, und so hat auch Salin freiwillig den Waffenrock angezogen und im Laufe des Krieges dann schwer darunter gelitten. Es gehört dazu, dass George in der Mitte des Krieges sein berühmtes Gedicht gegen den Krieg, Der Krieg, schrieb, in welchem das Schaurige dieses Geschehens dargestellt wird. Es geht die Rede, dass einer aus dem Kreis das Gedicht auswendig lernen und so über die Grenze in die Schweiz tragen musste, damit man für alle Fälle vor der Zensur sicher sei.
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Vielleicht ist es richtig, wenn ich wenigstens zwei kurze Gedichte Georges aus dieser Zeit vorlese, um das noch in anderer Weise zu vergegenwärtigen und auch um deutlich zu machen, in welche Spannungen Salin durch George versetzt werden mochte, denn George und Jakob Schiff, das waren doch zwei verschiedene Welten. »Alles habend alles wissend seufzen sie: ›Karges leben! drang und hunger überall! Fülle fehlt!‹ Speicher weiss ich über jedem haus Voll von korn das fliegt und neu sich häuft – Keiner nimmt.. Keller unter jedem hof wo siegt Und im sand verströmt der edelwein – Keiner trinkt.. Tonnen puren golds verstreut im staub: VoIk in lumpen streift es mit dem saum – Keiner sieht.« 3 Mit diesen mythischen Bildern wird der Gegensatz zwischen dem geistigen Reichtum und einer Welt, die geistigen Reichtum nicht aufnehmen will, die nicht einmal fähig ist, ihn zu sehen, beschworen. George setzt dem die Vorstellung einer neuen Welt entgegen, die zu sich selbst kommt und von da an anders lebt. »VON WELCHEN WUNDERN LACHT DIE MORGEN-ERDE Als wär ihr erster tag? Erstauntes singen Von neuerwachten welten trägt der wind Verändert sieht der alten berge form Und wie im kindheit-garten schaukeln blüten.. Der strom besprengt die ufer und es schlang Sein zitternd silber allen staub der jahre Die schöpfung schauert wie im stand der gnade. Kein gänger kommt des weges dessen haupt Nicht eine ungewusste hoheit schmücke. Ein breites licht ist übers land ergossen.. Heil allen die in seinen strahlen gehn!« 4 Das Leben Salins mit George war kein einfaches. George stellte hohe Ansprüche an Salin, und Salin versuchte, sich im Zusammenleben 3 4
Stefan George: Der Stern des Bundes, Erstveröffentlichung 1914. Ebd.
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mit dem Kreis hervorzutun. Dieses Sich-Hervortun hat George keineswegs immer gefallen. George schätzte an Salin, dass er reiche Kenntnisse über die Antike besaß, aber Prunken mit den Inhalten des Schulsacks war eigentlich nicht willkommen. Es kam dann zwischen Georges wichtigstem Jünger dieser Zeit, Friedrich Gundolf, und George zum Bruch. Über dieses Zerwürfnis ist viel gesprochen worden, und es gibt bis zum heutigen Tag einen nicht endenden Streit, ob da nun Gundolf recht gehabt habe oder George. Jedenfalls wurde Salin mit hineingezogen. George hoffte, dass Salin Gundolf davon abhalten könne, bequeme Wege zu gehen. Ein Streitpunkt betraf Gundolfs Berufung nach Berlin. Gundolf fühlte sich in Heidelberg sehr wohl. George hätte gerne gehabt, dass Gundolf in Berlin den Kampf aufnähme – das war in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg – und Gundolf fühlte sich dieser Anforderung nicht wirklich gewachsen. Außerdem ging es um eine Heirat. In anderen Fällen haben Jünger Georges selbstverständlich im entsprechenden Alter geheiratet. In diesem Fall gab es eine Spannung zwischen George und der von Gundolf auserwählten Elisabeth Salomon, die eine Schülerin Salins war. Salin konnte den Bruch nicht verhindern, empfand dies als Versagen und sah sich zurückgesetzt. Dann bemühte er sich, bei George wieder in die Gnade zu kommen. In anderen Fällen, wie bei Robert Boehringer, der vorübergehend ein ähnliches Schicksal gehabt hatte, kam es zu einer Versöhnung, im Fall von Salin aber nicht. In seinen mittleren Heidelberger Jahren diente Salin Eberhard Gothein als Assistent. Gothein ist einer der bedeutendsten Kulturhistoriker Deutschlands gewesen. Sein Buch über die Renaissance in Süditalien gilt als Fortsetzung Jakob Burckhardts. Man kann tatsächlich sagen, dass Gothein eine Verkörperung der Welt Burckhardts war, insoweit er mit derselben Selbstverständlichkeit wie dieser in der goetheschen Welt lebte, und sie in sich fortsetzte, ohne damit kämpferisch nach außen aufzutreten. Er war aber ein sehr tätiger Mann, ein ungemein fähiger Wissenschaftler und Administrator zugleich, dem es gelang, große Monografien zu schreiben, gleichzeitig Rektor einer Universität zu sein und auch noch eine Handelshochschule zu gründen. Salin bewunderte an Gothein dessen Schaffenskraft. Wir haben gesehen, dass Salin ja selbst über eine erhebliche Schaffenskraft verfügte. Aber er distanzierte sich von Gotheins Rückzug in eine kulturelle Welt, die er als schon vergangen ansah und glaubte, dass mit George ein neues Menschentum in nietzscheanischer Mission kommen werde: ein kämpferischer Rückgriff auf die Kultur der Vergangenheit, um sich mit schöpferischer Zerstörung für ein Neues einzusetzen.
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Wer von Gothein spricht, muss seine viel jüngere Frau Marie Luise erwähnen. Beide sind in der Biografie Gotheins von Michael Maurer dargestellt und treten uns lebendig entgegen im Briefwechsel Gotheins mit Marie Luise Gothein.5 Marie Luise Gothein leistete Erhebliches in der Wissenschaft, einerseits interpretierend und als Übersetzerin, andererseits, weil sie einen Klassiker über die Geschichte des Gartenbaus schrieb, den es in bibliophilen Ausgaben auch heute noch gibt. Marie Luise Gothein wurde zur Muse eines Kreises in Heidelberg, in dem junge George-Freunde und namentlich Salin verkehrten. Es gelang Salin in seinem Buch Um Stefan George, umhadert wie kaum eines, das Persönliche dieser Verbindung und das Allgemeine, eine Verwandlung deutscher Kultur durch Georges Dichtung, verbunden darzustellen.6 Umhadert war das Buch trotz dieser Leistung deswegen, weil Salin darin George mit einer rückhaltlosen Begeisterung schildert, die zweifellos von Salin aus gesehen echt war, aber ob man so schreiben soll, das war und ist doch die Frage – ob nicht eine größere wissenschaftliche Distanz angemessen gewesen wäre? Manche im George-Kreis neideten es Salin, dass er sich mit einem so persönlichen Buch über George hervorwagte, obwohl andere George näher gestanden hatten. Da erschien jene Eifersucht, auf die ich schon angespielt habe. Durch Robert Boehringers Buch Mein Bild von Stefan George (1951) wurde der Streit überwunden. Boehringer, der George viel länger und näher kannte als Salin, hat es vermocht, in mustergültiger Weise den Dichter George und den Menschen zugleich darzustellen. Wenn man nun beide Bücher zusammenhält, kann man sagen – und so hat es Boehringer dann auch ausgedrückt –, dass es die Funktion des Buches von Salin ist, vor allem den Heidelberger Kreis zu schildern, weil das die Zeit betraf, in der Boehringer von George entfernt war. Zu den zahlreichen Schriften Salins, die in einem Zusammenhang mit dem George-Kreis stehen (Reden zu Hölderlin, Unveröffentlichtes zu Dante, Übersetzungen aus den niederländischen Gedichten von Georges Freund Albert Verwey gehören dazu), kann ich jetzt leider nicht viel sagen, aber auf eine möchte ich kurz eingehen: es ist die Civitas Dei (1926).7 De Civitate Dei (um 420) war der 5
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Maurer, Michael: Eberhard Gothein (1853–1923). Leben und Werk zwischen Kulturgeschichte und Nationalökonomie, Köln/Weimar/Wien 2007; Maurer, Michael (Hg.): »Im Schaffen genießen.« Der Briefwechsel der Kulturwissenschaftler Eberhard und Marie Luise Gothein (1883–1923), Köln/Weimar/Wien 2006. Salin, Edgar: Um Stefan George, Godesberg 1948 (Niederschrift begonnen ab 1940; die Hg.). Salin, Edgar: Civitas Dei, Tübingen 1926.
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Titel des Hauptwerks von Augustinus, der mit Thomas von Aquin zusammen einer der Hauptlehrer der Kirche war. Wie kam Salin dazu, über ihn zu schreiben? In De Civitate Dei gibt es die Zwei-Reiche-Lehre; es verschränken sich das irdische Reich und das Reich Gottes. Salin hat mit dieser Analogie zu zeigen versucht, wie ein geistiges Reich zu einer irdischen Wirklichkeit wird. So beginnt er mit Jesus und den Jüngern und der Apostelgeschichte, geht dann durch das Urchristentum hindurch und kommt schließlich zur Gründung der katholischen Welt. Die Parallelen zu dem, was vom George-Kreis erhofft wurde, sind unübersehbar. Der Verleger, Paul Siebeck in Tübingen, dachte wohl, das Buch werde, wie einige andere Bücher des George-Kreises, zu einem Bestseller und ließ eine große Auflage herstellen. Es kam leider anders. Das Buch ist heute noch vom Verlag in der Originalausgabe zu haben. Mag die Hauptthese noch so verstiegen wirken, bleibt es doch durch ökonomische Aspekte interessant. Salin erklärt darin beispielsweise sehr schön, wie die Verschiebung des Bildes von der griechischen Wirtschaft des Polis-Bürgers zur römisch-christlichen Welt vor sich geht, in der die Arbeit eine neue Rolle spielt. Die Jünger Christi sind ja Handwerker – Paulus in Korinth webt Teppiche – und dieses neue Verhältnis zur Arbeit, das mit Christus in die Welt und in die Religion tritt, verwandelt die Gesellschaft. Hinterfragt wird auch der Gedanke des Fortschritts. Salin versucht zu zeigen, dass sich nicht nur das Bild der Arbeit, das die Antike hatte, durch das Christentum verändert und dass dies dann von Augustinus auf den Begriff gebracht wird, sondern auch das Bild der Zeit. Die Entwicklung vom irdischen zum himmlischen Reich, die Zielgerichtetheit der Welt auf ein jüngstes Gericht hin, löst das traditionelle griechische Denken in Kreisläufen und einer Wiederkehr des Alten ab. Und von dieser Gerichtetheit komme es, dass die christliche Welt sich immer auf einen Endpunkt hin orientiert. In der Folge interpretiert er den technischen Fortschritt, ja die Entwicklung des Kapitalismus, als eine Säkularisierung dieser christlichen Idee. Inwieweit das richtig ist, darüber kann man natürlich streiten, aber es ist zweifellos eine faszinierende Hypothese.
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III. Wenden wir uns nun Salin als Ökonomen zu. Das erste Büchlein, mit dem er ein größeres Aufsehen erregte, ist seine Geschichte der Volkswirtschaftslehre 8. Hier wandte er sich in einem Übersichtsartikel von etwas mehr als 100 Seiten vor allem gegen die Historische Schule, weil sie – so sah es Salin, und er sah es in Gustav Schmoller verkörpert – das Fortschrittsdenken der Wilhelminischen Zeit vorbereitete. Dem setzte die Generation Max Webers, Salins, George selbst, je in verschiedenen Weisen, eine Fortschrittsskepsis entgegen. Fortschrittsskepsis bedeutete zunächst, dass in der Geschichte der Volkswirtschaftslehre die verschiedenen Strömungen in einem Relativismus, der den Historismus noch steigert, ihr Recht erhalten. Salin hat in der Geschichte der Volkswirtschaftslehre keineswegs als erster, aber mit viel größerer Emphase als andere, der antiken Wirtschaftslehre zu einem eigenständigen Platz in der Abfolge der Doktrinen verholfen. Noch bei Weber gibt es zwar eine Besonderheit des antiken Wirtschaftsdenkens, aber sie besteht vor allem in ethischer Hinsicht. Salin versucht zu zeigen, dass es in der Antike ein kohärentes Denkbild gibt, in das die Wirtschaft sich als Teil des gesellschaftlichen Lebens einfügt. Dieses antike Denken spiegelt sich in Platon und Aristoteles, und Entsprechendes wird dann für das Mittelalter entwickelt. Der Aufruhr, den das Buch stiftete, hatte vor allem damit zu tun, dass Gustav Schmoller hier entthront werden sollte. Es gehört zur Vorstellung der politischen Ökonomie, dass in jeder Phase der geschichtlichen Entwicklung die politische und die gesellschaftliche Welt sich in einer bestimmten Weise verschränken und dass diese Verschränkung am wirtschaftlichen Denken auch wahrgenommen werden kann. Dieses wirtschaftliche Denken wird, so wie George es sich dachte, von bestimmten Menschen ein Stück weit gestaltet. Der Gedanke enthält eine Kritik des Materialismus, weil zu zeigen versucht wird, dass bedeutende Autoren wie Aristoteles für die Entwicklung der Denkbilder Weichen stellen, die dann über Jahrhunderte für andere Folgen haben, wie etwa im Fall von Aristoteles durch seine Zinskritik. Die praktische Anwendung bedeutete, dass Salin versuchte, für die eigene Zeit und die Entwicklung unmittelbar davor, die Wirtschaftspolitik durch Spannung und Gegensatz zur Moderne zu deuten. Für die Antike haben wir das bereits gesehen. Seine Haltung ist für die frühe Neuzeit, den Merkantilismus und den Kameralismus schwieriger zu definieren. Am interessantesten aber ist, dass 8
Von diesem Grundlagenwerk Salins erschienen seit 1923 fünf weitere erweiterte Auflagen.
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Salin versucht, auch eine eigene Deutung des Liberalismus zu geben. Der Liberalismus ist für Salin nicht einfach das freie Spiel der Kräfte, wie man ihn gewöhnlich auffasst, sondern ein freies Spiel der Kräfte unter der Lenkung einer politisch-gesellschaftlichen Welt, die von England dominiert wird. Das macht er am schönsten deutlich, als er der Herausgeber der gesammelten Werke von Friedrich List wird. List repräsentiert jenen Liberalismus des deutschen Südwestens in den Jahren um 1830, der langfristig ein liberales Bild von der richtigen Wirtschaftsentwicklung hat, aber, um dahin zu gelangen, Protektionismus fordert, dazu bewusste Förderung der produktiven Kräfte, also Infrastruktur- und Eisenbahnbau, aber auch die Fortentwicklung des Bildungssystems durch den Staat. Und wenn nun Salin schrieb, das 19. Jahrhundert sei von England geistig beherrscht gewesen, dann meinte er damit, es seien die gesellschaftlichen Traditionen Englands gewesen, die diesen Liberalismus geprägt hätten. Dieser Liberalismus-Begriff hebt sich ab von dem Neoliberalismus nach dem Zweiten Weltkrieg, den wir heute aus den Zeitungen kennen. Im Neoliberalismus wird gedacht, dass das Zusammenspiel der wirtschaftlichen Agenten durch Angebot und Nachfrage, sozusagen rein mechanisch, zu einem Gleichgewicht und zu einer wirtschaftlich gedeihlichen Entwicklung führe, also unter Abstraktion von jenen politischen Kräften. Demgegenüber versucht Salin den Neoliberalen immer wieder zu zeigen, dass bloßes Sich-Verlassen auf die rein abstrakten Kräfte des Marktes nicht genügt, um die Realität zu verstehen. Diese These mutiert bei Salin in verschiedenen Phasen, und man kann von manchem, was Salin in der Zwischenkriegszeit dazu schreibt, durchaus beunruhigt sein. Wir können festhalten, dass Salin vor dem Ersten Weltkrieg als ein Schüler auftritt, der seine wissenschaftliche Arbeit vorwiegend historisch betreibt und das Programmatische, soweit es von George her kommt, noch nicht mit dem Gestaltungsanspruch vorbringt, den er als ein Älterer in etablierten Stellungen erhebt. In der Wirtschaftspolitik um 1930 sieht er das wirtschaftliche System in der Schwebe. Die englische Vorherrschaft ist gebrochen, eine US-amerikanische Vorherrschaft wird vielleicht kommen, aber sie erscheint noch zweifelhaft. Im gegenwärtigen Schwanken der europäischen Mächte zwischen verschiedenen Kräften sollte es sich darum handeln, eine eigene Orientierung zu finden, aber das kapitalistische System funktioniert vor allem nach Automatismen; er sieht es als autonomes wirtschaftliches System und fragt sich, was kontrollierend, lenkend, die Gesellschaft gestaltend an die Stelle dessen treten könnte, was England einmal leistete. Sofort stellt sich die Frage, wie Italien und Benito Mussolini einzuschätzen seien, welche ent-
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sprechenden nationalen Kräfte sich in Deutschland zeigen, und so bewegen sich diese Schriften auf einem schwierigen Pfad. Ich denke nicht, dass Salin in irgendeinem dieser Texte so etwas wie eine eindeutige Anhängerschaft zu einer der nationalen Bewegungen gezeigt hätte (obwohl er zweifellos national fühlte), weil er die Ambivalenz in ihnen sah, aber er geriet doch selbst in eine mehrdeutige Lage. In der Folge vervielfachten sich Salins Interessengebiete. Besonders entsprach ihm das Denken Friedrich Lists. Die Anfänge der Industrialisierung erforderten Schutz vor ausländischer Konkurrenz, ihre Fortsetzung die staatliche Förderung der produktiven Kräfte, insbesondere der Bildungsanstalten. Salin betrieb in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg Entwicklungspolitik. Ein Spezialgebiet wurde die Energiepolitik. Salin sah die Ambivalenz der KernenergiePolitik auch in der Umwelt-Dimension und beschrieb sie; aber am Anfang überwogen die Überlegungen zum Für und Wider der atomaren Bewaffnung im Kalten Krieg. Dann verfolgte ihn das Bild einer verselbstständigten technischen Entwicklung, die sich für ihn durch die Verbindung von Informationstechnologien und Energieentwicklung abzeichnete. Die Verflechtung der Sektoren beunruhigte ihn als Ausdruck einer Autonomie des technischen Prozesses, von dem er keineswegs sicher war, dass er zu einer größeren Freiheit der Menschen führen würde. Furore machte er in der Debatte über den Konzentrationsprozess, die er 1960 im Verein für Sozialpolitik gegen die Neoliberalen führte. Er meinte, ohne wirtschaftliche Konzentration werde sich Deutschland in Europa gar nicht behaupten können, und so ist es ja dann wohl auch gekommen: eine Erhöhung der Konzentration – aber nicht Monopolisierung – wurde zum wirtschaftlichen Gebot der Stunde, und der Ordoliberalismus hatte viel zu reden, aber weniger zu sagen. IV. Die europäische Integration hat Salin von 1945 an intensiv beschäftigt. Auch in diesem Zusammenhang gab es eine Verbindung mit Boehringer. Es lohnt sich vielleicht, darauf hinzuweisen, dass hier eine Kontroverse mit dem bedeutendsten Freund Salins aus dem George-Kreis, neben George selbst, vorausging, nämlich mit dem Dichter Karl Wolfskehl. Wolfskehl war nach Neuseeland ausgewandert, weil er angesichts der Nürnberger Gesetze es auch in Italien nicht mehr aushielt. Er hat sich von dort aus seiner jüdischen Abstammung zugewandt und Gedichte geschrieben, die an das Alte Testament anknüpften und die eine große Steigerung seiner lyrischen Fähigkeiten bedeuteten – Gedichte, die dann auch in Synagogen gelesen wurden. Wolfskehl hat von Neuseeland aus die Vorgänge in
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Deutschland beobachtet und die Mitglieder des George-Kreises, die in Deutschland geblieben waren, scharf kritisiert, auch in Gedichtform. Für Wolfskehl war eine Rückkehr nach Deutschland nach 1945 praktisch unmöglich, es war aber doch eine Frage, ob Salin irgendwie Geld für ihn finden könnte, um ihn nach Deutschland zurückzuholen. Salin und Boehringer haben Wolfskehl, als es auf das Kriegsende zuging und kurz danach, dafür zu gewinnen versucht, sich für einen deutschen Wiederaufbau und für die europäische Einigung und das Sich-Einfügen Deutschlands in ein künftiges Europa einzusetzen. Dies haben Boehringer und Salin nicht nur als ökonomische, sondern vor allem als kulturelle Aufgabe gesehen; es gibt ein berühmtes Europa-Gedicht von Boehringer, das dieses Anliegen sozusagen programmatisch beschreibt. Von daher gesehen ist das praktische Engagement Salins in der Europa-Politik also motiviert durch eine europäische Wendung des georgischen Erbes und den Versuch, dieses georgische Erbe von vornherein als europäisches zu sehen. War nicht der junge George in Paris gewesen, hatte er nicht seine symbolistische Dichtung aus Paris mitgebracht, hatte er nicht seine Freunde in Belgien und den Niederlanden? War nicht George im Wesentlichen ein Europäer, der sich, wie Friedrich Wilhelm Nietzsche, vom nationalistischen Deutschland und seinen imperialen Ambitionen abzusetzen suchte? Dieses kulturelle Europabild also hat Salin und Boehringer bestimmt, und sie haben es sehr bedauert, dass sie mit Wolfskehl nicht zu einer Verständigung über diese Frage kamen, da Wolfskehl sich dem Judentum zuwandte und allem Deutschen während des Krieges und auch noch in der unmittelbaren Nachkriegszeit skeptisch gegenüberstand. Hätte Wolfskehl länger gelebt, hätte sich dieser Konflikt vielleicht gelegt. Salin aber bewährte sich von den ersten Nachkriegsjahren bis zum Ende seines Lebens als überzeugter Europäer, primär als Wirtschaftspolitiker agierend, aber unter wiederholtem Rückgriff auf die kulturelle Tradition, gelegentlich Nietzsche als Zeugen eines Europatums zitierend. Zu seinen Leistungen gehört, dass er früh eine Währungsunion zur Beschleunigung der Integration empfahl. Ich habe es bisher versäumt, die äußere Karriere darzustellen, da dies besser im Zusammenhang geschieht. Salin erhielt nach Promotion und Habilitation in Heidelberg einen Professorentitel, war dann kurz in Kiel und lehrte als Nachfolger Julius Landmanns als Ordinarius in Basel von 1927 an. Versuchungen, nach Deutschland zu gehen, gab es schon vor 1933; er hat diese abgelehnt, wie er mir und auch anderen sagte, in Ahnung der politischen Schwierigkeiten, die kommen mochten. Insofern und insoweit dieses richtig ist, wä-
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re er dann eigentlich auch als ein politischer Emigrant anzusehen, der – wie Wolfskehl – vor 1933 die Koffer packte. 1962 war seine offizielle Emeritierung; er hat aber weit darüber hinaus noch Lehrveranstaltungen abgehalten. Neben der List Gesellschaft, für die ich ja für ihn tätig war, hat er in Basel bis zuletzt, und solange es sein Gesundheitszustand zuließ, auch Kolloquien organisiert, mit berühmten, internationalen Rednern. In allem erschien er tätig, gestaltend, bereit, geistige Verantwortung zu übernehmen. Ein Leben für die antiquarische Geschichte, nur in ästhetisch-genießender Weiterführung der Tradition lehnte er ab. Burckhardt schien ihm eine solche Haltung zu vertreten, ebenso Gothein; ihnen stellte er die Umwertung der Werte Nietzsches gegenüber. Die Spannung zwischen beiden Haltungen war im George-Kreis angelegt. Salin hat sie thematisiert, indem er zwischen den Kriegen ein Buch über das Gespräch zwischen Jakob Burckhardt und Nietzsche in Basel schrieb. Darin wird seine Sympathie für Nietzsche deutlich, was ihn aber innerhalb der Schweiz in Schwierigkeiten brachte, wo man die politische Form des Nietzscheanismus im aufsteigenden Nationalsozialismus vermutete und jedenfalls an Burckhardt hing. Salin erkämpfte sich vielfach Zustimmung, fürchtete sich aber wenig, auch Ablehnung zu erfahren. Bekannt ist die Festschrift ANTIΔΩPON mit vielen bekannten Schriften darin, die Salin gratulieren und seine Ausstrahlung und Vielseitigkeit belegen.9 Berühmte Ökonomen wie John Richard Hicks, der Nobelpreisträger, Jacques Rueff, Raymond Aron, der große Soziologe, Marion Gräfin Dönhoff, die wunderbar schreibt, wie sie bei Salin promovierte, und Georg Ostrogorski, der ein Byzantinist wurde, sind vertreten, auch Luigi Einaudi, der italienische Staatspräsident. Ein Symposion, organisiert nach seinem Ableben, ist für die, die sich näher auf Salin einlassen wollen, auch deswegen hübsch, weil allerhand Anekdoten berichtet werden. Danach wurde es stiller um seinen Namen. V. Nun komme ich zum zweiten Teil meines Vortrags, der zwangsläufig kürzer werden muss – der Kapitalismusvorstellung. Salin stützt sich auf Karl Marx, Werner Sombart und Max Weber. Die Einflüsse folgten nicht so aufeinander, wie im vereinfachten dogmenhistorischen Schema. Nach diesem reagierte die Historische Schule um Gustav Schmoller auf Marx, dann siegte die Neoklassik und schließlich etablierte sich die Soziologie als Universitätsfach. Salin erlebte es teilweise anders. Der dritte Band von Marx’ Das Kapital mit der 9
ANTIΔΩPON. Edgar Salin zum 70. Geburtstag, Tübingen 1962.
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abschließenden Schilderung des Kapitalismus durch Einbezug des Finanzsystems erschien ungefähr gleichzeitig mit Eugen von BöhmBawerks neoklassischer Theorie der Verteilung, während die Begründung der neoklassischen Theorie der Konsumnachfrage durch Carl Menger schon weit zurücklag.10 In dieser Phase gehörte Schmoller zur älteren Generation; Sombart und Weber waren jung, und als da noch Salin erschien, stand der Kampf der Schulen unentschieden. Indem die Forschung sich nun auf religiöse und kulturelle Einflüsse auf die Wirtschaftsentwicklung richtete, wollte sie Marx und den Materialismus zumindest um die Betrachtung spontaner Veränderungen der menschlichen Haltung zur Wirtschaft ergänzen; so wollte sie die Historische Schule sozusagen verfeinern. Werner Sombart schrieb an den verschiedenen Fassungen seines Werkes Der Moderne Kapitalismus. In diesem wird gefragt, da doch kapitalistische Erscheinungen vorzugsweise in Italien im Hochmittelalter, also beeinflusst vom Katholizismus, früh zu sehen sind, was den modernen Kapitalismus mit seiner Industrialisierung demgegenüber auszeichnet. Max Weber antwortet darauf mit seiner protestantischen Ethik. Sombart versuchte, die geistige Verschiebung, die der Modernisierung des Kapitalismus vorausgeht, mit der Ausbreitung des Judentums nach der Vertreibung aus Spanien in Verbindung zu bringen. Weber prüfte auch die andere Seite. Er wollte in seiner Wirtschaftsethik der Weltreligionen zeigen, dass die Ethiken überall sonst, in den anderen Hochkulturen, einer kapitalistischen Entwicklung feindlich blieben. Der Gedanke, den modernen Kapitalismus von der allgemeinen kapitalistischen Entwicklung abzutrennen, ist schon von Amintore Fanfani, dem berühmten italienischen Politiker, der ursprünglich Wirtschaftshistoriker war, bestritten worden. Fanfani meinte, dass der Kapitalismus eigentlich aus der italienischen Scholastik hervorgegangen und in den oberitalienischen Städten groß geworden sei; neu sei dann nur die Industrialisierung gewesen. Jene gegenwärtige Schule, die California School, auf die ich am Anfang anspielte, sagt nun heute, dass die Welt um 1700 in den zentralen Gebieten in China, im Süden Japans, um Osaka, in Indien (etwa im heutigen Bangladesch) überall ungefähr den gleichen Stand der wirtschaftlichen Ent wicklung gehabt hätte. Dass die industrielle Revolution dann in England stattfand, von einem ähnlichen Niveau der wirtschaftlichen Entwicklungen ausgehend, sei eigentlich solchen Zufällen wie dem Reichtum 10 Eugen von Böhm-Bawerks (1851–1914) Darstellung Kapital und Kapitalzins (Wien 1884) gehört zu den Grundlagenwerken der Österreichischen Schule der Nationalökonomie, der auch Carl Menger (1840–1921) zugerechnet wird.
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an Kohle und Eisen in England geschuldet und nicht Ausdruck tief verwurzelter, unterschiedlicher Kulturentwicklungen und Ethiken. Richard Goldstone hat für die Gruppe der Wirtschaftshistoriker, die diese These vertreten, den Begriff der California School geprägt. Nun ist die Frage, ob, wie die Theoretiker Marx, Sombart und Weber glaubten, die kapitalistische Entwicklung in der ganzen abendländischen Geschichte angelegt ist, sodass tatsächlich nur da die industrielle Revolution entstehen konnte, oder ob der Kapitalismus etwas Allgemeineres, in allen Hochkulturen schon Angelegtes ist. Marx unterscheidet dazu einen handwerklichen von einem industriellen Kapitalismus. Der industrielle Kapitalismus ist dadurch ausgezeichnet, dass im Produktionsprozess der Arbeitsprozess anders gestaltet wird und die Arbeiter nicht nur formell unter der Leitung eines Kapitalisten arbeiten, sondern auch nach dem Rhythmus der Maschine, der sie einer harten Disziplin unterwirft. Das Besondere ist also eine Organisation der Produktion durch Lohnarbeiter, die auf die Entlohnung durch den Kapitalisten angewiesen sind, und diese charakteristische Einbindung der Arbeiter durch das Lohnverhältnis (nicht Sklaverei, nicht Leibeigenschaft, aber auch nicht freiwillige Kooperation) geht der Industrialisierung voraus; diese akzentuiert nur das Verhältnis. Sombart nahm dieselbe Produktionsform an und suchte das Besondere des modernen Kapitalismus in der Haltung des Unternehmers, der das Kapital zu solcher Produktion vorzuschießen wagt. Marx hatte schon erklärt, wo die Arbeiter herkamen. Sombart fragte nach dem Ursprung des Unternehmers. Er meinte entdeckt zu haben, dass sich ein neues unternehmerisches Denken und eine neue unternehmerische Aktivität durch die Händlertätigkeit der Juden verbreiteten, als sie aus Spanien vertrieben wurden. Sein Werk Die Juden und das Wirtschaftsleben (1911) ist außerordentlich schwierig zu beurteilen. Diese Schrift hat dazu geführt, dass Sombart von der American Jewish Historical Society zum Ehrenmitglied ernannt wurde. Sie hatte aber das Charakteristikum, dass sie Stereotypen über jüdisches Wirtschaftsleben als etwas Positives darstellte. Franz Oppenheimer meinte zu Recht, das heiße, dem Antisemitismus indirekt doch in die Arme zu arbeiten, denn die von Sombart positiv verwendeten Klischees über das Judentum könnten auch negative Anwendung finden, was dann in der Tat geschah. Sombart hat dann in seinem späteren Buch Deutscher Sozialismus (1934) eindeutig auch selbst Antisemitisches vorgebracht und ist insofern eine äußerst problematische Figur in der deutschen Wissenschaft gewesen. Nichtsdestoweniger hat er für den Begriff des Unternehmertums eine wichtige Frage gestellt.
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Woher kommt es, dass man im frühen Unternehmer einen Abenteurer sah? Sombart vergleicht ihn mit dem »Condottiere« und behauptet, dass er sich erst später zum Manager entwickelte, dass also die kapitalistische Tätigkeit erst später regelmäßig wurde. Weber hat diese Verwandlung auf die protestantische Ethik zurückgeführt, indem er meinte, die protestantische Ethik habe eine Haltung zum Wirtschaftlichen verbreitet, die in einer innerweltlichen Askese bestand. Man enthält sich üppigen Konsums, will aber nach außen erfolgreich sein, weil nach dem Calvinismus sich die Erwählung der Person als gottgefällig schon in ihrem irdischen Leben und in ihrem irdischen Habitus zeigt. Und so ist es nach Weber, um eine komplizierte Geschichte kurz zu machen, eine freiwillige Entscheidung des religiösen Calvinisten, sich einer solchen Disziplin zu unterwerfen, während im modernen Beruf die Selbstdisziplin zum Zwang wird. Weber hat also versucht, kapitalistische Elemente schon in früheren Formen darzustellen, aber auch zu zeigen, dass eine strenge kapitalistische Haltung überhaupt erst entstehen kann, wenn Haushalt und Betrieb getrennt voneinander sind, da im Betrieb die Gewinnmaximierung konsequent verfolgt wird, im Haushalt man sich aber nach dem guten Leben orientiert; die Trennung ermögliche das strenge Berufsleben, und die Vorbilder dazu entstammten dem Calvinismus. Auch wenn nun in der frühen Neuzeit sich diese Trennung, welche die Antike und das Mittelalter noch nicht kennen, herausbildet und damit die Grundlage für eine kapitalistische Entwicklung in größerem Ausmaß gelegt wird, bleibt es zuerst bei einem Abenteuerkapitalismus, und erst der Puritanismus führt dazu, dass diese Haltung zu einer professionellen wird, die dann Weber mit einem »stählernen Gehäuse« vergleicht. Um zu zeigen, dass diese Haltung sich früher nicht entwickeln konnte, erarbeitet Weber sozusagen Falsifikationen der gegenteiligen Annahme. Warum konnte es den rationalen Kapitalismus in der Antike nicht geben? Weil ein allein auf Sklaverei beruhender Kapitalismus nicht funktionieren kann. Die Rationalität des Kapitalismus bedarf weiterer Institutionen. Damit der Arbeitsaufwand berechenbar wird, bedarf es der Lohnarbeit, die Sklaverei aber ist mit vielen Risiken verbunden: Sklavenpreise schwanken, Sklaven arbeiten unregelmäßig. Also ist die Schlussfolgerung Webers, dass es in der Antike nur einen politisch gebändigten Kapitalismus geben konnte, obwohl kapitalistische Elemente in vielen vorkapitalistischen Formationen existierten. So kehren wir zur Frage zurück, wie wir uns zu der Entfaltung des Kapitalismus in seiner spezifischen Form in der westlichen Welt stellen, wenn wir der großen historischen Perspektive von Marx, Sombart und Weber folgen. Wie verschieden sind die Kapitalismen im weltweiten Vergleich?
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Dazu gibt es viel Forschung, doch zieht sie nur selten die Meinungen der Zeitgenossen in Betracht. Ich selbst kann dazu einbringen, dass ich mancherlei Studien über das Wirtschaftsdenken in vorkapitalistischer Zeit unternommen habe, wie etwa über Kaspar Klock, einen bedeutenden Kameralisten, der während der Zeit des Dreißigjährigen Krieges schrieb. In seinem Hauptwerk Tractatus de aerario – einem Riesenband – unternahm er etwas, das dem gleicht, was Salin dann in Anknüpfung an die Vorbilder, von denen wir gesprochen haben, versucht.11 Klock will im Vergleich aller Länder der Welt, mit ihren bestimmten Staatsformen und ihrem Staatsdenken, dem Volkscharakter, ihrem Rechtssystem, den gesellschaftlichen Bedingungen und den Einkünften, verstehen, wie sich jeweils eine Einheit bildet. Und genau das versuchte Salins Freund Arthur Spiethoff mit dem Begriff des »Wirtschaftsstils« zu fassen. Er sagte, es gebe überall eine Einheit der Wirtschaft einer Nation in einer Epoche, die durch einen »Wirtschaftsgeist« gestiftet werde. Was Wirtschaftsgeist heißt, lernt man vor allem von Sombart oder Weber. Daneben gibt es als Merkmale von Spiethoffs Wirtschaftsstilen natürliche und technische Bedingungen, eine Wirtschaftsverfassung, die mehr oder weniger liberal ist, eine Gesellschaftsverfassung und schließlich eine bestimmte wirtschaftliche Dynamik. Klock brachte es (in Spiethoffs Terminologie) mit der unbekümmerten Kraft und Sammellust des Barock-Menschen fertig, tatsächlich die Länder der ganzen Welt, vom alten Rom über das Heilige Römische Reich, Frankreich, Spanien mit den Kolonien, die Osmanen, China, Japan und selbst die afrikanischen Länder bis zum Königreich Kongo zu vergleichen. Er sah die Entwicklungsunterschiede und bewunderte vor allen anderen die fortgeschrittenen Niederlande mit ihren Aktiengesellschaften und der Börse. Nicht die von der California School gesehene Ähnlichkeit der Entwicklung im 17. Jahrhundert hebt Klock hervor, sondern ihre Mannigfaltigkeit. Klock verkörpert für mich, was bei Salin herauskommen sollte, wenn er eine »anschauliche Theorie« verfolgte. Den Begriff der Anschauung gewann Salin bei Goethe und Gundolf. Er stellte einer »anschaulichen« Theorie, die schildert, wie sich die Wirtschaft organisch entwickelt, eine »rationale« Theorie gegenüber. Zumindest Elemente anschaulicher Theorie fand Salin bei Adam Smith, bei Marx, bei John Maynard Keynes, nicht aber bei den sogenannten reinen Ökonomen, die eine abstrakte Theorie formulieren, wie man sie heute kennt. Für die anschauliche Theorie ist dann etwa die Beschrei11 Kaspar Klock (1583–1655) veröffentlicht den »Tractatus de aerario…« 1651 in Nürnberg.
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bung vom Übergang von Feudalismus zum Kapitalismus bei Smith charakteristisch. Salin versuchte, mit solchen Kategorien Phasen einer weltwirtschaftlichen Entwicklung zu beschreiben, so wie ich das im Rahmen des Biografischen darstellte und berichtete – wie Salin den Unterschied zwischen dem alten Liberalismus des 19. Jahrhunderts und dem Liberalismus, den wir heute kennen, durch Heraushebung der Rolle Englands beschrieb, wie er zeigte, welche staatlichen Einflüsse bestehen blieben und wie die rationale Theorie (das, worauf der Neoliberalismus sich gerne stützt) als Erklärungsmoment nicht genügt, weil selbst hier Kultur, ja die Religion mit hereinspielen. Das wird von Salin auch an Gegenbildern wie dem der griechischen Wirtschaft dargestellt, weniger durch Wirtschaftsethnologie und den Vergleich mit anderen Hochkulturen. Aber gerade das leistete bereits Klock mit den Mitteln seines Jahrhunderts. Salin selbst hat eine Synthese für zu schwierig gehalten; sie wird durch Anwachsen unseres Wissens gewiss nicht leichter. Aber man kann, sozusagen als Kompensation, an Beispielen, wie dem des Arabers Ibn Khaldun (14. Jahrhundert), ein anderes Wirtschaftsdenken darstellen, ebenso anhand Chinas, wo es hochinteressante Wirtschaftstexte oder, besser gesagt, historische Texte mit einem wirtschaftlichen Inhalt gibt, und zwar schon zu Zeiten der Han-Dynastie vor 2000 Jahren. In Japan wird die Spannung zwischen der Entwicklung aus dem alten System heraus und sich abzeichnenden kapitalistischen Entwicklungen vielleicht am deutlichsten. Insofern kommt man einer Bestätigung der These der California School dort wohl am ehesten nahe. Aber ich meine, wenn ich zuletzt aus der Betrachtung unserer Autoren eine Schlussfolgerung ziehe, dass die California School letzten Endes doch unrecht gehabt hat. Die abendländische Entwicklung hat eine Sonderstellung, wie das auch ein Japaner, der wichtigste ökonomische Autor der Meiji-Periode, Fukuzawa (1835– 1901), der auf allen japanischen Banknoten abgebildet ist, gesagt hat: Wenn man den Konfuzianismus des Orients mit der Zivilisation des Okzidents vergleiche, dann sähe man, dass der Orient die Naturwissenschaft und den Gedanken geistiger Unabhängigkeit nicht entwickelte und dass deswegen Japan nicht nur das Land öffnen müsse, sondern es sogar unumgänglich sei, sich dem westlichen Denken anzuschließen und einen Bruch mit der Vergangenheit hinzunehmen. Von daher gesehen stellt sich die Frage, welche Haltung wir zu diesen Vergangenheiten einnehmen. Von Salin kann man lernen, die vergangenen Kulturen nicht einfach als Hindernisse des Fortschritts anzusehen, sondern sie als etwas in sich Wertvolles wahrzunehmen. Weber entwickelte eine tragische Weltsicht: diese Kulturen schienen ihm zum Untergang verdammt. Die California School leugnet
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im Grunde ihre historische Relevanz: Überall bot sich grundsätzlich die Chance, zur Moderne aufzusteigen, die positiv bewertet wird und überall siegen soll. Ich glaube, dass die kulturellen Differenzen nichtsdestoweniger noch lange nachwirken werden; die Frage ist, wie sie sich weiter schöpferisch und friedlich entwickeln können. Wie stand Salin, angesichts dieser in sich konfliktreichen Sicht der gesamten weltgeschichtlichen Entwicklung, als Person da? Er war ein Mensch, der Konflikte erkannte, der versuchte, in ihrem Rahmen gestalterische Möglichkeiten aufzudecken – zum Hübschesten gehört vielleicht die Art und Weise, wie er in der Basel-Städtischen Umgebung versuchte, sich in eine demokratische Entwicklung einzufügen und diese demokratische Entwicklung für ihn unversehens und überraschend sozusagen die Staatlichkeit Georges repräsentierte. Aber es war nicht eine optimistische Welthaltung, sondern eine im Grunde skeptische, die dadurch für ihn erträglich wurde, dass er Kompromisse zuließ, er gab aber auch seinen Eitelkeiten nach und ertrug es dann wieder, wenn man ein wenig spöttisch mit ihm umzugehen sich erlaubte. Schließlich verstand er es als Lehrer, und das ist das Wichtigste, was ich abschließend zu sagen habe, eine ganz außerordentliche Ausstrahlung zu entfalten, indem er nicht nur sein Wissen, sondern auch seine Haltung vielen vermittelte.
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Z W I S C H E N H U M A N I S M U S U N D NAT I O NA L I S M U S . D I E R E Z E P T I O N VÖ L K I S C H - NAT I O NA L E N D E N K E N S I M D E U T S C H S P R AC H I G E N Z I O N I S M U S Stefan Vog t Auch wenn Edgar Salin ein reges Interesse für den 1948 neu gegründeten israelischen Staat entwickelte, kann er doch kaum als Zionist gelten. Der Hintergrund war offenbar nicht so sehr eine Identifikation mit dem jüdischen Nationalismus als die Tatsache, dass sich in Israel ein Betätigungsfeld für seine wirtschaftspolitischen und planerischen Theorien eröffnete. Auch in der Weimarer Zeit hatte Salin keine direkten Kontakte zum Zionismus.1 Dennoch stellte der Zionismus einen intellektuellen Kontext für das Wirken Salins dar. Die zionistische Bewegung umfasste zwar nur eine Minderheit der deutschen Jüdinnen und Juden, hatte sich aber seit dem Ersten Weltkrieg als feste Größe innerhalb der deutschen und insbesondere der deutsch-jüdischen intellektuellen Debatten etabliert.2 Darüber hinaus bildete der George-Kreis, dem Salin zugehörte, ein Verbindungsglied, da nicht nur einzelne Mitglieder des Kreises, insbesondere Karl Wolfskehl, dem Zionismus zuneigten, sondern da das Denken Stefan Georges auch in Teilen der zionistischen Bewegung auf Sympathie stieß.3 Vor allem aber partizipierten sowohl der George-Kreis als auch der Zionismus an einem breiten Diskursfeld, in dem die bürgerliche Moderne von Rechts infrage gestellt wurde. Ein besonders bedeutsames Element dieses Diskursfeldes war der völkische Nationalismus, der sich im 19. Jahrhundert herausgebildet hatte und in der Weimarer Republik unter anderem in Gestalt der »Konservativen Revolution« auftrat.4 Der vorliegende Beitrag kon1 2 3
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Vgl. Schönhärl, Korinna: Wissen und Visionen. Theorie und Politik der Ökonomen im Stefan George-Kreis, Berlin 2009, S. 114. Die beste Darstellung der Geschichte des deutschen Zionismus ist Lavsky, Hagit: Before Catastrophe. The Distinctive Path of German Zionism, Detroit 1996. Die gilt v.a. für Teile der zionistischen Jugendbewegung. Vgl. dazu Trefz, Bernhard: Jugendbewegung und Juden in Deutschland. Eine historische Untersuchung mit besonderer Berücksichtigung des deutsch-jüdischen Wanderbundes »Kameraden«, Frankfurt a.M. 1999; Schatzker, Chaim: Jewish Youth in Germany between Judaism and Germanism. The Path of Jewish Youth from Judaism to Germanism and the Return to Judaism, Zionism and Halutziut. Jerusalem 1998 (Hebräisch); Hackeschmidt, Jörg: Von Kurt Blumenfeld zu Norbert Elias. Die Erfindung einer jüdischen Nation, Hamburg 1997. Zu Wolfskehl vgl. Voit, Friedrich: Karl Wolfskehl. Leben und Werk im Exil, Göttingen 2005, insbes. S. 13–77. Einen guten Überblick über die verschiedenen Strömungen der Konservativen Revolution bieten Breuer, Stefan: Anatomie der Konservativen Revolution, Darmstadt 1993, sowie Sontheimer, Kurt: Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik. Die politischen Ideen des deutschen Nationalismus zwischen 1918 und 1933, München 1962.
