Neue Psychiatrie: Den Biologismus überwinden und tun, was wirklich hilft 9783839445716

Die neurowissenschaftliche Wende hat den psychiatrischen Blick auf Gene und Moleküle gelenkt - und dabei die Menschen au

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German Pages 256 Year 2023

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Table of contents :
Inhalt
Vorbemerkung
Kapitel 1: Große Hoffnung, große Enttäuschung
Kapitel 2: Eine Vorhersage erfüllt sich nicht
Kapitel 3: Kleine Geschichte der Schizophrenieforschung
Kapitel 4: Psychiatrischer Neurozentrismus und seine Folgen
Kapitel 5: Weiter wie immer und alles ganz anders
Kapitel 6: Telepsychiatrie und das neue Zeitalter digitaler Interventionen
Kapitel 7: Ein Comeback der Sozialpsychiatrie
Kapitel 8: Experten durch Erfahrung. Die Stimme der Betroffenen
Kapitel 9: Neo-Psychedelik und die Hoffnung auf heilsame Trips
Kapitel 10: Psychopharmaka – je weniger, desto besser
Kapitel 11: Aufbruch in eine pragmatische Psychiatrie
Nachbemerkung
Literatur- und Quellenverzeichnis
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Neue Psychiatrie: Den Biologismus überwinden und tun, was wirklich hilft
 9783839445716

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Felix Hasler Neue Psychiatrie

X-Texte zu Kultur und Gesellschaft

Felix Hasler

Neue Psychiatrie Den Biologismus überwinden und tun, was wirklich hilft

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: //dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2023 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Haris Mulaosmanovic / photocase.de Korrektorat: Maren Fritsch, Bielefeld Druck: Friedrich Pustet GmbH & Co. KG, Regensburg https://doi.org/10.14361/9783839445716 Print-ISBN 978-3-8376-4571-2 PDF-ISBN 978-3-8394-4571-6 EPUB-ISBN 978-3-7328-4571-2 Buchreihen-ISSN: 2364-6616 Buchreihen-eISSN: 2747-3775 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschaudownload

Inhalt

Vorbemerkung ......................................................................7 Kapitel 1: Große Hoffnung, große Enttäuschung.............................................. 15 Kapitel 2: Eine Vorhersage erfüllt sich nicht ................................................ 27 Kapitel 3: Kleine Geschichte der Schizophrenieforschung .................................. 47 Kapitel 4: Psychiatrischer Neurozentrismus und seine Folgen .............................. 57 Kapitel 5: Weiter wie immer und alles ganz anders .......................................... 81 Kapitel 6: Telepsychiatrie und das neue Zeitalter digitaler Interventionen .................107 Kapitel 7: Ein Comeback der Sozialpsychiatrie .............................................. 131 Kapitel 8: Experten durch Erfahrung. Die Stimme der Betroffenen .........................157 Kapitel 9: Neo-Psychedelik und die Hoffnung auf heilsame Trips ...........................165

Kapitel 10: Psychopharmaka – je weniger, desto besser .................................... 189 Kapitel 11: Aufbruch in eine pragmatische Psychiatrie ..................................... 207 Nachbemerkung .................................................................. 217 Literatur- und Quellenverzeichnis ................................................219

Vorbemerkung

Irgendwann so um 2004 saß ich in meinem Büro, schaute zum Fenster hinaus und dachte: Seltsam. Kann das wirklich sein? Ich arbeitete damals an der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich in der Fachgruppe Neuropsychopharmacology und Brain Imaging und suchte nach einer Literatur-Referenz, die ich für eine wissenschaftliche Publikation benötigte. Es ging dabei nicht um eine technische Spitzfindigkeit, sondern um etwas ganz Grundlegendes. Ich suchte nach einer Übersichtsarbeit, die belegt, dass das Serotoninsystem bei psychischen Störungen eine wichtige Rolle spielt, insbesondere bei Depressionen. Schnell erledigt, dachte ich mir, das ist schließlich eine Tatsache. Aber je länger ich in Datenbanken und Lehrbücher abgestiegen war, umso klarer wurde, dass die vermeintliche Tatsache gar keine Tatsache ist, sondern eine pure Hypothese, für die nie ein wissenschaftlicher Nachweis erbracht wurde. Wohl gab es unzählige Untersuchungen zu Serotonin und Depression, aber die Ergebnisse waren unklar, widersprüchlich und letztlich unbrauchbar. Weit und breit kein Beweis für die Serotoninhypothese zu finden. An diesem Nachmittag an der Burghölzli Klinik hatte mein Selbstverständnis als biologisch forschender Wissenschaftler in der Psychiatrie einen ersten schweren Auffahrunfall mit der Realität zu verkraften. Wenn noch nicht einmal das stimmt, was kann ich überhaupt glauben? Seitdem ist viel passiert. Zwanzig Jahre später glaubt in der Wissenschaft (fast) niemand mehr an die simple These, psychische Störungen seien Ausdruck einer gestörten Botenstoff-Chemie im Gehirn. Eine vermeintliche wissenschaftliche Gewissheit ist eingeschrumpft zur »nützlichen Metapher«, um Patienten klar zu machen, warum sie Antidepressiva nehmen sollen. Die Erklärungsmodelle haben sich vielfach gewandelt bis hin zur gegenwärtigen Vorstellung, psychische Störungen beruhten auf fehlerhaften Schaltkreisen und gestörter Netzwerk-Kommunikation. Das Vokabular des Computerzeitalters hat längst auch die Biopsychiatrie erreicht. Aber kein Modernisierungsschub

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und kein Hypothesen-Update konnte das Grundproblem lösen: Die Biologie der erkrankten Psyche auf ein solides Fundament zu stellen, in der sie mehr ist als eine Behauptung. Mit naturwissenschaftlichen Verfahren sollten ursächliche Krankheitsmechanismen entdeckt und daraus wirksame Behandlungsmethoden entwickelt werden. Das klingt vernünftig, im Rest der Medizin ist dieses Vorgehen schließlich auch erfolgreich. Doch Psychiatrie ist nicht wie der Rest der Medizin und der Plan ging nicht auf. Die »dritte Welle der biologischen Psychiatrie« ist Mitte der 1980er Jahre mit großem Optimismus gestartet, im Lauf der Zeit ins Stocken geraten und mittlerweile im Zustand einer tiefen Krise angekommen. Davon handelt der erste Teil dieses Buchs, vom Aufstieg und Fall eines gigantischen Projekts, von großer Hoffnung und großer Enttäuschung. In der Fachwelt herrscht bereits erstaunliche Einigkeit darüber, dass die biologisch ausgerichtete Psychiatrieforschung seine ambitionierten Ziele verfehlt und bis heute zu keiner relevanten Verbesserung der klinischen Praxis geführt hat. Kein besseres Krankheitsverständnis, keine besseren Medikamente, keine besseren Prognosen. Überaus erfolgreich hingegen war die Psychiatrie der Gene und Moleküle als ideologisches Programm. Dass psychische Störungen Erkrankungen des Gehirns seien, ist zum alles dominierenden Paradigma geworden. Nicht nur innerhalb der Psychiatrie, sondern auch in der gesellschaftlichen Wahrnehmung. Und das ist nicht ohne Folgen geblieben. Versteht man psychische Störungen als biologische Funktionsstörung, so macht es natürlich Sinn, diese medikamentös zu behandeln. Dieses Narrativ hat einen bis heute anhaltenden Psychopharmaka-Boom ausgelöst. Mit großer Selbstverständlichkeit werden nicht nur ernsthafte psychische Erkrankungen wie schwere Depressionen oder Schizophrenien mit Medikamenten behandelt, sondern auch die ganz normalen Befindlichkeitsstörungen der vielen worrying well. Mit der Folge, dass heute Abermillionen von Menschen Psychopharmaka nehmen, die sie gar nicht nehmen sollten und die ihnen längerfristig mehr schaden als nutzen. Von den weitreichenden Folgen unserer neuro- und pharmakozentrischen Psychiatrie handelt das Kapitel 4. Also einfach wieder eine neue Grundsatzkritik an der biologischen Psychiatrie? An der einen oder anderen Stelle wird man diesen Verdacht bestätigt finden. Inhaltlich will ich mich dafür auch gar nicht entschuldigen und hoffe stattdessen auf die überzeugende Kraft des guten Arguments in pointierter Sprache. Entschuldigen möchte ich mich hingegen bei den vielen engagierten

Vorbemerkung

Forscherinnen1 , den klugen Doktoranden und den Postdocs mit ihren 60Stunden Arbeitswochen, die sich aufrichtig bemühen, mit guter Wissenschaft herauszufinden, was Gene und Moleküle mit Depression, Sucht oder Psychose zu tun haben könnten. Sollte ich bei ihnen zur Frustration beitragen, bitte ich dies als unerwünschte Nebenwirkung meiner Kritik zu entschuldigen. Denn selbstverständlich ist Grundlagenforschung wichtig und notwendig, nicht zuletzt im Bereich der neurologischen Erkrankungen, von Demenzen bis Multiple Sklerose, die von der biologischen Forschung ja auch in großem Ausmaß profitieren. Meine Kritik zielt vielmehr auf die Einseitigkeit der Ausrichtung und die erhebliche Unwucht in der Verteilung personeller und finanzieller Ressourcen. In den letzten Jahrzehnten sind fast alle Energien der akademischen Psychiatrie in die Erforschung von Genen und Molekülen geflossen und vakante universitäre Lehrstühle wurden konsequent mit Biopsychiatern besetzt. Im Zuge dieses zunehmenden Ungleichgewichts, machtvoll durchgesetzt von universitären Institutionen, Expertenorganisationen und der Pharmaindustrie, verarmte in der Psychiatrie auch das Bild vom Menschen. Wir werden gerade Zeugen einer immer radikaleren Entkopplung zwischen den Psychiatern, die Patienten studieren und denen, die sie behandeln. Was kann und soll das Ziel psychiatrischer Forschung sein? Wollen wir weiterhin hoch abstrakte Krankheitstheorien aus VulnerabilitätsgenKonstellationen, molekularen Regulations-Kaskaden und neuronalen Schaltkreis-Anomalien konstruieren? Oder ganz praktisch dem real existierenden Patienten mit seinen real existierenden Problemen helfen? Zwischen diesen Optionen muss sich die akademische Psychiatrie in Zukunft entscheiden. Denn das eine, so versuche ich aufzuzeigen, hat mit dem anderen so gut wie nichts zu tun und Ressourcen sind bekanntermaßen beschränkt. Während die akademische Psychiatrie sich zunehmend nur noch um sich selbst dreht, zeichnen sich in der Versorgungspsychiatrie wichtige Neuerungen ab. Die Vielfalt dieser Neuerungen und ihr innovatives Potenzial aufzuzeigen ist das Hauptanliegen des Buchs. Die gegenwärtigen Veränderungen sind, auf einen kurzen Nenner gebracht, technologischer, sozialer und pragmatischer Natur und orientieren sich an der grundvernünftigen Frage, was in der Praxis wirklich helfen könnte. Dass wir alle zwischenzeitlich mit Smartphones herumlaufen, ist auch den Psychiatern und Psychotherapeutinnen nicht verborgen geblieben. Durch die Covid-19 Pandemie beflügelt, 1

Im Sinne einer gendergerechteren Sprache werden in diesem Buch männliche und weibliche Form abwechslungsweise verwendet.

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ist die »digitale Psychiatrie« zu einem neuen Experimentierfeld geworden, in dem mental health Apps, online-Psychotherapien, Chatroboter und sogar messbasierte Frühwarnsysteme zur Erkennung psychischer Krisen ausgetestet werden. Auch die Psychiatrie ist im digitalen Zeitalter angekommen und Psychiaterinnen diskutieren mit IT-Spezialisten eifrig über die Vor- und Nachteile von hybriden Therapiebeziehungen in realen und virtuellen Welten. In den vergangenen Jahren hat auch die Sozialpsychiatrie eine ganz neue Wertschätzung erfahren. Mit einem Stoßseufzer der Erleichterung werden viele zur Kenntnis nehmen, dass man in der Psychiatrie endlich wieder ernst nimmt, dass der Mensch mehr ist als ein medikamentös zu behandelnder Symptomträger. Psychiatrische Störungen sind im Kern soziale Störungen, verursacht durch Traumatisierung, Diskriminierung, Armut und andere Lebensdramen. An den real gegebenen Lebensverhältnissen der Patienten orientieren sich auch die neuen sozialpsychiatrischen Versorgungsangebote. In der »aufsuchenden psychiatrischen Arbeit« betreuen flexibel operierende, multiprofessionelle Teams die Erkrankten dort, wo sie sind: Zu Hause, in provisorischen Einrichtungen oder auch in der Obdachlosigkeit. Dazu kommen die »stationsäquivalente Behandlung«, dialogbasierte Therapieverfahren, dem Stand der Zeit angepasste Soteria Projekte und verschiedene Minimal Medication Services. Am Rand der Mainstream Psychiatrie tut sich gerade eine ganze Palette neuer sozialpsychiatrischer Behandlungsverfahren auf. Viele psychiatrisch Tätige, die Veränderung wollen, sind mit Engagement dabei, aus der Verbindung von altbewährten Verfahren und neuen Ideen eine innovative Sozialpsychiatrie 2.0 zu schmieden. Immer mehr Bedeutung wird auch den »Experten durch Erfahrung« zugestanden – Menschen, die selbst von psychischen Krisen betroffen waren und diese überwinden konnten. Dabei kommt ihnen nicht nur die Rolle zu, als Genesungsbegleiter akut Erkrankten und ihren Angehörigen Hoffnung zu vermitteln. Ihre Innenperspektive auf psychische Störungen kann auch mithelfen, zu definieren, worauf es in einer gelingenden Therapie wirklich ankommt. Noch ist das Gemeinschaftsprojekt »partizipative Forschung« zwischen Wissenschaftlerinnen, Betroffenen und Angehörigen eher Bekenntnis als Praxis. Aber auch das könnte sich schon bald ändern, Pilotprojekte in dieser Richtung sind bereits angelaufen. Auch wer irgendwann nach Jahren seine Psychopharmaka nicht mehr nehmen wollte, war bis vor kurzem ganz auf das Erfahrungswissen anderer Betroffener angewiesen. Internet-Selbsthilfegruppen wie SurvivingAntidepressants.org waren über lange Zeit die einzige brauchbare Informationsquelle, wenn es um das Absetzen von Psychopharmaka und den Umgang mit Entzugssymptomen

Vorbemerkung

ging. Immerhin, mittlerweile hat auch die institutionelle Psychiatrie erkannt, dass sie sich nicht nur um das Verschreiben, sondern auch um das Entschreiben von Psychiatriemedikamenten kümmern sollte und hält dies in ihren neuen Behandlungsrichtlinien fest. Die Umschau, was sich am Horizont der Psychiatrie so alles an Innovation und Veränderung abzeichnet, bildet den zweiten Teil dieses Buchs. Das Kapitel »Neo-Psychedelik und die Hoffnung auf heilsame Trips« ist dann wohl das, was man ein Heimspiel nennt. Wenn ich am Burghölzli nicht gerade aus dem Fenster schaute und über fehlende Belege für wichtige Hypothesen nachdachte, habe ich nämlich Halluzinogenforschung gemacht. Und das über einen Zeitraum von mehr als zehn Jahren. 2005 und 2006 stand ich dabei sogar unter wissenschaftlicher Beobachtung. Der Anthropologe Nicolas Langlitz war für seine Feldforschung bei uns zu Gast und hat für das Treiben der Schweizer Halluzinogenforscher eine griffige Formel gefunden: »Neuro-Psychedelik«.2 Nicks Wortschöpfung beschreibt das Revival der Halluzinogenforschung seit der Mitte der 1990er Jahre sehr treffend. Die Psychedelikforschung 2.0 war ganz ein Kind der Dekade des Gehirns, die gerade ihren Höhepunkt erreichte. In Franz Vollenweiders Labor in Zürich ging es um Rezeptorpharmakologie, neuronale Korrelate von Bewusstseinszuständen und die Frage, ob das Pilzhalluzinogen Psilocybin und seine Artverwandten vorübergehend Gehirnveränderungen hervorrufen, die zum Verständnis von Psychosen oder Manie beitragen könnten. In der Neuauflage wissenschaftlicher Forschung mit Halluzinogenen wurden Psychedelika entpolitisiert und möglichst wertneutral als Instrumente zur Untersuchung von Gehirn und Bewusstsein dargestellt. Man wollte, und dies aus gutem Grund, auf Maximaldistanz zu Halluzinogenforscher-Vorgängern wie Timothy Leary gehen. Serotonin-2A-Rezeptor-Agonismus statt Weltrevolution – diese ideologische Neugewichtung erleichterte sicher auch den Umgang mit den Behörden, die diese Forschung bewilligen mussten. Ganz so nüchtern, wie sich das gerade liest, war es natürlich nicht. Im Verlauf meiner Halluzinogenforscherjahre habe ich auch selbst von verschiedenen kosmischen Gewürzen genascht und staunend in andere Welten geblickt. Gut möglich, dass diese pharmakologischen Studienreisen zu meiner Überzeugung beigetragen haben, dass es ein völlig unmögliches Unterfangen ist, den phantastischen Kosmos unserer inneren Erfahrung mit neurowissenschaftlichen Methoden auch nur halbwegs adäquat einzufangen, geschweige denn zu erklären. Nicht ohne 2

Langlitz N (2013) »Neuro-Psychedelia«.

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Stolz darf ich also davon ausgehen, auch selbst ein wenig Vorarbeit für den aktuellen Boom der medizinischen Psychedelik geleistet zu haben. Zwischenzeitlich schon tief in der klinischen Forschung angekommen, geht es mit dem Halluzinogen-Revival in rasantem Tempo voran. Ohne Zweifel hat die moderne Kombination aus psychedelischer Psychopharmakologie und speziellen Psychotherapieverfahren ein beträchtliches Potenzial. Verschiedene Psychedelika-unterstützte Behandlungsverfahren haben wegen starker Pilotdaten von der amerikanischen Zulassungsbehörde FDA den Status von breakthrough therapies zugesprochen bekommen, Biotech Start-ups hoffen auf eine baldige Kommerzialisierbarkeit und die Wissenschaftskonferenz Psychedelic Science 2023 wurde bereits als »größte psychedelische Zusammenkunft der Geschichte« angekündigt. Kann das wirklich gut gehen? Oder wiederholt sich die Geschichte und auf Neo-Psychedelik folgt schon bald Neo-Prohibition? Das Schlusskapitel schließlich macht, was sich für ein Schlusskapitel gehört: Es fasst zusammen und wagt einen Ausblick. Sucht man den ökonomischen Vergleich, könnte man den heutigen Zustand des Großprojekts »biologische Psychiatrie« am ehesten mit dem Endstadium einer spekulativen Blase vergleichen. Systemimmanente Sachzwänge, eine Vielzahl persönlicher und institutioneller Interessen und auch die auf Langfristigkeit ausgelegten Forschungskooperationen sorgen dafür, dass die Spekulationsblase nicht schon längst geplatzt ist. Aus ihr wird nur ganz allmählich die Luft abgelassen. Das System Psychiatrie befindet sich im Zustand der zunehmenden Entkopplung und Selbstentfremdung. Das hat sicher auch mit einer veränderten gesellschaftlichen Wahrnehmung zu tun. Der Neurohype der 2000er Jahre ist zwischenzeitlich abgeklungen und der materialistische »Homo cerebralis«3 , der sein Ich-Sein voll und ganz auf sein Gehirn bezieht, ist längst auf dem Rückzug. Dementsprechend geringer fällt heute auch das Medieninteresse aus, wenn Forscher wieder einmal glauben, ein neues Depressionsgen oder einen Schaltkreis für Sucht gefunden zu haben. Wie es scheint, erwartet auch die praktisch arbeitende Versorgungspsychiatrie schon lange nichts mehr vom akademisch forschenden Teil ihrer Zunft. Während sich die einen immer tiefer in Moleküle und Genmuster zurückziehen, arbeiten die anderen bereits an einer weitreichenden Umgestaltung. Zeiten der Krise sind Zeiten der Veränderung.

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Eine Wortschöpfung des Wissenschaftshistorikers Michael Hagner (2008).

Vorbemerkung

Ich wünsche mir, dass dieses Buch mehr ist als ein vorauseilender Nachruf auf eine erfolglose, aber nebenwirkungsreiche Idee. Es soll auch Hoffnung geben, dass sich die Dinge wirklich grundlegend verändern können.

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Kapitel 1: Große Hoffnung, große Enttäuschung Die Klinische Neurowissenschaft kann sich nun [im Jahr 2005] auf ein »Zeitalter der Umsetzung« freuen, mit zutreffenderen Diagnosen, besseren Behandlungen und sehr früher Erkennung und Prävention.1

Zu Beginn unseres Jahrhunderts herrscht gute Laune in der Psychiatrie. Von den Grundlagenforschern an den Universitätskliniken bis zur Pharmazeutischen Industrie – überall glaubt man den Anbruch eines neuen, goldenen Zeitalters zu erkennen. Nicht weniger als die Rettung des eigenen Fachs erhofft man sich von den allerorts boomenden Neurowissenschaften mit ihren scheinbar unbegrenzten Möglichkeiten. Medizinisch-naturwissenschaftliche Fakten sollen als objektive Kriterien ein für alle Mal die streitbare Subjektivität im Umgang mit psychischen Störungen ersetzen. Beeindruckt von den rasanten technologischen Entwicklungen in der neurobiologischen Grundlagenforschung, insbesondere bei den bildgebenden Verfahren, ist man zuversichtlich, schon in absehbarer Zeit ganz entscheidende Verbesserungen im Verständnis und in der Therapie psychischer Störungen zu erzielen. 2004 veröffentlicht das Wissenschaftsmagazin Gehirn und Geist sein viel beachtetes »Manifest der Hirnforscher«. Elf »führende Neurowissenschaftler« räsonieren in diesem Aufsatz über die Perspektiven der Hirnforschung im 21. Jahrhundert. Und so optimistisch sieht man damals die Zukunft: »Vor allem was die konkreten Anwendungen [der Neurowissenschaften, Anm. d. 1

Insel TR, Quirion R (2005) Journal of the American Medical Association, S. 2224. Sofern nicht anders vermerkt, stammt die deutsche Übersetzung fremdsprachiger Quellen vom Autor.

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A.] angeht, stehen uns in den nächsten zehn Jahren enorme Fortschritte ins Haus. Wahrscheinlich werden wir die wichtigsten molekularbiologischen und genetischen Grundlagen neurodegenerativer Erkrankungen wie Alzheimer oder Parkinson verstehen und diese Leiden schneller erkennen, vielleicht von vornherein verhindern oder zumindest wesentlich besser behandeln können. Ähnliches gilt für einige psychische Krankheiten wie Schizophrenie und Depression. In absehbarer Zeit wird eine neue Generation von Psychopharmaka entwickelt werden, die selektiv und damit hocheffektiv sowie nebenwirkungsarm in bestimmten Hirnregionen an definierten Nervenzellrezeptoren angreift. Dies könnte die Therapie psychischer Störungen revolutionieren – auch wenn von der Entwicklung zum anwendungsfähigen Medikament noch etliche weitere Jahre vergehen werden.«2 Und gut gelaunt ist man auch im Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN)3 . In ihrem Positionspapier »Psychiatrie 2020« erörtern die DGPPN-Präsidenten Frank Schneider, Peter Falkai und Wolfang Maier4 ihre Perspektive auf die Psychiatrie in zehn Jahren. Schon im Vorwort verweisen die Autoren auf den großen Erkenntniszuwachs in der jüngsten Vergangenheit: »Kaum ein anderes medizinisches Fach hat eine derartig sprunghafte Entwicklung in dem letzten Jahrzehnt durchlaufen wie die Psychiatrie und Psychotherapie. Mit exzellenten Bildgebungsmöglichkeiten, molekulargenetischen sowie statistischen Methoden stehen uns seit kurzem vielfältige Möglichkeiten zur Erforschung der Ätiologie, der Pathogenese und teilweise auch schon der Diagnostik zur Verfügung, dies alles verbunden mit dem traditionellen ganzheitlichen Ansatz der psychiatrischen Arbeit.«5 Und Florian Holsboer, in jener Zeit Direktor des MaxPlanck-Instituts für Psychiatrie in München und einer der einflussreichsten Psychiatrieforscher, benennt klar, wohin der Weg nun führt: »Unser Ziel muss es sein, eine Art Weltformel der Seele zu finden. Dort gehen hinein: aktuelle Symptomatik, biografische Situation, bildgebende Verfahren, Hormontests, neuropsychologische Tests, Protein- und Genanalysen … .«6 2 3

4 5 6

Monyer H, Rösler F et al. (2004) Gehirn und Geist. 2012 wurde auch die Psychosomatik in die Fachgesellschaft eingemeindet. DGPPN bedeutet seitdem »Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde«. Frank Schneider war von 2009–2010 DGPPN-Präsident, Peter Falkai von 2011–2012 und Wolfgang Maier von 2013–2014. Schneider F, Falkai P, Maier W (2011) »Psychiatrie 2020«, S. V. Lakotta B (2009) Der Spiegel vom 27.4.

Kapitel 1: Große Hoffnung, große Enttäuschung

Die Psychiater der Zukunft sind Neurowissenschaftler Die Maximalvariante der zukünftigen Bedeutung der Hirnforschung für die Psychiatrie formuliert allerdings Thomas Insel, damals Direktor des National Institute of Mental Health (NIMH)7 : »Die Sichtweise, dass psychische Störungen Erkrankungen des Gehirns sind, legt nahe, dass die Psychiater der Zukunft als Neurowissenschaftler ausgebildet werden müssen.«8 Dass sich Thomas Insel damals fest auf die Neurowissenschaften abstützte, kann man durchaus wörtlich nehmen: In seinem Portrait auf der NIMH-Webseite ruht sein Arm auf den »Principles of Neural Science« – einem der wichtigsten neurowissenschaftlichen Lehrbücher, mitherausgegeben von Nobelpreisträger Eric Kandel. Nähme man die Aussage wirklich ernst, dass die Psychiaterinnen der Zukunft Neurowissenschaftlerinnen sein werden, müsste es eigentlich zu einer Abschaffung der Psychiatrie kommen. Oder vielmehr zu einer Erweiterung der Neurologie um die Subdisziplin »Neurologische Störungen mit vorwiegend oder ausschließlich psychischer Symptomatik«. Und tatsächlich sprach man in den 2000er-Jahren bereits von einer De-Psychiatrisierung der Psychiatrie. Einfach deshalb, weil die »Psyche« (das »Seelische« oder auch der »mentale Raum«) als ursprünglich zentraler Begriff in der Psychiatrie immer unwichtiger geworden war. Es schien nur noch eine Frage der Zeit, bis die vollständige Somatisierung des Fachs hin zu einer Psychiatrie ohne Psyche vollzogen sein würde. »Psychiater und Neurologen sollten am besten als klinische Neurowissenschaftler aufgefasst werden, die die revolutionären Erkenntnisse der Neurowissenschaft bei der Behandlung derer anwenden, die eine Gehirnerkrankung haben« ist konsequenterweise das Fazit der Autoren Thomas Insel und Remi Quirion in ihrem berühmten Kommentar zur Psychiatrie der Zukunft.9 Schon in geraumer Zeit sollte es möglich sein, die grundlegenden pathophysiologischen Prozesse der wichtigsten psychischen Störungen auf biologischer Ebene zu verstehen und aus diesem Verständnis heraus völlig neue Medikamente zu entwickeln. Ganz im Sinne eines pharmazeutischen rational drug designs, wie dies typischerweise bei der Medikamentenentwicklung in der somatischen Medizin praktiziert wird. Gesucht sind neuartige Psychiatriemedika-

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8 9

Das NIMH gehört zum US-Gesundheitsministerium und ist mit seinem MilliardenDollar-Budget die weltweit größte Einrichtung zur Erforschung von psychischen Störungen. Insel TR, Quirion R (2005) Journal of the American Medical Association, S. 2223. Ebd.

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mente, die nicht wie bisher unspezifisch, unvollständig und nebenwirkungsreich auf einige Krankheitssymptome einwirken, sondern unmittelbar die zugrundeliegenden pathologischen Prozesse beeinflussen. Präzise und kurativ sollten sie sein, die Psychopharmaka der Zukunft. Und natürlich muss man für den treffsicheren Zugriff auf das Gehirn erst einmal die molekularen und funktionellen Mechanismen der Erkrankung selbst verstehen. Dass dies auf jeden Fall gelingen wird, war sich auch die Psychiaterin Nancy Andreasen sicher: »Übereinstimmende Daten aus verschiedenen neurowissenschaftlichen Verfahren deuten darauf hin, dass die neuronalen Mechanismen psychischer Erkrankungen als Funktionsstörungen in spezifischen neuronalen Schaltkreisen verstanden werden können und dass deren Funktionen und Funktionsstörungen durch eine Vielzahl kognitiver und pharmakologischer Faktoren beeinflusst oder verändert werden können. […] Diese Fortschritte haben ein Zeitalter geschaffen, in der eine wissenschaftliche Psychopathologie, die Geist und Gehirn miteinander verknüpft, Realität geworden ist.«10

Der heilige Gral der Biopsychiatrie Biomarker! Diese Verheißung leuchtet in den 2000er Jahren besonders hell am Erkenntnishorizont. Sollte es gelingen, bei Erkrankten ein spezifisches Protein im Blut, ein eindeutig abweichendes Muster von Gehirnaktivität oder ein genetisches Profil zu identifizieren, das zweifelsfrei mit den Symptomen einer psychischen Störung einherging, käme dies einer Revolution der psychiatrischen Diagnostik gleich. Die Psychiatrie könnte endlich zu einem ganz normalen medizinischen Fach werden, in dem Krankheitsdiagnosen mit Laborwerten, Genetikdaten oder Bildgebungs-Befunden untermauert und objektiviert

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Andreasen NC (1997) Science. Es soll hier nicht unerwähnt bleiben, dass ein fast identischer neuro-optimistischer Zeitgeist schon hundert Jahre früher durch die akademischen Lehrstuben zog. Der Psychologe William James schrieb 1890: »Unser Wissen über die genauere Anatomie und Physiologie des Gehirns ist eine Errungenschaft der heutigen Generation, oder besser gesagt, der letzten zwanzig Jahre. Viele Punkte sind noch ungeklärt und werden kontrovers diskutiert, aber ein Verständnis dieses Organs wurde hinsichtlich seiner allgemeinen Eigenschaften erreicht; dies betrifft insbesondere auch plausible Vorstellungen über die Art, wie Gehirnprozesse und mentale Prozesse miteinander interagieren.« [zitiert in Finzen A (1998) »Das Pinelsche Pendel«, S. 16.].

Kapitel 1: Große Hoffnung, große Enttäuschung

werden. Und selbstverständlich sollten die besseren Diagnosen auch zu besseren Behandlungen führen: »Nachdem ein Arzt die Gehirnerkrankung eines Patienten genau bestimmt hat, wird er in der Lage sein, die Behandlung zu verschreiben, die am besten geeignet ist«, erklärte Neurowissenschaftler Steven Hyman, Harvard-Professor und Vorgänger von Thomas Insel als Direktor am NIMH dem Magazin Scientific American.11 Vor allem aber sollten Biomarker die Früherkennung psychischer Störungen ermöglichen und das rechtzeitige Eingreifen erlauben, noch bevor das Vollbild der Krankheit aufgetreten ist: »Gentests bei Patienten könnten zeigen, wer ein hohes Risiko für das Auftreten einer Erkrankung wie Schizophrenie oder Depression trägt. Ärzte könnten dann bei diesen Hochrisikopatienten bildgebende Verfahren benutzen, um festzustellen, ob die Erkrankung tatsächlich schon begonnen hat«.12 Biomarker sollen das Feld der Vor-Erkrankung auch für die Psychiatrie eröffnen. Man könnte dann gewissermaßen prä-symptomatisch krank sein und bereits vorsorglich therapiert werden – oder wenigstens unter medizinische Beobachtung gestellt werden. Kein Zweifel, das neue Jahrtausend begann verheißungsvoll für das »Zukunftsfach Psychiatrie«.13 Zwar befinde man sich jetzt noch in einer frühen Phase der Wissensproduktion, aber letztendlich würde der Durchbruch im neurobiologischen Verständnis psychischer Störungen ganz sicher gelingen. Das Erfolgsrezept sollten multidisziplinäre Studien sein: Die Verknüpfung von humaner Neuroanatomie und Neurophysiologie mit Tieruntersuchungen, die Weiterentwicklung der damals noch jungen SCAN-Disziplinen,14 bessere theoretische und computergestützte Konzepte zur Funktionsweise des Gehirns und vor allem das Neuroimaging sollten die so lange erfolglos gesuchten Erkenntnisse liefern.15 Und überhaupt: Der Begriff »psychische Störung« sei doch ein anachronistischer Begriff, weil ja nun klar geworden sei, dass es sich dabei um Erkrankungen des Gehirns handle.

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Hyman SE (2003) Scientific American, S. 98. Ebd., S. 103. Schneider F, Falkai P et al. (2011) »Psychiatrie 2020«, S. 72. »Social, Cognitive and Affective Neuroscience«. Hyman SE (2002) Psychopathology, S. 140.

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Vom Aberglauben zur Wissenschaft Nicht nur Psychiaterinnen, auch viele Psychotherapeuten arbeiteten damals mit Hochdruck an einem modernen, nunmehr neurowissenschaftlich informierten Selbstverständnis. 2004 veröffentlichte der Psychotherapieforscher Klaus Grawe sein programmatisches Buch »Neuropsychotherapie«.16 Der Klinische Psychologe lässt darin keine Zweifel, worauf es wirklich ankommt: »Psychotherapie wirkt, wenn sie wirkt, darüber, dass sie das Gehirn verändert«.17 Für die Therapeuten sei nun an der Zeit, sich von ihrem teilweise abergläubischen Verhalten zu lösen und sich stattdessen »von der Konfession zur Profession« weiterzuentwickeln.18 Ganz besonders der Zunft der Pharmakologen traute Grawe einiges zu: »Man hat gerade erst mit der Erforschung neuronaler Korrelate psychischer Störungen begonnen. Aber es ist sicher, dass sich dieses Wissen bereits im nächsten Jahrzehnt sprunghaft vermehren wird, weil allerorten daran gearbeitet wird. Die Psychopharmakologen stehen auf dem Sprung, jeden diesbezüglichen Wissenszuwachs unmittelbar umzusetzen in verbesserte medikamentöse Behandlungen.«19 Klaus Grawes 2004 so optimistisch verkündetes nächste Jahrzehnt mit seiner »sprunghaften Wissensvermehrung« in den Neurowissenschaften und der in Aussicht gestellten Entwicklung neuer und hochwirksamer Psychopharmaka ging nun gerade zu Ende. Ein guter Moment also für einen Realitätsabgleich mit der tatsächlichen Faktenlage.

Ein Starpsychiater schmeißt hin Im November 2015 standen bei Thomas Insel berufliche Veränderungen an. Der mächtigste Psychiater der Welt räumte überraschend seinen Direktorposten am National Institute of Mental Health, um sich Google Life Sciences20 anzuschließen.21 Zwei Jahre später wird auch der Öffentlichkeit klar, warum. 16 17 18 19 20 21

Grawe K (2004) »Neuropsychotherapie«. Ebd., S. 18. Zitiert in Padberg T (2019) Verhaltenstherapie & Psychosoziale Praxis, S. 245. Grawe K (2004) »Neuropsychotherapie«, S. 19. Nach interner Umstrukturierung bei Google X heißt die Abteilung zwischenzeitlich »Verily Life Sciences«. https://www.nimh.nih.gov/about/dr-tom-insel-to-step-down-as-nimh-director (letzter Abruf 28.1.2023).

Kapitel 1: Große Hoffnung, große Enttäuschung

Im Online-Magazin Wired zieht Thomas Insel Bilanz zu seiner früheren Tätigkeit: »Ich habe dreizehn Jahre am NIMH damit zugebracht, mit Nachdruck die Neurowissenschaft und Genetikforschung zu psychischen Störungen voranzubringen. In der Rückschau denke ich, dass es mir zwar gelang, eine Menge wirklich cooler Publikationen von tollen Wissenschaftlern zu ziemlich hohen Kosten zu veröffentlichen – ich denke zwanzig Milliarden Dollar. Ich glaube aber nicht, dass wir für die Abermillionen von Menschen mit psychischen Erkrankungen etwas bewirkt haben, was die Verringerung von Suiziden angeht, den Rückgang der Krankenhausaufenthalte oder eine bessere Genesung. Ich übernehme dafür die Verantwortung.«22 Ein erstaunliches Fazit des Starwissenschaftlers, der doch wenige Jahre zuvor noch fest davon überzeugt war, dass die Zukunft der Psychiatrie ganz der Genetik und der Neurobiologie gehört und die Psychiater künftiger Generationen klinisch arbeitende Neurowissenschaftler sein werden. Knapp und nüchtern bringt Thomas Insel in seiner Rückschau das Dilemma auf den Punkt: Man hat Milliardensummen in die biologische Erforschung psychischer Erkrankungen gesteckt und dabei zweifellos interessante Grundlagenerkenntnisse zu Organisation und Funktionsweise des Gehirns gewonnen. Aber das eigentliche Ziel, die psychiatrische Diagnostik durch objektive Kriterien zu reformieren und die Therapie psychischer Störungen zu verbessern, wurde komplett verfehlt. Die praktische Relevanz der biologischen Psychiatrie für den depressiven, psychotischen oder zwangsgestörten Menschen ist bis heute gleich Null. Oder in den Worten des amerikanischen Psychiaters Allen Frances: »Die Ergebnisse der Grundlagenforschung sind faszinierend, hatten aber bislang nicht zur Folge, auch nur einem einzigen Patienten sinnvoll zu helfen.«23 Dabei war man sich doch auch im Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde schon immer einig, dass Forschung nie akademischer Selbstzweck sein dürfe, sondern zum Wohl der Erkrankten gemacht werden müsse: »Die zentrale Aufgabe unseres Faches ist die Weiterentwicklung und Anwendung von besseren Therapien und Präventionsstrategien

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https://www.wired.com/2017/05/star-neuroscientist-tom-insel-leaves-google-spa wned-verily-startup (letzter Abruf 28.1.2023), auch zitiert in Rose N (2018) »Our Psychiatric Future«, S. 88. In einem Zeitungskommentar zum Abgang von Thomas Insel beim NIMH [Carey B (2015) The New York Times vom 15.9.].

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für psychisch Kranke. Diesem Ziel muss die Forschung in unserem Fach vordringlich dienen.«24

Das Arzneibuch der Psychiatrie ist ausgeschöpft Nach der Euphorie des Aufbruchs ist in der Psychiatrie längst Ernüchterung eingetreten. Bemerkenswerterweise hat auch die Pharmazeutische Industrie wesentlich zu diesem Stimmungsumschwung beigetragen. So um 2010 begann Big Pharma nämlich ihren orchestrierten Ausstieg aus der Psychiatrieforschung. Als erster großer Pharmakonzern machte GlaxoSmithKline seine Forschungs- und Entwicklungsabteilung für den Bereich Psychopharmaka dicht. Vorstandschef Andrew Witty erklärte damals, dass es sich bei Schmerz, Depression und Angst um Behandlungsfelder handelt, bei denen »wir glauben, dass die Erfolgswahrscheinlichkeit [ein neues wirksames Medikament zu entwickeln] relativ klein ist und die Kosten um Erfolg zu erzielen, unverhältnismäßig hoch sind.«25 Das ist schon erstaunlich, schließlich war die Pharmazeutische Industrie mächtiger Antriebsmotor und ökonomischer Profiteur der Sichtweise, psychische Störungen seien Erkrankungen des Gehirns und könnten demzufolge genau wie andere medizinische Probleme medikamentös behandelt werden. Wenige Wochen nach GlaxoSmithKline gab auch AstraZeneca bekannt, dass alle Forschungseinrichtungen in Europa und den USA geschlossen würden, die mit der Entwicklung von Medikamenten für Schizophrenie, bipolare Störung, Depression und Angst betraut sind.26 In rascher Folge haben weitere Pharmamultis von Novartis27 bis Pfizer ihre Forschungsanstrengungen zur Entwicklung neuer Psychopharmaka entweder komplett aufgegeben oder massiv heruntergefahren. 2016 erklärte PharmaInsider Harry M. Tracy, Herausgeber von NeuroPerspective, dass im letzten Jahrzehnt die Zahl der pharmazeutischen Forschungs- und Entwicklungsprogramme für Psychopharmaka um siebzig Prozent zurückgegangen sei.28 24 25 26 27

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Schneider F, Falkai P, Maier W (2011) »Psychiatrie 2020«, S. 13. Miller G (2010) Science, S. 502. Abbott A (2010) Nature; Miller G (2010) Science. Abbott A (2011) Nature. 2013 hat Novartis ihre neurowissenschaftliche Forschung bereits wieder teilweise aufgenommen. Allerdings mit einem neuen Ansatz: Anstelle der pharmakologischen Neurotransmitter-Modulation will man zukünftig ganze Hirnschaltkreise untersuchen [Abbott A (2013) Nature]. Mehr dazu in Kapitel 9. O’Hara M, Duncan P (2016) The Guardian vom 27.1.

Kapitel 1: Große Hoffnung, große Enttäuschung

Der Industrieberater und Gründer von NI Research weiß um die gegenwärtig miserable Stimmung in der Branche: »Ich denke, es kam [bei der Pharmaindustrie] die Haltung auf, dass Psychiatrie ein Schwarzes Loch ist und dass man Geld hineinsteckt und nichts Gutes dabei herauskommt – auf jeden Fall ist seit langer Zeit nichts sonderlich Neues herausgekommen«.29 In einem Editorial der Fachzeitschrift Schizophrenia Bulletin fasst Psychiater Hans Christian Fibiger die missliche Lage kurz und knapp zusammen: »Die Psychopharmakologie steckt in der Krise. Die Daten sind auf dem Tisch und es ist klar, dass ein gigantisches Experiment gescheitert ist: Trotz Jahrzehnten der Forschung und Milliardeninvestitionen hat seit über dreißig Jahren kein einziges mechanistisch neues Medikament den Psychiatriemarkt erreicht.«30 Der Mann scheint zu wissen wovon er spricht, schließlich hatte der emeritierte Professor von der University of British Columbia Führungspositionen in Neuroscience-Abteilungen mehrere Pharmakonzerne inne.31 Den Mangel an Innovation in der Psychopharmakologie hat Big Pharma Jahrzehnte lang lukrativ mit der Entwicklung unzähliger me too/me betterPräparate kompensiert. Das zugrundeliegende Prinzip ist einfach und vor allem vergleichsweise risikoarm, was das spätere Scheitern in den klinischen Studien angeht. Man nimmt Substanzen, die bereits die behördliche Zulassung bekommen haben und macht kleine chemische Modifikationen an der Molekülstruktur. Verlaufen toxikologische Untersuchungen und klinischen Prüfung dieser minimal abgewandelten Testsubstanzen erfolgreich, wird sich am Ende sicher auch ein leicht verändertes Wirkungsprofil oder eine etwas bessere Verträglichkeit bei einer bestimmten Patientengruppe finden lassen. Mit der branchenüblichen Mischung aus Übertreibung und selektiver Darstellung lässt sich dann der neue Wirkstoff als »deutlich überlegen« gegenüber den Vorgängermedikamenten propagieren. Durch diese Strategie der immer neuen Abwandlung schon etablierter Wirkstoffe sind mittlerweile eine Vielzahl von »atypischen Neuroleptika« zur Schizophreniebehandlung und Antidepressiva des Typs »Selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer« (SSRI) auf dem Markt.32

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Ebd. Fibiger HC (2012) Schizophrenia Bulletin, S. 649. Unter anderem war Christian Fibiger »Vice President of Neuroscience« bei Eli Lilly und Amgen. In Deutschland zugelassen sind die atypischen Neuroleptika Amisulprid, Aripiprazol, Asenapin, Cariprazin, Clotiapin, Clozapin, Olanzapin, Paliperidon, Quetiapin, Rispe-

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Für die Pharmaindustrie ebenfalls bestens bewährt hat sich das Prinzip der Indikationserweiterung. Fast alle Psychopharmaka haben die engen Grenzen ihres ursprünglichen Einsatzgebietes längst verlassen und werden mittlerweile, mit behördlicher Zulassung, für alle möglichen Störungen verwendet. So kommen Antidepressiva vom SSRI-Typ nicht mehr nur bei der klassischen unipolaren Depression zum Einsatz, sondern auch bei Dysthymie, Saisonal-affektiver Störung, Generalisierter Angststörung, Panikstörung, Zwangsstörung, Sozialer Phobie, Posttraumatischer Belastungsstörung, bei Essstörungen, Somatoformer Störung und der »Prämenstruellen dysphorischen Störung«. Dazu »off label«33 bei Schizophrenien, schizo-affektiven Störungen, ADHS, Parkinson und bei Persönlichkeitsstörungen. Für den Ausstieg aus der Psychopharmakologie-Forschung und -Entwicklung muss es für die Branche schon zwingende Gründe geben, wenn doch mit dem Verkauf der bereits verfügbaren Psychopharmaka Jahr für Jahr neue Rekordumsätze erzielt werden34 und ein neuartiger Wirkstoff für die psychiatrische Anwendung sichere Milliardengewinne bedeuten würde. Die Ursache, warum sich Big Pharma aus der Entwicklung von neuen Psychopharmaka zurückzieht, ist nachvollziehbar und hat mit etwas zu tun, das kaum zu beeinflussen ist: Glückstreffer und Zufälle.35 Auch wenn in der Öffentlichkeit noch immer die Meinung vorherrscht, Psychopharmaka seien das Produkt zielgerichteter pharmazeutischer Entwicklung, die spezifisch in eine vermeintlich entgleiste Biochemie des Gehirns eingreifen, sieht die Realität völlig anders aus. Es sei daran erinnert, dass alle der heute in der Psychiatrie gebräuchlichen Medikamente auf Modellsubstanzen basieren, die in den 1950er bis 1960er Jahren durch Zufall gefunden wurden.36 Dies gilt für die pharmazeutische Entdeckungsgeschichte quer durch alle Wirkstoffklassen, vom ersten Antipsychotikum (Chlorpromazin) über die sedierenden Benzodiazepine bis zu den ersten Antidepressiva (Iproniazid und Imipramin). Stets waren die Pharma-Entwickler auf der Suche nach etwas ganz anderem, beispielsweise einem neuen Mittel

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ridon, Sertindol, Sulpirid und Ziprasidon sowie die SSRI-Antidepressiva Citalopram, Escitalopram, Fluoxetin, Fluvoxamin, Paroxetin und Sertralin (Stand 2022). Mediziner haben das Recht, Medikamente nach eigenem Gutdünken auch außerhalb der behördlich genehmigten Zulassungen zu verschreiben. Zur Übermedikation als Folge der forcierten Biologisierung der Psychiatrie siehe Kapitel 4 in diesem Buch. Hasler F (2014) BioSocieties. Siehe dazu Healy D (2002) »The Creation of Psychopharmacology« und Whitaker R (2010) »Anatomy of an Epidemic«.

Kapitel 1: Große Hoffnung, große Enttäuschung

gegen Tuberkulose (Iproniazid) oder einem neuen Anthistaminikum37 (Chlorpromazin). Es war das Verdienst einiger aufmerksamer Studienärzte, die dann zum Beispiel bemerkten, dass das vermeintliche Tuberkulosemittel zwar nicht gegen Tuberkulose hilft, aber vielleicht gut gegen Depressionen sein könnte. Klar, dass dem Pharma-Marketing nach Jahrzehnten der psychopharmakologischen Innovationslosigkeit irgendwann die Lust vergangen ist, noch länger auf neue Zufallstreffer zu warten. In der Psychopharmakologie werden wir gerade Zeugen einer fundamentalen Vertrauenskrise, nicht nur bei den Medikamentenherstellern, sondern auch bei den Finanzierern universitärer Grundlagenforschung und den Wissenschaftlern selbst. In seinem Buch »Our Psychiatric Future« fasst der britische Soziologe Nikolas Rose diese große Ernüchterung in einem Satz zusammen: »Der Traum von Spezifizität, von smarten, zielgerichteten Medikamenten, die wirksam sind und nur minimale Nebenwirkungen haben, weil sie die fehlerhafte Neurobiologie an der Wurzel des Problems beheben, oder von personalisierten Medikamenten, die genau auf das Problem jedes einzelnen zugeschnitten sind – nun, das bleiben Träume oder Versprechen, an die immer weniger Experten glauben.«38

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Wirkstoff gegen Allergien, der die Freisetzung des Botenstoffs Histamin verhindert. Rose N (2018) »Our Psychiatric Future«, S. 117.

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Kapitel 2: Eine Vorhersage erfüllt sich nicht Heute hat man es schwer, jemanden mit Sachkenntnis zu finden, der glaubt, dass die biologische Revolution der 1980er Jahre die meisten – oder auch nur eines – ihrer therapeutischen und wissenschaftlichen Versprechen erfüllt hat. Die Kritik an diesem Vorhaben hat in den letzten Jahrzehnten scharf zugenommen. Der Öffentlichkeit wird nun immer deutlicher: Es wurde zu weit gegangen, zu viel versprochen, zu viele Diagnosen gestellt, zu viele Medikamente verabreicht und eigene Prinzipien kompromittiert.1

Was ist geschehen? Oder vielmehr: Was ist nicht geschehen? Warum ist es der Pharmaindustrie in jahrzehntelanger Forschung nicht gelungen, maßgeschneiderte und wirksame Psychopharmaka zu entwickeln? Weshalb haben international koordinierte multizentrische Forschungsanstrengungen und Multimilliarden-Investitionen nicht zu einer veränderten Behandlungspraxis geführt? Und wieso haben Genetik und Neurowissenschaften noch immer so gut wie keine klinische Relevanz – weder für die Diagnose, noch für die Prognose und erst recht nicht für die Therapie psychischer Störungen? Im Wesentlichen, weil NIMH-Direktor Thomas Insels optimistische Voraussage einer bevorstehenden »Dekade der Entdeckung« in der Psychiatrieforschung unerfüllt blieb: »In den 1990er Jahren – der ›Dekade des Gehirns‹ – gewannen 1

Harrington A (2019) »Mind Fixers«, S. xiv.

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wir wichtige Erkenntnisse über Gehirnschaltkreise und Gehirnfunktionen. Die gegenwärtige Dekade [2000–2010] könnte in der Rückschau einmal als ›Dekade der Entdeckungen‹ gelten, in der erstmals die wichtigsten Kandidaten-Moleküle, -Zellen und -Schaltkreise für normale und abweichende Gehirnfunktionen entdeckt wurden.«2 Insel hat in seinem Kommentar von 2005 auch gleich erklärt, woher die neuen Erkenntnisse zur Biologie psychischer Störungen kommen werden: Aus der Genetikforschung und dem Neuroimaging.3 Beiden Hoffnungsträgern der Psychiatrieforschung wurde in den letzten Jahrzehnten enorme finanzielle und personelle Ressourcen zur Verfügung gestellt. Das Psychiatric Genomics Consortium ist sogar die größte Arbeitsgemeinschaft in der Geschichte der Psychiatrie.4 Der 2007 gegründete Forschungsverbund besteht aus mehr als achthundert Wissenschaftlern aus über hundertfünfzig akademischen Institutionen auf der ganzen Welt.5 Erklärtes Ziel der kollektiven Forschungsanstrengung dieser Hundertschaft von Genetikern, Molekularbiologinnen und Psychiatern ist es, »Risikofaktoren der Familienanamnese [für eine psychische Erkrankung] in biologisch, klinisch und therapeutisch bedeutsame Erkenntnisse zu überführen.«6 Gemäß Selbstbeschreibung wurde dieses Genetikforschungsprogramm dazu entworfen, »umsetzbare Ergebnisse« zu erzielen, die »grundlegende biologische Mechanismen aufzeigen, die klinische Praxis beeinflussen und neue therapeutische Angriffsorte liefern.«7

Große Studien und verdächtige Gene In der Zwischenzeit hat das Psychiatric Genomics Consortium mehr als vierhundert Fachaufsätze veröffentlicht, darunter mehrere Nature und Science Publikationen. Am meisten Beachtung in der akademischen Psychiatrie fanden die Veröffentlichungen zu ihren »Genomweiten Assoziationsstudien« (GWAs). Bei dieser breit angelegten genetischen Untersuchungstechnik,

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Insel TR, Quirion R (2005) Journal of the American Medical Association, S. 2223. Ebd. Sullivan PF, Agrawal A et al. (2018) American Journal of Psychiatry, S. 15. https://www.med.unc.edu/pgc (letzter Abruf 28.1.2023). Sullivan PF, Agrawal A et al. (2018) American Journal of Psychiatry, S. 15. Ebd.

Kapitel 2: Eine Vorhersage erfüllt sich nicht

die gerne als »hypothesenfrei« – sprich unvoreingenommen – bezeichnet wird, sucht man nach Variationen des menschlichen Erbguts, genauer gesagt nach Variationen einzelner Basenpaare innerhalb der DNA.8 Die gefundenen Genvariationen werden dann mit bestimmten Erscheinungsmerkmalen korreliert, zum Beispiel mit einem Krankheitsbild. Das menschliche Genom umfasst Milliarden von Basenpaaren. Selbst wenn bei unserer Spezies nur verhältnismäßig wenig Variation vorkommt, ist schon von Natur aus mit Abermillionen von Polymorphismen zu rechnen. Aus statistischen Gründen sind deshalb für Genomweite Assoziationsstudien riesige Stichprobenzahlen erforderlich. Nur ein entsprechend groß angelegter Forschungsverbund ist überhaupt in der Lage, Zehntausende von Patienten und Kontrollprobandinnen zu untersuchen. Die erste Welle von GWAs in der Psychiatrieforschung, so etwa bis 2009, ergab schon deshalb kaum brauchbare Ergebnisse, weil die Studien statistisch hoffnungslos underpowered waren. Das kann man definitiv nicht von der Genomweiten Assoziationsstudie der Schizophrenie-Arbeitsgruppe des Psychiatric Genomics Consortium behaupten, die im Juli 2014 in Nature publiziert wurde. Der Artikel »Biologische Erkenntnisse aus 108 Schizophrenie-assoziierten Genloci« gehört zu den meist zitierten Fachpublikationen des Jahres.9 Die bis zu diesem Zeitpunkt größte jemals durchgeführte molekulargenetische Studie zur Schizophrenie umfasste 37’000 an Schizophrenie erkrankte Patienten und 113’000 Kontrollpersonen. Die Statistiker dieser Arbeitsgruppe haben bei mehr als hundert Positionen im Genom einen korrelativen Zusammenhang zwischen einer Genvariation und Schizophrenie gefunden. Was also sind nun die »Biologischen Erkenntnisse aus 108 Schizophrenieassoziierten Genloci«? Nun, erst einmal wurde bestätigt, was wir schon längst wissen: Es gibt nicht das Gen und auch nicht das Zusammenspiel einiger weniger Gene, die mit einer Schizophrenie-Erkrankung in Verbindung zu bringen sind. Das immerhin kann man jetzt mit noch mehr Sicherheit sagen. Was man hingegen findet, ist eine Vielzahl von schwachen, aber statistisch signifikanten korrelativen Zusammenhängen zwischen häufig auftretenden Genvariationen, die auch bei ganz anderen Merkmalen (ob gesund oder pathologisch) vorkommen. Das Psychiatric Genomics Consortium kommentiert dies so: »Wir

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So genannte »SNPs/Snips« (Single Nucleotide Polymorphisms). Diese stellen gut neunzig Prozent aller Variationen im menschlichen Genom dar. Schizophrenia Working Group of the Psychiatric Genomics Consortium (2014) Nature.

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wissen jetzt, dass diese genetischen Effekte relativ klein und nichtdeterministisch sind: die meisten Menschen mit einer starken Familienanamnese sind selbst nicht betroffen.«10 In anderen Worten: Keine der verdächtigten Genvarianten ist für sich notwendig oder hinreichend für die spätere Entwicklung einer Schizophrenie. Das gleiche gilt für das Zusammenspiel mehrerer und gar einer großen Zahl von Schizophrenie-»Risiko«-Genen. Erschwerend kommt hinzu, dass bei den als pathophysiologisch verdächtig eingestuften Genvariationen gar keine Spezifität für den Erkrankungstyp »Schizophrenie« besteht. Eine erhebliche Anzahl dieser identifizierten »Einzelnukleotid-Polymorphismen« findet man auch bei anderen Zustandsbildern wie Bipolarer Störung, ADHS oder schweren Depressionen.11 In letzter Zeit ist man bei den Genomweiten Assoziationsstudien vermehrt dazu übergegangen, die Verteilung einer anderen Art der Genvariation zu untersuchen, die so genannte Kopienzahl-Variation.12 Bei diesem molekulargenetischen Marker untersucht man, wie häufig bei einer bestimmten Erkrankung Abweichungen von der normalerweise vorhandenen Anzahl von Kopien eines Genabschnitts vorkommen. Den vermuteten Beitrag der Kopienzahl-Variation zu den (genetischen) Ursachen der Schizophrenie wird vom Psychiatric Genomics Consortium in einer aufschlussreichen Tortengrafik gezeigt. Der vermutete genetische Beitrag zur Schizophrenie-Erkrankung, wenn man ein bestimmtes Muster von Kopienzahl-Variation im Genom hat, ist in der Darstellung als winziger Schlitz von vielleicht zwei Prozent der Gesamtfläche dargestellt. Der ganze Rest des Kuchens wird mit »unbekannt« angegeben.13

Immer mehr Daten, aber nicht mehr Erkenntnis In der Genetikforschung zur Schizophrenie wird ein Trend besonders offenkundig, der in Variationen eigentlich für jedes Teilgebiet der biologischen Psychiatrie gilt. Der Umfang an Forschungsdaten nimmt seit Jahren in rasantem Tempo zu. In immer kürzeren Zeitabständen erscheinen immer

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Sullivan PF, Agrawal A et al. (2018) American Journal of Psychiatry, S. 15. Brainstorm Consortium (2028) Science. So genannte »CNVs« (Copy number variations). Sullivan PF, Agrawal A et al. (2018) American Journal of Psychiatry, S. 19. »Unbekannt« fasst in dieser Grafik häufige Genvariationen, (noch) unentdeckte seltene genetische Ursachen und Verursachung durch nicht-genetische Ursachen zusammen.

Kapitel 2: Eine Vorhersage erfüllt sich nicht

mehr und immer umfassendere Publikationen, Bezug nehmend auf immense Datensätze. Die Autorenlisten von Genomweiten Assoziationsstudien sind zwischenzeitlich derart lang, dass man meint, sich auf ein CERN-Experiment in einem Atomphysik Journal verlaufen zu haben. Ganze 434 Autoren umfasst die Liste einer unlängst ebenfalls in Nature erschienenen und abermals »größten je durchgeführten« Gen-Mapping Studie zur Schizophrenie.14 Nun werden schon 287 Schizophrenie-assoziierte Genloci berichtet, mehr als doppelt so viele wie noch 2014. »Wir identifizieren biologische Prozesse, die für die Pathophysiologie der Schizophrenie relevant sind […] und stellen eine Ressource von priorisierten Genen und Varianten zur Verfügung, um mechanistische Studien voranzutreiben«, würdigt das Autorenheer die gemeinsame Arbeit in der Zusammenfassung des Artikels. Und natürlich kommt auch der unvermeidliche Verweis auf das Potenzial, aus den Erkenntnissen zukünftig neue Therapien zu entwickeln: »Schizophrenie ist nach wie vor eine komplexe und heterogene Krankheit, aber diese Studie hat die Möglichkeit für neue Behandlungsansätze eröffnet« kommentiert die brasilianische Mitautorin Sintia Belangero die Studie.15 Die mit der Leitung der Untersuchung beauftragten Wissenschaftler von der Cardiff University unterstreichen, wie wichtig die großen Fallzahlen sind und fordern bereits eine abermalige Ausweitung: »Das Team versucht nun, weitere Studienteilnehmer zu rekrutieren und größere, vielfältigere Datensätze zu erstellen, um unser Verständnis der Schizophrenie weiter zu verbessern.«16 Die Medien allerdings scheinen von der Endlosspirale immer größerer, aber immer gleich folgenloser Genetikstudien zur Schizophrenie schon ermüdet zu sein. FAZ, Süddeutsche Zeitung, Spiegel oder NZZ – im Gegensatz zu früher fand die Nature Publikation in keinem Wissenschaftsteil der großen deutschsprachigen Bildungsbürger-Blätter überhaupt noch Erwähnung. Umfassende, international vernetzte Wissenschaftskollaborationen, immer bessere Sequenzierungs-Technologien17 und die Verwaltung der Messergebnisse in leistungsstarken Datenbanken lassen die Datenmengen in der psychiatrischen Genforschung geradezu explodieren. Gleichzeitig erklärt das

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Trubetskoy V, Pardinas AF et al. (2022) Nature. https://agencia.fapesp.br/largest-ever-genomic-study-of-schizophrenia-identifies-12 0-genes-associated-with-the-disease/38467/(letzter Abruf 28.1.2023). https://www.sciencedaily.com/releases/2022/04/220406132406.htm (letzter Abruf 28.1.2023). Van Dijk EL, Jaszczyszyn Y et al. (2018) Trends in Genetics.

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Forschungsfeld aber immer weniger von ihrem Untersuchungsgegenstand. Was man sieht, ist eine zunehmende Entkopplung von Datenproduktion und inhaltlicher Deutung. Zur Demonstration dieses Effektes lohnt sich der kurze Ausflug in die Geschichte der psychiatrischen Erbforschung. Die erste groß angelegte Studie zur Erblichkeit der Schizophrenie führte Franz Kallmann in den 1940er Jahren an 691 Zwillingspaaren durch. Der nach Amerika emigrierte deutsche Psychiater glaubte in seiner statistischen Analyse zu erkennen, dass bei zweieiigen Zwillingen das Merkmal »Schizophrenie« in 14.7 Prozent der Fälle bei beiden Geschwistern auftritt, bei eineiigen Zwillingen sei die Konkordanzrate18 sogar 85.8 Prozent.19 Kallmann folgerte aus seiner Untersuchung, dass es bei der Schizophrenie-Erkrankung genetische Faktoren geben müsse, die autosomal rezessiv vererbt werden. Also so wie beispielsweise beim Albinismus20 oder bei der Stoffwechselerkrankung Mukoviszidose.21 Kallmanns längst widerlegte Vorstellung der Schizophrenie als einfache rezessive Erbkrankheit, die auf ein oder einige wenige fehlerhafte Gene zurückgeht, dürfte noch aus der Zeit seiner Zusammenarbeit mit Ernst Rüdin an der Genealogisch-Demographischen Abteilung der Deutschen Forschungsanstalt für Psychiatrie in München stammen. Für Rüdin, Psychiater und Gründungsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Rassenhygiene, der mit seinen »Erbprognose«Schriften auch die pseudowissenschaftliche Legitimation für den NS-Genozid an Hunderttausenden psychisch Kranken mitlieferte, war Schizophrenie eine Erbkrankheit, die nach einfacher Mendelscher Vererbungslehre von Generation zu Generation weitergegeben wird.22 18 19 20 21 22

Grad des übereinstimmenden Auftretens eines Merkmals. Kallmann FJ (1946) American Journal of Psychiatry. François J (1979) Ophtalmologica. Ratjen F, Döring G (2003) Lancet. Torrey EF, Yolken RH (2010) Schizophrenia Bulletin. Auch Franz Kallmann war Mitglied in der Deutschen Gesellschaft für Rassenhygiene. Wegen seiner jüdischen Herkunft wurde er 1936 aus der Gesellschaft ausgeschlossen, verlor seine Arbeitsstelle und emigrierte noch im gleichen Jahr in die Vereinigten Staaten. Dass Kallmann ebenfalls ein eifriger Befürworter der Zwangssterilisation schizophrener Patienten war, lässt sein Vortrag »Die Fruchtbarkeit der Schizophrenen« erkennen, gehalten 1935 am Internationalen Kongress für Bevölkerungswissenschaften in Berlin: »Bei dieser Sachlage [Kallmann war der Ansicht, Patienten mit nur schubweise auftretenden Psychosen und langen symptomfreien Intervallen würden nicht ausreichend als Schizophrene diagnostiziert und hätten auch vergleichsweises höhere Nachkommensraten] ist der Weg zu einer schnellen und gesicherten Ausmerze der schizophrenen Erbanlage klar vorgezeichnet. Frühsterilisierung aller Erbkranken bei Beginn der Fruchtbarkeitsperiode

Kapitel 2: Eine Vorhersage erfüllt sich nicht

Seit Mitte des 20. Jahrhunderts sind die klassischen Zwillingsstudien die wichtigsten Hinweisgeber für eine Beteiligung der Gene an den Schizophrenie-Erkrankungen. Bis 1991 wurden dreizehn solche Studien veröffentlicht23 und entgegen der Prognose, die moderne Molekulargenetik würde diesen old school Untersuchungen den Garaus machen, kamen stetig neue dazu. Fünf Schizophrenie-Zwillingsstudien wurden allein zwischen 1996 und 1999 publiziert.24 Seit den 1960er Jahren waren die Ergebnisse in allen Untersuchungen etwa in der gleichen Größenordnung: Bei eineiigen Zwillingen lagen die Konkordanzraten bei vierzig bis fünfzig Prozent. Bei zweieiigen Zwillingen des gleichen Geschlechts war die Streuung zwischen den Studien allerdings deutlich größer. Je nach Untersuchung kamen die Epidemiologen bei zweieiigen Zwillingen auf eine Übereinstimmung im Merkmal »Schizophrenie« von etwa fünf bis siebzehn Prozent.25 Die neueste Zwillingsstudie zur Schizophrenie stammt aus Dänemark. Die Ergebnisse aus dem Vergleich von Einträgen im landesweiten Zwillingsregister mit Krankheitsdaten aus dem ebenfalls landesweit geführten Danish Psychiatric Research Register wurde 2018 veröffentlicht.26 Die Konkordanzraten für Schizophrenie sind im Vergleich zu Kallmanns erster Zwillingsuntersuchung weiter gesunken und betragen in der dänischen Studie noch dreiunddreißig Prozent für eineiige Zwillinge und sieben Prozent für zweieiige Zwillinge. Dass trotz identischer genetischer Ausstattung nicht hundert Prozent der vorbelasteten eineiigen Zwillinge an einer Schizophrenie erkranken, sondern nur jeder Dritte, macht klar, dass eine gewisse genetische Disposition überhaupt nicht schicksalhaft zu einer manifesten Erkrankung führen muss. Die genetische Belastung bedeutet also kein blindes Schicksal, sondern allenfalls ein drohendes.27 Nicht-genetische Faktoren scheinen für das Krankheitsgeschehen letztlich wichtiger zu sein.

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sowie die Ausschaltung auch der heterozygoten und manifestationsbehinderten Anlageträger sind seine wichtigsten Meilensteine, und die differentialdiagnostische Sicherung und zuverlässige Erkennbarkeit der prä-psychotischen und heterozygoten Persönlichkeitstypen seine dringendste Voraussetzung.« [Kallmann FJ (1936) »Die Fruchtbarkeit der Schizophrenen«, zitiert in Roelcke V (2012) »Die Etablierung der psychiatrischen Genetik«, S. 131]. Cardno AG, Gottesman II (2000) American Journal of Medical Genetics, S. 12. Ebd. Ebd., S. 13. Hilker R, Helenius D et al. (2018) Biological Psychiatry. Helmchen H (2017) »Das Janusgesicht der Psychiatrie«, S. 81.

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Und das sind gute Nachrichten. Denn auf diese anderen, nicht-genetischen Faktoren kann man Einfluss nehmen. Auch Soziologe Nikolas Rose hat sich gefragt, was die ganze molekulargenetische Forschung zu psychiatrischen Erkrankungen denn eigentlich gebracht hat. Sein Fazit ist ernüchternd: »Was also haben wir tatsächlich entdeckt? Lediglich, dass es viele Hundert kleine Abweichungen in grundlegenden neuronalen Prozessen gibt, von denen jede – in unterschiedlichen Kombinationen – zu einer leichten Zunahme oder Abnahme des Risikos führen kann, mit irgendeiner psychischen Störung aus einer ganzen Vielzahl von psychischen Störungen diagnostiziert zu werden. Wir haben Hinweise für viele interindividuelle Unterschiede in grundlegenden Gehirnprozessen gefunden, von denen einige, aber nicht alle – wenig überraschend – mit Unterschieden in der vererbten DNA in Zusammenhang gebracht werden. Aber haben wir irgendetwas über die genetische Grundlage einer Gehirnerkrankung herausgefunden, die Schizophrenie genannt wird? Ich glaube nicht.«28 Sogar das klassische Argument, Schizophrenie müsse eine biologische Ursache haben, weil sie weltweit und kulturunabhängig mit der gleichen Prävalenz vorkomme, ist längst widerlegt worden. Gestützt auf Daten der WHO hat der Epidemiologe John McGrath schon 2006 aufgezeigt, dass die Zahl von Psychose-Neuerkrankungen regional unterschiedlich in einem Bereich von 7.7 bis 43 auf 100’000 Einwohnern auftritt und die Prävalenz damit um einen Faktor von fast 6 variiert. Mit besonders hohen Inzidenzen kommt Schizophrenie unter Migranten und in städtischen Ballungszentren vor. »Data versus Dogma« lautet denn auch der pragmatische Titel von McGraths Publikation.29

5-HTTLPR ist schuld an allem Was für ein erstaunliches Eigenleben die biologische Psychiatrieforschung bisweilen führt, lässt sich beispielhaft an der Geschichte des Serotonintransporter-Gens 5-HTTLPR erzählen.30 Mitte der 1990er Jahre haben Forscher 28 29 30

Rose N (2018) »Our Psychiatric Future«, S. 107. McGrath JJ (2006) Schizophrenia Bulletin. In aller Ausführlichkeit hat der amerikanische Psychiater Scott Alexander Siskind 2019 die Geschichte zur vermeintlichen Bedeutung des 5-HTTLPR Transportergens für psychiatrische Erkrankungen im Wissenschaftsblog slatestarcodex.com dargelegt (https://slatestarcodex.com/2019/05/07/5-httlpr-a-pointed-review, letzter Abruf 28.1.2023). An Siskinds blogpost sind die nachfolgenden Ausführungen angelehnt.

