Netzwerke als Ergänzung des Vollzugskontrollinstrumentariums im EU-Umweltrecht [1 ed.] 9783428589210, 9783428189212

Als Hüterin der Verträge ist es Aufgabe der Kommission, den Vollzug des EU-Umweltrechts durch die Mitgliedstaaten sicher

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German Pages 464 [465] Year 2023

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Netzwerke als Ergänzung des Vollzugskontrollinstrumentariums im EU-Umweltrecht [1 ed.]
 9783428589210, 9783428189212

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Schriften zum Umweltrecht Band 202

Netzwerke als Ergänzung des Vollzugskontrollinstrumentariums im EU-Umweltrecht

Von

Kaja Rothfuß

Duncker & Humblot · Berlin

KAJA ROTHFUSS

Netzwerke als Ergänzung des Vollzugskontrollinstrumentariums im EU-Umweltrecht

Schriften zum Umweltrecht Herausgegeben von Prof. Dr. Michael Kloepfer, Berlin

Band 202

Netzwerke als Ergänzung des Vollzugskontrollinstrumentariums im EU-Umweltrecht

Von

Kaja Rothfuß

Duncker & Humblot · Berlin

Die Juristische Fakultät der Eberhard Karls Universität Tübingen hat diese Arbeit im Jahre 2022 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

D21 Alle Rechte vorbehalten © 2023 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: L101 Mediengestaltung, Fürstenwalde Druck: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISSN 0935-4247 ISBN 978-3-428-18921-2 (Print) ISBN 978-3-428-58921-0 (E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Herbst/Wintersemester 2022/2023 von der Juristischen Fakultät der Eberhard Karls Universität Tübingen als Dissertation angenommen. Literatur und Rechtsprechung wurden bis einschließlich März 2022 berücksichtigt. Onlinequellen wurden zuletzt im Februar 2023 abgerufen, soweit sich aus der jeweiligen Quellenangabe nichts anderes ergibt. Mein herzlichster Dank gilt meinem Doktorvater, Herrn Professor Dr. Johannes Saurer, LL.M. (Yale), der mich bei der Themenfindung und Anfertigung dieser Arbeit allzeit hervorragend wissenschaftlich betreut hat. Durch seine wertvollen Ratschläge und anregende Diskussionen hat Herr Professor Dr. Saurer maßgeblich zum Gelingen dieser Arbeit beigetragen. Die Zeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin an seinem Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Umweltrecht, Infrastrukturrecht und Rechtsvergleichung in Tübingen war für mich in fachlicher und persönlicher Hinsicht eine große Bereicherung, an die ich mich immer gerne erinnern werde. Auch hierfür möchte ich ihm danken. Weiterhin danke ich Herrn Prof. Dr. Stefan Thomas für die Erstellung des Zweitgutachtens. Ich bedanke mich außerdem bei all meinen Kolleginnen und Kollegen, die mit mir am Lehrstuhl von Herrn Professor Dr. Saurer tätig waren. Nicht zuletzt wegen des angenehmen und produktiven Arbeitsklimas am Lehrstuhl und des persönlichen Zusammenhalts werde ich stets gerne an die Anfertigung dieser Arbeit zurückdenken. Besonderer Dank gilt schließlich meiner Mutter Gesine, meinem Vater Walter und meinem Partner David für den Rückhalt und die bedingungslose Unterstützung, nicht nur beim Transport großer Mengen schwerer Bücher sowie durch die kritische Durchsicht des Manuskripts, sondern durch zahllose kleine und große Beiträge im privaten Bereich, ohne die ein Gelingen dieser Arbeit nicht möglich gewesen wäre. Horb, im Mai 2023

Kaja Rothfuß

Inhaltsverzeichnis

Einleitung 

23

I. Der Vollzug des EU-Umweltrechts als neuralgischer Punkt . . . . . . . . . . . 24 II. Die Entwicklung des EU-Vollzugskontrollsystems als dynamischer Prozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 III. Ziel der Arbeit und Gang der Untersuchungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 1. Teil

Grundlagen 

32

A. Terminologische Klarstellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Der Begriff des „Unionsrechtsvollzugs“ als Gegenstand der Vollzugskontrolle  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Terminologie im rechtswissenschaftlichen Diskurs . . . . . . . . . . . . . . . 2. Definition am Maßstab des Vollzugskontrollauftrags der Kommis­ sion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. „Vollzug“ und Synonyme im Sinne dieser Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . II. Der Begriff des „Vollzugsdefizits“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Der Begriff der „Vollzugskontrolle“ im Sinne dieser Arbeit . . . . . . . . . . . 1. „Kontrolle“ als Tätigkeitsbeschreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. „Kontrolle“ und „Kooperation“ in der EU: Systemtheoretische Grundlagen und Beschreibungskategorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Compliance-Assurance-Strategie der Kommission: Drei Dimensionen der Vollzugskontrolle  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

34

B. Vollzugsdefizite im Umweltsektor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Vorteile des effektiven EU-Umweltrechtsvollzugs . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Auswirkungen auf den Haushalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Schaffung eines gemeinsamen Binnenmarkts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Green Tech als ökonomische Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Ursachenforschung: Sektorspezifische und allgemeine Vollzugsschwierigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Ressourcen- und Informationsdefizite in der Verwaltung . . . . . . . . . . . 2. Geringer Vollzugswille und fehlendes Umweltbewusstsein . . . . . . . . . 3. Inkohärenz und Komplexität des EU-Umweltrechts . . . . . . . . . . . . . . . 4. Kooperations- und Koordinationsaufwand: Umweltschutz als grenzüberschreitende Herausforderung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Das umweltrechtliche Repräsentationsdefizit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

48 51 52 53 53

34 34 36 38 39 41 41 42 46

56 57 58 61 62 63

8 Inhaltsverzeichnis III. Auswertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 C. Rahmenbedingungen der Vollzugskontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 I. Vollzugskontrolle in den Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 II. Vollzugskontrolle auf EU-Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 1. Die Schlüsselrolle der Kommission im Vollzugskontrollsystem der EU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 a) Die Kommission als „Motor der Integration“ . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 b) Der Vollzugskontrollauftrag gemäß Art. 17 I 2 EUV . . . . . . . . . . . 70 aa) Beschränkung des Kontrollgegenstands auf Maßnahmen vorlagepflichtiger Akteure? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 bb) Beschränkung des Kontrollmaßstabs auf „spezifisches ­Unionsrecht“? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 cc) Auswertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 2. Der Gerichtshof der Europäischen Union als oberste Kontrollinstanz . 76 3. Unterstützung durch Agenturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 a) Errichtung und Organisation der Europäischen Umweltagentur . . . 79 b) Aufgabenbereich und Kompetenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 4. Ergänzung des EU-Vollzugskontrollsystems durch Netzwerke . . . . . . 82 D. Rahmenbedingungen des Unionsrechtsvollzugs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Der legislative Vollzug des Unionsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Der administrative Vollzug des Unionsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Verwaltungsvollzug im europäischen Verwaltungsverbund . . . . . . . . . 2. Die institutionelle und verfahrensmäßige Autonomie der Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Vollzugsföderalismus nach Maßgabe des Art. 291 AEUV . . . . . . . . . . a) Grammatische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die systematische Stellung des Art. 291 AEUV innerhalb des Vertragsgefüges . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die norminterne Systematik des Art. 291 AEUV . . . . . . . . . . . . . . aa) Bezug zum vertikalen Kompetenzverhältnis . . . . . . . . . . . . . . bb) Art. 291 II AEUV als verwaltungskompetenzregelnde Ausnahme  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Art. 291 AEUV als kompetenzschützende Vorrangentscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Auswertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

83 85 88 89 91 93 94 94 95 96 97 100 103

Inhaltsverzeichnis9 2. Teil

Das Vertragsverletzungsverfahren als „klassisches“ Vollzugskontrollinstrument und seine Fortentwicklung  104

A. Die Rolle des Vertragsverletzungsverfahrensfür die Durchsetzung des EUUmweltrechts: Fallbeispiele und empirischer Befund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 B. Funktionsweise und Durchsetzungskraftdes Vertragsverletzungsverfahrens . I. Das Vertragsverletzungsverfahren als Kontrollinstrument der Kommis­ sion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Verfahrensstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das Vertragsverletzungsverfahren gemäß Art. 258 AEUV: Das Erstverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die außergerichtliche Verfahrensphase: Das formelle Vorver­ fahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die gerichtliche Verfahrensphase . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das Vertragsverletzungsverfahren gemäß Art. 260 II AEUV: Das Zweitverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Stoßrichtung und Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Instrumenteller Zuschnitt und funktionale Grenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Kontrollmaßstab . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der Kontrollgegenstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Auswertung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Rechtliche und politische Durchsetzungskraft des Vertragsverletzungsverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das Vertragsverletzungsurteil  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Umfang der Befolgungspflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Das Behauptungsvermögen unionsrechtlicher Korrekturpflichten gegenüber mitgliedstaatlichen Einwänden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Finanzielle Sanktionen im Vertragsverletzungsverfahren . . . . . . . . . . . a) Pauschalbetrag und Zwangsgeld i. S. v. Art. 260 II AEUV . . . . . . . b) Berechnungsmethode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) General and persistent infringements . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Vollstreckung unionsgerichtlicher Vertragsverletzungs- und Sanktionsurteile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Staatshaftung als Sanktionsmittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Effektivitätspolitische Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Das Vertragsverletzungsverfahren als politisches und rechtliches Durchsetzungsinstrument . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Praktische Eignung für die Durchsetzung des EU-Umweltrechts . . V. Die Rolle der Kommission im Vertragsverletzungsverfahren . . . . . . . . . . 1. Einfluss auf den Verfahrensverlauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Initiativfunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Kommission als Herrin des Verfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . .

113 113 114 115 115 118 120 122 125 126 127 128 129 130 131 133 135 135 139 142 143 147 148 148 150 151 152 152 152

10 Inhaltsverzeichnis c) Rechtliche Rahmenbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 aa) Rechtspflicht zur Verfolgung einer Vertragsverletzung . . . . . . 153 bb) Prozessuale Durchsetzungsmöglichkeiten und gerichtliche Überprüfbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 cc) Ermessensreduktion und Selbstbindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 d) Exkurs: Die Rolle der Kommission im Verfahren nach Art. 259 AEUV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 2. Einfluss auf den Entscheidungsinhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 a) Einfluss auf den Inhalt des Vertragsverletzungsurteils nach Art. 260 I AEUV  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 b) Einfluss auf den Inhalt des Sanktionsurteils gemäß Art. 260 II AEUV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 3. Auswertung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 a) Investigationsaufgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 b) Kommunikationsaufgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 c) Selektionsaufgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 VI. Schwachstellen des Vertragsverletzungsverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 1. Informations- und Überwachungsdefizite . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 a) Aktive Investigation: Auskunftsrechte und Inspektionsbefugnisse . 170 b) Passive Investigation: Die Kommission als Informationsempfängerin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 aa) Mitteilungspflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 (1) Unterrichtungspflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 (2) Berichtspflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 (3) Richtlinienbezogene Mitteilungspflichten . . . . . . . . . . . . . 176 bb) Informationsbeschaffungspflichten: Staatliche Umweltüberwachungs- und Inspektionspflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 cc) Bewertung mit Blick auf das Vertragsverletzungsverfahren . . 181 2. Verfahrensbedingte Schwächen: Der Zeitfaktor . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 3. Kapazitätsgrenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 C. Fortentwicklung des Vertragsverletzungsverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die Vertragsverletzungsbeschwerde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Vertragsverletzungsbeschwerde in der Praxis: Empirischer Befund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Funktionsweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Rolle der Kommission im Verhältnis zu Beschwerdeführenden . . a) Rechtliche Grundlagen des Beschwerdeverfahrens . . . . . . . . . . . . . b) Die Vertragsverletzungsbeschwerde im Spannungsfeld zwischen Partizipationsrechten und Kommissionsermessen . . . . . . . . . . . . . . c) Die Bedeutung der Vertragsverletzungsbeschwerde für die Entwicklung des Vertragsverletzungsverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Auswertung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Das EU-Pilot-Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

187 189 191 194 197 198 200 203 204 205

Inhaltsverzeichnis11 1. Funktionsweise und Kernelemente des EU-Pilot-Verfahrens . . . . . . . . 207 a) Strukturierung der informellen Vorverfahrensphase . . . . . . . . . . . . 207 b) Digitalisierung und Technisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 c) Organisatorische Restrukturierung: Die zentralen Kontaktstellen . . 209 d) Auswertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 2. Einsatzbereich und Entwicklungsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 3. Auswertung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 III. Die Einführung des verkürzten Verfahrens gemäß Art. 260 III AEUV . . . 218 1. Funktionsweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 2. Instrumenteller Zuschnitt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 a) Anwendungsbereich des Art. 260 III AEUV . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 aa) Auslegungsschwierigkeiten und formalistische Betrachtungsweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 bb) Anwendbarkeit auf Fälle der fehlerhaften Richtlinienum­ setzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 cc) Anwendbarkeit auf Fälle der unvollständigen Richtlinienumsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 (1) Die Argumentation der Kommission . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 (2) Die Gegenposition: Rechtssicherheits- und Verhältnis­ mäßigkeitsbedenken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 (3) Auswertung und Beurteilung durch den EuGH . . . . . . . . . 229 b) Pflichtverletzung: „Maßnahmen zur Umsetzung […] mitzuteilen“ . 231 3. Die Rolle der Kommission: Rechtliche Grenzen der Ermessensausübung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 4. Auswertung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 IV. Die einstweilige Anordnung, Art. 279 AEUV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 1. Die Zulässigkeit einstweiliger Anordnungen in Vertragsverletzungsangelegenheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 2. Finanzielle Sanktionen zur Durchsetzung einstweiliger Anordnungen . 241 3. Auswertung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 D. Auswertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 I. Das Vertragsverletzungsverfahren als imperativ-kooperatives Instrument . 243 II. Das Vertragsverletzungsverfahren als rechtlich-politisches Instrument . . . 244 III. Das Vertragsverletzungsverfahren als Ausgangspunkt der Vollzugskontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246 3. Teil

Netzwerke im Bereich der Vollzugskontrolle 

247

A. Grundlagen der Netzwerkanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 I. Rezeptionsschwierigkeiten in der Rechtswissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . 252 II. Netzwerke als Bestandteil der Compliance-Assurance-Strategie der Kommission . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254

12 Inhaltsverzeichnis 1. Vorteile der Zusammenarbeit in Netzwerken: Kooperationsbedürf­ nisse von Kommission und Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 a) Grenz- und kompetenzüberschreitende Koordination . . . . . . . . . . . 255 b) Informationelle Zusammenarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 c) Austausch von Fachwissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 2. Rechtliche Rahmenbedingungen: Verortung im europäischen Verwaltungssystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 a) Das Kooperationsprinzip in der EU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 b) Verwaltungskooperation – Verwaltungsverbund – Netzwerk . . . . . 263 III. Charakteristika europäischer Netzwerkstrukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266 1. Organisatorische Merkmale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 a) Polyzentrität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 b) Heterarchie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268 2. Akteursbezogene Merkmale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 a) Entwicklungsoffenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 b) Repräsentation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270 3. Tätigkeitsbezogene Merkmale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 a) Informalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 b) Kontinuität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 c) Interdependenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 d) Technische Komponente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 4. Auswertung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 B. Netzwerke im Bereich Compliance Promotion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Compliance Promotion als Teil der Vollzugssicherungsstrategie der Kommission . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Der Begriff des „Practitioner Networks“ i. S. d. EU-Kommission . . . . . . III. Practitioner Networks im Bereich der EU-Umweltpolitik . . . . . . . . . . . . . 1. IMPEL: Der Prototyp . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Grundlagen: Von Chester nach Brüssel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Aufbau und Funktionsweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Die IMPEL a.i.s.b.l. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Die Generalversammlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Der Vorstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Expertenteams . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Netzwerkmitglieder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Die Europäische Kommission . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Das Verhältnis zwischen Kommission und IMPEL . . . . . . (2) Ausgestaltung des Kooperationsverhältnisses . . . . . . . . . . c) Arbeitsweise und Einsatz digitaler Hilfsmittel . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Arbeitsschwerpunkt und Projektorganisation . . . . . . . . . . . . . . bb) Projektbeispiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) „Sharing best practice“: Informations- und Erfahrungsaustausch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

276 276 279 281 283 285 287 288 289 289 289 292 293 293 295 297 297 298 298

Inhaltsverzeichnis13 (2) „Capacity building“ durch Wissensvermittlung . . . . . . . . . (3) „Coordinated actions“: Rechtsvollzug durch gemein­ sames Vorgehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Wirkungsdimensionen der Netzwerkzusammenarbeit . . . . . . . (1) IMPEL aus Perspektive der Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . (2) IMPEL aus Perspektive der Kommission . . . . . . . . . . . . . (a) IMPEL als Compliance-Promotion-Mechanismus . . . (b) IMPEL als Compliance-Monitoring-Mechanismus . . . (c) IMPEL als Mechanismus zur Unterstützung der Compliance Promotion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. NEPA: Das Netz europäischer Umweltbehörden . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Aufbau und Verhältnis zur EU-Kommission . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Zielsetzung und Arbeitsweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Wirkungsdimension: NEPA aus Perspektive der Kommission . . . . 3. EUFJE: Das Richterforum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Aufbau und Verhältnis zur EU-Kommission . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Zielsetzung und Arbeitsweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Wirkungsdimension: EUFJE aus Perspektive der Kommission . . . 4. EnviCrimeNet und ENPE: Netzwerke im Bereich der Umweltstrafverfolgung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) EnviCrimeNet: Europäische Polizeibeamte gegen Umweltkriminalität  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) ENPE: Europäische Staatsanwälte gegen Umweltkriminalität . . . . 5. Bestandsaufnahme: Practitioner Networks als heterogene Materie . . . IV. Auswertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Practitioner Networks als kompetenz- und ressourcenpolitische Kompromisslösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Practitioner Networks als selbsttätige Vollzugsunterstützungs­ instrumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Practitioner Networks als „quasi-marktwirtschaftliche“ Mechanismen: Angebot und Nachfrage als effektivitätsbestimmender Faktor . . 4. Kompensationspotenzial gegenüber Kompetenz- und Ressourcen­ defiziten der Kommission . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