Kapitel IV
zentriert sich auf diesen Strang sowie auf den deutschen Zionismus, um einen Teil des intellektuellen Feldes zu rekonstruieren, in dem auch Salin agierte. Der Zionismus und der völkische Nationalismus scheinen zunächst recht weit auseinander zu liegen, war der Zionismus doch nicht zuletzt eine Reaktion auf den Antisemitismus, der in weiten Teilen des völkischen Denkens eine tragende Säule der Weltanschauung war. Dennoch wurde der völkische Nationalismus im Zionismus intensiv rezipiert und diskutiert. Das Grundmotiv dieser Auseinandersetzung lässt sich anhand zweier Zitate von Martin Buber veranschaulichen, des wohl einflussreichsten deutschsprachigen zionistischen Denkers im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts.5 Im Jahr 1909 hielt Buber die erste seiner Drei Reden über das Judentum. In dieser Rede, die Bubers Einfluss vor allem auf die jüngere Generation der deutschsprachigen Zionisten begründete, führte er aus, was für ihn die Nation bedeutete, nämlich »die Entdeckung des Blutes als der wurzelhaften, nährenden Macht im Einzelnen, die Entdeckung, dass die tiefsten Schichten unseres Wesens vom Blute bestimmt, dass unser Gedanke und unser Wille zu innerst von ihm gefärbt ist«.6 Gut 20 Jahre später, in einem Vortrag aus dem Jahr 1931, klang dies ganz anders. Hier erklärte Buber, dass das Bekenntnis zum Judentum die Gegnerschaft zum Nationalismus der Gegenwart begründe. Dieses Bekenntnis »gibt uns die Möglichkeit, das Recht, gebietet, uns gegen diesen Nationalismus der Gegenwart und alle diese Ausgeburten, die er mit sich gebracht hat, zu erheben, vom Judentum aus«.7 Es gibt eine ganze Reihe solcher kritischer Aussagen deutscher Zionisten über den Nationalismus, die sowohl gegen den europäischen und insbesondere den deutschen Nationalismus gerichtet sind als auch gegen bestimmte Tendenzen innerhalb des Zionismus. Umgekehrt findet sich das völkische Nationskonzept auch in Artikeln und Vorträgen vieler anderer Zionisten. Robert Weltsch zum Beispiel, der Redakteur der Jüdischen Rundschau, des offiziellen Organs der Zionistischen Vereinigung für Deutschland, schrieb im Dezember 1931, dass der Zionismus die »Entdeckung des Blutes als der tiefsten, beherrschenden Schicht unseres Seins« bedeutet habe. Im selben Artikel postulierte er dann aber auch »die Notwendigkeit, un5
6 7
Aus der reichhaltigen Literatur zu Buber vgl. z.B. Mendes-Flohr, Paul: From Mysticism to Dialogue. Martin Buber’s Transformation of German Social Thought, Detroit 1989; Silberstein, Laurence J.: Martin Buber’s Social and Political Thought. Alienation and the Quest for Meaning, New York 1989. Buber, Martin: »Das Judentum und die Juden«, in: Der Jude und sein Judentum. Gesammelte Aufsätze und Reden, Köln 1963, S. 13. Buber, Martin: »Das Judentum und die politischen Triebkräfte der Gegenwart«, Vortrag am 25.1.1931, in: JNUL Jerusalem, Ms. Var. 350/05/18.
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seren Nationalismus in einem neuen und reineren Sinn unter die Idee der Humanität zu stellen«.8 Ein beträchtlicher Teil dieses Artikels widmete sich dem neuen deutschen Nationalismus, wie er von bündischen und völkischen Gruppierungen, von Autoren der Konservativen Revolution und nicht zuletzt vom Nationalsozialismus vertreten wurde. Weltsch betonte dabei, dass es nicht nur notwendig sei, sich mit diesem neuen Nationalismus auseinanderzusetzen. Vielmehr müsse man auch anerkennen, dass er aus »ähnlichen Wurzeln« entstanden sei wie der Zionismus.9 Tatsächlich teilten Zionisten und Vertreter des neuen Nationalismus in Deutschland nicht nur einige ideologische Bezugsquellen, sondern auch manche Interpretationen der gesellschaftlichen und kulturellen Verhältnisse ihrer Gegenwart, einschließlich bestimmter Ansichten über das Verhältnis von Juden und Nichtjuden. Dennoch wäre es falsch, den Zionismus sozusagen als jüdische Variante dieses neuen Nationalismus zu verstehen. Dem widerspricht die tiefe Ambivalenz, welche die Stellungnahmen der deutschen Zionisten zum Nationalismus durchzog. Deutsche Nationalisten und deutsche Zionisten kamen teilweise zu ähnlichen Vorstellungen über die Nation, über die Gesellschaft und über die Rolle der Juden, sie entwickelten diese Vorstellungen aber aus völlig unterschiedlichen Positionen und daher auch mit sehr unterschiedlichen Intentionen und Implikationen. Die deutschen Zionisten machten nie einen Hehl daraus, dass sie sich in ihren Vorstellungen von der jüdischen Nation positiv auf Denker des deutschen Nationalismus bezogen. Immer wieder wurde betont, wie wichtig für sie insbesondere Johann Gottlieb Fichte war. Parallelen wurden gezogen zwischen der Situation der deutschen Nationalbewegung zur Zeit der anti-napoleonischen Befreiungskriege und der Situation der Juden 100 Jahre später.10 Weltsch forderte, dass sich die Juden das deutsche Volk zum Vorbild nehmen und jeder Zionist »ein kleiner Fichte« werden sollte, der sein Volk zum Nationalbewusstsein erzieht.11 Dieser Erziehungsgedanke war das eine zentrale Element, das die Zionisten dem Nationalismus Fichtes entnahmen, das andere war die Vorstellung vom Volk als einer orga8
Weltsch, Robert: »In der Zeit der Bedrängnis«, in: Jüdische Rundschau, Nr. 94, 4.12.1931, S. 551. Zu Weltsch und seiner zwiespältigen Haltung zum völkischen Nationalismus vgl. Vogt, Stefan: »Robert Weltsch and the Paradoxes of AntiNationalist Nationalism«, in: Jewish Social Studies 16 (2010), S. 85–115. 9 R. Weltsch: »In der Zeit der Bedrängnis«, S. 551. 10 Vgl. z.B. Weltsch, Robert: »Zum Fichte-Jubiläum«, in: Die Welt, Nr. 23, 7.6.1912, S. 690–691. 11 Weltsch, Robert: »1813«, in: Jüdische Rundschau, Nr. 12, 21.3.1913, S. 114. Vgl. dazu Voigts, Manfred: Wir sollen alle kleine Fichtes werden! Johann Gottlieb Fichte als Prophet der Kultur-Zionisten, Berlin 2003.
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nischen Einheit, das gegen den Individualismus und Kosmopolitismus der Aufklärung neu konstituiert werden müsse. Unter dem Einfluss der neoromantischen und lebensphilosophischen Vorstellungen des ausgehenden 19. Jahrhunderts wurde dieser Volksbegriff von den Zionisten weiter essenzialisiert. Dabei griff man wiederum auf Autoren zurück, die auch für den deutschen völkischen Nationalismus dieser Zeit prägend waren. Die Rezeption Friedrich Wilhelm Nietzsches fand im Zionismus genauso intensiv und genauso selektiv statt wie im Diskurs des deutschen Nationalismus, wobei er in beiden Fällen vor allem als Kritiker des Rationalismus und als Prophet der Lebensphilosophie wahrgenommen wurde.12 Doch selbst explizit völkische Denker wie der Kulturphilosoph und Orientalist Paul de Lagarde fanden Eingang in den zionistischen Kanon.13 Die Ähnlichkeiten zwischen dem zionistischen Diskurs und demjenigen des völkischen Nationalismus sind in der Tat so frappierend, dass der Historiker George Lachmann Mosse davon sprechen konnte, dass Buber »dieselbe Rolle im jüdischen Kontext des finde-siècle spielte wie Paul de Lagarde im deutschen Kontext«.14 Im Einklang mit dem völkischen Denken wandten sich die Zionisten nicht, wie Mosse noch annahm, gegen die Moderne an sich, sondern gegen eine bestimmte, von Rationalismus, Materialismus und Liberalismus geprägte Moderne, deren jüdischer Ausdruck die Assimilation war. An die Stelle dieser »Ideen des 19. Jahrhunderts« sollten die Intuition, die Mystik und das unmittelbare Leben treten. Der Zionismus sollte der Entwurzelung des Einzelnen durch diese Moderne entgegentreten und zur Neu-Verwurzelung in einem mystischen, organischen und über-gesellschaftlichen Volk führen. Wie auch im deutschen völkischen Diskurs war der zionistische Begriff des Volkes nicht präzise definiert. Vielmehr handelte es sich um ein Amalgam aus kulturalistischen und biologistischen Zusammengehörigkeitsvorstellungen. Das Volk wurde in einer wechselnden Schwerpunktsetzung durch die gemeinsame Sprache, das Schicksal, die Erinnerung und Mythen einerseits definiert, andererseits durch das 12 Zur Nietzsche-Rezeption im Zionismus vgl. Golomb, Jacob: Nietzsche and Zion, Ithaka 2004; Ellerin, Bruce E.: Nietzsche among the Zionists, Dissertation, Cornell University 1990. 13 Vgl. z.B. Goldmann, Nachum: Von der weltkulturellen Bedeutung und Aufgabe des Judentums, München 1916, S. 50; Blumenfeld, Kurt: »Wie gestalten wir unseren Zionismus wesenhafter?«, in: Der jüdische Student, 12. Kriegsheft, 27.11.1916, S. 329; ders., »Der Zionismus, eine Frage der deutschen Orientpolitik«, in: Preußische Jahrbücher, Bd. 161, 1915, S. 26 und S. 31; Strauß, Leo: »Paul de Lagarde«, in: Der Jude, Monatsschrift 8, 1924, S. 8–15. 14 Mosse, George L.: Germans and Jews. The Right, the Left, and the Search for a »Third Force« in Pre-Nazi Germany, London 1971, S. 85.
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einheitliche Blut. Bubers Rede vom Blut ist also nicht nur als eine Metapher zu verstehen. Neben einer historischen Schicksalsgemeinschaft stellte das Judentum demnach auch eine biologische Blutsgemeinschaft dar, eine Rasse. Für die meisten Zionisten war es, wie der Soziologe Arthur Ruppin schrieb, »selbstverständlich, daß die Verschiedenheit der Rasse auch eine Verschiedenheit im Empfinden, Denken und Wollen mit sich bringt«.15 Tatsächlich handelte es sich hier nicht nur um Ähnlichkeiten, sondern um ein »gemeinsames kulturelles Phänomen« (Mosse), zu dem sowohl Juden als auch Nichtjuden beitrugen. Der Diskurs des deutschen Zionismus entwickelte sich nicht neben, sondern als Teil des deutschen Diskurses über die Nation. Umso bemerkenswerter ist es, dass bei aller Übereinstimmung dennoch markante Unterschiede zwischen dem deutschen völkischen und dem zionistischen Denken bestanden. Im Gegensatz zu den meisten Völkischen folgte für die Zionisten aus der Annahme, dass die Menschheit in verschiedene Rassen aufgeteilt sei, nicht, dass die eigene Rasse höherwertig oder zur Herrschaft über andere Rassen auserwählt sei. Auch die Vorstellung eines Machtkampfes zwischen den Rassen war dem zionistischen Diskurs fremd. Generell waren die zionistischen Überlegungen zu Volk, Nation und Rasse sehr viel stärker nach innen gerichtet als diejenigen der deutschen Nationalisten. Man befasste sich vorwiegend mit den eigenen Defiziten und konzipierte die nationale Regeneration nicht in imperialistischen, sondern in geistigkulturellen Kategorien. Immer wieder wurde betont, dass sich die jüdische Nation als Glied der höheren Einheit der Menschheit verstehe, der jüdische Nationalismus also ein Schritt auf dem Weg zum universellen Humanismus sein müsse. »Nie«, so Buber, »darf uns das Nationale sein Ende in sich selber finden.«16 Bereits während des Kaiserreiches begann die direkte Auseinandersetzung mit Autoren aus dem völkischen Lager. So kam es in den Jahren 1915 bis 1917 zu einer Debatte mit Max Hildebert Boehm, der später zusammen mit Arthur Moeller van den Bruck und Heinrich von 15 Ruppin, Arthur: »Der Rassenstolz der Juden«, in: Zeitschrift für Demographie und Statistik der Juden, Jg. 6, 1910, S. 89. Es handelt sich hier um eine sehr positive Rezension von Zollschan, Ignaz: Das Rassenproblem. Unter besonderer Berücksichtigung der theoretischen Grundlagen der jüdischen Rassenfrage, Wien 1910. Zum zionistischen Rasse-Diskurs vgl. u.a. Gelber, Mark H.: Melancholy Pride. Nation, Race, and Gender in the German Literature of Cultural Zionism, Tübingen 2000; Efron, John M.: Defenders of the Race. Jewish Doctors and Race Scientists in Fin de Siècle Europe, New Haven 1995, S. 123–174; Doron, Joachim: »Rassenbewusstsein und naturwissenschaftliches Denken im deutschen Zionismus während der Wilhelminischen Ära«, in: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte, Bd. 9, 1980, S. 389–427. 16 Buber, Martin: »Unser Nationalismus«, in: Der Jude, Jg. 2, 1917/18, S. 2.
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Gleichen den jungkonservativen Juni-Club gründete.17 Diese Auseinandersetzung sollte bis zum Ende der Weimarer Republik nicht abreißen. Die Zionisten präsentierten und diskutierten Autoren der intellektuellen radikalen Rechten in ihren Zeitschriften, und diese revanchierten sich, indem sie in ihren Organen über den Zionismus berichteten. Immer wieder kam es auch zu direkten Debatten. So führten die Publizisten Robert Weltsch und Wilhelm Stapel einen Briefwechsel, der im November 1932 auszugsweise in Stapels Zeitschrift Deutsches Volkstum abgedruckt wurde.18 Zwischen 1930 und 1932 erschienen mehrere Sammelbände und Schwerpunkthefte politischer Zeitschriften, in denen völkische und jüdische Intellektuelle die »Judenfrage« diskutierten, allesamt mit Beteiligung zionistischer Autoren.19 Das Interesse der Zionisten an den Autoren der Konservativen Revolution bezog sich vor allem auf zwei Themen. Das eine war die Ablehnung des Liberalismus. Hier verspürte man eine genuine Geistesverwandtschaft mit den nationalistischen Intellektuellen. Aus zionistischer Sicht war der Liberalismus die Ideologie, die hinter der Assimilation steckte und die daher verantwortlich war für den Verlust nationaler Identität und für den Niedergang der jüdischen Gemeinschaft. Für viele Zionisten war dies jedoch nur ein Teil eines weit umfassenderen Problems. Sie stimmten mit den Autoren der Konservativen Revolution überein, dass die liberale und rationalistische Weltsicht, die das 19. Jahrhunderts beherrscht hatte, seine Bedeutung verloren hätte und aufgegeben werden müsse. Das zionistische Denken, schrieb Weltsch im Dezember 1931, muss sich »von den Schlacken einer Epoche […] befreien, die mit Recht als überwunden gilt«.20 Vor allem machte man den Liberalismus für die nach Ansicht der Zionisten falsche Vorstellung verantwortlich, dass alle Menschen gleich seien. Stattdessen beharrte man auf wesenhaften Unterschieden zwischen den Völkern und auf der Notwendigkeit der völkischen Homogenität der Nation.21 17 Boehm publizierte pro-zionistische Artikel in den Preußischen Jahrbüchern und konnte 1917 auch einen Beitrag in Martin Bubers Zeitschrift Der Jude veröffentlichen. Vgl. Boehm, Max Hildebert: »Vom jüdisch-deutschen Geist«, in: Preußische Jahrbücher, Bd. 162, 1915, S. 404–420; ders.: »Geistiger Zionismus und jüdische Assimilation«, in: Preußische Jahrbücher, Bd. 167, 1917, S. 319–324; ders.: »Emanzipation und Machtwille im modernen Judentum«, in: Der Jude, Jg. 2, 1917/18, S. 371–378. 18 Vgl. »Liberalismus und Judentum«, in: Deutsches Volkstum, 14, Nr. 22, 1932. 19 Süddeutsche Monatshefte, Jg. 27, Nr. 12, 1930; Europäische Revue, 8, Nr. 8, 1932; Klärung: 12 Autoren, Politiker über die Judenfrage, Berlin 1932; Der Jud ist schuld…? Diskussionsbuch über die Judenfrage, Basel 1932. 20 R. Weltsch: »In der Zeit der Bedrängnis«, S. 551. 21 Vgl. z.B. Prinz, Arthur: »Judenfrage und Demokratie«, in: Jüdische Rundschau, Nr. 23/24, 23.3.1932, S. 113.
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Trotz allem blieb aber ein wesentlicher Unterschied zwischen der zionistischen Liberalismuskritik und derjenigen der radikalen Rechten. Obwohl die Zionisten der Ablehnung des Liberalismus zustimmten, erkannten sie dennoch die Bedeutung und die Notwendigkeit der liberalen Ära sowohl für die Emanzipation der Juden als auch für die Entwicklung der nationalen Idee an. Die Kritik des Liberalismus fiel so wesentlich weniger apodiktisch aus als im Falle der Konservativen Revolution. Wichtiger noch war die Tatsache, dass die Zionisten diese Kritik entscheidend anders fassten. »Der Liberalismus«, schrieb Weltsch in einem seiner Briefe an Stapel, »hat die Juden nicht ›als Juden‹ emanzipiert, sondern unter der Fiktion eines allgemeinen Menschentums tatsächlich zur Assimilation an das Mehrheitsvolk genötigt.«22 Die Zionisten wandten sich gegen den Liberalismus aus der Perspektive einer unterprivilegierten Minderheit, die radikale Rechte aus derjenigen der herrschenden Mehrheit. Während letztere den Liberalismus überwinden wollte, um die Homogenität der Gesellschaft zu sichern, rebellierten erstere gegen ihn für das Recht, anders zu sein. Das zweite Thema, das die Zionisten in den Schriften der Konservativen Revolution interessierte, war der Antisemitismus. Von Anfang an hatte die zionistische Bewegung darauf bestanden, dass Antisemitismus unvermeidbar sei, solange Juden unter Nichtjuden lebten. Ihrer Ansicht nach verstärkte die Assimilation den Antisemitismus, weil sie reale und wesenhafte Unterschiede verdeckte. Umgekehrt warfen liberale Juden den Zionisten vor, die antisemitische Behauptung von einem unüberbrückbaren Gegensatz zwischen Juden und Nichtjuden zu unterstützen und zu legitimieren. Tatsächlich brachten die Zionisten dem Antisemitismus ein gewisses Maß an Verständnis entgegen. Viele Zionisten sahen darin eine nachvollziehbare Reaktion auf tatsächlich bestehende Spannungen zwischen den verschiedenen Gruppen. Mehr noch: Manche Zionisten waren durchaus bereit, einen Teil der Ursachen für das Entstehen des Antisemitismus bei den Juden selbst zu suchen. Aufgrund der ungesunden Entwicklungen des 19. Jahrhunderts, so wurde argumentiert, hätten die Juden einen unangemessenen Einfluss in bestimmten gesellschaftlichen Bereichen erlangt, etwa in den intellektuellen Berufen, und damit, in den Worten von Weltsch, »Grenzüberschreitungen« begangen.23
22 Zitiert in: »Zeitschriften-Schau«, in: Jüdische Rundschau, Nr. 94, 25.11.1932, S. 458. 23 Weltsch, Robert: »Zur Rundfunk-Diskussion über Antisemitismus«, in: Jüdische Rundschau, Nr. 42, 27.5.1932, S. 198.
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Doch die zionistische Bereitschaft, den Antisemitismus zu verstehen und mit Antisemiten zu diskutieren, hatte enge Grenzen. Sie erstreckte sich von vornherein nicht auf radikale Antisemiten, die von einer jüdischen Weltverschwörung fantasierten und sich in wüsten Beschimpfungen von Juden ergingen. Selbst unter den jüdischen Zeitschriften tat sich die Jüdische Rundschau dadurch hervor, dass sie antisemitische Gewalttaten besonders lautstark anprangerte. Paradoxerweise erlaubte es gerade ihre fatalistische Sichtweise den Zionisten, in den antisemitischen Erscheinungen der Weimarer Republik, etwa dem Scheunenviertel-Pogrom im November 1923, nicht die Nachwehen einer vergangenen Epoche, sondern die Vorboten einer neuen, für die Juden weit gefährlicheren Zeit zu sehen. Der radikale und gewaltsame Charakter des Nationalsozialismus schloss die Führer dieser Bewegung als Gesprächspartner für die Zionisten grundsätzlich aus. Auch wenn man bei der Anhängerschaft legitime und verständliche Motive zu erkennen glaubte, so wurde die Bewegung selbst doch klar als feindlich und als eine Bedrohung wahrgenommen. Die Haltung gegenüber vulgären und gewaltsamen Formen des Antisemitismus diente auch als Lackmustest dafür, ob man sich auf Diskussionen mit gemäßigteren Antisemiten einlassen sollte oder nicht. Als Stapel den antisemitischen Mob verteidigte, der im September 1931 den Kurfürstendamm unsicher machte, erklärte die Jüdische Rundschau, nicht ohne Bedauern, dass die Auseinandersetzung mit Stapel zu enden habe.24 Tatsächlich endete die Diskussion mit Stapel genauso wenig wie die Debatte um die zionistische Haltung gegenüber dem völkischen Nationalismus insgesamt. Vor dem Hintergrund der Krise der Weimarer Republik erreichte sie in den Jahren 1932 und 1933 noch einmal einen neuen Höhepunkt.25 Bis zum Schluss blieb diese Haltung jedoch höchst ambivalent. Die Führung der Bewegung und die Mehrheit ihrer Anhänger entwickelten eine gewisse Affinität zu der intellektuellen radikalen Rechten und das Gefühl einer Art Wahlverwandtschaft. Diese Annäherung zwischen den Zionisten und den An24 »Um den Nationalsozialismus«, in: Jüdische Rundschau, Nr. 84, 30.10.1931, S. 501. 25 Vgl. u.a. Krojanker, Gustav: Zum Problem des neuen deutschen Nationalismus. Eine zionistische Orientierung gegenüber den nationalistischen Strömungen unserer Zeit, Berlin 1932; »Deutscher Nationalismus und ›jüdischer Intellektualismus‹«, in: Jüdische Rundschau, Nr. 48, 17.6.1932, S. 225–226; »Deutschland und die Judenfrage«, in: Jüdische Rundschau, Nr. 65, 16.8.1932, S. 311. Die Auseinandersetzung mit dem völkischen Nationalismus war auch Thema sowohl beim Frankfurter Delegiertentag der Zionistischen Vereinigung für Deutschland im September 1932 als auch bei der Landesvorstandssitzung im Januar 1933. Vgl. »Unser Delegiertentag«, in: Jüdische Rundschau, Nr. 72, 9.9.1932, S. 345–346; Protokoll der Sitzung des Landesvorstandes vom 8. Januar 1933 in Berlin, in: Central Zionist Archives Jerusalem, CZA F4/106/2.
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hängern der »Konservativen Revolution« erschien auf der Basis möglich, dass beide Seiten das ablehnten, was sie als liberale Einebnung der Unterschiede zwischen Deutschen und Juden ansahen, und dass beide Seiten die jüdische Assimilation als eine Ursache des Antisemitismus betrachteten. Die gemeinsame intellektuelle Grundlage dafür war eine ähnliche Kritik des Liberalismus und der Ideen des 19. Jahrhunderts. Der deutsche Zionismus war in diesem Sinne ein Teil der deutschen nationalen Ideologie, und als solcher trug er auch zum Niedergang des liberalen Denkens in Deutschland bei. Doch die zionistische Kritik am Liberalismus hatte einen deutlich anderen Hintergrund als diejenige der Konservativen Revolution. Sie wurde nicht von einer Mehrheitsposition innerhalb der Gesellschaft aus formuliert, sondern aus der Position einer Minderheit, die noch immer um die volle Anerkennung innerhalb dieser Gesellschaft rang. Sie zielte nicht auf die Abschaffung liberaler Freiheitsrechte, sondern auf deren Ergänzung um das Recht, anders zu sein. Die Kritik der Zionisten am Liberalismus war also zugleich eine Kritik daran, dass der Liberalismus seine humanistischen Versprechen nicht eingelöst hatte. Während für die deutschen Nationalisten die Überwindung von Liberalismus und Assimilation die Entgrenzung nationaler Macht und die Exklusion des Anderen, und vor allem des jüdischen Anderen implizierte, bedeutete sie für die Zionisten die Anerkennung ihrer Differenz und eine Strategie gegen den Antisemitismus. Zugleich befanden sich die jüdischen Nationalisten auch angesichts des tatsächlichen Niederganges des Liberalismus in einer vollkommen anderen Position als ihre deutschen Kollegen. Als Juden waren sie besonders angreifbar und besonders bedroht, sobald die deutsche Gesellschaft den liberalen Werten abschwor. In dem Maße, in dem das Festhalten an diesen Werten den Juden keinen Schutz mehr bot, musste die zionistische Strategie, sich der eigenen, jüdischen Identität zu versichern, an Plausibilität gewinnen. Und auch wenn der zionistische Nationalismus in Deutschland ein Teil des allgemeinen Diskurses über die Nation war, so war es doch der deutsche Nationalismus, der den Liberalismus zerstörte. Beides zusammen, die spezifisch jüdische Position gegenüber dem Liberalismus und die spezifisch jüdische Position gegenüber seinem Zerfall, konnte das Projekt der deutschen Zionisten einer Synthese von völkischem und universalistischem Denken, von Nationalismus und Humanismus als sinnvoll und auch als möglich erscheinen lassen. Die politische Entwicklung in Europa, aber auch in Palästina, zeigte jedoch schon bald, dass dies eine Illusion war. Der Widerspruch zwischen Nationalismus und Humanismus konnte auch von den deutschen Zionisten nicht aufgelöst werden.
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S I E D LU N G U N D L A N D VO L K . D I E AG R A R P O L I T I S C H E N A N NÄ H E RU N G E N Z W I S C H E N EDGAR SALIN UND DER »SERING-SCHULE« Willi Oberkrome Wer den Spuren der »Sering-Schule« durch die vier deutschen Verfassungssysteme des 20. Jahrhunderts einigermaßen sicher zu folgen versucht, stößt in der konstitutiven Phase der Bundesrepublik Deutschland (BRD) auf die Agrarsoziale Gesellschaft (ASG). Der Zusammenschluss von Leitern und Mitarbeitern der einschlägig tätigen Universitätsinstitute diente dem Zweck, der Bonner Landwirtschaftspolitik wissenschaftlich planierte Bahnen durch die Versorgungskrisen einer scheinbar komplett derangierten Trümmergesellschaft zu weisen. Dass die dabei ans Licht beförderten Bestandsaufnahmen und Empfehlungen nicht nach den eben noch gültigen Maßgaben von Richard W. Darré angelegt oder gar nach den Mustern des Raum-, Wissenschaftsund Ostplaners SS-Oberführer Konrad Meyer ausgerichtet werden konnten, war ausgemacht. Die Ökonomen und Soziologen des Landbaus griffen nach 1945 Methoden, Fragestellungen und, mehr noch, Denkfiguren auf, die ihnen seit den 1920er und 1930er Jahren vertraut waren. Es entsprach dem wissenschaftlich-kulturellen Komment der frühen Ära Konrad Adenauers, dass man sich dabei kohäsionsstiftender Identifikationsfiguren versicherte, deren politisch »tadelloser«, gleichzeitig jedoch national »integrer« Ruf außer Frage stand. Gerade dieser Umstand ermöglichte es, dass sogar überdeutlich exponierte NS-Fachleute unter dem Markennamen »Sering« antraten, um auch weiterhin ein professionelles Auskommen zu finden.1 In welchem Umfang die Lehrgebäude der nachfolgend intentional und strukturell zu porträtierenden Sering-Schule auf die Architektur der bundesdeutschen akademischen Agrarpolitik einwirkten, veranschaulicht ein Zwischenbericht der agrarsoziologischen Studiengemeinschaft aus dem Jahr 1952. In diesem wurden die bislang ermittelten Ergebnisse der möglichst kontinuierlich und flächendeckend und in steter Tuchfühlung mit Ministerien und staatsnahen landwirtschaftlichen Organisationen angestellten Untersuchungen 1
Die Ausführungen gründen auf meiner Untersuchung in: Oberkrome, Willi: Ordnung und Autarkie. Die Geschichte der deutschen Landbauforschung, Agrarökonomie und ländlichen Sozialwissenschaft im Spiegel von Forschungsdienst und DFG (1920–1970), Stuttgart 2009. Darin ist die grundlegende Literatur breit dokumentiert, sodass sich im Folgenden Belege hauptsächlich auf wörtliche Zitate beschränken können. Ausnahmen bilden neu hinzugezogene veröffentlichte Texte und Quellen.
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repräsentativer Dörfer und Landgemeinden bilanziert. Die tabellarisch, demoskopisch und bisweilen auch kartografisch erfassten Daten fielen uneindeutig aus. Insbesondere für die Gebiete und Ortschaften von kleinbäuerlichem Gepräge lieferten sie ein ambivalentes Bild. Neben der in Permanenz diskutierten betrieblichen Rentabilität war die Qualität der dörflichen Ernährung als prekär einzustufen. Dass die selbst erzeugten Nahrungsmittel der Kleinbetriebe oft hinter den von der Stadtbevölkerung konsumierten, standardisierten Produkten zurückblieben, wurde vielfach registriert. Sodann mussten die Feldforscher immer wieder auf die fatale Überlastung der rund um die Uhr in alle nur denkbaren Arbeitsprozesse eingespannten Bauernfrauen und -töchter abstellen. Dieses Manko resultierte nicht zuletzt daraus, dass es um die Kücheneinrichtungen in den Haushaltungen fast durchweg kläglich bestellt war. Nicht »überall ist elektrische Kraft verfügbar«, Wasserleitungen fehlten schmerzhaft und »das Brunnenwasser ist nicht immer einwandfrei«, konstatierten die Sachverständigen. Sie mahnten baldige Abhilfe an. Im Kontrast zu solchen Befunden waren jedoch auch die »lichteren Seiten« zu verzeichnen. »Sogar in sehr armen Kleinbauerndörfern lebt der Stolz auf das gepflegte Aussehen des Hauses, und wo sich in Stadtnähe größerer Wohlstand entfaltet, hält auch die Einrichtung der Wohnung Schritt mit der modernen Entwicklung zu größerer Bequemlichkeit, und bewahrt doch manches von den überlieferten guten Formen.« Ob dieser mit einem behutsamen konsumtiven Fortschritt gepaarte Traditionalismus allerdings als Unterpfand dafür anzusehen sei, dass die anhaltende Landflucht der unterbäuerlichen Schichten gestoppt würde, dass eine aktive Siedlungspolitik für Ostvertriebene initiiert und dass gleichzeitig eine optimal produktive Ausnutzung des Bodens gewährleistet werden könnten, blieb trotz allen empirischen Eifers offen.2 In Niedersachsen, so konstatierte ein Göttinger Referent der ASG, Wilhelm Abel, bereits im Jahr 1950, habe jedenfalls der durch die Kriegs- und Nachkriegswirren beschleunigte Fortzug von unselbstständigen Landarbeitern ein Ausmaß erreicht, welches das niederdeutsche Bauerntum in seinem ureigenen Mark gefährdete. »Von einer auch rein zahlenmäßig ursprünglich sehr viel stattlicheren Gruppe von familienfremden Arbeitskräften waren« in einer akribisch durchleuchteten Referenzgemeinde »noch zurückgeblieben 8 männliche und 2 weibliche Kräfte. Die Gruppe der männlichen Arbeitskräfte setzte sich zusammen aus 7 Anstaltszöglingen und einem Ausländer […], von den beiden Mägden war die eine sterilisiert, die 2
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Zwischenbericht der ASG 1952, in: Universitätsarchiv Freiburg (UAF), B 172/196.
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andere schwachsinnig.« 3 Wie sollte sich unter diesen Umständen ein kooperativ und emotional tragfähiges Verhältnis zwischen den bäuerlichen Besitzern und ihrem Personal entfalten? Die Suggestivfrage des Experten ließ für den Erhalt und die Zukunft des Einzelhofsystems und damit für die »überzeitlichen Züge des Bauerntums« wenig Gutes hoffen. Unverkennbar waren seine basalen, anscheinend von alters her gültigen Normen, wie »eine bestimmte Bodenverwurzelung, das Eingepaßtsein in die Fluten des Lebensstromes, das naturhafte Erleben des Entstehens und Vergehens; in der Sphäre des mehr Geistigen: das Bejahen familien- und sippengebundener Selbstverantwortung, das unmittelbare Wissen um Gebundenheit und Freiheit, um das Verhältnis des Einzelwesens zur Gemeinschaft«,4 in akuterer Gefahr denn je. Ganz offenkundig zeichnete sich die Transformation des deutschen Bauern zum technisierten, und das bedeutete individualisierten, sogar bindungslosen »Reisekoffer-Farmer« (Abel) wie in den USA ab, oder – schlimmer noch – zu seinem nicht minder wert- und essenzvergessenen Kollegen aus dem sowjetischen Kolchos. Diese Aussicht stand für viele Akteure der ASG als Menetekel an der Wand. Die zeitgeistigen Momentaufnahmen aus den frühen 1950er Jahren sollten, wie erwähnt, trotz der penetranten Anleihen bei einer nazifizierten Semantik und uneingedenk der kritiklosen Übernahme der seriellen Erfassungstechniken der NS-Raum- und Volksforschung nicht darüber hinwegtäuschen, dass ihre Axiomatik sowie ihre inhaltlichen und intentionalen Einrahmungen auf einer agrarpolitischen Wissenschaftspraxis gründeten, die sich in den zwei Dezennien vor dem Ersten Weltkrieg konturiert hatte und nach seinem Abschluss einen Höhenflug erlebte. Für diese Kontinuität oder Pfadabhängigkeit stand der Name des im Jahr 1939 verstorbenen Großordinarius Max Sering geradezu emblematisch. Und dasselbe galt mit der Zeit auch für seinen engsten Mitarbeiter und intellektuellen Erbnehmer Constantin von Dietze, dem Freiburger Spiritus Rector der ASG. Die Stoßrichtung der von ihnen geprägten Variante der Agrarökonomie wird von den zitierten Annahmen und Arbeiten der Forschergruppe teilweise punktgenau widergespiegelt. Einige Stichworte mögen das illustrieren:
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Abel, Wilhelm: Grundfragen der ländlichen Sozialordnung, Vortrag vor der ASG, 14.5.1950, in: ebd., B 172/183. Weippert, Georg: Zur Soziologie des Landvolks, Referat auf der ASG-Tagung in Bernkastel am 7. April 1951, in: ebd.
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1) Das Leitbild, die Planung und die Verwirklichung einer »Inneren Kolonisation« in den agrarisch geprägten Territorien des Deutschen Reiches beziehungsweise der BRD bezeichnete ein epochal übergreifendes, fast obstinat verteidigtes Kardinalanliegen. 2) Dieses Projekt war und blieb mit dem Vorhaben einer kompromisslosen »Bekämpfung« der Landflucht untrennbar verquickt. Mit ihm verband sich zwangsläufig ein reges Interesse für die soziale Frage in der Landarbeiterschaft inklusive ihres weiblichen Anteils. 3) Beides zielte auf eine, um es sehr behutsam zu formulieren, demografische Stabilisierung des »deutschen Ostens« beziehungsweise – nach dessen bis zur Elbe reichenden Verlust – auf eine Integration von agrarisch tätigen Flüchtlingen. 4) Nach 1918 gewannen die graduell differenzierten Autarkie-Vorstellungen eine disziplinäre Hegemonialstellung, die über das Jahr 1945 hinaus nachwirken konnte, jedoch nicht zwingend virulent bleiben musste. 5) Die Unbill der Zeitläufte hatte aus der fachlich-nationalen Binnenschau seit dem Zusammenbruch des Kaiserreiches und bis zur Mitte der 1950er Jahre einen fremd induzierten Ursachenherd – das »Friedensdiktat von Versailles«.5 6) Die wissenschaftliche Arbeit erstreckte sich über sämtliche Verfassungssysteme von der Monarchie bis zu der Kanzlerschaft Adenauers, mit der signifikanten, rückblickend freilich bewusst übertrieben Ausnahme des Nationalsozialismus, im Schulterschluss mit den jeweils Regierenden. 7) Innerhalb der genannten periodischen Eckpfeiler galt obligatorisch das Gebot einer ideellen wie analytischen Privilegierung des familienbetrieblichen Hofbauerntums und seines siedlungsbetrieblichen Ablegers. An ihrer Bedeutung als Bollwerke authentischer Lebens- und Arbeitsweisen, als Zentren wertbeständiger Gesinnung und Gesittung, als Flutgräben der von urbaner Selbstentfremdung, industrieller Vermassung und metropolitaner Seichtigkeit um- und gelegentlich schon überspülten Wesensart der Deutschen und ihrer Nation ließ man im intellektuellen Umfeld Serings nicht rütteln. Mit solchen Grundbekenntnissen übte seine Schule vor allem in der Zwischenkriegszeit beträchtlichen Einfluss auf Edgar Salin und die
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Sering, Max: Das Friedensdiktat von Versailles und Deutschlands wirtschaftliche Lage, Berlin 1920.
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Friedrich-List-Gesellschaft aus.6 Darin ist der Grund zu suchen, dass diese Gelehrtenkohorte nunmehr in einer chronologisch angelegten Übersicht fachlich positioniert und, soweit es der begrenzte Raum zulässt, historisch kontextualisiert wird. Es liegt wohl in der Natur der Sache, mit Sering persönlich und dem Vorhaben einer »Inneren Kolonisation« vorrangig in den östlichen Territorien des Kaiserreiches zu beginnen. Serings Aufstieg zur agrarpolitischen Kapazität vollzog sich seit den 1880er Jahren, in seinem vierten Lebensjahrzehnt, infolge einer scharfsinnigen Publikation über das landwirtschaftliche Konkurrenzverhältnis zwischen Deutschland und den primär im Getreidebau ungleich produktiveren USA. Der im Auftrag der preußischen Regierung monatelang forschend durch die USA gereiste Nationalökonom empfahl die vorübergehende Errichtung von agrarischen Schutzzöllen, um einem bodenlosen Preisverfall beim einheimischen Weizen, Roggen und so weiter zu begegnen.7 Mit diesem Votum stellte er sich auf die Seite der von Hypothekenlasten bedrängten Großgrundbesitzer Ostelbiens. Das war möglicherweise sein Glück, denn in anderer Hinsicht brachte er diese über den einflussreichen Bund der Landwirte lobbyistisch bestens verstrebte Gruppe gegen sich auf. Sein unbedingter, von nationalen, eigentlich ethnozentrischen Motiven angespornter Eintritt für ein beschleunigtes Kolonisationswerk trieb nämlich manchen ihrer Mitglieder den Schweiß auf die Stirn. Serings im Zusammenhang mit der wilhelminischen Germanisierungspolitik in Posen und Westpreußen zu verortendes Engagement für eine staatlich forcierte und öffentlich finanzierte Kolonisation dieser Provinzen ging mit der Aufforderung einher, hoffnungslos überschuldete Gutsbesitze zu enteignen, ihr Areal zu parzellieren und die einzelnen Segmente als Grund und Boden für die deutschen Siedler zur Verfügung zu stellen. Die Betonung der ethnischen Komponente erwies sich gegenüber der gebildeten Öffentlichkeit, der preußischen Regierung sowie der universitären Kollegenschaft als das ausschlaggebende Moment. Sie stellten in weiten Teilen einen soziokulturellen Resonanzboden für die deutschnationalen Brandreden dar, die im Sinne Max Webers vor einem »grasfressenden« polnischen Kleinbauerntum warnten, welches den »deutschen Osten« aufgrund seiner Geburtenüberschüsse 6
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Vgl. Salin, Edgar: »Am Wendepunkt der deutschen Wirtschaftspolitik«, in: Deutsche Agrarpolitik im Rahmen der inneren und äußeren Wirtschaftspolitik. Teil II, Die deutsche Agrarpolitik im Rahmen einer organischen Förderung der deutschen Gesamtwirtschaft, im Auftrag des Vorstandes der Friedrich-ListGesellschaft e.V. hrsg. von Beckmann, Fritz u. a., Berlin 1932, S. 684–733. Vgl. Aldenhoff-Hübinger, Rita: Agrarpolitik und Protektionismus. Deutschland und Frankreich im Vergleich 1879–1914, Göttingen 2002, S. 39f.
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vollständig zu infiltrieren drohte. Einhellig verlangte man daraufhin feste Dämme gegen diese »Unterwanderung« zu errichten. Im »ewigen Kampf um die Erhaltung und Emporzüchtung unserer nationalen Art«,8 den Weber publikumswirksam ausrief, sollte die genossenschaftlich zu organisierende Kolonisation von Kleinstellensiedlern diese Aufgabe optimal erfüllen. Neue familieneigene Siedlungshöfe hätten in möglichst großer Anzahl neben die wirtschaftlich leistungsfähigen Gutsbetriebe und das vorhandene »gesunde« Bauerntum zu treten, denn nur wo die Familien eigenes Land als selbstständige, kommunal-kooperative Klein- und Mittellandwirte bestellten, sei eine Bindung der Menschen an den Boden zu erwarten. Die Abwanderungsneigung bodenbesitzloser Landarbeiter wäre durch die vom Siedlungswesen in Aussicht gestellten sozialen Aufstiegschancen zum Eigenbesitz hinfällig gemacht und der Landflucht mithin der erste feste Riegel vorgeschoben worden.9 Die zweite Sicherungsschiene, die namentlich von Dietze während der 1920er Jahre unter Zustimmung von Sering fester als zuvor schmiedete, war die ländliche Sozialpolitik. Hartnäckig insistierte der zunächst in Jena und Berlin lehrende bekennende Protestant von Dietze auf der Pflicht der sämtlichen landsässigen Arbeitgeber, die Wohnungen ihrer Arbeiterfamilien mit Strom, Wasserleitungen, Waschgelegenheiten und gegebenenfalls auch mit modernisierten Sanitärbereichen auszustatten. Er legte den Großbauern und Gutsherren nahe, den geltenden Urlaubsregeln keine Steine in den Weg zu legen und nicht in jeder Auseinandersetzung mit dem erst jüngst legalisierten deutschen Landarbeiterverband die Vorboten der roten Apokalypse zu wittern. Eine generelle beschäftigungspolitische Konzilianz sei ratsam, wenn man den Landarbeiternachwuchs im Land zu halten, vielleicht sogar für den ungeliebten Gesindedienst zu gewinnen trachte. »Eine derartige Entwicklung wird uns die Frage der Beschäftigung ausländischer Wanderarbeiter in der deutschen Landwirtschaft, die vom wirtschaftlichen und nationalen Gesichtspunkt äußerst brennend ist, lösen helfen«, unterstrich von Dietze fast repetitiv.10 Entsprechende Überlegungen standen, als sie 1922 niedergelegt wurden, tendenziell seit vier Jahrzehnten auf der Agenda der SeringSchule. Sie qualifizierten ihren Gründer für zahlreiche Ämter in 8
Weber, Max: »Der Nationalstaat und die Volkswirtschaftspolitik, Akademische Antrittsrede (Freiburg, Mai 1895)«, in: ders.: Gesammelte politische Schriften, Tübingen 4/1980, S. 1–25, 25, hier S. 14. 9 Sering, Max: Die Verteilung des Grundbesitzes und die Abwanderung vom Lande, Rede gehalten im Königlich Preußischen Landes-Ökonomie-Kollegium am 11. Februar 1910, Berlin 1910, bes. S. 30f. 10 Von Dietze, Constantin: Die ostdeutschen Landarbeiterverhältnisse seit der Revolution, Berlin 1922, S. 223.
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wissenschaftlichen Forschungs- und Beratungsgremien des wilhelminischen Deutschland, was seinen zügigen Karriereschritten nach dem August 1914 sichtlich zugutekam. Im Ersten Weltkrieg oblag Sering die auch von Kritikern ausufernder Annexionspläne beifällig aufgenommene Konzeption der deutschen Siedlungsareale im Baltikum, womit die »Innere Kolonisation« ihre außendienstlichen Qualitäten umstandslos unter Beweis zu stellen vermochte. Darüber hinaus war der längst zu den Würden eines Geheimrates gelangte Agrarpolitiker mit Problemen der landbaulichen Produktion, Organisation und Distribution im Interesse der von Exporten abgeschnittenen deutschen Kriegsgesellschaft und ihres Militärs betraut. Seine erheblichen Verdienste als »Leiter der Wissenschaftlichen Kommission im Preußischen Kriegsministerium während des Weltkrieges« wurden noch anlässlich des 80. Geburtstags von Sering 1937 in Glückwunschadressen des amtierenden Kriegsministers Werner von Blomberg und des Marinebefehlshabers Erich Raeder ausdrücklich hervorgehoben.11 Von den medial verbreiteten, hasserfüllten Vorwürfen Darrés gegen den betagten Berliner Ordinarius, dem als »jüdischem« Saboteur die Verantwortung für den »Schweinemord« zur Last gelegt wurde, das heißt für die im Jahr 1915 erfolgte Keulung von mehreren Millionen Hausschweinen zur Ausschaltung des schärfsten animalischen Nahrungskonkurrenten des Menschen, zeigte sich die Wehrmachtsführung völlig unbeeindruckt. In Analogie zu kulturell ähnlich kapitalisierten Funktionseliten des Dritten Reiches fand die Generalität auch keinen Anlass, eine zeit weilig enge Kooperation des Nationalökonomen mit dem immerhin des Dolchstoßes bezichtigten Rat der Volksbeauftragten und sonstigen sozialdemokratischen Regierungsinstanzen nach 1918 zu beanstanden. Zu dieser Zusammenarbeit war es auf folgende Weise gekommen: Die »revolutionären« Übergangsregierungen suchten bekanntermaßen händeringend nach sozialpolitischen Angeboten, die sie den rückgeführten, erwartungsgemäß enttäuschten und wegen ihrer Bewaffnung exzeptionell gefährlichen Fronttruppen im Winter 1918/19 unterbreiten konnten. Das im Jahr 1919 in Kraft getretene Reichssiedlungsgesetz war ein Teil ihres Versuches, den Druck aus dem vermeintlichen Hexenkessel der Demobilisierung entweichen zu lassen. Bei seiner Formulierung und legislativen Implementierung versicherten sich die republikanischen Verantwortungsträger der Mitwirkung Serings als des renommiertesten Fachmannes auf dem für Sozialdemokraten unvertraut sperrigen agrarwirtschaftlichen Feld. Der Ahnherr der Siedlungsidee ging in der Tat sogleich 11 Anschriften zum 80. Geburtstag Serings, in: UAF, C 100/518.
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daran, die nach Westen verschobene Ostgrenze des Reiches für die Kolonisation vorzubereiten, indem er die Finanzierungsspielräume taxierte, den besiedlungsfähigen Gutsbesitz inspizierte und so fort. Den Einsatz für das »nicht etwa durch eine linksradikale Mehrheit« erzwungene,12 sondern von gesellschaftlicher Verantwortung diktierte Gesetz hat Sering 1934 mit Verweisen auf dessen längerfristig sozial ausgleichende Effekte gerechtfertigt. Die Siedlungsinitiative von 1919 war nach Ansicht jenes Gelehrten, der die Initiatoren des antirepublikanischen »Preußenschlages« im Sommer 1932 zu ihrer Entscheidung beglückwünschte, im größten Staat des Reiches »reine Bahn gemacht« zu haben, »von der bloßen Abwehr politischer und sozialer Gefahren zu dem positiven Gedanken fortgeschritten, einen biologischen Ausgleich für die erlittenen Verluste durch ländliche Pflanzstätten von gesunden, arbeitsfrohen Menschen herbeizuführen und das Übergewicht der Industrie über die Landwirtschaft zu verringern. Man glaubte, die Binnenwirtschaft stärken und der Industriebevölkerung im Austausch mit den dichter besiedelten und intensiver bewirtschafteten Landbezirken einen gewissen Ersatz für den in Versailles zerstörten Auslandsabsatz schaffen zu können.« 13 Wem das, außer ihm selbst, einleuchtete, blieb indessen Serings Geheimnis, denn in Anbetracht des spärlichen Umsetzungsgrades – zwischen den Jahren 1919 und 1927 waren »nur 22000 Siedlerstellen mit insgesamt 208000 ha errichtet worden, unter denen sich nur 11000 Bauernstellen mit mehr als 2 ha« befanden – und der gegen Null tendierenden Siedlungsfreude der Zeitgenossen haben sogar wohlwollende Kollegen entsprechende Darlegungen dementiert.14 Zutreffend ist allerdings der ebenfalls von Sering vermittelte Eindruck, dass die Weltwirtschaftskrise, neben der erbittert umstrittenen Osthilfe für die verschuldeten Güter, dem Siedlungsgedanken Auftrieb verliehen hat. Auch dort, wo er nicht die »Züge eines Heilsgedankens« annahm,15 wurde er der allgemeinen Not gehorchend eingehend diskutiert und selbst von den Amtskirchen in Gestalt von ei12 Das versicherten Sering-Schüler wiederholt; hier Niehaus, Heinrich: Betrachtungen über die Zukunft der Landwirtschaft, Vortrag vom März 1949, in: ebd., B 172/120; vgl. von Dietze, Constantin: »Über ländliche Siedlung (1928)«, in: ders.: Gedanken und Erkenntnisse eines Agrarpolitikers, Gesammelte Aufsätze, Göttingen 1962, S. 7–17, hier S. 10. 13 Brief Serings an von Dietze vom 3.8.1932, in: UAF, C 100/1391. 14 Falke, Friedrich: »Rede das antretenden Rektors. Die Landflucht, ihre Ursachen und Wirkungen«, in: Rektoratswechsel an der Universität Leipzig am 31. Oktober 1929, Leipzig o. J., S. 27–48, hier S. 47. Sering, Max unter Mitarbeit von Niehaus, Heinrich und Schlömer, Friedrich: Deutsche Agrarpolitik auf geschichtlicher und landeskundlicher Grundlage, Leipzig 1934, S. 84. 15 Ludwig, Claudia-Yvonne: Die nationalpolitische Bedeutung der Ostsiedlung in der Weimarer Republik und die öffentliche Meinung, Frankfurt a.M. 2004, S. 245.