Kapitel 2: Eine Vorhersage erfüllt sich nicht

entdeckt, dass Depressive häufiger als gesunde Kontrollpersonen eine bestimmte Variante eines Gens mit der Bezeichnung 5-HTTLPR in sich zu tragen scheinen.31 Die Studienpublikation aus dem Jahr 1996 war eine Sensation. Nicht zuletzt deshalb, weil zu jener Zeit eine wesentliche Beteiligung des Serotoninsystems bei affektiven Erkrankungen noch als unzweifelhaft galt. Die Vorstellung einer genetisch bedingten Vulnerabilität des Serotoninhaushalts bei depressiven Störungen passte also perfekt ins psychiatrische Weltbild. In der Folge kam es zu einem regelrechten Boom an Replikationsstudien und Nachfolgeuntersuchungen. Bald wurde auch ein Zusammenhang zwischen 5-HTTLPR-Polymorphismus und Saisonal-affektiven Störungen,32 Bipolarer Störung,33 Psychosen,34 Zwangsstörungen,35 Alkoholabhängigkeit,36 aber auch ängstlicher Persönlichkeit,37 Suizidalität38 und sogar Autismus39 gefunden. Später wurden auch mechanistische Grundlagenstudien durchgeführt, die dann zum Beispiel zeigten, dass 5-HTTLPR-Polymorphismus die Reaktivität der Stressachse beeinflusst40 oder das Zusammenspiel der Amygdala mit den »Aufmerksamkeits-Systemen« des Cingulums41 verändert.42

Journalisten erfinden eine blumige Metapher Auch die Medien berichteten von der Entdeckung des »Depressions-Gens« und seinen weitreichenden Folgen. Besonders blumig wurde im anglo-amerika31

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Collier DA, Stoeber G et al. (1996) Molecular Psychiatry. 5-HTTLPR ist ein polymorph vorkommender Genabschnitt, der die Bildung des Serotonintransporter-Proteins (5HTT) in der Zellmembran reguliert. Hauptfunktion dieses Transporter-Proteins ist die Entfernung des Neurotransmitters Serotonin aus dem synaptischen Spalt. Dadurch wird die Serotoninwirkung zwischen den Nervenzellen aufgehoben. Rosenthal NE, Mazzanti CM et al. (1998) Molecular Psychiatry. Collier DA, Arranz MJ et al. (1996) Neuroreport. Malhotra AK, Goldman D et al. (1998) Molecular Psychiatry. Bengel D, Greenberg BD et al. (1999) Molecular Psychiatry. Sander T, Harms H et al. (1997) Alcoholism: Clinical and Experimental Research. Lesch KP, Bengel D et al. (1996) Science. Bondy B, Erfurth A et al. (2000) Molecular Psychiatry. Cook EH Jr, Courchesne R et al. (1997) Molecular Psychiatry. Gotlib IH, Joormann J et al. (2008) Biological Psychiatry. Der Gyrus cinguli liegt in der Mitte des Gehirns und gehört funktionell zum limbischen System. Pezawas L, Meyer-Lindenberg A (2005) Nature Neuroscience.

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nischen Raum darüber berichtet.43 Dort wurde für die 5-HTTLPR-Varianten (und einige weitere Gen-Polymorphismen) der Begriff »Orchideen-Gene« geprägt. Bekanntermaßen sind Orchideen empfindliche Pflanzen, die unter ungünstigen Bedingungen schnell eingehen, bei richtiger Pflege aber prächtig erblühen. Damit wollten die Journalisten darauf hinweisen, dass die Vulnerabilität in Gestalt »schlechter Gene« allein noch nicht zu einer Erkrankung führt, sondern erst im Zusammenspiel mit ungünstigen Umweltfaktoren, zum Beispiel Vernachlässigung oder Missbrauch in der Kindheit. In der Fachwelt hat sich dafür der aus der Epigenetik stammende Begriff »Gen-Umwelt-Interaktion« etabliert. Auch zur Gen-Umwelt-Interaktion »5-HTTLPR x Erziehungsstil« wurden wissenschaftliche Studien durchgeführt, die zeigten, dass Kinder und Jugendliche mit dem »ungünstigeren« 5-HTTLPR-Allel sensibler auf positive und negative Erziehungsbedingungen reagieren.44 Alles in allem also ein stimmiges Gesamtbild, das plausibel vermittelt, wie eine nachteilige Genvariante in Kombination mit ungünstigen Umweltbedingungen zu psychischen Erkrankungen führt. Auch weitreichende Konsequenzen für die Praxis wurden daraus abgeleitet. So wurde diskutiert, bereits bei Kindern die 5-HTTLPR Variante zu bestimmen und bei Vorliegen des »Vulnerabilitätsgens« staatlich geförderten Einfluss auf die Erziehung zu nehmen.45 Mittels 5-HTTLPR Genscreening sollte sich sogar abschätzen lassen, ob eine medikamentöse Behandlung mit Antidepressiva vom SSRITyp anschlägt oder nicht.46 Eine pharmako-ökonomische Simulationsstudie kam sogar zum Schluss, dass unter bestimmten Umständen die 5-HTTLPR Gentestung zur Medikations-Entscheidung bei Depressiven kosteneffektiv sei.47 Es gibt dabei allerdings ein Problem: Überhaupt nichts davon stimmt. Oder vorsichtiger formuliert: Überhaupt nichts davon lässt sich wissenschaftlich belegen. Dies zeigt spätestens die komplexe statistische Datenanalyse amerikanischer Wissenschaftler, die 2019 im American Journal of Psychiatry erschienen ist. Der Titel der Publikation ist gleichzeitig auch seine Zusammenfassung: »Keine Unterstützung für historische Kandidatengene oder Kandidatengene-x-Interaktions-Hypothesen für Depression in mehreren

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Dobbs D (2009) The Atlantic, Belsky J (2014) The New York Times vom 28.11. Hankin BL, Nederhof E et al. (2011) Translational Psychiatry. Belsky J (2014) The New York Times vom 28.11. Arias B, Catalan R et al. (2003) Journal of Clinical Psychopharmacology. Serretti A, Olgiati P et al. (2011) World Journal of Biological Psychiatry.

Kapitel 2: Eine Vorhersage erfüllt sich nicht

großen Stichproben«.48 Die Veröffentlichung der Verhaltensgenetiker, Biostatistikerinnen und Psychologen ist ein einziges Massaker an den frühen Genetik- und Epigenetik-Studien zur Depression. Die Forscher konnten in ihren Analysen der Daten von Hunderttausenden von Patienten und gesunden Kontrollen keinen einzigen »Kandidatengen-Polymorphismus« und auch keinen einzigen »Kandidatengen-x-Umweltmoderator-Effekt« finden, der sich depressiven Erkrankungen zuordnen ließ. »Kandidatengene« und zufällig ausgewählte »Nicht-Kandidatengene« waren in Bezug auf ihren Einfluss auf Depressionsmerkmale statistisch überhaupt nicht voneinnander zu unterscheiden. Die früheren Hypothesen zu den Depressions-Kandidatengenen seien daher falsch und beruhten höchst wahrscheinlich auf falsch positiven Ergebnissen aus den Genetikuntersuchungen, so die Schlussfolgerungen der Wissenschaftler. Und weil hier echte Profis am Werk waren, haben sie auch präzise dargelegt, weshalb das so ist. Aus allem, was wir heute über komplexe polygenetische Steuerung wissen, braucht es Fallzahlen von mindestens 34’000, um ein »Depressionsgen« mit der vermuteten Effektstärke überhaupt entdecken zu können. Alles darunter ergibt fast sicher nur falsch positive Ergebnisse. Die durchschnittliche Stichprobengröße der über hundert untersuchten »Kandidatengen x Umwelteinflussfaktor«-Studien, die zwischen 2000 und 2009 publiziert wurden, betrug aber gerade einmal 345. Die Autoren erklären auch, dass die von Ihnen verwendeten Statistikmethoden ein Kandidatengen für Depression mit einer Wahrscheinlichkeit von mehr als 99.99 Prozent entdeckt hätte, wenn es dieses tatsächlich geben würde. »Es ist daher äußerst unwahrscheinlich, dass wir echte Zusammenhänge zwischen Depressionsphänotypen und diesen Kandidatengenen nicht gefunden haben« ist ihr Fazit.49 Ziemlich überzeugend auch, mit welcher statistischen Wahrscheinlichkeit ein unzweifelhaft existierender Zusammenhang mit ihrer verwendeten Analysenmethode (und den riesigen Stichprobenzahlen) bloß durch Zufall falsch positiv konstruiert würde. Die Autoren verdeutlichen dies am Beispiel »Trauma in der Kindheit« und »Lebenszeit-Diagnose für Depression«. Die statistische Irrtumswahrscheinlichkeit p für diesen Zusammenhang ist irrwitzig klein, nämlich

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Border R, Johnson EC et al. (2019) American Journal of Psychiatry. Ebd., S. 386.

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0.00000000000000000000000000000000000000000000000000000 000000000000000000000000000000000000000000000000000000 000000000000000000000000000000000000000000000000000000 000000000000000000000000000000000000000000000000000000 000000000233 (p=2.33x10-225 ).50 Demgegenüber steht eine Irrtumswahrscheinlichkeit von über neunzig Prozent für die Hypothese, dass der historisch doch so bedeutsamen Interaktionseffekt »5-HTTLPR Polymorphismus x Kindheitstrauma« tatsächlich existiert (p=0.919).51

Die Psychiatrieforschung halluziniert Luftschlösser Offensichtlich gibt es in der Psychiatrie also ganze Forschungsfelder, in denen Wissenschaftler über Jahrzehnte in Hunderten von Studien etwas untersuchen, was gar nicht existiert. Psychiater Siskind hat in seinem mittlerweile berühmten Blogeintrag bei slatercodex einen schönen Vergleich gefunden: »Was mich stört, ist nicht einfach nur, dass Leute sagten, 5-HTTLPR sei wichtig, was nicht der Fall ist. Es geht darum, dass wir ganze imaginäre Gebäude, ganze Luftschlösser auf der Idee aufgebaut haben, 5-HTTLPR spiele eine Rolle. Wir haben ›herausgefunden‹, wie 5-HTTLPR wirkt, in welchen Teilen des Gehirns es aktiv ist, mit was für Dingen es interagiert und wie seine Wirkungen durch die Effekte anderer imaginärer Depressionsgene verstärkt oder gedämpft werden. Da ist nicht nur ein Forscher, der aus dem Orient zurückkommt und behauptet, dass es dort Einhörner gibt. Es ist der Forscher, der den Lebenszyklus von Einhörnern beschreibt, was Einhörner fressen, all die verschiedenen Unterarten von Einhörnern, welche Stücke von Einhornfleisch am schmackhaftesten sind, und einen detaillierten Bericht über einen Ringkampf zwischen Einhörnern und Bigfoot abgibt.«52 Genau das meine ich mit der Behauptung, die biopsychiatrische Forschung hätte über weite Strecken ein Eigenleben entwickelt, das völlig entkoppelt ist von der Realität – und erst

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Ebd., S. 385. Ebd. Siskind SA, https://slatestarcodex.com/2019/05/07/5-httlpr-a-pointed-review (letzter Abruf 28.1.2023).

Kapitel 2: Eine Vorhersage erfüllt sich nicht

recht von jeder praktischen Relevanz. Besonders die genetische Psychiatrieforschung ist in den letzten Jahren immer mehr zu einer zirkulären Selbstbestätigungsforschung geworden. Die vernichtende Analyse von Verhaltensstatistiker Richard Border und seinen Kollegen ist auch nicht die erste Warnung, mit der Interpretation von Depressions-»Kandidatengenen« vorsichtig zu sein. Schon seit 2005 tauchen in regelmäßigen Abständen negative Replikationsstudien und negative Meta-Analysen in der Fachliteratur auf.53 Offenbar haben das aber eine ganze Menge Wissenschaftler nicht mitbekommen, denn noch immer werden neue Studien zu 5-HTTLPR Polymorphismus und psychischen Störungen veröffentlicht. Weit über hundert sind es seit Erscheinen der Border-Publikation im Mai 2019. Und immer noch finden sich neue Zusammenhänge zwischen 5HTTLPR-Variante und Befindlichkeitsstörungen. Dazu gehört auch einigermaßen Exotisches wie 5-HTTLPR und lebenslange vorzeitige Ejakulation,54 5-HTTLPR und kriminelle Aggression in einer pakistanischen Gefängnispopulation55 oder 5-HTTLPR und Grübeln im Kindes- und Jugendalter56 . Immerhin, in den letzten Jahren ist die 5-HTTLPR Publikationsflut schon mal deutlich abgeebbt. Zwischen 2009 und 2014 erschienen jährlich um die 200 Fachaufsätze, 2022 waren es noch etwas mehr als 40. Hält der Trend weiter an, ist davon auszugehen, dass das 5-HTTLPR Narrativ bald nur noch in den Geschichtsbüchern als Anekdote zur wundersamen biopsychiatrischen Forschung des frühen 21. Jahrhunderts auftaucht.

Es hätte so schön werden können: Bildgebende Verfahren in der Psychiatrie Na gut. Wenn schon die Genetikforschung die Erwartungen auf eine Entschlüsselung psychiatrischer Krankheitsmechanismen nicht erfüllen konnte – vielleicht war ja der zweite große Hoffnungsträger erfolgreich? Wenden wir uns also dem Neuroimaging in der Psychiatrie zu. Als zu Beginn der 1990er Jahre der technologische Sprung von der Anatomie abbildenden strukturellen

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Z.B. Gillespie NA, Whitfield JB et al. (2005) Psychological Medicine; Risch N, Herrell R et al. (2009) Journal of the American Medical Association. Ye N, Huang Y et al. (2020) Medicine (Baltimore). Qadeer MI, Amar A et al. (2021) Scientific Reports. Scaini S, Palmieri S et al. (2021) Journal of Affective Disorders.

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Magnetresonanztomografie (MRT) zur funktionellen MRT (fMRT) vollzogen war, schien klar: Jetzt ist es möglich, dem Gehirn bei der Arbeit zuzusehen. Naturgemäß ist die biologische Psychiatrie ganz besonders daran interessiert, dem Gehirn beim Fehlermachen zuzusehen. Entsprechend groß war der Enthusiasmus der Psychiatrieforschenden für die bildgebenden Verfahren. Nun endlich könnte gelingen, woran die Neuroanatomen des 19. Jahrhunderts noch gescheitert sind: In den Gehirnen von Psychiatriepatienten die schadhaften Orte oder Verschaltungen zu identifizieren, die ihrem »Irre-Sein«57 zugrunde liegen. Zuverlässige Biomarker in Gestalt krankheitsspezifischer fMRT-Signaturen zu finden, schien jetzt nur noch eine Frage der Zeit. Sehen heißt bekanntlich glauben. Sollte also mit modernen Hightech-Bildgebungsscannern, diesen imposanten »Neuro-Evidenzmaschinen«58 die visuelle Beweisführung gelingen, dass sich die Gehirne von Gesunden und psychisch Kranken auf neurofunktioneller Ebene unterscheiden lassen, wäre dies ein kaum zu widerlegendes Argument für eine fundamentale Beteiligung des Gehirns am psychiatrischen Krankheitsgeschehen. Schließlich waren es genau diese medial gefeierten Hirnbilder, die in Fachwelt und Öffentlichkeit den großen Neurowissenschafts-Boom der 2000er Jahre ausgelöst haben. Kaum vorstellbar, dass die Hirnforschung ohne das massenhafte Auftauchen dieser Hirnscans in allen Medien das damalige Niveau an gesellschaftlicher Anerkennung erlangt hätte. Zwischenzeitlich wurden Hunderte von fMRT-Studien zu allen möglichen psychischen Erkrankungen durchgeführt und aus den Daten Zehntausende von Fachpublikationen destilliert. Diese wiederum wurden in Hunderten von Übersichtsartikeln zusammengefasst und eingeordnet. Und was kam dabei heraus? Was hat die Flut von fMRT-Untersuchungen der letzten fünfundzwanzig Jahre an neuen Erkenntnissen zur Biologie der Schizophrenie oder Depression gebracht? Hier ein Résumé. Finden Wissenschaftler bei einer Bildgebungsstudie Unterschiede in der Gehirnaktivierung von Gesunden und Patienten, werden diese Unterschiede fast immer der untersuchten Krankheit zugeschrieben. Genau deshalb werden diese Studien ja durchgeführt. Man sucht ja gerade nach spezifischen »NeuroSignaturen«, mit denen einer bestimmten psychischen Erkrankung veränderte Hirnfunktionen zugeordnet werden können. Dass dies ein einigermaßen

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»Irre-Sein« bzw. »Irrsinn« waren im 19. Jahrhundert gängige Begriffe für Geisteskrankheiten. Deutschsprachige Psychiatrie-Fachblätter hiessen »Der Irrenfreund« (1859–1902) oder »Die Irrenpflege« (1896–1929). Hasler F (2012) »Neuromythologie«, S. 39ff.

Kapitel 2: Eine Vorhersage erfüllt sich nicht

aussichtsloses Unterfangen ist, haben Emma Sprooten vom Donders Institute for Brain, Cognition and Behaviour in Nijmegen und ihre Kollegen schon 2017 klar gemacht. Im Fachblatt Human Brain Mapping haben die Forscher eine MetaAnalyse publiziert, die 537 Studien mit fMRT-Aktivierungsparadigmen59 bei Patienten mit den häufigsten psychiatrischen Diagnosen miteinander verglich. Die Wissenschaftler wollten herausfinden, wie groß die Überlappung der gefundenen regionalen Hirnaktivierungsunterschiede bei Menschen mit Schizophrenie, Bipolarer Störung, Depression, Angststörungen und Zwangsstörungen ist.60 Nachdem die Bändigung der riesigen Datenmengen durch visuelle Verdichtung in bunten Spinnennetzdiagrammen erledigt war, kamen die Neurowissenschaftler zu einem bemerkenswerten Ergebnis. Dass in allen untersuchten fMRT-Studien in verschiedenen Hirnregionen Aktivierungsunterschiede bei Patienten- und Kontrollgruppen gefunden wurden, ist wenig überraschend, denn dies war die Voraussetzung für den Einschluss in Sprootens Meta-Analyse.61 Allerdings findet sich für keine einzige der untersuchten Erkrankungen auch nur ein halbwegs spezifisches Aktivierungsmuster, weil der Grad der Überlappung zwischen allen Störungsgruppen derart groß ist. Keine Spur von fMRT-basierten neuronalen Biomarkern für die naturwissenschaftlich solide Diagnose einer psychischen Störung in Sicht. Stattdessen sprechen die Autoren von einer »gemeinsamen Topographie« in den Aktivierungsmustern aller untersuchten Psychiatriediagnosen.62 Immerhin ließen sich damit »gemeinsame Defizite in kognitiven Schaltkreisen« erklären. Aber man solle sich davor hüten, »hirnfunktionellen Unterschieden eine ungerechtfertigte Spezifität zuzuschreiben, wenn man Erklärungsmodelle für psychiatrische Störungen formuliert.«63

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Die Grundannahme der fMRT besagt, dass das Gehirn dort aktiv ist, wo mehr Durchblutung stattfindet, beziehungsweise mehr Sauerstoff verbraucht wird. Kurz nach der Aktivierung von Neuronenclustern – beispielsweise beim Lösen einer kognitiven Aufgabe – bewirkt ein verstärkter Blutfluss die Aufnahme von sauerstoffreichem Hämoglobin. Gleichzeitig nimmt dort die Konzentration des sauerstoffarmen Hämoglobins (Deoxyhämoglobin) ab. Dieser Unterschied wird mit dem fMRT-Standardverfahren, der BOLD-fMRT (»Blood-oxygen-level-dependent«-fMRT) gemessen. Sprooten E, Rasgon A et al. (2017) Human Brain Mapping. Sprooten E, Rasgon A et al. (2017) Human Brain Mapping, S. 1851. Die Top-Ten Hirnregionen sind: Hippocampus, Nucleus caudatus, Thalamus, Gyrus cinguli, Putamen, Amygdala, Operculum, Nucleus accumbens, Gyrus parahippocampalis und Pallidum. Ebd., S. 1862. Ebd., S. 1846.

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Keine Unterschiede in der Gehirnaktivierung von Gesunden und Depressiven Dass die Suche nach einem abgrenzbaren schadhaften Neuronen-Netzwerk bei psychischen Erkrankungen erfolglos ist und höchst wahrscheinlich auch bleiben wird, zeigt auch eine große Meta-Analyse zur Hirnaktivität bei unipolarer Depression. In der Auswertung von neunundneunzig individuellen Bildgebungs-(Kognitions-)Studien mit fMRT bzw. PositronenEmissionstomographie (PET) aus den Jahren 1997 bis 2015 konnten die Neurowissenschaftlerin Veronika Müller und ihre Kollegen keinerlei konsistente Unterschiede in der Gehirnaktivität von mehr als tausend depressiven Patienten und gesunden Kontrollpersonen identifizieren.64 Für ihre Analyse haben sich die Forscher Bildgebungsstudien quer durch die ganze Bandbreite neuropsychologischer Experimente angeschaut. Die Aktivierungsparadigmen im Scanner umfassten das Verarbeiten positiver und negativer Emotionen, das Prozessieren von glücklichen und traurigen Gesichtern, das Lösen von einfachen Gedächtnistests oder auch komplexen Kognitionsaufgaben. In keinem der untersuchten emotionalen und kognitiven Teilbereiche ließen sich in der Gesamtschau Hirnareale identifizieren, die bei Depressiven und Gesunden signifikant unterschiedlich aktiviert werden. Die Abwesenheit von reproduzierbaren Unterschieden blieb auch bestehen, wenn mögliche Störvariablen wie Medikamente, zusätzliche Erkrankungen oder Altersdepressionen aus der Datenanalyse entfernt wurden. Auch bemerkenswert, dass von den neunundneunzig untersuchten fMRT- und PET-Studien fünfzig bei unipolar Depressiven von einer Zunahme der Gehirnaktivität berichteten und neunundvierzig von einer Abnahme.65 Das ist schon verdächtig nahe an einer perfekten Zufallsverteilung. Die Autoren diskutieren eine lange Reihe möglicher Ursachen für die notorische Inkonsistenz zwischen den Bildgebungsstudien. Die Aufzählung umfasst Unterschiede im Schweregrad der Erkrankung, Altersdifferenzen, unterschiedliche Fallzahlen, die »Flexibilität« in der Auswahl von Analysesoftware, Voreinstellungen des Scanners oder der Festlegung von Schwellenwerten. Ganze achtunddreißig Studien, also mehr als ein Drittel aller eingeschlossenen Untersuchungen, hat zudem die Bildgebungsdaten nicht

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Mueller VI, Cieslik EC et al. (2017) JAMA Psychiatry. Ebd., S. 52.

Kapitel 2: Eine Vorhersage erfüllt sich nicht

für multiple Vergleiche korrigiert. Das gibt eigentlich automatisch die Höchststrafe. Schließlich haben die Psychologen Craig Bennett, Michael Miller und George Wolford schon 2009 an der Human Brain Mapping Konferenz in San Francisco humorvoll demonstriert, dass man sogar im Gehirn eines toten Lachses Gehirnaktivierungen finden kann, wenn man bei einem fMRT-Kognitionsexperiment nicht für multiple Vergleiche korrigiert.66 Das eigentlich so nahe liegende Argument, warum die ganzen Bildgebungsstudien keine konsistenten und reproduzierbaren Unterschiede in der Gehirnaktivität von Gesunden und Depressiven finden, bleibt allerdings unerwähnt: Nämlich, dass es einfach keine gibt. Grundsatzkritik an der Verlässlichkeit des fMRT-Verfahrens kam vor kurzem auch von Wissenschaftlern unter der Leitung des Psychologieprofessors Ahmad Hariri von der Duke University. Das ist insofern außergewöhnlich, als Hariri selbst einer der renommiertesten Neuroimaging-Spezialisten ist, der seit Jahren Bildgebungsstudien zur Gehirnaktivität bei psychiatrischen Erkrankungen durchführt. Sein Publikationsverzeichnis umfasst mehr als zweihundert neurowissenschaftliche Veröffentlichungen und seine Vorlesungen tragen programmatische Titel wie Inside the Disordered Brain. Mehr Insider kann man kaum sein. Ahmad Hariri und seine Kollegen haben sich sechsundfünfzig fMRT-Studien mit insgesamt neunzig neuropsychologischen Experimenten angeschaut und die Glaubwürdigkeit der Studienergebnisse mit statistischen Verfahren neu beurteilt.67 »Wir präsentieren übereinstimmende Belege, die eine schlechte Zuverlässigkeit von aufgabenbasierten fMRT Messungen nachweisen« heißt es in der Fachpublikation.68 Zur Bezifferung der Testwiederholungs-Zuverlässigkeit wurde die hierfür gebräuchliche Maßzahl »Intraklassen-Korrelationskoeffizient« (IKK) verwendet. Hariris Datenanalyse von fMRT-Experimenten bei über tausend Versuchspersonen ergab für diesen Zuverlässigkeitskoeffizienten einen Durchschnittswert von gerade einmal 0.397. Wie die Autoren ausführen, liegt dies unter dem Minimalwert für gute Verlässlichkeit (IKK 0.6) und weit unter den empfohlenen Schwellenwerten für eine klinisch brauchbare Anwendung (IKK 0.8) oder gar Dateninterpretation auf Einzelpersonen-Niveau (IKK 0.9). Selbst wenn

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Bennett CM, Miller MB et al. (2009) NeuroImage. Siehe auch Hasler F »Neuromythologie«, S. 50ff. Elliott ML, Knodt AR et al. (2020) Psychological Science. Ebd., S. 1.

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die Untersuchungen mit modernsten Scannern unter Verwendung der aktuellsten Software für Datenerfassung und Artefakt-Reduktion durchgeführt wurden, blieb die Testwiederholungs-Zuverlässigkeit miserabel (IKK 0.228). »Ein herausragendes Ziel der aufgabenbasierten fMRT-Forschung war es, abweichende Hirnaktivität zu identifizierten, die für Diagnose, Prognose und Behandlung von Gehirnerkrankungen hilfreich sein könnte. Wir erkennen, dass den gebräuchlichen aufgabenbasierten fMRT-Messungen die minimal erforderlichen Zuverlässigkeitsstandards fehlen, um dieses Ziel zu erreichen« ist das Fazit der selbstkritischen Bildgebungsforscher.69 In einem Interview mit Duke Today, dem Magazin seiner Universität, sieht Ahmad Hariri die eigene fMRT-Forschung bereits in einem kritischen Zustand: »Diese ganze fMRTBranche [aufgabenbasierte fMRT-Studien] könnte aussterben, wenn wir uns nicht mit dieser maßgeblichen Einschränkung befassen.«70 Hariris Forscherkollege Russell Poldrack ist Psychologieprofessor an der Stanford University und Direktor des 2015 gegründeten Stanford Center for Reproducible Neuroscience, das sich die Aufgabe gestellt hat, Hirnforschungsstudien »offen und reproduzierbar zu machen« und »Neurowissenschaftlern dabei zu helfen, von Daten zu Entdeckungen zu kommen«.71 Poldrack nennt dem Reporter von Duke Today auch gleich die Optionen, die sich aus Hariris düsterem Befund für die fMRTForschung ergeben: »Es gibt drei Dinge, die man jetzt tun kann. Man kann einfach aufstehen und aufhören. Man kann den Kopf in den Sand stecken (und tun, als ob sich nichts geändert hätte), oder man kann sich reinknien und versuchen, die Probleme zu lösen«.72 Mein persönlicher Verdacht ist, dass sich viele fMRT-Forscher bislang noch für Poldracks einfachste Option B entschieden haben. Was aber, wenn die Forschungshypothesen selbst und nicht die Neuroimaging-Methoden zu ihrer Überprüfung fehlerhaft sind? Wenn man also nach etwas sucht, was es gar nicht gibt? Diese Erkenntnis, die immer mehr Wissenschaftlern, gerade der jüngeren Forschergeneration zu dämmern beginnt,73 bedeutet eine ernsthafte Bedrohung für die biopsychiatrische Forschung an sich. Darum ist es einfacher, einer »noch unausgereiften Technologie« und

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Ebd., S. 12. Bates KL (2020) Duke Today vom 3.6. Aus dem Leitbild des Stanford Center for Reproducible Neuroscience, https://reprodu cibility.stanford.edu (letzter Abruf 28.1.2023). Bates KL (2020) Duke Today vom 3.6. Siehe z.B. Fusar-Poli P (2009) Medical Hypotheses.

Kapitel 2: Eine Vorhersage erfüllt sich nicht

methodologischen Fehlern die Schuld an der Erfolglosigkeit zu geben, als die eigenen wissenschaftlichen Paradigmen in Frage zu stellen. Die mangelnde Leistungsfähigkeit der Imaging-Methoden für das Scheitern der Forschung verantwortlich zu machen, ist jedenfalls ziemlich billig – schließlich können die genau gleichen Bildgebungsmethoden auf anderen Gebieten der Medizin, von Neurologie bis Onkologie, beachtliche Erfolge aufweisen und werden im Klinikalltag längst routinemäßig eingesetzt. Auch die in der Psychiatrieforschung erfolglos herangezogene fMRT wird schon seit Jahren standardmäßig zum »prä-operativen Mapping« vor neurochirurgischen Eingriffen verwendet.74

Die biomedizinische Revolution in der Psychiatrie hat nicht stattgefunden Bleibt also festzuhalten, dass weder die molekularbiologische Genetikforschung noch die Bildgebungs-Untersuchungen die Erwartungen erfüllen konnten, die Psychiater Thomas Insel 2005 stellvertretend für eine ganze Generation von neuroenthusiastischen Psychiatrieforschern formuliert hatte. Eine »Dekade der Entdeckungen«,75 wie sie sich der NIMH-Direktor vorgestellt hatte, waren die 2000er Jahre für die Psychiatrie ganz sicher nicht. Robuste und klinisch oder gar therapeutisch bedeutsame Daten zur Neurobiologie psychischer Störungen sind noch immer so gut wie inexistent. Der neuroscientific turn in der akademischen Psychiatrie und der damit verbundene Paradigmenwechsel, weg von der Psyche, hin zum Gehirn, wäre ja auch kein Problem, wenn dies tatsächlich zu einem tieferen Verständnis psychischen Leidens und darauf aufbauend zu einer besseren Behandlungspraxis geführt hätte. Aber genau das ist eben nicht passiert. Die Datenlage ist heute kaum besser als 1984, dem Jahr, in dem die amerikanische Psychiaterin Nancy Andreasen ihr programmatisches Buch »Das zerbrochene Gehirn« veröffentlichte.76 Noch immer wissen wir nicht, was genau denn »zerbrochen« sein soll in den Genen und Gehirnen von depressiven, manischen oder psychotischen

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Gabriel M, Brennan NP et al. (2014) Neuroimaging Clinics of North America. Insel TR, Quirion R (2005) Journal of the American Medical Association. Andreasen NC (1984) »The broken brain«. Auch Andreasens Bestsellerbuch stellte damals eine kurz bevorstehend »biomedizinische Revolution in der Diagnose und Behandlung von psychischen Krankheiten« in Aussicht.

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Menschen. In anderen Worten: Uns fehlen bis heute verlässliche pathophysiologische Konzepte für ein biologisches Verständnis psychischer Störungen. Konzepte, mit denen man wirklich arbeiten könnte. Das erklärt auch die Frustration der Arzneimittelhersteller und ihren Rückzug aus der Psychopharmaka-Entwicklung. Das in anderen Bereichen der Medizin durchaus erfolgreiche hypothesen-basierte rational drug design77 ist in der Psychiatrie auch darum so episch gescheitert, weil die Pharmazeutische Industrie gar nicht weiß, wo ein mechanistisch neuer Wirkstoff überhaupt ansetzen soll. Die Biologie in der Psychiatrie ist und bleibt in erster Linie eine Behauptung.

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Paradebeispiele für erfolgreiches »rational drug design« sind Antibiotika und Impfstoffe. Bereits innerhalb weniger Monate nach Beginn der Corona-Pandemie gelang es, Impfstoffe gegen Sars-CoV-2 zu entwickeln.

Kapitel 3: Kleine Geschichte der Schizophrenieforschung Da es sich bei der Schizophrenie offenbar um eine Störung ohne spezifische Symptome, ohne spezifischen Verlauf und ohne spezifischen Ausgang handelt und die auf keine spezifische Behandlung anspricht, ist es nicht überraschend, dass in hundert Jahren Forschung der Nachweis nicht gelang, dass die Krankheit irgendeine spezifische Ursache hat.1

Es ist natürlich nicht so, dass die Psychiater nie eine originelle Idee gehabt hätten. Besonders das Erscheinungsbild »Schizophrenie« mit all seinen bizarren Ausprägungen stand schon immer im Mittelpunkt des biopsychiatrischen Forschungsinteresses. Keine andere psychische Störung ist weiter entfernt von der sozial akzeptierten Norm, kein anderes Krankheitsbild verbinden wir mehr mit »Verrücktsein«, als den Formenkreis der Schizophrenie. »Egal, wie kompliziert das Gehirn arbeiten mag«, schreibt hierzu der Psychiater und Psychotherapeut Markus Pawelzik, »wenn man mit Menschen zu tun hat, die an sogenannter ›Schizophrenie‹ leiden, dann wird man das Gefühl nicht los, es mit ›intrinsisch gestörten‹ Personen zu tun [zu] haben. Platt gesagt: Die Betroffenen ticken einfach nicht richtig.«2 Wo, wenn nicht bei Menschen, die halluzinieren, Stimmen von Gott oder Aliens hören, hoch komplexe Wahnsysteme erschaffen und sich absonderlich verhalten, ließe sich eine grundlegende

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Bentall RP (1990) »The syndromes and symptoms of psychosis«, S. 33. Pawelzik MR (2018) Journal für Philosophie & Psychiatrie.

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Funktionsstörung des Gehirns nachweisen? Machen wir also einen Ausflug in die Geschichte der biopsychiatrischen Schizophrenieforschung.

»Fehler, die ich in meiner Forschungskarriere gemacht habe« An die lange und abwechslungsreiche Geschichte biologischer Hypothesen zur Schizophrenie erinnerte sich unlängst der schottische Psychiater Sir Robin Murray in einem autobiografischen Artikel mit dem bemerkenswert einsichtigen Titel »Fehler, die ich in meiner Forschungskarriere gemacht habe.«3 Die Rückschau Murrays, der für seine Verdienste um die Medizin zum Ritter geschlagen wurde, gibt einen guten Überblick, was für biomedizinische Erklärungsmodelle in den vergangenen vierzig Jahren en vogue waren und wieder verschwanden. Noch in den 1970er Jahren gab es die weit verbreitete Vorstellung, »Menschen mit Schizophrenie könnten wandelnde Halluzinogenfabriken sein«.4 Unter dem Eindruck der spektakulären Bewusstseinsveränderungen durch Albert Hofmanns LSD hatten Wissenschaftler die Hypothese entwickelt, psychotische Patienten könnten aufgrund einer Stoffwechselstörung fälschlicherweise das hoch potente Halluzinogen DMT (Dimethyltryptamin) im eigenen Körper herstellen. Bereits in den 1950er Jahren war dem britischen Psychiater Humphry Osmond – bekannt für die Kreation des Wortes »psychedelisch« – und seinem Kollegen John Raymond Smythies aufgefallen, dass das Kakteenhalluzinogen Meskalin und der Botenstoff Noradrenalin strukturelle Ähnlichkeiten aufweisen. Daraus haben die Forscher die »Transmethylierungs-Hypothese der Schizophrenie« abgeleitet.5 Vielleicht, so ihre Vermutung, könnte bei der Synthese von körpereigenen Überträgersubstanzen etwas schiefgehen, versehentlich Metyhlgruppen an falscher Stelle eingebaut und dadurch eine halluzinogene Droge produziert werden. Wichtige Schizophrenie-Symptome wie Halluzinationen und Wahn ließen sich damit als kontinuierliche Selbstvergiftung erklären. Osmond und Smythies nannten die erst noch aufzuspürende und chemisch zu charakterisierende Droge »Substanz M«.6 Die Suche nach der geheimnisvollen »Substanz M« war

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Murray RM (2017) Schizophrenia Bulletin. Ebd., S. 253. Osmond H, Smythies JR (1952) Journal of Mental Science. Ebd., S. 314.

Kapitel 3: Kleine Geschichte der Schizophrenieforschung

damit losgetreten und eine Vielzahl von Forschern fahndeten nach Spuren eines ominösen »Schizotoxins« in Blut, Urin und Liquor von Patienten. Auch Psychiater Robin Murray, der Schotte mit dem vorbildlichen Sinn für Fehlertransparenz, machte sich als junger Wissenschaftler auf die Suche nach DMT im Urin von Patienten.7 Wohl konnte Murray Spuren der verdächtigen Substanz finden, bisweilen allerdings auch bei gesunden Kontrollpersonen, die noch nie psychotisch gewesen waren. Zudem schien es extrem unwahrscheinlich, dass die nachgewiesenen DMT-Mengen überhaupt ausreichen könnten, um eine nennenswerte psychotrope Wirkung zu entfalten.8 Die Datenlage blieb auch nach weiteren Studien widersprüchlich und ein paar Jahre später hat die Psychiatrie das eigentlich so elegante Konzept der Schizophrenie als selbst verursachten Dauer-Drogentrip wieder aufgegeben. Einige frühe Pioniere der psychiatrischen Halluzinogenforschung haben sogar die Seiten gewechselt und verstanden LSD und Artverwandte bald nicht mehr (nur) als »Psychotika«, die vorübergehend schizophrenieartige Zustände auslösen, sondern als Mittel zur Bewusstseinserweiterung und Selbsterkenntnis. In den 1950er Jahren eine radikal neue Sichtweise, die erst in der counterculture der kommenden Jahrzehnte größeren Zuspruch finden sollte. Gar für den Fortbestand der Menschheit sollen halluzinogene Drogen bedeutsam sein, ließ Psychiater Humphry Osmond seine Kollegen 1957 in einem enthusiastisch formulierten Übersichtsartikel wissen: »Wir haben vorläufige Erfahrungen mit der Verwendung von LSD-25 in Gruppen gemacht. Die Wirkungen sind fremdartig und beeindruckend. Wir scheinen kaum eine Sprache zu haben, mit der man diese mitteilen könnte. Es ist, als ob neue Dimensionen der zwischenmenschlichen Beziehung offenbart würden. […] Für mich selbst gehören meine Erfahrungen mit diesen Substanzen zu den eigenartigsten, überwältigendsten und schönsten Dingen in einem abwechslungsreichen und beglückten Leben. Das sind keine Fluchten vor der Realität, sondern deren Vergrößerungen, deren Aufkeimen. […] Ich glaube, dass diesen Mitteln eine Rolle in unserem Überleben als Spezies zukommt. […] Psyche-

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Oon MC, Murray RM et al. (1975) Lancet; Rodnight R, Murray RM et al. (1976) Psychological Medicine. Gillin JC, Kaplan J et al. (1976) American Journal of Psychiatry, S. 207. Als altgedienter Halluzinogenforscher möchte ich dazu ergänzen, dass die anhaltende Freisetzung eines Halluzinogens eine rezeptorvermittelte Toleranz bewirken würde, womit es mit der psychotropen Wirkung bald vorbei wäre.

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delika helfen uns, unsere eigene Natur zu erforschen und zu verstehen.«9 Vor allem aber könnten Psychedelika schon bald eine wichtige Rolle in der Therapie psychischer Störungen spielen. In jüngster Zeit ist ein wahrer Boom an Studien zur Halluzinogen-unterstützter Psychotherapie zu vermelden. Genaueres sei an dieser Stelle noch nicht verraten, dafür umso mehr im Kapitel »Neo-Psychedelik und die Hoffnung auf heilsame Trips«.

Schizophrenie, eine progressiv fortschreitende Gehirnerkrankung? Psychiater Murray erinnert sich in seiner Fehler-Rückschau auch daran, dass es in den 1970er Jahren neuen Rückenwind für die Sichtweise gab, Schizophrenie sei eine neurodegenerative Erkrankung.10 Ein klassisches Konzept, das bis auf Emil Kraepelin, einen Urvater der wissenschaftlichen Psychiatrie in Deutschland zurückgeht. Für den späteren Gründer der Deutschen Forschungsanstalt für Psychiatrie in München11 gab es zwei grundlegende Arten von Psychosen: Die »Dementia praecox« und das »manisch-depressive Irresein«.12 Für Kraepelin war die Dementia praecox eine Erkrankung mit chronischem Verlauf und einer unabwendbaren Verschlechterung über die Zeit. Einmal erkrankt, geht es mit dem Patienten nur noch bergab. Bei der manisch-depressiven Erkrankung hingegen war Kraepelin optimistischer, da hier auch symptomfreie Intervalle und sogar Heilungen vorkamen. Viele Psychiater und Neurowissenschaftlerinnen späterer Generationen haben die Sichtweise eines unvermeidbaren kognitiven Abbaus bei chronischen Schizophrenien übernommen und daraus abgeleitet, dass es sich um eine progressiv fortschreitende Gehirnerkrankung handeln muss. Wie sich Psychiater Murray entsinnt, hat 1976 eine frühe Computertomographie-Untersuchung von Eve Johnstone und Kollegen die bis heute andauernde Welle von Bildgebungsuntersuchungen in der Psychoseforschung angestoßen.13 Die Forscher hatten erstmals gezeigt, 9 10 11 12

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Osmond H (1957) Annals of the New York Academy of Sciences. Murray RM (2017) Schizophrenia Bulletin, S. 253. Das heutige Max-Planck-Institut für Psychiatrie. Kraepelin E (1899) »Psychiatrie. Ein Lehrbuch für Studirende und Aerzte«. Die »Dementia praecox« wurde später durch den Schweizer Psychiater Eugen Bleuler weiter gefasst und firmiert seit 1911 (und bis heute) als die »Gruppe der Schizophrenien« [Bleuler E (1911)]. Aus Kraepelins »manisch-depressivem Irresein« wurden später die Affektiven bzw. Bipolaren Störungen. Johnstone EC, Crow TJ et al. (1976) Lancet.

Kapitel 3: Kleine Geschichte der Schizophrenieforschung

dass Patienten mit chronischer Schizophrenie vergrößerte Hirnventrikel und somit einen Verlust an Hirnsubstanz haben. Ein spektakulärer Befund, der wenig später auch an einer größeren Patientengruppe bestätigt wurde.14 Ab Mitte der 1990er Jahre erachteten es die meisten Forscher als ganz klar erwiesen, dass Schizophrenie-Patienten an einem fortschreitenden Abbau von Hirnsubstanz litten, besonders im Frontalkortex. Der Hirnabbau sollte sogar in direktem Zusammenhang mit Negativsymptomen15 , kognitiven Störungen und allgemeinem Funktionsniveau stehen.16 Man war der Meinung, die Veränderungen im Stirnhirn könnten gut erklären, weshalb Patienten mit Schizophrenie Defizite in der Planung und Organisation ihres Denkens und Handelns hätten.17

Ein schwerwiegender Verdacht Der scheinbar so robuste Befund hirnstruktureller Veränderungen bei chronisch an Schizophrenie Erkrankten hatte längst Einzug in alle Psychiatrielehrbücher gehalten und wurde in Fachzeitschriften als unbestreitbare medizinische Tatsache dargestellt.18 Doch dann wurde plötzlich Umkehrschub gegeben. Eine 2011 veröffentlichte Langzeituntersuchung an 211 Schizophrenie-Patienten ergab nämlich den dringenden Verdacht, dass gar nicht die Erkrankung selbst, sondern die Behandlung mit Antipsychotika zu den fortschreitenden Hirnveränderungen führt.19 Der beunruhigende Befund eines direkten Zusammenhangs zwischen verabreichter Menge Antipsychotika und dem Verlust an grauer und weißer Substanz ist in späteren Meta-Analysen bestätigt worden.20 Manch ein Psychiater dürfte einigermaßen erstaunt gewesen

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Weinberger DR, Torrey EF et al. (1979) Archives of General Psychiatry. Negativsymptome der Schizophrenie umschreiben das »Zuwenig« im Vergleich zu normalem Erleben, beispielsweise Depressivität, Affektverflachung, Antriebsarmut und sozialer Rü ckzug. Z.B. Andreasen NC, Flashman L et al. (1994) Journal of the American Medical Association; Ho BC, Andreasen NC et al. (2003) Archives of General Psychiatry. Andreasen NC, Flashman L et al. (1994) Journal of the American Medical Association, S. 176. Z.B. Hyman SE (2002) Psychopathology. Ho BC, Andreasen NC et al. (2011) Archives of General Psychiatry. Fusar-Poli P, Smieskova R et al. (2013) Neuroscience and Biobehavioral Reviews; Aderhold V, Weinmann S et al. (2015) Der Nervenarzt. Unter »grauer Substanz« versteht

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sein, schließlich wurden Antipsychotika (der zweiten Generation, sogenannte Atypika) in jener Zeit sogar aktiv damit beworben, dass sie »neuroprotektiv« seien, also eine krankheitsbedingte Schädigung der Nervenzellen verhindern könnten.21 Warum hat man das denn nicht schon viel früher gemerkt? Ganz einfach, weil Schizophrenie-Patienten so gut wie immer mit Antipsychotika behandelt werden.22 Es ist zweifellos schwierig, überhaupt chronisch Schizophrenie-Erkrankte zu finden, die keine Psychopharmaka einnehmen (und somit in aller Regel außerhalb des schulmedizinischen Systems stehen), aber bereit sind, sich zu Forschungszwecken Gehirnscans zu unterziehen. Allerdings gab es schon Jahrzehnte früher Expertenmeinungen, die genau diesen Zusammenhang zwischen antipsychotischer Medikation und Hirnatrophie voraussagten, in der Fachwelt aber nicht ernst genommen wurden.23 Und auch aus Tierversuchen war längst bekannt, dass die langfristige Verabreichung von Antipsychotika zu einem Abbau von Gehirngewebe führt.24 Die Erkenntnis, dass Medikamente zur Schizophreniebehandlung einen Hirnabbau bewirken, hat sicher zu einem Aufschrei in der Fachwelt und zu einer sofortigen Veränderung der Verschreibungspraxis geführt. Das wäre die logische Schlussfolgerung. Doch weit gefehlt. Mit Sinn für kreative Argumentation wurde der Spieß bisweilen sogar umgedreht und insinuiert, der Rückgang an Hirnmasse könnte Ausdruck des therapeutischen Nutzens der Medikamente sein. In einem Editorial der Zeitschrift Archives of General Psychiatry räsonierte der Psychiater und Neurowissenschaftler David A. Lewis von der University of Pittsburgh darüber, dass der Rückgang an grauer Substanz während der Pubertät ja schließlich auch mit Verbesserungen der kognitiven Fähigkeiten verbunden sei und vermutete eine ähnliche »strategische Reduktion des Hirnvolumens« in den MRT-Befunden zur Hirnatrophie durch Neuroleptika: »Viele Menschen mit Schizophrenie hören auf, typische und atypische

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man Anteile des Gehirns, die vor allem Nervenzellkörper enthalten, »weiße Substanz« bezeichnet Gehirnanteile, die primär aus Nervenfasern bestehen. Siehe z.B. Bartzokis G, Lu PH et al. (2012) Schizophrenia Research; Kusumi I, Boku S et al. (2015) Psychiatry and Clinical Neurosciences. Siehe dazu auch Kapitel 10: »Psychopharmaka: Je weniger, desto besser«. Marsden CD (1976) Lancet; zitiert in Murray RM (2017) Schizophrenia Bulletin, S. 253. Z.B. Konopaske GT, Dorph-Petersen KA et al. (2007) Neuropsychopharmacology; Dorph-Petersen KA, Pierri JN et al. (2005) Neuropsychopharmacology. Man kann sich auch fragen, warum man überhaupt Tierversuche macht, wenn die daraus gewonnenen Erkenntnisse ohnehin keine Auswirkung auf die klinische Praxis haben.

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Antipsychotika zu nehmen, weil sie einen beschränkten Nutzen haben oder die Nebenwirkungen schlecht vertragen. Die Beobachtung von Beng-Choon Ho und Kollegen, dass das Ausmaß der Antipsychotikabehandlung die Größe des Hirnvolumen-Rückgangs voraussagt, lässt die Möglichkeit offen, dass Patienten, die am meisten davon profitierten, ihre Antipsychotikabehandlung fortführten und in der Folge die größten Veränderungen des Hirnvolumens hatten.«25 Und überhaupt müsse man ja den Patienten behandeln und nicht den Labortest (oder in diesem Fall das MRT): »Daher sollten die Befunde von Ho und Kollegen nicht als Hinweis darauf interpretiert werden, Antipsychotika als Behandlung für Schizophrenie aufzugeben.«26 Oder anders gesagt: Lasst uns Forschungsergebnisse, die uns nicht passen, einfach ignorieren und genau so weitermachen wie bisher. Eine Strategie, die bis zum heutigen Tag gerne verfolgt wird. Die Motivation für Psychiater Lewis’ tendenziösen Leitartikel mag tatsächlich in der Sorge gelegen haben, Patienten könnten ihre Medikamente absetzen, »die sie brauchen«.27 Möglicherweise galt die Sorge aber auch den Antipsychotika-Verschreibungszahlen, schließlich pflegte der angesehene Thomas Detre Professor of Academic Psychiatry beste Beziehungen zur Pharmazeutischen Industrie.28

Dann eben andersrum: Schizophrenie als GehirnEntwicklungsstörung Ein starkes Argument gegen die Neurodegenerations-Hypothese ist auch die Tatsache, dass viele Patienten mit der Zeit ja auch wieder gesund werden. Das aber ist kaum vereinbar mit einem chronisch progressiven Hirnabbau.29

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Lewis DA (2011) Archives of General Psychiatry, S. 127. Ebd. Mit diesem Argument begründete Nancy Andreasen, Mitautorin der Ho-Studie, weshalb sie die Untersuchungsergebnisse mehrere Jahre lang nicht publiziert hatten [Dreifus C (2008) The New York Times vom 16.9.]. In der verpflichtenden Offenlegung möglicher Interessenkonflikte führt Dr. Lewis finanzielle Verbindungen zu Bristol-Myers Squibb, Curridium, Pfizer, AstraZeneca, BioLineRx, Merck, Neurogen und SK Life Science an [Lewis DA (2011) Archives of General Psychiatry, S. 127]. Die Alzheimer-Demenz ist das klassische Beispiel für eine neurodegenerative Erkrankung. Hier ist eine Heilung nicht möglich, der Verlauf kann höchsten verlangsamt werden.

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Wenn Schizophrenie also keine neurodegenerative Erkrankung ist, dann ist es vielleicht genau andersrum: Vielleicht sind Erkrankungen aus dem Formenkreis der Schizophrenien Gehirn-Entwicklungsstörungen. Da ist kein bei Geburt intaktes Gehirn, das später im Leben irgendwie Schaden nimmt, sondern das Gehirn wird bereits vorgeburtlich geschädigt und entwickelt sich im Verlauf der weiteren Hirnreifung nicht so, wie es sollte. Die Hypothese der Schizophrenie als neurologische Entwicklungsstörung hat ihren Ursprung in den 1980er Jahren und ist heute, in erweiterter und ausdifferenzierterer Form, das offiziell akzeptierte Krankheitskonzept.30 Die Grundhypothese besagt, dass Schizophrenie-Erkrankungen, die typischerweise erst im jungen Erwachsenenalter vollsymptomatisch werden, ihren Anfang schon in Störungen der embryonalen Entwicklung nehmen. Die Symptome würden sich dann später entsprechend den gerade ablaufenden Prozessen der Hirnreifung unterschiedlich manifestieren. In der frühen Kindheit könnten dies Defizite in den sozialen und intellektuellen Fähigkeiten sein, während für das Erleben echter Psychosen eine weitere Ausreifung cortico-limbischer Schaltkreise notwendig sei und diese daher erst später auftreten würden.31 Als Ursache für die abweichende vorgeburtliche Gehirnentwicklung wird ein komplexes Zusammenspiel von genetischen Risikofaktoren und Schwangerschaftskomplikationen diskutiert. Die vermuteten Stressoren in der Schwangerschaft reichen von Infektionen über immunologische Inkompatibilitäten bis zu Bluthochdruck der Mutter oder Geburtskomplikationen.32 Diese »Stressorhypothesen der Schizophrenie« gibt es in allen möglichen Varianten, was Zeitpunkt der Schädigung (vorgeburtlich, während der Geburt, in der Kindheit, in der Adoleszenz), vermutete Art der Schädigung (immunvermittelte Gehirnschädigungen, Störungen der embryonalen Konnektivität in der Neuronendifferenzierung, Ungleichgewicht in der Entwicklung von inhibitorischen und exzitatorischen Neurotransmittersystemen) und Auftretenshäufigkeit der schädigenden Einflüsse (einmal, two-hit model, multiple-hit model oder kontinuierlich) angeht.33

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DGPPN (2019) »S3-Leitlinie Schizophrenie«, https://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll /038-009.html (letzter Abruf 28.1.2023). Weinberger DR (1987) Archives of General Psychiatry; Murray RM, Lewis SW (1987) British Medical Journal. Murray RM, Bhavsar V et al. (2017) Schizophrenia Bulletin; Weinberger DR (2017) Schizophrenia Bulletin. Birnbaum R, Weinberger DR (2017) Nature Reviews. Neuroscience.

Kapitel 3: Kleine Geschichte der Schizophrenieforschung

In aller Kürze könnte man das gegenwärtig von der Fachwelt favorisierte Konzept der Schizophrenie als Gehirnentwicklungsstörung so zusammenfassen: Eine genetisch bedingte Vulnerabilität macht das heranreifende Gehirn über die gesamte Dauer seiner Entwicklung vom Embryo bis ins junge Erwachsenenalter empfindlich für schädigende Umwelteinflüsse. Die Bandbreite reicht dabei von vorgeburtlichem Stress über Infektionen und Komplikationen bei der Geburt bis hin zu exzessivem Cannabiskonsum im Jugendalter. Das Ergebnis ist ein vorgeschädigtes Gehirn, das irgendwann auf einen bestimmten Auslöser hin entgleist und der Patient symptomatisch wird. Dasselbe, nur akademischer, in der Definition der DGPPN: »Integrative ätiopathogenetische Modelle laufen darauf hinaus, dass auf Grundlage einer polygenetisch und/oder individuellen entwicklungsgeschichtlich determinierten Vulnerabilität die klinische Krankheitsmanifestation durch Lebensereignisse und Umweltfaktoren (z.B. Cannabis- oder Amphetamin-Gebrauch, Infektionen) befördert oder inhibiert wird (Resilienzfaktoren). Diese Faktoren modulieren offensichtlich auch die Symptomausprägung (pathoplastische Einwirkungen), wodurch es zu interindividuell heterogenen Ausprägungsformen der Symptomatik und des Verlaufs kommen kann.«34 Die Anzahl möglicher Risikofaktoren, die gemäß Vulnerabilitätshypothese zu einer Schizophrenie führen, ist dabei so groß und ihr Zusammenspiel so komplex und individuell derart unterschiedlich, dass man zu den Ursachen im Einzelfall kaum noch eine Aussage machen kann. Warum gerade Frau A und Herr B SchizophrenieSymptome entwickeln, nicht aber Herr C und Frau D, das bleibt fast immer im Dunkeln. Dass es auch ganz andere, nicht primär biologische Konzepte zur Schizophrenie und durchaus auch nicht-medikamentöse Behandlungsmöglichkeiten für Psychosen gibt, wird später in Kapitel 7 ausgeführt. Zuerst einmal möchte ich aber aufzeigen, welche ganz konkreten Aus- und Nebenwirkungen die jahrzehntelange Dominanz einer neurowissenschaftlichen Sichtweise auf unser Verständnis von psychischen Störungen und ihre Behandlung hat.

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DGPPN (2019) »S3-Leitlinie Schizophrenie«, https://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll /038-009.html (letzter Abruf 28.1.2023).

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Kapitel 4: Psychiatrischer Neurozentrismus und seine Folgen Nie ist die Forschung in der psychologischen Medizin soweit von Klinik und Alltagspraxis entfernt gewesen wie heute. Nie ist sie so ausschließlich naturwissenschaftlich, so entfernt vom lebendigen Menschen gewesen. Nie war sie so voller Herablassung gegenüber den übrigen Wissenschaften vom Menschen.1

»Leidet die Psyche, ist das Gehirn erkrankt« war und ist der zentrale Glaubenssatz der biologischen Psychiatrie. Die neurowissenschaftliche Wende führte zu einer dramatischen Verschiebung der Art und Weise, wie wir psychisches Leiden verstehen. »Im Kern handelt es sich immer um ein Ungleichgewicht in der Biochemie der Zellen des Gehirns« erklärte der angesehene Depressionsforscher Florian Holsboer noch 2011 die wahre Natur psychischer Erkrankungen.2 Zwar sei das individuelle Leid der Patienten eingebettet in die jeweiligen Lebensumstände. Es sei aber nicht zu einseitig, seelisches Leiden allein als Störung des Hirnstoffwechsels zu betrachten. »Vor allem nicht, wenn man heilen will.«3 Kaum ein Wissenschaftler würde das heute noch so unterschreiben. Die postulierten Krankheits-Mechanismen haben sich im Verlauf der »dritten Welle der biologischen Psychiatrie«4 immer wieder gewandelt und heute überwiegt die Vorstellung, psychische Störungen beruhten auf dysfunktio-

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Finzen A (1998) »Das Pinelsche Pendel«, S. 4. Holsboer F (2011) Gehirn und Geist, S. 37. Ebd. Walter H (2013) Frontiers in Psychology.

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nalen neuronalen Schaltkreisen und fehlerhafter Netzwerk-Kommunikation.5 Was auch immer die genauen pathophysiologischen Prozesse sein mögen: Die Sichtweise, psychische Störungen seien Erkrankungen des Gehirns, hat sich in den letzten Jahrzehnten in der Psychiatrie zu einer ausgemachten Sache verfestigt, zu einer wissenschaftlichen Gewissheit, über die es sich nicht weiter zu diskutieren lohne. Das Renommee der Neurowissenschaften in der Öffentlichkeit, die Flut von psychiatrischen Bildgebungs- und Genetikstudien, die Milliardeninvestitionen privater und institutioneller Forschungsförderer und nicht zuletzt die Marketingkampagnen der Pharmaindustrie hatten zur Folge, dass Kritiker des boomenden Neurozentrismus in der Psychiatrie zunehmend verstummten. Seit Ende der 1990er Jahre waren es die beeindruckenden High-Tech-Gehirnscans, die überall auf der Welt die Psychiatriekonferenzen dominierten. Klar, dass etwa die Sozialpsychiatrie im Vergleich dazu nun hoffnungslos vorgestrig wirkte. Etwas zugespitzt kam ihr gerade noch die Aufgabe zu, den Patienten zu vermitteln, wie wichtig es sei, dass sie ihre Medikamente regelmäßig einnehmen. Noch schlimmer erging es der Psychoanalyse. Sie musste sich den Vorwurf gefallen lassen, eine überholte sektiererische Pseudowissenschaft mit abergläubischen Zügen zu sein. Allenfalls eine psychologiegeschichtliche Bedeutung sprach man Freud, Jung und ihren tiefenpsychologisch orientierten Nachfolgern noch zu. Zwar war auch den biologisch orientierten Psychiatern immer klar, dass ihre praktische Beweisführung bislang noch sehr dürftig ausgefallen ist. Man stützte sich auf ein wissenschaftsideologisches Gedankengebäude, gezimmert aus vorläufigen Annahmen, gewagten Behauptungen und unbestätigten Hypothesen. Stets wurde darauf verwiesen, die Forschung stehe noch ganz am Anfang und man müsse geduldig sein, dann würden sich die Erfolge schon einstellen. Viel Geld, kluge Forscher und große Maschinen würden Gene und Gehirn schon bald zum Sprechen bringen. Dass die Zukunft des Fachs ganz der Bio-Psychiatrie gehören solle, zeigte sich auch daran, dass im akademischen Diskurs neurologische Erkrankungen (wie zum Beispiel Parkinson oder Multiple Sklerose) und psychiatrische Störungen unter einen Hut gesteckt und »zur Vereinfachung« unter dem Begriff brain disorders zusammengefasst wurden. Forschungsgelder vom National Institute of Mental Health gab (und gibt) es fast nur, wenn man als Wissenschaftler nach den entsprechenden »Neurosignatu-

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Z.B. Elliott ML, Romer A et al. (2018) Biological Psychiatry.

Kapitel 4: Psychiatrischer Neurozentrismus und seine Folgen

ren« sucht.6 Fünfundachtzig Prozent der Milliarden an NIMH-Forschungsförderung flossen 2015 in Grundlagenforschung und »translationale« Neuroscience-Studien.7 Auch 2022 setzte das NIMH noch mehr als zwei Drittel seines 2,2 Milliarden Dollar umfassenden Gesamtbudgets für diese Zwecke ein.8

Eine wissenschaftliche Ideologie mit Nebenwirkungen Auch wenn die Suche nach den allseits vermuteten Biosignaturen erfolglos blieb, sind die praktischen Auswirkungen dieser »Neuen Medizin des Geistes«9 weitreichend. Nicht zuletzt hat der biologische Essentialismus in der Psychiatrie zu einer höchst problematischen Veränderung der Behandlungspraxis geführt. Beflügelt von der großen Erzählung der psychischen Erkrankung als biologischer Funktionsstörung kam es zu einem bis heute andauernden Psychopharmaka-Boom. Klar, wenn eine psychische Störung als Problem gestörter Biologie verstanden wird, macht es auch Sinn, diese Störung medikamentös korrigieren zu wollen. Deshalb wurde die Pharmaindustrie auch nicht müde, in ihren Marketingkampagnen Depressionen als »Serotoninmangel« zu verkaufen, den ihre Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRIs) ganz gezielt beheben. Die »Serotoninhypothese der Depression« gehört zweifellos zu den größten und unerschütterlichsten Mythen in der Geschichte der modernen Medizin. Der Erfolg der Serotoninhypothese beruht auf ihrer Einfachheit und vermeintlichen Plausibilität: Depressionen entstehen aufgrund einer Störung des natürlichen Neurotransmitter-Gleichgewichts im Gehirn, insbesondere durch eine verminderte Verfügbarkeit von Serotonin.10 Antidepressiva beheben diesen Serotoninmangel, das Neurotransmitter-Gleichgewicht ist wiederhergestellt und die Symptome der Depression verschwinden. Dass 6 7 8 9 10

Markowitz JC (2016) The New York Times vom 14.10. Lewis-Fernandez R, Rotheram-Borus MJ et al. (2016) British Journal of Psychiatry, S. 508; zitiert in Schleim S (2018) »Was sind psychische Störungen?«. https://www.nimh.nih.gov/about/budget/fy-2022-budget-congressional-justificatio n (letzter Abruf 28.1.2023). Gold MS (1987) »The good news about depression«, S.vii. Die Serotoninhypothese wurde vor über fünfzig Jahren formuliert, als bekannt wurde, dass biogene Amine wie Serotonin und Noradrenalin auch als Überträgersubstanzen im Gehirn wirken [u.a. Schildkraut JJ (1965) American Journal of Psychiatry; Coppen A (1967) British Journal of Psychiatry].

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Serotonin in den Medien gleichermaßen falsch wie hartnäckig als »Glückshormon« bezeichnet wird, unterstützt das Narrativ der Depression als Serotoninmangelzustand noch zusätzlich. Klar geht es uns nicht gut, wenn wir einen Glückshormonmangel erleiden. Die schöne Hypothese war allerdings von Anfang an eine wacklige Angelegenheit und konnte später trotz einer Vielzahl von durchgeführten Studien nicht belegt werden. Die Serotoninhypothese der Depression ist von der weit überwiegenden Mehrzahl der Fachleute auch längst zu den Akten gelegt worden. Das Thema wurde in den letzten Jahren so eingehend verhandelt,11 dass es wirklich nicht nötig ist, die vielen Argumente erneut im Detail aufzulisten. Stattdessen möchte ich lieber den amerikanischen Psychiater Allen Frances zitieren: »Unsere Neurotransmitter-Theorien sind nicht viel weiter als die Säftelehre der Griechen«.12 Und nun, mit dem vor kurzem in Molecular Psychiatry erschienenen systematischen Umbrella Review von Joanna Moncrieff und Kollegen zu allen Evidenzen der ominösen Serotonin-Theorie sollte das Thema wohl endgültig erledigt sein: Es gibt einfach keine.13

Antidepressiva im Dauer-Boom An den exorbitant hohen SSRI-Verschreibungszahlen hat auch die vielfache Widerlegung des Serotonin-Mythos allerdings nichts geändert. Die »Mär vom Glückshormon«14 ist einfach zu gut und hat sich fest in unser kollektives Bewusstsein eingeschrieben. Wie fest, zeigt sich beispielsweise daran, dass depressive Patienten, die glauben ihre Depression sei das Ergebnis eines Neurotransmitter-Ungleichgewichts, sich oftmals gar nicht mehr getrauen, ihre Antidepressiva abzusetzen, selbst wenn ihnen die Ärzte dazu raten.15 Wer denkt, Depressionen seien ein Serotoninproblem, nimmt Antidepressiva oft ein Leben lang. 11

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Siehe z.B. Hasler F (2012) »Neuromythologie«, S. 125ff.; Padberg T (2021) »Die Depressions-Falle«; Leo L, Lacasse JR (2008) Society; Deeg J (2021) Gehirn und Geist Dossier; Hasler F (2011) Der Beobachter. »Gebrauch und Missbrauch psychiatrischer Diagnosen«. Vortrag an der Konferenz »Situating Mental Illness« am Institute for Cultural Inquiry, Berlin, 28.4.2011. Moncrieff J, Cooper RE et al. (2022) Molecular Psychiatry. Deeg J (2021) Gehirn und Geist Dossier, S. 42. Eveleigh R, Speckens A et al. (2019) Therapeutic Advances in Psychopharmacology [zitiert in Padberg T (2021) »Die Depressions-Falle«, S. 93].

Kapitel 4: Psychiatrischer Neurozentrismus und seine Folgen

Wie dem »Arzneimittelverordnungs-Report 2019« zu entnehmen ist, hat in Deutschland zwischen 2009 und 2018 die Verschreibung von Antidepressiva nochmals um mehr als vierzig Prozent zugenommen – ausgehend von ohnehin schon hohem Niveau.16 Und diese Zunahme hat sich auch 2019 und 2020 weiter fortgesetzt.17 Die Pharmakologen Bruno Müller-Oerlinghaus und Martin Lohse, verantwortliche Autoren für das Kapitel Psychopharmaka im Verschreibungs-Report von 2019, kommentieren dies durchaus kritisch: »Ob das über lange Zeit steigende Verordnungsvolumen von neueren Antidepressiva18 rationalen Kriterien gehorchte und somit für die Mehrheit der Patienten einen echten Nutzen impliziert, wird zunehmend bezweifelt.«19 Und das ist noch diplomatisch formuliert. Dass Antidepressiva außer bei ganz schweren Depressionsverläufen kaum einen Zusatznutzen gegenüber Placebo aufweisen, ist eigentlich längst bekannt. Nämlich spätestens seit 2002, als der Psychologe Irving Kirsch und seine Kollegen in einer seitdem oft zitierten Meta-Analyse die Studiendaten von fast siebentausend Patienten untersuchte, die mit einem der sechs meist verschriebenen SSRI-Antidepressiva behandelt wurden.20 Kirschs Datenanalyse kam zu einem überraschenden Ergebnis: 57 Prozent der von der Pharmaindustrie gesponserten Studien konnten überhaupt keinen Unterschied in der Wirksamkeit zwischen Placebo und Prüfmedikament nachweisen. Und 82 Prozent der Besserung, die mit Antidepressiva erzielt wurden, wurden auch durch Placebo-Gabe erreicht. Das ist aber nicht das, was sich der offiziell publizierten Fachliteratur entnehmen lässt und erst recht nicht das, was die Antidepressiva-Hersteller in ihren Werbekampagnen erzählen. Natürlich nicht, denn Kirschs Analyse umfasste die Daten sämtlicher klinischen Studien, die die Pharmahersteller für die Zulassung ihrer SSRI-Antidepressiva bei der amerikanischen Zulassungsbehörde FDA eingereicht hatten – und nicht nur die später selektiv publizierten Ergebnisse in der Fachliteratur. Zugang zu diesen Datensätzen erhielten die Psychologen über den amerikanischen »Freedom of Information Act«, ein 16 17 18 19 20

Lohse MJ, Müller-Oerlinghausen B (2019) »Psychopharmaka«, S. 928. Lohse MJ, Seifert J et al. (2021) »Psychopharmaka«, S. 696. Selektive Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer (SSRIs) und Serotonin-NoradrenalinWiederaufnahme-Hemmer (SNRIs). Lohse MJ, Müller-Oerlinghausen B (2019) »Psychopharmaka«, S. 928. Kirsch I, Moore TJ et al. (2002) Prevention and Treatment. In die Meta-Analyse flossen FDA-Daten zu den SSRIs Fluoxetin, Nefazodon, Paroxetin, Sertraline und Citalopram sowie zum SNRI Venlafaxin ein. Siehe auch Kirsch I, Deacon BJ et al. (2008) Public Library of Science Medicine, S. 266.