300

C. Netzwerke im Bereich Compliance Monitoring . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Compliance Monitoring als Teil der Vollzugssicherungsstrategie der Kommission . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. EIONET: Das Europäische Umweltinformations- und Beobachtungsnetzwerk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Aufbau und Funktionsweise  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Europäische Umweltagentur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Themenspezifische Ansprechstellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Innerstaatliche Anlaufstellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Die wichtigsten Bestandteile innerstaatlicher Umweltnetzwerke und nationale Referenzzentren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

333

302 304 304 306 307 308 309 310 311 312 313 314 315 316 316 317 320 321 323 325 326 328 330 331

333 334 335 335 337 338 338

14 Inhaltsverzeichnis 2. Tätigkeit und Relevanz moderner Informations- und Kommunika­ tionstechnologien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Eingliederung in das gemeinsame Umweltinformationssystem (SEIS) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Rechtliche Grundlagen des EIONET: Entscheidungs- und Daten­ erhebungsbefugnisse der EUA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Wirkungsdimensionen der Netzwerkzusammenarbeit . . . . . . . . . . . . . . a) EIONET als Compliance-Promotion-Mechanismus . . . . . . . . . . . . b) EIONET als Mechanismus zur Unterstützung des Compliance Monitorings . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Auswertung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

340 343 345 347 349 350 352

D. Bewertung am Maßstab primärrechtlicher Grundsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355 I. Netzwerke im Lichte der Kompetenzordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 357 1. Verstoß gegen den Grundsatz des dezentralen Vollzugs . . . . . . . . . . . . 357 2. Vollzugssteuerung durch Practitioner Networks: Eine Umgehung des Grundsatzes der beschränkten Einzelermächtigung? . . . . . . . . . . . . . . 360 a) Vollzugssteuerung durch verbindliche EU-Rechtsakte . . . . . . . . . . 362 b) Vollzugssteuerung durch Soft Law . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363 c) Die Übertragbarkeit kompetenzrechtlicher Anforderungen: Netzwerk Output als verdecktes Soft Law? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 366 d) Faktische Bindungskraft des Netzwerk Outputs . . . . . . . . . . . . . . . 370 II. Legitimität und Legalität in Netzwerken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 371 1. Demokratische Legitimationsanforderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 372 a) Das Demokratieprinzip in der EU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 372 b) Demokratische Legitimationskonzepte vor dem Hintergrund Staaten und Ebenen übergreifender Behördenkooperation . . . . . . . 373 c) Demokratische Legitimation in Practitioner Networks . . . . . . . . . . 377 d) Demokratische Legitimation im EIONET . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 379 aa) Weisungsabhängigkeit als notwendige Legitimationsvoraussetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 379 bb) Andere legitimationsstiftende Faktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . 381 (1) Input-Legitimation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 381 (2) Output-Legitimation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383 cc) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 385 2. Rechtsstaatliche Legalitätsanforderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 386 a) Das Rechtsstaatsprinzip in der EU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 386 b) Rechtsstaatliche Legalität als Problem in der Netzwerkdebatte . . . 388 c) Rechtsstaatliche Legalität in Practitioner Networks . . . . . . . . . . . . 390 d) Rechtsstaatliche Legalität im EIONET . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 391 3. Perspektiven und Grenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 392 a) Practitioner Networks als langfristig vollzugsharmonisierende Kraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 392 b) Vollzugsregulierung als Entwicklungsperspektive . . . . . . . . . . . . . . 394

Inhaltsverzeichnis15 c) Rechtliche Bedenken: Das Problem der „auswärtigen Verselbst­ ständigung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 397 d) Netzwerkformalisierung am Beispiel des Gremiums Europäischer Regulierungsbehörden für Elektronische Kommunikation (GEREK) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 399 E. Auswertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 404 4. Teil

Imperative und kooperative Kontrollen als Träger des Vollzugskontrollsystems im EU-Umweltrecht: Beschreibungsmodell und Thesen 

406

A. Herausbildung einer imperativ-kooperativen Zwei-Säulen-Struktur . . . . . . . . 406 I. Imperative Durchsetzung und kooperative Problembewältigung als Säulen der Vollzugskontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 407 II. Wesensmerkmale imperativer und kooperativer Kontrollen im Vergleich . 408 1. Vollzugskontrolle in hierarchischen und heterarchischen Strukturen . . 409 2. Monopolisierte und partizipative Vollzugskontrolle . . . . . . . . . . . . . . . 411 3. Formelle und informelle Vollzugskontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 412 III. Ausbau kooperativer Elemente innerhalb der ersten Säule . . . . . . . . . . . . 414 1. Partizipation durch Vertragsverletzungsbeschwerden . . . . . . . . . . . . . . 415 2. Kooperation im informellen Vorverfahren  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 416 3. Auswirkungen auf die Zwei-Säulen-Struktur der supranationalen Vollzugskontrolle im EU-Umweltrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 418 B. Technisierung und Digitalisierung als Triebfederbeider Säulen supranationaler Vollzugskontrolle im EU-Umweltrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 419 I. Technisierung und Digitalisierung als Voraussetzung für die Entstehung und Funktionalität kooperativer Problembewältigungsmechanismen . . . . 420 1. Erschließung schneller Kommunikationswege über das Internet . . . . . 420 2. Informationsdistribution an eine Adressatenvielzahl . . . . . . . . . . . . . . . 421 3. Entwicklung innovativer technischer Hilfsmittel . . . . . . . . . . . . . . . . . 421 II. Technisierung und Digitalisierung als Antrieb des Ausbaus des Vertragsverletzungsverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 422 C. Wechselwirkungen zwischen der Entstehung von Netzwerken und der Technisierung und Digitalisierung des Vollzugskontrollsystems im EUUmweltrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 423 I. Stärkung des Kooperationsgedankens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 424 II. Stärkung der Bedeutung von Technisierung und Digitalisierung . . . . . . . 425

16 Inhaltsverzeichnis

Zusammenfassung und Ausblick 

427

I. 1. Teil – Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 428 II. 2. Teil – Das Vertragsverletzungsverfahren als klassisches Vollzugskontrollinstrument und seine Fortentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 430 III. 3. Teil – Netzwerke im Bereich der Vollzugskontrolle . . . . . . . . . . . . . . . 432 IV. 4. Teil – Imperative und kooperative Kontrollen als Träger des Vollzugskontrollsystems im EU-Umweltrecht: Beschreibungsmodell und Thesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 437 V. Ausblick  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 438 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 440 Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 461

Abbildungsverzeichnis Abbildung 1: Der Verwaltungsvollzug des Unionsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 Abbildung 2: Zum Jahresende offene Vertragsverletzungsverfahren nach Jahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 Abbildung 3: Neu eröffnete Vertragsverletzungsverfahren nach Jahren . . . . . 111 Abbildung 4: Ende 2020 offene Vertragsverletzungsverfahren nach Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 Abbildung 5: Vertragsverletzungsverfahren nach Beendigungsstadium . . . . . . 125 Abbildung 6: Wirkungsdimension finanzieller Sanktionen nach Art. 260 II AEUV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 Abbildung 7: Neue Beschwerden nach Jahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 Abbildung 8: Entwicklung des Vertragsverletzungsverfahrens mit dem EUPilot-Projekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 Abbildung 9: Wirkungsdimension finanzieller Sanktionen nach Art. 260 III AEUV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 Abbildung 10: Organisationsstruktur der IMPEL a.i.s.b.l. . . . . . . . . . . . . . . . . . 288 Abbildung 11: EIONET-Struktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339

Abkürzungsverzeichnis ACER

Agency for the Cooperation of Energy Regulators

AECEN

Asian Environmental Compliance and Enforcement Network

AELERT

Australasian Environmental Law Enforcement and Regulators Network

a.i.s.b.l.

associacion internationale sans but lucrativ

ANECE

Arab Network for Environmental Compliance and Enforcement

AöR

Anstalt des öffentlichen Rechts

BEREC

Body of European Regulators for Electronic Communications

BISE

Biodiversity Information System for Europe

BMUV

Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, Nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz

BMWi

Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie

BNetzA Bundesnetzagentur CCAD

Comisión Centroamericana de Ambiente y Desarollo

CEC

Commission for Environmental Cooperation

CHAP

Complaint handling/Accueil des plaignants

CMLR

Common Market Law Review

DG IPOL

Directorate-General for Internal Policies

DNR

Deutscher Naturschutzring

DÖV

Die öffentliche Verwaltung

DVBl

Deutsches Verwaltungsblatt

EANECE

East African Network for Environmental Compliance and Enforcement

EASME

Executive Agency for Small and Medium-sized Enterprises

EBA

European Banking Authority

ECAS

European Citizen Action Service

ECENA

Environmental Compliance and Enforcement Network for Accession

ECN

European Competition Network

EEB

European Environmental Bureau

EEELRev

European Energy and Environmental Law Review

EFEH

European Federation of Environmental Health

EFTA

European Free Trade Association

Abkürzungsverzeichnis19 EIONET

European Environment Information and Observation Network

EIPPCB

European Integrated Pollution Prevention and Control Bureau

EJPR

European Journal of Political Research

EJRR

European Journal of Risk Regulation

EL Ergänzungslieferung ELJ

European Law Journal

Elni

Environmental Law Network International

ELRev

European Law Review

ENPE

European Network of Prosecutors for the Environment

EnviCrimeNet

European Network for Environmental Crime

EnvPL

Environmental Policy and Law

EP

Europäisches Parlament

EPA

Environmental Protection Agency

EPL

European Public Law

ERA

Europäische Rechtsakademie

ERG

European Regulators Group

ESMA

European Securities and Markets Authority

ETC

European Topic Center

EU

Europäische Union

EUA

Europäische Umweltagentur

EUFJE

European Union Forum of Judges for the Environment

EuGH

Europäischer Gerichtshof

EuGRZ

Europäische Grundrechte Zeitschrift

EuR

Europarecht (Zeitschrift)

EUROJUST

European Union Agency for Criminal Justice Cooperation

Europol

Europäische Polizeiamt

EUROSAI

European Organization of Supreme Audit Institutions

EUROSTAT

European Statistical Office

EurUP

Zeitschrift für europäisches Umwelt- und Planungsrecht

EuZW

Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht

EWR

Europäischer Wirtschaftsraum

FFH Fauna-Flora-Habitat FRONTEX

frontières extérieures

GD CLINA

Generaldirektion Klimapolitik

GD ENTR

Generaldirektion für Unternehmen und Industrie

GD ENV

Generaldirektion Umwelt

GEREK

Gremium Europäischer Regulierungsbehörden für Elektronische Kommunikation

20 Abkürzungsverzeichnis HanseLRev

Hanse Law Review

ICG

IMPEL Communications Group

IEEP

Institute for European Environmental Policy

IG

Interest Groups

IMPEL

European Union Network for the Implementation and Enforcement of Environmental Law

IMPEL-ESIX

IMPEL-Enforcement and Stakeholders Information exchange

INECE

International Network for Environmental Compliance

INTERPOL

International Criminal Police Organization

IO

International Organization

IPEC

Intelligence Project on Environmental Crime

IRG

Independent Regualtors Group

IRI

IMPEL Review Initiative

i. S. v.

im Sinne von

i. V. m.

in Verbindung mit

JCMS

Journal of Common Market Studies

JEEPL

Journal for European Environmental & Planning Law

JEI

Journal of European Integration

JEPP

Journal of European Public Policy

JITE

Journal of Institutional and Theoretical Economics

JPP

Journal of Public Policy

JuS

Juristische Schulung

JWT

Journal of World Trade

JZ Juristenzeitung KOM

Europäische Kommission

KONV

Europäischer Konvent

MCE

Main Component Elements

MoU

Memorandum of Understanding

m. w. N.

mit weiteren Nachweisen

NECEMA

Maghreb Enforcement Network

NEPA

Network of the Heads of Environment Protection Agencies

NFP

National Focal Points

NGO Non-Government-Organisation NJW

Neue Juristische Woche

NL-BzAR

Neue Landwirtschaft – Briefe zum Agrarrecht

NRC

National Reference Center

NuR

Natur und Recht

NVwZ

Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht

Abkürzungsverzeichnis21 OECD PREVENT REACH

Organisation for Economic Co-operation and Development Portal for Environmental Enforcers Registration, Evaluation, Authorisation and Restriction of Chemicals RED-LAFICA Red Latinoamericana de Fiscalización y Cumplimiento Ambiental REFIT Regulatory Fitness and Performance Programme REPIN Regulatory Environmental Programme Implementation Network RFDA Revue française de droit administratif RMCEI Recommendation providing for minimum criteria for environmental inspections in the Member States ROD Reporting Obligation Database Rs. Rechtssache SPIDER WEB Strategic Project to Increase the Detection and Disruption of Environmental Crime in the Western Balkans StW/StP Staatswissenschaften und Staatspraxis SWEAP Shipment of Waste Enforcement Actions Project TARN The Academic Research Network TJPP The Journal of Political Philosophy UAST Urban Adaption Support Tool UBA Umweltbundesamt ULRev Utrecht Law Review UNECE United Nations Economic Commission for Europe UNEP Judges Programme of the United Nations Environmental Programme UTR Jahrbuch des Umwelt- und Technikrechts UVP Umweltverträglichkeitsprüfung VBlBW Verwaltungsblatt Baden-Württemberg VJIL Virginia Journal of International Law VVDStRL Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer WEP Western European Policy WiVerw Wirtschaft und Verwaltung WRP Wettbewerb in Recht und Praxis WuW Wirtschaft und Wettbewerb WWF World Wide Fund for Nature YIEL Yearbook of International Environmental Law ZaöRV Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht ZUR Zeitschrift für Umweltrecht

Einleitung Beinahe ein halbes Jahrhundert ist vergangen, seit die Europäischen Gemeinschaften ihr allererstes Umweltaktionsprogramm1 verabschiedet haben. Vor mehr als 30 Jahren wurde der Umweltschutz durch die Einheitliche ­Europäische Akte2 an exponierter Stelle im primärrechtlichen Rahmen der ­damaligen EWG verankert (vgl. heute Art. 3 EUV sowie Art. 11, 192–193 AEUV).3 Seither ist der Umweltschutz kontinuierlich ins Zentrum politischer Aufmerksamkeit vorgerückt. Kaum ein anderes Rechtsgebiet hat auf Rechtssetzungsebene vergleichbar große Fortschritte gemacht. Um die Qualität der Umwelt europaweit zu verbessern, die menschliche Gesundheit zu schützen, einen nachhaltigen Umgang mit natürlichen Ressourcen zu erreichen und zur Bewältigung globaler Umwelt- und Klimaprobleme beizutragen, haben EU und Mitgliedstaaten in den vergangenen Jahren eine Vielzahl von Rechts­ akten erlassen und politische Initiativen auf lokaler, regionaler, nationaler und internationaler Ebene ins Leben gerufen.4 Heute umfasst der EU-Acquis im thematisch weitläufigen Umweltsektor weit mehr als 200 Rechtsakte, u. a. in den Bereichen Gewässerschutz, Abfallwirtschaft, Luftqualität, Klimawandel, Naturschutz und Chemikalienmanagement.5 Schätzungen der Kommission zufolge bilden diese Rechtsakte die Grundlage für etwa 80 % aller natio­ nalen Umweltschutzbestimmungen.6 Zu Recht wird das EU-Umweltrecht in der Literatur daher als „Erfolgsgeschichte“ gefeiert, deren normative Entfaltung auf ihrem vorläufigen Höhepunkt steht.7 Zwar wurden die Europäischen Gemeinschaften ursprünglich als „Rechtsetzungsgemeinschaften“ konzipiert.8 Die Schaffung rechtlicher Vorgaben 1  Erklärung des Rates der Europäischen Gemeinschaften und der im Rat Vereinigten Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten vom 22. November 1973 über ein Aktionsprogramm der Europäischen Gemeinschaften für den Umweltschutz, ABl. 1973, Nr. C 112, S. 1 ff. 2  Einheitliche Europäische Akte, ABl. 1987, Nr. L 169, S. 1 ff. 3  Hedemann-Robinson, EEELRev 2015, 115 (115). 4  Zaelke/Markowitz/Koparova, in: Hale/Held, Hdb. of Transnational Governance, 2011, S. 94. 5  Hedemann-Robinson, EEELRev 2015, 115 (115). 6  Hedemann-Robinson, EEELRev 2015, 115 (115); dazu auch: Hoppe, EuZW 2009, 168 (168 f.). 7  Wegener, ZUR 2009, 459 (459). 8  Ludwigs, NVwZ 2018, 1417 (1419).