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genen Siedlungswerken aufgegriffen. Für die Sering-Schule zog dieser Interessenboom die abermalige Konzentration auf zwei Themenkomplexe nach sich, die ihre disziplinäre Signatur seit 1920 bereits grundsätzlich bestimmt hatten: die Autarkie-Debatte und die von Sering und den Seinen beinahe in einem Überbietungswettbewerb betriebene Delegitimierung des Versailler Friedensschlusses. Dass sich die Agrarpolitiker mit der schon vor 1933 »Nahrungsfreiheit« genannten landwirtschaftlichen Autarkie beschäftigten, lag nicht nur für den inneren Zirkel der Mitarbeiter Serings, sondern auch für den eher randständigen Salin auf der Hand. Wer »während des Krieges erlebte, wie die feindliche Blockade deutsche Kinder und Greise dem Hungertode preisgab, wer im Jahre 1931 erlebte, wie der Kapitalrückzug des Auslands die ganze deutsche Wirtschaft dem Erliegen nahebrachte, der ist gewarnt und sollte lebenslang davor gefeit sein, die Zunahme des Reichtums höher zu achten als die Unabhängigkeit von Staat und Wirtschaft«, erläuterte der Basler Ökonom in einem Beitrag zur Pyrmonter-Konferenz der List Gesellschaft im Jahr 1932, der das Denken Stefan Georges und das Serings furios bündelte.16 Gleichwohl wäre es verfehlt, Salin und ähnlich argumentierende wissenschaftliche Agrarpolitiker zu obsessiven Autarkie-Befürwortern erklären zu wollen. Zwar hat Sering unter dem niederschmetternden Eindruck der »Tributverpflichtungen« des Friedensvertrages – und der späteren steuerpolitischen Folgen der RuhrBesetzung – geglaubt, dass mehrere Millionen Deutsche zukünftig gezwungen seien, in Lehmhütten ohne Hausbrand eine subsistenzwirtschaftliche Existenz auf dem flachen Land fristen zu müssen, doch hat er das nicht mit der »Nahrungsfreiheit« verwechselt. Obgleich er die ernährungspolitische Autonomie des Reiches nach der Blockade für prinzipiell wünschenswert erachtete, hielt er sie wegen der Gebietsverluste und wegen einer aus reparationsbedingter Kapitalarmut resultierenden Investitionsunfähigkeit der Landwirtschaft für völlig ausgeschlossen. Hierin folgten ihm Salin, von Dietze und andere, auch wenn sie jede Anstrengung in Richtung der nationalen agrarischen Selbstversorgung begrüßten und zu potenzieren suchten. Lediglich einer der an Sering geschulten, radikalrevisionistischen Autoren scherte aus und versteifte sich auf die radikale Abschottung Deutschlands gegen ausländische Nahrungs- und Futterzufuhren: Es war Ferdinand Fried. Der ökonomische Kopf des »TatKreises« stellte seinen Lesern planwirtschaftliche Zwangsmaßnahmen, eine konsumtive Einschränkung aller Staatsbürger auf ein spartanisches Minimum sowie einen brachialen finanzökonomisch16 E. Salin: Wendepunkt, S. 689.
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en Isolationismus zur Errichtung der Autarkie in Aussicht. Erst auf ihrer Basis sei, wie Fried zur Irritation der erheblich konventionelleren Sering-Kohorte ausführte, die »deutsche Revolution« des »sozialen Nationalismus« zu verwirklichen.17 Eine Übereinstimmung zwischen dem späteren »Reichsnährstands-Literaten« Fried und den nachmaligen Nährstands-Kritikern der engeren Sering-Schule bestand jedoch darin, dass sie einmütig meinten, den Niedergang der deutschen Landwirtschaft im Zeichen der Versailler Reparationen siedlungspolitisch geringfügig verlangsamen, jedoch unter den gegebenen Bedingungen keinesfalls aufhalten zu können. Die Gegenstimmen, die auf Technisierungspotenziale und sonstige Innovationskapazitäten hinwiesen, fanden in ihren Augen keine Gnade.18 Die »Große Depression«, die immer auch eine Agrarkrise war, schien ihnen Recht zu geben. In ihrem Schatten geriet das »Landvolk« europaweit in Aufruhr. Die Bauernparteien zündeten in ganz Mittelost- und Südosteuropa ruralideologische Nebelkerzen, in deren Schutz sie die Deutungsmacht über nationale Erfordernisse zu erlangen suchten. Die verarmten Bauern starrten in Südeuropa mit anarcho-syndikalistischem Furor auf die Latifundien der Kirche und des Adels. In Deutschland drohte der bäuerliche Sturm auf die Finanzämter, und auch in den Agrarzonen des Westens und Nordens zeichnete sich kaum ein Silberstreif am Horizont ab.19 Vor diesem Hintergrund waren es nicht allein die Verehrer Stefan Georges, die in Deutschland auf ein »gütiges Schicksal« hofften, dass den »Retter sendet, der Blick und Kraft, Einsicht und Willen zur Wende des deutschen Unheils mitbringt und mit solchem Nachdruck und Geschick »einsetzt«, dass »die Kleinmütigen von heute in stummem Staunen gewahren: wie über Nacht die zerspaltenen Massen sich wieder als Volk zusammenfügen, entlaufene Eigenbrötler dem echten Führer sich frei zu eigen geben und wie des Feindes Achtung dem Starken den Kampfpreis zu pflücken erlaubt, den alle Schwachen in unerreichbarer Ferne wähnten.« 20 Als die von Sering bewunderten Akteure des »Preußenschlages« tatsächlich einen »Führer« in den Sattel hoben, der die »Fesseln von Versailles« zu sprengen und den von Salin verheißenen Kampfpreis 17 Fried, Ferdinand: Autarkie, Jena 1932, S. 23, 46ff.; Sering, Max: Das Friedensdiktat von Versailles und Deutschlands wirtschaftliche Lage, Berlin 1920, S. 45; vgl. ders.: »Diskussionsbeitrag«, in: Das Reparationsproblem, Teil I, Verhandlungen und Gutachten der Konferenz von Pyrmont, im Namen des Vorstandes der Friedrich-List-Gesellschaft e.V. hrsg. von Edgar Salin, Berlin 1929, S. 91–99, hier S. 94. 18 Vgl. Baade, Fritz: »Diskussionsbeitrag«, in: ebd. S. 99–105. 19 Vgl. Raphael, Lutz: Imperiale Gewalt und mobilisierte Nation. Europa 1914–1945, München 2011, S. 60, 85. 20 Salin, Edgar: Die deutschen Tribute. 12 Reden, Berlin 1930, S. 215.
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einzuholen versprach, hatte der agile Berliner Emeritus im politischen Raum erstmals das Nachsehen. Zu den zentralen Institutionen der nationalsozialistischen Agrarpolitik fand die Sering-Schule, wie man weiß, keinen, oder einen allenfalls streng limitierten Zugang. Die agrarpolitische Sektion der landbaulichen Abteilung im Reichsforschungsrat wurde von Konrad Meyer, dem omnipräsenten Netzwerker einer SS-nahen Landbau- und Raumplanung, mit NS-loyalen Aufsteigern besetzt. Periodika aus dem Umfeld der »Inneren Kolonisation« wurden von Meyer gleichsam enteignet und mit neuen Titeln und Inhalten versehen. Das ebenfalls von Meyer geleitete Planungsamt des Reichskommissars für die Festigung deutschen Volkstums bedurfte keiner Sering-Expertise. Ihr rassenimperiales, im genozidalen Kontext des »Generalplan Ost« kulminierendes Gestaltungstapet überstieg die Vorstellungshorizonte Serings und seiner Schülerschaft nach heutigem Kenntnisstand bei Weitem. Außerdem generierte Meyer, wie hier bloß angetippt werden kann, ein Konzept von Bauerntum und Bäuerlichkeit, das in seiner erklärten Neubildungsabsicht mit Serings erheblich konservativeren Entwürfen inkompatibel blieb. Fast noch schlechter stand es um die Beziehungen zu der tragenden Säule der NS-Landwirtschaft. Das Ministerium für Ernährung und Landwirtschaft von Darré und der Reichsnährstand bildeten für Sering ein rotes Tuch und umgekehrt. Im vielfach beschriebenen Konflikt um das Anerbenrecht, um die Ernährungspolitik im Ersten Weltkrieg, um die Kapitalausstattung und Marktrelevanz des primären Sektors waren die Fronten undurchdringlich festgezogen. Sering hat seine Stellung – um im Bild zu bleiben – couragiert, kompetent und kompromisslos gehalten.21 Dem mehrfach inhaftierten und systematisch denunzierten von Dietze hatte er mit seinen nicht unbeträchtlichen Mitteln, vor allem den persönlichen Kontakten zu den Spitzen der verschiedenen Reichsministerien, jederzeit beizustehen versucht. Abstriche von seiner Lehre nahm er, soweit zu sehen ist, nicht vor. Dennoch kam die Arbeit Serings und seiner akademischen Kohorte während des Dritten Reiches keineswegs zum Erliegen. Die Professoren der Sering-Schule lehrten weitgehend unbeeinträchtigt an den Hochschulen, Sering veröffentlichte Beiträge zum »deutschen Volkstumskampf« im Osten und ließ seiner Freude freien Lauf, als »Adolf Hitler mit kühnem Entschluss wesentliche Teile des Versailler Machspruches« unter Wahrung der Option 21 Vgl. Aldenhoff-Hübinger, Rita: Agrar- und Siedlungswissenschaft zwischen Kaiserreich und nationalsozialistischer Herrschaft. Bemerkungen zu Max Sering, in: Raphael, Lutz/Schneider, Ute unter Mitarbeit von Sonja Hillerich (Hg.): Dimensionen der Moderne, Festschrift für Christof Dipper, Frankfurt a.M. 2008, S. 503–509, hier S. 508f.
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zerriss, den »Völkern von Mitteleuropa eine gleichwertige Stellung mit den Großreichen zu sichern, und zugleich im Zusammenwirken mit Russland die europäische Menschheit von dem Piratenrecht zu befreien, das der größten Seemacht gestattet, den Frauen und Kindern eines feindlichen Landes die Nahrung wegzunehmen und die schwächeren Neutralen unter das Diktat der Blockademacht zu beugen«. Von Dietze, der nach dem 20. Juli 1944 als Mitglied der oppositionellen Freiburger Kreise verhaftet worden war und nur mit Glück der Fallbeilgerichtsbarkeit Roland Freislers entgehen konnte, kooperierte weiterhin mit seinem Mentor und hielt agrarpolitische Vorträge im besetzten Paris. Manches in seinen Ausführungen kann man als systemkritisch intendiert auffassen, anderes deutet auf die Absicht hin, den agrarpolitischen Kurs der »europäischen Neuordnung« zu beeinflussen. Wie dem auch sei, eine rege Lehr-, Publikations- und Vortragstätigkeit der Sering-Schule bleibt bis in die frühen Kriegsjahre zu konstatieren. Sie konnte die fachliche Herabsetzung dieser Richtung in der NS-Zeit selbstverständlich nicht kaschieren.22 Der Aufstieg aus dem disziplinären Abseits erfolgte umgehend nach dem Kriegsende. Er verlief unverhofft rasant. In einer Zeit, in der das landwirtschaftliche Expertenwissen als das Nonplusultra zur Behebung der Lebensmittel-Unterversorgung, aber auch zur ländlichen Beheimatung der Vertriebenen und der Ausgebombten galt, stießen Spezialisten, deren Distanz zu Heinrich Himmler und Darré unbestritten war, die außerdem ihren Antibolschewismus nicht unter Beweis zu stellen brauchten und die obendrein noch dem ordoliberalen Mainstream die Fließrichtung vorgaben, überall auf Gehör. Bereits im November 1945 empfing von Dietze ein offizielles Dankschreiben der amerikanischen Militäradministration, dem bis in die 1960er Jahre Anerkennungen, Ehrungen und Auszeichnungen von einer Ranghöhe, Qualität und Anzahl folgten, die denjenigen Serings in nichts nachstanden.23 Der Erfolg der SeringErben beruhte nicht ausschließlich auf ihren Kenntnissen über die Kardinalprobleme der Agrarpolitik. Jenseits von fiskalischen und 22 Sering, Max: Zur deutschen Wirtschafts- und Kriegslage. Auswertungen von Erfahrungen des Weltkrieges unter besonderer Berücksichtigung der Eisen- und Ernährungswirtschaft (Manuskript 1939, in: UAF, C 100/512; vgl. Sering, Max: »Geschichtlicher Überblick«, in: ders./von Dietze, Constantin (Hg.): Agrarverfassung der deutschen Auslandsiedlung in Osteuropa. Herausgegeben im Auftrag der deutschen Akademie München, (= Schriften der internationalen Konferenz für Agrarwissenschaften), Berlin 1939, S. XIII–LX; dazu Oberkrome, Willi: »Konsens und Opposition. Max Sering, Constantin von Dietze und das ›rechte Lager‹ 1920–1940«, in: Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie 55 (2007), Heft 2, S. 10–22. 23 Office Of Military Government For Germany (US), Economic Division, Food and Agriculture Branch am 12.11.1945 an Constantin von Dietze, in: UAF, B 172/102.
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kreditwirtschaftlichen Aspekten der Landwirtschaft, über die Fragen der agrarischen Produktion, der Rentabilität und der ländlichen Vergemeinschaftung hinaus war vor allem das unbeirrte Festhalten an dem Ideal des »bäuerlichen Familienbetriebes« – in welcher genossenschaftlichen oder gemeindlichen Verstrebung auch immer – von Bedeutung. Kiran Klaus Patel hat in seinen grundlegenden Studien die stupende weltbildliche Überhöhung und politische Instrumentalisierung nachgewiesen, die dieser »wie eine Monstranz« erhobene Topos in den 1950er Jahren erfuhr.24 Für die zeitgenössischen Deutungseliten, von Alexander Rüstow und Wilhelm Röpke bis hin zu den Vertretern der katholischen Soziallehre, für die konservativen Mandatsträger und die zivilisationsskeptischen Feuilletons war das familienbetriebliche Hofsystem nach wie vor eine Rückzugsbastion der deutschen Art und Kultur, der nationalen Tradition und Unversehrtheit, in dem man Zuflucht vor den Anforderungen des Wirtschaftswunders und Sicherheit vor den Herausforderungen einer als bedenklich perzipierten Verwestlichung finden konnte. Ferner bot das Hofsystem den Vorzug, gegen die DDR und ihre, worauf man nunmehr Wert legte, gottlose Schutzmacht in Anschlag gebracht werden zu können. Von Dietze stellte noch im Jahr 1960 unmissverständlich klar, dass der überlieferungskonforme »landwirtschaftliche Familienbetrieb […] eine […] Wirtschaftsgesinnung und Verhaltensweise« zum Wohle von Boden, Heimat und Nachkommen an den Tag legte, die der inneren Stabilität staatlicher Gemeinwesen a priori zuträglich sei. »Die charakteristischen Züge, die eine vornehmlich aus kleinbäuerlichen Gegenden rekrutierte Stadt wie Stuttgart oder Mannheim gegenüber Hamburg, Berlin oder dem Ruhrgebiet aufwies, wo der Zuzug stark von ostdeutschen Landarbeiterfamilien und aus Gebieten polnischer Nationalität kam, sind allerdings noch erkennbar in der Offenheit oder Starrheit der gesellschaftlichen Schichtung, auch in der geringeren oder stärkeren Neigung zu politischem Radikalismus«, erläuterte er in einem Handbuch für politische Bildung der Bundeswehr.25
24 Vgl. Patel, Kiran Klaus: Europäisierung wider Willen. Die Bundesrepublik Deutschland in der Agrarintegration der EWG 1955–1973, München 2009, S. 286; vgl. Bluche, Lorraine/Patel, Kiran Klaus: »Der Europäer als Bauer. Das Motiv des bäuerlichen Familienbetriebs in Westeuropa nach 1945«, in: dies./Lipphardt, Veronika (Hg.): Der Europäer – ein Konstrukt. Wissensbestände, Diskurse, Praktiken, Göttingen 2009, S. 135–157. 25 Von Dietze, Constantin: »Landwirtschaft und Bauerntum in Staat und Volkswirtschaft«, in: Schicksalsfragen der Gegenwart. Handbuch politisch-historischer Bildung, hrsg. vom Bundesministerium für Verteidigung, Bd. 5, Tübingen 1960, S. 113–130, 114, 127f.
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Dieses Statement aus der Endphase der Ära Adenauers bildete bei Licht besehen einen möglicherweise trotzigen, vielleicht auch unbewussten Abgesang auf die Axiomatik der klassischen SeringSchule. Seit der zweiten Hälfte des Gründungsjahrzehnts der BRD mehrten sich verschiedene, schwerlich zu verkennende Anzeichen für die Erosion der älteren normativen Bezüge wissenschaftlicher Gewissheiten und verfahrenstechnischer Dogmen. Drei davon sollen abschließend benannt werden: 1) Kaum zu unterschätzen war der vielschichtige Liberalisierungsschub, Axel Schildt spricht von einer nicht zuletzt ideell wirksamen »Ankunft im Westen«, 26 der die soziale Befindlichkeit Westdeutschlands nachhaltig transformierte. Die Weltbilder und Referenzen aus der Kaiserzeit oder der Weimarer Zeit büßten ihre Plausibilität bisweilen im Handumdrehen ein; den konnotativen Komplex um die Kategorien »Bauer«, »Hof«, »Siedlung« und so weiter betraf das allemal. 2) Dieser Prozess begünstigte Reformansätze, die innerhalb der ASG und den verwandten Organisationen immer selbstbewusster zur Geltung gebracht werden konnten. Die Träger der fachlichen Neuerung zählten zu einer Generation, die keine persönliche Loyalität mehr an Sering band. Herbert Kötter kann dafür pars pro toto genommen werden, ein Agrarsoziologe, der in der ASG seine Sporen verdiente, aber auch die amerikanischen Fachvertreter studierte, um schließlich auf Theodor W. Adorno zu stoßen. Kötter und andere begannen, die Leitbilder der Sering-Schule zu dekonstruieren und schließlich zu demontieren. 3) Ein wichtiges Indiz für die Bedeutungsminderung der seringschen Modelle lieferte im Jahr 1957 die monumentale Festschrift zum 60. Geburtstag von Ludwig Erhard. Ihr Herausgeber, Erwin von Beckerath, der als »unumstrittener Doyen der bundesdeutschen Nationalökonomie in den 1950er Jahren« bezeichnet worden ist,27 hatte darauf verzichtet, etwa von Dietze oder einen der anderen bundesweit bekannten Vertreter aus der Riege der seringschen Meisterschüler für die Abhandlung landwirtschaftlicher Probleme zu verpflichten. Er zog einen externen Fachmann, den von den Nationalsozialisten ins amerikanische Exil getriebenen und in den USA verbliebenen Karl Brandt, zur Bearbeitung des relevanten Kapitels heran. Diese Entscheidung zahlte 26 Schildt, Axel: Ankunft im Westen. Ein Essay zur Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik, Frankfurt a.M. 1999. 27 Nützenadel, Alexander: Stunde der Ökonomen. Wissenschaft, Politik und Expertenkultur, Göttingen 2005, S. 31.
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sich inhaltlich insofern aus, als dass Brandt umstandslos die deutschen Kern- beziehungsweise Reliktbestände des agrarpolitischen Fachrepertoires über Bord warf. Vor dem Hintergrund seiner eingehenden Kenntnis der US-amerikanischen Landwirtschaft zeichnete er das ganz und gar ungewohnte Bild einer auf die BRD leichthin zu übertragenden modernen Hochleistungslandwirtschaft wohlfahrtsstaatlicher Observanz. Die nicht allein deutsche Debatte über Genossenschaftsbildungen erklärte er ohne langes Federlesen für dysfunktional. Die Bemühungen, arbeitsintensive Betriebsformen zum Erhalt eines wenigstens rudimentären Landarbeiterstandes am Leben zu erhalten, erschienen ihm absurd. Fast apodiktisch trug Brandt die Forderung an die deutsche Landwirtschaft und ihre wissenschaftlichen Advokaten heran, »dass der dynamische Wirtschaftsprozess oder die einer fortlaufenden Verbesserung des Wohlstandes aller Bürger dienende Entwicklung und Wandlung der Wirtschaft als sinnvoll« akzeptiert, »eine Statik und starres Festhalten an bestehenden Strukturen und Verfahren in Abwehr gegen den Fortschritt als gesellschaftsfeindlich und somit moralisch nicht tragbar erkannt werden. Weder die obskure Mystik von Blut und Boden noch die Idealisierung rustikaler Tugenden, noch jene wirtschaftliche Romantik, die in einer unterentwickelten Landwirtschaft die große schlummernde Reserve der Volkswirtschaft schützen will, werden der großen Aufgabe der Landwirtschaft und den in ihr tätigen Menschen gerecht.« 28 Dem war und ist angesichts einer aktuellen Beschäftigungsrate im primären Sektor von zwei Prozent bei einer aufs Ganze gesehen überversorgten Gesellschaft nichts hinzuzufügen.
28 Brandt, Karl: »Agrarpolitik als Schlüssel zu Freiheit oder Knechtschaft in der dynamischen Wirtschaft der Welt«, in: von Beckerath, Erwin/Meyer, Fritz M./ Müller-Armack, Alfred (Hg.): Wirtschaftsfragen der freien Welt. Zum 60. Geburtstag von Wirtschaftsminister Ludwig Erhard, Frankfurt a.M. o.J., S. 465–581, hier S. 471.
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NAC H K L Ä N G E VÖ L K I S C H - RO M A N T I S C H E R NAT U R A N E I G N U N G ? VO N D E R J U G E N D B E W E G U N G DES KAISERREICHES BIS ZUR U M W E LT G E S C H I C H T S S C H R E I BU N G I N D E R BU N D E S R E P U B L I K D E U T S C H L A N D Joachim Wolschke-Bulmahn Völkisch-romantische Vorstellungen über ein enges Verhältnis der Deutschen zur Natur und Landschaft existierten lange vor dem Nationalsozialismus und wurden unter anderem in der bürgerlichen Jugendbewegung ab etwa 1900 manchem Jugendlichen, der später den Beruf des Gartenarchitekten ergreifen sollte, vermittelt. Diesen Vorstellungen entsprechend wurde die »deutsche« Landschaftskultur oft als höher stehend als die der anderen Länder angesehen. Es bleibt unter anderem zu fragen, ob solche Vorstellungen nach der Befreiung vom Nationalsozialismus weiter wirksam waren und ob sie Eingang in »ökologische« Planungsideen fanden. Im Folgenden wird anhand von einigen Beispielen aus der jüngeren Geschichte der Landschaftsarchitektur in der Bundesrepublik Deutschland (BRD) den entsprechenden Traditionslinien nachgegangen. Zur Idee des Naturgartens Seit den 1970er Jahren wurden zahlreiche Beiträge zum Naturgarten publiziert.1 Die Naturgärten sind jedoch keine Erfindung des ausgehenden 20. Jahrhunderts, sondern haben eine lange Geschichte. Die »Neuerfindung« des Naturgartens im späten 20. Jahrhundert erfolgte allerdings ohne ein historisches Bewusstsein.2 Sofern Verweise auf frühe Repräsentanten des Naturgartens erfolgten, geschah dies affirmativ.3 In der BRD spielte der Gartenarchitekt Willy Lange 1
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Einige wenige Publikationen seien hier stellvertretend genannt, so das 1980 erschienene Buch von Urs Schwarz, Der Naturgarten: Mehr Platz für einheimische Pflanzen und Tiere, und Le Roys Natur ausschalten – Natur einschalten (Stuttgart, 1978). Fachzeitschriften aus den 1980er Jahren druckten regelmäßig entsprechende Artikel ab, siehe z.B. Schmidt, Eike: »Der Naturgarten – ein neuer Weg?«, in: Garten + Landschaft. 11/1981, 91, S. 877–884. Zu einer historisch bewussten und kritischen Aufarbeitung der Geschichte des Naturgartens siehe z.B. Wolschke-Bulmahn, Joachim: »The ›Wild Garden‹ and the ›Nature Garden‹ – Aspects of the Garden Ideology of William Robinson and Willy Lange«, in: Journal of Garden History, 3/1992, 12, S. 183–206; Gröning, Gert/Wolschke-Bulmahn, Joachim: »Changes in the Philosophy of Garden Architecture in the 20th Century and their Impact upon the Social and Spatial Environment«, in: Journal of Garden History, 2/1989, 9, S. 53–70. Der Biologe Reinhard Witt z.B. würdigte in der Zeitschrift Kosmos Willy Lange und seinen Mitautor Otto Stahn als Autoren des Buches Die Gartengestaltung der Neuzeit in der folgenden unkritischen Form: »Sie legten – auch im wahrsten Sinne
Kapitel IV
1 — Pflanzung nach Naturmotiven im Gartenheim Willy Lange (in: Willy Lange: Der Garten und seine Bepflanzung, Stuttgart 1913, Tafel 3).
eine zentrale Rolle bei der Propagierung von Naturgarten-Konzepten, die er ab 1900 in zahlreichen Artikeln und Büchern publiziert hatte. Langes Naturgarten-Konzept vereinte, und das machte es später für den Nationalsozialismus so attraktiv, auf besondere Weise naturwissenschaftlich orientierte Gestaltungsvorstellungen mit nationalistischen und rassistischen Ideen über die angeblich enge Bindung des deutschen »Volkes« an Natur und Landschaft. Eine Annahme, die Langes Naturgarten-Konzepten zugrunde lag, war, dass das deutsche Volk eng mit der Natur verbunden sei und es daher eine entsprechend gestaltete kulturelle Umwelt, einschließlich der Gärten und Landschaften, benötige. Lange entwickelte eine »biologische Ästhetik« für die Gestaltung von Gärten. Abb. 1 Er schrieb dazu 1909: »Heute haben wir eine entwicklungsgeschichtlich verstehende, eine erklärende Naturwissenschaft, die, soweit es sich um die Wechselbeziehungen der Lebewesen zu ihrer Heimat und ihren Mitwesen handelt, Lebensgesetze zu verstehen lehrt. Die Biologie durchdringt alles bisherige äußerliche Wissen, die Biologie – auf die Kunst übertragen – schafft eine neue, eine biologische Ästhetik: die Lehre von des Wortes – die ›Grundsteine‹ für alle Naturgärten. Auch für die unserer Tage«, vgl. Witt, Reinhard: »Reisst die Rhododendren raus!«, in: Kosmos. 1986, S. 82.
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den Erscheinungen, welche biologisch zusammengehören.« 4 Ein wesentlicher Aspekt von Langes Naturgartenideal war, dass der Garten der jeweiligen Landschaft angepasst sein und die entsprechenden Pflanzengemeinschaften enthalten solle. Er forderte als Ziel der deutschen Gartenkultur die »Betonung des Eigenvölkischen – im Gegensatz zur Verherrlichung des Internationalen, in Wahrheit Unnationalen«.5 Seinen Naturgarten sah er als die von höchster Kultur zeugende Gartenform an. Er schrieb dazu 1905: »Die höchste Entwicklung der Gartengestaltung ruht demnach auf der naturwissenschaftlichen Weltanschauung unserer Zeit und stellt sich dar im künstlerischen Naturgarten.« 6 Langes Vorstellungen vom Naturgarten basierten auf der Überzeugung, dass diese höchste Stufe der Gartenkunst ein »Rassemerkmal« der germanischen oder nordischen Völker sei und aus ihrer engen Verbindung zum Boden und zur Heimatlandschaft herrühre. Die Gegensätze zwischen dem regelmäßigen französischen und dem englischen Gartenstil sah er in »verschiedenartigen Weltanschauungen und diese wieder in verschiedenen Rassenseelen« begründet. Für Lange war der nordische Mensch »im architektonischen Garten […] geistig untergegangen im Rassensumpf des Südens«.7 »Die nordalpinen Völker, nordrassisch, fühlten sich nicht im Gegensatz zur Natur, naturfern – sondern naturnah ihr verbunden. […] Das war einst, ehe der südalpine Geist nach Norden drang und dessen Geist überschichtete, fast verschüttete.« 8 Die Naturgarten-Ideologie bekam in der Vorphase des Nationalsozialismus neue Impulse durch den Gartenarchitekten Alwin Seifert, der den Begriff des »bodenständigen« Gartens in die Diskussion einführte. Seifert bekannte sich 1930 ausdrücklich dazu, mit seiner Gartenkunst auch politischen Einfluss ausüben zu wollen: »Mit voller Absicht habe ich den Begriff ›Bodenständigkeit‹ in die Gartenkunst eingeführt; es kam mir darauf an, in den Kampf, der zwischen ›Bodenständigkeit‹ und ›Überstaatlichkeit‹ in unsern [sic] Tagen auf allen Lebensgebieten entbrannt ist, auch die Gartenkunst einzubeziehen und für diese eindeutig Farbe zu bekennen.« 9 Dabei handelte es sich für Seifert um einen »Kampf zwischen zwei entgegengesetzten Weltanschauungen: auf der einen Seite das Streben nach Überstaatlichkeit, nach Gleichsetzung größter Räume, auf der andern 4 5 6 7 8 9
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Lange, Willy: Gartengestaltung der Neuzeit, Leipzig 1909, S. 29. Ebd., 6. Auflage 1928, S. 18. Lange, Willy: »Meine Anschauungen über die Gartengestaltung unserer Zeit«, in: Die Gartenkunst . 7/1905, 7, S. 114. Lange, Willy: Gartenpläne, Leipzig 1927, S. 5f. Wie Anm. 5, S. 4. Seifert, Alwin: »Randbemerkungen zum Aufsatz: Von bodenständiger Gartenkunst«, in: Die Gartenkunst. 10/1930, 43, S. 166.
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[sic] die Herausarbeitung der Besonderheiten kleiner Lebensräume, die Betonung des ›Bodenständigen‹«.10 Der Naturgarten, der der heimatlichen Landschaft angepasste Garten bekam in der Zeit der NS-Diktatur endgültig ideologischen Auftrieb. Den neuen Weg zur »blut- und bodenverbundenen«, »heimatbedingten«, »arteigenen« Gartenkunst 11 wollten zahlreiche Gartenarchitekten weisen.12 Der Gartenarchitekt Albert Krämer forderte in seinem Artikel Pflanzensoziologie und der Blut- und Bodenverbundene Garten pflanzensoziologische Kriterien als Grundlage der Gartengestaltung: »Aber ebenso wesenseigene, aus Volkstum und Landschaft, aus Blut und Boden heraus erwachsene deutsche Gärten fehlen uns noch. Erst unser Wissen von den Naturgesetzen des Blutes und seelischen Rasseerbgutes und von den Gegebenheiten des Heimatbodens und seiner Pflanzenwelt (Pflanzensoziologie) befähigt und verpflichtet uns zur Gestaltung von blut- und bodenverbundenen deutschen Gärten.« 13 In der Landschaft, bei der Gestaltung der Reichsautobahnen, forderte Seifert eine absolute Berücksichtigung der durch die letzte Eiszeit »schicksalsbedingten Pflanzenarmut« in Deutschland. Die »Neuerfindung« des Naturgartens Ende der 1970er Jahre erfolgte weitgehend ohne ein historisches Bewusstsein. Wenn sich doch Verweise auf die Geschichte finden, dann wurde unreflektiert auf Lange als Autor des Buches Die Gartengestaltung der Neuzeit hingewiesen, so 1986 in der Zeitschrift Kosmos: »Sie legten – auch im wahrsten Sinne des Wortes – die ›Grundsteine‹ für alle Naturgärten. Auch für die unserer Tage.« 14 Eine kritische Auseinandersetzung mit Langes Vorstellungen zum Naturgarten findet sich bei Reinhard Witt und bei zahlreichen anderen modernen Befürwortern des Naturgartens nicht. Jugendbewegung und Landschaftswahrnehmung Die Jugendbewegung, die ab etwa 1900 entstand und vielfältige Gruppierungen ausbildete, hat maßgeblich zur Verbreitung der völkischromantischen Vorstellungen über die enge Verbindung von »Volk« und Natur in Deutschland beigetragen. Zahlreiche Landschaftsarchitekten hatten prägende Erfahrungen mit Natur, Landschaft und 10 Seifert, Alwin: »Bodenständige Gartenkunst«, in: Die Gartenkunst. 10/1930, 43 (1930), S. 162. 11 Hasler, Hans: Deutsche Gartenkunst. Entwicklung, Form und Inhalt des deutschen Gartens, Stuttgart 1939, S. 175. 12 Siehe z.B. Krämer, Albert: »Pflanzensoziologie und der Blut- und Bodenverbundene Garten«, in: Die Gartenkunst. 3/1936, 49, S. 43; Wilczek, Carl: »Richtung und Inhalt künftiger Gartengestaltung«, in: Die Gartenkunst. 1936, 49, S. 217–222. 13 Krämer: »Pflanzensoziologie …« (wie Anm. 12), S. 43. 14 Wie Anm. 3, S. 82.
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2 — Vignette der Zeitschrift Wandervogel (1910, Jg. 5, H. 8).
Gesellschaft in der (bürgerlichen) Jugendbewegung gemacht.15 Konrad Buchwald, ehemals ein Mitglied der Deutschen Freischar, betonte 1968 ihren Einfluss auf die Aufgabengebiete der Landschaftsarchitektur: »Vom Landschafts- und Naturerlebnis dieser Gruppen [der Jugendbewegung, Anm. d. Verf.] sind bis zum heutigen Tag starke Einflüsse auf die Entwicklung der deutschen Landespflege ausgegangen. Die immer mehr erstarkende Naturschutzbewegung wäre ohne die Jugendbewegung nicht denkbar gewesen.« 16 Die jugendbewegten Landschaftsschilderungen weisen darauf hin, dass Landschaften erwandert wurden, die überwiegend land- und forstwirtschaftlich genutzt wurden, die aber bis zu ihrer Entdeckung durch die Jugendbewegung weder von der industriellen Entwicklung noch vom Tourismus in nennenswerter Weise beeinträchtigt waren. Geradezu idealtypisch werden die Landschaftselemente in der folgenden Beschreibung der Lüneburger Heide skizziert: »Erquickt sich nicht mein ganzes Ich an der erhabenen Schönheit des deutschen Buchenwaldes! Gibt mir nicht die wellige rotbraune Heide das Gefühl köstlicher Ruhe! Schwindet nicht Sorge und Angst beim Hineinstarren in ein wirbelndes, bewegliches Heideflüßchen! Und genießt nicht mein Inneres die harmonische Schönheit der Landschaft! Mit ihren 15 Zur Bedeutung der bürgerlichen Jugendbewegung für die Entwicklung der Landschaftsplanung und des Naturschutzes siehe ausführlich Wolschke-Bulmahn, Joachim: Auf der Suche nach Arkadien. Zu Landschaftsidealen und Formen der Naturaneignung in der Jugendbewegung und ihrer Bedeutung für die Landespflege, München 1989. 16 Buchwald, Konrad: »Geschichtliche Entwicklung von Landschaftspflege und Naturschutz in Deutschland während des Industriezeitalters«, in: Buchwald, Konrad/Engelhardt, Wolfgang (Hg.): Handbuch für Landschaftspflege und Naturschutz. Bd. 1, München/Basel/Wien 1968, S. 103.
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zerfallenen Ruinen; mit den mächtigen Findlingen, dem Kreuz und Quer der Felder, dem Wechsel von Feld und Wald, dem sich dahinwindenden Flüßchen, den anmutigen Dörfern, mit ihren Strohdächern und ihrer dem Boden angepaßten Bauart.« 17 Das Land, der Bauer und die dörfliche Idylle wurden vielen jugendbewegten Wanderern zu Symbolen einer Lebenswelt, die gegen Veränderung resistent schien. Abb. 2 Das Heimaterlebnis der Jugendbewegung war oft eng gebunden an spezifische Vorstellungen von »Volk« und »Volkstum«, so auch bei Buchwald. In einer Festschrift für den Naturschützer Hans Schwenkel publizierte er im Jahr 1956 den Beitrag Gesundes Land – gesundes Volk. Ein Beitrag zum Gesundheits- und Erholungsproblem 18. Darin forderte er, die Landschaftsgestaltung solle »stets dem einen Ziel dienen: Gesundes Volk in gesundem Land«.19 Buchwalds fragwürdige Gedanken über »Volkstum« hatten anscheinend Bestand bis in die 1980er Jahre. So publizierte er 1982 in der Neue Zeit, einer Zeitschrift der »Neuen Rechten«, zum Thema des deutschen Volkstums im Ausland und kritisierte den Staat, der sogenannte »Wirtschaftsasylanten« unterstütze, aber das deutsche Volkstum im Ausland vernachlässige. »Was ist das für ein Staat, der für Wirtschaftsasylanten das Vielfache dessen ausgebe [sic], das er für die ethnische Erhaltung und kulturelle Förderung der im Ausland beheimateten deutschen Volksgruppen bereitstellt?« 20 Gleichzeitig publizierte er in derselben Zeitschrift auch seinen Artikel Ethik und Umweltpolitik, in dem er gegen die sogenannte anthropozentrische Ethik argumentierte und stattdessen eine ökozentrierte Ethik forderte.21 Auch der Gartenarchitekt Wilhelm Hübotter erfuhr eine maßgebliche Prägung in der Jugendbewegung, in einer Gruppe des Wandervogels. Auf den Wanderungen eignete er sich die entsprechenden Landschaftsideale an, die später sein entwerferisches Schaffen beeinflussten, so beispielsweise im Jahr 1935 beim Sachsenhain in Verden an der Aller.22 Im Jahr 1934 beschlossen der Reichsführer SS 17 Goebel, Ferdinand: »Soziale Briefe«, in: Der Wanderer, 3/1909, 4, S. 80. 18 Buchwald, Konrad: »Gesundes Land – gesundes Volk. Ein Beitrag zum Gesundheits- und Erholungsproblem, in: Buchwald, Konrad/Rathfelder, Oswald/ Zimmermann, Walter (Hg.): Festschrift für Hans Schwenkel zum 70. Geburtstag (Veröffentlichungen der Landesstelle für Naturschutz und Landschaftspflege Baden-Württemberg, Heft 24). Ludwigsburg 1956, S. 56–71. 19 Ebd., S.71. 20 Buchwald, Konrad: »Auslandsdeutschtum – Teil der Nation. Im Abseits der Bonner Politik – 14 Millionen Auslandsdeutsche«, in: Neue Zeit. 1/1982, 11, S. 20. 21 Buchwald, Konrad: »Ethik und Umweltpolitik«, in: Neue Zeit. 12/1983, 12, S. 15–17. 22 Die Entstehungsgeschichte des Sachsenhains in ihren vielfältigen Facetten wurde in den 1990er Jahren durch Justus H. Ulbricht in zwei Beiträgen »›Heil Dir, Wittekinds Stamm‹. Verden, der ›Sachsenhain‹ und die Geschichte völkischer Religiosität in Deutschland« im Heimatkalender für den Landkreis
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Heinrich Himmler und Alfred Rosenberg, der angeblichen Ermordung von 4500 Sachsen durch Karl den Großen im Jahr 782 durch die Anlage eines Thingplatzes nahe Verden an der Aller zu gedenken.23 Der von Hübotter geplante Sachsenhain ist eine große Freifläche, die von einem sechs Meter breiten Rundweg, dem sogenannten Sachsenweg, umrahmt wird. Dieser wird von zwei Reihen großer Findlinge, die an die 4500 Sachsen erinnern sollten, flankiert. Abb. 3/4 Ein Zitat aus einem 1937 veröffentlichten Artikel des Bauleiters für den Sachsenhain, Reinhold Berkelmann, mag die Gestaltungsideologie verdeutlichen: »Den Kernpunkt dieser Anlage bildet der gestalterisch etwas mehr durchgebildete kleine Thingplatz mit dem großen Führerstand, der von säulenartig hochstrebenden Buchen überdacht ist. Wuchtig und stark steht die aus Findlingen errichtete Stützmauer mit dem genau ausgerichteten Blick nach Norden. Findlinge in freier Anordnung bilden die Brüstung dieser Führerkanzel. […] Er zeigt eine der Landschaft angepaßte bewußte Gestaltungseinrichtung in der germanischen Grundform des Rechtecks. Hier feiert jedes Jahr Niedersachsen das Fest der Sonnenwende, die höchsten Feiertage unserer germanischen Vorfahren […].« 24 Auch der Entwurf Hübotters für ein Horst-Wessel-Denkmal in Nienburg an der Weser weist auf entsprechende Gestaltungsideale hin. Und der Hermann-Löns-Park in Hannover, der von Hübotter Mitte der 1930er Jahre geplant wurde, ist als der bewusste Versuch zu verstehen, »mit dem englischen Parkideal zu brechen und eine naturgemäße deutsche Landschaft zu schaffen«.25 In einer aktuellen Informationsbroschüre der Landeshauptstadt Hannover wird die Geschichte des Parks recht unkritisch dargestellt: »Der Parkanlage liegt eine außergewöhnliche Gestaltungsidee zugrunde. Einerseits ist er mit Sportanlage, Freibad, Kleingartenanlage, Wegen, Spielplätzen und Liegewiesen ein typischer Volkspark. Andererseits stellt er ein Stück idealisierte niedersächsische bäuerliche Landschaft dar. Verden ausführlich dargestellt, vgl. Ulbricht, Justus H.: »›Heil Dir, Wittekinds Stamm‹. Verden, der ›Sachsenhain‹ und die Geschichte völkischer Religiosität in Deutschland«, in: Heimatkalender für den Landkreis Verden. 1995, S. 69–123; Heimatkalender für den Landkreis Verden. 1996, S. 224–267. 23 Zur Geschichte des Sachsenhains siehe auch Wolschke-Bulmahn, Joachim: »Stätten der NS-Diktatur und die Frage des ›Kultur‹-Denkmalschutzes. Der Bückeberg und der Sachsenhain im Kontext einschlägiger Anlagen der Zeit des Nationalsozialismus«, in: Hajós, Géza/Wolschke-Bulmahn, Joachim (Hg.): Gartendenkmalpflege zwischen Konservieren und Rekonstruieren (CGL-Studies. Schriftenreihe des Zentrum für Gartenkunst und Landschaftsarchitektur der Leibniz Universität Hannover, Bd. 9), München 2011, S. 265–285. 24 Berkelmann, Reinhold: »Der Sachsenhain bei Verden a. d. Aller«, in: Die Gartenkunst. 1937, S. 128. 25 Wernicke 1942, S. 335.
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3 — Führerkanzel im Sachsenhain. 4 — Der Sachsenweg im Sachsenhain.
Im Gegensatz zu dem in der Mitte des 19. Jahrhunderts geschaffenen Georgengarten wachsen im Hermann-Löns-Park vorwiegend einheimische Bäume und Sträucher. Dadurch entsteht der Eindruck einer perfekten heimatlichen Landschaft. […] In seiner Besonderheit ist der Hermann-Löns-Park ein Gartenkunstwerk und eines der bedeutendsten Gartendenkmale der Stadt Hannover.« 26 Die ideologischen Vorstellungen von einer »artgemäßen« Garten- und Landschaftsgestaltung erhielten durch Gartenarchitekten wie Seifert, ebenfalls ehemals ein Mitglied des Wandervogels, und Pflanzensoziologen wie Reinhold Tüxen in der Zeit des Nationalsozialismus besondere Bedeutung. Tüxen erarbeitete das pflanzensoziologische Gutachten für den Hermann-Löns-Park und stellte den Grundsatz auf, dort »vorwiegend standortgemäße heimische Vegetation anzusiedeln«.27 Wenig später forderte er – analog zu dem Hitler-Leitsatz »Das deutsche Volk muß gereinigt werden« – die »Reinigung der deutschen Landschaft von unharmonischen Fremdkör26 Der Hermann-Löns-Park in Hannover, Broschüre Landeshauptstadt Hannover, Hannover 2001. 27 Wie Anm. 25, S. 334.
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5 — Entwurf für die Landschaftsgestaltung der Gedenkstätte BergenBelsen, Februar 1946.
pern!«.28 Auch sein Engagement für die Ausrottung des aus Asien stammenden Kleinblütigen Springkrauts im hannoverschen Stadtwald Eilenriede weist auf die ideologischen Hintergründe seiner Vorstellungen von der Pflege und Gestaltung der hannoverschen Grünflächen hin. Als Leiter der Zentralstelle für die Vegetationskartierung des Reiches forderte er 1942 Maßnahmen gegen die Verbreitung dieser Pflanze und verwies auf einen Aufruf der Arbeitsgemeinschaft sächsischer Botaniker, in welchem es dazu hieß: »Der Ausrottungskrieg muß durchgeführt werden. […] Wie beim Kampf gegen den Bolschewismus unsere gesamte abendländische Kultur auf dem Spiele steht, so beim Kampf gegen den mongolischen Eindringling [gemeint ist das Kleinblütige Springkraut, Anm. d. Verf.] eine wesentliche Grundlage unserer Kultur, nämlich die Schönheit unseres heimischen Waldes.« 29 Im Winter 1945 erarbeitete Hübotter die landschaftsarchitektonische Konzeption für die Gedenkstätte Bergen-Belsen.30 Seine Gestaltungsüberlegungen drückte er folgendermaßen aus: »Wohl noch niemals in der Menschheitsgeschichte hat es derartiges gegeben, und es ergibt sich die zwingende Notwendigkeit mit einer solchen 28 Tüxen, Reinhold: »Pflanzengesellschaften als Gestaltungsstoff«, in: Die Gartenkunst. 11/1939. 52, S. 209; siehe dazu auch Gröning, Gert/Wolschke-Bulmahn, Joachim: Der Drang nach Osten. Zur Entwicklung der Landespflege im Nationalsozialismus und während des Zweiten Weltkrieges in den »eingegliederten Ostgebieten«, München 1987, S. 148ff. 29 SAH, Ablieferung Gartenamt, Lfd. Nr. 12, Aus einem Aufruf zur Bekämpfung des Kleinblütigen Springkrauts. 30 Siehe dazu Wolschke-Bulmahn, Joachim: »1945–1995. Zur landschaftsarchitektonischen Gestaltung der Gedenkstätte Bergen-Belsen«, in: Die Gartenkunst. 2/1995, 7, S. 325–340.