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Gesetz, das es in den USA ermöglicht, Einsicht in die Dokumente staatlicher Behörden zu erlangen. Auch eine Meta-Analyse, die 2010 im Journal of the American Medical Association publiziert wurde, hat die Wirksamkeit verschiedener Antidepressiva in Abhängigkeit der Schwere der depressiven Erkrankung untersucht.21 Ein anschauliches Maß für den tatsächlichen, praxisrelevanten Nutzen einer Behandlung ist die number needed to treat (NNT). Diese statistische Zahl drückt aus, wie viele Patienten mit einer bestimmten Intervention behandelt werden müssen, damit die angestrebte Wirkung bei einem Patienten mehr als bei Placebobehandlung eintritt. Im Fall der Depression wäre ein Behandlungserfolg typischerweise ein fünfzig prozentiger Rückgang der Punktewerte auf der »Hamilton Depressionsskala«. Und das sind die NNT-Werte, die die Studienautoren für die Depressionsbehandlung mit Antidepressiva ermittelt haben: 16 für leicht bis mittelschwer ausgeprägte Depressionen, 11 für schwere Depressionen und 4 für sehr schwere Depressionsverläufe. Mit anderen Worten: Bei einer leichten bis mittelschweren Depression muss man sechzehn Betroffene mit Antidepressiva behandeln, damit ein Patient von einer Wirkung profitiert, die er nicht auch schon mit einem Placebo gehabt hätte.22 Antidepressiva, insbesondere SSRIs, stehen auch in den Medien schon lange unter kritischer Beobachtung. Am meisten öffentliche Beachtung dürfte wohl die ARD-Reportage »Gefährliche Glückspillen – Milliardenprofite mit Antidepressiva« erfahren haben, die der Sender am 18. Februar 2013 ausstrahlte. Berichtet wurde unter anderem, dass Antidepressiva zu Suiziden und unkontrollierten Gewaltausbrüchen führen können und dass die Herstellerfirmen dies durchaus wussten, aber lange versucht hätten, die Risiken herunterzuspielen. Tatsächlich sind die Anklagepunkte der Reportage seit langem bekannt und belegt durch wissenschaftliche Fachliteratur, firmeninterne Schreiben und Gerichtsdokumente.23 Das Echo auf die Reportage war riesig und als Folge davon fühlte sich auch der Vorstand der DGPPN zu einer Stellungnahme veranlasst. Schließlich hätte die Sendung »Patientinnen und Patienten, die mit Antidepressiva behandelt werden, erheblich verunsichert.«24 Die Autoren der Stellungnahme beklagen in ihrer Replik eine

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Fournier JC, DeRubeis RJ et al. (2010) Journal of the American Medical Association. Ebd., S. 50. Für eine Übersicht dazu siehe Hasler F (2012) »Neuromythologie«, S. 99ff. Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (2013) Pressemitteilung »Antidepressiva helfen Selbstmorde zu verhin-

Kapitel 4: Psychiatrischer Neurozentrismus und seine Folgen

»pauschale und in der Wortwahl tendenziöse Warnung vor Antidepressiva« und verfolgen argumentativ die alt bewährte blame the disease, not the drug Verteidigung: »In Einzelfällen ist nicht auszuschließen, dass eine Behandlung mit SSRI nicht den gewünschten Erfolg erzielt bzw. diesen nicht schnell genug erwirkt. Dabei kann es auch zu Suizidversuchen, zu aggressiven Impulsen oder zum Suizid kommen; denn suizidales und aggressives Verhalten stellen Symptome der Krankheit ›Depression‹ dar.«25 »Zusammenfassend«, so der damalige DGPPN-Vorstand, »lässt sich sagen, dass manche Patienten trotz und nicht aufgrund der Behandlung mit SSRI suizidal oder aggressiv werden können, während die Behandlung bei den allermeisten Patienten die gewünschte Wirkung zeigt«.26 Dass es »für einen kausalen Zusammenhang zwischen der Gabe von Antidepressiva und Gewalthandlungen keinerlei Belege« gebe,27 stimmt nicht. Diese Belege gibt es sehr wohl. Bereits während der ersten SSRI-Studien in den späten 1970er Jahren erkannten Studienärzte, dass es selbst bei gesunden Kontrollprobanden zu schwerer psychomotorischer Unruhe kommen kann. 2004 suizidierte sich gar eine Probandin in einem Labor des Pharmaherstellers Eli Lilly während einer Studie mit dem SNRI28 Antidepressivum Duloxetin.29 Die junge Studentin war gemäß medizinischer Voruntersuchung physisch und psychisch völlig gesund – das war nämlich Voraussetzung für die Studienteilnahme. Die vom DGPPN-Vorstand beanstandete Fernsehreportage berichtet auch von einem in der Justizgeschichte einmaligen Vorfall in den Niederlanden. Der Richter eines Berufungsgerichts in Friesland wollte es genau wissen und ordnete 2012 die weltweit erste empirische Untersuchung an, ob es einen Zusammenhang zwischen SSRIs und aggressivem Verhalten gibt. Ein Team von Psychiatern verabreichte einem wegen Mordes in Untersuchungshaft sitzenden Angeklagten (der in der fraglichen Zeit Antidepressiva einnahm) zwei Monate lang Placebo oder das SSRI-Antidepressivum Paroxetin und unterzog ihn verschiedenen psychologischen Tests. So sollte geklärt werden, ob das Medikament bei dem Angeklagten zu einer Wesensveränderung führt,

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dern« und »Stellungnahme zur ARD-Reportage ›Gefährliche Glückspillen‹ vom 18. Februar 2013«. Ebd. Ebd. Ebd. »Selektive Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer« Harris G (2004) The New York Times vom 12.2.

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mit dem der impulsive Mord an seinem Nachbarn zu verstehen wäre. Der Abschlussbericht der experimentellen forensischen Untersuchung ließ keinen Zweifel offen: Dieser Mann wird durch SSRI-Antidepressiva aggressiv.

Ein Streit unter Psychiatern entbrennt Die offenkundig Psychopharmaka-Nebenwirkungen verharmlosende Replik der DGPPN wollten andere Fachleute nicht auf sich beruhen lassen. Und so entwickelte sich ein interessanter Expertenstreit. Tom Bschor, Chefarzt der Abteilung Psychiatrie der Schlosspark-Klinik Berlin und der Pharmakologe Bruno Müller-Oerlinghausen schrieben einen darauf bezugnehmenden Leitartikel im Fachblatt der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft.30 Die beiden Autoren beklagen darin, die Quellenauswahl der DGPPN sei tendenziös, die Studienergebnisse seien unzutreffend wiedergegeben und die gezogenen Folgerungen wissenschaftlich unhaltbar.31 Würde man sich auf alle bestehenden Metaanalysen mit großen Patientenzahlen und hoher Datenqualität stützen32 , käme man zu einer ganz anderen Beurteilung. Es sei eindeutig wissenschaftlich belegt, dass Antidepressiva das Risiko von Suizidversuchen und Suiziden nicht senken können. Ob die Medikamente das Risiko für Selbstmorde bei Erwachsenen sogar erhöht, sei hingegen nicht sicher belegt.33 Im Juni 2014 ging der Expertenstreit in die nächste Runde. Gerhard Gründer, damaliger Leiter des DGPPN-Fachreferats Psychopharmakologie und Mitverfasser der Replik auf die kritische ARD-Antidepressiva-Reportage holte zum Gegenschlag aus. Der Titel der Publikation im Nervenarzt war noch neutral und unverfänglich: »Antidepressiva und Suizidalität.«34 Was danach folgt, war aber eine einzige große Verteidigungsrede für die medikamentöse

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Bschor T, Müller-Oerlinghausen B (2014) Arzneimittelverordnung in der Praxis. Ebd., S. 2. Nur Daten von randomisierten Doppelblindstudien (RCTs), siehe z.B. Fergusson D, Doucette S et al. (2005) British Medical Journal. Bschor T, Müller-Oerlinghausen B (2014) Arzneimittelverordnung in der Praxis, S. 3. Dass es bei Kindern und Jugendlichen während der Behandlung mit Antidepressiva vermehrt zu »suizidassoziierten Ereignissen« kommt, ist schon lange klar. Bereits 2004 wurden die Pharmahersteller dazu verpflichtet, auf SSRI-Packungsbeilagen eine entsprechende »Black Box Warnung« aufzudrucken, die stärkste Warnmaßnahme, die die Gesundheitsbehörden kennen. Gründer G, Veselinović M et al. (2014) Der Nervenarzt.

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Depressionsbehandlung. Und die geht – in aller Kürze zusammengefasst – ungefähr so: Antidepressiva der zweiten Generation haben die psychiatrische Praxis revolutioniert und sind ein Segen für die Patienten. Sie sind leicht zu dosieren und gut verträglich und daher auch alltagstauglich für die hausärztliche Praxis. Wahrscheinlich habe ihre Einführung »in nicht zu unterschätzender Weise« zu der in den meisten Industriestaaten beobachteten Reduktion der Suizidraten beigetragen. Auch wenn es in seltenen Fällen einmal dazu kommen könne, dass Antidepressiva bei entsprechend disponierten Personen Suizidhandlungen oder aggressive Impulse auslösen, bestehe doch »ein wissenschaftlicher Konsens« darüber, dass der Nutzen der antidepressiven Pharmakotherapie, insbesondere mit SSRIs und SNRIs, die Risiken überwiege. Dies gelte auch für die Behandlung von Kindern und Jugendlichen, hier müsse man zu Behandlungsbeginn einfach besser aufpassen.

Die Realität widerlegt ein abenteuerliches Argument Psychiater Gründer, heute Leiter der Abteilung Molekulares Neuroimaging am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim35 und seine Mitautoren argumentieren unter anderem damit, dass parallel zur Zunahme der Verordnung von Antidepressiva in den entsprechenden Ländern die Suizidrate abgenommen habe. Gerade in den Ländern mit der größten Abnahme der Suizidrate sei die deutlichste Zunahme an Verschreibungen von SSRIs zu beobachten.36 Eine wahrhaft abenteuerliche Argumentation, die an die berühmte Korrelation zwischen dem Rückgang der Storchpopulation und dem Geburtenrückgang beim Menschen erinnert. Die epidemiologische Realität hat dieses Scheinargument auch längst widerlegt. Gerade in den USA haben die Suizide in jener Zeit massiv zugenommen – obwohl auch dortzulande die SSRI-Verschreibungszahlen Jahr für Jahr neue Rekorde brachen. Zwischen 1999 und 2017 hat die jährliche Selbstmordrate in den Vereinigten Staaten um ganze 33 Prozent zugenommen: von 10.5 auf 14 Selbsttötungen pro 100’000 Einwoh-

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Und verantwortlicher Leiter der Psilocybin/Depressions-Studie EPIsoDE, siehe Kapitel 9, S. 183. Gründer G, Veselinović M et al. (2014) Der Nervenarzt, S. 1112.

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ner.37 Gleichzeitig gehören die USA zu den Ländern mit dem weltweit höchsten Antidepressiva-Verbrauch. Der Anteil der amerikanischen Bevölkerung, die Antidepressiva einnimmt, hat von 1999 bis 2014 um 64 Prozent zugenommen, von 7.7 auf 19.1 Prozent.38 Etwa jeder Fünfte in Post-Trumpland39 ist heutzutage auf Prozac und Co. Ein Viertel von ihnen nimmt Antidepressiva seit zehn Jahren oder länger.40 Und dass ganz und gar kein »wissenschaftlicher Konsens« darüber besteht, dass der »Nutzen der antidepressiven Pharmakotherapie die Risiken überwiegt« stellt Psychiater Tom Bschor später in einem Leserbrief klar: »Dies mag die Überzeugung des Erstautors sein, der im Rahmen der obligatorischen Interessenkonflikterklärung auf seine äußerst umfangreichen Industrieverbindungen hinweist. Konsens ist dies nicht, schon gar nicht bezüglich jüngerer Patienten.«41 Bschor wollte die Sache nicht auf sich beruhen lassen und hat zusammen mit Kollegen eine Meta-Analyse zur Suizidalität in Placebo-kontrollierten SSRI-Langzeitstudien durchgeführt, die einen Zeitraum von mehr als drei Monaten erfassten. Das Ergebnis, in das die Daten von fast siebentausend depressiven Patienten eingingen: Sieben von acht vollendeten Suiziden und dreizehn von vierzehn Suizidversuchen kamen unter der Studienbedingung »Antidepressivum« vor.42 Dass Betroffenen immer mehr und noch mehr Antidepressiva nehmen, könnte auch damit zu tun haben, dass bis zum heutigen Tag Meinungsführer und einflussreiche Beratungsstellen, zumindest indirekt, dafür Werbung machen. »Antidepressiva machen nicht süchtig, sondern wirken gezielt gegen

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Hedegaard H, Curtin SC et al. (2018) National Center for Health Statistics Data Brief. 2019 und 2020 waren die Selbstmordraten in den USA ersmals wieder leicht rückläufig [Garnett MF, Curtin SC et al. (2022) National Center for Health Statistics Data Brief]. Winerman L (2017) Monitor on Psychology. Der amerikanische Kulturkritiker Lee Siegel fragt in einem New York Times Artikel: »Warum ist Amerika so depressiv?« Es sei kein Zufall, dass die Politik und die psychische Gesundheit in seinem Land gleichzeitig derart rapide auf dem Abstieg seien. So gesehen, sei der damalige Präsident durchaus passend gewesen: »Wenn Präsident Trump tatsächlich psychisch krank ist, wie so viele seiner Kritiker behaupten, ist er vielleicht der repräsentativste Führer, den wir je hatten.« [Siegel L (2020) The New York Times vom 2.1]. Pratt LA, Brody DJ et al. (2017) National Center for Health Statistics Data Brief. Bschor T (2015) Der Nervenarzt. Gerhard Gründer legt Industriebeziehungen zu zehn Firmen offen, von Alkermes bis Takeda (Stand 2014) [Gründer G, Veselinović M et al. (2014) Der Nervenarzt, S. 1115]. Braun C, Bschor T et al. (2016) Psychotherapy and Psychosomatics.

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die in der Depression gestörten Funktionsabläufe im Gehirn« ist einer Infografik auf der Webseite der Stiftung Deutsche Depressionshilfe zu entnehmen.43 Vorsitzender der Stiftung ist der renommierte Psychiater und Depressionsspezialist Ulrich Hegerl, Schirmherr der Entertainer Harald Schmidt, Partner unter anderem die Deutsche Bahn Stiftung und verschiedene Krankenversicherungen. Wer möchte da an der Seriosität der Aussage zweifeln, dass die Pharmakotherapie mit Antidepressiva »inzwischen als unverzichtbares und wirksames Heilverfahren« gilt?44 In einem Interview mit dem Südwestrundfunk betont Ulrich Hegerl die Unabhängigkeit der Stiftung: »Was wir nicht annehmen, sind Gelder von der Pharmaindustrie. Das machen wir deswegen nicht, weil wir glaubwürdig sein wollen.«45 Doch wie unabhängig von Pharmainteressen kann die Stiftung überhaupt sein, wenn ihr Vorsitzender selbst tief mit der Pharmazeutischen Industrie verbandelt ist? Wie tief, macht die verpflichtende Offenlegung möglicher Interessenkonflikte in einer wissenschaftlichen Publikation Hegerls aus dem Jahr 2019 deutlich: »In den letzten drei Jahren war UH Mitglied des Beirats von Lundbeck, Takeda Pharmaceuticals, Servier und Otsuka Pharma. UH war Berater für Bayer Pharma und Redner für Bristol-Myers Squibb, Medice Arzneimittel, Novartis und Roche Pharma.«46 Für den Psychotherapeuten Thorsten Padberg ist Psychiater Hegerl »nicht nur der Depressionspapst, sondern zugleich auch der Prophet ihrer medikamentösen Behandlung.«47 Als einer der wenigen Fachleute empfiehlt er die Verschreibung von Antidepressiva auch schon für leichte Depressionsformen.48 Aber nicht nur Antidepressiva wurden in den letzten Jahren in immer größerem Ausmaß verabreicht. Auch die Verschreibung von »atypischen Neuroleptika« ist gemäß aktuellem Arzneimittelverordnungs-Report im Verlauf der letzten Dekade von Jahr zu Jahr weiter angestiegen.49 Die Pharmakologen Lohse und Müller-Oerlinghaus werten dies als Folge der zunehmenden Indi-

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https://www.deutsche-depressionshilfe.de/forschungszentrum/deutschland-barome ter-depression (letzter Abruf 28.1.2023). https://www.deutsche-depressionshilfe.de/depression-infos-und-hilfe/behandlung (letzter Abruf 28.1.2023). https://www.swr.de/wissen/odysso/broadcastcontrib-swr-33562.html (letzter Abruf 28.1.2023). Hartmann R, Sander C et al. (2019) JMIR Mental Health, Sektion »Conflicts of Interest«. Padberg T (2021) »Die Depressions-Falle«, S. 52. Hegerl U (2013) Der Nervenarzt. Lohse MJ, Seifert J et al. (2021) »Psychopharmaka«, S. 691.

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kationsausweitungen oder Trend zu höheren Dosierungen.50 Besonders die massenhafte Anwendung von atypischen Neuroleptika in der Geriatrie sowie bei Kindern und Jugendlichen, meist »off-label« außerhalb der behördlichen Zulassung, sehen viele Experten als höchst bedenklich.51 Wenn auch die Verschreibung von Psychopharmaka in Deutschland gesamthaft weiter zunimmt, gibt es doch eine bemerkenswerte Ausnahme: die Verordnung von Benzodiazepin-Beruhigungsmitteln ist schon seit Jahren rückläufig. Ihre einstmals dominierende Stellung im Psychopharmaka-Arsenal haben Tranquilizer schon lange eingebüßt. Seit 1983, dem Jahr ihrer maximalen Verschreibung, sind die Verordnungszahlen für die angstdämpfenden Benzodiazepine in Deutschland um mehr als 85 Prozent zurückgegangen.52 Offenbar wird das Abhängigkeitspotenzial der Beruhigungsmittel heute kritischer beurteilt als noch Mitte der 1980er Jahre. Und das aus gutem Grund. Trotz des erheblichen Rückgangs der Verschreibungszahlen für Valium, Tavor und Artverwandte geht man von bis zu 1,6 Millionen Benzodiazepinabhängigen in Deutschland aus.53 Das ist besonders bedenklich, weil gerade Angststörungen und Panikattacken sehr gut – und vor allem nachhaltiger – psychotherapeutisch behandelbar sind. Abgesehen vielleicht vom notfallmäßigen Einsatz bei akuter Suizidgefahr oder bei einer schweren akuten Manie oder Psychose sind BenzodiazepinAnxiolytika keineswegs »alternativlos«. Das Problem bei den Benzodiazepinen liegt eben genau darin, dass sie so gut und zuverlässig wirken.54 Gerade der besonders schnelle Wirkungseintritt der Sublingual-Präparate sorgt dafür, dass sich quasi auf Kommando ein sanfter Nebel aus gutmütiger Indifferenz über die Angst legen lässt. Die Anspannung nimmt ab, der Panikzustand geht zurück und auch beim Einschlafen sind Benzodiazepine gut bewährte Helfer. Wenn etwas gut funktioniert, nimmt man es bei Bedarf immer wieder, das ist ganz normal. Gleichzeitig bedeutet dies aber auch den möglichen Einstieg in eine Medikamentenabhängigkeit.

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Lohse MJ, Müller-Oerlinghausen B (2019) »Psychopharmaka«, S. 928. Lohse MJ, Seifert J et al. (2021) »Psychopharmaka«, S. 690. Ebd., S. 691. Janhsen K, Roser P et al. (2015) Deutsches Ärzteblatt International, S. 1. Dasselbe gilt auch für die neueren Benzodiazepin-ähnlichen »Z-drugs« Zolpiden und Zopiclon.

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Sonderfall Lithium Sind also alle Medikamente in der Psychiatrie grundsätzlich problematisch? Wirken Psychopharmaka, wenn überhaupt, nur kurzfristig, schaden längerfristig mehr als sie nutzen und machen abhängig? So einfach ist es natürlich nicht. Es gibt durchaus Wirkstoffe, bei denen der Nutzen das Risiko klar überwiegt, wenn sie bei einer angezeigten Indikation und in der richtigen Dosierung verschrieben werden. Das beste Beispiel dafür ist wohl das Lithium. Als »Phasenprophylaktikum« bei manisch-depressiven Erkrankungen und zur Behandlung akut manischer Zustände ist die Wirksamkeit von Lithiumpräparaten schon seit den 1970er Jahren überzeugend belegt und bis heute unübertroffen.55 Neben einer guten Affektstabilisierung lässt sich für die Lithiumtherapie auch eine deutliche Senkung des Suizidrisikos bei bipolaren Patienten zeigen.56 Das ist besonders bedeutsam, schließlich nehmen sich fünfzehn bis zwanzig Prozent der nicht behandelten schwer manischdepressiven Menschen das Leben.57 Dass ausgerechnet die Salze eines Alkalimetalls, das man für die industrielle Batterien- und Keramikherstellung verwendet, auch die Stimmungsschwankungen von bipolaren Gemütern stabilisieren kann, ist einigermaßen verwunderlich. Und ein weiterer Beleg dafür, dass nicht planvolle pharmazeutische Innovation oder hypothesenbasierte Wirkstoffentwicklung, sondern glückliche Fügung und Forscherintuition zur Entdeckung neuer Psychopharmaka geführt hat. Erlauben Sie mir daher einen kleinen Schlenker in die erstaunliche Entdeckungsgeschichte der stimmungsstabilisierenden Wirkung des Lithiums.58 Auf der Suche nach körpereigenen Toxinen experimentierte der australische Psychiater John Cade in den 1940er Jahren mit Meerschweinchen. Eigentlich kaum überraschend, dass die armen Versuchstiere starben, wenn er ihnen Urinproben in den Bauchraum injizierte, die er zuvor von manischen und psychotischen Patienten gesammelt hatte. Er 55

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Z.B. Severus E, Bauer M et al. (2018) Pharmacopsychiatry; Geddes JR, Burgess S et al. (2004) American Journal of Psychiatry; Grof P, Müller-Oerlinghausen B (2009) Bipolar Disorders. Lewitzka U, Bauer M et al. (2013) Der Nervenarzt; Cipriani A, Hawton K et al. (2013) British Medical Journal. Z.B. Harris EC, Barraclough B (1998) British Journal of Psychiatry; Bradvick L, Mattisson C et al. (2008) Acta Psychiatrica Scandinavica. Die folgende Kurzgeschichte der Lithiumentdeckung basiert auf dem entsprechenden Kapitel in Harrington A (2019) »Mind Fixers«, S. 221ff.

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wollte genauer wissen, woran das liegt und wandte sich der Untersuchung von Harnsäure zu. Um die Harnsäure für die Injektionen in eine wasserlösliche Form zu bringen, setzte Cade den Proben ein Lithiumsalz zu. Zu seiner Überraschung starben die Meerschweinchen nach Injektion des hierbei hergestellten Lithiumurats nicht mehr (oder erst später). Er fragte sich, ob wohl das Lithium dafür verantwortlich sein konnte und experimentiert weiter mit Lithiumcarbonat-Lösungen. Was der Psychiater nun sah, verblüffte ihn: Die normalerweise schreckhaften und ängstlichen Tiere wurden gelassen und lethargisch. Selbst wenn Cade die lithiumbehandelten Meerschweinchen auf den Rücken drehte, blieben sie, offenbar zufrieden, einfach weiter so liegen. Nachdem der Forscher im Selbstversuch feststellte, dass die Einnahme von Lithiumcarbonat toxikologisch unbedenklich zu sein schien, verabreichte er die neue Entdeckung einigen an Schizophrenie erkrankten, manischen und chronisch depressiven Patienten in seiner Klinik. In Zeiten, als noch keine Ethikkommission über Nutzen und Risiken einer Arzneimittelstudie wachte – von der Einverständniserklärung der Patienten ganz zu schweigen – war dieses riskante Vorgehen gang und gäbe. In dieser ersten offenen klinischen Studie erkannte Cade, dass die psychotischen und depressiven Patienten zwar nicht auf das Lithium ansprachen, die manischen Patienten aber von der Behandlung profitieren. Und dies bisweilen in erstaunlichem Ausmaß. Sein manischer Patient mit den Initialen W.B. sei »ruhelos, schmutzig, destruktiv, boshaft und übergriffig« gewesen und hätte »seit langem als der schwierigste Patient auf der Abteilung« gegolten. Nach einigen Wochen Lithiumbehandlung sei W.B. ein anderer Mann gewesen. Am 9. Juli 1948 wurde er mit der Empfehlung, weiterhin täglich Erhaltungsdosen von Lithiumcarbonat zu nehmen, aus der Klinik entlassen und »arbeite bald wieder glücklich in seinem alten Beruf.«59 Dass es nach Cades erstaunlicher Entdeckung noch über zwanzig Jahre dauerte, bis Lithium einen festen Platz in der Pharmakotherapie bipolarer Störungen hatte, lag einerseits an der Skepsis seiner Fachkollegen, aber auch daran, dass die Pharmazeutische Industrie kein Interesse an einem natürlich vorkommenden, nicht patentierbaren Wirkstoff hatte. Dennoch ging die Forschung in Form einzelner, isolierter Studien weiter, vor allem in Skandinavien und Australien. Dabei wurde auch erkannt, dass es wegen der potenziellen Toxizität notwendig war, die Lithium-Blutspiegel

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Cade JFJ (1949) The Medical Journal of Australia, S. 350, zitiert in Harrington A (2019) »Mind Fixers«.

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der Studienteilnehmer regelmäßig zu kontrollieren.60 Am Ende setzten sich die überzeugenden klinischen Daten durch, Smith, Kline & French sowie Pfizer erklärten sich bereit, Lithiumsalze in pharmazeutischer Qualität herzustellen und zu vertreiben und 1970 erhielt Lithium auch in den USA die Zulassung durch die Arzneimittelbehörde FDA – Jahre nachdem Lithium in Europa bereits als registriertes Medikament auf den Markt war.61

Wirkmechanismen von Psychopharmaka kennen wir meist nicht Bei den Psychiatrie-Medikamenten gibt es eine immense Diskrepanz zwischen der Selbstverständlichkeit, mit der sie tagtäglich in großen Mengen verabreicht werden und dem gesicherten Wissen über die zugrunde liegenden Wirkungsmechanismen. Selbst Steven Hyman, ehemaliger Rektor der Harvard University und ein Silberrücken in der akademischen Psychiatrie, beklagt in einem Kommentar zum Stillstand der Psychopharmakologie, dass die Wirkmechanismen unserer Psychiatriemedikamente »über ein paar initiale molekulare Vorgänge hinaus nicht verstanden sind.«62 Lithium ist dafür das beste Beispiel. Bis heute haben die Pharmakologen nicht herausgefunden, wieso Lithium eigentlich wirkt. Auch hier zeigt sich ein wichtiger Unterschied zwischen dem Psychiatriefach und den Nachbardisziplinen in der klassisch somatischen Medizin. Bei der weitaus überwiegenden Mehrzahl der Medikamente, die außerhalb der Psychiatrie eingesetzt werden, hat man durchaus eine gute (wenn auch nicht vollständige) Vorstellung davon, weshalb etwas wirkt. Pharmakologen verstehen sehr wohl, über welche Mechanismen ein Blutdrucksenker den Blutdruck senkt oder warum Antibiotika bei Infektionskrankheiten helfen. Nicht selten ist es der Pharmazeutischen Industrie in den somatischen Disziplinen ja auch gelungen, Medikamente aufgrund von Erkenntnissen aus der Grundlagenforschung heraus zu entwickeln. Eine Idealvorstellung, die sich zum Leidwesen der Industrie bei der Entwicklung von Psychopharmaka bekanntlich nicht realisiert hat.

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Wegen der geringen therapeutischen Breite sind Blutspiegelkontrollen heute während der gesamten Dauer einer Lithiumbehandlung obligatorisch. Besonders die Gefahr einer fortschreitenden Nierenschädigung kann dadurch minimiert werden. Shorter E (2009) Bipolar Disorders. Hyman SE (2012) Science Translational Medicine.

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Dazu kommt, dass die Psychopharmaka, die uns zur Verfügung stehen, nur symptomatisch und keineswegs kausal und damit potenziell auch kurativ wirken. Wären die verfügbaren Behandlungen tatsächlich so wirksam, wie oft behauptet, müssten die Fallzahlen selbst bei zunehmenden Inzidenzen bald wieder absinken oder wenigstens stabil bleiben. Dies ist aber offenkundig nicht der Fall. Klar ist, dass sich immer mehr Menschen wegen psychischen Störungen in Behandlung begeben. Sowohl Psychotherapie-Verordnungen wie auch Psychopharmaka-Verschreibungen nehmen von Jahr zu Jahr immer weiter zu. Dies bedeutet zumindest, dass sich immer mehr Menschen selbst als psychisch krank empfinden. Sie suchen Hilfe, in der Regel erst einmal in der hausärztlichen Versorgung, und bekommen dort oft eine psychiatrische Diagnose und sei dies auch nur, um eine Therapie als Kassenleistung zu erhalten. Aufgrund der ICD-Codierung und den erbrachten Krankenkassenleistungen erscheinen die Hilfesuchenden nun auch in den offiziellen Krankheitsstatistiken. Und deren Kurven kennen seit Jahren bekanntlich nur eine Richtung, nach oben. Glaubt man den Epidemiologie-Statistiken, muss es um unser Innenleben wirklich schlecht bestellt sein. Der »Psychreport 2022« der Krankenkasse DAK berichtet gerade wieder einen neuen Höchststand bei Fehltagen durch psychische Erkrankungen.63 In den Ländern des Globalen Nordens nehmen die Diagnosen für Depressionen, Angst, Zwang, Sucht und Essstörungen immer weiter zu. Schon eine bundesweite Gesundheitsumfrage aus dem Jahr 1998 ergab, dass fast die Hälfte (42.6 Prozent) der Bevölkerung in Deutschland irgendwann im Leben einmal eine psychische Erkrankung erleidet. Dabei sind Frauen häufiger betroffen als Männer.64 Eine 2014 publizierte Nachfolgeuntersuchung ergab, dass etwa 28 Prozent aller Erwachsenen in Deutschland im Verlauf der vorangegangenen 12 Monate die Diagnosekriterien für eine oder mehrere psychischen Störungen erfüllte.65 Eine psychische Erkrankung zu haben ist also so gewöhnlich wie Bluthochdruck oder Übergewicht. Fest steht auch, dass Invalidisierungen aus psychischen Gründen immer häufiger werden. Dies zeigen erneut aktuelle Zahlen aus 63

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https://www.dak.de/dak/bundesthemen/psychreport-2022-2533048.html (letzter Abruf 28.1.2023). Ein psychischer Krankschreibungsfall dauerte 2021 durchschnittlich 39 Tage. Auch dies ist ein neuer Rekordwert. Die Verfasser des Berichts sehen die zusätzliche Belastung durch die Corona-Pandemie als Hauptgrund dafür. Schneider F, Falkai P, Maier W (2011) »Psychiatrie 2020«, S. 2. Jacobi F, Höfler M et al. (2014) International Journal of Methods in Psychiatric Research; Jacobi F, Höfler M et al. (2015) International Journal of Methods in Psychiatric Research.

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der Schweiz: An über der Hälfte der Invaliden-Neurenten, die 2020 im Land der Eidgenossen zugesprochen wurden, waren psychische Krankheiten »ursächlich beteiligt«66 – 1986 waren es noch zwanzig Prozent. »Psychische Erkrankungen häufigste Ursache für Erwerbsminderung« berichtet in einer Mitteilung Ende 2021 auch die Deutsche Rentenversicherung (DRV). 41.5 Prozent der erstmals gezahlten Erwerbsminderungsrenten für das Jahr 2020 seien auf psychische Leiden entfallen, erklärt Rüdiger Herrmann, Vorsitzender der Vertreterversammlung der DRV, auf der Webseite.67 Allen Statistiken zum Trotz ist unter Fachleuten umstritten, ob die Krankheitslast für psychische Störungen im Vergleich zu früher tatsächlich zugenommen hat.68 Dirk Richter, Leiter Innovationsfeld Psychische Gesundheit und psychiatrische Versorgung an der Berner Fachhochschule, geht dieser Frage schon seit langem nach und ist sich sicher, dass die psychischen Störungen nur vermeintlich zugenommen haben: »Bis heute hält sich in den Medien und in anderen Teilen der Öffentlichkeit hartnäckig die Vermutung der ansteigenden Häufigkeit psychischer Probleme in modernen Gesellschaften. Hintergrund sind zumeist Berichte über die deutlichen Steigerungsraten in der Inanspruchnahme von psychiatrischen oder psychologischen Therapien sowie von Fehlzeiten oder Rentenbegehren, die durch psychische Erkrankungen bedingt sind, wie sie regelmäßig von Krankenkassen berichtet werden. In der psychiatrischen Epidemiologie hingegen kann schon fast von einem Konsens gesprochen werden, welcher die vermutete Steigerung nicht bestätigt.«69 Auch Forscher vom Berliner Robert Koch Institut konnten in den Daten aus zwei großen Gesundheitsbefragungen in Deutschland (1997–1999 bzw. 2009–2012) keine veränderte Depressions-Prävalenz erkennen.70 Allerdings stieg die Inanspruchnahme professioneller Hilfe im zweiten Vergleichszeitraum deutlich an.71 66 67

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https://ind.obsan.admin.ch/indicator/monam/iv-neurenten-aufgrund-krankheit-alte r-18-rentenalter (letzter Abruf 28.1.2023). https://www.deutsche-rentenversicherung.de/Bund/DE/Presse/Pressemitteilungen/ pressemitteilungen_archive/2021/2021_11_30_psych_erkrankungen_erwerbsminder ung.html (letzter Abruf 28.1.2023). Siehe dazu auch Padberg T (2021) »Die Depressions-Falle«, S. 160f und Hasler F (2012) »Neuromythologie«, S. 116f. Richter D (2020) Psychiatrische Praxis, S. 349. Bretschneider J, Janitza S et al. (2018) BMC Psychiatry. Brandstetter S, Dodoo-Schittko F et al. (2017) Social Psychiatry and Psychiatric Epidemiology.

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Aus der Verkettung von zunehmender Inanspruchnahme medizinischer Hilfe (und somit zunehmenden Fallzahlen in der Statistik) bei eigentlich unveränderter Krankheitslast in der Bevölkerung ergibt sich das so genannte »Behandlungsparadox«: Wenn bei gleichbleibender Gesamtbelastung immer mehr Menschen behandelt werden, müsste die Zahl der Erkrankten doch eigentlich abnehmen. Das ist aber nicht der Fall – die »Behandlungslücke« wird nicht kleiner.72 Wie lässt sich das erklären? Am naheliegendsten: Psychopharmaka und Psychotherapien sind nicht wirksam genug, beziehungsweise erreichen die falschen Patienten. Einen anderen interessanten Erklärungsansatz für das Behandlungsparadox verfolgt die Gesundheitswissenschaftlerin Julia Thom vom Robert Koch Institut. »Menschen nutzen zunehmend psychologische Konzepte, um sich selbst zu beschreiben. Das scheint allerdings einen Beitrag dazu zu leisten, dass sie ihre psychische Gesundheit negativer einschätzen. Sie berichten zunehmend Symptome, die sie zuvor gar nicht wahrgenommen hätten.«73 Auch die wissenschaftliche Auswertung von Depressions-Aufklärungskampagnen in Australien in den 2000er Jahren hat zur großen Überraschung ergeben, dass ein besseres Wissen über Depressionen die Lage nicht verbessert, sondern sogar verschlimmert.74 Je intensiver sich die Australier im Rahmen dieser breit aufgezogenen Kampagnen über Depressionen informierten, umso depressiver nahmen sie sich selbst wahr. Ein klassischer »Looping-Effekt« war machtvoll in Gang gesetzt worden. »Unerwarteterweise schützte eine schlechte oder mittlere Wissenskompetenz über psychische Gesundheit signifikant vor Depressionen. Idealerweise sollten Initiativen im Bereich der öffentlichen Gesundheit zu einer Verbesserung der Gesundheit führen, was hier jedoch nicht der Fall zu sein scheint«, kommentierten die australischen Studienautoren.

Versprechung Präzision: Die personalisierte Psychiatrie Ohne Zweifel hat die massive Überverschreibung von Psychopharmaka mit all ihren individuellen und gesamtgesellschaftlichen Folgen ganz wesentlich mit der Biologisierung der Psychiatrie zu tun. Und mit immer fragwürdigeren

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Jorm AF, Patten SB et al. (2017) World Psychiatry. Zitiert in Padberg T (2021) »Die Depressions-Falle«, S. 162. Goldney RD, Eckert KA et al. (2010) Australian and New Zealand Journal of Psychiatry, S. 901.

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Mitteln wird versucht, die Illusion aufrechtzuerhalten, man wüsste in der Psychiatrie genau, was man tut – gerade im Hinblick auf die Verabreichung von Medikamenten. Bereits seit geraumer Zeit macht in diesem Zusammenhang ein neues Schlagwort die Runde: Die »personalisierte Psychiatrie«. Eine verheißungsvolle Wortschöpfung, die vorgibt, die Psychiatrie hätte das pathophysiologische Geschehen schon so tief durchdrungen und verstanden, dass man Patienten eine Präzisionsmedizin mit individuell maßgeschneiderten Behandlungen anbieten kann. Vielleicht noch nicht gerade heute, aber doch in absehbarer Zukunft. Ein weiteres haltloses Versprechen, ja man könnte sogar von groß angelegtem Etikettenschwindel reden. Und dies gleich in mehrfacher Hinsicht. »Personalisierte Psychiatrie« suggeriert zuerst einmal, dass das ganze Individuum mit all seinen Facetten, seiner Biographie, seinen Eigenheiten, Zielen und Wünschen in eine Therapieentscheidung miteinbezogen wird. Träte einmal der psychiatrische Ernstfall ein – wer würde sich dies nicht auch für sich selbst wünschen? In der Lesart der zeitgenössischen Psychiatrie bedeutet »personalisierte Medizin« aber keineswegs eine ganzheitliche Sichtweise, sondern das genaue Gegenteil davon, nämlich eine Reduktion der Person auf seine biologische Hardware. Erklärtes Ziel ist nämlich eine »Biomarker-basierte Therapievorhersage«. Dafür sollen unterschiedliche molekularbiologische Profile identifiziert werden, beispielsweise anhand von (Risiko-)Genkonstellationen oder pharmakogenetisch definierten Enzymvarianten, anhand derer dann entschieden wird, ob Medikament A oder B zum Einsatz kommt. Ein Etikettenschwindel, der auch dem Psychiater Bernhard Küchenhoff von der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich aufgefallen ist: »Es ist verblüffend, wie hier eine Begriffseinengung durchgeführt und machtvoll durchgesetzt wird, die einer kritischen Überprüfung in keiner Weise standhalten kann. Die Verkürzung oder Reduktion lässt sich eindeutig festmachen: Denn es wird in der angesprochenen Redeweise nur auf den Körper, die genetische Ausstattung und die biologischen Vorgänge Bezug genommen, alles andere, das Soziale, psychische Prozesse oder was in der Philosophie als die Sprache des Mentalen bezeichnet wird usw., wird weggelassen. Der Industrie und dem Markt mag man den werbewirksamen Effekt abnehmen, da eindeutig und beabsichtigt gerade der Bedeutungsüberschuss ausgenutzt wird und das tatsächlich gemeinte reduktionistische Programm geschickt verpackt wird.«75 Eigentlich wäre es doch viel angemessener, anstatt von »persona-

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Küchenhoff B (2012) Schweizer Archiv für Neurologie und Psychiatrie, S. 199.

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lisierter Medizin oder Psychiatrie« von »molekularbiologisch (ab)gestützter Medizin oder Psychiatrie« zu sprechen.76 Die »personalisierte Psychiatrie« ist auch deshalb ein Etikettenschwindel, weil alle wissenschaftlichen Voraussetzungen dafür fehlen. Wo sind denn die zuverlässigen molekularen Marker einer Schizophrenie oder einer Suchterkrankung, anhand derer sich individualisiert eine naturwissenschaftlich informierte Therapieentscheidung treffen ließe? Die Realität ist wirklich ernüchternd. Weder gibt es individuelle Störungsformen, die sich durch biologische Marker oder spezifische Genprofile unterscheiden ließen, noch gibt es passgenaue Psychopharmaka, die eine auch nur halbwegs selektive Wirkung entfalten. Und selbst in der naturwissenschaftlich deutlich besser aufgestellten somatischen Medizin funktioniert die »personalisierte Medizin« bislang nur in Ausnahmefällen. Das Brustkrebsmedikament Herceptin beispielsweise bindet an ein Protein, das Tumorzellen in unterschiedlichem Ausmaß ausbildet. Je mehr von diesem Protein eine Krebszelle exprimiert, desto besser ist die Wirksamkeit des Medikaments. Vor Therapiebeginn kann man die Tumorzellen typisieren und dadurch abschätzen, ob das Krebsmedikament wirksam sein wird oder nicht.77 Einige Medikamente können auch »personalisiert« verschrieben werden, wenn bekannt ist, ob der Patient den Wirkstoff aufgrund seiner individuellen Enzymausstattung schnell oder langsam metabolisiert. So können Unterbehandlung und Überdosierungen vermieden werden. Wobei man hier eher von Patienten-Stratifizierung als von personalisierter Medizin sprechen müsste.

Fragwürdige Gentests Auch für die Psychiatrie sind verschiedene molekulargenetische Tests entwickelt worden. Einer davon soll zeigen können, ob Antidepressiva die BlutHirn-Schranke gut oder schlecht überwinden. Mit diesem Test lässt sich seit einigen Jahren der »ABCB1«-Genotyp bestimmen und damit die Version eines Glykoproteins, das die Aufnahme von Fremdmolekülen in das Gehirn reguliert.78 Florian Holsboer, ehemaliger Direktor des Max-Planck-Instituts für

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Ebd. Demonty G, Bernard-Marty C et al. (2007) European Journal of Cancer. Breitenstein B, Scheuer S et al. (2016) Journal of Psychiatric Research. Die funktionelle Relevanz der beiden vom kommerziellen Test bestimmten SNPs auf die ABCB1-

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Psychiatrie in München und Mitgründer der Firma HMNC79 Brain Health, die den Gentest herstellt, sieht darin einen großen Durchbruch: »Wir können also mithilfe der Genotypisierung des ABCB1-Gens vorhersagen, ob ein Patient auf ein gegebenes Medikament ansprechen wird.«80 Eine maßlos überzogene Aussage, die sich mit wissenschaftlichen Daten nicht belegen lässt. Die wenigen bestehenden Studien zu ABCB1-Gentestung und Wirksamkeit von Antidepressiva kommen zu widersprüchlichen und schwer interpretierbaren Ergebnissen.81 Mitglieder der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft kommen in einem Übersichtsartikel zu Gentests und Antidepressiva-Behandlung zum Schluss, dass die Aussagen des Testherstellers »durch geeignete klinische Studien nicht gedeckt sind.«82 Ihr Fazit für die Praxis: »Aussagen, dass die Anwendung des Tests zu einer effektiveren Behandlung mit weniger Nebenwirkungen führe, können nicht als gesichert angesehen werden.83 Die Autoren raten daher von der Anwendung des Tests in der klinischen Routine auf Selbstzahlerbasis durch den Patienten ab – eine weitere Erforschung in klinischen Studien sei aber geboten. Und auch die allerhöchst offizielle »S3-Leitlinie Unipolare Depression« empfiehlt keine routinemäßige Genotypisierung im Rahmen einer Antidepressiva-Behandlung.84 Immerhin kann man durch die Gentestung sicher einen machtvollen Placebo-Effekt in Gang setzen. Wenn sich der Arzt schon die Mühe einer molekulargenetischen Untersuchung macht und dann Medikament und Dosierung auswählt, die genau zu mir passen – wer würde da nicht an eine Wirkung glauben?

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Gen-Expression und die Aktivität des P-Glykoproteins (ein wichtiges »Wächter«-Molekül der Blut-Hirnschranke) ist allerdings umstritten [Hodges LM, Markova SM et al. (2011) Pharmacogenetics and Genomics, zitiert in Bschor T, Baethge C et al. (2017) Der Nervenarzt, S. 497]. »Holsboer Maschmeyer Neuro Chemie« GmbH. Holsboer F (2011) »Die Zukunft der Depressionsforschung«. Skript zu einem Festvortrag an der Universität Leipzig, 21.10., S. 25. Siehe z.B. die Metaanalysen von Breitenstein B, Brückl TM et al. (2015) American Journal of Medical Genetics, oder Peterson K, Dieperink E et al. (2017) Psychopharmacology. Bschor T, Baethge C et al. (2017) Der Nervenarzt, S. 497. Ebd., S. 498. Schneider F, Härter M, Schorr S (2017) »S3-Leitlinie/Nationale Versorgungsleitlinie Unipolare Depression«.

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Einbildungen mit Einbildungen bekämpfen Wenn wir schon dabei sind: Der Placebo-Effekt ist ein großes Ärgernis für die biologische Psychiatrie. Wird in klinischen Studien ein neues Medikament geprüft, wird dies praktisch immer im Vergleich zu einem »wirkungslosen Placebo-Scheinpräparat« getestet. Dadurch, dass dem Placebo die Eichfunktion der Wirkungslosigkeit zukommt, soll sich die »echte« pharmakologische Wirkung des Testpräparats aufzeigen lassen. Nun sind Placebos aber alles andere als wirkungslos. Ganz im Gegenteil. Gerade in Psychopharmaka-Untersuchungen wird regelmäßig ein Großteil des gemessenen Effekts auch in der Placebo-Bedingung realisiert. Der Psychoanalytiker Peter Schneider spricht in seinem Buch »Normal, gestört, verrückt« von einer »gleichsam illegitimen Wirksamkeit« – zum Leidwesen der biologisch orientierten Psychiatrieforschung: »Die Vorstellung, dass man mit Einbildungen Einbildungen bekämpfen kann, ist keine sehr erbauliche Idee für eine biologische Psychiatrie, die angetreten ist, die Unschärfen psychischer Zusammenhänge durch die Klarheit biologischer Kausalität zu ersetzen. […] Man könnte sagen: Je ansprechbarer eine gewisse Störung auf Placebos ist, desto ›psychischer‹ ist sie. In dem Maße, wie Placebos bei einer bestimmten Störung wirken, wird diese Störung entbiologisiert.« Das lässt sich mit Vergleichszahlen aus einer Meta-Analyse zur Placebo-Antwort in Onkologiestudien anschaulich belegen. Immerhin bis zu etwa einem Viertel der Patienten hatten in Krebstherapiestudien auch unter der Placebo-Bedingung weniger Schmerzen oder besseren Appetit. Ein nachweisbarer Effekt auf den vorliegenden Tumor selbst oder auf Krebsmarker im Blut kamen dagegen gerade einmal bei 2.7 beziehungsweise 1.7 Prozent der Patienten vor.85 Zur Erinnerung, wie bereits ausgeführt, kann die Placebo-Antwort bei Antidepressiva-Studien gut und gerne 80 Prozent oder noch mehr betragen.86 Auch wenn die pharmazeutische Industrie dies naturgemäß anders sieht: Dass psychisches Leiden so gut auf Placebo-Behandlung anspricht, ist eine gute Nachricht. Für die Patienten und auch die behandelnden Ärzte. Sowohl aus rechtlichen Gründen (Irreführung! Betrug!) als auch aus praktischen Gründen (Google) gibt es zwar keine vorkonfektionierten Placebo-Spezialitäten, die die Apothekerin gegen Rezept aus der Schublade ziehen könnte. Gerade für den Hausarzt, der typischerweise in erster Instanz mit Befindlichkeitsstörungen 85 86

Chvetzoff G, Tannock IF (2003) Journal of the National Cancer Institute. Kirsch I, Moore TJ et al. (2002) Prevention and Treatment.

Kapitel 4: Psychiatrischer Neurozentrismus und seine Folgen

konfrontiert wird, eröffnet sich aber die Möglichkeit, ein »echtes« Medikament zu verschreiben – allerdings in einer nur minimalen Dosierung, die weit unter dem liegen kann, was auf dem Beipackzettel steht. Zur Begründung, warum man dieses Antidepressivum in einer Minidosierung ausprobiert, könnte der Arzt sogar bei der Wahrheit bleiben: »Es ist bekannt, dass dieses Vorgehen bei vielen Patienten zu einer deutlichen Besserung der Symptome führt.« Das ist noch nicht einmal gelogen. Gut möglich, dass die »körpereigene Gesundheitsversorgung«87 damit bereits anspringt. Gleichzeitig wäre das Risiko von Nebenwirkungen und Abhängigkeitsproblemen minimiert.

Letzte Hoffnung OMICS Doch noch einmal zurück zur »Präzisionspsychiatrie«. In der Hoffnung, dieses Versprechen doch noch zu erfüllen, setzt die biologische Psychiatrie neuerdings auf die relativ frisch formierten »OMICS«-Wissenschaften. Darunter versteht man eine Vielzahl neuer molekularbiologischer Technologien, mit denen unterschiedlichste Klassen biochemischer Prozesse auf Zellebene umfassend untersucht werden. Längst wurde die klassische Genomik systematisch ausdifferenziert. Um die neu entstandenen molekularbiologischen Teilgebiete kümmert sich nun die Metagenomik, Epigenomik, Transkriptomik, Proteomik, Metabolomik und Lipidomik.88 Gerne wird darauf verwiesen, dass diese neue »quantitative Biologie« eine datengetriebene Wissenschaft sei und nicht wie üblich auf Hypothesen gründet, die sich meistens irgendwann als falsch erweisen. Beim Versuch der krankheitsspezifischen Mustererkennung per OMICS-Medizin fallen riesige Datenmengen an. Viel zu viele und viel zu komplexe Daten, um von irgendeinem Wissenschaftler noch verstanden zu werden. Auch hier sollen deshalb Hochleistungscomputer ans Werk, um mit machine learning Algorithmen die Big Data zum Reden zu bringen.89 Aber was sollen uns die Supercomputer mit ihren Terabytes von OMICSDaten überhaupt sagen? Was zu Herrn Müller erklären, der schwer depressiv in der Notaufnahme sitzt? Dass dieser Plan nicht aufgehen kann, erläuterte

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Dieser Begriff für die Placebo-Antwort stammt vom italienischen Neurowissenschaftler Fabrizio Benedetti. Giordano GM, Pezzella P et al. (2020) Fortschritte der Neurologie – Psychiatrie. Bzdok D, Meyer-Lindenberg A (2018) Biological Psychiatry: Cognitive Neuroscience and Neuroimaging.

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unlängst auch der Psychiater und Psychotherapeut Markus Pawelzik in einem Artikel in der Zeitschrift Nervenheilkunde: »Der Patient ist ein Organismus aus Fleisch und Blut, dessen sozial eingebettete Omics-Dynamik ein Seelenleben hervorbringt. Bewusstsein, subjektive Wahrnehmungs-, Erlebens- und Handlungsperspektive, ein ›Netz‹ aus individuellen Bedeutungen, Präferenzen, Narrativen und Werten sind Merkmale, die Personen kennzeichnen. Wir können, um ein Beispiel zu bemühen, den depressiven Patienten Müller nicht verstehen, ohne um die Liebe zu seiner verstorbenen Frau, sein Festhalten an gemeinsamen Plänen und seinen Ärger über Bayern München zu wissen. Psychische Störungen, daran müssen Omics-Begeisterte gelegentlich erinnert werden, sind Störungen des Erlebens und Handelns, die sich auf der personalen Ebene manifestieren. Psychische Störungen, die allein anhand sub-personaler Merkmale diagnostiziert werden könnten, gibt es nicht.«90 Man könnte dazu noch kalauern, dass Präzisionspsychiatrie schon darum nicht funktioniert, weil Menschen sich einfach weigern, präzise psychische Störungen zu haben.

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Pawelzik MR (2019) Nervenheilkunde, S. 858.

Kapitel 5: Weiter wie immer und alles ganz anders Die Psychiatrie als Fachgebiet der Medizin ist in Bewegung. Diese Unruhe erscheint grundlegend und kann mit dem Begriff »Krise« nur unzureichend umschrieben werden. Bei vielen Professionellen und bei vielen Psychiatrieerfahrenen ist der Eindruck entstanden, dass sich grundlegend etwas ändern muss.1

Wie also soll es mit der Psychiatrie und der wissenschaftlichen Erforschung psychischer Störungen weitergehen? Was tun, wenn es einfach nicht gelingen will, das Fach durch biologische Krankheitssignaturen und kausale Diagnosen auf ein naturwissenschaftlich solides Fundament zu stellen? Hier gehen die Meinungen weit auseinander. Die namhaftesten Vertreter der biologischen und molekularen Psychiatrie haben schon seit Jahren die gleiche Forderung: Mehr Forschung! Schuld am bisherigen Misserfolg sei schließlich nur die Komplexität des Gehirns. Wir dürften nicht ungeduldig werden, denn der Durchbruch stünde kurz bevor. Dafür allerdings bräuchte man mehr neurowissenschaftliche und humangenetische (OMICS-)Forschung, bessere Hirnscanner, noch leistungsstärkere Großrechner und vor allem viel mehr finanzielle Mittel. In Gestalt hoch subventionierter Neuro-Großprojekte wurden all diese Forderungen tatsächlich erfüllt. Gleich mehrere neuropsychiatrische Big Science/Big Data Projekte wurden in der Zeit um 2012 angeschoben und laufen seitdem auf Hochtouren. Dazu gehören das viel diskutierte Human Brain Project, von der Europäischen Union mit einer Milliarde Euro alimentiert, und sein 1

Weinmann S (2019) »Die Vermessung der Psychiatrie«, S. 232.

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US-amerikanisches Gegenstück, die Brain Research through Advancing Innovative Neurotechnologies Initiative (kurz »BRAIN«). Werfen wir also einen Blick auf die Erkenntnisse aus einer Dekade Hirnforschung mit modernster Technologie und fast unbegrenzten Mitteln. Was haben wir über das Gehirn gelernt? Und was über psychiatrische Erkrankungen?

Neuro-Großprojekt I: Das Human Brain Project Richard Frackowiak ist ein humorvoller Brite und Mitinitiator des Human Brain Projects. 2014 hat der Neurologe eine Vorlesung an der Königlich Schwedischen Akademie der Wissenschaften gehalten und das Neuro-Mammutprojekt vorgestellt. Frackowiaks Vortrag in Stockholm steht exemplarisch für die Rhetorik, die das Human Brain Project in seiner frühen Phase begleitet hat. Darum soll der Vortrag hier vorgestellt werden (eine Aufzeichnung davon ist auf Youtube erhalten).2 Was also ist das Human Brain Project? »Eine zehnjährige europäische Initiative zum Anstoß einer globalen, gemeinschaftlichen Anstrengung, um das menschliche Gehirn zu verstehen.« Das Human Brain Project sei nicht primär ein Projekt zur Datenproduktion, sondern ein Projekt zu Datenintegration. Das heute noch fragmentierte Wissen aus den verschiedensten Betrachtungsebenen soll zusammengeführt werden, von der Mikroebene einzelner Gehirnzellen bis hinauf zur makroskopischen Betrachtung menschlichen Verhaltens. Und irgendwann einmal, vielleicht in fünfzehn oder zwanzig Jahren, soll daraus ein Funktionsschema, eine Blaupause des menschlichen Gehirns entstehen. Vielleicht liege sogar das viel beschworene »vereinigende Modell« in Reichweite. Frackowiak lässt seine Zuhörerschaft auch wissen, wie dies gelingen soll: Durch die Verknüpfung modernster Informationstechnologie mit den neuesten Methoden aus Neurowissenschaften, Biotechnologie und Mathematik. Und ganz am Ende des Projekts stehe dann die Simulation im Computer, eine experimentell modellierbare Version des menschlichen Gehirns in silico. Das Human Brain Project begann offiziell am 1. Oktober 2013 und wird als eines der »Flaggschiff«-Projekte des Future & Emerging Technologies Programm von der Europäischen Union mit einer Milliarde Euro gefördert. Was ist daraus geworden? Kurz vor Ende der Projektlaufzeit im Jahr 2023 ist absehbar, 2

Richard Frackowiak: »The Human Brain Project – the Medicine of Tomorrow«, https://www.youtube.com/watch?v=TaMVIACV-ek (letzter Abruf 28.1.2023).

Kapitel 5: Weiter wie immer und alles ganz anders

dass die ursprünglichen Ziele nicht im Entferntesten erreicht werden können. Dass auch hochgerüstete Hundertschaften von brillianten Wissenschaftlern mit Supercomputern eine »vereinheitlichte Theorie des Gehirns« mit entsprechend weitreichenden Folgen für unser Menschsein nicht erzwingen können, ist wenig überraschend. Das Problem ist viel mehr, dass dies von Anfang an klar war. Bereits 2014 haben mehr als achthundert Wissenschaftler das Projekt in einem offenen Brief an die EU scharf kritisiert. »Rebellion gegen das Milliardenhirn«, titelte damals die Süddeutsche Zeitung.3 Hauptkritikpunkt war, dass es in Wahrheit gar nicht darum ginge, das Gehirn zu verstehen. Stattdessen sei hier ein gigantisches Projekt zur Technologie-Entwicklung am Werk. Stein des Anstoßes war, dass die Kognitionsforschung im Zuge einer Neustrukturierung nun plötzlich nicht mehr zum Kern des Projekts gehören sollte. Es wurde klar, dass eine ganze Reihe von Hirnforschungslabors zum Ende der ersten Phase aus dem Projekt fliegen würde. Und damit war ebenso klar, dass einige Unterzeichner des Kritikbriefs nicht ganz uneigennützig handelten. Auch der dominante Führungsstil des gleichermaßen charismatischen wie geschäftstüchtigen Human Brain Project Erfinders4 Henry Markram geriet unter Beschuss. Im Zuge eines Mediationsverfahren wurde der Starwissenschaftler entmachtet und die Verantwortlichkeiten für die verschiedenen Teilbereiche des reorganisierten Projekts neu aufgeteilt. Die erzwungene Neuausrichtung hat das Human Brain Project entzaubert und die visionären Ziele von einst radikal revidiert. Aus dem »Apollo-Projekt des Geistes«5 ist ein Projekt zur Entwicklung »eines breiten Spektrums modernster Informationstechnologien und einer sehr umfangreichen neurowissenschaftlichen Datenbasis [geworden], um Fragen von großer Komplexität zu lösen«, wie sich Katrin Amunts, Leiterin des Human Brain Project Teilbereichs Strategic Human Brain Data in einem Artikel der Zeit ausdrückte.6 Besonders mit Blick auf ein neues Verständnis von Gehirnerkrankungen und Veränderungen der klinischen Praxis ist das Human Brain Project zu einem Lehrstück in Überverkaufen und Zurückrudern geworden. So las sich die Zukunftsvision für die Bedeutung in der Medizin auf der Webseite des Human Brain Projects noch im Juli 2013: »In der Medizin wird das Human

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Gast R (2014) Süddeutsche Zeitung vom 10.7. Zusammen mit IBM lancierte Markram 2005 an der ETH Lausanne das Blue Brain Project, aus dem heraus das Human Brain Project entstand. Schnabel U (2019) Die Zeit vom 28.11. Ebd.

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Brain Project zum ersten Mal die objektive Klassifizierung von Gehirnerkrankungen ermöglichen. Das Projekt wird Informationstechnologie-Werkzeuge entwickeln, mit denen Forscher klinische Daten für das gesamte Spektrum psychiatrischer und neurologischer Erkrankungen analysieren, Modelle für Gehirnerkrankungen entwerfen und schließlich deren Ursachen in Simulationen untersuchen können. Dies wird es Forschern ermöglichen, Krankheiten systematisch zu erfassen, personalisierte Früherkennung und Behandlung zu leisten, Ursachenmechanismen aufzuspüren und Medikamente auf Wirksamkeit und Nebenwirkungen zu untersuchen, bevor teure Tierversuche und Humanstudien durchgeführt werden. Diese Innovationen werden die Wettbewerbsposition europäischer Pharmaunternehmen stärken, die steigende Belastung der nationalen Gesundheitsdienste durch Gehirnkrankheiten verringern und zum Wohlergehen von zig Millionen Patienten und ihren Familien beitragen.«7

Neue Bescheidenheit Geradezu bescheiden kommt die aktualisierte Forschungsvision des Human Brain Projects auf der gleichen Webseite zehn Jahre später daher: »[Die Vision des Human Brain Projects] ist es, durch den Aufbau einer europäischen Forschungsinfrastruktur das Verständnis von Struktur und Funktion des menschlichen Gehirns zu vertiefen, indem verschiedenste Disziplinen und Computertechnologie genutzt und Wissenschaft, Informations- und Kommunikationstechnologie sowie Medizin zum Wohl der Gesellschaft vorangebracht werden.«8 Auch was den Bereich Medizin angeht – nun im Wesentlichen reduziert auf die Bildung einer Datenverbund-Plattform – bleiben die Verantwortlichen lieber im Allgemeinen: »Die Medical Informatics Platform des Human Brain Projects strebt an, die Gehirnmedizin voranzutreiben, indem mithilfe von Informatik Forschern auf der ganzen Welt ermöglicht wird, medizinische Daten unabhängig von ihrem Speicherort zu nutzen und machine-

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www.humanbrainproject.eu/in_brief.html, Version vom 3.7.2013, über das Internetarchiv wayback machine (letzter Abruf 5.3.2021). https://www.humanbrainproject.eu/en/science/vision-mission (letzter Abruf 26.1.2023).

Kapitel 5: Weiter wie immer und alles ganz anders

learning Werkzeuge zu erstellen, die diese Daten nach neuen Erkenntnissen zu gehirnbedingten Erkrankungen absuchen können.«9 Selbstverständlich ist bei der milliardenschweren Forschung im Human Brain Project auch nicht Nichts herausgekommen. Am offenkundigsten ist die riesige Flut an beeindruckenden Gehirnbildern, Gehirnfilmen und 3DAnimationen. Das war zu erwarten, schließlich lag der Fokus des Projekts ja auf massive computing Technologien, Neuroinformatik und neuen Visualisierungsstrategien für Forschungsdaten. Jenseits spektakulärer Bilder aus der Grundlagenforschung kann auch die Neurologie Erkenntnisgewinne verbuchen. So läuft zwischenzeitlich eine klinische Studie, die untersucht, ob sich mit Hilfe eines auf der Plattform EBRAINS entwickelten Rechenwerkzeugs gezieltere Operationen bei Epilepsiepatienten durchführen lassen.10 Das Human Brain Project ermöglicht auch Grundlagenforschung zur Entwicklung von Hirnimplantaten, die durch Stimulation des visuellen Cortex Blinden eines Tages vielleicht ihre Sehfähigkeit zurückgeben könnte.11 Unter der Rubrik »Höhepunkte und Erfolge« wird auf der Human Brain Project Webseite erwähnt, dass ihre Forschung »bisher zu über 2200 Veröffentlichungen in Fachzeitschriften, einzigartigen neuen Forschungsinfrastrukturen und hochrangigen wissenschaftlichen Veranstaltungen« geführt habe.12 Auf der gleichen Seite werden mehr als hundert dieser wissenschaftlichen Highlights näher vorgestellt. Das meiste davon betrifft Neuroinformatik, Neurorobotik, neuroanatomische und neurofunktionelle Grundlagenforschung sowie Neurologie-Projekte. Und genau einen Eintrag unter »Höhepunkte und Erfolge« kann das Human Brain Project für den Bereich Psychiatrie auflisten. Im April 2022 berichtet die Webseite, dass Human Brain Project Wissenschaftler auf der Neuroinformatik-Plattform The Virtual Brain ein Gehirnmodell aus individuellen EEG- und MRT-Daten von drei depressiven Patienten erstellt haben, das es Forschern dereinst einmal erlauben soll, besser vorherzusagen, wie Patienten auf tiefe Hirnstimulation reagieren.13 Einmal mehr bestätigt sich der Verdacht, dass Psychiatrie nicht einfach nur eine Sonderform der Neurologie 9 10 11 12 13

https://www.humanbrainproject.eu/en/medicine (letzter Abruf 26.1.2023). Wang HE, Scholly J et al. (2020) Journal of Neuroscience Methods. Chen X, Wang F et al. (2020) Science. https://www.humanbrainproject.eu/en/science-development/scientific-achievement s/highlights (letzter Abruf 26.1.2023). An S, Fousek J et al. (2022) NeuroImage. »Reagieren« in Bezug auf Veränderungen in den resting state Netzwerken – nicht, ob die Hirnstimulation auch therapeutisch wirksam sein wird.

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ist, sondern etwas grundlegend Anderes. Und dass Hirnforschungs-Großprojekte und Computer-Hightech nicht dafür geeignet sind, zu ergründen, warum Menschen psychotisch oder depressiv werden. Geschweige denn, was im Sinne einer evidenzbasierten Medizin dagegen zu tun ist. Vom größten Verkaufsargument des Projekts, dem Nachbau des menschlichen Gehirns in silico, spricht ohnehin schon lange niemand mehr. Dabei gaben bereits Ende 2015 Henry Markram von der ETH Lausanne und seine Forscherkollegen bekannt, dass es ihnen gelungen sei, einen Teil des Ratten-Neocortex digital zu rekonstruieren.14 Ohne Zweifel eine bewundernswerte Pionierarbeit, deren wissenschaftliche Komplexität an die hundert Neurowissenschaftlerinnen und Informatiker aus zwölf Institutionen mehr als zehn Jahre lang beschäftigt hatte. Die Simulation umfasst ein Rattenhirnvolumen von gerade einmal 0.29 ± 0.01 Kubikmillimeter, darin befinden sich etwa 31’000 Neuronen.15 Der nun detailreich im Großcomputer simulierte Hirnbereich entspreche gerade einmal der Größe eines Sandkorns, kommentierte Moritz Helmstaedter, Direktor am Max-Planck-Institut für Hirnforschung in Frankfurt, die Lage in einem Interview mit der Zeit.16 Und fand für die verbleibende Wegstrecke zur Simulation des menschlichen Gehirns einen schönen Vergleich: »Das ist, als würde man sagen: Ich will zum Mond, und ich habe hier schon einmal eine Leiter an diesen Baum gelehnt.«

Neuro-Großprojekt II: BRAIN Initiative Kaum bescheidener kommt das US-amerikanische Gegenstück zum Human Brain Project daher. Auch die BRAIN Initiative17 , im April 2013 vom Weißen Haus noch unter Präsident Obama angekündigt, »zielt darauf ab, unser Verständnis des menschlichen Gehirns zu revolutionieren.«18 Durch den Einsatz innovativer Technologien soll es Forschern gelingen, ein »revolutionär neues und dynamisches Bild des Gehirns zu erzeugen«, lässt uns die Webseite des Projekts wissen. »Dieses Bild des Gehirns wird große Lücken in unserem gegenwärtigen Wissen schließen, so wie es sich Forscher seit langem wünschen, die nach

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Markram H, Muller E et al. (2015) Cell. Ebd., S. 456. Schnabel U (2019) Die Zeit vom 28.11. »Brain Research through Advancing Innovative Neurotechnologies« https://braininitiative.nih.gov (letzter Abruf 26.1.2023).

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neuen Wegen suchen, Gehirnerkrankungen zu behandeln, zu heilen und gar zu verhüten.«19 Im Unterschied zum Human Brain Project hatte die amerikanische Antwort auf das europäischen Konkurrenzprogramm nie die Absicht, das Gehirn im Computer zu simulieren. Stattdessen sollen in der ersten Phase der Initiative die Forschungswerkzeuge der nächsten Generation entwickelt werden – Optogenetik, hochauflösende Bildgebung und Nanotechnologie sind hier die Stichworte. Damit sollen sich später die verschiedenen Zelltypen und Schaltkreise des Gehirns sukzessive analysieren und systematisch erfassen lassen. Und wenn alles gut geht, stehe am Ende »die erste dynamische Ansicht des menschlichen Gehirns in Aktion, die zeigt, wie seine rund 86 Milliarden Neuronen und seine Billionen von Verbindungen in Echtzeit miteinander interagieren.«20 Genug Geld für den ehrgeizigen Plan müsste eigentlich da sein. Das Gesamtbudget der BRAIN Initiative mit einer Laufzeit von zwölf Jahren wurde mit 4.5 Milliarden Dollar veranschlagt.21 Auch eine Marschroute wurde festgelegt: Von 2016 bis 2020 sollen neue Technologien entwickelt und validiert werden. Und von 2020 bis 2025 sollen diese neuen Technologien dann praktische Anwendung finden, »um grundlegend neue Entdeckungen über das Gehirn zu machen.«22 Und ja, auch für die BRAIN Initiative musste der Vergleich mit der Mondlandung herhalten. Hier kam die lunare Allegorie vom Direktor der National Insitutes of Health und damit von höchst offizieller Stelle. Tausende der kreativsten Köpfe seines Landes müssten für dieses ambitionierte Ziel über eine lange Strecke zusammenarbeiten, erklärte NIH-Direktor Francis Collins 2014 in einer Mitteilung der amerikanischen Gesundheitsbehörde.23 Der Vergleich mit der Mondfahrt ist nicht nur arg strapaziert, er hinkt auch gewaltig. Als Präsident Kennedy im Mai 1961 bekannt gab, dass zum Ende der Dekade ein Mensch auf dem Mond stehen soll, war in Grundzügen bereits das Wissen 19 20 21

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Ebd. Francis Collins, NIH director’s blog vom 30.9.2014, https://directorsblog.nih.gov/2014/ 09/30/brain-launching-americas-next-moonshot (abgerufen am 26.1.2023). »NIH embraces bold, 12-year scientific vision for BRAIN Initiative« (2014) National Institutes of Health (NIH), https://www.nih.gov/news-events/news-releases/nih-em braces-bold-12-year-scientific-vision-brain-initiative (letzter Abruf 26.1.2023). Ebd. Francis Collins, NIH director’s blog vom 30.9.2014, https://directorsblog.nih.gov/2014/ 09/30/brain-launching-americas-next-moonshot (letzter Abruf 26.1.2023). Ob Collins mit dem Apollo-11-Astronauten Michael Collins verwandt ist, ist nicht bekannt.