24 Einleitung

stellt jedoch nur eine Seite der Medaille dar. An den Erlass jedes normativen Rechtsakts schließt sich die Frage an, ob und wie er auf mitgliedstaatlicher Ebene wirksam vollzogen werden kann. Solange Umweltschutzbestimmungen in der Praxis nicht so umgesetzt und angewandt werden, wie vom legislativen Entscheidungsträger vorgesehen, bleiben Gesetze nur Worte auf Papier.9 Sollen kurz- oder langfristige Verbesserungen der europäischen Umwelt erreicht werden, bedarf es dazu mehr – nämlich der vollständigen Implementation politischer Maßnahmen und der effektiven Einbeziehung von Umweltbelangen in diejenigen Politikbereiche, die am meisten zur Belastung der Umwelt beitragen.10

I. Der Vollzug des EU-Umweltrechts als neuralgischer Punkt Die den Mitgliedstaaten obliegenden Verpflichtungen aus dem vorrangig geltenden Unionsrecht sind für die Politik und den Bestand der EU von konstitutiver Bedeutung. Ihre Wirksamkeit hängt maßgeblich davon ab, dass alle Mitgliedstaaten dem EU-Recht zuverlässig und unverfälscht mit Wirkung für alle Bürgerinnen und Bürger zur Geltung verhelfen.11 Zwar mag sich der umweltpolitische Normbestand in den letzten Jahren stark weiterentwickelt haben, der Vollzugsbereich blieb jedoch weit dahinter zurück.12 Eine 2009 durchgeführte Studie ergab, dass etwa 19 % aller grenzüberschreitenden Abfalltransporte in der Union illegal seien.13 Angaben der Kommission zufolge lebten 2012 20 % bis 50 % der EU-Bevölkerung in Regionen, in denen die europäischen Luftqualitätsgrenzwerte überschritten werden und Gesundheitsausgaben oder verlorene Arbeitstage Kosten in Milliardenhöhe verursachen.14 Um ein wirklich neues Problem handelt es sich dabei nicht. Bereits in ihrem 8. Jahresbericht über die Kontrolle der Anwendung des Gemeinschaftsrechts aus dem Jahr 1990 musste die Kommission feststellen, dass „eine Umsetzung innerhalb der in den Richtlinien vorgeschriebenen Fristen im Grunde die 9  Hedemann-Robinson, EEELRev 2015, 115 (115); Hedemann-Robinson, Enforcement of European Union Environmental Law, 2. Edition 2015, S. 44. 10  EUA, Die Umwelt in Europa: Zustand und Ausblick 2015: Synthesebericht, 2015, S. 15, abrufbar unter: https://www.eea.europa.eu/soer/2015/synthesis/die-um welt-in-europa-zustand (Stand: 14.2.2023). 11  Everling, in: Depenheuer/Heintzen u. a., FS Isensee, 2007, S. 775. 12  Hedemann-Robinson, EEELRev 2015, 115 (116). 13  Hedemann-Robinson, EEELRev 2015, 115 (116). 14  KOM, Mitteilung an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen – Konkretere Vorteile aus den Umweltmaßnahmen der EU: Schaffung von Vertrauen durch mehr Information und größere Reaktionsbereitschaft der Behörde, 7.3.2012, KOM(2012) 95 final, S. 3.

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Ausnahme ist“.15 1993 konstatierte Lübbe-Wolff, dass Vollzugsdefizite im Umweltrecht zu einem „Kernproblem avanciert“ seien.16 In der Literatur wurde in diesem Zusammenhang sogar vom „dunkle[n] Kapitel des Voll­ zugs“17 als „Schattenseite der Bilanz zur Verwirklichung des Binnenmarktes“18 gesprochen. Mit der Identifikation des wirksamen Vollzugs europäischer Umweltbestimmungen als neuralgischen Punkt für die Erreichung der supranationalen Umweltziele gewann auch die Frage nach der Sicherstellung ihrer Umsetzung und Anwendung durch staatliche Vollzugsakteure an Bedeutung. Zwar wurde zutreffend erkannt, dass auch eine Rechtsordnung, die auf dem Willen der Rechtsunterworfenen beruht, ohne Sanktionen nicht überlebensfähig sei.19 Dennoch begegneten die Mitgliedstaaten dem Ausbau europäischer Überwachungs- und Durchsetzungskompetenzen und dem damit verbundenen Eingriff in den Kern ihrer Souveränität mit Ablehnung,20 so dass etwa die Einrichtung eines supranationalen Umweltinspektorats scheiterte.21 Da auf staatlicher Ebene starke politische Kräfte wirken, die Gemeinschaftsinteressen in den Hintergrund zu drängen drohen, lag jedoch auf der Hand, dass die Kontrolle der Einhaltung unionsrechtlicher Umweltvorgaben nicht allein den Mitgliedstaaten überlassen werden konnte. Nicht nur bestünde die Gefahr, dass europäische Interessen nationalen Interessen untergeordnet werden könnten, auch Auseinandersetzungen zwischen den Mitgliedstaaten wären vorprogrammiert. Mitgliedstaaten würden die Erfüllung unionsrechtlicher Verpflichtungen möglicherweise vom Verhalten anderer Mitgliedstaaten abhängig machen, so dass letzten Endes sogar der Konsens, auf dem die EU selbst beruht ins Wanken geriete.22 Art. 17 I 2, 19 I 2 EUV, die den Unionsorganen die Aufgabe zuweisen, für die Durchführung des EU-Rechts aus 15  KOM, Achter Jahresbericht an das Europäische Parlament über die Kontrolle der Anwendung des Gemeinschaftsrechts – 1990, 16.10.1991, KOM(91) 321 final, S. 283. 16  Lübbe-Wolff, NuR 1993, 217 (217). 17  Pernice, NVwZ 1990, 414 (423); Wegener, ZUR 2009, 459 (463). 18  Calliess, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 6. Auflage 2022, Art. 192 AEUV Rn. 38; Wegener, in: Terhechte, Verwaltungsrecht in der EU, 2. Auflage 2022, § 36 Rn. 77. 19  van Gerven/Zuleeg, Sanktionen als Mittel zur Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts, 1996, S. 11; Thiele, EuR 2008, 320 (320). 20  Everling, in: Depenheuer/Heintzen u. a., FS Isensee, 2007, S. 774; Martens, JEI 2008, 635 (640). 21  Vgl. dazu: von Borries, in: Ipsen/Stüer, FS Rengeling, 2008, S. 502; HedemannRobinson, Enforcement of European Union Environmental Law, 2. Edition 2015, S. 73; Scherer/Heselhaus, in: Dauses/Ludwigs, Hdb. des EU-Wirtschaftsrechts, 53. EL 2021, O. Rn. 204. 22  Everling, in: Depenheuer/Heintzen u. a., FS Isensee, 2007, S. 775.

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supranationaler Perspektive Sorge zu tragen, ist vor diesem Hintergrund als ausgesprochen rationale Entscheidung der Vertragsstaaten zu werten.

II. Die Entwicklung des EU-Vollzugskontrollsystems als dynamischer Prozess Auch wenn unter den Mitgliedstaaten ein grundlegender Konsens über die Notwendigkeit eines Kontrollsystems auf EU-Ebene erzielt werden konnte, hat sich die Schaffung und Gestaltung eines entsprechenden Kontrollinstrumentariums für die Unionsorgane doch als langwierige und anspruchsvolle Aufgabe erwiesen. Bis heute ist das supranationale Vollzugskontrollsystem eine Baustelle, die vor allem von der Kommission bearbeitet wird.23 Im 7. Umweltaktionsprogramm wurde die Maximierung der Vorteile aus dem Umweltrecht der Union durch verbesserte Umsetzung u. a. durch eine Stärkung des Überprüfungs- und Überwachungssystems ausdrücklich zum Ziel für den Zeitraum zwischen 2013 und 2020 erklärt.24 Noch 2016 bemängelte die Kommission allerdings das Fehlen eines strategischen Kontrollansatzes.25 Eine umfassende Compliance-Assurance-Strategie, veröffentlichte sie erst 2018 im Rahmen ihres Aktionsplans für einen besseren Vollzug des Umweltrechts und eine bessere Umweltordnungspolitik (im Folgenden: Aktionsplan 2018).26 Doch auch wenn die Kommission damit letzten Endes Aufschluss über die strategischen Grundlagen der EU-Vollzugskontrolle gegeben hat, bleiben die Details des zur Verfügung stehenden Instrumentariums doch weitgehend im Dunkeln.27 Dies liegt vor allem daran, dass abgesehen vom primärrechtlich geregelten Vertragsverletzungsverfahren gemäß Art. 258 ff. AEUV kaum verbindliche Rechtsakte existieren, die die Schaffung und Funktionsweise unionseigener Kontrollinstrumente zum Gegenstand haben. Soweit die Kommission das supranationale Vollzugskontrollinstrumentarium EEELRev 2015, 115 (116). Nr. 65 des Beschlusses Nr. 1386/2013/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. November 2013 über ein allgemeines Umweltaktionsprogramm der Union für die Zeit bis 2020 „Gut leben innerhalb der Belastbarkeitsgrenzen unseres Planeten“, ABl. 2013, Nr. L 354, S. 171 ff. 25  KOM, Mitteilung an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen, Sicherung der Vorteile aus der EU-Umweltpolitik durch regelmäßige Umsetzungskontrollen, 27.5.2016, COM(2016) 316 final, S. 4. 26  KOM, Mitteilung an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen – Aktionsplan der EU für einen besseren Vollzug des Umweltrechts und eine bessere Umweltordnungspolitik, 18.1.2018, COM(2018), 10 final. 27  Smith, in: Drake/Smith, New Directions in the Effective Enforcement of EU Law and Policy, 2016, S. 45 ff. 23  Hedemann-Robinson, 24  Vgl.

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in den vergangenen Jahren ausgebaut hat, geschah dies weitgehend unabhängig vom Unionsgesetzgeber, unter Rückgriff auf das gleichermaßen flexible wie unverbindliche Medium der Mitteilungen.28 Die Fortentwicklung des EU-Vollzugskontrollsystems ist vor diesem Hintergrund als dynamischer Prozess zu sehen, in dessen Rahmen ständig auf neue Probleme und bestehende Schwächen reagiert wird. Gleichzeitig werden effektivitätspolitische Bewertungen jedoch durch eine fragmentarische Informationspolitik und eine damit einhergehende Intransparenz erschwert. Veröffentlichungen und Studien, die sich mit dem Spektrum der von der Kommission geschaffenen Kontrollinstrumente befassen, sind selten und erheben nicht den Anspruch, abschließend zu sein.29 Ein Kontrollmechanismus, der seit dem 5. Umweltaktionsprogramm in den Veröffentlichungen der Unionsorgane wiederkehrende Erwähnung gefunden hat30 und somit aus dem undurchsichtigen, aber wohl weiten Feld suprana­ tionaler Kontrollen „ins Licht getreten ist“, ist die Zusammenarbeit in europaweit aktiven Netzwerken, die sich die Verbesserung des EU-Umweltrechtsvollzugs in den Mitgliedstaaten zum Ziel gesetzt haben. Die Entstehung von Netzwerken ist ein Phänomen, das sich seit den frühen 1990er-Jahren in allen Politikbereichen beobachten lässt. Zweifellos zählt der Umweltsektor heute aber zu den am stärksten vernetzten Bereichen.31 Die Schaffung eines EG-Umweltvollzugsnetzwerks wurde erstmals im Rahmen einer Studie des niederländischen Umweltministeriums zum Aufbau und zur Funktionsweise der Umweltvollzugsbehörden in den Mitglied28  Vgl. etwa den Vorschlag zur Einführung des EU-Pilot-Verfahrens, in: KOM, Mitteilung, Ein Europa der Ergebnisse – Anwendung des Gemeinschaftsrechts, 5.9.2007, KOM(2007) 502 endg., S. 8 f. 29  Eine relativ umfangreiche Darstellung findet sich bei: DG IPOL, Tools for ­Ensuring Implementation and Application of EU Law and Evaluation of their Effectiveness – Study, 2013, S. 38 ff., abrufbar unter: https://www.europarl.europa.eu/Reg Data/etudes/etudes/join/2013/493014/IPOL-JURI_ET(2013)493014_EN.pdf (Stand: 14.2.2023). 30  Kapitel 9 ii) 5. Umweltaktionsprogramm, Ein Programm der Europäischen Gemeinschaft für Umweltpolitik und Maßnahmen im Hinblick auf eine dauerhafte und umweltgerechte Entwicklung, ABl. 1993, Nr. C 138, S. 80; seither z. B. auch erwähnt in: KOM, Mitteilung, Durchführung des Umweltrechts in der Gemeinschaft vom 22.10.1996, KOM(96) 500 endg., S. 23 ff.; KOM, Mitteilung – EU-Recht: Bessere Ergebnisse durch bessere Anwendung, 21.12.2016, COM(2016) 8600 final S. 5 ff.; KOM, Mitteilung an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen – Aktionsplan der EU für einen besseren Vollzug des Umweltrechts und eine bessere Umweltordnungspolitik, 18.1.2018, COM(2018), 10 final, S. 7. 31  Levi-Faur, JEPP 2011, 810 (823); Migliorati, The Commission as a network administrator in EU multi-level governance?, TARN Working Paper 6/2017, S. 4.

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staaten aus dem Jahr 1991 vorgeschlagen,32 um die grenzüberschreitende Zusammenarbeit zu fördern und gleichberechtigte Kontakte zwischen nationalen Vollzugsakteuren herzustellen, die in diesem Rahmen Arbeitserfahrungen austauschen, neue Umweltschutzmodelle diskutieren und so innovativen Vollzugs- und Kontrollstrategien, ausgehend von der mitgliedstaatlichen Ebene, den Weg bereiten sollten.33 Heute existiert weit mehr als nur ein einziges Netzwerk, das sich mit dem Vollzug des EU-Umweltrechts befasst. So benannte die Kommission allein in ihrem Aktionsplan 2018 neben dem generell auf administrative Vollzugsakteure angelegten Netzwerk der Europäischen Union für die Implementation und Durchsetzung des Umweltrechts (engl.: European Union Network for the Implementation and Enforcement of Environmental Law; IMPEL) auch speziellere Netzwerke für Polizei­ beamte (EnviCrimeNet), Staatsanwälte (ENPE), und Richter (EUFJE).34 Darüber hinaus wurde unter maßgeblicher Beteiligung der Europäischen Umweltagentur mit dem Europäischen Umweltinformations- und Beobachtungsnetzwerk (engl.: European Environment Information and Observation Network; EIONET) sogar ein sekundärrechtlich institutionalisiertes Netzwerk geschaffen.35 Dass kooperative Strukturen einen wesentlichen Bestandteil, nicht nur des nationalen Vollzugs, sondern auch des supranatio­ nalen Vollzugskontrollsystems darstellen, lässt sich vor diesem Hintergrund kaum in Zweifel ziehen. Doch auch wenn die Kommission die Bedeutung des Kooperationsgedankens als entscheidendes Element für eine effektive Vollzugssicherung mehrfach betont hat,36 erscheint es auf den ersten Blick 32  Dazu: Werner, in: Lübbe-Wolff, Der Vollzug des europäischen Umweltrechts, 1996, S. 131. 33  Martinius/Mastenbroek, EJRR 2019, 485 (485); Werner, in: Lübbe-Wolff, Der Vollzug des europäischen Umweltrechts, 1996, S. 137. 34  KOM, Mitteilung an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen – Aktionsplan der EU für einen besseren Vollzug des Umweltrechts und eine bessere Umweltordnungspolitik, 18.1.2018, COM(2018), 10 final, Fn. 15. 35  Geregelt in: Art. 2 a), 4 Verordnung (EG) Nr. 401/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. April 2009 über die Europäische Umweltagentur und das Europäische Umweltinformations- und Umweltbeobachtungsnetz, ABl. 2009, Nr. L 126, S. 14 f. 36  Vgl. etwa: KOM, Mitteilung, Durchführung des Umweltrechts in der Gemeinschaft vom 22.10.1996, KOM(96) 500 endg., S. 22 ff.; KOM, Mitteilung – Ein Europa der Ergebnisse – Anwendung des Gemeinschaftsrechts, 5.9.2007, KOM(2007) 502 endg., S. 2; KOM, Mitteilung – EU-Recht: Bessere Ergebnisse durch bessere Anwendung, 21.12.2016, COM(2016) 8600 final S. 4 ff.; KOM, Mitteilung an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen – Aktionsplan der EU für einen besseren Vollzug des Umweltrechts und eine bessere Umweltordnungspolitik, 18.1.2018, COM(2018), 10 final, S. 1.

Einleitung29

ungewöhnlich, die Zusammenarbeit in Netzwerken mit dem Erfordernis einer europäischen Kontrolle über die Mitgliedstaaten in Verbindung zu bringen. Dies gilt zumindest, wenn man dem Kontrollgedanken ein durch traditionell hierarchische Aufsichtsstrukturen geprägtes, imperatives Verständnis zugrunde legt. Die Idee, europaweit aktive Netzwerke zur Verbesserung des EU-Umweltrechtsvollzugs und seiner Kontrolle zu bilden, sollte vor allem eine souve­ ränitätsschonende „weichere“ Alternative zur Übertragung „harter“ Über­ wachungs- und Durchsetzungskompetenzen auf die supranationale Ebene bieten.37 Soweit sich die Mitgliedstaaten im Umweltsektor weigerten, europäischen Institutionen Kontrollbefugnisse zuzugestehen, blieb die Überwachung und Durchsetzung des EU-Umweltrechts ihrem Verantwortungsbereich überlassen. Da Vollzugskontrolle auf nationaler Ebne aber nicht ausreichen kann, um die unverfälschte und wirksame Umsetzung und Anwendung unionsrechtlicher Vorgaben sicherzustellen, erzeugte das mitgliedstaatliche Souveränitätsdenken eine regulatory gap zwischen den politischen Ambitionen der EU und der nationalen Vollzugswirklichkeit, die anstatt mit imperativ ausgerichteten Inspektionen und Durchsetzungsmechanismen nunmehr im Wege kooperativer Mechanismen geschlossen werden sollte.38 Die Bildung von Netzwerken lässt sich somit als Reaktion bzw. als „Antwort auf das mitgliedstaatliche Bedürfnis, gemeinsame Probleme zu lösen, ohne sich der Macht supranationaler Institutionen zu ergeben“ verstehen.39 Während Netzwerke als Triebfeder politischer Initiativen40 und Bestandteil des europäischen Verwaltungsverbunds41 in der Rechtswissenschaft relativ umfassend diskutiert wurden, wurde ihrer Rolle im Vollzugskontrollsystem der EU bisher wenig Beachtung geschenkt. Beiträge zum wissenschaftlichen Diskurs finden sich vorwiegend in der englischsprachen Fachliteratur unter den Begriffen implementing networks42 bzw. enforcement networks43. In der 37  Vgl. Blauberger/Rittberger, Regulation & Governance 2015, 367 (368 f.); Martens, JEI 2008, 635 (640). 38  Eberlein/Grande, JEPP 2005, 89 (91); Martinius/Mastenbroek, EJRR 2019, 485 (485 f.); Mastenbroek/Martinsen, JEPP 2018, 422 (422). 39  Martinius/Mastenbroek, EJRR 2019, 485 (486). 40  Vgl. etwa: Maggetti, WEP 2014, 497 (497 ff.); Ward/Williams, JCMS 1997, 439 (439 ff.). 41  Vgl. etwa: Pache, VVDStRL 2007, 106 (132 ff.); Sommer, in: Schmidt-Aßmann/ Schöndorf-Haubold, Der Europäische Verwaltungsverbund, 2005, S. 69 ff.; Sydow, Verwaltungskooperation in der EU, 2004, S. 78 ff.; Weiß, Der Europäische Verwaltungsverbund, 2010, S. 60 ff., 85 ff. 42  Mastenbroek/Martinsen, JEPP 2018, 422 (423 f.). 43  Pink, in: Faure/De Smedt/Stas, Environmental Enforcement Networks, 2015, S. 20.