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Gedächtnisstätte einen SCHLUSS-STEIN zu setzen hinter eine Zeit, die niemals wiederkehren darf. Aus diesem Grunde bin ich der Überzeugung, dass die Idee und die Gestaltungsmittel gross sein müssen, d.h. nicht gross im Sinne des Materiellen, sondern in ihrer Art. […] Die Bedeutung von Belsen als Schlusstein für eine Epoche ist ohne Zweifel und verlangt eine Ausdrucksform eindruckvollster Art.« 31 Hübotter verwies auf recht zweifelhafte historische Vorbilder, die für Bergen-Belsen als anregend bewertet wurden. »Der Volksbund für Kriegsgräberfürsorge hat Mahnmale von ewig gültiger Bedeutung geschaffen (Bitolj, Nazareth, Langemarck u. a.). Aus der Vorgeschichte sind uns ebenfalls eine Reihe unvergängliche Gedenkstätten geblieben, Ägypten, Ravenna und ganz in der Nähe die 7 Steinhäuser.« 32 Dieser Vorschlag Hübotters, eine alte germanische Kultstätte wie die Sieben Steinhäuser als gestalterisches Vorbild für eine Gedenkstätte für die Opfer des NS-Massenmordes zu nehmen, deutet eine gewisse Ignoranz gegenüber dem besonderen historischen Charakter BergenBelsens als ehemaligem Konzentrationslager der Nationalsozialisten und gegenüber den Menschen an, die dort ermordet wurden. Hübotter entwarf Bergen-Belsen im Stil einer »Hermann-LönsIdeallandschaft«. Abb. 5 Als definitive Aussage zur Gestaltung der Gedenkstätte stellte er fest, dass »die Lösung nur in landschaftlicher Richtung liegen kann«.33 Er knüpfte mit seiner Forderung nach einer landschaftlichen Ausgestaltung an die Vorstellungen von der Unterordnung der Gestaltung unter die Landschaft an, die schon vor dem Beginn des Nationalsozialismus existierten, die aber während der NSZeit unter den Landschaftsarchitekten besondere Bedeutung erlangten. Dieses Gestaltungsideal nur wenige Monate nach dem Ende der NS-Ära im Zusammenhang mit der Gedenkstätte Bergen-Belsen als vorbildlich heranzuziehen, trug eher dazu bei, die historischen Zusammenhänge zu verdecken, als an sie zu erinnern. Landschaftsplanung im Auftrag des Reichsführers SS Besonders deutlich lassen sich die völkisch-romantischen Vorstellungen über die Gestaltung der Landschaft – mit verheerenden Auswirkungen für viele Menschen – während des Zweiten Weltkrieges in den sogenannten »eingegliederten Ostgebieten« nachweisen. Unter der Führung des Reichsführers SS Heinrich Himmler arbeiteten Konrad Meyer als Leiter von Himmlers Planungsabteilung und Heinrich Wiepking-Jürgensmann als Himmlers »Sonderbeauftragter für 31 Schreiben Wilhelm Hübotter an Landrat Wentker, 28. November 1945 (Kreisarchiv Celle, 019-01, N3 Nr.3a). 32 Wie Anm. 31. 33 Ebd.
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6 — »Ein Niedersachsendorf im Wartheland« (Wickop, Walter: »Ein Niedersachsendorf im Wartheland«, in: Neues Bauerntum, 10–11/1940, 32, S. 365).
Fragen der Landschaftsgestaltung« an umfassenden Planungskonzepten.34 Innerhalb weniger Jahre wurden dort Pläne erarbeitet, die eine Umgestaltung der Landschaften in deutsche Ideallandschaften vorsahen. Die Landbevölkerung, die aus Niedersachsen dort angesiedelt werden sollte, sollte die ihnen zufolge der Blut-und-BodenIdeologie entsprechenden »Heimat«-Landschaften vorfinden. Um die Inbesitznahme, die Beseitigung der dort lebenden Bevölkerung und die Umgestaltung zu rechtfertigen, musste aber ein entsprechendes Feindbild einer »minderwertigen« Bevölkerung bestätigt werden. Den »hohen« Ansprüchen der Deutschen an die Landschaft stellten die Planer folglich das Nichtvorhandensein eines Landschaftsgefühls der anderen Völker entgegen, disqualifizierten diese als minderwertig und rechtfertigten damit nicht nur die Umgestaltung der eroberten Gebiete, sondern die Eroberung an sich und die Vertreibung als erforderlich im Sinne eines quasi »völkischen Umweltschutzes«. Entsprechende Vorstellungen wurden in der von Himmler 34 Beide, Wiepking und Meyer, waren nach dem Krieg als Professoren an der Universität Hannover tätig. Zur Landschaftsplanung in den »eingegliederten Ostgebieten« siehe ausführlich G. Gröning/J. Wolschke-Bulmahn: Der Drang nach Osten, S. 148ff.
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1942 verabschiedeten Allgemeinen Anordnung zur Gestaltung der Landschaft festgehalten. Es heißt dort einleitend: »Die Landschaft in den eingegliederten Ostgebieten ist auf weiten Flächen durch das kulturelle Unvermögen fremden Volkstums vernachlässigt, verödet und durch Raubbau verwüstet. […] Dem germanisch-deutschen Menschen aber ist der Umgang mit der Natur ein tiefes Lebensbedürfnis. In seiner alten Heimat und in den Gebieten, die er durch seine Volkskraft besiedelt und im Verlauf von Generationen geformt hat, ist das harmonische Bild von Hofstatt und Garten, Siedlung, Feldflur und Landschaft ein Kennzeichen seines Wesens. […] Sollen daher die neuen Lebensräume den Siedlern Heimstatt werden, so ist die planvolle und naturnahe Gestaltung der Landschaft eine entscheidende Voraussetzung.« 35 Abb. 6 Bei der Zeichnung des entsprechenden Feindbildes nahm Wiepking-Jürgensmann zweifellos eine führende Position ein; so heißt es in Die Landschaftsfibel: »Immer ist die Landschaft eine Gestalt, ein Ausdruck und eine Kennzeichnung des in ihr lebenden Volkes. Sie kann das edle Antlitz seines Geistes und seiner Seele ebenso wie auch die Fratze des Ungeistes, menschlicher und seelischer Verkommenheit, sein. […] So unterscheiden sich auch die Landschaften der Deutschen in allen ihren Wesensarten von denen der Polen und Russen – wie die Völker selbst. Die Morde und Grausamkeiten der ostischen Völker sind messerscharf eingefurcht in die Fratzen ihrer Herkommenslandschaften.« 36 Wenn Wiepking-Jürgensmann im Jahr 1950 noch ähnliche Vorstellungen artikuliert, allerdings diesmal, ohne Bezug auf die Menschen Osteuropas zu nehmen, so zeigt das, dass sich an seinen Vorstellungen nichts geändert hatte: »Das Landschaftsbild ist der getreueste Ausdruck eines Volkes, an seiner Ausformung sind alle Leute beteiligt. Es spiegelt seine Geschichte. Es kann Fratze wie Antlitz sein, immer ist es Ausdruck der Wirtschaft, der Seele und des Wesens eines Volkes.« 37
35 »Allg. Anordnung Nr. 20/VI/1942 des Reichsführers SS, Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums, über die Gestaltung der Landschaft in den eingegliederten Ostgebieten vom 21. Dezember 1942«, in: Mäding, Erhard: Regeln für die Gestaltung der Landschaft. Einführung in die Allgemeine Anordnung Nr. 20/VI/42 des Reichsführers SS, Berlin 1943, S. 51. 36 Wiepking-Jürgensmann, Heinrich: Die Landschaftsfibel, Berlin 1942, S. 13. 37 Wiepking-Jürgensmann, Heinrich: »Geschichte und Aufgaben der Landespflege« (Vortrag auf der 3. Arbeitstagung deutscher Landes- und Bezirksbeauftragter für Naturschutz und Landschaftspflege), in: Verhandlungen deutscher Landes- und Bezirksbeauftragter für Naturschutz und Landschaftspflege, Lemgo 1950, S. 75.
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Die Suche nach ›ökologischer Güte‹ unter Gartenund Umwelthistorikern Es ist vielleicht nicht weiter erstaunlich, wenn Fachleute wie Wiepking-Jürgensmann und Seifert, die im Nationalsozialismus ihre Karriere gemacht hatten und diesem ideologisch nahestanden, nach 1945 ihre Überzeugungen hinsichtlich der angeblichen Zusammenhänge zwischen Mensch, Natur und Landschaft nicht selbstkritisch überdachten, sondern diese vielleicht nur zurückhaltender in der Öffentlichkeit vertraten. So konnten sie allerdings wohl umso subtiler wirksam werden und vielleicht eine Wirkung erzielen bei jungen Menschen, die sich durchaus der Demokratie verpflichtet fühlten. Es ist daher umso bedenklicher, wenn sich in der umwelthistorischen Geschichtsschreibung der 1980er und 1990er Jahre verharmlosende Darstellungen solcher Zusammenhänge finden. Nach jahrzehntelangem Verdrängen und Verschleiern in der Geschichtsschreibung von Landschaftsarchitektur und Naturschutz wurde ab dem Beginn der 1980er Jahre in verschiedenen Publikationen auf die Verbindungen zwischen Nationalsozialismus und Naturschutz, Landschaftsplanung und Landschaftsarchitektur in der BRD aufmerksam gemacht und die Tätigkeit von einzelnen Repräsentanten dieser Aufgabenfelder im Nationalsozialismus thematisiert. Doch manche dieser Darstellungen weisen bisweilen einen stark exkulpatorischen Charakter auf. Wolfgang Erz bietet dafür im Jubiläumsheft 75 Jahre »Natur und Landschaft« ein Beispiel. Unter der Überschrift »Naturschutz und Nationalsozialismus« schreibt er: »Der Naturschutz war einerseits nicht ›brauner‹ als andere bürgerliche Bewegungen und bewies andererseits ebensoviel Kritik am Nationalsozialismus wie andere.« 38 Erz benennt dann allerdings kein einziges Beispiel von naturschützerischer Kritik am Nationalsozialismus. Es ist weiterhin bemerkenswert, dass in diesem Heft der Zeitschrift Natur und Landschaft im einleitenden Artikel der Schriftleitung wiederholt ein sogenannter »Zeitgeist« bemüht wird. »Der Vergleich mit früher zeigt, dass unsere Zeitschrift sich – von der Anpassung an den jeweiligen Zeitgeist einmal abgesehen – im wesentlichen nur wenig verändert hat.« 39 Mit diesen Verweisen auf den angeblichen »Zeitgeist«, so ist zu vermuten, sollten einige der historischen Beiträge, die in dem Jubiläumsheft abgedruckt wurden, vorab als quasi dem Zeitgeist entsprechend entschuldigt werden, so wohl auch der Beitrag von Walther Schoenichen, ›Das deutsche Volk muß gereinigt werden!‹ – 38 W. E. [Wolfgang Erz], »Naturschutz und Nationalsozialismus«, in: Natur und Landschaft, 70 (1995), 8, S. 357. 39 Ebd., S. 344.
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Und die deutsche Landschaft?, der 1933 in der Zeitschrift Naturschutz erschien und der mit seiner Überschrift »Das deutsche Volk muß gereinigt werden« auf ein Hitler-Zitat Bezug nahm.40 Neben dem Verschleiern und Beschönigen lässt sich in dieser Phase der Umweltgeschichtsschreibung auch eine Tendenz zur täuschenden Zuweisung verzeichnen. So machte der Naturphilosoph Klaus-Michael MeyerAbich 1984 die Sozialisten dafür verantwortlich, dass die Natur- und Heimatschützer auf den Nationalsozialismus gesetzt hätten. Er behauptete in seinem Buch Wege zum Frieden mit der Natur. Praktische Naturphilosophie für die Umweltpolitk: »Wäre die Menschlichkeit von den Sozialisten nicht nur unter Menschen, sondern auch gegenüber der natürlichen Mitwelt gesucht worden, hätten die Natur- und Heimatschützer nicht auf den Nationalsozialismus zu setzen und an ihm zu scheitern brauchen.« 41 Seit den 1990er Jahren gibt es auch in der US-amerikanischen Fachliteratur eine Diskussion über die Zusammenhänge zwischen Nationalsozialismus und Naturschutz. Dabei scheint es auch in den USA das Phänomen der Suche nach dem »ökologisch Guten« in der Geschichte zu geben, das den Blick auf die Realitäten dieser Geschichte leicht verstellt.42 Als ein Beispiel dafür mag Jost Hermands Buch Grüne Utopien in Deutschland dienen.43 Darin spielt der Autor die Rolle von Rudolf Heß, einer der führenden Nationalsozialisten, herunter und bezeichnet ihn als »Lebensreformer«. Ähnlich am »Guten« orientiert, ignoriert er die Fragwürdigkeit mancher der in den Schriften von Rudolf Steiner artikulierten Ideen.44 Er schreibt: »Während Heimatschützer wie Schoenichen und Lindner weiter auf eine ›organische‹ Verbindung von Natur und Technik hofften, um nicht als ›fortschrittsfeindlich‹ zu gelten, drang der ›grüne Flügel‹ der NSDAP um Walther Darré in den gleichen Jahren auf eine konsequente Verbauerung des deutschen Volkes. […] Diese Gruppen hielten selbst nach 1933 an bestimmten Vorstellungen der älteren Lebensreformer und Heimatschützer, zum Teil sogar am anthroposophischen Prinzip der ›biologisch-dynamischen Landbauweise‹ fest. […] 40 Nachdruck in: Natur und Landschaft 70 (1995), 8, S. 355f. 41 Klaus-Michael Meyer-Abich: Wege zum Frieden mit der Natur. Praktische Naturphilosophie für die Umweltpolitik. München 1984, S. 288. 42 Siehe dazu Joachim Wolschke-Bulmahn: »The Search for Ecological Goodness among Garden Historians«, in: Conan, Michel (Hg.): Perspectives on Garden Histories (Dumbarton Oaks Colloquium on the History of Landscape Architecture, Band 21), Washington D.C. 1999, S. 161–180. 43 Hermand wirkt in den USA durch seine Tätigkeit an der University of Wisconsin in Madison. 44 Siehe dazu Wolschke-Bulmahn, Joachim: »Biodynamischer Gartenbau, Landschaftsarchitektur und Nationalsozialismus«, in: Das Gartenamt. 1993, 42, S. 590–595 und S. 638–642.
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Der von diesen Organisationen propagierte ›schonende Umgang‹ mit der Natur, der im Sinne des Natürlichkeitsprinzips auf jede chemische Düngung verzichtet, wurde nicht nur von Walther Darré, sondern auch von einem Lebensreformer wie Rudolf Heß unterstützt. Trotz der Einsprüche Alfred [sic] Bormanns und Hermann Görings, die auf einer robusteren und vor allem produktiveren Landbauweise bestanden, unterstützte Darré die biologisch-dynamischen Anbaumethoden so lange, bis er 1942 abgesetzt wurde. Das gleiche tat Himmler, der sich außerdem auf buddhistische Grundlage gegen die Vivisektion aussprach und – mit Unterstützung Hitlers – in den Führungsstäben der SS vegetarische Eßgewohnheiten einführte. Im Großen und Ganzen waren jedoch all das nur Tropfen auf den heißen Stein, wenn nicht gar bloße Propagandamanöver.« 45 William Rollins, ein Student von Hermand, versucht das »ökologisch Gute« im Handeln von Seifert und seinen »Landschaftsanwälten« nachzuweisen. Bei Rollins werden Seifert und die »Landschaftsanwälte« zu systematischen ökologischen Reformern: »Alwin Seifert and his fellow landscapers may have been Nazis, but it is also clear that, as garden architects, they were infused with an eighteenth-century philosophy of integrating nature and culture. The immediate origins of their Autobahn aesthetic, moreover, lay in the turn-of-thecentury Heimatschutz movement. The bodenständige aesthetic which Seifert and his fellow gardeners subsequently applied to the Autobahnen was devoted to the idea of conservation; indeed, the Landschaftsanwälte tried as best as they could to use the highway project as a platform for systematical ecological reform.« 46 Es lassen sich enge Zusammenhänge zwischen Vorstellungen über ›Reinheit der Rasse‹ und ›Reinheit von Landschaft und Kultur‹ im Denken und Schreiben von Seifert und anderen Landschaftsanwälten nachweisen, die nicht zu trennen sind von ihren Vorstellungen zur Gestaltung der Landschaft. Wie Hermand und Rollins versucht auch Raymond Dominick in seinem Buch The Environmental Movement in Germany: Prophets and Pioneers, 1871–1971 Ökologie von Politik und Ideologie zu trennen, indem er einen »völkischen« von einem »ökologischen« Naturschutz abhebt. »To summarize, it would seem that only one kind of conservation, the völkisch variety of Natur45 Hermand, Jost: Grüne Utopien in Deutschland. Zur Geschichte des ökologischen Bewusstseins, Frankfurt am Main 1991, S. 114f. Siehe zu der Frage eines »grünen Flügel« in der NSDAP auch Hennecke, Stefanie/Schütze, Bernd/Voigt, Anette/ Zutz, Axel: »Rezension zu: Radkau, Joachim; Uekötter, Frank (Hg.): Naturschutz und Nationalsozialismus, Frankfurt/New York 2003, in: Grüner Weg 31a. 2004, S. 75. 46 Rollins, William H.: »Whose Landcape? Technology, Fascims, and Environmentalism on the National Socialist Autobahn«, in: Annals of the Association of American Geographers. 3/1995, 85, S. 512.
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schutz, was centrally and durably aligned with Nazism […] But other varieties of conservation thinking, for example those grounded in the science of ecology or in pantheism, persisted, and they lacked any intrinsic intellectual tie to Nazism.« 47 Dominick versucht weiterhin, Seifert als »Ökologen« zu rechtfertigen und behauptet, dass die Gruppe um Seifert »had no prior organizational and only weak ideological connections to the Nazi cause«.48 »[…] To protect himself […] Seifert couched his arguments in National Socialist terminology.« 49 Joachim Radkau ist ein anderer Umwelthistoriker, der in den vergangenen Jahren durchaus zur Verschleierung und Verharmlosung nazistischer Tendenzen im Naturschutz beigetragen hat. In seinem Beitrag Historische Reflexionen zu hundert Jahren Naturschutz lässt er beispielsweise eine »Entnazifizierung des Naturschutzes« bereits im Jahr 1938 beginnen. »Im Übrigen war der starke Mann des Naturschutzes auch während der NS-Zeit nicht Schoenichen, sondern der Nicht-Nazi Hans Klose, der diesen 1938 aus der Leitung verdrängte. Schon während der NS-Zeit begann eine Entnazifizierung des Naturschutzes!« 50 Die in diesem Beitrag diskutierten Beispiele zeigen die Notwendigkeit der zukünftigen kritischen Auseinandersetzung nicht nur mit der Geschichte des Naturschutzes, sondern der auch dazu erfolgten Geschichtsschreibung der vergangenen Jahrzehnte auf.
47 Dominick, Raymond H.: The Environmental Movement in Germany: Prophets and Pioneers, 1871–1971, Bloomington/Indianapolis, Ind. (1992), S. 114. 48 Ebd., S. 222. 49 R. Dominick, S. 110. Damit ignoriert Dominick unter anderem auch, dass Seifert nicht nur fanatischer Antisemit war, sondern dies selbst in »fachlichen« Artikeln zum Ausdruck brachte. So charakterisiert er 1941 in dem Artikel »Die Wiedergeburt landschaftsgebundenen Bauens« eine als fehlerhaft angesehene Art des Mauerns in zynischer Form folgendermaßen: Haben wir nicht Juden gemauert, dass man davon ganze Konzentrationslager hätte bauen können«, in: Die Strasse, 1941, 8, S. 288. 50 Radkau, Joachim: »Zwanzigstes Jahrhundert – ein Jahrhundert des Naturschutzes? Historische Reflexionen zu hundert Jahren Naturschutz«, in: Grenzenloser Naturschutz – Herausforderung für Europa. Jahrbuch für Naturschutz und Landschaftspflege. Band 53. Bonn 2001, S. 296. Siehe auch den verharmlosenden Hinweis auf Günther Schwab, Konrad Lorenz, Alwin Seifert und andere sowie auf die Rolle des Naturschutzes im Nationalsozialismus [»Auf konkreter Ebene setzte das NS-Regime im Naturschutz lediglich Traditionen aus der Weimarer Republik fort. Dennoch galt die Naturschutzbewegung nach 1945 zu ihrem Leidwesen vielfach als NS-belastet«] in Radkaus Buch Natur und Macht. Eine Weltgeschichte der Umwelt (München 2000, aktualisierte und erweiterte Fassung von 2002, S. 298).
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Z U M K U LT U R D I S K U R S D E R BU N D E S R E P U B L I K D E U T S C H L A N D I N D E N JA H R E N D E S W I E D E R AU F B AU S A xel Schildt Dass die deutschen Gründer- und Wiederaufbaujahre von einem hohen Grad der Kontinuität der Eliten und der zugehörigen kommunikativen Netzwerke gekennzeichnet waren, ist hinlänglich bekannt. Deshalb hat sich in den letzten Jahren die Aufmerksamkeit der Zeitgeschichtsforschung auch stärker den Bewegkräften zugewandt, die aus der düsteren, semiautoritären Gesellschaft der frühen Bundesrepublik Deutschland (BRD) eine moderne und pluralistische Zivilgesellschaft mit ›normalen‹ demokratischen Standards westlicher Provenienz werden ließen, ein von den Zeitgenossen keineswegs vorhergesehener Prozess.1 Die mittlerweile in ihren Umrissen bekannten politischen Prozesse lassen nach Ausdrucksanalogien in den zeitgenössischen kulturellen Diskursen fragen. Dabei geht es in dieser knappen Skizze um die spezifische Kulturemphase des ersten Nachkriegsjahrzehnts, um die zeitspezifische abendländische Integrationsideologie, um die Widerstandsgloriole und den demonstrativen Philosemitismus als geschichtspolitischen Ausgleich zur nahezu restlosen Integration nationalsozialistisch belasteter Eliten und als bindendes Narrativ für die mediale Öffentlichkeit sowie schließlich um die Ablösung des konservativen Kulturpessimismus durch einen sogenannten modernen Konservatismus, der sich mit liberalen Versatzstücken amalgamiert auch in den Diskussionen um Urbanität am Ende der Wiederaufbaujahre findet. Die Skizze soll den allgemeinen ideengeschichtlichen Hintergrund geisteswissenschaftlichholistischer Tendenzen im Wiederaufbau der 1950er Jahre andeuten und damit indirekt auch zum Verständnis der Positionen von Edgar Salin und anderen beitragen, die in diesen Denkhorizonten agierten. Die ersten Nachkriegsjahre waren nicht nur von materieller Not, sondern zugleich von einer moralischen Misere bestimmt, einer tiefen Niedergeschlagenheit nach der nationalistischen Hybris und den Massenverbrechen während des Zweiten Weltkrieges. So lautete über1
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Vgl. Schildt, Axel/Sywottek, Arnold (Hg.): Modernisierung im Wiederaufbau. Die westdeutsche Gesellschaft der 50er Jahre, Bonn 1993 (Studienausgabe 1998); Schildt, Axel: Ankunft im Westen. Ein Essay zur Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik, Frankfurt a.M. 1999; Doering-Manteuffel, Anselm: Wie westlich sind die Deutschen? Amerikanisierung und Westernisierung im 20. Jahrhundert, Göttingen 1999; Herbert, Ulrich (Hg.): Wandlungsprozesse in Westdeutschland. Belastung, Integration, Liberalisierung, Göttingen 2002; zuletzt Cassier, Philipp: Der andere Weg. Deutschland und der Westen in den westdeutschen Debatten 1945–1960, Frankfurt a.M. 2010.
Kapitel IV
einstimmend der Befund aller Beobachter jener Zeit. Es war insofern auch keineswegs verwunderlich, dass das Kriegsende zur ›Stunde der Kirchen‹ wurde. Die Religion diente auch für viele Menschen, die zuvor kirchenfern gelebt hatten, als Trostspenderin in tiefer Not. Die Deutungen der Geschichte und der Gegenwart waren in den meisten der lizenzierten politisch-kulturellen Zeitschriften geprägt von Mustern quasireligiöser Umkehr, Meditation und zugleich der Besinnung auf den Kanon bürgerlicher Tugenden – Maß und Bescheidenheit, Ehrlichkeit, Aufrichtigkeit und Selbstzucht.2 Einen thematischen Kern der politisch-kulturellen Diskurse bildete in den ersten Nachkriegsjahren die sogenannte Schulddebatte. Im Zentrum stand die Frage, wie es zur »deutschen Katastrophe« (Friedrich Meinecke) habe kommen können. Der angeblich von den Siegermächten unterschiedslos gegen die gesamte Bevölkerung erhobene Vorwurf einer »Kollektivschuld« wurde dabei mit großer Entrüstung abgewiesen, außerdem begann die Aufrechnung von Schuld: Deutschen Kriegsverbrechen wurden die alliierten Luftangriffe und die Vertreibung der Deutschen aus den ehemaligen Ostgebieten entgegengestellt.3 Intellektuell anspruchsvoller war der Vorschlag des Philosophen Karl Jaspers, der die kriminelle Schuld, die von der Justiz zu verfolgen sei, von der politischen Schuld, die zur staatsbürgerlichen Haftung führe, und von der dem Individuum zukommenden moralischen Schuld unterschied, die wiederum von einer metaphysischen Schuld zu trennen sei, die letztlich die Existenz des Menschen in der Moderne betreffe.4 Im Zentrum der weitverzweigten Erörterungen stand aber gleichwohl die metaphysische Schuld als entlastende geistesgeschichtliche Konstruktion, häufig mit einem religiösen Einschlag. Die Abkehr von Gott seit der Renaissance habe zu einem geistigen Vakuum geführt, das von »modernen Dämonen, der Technik, der Vermassung und Entfremdung«, ausgefüllt worden sei. Das ist wenig verwunderlich, denn an vorderster Front der elegischen Ankläger gegen die moderne Technik standen nun auch jene elitären und konservativ-revolutionären aktivistischen Gegner der Weimarer Demokratie, wie 2 3
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Vgl. Laurien, Ingrid: Politisch-kulturelle Zeitschriften in den Westzonen 1945– 1949. Ein Beitrag zur politischen Kultur der Nachkriegszeit, Frankfurt a.M. 1991. Vgl. Kämper, Heidrun: Der Schulddiskurs in der frühen Nachkriegszeit. Ein Beitrag zur Geschichte des sprachlichen Umbruchs nach 1945, Berlin/New York 2005; Dutt, Carsten (Hg.): Die Schuldfrage. Untersuchungen zur geistigen Situation der Nachkriegszeit, Heidelberg 2010. Vgl. Frei, Norbert: Zwischen Kollektivschuldthese und »Volksgemeinschaftsversöhnungsgerede«: Karl Jaspers: Die Schuldfrage (1946), in: Jensen, Uffa u.a. (Hg.): Gewalt und Gesellschaft. Klassiker modernen Denkens neu gelesen. Bernd Weisbrod zum 65. Geburtstag, Göttingen 2011, S. 195–203.
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etwa die Brüder Ernst und Friedrich Georg Jünger, die vor 1933 den Mythos von den diktatorisch geformten und mit allen modernen Mitteln der Technik und Psychotechnik mobilisierten Massen für einen neuen Krieg gegen die westliche Zivilisation konstruiert und propagiert hatten.5 Diese Wendung der ehemals konservativ-revolutionären politischen Aktivisten hin zu scheinbar unpolitisch gewordenen kontemplativen Geschichtsdeutern, die sich mit einiger Larmoyanz als Opfer schicksalhafter Vorgänge stilisierten, kann als allgemeiner Trend der intellektuellen Entwicklung über das Dritte Reich hinweg konstatiert werden.6 Noch Anfang der 1950er Jahre, beim Darmstädter Gespräch über Mensch und Technik, das maßgeblich von der dortigen Technischen Universität organisiert worden war, konnte die, sich auch auf Ernst Jünger berufende, protestantisch-antitechnische Position viel Beifall erringen, wenn sie auch nicht mehr unangefochten blieb.7 Der Erfolg des nihilistisch-totalitären Dämons Adolf Hitler – quasi zufällig in Deutschland – erschien als Kulmination einer objektiven, rationalistisch-modernen Entwicklung, die Fragen nach der persönlichen Verantwortlichkeit als unbedeutend erscheinen ließ. Der metaphysische Nebel, in dem alle Menschen gleich schuldig erschienen, kam den weltanschaulichen Bedürfnissen – nicht zuletzt den einstigen Funktionseliten des Dritten Reiches – weit entgegen. Als Ausweg aus der Misere galten hauptsächlich zwei Perspektiven, die sich im Übrigen häufig zwanglos vereint finden. Die eine war die Besinnung auf die klassische deutsche Kultur, die »Heimkehr zu Goethe« und insbesondere zur klassischen Musik, als Flucht in die unversehrt gebliebene deutsche Hochkultur. Die andere oder besser: diese überwölbende Perspektive meinte den Ausweg aus der verhängnisvollen Entwicklung der modernen Säkularisierung in Richtung einer durchgreifenden Rechristianisierung. Das (christliche) »Abendland« avancierte im ersten Nachkriegsjahrzehnt zu einem der meistgebrauchten Begriffe der politisch-kulturellen Diskurse.8 Im beginnenden Kalten Krieg kam der Konstruktion einer Polarität von abendländischer Freiheit im Gegensatz zu einem bolschewistischen 5 6
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Vgl. Morat, Daniel: Von der Tat zur Gelassenheit. Konservatives Denken bei Martin Heidegger, Ernst Jünger und Friedrich Georg Jünger, 1920–1960, Göttingen 2006. Vgl. Gallus, Alexander/ Schildt, Axel (Hg.): Rückblickend in die Zukunft. Politische Öffentlichkeit und intellektuelle Positionen um 1950 und um 1930, Göttingen 2011. Schwippert, Hans (Hg. im Auftrag des Magistrats der Stadt Darmstadt und des Komitees Darmstädter Gespräch 1952): Mensch und Technik. Erzeugnis – Form – Gebrauch, Darmstadt 1952. Schildt, Axel: Zwischen Abendland und Amerika. Studien zur westdeutschen Ideenlandschaft der 50er Jahre, München 1999.
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beziehungsweise totalitären Kollektivismus – so lautete die zeitgenössische Terminologie – eine ideologische Brückenfunktion zu. Zum einen konnte der lebende totalitäre Dämon Josef Stalin an die Stelle des toten Dämons Adolf Hitler gesetzt werden. Dadurch mochte es vielen so scheinen, als hätten sie wenigstens bezüglich dieses Feindes schon immer auf der richtigen Seite gestanden. Diese AbendlandIdeologie wurzelte in Traditionen des 19. Jahrhunderts und bezog sich auf das noch weit ältere Geschehen des ewigen Kampfes zwischen der westlichen individualistischen Freiheit und dem östlichen Kollektivismus. Die Auseinandersetzung mit dem Kommunismus rückte in den frühen 1950er Jahren nicht den Gegensatz von parlamentarischer Demokratie und stalinistischer Diktatur in das Zentrum der Argumentation, sondern, wie nicht nur der Bundeskanzler Konrad Adenauer immer wieder formulierte, die »Wahl zwischen Sklaverei und Freiheit«. Deutschlandpolitisch hieß das Leitmotto demzufolge »Einheit in Freiheit«, um sich von der kommunistischen Wiedervereinigungspropaganda abzusetzen. Die vieldeutige Leitvokabel der »Freiheit« wiederum konnte in der christlich-konservativen Terminologie durchaus mit dem aggressiven Antiliberalismus und der tiefen Skepsis gegenüber einer zu weit gehenden Demokratie vereinbart werden. In konservativ-katholischen Zeitungen und Zeitschriften wie Rheinischer Merkur oder Neues Abendland wurde beklagt, dass die parlamentarische »Formaldemokratie« dem Bolschewismus im modernen Religionskrieg, einem »Krieg von Weltanschauungen« (Friedrich von der Heydte), nichts entgegenzusetzen habe. Der neue Staat, die BRD, wurde auch innerhalb dieser für einige Jahre dominanten Integrationsideologie im Westen verortet, allerdings in einem Westen, der, unter der positiven Einbeziehung der iberischen Diktaturen von Francisco Franco und António de Oliveira Salazar, keineswegs eine eindeutige Orientierung an liberalen Werten bedeutete, sondern sehr stark von der konservativen abendländischen Ideologie durchwirkt war.9 Vor diesem Hintergrund war es nicht verwunderlich, dass kritische Intellektuelle von einer »Restauration« sprachen. Insbesondere Walter Dirks und Eugen Kogon, die in den ersten Nachkriegsjahren in der hessischen CDU aktiv waren, brachten diesen Begriff in den Frankfurter Heften in Umlauf und meinten damit das Ende aller Hoffnungen auf einen wirklichen politischen und geistigen Neuanfang und den »Triumph des Hindenburg-Deutschen«, womit auf die Rückkehr der einstigen Funktionseliten und deren Habitus gezielt 9
Vgl. Conze, Vanessa: Das Europa der Deutschen. Ideen von Europa in Deutschland zwischen Reichstradition und Westorientierung (1920–1970), München 2005.
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wurde.10 Dieser Bitternis über die »restaurative« Atmosphäre brachte Wolfgang Koeppen in seinem legendären Schlüsselroman Das Treibhaus (1953) zum Ausdruck, in dem über das parlamentarische Bonner Getriebe hinausgehend die politische Kultur der frühen BRD charakterisiert wurde: »Deutschland war ein großes öffentliches Treibhaus […] Üppigkeit ohne Mark und Jugend, es war alles morsch, es war alles alt, die Glieder strotzten, aber es war eine Elephantiasis arabum.« 11 Die nahezu restlose Integration auch von nationalsozialistisch schwer belasteten Funktionseliten in den 1950er Jahren wurde begleitet von einer symbolischen Abgrenzung gegenüber dem »Dritten Reich«.12 Neben der strikten Unterbindung rechtsextremer und antisemitischer Organisationsversuche zielten diesbezügliche Bemühungen vor allem auf die Ehrung des nationalkonservativen Widerstandes vom 20. Juli 1944 und auf die »Wiedergutmachung« der Verbrechen an den Juden sowie die »Aussöhnung« mit Israel. Spätestens 1951/52 war der »Erinnerungskampf« (Norbert Frei) zugunsten eines ehrenden Gedenkens der militärischen und adeligen Widerständler sozusagen »von oben« entschieden worden. In seiner Rede zum zehnten Jubiläum des fehlgeschlagenen Attentats betonte Bundespräsident Theodor Heuss, dass der Versuch, »das Vaterland vor der Vernichtung zu retten«, trotz der Erfolglosigkeit »nicht nur Recht, sondern Pflicht« gewesen sei. Die Parallelisierung des 20. Juli 1944 mit dem 17. Juni 1953, dem Symbol der Auflehnung Ostdeutschlands gegen die stalinistische Diktatur, erleichterte die Popularisierung des nationalkonservativen Widerstandes. Der Historiker Ulrich Raulff hat die Durchsetzung des offiziösen Narrativs, »die Erfindung des 20. Juli als Geschichtszeichen aus dem Geist Stefan Georges«, als »Werk eines Autorenduos«, namentlich Marion Gräfin Dönhoff, Salin-Doktorandin und Redaktionsmitglied der damals noch stramm nationalkonservativen DIE ZEIT, und Edgar Salin selbst, beschrieben.13 10 Bröckling, Ulrich/Dirks, Walter: »Sozialist aus christlicher Verantwortung«, in: Schwab, Hans-Rüdiger (Hg.): Eigensinn und Bindung. Katholische deutsche Intellektuelle im 20. Jahrhundert. 39 Porträts, Kevelaer 2009, S. 323–340; Mühlhausen, Walter: Eugen Kogon – ein Leben für Humanismus, Freiheit und Demokratie, Wiesbaden 2006. 11 Koeppen, Wolfgang: Das Treibhaus (1953), in einer Ausgabe der Trilogie: Drei Romane (Tauben im Gras/ Das Treibhaus/ Tod in Rom), Frankfurt a.M. 1986, S. 123. Siehe dazu den Beitrag von Martin Peschken in diesem Band, S. 155. 12 Frei, Norbert: Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit, München 1996. 13 Raulff, Ulrich: Kreis ohne Meister. Stefan Georges Nachleben, München 2010, S. 420ff; Conze, Eckard: »Marion Gräfin Dönhoff, die Westbindung und die transatlantische Rezeption des deutschen Widerstandes«, in: Haase, Christian/ Schildt, Axel (Hg.): Die ZEIT und die Bonner Republik. Eine meinungsbildende
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Auch das zweite große Thema der symbolischen Abgrenzung vom Dritten Reich, die Wiedergutmachung und Aussöhnung mit Israel, war »von oben« eingeführt. Die Zahlungen an Israel im Rahmen des Londoner Schuldenabkommens im Jahr 1952 wurden von Adenauer mit der Unterstützung der Sozialdemokraten gegen die Widerstände im eigenen Kabinett und gegen die demoskopisch ermittelte relative Mehrheit der Bevölkerung durchgesetzt. Die offiziell bestärkte »Aussöhnung« mit den jüdischen Opfern des Nationalsozialismus fand ihren zeittypischen Ausdruck in der Gründung der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit.14 Antisemitische Einstellungen waren nun in der Öffentlichkeit tabu, im letzten Drittel der 1950er Jahre nahm auch die Aufmerksamkeit der Presse bei Prozessen gegen Antisemiten und NS-Verbrecher zu. Von der konservativen Abendland-Ideologie lässt sich idealtypisch eine liberale Strömung unterscheiden, die sich 1947/48 im beginnenden Kalten Krieg in ganz Westeuropa konstituierte: sie orientierte zugleich auf den Zusammenschluss des Westens und eine Liberalisierung der politischen Kultur. Der Abendland-Terminologie wurde auch hier anfangs mitunter gehuldigt und auch der kompromisslose Antikommunismus keineswegs abgelehnt. Die von der CIA insgeheim über amerikanische Gewerkschaften finanzierte Zeitschrift Der Monat stellte ihr erstes redaktionelles Vorwort im Oktober 1948 unter das Motto »Schicksal des Abendlandes«. Die kämpferische Frontstellung gegen den Totalitarismus bestimmte den internationalen Kongreß für die Freiheit der Kultur, der 1950 erstmals in West-Berlin tagte und »seine einzige Aufgabe in der Verteidigung der Freiheit des schöpferischen und kritischen Geistes gegen jegliche Einschränkung oder Bedrohung« sah.15 Zu den deutschen Unterzeichnern des Manifestes zählten unter anderen Alfred Weber, Theodor Plivier und der sozialdemokratische Regierende Bürgermeister Wochenzeitung zwischen Wiederbewaffnung und Wiedervereinigung, Göttingen 2008, S. 173–185; Kraus, Hans-Christof: »Das geheime Deutschland. Zur Geschichte und Bedeutung einer Idee«, in: Historische Zeitschrift, Bd. 291, 2010, 385–417; zur Entwicklung der ZEIT von stark nationalkonservativ geprägten Positionen zu einer liberalen Wochenzeitung seit der Mitte der 1950er Jahre vgl.: Schildt, Axel: »Immer mit der Zeit. Der Weg der Wochenzeitung DIE ZEIT durch die Bonner Republik – eine Skizze«, in: C. Haase/A. Schildt: DIE ZEIT, S. 9–27. 14 Vgl. Foschepoth, Josef: Im Schatten der Vergangenheit. Die Anfänge der Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit, Göttingen 1993; Erler, Hans/ Kosche, Ansgar (Hg.): Der Dialog zwischen Christen und Juden. Versuche des Gesprächs nach Auschwitz, Frankfurt a.M./New York 1999; Schönborn, Susanne/ Brenner, Michael (Hg.): Zwischen Erinnerung und Neubeginn. Zur deutsch-jüdischen Geschichte nach 1945, München 2006; die neuere Redeweise vom christlich-jüdischen Abendland fand in den 1950er Jahren noch kaum Verwendung. 15 Hochgeschwender, Michael: Freiheit in der Offensive? Der Kongreß für kulturelle Freiheit und die Deutschen, München 1998.
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von Berlin Ernst Reuter. Im internationalen Komitee wurden als deutsche Vertreter unter anderen Karl Jaspers, Alfred Weber, Carlo Schmid, Eugen Kogon, Adolf Grimme, Alexander Mitscherlich, Franz Borkenau und Dolf Sternberger genannt. Anders als in Der Monat wurde in den offiziellen Erklärungen des Kongresses der Abendland-Begriff weitgehend vermieden; an seine Stelle trat die »freie Welt«, ein Begriff, der eine nicht minder radikale Kampfbereitschaft gegen den östlichen »Totalitarismus« ausdrückte. Allerdings mahnten die Intellektuellen dieser Strömung, die vor allem liberale Publizisten, nicht wenige enttäuschte ehemalige Kommunisten und westlich orientierte Sozialdemokraten umfasste, auf ihrem zweiten Kongress 1953 in Hamburg, dass der Kampf gegen den Totalitarismus nicht dazu führen dürfe, im politischen Kampf des Kalten Krieges selbst totalitäre Mittel anzuwenden. Dies wandte sich gegen die Exzesse der McCarthy-Ära, die auch nach Westeuropa ausstrahlten. Was von den konservativen Abendland-Ideologen begeistert begrüßt wurde, führte bei den Liberalen zu einer kritischen Wachsamkeit gegenüber dem Abbau bürgerlicher Freiheiten.16 Nicht eine einheitliche Ideologie dürfe dem Kommunismus entgegengestellt werden, wie es die konservativen Abendland-Protagonisten forderten, sondern die pluralistische Gedankenfreiheit. Der Westen sollte dadurch attraktiv werden, dass er in diesem Sinne moderner war als der Osten. Die Modernität wiederum wurde in der Propaganda für die marktwirtschaftliche Ordnung vor dem Hintergrund realer Konsumerfahrungen präsentiert. Dieses Denken erhielt seit der Mitte der 1950er Jahre immer größere Resonanz.17 Die Angst vor dem Überstaat mochte sich auch bei liberalen Intellektuellen vordergründig vor allem auf »den Osten« beziehen. Aber häufig wurde auch betont, dass die immanente Gefahr einer wachsenden Bürokratie, anonymen Kontrolle und Entfremdung als Zerstörung von individueller Freiheit in den westlichen Staaten nicht minder gefährlich sei als die äußere Bedrohung.18
16 Salin hatte die Auswüchse der McCarthy-Arä auf das erstmalige Auftreten moderner »Lebensangst« in den USA zurückgeführt; die Amerikaner würden sich an dieses in Europa längst bekannte Phänomen gewöhnen und dann auch ihre politische Hysterie überwinden: Edgar Salin: Amerikanische Impressionen, Tübingen 1953, S. 10, 51; Salin hatte die USA ein Jahr zuvor bereist; vgl. Schildt, Axel: Moderne Zeiten. Freizeit, Massenmedien und ›Zeitgeist‹ in der Bundesrepublik der 50er Jahre, Hamburg 1995, S. 414. 17 Vgl. Schildt, Axel: »Ende der Ideologien? Politisch-ideologische Strömungen in den 50er Jahren«, in: A. Schildt/A. Sywottek: Modernisierung im Wiederaufbau, S. 627–635. 18 Vgl. M. Hochgeschwender: Freiheit in der Offensive?, S. 412ff.
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In diesem Zusammenhang wurde die Konstruktion eines typologischen Gegensatzes von »drittem« und »viertem Mensch« von Alfred Weber, einem akademischen Lehrer Salins, viel diskutiert. Der »vierte Mensch« ist, nach Alfred Weber, »nichts anderes als eben eine anlagemäßige Desintegrierung« vom ganzheitlichen »dritten Mensch« und ein in die »Gesamtverapparatung« als Hauptzug der »modernen Daseinsform« eingespanntes gesichtsloses Wesen, das als bloßes Objekt funktioniere. Aus der »dämonischen« Technik und der »Vermassung« der Gesellschaft entsprang hier die »Entfremdung«, die Einsamkeit des Einzelnen in der Masse.19 Die sich im Wiederaufbau der 1950er Jahre aufhellende Lebenswelt führte allerdings dazu, dass das Lamento über die »Masse« und die Beschwörung einer konsumasketischen Elite in abendländischer Verantwortung zunehmend ironisiert wurden. Der schrullige Antiurbanismus, obgleich er immer noch zahlreiche Verehrer fand, passte immer weniger zu den Erfolgen des Wiederaufbaus. Es mehrten sich die Beiträge, in deren Sicht die Technik nicht mehr als Ursache für die »Vermassung« galt, sondern im Gegenteil dazu als Mittel zur Auflösung der »Masse«. Die bald einsetzende Durchsetzung der Moderne im Wiederaufbau hat im Übrigen übersehen lassen, dass diese in der deutschen Tradition nie auf ihre rationalistischen Spielarten, etwa im »Neuen Bauen«, begrenzt war, sondern eine »organische Moderne« einschloss, die die Schaffung der (Volks-)Gemeinschaft durch eine wissenschaftlich avancierte Raum- und Stadtplanung vertrat. Für entsprechende Kontinuitäten, die die Zwischenkriegszeit mit den 1950er Jahren verband, standen an prominenter Stelle Vertreter wie Bernhard Reichow, der aufgrund seiner biologistischen Metaphorik mitunter als »Bernhard von Organien« tituliert wurde.20 Vor allem die Soziologie erlangte als empirische Sozialforschung in den Kultursendungen der Rundfunkanstalten, den politisch-kulturellen Zeitschriften und Feuilletons der Qualitätspresse zunehmend Deutungshoheit. Arnold Gehlen und Helmut Schelsky hatten bereits früh die neuen Forschungstrends in der Soziologie und Psychologie dahin gehend zusammengefasst, dass die Sicht auf die »Masse« die »Differenzierung unter dem Tisch« übersehe. Dort, so 19 Weber, Alfred: Der dritte oder der vierte Mensch. Vom Sinn des geschichtlichen Daseins, München 1953, S. 43, 53, 80. 20 Reichow, Bernhard: Organische Stadtbaukunst. Von der Großstadt zur Stadtlandschaft, 2 Bde., Braunschweig 1948/49; Auch Reichow war beim erwähnten Darmstädter Gespräch über Mensch und Technik mit einem Referat zugegen; vgl. zur Langzeitwirkung diesbezüglicher Leitbilder: Durth, Werner: Deutsche Architekten. Biographische Verflechtungen 1900–1970, Braunschweig/Wiesbaden 1986; ders./Sigel, Paul: Baukultur. Spiegel gesellschaftlichen Wandels, Berlin 2009.