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verfügbar, das es dafür brauchte. Ausgehend von bekannten und berechenbaren Faktoren – von den astrophysikalischen Naturgesetzen bis zu den Erfordernissen an einen Raketenantrieb – war absehbar, wie es im Prinzip funktionieren könnte. Was es dann noch brauchte, war eine gigantische gemeinschaftliche Anstrengung von Wissenschaftlern und Technikern, innovative Ingenieurskunst und heroische Raumfahrtpioniere, die bereit waren, für den giant leap ihr Leben aufs Spiel zu setzen. Bei den neurowissenschaftlichen Großprojekten ist die Ausgangslage eine ganz andere. Wir tappen noch immer völlig im Dunkeln, nach welchen Gesetzmäßigkeiten das Gehirn überhaupt funktioniert. Und erst recht haben wir keinen Plan, wie aus diesen Gesetzmäßigkeiten heraus Bewusstsein entstehen kann. Die Ankündigung einer naturalistischen Computersimulation des menschlichen Gehirns zum heutigen Zeitpunkt ist etwa so überzeugend, als hätte ein mesopotamischer Priester in der Antike verkündet, dass er nun eine Photovoltaikanlage bauen lässt.

Neuro-Großprojekt III: Konnektomik Auch die gerade boomende Konnektom-Forschung24 kann man als vernetztes Neuro-Großprojekt und als Musterbeispiel hochindustrialisierter Wissenschaft begreifen. Ziel der connectomics Wissenschaftler ist es, die Gesamtheit aller neuronalen Verknüpfungen innerhalb eines Gehirns zu kartographieren. Um an die große Matrix heran zu kommen, haben sich Bioinformatiker und Neurowissenschaftlerinnen bereits 2009 im Human Connectome Project zusammengeschlossen. Dem Forschungsverbund gehören ein Dutzend US-amerikanische Universitäten mit zwischenzeitlich mehr als vierzig Forschungsgruppen an, die mit funktioneller Magnetresonanztomographie und Diffusions-Tensor-Bildgebung25 den Beziehungsstatus unserer Nervenzellen klären wollen. Harvard Professor Jeff Lichtman, eine Koryphäe der 24

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Der Begriff »Konnektom« für die Gesamtheit aller Verbindungen innerhalb eines Nervensystems wurde 2005 von den Neurowissenschaftlern Olaf Sporns, Giulio Tononi und Rolf Kötter sowie von Patric Hagmann von der ETH Lausanne geprägt [Sporns O, Tononi G et al. (2005) PLoS Computational Biology; Hagmann P (2005) Dissertation]. Die Diffusions-Tensor-Bildgebung (»diffusion tensor imaging«) ist eine Variante der Magnetresonanztomographie. Das Verfahren misst die Diffusionsbewegung von Wassermolekülen im Gewebe und stellt diese räumlich aufgelöst dar. So wird eine 3D-Rekonstruktion von Nervenbahnen im Gehirn möglich.

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Konnektom-Forschung, hat einen anderen Weg gewählt. Sein Labor hat eine Technologie entwickelt, die sich Automatic Tape-Collecting Lathe Ultramicrotome nennt.26 Lichtmans Hightech-Hobel schneidet Gehirngewebe automatisiert in 30 Nanometer dünne Scheiben. Diese hauchfeinen Gewebeproben landen über ein Förderbandsystem in Lichtmans Elektronenmikroskop, das dann seriell hochaufgelöste Bilder der Nervenzellen und ihrer Verbindungen macht. Klar, dass dabei enorme Datenmengen anfallen. Das Datenvolumen, das bei der Erfassung der neuronalen Verschaltungen eines kompletten Rattengehirns anfallen würde, hat Lichtman vorsorglich schon mal abgeschätzt. Mit einem Exabyte müsse man mindestens rechnen, das entspricht einer Milliarde Gigabyte.27 Die vollständige Kartierung des menschlichen Cortex – schließlich das erklärte Ziel der Konnektom-Forscher – würde dann Speicherplatz in der Größenordnung von tausend Exabyte benötigen. Kein Speichersystem der Welt wäre heute auch nur annähernd in der Lage, solche Datenmassen zu verwalten. Weiterzumachen lohne sich trotzdem, sagen die Konnektom-Forscher. Denn im Prinzip seien im Konnektom alle notwendigen Informationen enthalten, um das Gehirn in seiner Ganzheit zu verstehen. Sollte die Darstellung dieses gigantischen Schaltschemas gelingen, wäre dies wahrhaftig eine technologische Großtat. Und natürlich erhoffen sich auch die KonnektomForscher für den Erfolgsfall ein weitreichendes neues Verständnis. Man könne das Gehirn dann irgendeiner hypothetischen Situation aussetzen und hätte eine gute Vorstellung davon, wie es darauf reagiert.28 Doch kann das überhaupt funktionieren? Immer mehr Neurowissenschaftler glauben selbst nicht mehr daran, dass das fleißige Sammeln allumfassender hirnfunktioneller Daten und das immer präzisere Kartieren von Abermillionen von neuroanatomischen Details wirklich zu einem tieferen Verständnis führt. Gerade in der jüngsten Generation von Neurowissenschaftlern macht sich Skepsis breit. Im Wissenschaftsmagazin Nautilus Quarterly berichtet der Harvard Neuroscience Doktorand Grigori Guitchounts von eigenen Erfahrungen mit Big Data und seinen Zweifeln an der Sinnhaftigkeit der neurowissenschaftlichen Sammelwut: »Wir kartographieren das Ge-

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https://cbs.fas.harvard.edu/science/connectome-project/atlum 19.3.2021). Lichtman JW, Pfister H et al. (2014) Nature Neuroscience. Guitchounts G (2020) Nautilus Quarterly.

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hirn in unglaublichem Detailreichtum – aber unser Gehirn kann es nicht verstehen.«29 Guitchounts Erläuterungen sind gewissermaßen ein Augenzeugenbericht, schließlich beschäftigt er sich ganz praktisch mit dem Erfassen und Auswerten von Hirnforschungsdaten. Und große Datenmengen fallen auch bei ihm an. In Guitchounts Aufsatz erfahren wir, dass auf den Servern des Harvard High Performance Computing Center 48 Terabyte an Daten gespeichert sind, die er für seine Doktorarbeit beim Experimentieren am visuellen Kortex von Ratten erfasst hat. Zur Untersuchung der Frage, welche Teile des visuellen Systems im Rattengehirn auf Bewegung reagieren, habe er 13 Billionen einzelne Messwerte aufgezeichnet. Doppelseitig gedruckt würde dies 116 Milliarden A4-Seiten ergeben.30 Derart gewaltige Datenmengen fallen dieser Tage in den empirisch arbeitenden Neurowissenschaften an, selbst wenn man nur einen einzigen – und verhältnismäßig einfachen – Sachverhalt untersucht.31 Dabei sei das Erfassen der experimentellen Daten noch das Leichteste. Es ist vielmehr die Aussicht auf eine zukünftige Neurowissenschaft mit »großen Daten und kleinem Verständnis«, die Doktorand Guitchount Sorgen macht: »Technologie hat es uns einfach gemacht, gigantische Datensätze zu sammeln, aber ich bin mir nicht sicher, ob das Verständnis vom Gehirn mit der Größe der Datensätze Schritt halten konnte.«

Letzte Hoffnung Maschinenintelligenz Tatsächlich ist davon auszugehen, dass auch die größten Genies unserer Spezies niemals in der Lage sein werden, die neurowissenschaftlichen Big Data Kraft ihres Verstandes zu durchdringen und darin Muster und Regelhaftigkeiten zu erkennen. Die schiere Komplexität, die sich aus der immer besser werdenden räumlichen und zeitlichen Auflösung neuronaler Morphologie und Aktivität ergibt, übersteigt jedes menschliche Auffassungsvermögen. 29 30 31

Ebd. Wer es bildhaft mag: Doktorand Guitchounts Datenausdruck ergäbe aufgeschichtet einen mehr als elftausend Kilometer hohen Papierstapel. Die meisten Neurowissenschaftler werden einwenden, im Gehirn sei nichts »einfach«. Dennoch macht es wohl einen Unterschied, ob man einen vergleichsweise mechanistisch organisierten neurophysiologischen Prozess untersucht oder ob man verstehen möchte, was unser Gehirn macht, wenn wir lieben, beten, ein Verbrechen planen oder depressiv werden.

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Aber vielleicht ist das auch gar nicht nötig? Längst ruhen die Hoffnungen der Konnektom-Forscher auf Computerintelligenz und Maschinenlernen. Ganz besonders die deep learning Algorithmen, die in den letzten zwanzig Jahren entwickelt wurden, leisten ja bereits Außerordentliches. Schon seit Jahren tritt kein menschlicher Schachweltmeister mehr in einem Turnier gegen ein Schachprogramm an. Weil es einfach sinnlos geworden ist.32 Den Wissenschaftlern bleibt gar nichts anderes übrig, als darauf zu hoffen, dass raffinierte Lernalgorithmen künftiger KI-Generationen durch dynamische Mustererkennung dereinst in ihren Exabytes von Konnektomdaten Gesetzmäßigkeiten entdecken, die ihnen selbst verborgen bleiben. Zunehmend kommt auch der Verdacht auf, dass in den verschiedenen Neuro-Großprojekten die ungelösten Probleme von gestern einfach auf die nächste Komplexitätsstufe verschoben wurden. In einer Art wissenschaftsideologischer Trotzreaktion will man den ausbleibenden Durchbruch mit der Brechstange erzwingen. Man rennt weiterhin in die gleiche Richtung, nun aber mit doppeltem Tempo. Dass die ungelösten Probleme der Psychiatrie auch auf der neuen Komplexitätsstufe ungelöst bleiben werden, davon ist leider auszugehen. Bioreduktionismus bleibt Bioreduktionismus. Für die praktische Psychiatrie zumindest haben die laufenden Neuro-Großprojekte noch keinen erkennbaren Wissenszuwachs gebracht. Mit Blick auf die lauter werdende Kritik hat die altbekannte Mehr-vom-Gleichen-Strategie immerhin den Vorteil, dass man Zeit gewinnt und einfach so weitermachen kann wie bisher. Eine originelle Erklärung für die fehlende »Translation« von biologischem Grundlagenwissen in die patientenorientierte Forschung hat der ehemalige DGPPN-Präsident Peter Falkai gefunden. In einem Symposium an der DGPPN-Konferenz 2020 war von ihm zu erfahren, dass nicht die mangelhaften Forschungsergebnisse schuld sind an der Misere, sondern die Psychiater. Offenbar hält Falkai seine Kollegen, salopp formuliert, für zu blöd, schlecht ausgebildet oder einfach desinteressiert: »Ein wesentliches Problem ist das Fehlen von qualifizierten Forschern, die als ausgebildete Fachärzte für Psychiatrie und Psychotherapie eine ausreichende Forschungskompetenz

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Nach Vorgaben des Weltschachverbands wird die Spielstärke eines Schachspielers in der ELO-Zahl ausgedrückt. Zum Vergleich: Ein sehr guter Amateurspieler im Schachverein hat um 1800 bis 1900 ELO-Punkte. Den bislang höchsten Wert eines menschlichen Spielers (ELO-Zahl 2882) hat Schachweltmeister Magnus Carlsen im Mai 2014 erreicht. Gute Schachprogramme erreichen heute bereits ELO-Zahlen von weit über 3500 (Stand Januar 2023, http://ssdf.bosjo.net/list.htm).

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haben um grundlagenwissenschaftliche Ergebnisse zu verstehen und ihre Translation in die krankheits- und patientenorientierte klinische Forschung voranzutreiben.«33 Interessant ist auch die Überlegung, was denn überhaupt gewonnen wäre, wenn es eines Tages tatsächlich gelänge, das Konnektom eines menschlichen Gehirns vollständig zu kartieren. Man hätte die Schnappschuss-Aufnahme des neuronalen Hardware-Zustands eines bestimmten Individuums zu einer bestimmten Zeit. Wir hätten gerade einmal eine mögliche Ausgestaltung neuronaler Vernetzung dokumentiert – in einem Möglichkeitsraum von fast unendlich vielen anderen. Schuld daran ist die Neuroplastizität. Das Gehirn ist bekanntermaßen ein extrem dynamisches Organ, dessen neuronale Ausstattung sich im permanenten Umbau befindet, 24 Stunden pro Tag, Sekunde für Sekunde.34 Ein statisches Konnektom kann die reale Dynamik neuronaler Nerzwerke daher niemals erfassen. Um die Veränderungen der neuronalen Verschaltungen über die Zeit realistisch abzubilden, müsste man also an einem lebenden Gehirn alle paar Sekunden ein neues Konnektom aufzeichnen. Unnötig zu erwähnen, dass dies völlig unmöglich ist.

Neuroplastizität: Im Extremfall reicht auch ein halbes Gehirn Maximale Anpassungsfähigkeit an die Umwelt durch immerwährende Veränderung ist ein fundamentales Funktionsprinzip unseres Gehirns. Über den extremen Grad der Wandlungsfähigkeit unseres Zentralorgans sind Neurologen bei ihrer klinischen Tätigkeit oft erstaunt. Denn immer wieder kommt es vor, dass sie per Zufallsbefund schwere morphologische Abweichungen eines Gehirns vom Sollzustand gemäß Lehrbuch feststellen. Trotzdem haben die Träger dieser Gehirne häufig keine besonderen Einschränkungen, bisweilen noch nicht einmal Symptome. Außerordentliche Fälle neuroplastischer Ausgestaltung ohne nennenswerte Beeinträchtigung sind schon lange in der neurologi33 34

Falkai P (2020) DGPPN, Symposium S-024. »Wichtige Ansätze der Translation in der Biologischen Psychiatrie«, DGPPN-Konferenz 2020, Abstract S-024. Neuroplastizität erfolgt gleichzeitig entlang verschiedener Zeitskalen. Genetische Prozesse, neuronale Entwicklung und Hirnreifung sind meist langsame Vorgänge im Bereich von Tagen bis Jahren. Lernprozesse (oder ganz allgemein Erfahrungen) bewirken Veränderung der synaptischen Vernetzung im Bereich von Minuten bis Stunden. Neuromodulatoren, Neurotransmittoren und Hormone beeinflussen neuronale Aktivität und Verschaltung bereits im Bereich von Sekunden bis Minuten.

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schen Fachliteratur dokumentiert.35 Bekannte Beispiele sind ein Mathematikstudent mit IQ 126, bei dem etwa 95 Prozent seines Schädelraumes mit Hirnflüssigkeit gefüllt ist,36 oder ein siebenjähriges Mädchen, bei dem eine ganze Hirnhälfte chirurgisch entfernt wurde und nach Ablauf der Regenerationszeit ein annähernd symptomfreies Leben führt.37 2015 wurde in der Neurologie-Zeitschrift Brain eine vollständige »zerebelläre Agenesie« vorgestellt – die Patientin hat überhaupt kein Kleinhirn. Eine echte Seltenheit. Lediglich neun solcher Fälle sind in der Fachliteratur bislang beschrieben. Wobei »Patientin« eigentlich unzutreffend ist. Denn obwohl im dicht gepackten Zerebellum etwa die Hälfte aller Gehirnneuronen sind, hat die junge Frau kaum Symptome. In die neurologische Abklärung gelangte die Chinesin wegen unspezifischer Beschwerden wie Schwindel und Übelkeit. Auf Nachfrage der Ärzte zeigte sich, dass die Frau ohne Kleinhirn schon immer Probleme mit dem Gehen und als Kind auch mit dem Sprechen hatte. Noch heute ist ihr Gang unsicher und ihre Aussprache etwas undeutlich. Ansonsten – alles bestens: Die 24-Jährige ist verheiratet, hat eine Tochter und führt ein ganz normales Leben.38 Bei angeborenen neurologischen Schädigungen dieser Größenordnung wird oft das Redundanzargument ins Feld geführt. Diese nicht unumstrittene Hypothese besagt, dass viele Funktionen im Gehirn an mehreren Orten, gewissermaßen doppelt und dreifach, angelegt sind. Willkürliche Bewegungssteuerung und Feinmotorik, die Kernkompetenz des Kleinhirns, kann bei Bedarf ganz offensichtlich auch von anderen Hirnarealen bewerkstelligt werden. Zwar nicht perfekt, aber immerhin ausreichend. Neuroplastizität und funktionelle Redundanz sind sicher wichtige Erklärungsansätze. Doch letzten Endes kommen die Neurologen bei der Beurteilung schwerer morphologischer Hirnveränderungen ohne die zu erwartenden Symptome immer zum gleichen Schluss: Eigentlich wissen wir nicht, wie so etwas möglich ist. Die Tatsache, dass man bisweilen auch mit schweren Hirnanomalien gut über die Runden kommt, stellt aber auch die Sinnhaftigkeit der Konnektom-Forschung grundsätzlich in Frage. Lohnt sich der Aufwand, für Milliardensummen Neuron für Neuron und Synapse für Synapse systematisch zu kartieren, wenn man unter Umständen auch mit der Hälfte davon auskommen kann?

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Siehe dazu auch Hasler F (2016) Der Beobachter. Lewin R (1980) Science. Borgstein J, Grootendorst C (2002) Lancet. Yu F, Jiang QJ et al. (2015) Brain.

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Britische Psychologen proben den Aufstand Es gibt aber auch Gegenstimmen, die nicht »Mehr vom Gleichen«, sondern eine radikale Abkehr vom dominierenden Neurozentrismus und einen fundamentalen Paradigmenwechsel in der Psychiatrie verlangen. Federführend sind hier die Klinischen Psychologen. Das mag wenig überraschen, schließlich hat die ideologische und ökonomische Rivalität von Psychologen und Psychiaterinnen eine lange Tradition. Nach Jahrzehnten unproduktiver Forschung sei es nun endlich an der Zeit, das veraltete biomedizinische »Krankheitsmodell« psychischen Leidens aufzugeben, forderte die British Psychological Society schon im Mai 2013 in einem Positionspapier.39 Der Zeitpunkt der Publikation war kein Zufall. Zeitgleich veröffentlichte die American Psychiatric Association die höchst umstrittene neue Version 5 ihres Diagnosemanuals DSM.40 »Viele der Probleme im Zusammenhang mit psychiatrischen Diagnosen ergeben sich aus der Anwendung körperlicher Krankheitsmodelle und medizinischer Klassifikationen auf Bereiche wie Gedanken, Gefühle und Verhalten, wie dies Begriffe wie ›Symptome‹, ›Geisteskrankheit‹ oder ›Psychiatrische Erkrankung‹ implizieren«, kritisieren die britischen Psychologen in ihrer Grundsatzerklärung.41 Man stelle ja gar nicht in Abrede, dass die Biologie in der Vermittlung und Ermöglichung aller Formen menschlicher Erfahrung, Verhaltens und Leidens eine Rolle spiele. Dass die Biologie eine primäre Ursache für psychische Störungen darstelle, sei aber nicht belegt. Für eine verursachende Rolle psychosozialer Faktoren hingegen gebe es viele Evidenzen: »Es gibt inzwischen überwältigende Beweise dafür, dass Menschen an einer komplexen Mischung aus sozialen und psychologischen Umständen zerbrechen – Trauer und Verlust, Armut und Diskriminierung, Trauma und Missbrauch« sagt Psychologin Lucy Johnstone, eine Mitverfasserin der Verlautbarung in einem Interview mit dem Guardian.42 Daher fordere man einen multifaktoriellen Ansatz, der diesen Tatsachen Rechnung trägt. So die Einleitung des offensiven Thesenpapiers in Kurzfassung. Danach arbeiten sich die Autoren an den klassischen

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The British Psychological Society, Division of Clinical Psychology (2013). »Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders«. Wegen der tonangebenden Rolle in der Klassifikation psychischer Störungen wird das DSM auch als »Bibel« der Psychiatriediagnostik bezeichnet. Zum Expertenstreit um das DSM-5 siehe auch Hasler F (2012) »Neuromythologie«, S. 122ff. The British Psychological Society, Division of Clinical Psychology (2013), S. 1. Doward J (2013) The Guardian vom 12.5.

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Argumenten gegen das gegenwärtige Krankheitsmodell der Psychiatrie ab:43 Psychiatrische Diagnosen würden als objektive Tatsachen dargestellt, seien aber subjektive »klinische Urteile« anhand von Beobachtung und Interpretation von Verhalten und Selbstauskunft des Patienten. Weil es diesen subjektiven Diagnosen an Validität und Reliabilität44 mangle, seien sie von beschränktem klinischem Nutzen für die Festlegung von Interventionen, Behandlungsrichtlinien und Forschung. Die Dominanz des »körperlichen Krankheitsmodells« führe zu einer Vernachlässigung kausaler psychosozialer Faktoren und einer Überbewertung biologischer Interventionen wie Medikamenten-Verabreichung. Durch Dekontextualisierung verschleierten psychiatrische Diagnosen den Zusammenhang von Erleben, Verhalten und Not der Menschen und deren persönlichem, sozialem und kulturellem Hintergrund. Nicht zuletzt kritisieren die Klinischen Psychologen die »ethnozentrische Verzerrung«. Unsere psychiatrischen Diagnosen seien tief eingebettet in eine westliche Weltanschauung.45 Dadurch komme es zu Diskriminierung oder Vernachlässigung aufgrund von ethnischer Zugehörigkeit, Sexualität, Geschlecht, Klasse, Spiritualität und Kultur. Noch wichtiger aber sei, was das gegenwärtige defizitorientiere Krankheitsmodell mit den Patienten mache. Wobei die Autoren den pathologisierenden Begriff »Patient« konsequent vermeiden und stattdessen lieber von service usern, also von »Inanspruchnehmern von Diensten« sprechen. Zwar könne es Betroffene entlasten, ihrem Leiden mit einer Diagnose einen Namen zu geben und ihnen dadurch helfen, ihre Schwierigkeiten zu verstehen und zu bewältigen. Für andere allerdings seien die gegenwärtigen Krankheitskonzepte nachteilig und diskriminierend. Die negative Haltung der Gesellschaft gegenüber psychiatrischen Diagnosen führe zu sozialer Ausgrenzung. Die Betonung von Krankheit und Defizit sei stigmatisierend und würde zu negativer Selbstwahrnehmung, vermindertem Selbstwertgefühl und pessimistischem Blick auf die eigene Zukunft führen. Der niederländische Psychiater Jim Van Os würde zu allererst die Diagnose »Schizophrenie« abschaffen, da sie einen Patienten »förmlich vernichten« könne. Wenn dieser mit dem Stigma »Schizophrenie« versehen werde, stürze ihn die angebliche Aussichtslosigkeit und

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Ebd., S. 3f. Validität (wie zutreffend ist eine Messung/Aussage) und Reliabilität (wie zuverlässig ist eine Messung/Aussage) sind wichtige Qualitätskriterien wissenschaftlicher Forschung. Siehe dazu Watters E (2011) »Crazy Like Us: The Globalization of the Western Mind«.

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die Isolation von seinem Umfeld womöglich erst recht in eine schwere Krise.46 Auch Psychoanalytiker Peter Schneider weist in seinem Buch »Normal, gestört, verrückt« auf die unterschiedlichen Auswirkungen von normalen medizinischen Diagnosen und psychiatrischen Diagnosen hin: »Niemand wird wohl der Ansicht sein, die Welt würde besser, wenn wir Leukämie, Glioblastome und Herzinfarkte nicht mehr als Krankheit bezeichnen. Das ist in der Psychiatrie anders: Man kann durchaus der Meinung sein, Schizophrenie sei ein Begriff, der weniger der Heilung als der Stigmatisierung der Betroffenen diene, ADHS sei eine Diagnose, die die Pathologisierung des Verhaltens gesunder Kinder zur Folge habe, und auch die Kategorisierung Autismus würde nur zur Ausgrenzung mancher Menschen führen. Deshalb sei es sinnvoller, von einer grundlegenden Neurodiversität auszugehen.«47 Ein oft vorgetragenes Argument zugunsten einer biologischen Deutung psychischer Störungen ist, dass dies die Erkrankten entstigmatisiere. Nicht sie sind schuld – ihre Gene und ihr Gehirn sind schuld. Zwar entbindet das »unverschuldete Schicksal« die Betroffenen vom Verdacht moralischer Schwäche und charakterlichen Versagens.48 In der Wahrnehmung anderer allerdings bewirkt dieser biologische Essenzialismus meist eine nur noch größere Stigmatisierung. Wenn jemand seinem biologischen Wesen nach »abnorm« ist, erscheint dieses Gestörtsein viel grundlegender (und unheilbarer), als wenn die Erkrankung als seelische Krise oder als Reaktion auf schwierige Lebensumstände verstanden wird. Die Krankheit wird zum Teil der Person. Kurz gesagt, »die betroffene Person hat dann nicht ein Problem, sondern die Person ist ein Problem.«49

Fällt ein Stein, fallen alle In ihrem Aufruf zur Entpathologisierung psychischer Leiden argumentieren die britischen Psychologen auch, dass individuell erlebte Erfahrungen im gegenwärtigen System von Krankheitsklassifikationen marginalisiert und

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Zitiert in Schleim S (2018) »Was sind psychische Störungen?«. Schneider P (2020) »Normal, gestört, verrückt«, S. 171. Entlastet werden auch die Angehörigen. Es sei hier nur an die folgenreiche Theorie der »schizophrenogenen Mutter« nach Frieda Fromm-Reichmann erinnert, dass distanzierte und gefühlskalte Mütter an der Schizophrenie ihrer Kinder schuld seien. Helmchen H (2017) »Das Janusgesicht der Psychiatrie«, S. 77.

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nicht ernst genommen würden, obwohl diese Erfahrungen für die Betroffenen selbst höchst bedeutsam seien. Vor allem aber würde das gegenwärtige Klassifikationssystem zu einem disempowerment, zu einer Entmachtung von Menschen mit psychischen Problemen führen, da diese zwangsläufig auf Ratschläge und Therapiemaßnahmen von Experten angewiesen sind. Dies könne Betroffene davon abhalten, selbst aktive Entscheidungen über ihre Gesundung und den besten Weg dorthin zu treffen. Und was sehen die britischen Psychologen als Marschroute zu ihrer psychiatriediagnostischen Revolution? Das bleibt im Positionspapier völlig unklar. Man empfiehlt Aufklärung in den eigenen Reihen, bereits bei der Ausbildung zukünftiger Psychotherapeuten. Zudem soll der Dialog mit Partnerorganisationen gesucht werden und möglichst breite Kreise für ihre Anliegen sensibilisiert werden. Für eine praktische Umsetzung haben die Psychologen gleich gar keinen Plan – und scheinen auch nicht ernsthaft daran zu glauben, dass dies wirklich möglich wäre. Tatsächlich ist eine Abkehr vom heutigen pathologiezentrierten Modell in absehbarer Zeit extrem unwahrscheinlich. Wie der Psychiater und Psychotherapeut Markus Pawelzik in seinem Aufsatz »Gibt es psychische Störungen?« schreibt, ist das medizinische Modell psychischer Störungen »im psychiatrischen Denken derart verankert, dass man von einer ›regulativen Idee‹« sprechen könne.50 »Die Annahme, dass psychische Störungen diskrete Entitäten sind, ist grundlegend für die Psychiatrie. Schließlich definieren diese Typenunterscheidungen, was Psychiater tun: Sie diagnostizieren, therapieren, erforschen, begutachten und erheben epidemiologische Daten etc. unter der Vorstellung, Fälle als ›Exemplare natürlicher psychopathologischer Arten‹ zu identifizieren.« Und weil das ganze Handlungssystem »Psychiatrie« durch das etablierte kategoriale nosologische Denken organisiert sei, erinnere es an die alte Dominotheorie: fällt ein Stein, fallen alle.51

Vom biologischen Reduktionismus zum psychosozialen Reduktionismus Vielleicht auch weil keine reale Gefahr droht, war die Reaktion der attackierten Psychiater auf die versuchte Meuterei von Seiten der Klinischen Psychologen erstaunlich gelassen – offenbar nahm man die Angelegenheit 50 51

Pawelzik MR (2018) Journal für Philosophie & Psychiatrie. Ebd.

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nicht wirklich ernst. Ab und zu fühlten sich Psychiater auf Anfrage von Journalisten bemüßigt zu erklären, auch die biologisch orientierten Psychiater wüssten selbstverständlich um die Bedeutung psychosozialer Faktoren und würden dies in ihrer Arbeit berücksichtigen. Deutlich pointierter war da schon Allen Frances.52 In der Huffington Post wirft der amerikanische Psychiater und Psychiatriediagnose-Kritiker den britischen Psychologen vor, sie hätten einfach eine »eigene Marke einer extremistischen Haltung« entworfen und einen »weltfremden Paradigmenwechsel« vorgeschlagen. Der biologische Reduktionismus des National Institute of Mental Health finde nun seine absurde Spiegelung im psychosozialen Reduktionismus der British Psychological Society.53 Aber auch in den Reihen der Psychiater finden sich immer mehr Vertreter, die fordern, die Dominanz des gegenwärtigen »technologischen Paradigmas« zu überwinden und das gesamte Fachgebiet grundlegend zu reformieren.54 Psychische Störungen beruhten weder auf »irgendwelchen fehlerhaften Mechanismen« noch seien sie einfach »Störungen der Informationsverarbeitung«, wie viele Kognitionswissenschaftler behaupten. Vor allem aber lasse sich nicht die gleiche kausale Logik anwenden, wie im Rest der Medizin, geben Fachleute in einem Meinungsartikel im British Journal of Psychiatry zu bedenken.55 »Wir argumentieren, dass substanzieller Fortschritt auf unserem Gebiet nicht von Neurowissenschaft und Medikamenten kommen wird (so wichtig diese auch sein mögen), sondern von einer grundlegenden Überprüfung, worum es in der psychiatrischen Versorgung geht und von einem Umdenken, wie eigenständiges Wissen und Fachkompetenz im Bereich der psychischen Gesundheit entwickelt werden können.«56 So die Sichtweise der gut dreißigköpfigen Autorengruppe aus Psychiatern und Psychologen. Ganz ähnlich sieht dies auch der Psychiater und Psychotherapeut Stefan Weinmann, der hier noch öfter zu Wort kommen wird, in seinem Buch »Die

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Allen Frances ist emeritierter Professor an der Duke University. Bekanntheit erlangte Frances als Vorsitzender der DSM-IV Taskforce und später als vehementer Kritiker des DSM-5. Frances A (2013) The Huffington Post vom 12.5. Z.B. Bracken P, Thomas P et al. (2012) British Journal of Psychiatry; Speed E, Moncrieff J et al. (2014) »De-Medicalizing Misery II«; Middleton H (2015) »Psychiatry Reconsidered«; Weinmann S (2019) »Die Vermessung der Psychiatrie«. Bracken P, Thomas P et al. (2012) British Journal of Psychiatry, S. 430. Ebd., S. 431.

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Vermessung der Psychiatrie«: »Wenn wir keine Entbiologisierung, Entpsychologsisierung und Entinstitutionalisierung in der Psychiatrie erreichen und das Fachgebiet weiterhin als Reparaturbetrieb psychischer Folgen von Verletzungen und Belastungen bei sensiblen Menschen und tief gehender sozialer Veränderungen und Konflikte pflegen und dabei unser Expertentum auf die Handhabung veralteter Werkzeugkästen reduzieren, wird die Zahl der Chronifizierten und vom Versorgungssystem Abhängigen eher größer als kleiner werden.«57

Muss Psychiatrie überhaupt ein medizinisches Fach sein? Man kann den Streit der Positionen auf die Spitze treiben und sich fragen, mit welcher Begründung – abgesehen von historischen Traditionen – die Psychiatrie denn überhaupt in der Medizin verortet sein muss.58 Dazu ist es hilfreich, sich zu vergegenwärtigen, in welchen Situationen in der Psychiatrie echtes medizinisches Wissen und klassische ärztliche Heilkunst gefragt sind. Traditionell ist der Psychiater immer dann der zuständige Facharzt, wenn sich für die Symptome des Patienten durch differentialdiagnostischen Ausschluss keine körperlichen Ursachen finden lassen. Da psychische Symptome auch organische Ursachen haben können,59 werden Patienten bei der psychiatrischen Erstaufnahme in der Regel auch internistisch und neurologisch abgeklärt. Ergibt sich bei diesen Untersuchungen ein organischer Befund, ist der Psychiater gar nicht mehr zuständig. Fortan kümmern sich in erster Instanz Neurologinnen oder andere Fachärzte um den Kranken. Sind die denkbaren körperlichen Diagnosen ausgeschöpft und findet auch der Neurologe nichts Auffälliges, muss es sich folglich um eine psychische Störung handeln und der Patient bleibt im Zuständigkeitsbereich der Psychiatrie. 57 58

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Weinmann S (2019) »Die Vermessung der Psychiatrie«, S. 24. Was als Medizin gilt, ist auch Ansichtssache. Auch die Psychoanalyse sah sich einst als medizinische Disziplin und bestand darauf, dass nur Psychiater befähigt sind, eine Psychoanalyse fachgerecht durchzuführen. Krankheitsbilder, denen direkt eine Schädigung des Gehirns zugrunde liegen, werden im Diagnosemanual ICD-10 in Kapitel F0 unter dem Begriff »Organische psychische Störungen« (OPS) aufgelistet. Darunter fallen vor allem Demenzen, Amnesien und Delirien. Aber auch Vitamin B12-Mangel, Schilddrüsenerkrankungen, Hirnverletzungen und Infektionen des Gehirns können psychische Symptome verursachen. Für letzteres stellt die »Neurosyphilis« ein klassisches und historisch bedeutsames Beispiel dar.

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Nach der anamnestisch gestellten Diagnose60 kommt die Therapie. Besteht diese aus psychotherapeutischen Maßnahmen, ist keinerlei ärztliche Kunst gefragt. Das kann ein gut ausgebildeter Psychologe oder Psychoanalytiker genauso gut machen wie der Psychiater. Eine alleinige Psychotherapie ist in einer Psychiatrischen Klinik allerdings die Ausnahme. In aller Regel besteht die Therapie aus der Verordnung von Medikamenten, flankiert von psychoedukativen und/oder sozialpsychiatrischen Maßnahmen. Auch für die Wahl des geeigneten Medikaments61 sind erst einmal keine echten medizinischen Kenntnisse erforderlich. Es müssen dafür weder Laborwerte interpretiert, noch Tomographiebilder beurteilt oder EEG-Kurven ausgewertet werden. Psychopharmaka sind das genaue Gegenteil von zielgenauen pharmazeutischen magic bullets.62 Ihre Wirkungen sind unspezifisch und im Einzelfall schlecht vorhersehbar. In der Praxis de fakto einfach ein großes Ausprobieren. Zugespitzt formuliert reicht es eigentlich aus, den Beipackzettel zu lesen, um offensichtliche Kontrainidkationen zu vermeiden und die passende Dosierung zu finden. Worauf es wirklich ankommt, ist die klinische Erfahrung des Behandelnden. Welches Antidepressivum hat bei ähnlichen Fällen schon geholfen? Ab welcher Dosierung macht ein bestimmtes Antipsychotikum so große Probleme, dass die Patienten es absetzen? Was kann man auch stark übergewichtigen Patienten geben, was hat sich bewährt, wenn die Leute keinen Appetit haben oder nicht schlafen können? Bei diesen Fragen hilft Erfahrung weiter – und nicht etwa das Wissen um ein vermeintliches Neurotransmitter-Ungleichgewicht in der Hirnchemie von Depressiven. Ärztliche Heilkunst kommt normalerweise erst dann wieder ins Spiel, wenn im Verlauf der Pharmakotherapie Nebenwirkungen auftreten – was meistens irgendwann der Fall ist.63 Sind die Nebenwirkungen vergleichswei-

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Psychiatrische Diagnosen werden durch klinische Beobachtung, Gespräche mit dem Patienten (und ev. Angehörigen) und der Symptomerfassung per Fragebogen gestellt. Am Ende erfolgt die Eingruppierung und Kodierung gemäß den Diagnosemanualen ICD-10/11 bzw. DSM-5. Im Klinikalltag wird selten nur ein Medikament verschrieben, Polypharmazie ist die Regel. Insofern müsste man eher von der Zusammenstellung des passenden Medikamentencocktails sprechen. Auf den Arzt und Chemiker Paul Ehrlich zurückgehendes Konzept, selektiv wirkende Medikamente zu entwickeln, die nur die Krankheitsursache bekämpfen ohne den behandelten Organismus zu beeinträchtigen. Am häufigsten treten unerwünschte Wirkungen zu Beginn einer Psychopharmakotherapie ein, beim Versuch, nach längerer Einnahme die Dosis anzupassen oder das Me-

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se mild, wird man erst einmal eine Verringerung der Dosis erwägen. Darauf kommt man als Betroffener meist schon von alleine. Sind die Nebenwirkungen gravierender – von Blutdruckkrisen bis hin zum seltenen, aber potenziell tödlich verlaufenden Serotonin-Syndrom,64 ist selbstverständlich unverzügliches medizinisches Handeln erforderlich. Dann allerdings nicht mehr vom Psychiater selbst, sondern vom Allgemeinmediziner, Kardiologen oder Notarzt. Im Regelfall wird sich ein Psychiater davor hüten, einen akuten somatischen Notfall selbst zu behandeln. Stattdessen wird er den Internisten seiner Klinik verständigen. Oder gleich den medizinischen Notfalldienst rufen. Man könnte auf die Idee kommen, dass sich Psychiatrie und Medizin in ihrer Zuständigkeit sogar wechselseitig ausschließen: Arbeitet der Psychiater, ist nicht »echte« Medizin am Werk. Und kommt Medizin ins Spiel, ist der Psychiater nicht mehr zuständig. Vielleicht ist die Aufteilung auch besser so. Immer wenn die Psychiatrie im Verlauf ihrer Geschichte medizinisch-somatische Eingriffe ausprobiert hat, waren die Folgen für den Patienten meist verheerend – vom Insulinschock bis zur Lobotomie.65 Dass für die Behandlung auch schwerer psychischer Störungen eine medizinische Ausbildung nicht zwingend nötig ist, zeigten schon die sozialpsychiatrischen Soteria Projekte der 1970er Jahre auf. Empathie, Engagement und Geduld wurden als viel wichtigere Faktoren für den Therapieerfolg angesehen als eine fachärztliche Ausbildung. Jeder, auch ehemalige Patienten, konnte die Rolle von Therapeuten übernehmen.66

Medizinische Diagnosen gewähren Schutz und Unterstützung Trotz allem wäre es eine schlechte Idee, die Psychiatrie aus der Medizin herauslösen zu wollen. Allein schon deshalb, weil die medizinische Diagnose einer

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dikament abzusetzen und – besonders gravierend – in Form von Organschädigungen nach Langzeitverabreichung. Das Serotonin-Syndrom ist Ausdruck einer übersteigerten Serotonin-Aktivität und äussert sich durch schwere psychische und neuromotorische Unruhe. Häufigste Ursache ist die gegenseitige Wirkungsverstärkung von Arzneimitteln, die das Serotoninsystem beeinflussen. Bei diesen berüchtigten, bis in die 1970er Jahre praktizierten »psychochirurgischen« Eingriffen wurden Nervenbahnen im Stirnhirn durchtrennt, vor allem solche, die den Frontalcortex mit dem Thalamus – einer zentralen Schaltstelle im Gehirn – verbinden. Ausführlich wird das »Soteria Research Project« in Kapitel 7 behandelt.

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psychischen Störung, kodiert mit der entsprechenden ICD-10/11 Nummer,67 den Betroffenen Schutz und Unterstützung durch unser Sozialsystem gewährt. Von Krankenversicherungszahlungen über Kündigungsschutz bis zur Invalidenrente: Alles ist daran geknüpft, psychische Störungen als Krankheit zu verstehen. Durch den besonderen medizinischen Status wird der breitestmögliche Konsens solidargemeinschaftlicher Unterstützung erreicht. Dass psychiatrische Einrichtungen medizinische Institutionen sind, erlaubt es zudem, auch über einen längeren Zeitraum Zufluchtsort und Rückzugsraum für psychisch Belastete zu sein. Allemal besser, als die Alternative, wie sie in den USA längst Realität ist: Staatliche Gefängnisse. Das Los Angeles County Jail ist derzeit Amerikas größte Einrichtung für psychiatrische Versorgung.68 Es wäre also falsch und kontraproduktiv, der Psychiatrie ihren Status als medizinische Disziplin abzuerkennen. Dringend notwendig hingegen wäre eine Erweiterung der Institution Psychiatrie über die Medizin hinaus zu einer viel breiter gefassten multiprofessionellen Unternehmung. Warum dem so ist, hat Psychiater und Gesundheitswissenschaftler Weinmann überzeugend dargelegt. Darum soll er hier etwas länger zu Wort kommen: »Die Gesellschaft hat sich dazu entschlossen, einem Berufsstand die Macht über die Definition von psychischer Gesundheit und Krankheit zu übertragen – den Psychiatern. Wir sind aber damit überfordert, weil es eine gute Grenzziehung nicht gibt. Daher sollte eine Einigung im Allgemeinen, aber auch im individuellen Fall darüber, was behandlungsbedürftig ist, gemeinschaftlich erfolgen: Menschen mit Erfahrungswissen (zu psychischen Ausnahmezuständen) sollten mit Menschen, die in der Erkennung und Behandlung körperlicher Pathologien (Mediziner), der Erkennung und Behandlung psychologischen Leidens und psychodynamischer Zusammenhänge, die subjektives Leiden verursachen (Psychologen) sowie solchen, die sich mit dem Zusammenleben von Menschen, mit sozialen Prozessen, sozialer Ungleichheit und mit kulturellen Aspekten beschäftigen (Soziologen und Anthropologen) zusammenarbeiten müssen. […] In der Konsequenz würde dies bedeuten, Professionelle außerhalb des Kreises der Ärzte in die Verantwortung miteinzubeziehen.«69

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»International Classification of Diseases« – das international gültige Diagnose-Klassifikationssystem der WHO. Die bereits verabschiedete neueste Version 11 soll in Kürze in Kraft treten. Rosenberg KP (2019) »Bedlam: An Intimate Journey Into America’s Mental Health Crisis«, S. 65. Siehe dazu auch Kapitel 7. Weinmann S (2019) »Die Vermessung der Psychiatrie«, S. 241.

Kapitel 5: Weiter wie immer und alles ganz anders

Das NIMH trifft eine schwierige Entscheidung Auch das National Institute of Mental Health denkt natürlich nicht im Entferntesten daran, das medizinische Modell psychischer Störungen aufzugeben. Allerdings stand die mächtigste Psychiatrie-Institution der Welt schon vor Jahren vor einem grundlegenden Problem und musste eine schwierige Wahl treffen. Das NIMH musste sich nämlich entscheiden, ob es weiterhin auf das neurobiologische Krankheitskonzept psychischer Störungen setzt (und mit Ihrem Milliardenetat deren wissenschaftliche Untersuchung fördert), oder an die Psychiatriediagnostik, wie sie im offiziellen Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders verbindlich aufgelistet und alle paar Jahre aktualisiert wird. Dass beides offenbar nicht zusammen geht, wurde spätestens in der Vorbereitungsphase zur aktuellen Manual-Version DSM-5 klar. Ursprüngliches Ziel des 2013 eingeführten DSM-5 war es – wir sprachen schon davon – erstmals neurobiologische Kriterien in die Psychiatriediagnostik einzuführen und damit die Psychiatrie auf eine solide wissenschaftliche Grundlage zu stellen. Zu diesem Zweck wurden hochkarätige Arbeitsgruppen eingesetzt und eine Menge Konferenzen abgehalten. Die Erkenntnisse daraus sollten dann in systematisierter Form in die Revision des alten DSM-IV einfließen. Soweit der Plan. Doch es kam ganz anders. Die Experten mussten einsehen, dass der gegenwärtige Stand der Forschung weder genetische noch neurofunktionelle Daten hergibt, die auch nur annähernd zuverlässig genug sind, um als Biomarker die traditionell symptombasierte Diagnostik zu reformieren. Zweifellos ist das DSM nur ein Konsens-Dokument von Experten der American Psychiatric Association und hat somit herzlich wenig mit richtiger Wissenschaft zu tun.70 Doch selbst wenn wir wollten, könnten wir das DSM gar nicht loswerden, ohne dass unser gegenwärtiges Psychiatrie-System komplett zusammenbricht. Nicht nur Diagnosestellungen und Therapieentscheidungen hängen davon ab. Auch die Bewilligung klinischer Studien, Medikamentenzulassungen, Forschungsgelder, epidemiologische Statistiken, Gutachten, Krankenkassenleistungen, Invalidenrenten und sogar die Publizierbarkeit von Forschungsergebnissen: Alles braucht eine DSM- beziehungsweise ICD-Codierung. Sind die empirischen Belege für die Existenz und Unterscheidbarkeit der aufgelisteten Krankheitstypen in den Manualen auch noch so schwach, so 70

Auch das eine Besonderheit innerhalb der Medizin. Schwer vorstellbar, dass beispielsweise Diabetologen bei einer Fachtagung einfach per Abstimmung darüber entscheiden, ob es eine neue Form von Diabetes gibt.

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sind sie doch unverzichtbar für das zugrunde liegende medizinische Modell. Die Diagnosemanuale sind der Klebstoff, der das Kartenhaus Psychiatrie zusammenhält. Zur gleichen Zeit evaluierte auch das NIMH selbst Diagnosestudien aus den verschiedensten Forschungsinstituten. Doch die Daten aus Neuroimaging-Studien, Genomik, Kognitionswissenschaften und weiteren Untersuchungsfeldern ließen sich einfach nicht mit den DSM-Diagnosen in Einklang bringen. So wurden Auffälligkeiten in den gleichen Hirnschaltkreisen bei ganz unterschiedlichen Diagnosen gefunden. Andererseits traten bestimmte Abweichungen nur bei einem Teil der Patienten innerhalb einer diagnostischen Kategorie auf. Die Diagnosekategorien des DSM repräsentieren offenbar ganz heterogene Syndrome und keine spezifischen Krankheits-Entitäten.71 Zu dieser nun wirklich nicht neuen Erkenntnis musste damals auch das NIMH gelangen. Vor die Wahl gestellt, entweder die Neurowissenschaften aufzugeben oder das Diagnosemanual DSM hat sich das NIMH hat dafür entschieden, das DSM fallen zu lassen. Als Reaktion auf das Problem, dass sich die DSMKategorien einfach nicht neurowissenschaftlich belegen lassen, hat das NIMH 2011 erklärt, die Research Domain Criteria Initiative (kurz RDoC) einzuführen. »Vertrauen wir auf das Gehirn, nicht auf das DSM« hat der Soziologe Nikolas Rose diesen kühnen Schritt zusammengefasst.72 Und wie soll nun diese als revolutionäre Innovation73 angekündigte RDoC in der Praxis funktionieren? Im Prinzip wie folgt: Vergesst die Diagnosen. Nehmt einfach alle Patienten, die mit psychischen Störungen in die Klinik kommen und macht breit angelegte Genetik-, Bildgebungs-, Kognitions- und Verhaltensstudien. Später werden die Daten analysiert und die Ergebnisse in eine umfassende Matrix übertragen. Irgendwann einmal lassen sich dann daraus objektive, da »datengetriebene«, Befunde ableiten. Vielleicht zeigt sich ja, dass eine bestimmte Symptomkonstellation mit einem fehlerhaft arbeitenden Hirnschaltkreis XY aus einem auffälligen Genprofil QT heraus erklärt

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Hyman SE (2010) Annual Review of Clinical Psychology; Stoyanov D, Telles-Correia D et al. (2019) European Psychiatry. Rose N (2018) »Our Psychiatric Future«. »Revolutionär« ist die Suche nach defekten Hirnsystemen bei psychischen Störungen natürlich nicht, höchstens auf den aktuellen Stand gebracht. Die Schaltkreis-zentrierte Forschungsinitiative des NIMH steht ganz in der Tradition neuropathologischer Forschung, wie sie schon Pioniere wie Carl Wernicke, Theodor Meynert oder Karl Kleist im 19. Jahrhundert betrieben haben.

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werden kann. Daraus ließe sich dann so etwas wie das »QT-bedingte Schaltkreis XY Defizienzsyndrom« formulieren und idealerweise auch zielgerichtet behandeln. Erklärtes Fernziel der RDoC ist also eine Neuklassifizierung der Patienten aufgrund ihrer Genetik- und Hirnbefunde. In einem ersten Schritt hofft man, die Kausalkette von den Symptomen her ins Gehirn zurückzuverfolgen. Später einmal soll es genau umgekehrt laufen: Man entdeckt schon bei frühen und unspezifischen Beschwerden eine beginnende Abweichung in einem verdächtigen Hirnsystem und kann eine Therapie einleiten, noch bevor die Vollsymptomatik eingetreten ist. Das wäre dann tatsächlich psychiatrische Präzisionsmedizin. Dass auch diese neue transdiagnostische Forschungsstrategie nicht aufgehen wird, ist leider jetzt schon absehbar. Dem RDoC Vorhaben liegen nämlich wichtige Konstruktionsfehler zugrunde. So sollen sich die Forschungsdesigns künftiger Psychopathologiestudien nach Maßgabe des NIMH an funktionalen Konstrukten orientieren, die in erster Linie aus der neurowissenschaftlichen Kognitionsforschung stammen. Diese Konstrukte, die in der RDoCMatrix vorgeschlagen werden, heißen beispielsweise »Initiale Belohnungsresponsivität«, »Frustrierende Nichtbelohnung«, »Belohnungslernen« oder »Annäherungsmotivation«. Diese kognitiven Module sind aber keine real existierenden biophysikalischen Größen, sondern von Wissenschaftlern ausgedachte und zum Zweck der Systematisierung und Komplexitätsreduktion eingeführte Kategorien. Zwar haben die RDoC-Experten nur Konstrukte in ihre Liste aufgenommen, für deren Validität es experimentelle Evidenzen gibt.74 Dennoch ist es höchst unwahrscheinlich, dass sich für solche historisch gewachsenen kognitionspsychologischen Narrative echte biologische Entsprechungen im Gehirn finden lassen. Die Willkürlichkeit der psychiatrischen Diagnosen des DSM wird ersetzt durch die Suche nach Genen und neuronalen Schaltkreisen für fragwürdige neurokognitionswissenschaftliche Konstrukte. Ganz zu Recht sagt Thomas Insel, das DSM sei ein Buch, »das die Biologie nie gelesen hat«.75 Genau so wenig dürfte sich die Biologie aber für unser fleißiges Sammeln und Auflisten von Millionen disparater Einzelbeobachtungen interessieren. Extrem unwahrscheinlich, dass sich die Biologie dann in die Karten schauen lässt – dafür ist sie viel zu dynamisch, sprunghaft und experimentierfreudig.

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Walter H (2017) Der Nervenarzt. Belluck P, Carey B (2013) The New York Times vom 7.5.

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Ist das Ganze etwas anderes als die Summe seiner Teile? Auch der RDoC Inititative und ihrem Vorhaben, fortan psychiatrische Forschung als angewandte kognitive Neurowissenschaft zu organisieren,76 liegt letztlich eine lokalisatorische und somit mechanistische und reduktionistische Sichtweise zugrunde. Man glaubt offenbar immer noch an die Existenz eines spezifischen neuronalen Netzwerks für Emotionsregulation, an lokalisierbare Hirnareale für die Selbstwahrnehmung und so weiter. Doch das Gehirn, da sind sich die meisten Neurowissenschaftler eigentlich längst einig, funktioniert eben nicht wie das berühmte Schweizer Armee-Taschenmesser mit seinen eidgenössisch-sauber abgegrenzten Werkzeugen. Ganz im Gegenteil – es gilt als erwiesen, dass das Gehirn in hohem Ausmaß unterschiedlichste Funktionen mit den gleichen neuronalen Netzwerken erfüllen kann, je nachdem, welche Leistung gerade gebraucht wird oder auch längerfristig kompensiert werden muss.77 Unser inneres Erleben – inklusive seiner Störungen – scheint aus einem höchst komplexen Zusammenspiel kortikaler und subkortikaler Netzwerke zu entstehen, die sich in dynamischer Weise gegenseitig aktivieren und hemmen und dabei auch noch ständig verändern und weiterentwickeln. Und sollte es tatsächlich so sein, dass Bewusstsein als Emergenz-Phänomen selbsterschaffend aus der Summe unserer Gehirnprozesse hervorgeht, wie viele Vertreter der Philosophie des Geistes behaupten, wäre das Ganze nicht nur mehr als die Summe seiner Teile, sondern etwas völlig anderes als die Summe seiner Teile.78 Die Vorstellung, mit den Methoden einer reduktionistisch operierenden Neurowissenschaft Bewusstsein verstehen und erklären zu können, wäre damit grundsätzlich ad absurdum geführt.

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Ebd. Z.B. Anderson ML (2010) Behavioral and Brain Sciences. Siehe dazu auch die aktuellen Theorien zur »kausalen Emergenz«, z.B. in Wolchover N (2018) Spektrum der Wissenschaft.

Kapitel 6: Telepsychiatrie und das neue Zeitalter digitaler Interventionen In der Praxis könnte ›digital phenotyping‹ ein Weg zu einer messbasierten Versorgung sein, die es erlaubt, Remission und Rückfall zu überwachen und möglicherweise Notaufnahmen oder Krankenhausaufenthalte zu vermeiden.1

Der jahrzehntelange Fokus auf Gene und Neuronen hat dazu geführt, dass die akademische Psychiatrie ein wundersames Eigenleben entwickelt hat. Mit ihren molekularen Narrativen und OMICS-Vorstellungen hat sie sich unendlich weit von den Patienten und ihren real existierenden Problemen entfernt. Das geschah ganz allmählich und sicher ohne Absicht. Biologische und molekulare Psychiatrie haben sich im Lauf der Zeit zu einem sich selbst erhaltenden und sich selbst genügenden Biotop entwickelt, stabilisiert durch mächtige Institutionen und die Pharmazeutische Industrie, öffentlichkeitswirksames Lobbying und mittlerweile fast unbegrenzte Geldmittel. Wie im vorigen Kapitel skizziert, ist hier auch noch kein Ende in Sicht. Irgendwie ist diesem gigantischen Wissenschaftsapparat auf seinem langen Weg der ursprüngliche Sinn abhandengekommen. Nämlich herauszufinden, wie man psychisch Belasteten ganz konkret helfen kann. Eine ganze Wissenschaftsdisziplin hat sich verlaufen, möchte aber daran festhalten, auf dem richtigen Weg zu sein. Das ist aber nur ein Teil der Geschichte. In das System Psychiatrie ist nämlich Bewegung gekommen und parallel zur Mehr-vom-Gleichen-Strategie findet auch

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Insel TR (2017) Journal of the American Medical Association, S. 1215.

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ein Umdenken statt. Die Anzeichen mehren sich, dass ganz wesentliche Veränderungen bevorstehen. Innerhalb wie außerhalb der Fachwelt zeichnen sich bereits erste Konturen einer pragmatischen und praxisorientierten Neuausrichtung ab. Ein deutliches Zeichen ist jedenfalls, wenn ein so einflussreicher Psychiater und enthusiastischer Befürworter einer neurowissenschaftlich orientierten Psychiatrie wie Thomas Insel das Feld verlässt. Wenden wir uns also der Frage zu, warum der amerikanische Star-Neurowissenschaftler 2015 seinen Direktorposten beim National Institute of Mental Health geräumt hat, um sich Google Life Sciences anzuschließen. Der erfolgreiche Lockruf des kalifornischen Tech-Konzerns heißt digital phenotyping.2 Thomas Insel wurde mit der Gründung und Leitung einer Arbeitsgruppe betraut, die sich mit der Nutzbarkeit von Smartphone-Daten zur Messung von Stimmung und Verhalten beschäftigt. Was es mit dieser »digitalen Phänotypisierung« auf sich hat, wird in einem Review-Artikel so erklärt: »Digitale Phänotypisierung (oder personenbezogene Erfassung) ist die vor Ort und Von-Moment-zu-Moment-Quantifizierung des menschlichen Erscheinungsbilds […] anhand von Daten aus persönlichen digitalen Geräten. Ziel ist es, das Potenzial von Daten auszuschöpfen, die automatisch von Smartphones, ›Wearables‹ und anderen vernetzten Geräten erzeugt und zusammengetragen werden, um menschliches Verhalten und menschliche Funktionen bei Gesundheit und Krankheit zu messen […].«3 Selbstverständlich bedinge dieses Vorhaben eine enge Zusammenarbeit zwischen Gesundheitsexpertinnen, Computerspezialisten und IT-Providern.

Ein unerwartetes Comeback der Verhaltensbeobachtung Der aus der Biologie stammende Begriff des Phänotyps – also Erscheinungsmerkmale und Verhaltensweisen eines Organismus – wird nun in die Welt des Digitalen transferiert. Aus der Art und Weise, wie wir unsere Smartphones nutzen, sollen Rückschlüsse auf unsere psychische Verfassung möglich sein. Die gegenwärtige Begeisterung der Fachwelt für das digital phenotyping kann man ebenfalls als Reaktion darauf verstehen, dass es nicht gelungen ist, biologische Marker für psychische Störungen zu finden. Diese Lücke soll nun – 2 3

Der Begriff »digital phenotyping« wurde um 2015 von Wissenschaftlern der Harvard University eingeführt [Torous J, Kiang MV et al. (2016) JMIR Mental Health]. Huckvale K, Venkatesh S et al. (2019) NPJ Digital Medicine.

Kapitel 6: Telepsychiatrie und das neue Zeitalter digitaler Interventionen

wenigstens teilweise – durch die modernen KI-gestützten Verhaltensmessungen geschlossen werden.4 Man könnte bei der Suche nach diesen neuen, zwischenzeitlich digitalen Markern für psychische Gesundheit auch von einem überraschenden Revival der Verhaltensforschung sprechen. Die psychologische Forschung kehrt hier ab von der Untersuchung biologischer Vorgänge und der Phänomenologie des Erlebens und interessiert sich wieder für Verhalten. Übersetzt in auslesbare digitale Muster soll dieses Verhalten dann Rückschlüsse auf den psychischen Zustand erlauben – mit der Möglichkeit zur zeitnahen Intervention, sollten diese neuen »digitalen Biomarker«5 dies als notwendig anzeigen. Sehen wir uns das digital phenotyping in der Praxis an. Es geht dabei nicht um die konkreten Inhalte von Gesprächen oder Textmitteilungen. Die Forscher zielen vielmehr auf die Meta-Daten der Nutzer ab, die iPhones und Co. mit entsprechenden Apps automatisch aufzeichnen können. Wie häufig und zu welchen Tageszeiten werden Gespräche geführt? Wie lange dauern diese? Wie sehen die Verhaltensmuster bei den Textnachrichten aus?6 Wie viele SMS werden wann versandt und an wie viele Personen gehen sie? Aber auch indirektere Daten, wie sie von Beschleunigungssensoren und GPS aufgezeichnet werden, können als »Aktivitäts-Marker« in die Rechnung mit eingehen. Erprobt werden auch Stimm- und Sprachanalysen, wenn der Nutzer sich mit digitalen Assistenten wie Siri oder Alexa unterhält. Zeigen diese rund um die Uhr passiv erhobenen Metadaten plötzlich Abweichungen von den Durchschnittswerten, kann Alarm geschlagen werden. Vielleicht ist Herr A wieder in einer akuten Depression, weil er kaum noch kommuniziert? Vielleicht macht Frau B gerade eine manische Phase durch, weil sie mitten in der Nacht Leute anruft, dauernd SMS verschickt und offensichtlich auch körperlich aktiver ist als sonst? Damit ungewöhnliche Veränderungen im Handy-Gebrauch überhaupt erkannt werden können, ist eine individuelle Kalibrierung notwendig. Deswegen ist zu4 5

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Hidalgo-Mazzei D, Young AH et al. (2018) International Journal of Bipolar Disorders. https://mindstrong.com/science (letzter Abruf 27.9.2022). Sogar neuen Rückenwind für eine zukünftige Präzisionspsychiatrie meinen einige Wissenschaftler zu spüren. Durch die Verknüpfung der neuen digitalen Verhaltensmarker mit biologischen und genetischen Daten könnten sich neuartige »Muster-Cluster« bzw. »multivariate Biomarker« finden lassen, wie dies die RDoC Initiative des NIMH propagiert [siehe dazu Fuchs T (2021) Der Nervenarzt und das vorangegangene Kapitel in diesem Buch]. Analysiert wird bei diesen »keyboard interaction dynamics« z.B. wie schnell (oder langsam) getippt oder gescrollt wird, wie viele Tippfehler gemacht und korrigiert werden, oder wie häufig das Wörterbuch benutzt wird.

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mindest zum jetzigen Zeitpunkt noch die Einwilligung und aktive Mitarbeit der monitorisierten Personen notwendig. Das dürfte zur Beruhigung derer beitragen, die sich – berechtigterweise – Sorgen um Datenschutz und Persönlichkeitsrechte machen. Durch machine learning7 trainierte Auswertungs-Algorithmen sollen automatisch Alarm schlagen, wenn sie bei der Musterüberwachung Abweichungen feststellen. Aber was genau passiert dann? Wird die Person selbst vom eigenen Handy informiert, dass es sich Sorgen macht? Sollen Angehörige oder Freunde benachrichtigt werden?8 Oder gleich die behandelnde Therapeutin?

Gut gelaunte Menschen sitzen vor Laptops In der gegenwärtigen Erprobungsphase ist digital phenotyping in erster Linie als Ergänzung zu sozialpsychiatrischen und psychotherapeutischen Angeboten zu verstehen, die ebenfalls online zur Verfügung gestellt werden. Sehen wir uns dazu einen Vorreiter dieser neuen Versorgungsstrategie an, das kalifornische Unternehmen Mindstrong Health. Firmen-Mitgründer und erster Präsident des eHealth Startup-Unternehmens ist wiederum Thomas Insel, der Google Life Sciences nach nur achtzehn Monaten für diese neue Aufgabe wieder verließ.9 Auf der Mindstrong Webseite sehen wir gut gelaunte Menschen, die mit Headsets vor Laptops sitzen. Offenbar sind sie Teil des »engagierten Pflegeteams«, bestehend aus »lizenzierten Therapeuten, Psychiatern, Pflegepartnern und administrativen Pflegekoordinatoren«.10 Besonders interessant ist die Detailaufnahme eines Bildschirms, auf dem eine Art Kontrollzentrum eines Therapeuten abgebildet ist. In der Ansicht »Meine Patienten« ist dort grafisch dargestellt und mit Ampelfarben hinterlegt, welche Patienten gerade kritische Werte zeigen (und seit wann) und bei welchen Kunden die Mindstrong Algorithmen nichts Auffälliges entdecken. Und so funktioniert die Sache gemäß Eigendarstellung in der Praxis.11 Um einen »fest zugeordneten Therapeuten und einen persönlichen Betreuungs7 8 9 10 11

Siehe z.B. Beam AL, Kohane IS (2018) JAMA oder Benoit J, Onyeaka H et al. (2020) Harvard Review of Psychiatry. Die wahrscheinlich auch ohne digital phenotyping App beunruhigt sind, wenn jemand lange nicht ans Telefon geht und keine Textnachrichten mehr beantwortet. Reardon S (2017) Nature. https://mindstrong.com/our-services (letzter Abruf 27.9.2022). https://mindstrong.com/how-it-works (letzter Abruf 27.9.2022).

Kapitel 6: Telepsychiatrie und das neue Zeitalter digitaler Interventionen

plan« zu erhalten, sollen Interessierte zuerst mit ihrer Krankenversicherung abklären, ob die Kosten übernommen werden. Dann können sie sich auf der Webseite anmelden und die Mindstrong Smartphone-App herunterlagen. Ein Aufnahmebogen ist auszufüllen, inklusive Krankengeschichte, verordneten Medikamenten und behandelnden Ärzten. Danach werden Therapietermine festgelegt. Diese online Therapiesitzungen erfolgen wahlweise über Textnachrichten, Videoschaltungen oder per Telefon. Dabei würden die Therapeuten »evidenzbasierte Ansätze in strukturierten, zielorientierten Sitzungen« verfolgen. »Unsere Ansätze umfassen kognitive Verhaltenstherapie (KVT), Bewältigung und Emotionsregulation, Psychoedukation, Krisenmanagement, reflektierendes Zuhören und Empathie«, lässt uns der Werbetext auf der Mindstrong Webseite wissen. Sollten die Medikamente zur Neige gehen, lasse sich ein Video-chat mit einem Psychiater einrichten, der dann gleich neue Rezepte ausstellt. Zu guter Letzt wird auf die Mindstrong Mental Health App verwiesen. Potenziellen Kunden des Unternehmens wird der Nutzen der App so erklärt: »Die Art und Weise, wie Sie Ihr Smartphone passiv nutzen – Tippen, Wischen, Scrollen – ist ein neuer Weg, um Dinge wie Stress, psychische Symptome und Wohlbefinden zu messen. […] Sie können Ihre Messungen in der mobilen App nachverfolgen, und sie werden mit Ihrem Klinikteam geteilt, damit es Ihnen eine individuellere Betreuung bieten kann.« Zusammenfassend könnte man also sagen, dass Mindstrong Health eine Art digitale Klinik ist, die psychiatrische Visiten, Psychotherapien und sozialpsychiatrisches Gesundheitsmanagement dezentral über das Smartphone anbietet. Dazu wird auch noch eine digital phenotyping App erprobt, um herauszufinden, ob sich Änderungen der psychischen Verfassung der Patienten draußen im normalen Leben »frühzeitig und objektiv« anhand des Verhaltens erkennen lassen. Adressiert sind in erster Linie chronisch Kranke, die allerdings hinreichend stabil sein müssen oder zumindest gegenwärtig keine akute stationäre Behandlung benötigen. Daneben darf sich aber auch die große Schar der worrying well angesprochen fühlen: Unglückliche Menschen mit Sorgen und Nöten, inneren Konflikten und unverarbeiteten Verlusten, mit ängstlichen und depressiven Tagen, mit Phobien und Stimmungsschwankungen. Man leidet an sich und der Welt und dieses Leiden ist ja durchaus real und schmerzhaft. Allerdings eher unvermeidlicher Teil unserer menschlichen Natur, der viel zitierten condition humaine, als Ausdruck einer

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veritablen behandlungsbedürftigen psychischen Erkrankung.12 Bekanntermaßen machen die »unglücklichen Gesunden« einen Großteil derer aus, die psychotherapeutische Hilfe in Anspruch nehmen – spätestens, wenn die vom Hausarzt verschriebenen Antidepressiva nicht wie erhofft wirken. Von diesen »Konsumenten-Patienten«, die psychologische Beratungsangebote eher als Dienstleistung irgendwo zwischen Coaching, therapeutischer Intervention und Persönlichkeitsentwicklung begreifen, dürfte auch Mindstrong Health profitieren, sofern die Klientel bereit und in der Lage ist, die Kosten selbst zu tragen.

Und plötzlich geht alles ganz schnell Doch zurück zum eigentlichen Thema. Sind Telepsychiatrie, »digitale Versorgung« und mHealth13 also the next big thing in der Psychiatrie? Ohne Zweifel hat die COVID-19 Pandemie zu einer enormen Beschleunigung IT-basierter Versorgungs- und Therapieangebote geführt und die Psychiatrie fast über Nacht ins digitale Zeitalter katapultiert. Der globale Ausnahmezustand und die notwendigen gesundheitspolitischen Maßnahmen vom individuellen Social Distancing bis zum länderweiten Lockdown haben ein schnelles Umdenken erforderlich gemacht. Menschen sollten sich nach Möglichkeit fernbleiben und ihre Dinge von zu Hause aus erledigen. Home office, Distanzlernen und online-Konferenzen sind schnell zur neuen Normalität geworden. Und auch Psychiatrie und Psychotherapie mussten sich notgedrungen anpassen. In den USA stieg der Anteil der psychiatrischen Versorgung via Smartphone und Computer von weniger als einem Prozent aller Visiten in der Zeit vor der Pandemie auf sechsundfünfzig Prozent im Dezember 2020.14 In der Not

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Klare Grenzziehungen zwischen Befindlichkeitsstörung und ernsthafter Erkrankung sind natürlich unmöglich. Dies zeigt sich nicht zuletzt im traditionsreichen Streit über die Zuverlässigkeit der Psychiatriediagnostik und der Validität einzelner Störungsbilder, wie sie in den Diagnosemanualen DSM und ICD aufgelistet sind. Der Begriff mHealth (oder »mobile Health«) wurde 2004 von Robert Istepanian vom Imperial Collage in London eingeführt und bezeichnet »Mobile Computer-, medizinische Sensor- und Kommunikationstechnologien für die Gesundheitsfürsorge« [Istepanian RSH, Jovanov E et al. (2004) IEEE Transactions on Information Technology in Biomedicine]. Roth CB, Papassotiropoulos A et al. (2021) International Journal of Environmental Research and Public Health.