30 Einleitung

deutschsprachigen Netzwerkdebatte blieb das Thema eher randständig.44 Die ältere Rechtswissenschaft konzentrierte ihre Untersuchungen zum Vollzugskontrollsystem der EU regelmäßig auf das in Art. 258 ff. AEUV normierte Vertragsverletzungsverfahren.45

III. Ziel der Arbeit und Gang der Untersuchungen Vollzugskontrolle ist heute ein zentrales Thema der EU-Politik,46 das Unionsorgane und nationale Entscheidungsträger speziell im Umweltbereich vor enorme Herausforderungen stellt. Im Spannungsfeld zwischen nationalen Souveränitätsvorbehalten, unionsrechtlichen Loyalitätspflichten, anspruchsvollen Umweltzielen und praktischen Kapazitätsgrenzen wurde das EUVollzugskontrollsystem in den vergangenen Jahren stetig ausgebaut und mit neuen strategischen Ansätzen angereichert. Im Rahmen dieser Arbeit soll die Entwicklung des supranationalen Vollzugskontrollsystems unter besonderer Berücksichtigung seiner Ergänzung durch die Entstehung und Einbeziehung europaweit aktiver Netzwerke im Umweltsektor analysiert und im Hinblick auf ihre Vereinbarkeit mit dem primärrechtlichen Rahmen der EU bewertet werden. Ziel der Arbeit ist es, dieses in der deutschen Rechtswissenschaft bisher wenig bearbeitete Themengebiet zu erschließen und weiterführenden Untersuchungen zugänglich zu machen. Im ersten Teil werden zu diesem Zweck die rechtlichen und organisatorischen Grundlagen der EU-Vollzugskontrolle und des Umweltrechtsvollzugs als Bezugsobjekt des supranationalen Kontrollinstrumentariums dargestellt. Um eine Brücke zur älteren Fachliteratur zu schlagen, werden im zweiten Teil die Funktionen und Schwächen des Vertragsverletzungsverfahrens analysiert, das im Vollzugskontrollsystem der EU die einzig primärrechtlich verankerte, feste Größe darstellt und somit als „klassisches“ Vollzugskon­ trollinstrumentarium den Ausgangspunkt kontrollpolitischer Überlegungen bildet. Besondere Beachtung kommt dabei den Initiativen und Hilfsinstrumenten zu, die entwickelt wurden, um das Vertragsverletzungsverfahren effektiver und aufgabengerechter zu gestalten. Die Bedeutung europaweit ak44  Thematisiert etwa bei: Werner, in: Lübbe-Wolff, Der Vollzug des europäischen Umweltrechts, 1996, S. 131 ff.; angeschnitten immerhin bei: Sach/Simm, in: Rengeling, Hdb. zum europäischen und deutschen Umweltrecht, Bd. I, 2. Auflage 2003, § 44 Rn. 68 ff. 45  Vgl. etwa: Albin, Die Vollzugskontrolle des europäischen Umweltrechts, 1999, S.  264 ff.; Ehlermann, in: Capotorti, Liber Amicorum Pierre Pescatore, 1987, S.  208 ff.; Macrory, CMLR 1992, 347 (351 ff.); Sach/Simm, in: Rengeling, Hdb. zum europäischen und deutschen Umweltrecht, Bd. I, 2. Auflage 2003, § 44 Rn. 14 ff. 46  So bereits 1999: Albin, Die Vollzugskontrolle des europäischen Umweltrechts, 1999, S. 33.

Einleitung31

tiver Netzwerke als Ergänzung des EU-Vollzugskontrollinstrumentariums im Umweltsektor wird im dritten Teil thematisiert. Hier sollen zunächst das Phänomen der Netzwerkbildung sowie Aufbau und Funktionsweise der wichtigsten umweltrelevanten Netzwerke einer genauen Betrachtung unterzogen werden. Weiterhin wird im dritten Teil analysiert, ob sich die Einbeziehung europaweit aktiver Netzwerke als kooperative Mechanismen der Vollzugskontrolle mit primärrechtlichen Grundsätzen vereinbaren lässt. Aufbauend auf den Ergebnissen dieser Untersuchungen befasst sich der vierte Teil am Ende dieser Arbeit mit den Fragen, wie die Ergänzung durch Netzwerke das supranationale Vollzugskontrollsystem in seiner Gesamtheit umgestaltet hat, welcher Stellenwert der Zusammenarbeit in Netzwerken gegenüber dem „klassischen“ Vertragsverletzungsverfahren im EU-Umweltrecht heute zukommt und welche Faktoren als treibende Kräfte auf diese Entwicklung hingewirkt haben.

1. Teil

Grundlagen Die EU ist „in dreifacher Hinsicht ein Phänomen des Rechts: Sie ist Schöpfung des Rechts, sie ist Rechtsquelle und sie ist Rechtsordnung.“1 So beschrieb Hallstein 1969 die europäische Integration und prägte damit den Begriff der Europäischen Rechtsgemeinschaft, wie er in der heutigen Rechtswissenschaft als fundamentales Konzept verankert ist.2 Zwar wird der Gedanke von der Europäischen Rechtsgemeinschaft vor dem Hintergrund fortgesetzter Rechtsverstöße und sensibler Konfliktsituationen, etwa um den Austritt Großbritanniens aus der EU, die Flüchtlings- oder die Finanzkriese bisweilen für zu eng erachtet, um die europäische Integration in ihrem aktuellen, hochpolitischen Entwicklungsstadium noch zutreffend beschreiben zu können.3 In seinem Kern steht der Begriff jedoch in engem Zusammenhang mit der „Rechtsstaatlichkeit im europäischen Rechtsraum“, die mit Blick auf die fortgeschrittene Konstitutionalisierung der EU-Verträge und die Bedeutung des Rechtsstaatsprinzips als gemeinsamem Verfassungsgrundsatz in allen Mitgliedstaaten die Grundlage und den Rahmen politischer Auseinandersetzungen bildet.4 Obwohl der EU selbst keine Staatsqualität zukommt, zählt sie die Rechtsstaatlichkeit zu ihren grundlegenden Werten (vgl. Art. 2 EUV),5 die es Unionsorganen und Mitgliedstaaten gleichermaßen gebieten, supranationale Rechtsakte zu befolgen bzw. für ihre Befolgung Sorge zu tragen. Zwar mag die Existenz der Union selbst auf einer vertraglichen Grundlage und damit auf dem Konsens der Mitgliedstaaten beruhen, so dass prinzipiell vom Vorhandensein einer Bereitschaft, europäische Vorgaben einzuhalten ausgegangen werden kann. In der Praxis ist die effektive Durchführung des Unionsrechts aber doch auf den Bestand eines wirkungsvollen „Vollzugs- und Sicherungssystems“ angewiesen, das die Kontrolle und Sanktionierung aller Vollzugsvorgänge ermöglichen muss.6 Der unvollendete Bundesstaat, 1969, S. 33. dazu: Mayer, NJW 2017, 3631 (3633). 3  von Bogdandy, EuR 2017, 487 (488 ff.). 4  Mayer, NJW 2017, 3631 (3634 ff.). 5  Calliess, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 6. Auflage 2022, Art. 2 EUV Rn. 26. 6  Appel, DVBl 1995, 280 (280). 1  Hallstein, 2  Vgl.



1. Teil: Grundlagen33

Im Bereich der EU-Umweltpolitik dauerte es eine Weile, bis neben dem Erlass normativer Rechtssätze auch ihrem Vollzug bzw. dessen Kontrolle politische Aufmerksamkeit geschenkt wurde. In den 1950er- und 60er-Jahren zählte der Schutz der Umwelt noch nicht einmal zu den Zielen der Europäischen Gemeinschaften. Ein umweltpolitisches Aktionsprogramm wurde erstmals 1971 gefordert. Noch bevor mit Art. 130r EWGV (heute: Art. 191 AEUV) eine ausdrückliche Zielbestimmung im Zuge der ersten großen Vertrags­ reform 1987 Eingang in den Vertragstext fand, hatte der EuGH den Umweltschutz aber bereits als Gemeinschaftsaufgabe anerkannt.7 Noch gestützt auf allgemeine Ermächtigungen8 ergingen die ersten Umweltrichtlinien Mitte der 1970er-Jahre.9 Ein Bewusstsein für die Bedeutung effektiver Vollzugskontrollen wurde nur wenig später entwickelt, etwa im Zusammenhang mit dem vorübergehenden Verschwinden mehrerer Lastkraftwagenladungen mit gefährlichen Abfällen aus dem Seveso-Unglück,10 die im September 1982 verladen und grenzüberschreitend durch Europa transportiert worden waren. Erst acht Monate nach ihrem Abtransport aus Italien konnte der Verbleib der beförderten Giftmüllfässer geklärt werden. Daraufhin installierte die Kommission 1984 innerhalb der Generaldirektion Umwelt (GD ENV) eine besondere Verwaltungseinheit, die sich speziell mit der Kontrolle europäischer Umweltbestimmungen befasste.11 1996 legte die Kommission erstmals eine 7  EuGH, Rs. C-249/83, Procureur de la République/ADBHU, Slg. 1985, 531 (Rn. 13). 8  Vgl. etwa die auf Art. 100 und 235 EWGV gestützte Richtlinie 75/442/EWG des Rates vom 15. Juli 1975 über Abfälle, ABl. 1975, Nr. L 194, S. 39 ff. oder die Richtlinie 76/160/EWG des Rates vom 8. Dezember 1975 über die Qualität der Badegewässer, ABl. 1976, Nr. L 31, S. 1 ff. 9  Vgl. etwa die Richtlinie 70/157/EWG des Rates vom 6. Februar 1970 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über den zulässigen Geräuschpegel und die Auspuffvorrichtung von Kraftfahrzeugen, ABl. 1970, Nr. L 42, S. 16 ff.; Richtlinie 73/405/EWG des Rates vom 22. November 1973 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Methoden zur Kontrolle der biologischen Abbaubarkeit anionischer grenzflächenaktiver Substanzen, ABl. 1973, Nr. L 347, S. 53 ff., aufgehoben durch: Verordnung (EG) Nr. 648/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 31. März 2004 über Detergenzien, ABl. 2004, Nr. L 104, S. 1 ff.; Richtlinie 75/440/EWG des Rates vom 16. Juni 1975 über die Qualitätsanforderungen an Oberflächenwasser für die Trinkwassergewinnung in den Mitgliedstaaten, ABl. 1975, Nr. L 194, S. 26 ff., aufgehoben durch: Richtlinie 2000/60/ EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. Oktober 2000 zur Schaffung eines Ordnungsrahmens für Maßnahmen der Gemeinschaft im Bereich der Wasser­ politik, ABl. 2000, Nr. L 327, S. 1 ff. 10  An der Kommission übte diesbezüglich vor allem das Europäische Parlament harte Kritik: EP, Entschließung zur Behandlung von Abfällen in der Europäischen Gemeinschaft, ABl. 1984, Nr. C 127, S. 67 f. 11  Krämer, in: Gündling/Weber, Dicke Luft in Europa, 1988, S. 202 f.; Macrory, CMLR 1992, 347 (349); Scheuing, NVwZ 1999, 475 (475).

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1. Teil: Grundlagen

Mitteilung über die Durchführung des Umweltrechts in der Gemeinschaft vor, in deren Rahmen sie sich mit bestehenden Durchführungsdefiziten und möglichen Lösungsansätzen auseinandersetzte.12 Bevor in den nachfolgenden Kapiteln auf die Details des supranationalen Vollzugskontrollinstrumentariums eingegangen werden kann, bedarf es in einem ersten Schritt der Erörterung einiger verständniswesentlicher Grund­ lagen. Hierzu zählt zunächst eine klarstellende Erläuterung der im Rahmen dieser Arbeit verwendeten Termini, die die nachfolgenden Ausführungen nachvollziehbar gestalten soll (A). Weiterhin werden die Ursachen für die Schwierigkeiten, die der Vollzug umweltrechtlicher Vorgaben den verantwortlichen Akteuren bereitet aufgezeigt (B), um die Bedeutung des Umweltsektors nicht nur als Referenzgebiet für die europäische Vollzugskontrollproblematik im Allgemeinen, sondern als spezielles Problemfeld mit besonderer Brisanz und Relevanz zu verdeutlichen. Schließlich folgt eine Darstellung des primärrechtlichen Rahmens des EU-Vollzugskontrollsystems (C) sowie des komplexen Vollzugsgefüges zwischen EU und Mitgliedstaaten (D), um die Weichen für die weiterführende Analyse des vertraglich geregelten Vertragsverletzungsverfahrens und die Untersuchung der primärrechtlichen Bedingungen und Grenzen für die Einbeziehung europaweit tätiger Umweltnetzwerke in das Vollzugskontrollsystem der EU zu stellen.

A. Terminologische Klarstellungen I. Der Begriff des „Unionsrechtsvollzugs“ als Gegenstand der Vollzugskontrolle Der Vollzugsbegriff findet weder in den Verträgen Verwendung, noch wird er sekundärrechtlich definiert. Um terminologische Unklarheiten bei der Beschreibung des Unionsrechtsvollzugs in seiner Eigenschaft als Gegenstand supranationaler Kontrollmaßnahmen im Rahmen dieser Arbeit zu vermeiden, ist es zunächst erforderlich, seine Bedeutung im hier verstandenen Sinne darzulegen. 1. Terminologie im rechtswissenschaftlichen Diskurs In der Rechtswissenschaft wird neben Vollzug bzw. Vollziehung auch von Durchführung oder Ausführung gesprochen.13 Eine homogene Terminologie 12  KOM, Mitteilung – Durchführung Umweltrechts der Gemeinschaft, 22.10.1996, KOM(1996) 500 final.



A. Terminologische Klarstellungen35

konnte sich hier nicht herausbilden. Einigkeit besteht lediglich insoweit, dass zur Realisierung unionsrechtlicher Vorgaben sowohl die Umsetzung (auch: Transposition)14 – d. h. die abstrakt-generelle Transformation des EU-Rechts durch normative Rechtssetzungsakte – als auch die einzelfallbezogene Anwendung europäischer Rechtsakte bzw. des nationalen Transformationsrechts – worunter insbesondere der Verwaltungsvollzug verstanden wird – erforderlich sind. Demgegenüber werden Durchführung, Vollzug und Ausführung im rechtswissenschaftlichen Fachjargon unterschiedlich verwendet. So wird der Begriff der Ausführung bisweilen als Gegenbegriff zur Anwendung auf den Erlass abstrakt-genereller Rechtsetzungsakte bezogen15 und damit synonym zur normativen Umsetzung europäischer Richtlinien gebraucht. Als Vollzug bezeichnen viele Literaturvertreter die einzelfallbezogene Anwendung durch die jeweils zuständigen Behörden, d. h. den Verwaltungsvollzug in Abgrenzung zur Umsetzung unionsrechtlicher Vorgaben.16 Der Begriff der Durchführung, wie er auch in Art. 291 I, II AEUV Verwendung findet, soll nach teilweise vertretener Auffassung die normative Konkretisierung unionsrechtlicher Legislativakte beschreiben, wobei die eigentliche Umsetzung und Anwendung erst auf einer weiteren, nachgelagerten Handlungsstufe folgen soll.17 Semantisch sind diese Interpretationsansätze allesamt nicht zwingend. Ebenso ließe sich dem Vorschlag Rengelings folgen, der den Durchführungsbegriff als Oberbegriff sowohl für die normative Umsetzung als auch für die einzelfallbezogene Anwendung versteht.18 Auch besteht keine Notwendigkeit, den Vollzug bzw. die Vollziehung des Unionsrechts nur mit dem Verwal13  Vgl. dazu: Rengeling, in: Rengeling, Hdb. zum europäischen und deutschen Umweltrecht Bd. I, 2. Auflage 2003, § 27 Rn. 1, 3. 14  Szukala, Das Implementationssystem europäischer Politik, 2012, S. 32. 15  So etwa bei: Gellermann, in: S ­ treinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 291 AEUV  Rn.  6 ff.; Nitschke, Harmonisierung des nationalen Verwaltungsvollzugs von EG-Umweltrecht, 2000, S. 16; Zuleeg, Das Recht der Europäischen Gemeinschaften im innerstaatlichen Bereich, 1969, S. 225 f. 16  So wohl: Möllers, EuR 2002, 483 (496); Pechstein, EU-Prozessrecht, 4. Auflage 2011, Rn. 33; Ruffert, DÖV 2007, 761 (767); Ruffert, in: Calliess/Ruffert, EUV/ AEUV, 6. Auflage 2022, Art. 17 EUV Rn. 7; Zuleeg, Das Recht der Europäischen Gemeinschaften im innerstaatlichen Bereich, 1969, S. 207 ff. 17  Vgl. zum Durchführungsbegriff i. S. v. Art. 291 I, II AEUV: Möllers, EuR 2002, 483 (496, 503); wohl auch: Daiber, EuR 2012, 240 (241 f.); Fabricius, EuZW 2014, 453 (454). 18  Rengeling, in: Rengeling, Hdb. zum europäischen und deutschen Umweltrecht Bd. I, 2. Auflage 2003, § 27 Rn. 3; so auch: Gärditz, DÖV 2010, 453 (461 f.); Gellermann, in: S ­ treinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 291 AEUV Rn. 6; Kahl, in: Holoubek/Lang, Verfahren der Zusammenarbeit von Verwaltungsbehörden in Europa, 2012, S. 17; Peers/Costa, ELJ 2012, 427 (446); Ruffert, in: Calliess/Ruffert, EUV/ AEUV, 6. Auflage 2022, Art. 291 AEUV Rn. 1.