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formulierte Gehlen, gebe es »die bunteste Vielzahl informeller Gruppierungen quer durch die Großorganisationen hindurch, kleine anonyme und doch indirekt oft höchst einflußreiche Netze von Freundschaften, Gesinnungs-, Vertrauens- und Traditionsgemeinschaften, von ›Teams‹, die man nur im Einzelfall sieht und die niemand über den engen Bereich seiner Erfahrung hinaus kennt.« 21 Die später als »moderner« oder »technokratischer« Konservatismus bezeichnete Strömung um das Dreigestirn Hans Freyer, Arnold Gehlen und Helmut Schelsky hatte nur noch wenig mit den konservativ-utopischen Anklängen an eine Aufhebung der »Entfremdung« zu tun. Im Gegenteil: Das Ausmaß »moderner Entfremdung« wurde breit ausgemalt, um die heroische Pose des Aushaltens der Entfremdung umso kontrastreicher entgegensetzen zu können. Die bedeutsamste Verallgemeinerung solcher Blicke auf die »moderne Gesellschaft« lieferte Freyer mit seiner 1955 erschienenen Theorie des gegenwärtigen Zeitalters. Hier ging es darum, dem unausweichlichen, vor allem psychologischen Druck der »sekundären Systeme« des »technischen Zeitalters« nicht mit Anpassung zu begegnen, sondern »über die Möglichkeit, der Entfremdung gewachsen zu sein«, nachzudenken.22 Dieser Argumentation diente etwa der glänzende Essay von Schelsky mit dem Titel Ist der Großstädter wirklich einsam? (1956), der direkt zum Themenfeld der Urbanität als kulturellem Konzentrat der Moderne führte: »Je sachlicher die menschlichen Beziehungen im Arbeitsraum werden und je privater und individuell wählbarer die im Freizeitraum, umso angemessener empfindet sie heute der Mensch. So wird gerade die Großstadt heute mehr und mehr zu seiner optimalen Umwelt, in der sich der moderne Mensch wohl fühlt und die er dem kleinstädtischen oder dörflichen Leben vorzieht, das ihm viel mehr Belastungen auferlegt. […] Die alten Vorstellungen von der Einsamkeit und seelischen Verlorenheit des Großstädters, die aus der Anonymität und Fremdheit der Menschen in der Großstadt stamme und nach neuen Gemeinschaftsbildungen als Heilmittel rufe, sind zur unwirklichen Romantik geworden.« 23 In diesem Zusammenhang wären die Positionen von Salin zu verorten, die sein Engagement für den Städtebau in Israel in den 21 Gehlen, Arnold: »Mensch trotz Masse«, in: Wort und Wahrheit, Jg. 8, 1952, S. 579–594; ders.: Die Seele im technischen Zeitalter. Sozialpsychologische Probleme in der industriellen Gesellschaft, Reinbek 1957 (4. Aufl. 1961). 22 Freyer, Hans: Theorie des gegenwärtigen Zeitalters, Stuttgart 1955, S. 234. 23 Schelsky, Helmut: »Ist der Großstädter wirklich einsam?« (1956), in: ders.: Auf der Suche nach Wirklichkeit. Gesammelte Aufsätze, Düsseldorf/Köln 1965, S. 305–309, hier S. 306.
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1950er Jahren umfassten, wie seine berühmt gewordenen kritischen Ausführungen zum Verlust und sein Postulat zur Wiederherstellung von urbaner Kultur 1960. Salin gilt in der Ideengeschichte der Wirtschaftswissenschaft gemeinhin als Vertreter einer von neoliberalen Ideologen anglofoner Richtung 24 in den Hintergrund gedrängten Richtung mit neoromantischen Einschlägen 25. Allerdings konnte deren ganzheitliche Betrachtungsweise der Ökonomie im Zusammenhang von Kultur und Gesellschaft, wie sie von Salin in der Zeitschrift Kyklos gepflegt wurde,26 auf andere sozialwissenschaftliche Felder übertragen werden. Auf dem Deutschen Städtetag 1960 avancierte Salin mit seinem Vortrag über »Urbanität« zum Stichwortgeber in der einsetzenden Diskussion um urbane Kultur. Dabei blieb er zwar nicht unbeeinflusst von den Argumenten der modernen Konservativen, aber letztlich handelte es sich bei seinen Einlassungen zu diesem Themenfeld doch um einen Gegenentwurf, der sich aus älteren geisteswissenschaftlichen und humanistischen Bildungstraditionen speiste und versuchte, den Gemeinschaftsgedanken und die Forderung nach mehr bürgerlicher Teilhabe zu vereinen.27 24 Vgl. Karabelas, Iris: Freiheit statt Sozialismus. Rezeption und Bedeutung Friedrich August von Hayeks in der Bundesrepublik, Frankfurt a.M./New York 2010, S. 115; der »Höhepunkt der herablassenden, kenntnis- und verständnislosen Verdammung des Sozialstaates« (Grosser, Alfred: Die Freude und der Tod. Eine Lebensbilanz, Reinbek 2011, S. 108, gemünzt auf Hayek) scheint mittlerweile überschritten, so dass die unterschiedlichen Ansätze ökonomischer Theoriebildung heute historiografisch besser zugänglich zu sein scheinen. 25 So die Salin-Kritik des Austro-Marxisten Leo Kofler, der von Salin dennoch gefördert und in Halle, wo er 1947 eine Professor erhalten hatte, besucht wurde; im Herbst 1949 wurde Kofler in einer Rezension in der von der sowjetischen Besatzungsmacht herausgegebenen »Täglichen Rundschau« vorgeworfen, seine Bücher enthielten unverstandene Lesefrüchte u.a. von Salin; Kofler verließ die SBZ und wechselte nach Westdeutschland; vgl. Jünke, Christoph: Sozialistisches Strandgut. Leo Kofler – Leben und Werk (1907–1995), Hamburg 2005, S. 158, 178, 196. 26 Schefold, Bertram: »Nationalökonomie als Geisteswissenschaft. Edgar Salins Konzept einer anschaulichen Theorie«, in: List-Forum für Wirtschafts- und Finanzpolitik, hrsg. im Auftrag der List Gesellschaft, Bd. 18, Baden-Baden 1992, S. 303–324; Schönhärl, Korinna: Wissen und Visionen. Theorie und Politik der Ökonomen im Stefan-George-Kreis, Berlin 2009; interessant wären Vergleiche der Positionen von Salin mit Ökonomen der »sozialen Marktwirtschaft« wie Wilhelm Röpke, die von ihrem Ansatz her die Gemeinschaft gegen die neoliberalen Ideologen vom Schlage Hayeks betonten; vgl. Mooser, Josef: »Liberalismus und Gesellschaft nach 1945. Soziale Marktwirtschaft und Neoliberalismus am Beispiel von Wilhelm Röpke«, in: Hettling, Manfred/Ulrich, Bernd (Hg.): Bürgertum nach 1945, Hamburg 2005, S. 134–163; Hennecke, Hans-Jörg: Wilhelm Röpke. Ein Leben in der Brandung, Stuttgart 2005; zur Neigung Schweizer Intellektueller, als Berater für öffentliche Aufträge zu fungieren, vgl. das Themenheft: »Les Intellectuels en Suisse au 20e Siècle – Intellektuelle in der Schweiz im 20. Jahrhundert« von Traverse. Zeitschrift für Geschichte, Heft 2/2010. 27 Vgl. Salin, Edgar: »Urbanität«, in: Deutscher Städtetag (Hg.): Erneuerung unserer Städte. Referate, Aussprachen und Ergebnisse der Augsburger Hauptversammlung des Deutschen Städtetages 1960, Heft 6, Stuttgart/Köln 1960, S. 9–34; vgl.
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Am Ende der 1950er Jahre finden wir also eine merkwürdige Konstellation in der Ideenlandschaft vor. Während ein moderner Konservatismus sich mit den irreversibel erscheinenden gesellschaftlichen Folgen der Moderne arrangierte – um sie letztlich wieder beherrschen zu können – und in dieser Sicht zwar keine Verschmelzung, aber Annäherungen an genuin liberale Gedankengänge erfolgten, blieben Diagnosen eines Gemeinschafts- und Sinnverlustes und daraus folgende düstere Zukunftsszenarien zunehmend – in der Terminologie oft traditioneller konservativer Kulturkritik bis zur Verwechslung ähnlich – in erster Linie »kritisch-theoretischen« Denkern vorbehalten. Dass dieser Entfremdungsdiskurs allerdings in den 1960er Jahren eine radikale linke Konnotation erhielt, während die Propagandisten einer neuen Urbanität bald als seelenlose Technokraten im Dienst der Profitmaximierung der Wohnungswirtschaft stigmatisiert wurden, hat überdeckt, dass die nicht eingelöste Sehnsucht nach Gemeinschaft auch in einer neuen intellektuellen Generation aufgegriffen wurde, deren Vertreter erst mit der Zeit entdeckten und dann auch selbstbewusst akzeptierten, welchen konservativen Bahnen sie folgten, als sie den modernen Wiederaufbau als Zerstörung urbaner Kultur kritisierten.28
ders. »Vom Geist der Stadt«, in: Rinn, Hermann/Rychner, Max (Hg.): Dauer im Wandel. Festschrift zum 70. Geburtstag von Carl J. Burckhardt, München 1961, S. 364–374; zur Position von Salin um 1960 einordnend Binder, Beate: »Urbanität als ›Moving Metaphor‹. Aspekte der Stadtentwicklungsdebatte in den 1960er/1970er Jahren«, in: von Saldern, Adelheid (Hg.): Stadt und Kommunikation in bundesrepublikanischen Umbruchszeiten, Stuttgart 1996, S. 45–63. Siehe dazu den Beitrag von Korinna Schönhärl, S. 46 und Karin Wilhelm, S. 64 in diesem Band. 28 Klassisch das Buch von: Siedler, Wolf Jobst, u.a.: Die gemordete Stadt. Abgesang auf Putte und Straße, Platz und Baum, Berlin 1964; die Phänomene urbaner Vergesellschaftung sind geschichtswissenschaftlich erst für die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts thematisiert worden: vgl. Bock, Hans Manfred: »Der Intellektuelle als Sozialfigur. Neuere vergleichende Forschungen zu ihren Formen, Funktionen und Wirkungen«, in: Archiv für Sozialgeschichte, Bd. 51, 2011, S. 591–643.
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KAPITEL V A N NÄ H E RU N G E N : I S R A E L U N D D I E B R D NAC H 1 9 4 5
D I E KO N T RO V E R S E U M R E PA R AT I O N E N I N I S R A E L Yaakov Sharett »Die Nichtjuden hassten, ermordeten und verbrannten uns nicht nur, vor allem hielten sie uns für minderwertig. In unserer Generation, die wir die ›letzte in der Sklaverei und erste der Erlösten‹ nennen, in der wir geachtet und aus der Knechtschaft befreit wurden, werdet ihr uns um einiger Millionen schmutziger Dollars willen das bisschen Achtung rauben, das wir uns erworben haben. Ich ermahne Euch, Mitglieder der Knesset aller Fraktionen, lasst das nicht unkommentiert! Wenn das Wort ›Werdet getötet und lasst das nicht durchgehen‹ irgendeine Bedeutung hat, dann diese: Es gibt Dinge im Leben, die kostbarer sind als das Leben selbst und schlimmer als der Tod. Das ist eine dieser Wahrheiten, für die wir unser Leben geben werden – für die wir zu sterben bereit sind. Es wird keine Verhandlungen mit den Deutschen geben. Wir, die letzte Generation in der Sklaverei; wir, die wir sahen, wie unsere Eltern in die Gaskammern gezerrt wurden; wir, die wir das Rattern der Räder der Todeszüge hörten – werden wir aus Angst unser Leben nicht riskieren, um Verhandlungen mit den Mördern unserer Väter zu verhindern? Wenn wir uns nicht erheben, müssen wir unsere Gesichter im Boden vergraben. Wir sind zu allem bereit, zu allem, um diese Schande von Israel abzuwenden. Ich weiß, dass Sie die Kraft dazu haben. Egal. Für eine gerechte Sache werden wir bis zum Ende kämpfen. Es wird keine Reparationen aus Deutschland geben. Gott helfe uns allen, dieses Desaster zu verhindern, um unserer Zukunft und unserer Ehre willen.« Diese Auszüge aus der Rede Menachem Begins vom 7. Januar 1951 vor der Knesset soll 60 Jahre in die Vergangenheit zurückversetzen, um einen Eindruck von der Intensität der Emotionen zu vermitteln, die 1951/52 die israelische Gesellschaft in der Frage nach deutschen Reparationsleistungen umtrieben und spalteten.1 Die Frage, 1
Menachem Begin, damals Führer der rechten Oppositionspartei Herut, von 1977–1983 israelischer Premierminister.
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ob man in direkte Verhandlungen mit der Bundesrepublik Deutschland (BRD) über Wiedergutmachungszahlungen eintreten sollte oder nicht, ist vielleicht die am heftigsten umstrittene in der gesamten Geschichte des Staates Israel. Warum wurde dieses Thema derart kontrovers diskutiert? Natürlich wegen des Holocaust, weil nur wenige Jahre nach dem Zusammenbruch des NS-Reichs die Erinnerungen noch so frisch waren. Viele Israelis waren Überlebende des Holocaust, und noch mehr trauerten um Angehörige, die in den Vernichtungslagern ermordet worden waren. Schon der Gedanke, dass der Staat Israel mit »etwas Deutschem« zu tun haben könnte, klang grotesk. Für viele Israelis war es einfach unvorstellbar, sich mit Deutschen von Angesicht zu Angesicht an einen Tisch zu setzen, deutsche Hände zu schütteln und Verträge mit Deutschen zu schließen. Weshalb forderte die israelische Regierung überhaupt Reparationen? Aus Not, und Not macht erfinderisch. In den Jahren nach dem Unabhängigkeitskampf befand sich Israel in einer schweren Wirtschaftskrise und musste den Wiederaufbau so schnell wie möglich bewältigen. Gewaltige Einwandererwellen von Holocaust-Überlebenden aus Europa, Juden aus arabischen Ländern – von Marokko im Westen bis zum Irak im Osten und Jemen im Süden – strömten ins Land. Sie brauchten Wohnungen, Nahrung und Arbeit. Die Erfüllung dieser Aufgaben hatte die Staatskassen geleert. Bereits im Jahr 1951 besaß Israel keinerlei Devisen mehr für den Import von Erdöl, und Getreideladungen von Schiffen im Hafen von Haifa konnten nicht gelöscht werden, weil die Regierung die Importeure nicht bezahlen konnte. An diesem kritischen Punkt – Ende 1950 – äußerte David Horowitz, Oberstaatssekretär des Finanzministeriums, zunächst gegenüber Außenminister Moshe Sharett und dann Premierminister David Ben-Gurion seinen Lösungsvorschlag: Israel solle von Deutschland für die Aufnahme von 500.000 Einwanderern, die meisten von ihnen Holocaust-Überlebende, Reparationszahlungen erhalten. Die Mindestkosten für die Aufnahme pro Einwanderer wurden auf 3000 US-Dollar geschätzt, die Gesamtsumme belief sich demnach auf 1,5 Milliarden US-Dollar. Sharett und Ben-Gurion griffen Horowitz’ Vorschlag auf. Die beiden Männer standen an der Spitze der sozialdemokratischen Arbeiterpartei (Mapai), der größten Partei des Landes, die auch die Regierungskoalition anführte. Diese Politiker, die viele Jahre lang den Vorsitz derselben Partei innehatten, waren sehr unterschiedlich: BenGurion war ein »Falke«, Sharett eine »Taube«. Ihre Beziehung zerbrach 1956 im Streit über Ben-Gurions Absicht, einen Präventionskrieg gegen Ägypten zu führen, was Sharett vehement ablehnte. In den Jahren 1951/52 waren sie sich aber in der Frage nach deutschen
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Reparationen dann wieder einig. Beide erkannten, dass der Staat Israel Deutschland langfristig nicht boykottieren und jeden Deutschen meiden konnte, wie es seit seiner Gründung der Fall gewesen war. Ihre Überlegungen waren sowohl moralischer als auch pragmatischer Art. Die nachkommenden Generationen von Deutschen konnten nicht für die Verbrechen ihrer Väter verantwortlich gemacht werden. Die BRD war bereits auf dem Weg zur Großmacht. Ein isolierter Staat wie Israel konnte es sich nicht leisten, die BRD zu ignorieren. Ben-Gurion und Sharett wussten beide, dass ein Reparationsabkommen nicht nur direkte Kontakte mit der BRD, sondern schließlich auch die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen beiden Ländern nach sich ziehen würden. Die israelische Bevölkerung dagegen leugnete jede Verbindung zwischen direkten Verhandlungen und diplomatischen Beziehungen. Das Kabinett musste von der Notwendigkeit direkter Verhandlungen überzeugt und die Koalitionsparteien (Mapai und die religiösen Parteien) mussten dafür gewonnen werden, um die Zustimmung der Knesset zur Aufnahme direkter Verhandlungen mit der bundesdeutschen Regierung zu erhalten. Diese Überzeugungs- und Koordinierungsarbeit fiel vor allem Außenminister Sharett zu. Ben-Gurion stand zwar voll hinter ihm, es war aber trotzdem keine leichte Aufgabe, denn mehrere Minister waren strikt gegen solche Verbindungen. In einer Kabinettssitzung vom 17. Dezember 1950 sagte Versorgungsminister Dov Yosef (Mapai): »Wenn wir etwas erreichen, ist mir klar, dass wir nur unsere Hände schmutzig machen werden. Ich stimme gegen direkte Verhandlungen. Wir sollten einen befreundeten Staat bitten, uns zu vertreten. Bitten wir Norwegen! Ich kann Norweger hinschicken, die für uns sprechen, aber ich selbst bin außerstande, mit Deutschen zu sprechen.« Die Arbeitsministerin Golda Meir sagte: »Es ist denkbar, dass eine israelische Delegation in einem deutschen Ministerium sitzt und mit deutschen Regierungsvertretern spricht. Ich nehme an, dass die Westmächte ein Interesse daran haben, dass wir in direkten Kontakt mit Deutschland treten. Sie stehen kurz davor, eine deutsche Armee aufzubauen und den Kriegszustand zwischen ihnen und Deutschland zu beenden. Für sie ist alles zufriedenstellend geregelt, und unsere negative Haltung sehen sie als unbequemes Hindernis. Wenn wir eine offizielle Delegation entsenden, würden wir damit jedes Vorgehen der Westmächte zur Normalisierung ihrer Beziehungen zu Deutschland rechtfertigen. Wir müssen unsere Forderungen in den vier Hauptstädten der Großmächte stellen. Wenn diese unsere Forderungen gutheißen, werden sie sie durchsetzen, ohne dass wir direkten Kontakt zur deutschen Regierung haben. Wenn
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nicht, wird direkter Kontakt auch nicht helfen, aber die ganze Welt wird davon hören, dass Juden mit Deutschen verhandeln.« 2 Ein weiterer Minister, Rabbi Maimon von der Vereinigten Religiösen Front, äußerte: »Mir versagt die Stimme, wenn ich höre, dass die Regierung eine offizielle Delegation nach Deutschland schicken soll, während die Schreie des Blutes unserer Brüder aus der Erde zu uns aufsteigen. Ich bezweifle, dass wir irgendetwas erreichen, und wenn doch: wäre das der Mühe wert? Wir dürfen keinerlei Verbindungen zu den Deutschen haben, denn wir befinden uns seit Urzeiten mit den Amalekitern im Krieg.3 Sollen wir etwa mit diesen Mördern reden? Die Regierung muss erklären, dass wir keinen Kontakt mit ihnen aufnehmen. Ihre mörderischen Taten werden nicht gesühnt werden. Über eine Delegation nach Deutschland soll kein Wort mehr verloren werden. Lasst die Gojim wissen, dass wir uns nach allem, was die Deutschen uns angetan haben, nicht mit ihnen arrangieren können.« Am 3. Januar 1951 stimmten fünf der zehn Kabinettsmitglieder für die Entsendung einer offiziellen Delegation nach Deutschland und fünf dagegen. Der Vorschlag wurde also nicht angenommen. Das Kabinett beschloss aber, den vier alliierten Streitkräften ein Memorandum mit den israelischen Forderungen zu zuschicken. Das geschah am 12. März 1951. Die Sowjets ignorierten es. Die USA, Großbritannien und Frankreich antworteten, Israel solle direkt mit der BRD über seine Forderungen verhandeln. Von Anfang an wusste Außenminister Sharett, dass direkte Verhandlungen unausweichlich sein würden. Seinen Äußerungen nach war Israel ab seiner Gründung als souveräner Staat verpflichtet, sich auch als Mitglied der internationalen Staatenfamilie zu verhalten und seinen damit verbundenen Verpflichtungen eigenständig nachzukommen. Israel könne nicht als jüdische Nation innerhalb einer anderen Nation funktionieren. Während einer Kabinettssitzung am 28. Oktober 1951 sagte Sharett unverblümt und leicht sarkastisch: »Ich möchte das Kabinett auf eine Tatsache hinweisen: Wir sind ein Staat!« Dann fuhr er fort: »Und wenn wir tatsächlich ein Staat sind, können wir die Existenz anderer Staaten nicht ignorieren. Israelis, die Verhandlungen mit Deutschland ablehnen, leben in der Wirklichkeit der Diaspora, nicht in der Realität ihres Staatsbürgertums. Wir haben versucht, Deutschland in der internationalen Arena zu isolieren, mit dem Ergebnis, dass wir selbst isoliert wurden. Wenn wir an Sitzungen inter2 3
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Golda Meir wurde später Außenministerin (1956–1965) und Premierministerin (1969–1974). Im Alten Testament gelten die Amalekiter als räuberisches Nomadenvolk im Süden Palästinas und Erbfeind Israels.
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nationaler Organisationen teilnehmen, diskutieren wir auch mit Deutschland, stimmen gemeinsam mit Deutschland ab oder stimmen gegen Deutschland, handeln also gemeinsam mit den Deutschen. Wir nähern uns jetzt der Endphase, in der wir für unsere Aussöhnung mit der Rückkehr Deutschlands in die internationale Staatenfamilie einen Preis nennen können. Wir können dafür zumindest die Zahlung von Millionen und Abermillionen von Dollars für die geraubten und geplünderten jüdischen Besitztümer verlangen. Wir könnten aber auch an dem Prozess der Wiedereingliederung Deutschlands in die internationale Staatengemeinschaft teilnehmen, ohne dass sie uns einen Pfennig zahlen. Jeder Gedanke daran, dass es verboten ist, mit Deutschland zu reden, ist absurd. Bei den indirekten Verhandlungen ist nichts herausgekommen. Wenn das unsere Position ist, hätten wir [den Alliierten] unsere Forderungen nach Reparationen überhaupt nicht unterbreiten dürfen. Wir hätten darauf verzichten müssen. Da wir es aber getan haben, müssen wir auch Schlüsse daraus ziehen.« Der deutsche Bundeskanzler Konrad Adenauer wurde kontaktiert und traf sich am 19. April 1951 in einer geheimen Sitzung mit Horowitz und dem israelischen Botschafter in Paris. Die Israelis nannten Israels Forderung: 1,5 Milliarden US-Dollar. Das Ergebnis der Sitzung war Adenauers historische Rede vor dem Bundestag am 27. September 1951, in der er seine Bereitschaft erklärte, mit Israel über Reparationszahlungen an Israel und das jüdische Volk zu verhandeln. Was die israelische Seite anging, so war von da an die Knesset das Hauptforum für Diskussionen zu diesem Thema. Hier entwickelte sich eine interessante Situation. Während die Mapai als größte Regierungspartei und die religiösen Parteien für direkte Verhandlungen plädierten, waren sowohl die beiden rechten Oppositionsparteien Herut und die Allgemeinen Zionisten als auch linke Parteien, die offen pro-sowjetisch eingestellte zionistisch-marxistische Mapam und die Communist Party of Israel, dagegen. Die entscheidende Knesset-Debatte über direkte Verhandlungen im Januar 1952 dauerte drei Tage. Zu Beginn habe ich Auszüge aus der Rede des Herut-Parteichefs Begin am 7. Januar 1951 zitiert. Es war seine zweite Rede an dem Tag, denn zuvor hatte er bereits auf dem größten Platz in Jerusalem vor rund 15.000 Gegnern der deutschen Reparationen eine feurige Rede gehalten. Danach eilte er zum nahe gelegenen Knesset-Gebäude, gefolgt von den meisten Demonstranten, die ihre Parolen skandierten und Steine warfen. Ein Abgeordneter der Knesset wurde dabei leicht verletzt. Die Knesset-Sitzung wurde unterbrochen, Polizei und Armee-Einheiten wurden herangezogen und trieben die gewalttätigen Demonstranten mit Tränengas ausei-
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nander. Es herrschte Putsch-Atmosphäre. Das war noch nicht alles. Etwa ein Jahr später – am 27. März 1952 – wurde ein an Bundeskanzler Adenauer adressiertes verdächtiges Päckchen in der Münchner Polizeizentrale abgeliefert, wo es explodierte. Vier Personen wurden schwer verletzt, eine von ihnen starb. Der Absender, ein ehemaliges Irgun-Mitglied, offenbarte 54 Jahre später, dass er die Bombe auf direkten Befehl von Begin und zwei Kollegen, einer von ihnen Knesset-Mitglied Yohanan Bader, gebaut hatte.4 Bader hatte am 6. Mai 1952 vor der Knesset gesagt: »Woran sind die Deutschen vor allem interessiert? An den Verhandlungen selbst, damit sie mit den Juden zusammensitzen können und die Welt sehen kann, dass die Juden die Deutschen für vertrauenswürdige Schuldner halten. Ein Abkommen ist ein Schritt zur Versöhnung. Nichts von dem, was von diesem Rednerpult gesagt wird, ändert etwas daran. Ein Abkommen mit den Deutschen bedeutet Kompromiss, Vergebung, Friedensschluss und zum allermindesten die Erschließung eines Weges, der zu Kompromissen und Vergebung führt. Eine Vereinbarung ist aber noch keine Zahlung. Werden die Deutschen sich darum scheren, zu zahlen oder nicht zu zahlen, wenn der Vertrag geschlossen ist? Wenn sie nicht zahlen, sind sie schlechte Schuldner, aber was ficht das die Nazi-Mörder an? Die Welt weiß es seit Langem, dass sie ihre Schulden nie beglichen haben, und das werden sie auch diesmal nicht tun. Deshalb flehe ich Sie, meine Herren, in letzter Minute an: Um Gottes willen, widerstehen Sie! Sie hatten ihre Schwierigkeiten mit dem Gedanken an Verhandlungen, Sie waren bekümmert und werden es noch stärker sein. Niemand weiß, wo das alles enden wird. Widerstehen Sie!« Während die zweite rechte Oppositionspartei, die Allgemeinen Zionisten, aus denselben Gründen gegen direkte Verhandlungen stimmte, lehnten zwei ihrer Abgeordneten schon den Gedanken an Reparationen kategorisch ab. Das Knesset-Mitglied Elimelech Rimalt, ein Lehrer, der seine Eltern durch den Holocaust verloren hatte, sagte in seiner Rede: »Die Deutschen in Ost und West sind alle gleich: Ein Volk, das mehrheitlich aus Mördern besteht, ändert sich nicht so schnell. Und mit diesen Ehrenmännern sollen wir einen Vertrag auf Treu und Glauben schließen! Wir werden am gleichen Tisch sitzen müssen wie sie, mit ihnen trinken, die Hände schütteln, die das Blut unserer Brüder und Eltern vergossen haben. Der deutsche Kanzler gehört vielleicht nicht zu den Mördern. Vielleicht ist er anders als die große Mehrheit seines Volkes, wie steht es aber 4
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Irgun: Militärorganisation der Revisionisten-Partei vor der Staatsgründung, Vorläufer der späteren Herut-Partei.
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mit seinen Subalternen? Und was sagen wir unserer Jugend, unseren Kindern, denen wir moralische Werte vermittelt haben, die wir gelehrt haben, dass es Situationen gibt, in denen das scheinbar Lohnenswerte moralisch inakzeptabel sein kann? Können wir sie daran hindern, das Geld, das wir bekommen werden, in Pro-Kopf-Zahlen zu übersetzen? Mein kleiner Sohn hat mich gefragt: ›Wieviel kriegen wir für Großmutter und Großvater?‹, denn meine beiden Eltern wurden ermordet. Das ist zu schwer und schmerzlich für uns.« Rimalts Kollege, Knesset-Mitglied Chaim Boger, auch er ein Lehrer, war noch radikaler und sagte in seiner Rede: »Vergesst es nie! Das ist die Tagesordnung. Für diejenigen, die in dieser Zeit der Trübsal still [als Zuschauer] dabeisitzen wollen, wird der Prophet den Fluch aussprechen: ›Fluch dem, der das Wort des Herrn fälschlich tut, und Fluch dem, der sein Schwert nicht mit Blut befleckt.‹ Die jüdische Jugend muss heute und für immer wissen, dass der Staat Israel Rache an denen fordern wird, die das jüdische Volk hassen, nicht Reparationen und Frieden. Fordern, nicht bitten! Die Zahlung von Reparationen durch Deutschland für das Plündern und Rauben sollte nur als Rache mit Schwertern in unseren Händen eingefordert werden, mit Fallschirmjägern, die Berlin, Frankfurt und Bonn sprengen und dem Erdboden gleichmachen. Nur dann wird der Gedanke, die Hoffnung, eines Tages den Namen Israel auf der Erde auszulöschen, in jener Nation von Mördern und in anderen Nationen mit ähnlicher Gesinnung mit der Wurzel ausgerottet werden.« Auf der anderen Seite des politischen Spektrums brachten die Sprecher der beiden linken Parteien ein ganz anderes Argument in die Debatte ein, natürlich unter dem Einfluss sowjetischer Propaganda: Der Eintritt Israels in Verhandlungen mit Westdeutschland sei ein Nebenprodukt des Kalten Krieges, weil sie auf Befehl der Westmächte durchgeführt werden sollten, um Deutschland von seiner Schuld an den Verbrechen des Zweiten Weltkrieges freizusprechen und seine Rückkehr in die Völkerfamilie als vertrauenswürdiger Staat zu erleichtern. Dies sei vor allem nötig im Hinblick auf die Pläne des westlichen Lagers, einen Krieg – den Dritten Weltkrieg – gegen die Sowjetunion zu führen. Ich zitiere ein Beispiel dieser Argumentation von Yaakov Hazan, Knesset-Abgeordneter der Mapam-Partei: »Nazi-Deutschland wird wiederbelebt, und unsere westlichen ›Freunde‹ nähren den Nationalsozialismus, der erneut Chaos und Verwüstung in der Welt anrichten wird. Mit diesem NaziDeutschland will unsere Regierung Verhandlungen aufnehmen. Das ist gleichbedeutend mit der Negation des heroischen Kampfes der Menschen im Warschauer Getto, mit dem Verrat an der qualvollen Hölle, die das jüdische Volk durchlitten hat. Verhandlungen mit der
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Bonner Regierung bedeuten de facto die Anerkennung von NachNazi-Deutschland. Das ist der Hauptpunkt. Das wird unausweichlich das erschreckende politische Ergebnis dieser Verhandlungen sein. Es wird immer deutlicher, dass der Dritte Weltkrieg kein Atomkrieg sein wird, weshalb ein Bedarf an zeitgenössischen Kannibalen, Mördern und Nazis besteht, ohne die ein Dritter Weltkrieg nicht geführt werden könnte. Die Westmächte wollen, dass Europa von Westdeutschen gegen die Sowjetunion angeführt wird. Sind Sie etwa bereit, diese abscheuliche Absicht zu unterstützen? Wir, der Staat Israel, Alleinerbe von sechs Millionen Toten – sollen wir etwa dieses Verbrechen rechtfertigen? Sehen Sie nicht, dass dieser Vorschlag genau das bedeutet? Unsere Armee, die israelische Verteidigungsarmee, wird in den politischen Abgrund stürzen und sich im selben Lager wiederfinden wie die Nazi-Armee!« Wie stand es aber um die Arbeiterpartei, die Nummer eins der Regierung? Wir haben bereits gesehen, dass einige ihrer führenden Persönlichkeiten, wie etwa Golda Meir, ernsthafte Zweifel bezüglich direkter Verhandlungen mit Deutschland hegten. Nicht wenige ihrer Mitglieder aber lehnten jeden Gedanken an Reparationen kategorisch ab. In einer Sitzung des Zentralkomitees der Arbeiterpartei drückten zwei Überlebende aus dem Getto von Wilna ihre Ablehnung in äußerst harten Worten aus. Ich zitiere einen von ihnen: »Es ist nicht leicht zu sagen: ›Nehmt kein Geld!‹, besonders an diesem regnerischen Abend, an dem man sich vorstellen kann, unter welch erbärmlichen Bedingungen unsere neuen Einwanderer in ihren Zeltlagern hausen. Der Teil von mir, der überlebt hat, sagt: ›Hast du getötet und auch in Besitz genommen?‹ Der Teil in mir, der getötet wurde, sagt: ›Hast du vergessen und in Besitz genommen?‹ Ich möchte Sie an einen anderen Satz über die Amalekiter erinnern, zu deren König [Agag] der Prophet Samuel sprach: ›Wie dein Schwert Weiber ihrer Kinder beraubt hat, also soll auch deine Mutter der Kinder beraubt sein unter den Weibern.‹ 5 Wenn Sie mich fragen, was ich dem deutschen Volk wünsche, sage ich: eine Mutter für eine Mutter, einen Vater für einen Vater, ein Kind für ein Kind. Meine Seele würde in Frieden ruhen, wenn es möglich wäre, sechs Millionen Deutsche für sechs Millionen ermordete Juden zu töten. Wenn wir aber keine Rache nehmen können, dann können wir ihnen zumindest vor den Augen der ganzen Welt ins Gesicht spucken – trotz all ihrer Zahlungen. Ich schließe schon jetzt meine Augen, um den Anblick eines israelischen Ministers oder Repräsentanten am selben Tisch mit Adenauer bei der Unterzeichnung des Vertrages zu 5
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Altes Testament: Erstes Buch Samuel 15, V. 33.
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vermeiden. Selbst wenn wir in bester Absicht verhandeln wollen, stehen wir kurz davor, einen historischen Fehler zu begehen. Es liegt nicht in meiner Macht, Sie zu überzeugen. Mir fehlen die nötigen Worte dafür, aber ich flehe Sie an: Machen sie keinen Fehler!« Premierminister Ben-Gurions Antwort lautete: »Ich möchte unseren beiden Genossen sagen: Ich teile ihren Schmerz, aber nicht ihre Emotionen. Ich lehne ihre Gefühle kategorisch ab, weil ich nicht ins Getto voller nervenaufreibender Emotionen zurückkehren will. Unsere Art der Abrechnung ist die einer unabhängigen Nation. In unseren Debatten geht es primär um zwei gegensätzliche Standpunkte: den der Getto-Juden und den der Bürger eines unabhängigen Staates. Ich möchte keinem Deutschen nachlaufen, um ihn anzuspucken. Ich will überhaupt niemandem nachlaufen. Ich möchte da bleiben, wo ich bin, und mein Haus bauen. Ich werde nicht nach Amerika gehen, um gegen Adenauer zu demonstrieren. Ich werde dort hingehen, um die Interessen Israels zu vertreten. Ich werde die Deutschen nicht ausgrenzen, weil wir dadurch nur uns selbst ausgrenzen. Anstatt mit Adenauer an einem Tisch zu sitzen, könnten wir 100 Divisionen nach Deutschland schicken und den Soldaten befehlen: ›Enteignet sie!‹ Nein. Selbst wenn wir könnten, würde ich das eher zuerst im Irak tun, aber auch das ist unmöglich. Wir können nicht alles tun. Selbst die Russen und die Amerikaner können es nicht. Ein Staat bemüht sich darum, das Wohl, die Sicherheit und Wirtschaft des eigenen Landes zu stärken. Er befasst sich nicht damit, jemanden zu bespucken. Für mich ist demonstratives Bespucken keine nationale Ehrensache. Unsere nationale Ehre liegt im Staat Israel. Für mich ist es nationale Ehrensache, 50.000 Juden aus der finsteren und grausamen Diaspora im Jemen herauszuholen. Das ist unsere nationale Ehrensache! Ich finde es verächtlich, Ehre im Spucken und Demonstrieren zu suchen. Als wir unterdrückt in Gettos lebten, hat es uns erleichtert, auf Nichtjuden zu spucken, aber niemals von Angesicht zu Angesicht. Wir taten es nur zu Hause, hinter verschlossenen Türen. Diese Art nationale Ehre lehne ich ab. Ich floh aus dem Getto, als ich 19 Jahre alt war, und ging nach Palästina, und ihr werdet mich nicht dorthin zurückbringen. Wir werden uns nicht von der Außenwelt isolieren, zu der auch das deutsche Volk mit seinen Nazis, Mördern, Henkern und Gettos gehört.« Die dreitägige Debatte endete mit einer historischen Abstimmung. 60 Knesset-Abgeordnete stimmten für die Aufnahme direkter Reparationsverhandlungen mit der bundesdeutschen Regierung, 50 stimmten dagegen. Die Verhandlungen endeten am 10. September 1952 mit der Unterzeichnung des Vertrages durch Bundeskanzler Adenauer und Außenminister Sharett.6 Der traumatische Sturm,
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der die israelische Öffentlichkeit zur Frage nach deutschen Wiedergutmachungszahlungen aufwühlte, hörte fast sofort auf. Niemand äußert heute überhaupt noch Kritik an diesem israelisch-deutschen Abkommen, das für Israel von enormer politischer und wirtschaftlicher Bedeutung war. Jeder Israeli erkennt die historische Tatsache an, dass Deutschland einer der besten Freunde Israels ist, wenn nicht gar der beste. Die Saat dafür wurde im Jahr 1952 ausgebracht. Wie lässt sich diese überraschend schnelle Wende erklären? Sind die Israelis weise geworden, sodass sie realisiert haben, dass Premierminister Ben-Gurion und Außenminister Sharett mit ihrem staatsmännischen Vorgehen und ihrer Haltung gegenüber Deutschland von Anfang an recht hatten? Hat der offensichtliche wirtschaftliche Nutzen der Reparationszahlungen über die Emotionen gesiegt? Haben gegenwärtige dringende Erfordernisse und Bedürfnisse die Erinnerung an die Vergangenheit verdrängt? Die Antworten überlasse ich Politikwissenschaftlern, Psychologen und Historikern.
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Am 10. September 1952 wurde das »Luxemburger Abkommen« über die Entschädigungsleistungen Deutschlands für die Ermordung von Juden in der NS-Zeit im Rathaus der Stadt Luxemburg geschlossen.
Yaakov Sharett
VO N D E U T S C H E N , J U D E N U N D P RO J E K T I O N E N . Z U M D E U T S C H - I S R A E L I S C H E N V E R H Ä LT N I S I N D E R NAC H K R I E G S Z E I T Moshe Zuckermann Das Verhältnis zwischen der Bundesrepublik Deutschland (BRD) und Israel in der Nachkriegszeit – die DDR bleibe im hier erörterten Zusammenhang unbeachtet – lässt sich denkbar einfach in den Kategorien einer realpolitisch ausgerichteten instrumentellen Vernunft zusammenfassen: Eine in das Westbündnis integrierte Bastion gegen den Kommunismus sollte auf deutschem Boden errichtet werden; dazu bedurfte es der Wiederaufnahme »Deutschlands« in die Völkergemeinschaft, unter der Voraussetzung einer umfassenden Entnazifizierung der deutschen Bevölkerung und einer vonseiten des Staates offiziell betriebenen »Wiedergutmachung« an den Juden beziehungsweise am Judenstaat Israel. Israel wollte sich bezahlen lassen, da nach der Staatsgründung im Jahr 1948 dringend große Geldsummen für den Ausbau der Infrastruktur benötigt wurden. Ganze sieben Jahre nach der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz kam es im Jahr 1952 zu einem Abkommen 1 zwischen einem der Nachfolgerstaaten des Täterregimes Deutschland (der Bundesrepublik Deutschland) und Israel, dem Land, das im eigenen Selbstverständnis die überlebenden Opfer der historischen Katastrophe aufnahm. Dies darf als Grundmatrix der Beziehungen zwischen den beiden Ländern angesehen werden, aus der sich Neuralgien, Mentalitäten, Befindlichkeiten und Ideologien auf beiden Seiten, mithin die gegenseitigen Wahrnehmungsmuster gebildet haben. Dass gleichwohl in den letzten Jahren viele Tausend israelische Jugendliche nach Berlin gezogen sind, Berlin mithin zu einem der begehrtesten touristischen Orte für israelische Bürger avanciert ist, »Deutschland« zugleich aber im (Vor)Bewusstsein der meisten Israelis noch immer als das Land der jüdischen Geschichtskatastrophe codiert ist, dem man nur mit einem letztlich unbeherrschbaren Ressentiment begegnen kann, zeugt von einer Vielschichtigkeit in der Wahrnehmung, die über die besagten Koordinaten der Beziehung hinausgehen. Um dies darzulegen, seien im Folgenden drei verschiedene Perspektiven dieses komplexen Grundverhältnisses skizzenhaft erörtert: zum einen die des Verhältnisses der deutschen Juden zum Zionismus und zu Palästina in der Vorkriegszeit; zum anderen die der Juden in der BRD der Nachkriegszeit; sodann die der wechselsei1
Siehe dazu den Beitrag von Yaakov Sharett in diesem Band, S. 279.
Kapitel V
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tigen projektiven Wahrnehmung von ( jüdischen) Israelis und (nichtjüdischen) Deutschen bis in die Gegenwart. Aspekte des Zionismus »Aus Europa, aber nicht in Europa«, das Diktum, mit dem man die Einwanderung der Juden in Eretz Israel/Palästina gekennzeichnet hat, darf einen paradigmatischen Stellenwert beanspruchen. Es indiziert zunächst den historischen Umstand, der heute angesichts der über Jahrzehnte erfolgten demografischen Umstrukturierung der israelischen Gesellschaft immer mehr in Vergessenheit zu geraten scheint, dass der politische Zionismus, mithin sein historisches Projekt, in Europa erdacht worden ist und sich vornehmlich auf dem alten Kontinent als eine aktive politische Bewegung konsolidiert hat. Den Zionismus hat man vor allem als die Idee der nationalen Emanzipation des jüdischen Volkes, als welches man sich selbst begriff, zu denken. Als solche erwuchs sie aus dem europäischen Nationalstaatsgedanken, wie er sich seit der Französischen Revolution im Westen herausgebildet, verfestigt und real manifestiert hatte.2 Und doch unterschied sich der Zionismus in seiner Ausgangssituation von allen anderen Nationalstaatsbildungen Europas. Wenn die Idee des Nationalstaates auf der Unabdingbarkeit der Einheit des Territoriums, auf dem der Staat errichtet werden soll, der Einheit des Kollektivs, das dieses Territorium als Nationalvolk beziehungsweise als historisch gewachsenes staatsbürgerliches Kollektiv bevölkern soll, und auf der Einheit der Kultur, die sich in der einheitlich verbindlichen Nationalsprache verkörpert weiß, basiert, so ist nicht in Abrede zu stellen, dass keine dieser Grundbedingungen im Fall des Zionismus erfüllt war. Weder stand das Territorium, auf dem die Urväter des politischen Zionismus den Judenstaat zu errichten gedachten, zu ihrer Verfügung noch bestand das diesem Territorium zugedachte Bevölkerungskollektiv als eine soziologisch geschlossene Masse; Juden lebten bis zur Heraufkunft des Zionismus auf allen Kontinenten und waren als Volk de facto »diasporisch« versprengt. Daher gab es auch keine aus dem historischen Zusammenleben herausgebildete Nationalsprache. Diese musste erst beschlossen werden, wobei mit Hebräisch eine im Hinblick auf den Alltagsgebrauch fast tote Sprache auserkoren wurde, die der Erneuerung bedurfte, und auch dies erst, nachdem sie sich gegen das ebenfalls zur Disposition stehende Jiddisch durchgesetzt hatte. Aus diesem Grundumstand heraus ergab sich der zweite gravierende Aspekt, der sich in dem besagten Diktum angelegt findet. 2
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Siehe dazu den Beitrag von Stefan Vogt in diesem Band, S. 228.