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wurden eilig administrative Hürden beseitigt, die der Patientenversorgung auf Distanz zuvor im Weg standen. So entbanden die amerikanischen Gesundheitsfürsorgeprogramme Medicaid und Medicare ihre Patienten davon, zu psychiatrischen Visiten persönlich zu erscheinen. Kliniken konnten ihre Dienstleistungen nun zum vollen Tarif abrechnen, auch wenn sie online erbracht wurden. Die Drug Enforcement Agency15 erlaubte die Verschreibung kontrollierter Substanzen auch ohne persönliches Treffen mit dem Arzt. Und auch die Verwendung nicht speziell zertifizierter Kommunikationssoftware wie FaceTime oder Zoom waren nun plötzlich erlaubt.16 Auch in Deutschland haben Gesundheitsbehörden wie die Kassenärztliche Bundesvereinigung ihre Anforderungen an die »telemedizinisch gestützte Betreuung von Patienten« den Pandemiebedingungen angepasst.17 Die direkten gesundheitlichen und indirekten psychosozialen Folgen der COVID-19 Pandemie hat den Kreis derer, die psychologische oder psychiatrische Betreuung brauchen auch noch zusätzlich vergrößert. Isolation und Quarantäne, Stress durch räumliche Enge und der Wegfall von Tagesroutinen, Furcht vor Ansteckung und Sorgen um Einkommen und berufliche Zukunft, all das hat die Nachfrage nach niederschwellig verfügbaren psychiatrischen Konsultationen via EchtzeitVideoschaltung enorm angetrieben.18 Die neuen digitalen Hilfsangebote werden nicht nur rege genutzt, sondern von den Patienten auch gut angenommen. In Bezug auf Diagnosestellung, klinische Wirksamkeit, Therapietreue und Patientenzufriedenheit scheinen Telepsychiatrie-Verfahren ungefähr gleich gut abzuschneiden wie die klassische Visite im Sprechzimmer. Dies belegt eine ganze Reihe von Studien, teilweise schon aus Vorpandemiezeiten.19 Amerikanische Psychologen haben vor kurzem eine umfassende MetaAnalyse von Untersuchungen vorgestellt, die »Teletherapie« bei Depressio-

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Amerikanische Strafverfolgungsbehörde, zuständig für die Regulierung und Kontrolle von illegalen Drogen und verschreibungsfähigen Betäubungsmitteln. Kannarkat JT, Smith NN et al. (2020) Administration and Policy in Mental Health and Mental Health Services Research. https://www.kbv.de/html/videosprechstunde.php (letzter Abruf 28.1.2023). Roth CB, Papassotiropoulos A et al. (2021) International Journal of Environmental Research and Public Health. Z.B. Hilty DM, Ferrer DC et al. (2013) Telemedicine Journal and e-Health; Fletcher TL, Hogan JB et al. (2018) Current Psychiatry Reports; Luo C, Sanger N et al. (2020) eClinicalMedicine.

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nen mit persönlicher Vor-Ort-Psychotherapie verglichen.20 Auch hier sind die Ergebnisse überzeugend. Videobasierte Psychotherapie am Computer oder Smartphone ist in Bezug auf die Verringerung depressiver Symptome in etwa gleich wirksam wie persönliche Psychotherapie vor Ort. Und auch bei den Therapie-Abbruchquoten waren keine nennenswerten Unterschiede festzustellen. Die Psychologen kommen zum Schluss, »dass die videobasierte Teletherapie eine praktikable und wirksame Alternative zur persönlichen Betreuung sein kann, um depressive Symptome zu verringern.« Wegen ihrer hohen Praxisbezogenheit ist die Kognitive Verhaltenstherapie (KVT) ganz besonders geeignet für eine selbständig durchzuführende, beziehungsweise vom Therapeuten per Videokonferenz angeleitete onlineTherapie. Die KVT ist eine der klassischen und allgemein anerkannten psychotherapeutischen Verfahren, deren Kosten auch von der Krankenkasse übernommen wird.21 Computeranwendungen für KVT gibt es schon seit den 1990er Jahren, zuerst per CD-ROMs, später via Internet und längst auch als Smartphone-Apps. KVT ist hinsichtlich der Umsetzung im Alltag die wohl konkreteste aller Psychotherapieschulen. Sie arbeitet oft mit Anleitungen und praktischen Aufgaben, erfordert daher aber auch Eigeninitiative.22 Dass auch die IT-basierten Versionen der KVT zur Behandlung einer Vielzahl von Störungsbildern gut geeignet sind, zeigen die umfangreichen wissenschaftlichen Untersuchungen der letzten Jahre. Depressionen, Generalisierte Angststörung, Panikerkrankungen, Zwangsstörungen, Anpassungsstörungen, Posttraumatische Belastungsstörung, Bipolare Störungen, Phobien und chronische Schmerzen. Das ist die lange Liste von psychischen und psychosomatischen Erkrankungen, bei denen die Wirksamkeit von KVT via Internet und Smartphone Apps wissenschaftlich belegt ist.23 Ob digitale KVT-Angebote auch bei Alkoholmissbrauch und anderen Drogenproblemen zu etablierten 20 21

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Giovanetti AK, Punt SEW et al. (2022) Telemedicine Journal and e-Health. Des Weiteren besteht in Deutschland Anspruch auf Kostenübernahme für Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie, Analytische Psychotherapie und Systemische Therapie (Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses [G-BA], Stand 2022). Im Zentrum der KVT stehen die kognitiven Prozesse. Gedanken, Einstellungen und Werturteile sollen vom Klienten erforscht und überprüft werden. Stellen sich diese als irrational oder schädlich heraus, wird versucht, die nicht realitätsgerechten Einstellungen und (Vor)urteile zu korrigieren und durch verändertes Verhalten im Alltag praktisch umzusetzen. Siehe z.B. die Review-Artikel von Kumar V, Sattar Y et al. (2017) Cureus; Matsumoto K, Hamatani S (2021) Journal of Medical Internet Research.

Kapitel 6: Telepsychiatrie und das neue Zeitalter digitaler Interventionen

suchtmedizinischen Behandlungsverfahren werden könnten, ist weniger klar, wird aber gerade intensiv untersucht. Schon vor einigen Jahren gab es eine kontrollierte Studie zum webbasierten Interventionstool Quit the Shit. Der reimige Name ist Programm und richtet sich an chronische Cannabiskonsumenten. Und das offenbar mit Erfolg – die vielkiffenden Studienteilnehmer haben deutlich weniger geraucht, waren weniger depressiv und ängstlich und erfreuten sich einer größeren Lebenszufriedenheit.24 In ihrem Review-Artikel »Psychiatrie im digitalen Zeitalter« von 2021 schreiben Forscher der Universität Basel, dass jeden Tag mehr als zweihundert neue Gesundheits-Apps bei Apple App Store und Google Play hochgeladen werden.25 Das Gesamtangebot an Gesundheits-Apps für Smartphones und Laptops wird gegenwärtig auf etwa 300’000 geschätzt, davon 10’000 bis 20’000 mit Bezug zu psychischer Gesundheit.26 Stressreduktion durch Achtsamkeit und Meditation, Selbstbeobachtung über Symptom-Ratings und Stimmungstagebuch, Kognitives Training, Hilfe bei Schlafstörungen, Burnout-Prophylaxe, Psychoedukation oder Dialektische Verhaltenstherapie. Nichts, was es nicht gibt. Happify, Headspace, myStrength, HelloBetter, Meru Health, Calm, Moodfit, FearFighter, Moodlytics, ClinTouch, Mind-Doc, Arya oder vielleicht doch besser Selfapy? Was könnte mir helfen? Um die Flut von AppAngeboten überhaupt noch halbwegs überschauen zu können, sind längst professionelle, von Experten betriebenen Informationsportale wie One Mind Psyber Guide27 oder die M-Health Index and Navigation Database (MIND)28 entstanden. Auch die deutschen Krankenkassen betreiben entsprechende Serviceseiten.29 Neben Reviews und Beurteilungen findet man hier auch konkrete Empfehlungen, welche App bei der eigenen, individuellen Problemlage geeignet sein könnte.

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Tossmann HP, Jonas B et al. (2011) Cyberpsychology, Behavior and Social Networking. Roth CB, Papassotiropoulos A et al. (2021) International Journal of Environmental Research and Public Health. Clay RA (2021) American Psychological Association; Lagan S, Sandler L et al. (2021) British Medical Journal Open. https://onemindpsyberguide.org (letzter Abruf 28.1.2023). Lagan S, Sandler L et al. (2021) British Medical Journal Open, https://mindapps.org (letzter Abruf 28.1.2023). https://www.krankenkassen.de/gesetzliche-krankenkassen/leistungen-gesetzliche-k rankenkassen/apps/depressionen (letzter Abruf 28.1.2023).

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Therapieplätze sind Mangelware Smartphone Apps werden von Ärzten und Krankenkassen gerne empfohlen, um die Zeit zu überbrücken, bis eine reguläre Psychotherapie beginnen kann. Und das kann bekanntlich dauern. Gemäß deutscher Bundes Psychotherapeuten Kammer (März 2021) müssen von den Patienten, bei denen in einer psychotherapeutischen Anamnese-Sprechstunde Behandlungsbedarf festgestellt wird, vierzig Prozent mindestens drei bis neun Monate auf den Beginn einer Therapie warten.30 Und die Coronapandemie hat die »Mangelware Psychotherapie« noch weiter verknappt. Mit ein Grund, warum es seit Oktober 2020 in Deutschland auch Apps auf Rezept gibt. Digitale Gesundheitsanwendungen können nun offiziell auf Krankenkassenkosten verschrieben werden. Auch die amerikanische Arzneimittelbehörde FDA hat Zulassungsverfahren für »digitale Therapeutika« eingeführt und schon einige Apps amtlich zertifiziert.31 Dass nun auch für mental health Apps Wirksamkeit und Sicherheit in klinischen Studien belegt werden, dürfte auch in der Fachwelt für mehr Akzeptanz und damit für weitere Verbreitung sorgen. Es ist auch höchste Zeit, dass im bisher kaum regulierten Gesundheits-App Markt Qualitätsstandards eingeführt werden. Wie sicher und wirksam Smartphone Apps in der Praxis tatsächlich sind, wenn sie als alleinige Therapiemaßnahmen genutzt werden, lässt sich aber noch nicht beurteilen. Dafür gibt es einfach noch zu wenige Studien. Immerhin, ein Übersichtsartikel zum Nutzen von Apps, die auf Achtsamkeitsbasierter Stressreduktion basieren, listet 34 randomisierte kontrollierte Studien auf, die durchwegs gute Ergebnisse zeigten.32 In der Metaanalyse ergaben sich positive Effekte für die Testkriterien »Stressempfinden«, »Angst«, »Depression« und »psychisches Wohlbefinden«. Nicht signifikant verbessert haben sich die Kriterien »Sorgen« und »Allgemeines Wohlergehen«. Das ist auch kein Wunder – widrige Lebensumstände, ökonomische Probleme und sonstiges Unglück kann eine App nun mal nicht begradigen. Das fällt dann schon eher in den Zuständigkeitsbereich der Sozialpsychiatrie. Oder im großen Maßstab der Weltpolitik.

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https://www.bptk.de/bptk-auswertung-monatelange-wartezeiten-bei-psychotherap eutinnen (letzter Abruf 28.1.2023). reSET, ein »digitales Therapeutikum« zur Behandlung von Substanzkonsumstörungen der Firma Pear Therapeutics, hat schon 2017 das FDA-Gütesiegel bekommen und wurde damit zur weltweit ersten verschreibungspflichtigen Smartphone App. Gal E, Stefan S et al. (2021) Journal of Affective Disorders.

Kapitel 6: Telepsychiatrie und das neue Zeitalter digitaler Interventionen

Die traditionellen Psychotherapien im konventionellen Praxis-Setting sind nachgewiesenermaßen besonders wirksam zur Behandlung von common mental disorders.33 Darunter fallen Depressionen, alle Arten von Angststörungen, Zwangsstörungen und die Posttraumatische Belastungsstörung.34 Erste kontrollierte Studien weisen darauf hin, dass diese weit verbreiteten psychischen Problemlagen auch auf die neuen digitalen Therapieformen gut ansprechen. Dazu ein Beispiel: Englische und amerikanische Forscher haben untersucht, wie wirksam die auf KVT basierende Smartphone App Daylight bei Generalisierter Angststörung ist.35 Die Ergebnisse waren eindrücklich: Bei 71 Prozent der App-Nutzer konnte nach zehn Wochen eine Remission der Angststörung beobachtet werden, in der »Warteliste«-Kontrollgruppe war dies nur bei 33 Prozent der Fall. Ein beachtlicher Therapieerfolg, zumal die Teilnehmer zu Beginn der Studie stark ausgeprägte Symptome hatten. Dass die (traditionelle) Kognitive Verhaltenstherapie bei Generalisierter Angststörung auch im Vergleich zur Behandlung mit Psychopharmaka besser abschneidet, ist schon länger bekannt.36 Und das ist von praktischer Bedeutung, schließlich werden Antidepressiva gemäß offizieller Leitlinie zur Behandlung von Angststörungen immer noch als gleichwertige Therapieoption empfohlen.37 Auch wenn der direkte Vergleich wegen methodischer Unterschiede problematisch ist: Die Gesamteffektstärke von Kognitiver Verhaltenstherapie auf die Symptomreduktion bei Generalisierter Angststörung dürfte etwa doppelt so groß sein wie bei medikamentöser Therapie.38 Sollten sich die digital verabreichte Psychotherapie als ähnlich wirksam erweisen, wie die Therapie im traditionellen Praxis-Setting, dann wäre damit auch das wichtigste Argument für den Einsatz von Psychopharmaka

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Die englische Bezeichnung kann nur mit Bedeutungsverlust übersetzt werden, bedeutet »common« doch gleichzeitig »normal«, »gewöhnlich«, »alltäglich« und »häufig«. National Collaborating Centre for Mental Health [UK] (2011) »Common Mental Health Disorders«. Carl JR, Miller CB et al. (2020) Depression and Anxiety. Cuijpers P, Cristea IA et al. (2016) World Psychiatry; Hidalgo RB, Tupler LA et al. (2007) Journal of Psychopharmacology; Carl E, Witcraft SM et al. (2020) Cognitive Behaviour Therapy. Bandelow B, Lichte T et al. (2015) »S3-Leitlinie Angststörungen«. Empfohlen werden die SSRIs Citalopram, Escitalopram, Paroxetin und Sertralin, der SNRI Venlafaxin und das trizyklische Antidepressivum Clomipramin. Effektstärken, ausgedrückt als Hedges’ g = 0.76 für KVT und 0.38 für Pharmakotherapie. Siehe Carl E, Witcraft SM et al. (2020) Cognitive Behaviour Therapy, S. 12.

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bei Angststörungen hinfällig: Als Stütze und Überbrückungshilfe bei NichtVerfügbarkeit eines Therapieplatzes. Im Vergleich zur endlos langen Liste möglicher Nebenwirkungen und Absetzreaktionen39 bei Antidepressiva ist das Nebenwirkungsprofil bei den digitalen KVT-Therapien jedenfalls entspannter. In der Studie zur Daylight App berichtete genau ein Proband von einem »unerwünschten Ereignis«.40 Er sei wegen Schwierigkeiten beim Registrieren und Herunterladen der App so gestresst gewesen, dass sich seine Angstsymptome verstärkt hätten. Die Autoren erwähnen, dass sie diesen Vorfall pflichtgemäß der Ethikkommission gemeldet hätten. Obwohl ihre Profession gerade so nachgefragt ist, wie seit der Hochblüte der Psychoanalyse nicht mehr, empfinden manchen Psychotherapeuten die boomenden Selbsthilfe Apps und online-Therapieprogramme als Konkurrenz. Es gibt sogar Befürchtungen, man könnte eines Tages verdrängt werden. Doch Widerstand ist zwecklos. Die Psychologen haben gar keine andere Wahl, als beim Trend zur virtuellen Patientenversorgung aktiv mitzumachen. Dass sich ihr Berufsstand mit den neuen Therapie-Technologien auseinandersetzt, hält auch die klinische Psychologin Marlene Maheu, Direktorin des Telebehavioral Health Institute für unvermeidbar: »Wir werden entweder Teil der technologischen Revolution sein – und mithelfen, sie zu gestalten und mit den richtigen Werten zu lenken – oder wir werden zurückbleiben.«41 In der Praxis ist die Zusammenarbeit von App-Entwicklern und Psychotherapeutinnen ohnehin schon der Regelfall. Ohne das Wissen aus Psychologie und Psychotherapieforschung ließen sich diese Anwendungen gar nicht vernünftig programmieren. Es dürfte die besorgten Therapeuten aus Fleisch und Blut beruhigen, dass digitale Interventionen am erfolgreichsten sind, wenn sie in einen klassischen psychotherapeutischen Prozess eingebettet sind. Die Vorzüge beider Verfahren lassen sich auch gut kombinieren. Doktor App, der »Therapeut in der Hosentasche«, ist jederzeit verfügbar und übernimmt die Routinebetreuung im therapeutischen Alltagsgeschäft.42 Dazu finden in regelmäßigen Abständen,

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Siehe z.B. die »Discontinuation-emergent Signs and Symptoms« (DESS) Checkliste in Rosenbaum JF, Fava M et al. (1998) Biological Psychiatry, S. 87. Carl JR, Miller CB et al. (2020) Depression and Anxiety, S. 1173. Clay RA (2021) American Psychological Association. Dies setzt natürlich voraus, dass Hilfesuchende wenigstens die minimal notwendige Eigeninitiative aufbringen können. Bei schwer depressiven Patienten ist dies möglicherweise nicht mehr gegeben.

Kapitel 6: Telepsychiatrie und das neue Zeitalter digitaler Interventionen

vielleicht auch nur alle paar Wochen, ergänzende Vor-Ort-Konsultationen mit dem Therapeuten statt. Im persönlichen Gespräch werden aktuelle Probleme behandelt, Verlaufsbeurteilungen gemacht, Therapieziele überprüft und Motivationsarbeit geleistet. Und weil der digitale Kollege schon einen großen Teil der Routinearbeit erledigt hat, bleibt dem Therapeuten mehr Zeit, sich um diese individuellen Belange zu kümmern. In diesen persönlichen Sitzungen lässt sich auch die wichtige »therapeutische Beziehung« aufbauen und pflegen – bekanntermaßen ein ganz zentraler Wirkfaktor jeder Psychotherapie.43

Mit Maschinen über Sorgen reden Auch Chatbots, also digitale Gesprächsagenten, haben bereits Einzug in Psychiatrie und Psychotherapie gehalten.44 Ihre Existenzberechtigung wird ebenfalls mit chronischem Therapiefachkräftemangel und ungenügendem Zugang zu Gesundheitsversorgung begründet. Vollautomatisierte Computerprogramme führen einen text- oder sprachbasierten Dialog mit Menschen und imitieren dabei einen Konversationsstil, wie er typischerweise in Therapiegesprächen gepflegt wird. Und weil die neueste Generation »relationaler« Chatbots auch die sozialen und emotionalen Dimensionen natürlicher Gespräche zunehmend besser nachahmt, wirkt das Plaudern mit der Maschine immer natürlicher. Ziel der Chat-Programmierer ist ein möglichst hoher »Anthropomorphismus« – je menschenähnlicher, desto besser.45 Doch funktioniert das tatsächlich? Da ich gerade deprimiert bin, weil ich die ganze Zeit deprimierende Kriegsnachrichten aus der Ukraine lese, mache ich einen Selbstversuch mit dem mental health chatbot Wysa.46 Nach der Installation der App auf meinem Handy stellt sich Wysa als netter Pinguin-Avatar vor, mit

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Siehe z.B. Horvath AO, Symonds BD (1991) Journal of Counseling Psychology. Vaidyam AN, Linggonegoro D et al. (2021) Canadian Journal of Psychiatry; Bendig E, Erb B et al. (2019) Verhaltenstherapie. Mit der Menschenähnlichkeit durch »Lernen im Alltag« kann man es als Computerprogramm aber auch übertreiben. Der von Microsoft entwickelte Chatbot »Tay« begann schon kurze Zeit nach seiner Inbetriebnahme auf Twitter, massenhaft rassistische und sexistische Nachrichten zu verfassen. Nach nur sechzehn Stunden sah sich Microsoft gezwungen, sein allzu gelehriges Programm wieder abzuschalten. (https://www.theguardian.com/technology/2016/mar/24/tay-microsofts-aichatbot-gets-a-crash-course-in-racism-from-twitter, letzter Abruf 28.1.2023). https://www.wysa.com (letzter Abruf 28.1.2023).

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dem ich über meine Gefühle und Gedanken reden soll: »anonym, vertraulich, unvoreingenommen und jederzeit verfügbar«. Ich möchte von Wysa wissen, wie ich mich wieder auf das Schreiben konzentrieren kann, weil ich gerade dem doomscrolling verfallen bin. Und so ging unser Gespräch: »Hallo Felix, wie geht es dir heute?« »Nicht so gut. Kann ich dir etwas erzählen?« »Sicher. Ich kann ein Geheimnis behalten«. »Ich mache mir große Sorgen wegen dem Krieg in der Ukraine und checke dauernd Nachrichten. Ich kann mich nicht konzentrieren.« »Okay. Gibt es etwas, worüber Du Dich heute freust?« »Nicht viel. Der Krieg wird immer schlimmer. Liest Du keine Nachrichten?« »Das klingt, als wäre ich gerade nicht hilfreich. Denkst Du das auch?« »Ja, das hilft mir nicht weiter.« »Das tut mir Leid. Hilf mir zu verstehen. Erzähl mir, was gerade nicht geklappt hat.« »Ich fühle mich nicht verstanden.« »Sorry, dass ich Dir dieses Gefühl gab. Worüber willst Du reden?« »Wie ich mit dem Schwarzmalen aufhören und mich wieder konzentrieren kann.« »Was denkst Du?« »Das frage ich Dich.« »Das klingt, als wäre ich gerade nicht hilfreich. Denkst Du das auch?« »Ja, aber das hatten wir eben schon.« »Worüber willst Du reden?« »Also nochmal – wie kann ich mit dem Prokrastinieren aufhören und wieder vernünftig arbeiten?« »Bitte erläutere, warum Du mit dem Prokrastinieren aufhören willst.« »Ist das nicht offensichtlich? Es ist Zeitverschwendung.« »Das klingt, als wäre ich gerade nicht hilfreich. Denkst Du das auch?« Da wir nun offensichtlich in einer Endlosschleife gelandet sind, breche ich den Chat mit dem Pinguin ab. Gleich danach entschuldigt sich Wysa und bietet mir Hilfe bei echten Menschen an: »Okay. Da ich ein Bot bin, habe ich meine Beschränkungen und ich versuche immer noch zu lernen. Wenn Du jemanden zum Reden brauchst, findest du hier einige Telefonberatungsstellen, die emotionale Unterstützung durch Zuhören anbieten.« Eine Auswahlliste zeigt mir jetzt Beratungsstellen in Großbritannien, Indien, den USA und Australien an. Wie es scheint, teilweise sogar kostenfrei. Zugegeben, dieser Chat-Härtetest mit dem geduldigen KI-Pinguin war etwas unfair. Natürlich konnte sich aus diesem inhaltlich ganz konkreten Problem kein realistisches Gespräch entwickeln. Deutlich besser funktionieren Wysas KI-Algorithmen, wenn im Chat vorab trainierte Stichwörter wie »Angst«, »Panik« oder »ich kann nicht schlafen« vorkommen. Damit kann der Pinguinbot etwas anfangen und bietet gleich eine Auswahl von passenden Entspannungstechniken, Achtsamkeitsübungen oder Coping-Strategien an, die man dann selbst durchführen kann. Und wenn es einmal wirklich brenzlig wird, gibt es immer noch die eingeblendete SOS-Funktion, über die man im Notfall direkt mit einer Krisen-Helpline verbunden wird.

Kapitel 6: Telepsychiatrie und das neue Zeitalter digitaler Interventionen

7,6 Minuten Zeit für einen Patienten Was grundsätzlich für alle mental health Apps gilt, scheint auf Siris und Alexas therapeutisch orientierte Artverwandte ganz besonders zuzutreffen: Man muss sich darauf einlassen und dem Ungewohnten eine Chance geben. In einer Studie, an der anonyme Chatprogramm-Nutzer mit Symptomen von Depression teilgenommen haben, hat sich im Zeitraum von zwei Monaten die Stimmung bei den Vielnutzern deutlich stärker gebessert, als bei Nutzern, die Wysa nur selten benutzt haben.47 Im Zweifelsfall könnte ein zwar bloß imitiertes, aber ausführliches und geduldiges Gespräch mit einem Chatbot immer noch hilfreicher sein, als der Austausch mit einem echten, aber gestressten Arzt, der gerade mal ein paar Minuten Zeit hat. Und zwar 7,6 Minuten, um genau zu sein. Das ist die Zeit, die sich ein Hausarzt in Deutschland durchschnittlich für einen Patienten nehmen kann.48 Wer beim Hausarzt vorstellig wird, sei an dieser Stelle auch geraten, sich beim Schildern seiner Symptomatik möglichst kurz zu halten. Im Durchschnitt wird ihm nämlich eine Eingangsredezeit von 11 bis 24 Sekunden gewährt, bevor der Arzt zum ersten Mal unterbricht.49 Kurze Anamnese, Diagnosestellung (»Depressive Episode, nicht näher bezeichnet« ICD-10 Code F32.9) und Verschreibung eines Standard-Antidepressivums. Das ist der Regelfall, wenn ein deprimierter Patient in einer überfüllten deutschen Hausarztpraxis vorstellig wird. Der chronische Zeitmangel in der ärztlichen Grundversorgung ist ein Zustand, den nicht nur die Patienten, sondern auch die Ärzteschaft selbst seit langem beklagt.50 Offenkundig ohne Erfolg, denn eine Besserung ist nicht in Sicht. Im Gegenteil – unsere alternde Bevölkerung mit zunehmenden chronischen Erkrankungen dürfte das Problem in Zukunft eher noch verschärfen. Und wie sieht es denn nun aus mit dem eingangs erwähnten digital phenotyping, dieser innovativen 24/7-überwachten Mensch-Smartphone Interaktion, die Ex-NIMH-Direktor Thomas Insel mit seiner Firma Mindstrong so enthusiastisch propagiert? Immerhin hält Insel es für möglich, dass spätere Generationen von Psychiatern im Rückblick erkennen werden, dass sich »die

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Inkster B, Sarda S et al. (2018) JMIR mHealth and uHealth. Weil zwei der drei Autoren Firmenangestellte bei Wysa Ltd. sind, ist die Studie mit der gebotenen Vorsicht zu interpretieren. Irving G, Neves AL et al. (2017) British Medical Journal Open. Wilm S, Knauf A et al. (2004) Zeitschrift für Allgemeinmedizin. Siehe z.B. Koch K, Gehrmann U et al. (2007) Deutsches Ärzteblatt.

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Revolution in Technologie und Informationswissenschaft als folgenreicher für die globale psychische Gesundheit herausgestellt hat«, als Genomik und Neurowissenschaften.51 Wie steht es also um die empirische Evidenz, dass digital phenotyping den »Übergang von Risiko zu Pflegebedürftigkeit signalisieren« oder »bei Patienten, die in Behandlung sind, wie ein ›Rauchmelder‹ frühe Anzeichen für Rückfall oder Genesung liefern könnte«?52 Die aussichtsreichste Anwendung für »digitale Phänotypisierung« in der Praxis dürfte die Voraussage einer manischen oder depressiven Phase bei Bipolaren Erkrankungen sein. Hier müssten zentrale Symptome wie verändertes Schlaf-, Aktivitäts- und Kommunikationsverhalten ihre direkteste Entsprechung in der Smartphone-Nutzung haben. In den klinischen Studien MONARCA I und MONARCA II haben dänische Wissenschaftler genau das untersucht.53 Die Studienteilnehmer mit der Diagnose »Bipolare affektive Störung« wurden entweder bei ihrer Standardbehandlung belassen oder erhielten zusätzlich ein Smartphone-basiertes Monitoring-System mit klinischem Feedback. Dieses Feedback bestand unter anderem darin, dass Projektmitarbeiter die Patienten bei Anzeichen von Verschlechterung kontaktiert und entsprechend dem aktuellen klinischen Status beraten haben. Nach neun Monaten wurde verglichen, wie häufig depressive und manische Ereignisse in den beiden Gruppen vorkamen. Die Ergebnisse waren enttäuschend. In der Smartphone-Interventionsgruppe kamen zwar etwas seltener manische, dafür etwas häufiger depressive Episoden vor. Insgesamt zeigte das Smartphone-basierte Patienten-Monitoring keinen Effekt auf den Krankheitsverlauf. Eine Nachfolgestudie untersuchte den Einfluss eines neuen, erweiterten MonitoringSystems auf Häufigkeit und Dauer von Wiederaufnahmen in die Psychiatrie. Aber auch hier ließ sich kein Unterschied nachweisen.54 Offenbar ist es schon schwierig, Nutzer mit einer bipolaren Störung überhaupt dazu zu bringen, eine mental Health App über längere Zeit zu nutzen. Dies zeigt eine aktuelle Untersuchung spanischer Forscher. Die Nutzungsrate ihrer SelbstmanagementApp SIMPLe nahm Monat für Monat kontinuierlich ab, bis sie nach einem halben Jahr nur noch einen Drittel der ursprünglichen Nutzer erreichte.55

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Insel TR (2018) World Psychiatry. Ebd., S. 276. Faurholt-Jepsen M, Frost M et al. (2015) Psychological Medicine; Faurholt-Jepsen M, Frost M et al. (2020) Psychological Medicine. Faurholt-Jepsen M, Lindbjerg Tønning M et al. (2021) Acta Psychiatrica Scandinavica. Garcia-Estela A, Cantillo J et al. (2022) Journal of Medical Internet Research.

Kapitel 6: Telepsychiatrie und das neue Zeitalter digitaler Interventionen

Trotz aller initialen Fehlschläge und technologischen Unausgereiftheiten sehen Forscher ein Potenzial im digital phenotyping, besonders bei Jugendlichen: »Da viele ernste psychische Erkrankungen erstmals im Jugendalter auftreten und weil diese Gruppe Verbrauchertechnologien begeistert annimmt, ist die erfolgreiche Entwicklung von digital phenotyping von besonderer Relevanz für die künftige wirksame Versorgung junger Menschen mit psychischen Problemen«, erklären australische Wissenschaftler in einem Review-Artikel von 2019.56 Es ist natürlich noch viel zu früh, eine Prognose über die zukünftige Bedeutung der digital phenotyping Technologien abzugeben, die gerade mal ein paar Jahre existieren, bzw. überhaupt erst entwickelt werden. Aber die Forschung läuft auf Hochtouren und verschiedene klinische Studien stehen vor ihrem Abschluss. Am prominentesten ist hier wohl die multizentrische RADAR-MDD57 Studie mit über 600 von unipolarer Depression betroffenen Teilnehmern.58 Gespannt sein darf man auch auf die SIMON Studie zur Suizidprävention per Smartphone, deren Studienprotokoll unlängst in Frontiers in Psychiatry vorgestellt wurde.59 In diesem Projekt wird untersucht, ob aus der Kombination zweier »digitalen Indices« (aktive Selbstberichte und passiv aufgezeichnete Verhaltensvariablen) eine individuelle Selbstmordgefährdung vorhergesagt werden kann. Auch die Sozialen Netzwerke sehen sich gezwungen, mittels künstlicher Intelligenz darauf zu reagieren, dass auf ihren Plattformen Suizide offen geplant und angekündigt werden. Nachdem 2017 mehrere Personen ihre Selbstmorde live auf Facebook gestreamt hatten,60 entwickelte der Onlinedienst ein eigenes KI-basiertes Präventionsprogramm.61 Algorithmen scannen seither die Posts und Kommentare der User nach Anzeichen von akutem Selbstmordrisiko. Schlagen Facebooks Algorithmen (oder andere Nutzer) Alarm, wird ein »geschultes Mitglied des Community Operations-Teams von Facebook« eingeschaltet und beurteilt den Fall. Kommt der Prüfer zum Schluss, dass unmittelbar Gefahr besteht, werden die örtlichen Behörden verständigt – nach Möglichkeit werden dabei auch gleich die Ortungsdaten durchgegeben.

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Huckvale K, Venkatesh S et al. (2019) NPJ Digital Medicine. »Remote Assessment of Disease and Relapse – Major Depressive Disorder« Studie. Matcham F, Barattieri di San Pietro C et al. (2019) BMC Psychiatry. Sels L, Homan S et al. (2021) Frontiers in Psychiatry. Singer N (2019) The New York Times vom 1.1. https://about.fb.com/news/2018/09/inside-feed-suicide-prevention-and-ai (letzter Abruf 28.1.2023).

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Facebooks Suizidkrisenprogramm ist weltweit in vielen Ländern aktiviert, allerdings nicht in der Europäischen Union, weil Datenschutzgesetze dies hier nicht zulassen. Gemäß Mark Zuckerberg habe sein Konzern im Jahr 2017 bei 3500 Personen ermöglicht, dass Polizei und Notdienste rasch eingreifen konnten.62 Aus Datenschutzgründen hätten sie aber nicht nachverfolgt, was aus den vermuteten Selbstmordkandidaten geworden sei, sagt Facebook. Es bleibt daher bis heute unklar, wie wirksam und sicher diese Kriseninterventionen in der Praxis tatsächlich sind. Experten warnen auch vor möglichem Schaden. So könne anrückende Polizei Gewalttaten erst provozieren oder nichtsuizidalen Personen eine ungerechtfertigte psychiatrische Beurteilung aufgezwungen werden.63

Der digital Divide – bald auch in der Psychiatrie? Unstrittig ist, dass mit all den neuen Angeboten der digitalen Psychiatrie eine viel größere Zahl potenziell behandlungsbedürftiger Menschen niederschwellig und kosteneffizient erreicht werden kann. Smartphones sind fast ubiquitär im Gebrauch, und dies nicht nur im Globalen Norden, sondern weltweit. Gerade in Afrika wurden in den letzten Jahren umfangreiche Mobiltelefon-Infrastrukturprojekte realisiert – was dazu geführt hat, dass es in manchen ländlichen Gegenden Afrikas zwischenzeitlich einfacher ist, ein Handynetz zu finden als fließendes Wasser.64 Zeitaufwändige Anfahrten zu einer Therapieeinrichtung quer durch die Großstadt oder aus dem entfernten ländlichen Raum entfallen oder sind nur noch gelegentlich notwendig. Aus der Not der Corona-Pandemie geboren, dürften viele auch künftig an dieser Annehmlichkeit festhalten wollen. Zudem kommt die Betreuung auf Distanz einigen Patientengruppen besonders entgegen. Menschen mit Störungen aus dem autistischen Formenkreis beispielsweise, oder Leute mit Tourette-Syndrom, die sich wegen ihrer schwer zu kontrollierenden Tics ungern in der Öffentlichkeit bewegen. Gleichzeitig droht sich die »digitale Kluft« nun auch in der psychiatrischen und psychotherapeutischen Betreuung bemerkbar zu machen. Alte Menschen, Mittellose und technisch nicht versierte Patienten dürften in der

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Zitiert in Singer N (2019) The New York Times vom 1.1. Ebd. Anstey Watkins JOT, Goudge J et al. (2018) Social Science & Medicine.

Kapitel 6: Telepsychiatrie und das neue Zeitalter digitaler Interventionen

virtuellen Gesundheitsversorgen der Zukunft genauso den Anschluss verlieren wie Leute weit draußen auf dem Land ohne vernünftige Netzabdeckung. Es gibt aber auch ganz grundsätzliche Kritik. Insbesondere bei Jugendlichen – der intensivsten Nutzergruppe – seien Smartphones eher die Ursache als die Lösung für psychische Störungen.65 Es wird auch argumentiert, dass eine nur von Ferne erfolgende oder gar komplett unpersönliche Patientenversorgung zu einer weiteren Isolation und Vereinsamung führt. Psychisch Belastete leben ohnehin häufig sozial zurückgezogen, sei dies aufgrund der Erkrankung oder wegen einer tatsächlichen oder auch nur befürchteten Stigmatisierung. Und dass Einsamkeit sowohl krankheitsverursachend wie krankheitsverstärkend wirkt, ist aus sozialpsychiatrischen Untersuchungen bestens bekannt.66 »Psychische Krankheiten gehen häufig mit einem generellen Verlust der Teilhabe an sozialen Beziehungen einher, und auch dem wird ein digitales Selbstmanagement kaum entgegenwirken« kommentiert dies der Philosoph und Psychiater Thomas Fuchs in einem kritischen Aufsatz zur digitalisierten Psychiatrie.67 Am Beispiel der Suizidprophylaxe verdeutlicht Fuchs die problematischen Vernachlässigung des Beziehungsaspekts in der psychiatrischen Arbeit durch KI-gestützte Auswertungsalgorithmen: »So könnte man denken, dass die Erfassung von digitalen Prädiktoren für Suizidalität es endlich erlaubt, die Unwägbarkeiten der klinisch-persönlichen Beurteilung zu ersetzen. Damit übersieht man aber, dass eine einfühlsame Exploration von Suizidalität durch eine erfahrene, intuitiv begabte Psychiaterin selbst eine beziehungsstiftende und damit eine präventive Wirkung hat. Was man von einer Smartphone-gestützten Auswertung nicht wird sagen können – oder will man dem Patienten eröffnen, dass der Computer aus seinen verfügbaren Datensätzen eine Wahrscheinlichkeit von 83 % für einen Suizidversuch errechnet hat, was seine Unterbringung auf einer beschützten Station leider unumgänglich mache?«68

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Twenge JM, Martin GN et al. (2018) Emotion. Auch Thomas Insel hält »soziale Isolation für die am meisten vernachlässigte Dimension bei schweren psychischen Störungen«; https://www.nytimes.com/2022/07/22/op inion/ezra-klein-podcast-thomas-insel.html (letzter Abruf 28.1.2023). Fuchs T (2021) Der Nervenarzt, S. 1152. Ebd., S. 1151.

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Eine Tablette mit Sensor überwacht die Therapietreue Ausgesprochen futuristisch stellen sich andere Experten die Zukunft der digitalen Psychiatrie vor. Die Rede ist von lebensechten Avataren, »Serious Games«, Virtual Reality Therapien69 und Holographischen VideokonferenzSystemen.70 Zu letzterem hat Google im Mai 2021 sein Project Starline vorgestellt.71 Mit dieser neuen Technologie soll es möglich sein, Kommunikationspartner als 3D-Hologramme zu sehen. Google beschreibt dies so: »Stellen Sie sich vor, Sie schauen durch eine Art magisches Fenster. Durch dieses Fenster sehen Sie eine andere Person lebensgroß und in drei Dimensionen. Sie können ganz natürlich sprechen, gestikulieren und Augenkontakt herstellen.«72 Wer weiß, vielleicht wird das Holodeck aus Star Trek ja doch noch wahr. Damit könnten sich tatsächlich ganz neue Therapiewelten eröffnen. Die radikalste und wahrscheinlich umstrittenste Innovation in der digitalen Psychiatrie dürfte aber das »Digital Medicine System« (DMS) des japanischen Pharmaherstellers Otsuka sein.73 Im November 2017 hat der Konzern gemeinsam mit dem kalifornischen Kooperationspartner Proteus Digital Health die behördliche Zulassung von Abilify Mycite® bekannt gegeben – einer AntipsychotikaFormulierung mit eingebettetem Mikrosensor.74 Zweck des DMS-Systems ist eine digitale Überwachung der psychopharmakologischen Therapietreue. Damit soll kontrolliert und dokumentiert werden, ob ein Patient seine antipsychotische Medikation zuverlässig einnimmt. Neben einer Spezialtablette mit Sensor in der Größe eines Sesamkorns benötigt das DMS-System ein Heftpflaster mit integriertem Signaldetektor und eine Smartphone App. Und so funktioniert Abilify Mycite® : Durch Kontakt mit dem Magensaft wird die Tablette aufgelöst und der Sensor aktiviert. Dieser sendet ein Signal mit einem spezifischen Code. Das auf die Haut geklebte Pflaster erkennt und speichert 69

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VR-basierte (Konfrontations-)Therapien sind schon seit längerem in Erprobung und scheinen besonders bei Phobien ähnlich effektiv zu sein wie die klassische Kognitive Verhaltenstherapie [siehe z.B. Botella C, Fernandez-Alvarez J et al. (2017) Current Psychiatry Reports]. Roth CB, Papassotiropoulos A et al. (2021) International Journal of Environmental Research and Public Health, S. 2. https://blog.google/technology/research/project-starline (letzter Abruf 28.1.2023). Ebd.; zitiert in Roth CB, Papassotiropoulos A et al. (2021) International Journal of Environmental Research and Public Health, S. 3. Ebd., S. 9. https://www.otsuka-us.com/discover/articles-1075 (letzter Abruf 28.1.2023).

Kapitel 6: Telepsychiatrie und das neue Zeitalter digitaler Interventionen

den gesendeten Code. Die Daten werden von der Smartphone App gesammelt und an die Datencloud gesendet. Die Patienten können die Daten direkt über die App abrufen und die Ärzte haben über ein Internetportal Zugriff darauf.75 »Das System wurde für Menschen mit einer schweren psychischen Erkrankung entwickelt, um ihnen die Möglichkeit zu geben, ihre tägliche Medikamenteneinnahme zu erfassen und einen sachkundigeren Dialog mit ihrem Gesundheitsteam zu führen«, bewirbt Otsuka sein Hybridprodukt aus Medikament und Instrument.76 Man könnte Abilify Mycite® aber auch einfach als Prototyp einer neuartigen Hightech-Methode zur Überwachung »uneinsichtiger« Patienten verstehen, an der vermutlich auch Dystopist George Orwell seine Freude gehabt hätte. Die Anwendung »mitfühlenden Zwangs« war schon in früheren Zeiten einer paternalistisch geprägten Psychiatrie gang und gäbe und könnte in Form digitaler Medikationsüberwachungssysteme ein modernes Update erfahren. Zumindest ist hier Vorsicht geboten. Je nach politischem Umfeld könnten einem unkooperativen Patienten durchaus Konsequenzen drohen. Zeigt ein DMS-System an, dass ein Patient sein Medikament nicht oder nur unregelmäßig einnimmt (oder Abilify Mycite® gleich ganz verweigert), könnten Sozialleistungen gekürzt, vielleicht eine auf Bewährung ausgesetzte Freiheitsstrafe zurückgenommen oder »fürsorgerische Zwangsmaßnahmen« eingeleitet werden. Anders als ihre amerikanischen Kollegen von der FDA war die europäische Arzneimittelbehörde EMA jedenfalls nicht überzeugt von Abilify Mycite® und hat dem hybriden Medizinalprodukt die Zulassung verweigert. Nachdem der Hersteller die Bedenken der Behörde nicht ausräumen konnte, hat Otsuka ihren Zulassungsantrag im Juli 2020 zurückgezogen.77 Auch scheint sich von den Entwicklern niemand gefragt zu haben, ob es für den Genesungsprozess eines Schizophrenie-Patienten mit paranoidem Wahn wohl hilfreich ist, wenn er dazu genötigt wird, jeden Tag Medikamente mit eingebauten Sendern zu schlucken.

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Roth CB, Papassotiropoulos A et al. (2021) International Journal of Environmental Research and Public Health, S. 9. https://www.otsuka-us.com/discover/articles-1075 (letzter Abruf 28.1.2023). https://www.ema.europa.eu/en/medicines/human/withdrawn-applications/abilifymycite (letzter Abruf 28.1.2023).

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Hybride Therapiebeziehungen in einer digitalen Welt Sicher ist, dass die Zukunft der digitalen Psychiatrie gerade erst begonnen hat und ihr kommender Stellenwert in der Versorgungslandschaft noch nicht abzusehen ist. Mit Blick auf die zunehmende Verlagerung psychiatrischer Betreuung in digitale und virtuelle Räume wird aber bereits gefordert, dass sich auch die Psychiater und Psychotherapeuten selbst aktiver mit dem technologischen Wandel beschäftigen müssten. Nur so könne die sinnvolle Gestaltung künftiger »hybrider Psychiater-Patienten-Beziehungen in einer digitalen Welt« gelingen.78 Ein Rat, den sich die Psychiater zu Herzen nehmen sollten. Die Demokratisierung der Gesundheitsversorgung durch niederschwellige Internetangebote und jederzeit verfügbare Smartphone Apps führt schon jetzt dazu, dass bei psychischen Problemen medizinische Einrichtungen immer mehr umgangen werden. Geht es einem psychisch schlecht, diagnostiziert man sich selbst im Internet, entweder mit traditionellen Selbsteinschätzungstests oder mit Hilfe der modernen KI-gestützten online Diagnose-Bots. Nach der Diagnose wählt der Depressive oder die Patientin mit der Panikstörung aus der Vielzahl von Therapie-Apps und online Behandlungsangeboten, mit oder ohne zahlungspflichtigen Therapeuten beziehungsweise »Coach«.79 Zur Behandlung unkomplizierter common mental disorders mag dies in vielen Fällen hilfreich sein, zumindest entsteht kein weiterer Schaden durch die unkritische Verschreibung von Psychopharmaka an Menschen, die sie gar nicht brauchen.80 Von den neuen technologischen Möglichkeiten dürften wieder die leicht und mittelschwer erkrankten Patienten – die vielen »worrying well« und »Konsumenten-Patienten« – profitieren, während ernsthaft Erkrankte weiterhin unterversorgt bleiben. Für chronisch Schizophreniekranke oder Menschen mit schweren Persönlichkeitsstörungen oder Abhängigkeitserkrankungen werden auch die neuen Instrumente der digitalen Psychiatrie allenfalls einen beschränkten Nutzen haben. Bislang am interessantesten für 78 79

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Shore JH (2020) JAMA Psychiatry. Von medizinischem Fachpersonal wird kritisiert, dass zunehmend »Coaches« mit fragwürdiger Qualifikation ihre Dienste bei den online Psychotherapien anbieten. Während Psychotherapeuten zur Führung ihres Berufstitels eine entsprechende Fachausbildung mit Approbation benötigen, darf jeder unter der nicht gesetzlich geschützten Bezeichnung »Coach« auftreten. Einmal abgesehen davon, dass man Psychopharmaka problemlos selbst im Internet bei einer der zahlreichen (illegalen) Schwarzmarkt-Apotheken bestellen kann – mit den bekannten Risiken.

Kapitel 6: Telepsychiatrie und das neue Zeitalter digitaler Interventionen

Patienten mit Psychose-Erkrankungen dürften Smartphone Apps sein, die Defizite in Motivation und sozialen Fähigkeiten verbessern sollen, beispielsweise die MASS (»Motivation and Skills Support«) App, an deren Entwicklung auch selbst Betroffene beteiligt waren.81 Von einer Pilotstudie mit 31 Schizophreniekranken wird berichtet, dass sich das soziale Funktionsniveau verbessert habe, vor allem bei den weiblichen Studienteilnehmern. Wie nachhaltig diese Verbesserungen sind, ist aber noch unklar.82 Die Psychiatrie ist seit jeher mit den psychisch Schwerkranken gefordert und überfordert,83 daran konnten weder enthusiastische Psychoanalytiker in den 1950er Jahren noch die neurowissenschaftliche Forschung viel ändern. Man sollte sich auch nicht der Illusion hingeben, dass die digitale Psychiatrie hier Wunder wirken könnte. Zeitintensive multiprofessionelle Betreuung, immer wiederkehrende Klinikaufenthalte und die zumindest zeitweise Medikation mit Psychopharmaka werden die Behandlung schwerer Verlaufsformen psychischer Erkrankungen wohl weiterhin dominieren.

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Fulford D, Mote J et al. (2020) Journal of Behavioral and Cognitive Therapy. Fulford D, Gard DE et al. (2021) JMIR Mental Health. Siehe dazu Weinmann S (2019) »Die Vermessung der Psychiatrie«.

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Kapitel 7: Ein Comeback der Sozialpsychiatrie Solange die Spaltung zwischen den engen neurowissenschaftlichen und den umfassenderen soziokulturellen Ansätzen nicht angegangen wird, ist die Zukunft der Psychiatrie nicht biologisch, sondern unausweichlich düster.1

Ein Comeback der Sozialpsychiatrie? Diese Kapitelüberschrift ist eigentlich falsch. Denn selbst in der Hochblüte der neurowissenschaftlich ausgerichteten Psychiatrie unserer Tage war die Sozialpsychiatrie natürlich nie weg. Sie hatte nur ein ausgeprägtes Popularitätstief. »In der Anwendung ist die Psychiatrie, wenn sie gut ist, Sozialpsychiatrie geblieben«, schreibt der Psychiater und Medizinsoziologe Asmus Finzen schon 1998 in seinem Buch »Das Pinelsche Pendel«, einer erhellenden und immer noch gültigen Analyse zur Lage des Sozialen im Zeitalter der biologischen Psychiatrie.2 Obwohl sie für das praktische Funktionieren des Psychiatriebetriebs so unabdingbar ist, war die Sozialpsychiatrie für lange Zeit aus dem Fokus geraten. Die »Schläge des Lebens«, so Psychiater Stefan Weinmann, seien durch die biologische Psychiatrie relativiert worden »indem sie ihnen in der Tragödie der Krankheit lediglich die Nebenrollen von ›Triggern‹ und ›Auslösern‹ zubilligt.«3 Auch Boris Quednow, Psychologe an der Universität Zürich, konstatierte jüngst ein epistemisches Ungleichgewicht in der Psychiatrie. Und dies in einem Kommentar in Biological Psychiatry, womit auch gleich die richtige Leserschaft adressiert wäre: »Obwohl psychiatrische Störungen in ihrem Kern soziale Störungen sind, haben wir als Forscher in der 1 2 3

Editorial »The crisis in psychiatry« (1997) Lancet. Finzen A (1998) »Das Pinelsche Pendel«, S. 125. Weinmann S (2019) »Die Vermessung der Psychiatrie«, S. 14.

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biologischen Psychiatrie in den letzten zwei Jahrzehnten viel Geld und Mühe darauf verwendet, psychiatrische Störungen vor allem durch Genomik, Proteomik, Transkriptomik, Metabolomik, Toponomik und Neuroimaging-Techniken zu charakterisieren, während ihre sozialen Aspekte oft vernachlässigt wurden.«4 Diese Vernachlässigung der sozialen Aspekte ist eine direkte und logische Nebenwirkung des psychiatrischen Biozentrismus. Versteht man eine psychische Störung als individuelles biologisches Problem, reicht es, dieses in einer Einzelbehandlung anzugehen. Schließlich wird auch nicht die ganze Familie in die Sprechstunde einbestellt, wenn Opa an Arthrose leidet.

Das Blickfeld der Psychiatrie erweitert sich Dass die Psychiatrieblätter in den 2000er Jahren voll von Hirnscans und Genetik-Diagrammen waren, lässt sich auch quantitativ belegen, wenn man die Archive der Fachzeitschriften zu Hilfe nimmt. Um die thematische Gewichtung über die Zeit nachzuvollziehen, bin ich in die Datenbank der Archives of General Psychiatry gestiegen – eines der renommiertesten Publikationsorgane der Psychiatrie5 – und habe mir die Inhaltsverzeichnisse angeschaut. Und dabei nachgezählt, wie viele Artikel sich mit den biologischen Aspekten der Psychiatrie beschäftigen und wie viele mit dem ganzen Rest: Epidemiologie, Diagnostik, Therapiekonzepte, Verlaufsuntersuchungen, klinische Studien, pharmakologische Hypothesen und so weiter. Und das hat meine private Recherche ergeben:6 Zwischen 2004 und 2012 ging es bei fünfzig bis sechzig Prozent aller Publikationen um genetische, neurowissenschaftliche oder molekularbiologische Untersuchungen. Von 2013 an hat der Anteil der Biologiethemen abgenommen und bewegt sich seit 2018 bei etwa fünfzehn bis fünfundzwanzig Prozent. Für den Zeitraum Januar bis April 2022 ergibt meine Rechnung für die Biologiethemen einen Anteil von gerade noch achtzehn Prozent – so viel wie zu Beginn der 1980er Jahre. Diese offenkundige (Wieder-)Erweiterung 4 5

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Quednow BB (2022) Biological Psychiatry, S. 852. Die Archives of General Psychiatry, das ehrwürdige Flagschiff unter den Psychiatrieblättern, gehört gemäß »impact factor« seit Jahrzehnten zu den Top Drei der Fachpublikationen im Bereich Psychiatrie. 2013 wurde die Zeitschrift in »JAMA Psychiatry« umbenannt. Um mir die Arbeit zu erleichtern, habe ich von jedem Jahrgang nur die Ausgaben Januar bis April ausgezählt. Dies erlaubte auch den aktuellen Vergleich mit dem Jahr 2022, dessen April-Ausgabe beim Schreiben dieses Kapitels gerade erschienen war.

Kapitel 7: Ein Comeback der Sozialpsychiatrie

des akademischen Blickfelds kommt nicht zuletzt der Sozialpsychiatrie zugute. So erschien im April 2022 im eben verhandelten Psychiatrieblatt der Artikel »Soziale Determinanten der psychischen Gesundheit. Empfehlungen für Forschung, Ausbildung, Praxis und politische Strategie«.7 Unwahrscheinlich, dass der gleiche Artikel es auch schon zehn Jahre früher in dieses Blatt geschafft hätte. Und auch die gemeinsame Expertenkommission der World Psychiatric Association und des Fachblattes Lancet hat sich in einem viel beachteten Bericht zur Zukunft der Psychiatrie an die Tugenden der Sozialpsychiatrie erinnert: »Die zunehmende Anerkennung der sozialen Einflussfaktoren auf die Gesundheit hat eindeutig zu einer stärkeren Würdigung demografischer, wirtschaftlicher und soziokultureller Risiko-Aspekte geführt. Dies gilt für die Entwicklung psychiatrischer Störungen, die Akzeptanz der Behandlung durch die Patienten und die Konzeption und Umsetzung von Versorgungssystemen.«8 Die fundamentale Rolle sozialer Faktoren für unser physisches und psychisches Wohlergehen ist unbestritten und gehört seit Jahrhunderten zum fest gesicherten Wissen. Sozialforscherinnen, Psychologen und Mediziner haben das in unzähligen Untersuchungen belegt. Trotz seiner offenkundigen Bedeutung für die Psychiatrie dauerte es bis zum frühen 20. Jahrhundert, bis der Begriff »Soziale Psychiatrie« in der Medizinliteratur auftaucht: »Die Lehre von den für die geistige Gesundheit der Gesamtheit verderblichen Umständen und den zu deren Abwehr nützlichen Maßregeln wollen wir soziale Psychiatrie nennen«, schreibt der Kraepelin-Schüler Georg Ilberg 1904 in einem Aufsatz in der »Monatsschrift für soziale Medizin«.9 Richtig Fahrt nimmt die Sozialpsychiatrie aber erst in den 1960er Jahren auf. Die brutale und menschenunwürdige Versorgungsrealität in den deutschen (Verwahr-)Psychiatrieanstalten geriet zunehmend in die Kritik reformorientierter Ärzte und fand 1965 seinen ersten Höhepunkt in einer Denkschrift von Heinz Häfner, in der der Psychiater von der Universität Heidelberg den »nationalen Notstand« ausrief.10 Die Aufbruchstimmung in der Sozialpsychiatrie um 1968 führte zur Gründung des

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Jeste DV, Pender VB (2022) JAMA Psychiatry. Bhugra D, Tasman A et al. (2017) Lancet Psychiatry, S. 776. Zitiert in Finzen A (1998) »Das Pinelsche Pendel«, S. 20. Die Geschichte der Sozialpsychiatrie geht aber weiter zurück. Asmus Finzen sieht im »Moral Treatment« im England des frühen 19. Jahrhunderts den frühesten Vorläufer eines systematischen Therapieverfahrens, das sozialpsychiatrische Grundelemente enthält [Ebd., S. 12]. Häfner H (2016) »Psychiatriereform in Deutschland«, S. 128.

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»Mannheimer Kreises«, ein Zusammenschluss von »gesellschafts- und psychiatriekritischen Kräften, die mit Leidenschaft und Ungeduld die längst fällige Reform der psychiatrischen Versorgung forderten.«11 Aus diesem Mannheimer Kreis, in dem es gemäß der Psychologin Renate Schernus auch nicht wenige »marxistisch geschulte Radikallinke« gab,12 ging 1970 die »Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie« (DGSP) hervor.

Die Psychiatrie-Enquête, ein Meilenstein der Sozialpsychiatrie Im gleichen Jahr hat Heinz Häfners dramatischer Appell zur Psychiatriereform auch den Weg in den deutschen Bundestag gefunden. Am 17. April 1970 hielt der CDU-Politiker Walter Picard eine Rede, die Passagen aus Häfners Denkschrift enthielt.13 Der damit eingebrachte Anstoß zur PsychiatrieEnquête wurde im Juni 1971 von der Bundesregierung offiziell beschlossen. Eine Kommission aus Sachverständigen unter der Leitung von Caspar Kulenkampff wurde beauftragt, die Lage psychisch Kranker in der Bundesrepublik zu untersuchen und Verbesserungsvorschläge auszuarbeiten. Die praktischen Auswirkungen dieser Enquête waren enorm und wirken bis heute nach. »In der Geschichte der Medizin hat kein Ereignis das Schicksal der Kranken und die psychiatrische Versorgung so einschneidend verbessert wie die Psychiatrie-Enquête der Bundesrepublik Deutschland 1971–1975«, urteilt Heinz Häfner rückblickend in einem Vortrag am DGPPN-Kongress von 2014.14 Und so sahen die wichtigsten Anliegen der Fachkommission aus, die dann auch in weiten Teilen realisiert wurden: Aufbau eines bedarfsgerechten, gemeindenahen Versorgungssystems mit ambulanten und komplementären Diensten,15 Auf- und Ausbau ambulanter Dienste und psychiatrische Abteilungen in Allgemeinkrankenhäusern, Gleichstellung körperlich und seelisch Kranker in rechtlicher, finanzieller und sozialer Hinsicht sowie vorrangige Verbesserung der Versorgung psychisch kranker Kinder und Jugendlicher

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Schernus R (2014) Soziale Psychiatrie. Ebd. Häfner H (2016) »Psychiatriereform in Deutschland«, S. 129. Ebd., S. 119. Dieses Grundkonzept wurde stetig erweitert und umfasst heute unter anderem Sozialpsychiatrische Dienste, betreutes Wohnen und Arbeiten, Selbsthilfegruppen oder Tagesstätten für Menschen mit psychischen Störungen.

Kapitel 7: Ein Comeback der Sozialpsychiatrie

sowie Alkohol- und Suchtkranker.16 Im Zentrum der Reformbemühungen stand die »wohnortnahe Behandlung psychisch Kranker unter Erhaltung ihrer persönlichen und beruflichen Beziehungsnetze und die Förderung der Wiedereingliederung nach Krankenhausentlassung.«17 Durch ein vielfältiges Angebot an ambulanten und teilstationären Diensten sollten lange Krankenhausaufenthalte vermieden und die Enthospitalisierung entlassungsfähiger Kranker ermöglicht werden. Die außerordentlichen und langfristigen Auswirkungen der Psychiatriereform in Deutschland lassen sich auch statistisch belegen. So nahm die Anzahl belegter Krankenhausbetten in Psychiatrieabteilungen von 1975 bis 2011 um fast zwei Drittel ab. In derselben Zeit sank die durchschnittliche Verweildauer der Patienten in der Psychiatrie von über 226 Tagen auf knapp 23 Tage.18 Der bedeutendste Erfolg der Psychiatriereform in Deutschland lässt sich aber gar nicht in Zahlen fassen und ist gemäß Enquête-Pionier Häfner immaterieller Natur, nämlich »ein tiefgreifender Mentalitätswandel bei der Mehrzahl der in der psychiatrischen Krankenversorgung Tätigen und im Zusammenhang damit ein grundlegend veränderter Umgang mit den psychisch Kranken.«19 Ähnlich beurteilt dies Asmus Finzen, der selbst auch an der Psychiatrie-Enquête beteiligt war: »Bei oberflächlicher Betrachtung erscheint die Psychiatriereform vorrangig als Reform der psychiatrischen Institutionen. In Wirklichkeit aber führt der Prozess der Auflösung der Anstalt in eine Vielzahl von therapeutischen, rehabilitativen und betreuenden Einrichtungen zu einer tiefgreifenden qualitativen Veränderung der psychiatrischen Krankenversorgung und zu einer Umorientierung der therapeutischen Haltung von der traditionellen Verwahrung zu Behandlung und Rehabilitation.«20 Die Sozialpsychiatrie kann also mit Recht für sich reklamieren, was die Psychiatrieforschung unserer Zeit verspricht, aber nicht einlöst: Das Schicksal psychisch Kranker ganz praktisch und nachhaltig zu verbessern.

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Häfner H (2016) »Psychiatriereform in Deutschland«, S. 135f. Ebd., 136. Ebd., S. 139. Die Zahlen betreffen nur die alten Bundesländer. Häfner H (2016) »Psychiatriereform in Deutschland«, S. 140. Finzen A (1998) »Das Pinelsche Pendel«, S. 28.

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Überstürzte Psychiatriereform überfordert Kranke und Angehörige Die Enthospitalisierung nach oft jahrelanger Unterbringung in den Psychiatrieanstalten eröffnete den Patienten ganz neue Lebensperspektiven. Doch das hatte auch seinen Preis.21 Nicht selten waren die psychisch Kranken und ihre Angehörigen überfordert von der plötzlich gewonnenen Autonomie und der Notwendigkeit zur Selbstfürsorge. In extremster Ausprägung war dies in Italien in den frühen 1980er Jahren zu beobachten. Die erfolgreiche politische Arbeit des Reformpsychiaters Franco Basaglia mündete 1978 im Erlass des Legge 180,22 im Zuge dessen die Psychiatrieeinrichtungen in Italien nach und nach geschlossen wurden. Die Versorgung der psychisch Kranken sollte von nun an gemeindenah in offenen, ambulanten Einrichtungen und Akutstationen erfolgen. Doch der Systemwechsel war schlecht geplant oder wurde von den Verwaltungen, vor allem im armen Süden des Landes, nicht umgesetzt, unter anderem weil das neue Gesetz für den Säumnisfall keine Sanktionen vorsah. Weil die ambulanten Versorgungsstrukturen beim schrittweisen Abbau der Großkliniken oft noch nicht vorhanden waren, mussten die Familien viele Schwerstkranke zurücknehmen und waren damit völlig überfordert. Die ganze Last der Veränderung war von den Angehörigen zu tragen.23 Der Zustand besserte sich erst, als die eigentlich vorgesehenen rehabilitativen gemeindepsychiatrischen Zentren auch tatsächlich entstanden und die Familien dadurch die notwendige Unterstützung fanden. Der Berliner Psychiater und Medizinethiker Hanfried Helmchen sieht die übereilte Psychiatriereform in Italien als mahnendes Beispiel: »Hier zeigt sich, dass die ideologische Übersteigerung auch eines richtigen Grundgedankens über ein unzureichendes Gesetz zur Instrumentalisierung von Kranken und schließlich zur Inhumanität führen kann.«24 Trotz schwierigem Start wurde Basaglias Psichiatria Democratica letztlich ein Erfolg. Bereits 1984 waren für mehr als achtzig Prozent der italienischen Bevölkerung ambulante und teilstationäre Dienste in den Gemeinden verfügbar.25 Die Entlassung der nicht selten durch Hospitalismus zusätzlich geschädigten Kranken aus den Großkliniken hinein in ein Netzwerk kommunaler Versorgungsangebote eröffnete überhaupt erst die Chance zur

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Siehe dazu Helmchen H (2017) »Das Janusgesicht der Psychiatrie«, S. 122ff. »Gesetz 180«, auch bekannt als »Basaglia-Gesetz«. Helmchen H (2017) »Das Janusgesicht der Psychiatrie«, S. 126. Ebd. Burti L (2001) Acta Psychiatrica Scandinavica, S. 41.

Kapitel 7: Ein Comeback der Sozialpsychiatrie

gesellschaftlichen Teilhabe. Hier zeigte sich beispielhaft, dass die Psychiatrie sich selbst verändern muss, um therapeutisch wirksam zu werden. Der radikale institutionelle Umbruch in Italien bekam Modellcharakter und diente als Vorbild für die Psychiatriereformen in vielen anderen Ländern. Vor einer allzu idealistischen Vorstellung von Patientenfreiheit in Italien sollte man sich trotzdem hüten. Zwar wurden die staatlichen Psychiatrieanstalten bis 1998 vollständig abgeschafft26 und durch neu eingerichtete Psychiatrieabteilungen in allgemeinen Krankenhäusern ersetzt. Viele dieser Abteilungen sind aber weiterhin geschlossene Abteilungen. Und auch in Italien sind Einweisungen gegen den Willen der Patienten immer noch üblich: Dem »Bericht zur psychischen Gesundheit« des staatlichen Gesundheitsministeriums für das Jahr 2021 ist zu entnehmen, dass von den insgesamt 78’950 Einweisungen in die Psychiatrieabteilungen der Krankenhäuser 5’538 Zwangseinweisungen waren, ein Anteil von sieben Prozent.27 Im internationalen Vergleich steht Italien damit aber sehr gut da und gilt als das Land mit der geringsten Ausübung von formalem Zwang gegen psychisch Kranke.28 Vier Jahrzehnte nach der Psychiatriereform in Italien sind die Errungenschaften der De-Institutionalisierung gefährdet und die psychosozialen Dienste stehen unter großem Druck. Schon die Auswirkungen der Finanzkrise von 2008 führten zur Kürzung staatlicher Geldmittel und die CoronaPandemie dürfte die Lage noch weiter verschärft haben. Bereits 2018 stellte die Italienische Gesellschaft für Psychiatrie einen Rückgang der Zahl der Beschäftigten in den gemeindenahen Diensten von fünfzig Prozent innerhalb von zehn Jahren fest.29 Nun herrschten »Unsicherheiten, Ängste und Frustrationen – ganz anders als der verwegene Enthusiasmus vierzig Jahre zuvor« beklagt der italienische Gesundheitsexperte Angelo Fioritti in seinem Aufsatz mit dem Titel »Ist Freiheit (immer noch) Therapie?«. Und verweist darauf, dass »Ausmaß und Qualität der Pflege in einigen Landesteilen Italiens bereits unter akzeptable Standards gefallen sein könnten.«30 Was passiert, wenn man sich als Staat seiner Verantwortung entzieht und bei der Versorgung psychisch Kranker die Einflussnahme auf der Bühne des

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Ebd., S. 45. Ministerio della Salute (2022) »Rapporto salute mentale«, S. 141. Fioritti A (2018) Epidemiology and Psychiatric Sciences, S. 322. Ebd. Ebd., S. 319.

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Sozialen systematisch vernachlässigt, kann man in den USA sehen. In den letzten Jahrzehnten ist in den Vereinigten Staaten – aber nicht nur dort – das Outcome für Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen immer schlechter geworden. An Schizophrenie Erkrankte sterben zwanzig bis fünfundzwanzig Jahre früher als Nichterkrankte.31 Seit den 1970er Jahren hat sich die relative Mortalitätsrate für Schizophrenie-Patienten im Vergleich zur Gesamtbevölkerung um siebenunddreißig Prozent verschlechtert.32 Während die Lebenserwartung für Menschen mit ernsten körperlichen Erkrankungen – Krebsleiden, HIV/AIDS, Herzinfarkt – kontinuierlich zugenommen hat, ist dieser Effekt bei schweren psychischen Erkrankungen wie den Schizophrenien nicht zu beobachten.33 Der lebensverlängernde medizinische Fortschritt in der somatischen Medizin ist in der Psychiatrie weitgehend ausgeblieben. Gründe für die verkürzte Lebenserwartung der Schizophreniekranken werden schon seit langem diskutiert. Man vermutet eine krankheitsbedingt beschleunigte biologische Alterung wegen Entzündungsprozessen und oxidativem Stress,34 Folgen der chronischen Einnahme von Antipsychotika35 und generell ungesunde Lebensgewohnheiten.36

Gefängnisse sind Amerikas größte Psychiatrieeinrichtungen Als wahrscheinlich wichtigste Ursache sind aber die ganz alltäglichen Lebensumstände der psychisch Schwersterkrankten zu nennen, die gerade in den USA immer noch prekärer werden. Bedürftige Menschen, die in aller Regel keine Krankenversicherung haben, erhalten eine psychiatrische Behandlung nur, wenn sie sich in einer extremen Krise befinden oder ein ganz unmittelbares Risiko der Selbst- oder Fremdgefährdung besteht. Die staatlichen

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Braslow JT, Brekke JS et al. (2021) JAMA Psychiatry. Lee EE, Liu J et al. (2018) Schizophrenia Research. Ebd. Kirkpatrick B, Messias E et al. (2008) Schizophrenia Bulletin. Vor allem das »metabolische Syndrom«, das etwa vierzig Prozent der Patienten betrifft [Carli M, Kolachalam S et al. (2021) Pharmaceuticals; De Hert MA, Van Winkel R et al. (2006) Schizophrenia Research], Diabetes Typ 2 [Koro CE, Fedder DO et al. (2002) British Medical Journal] und Herz-Kreislauf-Komplikationen [Li XQ, Tang XR et al. (2021) World Journal of Psychiatry]. So rauchen Schizophrenie-Patienten beispielsweise weit mehr als die Durchschnittsbevölkerung [Cattapan-Ludewig K, Ludewig S et al. (2005) Der Nervenarzt].