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1. Teil: Grundlagen

tungsvollzug gleichzusetzen. Schließlich beschreibt die Kommission selbst im Rahmen ihrer Mitteilungen über den Vollzug des Umweltrechts, gleichermaßen Umsetzungs- und Anwendungsfortschritte.19 Da also keine einheit­ liche Terminologie existiert, spricht nichts dagegen, die dieser Arbeit zugrunde gelegten Begriffe so zu definieren, dass sie eine möglichst sinnvolle Analyse des EU-Vollzugskontrollsystems gestatten. 2. Definition am Maßstab des Vollzugskontrollauftrags der Kommission Da vor allem der Kommission im supranationalen Vollzugskontrollsystem eine wichtige Stellung zukommt, bietet es sich an, den Vollzugsbegriff im Folgenden als Oberbegriff für den gesamten ihr zur Kontrolle zugewiesenen Bezugsgegenstand zu verwenden. Um definieren zu können, welcher Bedeutungsgehalt dem Vollzugsterminus im Sinne dieser Arbeit zukommen soll, muss also g ­ eklärt werden, welche nationalen Maßnahmen unter den Kontroll­ auftrag der Kommission fallen. Art. 17 I 2, 3 EUV weist ihr die Aufgabe zu, die „Anwendung“ unionsrechtlicher Vorgaben zu gewährleisten. Der Wortlaut des Vertragstexts mag auf den ersten Blick verwundern – wird doch der Anwendungsbegriff in der Literatur häufig gebraucht, um die Konkretisierung abstrakt-genereller Vorgaben durch Behörden und Gerichte im Rahmen einzelfallbezogener Entscheidungen zu bezeichnen.20 Dass der Wortwahl an dieser Stelle keine derart limitierende, an national geprägten Begrifflichkeiten verhaftete Bedeutung beigemessen werden kann, ergibt sich jedoch bereits aus einfachen funktionalen Überlegungen. Eine methodische Beschränkung des Kontrollauftrags der Kommission auf konkretisierende Einzelakte würde sich speziell in Bezug auf Richtlinien, die im Umweltsektor als verbreitetes Regulierungsinstrument zum Einsatz kommen, als äußerst problematisch erweisen: Gemäß Art. 288 III AEUV entfalten Richtlinien im Gegensatz zu anderen EU-Handlungsformen nur in ihrer Zielsetzung unmittelbare Bindungskraft gegenüber den Mitgliedstaaten und bedürfen somit der Umsetzung in nationales Recht. Da das staatliche Um­ setzungsrecht aber typischerweise die Grundlage nationaler Einzelfallentscheidungen bildet, würden sich Unionsrechtsverstöße bei der Umsetzung 19  KOM, Mitteilung an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen – Aktionsplan der EU für einen besseren Vollzug des Umweltrechts und eine bessere Umweltordnungspolitik, 18.1.2018, KOM(2018) 10, S. 2. 20  Vgl. Rengeling, in: Rengeling, Hdb. zum europäischen und deutschen Umweltrecht Bd. I, 2. Auflage 2003, § 27 Rn. 3; Zuleeg, Das Recht der EG im innerstaat­ lichen Bereich, 1969, S. 47 f.



A. Terminologische Klarstellungen37

beinahe21 immer auf die Anwendungsebene durchschlagen. Das langwierige Vertragsverletzungsverfahren gemäß Art. 258 ff. AEUV eignet sich kaum dazu, gegen jede unionsrechtswidrige Einzelfallentscheidung vorzugehen. Die Kommission müsste ihre Kontrollbemühungen daher zwangsläufig auf wenige Verwaltungsentscheidungen und Gerichtsurteile mit Vorbildwirkung konzentrieren, die eine entsprechende Verwaltungs- bzw. Rechtsprechungspraxis zu begründen drohen. Der eigentlichen Ursache der EU-Rechtsverletzung würde dieser Ansatz kaum gerecht. Ist den Mitgliedstaaten bei der normativen Richtlinienumsetzung ein Fehler unterlaufen, würde sich die Kontrolle der Anwendungsebene allein mit Folgefehlern befassen. Der fehlerhafte staatliche Umsetzungsrechtsakt bliebe auf nationaler Ebene fort­ bestehen und liefe Gefahr, eine Vielzahl neuer, schwer überschaubarer Anwendungsentscheidungen vorzuprogrammieren. Die Umsetzungsebene vom Kontrollauftrag der Kommission auszunehmen, stünde damit geradezu in Widerspruch zum fundamentalen Gedanken des in Art. 4 III EUV verankerten effet utile. Auch die Kommission selbst geht, ohne dies jemals zur Diskussion gestellt zu haben davon aus, für die Kontrolle der normativen Umsetzung europäischer Richtlinienbestimmungen verantwortlich zu sein. In der Praxis bezieht sich ein Großteil aller von ihr initiierten Vertragsverletzungsverfahren auf Fälle der verspäteten oder unvollständigen Umsetzung.22 Vor diesem Hintergrund lässt sich kaum anzweifeln, dass der in Art. 17 I 2, 3 EUV verwendete Anwendungsbegriff mit Blick auf die Besonderheiten des kompetenzrechtlichen Gefüges zwischen EU und Mitgliedstaaten und ihr Verhältnis als Rechtsgemeinschaft weit auszulegen ist. So dürfte unter der „Anwendung des Unionsrechts“ eine Anwendung im weiteren Sinne zu verstehen sein, die sämtliche Maßnahmen umfasst, die eine Konkretisierung europäischer Vorgaben bewirken – ausgehend von der normativen Einarbeitung umsetzungsbedürftiger Richtlinienbestimmungen in die nationale Rechtsordnung durch staatliche Rechtsetzungsakte bis hin zur Anwendung im engeren Sinne, die als Gegenbegriff zur Umsetzung die administrative und gerichtliche Auslegung und Konkretisierung im Einzelfall beschreibt. Die Kommission hat 21  Anders in Fällen der Direktwirkung von Richtlinien, vgl. dazu grundlegend: EuGH, Rs. C-41/74, van Duyn/Homeoffice, Slg. 1974, 1337 (Rn. 9/10 ff.); vgl. exemplarisch zur Direktwirkung von Richtlinien im Immissionsschutzrecht: Müggenborg/ Duikers, NVwZ 2007, 623 (623 ff.). 22  Hier von annähernd 75 % sprechend: Borchardt, in: Dauses/Ludwigs, Hdb. des EU-Wirtschaftsrechts, 53. EL 2021, P.I. Rn. 18; im Berichtszeitraum 2018 bis 2019 geht die Kommission sogar von 82 % aller Fälle mit Richtlinienbezug aus, während nur 18 % Verordnungen, Beschlüsse und Vertragsartikel betrafen, KOM, Single Market Scoreboard, Infringements, 12/2018–12/2019, Types of cases, abrufbar unter: ­h ttps://ec.europa.eu/internal_market/scoreboard/_docs/2020/07/performance_by_ governance_tool/infringements_en.pdf (Stand: 14.2.2023).

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1. Teil: Grundlagen

folglich alle mitgliedstaatlichen Handlungen und Unterlassungen, insbesondere die frist- und ordnungsgemäße Richtlinienumsetzung zu kontrollieren.23 3. „Vollzug“ und Synonyme im Sinne dieser Arbeit Vollzug im Sinne dieser Arbeit meint also nicht nur den Einzelfallvollzug, sondern alle Maßnahmen, die unternommen werden, um unionsrechtlichen Vorgaben rechtlich und faktisch zur Wirksamkeit zu verhelfen. Insbesondere in Anbetracht der zentralen Stellung und der umfassenden Anwendungs­praxis des Vertragsverletzungsverfahrens, das im Folgenden als Ausgangspunkt der Vollzugskontrolltätigkeit der Kommission noch erläutert werden wird, wäre es nicht sinnvoll, den Untersuchungsrahmen weiter zu beschränken. Durchführung, Implementation und Ausführung werden in diesem Kontext als Synonyme für den Rechtsvollzug verwendet. Hiergegen spricht weder der jeweilige Wortsinn noch stehen divergierende Legaldefinitionen einer entsprechenden Interpretation entgegen. Auch der originär im englischsprachigen Raum verwendete Begriff Implementation hat sich mittlerweile international etabliert.24 Weitgehend einheitliche Verwendung findet er in der englischsprachigen Literatur als Kollektivbezeichnung für Maßnahmen zur Umsetzung (engl.: transposition) und ­Anwendung (engl.: application) des Unionsrechts.25 In seiner englischen Fassung spricht auch Art. 291 TFEU von „implementing“, „implementing powers“ und „implementing acts“, wobei diese Begriffe im deutschsprachigen Normtext allesamt unter Verwendung des Durchführungsterminus übersetzt werden. Welche Konzeption der Durchführung bzw. Implementation dabei zugrunde gelegt wurde, lässt sich dem Vertragstext nicht ohne weiteres entnehmen. Nach Maßgabe der ständigen EuGH-Rechtsprechung wurde der primärrechtliche Durchführungsbegriff aber bereits im Vorfeld des Vertrags von Lissabon durch eine weite Auslegungspraxis geprägt,26 die bisher nicht 23  So im Ergebnis auch: Huber, in: Rengeling, Hdb. zum europäischen und deutschen Umweltrecht Bd. I, 2. Auflage 2003, § 19 Rn. 26; Kaufhold, in: Dauses/Ludwigs, Hdb. des EU-Wirtschaftsrechts, 53. EL2021, A. II. Rn. 222; Krämer, in: LübbeWolff, Der Vollzug des europäischen Umweltrechts, 1996, S. 11. 24  Vgl. etwa: Sommermann, DÖV 2015, 449 (449 ff.). 25  Vgl. etwa die Formulierungen in: KOM, Communication from the Commission, Implementing Community Environmental Law, 22.10.1996, KOM (96) 500 final, S. 4. 26  Für eine weite Auslegung des Durchführungsbegriffs: EuGH, Rs. 23/75, Rey Soda/Zuckerausgleichskasse, Slg. 1975, 1279 (Rn. 10/14); Rs. C-37/02 und C-38/02, Di Lenardo Adriano und Dilexport/Ministerio del Commercio con l’Estero, Slg. 2004, I-6911 (Rn. 55); Nettesheim, in: Graebitz/Hilf/Nettesheim, 73. EL 2021, Art. 291 AEUV Rn. 12.



A. Terminologische Klarstellungen39

erkennbar aufgegeben wurde.27 Im Folgenden wird daher auch der Implementationsbegriff als Synonym zum Unionsrechtsvollzug im hier umfassend verstandenen Sinne verwendet.

II. Der Begriff des „Vollzugsdefizits“ Um Aussagen über die Funktionsweise und Leistungsfähigkeit eines Instruments zur Kontrolle staatlicher Vollzugsleistungen treffen zu können, bedarf es einer Auseinandersetzung mit der Frage, in welcher Weise die Mitgliedstaaten gegen ihre Durchführungspflichten verstoßen können, d. h. welche Vollzugsdefizite durch EU-Kontrollmaßnahmen vermieden, erkannt und beseitigt werden müssen. Die gemäß Art. 17 I 2 EUV mit der Kontrolle des Unionsrechts betraute Kommission verwendet zum Zweck der Darstellung ihrer Tätigkeit im Rahmen ihrer Jahresberichte über die Kontrolle und Anwendung des EU-Rechts verschiedene Kategorien, auf die im Folgenden zurückgegriffen wird. Abstrakt gesprochen liegt eine Vertragsverletzung nach Auffassung der Kommission immer dann vor, wenn „ein Mitgliedstaat durch ein Tun oder Unterlassen gegen seine Pflichten aus dem [Unionsrecht] verstößt,“ wobei es nicht darauf ankommt, welcher Behörde dieser Verstoß angelastet werden kann.28 In diesem Rahmen differenziert sie zwischen drei Arten29 von Verstößen, die sich wiederum nach Fehlern bei der Umsetzung und Anwendung unionsrechtlicher Bestimmungen unterscheiden lassen:30 1. Fälle der Nichtmitteilung/Nichtnotifizierung (engl.: non-communication31) – auch Fälle der verspäteten Umsetzung32 (engl.: late-transposi­ 27  Ruffert, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 6.  Auflage 2022, Art. 291 AEUV Rn. 1; Schmidt, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht, 7. Auflage 2015, Art. 291 AEUV Rn. 4. 28  KOM, Nichtbeachtung des Gemeinschaftsrechts durch einen Mitgliedstaat: Standardformular zwecks Einreichung einer Beschwerde bei der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, ABl. 1999, Nr. C 119, S. 7. 29  Von nur zwei Kategorien ausgehend: Hedemann-Robinson, Enforcement of European Union Environmental Law, 2. Edition 2015, S. 37. 30  Vgl. etwa: KOM, Bericht über die Kontrolle der Anwendung des EU-Rechts: Jahresbericht 2014, 9.7.2015, KOM(2015) 329 final, S. 5; ebenso: Krämer, in: LübbeWolff, Der Vollzug des europäischen Umweltrechts, 1996, S. 12; Meßerschmidt, Europäisches Umweltrecht, 2011, § 2 Rn. 451. 31  IMPEL, Challenges in the Practical Implementation of EU Environmental Law and how IMPEL could help overcome them, Final report, 23.3.2015, S. 9, abrufbar unter: https://www.impel.eu/actions/download-file/files/cd4e61c4-5e61-4ced-b41d-c6 2aaaf8ad52/Implementation-Challenge-Report-23-March-2015.pdf (Stand: 14.2.2023). 32  Vgl. die Darstellung „Arten von Vertragsverletzungen“ in: KOM, Binnenmarkts­ anzeiger Vertragsverletzungen, 11/2013–05/2014, S. 9, abrufbar unter: https://ec.eu

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1. Teil: Grundlagen

tion)33 – in denen es ein Mitgliedstaat versäumt hat, die Unionsebene über Maßnahmen, die zur Umsetzung eines bestimmten EU-Rechtsaktes erlassen wurden, fristgerecht zu informieren.34 2. Fälle der fehlerhaften Umsetzung (engl.: non-conformity35), in denen ein notifizierter Umsetzungsrechtsakt EU-Vorgaben inhaltlich zuwiderläuft.36 3. Fälle der inkorrekten/falschen Anwendung (engl.: bad-application37), in denen staatliche Behörden gegen unmittelbar anwendbare EU-Bestimmungen verstoßen bzw. Richtlinienrecht zwar ordnungsgemäß umgesetzt, das nationale Umsetzungsrecht aber fehlerhaft angewandt wird.38 Die Kommission kann dabei sowohl gegen einzelne EU-Rechtsverstöße vorgehen als auch gegen systematische Rechtsverletzungen durch Verwaltungspraktiken.39 Im Umweltrechtssektor kommt insbesondere den Umsetzungsdefiziten Bedeutung zu, da der EU-Acquis hier zu einem großen Teil aus Richtlinien i. S. v. Art.  288  III  AEUV besteht.40 Z. B. waren die EU-Mitgliedstaaten gemäß Art. 80 I Industrieemissionsrichtlinie (2010/75/EU41) verpflichtet, alle zur Umsetzung der dort genannten Vorgaben erforderlichen Rechts- und Verwaltungsvorschriften bis zum 7. Januar 2013 zu erlassen. Die meisten ropa.eu/internal_market/scoreboard/_docs/2014/07/infringements/2014-07-score board-infringements_de.pdf (Stand: 14.2.2023). 33  Zur Identität beider Begriffe: KOM, Single Market Scoreboard, Infringements, 12/2018–12/2019, More Information, abrufbar unter: https://ec.europa.eu/internal_ market/scoreboard/_docs/2020/07/performance_by_governance_tool/infringements_ en.pdf (Stand: 14.2.2023). 34  KOM, Bericht über die Kontrolle der Anwendung des EU-Rechts: Jahresbericht 2014, 9.7.2015, KOM(2015) 329 final, S. 5. 35  KOM, Staff Working Document, Part I: General statistical overview, 12.7.2018, SWD(2018) 377 final, S. 5. 36  KOM, Bericht über die Kontrolle der Anwendung des EU-Rechts: Jahresbericht 2014, 9.7.2015, KOM(2015) 329 final., S. 5. 37  IMPEL, Challenges in the Practical Implementation of EU Environmental Law and how IMPEL could help overcome them, Final report, 23.3.2015, S. 9, abrufbar unter: https://www.impel.eu/actions/download-file/files/cd4e61c4-5e61-4ced-b41d-c6 2aaaf8ad52/Implementation-Challenge-Report-23-March-2015.pdf (Stand: 14.2.2023); KOM, Staff Working Document, Part I: General statistical overview. 12.7.2018, SWD(2018) 377 final, S. 5. 38  KOM, Bericht über die Kontrolle der Anwendung des EU-Rechts: Jahresbericht 2014, 9.7.2015, KOM(2015) 329 endg., S. 5. 39  Sobotta, ZUR 2008, 72 (73). 40  Macrory, CMLR 1992, 347 (350); Scheuing, NVwZ 1999, 475 (476). 41  Richtlinie 2010/75/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 24. November 2010 über Industrieemissionen (integrierte Vermeidung und Verminderung der Umweltverschmutzung), ABl. 2010, Nr. L 334, S. 17 ff.