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Dass nämlich das Territorium Palästinas mit dem historischen Anspruch auf das biblische Land von Eretz Israel zum Territorium des künftig zu errichtenden Judenstaates erwählt wurde, generierte von Beginn an das, was sich später als Kernproblem des Nahostkonflikts erweisen sollte. Im Gegensatz zu der ideologisch geschwängerten Proklamation der Zionisten, dass »ein Volk ohne Land in ein Land ohne Volk« einziehe, war Palästina nicht unbevölkert, und der Anspruch auf das Land war keineswegs ein Monopol der in das unter britischem Mandat verwaltete Territorium einwandernden Juden. Dass die Juden in dieses Land immigrierten, hatte – abgesehen von der ideellen Vorstellung der Notwendigkeit einer kulturellen wie nationalen Erneuerung des jüdischen Volkes – vor allem mit der Heraufkunft des modernen Antisemitismus im 19. Jahrhundert in Europa, dem man sich zu entwinden trachtete, zu tun. So besehen wies der Zionismus eine reaktive Dimension auf, welche aber – das ist in dem hier erörterten Zusammenhang maßgebend – das, als solches wahrgenommene, Problem des Antisemitismus nicht in seiner realen räumlichen Entstehungssphäre – in Europa – zu bewältigen sich anschickte, sondern fernab von ihr. Man importierte ein europäisches Problem, das jedoch nicht in Europa gelöst werden sollte. Die nach Palästina beziehungsweise später nach Israel emigrierenden Juden sind im Hinblick auf ihre Motivation in zwei Hauptkategorien zu unterteilen. Es gab eine gesinnungsbeseelte Einwanderungsemphase, die fest an die besagte historische Dringlichkeit der Erneuerung des jüdischen Volkes glaubte und sich schon am Ende des 19. Jahrhunderts und gesteigert dann zu Beginn des 20. Jahrhunderts idealistisch mit dem Ziel aufgeladen hatte, die pionierhafte Landbesiedlung und Grundlegung einer agrikulturellen wie urbanen Infrastruktur für den künftig zu gründenden Staat aktiv zu fördern. Dass sie dabei die Perspektivlosigkeit des jüdischen Lebens im diasporischen Dasein hervorhob, mag bei vielen Einwanderern auf lebensgeschichtlichen Erfahrungen beruht haben, fungierte aber in erster Linie doch als komplementärer ideologischer Kitt für die nicht einfache, grundsätzliche Entscheidung, den Weg des Zionismus real zu beschreiten. Auf der anderen Seite gab es die sogenannte Einwanderung aus der Not. Sie verstand sich nicht unbedingt als Gegenentwurf zum Diasporischen, sondern erwuchs aus unmittelbarer Not beziehungsweise einer manifesten Bedrohung. In diesem Zusammenhang stellte der Zionismus nur eine von mehreren Optionen dar. So flohen viele osteuropäische Juden zu Beginn des 20. Jahrhunderts vor den wütenden Pogromen nicht etwa nach Palästina, sondern nach Deutschland, wobei auch Deutschland oft nur eine Zwischenstation
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auf dem Weg der Emigration in die Vereinigten Staaten von Amerika darstellte. Die Reste dessen, was einst das berühmte Scheunenviertel in Berlin gewesen war, legen ein beredtes Zeugnis davon ab, wie eine ganze Schtetl-Kultur ins großstädtische Berlin transferiert wurde – mit dem nicht sehr rühmlichen Resultat der eher prekären Aufnahme der flüchtenden durch die ortsansässigen Juden und deren pejorative Stigmatisierung als »Ostjuden«. Als aber mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten in Deutschland die lebensweltlichen Lichter – und die bürgerliche Existenz – für die deutschen Juden selbst zu erlöschen begannen, ohne dass sie die Flucht in das europäische Ausland mehr gewährleistet sahen, kam jene massive Einwanderung deutscher Juden nach Palästina zustande, die von der konkreten Not und realen Bedrohung herrührte. Bezeichnend war dabei, dass sich diese Einwanderer des nötigenden Zwangs ihrer neuen Lebenssituation sehr wohl bewusst waren. Zwar wussten die allermeisten von ihnen, dass die Flucht nach Palästina ihr Leben gerettet hatte, trotzdem kursierte unter vielen der »Jeckes« – so wurden die deutschstämmigen Juden genannt – das oft kalauernde Bekenntnis, man sei »nicht aus Zionismus, sondern aus Berlin« in der Zufluchtsstätte angelangt. Man musste froh sein, die (relative) Sicherheit in dem neuen Land genießen zu dürfen; und doch war diese gerade aus der Not geborene »Landsmannschaft« zugleich durch ihre anhaltende Kränkung über die Vertreibung aus ihrem geliebten Heimatland gekennzeichnet. Diese sie umtreibende Ambivalenz vermochten viele der »Jeckes« jener Generation nie ganz abzulegen; über Jahrzehnte hatten sie Ungelöstes zu verwinden. Klischees und Stereotype mögen sich späterhin über diese in den 1930er Jahren in Wellen nach Palästina eingewanderten deutschen Juden gebildet haben, aber sie enthielten stets auch einen Kern der Wahrheit: Es war in der Tat so, dass viele der »Jeckes« die Kulturgüter ihrer vormaligen bürgerlichen Existenz mit ins Land schleppten. Die Antiquariate in Israels Großstädten legen ein beredtes Zeugnis davon ab; sie waren bis in die 1990er Jahre hinein angefüllt mit Bibliotheksbeständen verstorbener deutscher Juden, die vor den Nationalsozialisten nach Palästina geflohen waren und für deren Hinterlassenschaften ihre eigenen Kinder keine Verwendung mehr hatten. Anstelle einer gesamt-soziologischen Erörterung folgt hier ein paradigmatischer Einzelfall: Kann Else Lasker-Schüler (1869–1945) als typisch für dieses eigentümliche Kollektiv aus versprengten Einwanderern angesehen werden? Ja und nein: zu einzigartig ist ihre Lyrik, zu individuell ist die Erfahrung ihrer Weltgeworfenheit, zu einmalig ihre Exzentrik. Lasker-Schüler war nicht typisch für den
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Menschenschlag der »Jeckes«, weil es sie weder aus Zionismus noch aus dem Bewusstsein einer unmittelbar erlebten Gefahr heraus nach Palästina verschlug. Sie war nicht typisch, weil sie sich selbst dann nicht einzuordnen, geschweige denn unterzuordnen verstand, als sie durch die welthistorische Situation zum Verbleib in Jerusalem gezwungen wurde. Sie war nicht typisch, weil sie letztlich eine Fremde blieb, eine Fremde bleiben musste. Darin war sie vielleicht typisch. Und doch trug sie in ihrer Kunst, im lyrisch sublimierten Mitleiden an und mit »ihrem Volk«, in der archaisierenden Sehnsucht nach der biblischen Exotik von Gewesenem mutatis mutandis auch etwas von jenem Pathos kulturzionistischer Erneuerung in sich, das sich ihr, irre werdend an der Realität ihres Daseins im Orient, noch in der größten Einsamkeit erhielt. Sie stammte aus Europa – ja, dorthin gehörte sie –, sie starb aber, fünf Tage vor der Befreiung von Auschwitz, nicht in Europa, sondern in Jerusalem. Juden im Nachkriegsdeutschland (BRD) Während der gesamten Nachkriegsära war das Dasein der Juden in Deutschland von einer nie eingestandenen und nie ausgeräumten Lebenslüge durchzogen – nämlich der, dass sie sich in Deutschland nur auf der Durchreise befänden. Es spiegelte sich darin ihr Selbstverständnis wider, dass es für sie selbst letztlich inakzeptabel war, gerade mit Deutschland das Land für ihren Neubeginn gefunden zu haben, und doch hatte dieses Selbstbild, das sie von sich konstruierten, keine praktischen Folgen. Sie blieben in Deutschland, und in fast allen Fällen sollte es dieses Land werden, in dem sie den allergrößten Teil ihres Lebens verbrachten und in dem sie starben. Nicht zuletzt daran, dass viele von ihnen dennoch in Israel begraben sind, lässt sich die Quintessenz dieser Lebenslüge besonders deutlich ablesen: In dem Land, dem sie die Ewigkeit ihres Todes nicht zugestehen wollten, haben sie ihr gesamtes Leben als Erwachsene gelebt. In den 1950er Jahren gab es wohl Versuche einiger bereits etablierter Juden, ihr Glück vielleicht doch in den USA zu suchen, aber zumeist kehrten sie nach relativ kurzer Zeit wieder nach Deutschland zurück. Dieser Umstand dürfte sich umso irritierender ausnehmen, als die allermeisten Juden, die in Deutschland in den Jahren nach dem Krieg lebten, mithin diejenigen, die die humane Infrastruktur dessen, was sich nach und nach als das jüdische Gemeindeleben in der alten BRD herausbilden sollte, stellten, Überlebende der Shoah aus Osteuropa waren. Es gab nur wenige »Jeckes« unter ihnen, und die wenigen, die in Deutschland lebten, waren zumeist nicht in die jüdischen Gemeinden integriert. Etwas von dem alten Misstrauensverhältnis zwischen »Jeckes« und »Ostjuden«, das nicht immer ein
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Ruhmesblatt der jüdischen Solidaritätsgeschichte gewesen war, wiederholte sich in der Nachkriegszeit, freilich in einer völlig gewandelten Größenordnung und unter einem (ironisch) veränderten Dominanzverhältnis: Die »Ostjuden« bildeten nunmehr die absolute Mehrheit dessen, was das in Deutschland lebende Judentum der damaligen Zeit ausmachte, es hatte aber mit dem vom NS-Regime vertriebenen beziehungsweise ermordeten deutschen Judentum der Vorkriegszeit herzlich wenig gemein. Dass diese Juden osteuropäischer Provenienz, Überlebende der Shoah, in Deutschland geblieben sind und sich ausgerechnet in dem Land, das ihre Lebenskatastrophe verursacht hatte, einrichteten, lag in erster Linie an der materiellen Grundlage und der Möglichkeit, hier zu Wohlstand zu gelangen. Das biblische Bild von den »Fleischtöpfen in Ägypten« kommt einem in den Sinn – es ist aber nicht ganz richtig, denn diese Juden waren in Deutschland nicht versklavt; eher ließe sich von einem Leben in einem selbst aufgezwungenen »goldenen Käfig« sprechen. Die Juden legten sich, bei allem Wohlstand, eine zwar nicht proklamierte, aber doch habituell und real gelebte Selbstgettoisierung auf: Formal waren sie Bürger der bundesdeutschen Gesellschaft, verweigerten sich aber ihrer stadt- und erst recht jeder staatsinstitutionellen Einbindung, die eine vollends etablierte Integration hätte indizieren können. Da sie bei ihren wirtschaftlichen Unternehmungen sehr erfolgreich waren, konnte die vom enigmatisch Vagen getragene Wahrnehmung der Diskrepanz zwischen ökonomischer Präsenz und gesellschaftlicher Zurückgezogenheit leicht zur Belebung der ohnehin nie versiegten Ressentiments gegenüber den Juden führen. Der Antisemitismus von Rainer Werner Fassbinder – wenn es denn einer war – drückte sich nicht darin aus, dass er in seinem Stück Der Müll, die Stadt und der Tod (1975) die Figur des Juden als Spekulanten zeichnete, sondern darin, dass er für die prototypische Zeichnung des Spekulanten gerade den Juden wählte. Spekulation war und ist keine jüdische Eigenart, sondern unterliegt der kapitalistischen Profitlogik, die nun wahrhaftig weltumspannend ist. Dass viele der Juden, die in der Nachkriegszeit lebten, Geschäftsleute waren, die im bundesrepublikanischen Kapitalismus und hier insbesondere in der heftig boomenden Baubranche der 1950er Jahre zu millionenschwerem Reichtum gelangten, braucht nicht in Abrede gestellt zu werden; dass darüber hinaus einige von ihnen in den 1960er Jahren auch an Immobilienspekulationen im Frankfurter Westend beteiligt waren, ebenso wenig. Sie waren als solche Kapitalisten und taten es als solche, nicht als Juden. Insofern aber das antisemitische Ressentiment ihnen gegenüber vom xenophobischen Unbehagen an der nicht nur
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fremdländischen, sondern stets auch lebensweltlich spürbaren Unzugänglichkeit der Juden herrührte, korrespondierte es mit dem bereitwillig übernommenen Selbstbild der Juden: Sie gehörten dazu, ohne sich zugehörig zu fühlen. Ihr Fremdsein war objektiv, speiste darin aber auch das subjektive Selbstgefühl, das Unvereinbares zu versöhnen trachtete: die prekäre lebensgeschichtliche Entscheidung, in Deutschland zu leben, durch ein lebensweltliches Sich-nicht-Einlassen auf Deutschland zu »rechtfertigen«. Bekanntlich sind materielle Lebenswirklichkeiten stets stärker als wirklichkeitsferne Ideologien. Wo sich soziales Leben strukturiert, werden sich früher oder später die Stützen dieser Strukturen, ihre institutionellen Sozialeinrichtungen, etablieren. Bereits seit 1950 gab es in der BRD einen Zentralrat der Juden. Seine Bedeutung in jener Anfangszeit mag freilich als bescheiden bemessen werden, wenn man in Betracht zieht, wie wenig die Mitglieder der jüdischen Gemeinden am öffentlichen Leben in Deutschland beteiligt beziehungsweise am Mandat der zentralen Vertretung ihrer Belange gegenüber der nichtjüdischen Welt interessiert waren. Bedeutender waren da schon die sich nach und nach herausbildenden Formen des gemeindlichen Zusammenseins, sei es bei den Zusammenkünften in der Synagoge an den hohen jüdischen Feiertagen, sei es bei Veranstaltungen, die den Staat Israel direkt, wie am Unabhängigkeitstag, oder indirekt, wie bei den Treffen der Women International Zionist Organisation (WIZO) der Frauen, betrafen, oder sei es bei den zunehmend aufwendiger und pompöser zelebrierten ersten Bar Mitzwas der nach der Shoah zur Welt gekommenen Jungen, der sogenannten »zweiten Generation«. Gemeindehäuser, jüdische Kindergärten und Schulen sowie Jugendzentren wurden eingerichtet. Ein jüdischer Sportverein wurde gegründet. Bis 1990 überschritt die Anzahl der Juden in Deutschland nie die Zahl von 40.000. Trotzdem intensivierte sich im Laufe der Jahre das Gemeindeleben zusehends, mithin die Präsenz einer jüdischen Existenz in Deutschland – bis der Zusammenbruch des kommunistischen Systems eine neue Ära einläutete und eine Flut aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland strömender Juden die »klassische« Anzahl der in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg lebenden Juden gleichsam verdreifachte, mithin die Zusammensetzung der etablierten jüdischen Gemeinden von Grund auf veränderte. Dass damit der Spezifik des kollektiven jüdischen Daseins in der alten BRD ein jähes Ende gesetzt wurde, ist von größter Bedeutung für die gegenwärtigen Entwicklungen, mag aber hier unerörtert bleiben. Erwähnt sei hingegen eine bemerkenswerte Persönlichkeit. Seit Mitte der 1980er Jahre trat Ignatz Bubis (1927–1999) mit dem öffent-
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lich erhobenen Postulat hervor, dass sich jüdisches Gemeindeleben in Deutschland wieder offiziell und lebensweltlich entfalten möge. Diese Forderung, die er nicht nur in Deutschland artikulierte, sondern auch in einem Interview im israelischen Fernsehen mehrfach wiederholt hat, kam einem Tabubruch nahe. Denn Bubis forderte nichts anderes, als dass die Lebenslüge seiner Generation endgültig ausgeräumt werde. Dass er sich am Ende seines Lebens genötigt sah, resigniert festzustellen, er habe mit seinem Werk als Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland nicht das erreicht, was er sich erhofft hatte, kann in diesem Rahmen nicht tiefer analysiert werden. Von Bedeutung für unseren Zusammenhang ist aber, dass Bubis im Grunde genommen etwas aussprach, was für die in Deutschland lebenden Juden, vor allem für die der »zweiten Generation«, längst zu einer materiell fundierten, auch schon psychisch affirmierten Lebenswirklichkeit geronnen war. Dass viele Gemeindejuden aus Bubis’ Generation seine öffentliche Aktivität mit augenzwinkernder Verwunderung und besserwisserischem Kopfschütteln quittierten, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass er mit seinen Einsichten und Ansichten nicht nur einer großen nichtjüdischen Öffentlichkeit entgegenkam, sondern auch etwas von dem widerspiegelte, was in den jüngeren Generationen der in Deutschland lebenden Juden als inoffizielle Rechtfertigung ihrer Wirklichkeit und der dieser latent unterlegten Lebensentscheidung gelten mochte. Die in den ersten zwei Jahrzehnten nach dem Krieg herangewachsenen Kinder, die die deutsche Sprache perfekt beherrschten – im Gegensatz zu der fremdländisch durchmischten der Elterngeneration –, hatten inzwischen in Deutschland studiert, sich beruflich etabliert, Familien gegründet und führten ein bürgerliches Leben. Einige der in dieser Generation aufgewachsenen jüdischen Intellektuellen profilierten sich zudem durch eine – bis dato unübliche – Einmischung in nichtjüdische deutsche Debatten. Gewiss, Bubis’ öffentliches Auftreten wird wohl dem prekären ideologischen Anliegen vieler »normalisierungssüchtiger Deutscher« Vorschub geleistet haben – einem Anliegen, das der neuralgischen Abwehr aller allzu jovialen Normalisierungsbestrebungen auf jüdischer Seite komplementär verschwistert war. Und doch darf seine Funktion als wegweisend für das inzwischen wieder etablierte jüdische Leben in der BRD gelten. Dass dieser wegweisende Charakter in höchstem Maße neuralgisch durchwirkt ist, sollte sich mit dem Tod von Bubis erweisen. Nicht nur er selbst war am Ende seines Lebens von schweren Zweifeln über den von ihm beschrittenen Weg geplagt. Er, der dem Wiedererblühen des jüdischen Lebens in der BRD das Wort geredet hatte,
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ließ sich in Israel begraben, wo seine Grabstelle unmittelbar nach der Beerdigung von dem israelischen Künstler Meir Mendelssohn mit schwarzer Farbe geschändet wurde. Ironischerweise hatte Bubis seine Entscheidung, sich in Israel begraben zu lassen, damit begründet, dass er der Schändung seines Grabes in Deutschland entgegenwirken wollte. Wie ernst die proklamierte Motivation für diesen Schändungsakt des als »Psychopathen« abqualifizierten Künstlers genommen werden kann, sei dahingestellt. Das immer noch vibrierende, sich bei jeder sich bietenden Gelegenheit manifestierende Neuralgische an dem, was sich nach dem Zweiten Weltkrieg als ein höchst komplexes deutsch-jüdisch-israelisches Beziehungsgeflecht herausgebildet hat, findet sich in dieser Aktion allemal codiert. Das deutsch-israelische Verhältnis und die Rezeption in der israelischen Kultur Wie ist es also um das deutsch-israelische Verhältnis bestellt? Eines darf pauschal behauptet werden: »Deutschland« ist in Israel codiert. So war es zwangsläufig von Beginn an, das heißt seit dem Bestehen des jüdischen Staates, der ganze drei Jahre nach der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz gegründet wurde. Bereits durch diese enge zeitliche Nähe wurde Deutschland, begrifflich abstrahiert, zum Synonym für die Shoah. Dass dabei die alte BRD im öffentlichen Diskurs in Israel sehr bald schon – im Verlauf der Debatte um die im Jahr 1952 abgeschlossenen Wiedergutmachungsabkommen zwischen der BRD und Israel 3 – zum »anderen Deutschland« avancieren konnte, ist keinesfalls als Widerspruch, sondern als komplementäre Dimension der besagten Codierung zu begreifen. Deutschland, das Urheberland der jüdischen Shoah, wurde als materieller Garant des – durchaus auch in seinem Selbstverständnis – aus der Shoah hervorgegangenen Judenstaates begriffen. Dabei war David Ben-Gurion, der israelische Premierminister und maßgebliche Befürworter der Wiedergutmachungsabkommen, darauf bedacht, Deutschland in der israelischen Öffentlichkeit, die in ihrer Haltung gegenüber den Abkommen gespaltenen war, als Sühnepartner zu legitimieren: Lange bevor in der alten BRD der Begriff des »anderen Deutschland« ideologisch-normativ kursieren durfte, war er im Israel der frühen 1950er Jahre in der öffentlichen Diskussion aufgetaucht. Nicht von ungefähr waren die von Ben-Gurion stets ausgegrenzten Revisionisten der Herut-Partei Menachem Begins und die israelischen Kommunisten diejenigen, die sich jenen Abkommen widersetzten.
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Siehe dazu den Beitrag von Yaakov Sharett in diesem Band, S. 279.
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Wer jedoch die Verbindung zu Westdeutschland aus welchen Gründen auch immer ablehnte – sei es aus emotionalen, politischen oder moralischen Motiven –, wurde vonseiten des politischen Establishments in Israel marginalisiert. Das Paradox bestand darin, dass die israelische »Shoah-Codierung« Deutschlands von Anfang an mit einer engen Bindung Israels an die BRD einherging; keine sieben Jahre nach der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz wurde das »Luxemburger Abkommen« zwischen beiden Staaten unterzeichnet; ganze 20 Jahre nach der Beendigung des Zweiten Weltkrieges wurden vollständige diplomatische Beziehungen zwischen Israel und der BRD aufgenommen. Ob dabei »Realpolitik« am Werk war, spielt in diesem Zusammenhang eine eher untergeordnete Rolle. Denn die Legitimierung der Beziehung zu Deutschland verweist im Kern darauf, welchen Charakter die »Shoah-Codierung« hatte und welcher (pragmatische) Geist sie durchwehte. Hier muss jedoch auch streng differenziert werden. Die Deutschlandpolitik der israelischen Regierung darf nicht als getreues Spiegelbild dessen verstanden werden, was sich in den einzelnen Lebenswelten, in den Privatsphären und im Rahmen spezifischer Auseinandersetzungen innerhalb der israelischen Gesellschaft abgespielt hat. So sehr sich die Politik auch nach und nach homogenisierte – im Sinne eines Zweckes, der die Mittel heiligt –, so erwiesen sich die Debatten in der Bevölkerung, die jedoch oft nicht an die »Oberfläche« gelangen durften, als ungleich heterogener und vielschichtiger. Dies rührte nicht nur von einer grundsätzlichen Differenz zwischen Staat und Gesellschaft her, sondern hatte seine strukturellen Wurzeln in der ihrem Wesen nach ohnehin zutiefst heterogenen israelischen Einwanderungsgesellschaft. Da Israel als ein Land entstand, dessen jüdische Bevölkerung erst nach der Staatsgründung in mehr oder weniger massiven Schüben aus aller Herren Ländern gleichsam »importiert« werden musste, formierte sich die Gesellschaft von Anfang an als ein multiethnisches und – damit zusammenhängend – multikulturelles Sozialgebilde. Darüber hinaus erforderte der säkulare Zionismus die jüdische Religion als Kriterium für die Anerkennung der israelischen Staatsbürgerschaft. Diese vermeintlich gemeinsame und daher verbindende Matrix der religiösen Zugehörigkeit erwies sich sehr bald als Faktor großer Divergenz: denn orthodoxe, nationalreligiöse und säkulare Juden sind in ihren Auffassungen über das Wesen des israelischen Staates und der Bestimmung seiner Gesellschaft zutiefst uneins. Dies blieb nicht ohne Einfluss auf die Shoah-Rezeption in der israelischen Kultur. Während der säkulare Zionismus die Shoah als ultimatives Argument für sein ideologisches Postulat der Diaspora-Negation, also der histo-
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rischen Notwendigkeit, das jüdische Exil aufzuheben, in Anspruch nahm, interpretierten gewisse Strömungen im orthodoxen Judentum die Shoah als Gottes Bestrafung des jüdischen Volkes für die Beschreitung des zionistischen Weges und die eigenmächtige, dem messianischen Erlösungsdenken zuwiderlaufende Gründung eines jüdischen Staates. Die beiden Auslegungsmuster sind nicht miteinander in Einklang zu bringen: Während für die Zionisten der jüdische Staat als eine historische Notwendigkeit aus dem Holocaust hervorgegangen ist und die Shoah folglich als dessen Ursprung gedacht wird, liegt für die Jüdisch-Orthodoxen in dem Weg, den der Zionismus einschlägt und der zum eigenmächtig errichteten Staat führte, der Grund für eine über das jüdische Volk hereingebrochene Katastrophe. Wenngleich diese Differenz die grundsätzliche »Shoah-Codierung« von »Deutschland« änderte, zeigt sie doch beispielhaft, wie dieser innerjüdische Diskurs mit unterschiedlichen Inhalten aufgeladen wird. Zudem sollte man bedenken, dass sich die jüdische Bevölkerung Israels nicht nur aus westlich-aschkenasischen Juden zusammensetzt, sondern zum großen Teil auch aus den jüdischen Ethnien Afrikas und Asiens, deren Lebensgeschichte nicht durch die unmittelbare Erfahrung des Holocaust geprägt worden ist, zudem aus vielen Einwanderern aus der ehemaligen Sowjetunion, die in einer politischen Kultur aufgewachsen sind, in der die Shoah keine nennenswerte Rolle gespielt hat. Nimmt man die nichtjüdische arabische Minderheit, die im Kernland Israel lebt und über ein Sechstel der Gesamtbevölkerung ausmacht, hinzu, dann kann man sich ausmalen, wie fragmentiert letztlich die Wahrnehmung der Shoah in den unterschiedlichen Lebenswelten sein muss. Dennoch wird in den kanonisierten Gedenkinstitutionen und in der offiziellen Holocaust-Gedenkideologie die Wahrnehmung als eine homogene dargestellt. Kaum etwas bringt säkulare Israelis stärker in Rage, als orthodoxe Juden, die beim Erklingen der Sirene am Gedenktag des Holocaust den Stillstand missachten, weil sie meinen, dass das Sirenensignal und das dazugehörige Strammstehen nichts mit jüdischer Kultur, geschweige denn mit jüdischer Religion zu tun hätten. Darüber hinaus gibt es den offensichtlichen Widerspruch zwischen der »Shoah-Codierung« Deutschlands in der politischen Kultur Israels einerseits und der zunehmenden »Normalisierung« der Beziehungen zwischen beiden Ländern andererseits zu verzeichnen. Es lässt sich behaupten, dass eine Gesellschaft zwar nichts für ihre Tradition könne, gleichwohl liege es aber bei ihr, wie sie damit umgehe. Es wäre angemessen zu fragen, ob die israelische Gesellschaft, angesichts der jüdischen Geschichte, der Diaspora und des
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Holocaust, diese Freiheit überhaupt hat. Es ist eine schwierige Frage, deren Beantwortung unter anderem das grundsätzliche Problem der fremdbestimmten Instrumentalisierung der Erinnerung an die Shoah berührt. In Israel hat sie Ende der 1980er Jahre der israelische Gelehrte Yehuda Elkana prägnant auf den Punkt gebracht, als er zwischen der universellen »Lehre« des »Es soll nie wieder passieren« und der partikularen von Auschwitz abzuleitenden »Lehre« des »Es soll nie wieder uns passieren« unterschied. Die partikulare Lehre wird durch den Zweck, die eigene Angst zu bewältigen, und durch die fundamentale Sorge um Sicherheit charakterisiert. Unter Umständen sieht sie sich allerdings mit dem Problem der Vereinnahmung der Opfer für eine Politik konfrontiert, die immer neue Opfer schafft, wobei dann nicht mehr der Opfer im Stand ihres Opferseins gedacht, sondern damit die Rechtfertigung eines fremdbestimmten politischen, militärischen oder sonstigen Ziels betrieben wird. Hierbei muss jedoch wiederum differenziert werden, denn die konkrete Bedeutung der Vereinnahmung wird durchaus auch vom Kontext der Instrumentalisierung mitbestimmt: Während es für den deutschen Gedenkdiskurs stets bedeutend ist, nicht allzu leicht zu vergessen, dass Juden die Hauptopfer dieses Zivilisationsbruchs waren, mithin nicht allzu schnell ins Universelle abgeleitet werden darf, wird es für die im Kontext des großen Gewaltzirkels des Nahen Ostens sich bildende israelische Erinnerungspraxis immer wichtiger, die gesamt-zivilisatorische, universelle Dimension der Shoah miteinzubeziehen. Das Trauma der Geschichte lastet auf den Geschlechtern, darüber kann es keinen Zweifel geben. Es bleibt aber stets zu fragen, wann es Ideologisierungen zum Opfer fällt beziehungsweise zum politischen Selbstzweck verkommt. Eine im Jahr 2000 von der Friedrich-Ebert-Stiftung initiierte und von den Soziologen Natan Sznaider und Roby Nathanson sowie dem Historiker Dan Diner durchgeführte Untersuchung, die sich mit dem Deutschland-Bild jüdisch-israelischer Jugendlicher befasste, hat erwiesen, dass ein beachtlicher Teil der Befragten Deutschland nicht mehr voller Ressentiments gegenübersteht beziehungsweise ausschließlich negativ rezipiert, sondern mehr oder weniger indifferent eingestellt ist; ein Befund, der vor drei Jahrzehnten schier undenkbar gewesen sein dürfte. Zum einen ist dies als Hinweis darauf zu deuten, dass bei einer objektiv zunehmenden Distanz zum geschichtlichen Ereignis das Ereignis selbst zunehmend ideologisiert, mystifiziert, ja verdinglicht und fetischisiert werden kann. Zum anderen bedeutet es aber auch, dass das Ereignis seinen Charakter unmittelbarer emotionaler Aufladung der Nachgeborenen nach und nach verliert. Die Distanz ermöglicht, das zunächst Unfassbare, mithin Unzugäng-
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liche, sowohl psychisch als auch begrifflich-rational fassbarer und durch Codierung gleichsam handhabbarer zu machen. Das gewährleistet jedoch nicht, dass sich dadurch neuralgische Punkte der kollektiven Erinnerung in Wohlgefallen auflösen. Das Neuralgische scheint stets auf eine Gelegenheit zu warten, sich »auf legitime Weise« paroxysmal zu entladen. Von Interesse ist dabei der aus dem jeweiligen Kontext ablesbare Ideologiecharakter der Entladung. Differenzierungen und Differenzen Zunächst das Elementare: »Judentum«, »Zionismus« und »Israel« sind zumindest als Begriffe strikt auseinanderzuhalten. Nicht alle Juden sind Zionisten; nicht alle Zionisten sind Israelis; nicht alle Israelis sind Juden. Man kann also Israel kritisieren, ohne gleich gegen die Juden zu sein. Man kann die Juden nicht mögen und Israel dennoch hoch schätzen – weil man beispielsweise Araber noch mehr hasst. Man kann auch den Zionismus kritisch hinterfragen, ohne antisemitisch, antiisraelisch oder sogar ohne antizionistisch zu sein – denn es ist eine Sache, die realen Entwicklungsstrukturen des Zionismus kritisch zu beäugen, und eine ganz andere, das Existenzrecht Israels prinzipiell infrage zu stellen. Das Nahost-Problem ist völlig anders gelagert: Israel betreibt seit Jahrzehnten ein Okkupationsregime, unterdrückt die Palästinenser und verhindert ihre nationale Selbstbestimmung. Jeder anständige Mensch muss diese historisch unbestreitbare Realität verurteilen. Wer dies nicht tut, muss (sich) Rechenschaft darüber ablegen, von welchen Motiven er angetrieben wird. Die Frage der Solidarisierung (mit Israel) steht zunächst nicht an; es gilt lediglich festzustellen, dass Israel an den Palästinensern ein historisches Unrecht begangen hat. Wohl mag dieses historische Unrecht aus der Monstrosität der Geschehnisse in Europa hervorgegangen sein, aber es lässt sich als Unrecht schlechterdings nicht wegdiskutieren. Um dieses aus der Welt zu schaffen, erfordert es die politische Überwindung des inzwischen festgefahrenen israelisch-palästinensischen Konflikts, der nunmehr seit Jahrzehnten schwelt. Warum es bislang nicht zu einer Lösung gekommen ist, muss hier unerörtert bleiben. Ein ganz anderes Problem besteht hingegen in der Rezeption dieses katastrophengeschwängerten Konflikts etwa in der Art und Weise, wie er von allen Seiten instrumentalisiert wird. In Deutschland wird immer wieder heftig projiziert. Es lässt sich feststellen, dass es bei den »Nahost-Debatten« oft primär um deutsche Befindlichkeiten geht, wobei nicht auszuschließen ist, dass sich auch antisemitische Argumente in die vermeintlich sachlichen Debatten einschleichen. Doch ist nicht jede Israel-Kritik gleich anti-
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semitisch. Gleichwohl kann nicht außer Acht gelassen werden, dass sich die harsche Kritik an Israel und am Zionismus sehr wohl als verbrämter Antisemitismus erweisen kann. Hier gilt es nun strikt auseinanderzuhalten: Der Antisemitismus muss bekämpft werden, ohne dabei aber von der Kritik an Israel, wo immer sie berechtigt ist, abzulassen. Ob eine Rhetorik sich eventuell dazu versteigt, unangemessene Vergleiche anzustellen, muss im Einzelfall analysiert werden. Nicht jeder rhetorische Ausrutscher muss gleich die Heraufbeschwörung des »Vierten Reichs« bedeuten. Zugleich ist nicht jeder Liberale immun gegen den Antisemitismus. Gerade im Kontext der neuen deutschen Geschichte lässt sich eine unselige Verbindung nachweisen. In Israel wird nicht minder instrumentalisiert. Zuweilen scheint es sogar, als könne der politischen Klasse Israels nichts Besseres widerfahren, als ein periodisch auftretender Antisemitismus, vorzugsweise in Europa. Dieser ermöglicht es manchen Politikern, sich populistisch zu echauffieren, folglich aber auch von den eigenen Untaten abzulenken. Ein markantes Beispiel war die Behauptung Ariel Sharons, die europäische Kritik an seinem militärischen Vorgehen gegen die Palästinenser rühre vom europäischen Antisemitismus her; wenn er den heutigen europäischen Antisemitismus sehe, könne er gut verstehen, wie es zur Shoah habe kommen können. Es sind solche den Holocaust banalisierenden Aussagen – vom derzeitigen Premierminister Israels, Benjamin Netanjahu, mit besonderer Vorliebe und Verve getätigt –, die den Anschein erwecken mögen, dass der Antisemitismus hier zur Rechtfertigung der eigenen, menschenverachtenden Ideologie und Politik herangezogen wird. Komplementär dazu wird jede rhetorische Entgleisung – wie die verhängnisvollen Vergleiche mit dem NS-Regime oder Auschwitz, die vor einigen Jahren dem portugiesischen Literaturnobelpreisträger José Saramago widerfuhren – hochgespielt, um damit selbstgerecht das eigene Unrecht zu kaschieren. Da aber Deutsche an Juden Monströses verübt haben, und Israel zum selbst ernannten Anwalt alles Jüdischen und der israelische Zionismus somit zum Synonym von »Juden«, »Judentum« und »Jüdischem« geworden ist, wird das, was nicht zusammengehört, immer wieder miteinander vermischt. Dabei fällt jedoch auf, dass – wie im Fall von Sharons Diktum, aber durchaus auch im Sinne eines in der gegenwärtig herrschenden politischen Klasse Israels auszumachenden Grundmusters – »Deutschland« und »Europa« austauschbar geworden sind: Hat »Deutschland« in Israel die besagte »Shoah-Codierung« erfahren, so ist »Europa« nunmehr einer nicht mehr Deutschland allein vorbehaltenen »Antisemitismus-Codierung« unterworfen worden. Das war nicht immer
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so. In den 1950er Jahren – letztlich bis 1967 – galt Frankreich als europäisches Sehnsuchtsland vieler Israelis. Erst mit der Embargopolitik Charles de Gaulles und der damit einsetzenden Wende in den Beziehungen zwischen Israel und Frankreich, einer Wende, die mit der deutlichen Hinwendung Israels zu den USA einherging, wurde Frankreich als »antiisraelisch« eingestuft, mitunter als tendenziell »antisemitisch« codiert. Dieser Vorgang erwies sich als paradigmatisch: Das Image Europas als der »größte Friedhof des jüdischen Volkes« verschlechterte sich in dem Maße, wie Israel sich politischer Kritik ausgesetzt sah. Im Gegensatz dazu verstärkte sich die Kritik an Israel, je deutlicher wurde, dass Israels Besetzung der im Sechs-Tage-Krieg von 1967 eroberten Gebiete sich späterhin zu einer ideologischen Groß-Israel-Politik ausweitete. Ob dabei der Antisemitismus »Europas« in der Tat den Stellenwert einnahm, den man ihm zuschrieb, war letztlich unerheblich, denn der eigentliche Stein des Anstoßes war eben nicht der Antisemitismus als solcher, sondern seine rigide Synonymisierung mit Antiisraelismus und Antizionismus. Die Matrix dieses Musters instrumentalisierender Gleichsetzung hat sich in den letzten Jahren auch in der Alltagsrhetorik vieler Israelis etabliert. Im Zuge dieser Entwicklung hat nun das Bild »Deutschlands« in Israel eine gewisse Aufwertung erfahren: Da »Europa« insgesamt als antiisraelisch (das ist: antisemitisch) apostrophiert wird, Deutschland aber »besondere Beziehungen« zu Israel unterhält, erscheint gerade Deutschland zuweilen als Israels letzter »Freund« in Europa, wobei das Freund-Feind-Verhältnis nicht auf seine Ursachen hin geprüft, sondern einem mechanischen »Für-unsgegen-uns«-Schema untergeordnet wird. Dass das deutsche »Für uns« etwas mit der besagten »Shoah-Codierung« zu tun hat, wird nicht in Abrede gestellt, sondern ganz im Gegenteil als eine Art historisches Kapital veranschlagt. Es bleibt fraglich, ob das israelische »Deutschland-Bild« in der Tat so einfach unter die hier erörterte »Shoah-Codierung« zu subsumieren ist. Schließlich gilt es, nicht nur zwischen der monolithischen staatsideologischen Ausrichtung und der eher durch Heterogenität gekennzeichneten Auseinandersetzung mit »Deutschland« in den unterschiedlichen Lebenswelten und Privatsphären zu differenzieren, sondern auch die seit vielen Jahrzehnten in verschiedenen Bereichen des wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Lebens hergestellten Verbindungen und institutionellen Interaktionen zwischen beiden Ländern in Betracht zu ziehen. Es bestehen sehr intensive Kooperationen in vielen Bereichen der Wirtschaft, der Wissenschaft und der Technologie, ein bemerkenswerter Austausch auf den Gebieten der Künste und der Geisteswissenschaften
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sowie gemeinsame Militärprojekte – all das sind Erscheinungen einer »Normalität«, die sich augenscheinlich wohl doch einstellt. Es wäre jedoch verfehlt, diese objektive Entwicklung gleichsam »positivistisch« als die repräsentative Einstellung von jüdischen Israelis zu »Deutschland« und den »Deutschen« einzustufen. Denn zu fragen ist nicht (nur), inwieweit sich die bereits mit den im Jahr 1952 unterzeichneten Wiedergutmachungsabkommen etablierte Struktur einer tendenziellen »Normalisierung« zwischen beiden Ländern in den vergangenen sechs Jahrzehnten verfestigt hat, sondern auch, an welchen Stellen und in welchen Zusammenhängen die Neuralgien des inzwischen routinemäßig Entsorgten durchbrechen, also das (vorläufig noch) nicht Normalisierbare als genuiner Hass, als Ressentiment oder zumindest als latente Ambivalenz spürbar ist. Neuralgisches mag sich in Momenten der Extreme wie jenen des zweiten Golfkrieges manifestieren, als die spezifische Konstellation von in den Irak geliefertem »deutschem« Gas, der Beschuss von Tel Aviv und Haifa mit irakischen Langstreckenraketen und das angsteinflößende Erlebnis von Sirenennächten, dem Tragen von Gasmasken und abgedichteten Räumen eine Welle unkontrollierten, teilweise durchaus überspannten Hasses gegen »die Deutschen« entfachte; Neuralgisches mag sich aber auch im scheinbar Trivialen wiederfinden, wenn zum Beispiel eine deutsche Fußballmannschaft ein wichtiges Spiel in Europa bestreitet und die israelische »Sportjournaille« sich alsbald einer (parteinehmenden) Rhetorik zu bedienen beginnt, die nicht nur einem Minimum an Fairness keine allzu große Ehre erweist, sondern sich zugleich in die niederen Regionen der kulturindustriellen Banalisierung von (katastrophaler) Geschichte begibt. Dass sich dabei authentische Gefühle mit bornierten ideologischen Mustern vermengen, macht die kritische Untersuchung und Beurteilung solcher Phänomene schwer. Es zeigt zugleich aber auch, wie tief sich die Grundmatrix der »Shoah-Codierung« in das »Deutschland-Bild« der meisten Israelis eingefräst hat. Ob europäische oder globale Entwicklungen oder ein grundlegender Wandel in dem von Gewalt geprägten Alltag des Nahen Ostens eine reale Veränderung dieses Grundverhältnisses herbeizuführen vermögen, gilt es abzuwarten.
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KAPITEL VI D E R N E U E S TA AT I S R A E L A M B E G I N N D E S 2 1 . JA H R H U N D E R T S – E I N K U R Z E R AU S B L I C K
K I B BU Z Die Faszination für die in Israel durch den sozialistisch geprägten Zionismus gegründeten Kibbuzim (Erstgründung 1909/10) ging von der gemeinschaftlich organisierten Arbeits- und Lebensorganisation unter der Maßgabe des Gemeinschaftseigentumsmodells aus. Die Verteilung nach dem Gleichheitsprinzip, gegenseitige Hilfeleistungen ein Leben lang, das heißt eine für alle Altersgruppen garantierte Gesundheits-, Wohnraum-, Kultureinrichtungsversorgung und Bildung waren Grundsätze, die die Gründung dieser Kommunen-Siedlungen lebenspraktisch und räumlich strukturiert haben. Dabei erarbeitete jeder Kibbuz seine Richtlinien des gemeinschaftlichen Lebens unabhängig von anderen Kibbuzim. Die im Jahr 1966 im Rahmen des Israel Research Projects veröffentliche Studie DER KIBBUZ von Martin Pallmann hat auf die Krise dieser Lebens- und Arbeitsform vor dem Hintergrund der erweiterten Industrialisierung des Landes hingewiesen. Der folgende Beitrag schildert die gegenwärtige Situation. (Die Herausgeberinnen)
1 — Die Pioniere: eine Gemeinschaft.
Kapitel VI
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O RG A N I S AT I O N U N D S O Z I A L E W E R T VO R S T E L LU N G E N I M U M B RU C H : D E R FA L L D E S K I B BU Z Eliezer Ben-Rafael Der Kibbuz galt lange Zeit als mustergültiges Beispiel eines Landwirtschafts- und Gewerbekollektivs, das die Konzepte von Gemeineigentum, Gleichheit und direkter Demokratie verwirklichte.1 Abb. 1 Seit Mitte der 1980er Jahre hat die Mehrzahl der Kibbuzim sogenannte weitreichende Veränderungen erfahren.2 In vielen Kibbuzim gibt es direkt in der Siedlung oder in angrenzenden Neubauquartieren inzwischen verschiedene Gehaltsstufen, Wohnraum in Privatbesitz, Nichtmitglieder als Bewohner oder wirtschaftlich teilweise unabhängige Mitglieder in unterschiedlichen Ausprägungen. Beobachter fragen daher, ob der Kibbuz auf immer verschwunden ist. Der vorliegende Beitrag befasst sich mit dieser Frage und untersucht die Dynamik der Kibbuz-Realität in der Ära nach den weitreichenden Veränderungen.3 Bis heute haben etliche Kibbuzim alle oder fast alle machbaren weitreichenden Veränderungen durchgeführt, während andere weiterhin ganz oder teilweise den alten Vorgaben verpflichtet sind. Verschiedene Muster hierfür erzeugen Verwirrung in der Bewegung selbst und im Land. Noch dazu wussten verschiedene Geschäftspartner, juristische Personen und sogar Organe der Kibbuz-Bewegung selbst nicht genau, wie sie sich gegenüber Siedlungen, die sich Kibbuzim nennen, verhalten sollten. Es ist also kein Wunder, dass Behörden, Gerichte und andere Akteure, die mit Kibbuzim zu tun hatten, Anfang 2000 eine offene Debatte über deren Bedeutung und die damit implizierten Einschränkungen forderten. Deshalb setzte die Regierung im Jahr 2003 eine Kommission ein, die den Kibbuz und dessen Satzungen neu definieren und formulieren sollte. Mitglieder des nach dem Vorsitzenden Eliezer Ben-Rafael 4 benannten Ausschusses waren Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, führende Kibbuzniks, Akademiker und hochrangige Behördenvertreter. In 14 Monaten 1
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Siehe dazu Warhurst, Christopher: The Nature and Transformation of Communal Socialism: A Case Study of Kibbutz Industry. Dissertation (PhD), Lancashire 1994; Simons, Tal/Ingram, Paul: »Organization and Ideology: Kibbutzim and Hired Labor, 1951–1965«, in: Administrative Science Quarterly 42 (1997), S. 784–813. Im englischen Originaltext bezeichnet Ben-Rafael die »weitreichenden Veränderungen« mit dem Begriff »far-reaching changes« oder »FRC’s«. Vgl. Ben-Rafael, Eliezer/Topel, Menahem: Ha-Kibbutz al Drakhim Mitpatslot (The Kibbutz on Ways Apart), Jerusalem 2009. Der Autor war 20 Jahre lang Mitglied des Kibbuz Hanita und hat umfangreich zum Thema Kibbuz geforscht und publiziert.
Kapitel VI
1 — Einfachheit und Bescheidenheit.
hitziger Debatte einigten sie sich auf zwei Formeln: »Kollektiv-Kibbuz« (»kibbutz schitufi«) und »erneuerter Kibbuz« (»kibbutz mitchadesch«) sowie auf neue amtliche und rechtliche Rahmenbedingungen. Das Fazit der Ausschussarbeit bestätigte die zwei Merkmale – oder Grundbedingungen –, die eine Siedlung berechtigen, sich Kibbuz zu nennen, selbst wenn sie die extremsten weitreichenden Veränderungen vornimmt: Das erste ist die kompromisslose Umsetzung der sogenannten gegenseitigen und allseitigen Verantwortung.5 Demzufolge muss sich ein Kibbuz als Kollektiv definieren, seine Mitglieder mit Arbeit, sozialen Diensten, umfassender Erziehung und Bildung der Kinder versorgen und Mindeststandards der Wohnräume bieten. Die gegenseitige und allseitige Verantwortung soll als stärkster Ausdruck der Solidarität unter den Kibbuzniks gelten und ihren Zusammenhalt manifestieren. Kein ökonomisches oder anderes Argument rechtfertigt es in einem Kibbuz, die Schwachen, Behinderten oder Alten auszuschließen. Das zweite zwingend erforderliche Prinzip für die Führung der Bezeichnung Kibbuz besteht darin, dass sämtliche Entscheidungen über weitreichende Veränderungen in der Siedlung von einer überwältigenden Mehrheit – die zwei Drittel der Wähler, die zusammen mindestens drei Viertel der Kibbuz-Mitglieder ausmachen – getroffen werden müssen. Anders gesagt: Jede Entscheidung über Veränderungen muss das Ergebnis einer gründlichen Diskussion der meisten Mitglieder sein und über einen breiten Konsens verfügen. Das ist eine weitere Bestätigung des gemeinschaftlichen Kibbuz-Charakters und soll dafür sorgen, dass diese 5
Die gegenseitige und allseitige Verantwortung wird als »mutual responsibility« (MR) bezeichnet.
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2 — Das Zentrum der Gemeinschaft: der Speisesaal.
Siedlungen eine Lebensweise bewahren, in der die soziale Ordnung direkt durch die kollektiven Bestrebungen und Überzeugungen der Bewohner geprägt wird. Diese Prinzipien stellen die Basis für eine Siedlung dar, die gegeben sein muss, um sich als Kibbuz zu qualifizieren. Wenn diese beiden Prinzipien angewandt werden, gibt es aber eine weitere Liste von weitreichenden Veränderungen, die vom Regierungsausschuss als zulässige Varianten und als Erweiterung des Kibbuz-Konzepts erklärt wurden. Damit wurde anerkannt, dass verschiedene Modelle erfolgreich sein und im Kibbuz-Sektor eine pluralistische Realität herbeiführen können. Die Art Pluralismus, die dieser Realität entspricht und die auch den besten Rahmen für dessen Analyse bildet, stellt eine Antwort auf das Harvard-Pluralismus-Projekt dar.6 Demgemäß existiert eine soziokulturelle Vielfalt in jedem sozialen Umfeld und kann unterschiedliche gesellschaftliche Auswirkungen haben. Um also ein pluralistisches und nicht nur heterogenes Lebensumfeld zu schaffen, müssen die Akteure »Koexistenz inmitten der Vielfalt« praktizieren. Mit anderen Worten: Wahrer Pluralismus existiert dort, wo Menschen mit ganz unterschiedlichen Eigenschaften und Interessen sich bemühen, in Gemeinschaft und als Gemeinschaft zusammenzuarbeiten. Abb. 2 Diversität ist nur dann Pluralismus, wenn sie nicht nur eine Gegebenheit, sondern auch eine Errungenschaft ist. Das ist die Herausforderung, vor der die Kibbuzniks heute stehen. Dass sie ihnen bewusst ist, zeigt die Tatsache, dass nur wenige der Befürworter oder Gegner von weitreichenden Veränderungen Antagonismus als ausreichenden Grund für eine Spaltung der Kibbuz-Bewegung ansehen. Ob die Kibbuzim nun entschlossen sind, nach dem »klassischen« Vorbild Kollektive zu bleiben oder sich den Erneuerern anzuschließen, ist keine Garantie dafür, dass sie für im6
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Vgl. Eck, Diana L.: The Harvard Pluralism Project, www.pluralism.org (2010).