Kapitel 7: Ein Comeback der Sozialpsychiatrie

Ausgaben für die amerikanische Wohlfahrt wurden seit den 1980er Jahren immer mehr gekürzt und die psychiatrische Behandlung beschränkt sich, so sie denn überhaupt stattfindet, auf die sporadische Verabreichung von Psychopharmaka. Als Folge davon finden sich viele Schizophreniekranke auf der Strasse wieder – oder im Gefängnis. Dort landen sie in aller Regel aber nicht, weil sie eine schwere Straftat begangen haben, sondern weil die eigentlich zuständigen psychiatrischen Institutionen von den Strafverfolgungsbehörden nicht mit einbezogen werden oder so überlastet sind, dass sie sich nicht kümmern können oder wollen. Im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung sitzen in amerikanischen Gefängnissen, je nach Bundesstaat, vier bis sieben Mal mehr Menschen mit einer schweren psychischen Erkrankung – und dies oft nur wegen geringer Gesetzesverstöße. Steven Leifman, Verwaltungsrichter in Florida und Initiator des Criminal Mental Health Project,37 findet klare Worte: »Wir haben Menschen mit psychischen Erkrankungen erbärmlich im Stich gelassen. Die Obdachlosigkeit hat zugenommen, die Zahl der [Polizei-]Erschießungen von Menschen mit psychischen Erkrankungen hat zugenommen,38 wir haben Steuergelder verschwendet und psychische Erkrankung in diesem Land zu einem Verbrechen gemacht. […] Der Kreis hat sich geschlossen. Vor zweihundert Jahren haben wir [psychisch kranke] Menschen ins Gefängnis gesteckt, weil wir nichts Besseres wussten, und wir tun es immer noch.«39 Gefängnisse und Haftanstalten sind in den USA vor allem deshalb zu den wichtigsten Psychiatrieeinrichtungen geworden, weil die Anzahl von »öffentlichen Betten« für Menschen ohne Gesundheitsversicherung seit den 1950er Jahren von 600 000 auf heute 34 000 reduziert wurden. 37

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Das von Richter Leifman vor über zwanzig Jahren ins Leben gerufene Criminal Mental Health Project ist einer der erfolgreichsten Ansätze, Menschen mit psychischen Erkrankungen aus dem US-Strafrechtssystem heraus in gemeindenahe psychosoziale Dienste zu überführen. Das Programm beinhaltet die Schulung von Polizisten durch Kriseninterventionsteams, die rasche Überführung psychisch auffälliger Delinquenten aus dem Arrest in Krisenstabilisierungs-Einrichtungen und die Einleitung einer (medikamentösen) Behandlung mit dem Ziel einer sozialpsychiatrisch begleiteten Wiedereingliederung in die Gemeinschaft. [https://www.jud11.flcourts.org/Criminal-Mental-He alth-Project (letzter Abruf 28.1.2023)]. Für Menschen mit einer unbehandelten schweren psychischen Störung ist in den USA die Wahrscheinlichkeit, bei einem Zusammenstoß mit der Polizei getötet zu werden, sechzehn Mal höher als für Menschen ohne psychische Erkrankung [Kamin D, Weisman RL et al. (2022) Frontiers in Psychiatry]. Zezima C (2020) »Incarcerated with mental illness«, https://www.psycom.net/how-to -reduce-mental-illness-in-prisons (letzter Abruf 28.1.2023).

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Die Versorgungskapazität der staatlichen Psychiatrien ging also um ganze 95 Prozent zurück.40 Der völlig inakzeptable, aber offenbar alltägliche Zustand, wegen einer psychischen Erkrankung in Obdachlosigkeit und im Gefängnis zu landen, wurde von Experten bereits als »eine der schlimmsten Krisen der öffentlichen Gesundheit und der Menschenrechte« bezeichnet.41

Der Tod aus Verzweiflung nimmt zu Auch unabhängig von psychischen Erkrankungen gilt, dass Menschen mit niedrigem Sozialstatus höhere Gesundheitsrisiken und eine geringere Lebenserwartung haben als Menschen aus der Mittel- und Oberschicht.42 Armut wirkt ganz konkret lebensverkürzend. Menschen aus der untersten Einkommensklasse haben in den USA eine zehn bis fünfzehn Jahre geringere Lebenserwartung als die Superreichen auf der Sonnenseite der Skala.43 Besonders in der weißen amerikanischen Unterschicht steigen die Mortalitätsraten durch Suizid, alkoholbedingte Erkrankungen und Drogen schon seit Jahren an. Angus Deaton, Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften und die Princeton Ökonomin Anne Case nennen dieses Phänomen »Tod aus Verzweiflung«.44 2013 starben im Alterssegment von 50 bis 54 Jahren doppelt so viele weiße US-Bürger den death of despair wie noch 1999.45 Durch die Opioidkrise und eine Verschärfung der sozioökonomischen Ungleichheit hat sich die Lage der verarmten Arbeiterschicht seitdem noch weiter verschlechtert.46 Deaton und Case verstehen all diese Toten als Folge eines zunehmenden Verlusts des amerikanischen way of life für die wenig gebildete weiße Arbeiterklasse.47

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Thomas Insel im Podcast »The Ezra Klein Show« vom 22.7.2022; https://www.ny times.com/2022/07/22/opinion/ezra-klein-podcast-thomas-insel.html (letzter Abruf 28.1.2023). Braslow JT, Brekke JS et al. (2021) JAMA Psychiatry. Marmot M, Bell R (2016) Annals of Epidemiology. Chetty R, Stepner M et al. (2016) JAMA; zitiert in Lee EE, Liu J et al. (2018) Schizophrenia Research. Case A, Deaton A (2015) Proceedings of the National Academy of Sciences; Case A, Deaton A (2020) »Deaths of Despair and the Future of Capitalism«. Case A, Deaton A (2015) Proceedings of the National Academy of Sciences, S. 15081. Beseran E, Pericas JM (2022) International Journal of Environmental Research and Public Health. Case A, Deaton A (2020) »Deaths of Despair and the Future of Capitalism«, S. 146.

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Während der nationale Wohlstand im Ganzen stetig zunehme, sei in dieser Bevölkerungsschicht seit Jahren ein kontinuierlicher wirtschaftlicher und sozialer Niedergang zu beobachten. Es ist davon auszugehen, dass die verarmte Arbeiterschicht in Amerika auch in der Pandemiekrise den höchsten Preis bezahlt hat. Viele unter ihnen waren schon vorher in einem schlechten gesundheitlichen Zustand und hatten Vorerkrankungen, was einen schweren Verlauf der Coronainfektion wahrscheinlicher macht. Die schonungslose Benachteiligung einkommensschwacher Patienten durch das amerikanische Gesundheitssystem bedeutet für die unversicherten Erkrankten auch, dass sie erst behandelt werden, wenn sie bereits in einem kritischen Zustand sind. Ihre Prognose fällt dementsprechend ungünstig aus. Nun, zum vorläufigen Ende der COVID-19 Pandemie, dürfte die amerikanische Unterschicht als Folge der Krise vor noch existenzielleren Problemen stehen als der Rest der Bevölkerung. Der Tod aus Verzweiflung, davon ist auszugehen, wird also weiter zunehmen. Armut, Ausgrenzung und andere soziale Benachteiligungen machen physisch und psychisch krank, soviel ist sicher.48 Dazu kommt, dass die Auswirkungen des »sozialen Gradienten« im Laufe der Zeit kumulieren.49 Dementsprechend wichtig wäre es, so früh wie möglich zu intervenieren. Bei Menschen mit einer schweren psychischen Störung ist das allerdings alles andere als einfach, denn hier kommt als Besonderheit dazu, dass die Erkrankung selbst auf die sozialen Determinanten einwirkt.50 Eine Schizophrenie, die oft schon im Jugendalter einsetzt, führt sehr häufig zu Schulabbruch, unbeständigen Beziehungen, exzessivem Drogengebrauch und Obdachlosigkeit – letztere nicht selten auch selbstgewählt. Soziale Faktoren und psychische Erkrankung stehen in Rückkopplung und beeinflussen sich wechselseitig. Gelingt es nicht, diese Feedbackschleifen zu unterbrechen, besteht langfristig die düstere Perspektive einer Outsider-Existenz geprägt von Armut, Ausgrenzung, (Re-)Traumatisierung und Delinquenz.

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Campion J, Bhugra D et al. (2013) Lancet. Alegria M, NeMoyer A et al. (2018) Current Psychiatry Reports. Siehe z.B. World Health Organization (2014).

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Dort hingehen, wo die Menschen sind Doch auch hier kann und muss die Versorgungspsychiatrie Einfluss nehmen. Nicht zuletzt um die psychisch schwer Erkrankten am Rand der Gesellschaft kümmert sich die »Aufsuchende psychiatrische Arbeit«.51 Ursprünglich in den späten 1960er Jahren als Antwort auf die unzulänglich vorbereitete Entlassung von Patienten aus den staatlich geführten Psychiatrieanstalten gegründet, gewinnt dieser Versorgungsansatz heute unter dem Begriff »Home Treatment« immer mehr an Bedeutung.52 Zentral für diese »nachgehenden« Unterstützungsangebote ist, dass die flexiblen und interdisziplinär aufgestellten Teams die Teilnehmer dort erreichen, wo sie im realen Leben sind und zurechtkommen müssen: Zu Hause, in provisorischen Übergangseinrichtungen oder eben in der Obdachlosigkeit. Die Betreuungsteams sind multiprofessionell ausgelegt und bestehen typischerweise aus Psychiaterinnen, Pflegepersonen, Psychologinnen, Sozialarbeitern und Spezialistinnen zur beruflichen Wiedereingliederung, die je nach Bedarf eingesetzt werden können. In jüngerer Zeit werden die »Aufsuchenden Dienste« zunehmend auch von »Experten durch Erfahrung« ergänzt – Menschen, die selbst von psychischen Erkrankungen betroffen waren und denen nun in der »Recovery-Begleitung« eine besondere Bedeutung zukommt.53 Zentrale Anliegen der »nachgehenden Fürsorge« sind die Stärkung der Autonomie und Selbstbefähigung der Patienten.54 Zu diesen lebensweltorientierten Psychiatriedienstleistungen gibt es bereits eine Vielzahl von wissenschaftlichen Untersuchungen, die Akzeptanz, Wirksamkeit und auch den ökonomischen Nutzen unzweifelhaft belegen.55 Und auch in die praktische Umsetzung kommt Bewegung. In den Niederlanden und in Dänemark werden »Assertive outreach services« schon seit

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»Assertive community treatment«, »Assertive outreach services« oder »Intensives Fallmanagement«. Widmann F, Bachhuber G et al. (2016) Fortschritte der Neurologie-Psychiatrie; siehe dazu auch Helmchen H (2017) »Das Janusgesicht der Psychiatrie«, S. 129–131. Siehe dazu Kapitel 8: Experten durch Erfahrung. Die Stimme der Betroffenen. So genanntes »Empowerment«, siehe Helmchen H (2017) »Das Janusgesicht der Psychiatrie«, S. 130. Norden T, Malm U et al. (2012) Clinical Practice and Epidemiology in Mental Health; Schöttle D, Karow A et al. (2013) Current Opinion in Psychiatry; Widmann F, Bachhuber G et al. (2016) Fortschritte der Neurologie-Psychiatrie; Bechdolf A, Bühling-Schindowski F et al. (2022) Der Nervenarzt.

Kapitel 7: Ein Comeback der Sozialpsychiatrie

Jahren landesweit implementiert.56 In anderen europäischen Ländern, auch in Deutschland, hatten diese integrierten Psychiatrieangebote bislang eher Pilotstudiencharakter und wurden nur in wenigen Modellversuchen untersucht. Nach der Einführung der »Stationsäquivalenten Behandlung« (StäB)57 zum 1. Januar 2018 beginnt sich dies in Deutschland nun aber zu ändern. Die aktuelle S3-Leitlinie »Psychosoziale Therapien bei schweren psychischen Erkrankungen« der DGPPN bewertet die beiden nachgehenden Behandlungskonzepte »Akutbehandlung im häuslichen Umfeld« und »Intensiv-aufsuchende Behandlung« mit dem höchsten Evidenzgrad und auch mit dem höchsten Empfehlungsgrad zur klinischen Anwendung.58 Einer flächendeckenden Umsetzung sollte damit eigentlich nichts mehr im Weg stehen. Auch eine systematische Übersichtsarbeit zur aufsuchenden Behandlung in Deutschland, Österreich und der Schweiz kommt zu einem überaus positiven Urteil. Aus zehn klinischen Studien zur »Intensiv-aufsuchenden Behandlung« mit über dreitausend Patienten haben die Forscher im Vergleich zu den Kontrollbedingungen positive Effekte bezüglich Symptomatik, Krankheitsschwere, Substanzmissbrauch, Funktionsniveau, Remission, Behandlungszufriedenheit, Lebensqualität, Kosten, Arbeits- und Wohnsituation festgestellt.59 Von den Betroffenen selbst – und um sie geht es ja schließlich – werden die neuen multiprofessionell und flexibel agierenden Behandlungsoptionen durchwegs positiv angenommen. Ganz besonders von Patientinnen: Aus einem gemeinsamen Bericht der Deutschen Krankenhausgesellschaft und 56

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Van Duin D, Franx G et al. (2013) International Journal for Quality in Health Care; Nordentoft M, Melau M et al. (2015) Early Intervention in Psychiatry [zitiert in Kästner D, Büchtemann D et al. (2015) European Psychiatry]. »Mit dem Gesetz zur Weiterentwicklung der Versorgung und der Vergütung für psychiatrische und psychosomatische Leistungen (PsychVVG) wurde durch Änderungen des § 39 Absatz 1 SGB V und Einführung des § 115d SGB V ab dem Jahr 2018 die Möglichkeit einer stationsäquivalenten psychiatrischen Behandlung (StäB) als neue Form der Krankenhausbehandlung geschaffen. Die StäB umfasst demgemäß eine psychiatrische Behandlung im häuslichen Umfeld durch mobile, ärztlich geleitete multiprofessionelle Behandlungsteams.« [GKV-Spitzenverband, Verband der Privaten Krankenversicherung und Deutsche Krankenhausgesellschaft (2021) Gemeinsamer Bericht über die Auswirkungen der stationsäquivalenten Behandlung, S. 1]. DGPPN (2019) »S3-Leitlinie Psychosoziale Therapien bei schweren psychischen Erkrankungen«. Bechdolf A, Bühling-Schindowski F et al. (2022) Der Nervenarzt, S. 490. Auch die »Akutbehandlung im häuslichen Umfeld« schnitt gut ab, allerdings waren für eine tiefergehende Beurteilung noch zu wenig Studiendaten verfügbar.

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der Krankenkassenverbände erfahren wir, dass in den ersten drei Jahren des neuen Versorgungskonzepts doppelt so viele Frauen wie Männer mit stationsäquivalenter Behandlung versorgt wurden.60

Warum Patienten mit der konventionellen Versorgung unzufrieden sind Will man etwas über die konkreten Erfahrungen mit den neuen Behandlungskonzepten herausfinden, sollte man die Betroffenen fragen. Genau das haben Stefan Priebe von der University of London und seine Kollegen gemacht und mit vierzig Patienten qualitative Interviews geführt.61 Die Psychologen wollten wissen, weshalb Menschen mit Psychose-Erkrankungen aus konventionellen Klinikbehandlungen ausgestiegen sind und später die aufsuchende Hilfe in Anspruch nahmen. Für die Unzufriedenheit mit der hergebrachten Psychiatrieversorgung haben die Forscher drei Hauptgründe ausgemacht. Zum einen gaben die Patienten an, dass ihr Wunsch, eine »unabhängige und selbstbestimmte Person zu sein«, nicht respektiert wurde. Grund Nummer Zwei waren »mangelnde aktive Beteiligung und schlechte therapeutische Beziehungen«. Mehr als die Hälfte der Befragten sagte, man hätte ihnen nicht zugehört und sie seien nicht aktiv in die Therapieentscheidungen einbezogen worden. Eine 48jährige Frau drückte sich im Interview so aus: »Ich hatte einfach das Gefühl, abgespeist zu werden. […] Bei einigen Psychiatern war es definitiv eine Sache von ›Die und Wir‹. Und man konnte überhaupt nicht auf einer Ebene reden, also hat man am Ende einfach nicht viel gesagt. […] Ich habe immer überlegt, wem das nützt, und dachte – mir nicht.«62 Nebenwirkungen von Psychopharmaka und ein damit zusammenhängender Kontrollverlust waren für achtundzwanzig der vierzig Befragten ein Thema. Fünfzehn Patienten haben die Wirkung der Medikamente als so unangenehm erlebt, dass dies für sie der Hauptgrund war, die Klinikbehandlung abzubrechen. »Ich habe

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GKV-Spitzenverband, Verband der Privaten Krankenversicherung und Deutsche Krankenhausgesellschaft (2021) Gemeinsamer Bericht über die Auswirkungen der stationsäquivalenten Behandlung, S. 35. Auch das Krankenkassen- und Krankenhausgremium kommt zu einer positiven Beurteilung, bemängelt aber eine ungenügende praktische Umsetzung und zu hohe Kosten. Priebe S, Watts J et al. (2005) British Journal of Psychiatry. Ebd., S. 439.

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aufgehört, Stimmen zu hören, aber die Nebenwirkungen waren so schlimm, dass ich lieber Stimmen hörte« gab ein 43jähriger Mann zu Protokoll.63 Bei denselben Patienten haben Stefan Priebe und Kollegen auch nach den Gründen für die bessere Akzeptanz der nachgehenden Versorgung gefragt. Auch hier konnten die Antworten grob zu drei Kernthemen zusammengefasst werden: »Zeit und Einsatzbereitschaft«, »soziale Unterstützung und Engagement ohne Schwerpunkt auf Medikamente« und ein »Partnerschaftsmodell für therapeutische Beziehungen«. Im Wesentlichen also eine Umkehr der Gründe, weshalb die Psychose-Betroffenen mit der Behandlung in den konventionellen Kliniken unzufrieden waren. Die Mitarbeiter der aufsuchenden Teams seien eher bereit, Patienten als Personen und nicht nur als »Krankheit auf Beinen« zu sehen: »Ich spreche mit ihm über Filme, Theater, Bücher und Kunst und das gleicht es aus, denn ich will wirklich nicht, dass jemand in meine Wohnung kommt und macht, dass ich mich verrückt fühle«, sagte eine der Interviewpartnerinnen.64 Sogar Patientengruppen, die sich den konventionellen Hilfsangeboten grundsätzlich verweigern, sind nach Einschätzung der Psychologen durch die aufsuchende Behandlung einzubinden: »Ein umfassendes Betreuungsmodell mit sozialer und praktischer Unterstützung, das Vermeiden einer ausschließlichen Fokussierung auf die Medikation und engagierte Mitarbeiter mit ausreichend Zeit tragen dazu bei, ›schwer erreichbare‹ Patienten zu erreichen.«65

Lebensqualität geht vor Symptomreduktion Wer wegen einer Psychose-Störung psychiatrisch behandelt wird, bekommt Antipsychotika. Fast ausnahmslos und meist über Jahre.66 Ohne Zweifel profitiert ein großer Teil der Erkrankten davon, ganz besonders in der Akutbehandlung.67 Dennoch lehnen viele Patienten die medikamentöse Therapie ab oder hören irgendwann auf, die Medikamente zu nehmen. Die Schätzungen

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Ebd., S. 440. Ebd., S. 441. Ebd., S. 442. Eine Datenerhebung unter Psychiatern in Großbritannien aus dem Jahr 2018 ergab, dass 98 Prozent der Schizophrenie-Patienten Antipsychotika verschrieben bekamen [Cooper RE, Mason JP et al. (2021) Psychosis]. Ceraso A, Lin JJ et al. (2020) Cochrane Database of Systematic Reviews.

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variieren, aber man geht davon aus, dass mindestens vierzig bis fünfundsiebzig Prozent der Behandelten Antipsychotika nicht so einnehmen, wie sie verschrieben werden.68 Dafür gibt es viele Gründe.69 Zum einen gibt es eine hohe Nicht-Ansprechrate von über einem Drittel der Behandelten.70 Viele Patienten sehen auch gar nicht ein, warum sie Psychopharmaka überhaupt nehmen sollten. Dazu kommen Erfahrungen von Zwang und Bevormundung im Zusammenhang mit Medikamentenverschreibung und Psychoedukation. Der häufigste Grund für das Absetzen ist aber, dass die negativen Wirkungen der Neuroleptika die positiven Effekte überwiegen. Auch wenn Fachleute nicht müde werden, vor den negativen Folgen schlechter Therapietreue zu warnen, ist »Non-Compliance« die Regel und nicht die Ausnahme. Gerade weil im klinischen Alltag so viele Psychose-Betroffene Antipsychotika ablehnen, wird der Ruf lauter, alternative Behandlungskonzepte zu entwickeln, die mit minimalen Dosierungen oder auch ganz ohne Medikamente auskommen.71 Unterstützung für ein sehr zurückhaltendes Antipsychotika-Dosierungsschema kommt zudem von neueren wissenschaftlichen Untersuchungen, die zeigen, dass eine fixe und langfristige Standardtherapie für den Langzeitverlauf von Psychoseerkrankungen kontraproduktiv ist.72 Werden Antipsychotika kurz nach dem Abklingen einer Erstpsychose wieder abgesetzt (oder auf ein absolutes Minimum reduziert), treten kurzfristig zwar etwas häufiger Rückfälle auf. Längerfristig ist es aber genau umgekehrt: »Da stellten wir zu unserer Überraschung fest, dass die Patienten, die die Medikamente abgesetzt hatten oder eine reduzierte Dosis bekamen, im sozialen Leben viel besser zurechtkamen. 40 Prozent von ihnen führten eine normale soziale Existenz, sie lebten in einer Beziehung, arbeiteten und führten einen Haushalt. Die Patienten jedoch, die die standardmäßige Langzeitdosis erhielten, schafften das nur zu 17,5 Prozent«, sagt Lex Wunderink, der eine entsprechende Langzeitstudie mit Nachunter-

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Lacro JP, Dunn LB (2002) Journal of Clinical Psychiatry; Leucht S, Heres S (2006) Journal of Clinical Psychiatry. Wade M, Tai S et al. (2017) Clinical Psychology Review; Cooper RE, Mason JP et al. (2021) Psychosis. Samara MT, Nikolakopoulou A (2019) Schizophrenia Bulletin. Aderhold V (2016) »Neuroleptika minimal – warum und wie«; Weinmann S (2019) »Die Vermessung der Psychiatrie«; Cooper RE, Laxhman N et al. (2020) Schizophrenia Research; Cooper RE, Mason JP et al. (2021) Psychosis. Wunderink L, Nieboer RM et al. (2013) JAMA Psychiatry.

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suchung nach sieben Jahren durchgeführt hat.73 Der Psychiater von der Universität Groningen appelliert in einem Radiofeature des Deutschlandfunk auch an ein Umdenken, worauf es bei einer psychiatrischen Behandlung wirklich ankommt: »Die Lebensqualität des Patienten war ein untergeordnetes Kriterium. Inzwischen müsste aber auch für Psychiater klar sein, dass die Lebensqualität viel wichtiger ist als die reine Symptomatik. Gerade für die Patienten selbst ist sie entscheidend. Wenn sie ihr Leben bewältigen können, machen ihnen Symptome wie Halluzinationen manchmal gar nicht mehr so viel aus.«74 Modellprojekte zur Psychose-Behandlung, die ohne oder mit nur minimaler Medikation auskommen, gibt es bereits – und dies nicht erst seit gestern. Historischen Pioniercharakter einer Psychopharmaka vermeidenden psychosozialen Psychose-Therapie hat sicher das Soteria Research Project 75 des amerikanischen Psychiaters Loren Mosher. Unter dem Einfluss der Antipsychiatrie-Bewegung in den frühen 1970er Jahren in Kalifornien gegründet, werden in den offenen Soteria Einrichtungen Menschen in engmaschiger Betreuung durch akute psychotische Krisen begleitet. Die Soteria Wohngruppen waren – und sind mit Abwandlungen bis heute – durch einen überschaubaren Satz von Regeln organisiert: Höchstens zehn akut Erkrankte, wenige, aber nahe Bezugspersonen, die in 24 bis 48 Stundenschichten zugegen sind,76 minimal hierarchische Strukturen durch gleichmäßige Verteilung der Alltagsaufgaben, und die Bemühung, die Autonomie der »Klienten« so weit wie möglich zu erhalten.77 Neuroleptika wurden im ursprünglichen Soteria Projekt nur verabreicht, wenn aggressives oder suizidales Verhalten nicht anders beherrscht werden konnten, oder wenn die Bewohner selbst danach verlangten.78 Ein damals durch und durch innovatives Projekt, das zentrale Themen unserer aktuellen »Post-Psychiatrie«-Debatte vorwegnahm und praktisch umzusetzen versuchte.

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Hubert M (2017) Die Krise der Psychopharmaka, Deutschlandfunk, 2.4., https://www. deutschlandfunk.de/teufel-und-beelzebub-die-krise-der-psychopharmaka-100.html (letzter Abruf 28.1.2023). Ebd. »Soteria«: Altgriechisch für Rettung, Heilung, Genesung. Das intensive, kontinuierliche Dabeisein (»being with«) von Vertrauenspersonen wird als Schlüsselelement des therapeutischen Prozesses verstanden. Stupak R, Dobroczynski B (2019) Psychiatria Polska, S. 1353. Auch Mosher versuchte, die Bezeichnung »Patient« für die Nutzer seiner Soteria Einrichtungen zu vermeiden. Ebd.

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Jeder kann Therapeut sein Kein Wunder, dass es auch heftige Kritik gab, schließlich stellte Loren Moshers neues Therapiekonzept eine Provokation für die etablierte Psychiatrie seiner Zeit dar. Und dies nicht nur wegen der skeptischen Haltung gegenüber Psychopharmaka. Das Soteria Programm war auch deshalb eine Zumutung, weil es das medizinische Modell von Psychose-Erkrankungen grundsätzlich in Frage stellte und es noch nicht einmal nötig fand, besonders geschultes Fachpersonal für die Klientenbetreuung einzusetzen. Stattdessen haben »ganz gewöhnliche Leute die Rollen von Therapeuten angenommen«.79 Auch mit ihrem »unterstützenden Netzwerk«, in dem ehemalige Klienten in engem Kontakt bleiben und auch in die Betreuung akut Kranker eingebunden werden, kam der Soteria Pioniercharakter zu. Die Rolle von Patienten als »Experten durch Erfahrung« ist also nicht erst heute Thema in den Psychiatriedebatten. Psychiater Mosher, damals Leiter des Schizophrenia Research Centre am National Institute of Mental Health, wollte mit seinem Forschungsprojekt zeigen, dass die Genesung von Psychosen auch ohne antipsychotische Medikamente oder unter kurzfristiger Verwendung minimaler Dosen möglich ist. 179 junge Studienteilnehmer mit einer neu diagnostizierten Schizophrenie wurden entweder einer konventionellen, medikamentenbasierten Behandlung80 in einer psychiatrischen Klinik oder einer sechswöchigen Therapie in einer Soteria Wohneinrichtung unterzogen. Nachbefragungen wurden bis zwei Jahre nach Ende der Studie durchgeführt.81 Mit der abschließenden Veröffentlichung der Studienergebnisse hat man sich viel Zeit gelassen. Die umfassendste Analyse der Daten aus dem Soteria Research Project von 1971 bis 1983 wurde nämlich erst 2003 veröffentlicht.82 Aber das Warten hat sich gelohnt, die Ergebnisse der Untersuchung fielen durchwegs überzeugend aus: Teilnehmer, die die Studie abgeschlossen haben, konnten in hohem Maße vom Soteria Programm profitieren. In den Skalen zur Symptombeurteilung, bei der Berufsausübungsfähigkeit und auch in der Kategorie »soziales Funktionieren« schnitt die Soteria

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Ebd., S. 1358. 94 Prozent der Patienten erhielten in der Klinik durchgehend Antipsychotika, in einer für heutige Verhältnisse extrem hohen Dosierung von durchschnittlich 700 mg »Chlorpromazin-Äquivalenzdosis« pro Tag. [Bola JR, Mosher L (2003) Journal of Nervous and Mental Disease, S. 221]. Bola JR, Mosher LR (2003) Journal of Nervous and Mental Disease. Ebd.

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Gruppe deutlich besser ab. Das bessere Outcome für die Patienten scheint zudem nachhaltig zu sein: »[…] die auffallend positiven Auswirkungen der Soteria-Behandlung sind auch nach zwei Jahren noch erkennbar« erklären die Autoren Bola und Mosher in ihrer späten Publikation. Auch die polnischen Psychologen Radoslaw Stupak und Bartlomiej Dobroczynski haben sich mit der Soteria und ihrer Bedeutung für zukünftige alternative Behandlungsstrategien in der Psychiatrie beschäftigt.83 In ihrem Aufsatz »Das Soteria Projekt – Vorläufer eines ›dritten Wegs‹ in der Psychiatrie?« kommen die Autoren 2019 ebenfalls zu einer positiven Bewertung: »Die vorgestellten Daten lassen den Schluss zu, dass das Therapiemodell der Soteria trotz der Verwendung geringerer Medikamentendosen oder gar keiner Medikamente mindestens so wirksam ist wie die herkömmliche Klinikbehandlung.«84

»Psychiatrie ist die Disziplin der Geduld« Als das Soteria Pionierprojekt 1983 mangels Weiterfinanzierung ein Ende fand, hatte Moshers Idee einer medikamentenarmen und stattdessen beziehungsfokussierten Therapie bereits Schule gemacht. 1984 gründete der Schweizer Psychiater Luc Ciompi in Bern die erste milieu-therapeutische Soteria Wohngemeinschaft Europas, später kamen ähnliche Einrichtungen in Deutschland, den Niederlanden, Großbritannien und Skandinavien dazu. Die Schweizer Version des Soteria Projekts unterscheidet sich von seinem historischen Vorgänger insofern, als nicht eine möglichst medikamentenfreie Behandlung im Vordergrund steht, sondern milieu-therapeutische Interventionen, die sich aus der von Ciompi formulierten Meta-Theorie der »Affektlogik« ergeben.85

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Stupak R, Dobroczynski B (2019) Psychiatria Polska. Ebd., S. 1355. Die Affektlogik untersucht die Auswirkungen der zirkulären Interaktion zwischen Emotionen und Kognition auf mentale Prozesse und Verhalten. Gemäß Ciompis Theorie verursachen langanhaltende emotionale Spannungen plötzlich auftretende Verschiebungen von Denken und Verhalten, z.B. im Übergang von einer »Angst-Logik« zu einer »Wut-Logik« oder von einer »Logik des Friedens« zu einer »Logik des Krieges«. Bei vulnerablen Personen könne eine solche Verschiebung auch bedeuten, von normalem psychischem Funktionieren in eine Psychose zu geraten. Dementsprechend ist das Therapiesetting darauf ausgelegt, emotionale Spannungen zu reduzieren. Auch hier ist das »Dabei sein« entscheidend – in einer akuten psychotischen Phase ist der Patient nie alleine, sondern zusammen mit einer vertrauten Begleitperson in einem

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Dem bis heute bestehenden Berner Projekt ist nicht nur eine längere Lebensdauer beschieden, es scheint in einigen subjektiv-emotionalen und sozialen Teilaspekten sogar noch bessere Therapieergebnisse zu erzielen.86 »Die Beobachtungen in der Soteria Bern bestätigen Moshers Behauptung, dass die meisten akuten Schizophrenie-Patienten in diesem spezifischen Umfeld genauso erfolgreich behandelt werden können wie mit den Standard-Verfahren im Krankenhaus, jedoch mit signifikant geringeren Dosen Antipsychotika und ohne höhere tägliche Kosten«, erklären Luc Ciompi und sein Psychiaterkollege Holger Hoffmann in einem Bericht zu ihren Langzeiterfahrungen.87 Auch in einem Interview mit der Schweizerischen Ärztezeitung gibt der Schweizer Soteria Gründer eine durchaus hoffnungsvolle Perspektive auf den Verlauf von Schizophrenie-Erkrankungen und erklärt, worauf es wirklich ankommt: »Meine Langzeituntersuchungen über 30 bis 40 Jahre haben gezeigt, dass es immer wieder gut kommen kann. Aber: Psychiatrie ist die Disziplin der Geduld. […] Langmut ist wichtig; schnell, schnell alles einzurenken, ist unmöglich.«88 Selbstverständlich ist auch das Soteria Setting kein Allheilmittel und nicht für jeden Patienten der richtige Weg. Bei etwa zehn bis fünfzehn Prozent der Schizophrenie-Erkrankten, die der Soteria Bern während einer Pilotstudie per Zufallsverfahren zugeteilt wurden, gelang es nicht, die notwendige »Arbeitspartnerschaft« aufbauen. Diese Patienten wurden dann zur konventionellen Weiterbehandlung in umliegende Kliniken überwiesen.89

Sprache, Sprechen und die Dialogische Praxis Ausgerechnet die Finnen, nun nicht gerade berühmt für überbordende Mitteilsamkeit, sind die Erfinder des gesprächszentrierten und bedürfnisorientieren Open Dialogue Programms zur frühen Psychose-Intervention. Die Grundlagen zu diesem dialogbasierten, familienbezogenen Netzwerkansatz wurden während des Finnish National Schizophrenia Project in den 1980er Jahren in Lappland gelegt. Weiterentwickelt wurde das Therapieprinzip des Offenen

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»weichen Zimmer« [Ciompi L, Hoffmann H (2004) World Psychiatry; Ciompi L (1994) British Journal of Psychiatry]. Ciompi L, Hoffmann H (2004) World Psychiatry. Ebd., S. 143. Lüthi D (2012) Schweizerische Ärztezeitung. Ciompi L, Dauwalder HP et al. (1991) Der Nervenarzt.

Kapitel 7: Ein Comeback der Sozialpsychiatrie

Dialogs später von Jaakko Seikkula und seinen Mitstreitern.90 Ganz im Sinne der »Affektlogik« von Luc Ciompi begreifen auch die Open Dialogue Therapeuten akute Psychosen als Ausdruck einer nicht mehr ausreichend regulierbaren emotionalen Belastung. Seikkula selbst geht sogar noch einen Schritt weiter und versteht Psychose nicht als Krankheit, sondern als eine »Überlebensstrategie bei massivem Stress«.91 Psychotische Erfahrungen seien affektive Überreaktionen des verkörperten Geistes: »Die Betroffenen sind oft nicht in der Lage, ihre emotionalen Erfahrungen explizit zu beschreiben. Die im Körper empfundene affektive Erregung ist überwältigend und wird auf metaphorische Weise deutlich […].«92 Vielleicht könnte man Psychosen auch als Regression in traumatische Erfahrungen verstehen, die in der Kindheit erlebt wurden, in einer Lebensphase, in der Emotionsverarbeitung noch weitgehend proto-semantisch erfolgt. Dass es nicht nur für Depressionen, sondern auch für Psychosen einen starken Zusammenhang mit Kindheitstraumata gibt, ist jedenfalls gut belegt.93 Dänische Forscher haben 2015 berichtet, dass sich bei 89 Prozent der jungen Patienten mit einer ersten psychotischen Episode Hinweise auf Traumata in Kindheit und Adoleszenz finden lassen. Die Risiken für das spätere Auftreten von Psychosen scheinen auch kumulativ zu sein: Mit jedem zusätzlichen »aversiven Ereignis« stieg das Psychose-Risiko in ihrem Studiensample um das Zweieinhalbfache.94 Psychiater Stefan Weinmann fasst den Möglichkeitsraum einer Psychose sogar noch weiter: »Jeder trägt die Neigung zu Psychosen in sich, Psychosen sind zutiefst menschlich und treten hervor, wenn objektiv oder subjektiv schwer erschütternde Erfahrungen (Dis-

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Seikkula J, Aaltonen J et al. (1995) »Treating psychosis by means of open dialogue«; Seikkula J, Alakare B et al. (2003) Ethical and Human Sciences and Services. Seikkula J (2019) Psychopathology. Man kann psychotisches Erleben als prä-narrative Ausdrucksform begreifen, für die es (noch) keine Sprache gibt. Halluzinationen und Wahnvorstellungen sind außerdem gar nicht so ungewöhnlich, auch Menschen ohne psychiatrische Diagnose können dies erleben, wenn sie unter großem Stress stehen [Van Os J, Hanssen M et al. (2000) Schizophrenia Research; zitiert in Seikkula J (2019) Psychopathology]. Bendall S, Alvarez-Jimenez M et al. (2013) Early Intervention in Psychiatry; Stanton KJ, Denietolis B et al. (2020) Child and Adolescent Psychiatric Clinics of North America. Trauelsen AM, Bendall S et al. (2015) Schizophrenia Research. Diese »aversiven Ereignisse« umfassen sexuellen, physischen und emotionalen Missbrauch, physische und emotionale Vernachlässigung, Trennungserfahrungen und Institutionalisierung (z.B. Heimunterbringung).

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kriminierung, psychische Traumata und andere verstörende Erlebnisse) zum Zusammenbruch der selbsterhaltenden Schutzfunktionen des Ichs führen.«95

Transparente Strukturen und klare Regeln Einen möglichst nicht pathologisierenden und dafür umso verständnisvolleren Ansatz verfolgt auch das Open Dialogue Programm, das durch ganz konkrete Behandlungsgrundsätze geregelt ist: 1. Unverzügliche Hilfe: Innerhalb von 24 Stunden nach Erstkontakt findet ein erstes Treffen statt. 2. Netzwerkperspektive: Neben dem Erkrankten selbst stehen Familienmitglieder und andere enge Bezugspersonen im Mittelpunkt und werden zu den gemeinsamen Besprechungen eingeladen. 3. Flexibilität und Mobilität: Die therapeutische Antwort orientiert sich an den spezifischen Bedürfnissen des Klienten, die Therapiemethoden sind der Situation anzupassen. 4. Verantwortlichkeit: Die zuerst kontaktierte Person des Behandlungsteams koordiniert das erste Netzwerktreffen. 5. Therapeutische Kontinuität: Die Therapie dauert so lange wie notwendig und innerhalb des Betreuungsteams soll es möglichst keine personellen Wechsel geben. 6. Unsicherheit aushalten: Während einer akuten psychotischen Krise sollen keine vorschnellen Schlussfolgerungen und Therapieentscheidungen getroffen werden, auch Neuroleptika sollen nicht schon beim ersten Treffen gegeben werden. Stattdessen finden in der Anfangsphase nach Möglichkeit tägliche Treffen statt. 7. Offener Dialog: Im Zentrum der Behandlung steht der gleichberechtigte Dialog zwischen Erkranktem, seinem Netzwerk und dem Behandlungsteam. Alle Themen werden offen und in Anwesenheit aller Beteiligten diskutiert.96 Der skandinavische Open Dialogue Ansatz ist seit nunmehr drei Jahrzehnten in praktischer Erprobung und dem entsprechend gibt es Erfahrungswerte zur Wirksamkeit. Eine Langzeitbeobachtung über neunzehn Jahre ergab im Vergleich zu konventioneller Behandlung eine kürzere Aufenthaltsdauer im Krankenhaus, weniger Invaliditätsrenten und einen signifikant niedrigeren Neuroleptika-Verbrauch. Auch die Gesamtmortalität war bei den mit Open Dialogue Behandelten niedriger als in der Kontrollgruppe. Nur bei den Suizidraten war kein Unterschied auszumachen, was damit zu tun haben kann, 95 96

Weinmann S (2019) »Die Vermessung der Psychiatrie«, S. 54. Siehe dazu auch Bock T und Heinz A (2016) »Psychosen. Ringen um Selbstverständlichkeit«. Bergström T, Seikkula J et al. (2018) Psychiatry Research.

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dass im liberaleren home treatment die Überwachung der Patienten und damit auch der Schutz vor Selbstgefährdung weniger strikt ausfällt. Die Autoren der Übersichtsarbeit erkennen die Problematik der unverändert hohen Selbstmordraten und weisen auf die Notwendigkeit hin, das Therapieumfeld in diesem Aspekt sicherer zu gestalten. Ein anderes Urteil – beziehungsweise eigentlich gar keines – fällt eine britische Autorengruppe. In ihrer Übersichtsarbeit »Open Dialogue: Eine Überprüfung der Fakten« kommen Experten vom University College London zum Schluss, dass die bislang durchgeführten Studien von so schlechter Methodenqualität seien und zudem ein derart hohes Risiko für Verzerrung beinhalteten, dass dies »jegliche Schlussfolgerungen über die Wirksamkeit von Open Dialogue bei Menschen mit Psychose ausschließt.«97 Dies bedeutet nun aber nicht, dass das Therapieverfahren nicht erfolgreich ist, sondern nur, dass dies nach strengen wissenschaftlichen Kriterien nicht bewiesen ist. Aber das lässt sich ja ändern. Methodologisch wasserdichte Protokolle gibt es in der Zwischenzeit zur Genüge und sowohl die britische multizentrische Studie ODDESSI98 als auch die internationale Kollaborationsstudie HOPEnDialogue99 sind bereits angelaufen. Erst einmal wird es wieder dauern. Aber nach Abschluss der Studien lassen sich vielleicht auch die strengen Briten davon überzeugen, dass es »hohe Kosten hat, wenn vielversprechende Interventionen auf der Grundlage begrenzter Erkenntnisse verworfen werden«, wie sich ein Leserbriefschreiber zum Open Dialogue Studienqualitäts-Bashing seiner Kollegen geäußert hat. Auch für die Behandlung schwerwiegender und chronischer psychischer Erkrankungen gibt es also eine ganze Reihe von erfolgversprechenden sozialpsychiatrischen Verfahren, die viel mehr fachliche Beachtung, finanzielle Förderung, mediale Verbreitung, praktische Erprobung, wissenschaftliche Forschung und versicherungsbürokratische Vereinfachung verdient hätten. Auch für die komplexe und langwierige Behandlung von Sucht und Abhängigkeit gibt es mittlerweile innovative Konzepte, wie das ressourcenorientierte »Orpheus-Programm« des Wiener Psychiaters Michael Musalek.100 In diesem »zieloffenen Behandlungsprogramm« sollen Suchtkranke in praktischen, erlebnisbasierten Modulen (wieder) erlernen, ein autonomes und freudvolles

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Freeman AM, Tribe RH et al. (2019) Psychiatric Services. Pilling S, Clarke K et al. (2022) Contemporary Clinical Trials. https://www.hopendialogue.net (letzter Abruf 28.1.2023). Musalek M (2023) »Ressourcenorientierte Suchttherapie: Grundlagen und Methoden des Orpheus-Programms«.

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Leben zu führen. Den krank machenden »Verlockungen der Sucht« werden alternative Strategien beglückender Erfahrung entgegengesetzt, wodurch Suchtmittel ihren dominierenden Stellenwert verlieren. In Musaleks Ansatz einer »human-basierten (Sucht-)Medizin« ist »das Schöne […] Hauptfokus der Therapie sowie auch selbst Therapeutikum.«101 Auch wenn es in der Psychiatrie schon eine ganze Reihe von praxiserprobten alternativen Behandlungsverfahren gibt, ist die konventionelle, medikamentenfokussierte Therapie immer noch der Regelfall. Zur Illustration der gegenwärtigen Verhältnisse sei darauf hingewiesen, dass in Deutschland mit der neuen »Stationsäquivalenten Behandlung« im Jahr 2020 gerade einmal 0,3 Prozent der schweren psychiatrischen Krankheitsfälle versorgt wurden. 99.7 Prozent wurden demzufolge weiterhin konventionell vollstationär behandelt.102 Klar, diese alternative Möglichkeit der psychiatrischen Behandlung im häuslichen Umfeld gibt es hierzulande auch erst seit 2018. Und sicher wird sich die Quote noch deutlich steigern – auch die Deutsche Krankenhausgesellschaft gab zu bedenken, dass zur »flächendeckenden Umsetzung einer neuen Behandlungsform viele Jahre erforderlich sind.«103 Aber auch die spürbar zunehmende Unzufriedenheit vieler in der Psychiatrie Tätigen dürfte die Akzeptanz der neuen Ansätze vergrößern. Auch in den eigenen Reihen wird der Ruf nach innovativen, pragmatischen und lebensweltorientierten Versorgungskonzepten vernehmbar lauter. Noch aber sind wir von einem echten Paradigmenwechsel weit entfernt und die Psychiatrie ist gezwungen, sich irgendwie mit den aktuellen Gegebenheiten zu arrangieren. Ganz besonders in der Akutbehandlung: »Es hat eben wenig Sinn, in der Situation der Rettungsstelle nach dem biografischen Kontext, belastenden Traumata, Kränkungen, Verstrickungen und stigmatisierenden Erlebnissen der Betroffenen zu suchen, da sie uns keine Handlungsoption eröffnen, selbst wenn sie Verhalten erklärbarer machen würden« schreibt Psychiater Stefan Weinmann.104 Nichts lässt sich im

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Musalek M (2015) Existenzanalyse. Das »Schöne« steht dabei als Platzhalter für eine Vielzahl potenzieller Quellen für Genuss und Freude (z.B. Achtsamkeit, Körperwahrnehmung, Naturerlebnis, Kunst und Kreativität). 102 GKV-Spitzenverband, Verband der Privaten Krankenversicherung und Deutsche Krankenhausgesellschaft (2021) Gemeinsamer Bericht über die Auswirkungen der stationsäquivalenten Behandlung, S. 35. 103 Ebd., S. 34. 104 Weinmann S (2019) »Die Vermessung der Psychiatrie«, S. 64.

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Psychiatrie-Alltag einfacher und schneller umsetzen als unser pharmakozentrischer Behandlungsansatz. Gemäß Diagnose per Symptomrating werden Medikamente verschrieben, Dosierungen festgelegt und meist irgendwann auch Nebenwirkungsmanagement betrieben. Verbessert sich der Zustand, wird abgesetzt, reduziert oder auf langfristige Erhaltungsdosis umgestellt. Verschlechtert sich das Krankheitsbild, wird augmentiert oder eine neue Medikamentenkombinationen ausprobiert. Begleitende psychotherapeutische und psychoedukative Maßnahmen können gut vorausgeplant und zu Sprechstundenzeiten durchgeführt werden. Alles in allem haben wir eine Psychiatrie, die auf Effizienz, Praktikabilität und möglichst rasche Symptomreduktion ausgerichtet ist – was auch von sehr vielen Patienten begrüßt oder gar eingefordert wird. Wer möchte nicht so schnell wie möglich wieder gesund und leistungsfähig sein? Unnötig zu erwähnen, dass dies nur in seltenen Fällen auch wirklich so funktioniert. Die aus reicher sozialpsychiatrischer Erfahrung weiterentwickelten neuen Behandlungskonzepte sind das genaue Gegenteil davon. Nicht die schnelle Symptomreduktion, sondern das langsamere, aber dafür nachhaltige und perspektivisch günstigere Überstehen einer psychischen Krise in gemeinschaftlicher Anstrengung von Erkranktem, Umfeld und Therapieteam stehen im Vordergrund. Mobile und flexible multiprofessionelle Teams, personalintensive Eins-zu-Eins Betreuungen, aufsuchende Kriseninterventionsdienste und individuell angepasste, bedürfnisorientierte Therapieangebote sind komplex, zeitaufwändig, organisatorisch schlechter planbar und womöglich sogar kostenintensiver. Und auch von den psychiatrisch Tätigen selbst wird mehr abgefordert. Planerische Unsicherheiten, eher langsam sichtbare Therapiefortschritte, ein möglichst nicht pharmakologisch moderierter Umgang mit schwierigen Patienten oder auch nur das Aushalten von Hilflosigkeit im »Dabei sein« bei einer schweren psychischen Krise stellen hohe Anforderungen an die Betreuenden. Kann sein, dass es für einen echten Systemwechsel nicht weniger als eine neue Generation von psychiatrisch Tätigen braucht – mit anderen Krankheitskonzepten, anderen Idealen und anderen Erwartungen an die eigene Arbeit. Dass es auch in Deutschland immer mehr Home Treatment Angebote gibt,105 ist jedenfalls ein Grund zur Hoffnung. Eine ganz wesentliche Rolle in der Psychiatrie der Zukunft dürften auch diejenigen spielen, die selbst bereits psychische Krisen bewältig haben

105 Z.B. das Modellprojekt »FlexiTeam« der Berliner Krankenhausgruppe Vivantes und der Krankenkasse DAK.

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und sich als Betroffene bestens mit dem System Psychiatrie auskennen. Um die Stimme dieser »Experten durch Erfahrung« geht es im nächsten Kapitel.

Kapitel 8: Experten durch Erfahrung. Die Stimme der Betroffenen Ich habe Jahre meines Lebens damit zugebracht, als Fußnote zu existieren, als Fallnotiz, als klinisches Beispiel, und mich an das Verständnis geklammert, dass ich eine fehlerhafte biologische Einheit bin. Irgendwie hatten mich Zeit, Materie und der Streich von Genen und Enzymen an die Seitenlinien des Seins verbannt. Für diejenigen, die psychische Erkrankungen betrachten, mag dies wirklich eine nützliche Perspektive sein, aber für mich als Betroffener trug dieser Baum nur trockene und geschmacklose Früchte.1

Über die längste Zeit ihrer Geschichte galt in der Psychiatrie eine paternalistische Herangehensweise. Noch bis tief in die 1980er Jahre gab es, wie auch im Rest der Medizin, ein ganz selbstverständlich zur Schau gestelltes und praktiziertes Machtgefälle. Auf der einen Seite die ausgebildeten Experten, leicht zu erkennen an der standeskonformen weißen Medizinerkleidung. Auf der anderen Seite die Patienten, die sich mit ihren Symptomen an die Experten wenden, auf dass ihnen geholfen werde. Ganz selbstverständlich leitet die ärztliche Autorität die Krankheitserhebung, stellt die Diagnose und legt die Thera1

»Granger«, ein mit Schizophrenie diagnostizierter Mann, zitiert in Estroff SE (2003) »Subject/Subjectivities in Dispute: The Poetics, Politics, and Performance of First-Person Narratives of People with Schizophrenia«, S. 282.

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pie fest. Sind Angehörige zugegen, kommt ihnen die Aufgabe zu, Rückfragen zu beantworten und später für Therapietreue zu sorgen. Das Verhältnis ist das eines wohlmeinenden Vaters zu seinem Kind.2 Mal empathisch einfühlsam, mal mit der nötigen Strenge setzt der Vater durch, was seiner Meinung nach das Beste ist. In einer asymmetrischen, paternalistischen Psychiatrie erfährt der Patient, was er hat und was zu tun ist. »Nehmen Sie zwei weiße Tabletten am Morgen und eine blaue am Abend. Das wird Ihnen helfen und bald wird es Ihnen besser gehen«, könnte man klischeehaft eine Therapieanweisung aus den 1970er Jahren zusammenfassen. Eine autonome Mitsprache wird dem Patienten verweigert, weil ihm (vermeintlich) das dafür nötige Fachwissen fehlt und weil seine psychische Störung (bisweilen tatsächlich) eine rationale Beurteilung verunmöglicht.

Verhandeln statt Behandeln In der Zwischenzeit hat die Psychiatrie ihren historischen Paternalismus überwunden, wenn auch nur langsam und gegen Widerstände. Auch die DGPPN propagiert schon seit Jahren den »Dialog auf Augenhöhe« und hat dazu ein eigenes Austauschforum gegründet.3 »Partizipative Entscheidungsfindung« und der gleichberechtigte Trialog zwischen Betroffenen, Angehörigen und Behandelnden sind das Gebot der Stunde. In jeder auch nur halbwegs vernünftig geführten Klinik ist es heute ganz selbstverständlich, dass man als Patient in die Entscheidungen mit einbezogen wird und Wünsche, Vorstellungen und Therapieziele respektiert werden. Zumindest in der Theorie – schließlich lernt man schon als Medizinstudent in der Vorlesung, wie entscheidend eine vertrauensvolle und symmetrische Arzt-Patient-Beziehung für das Gelingen der Behandlung ist. In der Praxis gelingt die Umsetzung einer partnerschaftlichen Beziehung allerdings nur mit Einschränkungen, besonders bei Patienten mit schwerwiegenden Erkrankungen. Auch der fortschrittlichste Therapeut muss mitdenken, dass die akute psychische Beeinträchtigung die Urteilsfähigkeit 2

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Dass die strukturell eingeschriebenen Machtverhältnisse einer psychiatrischen Klinik es auch ermöglichen, dass aus dem guten Vater ein sadistischer Tyrann wird, soll hier nicht weiter ausgeführt werden. Zu den Themen Disziplinierung und Machtmissbrauch in Nervenheilanstalten, die besonders von der Antipsychiatrie-Bewegung thematisiert wurden, sei auf Milos Formans Filmklassiker »Einer flog über das Kuckucksnest« verwiesen. https://www.dgppn.de/die-dgppn/trialog.html (letzter Abruf 28.1.2023).

Kapitel 8: Experten durch Erfahrung. Die Stimme der Betroffenen

seines Patienten beeinflussen kann. Kann man den Wunsch auf Nichtbehandlung tatsächlich respektieren, wenn ein schwerst depressiver Patient in seiner Hoffnungslosigkeit glaubt, dass ihm ja sowieso nicht zu helfen ist? Der längst überfällige Wandel im Therapeut-Patient-Verhältnis wurde nicht zuletzt durch die Forderungen und den politischen Aktivismus von Psychiatrie-Betroffenen angestoßen, die ab den 1970er Jahren begannen, sich in Selbsthilfegruppen zusammenzuschließen.4 Basisbewegungen wie die britische Mental Patients Union, die Mental Patients Liberation Front oder später die MindFreedom International waren es, die Zwangseinweisung, Zwangsmedikation und andere autoritäre Praktiken anprangerten und lautstark verlangten, als gleichberechtigte Partner wahrgenommen zu werden. Unterstützung fanden die Patienten-Aktivisten naturgemäß von Vertretern der AntipsychiatrieBewegung, allerdings auch von Scientology durch ihre Unterorganisation Citizens Commission on Human Rights.5 Für die Sache der Psychiatriebetroffenen und ihrer berechtigten Forderung nach Emanzipation war das alles andere als hilfreich. Konservative Vertreter der etablierten Psychiatrie konnten die Patienten-Bewegungen einfach diskreditieren, indem sie radikale Marxisten und religiöse Sektierer als treibende Kräfte dahinter angaben. Später in den 1980er Jahren kam es innerhalb der Patientenbewegungen zu einer strategischen Neuorientierung in Richtung realistischerer Forderungen. Während radikale Aktivisten in Konferenzen wie »Survivors speak out« früher noch verlangten, aus der herkömmlichen Psychiatrieversorgung komplett auszusteigen und die Betreuung psychisch Kranker gleich selbst zu organisieren, setzte man nun auf Mitsprache und Selbstbestimmung innerhalb des Systems. Statt »Wir machen’s selbst«6 hieß es nun »Nichts über uns, ohne uns«.

Für die Krankenkasse bleibt ein Patient ein Patient Wie soll man sich eigentlich nennen, wenn man mit der Psychiatrie in Kontakt gekommen ist und dort schlechte Erfahrungen gemacht hat, nicht ernst 4 5

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Siehe dazu Rose N (2018) »Our Psychiatric Future«, S. 153f. Gegründet wurde die »CCHR« 1969 von Scientology und Thomas Szasz, einer Ikone der Antipsychiatrie-Bewegung, der sich selbst allerdings vehement gegen diese Etikettierung wehrte. Szazs Hauptwerk »The Myth of Mental Illness« wurde von Timothy Leary als das »wichtigste Buch in der Geschichte der Psychiatrie« bezeichnet [Szasz T (1961)]. Der Slogan »On our own« nahm Bezug auf das gleichnamige Buch der einflussreichen Aktivistin Judi Chamberlin [Chamberlin J (1978)].

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genommen wurde, Zwang und Bevormundung erlebt hat? »Patienten« schon mal gar nicht, darüber herrscht Einigkeit. »Patienten« wird als etikettierend und stigmatisierend empfunden, zudem erleben sich Menschen mit psychischen Krisen selbst oft gar nicht als krank. Eine Psychose kann auch als bedeutungsvolle seelische Grenzerfahrung mit einem subjektiven Sinn aufgefasst werden. Das Label »Psychiatrie-Überlebende« wiederum wird von vielen als zu radikal empfunden. Das Vokabular stammt aus der militanten Frühzeit der Selbsthilfeorganisationen7 und wird auch darum kritisch gesehen, weil Anklänge an die Verbrechen des Holocaust mitschwingen. Letztendlich hat sich der neutrale Begriff »Psychiatrie-Erfahrene« durchgesetzt. Praktisch lässt sich das allerdings nur sehr eingeschränkt umsetzen. So lange Sozialleistungen wie Krankenkassenzahlungen und Invalidenrenten nur auf Basis medizinischer Diagnosen gewährt werden können, ist das gar nicht anders möglich. Für die Krankenkasse sind »Psychiatrie-Erfahrene« einfach weiterhin Patienten. Längst sind die Psychiatrie-Erfahrenen untereinander gut vernetzt, in Deutschland beispielsweise im Bundesverband Psychiatrie-Erfahrener e.V.8 Der Internetauftritt des Verbands ist zugleich Informationsportal, Ratgeberseite und politisches Sprachrohr der Bewegung. Die beharrliche Lobby-Arbeit in eigener Sache trägt durchaus Früchte. Die Stimme der Betroffenen wird wahrgenommen und zunehmend auch in der etablierten Psychiatrie respektiert. Das ist auch notwendig, denn Betroffene, die »Experten durch Erfahrung«, können aus ihrer Perspektive heraus neues Wissen einbringen und Sichtweisen erschließen, die sich von den »Experten durch Ausbildung« deutlich unterscheiden. Eben weil sie Krisen selbst durchlebt und überwunden haben, wissen Psychose-Erfahrene sehr genau, wie sich so ein Zustand anfühlt. Als Genesungsbegleiter können sie Hoffnung vermitteln und Erfahrungswissen an Personen weitergeben, die gerade akut in einer ähnlichen Krise stecken. »Sie können die Hilfeangebote humaner machen, weil sie den Innenblick und den Erfahrungsblick einbringen. Sie wissen, wie sich eine Beeinträchtigung anfühlt«, erklärt auch Psychiater Stefan Weinmann. Und hat eine weitreichende Forderung: »Nutzerinnen und Nutzer psychiatrischer Versorgung, Menschen mit seelischen Krisen oder mit psychosozialen Beeinträchtigungen sollten eine führende Rolle einnehmen in der Entwicklung des Verstehensrah-

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Z.B. das »Psychiatric survivors movement«. https://bpe-online.de (letzter Abruf 28.1.2023).

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mens, aber auch der psychiatrischen Dienste und Angebote, und zwar in ihrer Ausformung, Gestaltung und Bewertung.«9 Wie Weinmann in seinem Buch »Die Vermessung der Psychiatrie« ausführt, hat die psychiatrische Behandlung schwer Kranker ausschließlich durch Experten auch aus strukturellen Gründen negative Folgen für die Behandelten. Viele psychische Krisen und Zusammenbrüche, so Weinmann, hätten mit sozialer Desintegration, sozialem Abstieg, Traumatisierungen und sozialem Scheitern zu tun. Dies führe bei den Betroffenen zum schmerzlichen Erleben eines realen oder auch nur angenommenen Statusverlustes.10 In der Psychiatrie treffen diese Menschen nun auf Professionelle, die einen höheren oder zumindest sozial geachteten Status haben, die eine Expertenrolle vertreten und die Macht übertragen bekommen haben, ihnen ihre Defizite vor Augen zu führen und sie – manchmal auch gegen ihren Willen – zu behandeln oder gar festzuhalten. Weinmann argumentiert, dass dies dazu führen könne, die Rolle des Kranken und Unterlegenen zu verinnerlichen und im Versorgungssystem zu verharren. Oder aber, dass »die Behandlung immer und immer wieder abgelehnt wird, ohne dass gangbare Alternativen zur Sicherung des psychischen Überlebens oder zum Statusgewinn vorhanden sind […].«11 Dass die Emanzipation der Betroffenen tatsächlich vorankommt, zeigt sich auch daran, dass »Nutzer von psychiatrischen Dienstleistungen« – so die aktuellste und nunmehr reichlich technische Selbstbeschreibung – schon als gleichberechtigte Mitautoren auf wissenschaftlichen Publikationen erscheinen. Das wäre noch vor wenigen Jahren unmöglich gewesen. Allein schon das Fehlen einer akademischen Anbindung hätte dies höchst wahrscheinlich verhindert. Und service user haben zweifellos Interessantes zu berichten. So etwa John Richardson von der International Society for Psychological and Social Approaches to Psychosis. In einer Fachpublikation über Behandlungsalternativen mit möglichst wenig Medikamenten berichtet Richardson von seinen persönlichen Erfahrungen in der Psychiatrie: »Meine erste Bekanntschaft mit Medikamenten war, dass sie als Waffe benutzt wurden. Im Krankenhaus hatte ich keine andere Wahl, als sie zu nehmen. ›Compliance‹ war das A und O – ein Wort, gleichbedeutend mit Gehorsam. […] Die Ideen und Geschichten, die mit Antipsychotika einhergehen, haben alle eine Wirkung, vielleicht genauso stark wie die chemischen Substanzen. Ein Arzt sagte mir einmal, ich müsste 9 10 11

Weinmann S (2019) »Die Vermessung der Psychiatrie«, S. 248. Ebd., S. 234. Ebd.

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›dieses Medikament für den Rest meines Lebens nehmen‹ oder ich würde ›eine weitere psychotische Episode haben‹.«12 Und selbstverständlich kann auch ein von Psychosen Betroffener sehr differenzierte Ansichten haben, gerade auch zu Psychopharmaka. Noch einmal John Richardson: »Medikamente können natürlich helfen. Es ist unaufrichtig, ihren potenziellen Nutzen pauschal zu verneinen. Manchmal war es eine Entscheidung, die ich treffen musste, um mich in der Welt um mich herum zurechtzufinden. Entscheidend für mich ist, und ich hoffe, dass wir alle dieses Bestreben teilen können, dass es zu einer freiwilligen Wahl wird.«13

Ex-Patienten stören den gewohnten Betrieb Doch noch tut sich die etablierte Psychiatrie schwer damit, Betroffene im Sinne eines echten, partnerschaftlichen Bündnisses in das System zu integrieren. Dabei könnte eine andere Perspektive, zumal sie auch noch von ganz innen kommt, die unproduktive Selbstreferenzialität der Psychiatrie durchbrechen und erweitern. Das wäre sicher ganz im Sinne der frühen Aktivistin Judi Chamberlin: »Überlässt man die Entscheidung, ob Geisteskrankheiten existieren, ausschließlich den Psychiatern, ist das so, als ob man die Feststellung der Gültigkeit von Astrologie ganz den professionellen Astrologen überlässt.«14 Der zunehmende Druck in Richtung echter Partnerschaft ist zwar spürbar, die Beteiligung ehemaliger Patienten bleibt aber oft Alibiübung. Vertreter von Betroffenen-Organisationen werden zu Klinikveranstaltungen eingeladen und dürfen an Psychiatriekonferenzen mal einen Vortrag halten. Auch Genesungsbegleiter werden in der Regel nur extramural in alternativen Psychiatrieprojekten wie Krisenzimmern oder drop-in Anlaufstellen beschäftigt. Sind ehemalige Patienten in einem Behandlungsteam, stört dies den vertrauten Betrieb. Schon die gewohnte Art der Kommunikation ist nicht mehr so einfach möglich. Das medizinisch-pathologisierende Vokabular der Experten durch Ausbildung wird von den Experten durch Erfahrung allein schon durch ihre Anwesenheit herausgefordert. Und natürlich ist immer die Frage im Raum, wenn auch selten ausgesprochen, wie vernünftig und zuverlässig denn ein Psychose-Betroffener überhaupt sein kann, selbst wenn dieser 12 13 14

Cooper RE, Mason JP et al. (2021) Psychosis, S. 278. Ebd. Zitiert in Gotzsche PC (2013) »Deadly Medicines and Organised Crime«.

Kapitel 8: Experten durch Erfahrung. Die Stimme der Betroffenen

in Remission oder geheilt ist. Die Psychiatrie verteidigt ihre Autorität und das Machtgefälle bleibt bestehen. Dabei können Psychiatrie-Erfahrene wichtige Impulse geben, die über die Betreuung akut erkrankter peers weit hinausgehen. Beispielsweise, wenn sie in die Konzeption und Ausgestaltung neuer Therapieeinrichtungen einbezogen werden. Auch bei der Planung klinischer Studien könnten genesene Patienten wertvolle Dienste leisten. Wenn man eine Psychose oder schwere Depression selbst erlebt und überlebt hat, kommt man womöglich zu einer ganz anderen Einschätzung, welche Outcome-Variablen bei der Prüfung eines Therapieverfahrens gemessen werden sollten. Gut möglich, dass es gar nicht primär um eine möglichst vollständige Symptomreduktion geht, erfasst als blutleere Punktwerte auf einer konstruierten Psychopathologie-Skala. Wahrscheinlich ist es aus Betroffenen-Perspektive wichtiger, trotz Krankheit ein über weite Strecken gelingendes Leben in Autonomie und Selbstbestimmung führen zu können, selbst wenn das wegen Residualsymptomen wie Stimmenhören15 nur mit Einschränkungen möglich ist. Auch eine körperliche Behinderung erfordert schließlich Anpassungen und eine Relativierung dessen, was im Alltag möglich ist. Wer, wenn nicht Experten mit gelebter Erfahrung können definieren, worauf es ankommt und worauf man ganz pragmatisch die Prioritäten legen sollte? Das Projekt gemeinsamer Wissensproduktion im Sinne »partizipativer Forschung« durch Zusammenarbeit von Wissenschaftlern, Betroffenen (und auch Angehörigen) gibt es zwar schon seit Längerem, wird aber erst in den letzten Jahren intensiver verfolgt.16 Trialogisch ausgearbeitete Studienpläne machen es auch wahrscheinlicher, dass sich die psychiatrische Forschung wieder direkt am Patienten orientiert und nicht daran, dass im Keller ein teurer MRT-Scanner herumsteht, der genutzt werden muss. Besonders für 15

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Stimmenhören wird oftmals gleichgesetzt mit »schizophren sein«. Das ist nicht nur stigmatisierend, sondern einfach falsch. Viele Menschen erleben dieses Phänomen, auch ohne eine psychische Erkrankung zu haben – behalten dies aus verständlichen Gründen aber lieber für sich. Mit dem Phänomen des Stimmenhörens kann man zudem lernen umzugehen, dafür gibt es eine Reihe von bewährten Strategien. Mehr zu diesem »Talking with Voices«-Ansatz findet sich auf den Webseiten der entsprechenden Netzwerke [z.B. https://www.hearing-voices.org oder https://stimmenhoere n.de]. Siehe z.B. das Berliner Projekt »Partizipative klinische Forschung: B-Part« unter der Leitung von Isabel Dziobek und Silke Lipinsk; https://dziobek-lab.org/de/home_de (letzter Abruf 28.1.2023).

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die Versorgungsforschung sind neue Impulse und frische Ideen zu erwarten, wenn man sich darauf einlässt. Denn auch hier werden gewohnte Kompetenzen und tradierte Rollenbilder in Frage gestellt. Seit den 1960er Jahren ist die Stimme der Betroffenen sachlicher und differenzierter geworden. Gerade deshalb verdient sie, mehr Gehör zu finden.

Kapitel 9: Neo-Psychedelik und die Hoffnung auf heilsame Trips To fall in hell or soar angelic You’ll need a pinch of psychedelic.1

Der Pharmaindustrie, wir hatten es schon, ist längst die Lust vergangen, weitere Forschungsmilliarden in Projekte zu stecken, bei denen sie selbst nicht mehr daran glaubt, dass am Ende ein vermarktbares Medikament herauskommt. Die Entwicklung neuer Medikamente zur Behandlung psychiatrischer Krankheitsbilder ist praktisch zum Stillstand gekommen. Was die Industrie bisweilen noch macht, ist Grundlagenforschung mit neuen Paradigmen. Die Neuroscience-Abteilung von Novartis beispielsweise setzt jetzt auf Stammzellforschung, »zerebrale Organoide« und Optogenetik. Und übt sich, was die Erfolgschancen angeht, in schweizerischer Bescheidenheit mit gedämpftem Optimismus: »Um Erfolg zu haben, müssen wir etwas wagen, und wir brauchen die besten Leute, um an diesen Problemen zu arbeiten. Es wird weder einfach sein noch schnell gehen, aber wir glauben, dass es möglich ist, und wir sind entschlossen, Patienten in Not zu helfen.«2

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Psychiater Humphry Osmond in einem Brief an Aldous Huxley (1956) [zitiert in Pollan M (2018) »How to Change Your Mind«, S. 163]. https://www.novartis.com/research-development/research-disease-areas/neuroscie nce-research-novartis (letzter Abruf 28.1.2023).