A. Terminologische Klarstellungen41

Mitgliedstaaten hielten diese Frist jedoch nicht ein, so dass in 168 Fällen der verspäteten Umsetzung gegen 20 Mitgliedstaaten Vertragsverletzungsverfahren eröffnet werden mussten.42

III. Der Begriff der „Vollzugskontrolle“ im Sinne dieser Arbeit Klärungsbedürftig ist schließlich, was als Vollzugskontrolle im Sinne dieser Arbeit verstanden werden soll. 1. „Kontrolle“ als Tätigkeitsbeschreibung Im allgemeinen Sprachgebrauch wird der Begriff Kontrolle verwendet, um punktuell überprüfende oder fortlaufend beaufsichtigende Tätigkeiten zu beschreiben,43 die das Ziel verfolgen, die Einhaltung bestimmter Maßstäbe oder das Erreichen von Zielvorgaben sicherzustellen.44 So werden etwa Personen auf die Einhaltung bestimmter Verhaltensregeln oder Leistungsanforderungen kontrolliert; die Kontrolle von Sachen ist typischerweise darauf gerichtet, die Erfüllung von Qualitätsstandards zu gewährleisten. Seinen semantischen Ursprung findet das Wort im lateinischen contra rotulus bzw. dem französischen Begriff contre rôle, der originär verwendet wurde, um die Gegenzeichnung einer Rechnung durch eine zweite, die Ordnungsgemäßheit bestätigende Person zu bezeichnen.45 Kontrolle beschreibt somit seit jeher einen Prozess der Verhältnisbestimmung zwischen realen Gegebenheiten (dem Ist-Wert) und einem angestrebten Zustand (dem Soll-Wert).46 In diesem Sinne versteht auch die Wirtschaftswissenschaft den Kontrollbegriff als „Durchführung eines Vergleichs zwischen geplanten und realisierten Größen sowie [als] Analyse der Abweichungsursachen“.47 Im juristischen Kontext ist der Begriff von ganz zentraler Bedeutung. Schließlich spielen gerichtliche, administrative, aber auch parlamentarische Kontrollen eine wesentliche Rolle in Wissenschaft und Praxis. Eine allge42  KOM, 31. Jahresbericht über die Kontrolle der Anwendung des EU-Rechts (2013), 1.10.2014, KOM(2014) 612 final, S. 5. 43  Dudenredaktion, „Kontrolle“ in: Duden online, o.  D., https://www.duden.de/ rechtschreibung/Kontrolle (Stand: 14.2.2023). 44  Albin, Die Vollzugskontrolle des europäischen Umweltrechts, 1999, S. 49. 45  Albin, Die Vollzugskontrolle des europäischen Umweltrechts, 1999, S.  49; Kirchhof, in: Isensee/Kirchhof, HStR Bd. 5, 3. Auflage 2007, § 99 Rn. 224; Krebs, Kontrolle in staatlichen Entscheidungsprozessen, 1984, S. 4. 46  Krebs, Kontrolle in staatlichen Entscheidungsprozessen, 1984, S. 17. 47  Wischermann/Beeck, „Kontrolle“ in: Gabler Wirtschaftslexikon, o. D., https:// wirtschaftslexikon.gabler.de/definition/kontrolle-41119 (Stand: 14.2.2023).

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1. Teil: Grundlagen

mein anerkannte juristischen Definition von Kontrolle mag nicht existieren. Im Kern geht es jedoch stets um einen Abgleich privater oder hoheitlicher Maßnahmen, Unterlassungen, Zustände oder Eigenschaften mit normativen Vorgaben oder Einzelfallanordnungen, bis hin zu ihrer Durchsetzung mit politischen oder rechtlichen Mitteln. Kontrolle im juristischen Sinn beschreibt somit zuvorderst eine Tätigkeit, die final darauf gerichtet ist, die Einhaltung der Rechtsordnung zu gewährleisten. In den unionsrechtlichen Kontext lässt sich dieser Bedeutungsgehalt ohne weiteres transferieren. Sollen die Ziele der EU in allen Mitgliedstaaten realisiert werden, darf sich die Union nicht auf ihre Dimension als Rechtsetzungsgemeinschaft beschränken. Unter Vollzugskontrolle im Sinne dieser Arbeit sind somit Maßnahmen, Instrumente und Strategien der EU zu verstehen, die darauf abzielen, die Umsetzung und Anwendung unionsrechtlicher Vorgaben zu überprüfen und bei Bedarf durchzusetzen. 2. „Kontrolle“ und „Kooperation“ in der EU: Systemtheoretische Grundlagen und Beschreibungskategorien Neben der Kontrolle als Tätigkeit wird der Begriff im allgemeinen Sprachgebrauch auch benutzt, um Herrschafts- bzw. Gewaltbeziehungen zu Per­ sonen oder Sachen auszudrücken.48 In diese Richtung geht etwa der in der deutschen Verwaltungsrechtswissenschaft gebräuchliche Begriff der Aufsicht – ein vertikales Ordnungsprinzip, das ein hierarchisches Verhältnis zwischen verschiedenen Verwaltungsebenen impliziert.49 Auf das Verhältnis zwischen EU und Mitgliedstaaten lässt sich diese Bedeutungsdimension nur bedingt übertragen.50 Zwar haben die Mitgliedstaaten Teile ihrer originären Hoheitsbefugnisse entsprechend des Grundsatzes der beschränkten Einzelermächtigung (Art. 5 I 1, II EUV) an die supranationale Ebene abgegeben und sich ihr insoweit untergeordnet. Die Mitgliedstaaten bleiben jedoch Herren der Verträge.51 Als völkerrechtlicher Staatenverbund52 ist die EU bereits in ihren Grundfesten auf den Konsens ihrer Mitglieder angewiesen. Gerade im Umweltsektor arbeiten nationale und europäische Akteure auch im adminis­ 48  Dudenredaktion, „Kontrolle“ in: Duden online, o.  D., https://www.duden.de/ rechtschreibung/Kontrolle (Stand: 14.2.2023). 49  Kahl, in: Holoubek/Lang, Verfahren der Zusammenarbeit von Verwaltungsbehörden in Europa, 2012, S. 26. 50  Schmidt-Aßmann, in: Cremer, FS Steinberger, 2002, S. 1381. 51  Cremer, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 6. Auflage 2022, Art. 48 EUV Rn. 19; Heintschel von Heinegg, in: Vedder/Heintschel von Heinegg, Europäisches Unionsrecht, 2. Auflage 2018, Art. 1 EUV, Rn. 4. 52  BVerfGE 89, 155 (Ls. 2, 3a, 8, Rn. 90, 94 f., 100, 103, 108, 112, 152, 162; Maastricht); 123, 267 (Ls. 1, Rn. 229; Lissabon).



A. Terminologische Klarstellungen43

trativen Bereich zunehmend in engen Kooperationsverhältnissen zusammen. Den Begriff Kontrolle im unionsrechtlichen Zusammenhang ausschließlich zur Beschreibung hierarchischer Gewaltverhältnisse zu verwenden, würde dem komplexen Verhältnis zwischen den Ebenen also nicht gerecht. Mit Blick auf den konsensbasierten Charakter der EU soll der Kontrollbegriff im Folgenden weit gefasst werden und neben vertikal-imperativ geprägten Beziehungen auch dem bisweilen horizontal ausgestalteten, auf Kooperation ausgelegten Geflecht zwischen europäischen und staatlichen Stellen, Unionsbürgerinnen und Bürgern oder Unternehmen Rechnung tragen. Dabei muss erkannt werden, dass Kontrolle stets von einer gewissen Zielgerichtetheit geprägt ist. Der Abgleich zwischen Ist- und Soll-Wert ist in der Regel kein zwangloser Selbstzweck. Vielmehr arbeitet er auf eine Annäherung des tatsächlichen Zustands an den angestrebten Zustand hin.53 Da dieses Ziel ohne Einwirkungsmöglichkeiten des Kontrollierenden auf den Kontrollierten möglicherweise niemals erreicht werden würde, impliziert der Begriff der Kontrolle stets das Vorhandensein eines Potenzials, steuernd Einfluss auf das weitere Verhalten des Kontrollierten bzw. die weitere Entwicklung des Kontrollgegenstands zu nehmen.54 Zwar zeigt das Verhältnis zwischen EU und Mitgliedstaaten nicht immer ein klassisch-vertikales Machtgefälle. Durch Checks and Balances geprägte Systeme, wie das politische System der USA, belegen jedoch, dass ein gewisses Maß an Einfluss auch in horizontalen Strukturen ausgeübt werden kann, so dass Kontrolle in non-hierarchischen Verhältnissen nicht zwangsläufig am fehlenden Wesensmerkmal der Ziel­ gerichtetheit scheitert. Dies gilt jedenfalls bei Zugrundelegung eines weiten, nicht auf rechtlich institutionalisierte Instrumente beschränkten Verständnisses von Einfluss bzw. Macht, wie es sich etwa bei Weber findet.55 Hiernach genügt jede rechtliche oder faktische Chance, die geeignet ist, auf das Kon­ trollobjekt in der Weise einzuwirken, dass eine Annäherung des Ist-Zustands an den Soll-Zustand erreicht werden kann.56 Zumindest soweit ein gewisses Einflusspotenzial des Kontrollierenden auf den Kontrollierten verbleibt, stehen Kontrolle und Kooperation einander also nicht als Gegensätze gegenüber.57 Auf dieser Feststellung aufbauend beDie Vollzugskontrolle des europäischen Umweltrechts, 1999, S. 50. von einem „Macht“-Element sprechend: Gehrig, Parlament, Regierung, Opposition, 1969, S. 18. 55  Hierzu auch: Albin, Die Vollzugskontrolle des europäischen Umweltrechts, 1999, S. 52. 56  Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 5. Auflage 1972, S. 28. 57  Vgl. auch Kahl, in: Holoubek/Lang, Verfahren der Zusammenarbeit von Verwaltungsbehörden in Europa, 2012, S. 26; Kugelmann, in: ­Streinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 17 EUV Rn. 63; ausdrücklich von „kooperativer Kontrolle“ sprechend: Meßerschmidt, Europäisches Umweltrecht, 2011, § 2 Rn. 442. 53  Albin,

54  Insoweit

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1. Teil: Grundlagen

schränkt sich der Untersuchungsrahmen dieser Arbeit nicht auf klassischimperative Kontrollinstrumente mit vertikalen Strukturen, wie sie etwa die deutsche Verwaltungsaufsicht prägen. Vielmehr werden in den nachfolgenden Kapiteln mit dem weiten Feld der Netzwerke im Umweltsektor kooperative Kontrollmechanismen analysiert und dem imperativen Ansatz gegenübergestellt. Zur Verdeutlichung der Dichotomie zwischen imperativer und koopera­ tiver Kontrolle lässt sich die in der Governance-Debatte gebräuchliche Unterscheidung zwischen top-down und bottom-up entlehnen, die aus der Politikwissenschaft zunächst auf internationale Beziehungen übertragen und schließlich in die Politikfeldanalyse der EU-Forschung übernommen wurde.58 Im Rahmen der Governance-Forschung wird das Begriffspaar top-down und bottom-up verwendet, um unterschiedliche Koordinationsmodi im Zusammenhang mit der Funktionsweise von Regierungssystemen zu differenzieren. Während der top-down Ansatz eine Koordinationsform beschreibt, die auf der verbindlichen Vorgabe von Zielen und Erwartungen durch die EU-Institutionen beruht, an denen sich die nationale Politik messen lassen muss, hat der bottom-up Ansatz partizipativen Charakter, der sich dadurch auszeichnet, dass sich verschiedene dezentrale Einheiten, öffentliche und private Akteure im Wege der Deliberation untereinander koordinieren und Impulse von unten nach oben setzen.59 Beide Ansätze finden sich im Vollzugskontrollsystem der EU wieder: Im Rahmen der imperativen Kontrolle werden mitgliedstaatliche Vollzugsleistungen durch die Institutionen der EU aus einer übergeordneten Position heraus am Maßstab verbindlicher Rechtsakte und unionspolitischer Ziele top-down beurteilt und erforderlichenfalls sanktioniert.60 Kooperative Kontrolle bezieht demgegenüber private und nationale öffentliche Akteure in die Vollzugskontrolltätigkeit ein, macht ihre Ressourcen oder Kenntnisse für sich nutzbar und trägt somit bottom-up zur Sicherung des EU-Rechtsvollzugs bei. Davon, dass Kontrolle neben imperativen auch mit kooperativen Instrumenten und Mechanismen geleistet werden kann, geht auch die sog. Enforcement-Management-Debatte aus, die in der englischsprachigen Fachliteratur bereits zu Beginn der 2000er-Jahre um die Frage geführt wurde, wie sich die Adressaten europäischer Rechtsakte am effektivsten zur Compliance veran-

58  Zur Entwicklung der Governance-Debatte in der EU: Tömmel, in: Tömmel, Die Europäische Union – Governance und Policy-Making, 2008, S. 16 ff. 59  Zur Unterscheidung: Benz, in: Tömmel, Die Europäische Union – Governance und Policy-Making, 2008, S. 48 f.; Trubek/Trubek, ELJ 2005, 343 (356 f.). 60  Vgl. dahingehend: Lenschow/Reiter, in: Tömmel, Die Europäische Union – Governance und Policy-Making, 2008, S. 166.



A. Terminologische Klarstellungen45

lassen ließen.61 Compliance wird in diesem Zusammenhang als jede Form „regelkonformen Verhaltens derjenigen Akteure, an die sich eine Regel förmlich richtet und deren Verhalten von der Regel erfasst wird“ verstanden.62 Über den EU-Rechtsvollzug durch nationale Hoheitsträger hinaus erfasst Compliance demnach auch die Befolgung unionsrechtlicher Vorgaben und nationaler Umsetzungsrechtsakte durch private natürliche und juristische Normadressaten. Während die Compliance Enforcement Theorie auf der Prämisse beruht, dass EU-Rechtsverstöße auf eine bewusste Entscheidung zurückzuführen sind, baut die Compliance Management Theorie auf der Vorstellung auf, dass Unionsrechtsverstöße meistens das unfreiwillige Resultat fehlender Befolgungskapazitäten und mehrdeutiger, unpräziser Rechtsakte sind.63 Während Compliance Enforcement dementsprechend willensbeugende, imperativ-hierarchische Sanktionsmechanismen zur Erzeugung topdown gerichteten Drucks einsetzt, arbeitet Compliance Management in Kooperation mit den Normadressaten am Aufbau nötiger Kapazitäten – d. h. personeller Ressourcen, Fachwissen, technischer Instrumente oder finanzieller Mittel – und trägt somit ausgehend von der Sphäre der Normadressaten bottom-up zur Befolgung unionsrechtlicher Vorgaben bei.64 Im Verhältnis zueinander stehen beide Theorien nicht notwendigerweise als Gegensätze. Vielmehr sieht Tallberg gerade in ihrer Kombination zu einer einzigen „management-enforcement ladder“ eine Chance, die Befolgung unionsrechtlicher Vorgaben schrittweise zu verbessern.65 Zwar sind die Untersuchungen im Rahmen dieser Arbeit nicht darauf ausgelegt, das Vollzugskontrollsystem der EU einer der dargestellten Theorien zuzuordnen. Das duale Konzept aus Compliance Enforcement und Compliance Management bietet jedoch Beschreibungskategorien, die bei den nachfolgenden Untersuchungen im Hinterkopf behalten werden sollten.

IO 2002, 609 (613 ff.). englischen Original: „rule-consistent behaviour of those actors, to whom a rule is formally addressed and whose behaviour is targeted by rule“, Börzel/Hofmann/ Sprungk, Why do States not obey the Law? Lessons from the European Union, 2003, S. 13. 63  Börzel/Hofmann/Sprungk, Why do States not obey the Law? Lessons from the European Union, 2003, S. 15 f.; Tallberg, IO 2002, 609 (613). 64  Börzel/Hofmann/Sprungk, Why do States not obey the Law? Lessons from the European Union, 2003, S. 16. 65  Tallberg, IO 2002, 609 (632). 61  Tallberg, 62  Im

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1. Teil: Grundlagen

3. Die Compliance-Assurance-Strategie der Kommission: Drei Dimensionen der Vollzugskontrolle Art. 17 I 2 EUV weist der Kommission die Aufgabe der Vollzugskontrolle zu, trifft jedoch keine Aussagen über die ihr zur Verfügung stehenden Mittel. Insgesamt findet sich in den Unionsverträgen mit dem Vertragsverletzungsverfahren gemäß Art. 258 ff. AEUV nur ein einziges ausdrücklich geregeltes Instrument, mit dessen Hilfe die Kommission den EU-Umweltrechtsvollzug in den Mitgliedstaaten sicherstellen kann. Da sich das Vertragsverletzungsverfahren mit der Feststellung, Beseitigung und Sanktionierung bereits be­ stehender Vollzugsdefizite befasst, ist es als ex-post gerichtetes Durchsetzungsinstrument mit Rechtsaufsichtsfunktion66 zu qualifizieren, das auf die Überwindung mitgliedstaatlicher Widerstände gerichtet ist.67 Aus dem Umstand, dass der AEUV der Kommission zumindest im Umweltsektor keine anderen Kontrollinstrumente an die Hand gibt,68 dürfen dennoch keine voreiligen Schlüsse gezogen werden. Weder nehmen die Unionsverträge für sich in Anspruch, das Vollzugskontrollinstrumentarium der EU abschließend zu regeln noch enthält Art. 258 ff. AEUV eine allgemeine Wertung, die es der Kommission gebieten würde, sich im Rahmen ihrer Vollzugskontrolltätigkeit auf nachträgliche Kontrollen zu beschränken. Aufgrund der offenen Formulierung des Art. 17 I 2 EUV, die sich auf eine Aufgabenzuweisung beschränkt, ist vielmehr davon auszugehen, dass der Kommission – natürlich innerhalb kompetenzieller sowie unionsrechtlicher Grenzen – Spielräume bei der weiteren Gestaltung ihrer Kontrolltätigkeit eröffnet sind. Hiervon hat sie in der Vergangenheit vor allem durch die Schaffung neuer, völlig ungeregelter Kontrollinstrumente Gebrauch gemacht, über die sie EU-Institutionen, Mitgliedstaaten und Öffentlichkeit in der Regel durch Mitteilungen in Kenntnis gesetzt hat.69 Für den Umweltsektor veröffentlichte die Kommission im Rahmen ihres Aktionsplans 2018 eine Darstellung ihres aktuellen Vollzugskontrollkonzepts.70 Diesem Konzept entsprechend, verfolgt sie unter dem Schlagwort 66  Stelkens, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 9. Auflage 2018, Europäisches Verwaltungsrecht, Europäisierung des Verwaltungsrechts und Internationales Verwaltungsrecht, Rn. 148. 67  Kugelmann, in: ­Streinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 17 EUV Rn. 66 ff. 68  Anders Art. 107 und 108 AEUV im Rahmen der Beihilfenaufsicht. 69  Vgl. etwa den Vorschlag zur Einführung des EU-Pilot-Verfahrens in: KOM, Mitteilung, Ein Europa der Ergebnisse – Anwendung des Gemeinschaftsrechts, 5.9.2007, KOM(2007) 502 endg., S. 8 f. 70  KOM, Mitteilung an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen – Aktionsplan der EU für einen besseren Vollzug des Umweltrechts und eine bessere Umweltordnungs-