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mer an ihrem jeweiligen Standpunkt festhalten. Jede Kibbuz-Gemeinschaft ist autonom und kann jederzeit im Konsens entscheiden, noch mehr Neuerungen einzuführen oder frühere Entscheidungen zu widerrufen. Außerdem können die Kibbuzniks sich immer für Schritte entscheiden, die ihre Siedlung aus dem Definitionsbereich des Kibbuz herausnehmen, indem sie die Verpflichtung zur gegenseitigen und allseitigen Verantwortung ablehnen oder die direkte Demokratie abschaffen. Insofern gehören die heutigen Kibbuzim zweifellos zu den Gemeinschaften, die Ulrich Beck (1992) als »Risikogesellschaften« bezeichnet hat.7 Sie sind in ihrer Existenz stets durch potenzielle Entschlüsse der eigenen Mitglieder gefährdet, die diese jederzeit und unerwartet fassen könnten. Der »gesamtgesellschaftliche« Preis Für die potenziell instabile Autonomie der Kibbuzim besteht der größte zu zahlende Preis jedoch darin, dass die Kibbuzniks nolens volens ihre Position in der Gesellschaft, vor allem gegenüber der zentralen Staatsmacht, aufgeben. Die Einführung von weitreichenden Veränderungen hat viele Kibbuzim tatsächlich dazu gezwungen, mit verschiedenen Behörden Kontakt aufzunehmen und zusammenzuarbeiten, darunter dem staatlichen Liegenschaftsamt, den Planungs- und Finanzämtern und dem Register für Kooperativen. Alle diese Körperschaften haben ein Mitspracherecht in der Art und Weise, wie die Kibbuzim die ihnen anvertrauten Ländereien und Ressourcen nutzen. Früher waren die Kibbuzniks sich in dem Bewusstsein sicher, dass sie als Gruppe in der Gesellschaft einen wichtigen Beitrag zur Erfüllung nationaler und gesellschaftlicher Aufgaben leisteten, der auch von Politikern und Bürokraten geschätzt wurde. Heute haben sie erkannt, dass sie wie alle anderen sind, die für sich und das eigene Wohlergehen Ansprüche stellen.8 Es sei hier auf eine Umfrage unter hochrangigen Beamten und Kibbuzniks, die für den gesamten Kibbuz-Sektor mit Behörden zu tun haben, verwiesen.9 Die Umfrage ergab Folgendes: Die Kibbuzniks sagten aus, dass die Beamten in den Gesprächen über Kibbuz-Angelegenheiten generell eine kühle Distanz und einen völligen Mangel an Empathie spüren ließen. Die befragten Kibbuzniks warfen ihren behördlichen 7
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Beck, Ulrich: Risk Society: Towards a New Modernity, London 1992; siehe auch: Beck, Ulrich: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt am Main 1986. Vgl. Rosner, Menahem: Distributive Justice in Kibbutz Communities that Have Changed. Forschungsarbeit (Nr. 89), Haifa 2004. Ben-Rafael, E./ Topel, M./Getz, Sh./ Avrahami, A.: The Risk of Enduring, Jerusalem 2011.
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Gesprächspartnern sogar vor, die Kibbuzim gegenüber anderen Siedlungen zu benachteiligen. Die befragten Beamten dagegen wiesen diese Anschuldigungen ausnahmslos zurück. Was die Kibbuzniks als Diskriminierung auffassten, so gaben sie an, sei lediglich die Anwendung bestehender behördlicher Regelungen, die für alle anderen auch gelten. Hier erkennt man eine Kluft in den Sichtweisen, die sich aus den ganz unterschiedlichen Interpretationen der Position der Kibbuzim im Lande ergibt. Der Staat Israel ist ein Kompositum aus nationalen, religiösen, ethnokulturellen oder ideologisch-politischen Gruppierungen, und aus amtlicher Sicht sind die Kibbuzim nur eine Gruppierung von vielen. Dagegen halten sich die Kibbuzniks für die Repräsentanten einer Gruppe von Menschen, die einst kollektive Opfer gebracht und damit einen hohen Preis gezahlt haben, um als »erstklassige« Bürger anerkannt zu werden, die allerdings immer noch mit mäßigem Erfolg darum kämpfen müssen, die Früchte ihres früheren besonderen gesellschaftlichen Beitrags zu ernten. In den Argumentationen beider Seiten sind klare stilistische Unterschiede aufgetreten. Beamte halten an spezifischen Behauptungen über Detailforderungen der Kibbuzniks fest, während diese dazu neigen, allgemeine Aussagen über die »böse Absicht« oder die »unterschwellige politische Parteinahme« ihrer behördlichen Kontrahenten zu machen. In den Augen der Beamtenschaft wird aber der Status der Kibbuzim eben durch den Erneuerungsprozess geschwächt, der in jedem Kibbuz anders verläuft und damit ein ungenaues Bild dessen vermittelt, wofür eine Kibbuz genannte Ortschaft eigentlich steht. Kibbuz-Pluralismus Neben dem Pluralismus, der heute die gesamte Kibbuz-Bewegung durchzieht, ist Pluralismus auch – und vor allem – die Devise in so manchem Kibbuz. Das Harvard-Pluralismus-Projekt kann auch hier ein nützlicher Ansatz zur Untersuchung der Dynamik der neuen Situation sein. Es war Vorbild für die Studie, die wir von 2008 bis 2010 in 14 Kibbuzim durchführten und die repräsentative Umfrageergebnisse zu den verschiedenen Problemen versprach.10 Wir wählten verschieden große, stärker kollektiv geprägte, aber auch innovativere Kibbuzim aus, die entweder in der Nähe von Städten oder in rein ländlichen Gebieten liegen. Die Studie berücksichtigte die Vielgestaltigkeit der Kibbuz-Landschaft im Hinblick auf den zionistischen Ursprung, das Alter der Siedlung und die geografische Lage und hatte zwei komplementäre Zielsetzungen. Einerseits lenkte sie 10 E. Ben-Rafael/M. Topel/Sh. Getz/A. Avrahami: The Risk of Enduring.
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den Blick auf signifikante Ereignisse und andererseits auf die Hauptakteure in jedem Kibbuz. In der Anfangsphase sollten die Interviewer die Themen erheben und schildern, über die im Jahr 2008 in dem jeweiligen Kibbuz am heftigsten gestritten wurde. Jeder Interviewer befragte mehrere Teilnehmer dieser Debatten, die Auskunft über die dabei zum Ausdruck gekommenen Interessen und Übereinstimmungen gaben. Diese Studienphase dauerte ein Jahr und zeichnete jeden Entwicklungsschritt in den Debatten nach, wobei wir auf die angewandten oder neu formulierten Regeln hinwiesen und die Art und Weise beschrieben, wie das anstehende Problem schließlich gelöst wurde. Diese Studienergebnisse beschreiben die heute im Kibbuz-Sektor wirksamen Hauptinteressen und -ziele und ermöglichten uns deren Aufteilung in einzelne Kategorien. Bei vier Problemkomplexen ging es um Fragen der Aufnahme und Eingliederung von Töchtern und Söhnen alteingesessener Kibbuzniks – ein Thema, das nicht neu ist. Neu ist jedoch die Tatsache, dass die in den Kibbuzim erfolgten weitreichenden Veränderungen die Zukunftsperspektiven der Jugendlichen, die ihren Kibbuz verlassen wollen oder bereits verlassen haben, erheblich veränderten. Sie wissen jetzt, dass sie dort Eigentumswohnungen bekommen, auch außerhalb des Kibbuz arbeiten und Einkommen erzielen können, die ihrer Position entsprechen. Diese neuen Regeln steigern für viele erwachsene Kinder von Kibbuzniks die Attraktivität des Kibbuz-Lebens und verändern das Für und Wider eines Verbleibs oder Wegzugs. Diese atmosphärischen Wandlungen durchdringen inzwischen selbst die traditionellen Kibbuzim, die offiziell zwar keine weitreichenden Veränderungen eingeführt haben, wo sich aber doch einige Neuerungen eingeschlichen haben, die nun auch hier drastischere Veränderungen anzukündigen scheinen. Abb. 3 Die »neue Zeit« bringt aber auch Probleme mit sich. Eines davon ist der Streit um die Höhe der Investitionen, die der Kibbuz in verschiedenen Bereichen zu tätigen bereit ist. Deshalb schwächt die Eingliederung von Jugendlichen, die im Kibbuz geboren wurden, unweigerlich die Ansprüche der anderen Mitglieder. Rentner zum Beispiel sehen vielleicht ihre Rentenansprüche durch die Großzügkeit gegenüber den »Neulingen« gefährdet, selbst wenn einige Veteranen zugunsten der Jugendlichen, sofern es die eigenen Kinder sind, bereitwillig auf eigene Rechte verzichten. Eine andere Studienkategorie betraf die Privatisierung von Wohnraum, was die Bewertung der bestehenden Wohnimmobilien erforderlich macht und einen weiteren Zankapfel zwischen Kibbuznik-Familien und den für die Privatisierung Verantwortlichen darstellt. Andere Streitpunkte betreffen
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die Kriterien für unterschiedliche Lohn- und Gehaltsstufen und die entsprechenden Arbeitsplatzbeschreibungen. Die Berechnung der Rentenbeträge bereitet daher besondere Schwierigkeiten. Generell werden Renten auf der Basis der Arbeitseinkünfte über das ganze Berufsleben eines Bürgers kalkuliert. In den Kibbuzim dagegen – jedenfalls im Fall der heutigen Kibbuz-Rentner – werden sie Menschen zuerkannt, die ihr gesamtes Berufsleben lang ohne Lohn oder Gehalt, aber in verschiedenen, unterschiedlich verantwortungsvollen Positionen tätig waren. Die Liste der anstehenden Probleme umfasst auch die Gemeindesteuer, mit der die kommunalen Versorgungsleistungen finanziert werden. Da es sich hierbei um eine gestaffelte Steuer handelt, müssen Besserverdiener unverhältnismäßig hohe Beträge in die Gemeindekasse zahlen und sind unter Umständen frustriert darüber, die Hauptfinanzierer der Kommune zu sein. Das hat in einigen Kibbuzim dazu geführt, dass sich privilegierte Bewohner organisieren, um Anträge auf Herabsetzung der ihnen auferlegten Gemeindesteuer zu stellen. Ihre Verhandlungsposition wird dadurch gestärkt, dass sie den Kibbuz ohne Probleme verlassen und an einen anderen Ort ziehen können – vor allem dann, wenn sie bereits andernorts arbeiten. Das ist ein Indiz für die Bildung klassenähnlicher Interessengruppen auf der Basis unterschiedlich hoher Arbeitseinkommen. Ein weiteres, neues Problem betrifft die veränderten Arbeitsordnungen. Ein Beispiel ist der Fall eines Kibbuzniks, der in einer KibbuzFabrik arbeitete und von den Direktoren, die von außerhalb kamen, entlassen wurde. Früher wurde niemand entlassen, bevor nicht die zuständigen Kibbuz-Ausschüsse ausführlich darüber diskutiert hatten. 3 — Der Wandel des Lebensstils.
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In der heutigen Zeit der weitreichenden Veränderungen haben die Manager – die vielfach Außenstehende sind – die volle Entscheidungsgewalt in Personalfragen – unabhängig davon, ob die Angestellten Kibbuzniks sind oder nicht. Wir untersuchten einen weiteren Fall, in dem ein Kibbuz-Veteran von einem Manager, der ein Nicht-Kibbuznik war, entlassen wurde. Für die Gemeinschaft war das ein Schock und zog im ganzen Kibbuz endlose – und fruchtlose – Diskussionen nach sich. Der Veteran ging vor Gericht, das zur Schlichtung eine Entschädigung anordnete, die Entlassung selbst aber nicht aufhob. In den beschriebenen Fällen handelte es sich um Konflikte unter Kibbuzniks, die durch Veränderungen dieser Art ausgelöst wurden, in anderen Fällen um Fragen der Eingliederung von Nichtmitgliedern, die inzwischen in vielen Kibbuzim einen erheblichen Prozentsatz der Bewohner und Betreiber ausmachen und im öffentlichen Leben eine große Rolle spielen. Da sie dauerhaft im Kibbuz leben, partizipieren diese Nichtmitglieder, oder Teilmitglieder, an lokalen kommunalen Einrichtungen, die allen Ortsansässigen offenstehen. Im Tandem mit Kibbuz-Einrichtungen betreiben die kommunalen Institutionen auch Einrichtungen und Dienste wie Schwimmbäder und Bibliotheken oder bieten kulturelle Veranstaltungen und Bildungsangebote an, die von allen Bewohnern genutzt werden. Der Trend geht dahin, dass Nichtmitglieder bei Kernfragen zu Kibbuz-Institutionen allmählich doch ein Mitspracherecht erwerben. Ein besonders eindrückliches Beispiel dafür ist die Kontrolle über das Schulsystem, für die Kibbuzniks seit jeher einer der wichtigsten Aspekte des Gemeinschaftslebens, das inzwischen de facto von Nichtmitgliedern bestimmt wird, deren Kinder heute die überwiegende Mehrheit der Schüler bilden. Alle diese Fragen, in denen Mitglieder und Nichtmitglieder uneins sind, können die Atmosphäre in einer Siedlung vergiften. Neue Machtverhältnisse Im Kontext dieser Herausforderungen konzentrierten wir uns bei der Studie auf die Hauptakteure des öffentlichen Lebens in den ausgewählten Kibbuzim. Die Vertreter verschiedener Kibbuz-Bereiche wurden mit dem Ziel befragt, die Machtverhältnisse in den jeweiligen Gemeinschaften zu analysieren. In der Regel kam heraus, dass sowohl »alte« als auch »neue« Gruppen heftig und mit Erfolg darum kämpften, dauerhaft mitbestimmen zu können. Es ergab sich folgendes Bild: In vielen Kibbuzim scheinen die älteren Mitglieder eine redegewandte Gruppe zu bilden, die vor allem an ihrer Rente und an Stabilität interessiert ist. Die meisten von ihnen denken, sie müssten auf der Hut sein vor den Ansprüchen, die andere Bewohner an Kibbuz-Ressourcen stellen – mit Ausnahme von Paaren, deren
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Töchter oder Söhne in den Kibbuz zurückgekehrt sind und die daher zwischen dem eigenen Wohlergehen und dem ihrer Kinder hin und her schwanken. Ansonsten ergaben die Umfragen, dass in einigen Kibbuzim die älteren Mitglieder strikt gegen die Aufnahme zu vieler neuer Bewohner sind, die ihre eigenen Rechte beschränken könnten. Sie äußerten ihre Befürchtung, dass die Neuankömmlinge die Änderung lange bestehender Regelungen fordern würden. Der Tenor war: »Diese Leute, die erst seit Kurzem hier wohnen, haben nichts für den Kibbuz getan, nehmen ihn uns aber jetzt schon weg.« Es ist aber immer die mittlere Generation, die das Kollektiv aktiv betreibt und belebt. Die meisten wurden im Kibbuz geboren und nehmen die verantwortungsvolleren Posten ein. Nicht wenige aus dieser Gruppe gehen aber auch außerhalb des Kibbuz einer hoch bezahlten Tätigkeit nach. Die ganze Gruppe repräsentiert die Starken im Kibbuz, denen die anderen vorwerfen, »oligarchische Neigungen« auszuleben und ihr Verhandlungsgeschick zu nutzen, um sich Vorrechte zu verschaffen. Neben diesen Privilegierten findet man in vielen Kibbuzim heute auch bezahlte Manager von Betrieben und sozialen Einrichtungen. Dieser neue Faktor ist Ausdruck des Bestrebens, jenseits ideologischer oder persönlich-emotionaler Betrachtungsweisen einen effizienten Betrieb sicherzustellen, selbst wenn dafür traditionelle Kibbuz-Praktiken aufgegeben werden müssen. An manchen Orten werden inzwischen Anteilsscheine an die Mitglieder vergeben, die ihnen Eigentumsrechte an Produktionsmitteln und Dienstleistungsbetrieben einräumen. So erhöhen oder schmälern Gewinne oder Verluste am Ende des Geschäftsjahres das Einkommen der Kibbuzniks. Diese Art der Innovation wirkt sich vor allem auf ihre Motivation aus, noch härter zu arbeiten, und mindert den herkömmlichen Wert von Arbeit um ihrer selbst und der eigenen Erfüllung willen. Scheinbar bieten hier die von den Kibbuzim angestellten und bezahlten Manager die heute relevanten Vorbilder. Weitere Akteure könnte man auf die Liste setzen, zum Beispiel hier und da Mitgliedergruppen, die sich weigern, die neuen Regeln zu befolgen, und den Erhalt der »klassischen« Formel des KibbuzLebens fordern, zumindest für sich selbst. Derartige Gruppen bilden dann eine Gemeinschaft innerhalb der Gemeinschaft. Im Gegensatz dazu ist eine Reihe von Mitgliedern oder Teilmitgliedern der Kibbuzim wirtschaftlich unabhängig. Sie bezahlen für die Dienste, die sie dort in Anspruch nehmen – zum Beispiel Schulgeld für die Kinder, Lebensmittel oder die Nutzung des Schwimmbads –, verfügen aber ansonsten frei über ihr eigenes Geld. Dieser Status gilt für eine Übergangsphase von einigen Jahren, bis sie sich völlig im Kibbuz eingelebt haben. Das schließt aber nicht aus, dass
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sie die Verlängerung der Testphase beantragen oder sie zum Dauerzustand machen können, was zulässig ist. Personen dieser »Kategorie« äußerten ihr Interesse für die Kosten bestimmter Dienstleistungen und die Infrastruktur ihres Wohnviertels. In diesen Bereichen kommt es leicht zu Konflikten zwischen ganz oder teilweise unabhängigen Bewohnern und anderen Interessengruppen, die einen größeren Anteil an den Ressourcen des Kibbuz-Kollektivs fordern. Das Streitpotenzial wird dadurch reduziert, dass nicht wenige dieser Akteure – halb Bewohner, halb Mitglieder – Kinder von Kibbuzniks sind und mit ihren Ehepartnern und Kindern wieder in ihre HeimatKibbuzim zurückgekehrt sind. Sie wissen, wie ein Kibbuz funktioniert und wer die Menschen dort sind. Sie kennen die Regeln und wissen, wie man damit umgeht. Das ist bei anderen Bewohnern – die vielleicht auch »halbe Mitglieder« sein werden – nicht unbedingt der Fall, da sie auf keine früheren Erfahrungen mit dem Kibbuz-Leben zurückgreifen können und sich gegenüber den alteingesessenen Kibbuzniks vielleicht gröber und weniger rücksichtsvoll verhalten. Da, wo sie eine größere Bewohnergruppe bilden, arbeiten sie in allen kommunalen Gremien mit, die an Bedeutung zunehmen und die Gremien des traditionellen Kibbuz wahrscheinlich irgendwann ersetzen werden. Dank dieser Population – das muss gesagt werden – laufen nach Jahren wieder Kinder im Kibbuz umher und sie nehmen in großer Zahl an den Gemeindefesten teil. Andere Bewohner, die im Vergleich zu den regulären Kibbuzniks noch relativ jung sind, möchten das öffentliche Leben aktiv mitgestalten. Im Allgemeinen begrüßen die Veteranen das, beobachten aber vielleicht doch noch etwas misstrauisch, ob »die Neuen« die altbewährten Vorgehensweisen durch neue ersetzen. Kurz gesagt, die Vielfalt an Interessen und Gruppierungen ist zum hervorstechenden Merkmal des gesellschaftlichen Lebens in den Kibbuzim geworden, die heute vor der Herausforderung stehen, zahlreiche, ganz unterschiedliche Interessen zu befriedigen. Die empirisch gesammelten Aussagen über die Kibbuzim als ganzes System sind weder homogen und eindeutig noch gespalten und mehrdeutig. Die meisten Kibbuzim positionieren sich irgendwo zwischen zwei Extremen – zwischen striktem Konservatismus und kühnster Innovation. Wie immer das Ausmaß und die Vielfalt dieser Formen von Pluralismus beschaffen sein mögen, das Harvard-PluralismusProjekt hat jedenfalls festgestellt, dass sie allesamt praktikabel sind und die Kibbuzim vom Wissen jedes ihrer Akteure um die eigenen Bestrebungen und die der Anderen und vom Wunsch nach Vielfalt des Lebens profitieren.11 11 Vgl. D.L. Eck: The Harvard Pluralism Project.
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Eine ungewisse Zukunft Jenseits des Konflikts zwischen den Verfechtern der »klassischen« Kibbuz-Kommune und den Vertretern der extremen Form des »erneuerten« Kibbuz und entgegen den Erwartungen vieler interner und externer Kritiker haben die eingeführten weitreichenden Veränderungen de facto die Entwicklung zahlreicher Kibbuzim gefördert und dort die Verbesserung der Lebensbedingungen bewirkt, sodass man die Reformbewegung im Kibbuz-Sektor als demografische und ökonomische Errungenschaft bezeichnen kann.12 Die Kibbuzim sind produktiver und für Außenstehende attraktiver geworden, auch für die einst weggezogenen Kinder von Kibbuzniks. Die Siedlungen bieten ihren Bewohnern – Mitgliedern und Nichtmitgliedern – heute bessere Versorgungsleistungen, sie haben flexible Sozialdienste eingerichtet und zeigen, dass sich Ertragskraft und ein gutes Leben in Gemeinschaft erfolgreich verknüpfen lassen. Dutzende von Kibbuzim, die in den 1990er Jahren kurz vor dem Konkurs standen, sind zu neuem Wohlstand gekommen. Die jungen Kibbuzniks, die vor rund 20 Jahren ihre Heimatsiedlungen en masse verließen, kehren zurück, sodass in so manchem Kibbuz die Nachfrage nach Wohnraum nur mit Mühe befriedigt werden kann, während eine ganze Reihe von Kibbuzim Bewerber aufgrund von fehlenden Wohnungen ablehnen muss. Im Jahr 2008 überstieg die Zahl der Zuzügler zum ersten Mal seit 20 Jahren wieder die Zahl der »Auszügler«. Derzeit (2012) leben etwa 150.000 Mitglieder und Nichtmitglieder in den Kibbuzim – die größte jemals registrierte Anzahl überhaupt. Die weitreichenden Veränderungen haben das Leben und die Atmosphäre in den Kibbuzim also tatsächlich radikal ins Positive gekehrt. Unsere Studie hat allerdings hinsichtlich dieses sich abzeichnenden Bildes einige Fragen aufgeworfen, welche die Zukunft der Kibbuz-Bewegung ungewiss erscheinen lassen. Es ist nicht zu leugnen, dass der gegenwärtige Kibbuz-Sektor ein Beispiel für Ulrich Becks »Risikogesellschaft« darstellt.13 Das bedeutet, dass die Kibbuzim Merkmale und Probleme haben, deren Lösung oder »Nicht-Lösung« über ihr Überleben oder Sterben entscheiden werden. Dabei denken wir an vier Punkte, die sich im Verlauf unserer Studie herauskristallisierten.
12 Vgl. Achouch, Yuval: »To Reconstruct Inequality: Remuneration for Work and Strategies to Increase Income in the Kibbutz«, in: Journal of Rural Cooperation 28 (2000), S. 3–18; Sabbagh, Clara/Dar Yechezkel: »Spheres of Justice in the Israeli Kibbutz and Urban Sectors: Adolescents‘ View«, in: Comparative Sociology 1 (2002), S. 193–213. 13 U. Beck: Risk Society.
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1) Wie oben gesagt, besteht eine der gesetzlichen Bedingungen für die Beibehaltung der Bezeichnung »Kibbuz« darin, dass in einem Kibbuz, der Veränderungen durchführt, die überwiegende Mehrzahl der Bewohner Mitglieder sein und Entscheidungen darüber durch Konsens erreicht werden müssen. Andererseits ermöglicht es gerade dieses demokratisch-kollektive Ethos – dass Kibbuzniks eben mehrheitlich Entscheidungen treffen –, dass die jeweiligen Kollektive Funktionen aus dem Rahmen des Kibbuz auslagern können. Ebenso genügt zum Beispiel der Beschluss der Mitglieder, um das leistungsorientierte Management auf sämtliche Angelegenheiten der Gemeinschaft auszudehnen, wenn sie sich davon einen größeren materiellen Wohlstand versprechen. Die Wahrscheinlichkeit, dass dies eintrifft, zeigt sich im Überwiegen rein materieller Interessen der Kibbuz-Akteure in diesem Bereich der Erneuerung. 2) Die Studie hat gezeigt, dass das Potenzial der wirtschaftlichen Erholung der Kibbuzim wenigstens teilweise auf die Einführung von gestaffelten Löhnen und Gehältern sowie die Privatisierung diverser Tätigkeitsbereiche zurückgeht. Die persönliche Leistung wird inzwischen als wichtiger Motivationsfaktor stärker anerkannt. Wie anderswo auch führt diese Entwicklung zur Bildung deutlich unterscheidbarer Sozialgruppen und steht im Gegensatz zur ursprünglichen Kibbuz-Utopie der Teilhabe und Gleichheit aller Mitglieder der Gemeinschaft. Die soziale Problematik liegt darin, dass auch hier – wie überall – die Reichen mächtig sind, wenn sie Schlüsselpositionen im Kibbuz selbst oder auch außerhalb besetzen und sich kraft ihrer Ämter Privilegien verschafft haben. Mit der Kombination der zwei Attribute »Reichtum« und »Macht« hat die Kibbuz-Gemeinschaft die anfangs erwarteten Ergebnisse des Kollektivs weit hinter sich gelassen. Letzten Endes könnten diese weitreichenden Veränderungen ein gewichtiger Faktor für die Schwächung und schließlich die Auflösung der Solidarität innerhalb dieser Gemeinschaften werden. 3) Die Aufnahme neuer Bewohner, die keine Kibbuz-Mitglieder oder nur Teilmitglieder sind, ist natürlich ein Segen, zieht aber auch eine drastische Kehrtwende in der demografischen Entwicklung und Sozialstruktur der Kibbuzim nach sich – sprich eine Verjüngung mit zahlreichen positiven Nebeneffekten. Ironischerweise wird ein Kibbuz, der weniger ein richtiger Kibbuz ist, erst richtig für Nicht-Kibbuzniks. Der Punkt ist, dass das Leben in einem Kibbuz den Bewohnern heute keine schweren Opfer mehr abverlangt. Im Gegenteil, der Kibbuz bietet eine ländliche Umgebung, die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft
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von Gleichgesinnten und einen Lebensstandard, der anderswo nicht so leicht zu haben ist. Und dennoch, auch hier hat unsere Studie einen hohen Risikofaktor identifiziert. Die Neuankömmlinge verlangen berechtigterweise institutionalisierte Rahmenbedingungen, die ihnen ein Mitspracherecht in den Bereichen einräumen, in denen sie direkt beteiligt und betroffen sind. Sie möchten an der räumlichen Gestaltung der Siedlungen mitwirken oder bemühen sich um die Schaffung neuer Einrichtungen, die ihre Bestrebungen und Interessen erfüllen. All das bereitet den alteingesessenen Kibbuzniks unter Umständen Unbehagen, weil sie den Kibbuz als den Ort sehen, den sie selbst aufgebaut haben und in den sie ihr Leben lang all ihre Kraft investiert haben. Ihre Rechte sind aber wahrscheinlich dazu verdammt, auf immer weniger Widerhall zu stoßen, wenn die neue Bevölkerung wächst und den Kibbuz »erobert«. Ob es den Veteranen nun gefällt oder nicht, die Hinzugezogenen oder die Teil-Kibbuzniks werden die weitere Entwicklung der Kibbuzim maßgeblich prägen, während sich die gesellschaftlichen Grenzen zwischen den Mitgliedern und Nichtmitgliedern allmählich auflösen, vor allem wegen der zurückgekehrten Kinder von Kibbuzniks unter letzteren. Die Dynamik der »Neuen« könnte die alternden Kibbuzniks an den Rand drängen – mit allen damit einhergehenden Konsequenzen. 4) Die Studie hat auch den Status der Kibbuzim und Kibbuzniks in der israelischen Gesellschaft untersucht. Wie erwähnt, neigen Kibbuzniks in ihren Beziehungen zu staatlichen Behörden dazu, sich so zu verhalten, als stünden ihnen aufgrund ihrer historischen Leistungen immer noch bestimmte Privilegien zu. Für die heutigen Beamten sind sie aber nur einige von vielen Wirtschaftsteilnehmern im Land und sie weigern sich daher, die Kibbuzniks bevorzugt zu behandeln. Deren Einzigartigkeit garantiert ihnen noch lange keine Privilegien. Die Kibbuzniks müssen akzeptieren, dass sie ebenso »anders wie auch andere« sind. Aus der Perspektive des Harvard-Pluralismus-Projekts müssen sie also einräumen, dass eines ihrer grundlegenden Identitätskriterien, nämlich die Allgemeingültigkeit ihrer Erfahrungen und deren herausragende Bedeutung, inzwischen überholt ist – zumindest in den Augen von Außenstehenden. Deshalb zeigen sich viele Mitglieder vom Kibbuz-Leben enttäuscht – egal wie sich dieses nun gestaltet. Auch dieser Aspekt stellt eine Gefahr für das Überleben des Kibbuz dar, nicht so sehr als Ortschaft und Raum, sondern als eine besondere Form der Gesellschaft und ihrer Kultur.
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Aus allen Blickwinkeln betrachtet, entspricht der Kibbuz in der Tat einer »Risikogesellschaft«. Darüber zu spekulieren, welcher Faktor seine Existenz am stärksten gefährdet, ist in diesem Zusammenhang irrelevant. Allen Kibbuzim gemeinsam ist die Tatsache, dass ihre Existenz von den Wünschen und Hoffnungen der Kibbuzniks abhängt. Das impliziert, dass die Gefahr für das Überleben der Kibbuzim vor allem »aus den eigenen Reihen« kommt. Deshalb stellt das Bild, das wir hier gezeichnet haben, kein »exemplarisches NichtVersagen« dar, wie Martin Buber den Kibbuz im Jahr 1996 charakterisiert hat.14 Der Kibbuz erscheint heute als die Verneinung eines Misserfolgs und als ein Kollektiv, dessen Hauptleistung darin besteht, dass es immer noch existiert – obwohl es etwas von seiner Beispielhaftigkeit eingebüßt hat, die es nur wieder gewinnen kann, wenn es die Thesen des Harvard-Pluralismus-Projekts anficht. Nach dem literarischen Vorbild – dem Drama des Doktor Faust – könnte man folgern, dass der Kibbuz, der Wege zur Erneuerung beschritten und dadurch neue Vitalität erlangt hat, heute mehr denn je vor der Herausforderung steht, seine Seele zu retten.
14 Buber, Martin: Paths in Utopia, Syracuse, NY 1996.
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I S R A E L U N D PA L Ä S T I NA – D E R KO N F L I K T Z W E I E R W E LT E N Meron Benvenisti Der erste Versuch, die Völker im Heiligen Land auf friedliche Weise zu trennen, fand vor über 3500 Jahren statt. Abram der Hebräer, der später in Abraham umbenannt wurde, wusste, das »Land konnte es nicht ertragen, dass sie beieinander wohnten«, und sagte zu seinem Neffen Lot: »Lass doch nicht Zank sein zwischen mir und dir […]. Scheide dich doch von mir. Willst du zur Linken, so will ich zur Rechten; oder willst du zur Rechten, so will ich zur Linken.« 1 Die Trennung oder Teilung ist eine allumfassende Strategie, die üblicherweise als Lösung für den alten israelisch-palästinensischen Konflikt vorgeschlagen wird. Dabei gibt es verschiedene Arten von Teilungen: räumlich-konzeptionelle (horizontale, vertikale, die sozialen Differenzierungen entsprechen können), funktionale, ökonomische oder juristische – man möchte von einer geradezu galaktischen Fülle von Maßnahmen sprechen, die allesamt einschneidend sind und angeblich Gewaltanwendungen erforderlich machen, will man die ethnischen Konflikte ein für alle Mal beenden. Immer muss dabei die schwächere, separierte Volksgruppe die ganze Last tragen, während die stärkere Gruppe ihr Gewissen beruhigt, indem sie sich einredet, sie schaffe »getrennte, aber doch gleiche« Lebensbedingungen, die in Wirklichkeit nicht existieren. Je größer die Gewalt ist, desto fantasievoller werden die Versuche, um räumliche und soziale Trennungen durchzusetzen. Im Verlauf dieser Prozesse wächst die damit einhergehende Selbstgerechtigkeit. Die bevorzugte Form der Separation ist räumlich, und die beliebteste Art der Konfliktlösung für das Problem zwischen Israelis und Palästinensern ist die »Zwei-Staaten-Lösung«, also die räumliche Teilung des Landes. Vordergründig sind es emanzipatorisch politische Aspekte, die für diese Lösung ins Feld geführt werden: Selbstbestimmung und Sicherheit. Dahinter stehen aber das psychologische Bedürfnis nach einer Absonderung und der Wunsch, die Anderen durch die Schaffung von ethnisch homogenen Räumen gleichsam aus dem eigenen Blickfeld verschwinden zu lassen. Räumliche Trennungen verschiedener Volksgruppen sind in ethnisch polarisierten Gesellschaften ein weitverbreitetes Phänomen. Die Menschen sind bestrebt, Quartiere zu schaffen, in denen sie unter ihresgleichen leben, weil die Trennung von den Anderen Sicher1
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heit verspricht, Spannungen reduziert und die eigene ethnisch-kulturelle Identität stärkt. Dieser räumliche Abstand ist von eminenter emotionaler Bedeutung, da die Kontrolle eines definierten Territoriums einem menschlichen Grundbedürfnis nach Identität zu entspringen scheint. Der Wunsch, in der Nähe gemeinschaftsbezogener und gemeinsamer religiöser Einrichtungen zu leben, sowie das Gefühl der Sicherheit, das die Zugehörigkeit zur eigenen Gruppe bietet, nähren diesen quasi natürlichen Instinkt zur Absonderung. In Zeiten der Ruhe werden diese Grenzen zwischen ethnischen Identitäten jedoch bedeutungsloser, und die Faktoren, die die Gesellschaft in Hinsicht auf soziale Schichten oder nach Kriterien »moderner Lebensweisen« differenzieren, gewinnen an Bedeutung. Bei Konflikten zwischen verschiedenen Volksgruppen – besonders in Zeiten gewalttätiger Auseinandersetzungen – treten dann die Unterschiede wieder stärker hervor. Das führt dazu, dass viele Menschen umziehen – manchmal freiwillig, meist aber, weil sie eingeschüchtert sind –, um sich hinter einer ethnischen Trennlinie in Sicherheit zu bringen. Eine Atmosphäre der Angst zwingt dann jede Gruppe dazu, sich auf einem homogen besiedelten Territorium zusammenzudrängen. Es entsteht eine »Geografie der Angst«. Die Trenn- und Spannungslinie wird zur Kampffront und der Raum zum Mosaik einander entfremdeter Inseln. Zum Verständnis dieses Phänomens ethnischer Konzentration in Ländern mit zwei oder mehreren Volksgruppen muss man keine Beispiele anführen, da es überall existiert. Im Fall einer realen oder auch nur gefühlten Bedrohung des Landes wird fast schon automatisch mit räumlichen Absperrungen und funktionalen Trennungen reagiert. Die Versuchung ist groß, das Problem schnell und durch drastische Radikaloperationen zu lösen. Was könnte schöner sein, als eines Tages aufzuwachen und zu sehen, dass die Probleme gelöst und die Anderen verschwunden sind? Gefühle der Ausweglosigkeit, die ständige Gewalt, die Angst und mangelnde Sicherheit nähren schließlich die Überzeugung, dass Radikallösungen eben notwendig sind. Im israelisch-palästinensischen Konflikt träumt jede Seite davon, dass die andere verschwinden möge, auch wenn das unmöglich ist. Und wenn man die Anderen schon nicht physisch verschwinden lassen kann, so träumt man doch zumindest davon, eine möglichst große räumliche Distanz zueinander haben zu können. Und wenn man die Anderen schon nicht ausweisen kann, so lassen sie sich vielleicht aus dem eigenen Bewusstsein eliminieren, indem man sie gewissermaßen konzeptionell externalisiert. Will man radikale Lösungen, so erfordern diese radikale Maßnahmen, die selbst unter Inanspruchnahme ungehemmter physischer
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Gewalt durchgeführt werden. Denn jede Seite weiß, dass die andere nur durch Zwangsmaßnahmen – mit militärischer Überlegenheit durchgeführt – vertrieben werden kann. Selbst Menschen und Gruppen, die keine Skrupel haben, Gewalt anzuwenden, müssen ihr Handeln aber rational begründen. Das geschieht unter Zuhilfenahme projektiver, psychologisch definierter Strukturen, die als Maßnahmen einer notwendigen Selbstverteidigung begründet werden. Letztlich projiziert jede Seite aber nur den eigenen Zerstörungswillen auf die jeweils andere und unterstellt, dass dieser Vernichtungswille allein auf der anderen Seite anzutreffen sei und das wahre Ziel des jeweiligen Feindes. Die radikale Beseitigung zwischenmenschlicher Gegensätze innerhalb einer Gemeinschaft kann dabei verschiedene Formen annehmen, die von der physischen Vernichtung über die gewalttätige Vertreibung, räumliche Trennung oder politische Ausgrenzung bis zur erzwungenen Assimilation reichen kann. Die totale Eliminierung interkommunaler Polarität kann verschiedene Formen annehmen, etwa physische Vernichtung, gewalttätige Vertreibung, räumliche Trennung, politische Separation oder erzwungene Assimilation. Raumstrategien Israels Die israelische Strategie in den besetzten Gebieten wird durch das Konzept der einseitig definierten Ab- und Ausgrenzung geprägt. So ist den Israelis die Strategie der Kontrolle zur zweiten Natur geworden. Sie basiert auf den Erfahrungen der zionistischen Bewegung, auf ihrem Ethos und ihrem selbstbezogenen Narrativ. Die Israelis haben sich dabei auf Überlieferungen gestützt, die vermittelten, dass die jüdische Welt seit ihrer allerersten tragischen Begegnung mit der arabischen Welt im Widerstreit mit ihr liegt. Schon die ersten jüdischen Einwanderer hatten das Heilige Land gleichsam als eine fremdartige Landschaft wahrgenommen, unter deren Oberfläche eine zweite Schicht, die wahre Landschaft ihres uralten Heimatlandes verborgen lag: Nach und nach zeichneten sie daher eine neue Karte, mit der sie die als bedrohlich erlebte Landschaft allmählich überlagerten. Diese Karte war jedoch keine, die nur auf dem Papier bestand oder illusionär blieb. Vielmehr hatten diese Siedler beschlossen, die gefahrvolle Realität – das heißt die konkret vorhandene Landschaft Palästinas – nach ihren Vorstellungen und Träumen neu zu formen. Das gelang ihnen, und schließlich überdeckte ihre Welt die in diesem Überschreibungsprozess zerstörte palästinensische Zivilisation. Die Araber gingen den entgegengesetzten Weg: Von der wirklichen Landschaft, die sie kultiviert, besessen und geliebt hatten und
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die im Jahr 1948 von den Juden zerstört worden war, blieb nur der Traum von den verschwundenen Häusern, vom Duft ihrer Orangenhaine und die Sehnsucht nach »Heimkehr«. In ihren Augen scheint heute alles, was auf ihrer verschwundenen Welt aufgebaut wurde, gar nicht zu existieren oder gilt doch zumindest als illegal. Der Zionismus hatte zum Ziel, im Land Israel eine neue Gesellschaft aufzubauen, eine eigenwillige, sich selbst genügende jüdische Gesellschaft. Diese entwickelte sich – bewusst und gezielt – nahezu unter Ausschluss von Beziehungen zu den Palästinensern. Die ehrenvolle Absicht der Zionisten, sie nicht wie eine Kolonialmacht zu unterdrücken, ging allerdings mit dem Gefühl der eigenen Überlegenheit als Europäer einher. Die Überzeugung, dass die Juden ein »Volk sind, das allein leben« sollte, wurde nicht zuletzt durch die Erfahrungen aus 2000 Jahren des erzwungenen Exils und die Ausgrenzung oder Vertreibung der Juden in der Diaspora verstärkt. Die »Juden-Nichtjuden«-Dichotomie wurde nach Israel mitgenommen und dort zur emotionalen Grundlage der nun freiwilligen Absonderung der jüdischen Einwanderer auf allen Ebenen im britischen Mandatsgebiet Palästinas: geografisch, ökonomisch, sozial, politisch und militärisch. Der Erfolg des Yishuv 2 in Palästina bestand schließlich darin, eine unabhängige, aber isolierte Gesellschaft aufgebaut zu haben, die aus der Ideologie der eigenen Abgrenzung später einen unumstößlichen Mythos machte. Tatsächlich war nur diese Strategie geeignet, um den Sieg der Juden im kommunalen Geflecht Palästinas zu ermöglichen. Die Prozesse der Segregation fanden mit der Zwangsumsiedlung von Palästinensern im Krieg von 1947 bis 1949 ihre stärkste Ausprägung. Tausende Palästinenser verloren damals ihre Häuser und ihre Heimat. Nach der Staatsgründung festigte sich ein System zur funktionalen Trennung zwischen Juden und jenen Arabern, die in Israel verblieben. Die Araber wurden zwar Staatsbürger, hatten aber de facto keinen Zugang zu den Entscheidungsgremien des Staates. Wirtschaftlich und institutionell, in Hinsicht auf die Versorgung mit Kultur und Bildung wurden sie diskriminiert. Das betraf ihre geistigen und symbolisch-habituellen Bedürfnisse gleichermaßen. Die Diskriminierung beruhte auf ihrer juristischen Klassifizierung als Angehörige der arabischen Minderheit.
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Yishuv oder Jischuw bezeichnet die Juden der ersten Einwanderungswelle (Aliyah) nach Palästina vor der Staatsgründung im Jahr 1948.
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1 — Die illegale israelische Siedlung Pisgat Zeev in der Westbank vom palästinensischen Flüchtlingslager Shuafat in den Außenbezirken von Jerusalem aus gesehen. Obwohl die Sperrmauer die Bewohner beider Seiten voneinander trennt, sind sie doch alle Einwohner der Stadt Jerusalem und im Besitz von israelischen Ausweisen. Die Graffitis sind eine Aktion palästinensischer Künstler aus Jerusalem. Das Bild wurde im November 2009 in den besetzten palästinensischen Gebieten vom Fotografen Kai Wiedenhöfer aufgenommen.
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Folgen des Krieges von 1967: Strategien dreidimensionaler Segregation Der Sechs-Tage-Krieg im Jahr 1967 führte zur Entwicklung eines neuen Typs erzwungener Separation. Die gesetzliche Trennung erfolgte automatisch: Die Bewohner der besetzten Gebiete galten von da an entweder als Ausländer (Westbank) oder als staatenlos (Gazastreifen). Die israelische Regierung nutzte beides, sowohl Segregation als auch Integration: Segregation und Diskriminierung für die Palästinenser und Integration für alles, was den Interessen der jüdischen Israelis diente. Die israelische Regierung förderte schließlich den Bau von jüdischen Siedlungen in den Palästinenser-Gebieten und machte damit aus der geopolitischen »Grünen Linie« eine Sektorengrenze zwischen den beiden Volksgruppen. Die jüdischen Staatsbürger nahmen dieses israelische System der Segregation mit in ihre Siedlungen in den besetzten Gebieten. Ihre Nachbarn in den Dörfern und Städten auf der anderen Seite des Stacheldrahtzaunes waren ausgeschlossen und blieben »außen vor«. Der Bau von israelischen Siedlungen und militärischen Einrichtungen inmitten der palästinensischen Ballungszentren machte schließlich jede Chance zunichte, Juden und Araber geopolitisch großräumlich aufzuteilen, sodass für beide Seiten eine lebensfähige Siedlungsform hätte gefunden werden können. Stattdessen führte diese Politik zu kleinräumlichen Abschottungen. Angesichts der Notwendigkeit, sich von den Palästinensern abzugrenzen, aber mit den eigenen Leuten in Verbindung zu bleiben, entwickelten die Israelis eine revolutionäre Strategie: Statt einer zweidimensionalen, strebten sie eine dreidimensionale Teilung in eine jüdische und eine palästinensische Welt an, die jeweils physische und zeitliche Räume sowie Wohn- und Regierungsbezirke betrifft. Da die Israelis die palästinensische Lebensform und Kultur in den besetzten Gebieten jetzt nicht mehr – wie 1948 – verdrängen und ersetzen konnten, starteten sie ein atemberaubendes ingenieurtechnisches Unternehmen: den Bau einer »Mauer«, die nun auch oberhalb oder unterhalb der fremden Lebenswelt der Palästinenser verlaufen kann. Natürlich begann dieses Experiment in Jerusalem, der Stadt, die – wie jeder weiß – »nie wieder geteilt werden wird«, so der Slogan der Israelis, seit dem Diktum Benjamin Netanjahus aus dem Jahr 2009. Allerdings erfolgte die Teilung zunächst nur auf dem Gebiet der Planimetrie. Schließlich: Wer sagt denn, dass es unmöglich sei, auch die Volumina deiner und meiner Wohnbereiche ebenso wie Verwaltungsbereiche voneinander zu scheiden? Das Geschehen im Untergrund von Jerusalem, von dem der »Western Wall Tunnel« zwar nur ein kleiner, aber berühmter Teil ist, hat dann gezeigt, wie auch die
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dreidimensionale Teilung des Raumes bewerkstelligt werden kann. Eine freigelegte und restaurierte unterirdische Stadt ermöglicht es heutigen Besuchern, die Altstadt Jerusalems zu erkunden, ohne einen einzigen Araber oder irgendein störendes Indiz für das Vorhandensein dieser Anderen und deren Anrechte auf Jerusalem zu sehen. Hier sind die Araber oben und die Juden unten. Und dann ist da noch der Straßentunnel zwischen Jerusalem und dem jüdischen Siedlungsblock Gush Etzion zu nennen, der zeigt, wie eine dreidimensionale, unter- oder oberirdische Grenze durch große palästinensische Siedlungsräume gezogen werden kann und jüdische Siedler dadurch zwischen ihren eigenen Enklaven hin- und herfahren können, ohne die Anderen überhaupt zu sehen. Der Skopus-Berg-Tunnel, durch den die arabischen Viertel von Jerusalem »unterfahren« werden können, ist eine weitere ingenieurtechnische Großtat der dreidimensionalen Segregation. Das ganze israelische Trennungssystem beruht auf dem Einfallsreichtum der Bauingenieure. Für die Realisierung der »Teilung Jerusalems nach ethnischen Kriterien«, so der Vorschlag von Politikern, die eine friedliche Lösung anstreben, sind Bauingenieure, die sich auf Brücken- und Tunnelbau spezialisiert haben, sehr gefragt: Man benötigt eine Brücke vom arabischen Silwan-Viertel zu den Moscheen auf dem Tempelberg, eine weitere Brücke vom Judenviertel zum Ölberg sowie Brücken und Unterführungen zur Herstellung des »territorialen Zusammenhangs« zwischen den Judenvierteln von Ostjerusalem. Die vertikale Teilung der Stadt stellt eine irritierende Variation des Themas »irdisches Jerusalem (unten) versus himmlisches Jerusalem (oben)« dar – manchmal sind wir unten, manchmal oben. Die gesamte Geografie der Westbank basiert auf solchen räumlichen Trennlinien: große Autobahnkreuze sowie Brücken und Straßentunnel bilden ein duales Verkehrssystem, eines ist israelisch, das andere palästinensisch. Auch die Palästinenser sind – notgedrungen – sehr erfinderisch bei der Umgehung dreidimensionaler Grenzen dieser Art. Zwischen ihren Enklaven Ramallah, Nablus, Bethlehem und Hebron haben sie Glasfaserkabel gespannt, um ihre virtuellen Welten miteinander zu vernetzen, und so ein »unabhängiges« Mobilfunknetz eingerichtet. Das ehrgeizigste, aus politischen Gründen noch nicht realisierte dreidimensionale Teilungsprojekt von allen ist aber eine 47 Kilometer lange Brücke, oder alternativ ein Tunnel, die jeweils die Palästinenser der Westbank mit denen des Gazastreifens, die ja durch israelisches Gebiet getrennt sind, verbinden sollen. Diese physische Teilung wiederholt sich auf der politischen Ebene. In Dokumenten, die während des sogenannten »peace process«
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veröffentlicht wurden, wurde vorgeschlagen, dass die Oberhoheit über den Tempelberg »schichtweise« so zu verteilen sei, dass die Israelis die Hoheit über die untere Schicht »als dicksten Teil des Berges« erhalten, damit sie »die Ruinen des Heiligen Tempels ausgraben« können. Die obere Schicht hingegen soll unter »die Herrschaft Gottes« fallen – was immer das heißt. Zudem sind die Israelis der Meinung, dass die vermeintliche Gebietshoheit der Palästinenser auf die Höhe der höchsten Gebäude und die Tiefe der Gräber, die sie ihr eigen nennen, begrenzt bleiben sollte. Im Verlauf des »peace process« haben aber die Israelis darauf bestanden, dass der Luftraum und die Bodenschätze des Landes grundsätzlich unter israelischer Hoheit verbleiben müssen. Mögliche Zukunftsmodelle? Das revolutionäre Konzept der dreidimensionalen, räumlichen Teilung beschränkt sich aber nicht nur auf die technischen Gebiete. Derzeit blühen neue Alternativen in den theoretischen und anwendungsorientierten Wissenschaften auf: Experten des internationalen Rechts entwickeln derzeit Theorien zur dreidimensionalen Gebietsregelung, die in der gegenseitigen Verantwortung von Israelis und Palästinensern stehen könnten; Politikwissenschaftler erfinden neue Modelle einer dreidimensionalen, räumlichen Souveränität; Geografen überprüfen die Bedeutung des physischen Raumes; Umweltschützer streben ein neues Gleichgewicht im ökologischen System an und Ästheten debattieren über das Wesen von Schönheit und Hässlichkeit in der (möglichen) »neuen Welt«. Und die Weltgemeinschaft staunt: Wieso sind vorher noch niemandem kreative Lösungen dieser Art zur Abschaffung der Zwietracht zwischen zwei Völkern eingefallen? Was wäre gewesen, wenn die Protestanten in Belfast eine homogene unterirdische Welt ausgegraben hätten, statt »peace lines« zu bauen? 3 Man denke an den Bau des unterirdischen Kapstadt während der Apartheid oder an die Untergrundwelt von Berlin während der deutschen Teilung. Abrahams Nachkommen – gebildet und anspruchsvoll, wie sie sind – fühlen sich nicht an die primitiven Wahrnehmungen ihrer Schafe hütenden Vorfahren gebunden. Sie glauben an den Fortschritt geteilter Welten. Nur unser Vater Abraham, an seinem Platz neben dem Thron des Allerhöchsten, schüttelt sein greises Haupt. Schließlich brauchen selbst Vögel einen Ort, wo sie 3
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Seit 1969 wurden in nordirischen Städten Trennungsmauern zwischen irischen Nationalisten und britischen Unionisten errichtet, die als »peace lines« oder »peace walls« bekannt wurden.