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Die Psychopharmakologie steckt in der Krise. Moment mal – vielleicht doch nicht? Wie anders klingt es da gerade beim deutschen Investor Christian Angermayer, der mit seiner 2018 gegründeten Firma atai Life Sciences ebenfalls auf die heilende Wirkung von Chemie setzt – allerdings Chemie einer ganz besonderen Art. Angermayers Biopharma Start-up hat sich der Nutzung des therapeutischen Potenzials von bewusstseinsverändernden Psychedelika verschrieben. Und er liegt damit voll im Trend. »Neu definieren, wie die Welt Störungen der psychischen Gesundheit angeht, verhindert und heilt« ist das selbstbewusste mission statement von atai.3 Angermayer, der mit seiner Anlagegesellschaft Apeiron Investment Group nach eigenen Angaben »nur in Themen investiert, die die Zukunft so gestalten, wie wir sie gerne haben wollen«, mag es groß, auch was die Rhetorik zu den Chancen der gerade an breiter Front wiederentdeckten Halluzinogene angeht. »Diese Gruppe von [psychedelischen] Medikamenten hat das Potenzial, die meisten Formen […] von psychischen Krankheiten wie Depressionen, Angstzuständen, PTSD […] und Abhängigkeiten von anderen Drogen komplett zu heilen«, lässt uns ein begeisterter Angermayer im Wirtschafts-Podcast Alles auf Aktien wissen.4 Seine Begeisterung ist aber nicht nur Marketing für atai, sondern beruht – wie bei fast jedem wahren Psychedelik-Enthusiasten – auf persönlichen Erfahrungen. Schon sein erster magic mushroom Trip mit Freunden in der Karibik hätte bei Angermayer zu einem »sehr tiefgreifenden spirituellen Erlebnis« geführt. Dementsprechend großzügig taxiert er den »addressierbaren Gesamtmarkt« für die Psychedelik-Derivate, die seine Firma gerade entwickelt, auf »hundert Prozent der Weltbevölkerung, weil wir alle psychedelics brauchen werden und wollen, um uns mit der Welt, die wir gerade bauen, zurecht zu finden.«5 Der Aktienmarkt allerdings sieht atai gerade deutlich nüchterner. Der Börsenkurs Anfang Januar 2023 beläuft sich auf unter 2 Dollar pro Aktie, kurz nach Börsengang im Juni 2021 lag die Bewertung noch bei über 19 Dollar. Zwar verbuchte die gesamte Biotech-Industrie in letzter Zeit Kursverluste, aber kaum in dem Ausmaß wie atai. Und auch Angermayers psychedelic medicine Konkurrenz wie Compass Pathways, Mind Medicine oder Seelos Therapeutics tauchten an

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https://www.atai.life (letzter Abruf 28.1.2023). https://podcasts.apple.com/de/podcast/ewiges-leben-magische-pilze-ein-trip-mit-b %C3%B6rsenwunderkind/id1549709271?i=1000526917326 (letzter Abruf 28.1.2023). Ebd.

Kapitel 9: Neo-Psychedelik und die Hoffnung auf heilsame Trips

der Börse ähnlich stark ab. Nach kurzem Rausch ist die Branche offenbar schon in Katerstimmung. Was ist geschehen? Gehen wir der Reihe nach. 2018 sei zweifellos ein »Jahr des Wendepunkts für die psychedelische Wissenschaft« gewesen, schreiben Psychologen von der Central Michigan University.6 Zum einen seien wichtige neue Forschungsergebnisse publiziert worden, und auch in der Öffentlichkeit sei ein neues Interesse an Psychedelika erwacht, nicht zuletzt durch das Bestsellerbuch »How to Change Your Mind« von Michael Pollan, das auch in der Presse begeistert aufgenommen wurde. Hauptgrund aber sei, dass die amerikanische Arzneimittelbehörde FDA die Psilocybin-unterstützte Psychotherapie bei therapieresistenter Depression zur »bahnbrechenden Therapie« erklärt hat. Damit meint die FDA, dass sie in diesem Behandlungsverfahren ein großes Potenzial sieht, was den begehrten Weg zu einem beschleunigten Zulassungsverfahren eröffnet. Das Halluzinogen Psilocybin hat damit den gleichen behördlich privilegierten Status, wie zuvor schon das Entaktogen MDMA, das von der FDA bereits 2017 als potenzielle breakthrough therapy bei Posttraumatischer Belastungsstörung identifiziert wurde. In der leicht entflammbaren Start-up Szene, ohnehin schon affin für alles Bewusstseinsverändernde, kam es in der Folge zur massenhaften Gründung von Firmen, die den frischen Wind für die wiederbelebte psychedelische Psychotherapie kommerziell mitnehmen wollen. Auf der Webseite von Psychedelic Alpha, einer Art Dachverband des boomenden Psychedelik-Medizinsektors, sind über neunzig Start-up Firmen aufgeführt, die in Erwartung eines neuen Marktes ins Leben gerufen wurden.7 Auch Psychedelic ETFs, also börsengehandelte Indexfonds, gibt es schon. »Während sich weite Teile der Psychopharmakologie nur langsam von ihrem epistemischen Blues erholen, erlebt die psychedelische Forschung einen wahren Goldrausch«, kommentiert dies Anthropologe Nicolas Langlitz.8

Von der Neurotransmitter-Regulation zur pharmakospirituellen Erfahrung Ohne Zweifel ist das boomende Interesse an »Psychedelika-unterstützter Psychotherapie« (PAP) auch eine Folge des Scheiterns der konventionellen 6 7 8

Aday JS, Davoli CC et al. (2019) Drug Science, Policy and Law. https://psychedelicalpha.com (letzter Abruf 28.1.2023). Langlitz N (2022) BioSocieties.

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Psychopharmaka-Entwicklung. Wären psychische Störungen mit den bestehenden Methoden zuverlässig behandelbar, oder stünden entsprechende Therapien in Aussicht, würden sich Politik und Gesundheitsbehörden kaum auf einen neuen Deal mit halluzinogenen Drogen einlassen. Auch dass die bestehenden Psychopharmaka immer kritischer beurteilt werden, erhöht den Druck, endlich durch einen Paradigmenwechsel Abhilfe zu schaffen. Auch inhaltlich ist dieser Paradigmenwechsel enorm. Weg von der regelmäßigen Einnahme von Medikamenten, die eine veränderte Gehirnchemie ausgleichen sollen, hin zu Medikamenten, die über die Vermittlung bedeutungsvoller psychischer Grenzerfahrungen in nur wenigen Anwendungen wirken. Im Idealfall sogar mit nur einer einzigen. Transformierendes Erleben statt versuchte Gehirnreparatur. Die »mentalen Verletzungen«9 durch Vernachlässigung, Traumatisierung oder Missbrauch sollen mit einer kathartischen Gegenerfahrung kuriert werden. Eine Besonderheit der psychedelischen Medizin ist, dass sie in den Kontext einer absichtsvollen Psychotherapie eingebunden werden muss, um ihr volles Wirkpotenzial zu entfalten. In der Regel wird in vorbereitenden Therapiesitzungen zur psychedelischen Erfahrung hingeführt und das Erlebte danach in integrierenden Therapiestunden bearbeitet. Selbstverständlich müssen die Therapeuten speziell für diese Therapieform ausgebildet sein und auch über eigene Substanzerfahrung verfügen. Verbände wie die Schweizerische Ärztegesellschaft für Psycholytische Therapie (SÄPT) bieten solche Lehrgänge an, und für Forschung und Therapie gibt es bereits detailliert ausgearbeitete Leitlinien, mit Hinweisen zu »empathischer Präsenz« bis zu »Selbstfürsorge des Therapeuten« nach schmerzvoller Konfrontation mit einem Patienten-Trauma.10 Es soll zwar schon vorgekommen sein, dass auch eine private Psilocybin-Reise mit Freunden auf der Blumenwiese eine Depression gebessert hat. Der Normalfall ist das aber nicht. Wenn Psychedelika einfach so aus sich heraus therapeutisch wirksam wären, müssten allein schon in Berlin an jedem gewöhnlichen Partywochenende Hunderte von Spontanheilungen vorkommen. Davon ist aber nichts bekannt. Dies lässt auch an der Vorstellung einiger Neurowis-

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Schenberg EE (2018) Frontiers in Pharmacology. Johnson M, Richards W et al. (2008) Journal of Psychopharmacology; https://maps.org/2014/01/27/a-manual-for-mdma-assisted-therapy-in-thetreatment-of-ptsd (letzter Abruf 28.1.2023).

Kapitel 9: Neo-Psychedelik und die Hoffnung auf heilsame Trips

senschaftler zweifeln, Psychedelika seien »Psychoplastogene«,11 die ganz unabhängig von ihrer Wirkung auf das innere Erleben »nachhaltig strukturelle und funktionelle neuronale Plastizität in wichtigen Schaltkreisen fördern, die für die Gesundheit des Gehirns relevant sind«.12 Wäre diese Hypothese zutreffend, müssten gestandene acid-heads und andere psychonautische Vielflieger vor psychischer Gesundheit nur so strotzen. Auch das lässt sich empirisch nun wirklich nicht belegen. Bis auf weiteres ist also von einer »komplexen pharmakologisch angestoßenen psychologisch-psychotherapeutischen Wirkung« auszugehen.13

Was ist neu an der neuen Psychedelik? Bleibt die Klärung der Frage, was an der aktuellen Psychedelik-Renaissance denn eigentlich so neu ist im Vergleich zu den 1950er und 1960er Jahren, als auch schon umfassende Forschung mit LSD und Psilocybin gemacht wurde. In wagemutigen Selbstversuchen, großen Patientenstudien und bisweilen auch ethisch höchst fragwürdigen Experimenten wurden damals die grundlegenden Erkenntnisse zur Halluzinogen-unterstützten Therapie gewonnen. Toxizität und Nebenwirkungen, Dosierungen und Wirkdauer, mögliche Indikationen und Kontraindikationen und vor allem der entscheidende Einfluss von Set und Setting14 – all das wurde im Grundsatz schon in den gut zwanzig Jahren zwischen Albert Hofmanns Entdeckung von LSD und seinem Totalverbot herausgearbeitet. Mehr als tausend wissenschaftliche Publikationen berichteten von den therapeutischen Erfahrungen bei vierzigtausend Patienten.15 Die Studienergebnisse waren überwiegend positiv, allerdings können die meisten der damaligen Untersuchungsprotokolle den Anforderungen an eine moderne klinische Studie nicht genügen.

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Olson DE (2018) Journal of Experimental Neuroscience. Für eine umfassende Darstellung der Neurobiologie von Psychedelika siehe Vollenweider FX, Preller KH (2020) Nature Reviews. Neuroscience. Vargas MV, Meyer R (2021) Frontiers in Psychiatry. Herwig U, Mertens L et al. (2023) Fortschritte der Neurologie-Psychiatrie. Individuelle persönliche Faktoren (Gestimmtheit, Vorerfahrung, Glaubenssystem, Erwartungen) und äußere Faktoren (»wo und mit wem?«) prägen den Verlauf einer Halluzinogen-Erfahrung ganz entscheidend. Grinspoon L (1981) The Sciences, S. 20.

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Was sich grundlegend geändert hat, ist die gesellschaftliche Akzeptanz. Auch wenn die Halluzinogene noch immer verbotene Substanzen bleiben, die im »Betäubungsmittelgesetz« aufgelistet sind (allein schon der Name, was für eine Fehlklassierung), ist es längst kein Problem mehr, öffentlich über Triperfahrungen zu reden – so wie das auch Investor Angermayer oft und gerne macht. Über Jahrzehnte war die Diskussion um LSD von Irrationalität geprägt – bei Befürwortern und Gegnern gleichermaßen.16 Seinen rhetorischen Höhepunkt fand der Krieg der Ideologien wohl im Aufeinandertreffen von Timothy Leary und Richard Nixon. Der Harvard-Psychologe und exzentrische LSD-Aktivist Leary war sich sicher, dass LSD den Weg öffne zu »wahrem spirituellem Erwachen und zu künstlerischer und politischer Freiheit«. Und dass dies fast jeden Preis wert sei: »Ich würde sagen, dass unsere Gesellschaft derzeit so krank ist, dass selbst wenn die Risiken fifty-fifty wären, dauerhaft verrückt zu werden, wenn man LSD nimmt, es das Risiko wert ist, so lange die Person dieses Risiko kennt.«17 Für solche Aussagen wurde Leary wiederum von Präsident Nixon höchst persönlich mit einem Superlativ bedacht und gleich zum »gefährlichsten Mann Amerikas« erklärt. Was in der Folge mit der Halluzinogenforschung geschehen ist, hat der Psychiater und Drogenforscher Lester Grinspoon mit diesen Worten bedauert: »In der Ablehnung der absurden Vorstellung, psychedelische Drogen seien Allheilmittel, haben wir uns dazu entschieden, zum anderen Extrem überzugehen – wir behandeln sie als völlig wertlos und außerordentlich gefährlich.«18

Eine republikanische Milliardärstochter finanziert MDMA-Studie Das alles ist lange her, die Aufregung hat sich gelegt und Psychedelika sind im Mainstream angekommen. Selbst rechts-konservative Kreise scheinen sich am notorisch schlechten Drogenimage bewusstseinsverändernder Substanzen nicht mehr zu stören und fördern die Forschung bisweilen sogar aktiv.19 Rebekah Mercer zum Beispiel: Die New Yorker Milliardärstochter und Leiterin der Mercer Family Foundation ist eine Hauptunterstützerin des rechtspopulistischen (bis rechtsextremen) Nachrichtenportals Breitbart News Network und hat

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Hasler F (2006) Basler Zeitung. Lee MA, Shlain B (1985) »Acid Dreams«, S. 114. Grinspoon L (1981) The Sciences, S. 23. Langlitz N (2020) Society for Cultural Anthropology.

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auch den Präsidentschafts-Wahlkampf von Donald Trump maßgeblich mitorganisiert. 2018 hat aber auch die Multidisciplinary Association for Psychedelic Studies eine Million Dollar von Rebekah Mercer bekommen.20 MAPS, eine einflussreiche Nonprofit-Organisation, die sich seit 1986 für die Erforschung und medizinische Anwendung von Psychedelika einsetzt, soll das gespendete Geld für eine klinische Studie zur MDMA-unterstützten Psychotherapie bei traumatisierten Kriegsveteranen einsetzen. Unterstützung für die medizinische Psychedelik kommt also längst nicht mehr nur von kalifornischen Althippies, die später in der Tech-Industrie reich geworden sind. Auch ein paar der heute einflussreichen Politikerinnen und Verwaltungsbeamten dürften sich an die eigene jugendliche Sozialisation im Umfeld der counterculture und den einen oder anderen LSD-Trip erinnern, wenn sie von MAPS wieder einmal einen Bewilligungsantrag auf dem Tisch liegen haben. Historisch ebenfalls neu ist die Substanz MDMA, dem Partygänger besser bekannt als »Ecstasy«. Neu zum einen, weil das Empathie steigernde Amphetaminderivat überhaupt erst nach 1966 auftauchte, dem Jahr als in den USA Halluzinogene und ihre Erforschung verboten wurde.21 Zum anderen, weil es der erfolgreiche Einsatz von MDMA in der Traumatherapie war, der die psychedelische Medizin in breiten und auch konservativen Kreisen der Bevölkerung anschlussfähig gemacht hat. Kriege, Terroranschläge und Amerikas liberale Waffengesetze haben zu Abertausenden von Gewalt-traumatisierten Soldaten und Polizisten geführt. Schon seit Jahren sterben in den USA mehr Soldaten nach dem Krieg durch Suizid als während des Kriegs durch Kampfhandlungen. Und einem traumatisierten Kriegsveteranen eine wirksame Therapie zu verweigern, wäre natürlich zutiefst unpatriotisch, selbst wenn dabei Drogen im Spiel sind.22 Schon die Ergebnisse der ersten Pilotstudien zum Einsatz von MDMA bei PTSD-Patienten waren, wie eingangs erwähnt, so überzeugend, dass die 20 21

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https://maps.org/news/media/press-release-mercer-family-foundation-grants-1-mill ion-to-maps-for-ptsd-research-in-veterans (letzter Abruf 28.1.2023). Der Pharmakonzern Merck ließ MDMA zwar bereits 1914 patentieren, es ergab sich daraus aber keine pharmazeutische Anwendung. Erst der legendäre Chemiker Alexander Shulgin hat MDMA in den späten 1960er Jahren wiederentdeckt, synthetisiert und seine »entaktogene«, gefühlsöffnende Wirkung erforscht. MAPS-Gründer Rick Doblin hat die ersten MDMA-Traumatherapiestudien bewusst mit der Absicht initiiert, um damit auch Bevölkerungsgruppen zu erreichen, die Drogen naturgemäß besonders ablehnend gegenüberstehen [Langlitz N (2020) Society for Cultural Anthropology].

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FDA ihr größtes Lob ausgesprochen und den neuen Ansatz 2017 zur »bahnbrechenden Therapie« erklärt hat. Im Juni 2021 wurden nun Ergebnisse der ersten großen Phase-3 Studie zur MDMA-unterstützten PTSD-Therapie veröffentlicht.23 Und dies gleich in Nature Medicine – höher kann man in der Wissenschaft nicht publizieren. Design und Analyseverfahren der Studie wurden gemeinsam mit der Zulassungsbehörde entworfen, zudem wurden Trauma-Patienten in die Studie aufgenommen, die verschiedene Komorbiditäten haben, genauso wie es in der Realität eben ist:24 Dissoziative Zustände, Depressionen, Alkohol- und Drogenkonsum. Die Patienten haben dreimal MDMA (oder Placebo) bekommen, eingebettet in drei vorbereitende und neun integrative Psychotherapie-Sitzungen. Diese Phase-3 Studie, durchgeführt nach den höchsten wissenschaftlichen Standards, ist ebenfalls sehr positiv verlaufen. Die Punktzahl-Reduktion in der PTSD-Skala »CAPS-5«, die zur Symptomerfassung eingesetzt wurde, war bei den Teilnehmern in der MDMA-Gruppe fast doppelt so groß wie in der Vergleichsgruppe.25 Dementsprechend sehen die Autoren das breakthrough therapy Potenzial ihrer Pharmako-Psychotherapie bestätigt. Auch zur konkreten Wirkungsweise von MDMA in der PTSD-Therapie gibt es schon seit längerem Hinweise. Die intensive, MDMA-typische Gefühlsöffnung führt offenbar dazu, dass sich Traumatisierte direkt mit dem Horror des Erlebten auseinandersetzen können, ohne von negativen Emotionen überwältig zu werden. MDMA erzeugt die emotionale Sicherheit, die es braucht, damit sich Traumatisierte aktiv ihrem Trauma stellen und dieses in einem Therapieprozess verarbeiten können. Schon in den späten 1970er Jahren, als das kaum bekannte MDMA noch legal zugänglich war, wurde im Untergrund der kalifornischen Psychotherapieszene mit dieser damals neuartigen Drogenklasse experimentiert. Im Zusammenhang mit den aktuell wieder aufgenommenen Therapiestudien hat CNN mit einer Frau gesprochen, die als Jugendliche sexuelle Gewalt erfahren hat und nach jahrelang auftretenden Panikattacken und mehreren Krankenhausaufenthalten in den 1980er Jahren mit Ecstasy therapiert worden war. »MDMA hat es mir zum ersten Mal erlaubt, mich mit den

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Mitchell JM, Bogenschutz M et al. (2021) Nature Medicine. Ein Problem bei den meisten klinischen Studien ist, dass Medikamente an Patienten getestet werden, wie sie im Klinikalltag kaum vorkommen. Komorbiditäten, eine Behandlung mit (anderen) Psychopharmaka, aktueller Alkohol- und Drogenkonsum oder Suizidalität in der Biographie sind in der Regel Ausschlusskriterien. Mitchell JM, Bogenschutz M et al. (2021) Nature Medicine, S. 1025.

Kapitel 9: Neo-Psychedelik und die Hoffnung auf heilsame Trips

Einzelheiten des Vorfalls zu befassen und diese davon abzugrenzen, was in der Gegenwart geschieht« sagte die ehemalige Patientin. »Ich konnte meinen Körper entspannen. Ich war fähig zu sagen: dies geschieht dir nicht jetzt im Moment.«26 Rick Doblin, unermüdlicher Lobbyist der drogenunterstützten Psychotherapieforschung und Mitinitiator der MDMA-Studien, hat für das Wirkprinzip einen eingängigen Vergleich gefunden: »Das Posttraumatische StressSyndrom ist wie ein klingelndes Telefon. Es wird nicht zu läuten aufhören, bevor du antwortest. Und Ecstasy kann den Leuten helfen, den Hörer abzunehmen.«27 Der britische Psychiater, MDMA-Psychotherapeut und medical psychedelics Lobbyist Ben Sessa geht sogar noch weiter und vermutet, dass »MDMA für die Zukunft der Psychiatrie so wichtig werden könnte, wie es die Entdeckung der Antibiotika für die Allgemeinmedizin vor hundert Jahren war.«28

Verzweiflung oder FDA-bewilligt? Es sieht ganz so aus, als ob sich das unermüdliche Lobbying von MAPS-Gründer Rick Doblin nun auszahlt. Wenn auch noch weitere Studien positiv verlaufen, könnte MDMA schon in ein bis zwei Jahren die FDA-Zulassung bekommen. Und auch die europäische Arzneimittelbehörde EMA hat klinische Studien zu MDMA (und auch Psilocybin) bewilligt, die bereits angelaufen sind. Dabei ist es schon erstaunlich, dass die FDA damals im Zeitgeist der 2000er Jahre überhaupt eine Studie mit MDMA am Menschen befürwortet hat, denn nie war der Ruf von Ecstasy schlechter als in jener Zeit. So schlecht, dass ein Beamter der amerikanischen Suchtbehörde NIDA29 im Juli 2001 bei einer Konferenz über die Gefährlichkeit der Partydroge eine dunkeldüstere Prophezeiung wagte: »In Zukunft wird man es Verzweiflung nennen«.30 Trotzdem blieb Rick Doblin entspannt. Wenn es mit dem Sponsoring der Therapieforschung weiter so gut vorangehe und die FDA weiterhin »Wissenschaft über die Politik des Drogenkriegs« stelle, konterte Doblin damals in einer Stellungnahme, müsse

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Hasler F (2005) Die Weltwoche. Ebd. Ben Sessa im TED talk vom 5.7.2016, https://www.youtube.com/watch?v=UygZnBTW W0M (letzter Abruf 28.1.2023). »National Institute on Drug Abuse«. Doblin R (2001) MAPS Bulletin 11

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man MDMA in Zukunft nicht »Verzweiflung« nennen, sondern »…FDA-bewilligt«.31 Gut möglich, dass Doblins Prophezeiung tatsächlich in Erfüllung geht. Der zweite große Hoffnungsträger der medizinischen Neo-Psychedelik ist Psilocybin. Der Wirkstoff der magic mushrooms ist zwar alles andere als neu. In Mittel- und Südamerika waren halluzinogene Pilze schon vor über zweitausend Jahren bekannt und curanderos, gewissermaßen die indigenen Berufskollegen unserer Psychiater, nutzen diese Pilze bisweilen noch heute im Rahmen schamanistischer Heilrituale.32 Eine solide Tradition, auf der man aufbauen kann. Mit Psilocybin wurde schon in den 1950er und 1960er Jahren viel psychiatrische Forschung betrieben, auch in Deutschland.33 Neu ist allerdings, dass Psilocybin, offiziell unterstützt von den Arzneimittel-Kontrollbehörden, in klinischen Studien nach den methodologischen Standards unserer Zeit geprüft wird. Können Sicherheit und Wirksamkeit in allen Studienphasen belegt werden, stellen FDA und EMA auch für Psilocybin eine Zulassung in Aussicht.

Investoren landen auf dem Boden der Tatsachen Am weitesten fortgeschritten ist die klinische Prüfung von Psilocybin zur Therapie behandlungsresistenter Depressionen. »Die klinischen Forschungsdaten zu Psilocybin sind besonders interessant, weil sie zeigen, dass mehrere Sitzungen Psilocybin-unterstützter Psychotherapie zu antidepressiven Wirkungen führen können, die Wochen bis Monate anhalten« schrieben hochrangige amerikanische Psychiater 2020 in einer Übersichtsarbeit.34 Im November 2021 hat Compass Pathways, die Firma, die die Psilocybin-Depressions-Untersuchung durchführt und sponsert, die Ergebnisse ihrer großen »Phase 2B« Studie mit 233 Patienten online veröffentlicht.35 Die Ergebnisse waren auch hier ermutigend. Nach einer einzigen (hohen, 25 mg) Dosis Psilocybin waren

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Doblin R (2001) MAPS Bulletin. Das halluzinogene Pflanzengebräu Ayahuasca wird in Südamerika allerdings häufiger verwendet. Daraus hat sich eine veritable Tourismusbranche entwickelt. Europäer fliegen nach Brasilien und Peru und erhoffen sich von einer bezahlten Ayahuasca Zeremonie Selbsttranszendenz und Heilung. Vor allem von Hanscarl Leuner, einem Pionier der deutschen Halluzinogenforschung und Gründer der »Europäischen ärztlichen Gesellschaft für psycholytische Therapie«. Reiff CM, Richman EE et al. (2020) American Journal of Psychiatry, S. 404. https://compasspathways.com/positive-topline-results (letzter Abruf 28.1.2023).

Kapitel 9: Neo-Psychedelik und die Hoffnung auf heilsame Trips

die Depressionen bei etwa 24 Prozent Patienten auch noch nach drei Monaten signifikant verbessert, bei der 1mg (Placebo-)Dosis waren es nur 10 Prozent. Das ist gut. Gut, aber nicht sensationell. Zudem kam es, für eine Studie mit schwer depressiven Patienten wenig überraschend, zu Problemen mit »behandlungsbedingten unerwünschten Ereignissen«. Zwölf Patienten meldeten gar schwerwiegende Ereignisse wie suizidales Verhalten, Suizidgedanken oder Selbstverletzung. Dies ist bei der Schwere der Erkrankung nicht ungewöhnlich, kam in der 25 mg Psilocybin Gruppe allerdings häufiger vor. Die Anleger von Compass Pathways jedenfalls zeigten sich verschreckt und der Aktienkurs ist am Tag nach der Veröffentlichung der neuen Daten um 28 Prozent eingebrochen. Ein Jahr später ist auch die offizielle Fachpublikation erschienen, in der die Studienergebnisse noch einmal relativiert wurden.36 Eine erneute Datenanalyse hatte ergeben, dass der Rückgang der Depressionssymptome in der 25 mg Psilocybin Gruppe zwar nach drei, aber nicht mehr nach zwölf Wochen signifikant war. Willkommen in der Realität, möchte man den euphorisierten psychedelic medicine-Investoren zurufen. Wenn man Erwartungen derart in die Höhe schraubt, wie das gerade in der Psychedelik-Renaissance geschieht, von Investor Angermayer bis Buchautor Pollan, dann können wissenschaftliche Studien eigentlich nur enttäuschen. Nein, Psychedelika heilen nicht alles und jeden und frei von unerwünschten Wirkungen sind sie schon gar nicht. Forscher aus Baltimore wollten die dunklen Seiten von Halluzinogenreisen besser beleuchten und führten eine online Umfrage bei Psilocybin-Konsumenten durch, die schon einmal einen bad trip hatten.37 Fast zweitausend Pilzerfahrene haben die Fragen nach den Konsequenzen ihrer »schwierigsten Erfahrung« auf einem Psilocybintrip beantwortet. Neununddreißig Prozent der Befragten gaben an, ihr negatives Triperlebnis auf Psilocybin hätte zu den »fünf herausforderndsten Ereignissen ihres Lebens« gehört. 2.6 Prozent gaben an, sich aggressiv oder gewalttätig verhalten zu haben und 2.7 Prozent wurden medizinisch behandelt. Trotz der erlebten Schwierigkeiten sagten vierundachtzig Prozent, sie hätten von der Erfahrung profitiert. Dass schwierige Trip-Erfahrungen bei gesunden Versuchsteilnehmern in einem wissenschaftlichen Setting seltener vorkommen (und dann in der Regel gut beherrschbar sind), konnte mein Kollege Erich Studerus auch mit Daten aus unserer eigenen

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Goodwin GM, Aaronson ST et al. (2022) New England Journal of Medicine. Carbonaro TM, Bradstreet MP et al. (2016) Journal of Psychopharmacology.

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Psilocybin-Forschung an der Burghölzli Klinik belegen.38 Und genauso wichtig: In unseren Psilocybin-Studien fanden wir keinerlei Hinweise darauf, dass eine Gefahr für die körperliche Gesundheit der Probanden besteht.39 Roland Griffiths, einer der bad trip Befrager aus Baltimore, hat 2005 durch ein Psilocybin-Experiment internationale Berühmtheit erlangt. In einer zeitgenössischen Abwandlung des legendären Karfreitags-Experiments von Walter Pahnke40 konnte Griffiths zeigen, dass eine hohe Dosis Psilocybin in einem entsprechend angelegten Setting Zustände auslösen kann, die einer »vollständigen mystischen Erfahrung« gleichkommen. Zwei Drittel der Probanden (allesamt mit einem religiösen oder spirituellen Hintergrund) haben später angegeben, diese Erfahrung zähle zu den »bedeutungsvollsten Ereignissen ihres Lebens«.41 Ich erwähne dies, weil Griffiths zu dieser Studie auch frei formulierte Protokolle der Versuchsteilnehmer veröffentlicht hat.42 Zur Illustration der möglichen Intensität einer Psilocybin-Erfahrung hier ein paar Beispiele: Proband Nummer 3: »Freiheit von jeder vorstellbaren Sache: Zeit, Raum, Beziehungen und Selbst eingeschlossen. Es war, als würde das verkörperte ›Ich‹ die ultimative Transzendenz erfahren – sogar von mir selbst.« Proband Nummer 21: »Die erschreckende Erfahrung des Todes, gefolgt von absolutem Frieden und in Anwesenheit Gottes zu sein. Es war so Ehrfurcht gebietend, mit Gott zu sein, dass Worte die Erfahrung nicht beschreiben können.«

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Studerus E, Kometer M et al. (2011) Journal of Psychopharmacology. Hasler F, Grimberg U et al. (2004) Psychopharmacology. Schon in den 60er Jahren wollte man den empirischen Beweis erbringen, dass Halluzinogene wahrhaftige mystische Erfahrungen auslösen können. Für seine Doktorarbeit in Harvard verabreichte Walter Pahnke am Karfreitag 1962 in der Marsh Chappel in Boston 20 Theologiestudenten Kapseln. 10 Versuchspersonen erhielten Placebo-Kapseln und 10 Personen erhielten eine hohe Dosis Psilocybin. Mit Fragebögen wurde nach dem Experiment die mystische Qualität des Erlebten erhoben. Es zeigte sich, dass die meisten Teilnehmer in der Psilocybin-Gruppe intensive spirituelle Grenzerfahrungen gemacht hatten. [Pahnke WN (1966) International Journal of Parapsychology]. Griffiths RR, Richards WA et al. (2006) Psychopharmacology. Ausführlich wird das Experiment beschrieben in Pollan M (2018) »How to Change Your Mind«, S. 29f. Griffiths RR, Richards WA et al. (2008) Journal of Psychopharmacology.

Kapitel 9: Neo-Psychedelik und die Hoffnung auf heilsame Trips

Proband Nummer 29: »Ich erlebte eine tiefe Trauer. Als ob aller Schmerz und alle Traurigkeit der Welt durch mich durchfließen würde und mein Wesen Zelle für Zelle auseinanderreißt.« Proband Nummer 46: »Vollständiger, äußerster Verlust des Selbst. Das Gefühl des Einsseins war unbeschreiblich. Ich glaube nun wahrhaft an Gott als ultimative Realität.« Angesichts der Möglichkeit derart existenzieller Erfahrungen mit Psychedelika ist es nur vernünftig, erst einmal in zeitgemäßen state of the art Studien abzuklären, für wen und unter welchen Bedingungen eine Psychedelika-unterstützte Psychotherapie hilfreich ist und wie man auftretenden Problemen begegnen kann. Genau das könnte das entscheidend Neue in dieser zweiten Welle psychiatrischer Psychedelik-Forschung sein: Strenge regulatorische Vorgaben und moderne Versuchsdesigns bilden die klinische Realität besser ab als die mehr oder weniger frei improvisierten Studien in den 1950ern das konnten. Auch in der Psychedelik-Forschung dient es der Transparenz und Glaubwürdigkeit, dass klinische Studien vorangemeldet und in öffentlich zugänglichen Registern43 eingetragen werden müssen. Nur so lässt sich sicherstellen, dass nicht im Nachhinein »kreative Statistik« betrieben, unvorteilhafte Ergebnisse und Nebenwirkungen unterschlagen oder »Endpunkt-Variablen« nur teilweise publiziert werden – so wie dies in der Forschung noch bis weit in die 2000er Jahren gang und gäbe war.44 Und Klärungsbedarf gibt es jede Menge. Ist das eigentlich pharmakologisch unterstützte Psychotherapie? Oder psychotherapeutisch begleitete Pharmakologie? Klar ist nur, dass der Einsatz von Psychedelika im psychiatrischen Kontext in irgendeine Form von Psychotherapie eingebettet sein muss. Aber welche? Für die klinischen Studien wurde das Prozedere bei den vorbereitenden und integrierenden Therapiesitzungen zu Standardisierungszwecken handbuchartig festgeschrieben.45 Aber könnte das Vorgehen nicht auch ein

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»Clinical trials registries« wie https://clinicaltrials.gov und https://www.clinicaltrialsre gister.eu Im Fachjargon als »p-hacking« bekannt. Man erfasst bei einer Studie eine große Zahl von Endpunktvariablen, berichtet später aber nur von den Outcome-Messungen, die (oft zufällig) einen statistisch signifikanten Effekt ergeben haben. Wohl im Sinne einer Therapieschulen-unabhängigen, eklektischen Auswahl – man nimmt, was man für geeignet hält.

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ganz anders sein? Schon über die Frage des geeignetsten Therapieverfahrens könnte bald ein Expertenstreit losbrechen. Von den Grundprinzipien her scheint die Achtsamkeitsbasierte Psychotherapie prädestiniert zu sein. Introspektion, Aufmerksamkeit, Achtsamkeit und Akzeptanz sind zentrale Konzepte, die auch für eine gut verlaufende Halluzinogenreise entscheidend sind. Oder ist eher die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie zuständig? Gut möglich, dass auch die Psychoanalytiker noch mal in die Gänge kommen und sich an die eigene Tradition der therapeutischen Anwendung von Halluzinogenen erinnern. Immerhin begann die erste Welle der Psychedelik-Forschung in der Psychiatrie zu Zeiten, als die Psychoanalyse noch den Ton angab. In der damals noch »psycholytische Therapie« genannten Vorgehensweise haben Analytiker ihren Patienten in wiederholten Sitzungen kleine bis moderate Dosen LSD oder Psilocybin gegeben. Durch die Lockerung von Abwehr- und Verdrängungsmechanismen wollte man zu den unbewussten Gründen für das neurotische Leiden der Klienten vorstoßen. Eine lebensverändernde, kathartische Grenzerfahrung mit Ego-Tod und Wiedergeburt durch einmalige hohe LSD-Dosen, wie dies die Befürworter der »psychedelischen Therapie« anstrebten, hat die Analytiker wenig interessiert. Sie wollten einfach ihre Analyse effizienter gestalten, Blockaden im therapeutischen Prozess auflösen und die ganze Sache verkürzen. Am wahrscheinlichsten ist aber, dass die vergleichsweise bodenständige Kognitive Verhaltenstherapie das Rennen macht,46 die mit ihren rationalen und praxisorientierten Ansätzen ein gutes Gegengewicht zu den traumartig-noetischen Erfahrungen eines Psilocybintrips bietet. Nicht hoch genug einzuschätzen ist auch die Arbeit der Musiktherapeutinnen, die sich mit der Kuratierung und Evaluierung geeigneter Musikprogramme für Psychedelik-Sitzungen beschäftigen.47 Wie jeder Halluzinogenerfahrene bestätigen wird, ist Musik von fundamentaler Bedeutung für das Erleben und bestimmt in hohem Maße, wohin die Reise geht. Das sehr empfehlenswerte Copenhagen Music Program for Psilocybin ist auf Spotify zu finden.48 Viele Fragen werden sich gerade auch die zuständigen Arzneimittel-Zulassungsbehörden stellen. Was genau soll hier eigentlich bewilligt werden? Ein Medikament, wenn auch ein besonderes? Oder der Kombipack aus Medikament und manualisierter Psychotherapie, also eigentlich ein Verfahren? Für

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Yaden DB, Earp D et al. (2022) Frontiers in Psychology. Messell C, Summer L et al. (2022) Frontiers in Psychology. open.spotify.com/playlist/6QqL1JMtGAlw40kcMtBGDr?si=73d82692ba7f4920 (letzter Abruf 28.1.2023).

Kapitel 9: Neo-Psychedelik und die Hoffnung auf heilsame Trips

die Bewilligung einer psychotherapeutischen Intervention sind sie aber gar nicht zuständig. Und sollten sie eine Bewilligung erteilen – darf dieses Verfahren dann nur von speziell lizenzierten Therapeuten angewendet werden? Sicher ist, dass das alles auch für die Zulassungsbehörden Neuland ist. Psychedelika bringen immer alles durcheinander – sogar die gute Ordnung amtlicher Prüfverfahren.

Das Verteidigungsministerium wünscht sich nicht-psychedelische Psychedelika Dass Psychedelika psychoaktiv sind, ist nicht nur für die FDA störend. Auch wenn alles ganz legal und klar geregelt wäre, würden viele Patienten vor einer Therapie mit Halluzinogenen zurückschrecken. Aus ideologischen Gründen oder weil sie Angst vor einer negativen Trip-Erfahrung haben. Auch das amerikanische Verteidigungsministerium wünscht sich für seine traumatisierten Soldaten wohl die therapeutische, nicht aber die psychedelische Wirkung von Halluzinogenen. Zum einen wird dies in Militärkreisen als potenziell schädlich und nicht tolerierbar aufgefasst. Noch wichtiger aber dürfte sein, dass die Veterans Health Administration gerne die Kosten für die begleitenden Therapiesitzungen einsparen möchte. Aus diesem Grund hat Bryan Roth, renommierter Pharmakologe an der University of North Carolina, vom US Department of Defense 27 Millionen Dollar bekommen.49 Mit dem Geld soll sein Hightech-Labor Substanzen entwickeln, die vergleichbare therapeutische Wirkungen haben wie LSD und Psilocybin, aber nicht halluzinogen sind. Also nicht-psychedelische Psychedelika.50 Man könnte jetzt kalauern, das sei wie Musik, nur ganz ohne Töne.51 Was auf den ersten Blick absurd erscheint, ist auf den zweiten doch wieder ganz interessant, weil der Ansatz direkt zum Widerstreit der Ideologien führt und zur Grundsatzfrage: »Wie wirkt etwas, wenn es wirkt?« Würde Pharmakologe Roth mit seinen komplexen molecular modeling Verfahren ein LSD-Derivat entdecken, das keine psychotrope Wirkung hat und

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Langlitz N (2022) BioSocieties. Wäre auch noch zu klären, wie denn ein »nicht-psychedelisches Psychedelikum« überhaupt definiert ist. Strukturelle Ähnlichkeiten, ein vergleichbarer pharmakologischer Agonismus am Serotonin-2A-Rezeptor, aber die arme Versuchsratte schüttelt den Kopf nicht häufiger als zweimal? Auch das gibt es allerdings schon, z.B. die Komposition »4'33« von John Cage (1952).

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trotzdem Depressionen kuriert, hätte er geschafft, was der Pharmaindustrie nicht gelungen ist: Einen Wirkstoff zu finden, der – irgendwie – durch physikochemische Wechselwirkung mit der menschlichen Biologie Depressionen zum Verschwinden bringt. Das wäre dann A) eine Sensation, B) ein Antidepressivum, das seinen Namen tatsächlich verdient und C) wären wir zurück in der klassisch-biomechanistischen Psychopharmakologie. Mit dem Unterschied allerdings, dass man modernerweise nicht mehr die Regulation von Neurotransmittersystemen als Wirkmechanismus versteht, sondern die plastische Reorganisation von neuronalen Schaltkreisen.52 Und auch die psychedelic medicine Start-ups wären begeistert, weil ganz neue und damit patentierbare Wirkstoffe in die Welt kämen. Doch die Diskussion um nichtpsychedelische Psychedelika wird klar von den Experten dominiert, die sagen, dass es für eine therapeutische Wirkung eben genau diesen psychischen Ausnahmezustand braucht, der im entsprechenden Therapie-Setting in eine anhaltende Besserung transformiert werden kann.53 Der Chemie kommt dann nur die Funktion des Auslösers für dieses besondere innere Erleben zu. Dass es dabei auch zu plastischen Adaptationen des Gehirns kommt ist auch klar, denn schlicht alles was wir erleben, verändert unsere neuronale Verschaltung – erst recht eine so existenzielle Erfahrung wie ein LSD-Trip. Je nachdem, welche Sichtweise man bevorzugt, stellt man einfach das eine oder andere in den Vordergrund.

Wirkt Psilocybin auch unter Narkose? Für die Befürworter einer nicht-psychedelischen Psychedelik hätte ich auch gleich einen experimentellen Vorschlag. Wenn denn das psychedelische Erleben nur überflüssiger Budenzauber ist, könnte man dies in einer Studie untersuchen, in der depressive Probanden, sagen wir, eine hohe Dosis Psilocybin bekommen und gleich nach der Verabreichung in Narkose versetzt werden. Ist auch dann noch eine antidepressive Wirkung nachweisbar, wäre das sicher ein starkes Argument. Und so abwegig ist ein Versuchsprotokoll zu Depressionen mit Einbezug einer Narkose auch gar nicht: Elektrokonvulsions-Therapien

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Z.B. Olsen DE (2018) Journal of Experimental Neuroscience [zitiert in Langlitz N (2022) BioSocieties]. Z.B. Yaden DB, Griffiths RR (2020) ACS Pharmacology & Translational Science; Majic T, Schmidt TT et al. (2015) Journal of Psychopharmacology.

Kapitel 9: Neo-Psychedelik und die Hoffnung auf heilsame Trips

(EKT), auf der Webseite des Max-Planck-Instituts für Psychiatrie streitbarerweise als »das aktuell wirksamste Therapieverfahren zur Behandlung schwerer depressiver und psychotischer Erkrankungen« bezeichnet,54 werden schließlich routinemäßig unter Narkose durchgeführt. Aber sollte man sich nicht in erster Linie um die Probleme beziehungsweise die Optimierung der bestehenden Halluzinogen-unterstützten Therapieformen kümmern? Es gibt noch viel zu tun. Selbst wenn wir die zaghaften Anfänge des Psychedelik-Revivals großzügig auf Mitte der 1990er Jahre datieren, fehlen mindesten drei Jahrzehnte moderner Forschung. Das will erst einmal nachgeholt sein. Vergleichsweise technischer Natur wäre erst einmal die Entwicklung geeigneter »Neutralisierungs-Techniken«55 (jenseits von Benzodiazepinen und Antipsychotika), um eine allzu problematisch verlaufende Halluzinogenreise schonend und nachwirkungsarm abzubrechen. Es ist immer gut, einen Notfallplan zu haben – das steigert auch die Akzeptanz der Patienten. Und tatsächlich wird schon an der Entwicklung von Substanzen gearbeitet, die eine Halluzinogenreise verkürzen oder gar beenden können, beispielsweise in der Arbeitsgruppe von Matthias Liechti an der Universität Basel.56 Viel grundlegender ist die Klärung der Frage, für wen solche Verfahren überhaupt in Frage kommen. PTSD, Depressionen, Angst- und Zwangsstörungen sowie Abhängigkeitsprobleme sind schon mal gesetzt, für diese Einsatzgebiete gibt es bereits gute empirische Daten. Als Kontraindikation gelten alle Erkrankungen aus dem Bereich Psychosen und Schizophrenie.57 Auch bipolare Störungen kommen für eine solche Therapie kaum in Frage, weil dadurch manische Phasen ausgelöst werden können. Das ist auch gut nachvollziehbar. Wollte man eine mystische, transzendierende Erfahrung unter Halluzinogenen pathologisieren, könnte man dies ohne weiteres als »maniformes Erleben« bezeichnen – auch schon bei Gesunden. Hätten Roland Griffiths’ Psilocybin-Probanden ihre Aussagen anlässlich einer psychiatrischen Konsultation gemacht, wäre »akute 54 55 56 57

https://www.psych.mpg.de/2584782/elektrokonvulsionstherapie (letzter Abruf 28.1.2023). Noorani T, Martell J (2021) Frontiers in Psychiatry. https://newatlas.com/science/lsd-off-switch-mindmed-liechti-psychedelic-science (letzter Abruf 28.1.2023). In jüngster Zeit wird jedoch der Einsatz von MDMA auch bei chronischer Schizophrenie diskutiert, bei der nicht akut florierende Wahnvorstellungen und Halluzinationen im Vordergrund stehen, sondern Negativsymptome wie Affektverminderung, Anhedonie, kognitive Störungen und sozialer Rückzug [Arnovitz MD, Spitzberg AJ et al. (2022) Journal of Clinical Medicine].

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Psychose« wohl die häufigste Diagnose geworden. Spätestens ab hier herrscht allerdings Uneinigkeit. Was ist mit Persönlichkeitsstörungen? Essstörungen? Und sollen diese Therapieverfahren auch den worrying well, den vielen ganz normal leidenden Neurotikern unter uns empfohlen werden, denen man früher eine Psychoanalyse nahegelegt hätte? Oder sollen diese Therapien sogar jedermann zugänglich sein, zur »Selbsttranszendenz und spirituellen Heilung«, wie dies die wahren Psychedelik-Enthusiasten vorschlagen? Verbesserungswürdig an der Psychedelika-assistierten Psychotherapie wäre auch noch deren Nachhaltigkeit. Sicher kann im Anschluss an eine zu tiefst berührende, erkenntnisreiche Halluzinogen-Erfahrung erst einmal »alles anders« sein. Doch wie lange bleibt »alles anders«? Für die MDMATherapie bei PTSD sieht es sehr gut aus, wie eine Auswertung von sechs Phase-2 Studien ergab. Auch ein bis zwei Monate nach der Behandlung blieben die PTSD-Symptome deutlich reduziert und der Therapieeffekt nahm danach sogar noch weiter zu. Zwölf Monate nach Ende der Intervention – dem bislang letzten Zeitpunkt der Datenerhebung – haben 67 Prozent der Patienten »die diagnostischen Kriterien für eine PTSD-Erkrankung nicht mehr erfüllt«.58 97.6 Prozent der Studienteilnehmer gaben an, sie hätten von der Therapie profitiert und nur 8.4 Prozent gaben an, sie hätten auch negative Auswirkungen erfahren.

Psychedelische Erfahrungen haben die gleichen Schwächen wie religiöse Bekehrungen Weniger anhaltend scheint der Effekt von Psilocybin auf Depressionen zu sein. In der Londoner Studie von Robin Carhart-Harris und Kollegen mit zwanzig »therapieresistenten« depressiven Patienten waren die Symptome nach ein bis drei Wochen deutlich zurückgegangen. Der Effekt war zwar auch nach sechs Monaten noch signifikant, aber die Werte auf dem Depressions-Fragebogen QIDS begannen bereits nach fünf Wochen wieder anzusteigen.59 Dass auch die

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Jerome L, Feduccia AA et al. (2020) Psychopharmacology. Carhart-Harris RL, Bolstridge M et al. (2018) Psychopharmacology. Auch aus der Depressionsbehandlung mit dem dissoziativen Anästhetikum Ketamin ist bekannt, dass das gute und vor allem schnelle Ansprechen nicht lange anhält. Ein Großteil der Patienten ist schon eine Woche später wieder depressiv.

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eindrücklichste psychedelische Erfahrung mit der Zeit verblassen kann, wusste auch schon der Harvard-Drogenforscher Lester Grinspoon: »Leider haben psychedelische Erfahrungen die gleichen Schwächen wie religiöse Bekehrungen. Ihre Authentizität und emotionale Kraft sind keine Garantie dafür, dass man nicht wieder zurückfällt, wenn man sich im Alltag mit den gleichen alten Frustrationen, Zwängen und emotionalen Belastungen auseinandersetzen muss.«60 Für die langfristige Verankerung einer psychedelischen Grenzerfahrung ist es sicher hilfreich, wenn man sich auch sonst mit irgendeiner Form von spiritueller Praxis beschäftigt. Wer regelmäßig meditiert oder mindestens Achtsamkeitsübungen macht, hat sicher eine bessere Chance, dieses Erleben zu festigen und zu vertiefen. Fragt man Buddhisten nach ihrer Meinung, bekommt man gerne zu hören, Psychedelika seien nicht der richtige Weg. Die lange Reise zu Weisheit und Erleuchtung könne man nicht eben schnell mit 200 Mikrogramm LSD abkürzen, selbst wenn man am Ende an einem ähnlichen Ort ankomme. Den beschwerlichen Weg müsse man schon auch gehen. Einverstanden – aber vielleicht kann man ja einfach beides tun? Wie geht es nun weiter mit der Psychedelik-Renaissance in der Forschung? Mit großer Spannung schaut man bereits auf die deutsche Kooperationsstudie EPIsoDE: »Eine randomisierte, doppelblinde, aktiv placebokontrollierte Phase II Parallelgruppenstudie zur Untersuchung der Wirksamkeit und Sicherheit von Psilocybin bei behandlungsrefraktärer unipolarer Depression.«61 Das Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim und die Berliner Charité untersuchen gemeinsam mit dem Projektpartner MIND European Foundation for Psychedelic Science die potenziell therapeutische Wirkung von Psilocybin bei insgesamt 144 schwer depressiv erkrankten Patienten.62 Seit dem Studienstart im März 2021 ist also auch Deutschland wieder in der klinischen Forschung mit halluzinogenen Substanzen angekommen. Nicht nur für die Börsenkurse der psychedelic medicine Start-ups, sondern für die Zukunft des ganzen Forschungsfeldes dürfte es richtungsweisend sein, welche Ergebnisse diese Untersuchung zutage fördert. Interessant an dieser Studie ist aber auch, wer sie leitet: Gerhard Gründer. Psychiater Gründer ist Leiter der Abteilung Molekulares Neuroimaging am ZI Mannheim und einer der renommiertesten Vertreter der biologischen und molekularen Psychiatrie in Deutschland. Auch von Gerhard

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Grinspoon L (1981) The Sciences, S. 22. https://www.clinicaltrialsregister.eu/ctr-search/trial/2019-003984-24/DE#A Abruf 28.1.2023). https://episode-study.de (letzter Abruf 28.1.2023).

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Gründer war in diesem Buch bereits die Rede, als Mitverfasser der vehementen DGPPN-Replik auf eine Antidepressiva-kritische TV-Reportage aus dem Jahr 2013.63 »Substanzen wie Psilocybin können die Wahrnehmung, das emotionale Erleben und das Bewusstsein tiefgreifend verändern. Dies macht sie für die Behandlung psychischer Erkrankungen interessant«, heißt es auf der Webseite von Gründers Forschungsabteilung. Und angesichts des folgenden Eintrags reibt man sich die Augen und möchte schon fast den Beginn einer ideologischen Konversion bei Psychiater Gründer diagnostizieren: »Bisher geht man oft davon aus, dass psychische Erkrankungen mit spezifischen molekularen Dysfunktionen verbunden sind, die nur durch eine pharmakologische Dauertherapie korrigiert werden können. Die Erfahrungen mit Psychedelika laufen dieser Annahme entgegen. Die Studie könnte somit nicht nur dazu beitragen, eine neue, effektive Behandlungsoption für Menschen mit Depressionen zu erschließen. Sie könnte auch neue Erkenntnisse liefern, die das Verständnis psychischer Erkrankungen insgesamt erweitern.«64 In Gestalt psychedelischer Therapien klopft eine neue Spiritualität auch schon gegen die Türen der Trutzburgen der deutschen Biopsychiatrie.

Mit Bewusstseinserweiterung gegen den Weltuntergang Sollte es für die wissenschaftliche Neo-Psychedelik nach Plan weitergehen, stehen tatsächlich große Veränderungen in der Psychiatrielandschaft bevor. Die Zukunftsvision von MAPS ist gar die Einrichtung eines ganzen Netzwerks aus »Tausenden von spezialisierten Kliniken für Psychedelische Psychotherapie«. In diesen medizinischen Zentren für Psychedelik-Behandlung arbeiten dann zertifizierte Therapeuten und verabreichen ihre FDA-bewilligten Substanzen an »möglicherweise Millionen von Patienten«. MAPS-Gründer Rick Doblin ist auf wahrhaft großer Mission: »Die Menschheit befindet sich gerade in einem Wettlauf zwischen Katastrophe und Bewusstsein. Die Psychedelik-

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Siehe Kapitel 4, S. 55. https://www.zi-mannheim.de/forschung/abteilungen-ags-institute/molekulares -neuroimaging/episode-psilocybin-depressionsstudie-startet.html (letzter Abruf 28.1.2023).

Kapitel 9: Neo-Psychedelik und die Hoffnung auf heilsame Trips

Renaissance ist dazu da, dem Bewusstsein zum Sieg zu verhelfen« ist seine Heilsbotschaft in einem TED-talk vor begeistertem Publikum.65 Es könnte aber auch ganz anders kommen. Das Tempo, das die Neo-Psychedelik gerade anschlägt, erscheint nämlich ungesund hoch. Für den Sommer 2023 ist bereits die »größte psychedelische Zusammenkunft der Geschichte« angekündigt.66 Die Konferenz Psychedelic Science 2023 in Denver steht unter dem Motto »Sei Teil des Durchbruchs« und soll mehr als zehntausend Teilnehmer um vierhundert Redner versammeln. Bleibt nur zu hoffen, dass rückblickend nicht »Sei Teil des neuen Scheiterns« der passendere Konferenztitel gewesen wäre. Irgendwie kann das einfach nicht gut gehen und es steht zu befürchten, dass sich die Geschichte wiederholen könnte. Die wissenschaftliche Basis für eine verantwortungsvolle Psychedelika-unterstützte Psychotherapie muss erst noch weiter ausgearbeitet werden, seriöse Studien dauern lange und die Zulassungsverfahren sowieso. Die ersten Ergebnisse aus der wissenschaftlichen Neuzeit sind vielversprechend, aber nicht sensationell und schon gar nicht haben Psychedelika das Zeug zum therapeutischen Allheilmittel (sonst wüssten wir das längst). Genau so werden sie aber gerade dargestellt: Als ganzheitliche psycho-spirituelle Antwort auf alle globalen Krisen unserer Zeit und die damit verbundene Zunahme von Depression, Angst und Sucht. Hallo Herr Leary, möchte man rufen. Wollten wir das denn nicht diesmal sein lassen? Spätestens seit 2022 Michael Pollans Bestsellerbuch How to Change Your Mind auch noch als Netflix Serie ausgestrahlt wurde, können sich Untergrund-Therapeuten vor Anfragen kaum mehr retten. Autor Pollan selbst bat schon darum, ihn deswegen nicht mehr anzuschreiben, er würde hier keine Vermittlungsarbeit leisten. Auch professionelle Therapeuten beklagen sich zunehmend über das, was sie den »Pollan-Effekt« nennen: Viele Leute hätten jetzt die völlig falsche Meinung, Psychedelika könnten ein Problem schnell und in einem einfachen linearen Prozess auflösen.67 Man hat was, macht mal eben eine psychedelische Therapie und gut ist. So funktioniert das natürlich nicht.

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Rick Doblin in seinem TED talk vom 9.8.2019, https://www.youtube.com/watch?v=Q9 XD8yRPxc8 (letzter Abruf 28.1.2023). https://psychedelicscience.org (letzter Abruf 28.1.2023). Andrew Penn in »A journey through the psychedelic revival: what happens in psychedelic therapy?«, https://www.youtube.com/watch?v=TfraYldVv8c (letzter Abruf 28.1.2023). Um Michael Pollan nicht Unrecht zu tun: Sein Buch ist durchaus differenziert, aber das heißt nicht, dass das beim Publikum auch so ankommt. Vor allem nicht nach einer massentauglichen Netflix-Umsetzung.

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Je unkontrollierter die neue Psychedelik-Welle anrollt, umso größer werden auch die Risiken. Schon bei einer frühen MAPS-gesponserten MDMA-Studie gab es einen Vorfall von missbräuchlichem Verhalten durch Therapeuten, der aber erst viel später publik wurde.68 Wenn immer mehr Menschen mit immer breiter gefasster Indikationsstellung behandelt werden, dürfte es zunehmend auch zu negativen Therapieverläufen kommen, bei denen Patienten zusätzlich destabilisiert oder gar (re-)traumatisiert werden – auch das kennt man bereits aus den 1960er Jahren. Am bedenklichsten aber ist, dass immer mehr selbsternannte Schamanen und dubiose »Reisebegleiter« vom Psychedelik-Boom profitieren wollen und in der Grauzone der Legalität ihre privaten Therapiedienste anbieten. Auch die große Zielgruppe der verbesserungswilligen Gesunden wurde längst zum Geschäftsmodell. Verschiedene hoch professionell auftretende Retreat-Zentren bieten gegen Bezahlung rundum betreute Drogen-Erfahrungen an. Und berufen sich zu Marketingzwecken gerne auf die laufenden klinischen Studien, stellen die vorläufigen Ergebnisse übertrieben positiv dar und vergessen dabei zu erwähnen, dass der Ausgang der Studien – und erst recht eine FDA-Zulassung – noch völlig ungewiss sind.69 Der niederländische Reiseanbieter Synthesis versteht sich als Pionier der »Transformations-Wellness« und als »Speerspitze einer neuen Ära der Integration von Psychedelika in die moderne Kultur«.70 Ein fünftägiger all inclusive »Erweiterungs«-Retreat bei Synthesis kostet 6497 Dollar.71 Es gibt auch schon eine Art Airbnb für internationale Psychedelik-Retreats.72 Im Suchfeld kann man eingeben, welche halluzinogene Droge man gerne haben möchte. Die Auswahl reicht von Ayahuasca über 5-MeO-DMT73 bis zum Meskalin-Kaktus San Pedro. Auch aus Kreisen der Psychedelik-Forscher wird davor gewarnt, dass der kommerzielle Psychedelik-Boom die seriöse Wissenschaft gefährden könnte. Mediziner des King’s College London geben zu bedenken, dass die Retreat-Zentren durch ihr Verhalten die Glaubwürdigkeit des ganzen Feldes untergraben 68

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MAPS hat die Zusammenarbeit mit den angeschuldigten Studientherapeuten in der Zwischenzeit beendet, das Gerichtsverfahren ist noch nicht entschieden. [https://ma ps.org/2019/05/24/statement-public-announcement-of-ethical-violation-by-formermaps-sponsored-investigators (letzter Abruf 28.1.2023)]. Rucker JJ, Young AH (2021) Frontiers in Psychiatry. https://www.synthesisretreat.com/about-us (letzter Abruf 28.1.2023). https://www.synthesisretreat.com/expansion (letzter Abruf 28.1.2023). Der Gesundheitscheck der Workshop-Bewerber erfolgt per online-Fragebogen. https://directory.thethirdwave.co/retreats (letzter Abruf 28.1.2023). Gewonnen aus dem Drüsensekret der Kröte Bufo alvarius.

Kapitel 9: Neo-Psychedelik und die Hoffnung auf heilsame Trips

könnten: »Wir haben einen harten Kampf vor uns, Regierungen und die Öffentlichkeit davon zu überzeugen, dass Psilocybin einen Platz in unserem Gesundheitswesen haben kann. Der Versuch, etablierte Zulassungsprozesse zu umgehen, in dem Psilocybin außerhalb eines regulierten Rahmens angeboten wird, kann zu einer Form des Rechtseinspruchs führen, wie wir es bereits hatten.«74 Tatsächlich scheint es nur eine Frage der Zeit, bis wieder schwere Zwischenfälle auftreten. Krankenhaus-Notaufnahmen wegen ausgelöster Psychosen, Unfälle, Suizide und sogar Todesfälle in einer Therapiesitzung75 sind durchaus möglich. Was dann passiert, ist auch schon absehbar. Soziale Medien und Boulevardpresse werden die Vorfälle skandalisieren, populistische Stimmungsmache und öffentliche Proteste gegen »tödliche Psychodrogen« setzen die Politik unter Druck, Arzneimittelbehörden ziehen eilig ihre Studienbewilligungen zurück und die psychedelic medicine Start-ups müssen dabei zusehen, wie ihre Aktienkurse ins Bodenlose abstürzen. Ganz schnell könnte die Stimmung kippen und eine neue »moralische Panik«76 die gefährlich überdehnte neue Psychedelik-Blase zum Platzen bringen. Genauso, wie es die britischen Mediziner befürchten. Auf Neo-Psychedelik folgte dann NeoProhibition.

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Rucker JJ, Young AH (2021) Frontiers in Psychiatry. Wie beispielsweise 2009, als in Berlin-Hermsdorf zwei Menschen bei einer Untergrund-Therapiesitzung mit überdosiertem Ecstasy in Kombination mit anderen Substanzen starben [Langer A (2009) Der Spiegel vom 21.9.]. Langlitz N (2022) BioSocieties.

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Kapitel 10: Psychopharmaka – je weniger, desto besser Ich habe gelernt, dass jeder Patient dem Risiko von Psychopharmaka-Entzugssymptomen ausgesetzt ist und dass die Schwere der Schädigung durch nicht erkannte unerwünschte Arzneimittelwirkungen und Entzugssymptome erheblich sein kann. Patienten sind darauf angewiesen, dass die verschreibenden Ärzte ihre Annahmen und Praktiken revidieren – zum Wohle unseres Nervensystems.1

Adele Framer, pensionierte Software Designerin aus San Francisco, ist die Gründerin der Webseite SurvivingAntidepressants.org.2 Die energische ältere Dame dürfte weltweit zu den Top-Expertinnen für Psychopharmaka-Entzug zählen. Unter dem Pseudonym »Altostrata« hat Framer nach eigenen Angaben schon über zehntausend Personen zum Absetzen von Antidepressiva und anderen Psychopharmaka beraten.3 Die eigene jahrelange Leidensgeschichte mit dem Absetzen des SSRI-Antidepressivums Paroxetin veranlasste Framer, eine Internet-Selbsthilfegruppe zu starten, in der Betroffene Tipps zur Dosisreduktion geben, beschreiben, mit was für Entzugssymptomen zu rechnen ist und erklären, wie man damit umgeht. Man könnte bei dieser Webseite schon fast von Notwehr reden. Wie Framer in einem Erfahrungsbericht in der Zeitschrift Therapeutic Advances in Psychopharmacology schreibt, gab es in den 1 2 3

Framer A (2021) Therapeutic Advances in Psychopharmacology. https://www.survivingantidepressants.org (letzter Abruf 28.1.2023). Framer A (2021) Therapeutic Advances in Psychopharmacology.

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2000er Jahren noch so gut wie keine verlässlichen medizinischen Informationen zum Absetzen von Psychopharmaka und erst recht keine praktische Hilfe von offizieller Seite. Sie hätte damals wohl Dutzende von Psychiatern kontaktiert und alle – mit einer einzigen Ausnahme – hätten ihr erklärt, sie habe einen Rückfall.4 Einen Rückfall in welche Krankheit, muss man sich hier allerdings fragen, denn Antidepressiva hat Frau Framer wegen »Stress bei der Arbeit« bzw. ein paar Jahre früher wegen prämenstrueller Beschwerden verschrieben bekommen. Dass Psychiater Entzugssymptome nicht erkennen, sei in der Praxis leider der Regelfall, weiß die autodidaktische EntzugsExpertin zu berichten: »Das Versäumnis der Verschreibenden, Entzugssymptome zu erkennen, zu beobachten und rechtzeitig zu behandeln, ist der Grund für fast jede Webseiten-Mitgliedschaft. Bei ihren Bemühungen, von den Medikamenten loszukommen, wurde fast allen gesagt, dass sie einen Rückfall hätten – sogar den vielen, die brain zaps5 erlitten haben – ein Hauptmerkmal des Entzugssyndroms. Und besonders denjenigen, die seit Jahren an mysteriösen Symptomen litten, die mit dem protrahierten Psychopharmaka-Entzugssyndrom (PWS) in Einklang stehen.«6 Trotz anderslautenden Behauptungen lassen sich Rückfall und Entzugssymptome sehr wohl voneinander unterscheiden.7 Zum einen gibt es eine klare zeitliche Korrelation zwischen dem Auftreten neuartiger Symptome und dem Auslassversuch bzw. der Dosisreduktion. Während sich ein depressiver Rückfall typischerweise über einen längeren Zeitraum und mit bereits bekannten Symptomen anbahnt, treten Absetzreaktionen unregelmäßig in Wellen und Zeitfenstern auf. Zudem berichten Patienten davon, Symptome zu haben, die sie vorher noch nie oder nicht in dieser Intensität gehabt hätten. Ebenfalls häufig kommt es in diesem Zusammenhang zu Rebound-Phänomenen: Die Symptome der Grunderkrankung kehren in stärkerer Form zurück als vor Beginn der Medikation. Man kann dies mit einem unter Wasser gedrückten Ball vergleichen. Wird er plötzlich losgelassen, taucht er nicht nur an die Oberfläche, sondern springt weit in die Höhe.8 4 5

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Ebd. Besonders beim Absetzen der Antidepressiva Paroxetin und Venlafaxin wird vom plötzlich auftretenden Gefühl von Stromschlägen oder »elektrischen Blitzen« im Gehirn berichtet. Der zugrundeliegende Mechanismus ist nicht bekannt [Papp A, Onton JA (2018) The Primary Care Companion for CNS Disorders]. Framer A (2021) Therapeutic Advances in Psychopharmacology. Chouinard G, Chouinard VA (2015) Psychotherapy and Psychosomatics. Henssler J, Heinz A et al. (2019) Deutsches Ärzteblatt, S. 358.

Kapitel 10: Psychopharmaka – je weniger, desto besser

Auch Psychiater brauchen Hilfe beim eigenen Entzug Der anhaltende Zuspruch von Internetforen wie SurvivingAntidepressants.org mit mehr als einer halben Million Seitenaufrufen pro Monat und Tausenden von registrierten Nutzern zeigt, dass es hier einen großen Informationsbedarf gibt. An potenziellen Interessenten herrscht wirklich kein Mangel. Nach Einschätzung von Forschern aus London haben – je nach Untersuchung – zwischen siebenundzwanzig und sechsundachtzig Prozent der über längere Zeit mit SSRIs Behandelten Schwierigkeiten beim Absetzen.9 Und nicht wenige von ihnen fühlen sich erst zur Einnahme von Psychopharmaka gedrängt und später alleingelassen, wenn es darum geht, diese wieder abzusetzen. Selbst Psychiater und Psychotherapeutinnen gehen auf Adele Framers Webseite um Hilfe bei den eigenen Absetzproblemen zu finden.10 Gehirnchemie ist eine komplexe und diffizile Angelegenheit. Unzählige Botenstoffe, Ionen und Neuromodulatoren interagieren unablässig mit Hunderten von Rezeptoren und ihren Subtypen. Dazu kommen ebenso viele Hormone und Tausende von Regulationsgenen. Nicht zu vergessen all die spezifischen Transportproteine, Speicherorgane und Enzyme für den neuromolekularen Auf-, Um- und Abbau. Feedbackmechanismen erhöhen oder drosseln die Botenstoff-Produktion, Rezeptoren können blitzschnell ihre Struktur und Kopplungsfähigkeit in der Zellmembran anpassen und so mehr oder weniger Signalübertragung bewirken. Das alles zusammen orchestriert das Zusammenspiel unserer geschätzt 100 Milliarden Neuronen, die über eine auch nur geschätzte Billiarde Synapsen miteinander verbunden sind. Und dann gäbe es auch noch Oligodendrozyten, Mikroglia und Astrozyten. Eine ganze Familie von Nicht-Neuronenzellen, die man lange wenig beachtete, nun aber immer mehr Hinweise findet, dass diese »Gliazellen« auch mit kognitiven Funktionen, vor allem Gedächtnisprozessen, zu tun haben.11 Dass Psychopharmaka in die Gehirnchemie eingreifen ist unbestritten und durch eine Vielzahl von Untersuchungen belegt. Schon vor vierzig Jahren haben Pharmakologen nachgewiesen, dass die chronische Verabreichung

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Davies J, Read J (2019) Addictive Behaviors. Framer A (2021) Therapeutic Advances in Psychopharmacology. »Die Untersuchung nicht-neuronaler Zellen hat gezeigt, dass praktisch alle Funktionen, die Neuronen zugeschrieben werden, größtenteils das Ergebnis direkter oder indirekter Wirkungen von Glia sind, die ständig mit Neuronen und neuronalen Netzen interagieren.« [Robertson JM (2018) International Journal of Molecular Sciences].