A. Terminologische Klarstellungen47

Compliance Assurance gleich drei strategische Ansätze: So umfasst Compliance Assurance nicht nur Maßnahmen zur Durchsetzung (Enforcement), sondern auch Maßnahmen zur präventiven Unterstützung des Unionsrechtsvollzugs (Compliance Promotion) sowie Maßnahmen zur Überwachung (Compliance Monitoring) nationaler Vollzugsleistungen.71 –– ­ Im Bereich Compliance Promotion nimmt die Kommission die Umsetzung und Anwendung unionsrechtlicher Vorgaben präventiv in den Blick, indem sie Maßnahmen ergreift, um Adressaten umweltrechtlicher Verpflichtungen vor oder während des Vollzugsprozesses – z. B. durch Leitfäden, Helpdesks oder Diskussionsrunden – dabei zu unterstützen, ihren Pflichten nachzukommen.72 Bloße Unterstützungsmaßnahmen als Kontrolle zu verstehen, mag auf den ersten Blick fragwürdig erscheinen. Beratungen und Anleitungen setzen jedoch stets Impulse, die dazu geeignet sind, das Verhalten des Beratenen in eine bestimmte Richtung zu steuern und somit kontrollierend auf ihn einzuwirken. –– Der Bereich Compliance Monitoring umfasst Maßnahmen, die der Feststellung dienen, ob Adressaten umweltrechtlicher Verpflichtungen diesen nachkommen oder ob Rechtsverstöße vorliegen; hierzu gehören etwa die Durchführung von Inspektionen, die Bearbeitung von Beschwerden und andere Überwachungsmaßnahmen.73 –– Enforcement bezeichnet das Durchsetzungsinstrumentarium, mit dessen Hilfe bereits begangene Unionsrechtsverstöße gegebenenfalls gegen den Willen bzw. Widerstand des Adressaten umweltrechtlicher Verpflichtungen behoben, geahndet oder durch Abschreckung verhindert werden sollen.74 politik, 18.1.2018, COM(2018), 10 final, S. 2 f.; dazu auch: Falke, ZUR 2018, 246 (246). 71  Zur Darstellung im Detail auch: KOM, Environmental Compliance Assurance, o. D., https://ec.europa.eu/environment/legal/compliance_en.htm (Stand: 14.2.2023). 72  KOM, Mitteilung an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen – Aktionsplan der EU für einen besseren Vollzug des Umweltrechts und eine bessere Umweltordnungspolitik, 18.1.2018, COM(2018), 10 final, S. 2; dahingehend auch: Kugelmann, in: ­Streinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 17 EUV Rn. 61. 73  KOM, Mitteilung an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen – Aktionsplan der EU für einen besseren Vollzug des Umweltrechts und eine bessere Umweltordnungspolitik, 18.1.2018, COM(2018), 10 final, S. 3; KOM, Environmental Compliance Assurance, o. D., https://ec.europa.eu/environment/legal/compliance_en.htm (Stand: 14.2.2023). 74  KOM, Environmental Compliance Assurance, o.  D., https://ec.europa.eu/envi ronment/legal/compliance_en.htm (Stand: 14.2.2023); Kugelmann, in: ­Streinz, EUV/ AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 17 EUV Rn. 66 ff.

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1. Teil: Grundlagen

Da der Kommission bei der Gestaltung und Fortentwicklung des Vollzugskontrollinstrumentariums eine entscheidende Rolle zukommt, bietet es sich an, diese von ihr entwickelten Kategorien aufzugreifen und die EU-Vollzugskontrolle als Tätigkeitsfeld mit drei Dimensionen zu verstehen. Soweit sich einzelne Kontrollinstrumente nach ihrer Funktions- und Wirkungsdimension mehreren Bereichen zuordnen lassen, werden sie im Rahmen dieser Arbeit anhand ihres Funktionsschwerpunkts qualifiziert. Praktische Überschneidungen können und sollen dabei nicht ausgeschlossen werden. Die modellhaft dreigeteilte Compliance-Assurance-Strategie soll lediglich ein Rahmengerüst bilden, um das Vollzugskontrollinstrumentarium der EU systematisch beschreiben zu können.

B. Vollzugsdefizite im Umweltsektor In den vergangenen 50 Jahren wurden auf europäischer Ebene weitreichende Bemühungen unternommen, um die Realisierung der in Art. 191 I AEUV, 3 III EUV formulierten Ziele durch den Erlass von Rechtsnormen voranzutreiben. Die praktischen Umsetzungs- und Anwendungsleistungen der Mitgliedstaaten blieben zum Teil aber so weit hinter den Erwartungen des supranationalen Gesetzgebers zurück,75 dass die Glaubwürdigkeit der europäischen Umweltpolitik nachhaltig in Bedrängnis geriet.76 Ein Beispiel liefert das in Art. 4 I a) ii, b) ii der Wasserrahmenrichtlinie (2000/60/EG77) gesetzte Ziel, sämtliche Oberflächen- und Grundwasserkörper bis spätestens 201578 in einen guten ökologischen und chemischen bzw. chemischen und mengenmäßigen Zustand zu versetzen. Dass dieses Ziel verfehlt werden würde, hatte die Europäische Umweltagentur (EUA) bereits im Rahmen einer Studie für das Jahr 2012 antizipiert, wobei sie schätzte, dass sich bis 2015 nur 52 % aller Gewässer im angepeilten „guten Zustand“ befinden würden.79 In ihrem Anschlussbericht aus dem Jahr 2018 stellte die 75  IMPEL, Challenges in the Practical Implementation of EU Environmental Law and how IMPEL could help overcome them, Final report, 23.3.2015, S. 9, abrufbar unter: https://www.impel.eu/actions/download-file/files/cd4e61c4-5e61-4ced-b41d-c6 2aaaf8ad52/Implementation-Challenge-Report-23-March-2015.pdf (Stand: 14.2.2023). 76  Scheuing, NVwZ 1999, 475 (476). 77  Richtlinie 2000/60/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. Oktober 2000 zur Schaffung eines Ordnungsrahmens für Maßnahmen der Gemeinschaft im Bereich der Wasserpolitik, ABl. 2000, Nr. L 327, S. 1 ff. 78  Soweit ein Befreiungstatbestand vorlag, wurde die Frist bis 2021 bzw. 2027 verlängert, vgl. EUA, Report Nr. 7/2018, European waters – assessment of status and pressures, S. 7, abrufbar unter: https://www.eea.europa.eu/publications/state-of-water (Stand: 14.2.2023).



B. Vollzugsdefizite im Umweltsektor49

EUA fest, dass gute chemische bzw. mengenmäßige Zustände für immerhin 74 % bzw. 89 % aller Grundwasserkörper erreicht wurden;80 der Anteil an Oberflächengewässern in gutem ökologischem und chemischem Zustand blieb mit etwa 40 % dennoch deutlich hinter der maßgeblichen Zielmarke zurück.81 Erhebliche Probleme zeigten sich auch bei der Umsetzung und Anwendung europäischer Naturschutzrichtlinien – konkret der Vogelschutzrichtlinie (2009/147/EG82) und der Habitat-Richtlinie (92/43/EWG83). So musste die EUA im Rahmen einer 2020 veröffentlichten Studie feststellen, dass die biologische Vielfalt im Zeitraum zwischen 2013 und 2018 trotz erheblicher Anstrengungen auf Seiten der Mitgliedstaaten weiter abgenommen hatte. Als Folge anhaltender Veränderungen in der Land- und Meeresnutzung, Übernutzung in der Landwirtschaft, Fischerei und Jagd sowie der noch immer verbreiteten Verwendung nicht nachhaltiger Bewirtschaftungspraktiken befinde sich die Mehrheit der geschützten Lebensräume und Arten in einem schlechten oder sogar sehr schlechten Zustand. Hinzukommen die Auswirkungen anhaltender Verschmutzungen, invasiver gebietsfremder Arten und des Klimawandels.84 Zwar verzeichnete die EUA auch einige Verbesserungen im Bereich des Arten- und Habitat-Schutzes. Die Biodiversitätsziele der EU für das Jahr 2020, zu denen u. a. eine vollständige Implementation der Naturschutzrichtlinien zählte, wurden dennoch weit verfehlt:85 Nach Maßgabe des ersten Ziels der europäischen Biodiversitätsstrategie sollten die Anteile positiver Lebensraum- und Artenbewertungen im Sinne der Habitat-Richtlinie 79  EUA, Report Nr. 8/2012, European waters – assessment of status and pressures, S. 10, abrufbar unter: https://www.eea.europa.eu/publications/european-waters-assess ment-2012 (Stand: 14.2.2023). 80  EUA, Report Nr. 7/2018, European waters – assessment of status and pressures, S. 8, abrufbar unter: https://www.eea.europa.eu/publications/state-of-water (Stand: 14.2.2023). 81  EUA, Report Nr. 7/2018, European waters – assessment of status and pressures, S. 6, 25, abrufbar unter: https://www.eea.europa.eu/publications/state-of-water (Stand: 14.2.2023). 82  Richtlinie 2009/147/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 30. November 2009 über die Erhaltung der wildlebenden Vogelarten, ABl. 2010, Nr. L 20, S. 7 ff. 83  Richtlinie 92/43/EWG des Rates vom 21. Mai 1992 zur Erhaltung der natür­ lichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen, ABl. 1992, Nr. L 206, S.  7 ff. 84  EUA, Report Nr. 10/2020, State of nature in the EU – Results from reporting under the nature directives 2013–2018, S. 136, abrufbar unter: https://www.eea. europa.eu/publications/state-of-nature-in-the-eu-2020 (Stand: 14.2.2023). 85  WWF, Time is up: EU misses 2020 biodiversity targets by a long shot, EEA report shows, 19.10.2020, https://www.wwf.eu/what_we_do/biodiversity/?uNewsID= 979916 (Stand: 14.2.2023).

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1. Teil: Grundlagen

um 100 % bzw. 50 % gesteigert werden, ebenso der Anteil positiver Artenbewertungen nach der Vogelschutzrichtlinie um 50 %.86 Während die gesetzten Ziele für den Habitat-Schutz um 12 % und für den Vogelschutz um 20 % unterschritten wurden, wurde die Zielmarke im Bereich des sonstigen Artenschutzes um nur 2 % verfehlt. Gleichzeitig zeigten jedoch zahlreiche Lebensraum- und Artenbewertungen Verschlechterungen, darunter 32 % der Lebensräume, 23 % der Vogelarten und 31 % sonstiger geschützter Arten.87 Dass die Umsetzung des Natura-2000-Systems den Mitgliedstaaten generell Schwierigkeiten bereitet, zeigt sich auch am Beispiel der Bundesrepublik Deutschland. Bereits 2006 hatte der EuGH im Rahmen eines Vertragsverletzungsverfahrens gegen Deutschland Defizite bei der Umsetzung der Art. 6 III, 12, 13 und 16 Habitat-Richtlinie (92/43/EWG) in nationales Recht festgestellt.88 Noch immer kommt die Bundesrepublik ihren aus der Richtlinie resultierenden Verpflichtungen nach Auffassung der Kommission allerdings unzureichend nach. Aktuell wird ihr vorgeworfen, bei allen 4606 Natura2000-Gebieten in den Bundesländern sowie auf Bundesebene keine qualifizierten Erhaltungsziele festgelegt zu haben, wodurch die Wirksamkeit der zu ergreifenden Erhaltungsmaßnahmen beeinträchtigt werde. Ein erstes Aufforderungsschreiben hatte die Kommission bereits 2015 übermittelt, zu Beginn des Jahres 2020 erfolgte eine neue nachdrücklichere Aufforderung.89 Nur wenige Monate später verlangte die Kommission von Deutschland zusätzlich, den Schutz blütenreicher Wiesen in Natura-2000-Gebieten zu verbessern. Besonders in Bezug auf zwei Lebensräume – Flachland-Mähwiesen und Berg-Mähwiesen – verstoße die Bundesrepublik gegen ihre Pflicht, geeignete Maßnahmen zur Vermeidung von Verschlechterungen zu treffen, vgl. Art. 6 II Habitat-Richtlinie (92/43/EWG).90 Eine besonders gravierende Verfehlung zeichnet sich schließlich im EUKlimaschutzrecht ab. So normiert Art. 4 I der Klimaschutz-Verordnung (EU)

86  KOM, Mitteilung an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen, Lebensversicherung und Naturkapital: Eine Biodiversitätsstrategie der EU bis 2020, 3.5.2011, KOM(2011) 244 final, S. 5. 87  EUA, Report Nr. 10/2020, State of nature in the EU – Results from reporting under the nature directives 2013–2018, S. 127 f., abrufbar unter: https://www.eea.eu ropa.eu/publications/state-of-nature-in-the-eu-2020 (Stand: 14.2.2023). 88  EuGH, Rs. C-98/08, Kommission/Deutschland, Slg. 2006, I-53 (Rn. 31 ff.). 89  KOM, Pressemitteilung, Habitat-Richtlinie: Kommission verschärft Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland, 12.02.2020, juris. 90  KOM, Pressemitteilung, Vertragsverletzungsverfahren: Deutschland muss bei Umweltschutz und Anerkennung von Berufsqualifikationen nachbessern, 02.11.2020, juris.



B. Vollzugsdefizite im Umweltsektor51

2021/111991 verbindlich die Zielvorgabe, die Nettotreibhausgasemissionen der EU bis 2030 um 55 % gegenüber dem Stand von 1990 zu senken. Für viele Mitgliedstaaten, darunter auch Deutschland, wurde die Prognose gestellt, dass diese Ziele bei Fortführung ihres bisherigen Kurses nicht erreicht werden können.92 Immer wieder setzen Defizite bei der mitgliedstaatlichen Umsetzung und Anwendung des EU-Umweltrechts dem Wirkungspotenzial supranationaler Rechtsakte Grenzen. Die Gründe für die Schwierigkeiten in diesem Bereich sind vielschichtig. Für den Aufbau eines effektiven Vollzugskontrollsystems sowie für jede daran anknüpfende effektivitätspolitische Betrachtung spielt die Erforschung möglicher Ursachen eine Schlüsselrolle. Schließlich kann nur eine umfassende Ursachenanalyse Aufschluss darüber geben, an welchen Stellen innerhalb des Vollzugsprozesses Fehler auftreten und kontrollierende Einwirkungen ansetzen müssen. Bevor jedoch im Einzelnen auf die Gründe für das Vollzugsdefizit im Umweltsektor eingegangen wird, soll ein Blick auf die Vorteile effektiver Vollzugsleistungen verdeutlichen, welcher Stellenwert wirksamen Umsetzungs- und Anwendungsmaßnahmen und damit zugleich der EU-Vollzugskontrolle in diesem Bereich zukommt.

I. Vorteile des effektiven EU-Umweltrechtsvollzugs Werden umweltrechtliche Vorgaben missachtet oder Umweltziele verfehlt, gilt der erste Gedanke stets dem Offensichtlichen – nämlich der Gefahr, gravierende und zum Teil irreversible Umwelt- und Gesundheitsschäden zu verursachen. Oft verkannt wird hingegen, dass Vollzugsrückstände EU und Mitgliedstaaten auch finanziell erheblich belasten, während der ordnungs­ gemäße, rechtzeitige Vollzug für die nationale Wirtschaft nicht nur mit Einschränkungen verbunden sein muss, sondern auch Vorteile für die Entwicklung des Binnenmarkts und die Eröffnung neuer ökonomischer Perspektiven bieten kann.93

91  Verordnung (EU) 2021/1119 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 30. Juni 2021 zur Schaffung des Rahmens für die Verwirklichung der Klimaneutra­ lität und zur Änderung der Verordnungen (EG) Nr. 401/2009 und (EU) 2018/1999 („Europäisches Klimagesetz“), ABl. 2021, Nr. L 243, S. 1 ff. 92  Zur Entwicklung in Deutschland, verglichen mit Dänemark und Schweden: Agora Energiewende/Agora Verkehrswende, Die Kosten von unterlassenem Klimaschutz für den Bundeshaushalt, 2018, S. 30, abrufbar unter: https://static.agora-ener giewende.de/fileadmin/Projekte/2018/Non-ETS/142_Nicht-ETS-Papier_WEB.pdf (Stand: 14.2.2023). 93  So schrieb etwa Lübbe-Wolff, dass „Investitionen in den Umweltschutz in aller Regel nicht rentierlich“ seien, Lübbe-Wolff, NuR 1993, 217 (218).

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1. Teil: Grundlagen

1. Auswirkungen auf den Haushalt Mit Blick auf die Haushaltsinteressen der Union hat sich gezeigt, dass der defizitäre Vollzug des EU-Umweltrechts eine hohe Summe wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Kosten generiert.94 So wurden einer Schätzung der EUA zufolge im Zeitraum von gerade einmal vier Jahren zwischen 2008 und 2012 – je nach Rechnungsmethode – 329 Mrd. Euro Kosten für Gesundheitsund Umweltschäden durch Industrieimmissionen verursacht, wobei nur die im Europäischen Schadstoffemissionsregister erfassten Unternehmen in die Studie einbezogen wurden. 50 % aller Schäden resultierten dabei aus Emissionen, die sich auf nur 1 % der berücksichtigten Unternehmen zurückführen ließen. Bei 26 der 30 stärksten Emittenten handelte es sich um große, überwiegend stein- oder braunkohlebetriebene Energieerzeugungsanlagen in Deutschland oder Osteuropa.95 Von diesen knapp 100 Mrd. Euro, die für die direkte Beseitigung schädlicher Umweltauswirkungen und ihrer Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit – etwa in Form von Gesundheitsausgaben bzw. gesundheitsbedingten Arbeitsausfällen – aber auch für die Beseitigung von Schäden an Gebäuden jährlich angefallen sind, ließen sich nach Einschätzung der Kommission ca. 50 Mrd Euro pro Jahr, d. h. etwa 4 Mrd. Euro monatlich, auf Rückstände bei der Durchführung des EU-Umweltrechts zurückführen.96 Dass sich die Prävention nachhaltiger Umweltschäden oft kostengünstiger erreichen ließe als die Restitution langfristig geschädigter Umweltmedien, tritt somit deutlich zutage.97

94  KOM, Mitteilung an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen, Sicherung der Vorteile aus der EU-Umweltpolitik durch regelmäßige Umsetzungskontrollen, 27.5.2016, COM(2016) 316 final, S. 3. 95  EUA, Technical report, Nr. 20/2014, Costs of fair pollution from European industrial facilities 2008–2012, an updated assessment, S. 7 ff., abrufbar unter: https:// www.eea.europa.eu/publications/costs-of-air-pollution-2008-2012 (Stand: 14.2.2023). 96  KOM, Mitteilung an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen, Konkretere Vorteile aus den Umweltmaßnahmen der EU: Schaffung von Vertrauen durch mehr Information und größere Reaktionsbereitschaft der Behörden, 7.3.2012, KOM(2012) 95 final, S. 3; eine detaillierte Schätzung verursachter Kosten durch Vollzugsdefizite in verschiedenen Umweltbereichen findet sich bei: KOM, Study: The costs of not implementing EU environmental law, 2019, S. 15 ff., abrufbar unter: https://ec.europa.eu/ environment/eir/pdf/study_costs_not_implementing_env_law.pdf (Stand: 14.2.2023). 97  IMPEL, Challenges in the Practical Implementation of EU Environmental Law and how IMPEL could help overcome them, Final report, 23.3.2015, S. 59, abrufbar unter: https://www.impel.eu/actions/download-file/files/cd4e61c4-5e61-4ced-b41d-c6 2aaaf8ad52/Implementation-Challenge-Report-23-March-2015.pdf (Stand: 14.2.2023).