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landen können, und Maulwürfe schieben Erde aus dem Boden, um Luft in ihre Gänge zu bringen. Wenn Israelis und Palästinenser aus ihren Tunneln und von ihren Brücken steigen, werden sie einander zwangsläufig begegnen, und alle Versuche, das zu verhindern, sind zum Scheitern verurteilt. Schon Abrahams Versuch der Teilung gipfelte in der Zerstörung von Sodom und Gomorrha. Es ist die Aufgabe von Geografen und Planern, die Menschen darüber aufzuklären, dass das Universum unteilbar ist.
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»EXISTENZRECHT« UND EXISTENZ 1 Moshe Zuckermann Israel-Debatten haben weltweit die unangenehme Eigenschaft, Prinzipielles klären zu wollen, unter anderem die polemische Frage um das »Existenzrecht« des Judenstaates. Es ist in der Tat bemerkenswert, mit welcher Selbstverständlichkeit man sein schieres, nunmehr 60 Jahre währendes Bestehen infrage stellen zu können meint, und zwar so, dass selbst jene, die darin kein legitimes Diskussionsthema sehen, sich in eine latent apologetische Stellung versetzt sehen. Das hat mehrere Gründe. Zum einen ist Israel tatsächlich unter Umständen ausgerufen worden, die seiner formalen Gründung den Flair von Künstlichem verleihen mussten: Es war die Errichtung eines Staates, dessen abstrakte Idee der manifesten Herrschaft über das Territorium, welches ihn beherbergen sollte, und dem physischen Bestehen einer Gesellschaft, die dieses Territorium hätte bevölkern sollen, vorangegangen war. Israel bildete, so besehen, nicht nur bei seiner realen Gründung eine »imagined community«, sondern war bereits zu einem historischen Zeitpunkt imaginiert worden, als die minimalen materiellen und sozialen Bedingungen für seine Verwirklichung noch in ferner Zukunft lagen. Zum zweiten wurde das Existenzrecht Israels von Anbeginn durch seine arabischen Nachbarn sowohl in proklamierter Ideologie als auch durch periodisch unternommene Versuche, den zionistischen Staat zu bekriegen (und zu vernichten), infrage gestellt. Dass der iranische Präsident Mahmud Ahmadinedschad heute noch die Eliminierung Israels postulieren kann, nimmt sich zwar für nahezu alle arabischen Staaten irreal und obsolet aus, darf sich aber auf eine nicht allzu lang zurückliegende propagandistische Tradition ebendieser Staaten berufen. Da zum dritten die zionistische Staatsbildung mit dem an den Palästinensern begangenen historischen Unrecht einherging, haftete dem, was die Juden für einen emanzipativen Akt erachteten, in den Augen vieler ein Moment moralischer Fragwürdigkeit an. Dass der aus diesem historischen Unrecht hervorgegangene israelisch-palästinensische Konflikt bislang keine politische Lösung gefunden hat (und zum gegenwärtigen Zeitpunkt auch keine Aussicht auf eine solche bietet), prägt dem realen Dasein Israels darüber hinaus schon immer ein Moment von Unausgestandenem ein, ein Gefühl, 1
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Der Text wurde erstmalig veröffentlicht in: Zuckermann, Moshe: Sechzig Jahre Israel. Die Genesis einer politischen Krise des Zionismus, Bonn 2009, S. 131–137. Inzwischen, 2013, feiert das Land das 65-jährige Bestehen. Wir danken dem Autor für das Wiederabdrucksrecht des nach wie vor aktuellen Beitrags.
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das nicht nur die Palästinenser als Kollektivsubjekt der Opfer in diesem Konflikt umtreibt, sondern auch viele Israelis, die die Zukunftsungewissheit zur Grundfärbung ihrer historischen Perspektive haben gerinnen lassen. Und da zum vierten ein Großteil des jüdischen Volkes sich nicht für das Leben in Israel entschieden hat und die Forderung, dass dem so werde, zudem im Laufe der Jahrzehnte merklich verblasst ist, hat das Unbestimmte der Zukunft auch eine Art kollektivpsychische »Legitimation« erhalten; zwar käme niemand auf die Idee, das Existenzrecht des Staates infrage zu stellen, aber das Reden über die zukünftige Existenz ist nicht mehr so tabuisiert wie früher, die kollektive Selbstgewissheit mithin um die inzwischen akzeptierte Möglichkeit eines Lebens außerhalb Israels erweitert worden. Und doch muss festgestellt werden: Der Diskurs um das Existenzrecht Israels wird durch seine hartnäckige Perpetuierung weder stichhaltiger noch akzeptabler als der Diskurs um das Existenzrecht eines jeden anderen Staates auf der Welt. Die Anerkennung eines Staates oder die Verweigerung der Anerkennung ist historisch konjunkturellen Schwankungen unterworfen und stets von partikularen Interessen geleitet, was dazu führt, dass die Infragestellung des staatlichen Existenzrechts als »prinzipiell« debattiert wird, ohne dass dadurch schon etwas Wesentliches begründet, geschweige denn allgemeingültig Unabweisbares zur Sprache gebracht worden wäre. Das Recht von Staaten auf Existenz steht nicht zu beliebiger Disposition, was primär damit zu tun hat, dass ein real existierendes Menschenkollektiv abstrakt als »Staat« kodiert wird, wobei diese Kodierung zum einen geschichtlich gewachsen, zum anderen aber auch (zumindest in der Moderne) von ebendiesem Kollektiv als Akt souveräner Selbstbestimmung vollführt werden kann. Diese Selbstsetzung ist einzig durch das sich selbst setzende Kollektiv revidierbar. Andere Kollektive können zwar das Recht auf diese Selbstsetzung ideologisch in Abrede stellen; sie können sogar ihr negatives Verhältnis zum sich selbst setzenden Kollektiv in militärisch-politische Tathandlungen übergehen lassen. Aber wenn sie dies tun, bedrohen sie die reale Existenz des Staates, sie eliminieren damit nicht sein unverbrüchliches Recht auf diese Existenz. Wenn also die ehemalige israelische Premierministerin Golda Meir ihrerzeit resolut behauptete, es gebe kein palästinensisches Volk (nicht zuletzt, um den palästinensischen Anspruch auf einen Nationalstaat zu unterwandern), dann hatte dies keinerlei Relevanz für die Selbstbestimmung der Palästinenser und ihr Bestreben, einen palästinensischen Staat zu errichten, mithin auch nicht für die Postulierung des Existenzrechtes eines solchen Staates, sondern bezeugte lediglich, wie es um die realen Macht- und Herrschaftsverhältnisse zwischen Israelis
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und Palästinensern zu jenem Zeitpunkt stand (und in gewissen Bezügen noch immer steht). Meir und die Hamas hätten sich in dieser Hinsicht gegenseitig die Waage halten können. Wem also nützt die Polemik um das Existenzrecht Israels? Zunächst allen Vertretern der Israel-Vernichtungs-Ideologie, also arabischen beziehungsweise islamistischen Propagandisten, die den Zionismus als einen zu entfernenden »Fremdkörper« im Nahen Osten sehen. Ihre Rhetorik ist ganz im Geist der hass- und ressentimentgeladenen Freund-Feind-Polarität des Nahostkonflikts formuliert, bezieht also ihre vermeintliche Gültigkeit aus der Logik der real obwaltenden politischen Situation in der Region. Demgegenüber verdankt sich der Existenzrecht-Diskurs unter Antizionisten und Israelgegnern westlicher Provenienz primär heteronomer Projektion von Eigenbedinglichkeiten auf den Nahostkonflikt. Deutlich lässt sich dieses projektive Muster bei deutschen Rezipienten des israelisch-palästinensischen Konflikts ausmachen, unter denen die ideologischen Konstrukte neonazistischer und »linker« antiisraelischer Ausrichtung und die pathetischen Verrenkungen philosemitischer Israelsolidarisierer, die sich lusterfüllt im islamophobischen Ressentiment suhlen, das Netz deutschspezifischer Neuralgien und psycho-ideologischer Katharsis bilden. Dass dabei die Einwirkung der Katastrophengeschichte der Juden im 20. Jahrhundert sowohl das Ressentiment gegenüber dem »Judenstaat« (einschließlich der »Solidarität« mit den Palästinensern) als auch die neurotische »Identifikation« mit den »Juden« qua »Shoah-Überlebenden« bestimmt, liegt ebenso auf der Hand wie die Tatsache, dass diese Projektionen nahezu nichts mit der Realität Israels beziehungsweise mit der des israelisch-palästinensischen Konflikts zu tun haben. Nicht um das Existenzrecht Israels geht es, sondern um Israels Existenz. Und insofern diese bedroht ist, rührt das nicht von einem abstrakten Diskurs über eine wie immer geartete Wesensbestimmung des »jüdischen Volkes« oder die normative Beurteilung des »historischen zionistischen Weges« her, sondern einzig von realen, also konkreten inneren wie äußeren Bedrohungen. Israels reale Existenz ist aber unbestritten: Es hat sich im Land eine heterogene Gesellschaft mit facettenreichen, durchaus auch antagonistischen Lebenswelten, einem bunten, nicht selten hysterischen Alltag und einem eigentümlichen kollektiven Erfahrungskosmos samt spezifischer Kohäsions- wie Konfliktkoordinaten herangebildet, eine Gesellschaft mit beeindruckenden hoch- und populärkulturellen Praktiken, Leistungen und Angeboten, beachtenswerten wissenschaftlichen und technologischen Errungenschaften, einer zuweilen nervösen, darin aber auch vitalen Debattenkultur – ein pluraler, bei allen Zerrissenheiten und Ungereimtheiten eben auch als Lebenswirklichkeit exis-
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tierender sozialer Organismus. Ihn abstrakt wegreden, mithin eliminieren zu wollen, ist ebenso widersinnig, wie ihn abstrakt als »Zufluchtsstätte des jüdischen Volkes« oder als »einzige Möglichkeit genuinen jüdischen Lebens« zu fetischisieren. Was also könnte diese Existenz real bedrohen? Zunächst und vor allem natürlich Kriegshandlungen größeren Ausmaßes. Nicht zuletzt wegen der wüsten rhetorischen Auslassungen seines Präsidenten wird diesbezüglich in den letzten Jahren primär ein potenziell nuklear bewaffneter Iran zur Sprache gebracht. Ein solcher muss in der Tat als strategische Bedrohung Israels angesehen werden, zumal davon auszugehen ist, dass trotz aller (westlichen) Bemühungen, dies zu unterbinden, große Teile des Nahen Ostens früher oder später nuklearisiert werden dürften. Da nun aber nukleare Waffen nicht beliebig einsetzbar sind, wird seit den Zeiten des Kalten Krieges ihre extreme Bedrohlichkeit durch ein ihr innewohnendes »Sicherheitsventil« gleichsam entsichert: das sogenannte Gleichgewicht des Schreckens. Tatsächlich ist davon auszugehen, dass alle beteiligten Staaten in der Region über das bestausgeplauderte Geheimnis längst unterrichtet sind, namentlich, dass kein Feindesland Israels Existenz (nuklear oder sonst wie) bedrohen kann, ohne in Kauf zu nehmen, damit seine eigene aufs Spiel gesetzt zu haben. Kleine, konventionell geführte Regionalkriege sind denkbar, auch eine ausladende Guerilla- und Terroraktivität, mithin zeitweiliger Raketenbeschuss von israelischen Grenzorten im Norden und Süden des Landes. Wer aber von einem Nuklearkrieg spricht, redet in ganz anderen Kategorien, solchen nämlich, die – konsequent durchdacht – ein Szenario mitbedenken müssten, bei dem große Teile des gesamten Nahen Ostens in Schutt und Asche gelegt werden würden. Man kann eine solche apokalyptische Vision ausbuchstabieren und videospielartig pervers-genussvoll ausmalen. Gewiss. Wer aber – zurecht! – davon ausgeht, dass Israel an einer solchen Entwicklung nicht interessiert ist, kann nicht zugleich postulieren, irgendein anderer Staat strebe sie an. Die Angst vor einer lebens- und existenzbedrohenden Katastrophe ist kein jüdisch-israelisches Monopol – auch kein ideologisches Privileg. Die militärische Bedrohung Israels ist also weiterhin Bestandteil seiner Existenz – nicht, weil sie realiter existenzbedrohend wäre, sondern weil sie vieles dazu beitragen kann, Form und Inhalt dieser Existenz beziehungsweise ihre Beschränkungen entscheidend mitzubestimmen. Solange kein Frieden herrscht, wird das Sicherheitsbudget weiterhin das Gros des Nationalbudgets verschlingen, mithin die Ressourcen zur Finanzierung vieler anderer zivilgesellschaftlicher und wohlfahrtsstaatlicher Bereiche der israelischen Gesellschaft. Solange kein Frieden herrscht, werden die inneren Konfliktherde und Problemach-
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sen der israelischen Gesellschaft nicht nur nicht angemessen angegangen und gelöst werden können, sondern sie werden zunehmend die jetzt schon bedrohliche Ausmaße annehmenden Kapitalflucht und Braindrain forcieren, und zwar so, dass die Grundfeste der Zivilgesellschaft und des sozialen Systems der realen Lebenswelten fundamental erschüttert werden würden. Ein Israel, das sich nicht in den Nahen Osten integriert, ein Israel, das willentlich »Fremdkörper« in dieser Region, eine bis zum Halse bewaffnete Bastion in einer feindlichen Umwelt bleibt, ein Israel, das als historische Perspektive einzig einen unausgestandenen Dauerkonflikt zu bieten, eine Ideologie der permanenten Gewalt, den Ausnahmezustand als psychokollektive Matrix seines Selbstverständnisses zu offerieren hat, ein solches Israel wird längerfristig nicht bestehen können – es wird sich von innen her, gebeutelt von der Dynamik seines eigenen Notstandes, zersetzen, sich in nicht kittbare Bestandteile seiner Widerspruchs- und konfliktgeladenen Heterogenität auflösen. Kein Nachbarland kann Israel den Schaden zufügen, den es sich auf lange Sicht selbst zufügen muss, wenn es nicht in Frieden mit seiner Umwelt lebt, die ihm freilich ideologisch wie real als Dauerbedrohung erscheint. »Lange Sicht« bedeutet in diesem Zusammenhang nicht die Hunderte von gewaltdurchwirkten Jahren, die Europa »zur Verfügung« hatte, um sich über horrende Religionskriege, Revolutionen und die militärischen Mordexzesse des 20. Jahrhundert zur Union zu konsolidieren. Im Falle Israels drängt die Zeit, weil das »historische Experiment des Zionismus« an einen Punkt gelangt ist, an dem ihm die Entscheidung zur Herstellung der Bedingungen für sein eigenes Überleben strukturell abgefordert wird. Israel hat sich zweifelsfrei vom Massada-Komplex zum Samson-Syndrom hinbewegt: Man kann die Juden nicht mehr »ins Meer werfen«; eher gehen alle – die Juden und ihre Feinde – gemeinsam unter. Das ist aber keine Perspektive für die Erziehung von Kindern, keine Perspektive für die kollektive Selbstsetzung, keine Perspektive für ein menschliches Dasein, das das Menschsein emphatisch ernst nimmt und seine Verwirklichung erstrebt. Die Existenzfähigkeit Israels bemisst sich nicht an den abstrakten Definitionen seiner Existenz, auch nicht an vermeintlich verbindlichen Bestimmungen seiner »Identität«, die es sich von der Warte einer hegemonialen Ideologie selbst aufzwingt. Es sind Lebenswelten entstanden, die aus ihrer historischen Gewordenheit zu begreifen sind, nicht anhand der ideologisch-rigiden Kriterien des puristischen Meisterplans, den sich der klassische Zionismus anmaßte (vielleicht auch anmaßen musste). Ein Zugehörigkeitsgefühl der Bewohner dieses Landes ist herangereift, welches aus der Logik dieses Lebens-
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weltengeflechts (samt seiner historischen Gewordenheit) decodiert werden muss, nicht anhand von Pauschal-Postulaten der Ideologie des »Neuen Juden«. Aber eben darin muss Israel auch entscheiden, was es will. Die Entscheidung ist angesichts der inneren Zerrissenheiten und Verstrickungen nicht einfach. Und doch kann Israel eines auf keinen Fall wollen: im unbestimmten Zustand der Stagnation verharren, in der geschichtlichen Grauzone einer Aporie zwischen real perpetuierter Okkupation und ideologischem Anspruch auf Frieden. Das werden die Palästinenser nicht zulassen, vermutlich auch nicht »die Welt«, vor allem aber nicht die innere Strukturlogik des nun mal so an diese historische Weggabelung gelangten Israel, wenn es denn das von ihr produzierte geschichtliche Ungemach überleben will.
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K U R Z B I O G R A F I E N AU T O R E N Eliezer Ben-Rafael, geb. 1938 in Belgien, ausgewandert nach Israel im Jahr 1956, war für 20 Jahre Mitglied des Kibbuz Hanita. Er studierte Soziologie und Politikwissenschaften an der Hebrew University in Jerusalem. Ben-Rafael war von 1981 bis zu seiner Emeritierung im Jahr 2006 ordentlicher Professor im Fachbereich Soziologie und Anthropologie an der Tel Aviv University. Bis vor kurzem war er außerdem Präsident des Internationalen Instituts für Soziologie. Im Jahre 2009 wurde ihm der Landau-Preis und im Jahr 2010 der Ordre des Lettres et des Arts der Republik Frankreich für sein Lebenswerk in den Sozialwissenschaften verliehen. Ben-Rafael hat – neben breit gefächerten soziologischen Fachbeiträgen – umfangreich zum Thema Kibbuz publiziert, darunter: The Kibbutz on Ways Apart (Hebräisch), Jerusalem 2009. * * * Meron Benvenisti hatte zwischen 1971 und 1978 unter Teddy Kollek das Amt des stellvertretenden regierenden Bürgermeisters von Jerusalem inne. Benvenisti studierte Mediävistik und erwarb einen Doktorgrad der Kennedy School in Harvard. Im Jahr 1984 gründete er das West Bank Database Project, in dem er die sozialen, wirtschaftlichen und politischen Entwicklungen in der Westbank dokumentierte. Zwischen 1991 und 2009 arbeitete Benvenisti als Kolumnist der israelischen Zeitung Ha‘aretz; seit 1992 beschäftigt er sich zudem in Lehre und Publikation intensiv mit der Geschichte und Gegenwart der Stadt Jerusalem. Zu seinen insgesamt vierzehn veröffentlichten Büchern zählen: Intimate Enemies, Berkeley 1995 und Sacred Landscape: The Buried History of the Holy Land 1948–1998, Berkeley 2000. * * * Jörn Düwel studierte Kunstgeschichte und Germanistik in Greifswald. Seit 2002 Professor für Geschichte und Theorie der Architektur der HafenCity Universität Hamburg. Zuletzt erschienene Publikationen: mit Hans Stimmann: Berliner Altstadt. Von der DDR-Staatsmitte zur Stadtmitte, Berlin 2010; mit Michael Mönninger: Von der Stadtutopie zum städtischen Haus, Berlin 2011; mit Michael Mönninger: Stadt zwischen Traum und Trauma, Berlin 2011; mit Hans Stimmann: Heimat auf Trümmern. Städtebau in Lübeck 1942–1960, Berlin 2013; mit Niels Gutschow: Die Katastrophe – »ein seltsam glücklicher Augenblick«. Zerstörung und Städtebau in Hamburg 1842 und 1943, Berlin 2013; mit Niels Gutschow: A Blessing in Disguise. War and Townplanning in Europe 1940–1945, Berlin 2013.
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Zvi Efrat ist Architekt, Architekturhistoriker und Partner des in Tel Aviv ansässigen Architekturbüros Efrat-Kowalski Architekten (EKA) und war zwischen 2002 und 2010 Direktor der Fakultät für Architektur an der Bezalel Academy of Arts and Design in Jerusalem. Zvi Efrat hat an verschiedenen Universitäten gelehrt, weltweit Vorträge gehalten, umfänglich publiziert und zahlreiche Ausstellungen kuratiert, u.a.: Borderline Disorder im israelischen Pavillon auf der achten Internationalen Architekturbiennale in Venedig, 2002 und The Object of Zionism im Schweizerischen Architekturmuseum in Basel (2011). Sein Buch, The Israeli Project: Building and Architecture 1948–1973, wurde im Jahr 2004 in hebräischer Sprache publiziert. * * * Anton Föllmi wurde am 22.7.1937 in Basel geboren. Studium der Wirtschaftswissenschaften in Basel, London, Paris und Köln. 1961 Promotion bei Edgar Salin zum Thema »Luftverkehr und europäische Integration«. Journalistische Tätigkeit und seit 1963 wissenschaftlicher Mitarbeiter der Schweizerischen Nationalbank Zürich. 1968–1970 Botschaftssekretär der Schweizerischen Delegation bei der OECD in Paris. Seit 1985 Direktor der Schweizerischen Nationalbank (SNB) in Basel. Aufsätze und Vorträge zu Fragen der Wirtschaft und zu Edgar Salin. Anton Föllmi ist am 3.12.2011 in Basel verstorben. * * * Michael Göke hat in Münster und Bochum Wirtschaftswissenschaften studiert und als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Wirtschaftspolitik an der Ruhr-Universität Bochum gearbeitet. Er war Geschäftsführer der List Gesellschaft e.V. in Münster. Nach seiner Promotion sammelte er weitere Erfahrungen in seiner Tätigkeit als Unternehmensberater bei einer großen deutschen Bank in Frankfurt am Main. Seit 2004 ist er Professor für Volkswirtschaftslehre an der Hochschule für Oekonomie & Management. * * * Kerstin Gust studierte Architektur in Berlin und New York City. Seit 1991 Tätigkeit als Kuratorin, Autorin und Architekturvermittlerin. Sie hat Ausstellungen, Konferenzen, Publikationen und Exkursionen konzipiert, die sich an der Schnittstelle von Architektur, Urbanismus und Cultural Studies bewegen. 1997–2000 Gastkuratorin DAZ Deutsches Architektur Zentrum, Berlin; 2001–2005 Programm und Koordination, Kuratorin Architekturzentrum Wien; 2006–2007 Kuratorin M:AI Museum für Architektur und Ingenieurkunst NRW, Gelsenkirchen; seit 2008 Leitung des Büros Gust & Grünhagen in Berlin.
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Rachel Kallus studierte Architektur und Stadtplanung im Masterstudiengang am Massachusetts Institute of Technology (MIT) und arbeitete seitdem in verschiedenen Architektur- und Planungsbüros in den USA, den Niederlanden und Israel. Kallus ist außerordentliche Professorin für Architektur und Stadtplanung am Technion Haifa. Sie firmierte als Mitherausgeberin von Architecture Culture: Place, Representation, Body (2005). Ihr jüngstes Buchprojekt mit dem Titel The Poetic of Place in a Global World basiert auf ihrer durch die Israel Science Foundation geförderten Forschung zu dem Architekten und Planer Artur Glikson und dem Planungsdiskurs der Nachkriegszeit. * * * Ruth Kark ist emeritierte Professorin an der Fakultät für Geografie der Hebrew University in Jerusalem. Sie hat zahlreiche Bücher geschrieben und herausgegeben und rund 200 Artikel zur Geschichte und der historischen Geografie Palästinas und Israels verfasst. Ihre jüngere Forschung beschäftigt sich verstärkt mit den Landrechten indigener Bevölkerungen im globalen Wandel und mit Landrechten der Beduinen, mit Gender Studies und mit der Unternehmenskultur der sephardischen und orientalischen Juden in Palästina bzw. Israel. Zu ihren wichtigen Publikationen zählen: The Land that became Israel: Studies in Historical Geography, Yale 1989; als Herausgeberin mit Y. Ben-Arieh: Israel Studies in Historical Geography. A Book Series, Jerusalem 1989–1997 und Jerusalem and its Environs: Quarter, Neighborhoods, Villages, 1800–1948, Detroit 2001. * * * Anna Minta studierte Kunstgeschichte, Publizistik und Neuere Geschichte an der Freien Universität Berlin und der ETH Zürich, sowie für zwei Jahre Stadt- und Regionalplanung an der Technischen Universität Berlin. Von 1999 bis 2003 war sie Assistentin am Kunsthistorischen Institut der Universität Kiel. Dort wurde sie 2003 mit der Arbeit Israel bauen. Architektur, Städtebau und Denkmalpolitik nach der Staatsgründung 1948 an der Universität Kiel promoviert. Seit November 2005 ist sie Assistentin am Institut für Kunstgeschichte der Universität Bern, wo sie sich 2013 habilitierte. Die Drucklegung ihrer Habilitationsschrift zu historistischen Stilidiomen in der sakralen und politischen Architektur der USA im 19. und 20. Jahrhundert ist in Vorbereitung. Als Herausgeberin (mit Bernd Nicolai) hat Anna Minta u.a. jüngst veröffentlicht: Modernity and Early Cultures – Reconsidering Non-Western References for Modern Architecture in Cross-Cultural Perspective, Bern 2011.
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Andreas Nachama studierte an der Freien Universität Berlin Geschichte und Judaistik und ist ein deutscher Publizist und Rabbiner. Von 1992 bis 1999 war er als künstlerischer Leiter der Jüdischen Kulturtage in Berlin tätig; von 1997 bis 2001 war er Vorstandsvorsitzender der Jüdischen Gemeinde zu Berlin und zugleich Mitglied des Direktoriums des Zentralrates der Juden in Deutschland sowie Governor der World Union for Progressive Judaism. Seit 1994 ist Andreas Nachama Geschäftsführender Direktor der Stiftung Topographie des Terrors in Berlin. Neben seinen publizistischen Aktivitäten ist er als Rabbiner in der Berliner Synagoge Hüttenweg tätig. 2005 wurde er zum Professor am Touro College Berlin/New York ernannt; dort entwickelte er den Studiengang MA in Holocaust Communication and Tolerance. Zuletzt erschien von Andreas Nachama als Herausgeber: Juliane Berndt (Autorin) »Ich weiß, ich bin kein Bequemer…« Heinz Galinski, Mahner, Streiter, Stimme der Überlebenden, Berlin 2012; mit Marion Gardei: »Du bist der Gott, den ich suche«. Psalmen lesen im christlich-jüdischen Dialog, Gütersloh 2012. * * * Willi Oberkrome studierte Geschichte, Germanistik und Pädagogik. 2002 habilitierte er in Freiburg (Br.) in Neuerer und Neuester Geschichte. Oberkrome hatte verschiedene Lehrstuhlvertretungen inne und lehrt an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. In seinen Publikationen beschäftigt sich Oberkrome insbesondere mit der Geschichte des deutschen ›rechten Lagers‹, der deutschsprachigen Historiografie sowie den Agrarwissenschaften im 20. Jahrhundert, so u.a. in Ordnung und Autarkie. Die Geschichte der deutschen Landbauforschung, Agrarökonomie und ländlichen Sozialwissenschaft im Spiegel von Forschungsdienst und DFG 1920–1970, Stuttgart 2009. * * * Martin Peschken studierte Kunstgeschichte und Literaturwissenschaft in Berlin und Madrid und promovierte zum Verhältnis von Theorie und Praxis literarischer Schaffensprozesse. Er übte freie Tätigkeiten als Kulturwissenschaftler und Kurator aus, zuletzt bei der Internationalen Bauausstellung Stadtumbau Sachsen Anhalt von 2005 bis 2010. Von 2008 bis 2012 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der TU Braunschweig, wo er seitdem die Professur Geschichte und Theorie der Architektur und Stadt vertritt.
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Bertram Schefold, Prof. Dr. Dres. h.c., geboren 1943 in Basel, Schweiz, ist seit 1974 Professor für Wirtschaftstheorie an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main mit den Spezialgebieten Kapitaltheorie, Umweltökonomie und Geschichte des ökonomischen Denkens. Er ist Ehrendoktor der Universitäten Tübingen und Macerata, EhrenPräsident der European Society for the History of Economic Thought sowie Ehrenmitglied der Stefan-George-Gesellschaft. Am 14. Dezember 2010 verlieh ihm die israelische Ben-Gurion University of the Negev in Beer Sheva als erstem Preisträger den »The Thomas Guggenheim Prize in the History of Economic Thought« für sein dogmengeschichtliches Lebenswerk. In seinen Publikationen hat Schefold sich wiederholt mit den Ökonomen im Umkreis Stefan Georges auseinandergesetzt, u.a. in Wissenschaftler im George-Kreis. Die Welt des Dichters und der Beruf der Wissenschaft (hg. v. Bernhard Böschenstein, Jürgen Egyptien, Bertram Schefold und Wolfgang Graf Vitzthum), Berlin 2005. * * * Axel Schildt, Dr. phil. habil., ist Direktor der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg und Professor für Neuere Geschichte an der Universität Hamburg. Axel Schildt ist Verfasser zahlreicher Publikationen zur deutschen und europäischen Sozial-, Kultur- und Intellektuellengeschichte im 20. Jahrhundert, zuletzt u.a. Die Sozialgeschichte der Bundesrepublik Deutschland bis 1989/90, München 2007; als Herausgeber (mit Ute Daniel): Massenmedien im Europa des 20. Jahrhunderts, Köln 2010; mit Alexander Gallus: Rückblickend in die Zukunft. Intellektuelle Positionen und politische Öffentlichkeit um 1950 und um 1930, Göttingen 2011. * * * Julius H. Schoeps wurde 1942 im schwedischen Djursholm während des Exils seiner Eltern geboren. Er studierte Geschichte, Politikwissenschaften und Kommunikations- und Theaterwissenschaften. Von 1974 bis 1991 wirkte er als Professor für Politikwissenschaften und als Direktor des Salomon-Ludwig-Steinheim-Instituts für deutschjüdische Geschichte an der Universität/Gesamthochschule Duisburg. Von 1992 bis 2007 war Julius Schoeps Professor für moderne Geschichte mit einem Schwerpunkt in deutsch-jüdischer Geschichte an der Universität Potsdam; seit 1994 ist Julius Schoeps Direktor des Moses Mendelssohn Zentrums für europäisch-jüdische Studien in Potsdam. Zu seinen jüngsten Veröffentlichungen zählen u.a.: Das Erbe der Mendelssohns. Biographie einer Familie, Frankfurt a.M. 2009 und als Mitherausgeber: A Road to Nowhere? Jewish Experiences in the Unifying Europe, Leiden/Boston 2011.
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Korinna Schönhärl studierte Geschichte und Germanistik an der Universität Regensburg mit einem Gastsemester in Thessaloniki. Nach dem Referendariat für das Lehramt am Gymnasium promovierte sie 2008 an der Goethe-Universität Frankfurt mit der Arbeit Wissen und Visionen. Theorie und Politik der Ökonomen im Stefan George-Kreis. Seit 2009 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Universität Duisburg-Essen. In ihrem Forschungsprojekt Finanziers in Sehnsuchtsräumen. Europäische Banken und Griechenland im 19. Jahrhundert verbindet sie wirtschafts- und kulturgeschichtliche Forschungsperspektiven. Daneben beschäftigt sie sich auch mit den ökonomischen Folgen von Migration im Ruhrgebiet und in Istanbul. * * * Yaakov Sharett, geb. 1927 in Tel Aviv als ältester Sohn von Moshe Sharett (Shertok), Mitbegründer des Kibbuz Hazerim, studierte Russistik und Politikwissenschaften am Russischen Institut der Columbia University und am St. Anthony‘s College in Oxford. Während der 1960er Jahren arbeitete er als Regierungsbeauftragter für sowjetische Angelegenheiten und war Erster Sekretär der israelischen Botschaft in Moskau. Seit 1964 widmete sich Yaakov Sharett einer journalistischen Tätigkeit und verfasste u.a. als Redaktionsmitglied der Tageszeitung Maariv wöchentliche Kolumnen. 1994 gründete er die der Edierung des politischen Werks seines Vaters gewidmete Moshe Sharett Heritage Society. Als jüngste Publikation der Moshe Sharett Heritage Society ist 2011 The Reparations Controversy – The State of Israel and the German Money in the Shadow of the Holocaust, München 2011 erschienen. * * * Thomas Sieverts, geb. 1934, studierte Architektur und Städtebau in Stuttgart, Liverpool und Berlin. Von 1967 bis 1999 übte Sieverts eine Lehrtätigkeit an verschiedenen internationalen Hochschulen, insbesondere an der Technischen Hochschule Darmstadt aus. 1978 gründete er sein eigenes, bis heute bestehendes Planungsbüro (ab 2006: SKT Umbaukultur). Im Rahmen seiner Planungstätigkeit war Sieverts an der Gestaltung verschiedener Projekte in Deutschland, u.a. dem Bochumer Westpark und der Zeche Nordstern Gelsenkirchen, beteiligt. Für sein architektonisches und publizistisches Werk erhielt er zahlreiche Preise und Auszeichnungen, unter ihnen den Deutschen Städtebaupreis und die Ehrendoktorwürde der Technischen Universität Braunschweig. Zu dem von ihm geprägten Begriff der »Zwischenstadt« ist in jüngerer Zeit erschienen (mit Michael Koch, Ursula Stein und Michael Steinbusch: Zwischenstadt – inzwischen Stadt? Entdecken, Begreifen, Verändern, Wuppertal, 2005.
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Joachim Trezib studierte Architektur an der Technischen Universität Karlsruhe mit einem einjährigen Studienaufenthalt an der Università degli Studi di Firenze. Nach einer längeren Tätigkeit in der architektonischen Entwurfspraxis promovierte er 2011 zum Thema Technokraten des Raums. Die Rezeption der »Theorie der zentralen Orte«, der »Sharon-Plan« und der »Generalplan Ost«. Von 2008 bis Anfang 2013 war Joachim Trezib wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Geschichte und Theorie der Architektur und Stadt (GTAS) der Universität Braunschweig und forschte über das Israel-Projekt der List Gesellschaft. * * * Stefan Vogt studierte Geschichte, Politikwissenschaft, Soziologie und Germanistik an der Universität Freiburg und an der Freien Universität Berlin. Nach seiner Promotion arbeitete er als DAAD-Fachlektor an der Universiteit van Amsterdam, als Visiting Scholar an der New York University und als Postdoctoral Fellow an der israelischen Ben-Gurion University of the Negev in Beer Sheva. Derzeit arbeitet er an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main an einem Habilitationsprojekt mit dem Titel Zionismus und Nationalismus in Deutschland: Politische Interaktion und intellektueller Transfer zwischen deutschem Zionismus und deutschem Nationalismus, 1890–1933. Er ist Autor zahlreicher Aufsätze, unter anderem in Jewish Social Studies, Journal for Contemporary History und Zeitschrift für Geschichtswissenschaft. * * * Georg Wagner-Kyora promovierte 1993 an der Universität Bielefeld und habilitierte im Jahr 2000 an der Martin-Luther-Universität zu Halle-Wittenberg über Identitätskonstruktionen deutscher Chemiker und Ingenieure von 1916–1990. Lehraufträge als Privatdozent an den Universitäten Halle und Hannover. Vertretungsprofessuren in Hannover und an der Technischen Universität Berlin für Neuere Geschichte mit dem Schwerpunkt Stadtgeschichte. 2009 bis Anfang 2012 Gastprofessor am Center for Metropolitan Studies der TU Berlin (Master-Studiengang Historische Urbanistik und Metropolenforschung), seitdem Lehrer am Mariengymnasium Jever/ Kreis Friesland. Seit den 1990er Jahren Forschung zur Geschichte der Wohnungspolitik und der Sozial-, Alltags- und Wirtschaftsgeschichte in der mitteldeutschen Chemieindustrie. Zur deutschen und europäischen Wiederaufbaugeschichte sowie der Mentalitätsgeschichte der Friedlichen Revolution ist von ihm erschienen: Väter der Gerüchte. Angst und Massenkommunikation in Halle und Magdeburg im Herbst 1989, in: Journal of Modern European History 10/2012, S. 362–390.
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Karin Wilhelm, Prof. Dr. Mag. Art., studierte Kunstgeschichte, Soziologie und Philosophie in Heidelberg, München, Berlin und Marburg a.d.L. Von 1991 bis 2001 leitete sie als Professorin für Architekturgeschichte und Kulturtheorie das Institut für Kunstgeschichte an der Fakultät für Architektur der TU Graz. Von 2001 bis 2012 war sie Professorin für Geschichte und Theorie der Architektur und Stadt an der TU Braunschweig. Lehrtätigkeit im In- und Ausland und internationale Vortrags- und Ausstellungstätigkeit. Mehrere wissenschaftliche Funktionen, Gutachtertätigkeit und Juryteilnahmen. Forschungsschwerpunkte: Urbanistik als Kulturtheorie im 19. und 20. Jahrhundert; Prozesse des Kulturtransfers (Mentalitätsgeschichte Österreichs und der BRD in Architektur und Städtebau nach 1945). * * * Joachim Wolschke-Bulmahn, Dr.-Ing., studierte Landespflege an der Universität Hannover. Von 1991 bis 1996 war er Direktor der Abteilung Studies in Landscape Architecture in Dumbarton Oaks (Harvard). Seit Oktober 1996 ist er Professor an der Fakultät für Architektur und Landschaft der Leibniz Universität Hannover. Von 2000 bis 2008 war er Mitglied der ExpertInnen-Kommission zur Neukonzeptionierung der Gedenkstätte Bergen-Belsen; er ist Mitbegründer und seit 2003 Vorstandsvorsitzender des Zentrums für Gartenkunst und Landschaftsarchitektur (CGL). Ein Schwerpunkt seiner Forschungstätigkeit liegt auf dem späten 19. und frühen 20. Jahrhundert und insbesondere der Zeit des Nationalsozialismus und den Beziehungen zur Landschaftsarchitektur. Dazu und zu anderen Themen liegen zahlreiche Buchpublikationen und Artikel vor. * * * Moshe Zuckermann studierte Soziologie, Politologie und Geschichte und lehrt seit 1990 an der Universität Tel Aviv als Professor des Cohn Institute for the History and Philosophy of Science and Ideas. Von 2000 bis 2005 leitete er das Institut für Deutsche Geschichte der Tel Aviv University und ist seit 2009 zudem akademischer Leiter der Sigmund-Freud-Privatstiftung in Wien. Innerhalb der Geschichte und Philosophie der Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften liegen die Forschungsschwerpunkte Zuckermanns bei der Frankfurter Schule, der Ästhetischen Theorie und Kunstsoziologie und beim der Einfluß der Shoah auf die politischen Kulturen Israels und Deutschlands. Moshe Zuckermann hat zahllose Artikel und monographische Arbeiten publiziert, darunter in jüngster Zeit: »Antisemit!« Ein Vorwurf als Herrschaftsinstrument, Wien 2010.
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ABBILDUNGSVERZEICHNIS Archives of the Weizmann Institute Ben-Rafael, Eliezer Darmstädter Echo Fotoarchiv Kantonale Denkmalpflege Basel-Stadt Freie Planungsgruppe Berlin GmbH Hartstein, Ran Yaniv Israel State Archive Karmi, Ram Kreisarchiv Celle Landesmedienzentrum Baden-Württemberg Limmat Verlag Lofenfeld Moshe Minta, Anna National Photograph Collection, Israel, NPC D38-050 Staatsbibliothek zu Berlin Preußischer Kulturbesitz Stadtarchiv Hannover (NL Hillebrecht) Stadtarchiv Pforzheim – Institut für Stadtgeschichte Sauer, Johann State of Israel, Government Press Office, Photography Department State of Israel, Ministry of Housing, Rural Settlement Department State of Israel, Ministry for Information State of Israel, Ministry of the Interior, Planning Department Wiedenhöfer, Kai Wolschke-Bulmahn, Joachim
17, 83 305, 307, 308, 312 202 52, 56 199 78 (7) 116–117 149 260 200–201 211 146 143 150 84 78 (6) 169, 170, 175, 180 346–348 98 103 91 (5) 87 324–325 259
Den Fotografen, Bildautoren und deren Archiven und Rechtsnachfolgern möchten wir für die Genehmigung danken, ihre Abbildungen in diesen Band aufnehmen zu können. Soweit es uns und den Autoren der Textbeiträge möglich war haben wir uns bemüht, sämtliche Quellen ausfindig zu machen und die Urheber und Rechteinhaber korrekt zu benennen.
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I S R A E L I M B L I C K D E S › B E T R AC H T E R S ‹ 1 »Alte Fotos von Tel Aviv haben einen merkwürdigen Effekt. Sie wirken naiv. Und weil sie so unschuldig scheinen, weil man weiß, dass die Unschuld scheinbar ist, halten sie eine Utopie fest (diesen Ort gab es nie) und sind schmerzlich anzusehen, gerade in ihrer Harmlosigkeit … Ich sehe ein Foto an und denke, dass ich es nicht verstehe. Aber was heißt es, ein Foto zu verstehen? Vielleicht heißt es, alle Bilder davor und danach zu kennen. Man muss wissen können, was im Moment zuvor geschehen ist und was im Moment danach. Wissen, dass man sich diese Foto auch in einer Woche oder einem Jahr ansehen wird und wiedererkennt. Weil ein Foto ein Augenblick ist und dauerhaft, scheint es mir eine Kontinuität zu fordern, die nur der Betrachter geben kann. Sind wir diese Betrachter? Ich meine, verstehen wir es, diese Betrachter zu sein? Während wir doch von einem Ort zum nächsten fahren?« Katharina Hacker 2
1 — Blick von der Terrasse des Österreichischen Hospizes auf die Altstadt von Jerusalem.
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Israel im Blick des ›Betrachters‹ zeigt zeitgenössische Impressionen des Landes aus dem Jahr 2009. Fotos © Johann Sauer. Katharina Hacker: Tel Aviv. Eine Stadterzählung, Frankfurt am Main 1997, S. 77f.
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2 — Stadtpanorama von Tel Aviv von Jaffa aus gesehen.
3 — Der Kibbuz Ein Gedi am Toten Meer.
4 — Bushaltestelle am Toten Meer.
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5 — Altstadt von Jaffa.
6 — Wohnbauten in Ramleh aus den 1960er Jahren.
7 — Tankstelle am Toten Meer.
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Urban Studies Andrea Baier, Christa Müller, Karin Werner Stadt der Commonisten Neue urbane Räume des Do it yourself Mai 2013, 232 Seiten, kart., 450 farb. Abb., 24,90 €, ISBN 978-3-8376-2367-3
Alenka Barber-Kersovan, Volker Kirchberg, Robin Kuchar (Hg.) Music City Musikalische Annäherungen an die »kreative Stadt« Dezember 2013, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1965-2
Marco Thomas Bosshard, Jan-Dirk Döhling, Rebecca Janisch, Mona Motakef, Angelika Münter, Alexander Pellnitz (Hg.) Sehnsuchtsstädte Auf der Suche nach lebenswerten urbanen Räumen Oktober 2013, ca. 288 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,90 €, ISBN 978-3-8376-2429-8
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Urban Studies Anne Huffschmid, Kathrin Wildner (Hg.) Stadtforschung aus Lateinamerika Neue urbane Szenarien: Öffentlichkeit – Territorialität – Imaginarios Juni 2013, 464 Seiten, kart., 25,90 €, ISBN 978-3-8376-2313-0
Julia Reinecke Street-Art Eine Subkultur zwischen Kunst und Kommerz (2. Auflage) 2012, 200 Seiten, kart., zahlr. farb. Abb., 26,80 €, ISBN 978-3-89942-759-2
Carsten Ruhl (Hg.) Mythos Monument Urbane Strategien in Architektur und Kunst seit 1945 2011, 320 Seiten, kart., zahlr. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1527-2
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de