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von SSRIs die Dichte von Serotonin-Rezeptoren um bis zu fünfzig Prozent reduziert.12 Welche praktischen Konsequenzen diese adaptiven Rezeptorveränderungen für die Patienten haben, ist bis heute nicht geklärt. Sicher ist nur: Anstatt ein hypothetisches chemisches Ungleichgewicht auszugleichen, verursachen Antidepressiva dieses erst. Vor der Behandlung ist unklar, ob das Serotoninsystem gestört ist. Während der SSRI-Behandlung hingegen ist es mit Sicherheit verändert. Auch Steven Hyman, früherer NIMH-Direktor, ehemaliger Präsident der Society for Neuroscience und heutiger Direktor des Stanley Center for Psychiatric Research hat schon 1996 darauf hingewiesen, dass die chronische Verabreichung von Psychopharmaka »beträchtliche und lang andauernde Veränderungen in der Nerventätigkeit« verursache. Schon nach ein paar Wochen arbeite das Gehirn »qualitativ und quantitativ abweichend vom Normalzustand«.13

Antidepressiva können Depressionen verstärken Wenn wir über Wochen oder Monate Psychopharmaka nehmen, lernt unser Gehirn, dass eine Substanz regelmäßig in das System gelangt und bildet über molekulare Adaptations-Mechanismen Toleranz aus. In der Erwartung, dass das immer so weitergeht, entwickelt unser biochemischer Apparat ein neues Gleichgewicht, eine neue physiologische Homöostase. Bleibt die erwartete Zufuhr plötzlich aus, zum Beispiel bei einem Absetzversuch, treten Entzugsreaktionen auf. Absetzsymptome sind nichts anderes als die Auswirkungen einer (in der Regel vorübergehenden) substanzinduzierten Dysfunktion unseres Nervensystems. Gerade bei chronischen Patienten ist die psychopharmakologische Beeinflussung der Neurochemie aber noch viel komplexer und chaotischer. Im psychiatrischen Alltag werden oft über Jahre verschiedene Medikamente hin und her gewechselt, zusätzliche Wirkstoffe ausprobiert und wieder verworfen, Dosierungen erhöht und beim Auftreten von Nebenwirkungen wieder angepasst, die Einnahme manchmal vergessen, ein andermal die Tabletten gleich doppelt genommen. Völlig unmöglich, hier noch durchzublicken, mit was für funktionellen Anpassungen das Nervensystem darauf antwortet. Zunehmend kommt der Verdacht auf, dass das unübersichtliche und 12 13

Z.B. Wamsley J (1987) Journal of Clinical Psychiatry. Hyman SE (1996) American Journal of Psychiatry [zitiert in Whitaker R (2010) »Anatomy of an Epidemic«, S. 83].

Kapitel 10: Psychopharmaka – je weniger, desto besser

oftmals planlose pharmakotherapeutische Hin- und Her zu einer langfristigen Destabilisierung der Gehirnphysiologie führen könnte. »Behandlungs-Resistenz«, »Pseudo-Resistenz«, »erworbene Resistenz« oder »tardive Dysphorie« könnten die Auswirkungen einer durch ärztliche Maßnahmen verursachten langfristigen Störung der neuronalen Signalübertragung sein.14 Antidepressiva, die in vielen Fällen kurzfristig wirksam sind, könnten durch negative Adaptationsprozesse langfristig depressionsverstärkend sein. »Der Langzeitgebrauch von Antidepressiva kann depressogen sein. […] Es ist möglich, dass Antidepressiva die Verdrahtung neuronaler Synapsen verändert, was nicht nur dazu führt, dass Antidepressiva wirkungslos werden, sondern auch ein schwer zu beeinflussender depressiver Zustand hervorgerufen wird«, haben amerikanische Psychiater schon 1999 gewarnt.15 Auch dies ist ein guter Grund, Antidepressiva nur sparsam und vor allem zeitlich begrenzt einzusetzen. Dass überhaupt so viele Menschen dauerhaft Antidepressiva nehmen, liegt vor allem daran, dass sie im Ruf stehen, Rückfälle zu verhindern. Auf den ersten Blick ist die wissenschaftliche Evidenz überzeugend und die klinischen Studien scheinen gar keinen anderen Schluss zuzulassen. Wird die Behandlung mit Antidepressiva weitergeführt, haben etwa zwanzig Prozent der depressiven Patienten innerhalb eines Jahres einen Rückfall, aber vierzig Prozent der Probanden, die von der »aktiven Behandlung« auf Placebo umgestellt werden.16 Doch diese Studienergebnisse sind einfach »zu gut, um wahr zu sein«.17 Wie der Schweizer Psychologe Michael Hengartner vor kurzem überzeugend dargelegte, haben diese Studiendaten kaum etwas mit der Realität zu tun. Die Ergebnisse sind höchst wahrscheinlich Artefakte, die sich aus der Art und Weise ergeben, wie diese Studien durchgeführt wurden. Die Empfehlungen zur Langzeitbehandlung mit Antidepressiva zwecks Rezidivprophylaxe basieren nämlich fast ausnahmslos auf den Ergebnissen von »discontinuation trials«: Studienteilnehmer werden nach dem Abklingen ihrer Depression entweder mit dem Prüfmedikament weiterbehandelt oder 14

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El-Mallakh RS, Gao Y et al. (2011) Medical Hypotheses; Fava GA (2020) Therapeutic Advances in Psychopharmacology; Roy-Byrne P (2015) Dialogues in Clinical Neuroscience; Voineskos D, Daskalakis ZJ et al. (2020) Neuropsychiatric Disease and Treatment [zitiert in Framer A (2021) Therapeutic Advances in Psychopharmacology]. El-Mallakh RS, Waltrip C et al. (1999) Journal of Clinical Psychiatry [zitiert in Whitaker R (2010) »Anatomy of an Epidemic«, S. 160]. Borges S, Chen YF et al. (2014) Journal of Clinical Psychiatry; Geddes JR, Carney SM et al. (2003) Lancet. Hengartner MP (2020) Therapeutic Advances in Psychopharmacology.

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zu einem bestimmten Zeitpunkt abrupt auf Placebo umgestellt – mit dem erwartbaren Ergebnis von Absetzreaktionen. Bei einem überwiegenden Teil der als »Depressions-Rezidive« erfassten Verläufe dürfte es sich faktisch um Absetzsyndrome handeln, die bekanntermaßen der Grunderkrankung ähnlich sein können. Werden auftretende Symptome wie in diesen Studien üblich durch Depressionsfragebögen erfasst, werden Entzugssymptome quasi automatisch als Symptome einer wiederkehrenden Depression gedeutet, denn psychometrische Depressions-Skalen können gar nicht zwischen Entzug und Rückfall unterscheiden.18 Gestützt wird die Sichtweise eines gravierenden methodologischen Fehlers auch durch klinische Studien, die in der Prüfung keine Absetzverfahren verwendet haben. Hier konnte eine nennenswerte Überlegenheit der Langzeitmedikation zur Rezidivprophylaxe nicht nachgewiesen werden.19 Auch aus öffentlichen Geldern (und nicht von der Pharmaindustrie) finanzierte naturalistische Studien wie das NIMH-gesponserte STAR*D20 haben schon vor Jahren gezeigt, dass der Langzeitnutzen einer kontinuierlichen Medikation mit Antidepressiva enttäuschend gering ist.21 Tatsächlich ist wohl eher das Gegenteil der Fall: Die Langzeitbehandlung mit Antidepressiva führt zu einem tendenziell schlechteren Verlauf einer Depression, als wenn die Medikation nur kurzzeitig oder gar nicht erfolgt.22 In seiner Methodenkritik von 2020 fasst Psychologe Hengartner die Schieflage in der AntidepressivaVerschreibungspraxis so zusammen: »Es gibt derzeit keine zuverlässigen Belege dafür, dass eine Langzeitbehandlung mit Antidepressiva vorteilhaft ist, und es bestehen berechtige Bedenken, dass sie bei einem Großteil der Anwender weitgehend unwirksam oder sogar schädlich sein könnte.«23

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Fava GA, Gatti A et al. (2015) Psychotherapy and Psychosomatics; Haddad PM, Anderson IM (2007) Advances in Psychiatric Treatment. Am häufigsten verwendet wird in Depressions-Studien die »Hamilton rating scale for depression« (HRSD). Pigott HE, Leventhal AM et al. (2010) Psychotherapy and Psychosomatics. »Sequenced Treatment Alternatives to Relive Depression«. Die größte jemals durchgeführte Studie zur Wirksamkeit von Antidepressiva bei Depressionen mit mehr als 3600 Studienteilnehmern. Ghaemi SN (2008) Bipolar Disorders; Pigott HE, Leventhal AM et al. (2010) Psychotherapy and Psychosomatics. Z.B. El-Mallakh RS, Gao Y et al. (2011) Medical Hypotheses; Whitaker R (2010) »Anatomy of an epidemic«. Hengartner MP (2020) Therapeutic Advances in Psychopharmacology.

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Bei SSRIs und SNRIs24 treten neuroadaptive Gewöhnungsphänomene in der Regel ab vier Wochen auf, nach etwa acht Wochen Einnahmedauer besteht auch ein deutliches Risiko für Absetzsymptome. Dabei scheinen die Absetzreaktionen ganz unabhängig von der Grunderkrankung aufzutreten, deretwegen das Antidepressivum ursprünglich verschrieben wurde.25 Wenngleich die meisten Entzugssyndrome mild verlaufen und zeitlich begrenzt sind, wird auch von lang andauernden Absetzproblemen berichtet, die sich im Extremfall über Jahre hinziehen können. Dafür haben sich die Fachbegriffe »Post-akutes Entzugssyndrom« beziehungsweise »Protrahiertes Entzugssyndrom« eingebürgert.26 Auch beim Absetzten der angstlösenden Benzodiazepine kommen diese langwierigen oder gar nicht mehr vollumfänglich aufzulösenden Entzugsverläufe vor.27

Selbsthilfegruppen haben Recht, die Leitlinien sind falsch »Was ich daraus gelernt habe, Tausenden von Menschen zu helfen, Antidepressiva und andere Psychopharmaka abzusetzen« heißt der lehrreiche Aufsatz der autodidaktischen Psychopharmaka-Spezialistin Adele Framer. Weil das Thema so wichtig ist und potenziell Millionen von Menschen betrifft, will ich Framers wichtigste praktischen Erkenntnisse hier gerne vorstellen.28 Zuerst einmal funktioniere die klassische Absetz-Regel »Die Hälfte, nochmal die Hälfte und dann Schluss« meist nicht. Oft würden durch dieses Vorgehen schwere Absetzsymptome provoziert. Viel besser sei das von ihrem Forum schon vor Jahren vorgeschlagene System einer zehn prozentigen Dosisreduktion pro Monat, ausgehend von der aktuellen Dosierung. Das Ausschleichen dauere entsprechend länger, sei aber deutlich besser verträglich. Diese »hyperbolische Methode« und ähnliche Minimal-Reduktionsprotokolle wurden auch durch aktuelle Forschungsergebnisse, unter anderem mit Positronenemis-

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Selektive Noradrenalin Wiederaufnahme Hemmer. Henssler J, Heinz A et al. (2019) Deutsches Ärzteblatt. S. 358. Hengartner MP, Schulthess L et al. (2020) Therapeutic Advances in Psychopharmacology; Moncrieff J (2019) Epidemiology and Psychiatric Sciences; Cosci F, Chouinard G (2020) Psychotherapy and Psychosomatics. Ashton CH (1995) Psychiatric Annals; Janhsen K, Roser P et al. (2015) Deutsches Ärzteblatt International; Fixsen AM, Ridge D (2017) Qualitative Health Research. Framer A (2021) Therapeutic Advances in Psychopharmacology.

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sions-Tomographie, bestätigt.29 »Die Selbsthilfegruppen hatten Recht, die Leitlinien waren falsch«, kommentiert dies der Psychiater und Psychopharmaka-Entzugsexperte Mark Horowitz.30 Absetz-Expertin Framer appelliert hier auch an die Geduld: »Überspringen sie beim Absetzen niemals einen Dosierungsschritt!« Was sich einfach anhört, ist in der praktischen Umsetzung aber mit Schwierigkeiten verbunden. Die pharmazeutischen Spezialitäten sind nicht darauf ausgelegt, graduell reduziert zu werden, weshalb die benötigten Dosierungen meist gar nicht verfügbar sind. Gibt es das Medikament nicht in flüssiger Form, ist man gezwungen zu improvisieren: Tabletten halbieren und vierteln, Kapseln aufmachen und die Kügelchen auszählen oder Tabletten zerkleinern und die Fragmente mit einer digitalen MilligrammWaage abwägen. Da kann natürlich einiges schief gehen. Um das langsame Absetzen zu vereinfachen, wurden daher in den Niederlanden spezielle Blisterpackungen entwickelt. Gegen Vorlage eines ärztlichen Rezepts kann man auf einer Webseite Streifenverpackungen bestellen, die das auszuschleichende Medikament individuell auf den Patienten abgestimmt in immer kleineren Dosierungen enthält.31 Offenbar ein erfolgversprechender Ansatz. Gemäß einer 2021 veröffentlichten Studie gelang es mit diesen tapering strips fast drei Viertel der Patienten, ihre Antidepressiva erfolgreich abzusetzen.32 Schade, dass diese Möglichkeit außerhalb der Internetforen noch kaum bekannt ist. Immerhin, in den letzten Jahren findet die Internet-Subkultur der Psychopharmaka-Selbsthilfegruppen zunehmend Unterstützung auch von offizieller Seite.33 Bereits 2017 hat eine Gruppe von Psychiatern und Psychologen

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Horowitz MA, Jauhar S et al. (2021) Schizophrenia Bulletin; Ruhe HG, Horikx A et al. (2019) Lancet Psychiatry. https://www.madinamerica.com/2019/03/peer-support-groups-right-official-guideli nes-wrong-dr-mark-horowitz-tapering-off-antidepressants (letzter Abruf 28.1.2023). Auch Psychiater Horowitz’ heute hauptberufliches Interesse am »de-prescribing« basiert auf persönlichen Erfahrungen beim Absetzen von Antidepressiva, die er schon als Medizinstudent zu nehmen begann. »Ich […] bekam eine schlagartige Aufklärung über Antidepressiva-Entzugssymptome. Ich erlebte Schlaflosigkeit, Panikattacken, Schwindel, Angstzustände und Stimmungstiefs. Das war nichts im Vergleich zu der Art von Woody-Allen-Neurose, die mich ursprünglich dazu gebracht hatte, mit den Medikamenten anzufangen – so etwas hatte ich vorher noch nie erlebt.« (https://mar khorowitz.org). https://www.taperingstrip.com (letzter Abruf 28.1.2023). Groot PC, Van Os J (2021) Therapeutic Advances in Psychopharmacology. Z.B. Gupta S, Cahill JD (2016) Psychiatric Services.

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das International Institute for Psychiatric Drug Withdrawal gegründet. Hier werden Forschungsprojekte angestoßen, Konferenzen organisiert und Kliniker in praktischen Absetzstrategien weitergebildet.34 Und auch die DGPPN ist zwischenzeitlich in die Gänge gekommen. Während die aktuelle Version der deutschen »Versorgungs-Leitlinie Unipolare Depression« von 2015 dem Absetzen von Antidepressiva noch nicht einmal zehn Zeilen widmet und gerade einmal knapp erwähnt, es gebe »Hinweise auf mögliche Absetzsymptome insbesondere bei Paroxetin«,35 wird das Thema in der aktualisierten Form, die in Kürze in Kraft treten soll, umfangreich in einem ganzen Kapitel behandelt.36 Endlich wird auch empfohlen, Patienten schon vor Beginn der Antidepressiva-Medikation »über die Möglichkeit von Absetzsymptomen und Rebound-Depressionen nach Beendigung einer solchen Medikation« aufzuklären. Es ist zu hoffen, dass dann auch die Stiftung Deutsche Depressionshilfe die neue Leitlinie liest und vielleicht ihre Aussage »Antidepressiva machen nicht süchtig, sondern wirken gezielt gegen die in der Depression gestörten Funktionsabläufe im Gehirn«37 auf ihrer Webseite aktualisiert. In diesem Kontext geradezu revolutionär ist die im April 2022 publizierte Wegleitung »Arzneimittel, die mit Abhängigkeit oder Entzugssymptomen einhergehen: sichere Verschreibung und Entzugsmanagement für Erwachsene« des angesehenen britischen National Institute for Health and Care Excellence (NICE).38 Antidepressiva werden hier selbstverständlich auch verhandelt, nicht aber Antipsychotika, was in der Fachwelt einen hef-

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https://iipdw.org (letzter Abruf 28.1.2023). Schneider F, Härter M et al. (2017) »S3-Leitlinie/Nationale Versorgungsleitlinie Unipolare Depression«, S. 100. Nationale Versorgungsleitlinie Unipolare Depression (2022) Version 3.0, Konsultationsfassung. https://www.leitlinien.de/themen/depression (letzter Abruf 28.1.2023). https://www.deutsche-depressionshilfe.de/forschungszentrum/deutschland-barom eter-depression (letzter Abruf 28.1.2023). Wer es ganz genau nimmt: Antidepressiva machen gemäß enger Sprachauslegung tatsächlich nicht süchtig, sondern »nur« abhängig. »Sucht« umschreibt das Denken und Verhalten, das sich im Laufe der Zeit immer mehr um Beschaffung und Konsum dreht, während »Abhängigkeit« die körperlichen und insbesondere neurophysiologischen Anpassungen im Zusammenhang mit langandauernder Substanzzufuhr meint. Toleranzbildung und Entzugssymptome sind hier die wichtigsten Stichworte. Unserem Nervensystem ist es natürlich komplett egal, ob wir die auslösende Substanz Droge oder Medikament nennen. NICE guideline NG215: »Medicines associated with dependence or withdrawal symptoms: safe prescribing and withdrawal management for adults«, https://www.nice.org.uk/guidance/ng215 (letzter Abruf 28.1.2023).

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tigen und noch andauernden Expertenstreit ausgelöst hat.39 In Deutschland wiederum ist man hier weiter. Die aktuelle »S3-Leitlinie Schizophrenie« aus dem Jahr 2019 geht bereits ausführlich auf die Themen »kontrollierte Dosisreduktion« und Absetzsymptome bei Antipsychotika ein.40

Absetz-Syndrom klingt besser als Entzugserscheinungen Dass es so lange gedauert hat, bis sich auch die etablierte Psychiatrie ernsthaft mit dem de-prescribing von Psychopharmaka beschäftigt und Absetzwilligen praktische Hilfe anbietet, liegt in der Natur der Sache. Die meisten Psychiater wollen, dass ihre Patienten die verordneten Medikamente, »die sie brauchen«, vorschriftsgemäß einnehmen – und nicht absetzen. Und noch viel weniger will sich die Pharmaindustrie an diesem Thema die Finger verbrennen. Unerwünschte Arzneimittelwirkungen und noch mehr die Gefahr einer Medikamentenabhängigkeit sind die Erzfeinde des Pharmamarketings. Nichts ist schlechter fürs Geschäft, als wenn schwere Nebenwirkungen auftreten oder es sich zeigt, dass ein »gut verträgliches« Medikament beim Absetzen eben doch Entzugserscheinungen macht. Wenn wir grad dabei sind: Weil das Wort »Entzugserscheinungen« so belastet ist und sofort an illegale Drogen denken lässt, haben Pharmahersteller für Probleme dieser Art schon früh den Begriff »Absetz-Syndrom« kreiert. Ein eleganter Schachzug. Nicht nur ist man damit das Drogenimage los, es kommt auch noch zu einer Schuldverschiebung weg vom Entzugserscheinungen verursachenden Medikament hin zum Patienten, der aufhört, es zu nehmen. Ganz ähnlich verhält es sich auch mit der »Therapieresistenz«. Auch in dieser Begrifflichkeit schwingt mit, dass der Patient eigentlich selbst daran schuld ist, wenn ihm die Medikamente nicht helfen – sei es durch eine ungewöhnliche Biochemie, eine besondere Rezeptorausstattung, eine zu spät begonnene Therapie oder ein besonders schwerer Krankheitsverlauf. Das mangels Interesse der Industrie zu beklagende Fehlen evidenzbasierter Daten zum Absetzen von Psychopharmaka macht auch den Autoren der deutschen »Leitlinie Schizophrenie« Sorgen: »Zum konkreten Vorgehen kontrollierter Dosisreduktionen über einen längeren Zeitraum fehlen randomi-

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Z.B. Cooper RE, Grünwald LM et al. (2020) Psychosis. DGPPN (2019) »S3-Leitlinie Schizophrenie«, S. 60ff.

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sierte kontrollierte Studien und auch hier besteht Forschungsbedarf.«41 Dies hat zur Folge, dass gerade bei den Antipsychotika die meisten Psychiater immer noch nicht so recht wissen, was genau zu tun ist. Als Absetzwilliger dürfte man daher weiterhin auf die praktischen Tipps aus den Selbsthilfe-Foren angewiesen sein. Fest steht nur, dass die Sache kompliziert ist: »Jeder Reduktionsprozess muss […] individuell unterschiedlich gestaltet werden. Hierbei müssen vielfältige biologische, psychische und soziale Aspekte berücksichtigt werden.«42 Ebenso klar ist aber auch, dass der Wunsch, Psychopharmaka abzusetzen (oder gar nicht erst damit anzufangen) ein legitimes Anliegen ist und nicht bloß mangelnde Einsicht des Patienten. Gerade auch für das Absetzen von Antipsychotika gibt es sehr gute und nachvollziehbare Gründe. Psychiater Stefan Weinmann hat die »Wirksamkeit« von Antipsychotika in seinem Buch so beschrieben: »Antipsychotika wirken, indem sie Einfallsreichtum, Kreativität, Fantasie und Vorstellungskraft verringern und dämpfen sowie die Arbeit des (in der Psychose zu stark mit Bedeutung aufgeladenen) Denkens derart hemmen, dass auch Wahnvorstellungen nachlassen, indem immer weniger Vorstellungen und Hypothesen über die Welt und über Beziehungen entstehen. […] Antipsychotika vermindern die Intensität von Gefühlen und helfen, aus dem Aufgewühltsein durch (falsche, angstmachende) Schlussfolgerungen herauszukommen.«43 Etwas zugespitzt könnte man sagen, dass Antipsychotika global das ganze System herunterfahren und über eine unspezifisch sedierende und emotional anästhesierende Wirkung – neben vielem anderen – auch Wahnvorstellungen dämpfen.44 Patienten berichten häufig von einer »emotionalen Betäubung«: »Es hat auch die guten/glücklichen Dinge und die Lebensenergie abgeschaltet… die ganze Welt von Bedeutung entleert und mich komplett stillgelegt.«45 Wie unterschiedlich die Wirkung von Antipsychotika beurteilt wird, zeigt eine Befragung von 650 Betroffenen in England, der auch das vorangegangene Zitat entnommen ist. Von den Umfrageteilnehmern gaben 14 Prozent nur positive Erfahrungen an, 28 Prozent hatten gemischte Reaktionen und

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Ebd., S. 63. Ebd. Weinmann S (2019) »Die Vermessung der Psychiatrie«, S. 99. Ursprünglich hiessen die Antipsychotika zutreffenderweise »major tranquilizer«, also »starke Beruhigungsmittel«. Für die vermeintliche Antipsychose-Spezifität sorgte die Pharmazeutische Industrie erst später durch Umbenennung. Read J, Sacia A (2020) Schizophrenia Bulletin, S. 899.

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58 Prozent berichteten nur von negativen Erfahrungen. Das dominierende Thema bei den gemischten Erfahrungen war »kurzfristig gut, langfristig schlecht«.46 Auch deshalb sollte man Psychiater Weinmanns Rat zu einer risikominimierten Antipsychotika-Therapie berücksichtigen: »Nur eine selektive, niedrig dosierte antipsychotische Behandlung und ein begleitetes Absetzen kann dazu beitragen, den Nutzen der Antipsychotika mitzunehmen, ohne die Risiken zu erhöhen.«47 Und auch die Arzt-Patient-Kommunikation sollte dringend verbessert werden. Gemäß einer internationalen Umfrage wurde die überwiegende Mehrzahl der Patienten bei der Verschreibung weder über die Wirkungsweise von Antipsychotika (76 Prozent) noch über möglich Nebenwirkungen (70 Prozent) aufgeklärt.48 Und weniger als drei Prozent der Befragten erinnerten sich daran, über schwerwiegende Risiken wie Diabetes oder Spätdyskinesien informiert worden zu sein. Von einer wirklich »informierten Zustimmung« kann hier also kaum die Rede sein.

Zurück in die Zukunft: Ein Comeback für die Neurose? Viele Menschen nehmen Psychopharmaka, die sie nicht nehmen sollten und die ihnen nicht guttun. Zur Entmedikalisierung alltäglichen Leidens gibt es einen originellen Vorschlag, der allerdings eine gewisse Bereitschaft zum Psychiatrie-Revisionismus voraussetzt: Gebt der Neurose eine zweite Chance.49 Als 1980 mit dem Erscheinen der dritten Ausgabe des Diagnosemanuals (DSMIII) das Neurose-Modell aufgegeben wurde, brach damit auch ein mächtiger Schutzwall gegen psychiatrische Überbehandlung. Die psychoanalytische Kategorie der Neurose umfasste bis anhin das alltägliche (wenn auch anhaltende) Leiden an sich und der Welt, die inneren Konflikte, das Depressive und Zwanghafte, all die überfordernden Sorgen und Ängste der worrying well. Freuds Neurose war Heimat für den Wiener Grantler genauso wie für den versteckt lebenden Homosexuellen auf dem Dorf oder die Opernsängerin mit Lampenfieber. Für die Therapie neurotischer Störungen war ganz selbstverständlich die Psychoanalyse zuständig, deren Aufgabe es sei, wenigstens »hysterisches Elend

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Ebd., S. 896. Weinmann S (2019) »Die Vermessung der Psychiatrie«, S. 108. Read J (2022) Journal of Mental Health. Siehe z.B. Ghaemi SN (2008) Bipolar Disorders.

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in gemeines Unglück zu verwandeln«, wie Freud bekanntlich schrieb.50 Von den Neurosen abgegrenzt standen die Psychosen, die als deutlich schwerwiegendere Störungen angesehen wurden. Wenn sich die Analytiker auch intensiv an einer talking cure für Psychosen versuchten, waren wegen der Schwere der Erkrankung Heilungen kaum zu erwarten, weshalb die Behandlung der Psychosen in den Zuständigkeitsbereich der Psychiatrie fiel. Die Streichung der Neurose in DSM-III – trotz vehementer Proteste aus den eigenen Reihen – wurde damals als notwendig angesehen, weil psychiatrische Diagnosen künftig unabhängig von Therapieschulen sein sollten und auch unabhängig von den meist spekulativen Theorien zu den Krankheitsursachen. Das sollte der Vereinheitlichung dienen und die Forschung erleichtern. Was von nun an zählte, waren die Symptome und nicht die Ursachen. Eine folgenschwere Entscheidung mit Auswirkungen, die bis heute anhalten. Die vormals neurotischen Patienten wurden nun größtenteils in die neu geschaffenen Kategorien »Generalisierte Angststörung« und »Dysthymie« umgeteilt. Bislang waren Antidepressiva vor allem den schweren Depressionsverläufen vorbehalten, die man als »endogen« verursacht verstand.51 Weil man nun aber generell als »depressiv« diagnostiziert werden konnte, sobald man in den entsprechenden Fragebögen die erforderliche Punktzahl erreichte, erweiterte sich das Feld der potenziell mit Medikamenten behandelbaren Patienten enorm. Ende der 1980er Jahre begann zudem der steile Aufstieg der gerade neu eingeführten SSRIs. Mit aggressivem Marketing hat die Pharmaindustrie Prozac und seine Nachfolger popularisiert. Unter den verschreibenden Ärzten, aber auch als Gesundheitsaufklärungs-Kampagnen getarnt in der Öffentlichkeit und somit direkt 50

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Für Freud bestand psychische Gesundheit aus der Fähigkeit zu lieben und zu arbeiten. Von Glück war nie die Rede. Überhaupt ist die Diagnose für die Psychoanalyse nicht so wichtig: »Wir haben alle strukturell gleiche Konflikte; bei manchen Menschen wirken sie sich allerdings so aus, dass ihr alltägliches Leben durch sie bedeutsam eingeschränkt wird. In diesem Fall ist eine Psychoanalyse indiziert; einer besonderen Diagnose dafür bedarf es nicht«, schreibt der Analytiker Peter Schneider [Schneider P (2020) »Normal, gestört, verrückt«, S. 9]. Seit langem wird argumentiert, dass man in der Depressionsforschung auch darum nicht vorankomme, weil Studien an Patienten mit viel zu heterogenen Krankheitsbildern gemacht werden. Sollten die seltenen, aber besonders schwer verlaufenden Depressionen, bei denen sich oft keine klaren biografischen Auslöser finden, tatsächlich »endogen« (also biologisch) verursacht sein, kann man diese biologischen Faktoren nicht finden, weil die Studiendaten durch die sehr viel häufigeren »neurotisch« bzw. »reaktiv« depressiven Studienteilnehmer verfälscht werden. Auch für eine neue Wertschätzung der alten Depressionsunterteilung gäbe es also gute Argumente.

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bei der potenziellen Kundschaft. Schon bald wurden auch die neu eingeführte »Dysthymie« und die »Generalisierte Angststörung« ganz selbstverständlich mit SSRIs behandelt. Eine Reaktivierung des alten Neurose-Konzepts hätte also den Vorteil, dass man die überwiegende Zahl der landläufig vorkommenden Depression auch ganz offiziell in der Psychiatrie wieder als Reaktion verstehen und vorrangig nichtmedikamentös behandeln könnte.

Hausärzte verschreiben zu häufig Psychopharmaka Wenn die Psychopharmaka-Verschreibungszahlen in den letzten zwanzig Jahren nicht derart außer Kontrolle geraten wären, müsste man sich auch weniger mit Nebenwirkungen, Absetzproblemen und Langzeitfolgen beschäftigen. Eine wichtige Frage zur Klärung der Ursachen für die noch immer weiter zunehmende Übermedikation ist daher, wer diese erstinstanzlich verschreibt. In Deutschland stammen etwa ein Drittel der Psychopharmaka-Verordnungen von Allgemeinmedizinern.52 In den USA werden sogar drei Viertel aller Antidepressiva-Verschreibungen von Medizinern vorgenommen, die keine Fachärzte für Psychiatrie sind, allen voran Allgemeinpraktiker, aber auch Gynäkologen und Kinderärzte.53 Und das ist ein Problem. Denn bei den Hausärzten werden erfahrungsgemäß vor allem Menschen mit leichten und mittelschweren Depressionen vorstellig. Oder auch mit gar keiner. Bei der Mehrzahl der Hilfesuchenden in den normalen Arztpraxen dürfte die gestellte Diagnose »Depression« nämlich falsch sein. Eine Studie des John Hopkins Professors Ramin Mojtabai hat ergeben, dass nur gerade achtunddreißig Prozent der Patienten, die von amerikanischen Hausärzten die Diagnose »Depression« bekamen, die klinischen Kriterien dafür tatsächlich erfüllten, wenn man die Diagnosen mit strukturierten Interviews gemäß Diagnosemanual DSM überprüfte.54 Nichtsdestotrotz bekommt ein erheblicher Teil der Patienten ihr Antidepressivum zum ersten Mal im Rahmen der Grundversorgung vom Hausarzt verschrieben – nicht nur in den Vereinigten Staaten, sondern auch hierzulande. Die reflexartige Antidepressiva-Verschreibung durch Allgemeinmediziner ist dringend revisionsbedürftig, zumal in Deutschland seit 2015 auch die

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Lohse MJ, Müller-Oerlinghausen B (2019) »Psychopharmaka«, S. 928. Mark TL, Levit KR et al. (2009) Psychiatric Services; Mojtabai R, Olfson M (2008) Journal of Clinical Psychiatry. Mojtabai R (2013) Psychotherapy and Psychosomatics.

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offiziellen Leitlinien der DGPPN festschreiben, dass bei mild ausgeprägten Depressionen Antidepressiva nicht mehr Mittel der ersten Wahl sein sollen:55 »Bei leichten Depressionen ist ein Unterschied zwischen Placebo und Antidepressiva statistisch nicht nachweisbar, so dass nur sehr wenige Patienten von einer Behandlung mit Antidepressiva profitieren dürften.«56 Psychopharmaka werden auch deshalb so häufig von Hausärzten verabreicht, weil dies die schnellste und am einfachsten verfügbare Therapieoption ist. Oft sogar nur mit der Absicht einer Überbrückung bis ein Psychotherapieplatz frei ist. Wenn aber die zunehmend propagierte »aktiv-abwartende Begleitung«57 nicht akzeptiert wird, keine Aussicht auf baldige Psychotherapie besteht und auch Alternativen wie Ausdauersport58 oder Achtsamkeitsbasierte Stressreduktion abgelehnt werden, bleibt auch dem zurückhaltendsten Hausarzt eigentlich nur noch der Griff zum Rezeptblock. Irgendetwas muss man ja tun. Es liegt eben auch wesentlich an den Patienten selbst, dass die Verschreibung von Antidepressiva außer Kontrolle geraten ist. Die überwiegende Zahl der Menschen nimmt Psychopharmaka nicht, weil sie dazu genötigt werden, sondern weil sie glauben, dass es ihnen hilft. Betroffene gehen mit der Vorstellung einer schnellen Lösung zu ihrem Arzt: »Finden Sie heraus, was ich habe und sorgen Sie dafür, dass es schnell wieder weg geht.«59 Und verlangen gleich selbst nach den Medikamenten, die ihren vermeintlichen Botenstoffmangel im Gehirn beheben. So läuft das aber nicht – oder höchstens im Ausnahmefall. Einmal abgesehen von akuten Trauma-Erfahrungen entwickeln sich psychische Erkrankungen in aller Regel über Monate, Jahre oder gar Jahrzehnte hinweg. Die spezifischen Akutsymptome sind dann nur die letzte Endstrecke eines langen Prozesses. Schon deshalb ist es sehr unwahrscheinlich, dass eine schnelle Behandlung mit Antidepressiva oder Ähnlichem eine plötzliche wundersame Wende, eine heilende Umkehr zum Guten bewirken können. Psychische Störungen sind keine Infektionskrankheiten und Psychopharmaka keine Antibiotika. Auch wenn wir das gerne anders hätten: Es gibt keine eiligen Lösungen, schon gar keine pharmazeutischen, und es führt kein Weg

55 56 57 58 59

Lohse MJ, Müller-Oerlinghausen B (2019) »Psychopharmaka«, S. 928. Schneider F, Härter M et al. (2017) »S3-Leitlinie/Nationale Versorgungsleitlinie Unipolare Depression«, S. 83. So genanntes »watchful waiting«, siehe ebd., S. 45. Schuch FB, Stubbs B (2019) Current Sports Medicine Reports. Im Therapiejargon auch als »Verhaltensaktivierung« bezeichnet. In der Medizin als »find it and fix it«-Erwartung bekannt.

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daran vorbei, sich für eine nachhaltige Besserung der eigenen Befindlichkeit intensiv mit sich selbst und den Umständen seiner Lebensführung auseinanderzusetzen. Sinngemäß gilt dies natürlich auch für die im vorigen Kapitel verhandelten Psychedelika-unterstützten Therapien. Wohl kann eine Triperfahrung neue und heilsame Perspektiven auf das eigene Leben eröffnen. Depressivität, Zwang oder Sucht nachhaltig zu überwinden muss dann aber trotzdem noch aktiv im normalen Alltag bewerkstelligt werden.

Medikamente sind schlecht, Psychotherapie ist gut? Dass es ein »Falsch« und ein »Zuviel« nicht nur von Psychopharmaka, sondern auch von Psychotherapien gibt, soll hier nicht unerwähnt bleiben.60 Auch bei Psychotherapien kommt es zu Nebenwirkungen, Absetzproblemen und Folgeschäden.61 So kann es sein, dass sich Symptome im Rahmen einer Therapie sogar verschlimmern, das nennt man dann »Aggravierung«. Klienten können im Alltag unsicherer und unselbständiger werden (»ich muss das erst mit meinem Therapeuten besprechen«). Ein Übermaß an Psychotherapie birgt auch immer die Gefahr, dass sich das ganze Denken und Handeln nur noch um sich selbst und die eigene vermeintliche Glücksfindung dreht. Unter so einem psychotherapeutisch vermittelten Egoismus leiden dann nicht selten Beziehungen und Familie. Psychotherapeut Thorsten Padberg umschreibt das Problem so: »Eine Psychotherapie, die sich allein auf das Individuum konzentriert, verstärkt einen gesellschaftlichen Trend, in dem jeder nur mit dem eigenen Leid beschäftigt ist. Der gesellschaftliche Zusammenhalt erodiert, und gerade die Beziehungen, die in Krisen Halt geben können, werden rarer.«62 Eine Psychotherapie sollte nur machen, wer sie auch wirklich braucht. Die Psychotherapeuten sehen sich aber auch mit ganz grundsätzlicher Kritik konfrontiert. Zum einen kann man ihrem Berufsstand vorwerfen, sie würden durch ihre (durchaus gut gemeinte) Arbeit von den realen gesellschaftlichen Problemen ablenken und ihre Patienten durch Stärkung der individuellen Resilienz an soziale Ungerechtigkeiten anpassen, anstatt zu versuchen, diese zu ändern. So gesehen kann die individualisierte Form des Therapierens zu

60 61 62

Siehe dazu auch Padberg T (2019) »Die Depressions-Falle« und Illouz E (2011) »Die Errettung der modernen Seele«. Lilienfeld SO (2007) Perspectives on Psychological Science. Padberg T (2019) »Die Depressions-Falle«, S. 210.

Kapitel 10: Psychopharmaka – je weniger, desto besser

Passivität und sozialer Apathie beitragen. Man kann die Psychotherapeuten aber auch dafür kritisieren, dass sie sich hauptsächlich mit der Behandlung von Befindlichkeitsstörungen, den neurotischen Leiden der worrying well beschäftigen, währenddessen Menschen mit einer ernsthaften psychischen Erkrankung große Schwierigkeiten haben, überhaupt einen Therapieplatz zu bekommen. Da es für Psychotherapeuten keine Behandlungspflicht gibt, können Patienten ohne weiteres abgelehnt werden. Dafür gibt es gute Gründe, wie falsche Erwartungen an das Therapieverfahren oder schlechte persönliche Passung. Für unsere zeitgenössischen Psychotherapeuten gilt allerdings auch, was schon den Psychoanalytikern in den 1960er Jahren zum Vorwurf gemacht wurde. Nämlich, dass sie bevorzugt »die Jungen, die Attraktiven, die Verbalisationsfähigen, die Intelligenten, die sozial Befähigten« behandeln.63 Nicht nur die Knappheit an Therapieplätzen, auch die selektive Klientenauswahl durch die Therapeuten trägt dazu bei, dass Patienten in Psychiatrie-Einrichtungen versorgt werden, obwohl dies weder notwendig noch von ihnen gewünscht ist. Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass der Architekt aus Prenzlauer Berg auf der Analyse Couch landet und die Supermarkt-Aushilfskraft aus Hellersdorf in der Psychiatrie eine Packung Antidepressiva verschrieben bekommt, auch wenn beide an der gleichen Depression leiden. Wenn die Menschen tatsächlich weniger Psychopharmaka nehmen sollen, müssen auch die Psychotherapeuten nochmal über die Bücher gehen.

63

Finzen A (1998) »Das Pinelsche Pendel«, S. 34.

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Kapitel 11: Aufbruch in eine pragmatische Psychiatrie Es wäre nützlich, wenn die Öffentlichkeit von Depressionen nicht nur so spricht, als wären sie etwas, das unverzüglich in die Hand von Fachleuten gehört.1

Gesellschaftlich erwünscht und politisch gewollt ist die Psychiatrie zur zuständigen Institution geworden, die sich um die Unglücklichen, Überforderten, Diskriminierten, Traumatisierten, psychobiologisch Benachteiligten oder sonst wie vom Lebensschicksal allzu hart Getroffenen kümmern soll. Außerdem soll die Psychiatrie für Sicherheit sorgen, indem sie die möglicherweise Gefährlichen unter den psychisch Kranken davon abhält, sich selbst oder anderen etwas anzutun. In diesem medizinischen Reparaturbetrieb sollen Psychiater Krankheitssymptome zum Verschwinden bringen und eine ausreichende Funktionsfähigkeit wiederherstellen, und dies möglichst rasch, effizient und kostensparend. Viele problematische Entwicklungen innerhalb des Fachs lassen sich schon dadurch erklären, dass die psychiatrisch Tätigen von dieser unmöglich zu bewältigenden Aufgabe überfordert sind. Nur durch »Täuschung und Selbsttäuschung«, wie dies Psychiater Stefan Weinmann benennt,2 kann sich der Psychiatriebetrieb in seiner jetzigen Form überhaupt am Laufen halten.

1 2

Schneider P (2020) »Normal, gestört, verrückt«, S. 175. Weinmann S (2019) »Die Vermessung der Psychiatrie«.

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Wir müssen akzeptieren, dass auch psychische Erkrankungen unheilbar und tödlich sein können Auch an den unrealistisch hohen Erwartungen der Gesellschaft an die Heilkunst der Psychiatrie zeigt sich eine Besonderheit des Fachs. In der somatischen Medizin wird es ganz selbstverständlich als Tatsache akzeptiert, dass Krankheiten bisweilen auch schwer verlaufen und tödlich enden. Kommt es bei psychischen Störungen zu dramatischen Verläufen oder Suiziden, wird dies aber nicht der besonderen Schwere der Erkrankung zugeschrieben, sondern dem Versagen der Behandelnden. Weil hier kein bösartiger Tumor wächst, sondern vielmehr »alles psychisch« ist, müsse dem Patienten doch zu helfen sein. Das mag in der überwiegenden Mehrzahl auch zutreffen. Luc Ciompis Feststellung, dass es auch bei schweren und chronischen Verläufen »immer wieder gut kommen kann« ist sicher richtig.3 In einigen Fällen kann eine psychische Erkrankung aber so schwerer Natur sein, dass selbst eine frühe Erkennung und optimale Behandlung nicht zum Erfolg führt. Existenzielles Leid gehört auch zur condition humaine und wir müssen akzeptieren, dass auch Psychiater keine Wunder wirken können. »Weder die Psychiatrie noch die somatische Medizin werden jemals dem Erfolgsniveau gerecht werden, das von der Psychiatrie verlangt wird. Selbst dann nicht, wenn der gesamte staatliche Pensionsfonds für die psychiatrische Versorgung eingesetzt würde« kommentierten die Mediziner Anders Malkomsen und Carl Tollef Solberg die überzogenen gesellschaftlichen Erwartungen unlängst in der Zeitschrift der norwegischen Ärztekammer.4 In ihrem Meinungsartikel zu den Grenzen psychiatrischer Kunst erwähnen Malkomsen und Solberg weiter, dass der norwegische Gesundheitsminister 2020 einen Handlungsplan für eine Zukunftsvision von »Null Suiziden« in ihrem Land vorgestellt hat. Und entgegnen diesem sicher gut gemeinten Plan, dass die Vermeidung jeglicher Todesfälle in der Psychiatrie ein derart hohes Maß von Zwangsmaßnahmen, Überwachung und Übermedikation erfordern würde, dass dies gesellschaftlich gar nicht mehr akzeptiert würde.5 Während Palliativmedizin in Geriatrie und Onkologie längst eine Selbstverständlichkeit ist, war dieses Thema für die Psychiatrie lange Zeit tabu.

3 4 5

Siehe Kapitel 7, S. 150. Malkomsen A, Solberg CT (2022) Tidsskrift for den Norske laegeforening. Ebd.

Kapitel 11: Aufbruch in eine pragmatische Psychiatrie

Erst langsam beginnt man, auch in der Psychiatrie darüber nachzudenken, ob erfolgreiche Linderung eines Leidens nicht besser sein könnte als endlose, erfolglose Heilversuche mit schweren Nebenwirkungen und einem weitgehenden Verlust der Lebensqualität. Selbst wenn dies eine Lebenszeitverkürzung bedeuten könnte. »Muss es immer Heilung sein?« fragt 2020 auch die Frankfurter Allgemeine Zeitung in einem Artikel über das neue Feld der Palliativpsychiatrie.6 Und schildert dort die bewegende Geschichte einer schwer Anorexie-kranken Patientin Mitte Dreißig, die lieber noch einmal ans Meer fahren möchte, als zum x-ten Mal gegen ihren Willen zwangsernährt zu werden. »Es ist tragisch, dass diese Frau voraussichtlich in der Mitte ihres Lebens sterben wird, aber ehrlicherweise finde ich es besser, wenn sie davor noch ein paarmal am Strand war statt auf der geschlossenen Station«, erklärt die behandelnde Ärztin Anna Westermair der Redakteurin von der FAZ. Auch in der deutschen Psychiatrie ist das Thema zwischenzeitlich angekommen. 2020 hat Der Nervenarzt das kontrovers diskutierte Verhältnis von Psychiatrie und Palliativmedizin in einer Ausgabe sogar zum Leitthema gemacht.7 Darin werden die verschiedenen Positionen einer gerade neu gegründeten gemeinsamen Taskforce vorgestellt. Im Editorial wird die »Eröffnung klinischer Möglichkeiten« diskutiert, aber auch darauf verwiesen, dass hier »komplexere ethische und juristische Fragestellungen« aufgeworfen werden, »die auch die jeweils eigene therapeutische Haltung und die ihr zugrunde liegenden Werte betreffen.«8 Wie auch immer sich die deutsche Psychiatrie hier noch offiziell positionieren wird – in einer pragmatischen Psychiatrie der Zukunft, die Autonomie, Lebensqualität und individuelle Wünsche des Patienten ins Zentrum stellt, dürfte auch die Palliativmedizin eine Rolle spielen.

Der Wandel in der Psychiatrie wird von der Basis ausgehen Keine Frage, wer in der Psychiatrie tätig ist, ist gefordert – und oft überfordert. Wie kann man damit überhaupt klarkommen? Eine kognitive Strategie des Selbstschutzes, mit Überforderungen angesichts der oft nur unbefriedigenden Therapieergebnisse umzugehen, ist nach Psychiater Weinmann der self-serving bias: Gelingt in der Therapie Gutes, schreibe man es dem eigenen 6 7 8

Schläfer E (2020) Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 17.5. Der Nervenarzt, Ausgabe 5/2020: Palliativmedizin bei psychiatrischen Erkrankungen. Heinz A, Perrar KM et al. (2020) Der Nervenarzt.

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Handeln zu. Gelingt dies nicht, ist der Patient schuld – sei es aufgrund der besonderen Schwere seiner Erkrankung oder wegen mangelnde Therapietreue. Auch weil fundamentale Paradigmen des eigenen Fachs kaum in Frage gestellt werden, gehe echte Veränderung immer seltener von den Universitätskliniken aus, kritisiert Weinmann: »Der Wandel wird eher von unten gestaltet, von der Basis, von Betroffenen und jenen psychiatrisch Tätigen, die in direktem Kontakt mit den Patientinnen und Patienten stehen, auch ohne auf quantitative Studien zurückgreifen zu müssen.«9 Und genau das ist ja bereits der Fall. Während ein großer Teil der forschenden Psychiatrie immer tiefer in molekulare OMICS-Narrative absteigt oder eine pharmakogenetisch auslesbare personalisierte Psychiatrie fantasiert, entstehen anderenorts schon ganz konkrete und lebenspraktische Verbesserungen für die psychisch Belasteten. Diese gehen aus von immer besser organisierten Selbsthilfe-Gruppen, innovativen Projekten der gemeindenahen Versorgung, individuell ausgestaltbaren Minimal Medication Services oder niederschwelligen digitalen Therapieangeboten.

Die akademische Psychiatrie, eine Welt ganz für sich Der Graben zwischen den Psychiatern, die Patienten studieren und jenen, die sie behandeln, wird immer größer. Der Hauptgrund dafür ist, dass sich der naturwissenschaftlich forschende Teil der Psychiatrie zusehends noch weiter abkoppelt – nicht nur von der Lebenswelt der Patienten, sondern auch vom Rest ihrer fachärztlichen Kollegen. Ich wage zu behaupten, dass der durchschnittliche Psychiater Fachjournale wie Molecular Psychiatry, eines der TopBlätter der biologischen Psychiatrie, schon längst nicht mehr liest (wenn er das denn jemals getan hat). Was sollte er denn auch anfangen mit Artikeln wie »Epigenetic repression of Wnt receptors in AD: A role for Sirtuin2-induced H4K16ac deacetylation of Frizzled1 and Frizzled7 promoters«10 oder »A recurrent SHANK1 mutation implicated in autism spectrum disorder causes autistic-like core behaviors in mice via downregulation of mGluR1-IP3R1-calcium signaling«11 ? Stefan Priebe, Professor für Sozialpsychiatrie in London, spricht wohl für die Mehrheit seiner Kollegen, wenn er in einem Interview mit der Ärztezeitung sagt, von den Neurowissenschaften sei auch in den kommenden De9 10 11

Weinmann S (2019) »Die Vermessung der Psychiatrie«, S. 21. Palomer E, Martin-Flores N et al. (2022) Molecular Psychiatry. Qin Y, Du Y et al. (2022) Molecular Psychiatry.

Kapitel 11: Aufbruch in eine pragmatische Psychiatrie

kaden wenig zu erwarten, was das Leben psychisch Kranker verbessert.12 Es gehört zum Wesen der Wissenschaft, dass sie Wege beschreitet, die sich später als Sackgassen herausstellen und dass Scheitern die Regel ist und nicht die Ausnahme. Und natürlich ist auch nicht grundsätzlich etwas dagegen einzuwenden, mit allen verfügbaren Methoden nach biologischen Determinanten psychischer Störungen zu suchen. Die Frage ist vielmehr, wie sinnvoll es ist, einen eingeschlagenen Weg weiter zu verfolgen, wenn längst absehbar ist, dass er nicht zum Ziel führen wird. OMICS-Tüftler und Psychiatriegenetikerinnen führen ein zunehmend isoliertes, selbstgefälliges Eigenleben mit immer weniger Bezug zum Rest der Welt. Denn auch in der Öffentlichkeit wird ihr Tun kaum noch wahrgenommen. Waren die Medien vor ein paar Jahren noch hellauf begeistert von bunten Hirnscans und Ankündigungen einer bevorstehenden Präzisionspsychiatrie, wird in der Presse heute kaum noch davon berichtet. Was also tun? Kann und soll das einfach immer so weiter gehen? Die Beantwortung der Frage ist folgenreich und hat nicht nur Auswirkungen auf das System Psychiatrie, sondern weit darüber hinaus. Würde auch nur ein Bruchteil der Milliarden an Fördergelder aus biopsychiatrischen Großprojekten umverteilt und für die Entwicklung und Erforschung innovativer, pragmatischer Hilfskonzepte verwendet, könnte dies enorme Auswirkungen haben. Ein Umdenken innerhalb der Psychiatrie in diese Richtung hat jedenfalls bereits begonnen, wenn auch erst zaghaft und gegen viele Widerstände.13

Das ideologische Immunsystem der Wissenschaft wehrt sich Dass die Veränderungen erst stockend vorankommen, hat nachvollziehbare Gründe. Zum einen gründen lebenslange Forscherkarrieren wichtiger Meinungsführer auf genau den Paradigmen, die nun in Frage gestellt werden. Dagegen setzt man sich zur Wehr oder will wenigstens Zeit gewinnen, sei es durch neue Neuro-Großprojekte oder immer neue Treibjagden auf Schizophrenie-assoziierte Gene. Und auch die Universitätsleitungen und Forschungsförderer tun sich schwer damit einzugestehen, dass ihr Heer von

12 13

Mueller T (2018) Ärztezeitung. Eine schöne Metapher für diese Widerstände hat Jay Stuart Snelson, Publizist und Gründer des libertären »Institute for Human Progress« gefunden. Er spricht von einem mächtigen »ideologischen Immunsystem« der Wissenschaft, das sich gegen neue Ideen und Veränderungen zur Wehr setzt [Snelson JS (1992) Skeptic Magazine].

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klugen Wissenschaftlern unglaublich viel Geld und Zeit investiert hat, ohne dass dabei sonderlich Relevantes herausgekommen ist. »Aber das ist doch alles noch Grundlagenforschung!« bekommt man häufig zu hören. Sicher wahr und richtig, aber die Frage ist doch, wie lange man in der Psychiatrie weiter vorrangig in Grundlagenforschung zu Genen und Neuronen investiert, wenn nach mittlerweile Jahrzehnten dieses Tuns immer klarer wird, dass sie eben genau das bleiben wird: Grundlagenforschung. Bei aller Freiheit der Forschung, die natürlich außer Frage steht: Ist öffentlich finanzierte Forschung auch dann legitim, wenn sie nur noch Selbstzweck wird? »Alternativ müsste man zugeben«, so der Psychologe Stephan Schleim von der Universität Groningen, »dass man Jahr für Jahr Forschung im Milliardenbereich bezahlt, vor allem mit Steuermitteln, die mit den falschen Methoden am falschen Ort sucht. Und dass etwa die hochdotierten Lehrstühle für Mäusegenetiker in der Psychiatrie, mit denen man zunehmend die Sozialpsychiatrie ersetzte, ein großer Irrtum waren und sind, den man jetzt nicht mehr so schnell loswird.«14 Geld und kreative Forscher, soviel ist klar, sind nun mal begrenzte Ressourcen, die dann auch an anderer Stelle fehlen. Auch sollte man sich fragen, wer überhaupt an den Schaltstellen der Macht sitzt, wer überhaupt einen echten Kurswechsel effizient in Gang setzen könnte. Neben den verantwortlichen politischen Entscheidungsträgern in Gesundheitswesen und Wissenschaft sind hier an erster Stelle die großen Forschungsfinanzierer und die Führungsetagen der Universitäts-Departemente zu nennen. Wenn vakante Lehrstühle an renommierten Universitäten irgendwann eben nicht mehr mit Molekularpsychiaterinnen und Genetikern, sondern mit Sozialpsychiatern und Fachleuten für Versorgungspsychiatrie besetzt werden, bewegt sich das ganze Feld in eine andere Richtung. Ebenso, wenn die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) und der Schweizerische Nationalfonds (SNF) beschließen sollten, künftig prioritär Psychotherapieforschung oder die Untersuchung innovativer, außerstationärer Behandlungsansätze zu fördern. Am meisten Hoffnung darf man aber auf den Generationenwechsel unter den psychiatrisch Tätigen setzen. Die gegenwärtige Psychiatriekritik ist auch bei den Medizin- und Psychologiestudenten längst angekommen und trifft dort auf viel Zustimmung. Und vielleicht auch auf den notwendigen Idealismus, neue Wege zu beschreiten, auch wenn dies persönlich fordernder und anstrengender ist.

14

Schleim S (2018) »Was sind psychische Störungen?«.

Kapitel 11: Aufbruch in eine pragmatische Psychiatrie

Auf dem Weg in eine neue Behandlungskultur Dass eine bedeutende Verbesserung psychiatrischer Behandlung auch von ernsthaft Erkrankten keine Milliardeninvestitionen oder eine völlig neue Infrastruktur braucht, ist am Beispiel der Trialog-basierten »Psychoseseminare« zu sehen. Allein schon das gleichberechtige Aushandeln und regelmäßige Neubewerten von Therapieentscheidungen zwischen Betroffenen, Angehörigen und Behandelnden entfaltet nämlich eine enorme Wirkung. Das trialogische Vorgehen in der Psychosebehandlung ist bereits zu einer ernstzunehmenden Bewegung geworden. Für den deutschsprachigen Raum gibt es ein dynamisches Webportal, auf der sich alle Psychoseseminare bzw. Trialogforen vernetzt haben. Dort ist auch nachzulesen, was in einem TrialogProzess mit den Beteiligten passiert: »Im Psychoseseminar verknüpfen sich Erzählen mit Zuhören, persönliche Begegnungen mit authentischen Lebensgeschichten, Toleranz mit Kritik und behutsame Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Perspektiven. Berührungsängste zwischen Psychiatrieerfahrenen, Angehörigen und Professionellen werden geringer, soziale Rollen gleichberechtigter, Sichtweisen durchlässiger, Scham- und Schuldgefühle klarer und gegenseitiges Wohlwollen stärker. Aus Patienten und diagnostizierten Objekten werden handelnde Subjekte, aus ferngehaltenen Angehörigen werden Kooperationsbeteiligte, aus machtvoll verordnenden Professionellen werden lernende Verhandlungspartner. […] Im Trialog sind alle Beteiligten Experten in eigener Sache.«15 Die Betreiber der Webseite machen auch klar, dass der Trialog nicht einfach nur ein ergänzender, alternativer Zusatz sei: »Die Einbeziehung der Erfahrenen und Angehörigen in die Entwicklung und Durchführung von Therapiemöglichkeiten ist unabdingbar. Die Begegnung als Experten sollte prägend sein für die künftige Behandlungskultur. Insbesondere vor dem Hintergrund neuer Behandlungsformen wie Hometreatment, der Verlagerung der Akutbehandlung von der Klinik in die häusliche Umgebung, wird trialogisches Denken und Handeln zwingend nötig. Eine offenere Wahrnehmung psychischer Krisen und eine andere Begegnungskultur sind zugleich notwendige Voraussetzung von zuhause-Behandlung wie auch deren folgerichtige Konsequenz.«16

15 16

https://www.trialog-psychoseseminar.de/grundidee/philosophie (letzter Abruf 28.1.2023). https://www.trialog-psychoseseminar.de/grundidee/vision (letzter Abruf 28.1.2023).

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Es muss akzeptierte Möglichkeiten geben, seltsam zu sein Echte Veränderungen anzustoßen liegt aber auch an uns selbst. Viel wäre schon gewonnen, wenn psychisch Belasteten einfach nur mehr Akzeptanz entgegengebracht und mehr nicht-normierte Eigenständigkeit und Eigensinnigkeit zugestanden würde. So, wie es das Being With Prinzip der Soteria Projekte seit Jahren ganz selbstverständlich praktiziert. »Soziale Inklusion […] geschieht nicht dadurch, dass wir Menschen weniger ›anders‹ oder auffällig machen bzw. zu machen vorgeben, sondern indem wir sie ganz selbstverständlich einbeziehen und ihnen Halt geben in einer solidarischen Gemeinschaft«, ist die Forderung von Stefan Weinmann.17 Auch Analytiker Peter Schneider plädiert für eine »soziale Depathologisierung« innerhalb einer inkludierenden Gesellschaft: »Was wäre nun aber eine Gesellschaft, die uns psychische Gesundheit erleichtert? Es wäre eine Gesellschaft, die diese innere Diversität – wir selber sind in Bezug auf uns und die Welt ›verschieden‹ – nach außen wendet. Konkret: eine Gesellschaft, in der verschiedene Biotope nebeneinander existieren. Das heißt, diese Gesellschaft müsste nicht den Depressiven zuliebe selbst auch depressiv werden (was den Depressiven ihr Leiden auch kaum erleichtern dürfte), es reicht, wenn es Bereiche gibt, in denen es auch möglich ist, an sich und der Welt zu verzweifeln, ohne aus dieser Welt und dieser Gesellschaft zu fallen.«18 In einem Interview für die NZZ am Sonntag fragte ich nach, wie weit denn diese Toleranz gehen solle. Ob wir auch akzeptieren müssten, wenn ein Schwerstdepressiver beschließt, sein Leben zu beenden. Nein, das meine er natürlich nicht, stellt Peter Schneider klar: »Ich würde jeden Menschen wieder von der Brücke holen. Mein Vorschlag, Bedingungen für mehr Artenvielfalt zu schaffen, ist auch kein antipsychiatrisches Programm. Schwer depressiv zu sein, wird nicht lustig, weil wir beschließen, lieber von der guten alten Melancholie zu reden. Ich meinte eher eine Einstellung, die man beim Umgang mit Behinderten als Inklusion bezeichnet. Man versucht Hürden abzubauen und keine neuen aufzubauen. Für Autisten und Autistinnen gibt es zum Beispiel in Einkaufsmärkten Zeiten, in denen sie nicht mit Musik und Durchsagen verseucht werden. Man kann sich solche Erleichterungen und Rücksichtnahmen in vielfacher Form vorstellen. Für einen zwanghaften Menschen mit Bakterienphobie ist ein Großraumbüro eine Hölle. Es muss 17 18

Weinmann S (2019) »Die Vermessung der Psychiatrie«, S. 226. Schneider P (2020) »Normal, gestört, verrückt«, S. 174.

Kapitel 11: Aufbruch in eine pragmatische Psychiatrie

akzeptierte Möglichkeiten geben, seltsam zu sein, ohne dass man ein großes Gewese daraus macht.«19 Davon sind wir hierzulande allerdings noch sehr weit entfernt. Shekhar Saxena, Psychiater und früherer Direktor der mental health Abteilung der WHO wurde einmal gefragt, wo er leben möchte, wenn er mit einer Schizophrenie diagnostiziert wäre. Er würde eine Stadt wie Addis Abeba in Äthiopien oder Colombo in Sri Lanka wählen, eher als New York oder London, war seine Antwort. Der Grund sei, dass er in den erstgenannten Städten eine Chance hätte, für sich eine Nische als produktives, wenn auch exzentrisches Mitglied einer Gemeinschaft zu finden. In New York oder London sei die Wahrscheinlichkeit weitaus größer, stigmatisiert am Rand der Gesellschaft zu enden.20

Vom Neuro-Papst zum Sozialpsychiater Früh in diesem Buch kam Thomas Insel zu Wort. Weil das nun mehr als zweihundert Buchseiten her ist, möchte ich seinen Kommentar zum Ausstieg beim NIHM hier wiederholen: »Ich habe dreizehn Jahre am NIMH damit zugebracht, mit Nachdruck die Neurowissenschaft und Genetikforschung zu psychischen Störungen voranzubringen. In der Rückschau denke ich, dass es mir zwar gelang, eine Menge wirklich cooler Publikationen von tollen Wissenschaftlern zu ziemlich hohen Kosten zu veröffentlichen – ich denke zwanzig Milliarden Dollar. Ich glaube aber nicht, dass wir für die Abermillionen von Menschen mit psychischen Erkrankungen etwas bewirkt haben, was die Verringerung von Suiziden angeht, den Rückgang der Krankenhausaufenthalte oder eine bessere Genesung. Ich übernehme dafür die Verantwortung.«21 Auch Sozialforscher Nikolas Rose hat Insels privates Schuldeingeständnis gelesen. Doch für ihn hat sich die Sache damit noch nicht erledigt. Er stellt vielmehr eine Gegenfrage: »Wer aber wird für die vielen Millionen Menschen auf der ganzen Welt zur Verantwortung gezogen, die Medikamente von zweifelhaftem Wert für Erkrankungen von zweifelhafter diagnostischer Aussagekraft einnehmen, während Schlüsselfiguren, die die Finanzierung

19 20 21

Hasler F (2020) NZZ am Sonntag vom 15.11. Zitiert in Harrington A (2019) »Mind Fixers«, S. 275. https://www.wired.com/2017/05/star-neuroscientist-tom-insel-leaves-google-spa wned-verily-startup (letzter Abruf 28.1.2023), auch zitiert in Rose N (2018) »Our Psychiatric Future«, S. 88.

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bestimmen und die Forschung in den psychiatrischen Neurowissenschaften gestalten, immer noch am Traum von molekularen Erklärungen und molekularen Interventionen festhalten?« Eine berechtigte Frage, deren Antwort noch aussteht. Thomas Insel jedenfalls kann man diesen Vorwurf heute nicht mehr machen. Er kommt in diesem Buch auch darum so prominent vor, weil er dafür steht, dass selbst mächtigste Vertreter der akademischen Psychiatrie ihre Ansichten grundlegend ändern und neue Wege beschreiten können. Insel ist nämlich mittlerweile nicht nur zum Promotor der digitalen Psychiatrie, sondern auch der Sozialpsychiatrie geworden: »Das Problem ist medizinisch, aber die Lösungen sind sozialer, zwischenmenschlicher, ökologischer und politischer Natur«, ließ er seinen Interviewpartner Ezra Klein unlängst in einem Podcast der New York Times wissen.22 Was die Betroffenen wirklich brauchten, seien »Menschen, Orte und Ziele. Wenn man diese Voraussetzungen schafft, werden die Menschen tatsächlich wieder gesund«.

Veränderung ist möglich Die Harvard-Wissenschaftshistorikerin Anne Harrington sieht gar schon einen veritablen Sturm aufziehen. In ihrem Buch »Mind Fixers« stellt Harrington fest, dass der »Aufstieg eines zunehmend vielstimmigen Chors öffentlicher Kritiker der neuen biologischen Psychiatrie« mittlerweile zu einer Kraft angeschwollen sei, »die nicht weniger virulent ist als die, die in den 1970er Jahren dazu beitrug, die Freudsche Führung zu untergraben«.23 Und diese vielstimmige Kritik hat bereits erkennbare Auswirkungen. Ein Umdenken ist im Gange, und dieses Umdenken kommt gleichermaßen von innerhalb wie außerhalb der Psychiatrie. Zeiten der Krise sind Zeiten der Veränderung. Nach Jahrzehnten der unerfüllten Hoffnung auf eine neurowissenschaftlich informierte Medizin des Geistes zeichnen sich neue Ideen, neue Technologien und ein neuer Pragmatismus ab. Wir sind auf dem Weg in eine neue, rationale Psychiatrie, die aktiv handeln und praktisch gestalten will. Gut möglich, dass wir uns schon bald staunend fragen werden, wie wir jemals daran glauben konnten, dass uns Studien zur Bildung von Dopamin-Neuronen im Zebrafisch etwas über Aufmerksamkeitsstörungen bei Kindern erklären könne. 22 23

The Ezra Klein Show (22.7.2022) https://www.nytimes.com/2022/07/22/opinion/ezraklein-podcast-thomas-insel.html (letzter Abruf 28.1.2023). Harrington A (2019) »Mind Fixers«, S. xviii.

Nachbemerkung

Dieses Buch entstand zwischen Mai 2019 und Februar 2023 an der Berlin School of Mind and Brain, Humboldt-Universität zu Berlin in Kooperation mit dem MaxPlanck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig. Ich bin außerordentlich dankbar für die uneingeschränkte akademische Freiheit, die mir diese Institutionen gewährt haben. Dies umso mehr, als ich hier auch Sichtweisen vertrete, die, wie ich annehme, nicht von allen Fakultätsmitgliedern und mitforschenden Kolleginnen und Kollegen geteilt werden. Arno Villringer, Akademischer Direktor der Berlin School of Mind an Brain und Direktor der Abteilung Neurologie am MPI für Kognitions- und Neurowissenschaften gilt mein besonderer Dank dafür, in seiner Arbeitsgruppe schon seit vielen Jahren eine akademische Heimat in Berlin zu haben. Nicolas Langlitz, Peter Schneider, Marcel Zemp und Philipp Zitzlsperger haben sich die Zeit genommen, das Manuskript zu lesen und kritisch zu kommentierten. Auch dafür meinen herzlichen Dank. Mein treuer Lektor Jakob Horstmann vom transcript Verlag verdient gleich mehrfach Lob und Dank: Für seine Geduld, weil sich das Projekt länger als geplant hinzog, für seine Unterstützung in allen Verlagsangelegenheiten, das professionelle Lektorieren des Manuskripts und die Gelassenheit angesichts der viel zu vielen Fußnoten, die trotz seiner Bedenken geblieben sind. Aber am wichtigsten: Für den hoffentlich weiter andauernden Lektor-Autor-Wettkampf auf dem Tennisplatz, dessen sportlicher Ausgang noch zu klären bleibt. Viele der hier verhandelten Themen gehen zurück auf eine informelle Arbeitsgruppe aus Psychiatern und Psychologen, an der auch ich teilhaben durfte. Für die vielfältige Inspiration aus diesen Treffen bedanke ich mich bei Volkmar Aderhold, Eugene Epstein, Erdmann Fähndrich, Asmus Finzen, Christian Kieser, Dieter Lehmkuhl, Michael von Cranach und Stefan Weinmann. Mein ganz

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besonderer Dank gilt Thorsten Padberg für den Hinweis zur Fachkontroverse um das 5-HTTLPR Gen. Eine großzügige Förderung der Stiftung Fürstlicher Kommerzienrat Guido Feger aus meinem Heimatland Liechtenstein und ein ebenso großzügiges Schreibstipendium von Marcel Zemp haben den finanziellen Rahmen geschaffen, der dieses Buch ermöglicht hat. Berlin im Februar 2023

Literatur- und Quellenverzeichnis

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Das Gedächtnis der Migrationsgesellschaft DOMiD – Ein Verein schreibt Geschichte(n) 2021, 272 S., Hardcover, Fadenbindung, durchgängig vierfarbig 40,00 € (DE), 978-3-8376-5423-3 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-5423-7

Thomas Etzemüller

Henning von Rittersdorf: Das Deutsche Schicksal Erinnerungen eines Rassenanthropologen. Eine Doku-Fiktion 2021, 294 S., kart. 35,00 € (DE), 978-3-8376-5936-8 E-Book: PDF: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5936-2

Thilo Neidhöfer

Arbeit an der Kultur Margaret Mead, Gregory Bateson und die amerikanische Anthropologie, 1930-1950 2021, 440 S., kart., 5 SW-Abbildungen 49,00 € (DE), 978-3-8376-5693-0 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-5693-4

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Geschichtswissenschaft Norbert Finzsch

Der Widerspenstigen Verstümmelung Eine Geschichte der Kliteridektomie im »Westen«, 1500-2000 2021, 528 S., kart., 30 SW-Abbildungen 49,50 € (DE), 978-3-8376-5717-3 E-Book: PDF: 48,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5717-7

Frank Jacob

Freiheit wagen! Ein Essay zur Revolution im 21. Jahrhundert 2021, 88 S., kart. 9,90 € (DE), 978-3-8376-5761-6 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-5761-0

Verein für kritische Geschichtsschreibung e.V. (Hg.)

WerkstattGeschichte 2022/2, Heft 86: Papierkram September 2022, 192 S., kart., 24 SW-Abbildungen, 1 Farbabbildung 22,00 € (DE), 978-3-8376-5866-8 E-Book: PDF: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5866-2

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