B. Vollzugsdefizite im Umweltsektor53

2. Schaffung eines gemeinsamen Binnenmarkts Auch das wirtschaftspolitische Primärziel der EU, einen einheitlichen Binnenmarkt zu schaffen, lässt sich nur realisieren wenn sichergestellt ist, dass für Wirtschaftsteilnehmer in allen Mitgliedstaaten vergleichbare Bedingungen gelten.98 Stellt das EU-Umweltrecht Anforderungen an die Errichtung und den Betrieb von Industrieanlagen, die die wirtschaftliche Betätigung bestimmter Unternehmen und Industriezweige erschweren – zu denken wäre hier etwa an Immissionsschutzauflagen, Umwelthaftungs-, Umweltschadensrecht oder strenge Vorschriften zur Abfall- und Abwasserentsorgung – drohen Mitgliedstaaten, die die Einhaltung von Umweltschutzbestimmungen durch private Normadressaten nicht konsequent verfolgen und mit der Umsetzung und Anwendung des EU-Umweltrechts im Rückstand sind, für diese Unternehmen und Industriezweige als Standort attraktiver zu werden als diejenigen Mitgliedstaaten, die die Durchführung umweltrechtlicher Vorgaben im eigenen Hoheitsgebiet mit hohem technischen und finanziellen Aufwand forcieren. Durch den bewussten Verstoß gegen Umweltschutzbestimmungen könnten sich einzelne Mitgliedstaaten gezielt einen unfairen Wettbewerbsvorteil verschaffen,99 der zu erheblichen Binnenmarktsverzerrungen führen und die Einheitlichkeit des europäischen Wirtschaftsraums nachhaltig schädigen könnte.100 Neben den in Art. 191 I, 3 III EUV AEUV verankerten Umweltzielen hat die EU also auch ein binnenmarktpolitisches Interesse daran, ein einheitliches Vollzugsniveau in allen Mitgliedstaaten zu erreichen. 3. Green Tech als ökonomische Perspektive Im Übrigen muss berücksichtigt werden, dass Wirtschaftswachstum und Umweltschutz nicht unbedingt in Widerspruch zueinanderstehen. In den vergangenen Jahrzehnten fungierte die Umweltpolitik der EU als entscheidender Katalysator für die Modernisierung der europäischen Wirtschaft und Industrie. In Zeiten steigender Rohstoffpreise, zunehmender Importe und knapper Ressourcen lassen sich wirtschaftliche Erfolge nur mit Hilfe eines möglichst

98  IMPEL, Challenges in the Practical Implementation of EU Environmental Law and how IMPEL could help overcome them, Final report, 23.3.2015, S. 11, abrufbar unter: https://www.impel.eu/actions/download-file/files/cd4e61c4-5e61-4ced-b41d-c6 2aaaf8ad52/Implementation-Challenge-Report-23-March-2015.pdf (Stand: 14.2.2023); Everling, NVwZ 1993, 209 (211). 99  Ballesteros, elni 2009, 54 (59); Lübbe-Wolff, NuR 1993, 217 (219). 100  Falke, ZUR 2018, 246 (246); Hedemann-Robinson, EEELRev 2015, 115 (115); Scheuing, NVwZ 1999, 475 (476).

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1. Teil: Grundlagen

effizienten Produktionsmanagements erzielen.101 Indem das umweltpolitische Instrumentarium – beispielsweise durch finanzielle Förderungen, Ge- und Verbote – strategische und technische Innovationen und Investitionen anregt, wird die Entwicklung ressourcen-, energie- und kosteneffizienterer Produk­ tionsstrategien sowie alternativer Technologien vorangetrieben, die die Produktivität und Wettbewerbsfähigkeit europäischer Unternehmen steigern.102 So ergab eine deutsche Ressourcenproduktivitätsstudie auf Grundlage von drei verschiedenen, vereinfachten, fiktiven Szenarien, dass eine lineare Absenkung von Material- und Energiekosten um 20 % über einen Zeitraum von 10 Jahren hinweg das nationale Bruttoinlandsprodukt erheblich steigern und öffentliche Haushalte entlasten würde.103 Darüber hinaus hat die EU-Umweltpolitik auch zur Entstehung der sog. Ökoindustrie104 beigetragen, einer völlig neuen Umwelttechnologie-Branche mit zahlreichen wirtschaftlichen Perspektiven. Im Rahmen des GreenTechAtlas 2.0, einer für das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, nu­ kleare Sicherheit und Verbraucherschutz (BMUV) durchgeführten Studie, wurde der Umwelttechnik-Branche eine äußerst optimistische Wachstumsprognose gestellt. Schätzungen zufolge sollte sich der weltweite Umsatz der Umweltindustrien von 1.400 Mrd. Euro im Jahr 2007 bis 2020 auf 3.100 Mrd. Euro mehr als verdoppeln.105 In Deutschland wurde ein Anstieg des durch Umwelttechnologien erwirtschafteten Bruttoinlandsprodukt von 8 % auf 14 % erwartet.106 Die Realität konnte diese Prognose sogar noch übertreffen. So lag der Anteil des deutschen Bruttoinlandsprodukt aus der Umwelttechnik-Branche im Jahr 2020 sogar bei 15 % mit steigender Ten-

101  Rayment/Pirgmaier u. a., The economic benefits of environmental policy, A project under the Framework contract for economic analysis, Final Report 2009, S.  4  f., abrufbar unter: https://ec.europa.eu/environment/enveco/economics_policy/ pdf/report_economic_benefits.pdf (Stand: 14.2.2023). 102  Vgl. dazu aus deutscher Perspektive: BMUV, GreenTech made in Germany 2.0, Umwelttechnologie-Atlas für Deutschland, 2009, S. 76, abrufbar unter: https://www. euractiv.com/wp-content/uploads/2014/02/greentech2009.pdf (Stand: 14.2.2023). 103  Fischer/Lichtblau/Meyer/Scheelhaase, Wirtschaftsdienst 2004, 247 (252 ff.). 104  Begriff verwendet etwa: KOM, Mitteilung an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen, Innovation für eine nachhaltige Zukunft – Aktionsplan für Öko-Innovationen (Öko-Innovationsplan), 15.12.2011, KOM(2011) 899 final, S. 21. 105  BMUV, GreenTech made in Germany 2.0, Umwelttechnologie-Atlas für Deutschland, 2009, S. 14 ff., abrufbar unter: https://www.euractiv.com/wp-content/ uploads/2014/02/greentech2009.pdf (Stand: 14.2.2023). 106  BMUV, GreenTech made in Germany 2.0, Umwelttechnologie-Atlas für Deutschland, 2009, S. 20 ff., abrufbar unter: https://www.euractiv.com/wp-content/up loads/2014/02/greentech2009.pdf (Stand: 14.2.2023).



B. Vollzugsdefizite im Umweltsektor55

denz bei Beschäftigung und Umsatzwachstum.107 Das Marktvolumen der deutschen Umwelttechnik und Ressourceneffizienz belief sich 2020 auf 392 Mrd. Euro, weltweit wurde erstmals die Marke von 4 Bill. Euro überschritten.108 Einer von der GD ENV in Auftrag gegebenen Studie des Institutes for Environmental Studies der Vrije Universiteit Amsterdam zu den Auswirkungen umweltpolitischer Maßnahmen auf die Entwicklung der Wirtschaft in der EU zufolge standen bereits 2009 36 Mio. Arbeitsplätze – d. h. jeder sechste Arbeitsplatz in der EU – mittelbar oder unmittelbar mit der UmwelttechnikBranche in Zusammenhang.109 Weiterhin verzeichnete eine im Auftrag der Generaldirektion für Unternehmen und Industrie (GD ENTR) durchgeführte Untersuchung des Forschungsunternehmens ECORYS im Erhebungszeitraum zwischen 2000 und 2008 ein europaweites Beschäftigungswachstum von ca. 7 % pro Jahr in diesem Bereich:110 Waren im Jahr 2000 nur ca. 2 Mio. Menschen in der Ökoindustrie beschäftigt gewesen, ist diese Zahl bis 2008 um mehr als 50 % auf ca. 3,5 Mio. gestiegen.111 Deutsche Unternehmen erwarten bis 2025 einen Beschäftigungszuwachs von 6,8 % jährlich.112 Bereits 2012 wurden hier etwa 1,5 Mio. Beschäftigte zu den Bereichen Umwelttechnik und Ressourceneffizienz gezählt,113 während nach Angaben des Statistischen Bundesamtes im selben Jahr nur knapp 750.000 Beschäftigte in Betrieben 107  BMUV, GreenTech made in Germany 2021, Umwelttechnologie-Atlas für Deutschland, 2021, S. 5, abrufbar unter: https://www.rolandberger.com/publications/ publication_pdf/roland_berger_greentech_atlas_2.pdf (Stand: 14.2.2023). 108  BMUV, GreenTech made in Germany 2021, Umwelttechnologie-Atlas für Deutschland, 2021, S. 7, abrufbar unter: https://www.rolandberger.com/publications/ publication_pdf/roland_berger_greentech_atlas_2.pdf (Stand: 14.2.2023). 109  Rayment/Pirgmaier u. a., The economic benefits of environmental policy, A project under the Framework contract for economic analysis, Final Report 2009, S. 5; abrufbar unter: https://ec.europa.eu/environment/enveco/economics_policy/pdf/report _economic_benefits.pdf (Stand: 14.2.2023). 110  Ecorys, Study on the Competitiveness of the EU eco-industry: Within the Framework Contract of Sectoral Competitiveness Studies, Final Report – Part 1, 2009, S. 41, abrufbar unter: https://ec.europa.eu/docsroom/documents/1459/attach ments/1/translations/en/renditions/native (Stand: 14.2.2023). 111  Eine grafische Darstellung findet sich bei: Statistisches Bundesamt, Anzahl der Beschäftigten in der Ökoindustrie in den EU-27-Ländern von 2000 bis 2008 (in 1.000), Statista, 2009, abrufbar unter: https://de.statista.com/statistik/daten/stu die/157624/umfrage/oekoindustrie-anzahl-des-beschaeftigten-in-der-eu-seit-2000/ (Stand: 14.2.2023). 112  BMUV, GreenTech made in Germany 2021, Umwelttechnologie-Atlas für Deutschland, 2021, S. 8, abrufbar unter: https://www.rolandberger.com/publications/ publication_pdf/roland_berger_greentech_atlas_2.pdf (Stand: 14.2.2023). 113  BMUV, GreenTech made in Germany 4.0, Umwelttechnologie-Atlas für Deutschland, 2018, S. 9, 118, abrufbar unter: https://www.rolandberger.com/publica

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1. Teil: Grundlagen

der marktführenden Kraftwagen- und Kraftwagenteile-Herstellung arbeiteten.114 Zwar liest sich diese Zahl eindrucksvoll, berücksichtigt werden muss jedoch, dass sich die vergleichsweise hohe Beschäftigtenzahl in der Ökoindustrie nicht zuletzt aus ihrer Natur als Querschnittsbranche ergibt, die sich mit allen etablierten Industriezweigen (Automobil- und Maschinenbau sowie Chemie- und Elektroindustrie) überschneidet, soweit diese ihr Angebot um Produkte und Dienstleistungen aus dem Bereich der Umwelttechnik ergänzt haben.115 Dennoch exemplifizieren die statistischen Daten das Ausmaß, in dem umweltpolitische Vorgaben, Ziele und Prioritäten die Wirtschaftsverhältnisse in Europa bereits verändert haben und noch verändern werden. Dies gilt freilich nur, soweit die Umweltziele der EU und die zu ihrer Erreichung geschaffenen Rechtsakte auf nationaler Ebene wirksam in die staatliche Politik und Rechtsordnung implementiert werden.

II. Ursachenforschung: Sektorspezifische und allgemeine Vollzugsschwierigkeiten Der Vollzug des EU-Umweltrechts durch die Mitgliedstaaten wird von einer Vielzahl politischer, rechtlicher, organisatorischer, gesellschaftlicher und ökonomischer Faktoren beeinflusst. Soll das Vollzugskontrollsystem der EU die Durchführung europäischer Umweltschutzbestimmungen effektiv sichern, müssen Kontrollstrategien mit Rücksicht auf diese Faktoren und ihre Auswirkungen auf die praktische Tätigkeit nationaler Vollzugsakteure entwickelt werden. Seitdem die EU den Unionsrechtsvollzug ins Zentrum politischer Aufmerksamkeit gerückt hat, wurden daher immer wieder Studien durch­ geführt bzw. in Auftrag gegeben, die sich mit den Ursachen für die im Umweltsektor festgestellten Vollzugsdefizite befasst haben. Im Folgenden sollen einige wesentliche Aspekte aufgezeigt werden, die dabei regelmäßig als ­ Vollzugshindernisse identifiziert wurden.

tions/publication_pdf/roland_berger_greentech_atlas_4_0_final_20141128.pdf (Stand: 14.2.2023). 114  Statistisches Bundesamt, Beschäftigte in der deutschen Automobilindustrie in den Jahren 2011 bis 2021, abrufbar unter: https://de.statista.com/statistik/daten/stu die/30703/umfrage/beschaeftigtenzahl-in-der-automobilindustrie/ (Stand: 14.2.2023). 115  Zur Umwelttechnik-Branche als Querschnittsbranche: BMUV, GreenTech made in Germany 4.0, Umwelttechnologie-Atlas für Deutschland, 2018, S. 122 ff., abrufbar unter: https://www.rolandberger.com/publications/publication_pdf/roland_berger_ greentech_atlas_4_0_final_20141128.pdf (Stand: 14.2.2023).



B. Vollzugsdefizite im Umweltsektor57

1. Ressourcen- und Informationsdefizite in der Verwaltung Als Schwierigkeit bei der Durchführung des EU-Umweltrechts wurde zunächst ein unionsweiter Ressourcenmangel erkannt. Im Rahmen einer 2014 durchgeführten Befragung des IMPEL-Netzwerks benannten etwa 60 % aller teilnehmenden nationalen Stellen geringe Kapazitäten an ausgebildetem Fachpersonal als Hauptursache für das nationale Vollzugsdefizit.116 Die Befragung ergab, dass vor allem die für die Anwendung des EU-Umweltrechts bzw. des nationalen Umsetzungsrechts verantwortlichen Verwaltungsbehörden von ressourcentechnischen Engpässen betroffen seien. Sowohl hochrangigen Ministerien als auch lokalen Behörden auf den unteren Verwaltungsebenen fehle es oft an umwelttechnischem bzw. wissenschaftlichem Sachverstand. Spezialisierte Umweltbehörden und -agenturen mögen zwar über die erforderliche Expertise verfügen, nicht aber über ausreichend Personal, um den EU-Umweltrechtsvollzug innerhalb des gesamten Staatsgebiets flächendeckend zu gewährleisten.117 Gerade an der unmittelbaren Vollzugsfront – d. h. auf den unteren Verwaltungsebenen – seien Behörden bei der Masse umweltrelevanter Tätigkeiten stark ausgelastet. Oft finde Vollzug nur am Schreibtisch, z. B. in immissionsschutzrechtlichen Genehmigungsverfahren anhand von Antragsunterlagen statt, während eine Überprüfung der wirklichen Verhältnisse vor Ort nur selten geleistet werden könne. Unabhängig von Antragsverfahren, in denen sich Anlagenbetreiber selbst an die Behörden wenden, bleibe erst recht wenig Zeit für selbstständige Ermittlungs- und Überwachungsmaßnahmen.118 Ressourcendefizite spielen indes nicht nur in der Verwaltung eine Rolle, vielmehr kann der Vollzug des EU-Umweltrechts auch die allgemeinen finanziellen Kapazitäten der Mitgliedstaaten überfordern. Soll auf nationaler Ebene effektiver Umweltschutz geleistet werden, bedarf es dazu oft kostspieliger Investitionen119 in technologische Standards und die nationale Infra116  IMPEL, Challenges in the Practical Implementation of EU Environmental Law and how IMPEL could help overcome them, Final report, 23.3.2015, S. 6, 44; ab­ rufbar unter: https://www.impel.eu/actions/download-file/files/cd4e61c4-5e61-4cedb41d-c62aaaf8ad52/Implementation-Challenge-Report-23-March-2015.pdf (Stand: 14.2.2023); so auch bereits: Krämer, in: Lübbe-Wolff, Der Vollzug des europäischen Umweltrechts, 1996, S. 32. 117  IMPEL, Challenges in the Practical Implementation of EU Environmental Law and how IMPEL could help overcome them, Final report, 23.3.2015, S. 10, 77, ab­ rufbar unter: https://www.impel.eu/actions/download-file/files/cd4e61c4-5e61-4cedb41d-c62aaaf8ad52/Implementation-Challenge-Report-23-March-2015.pdf (Stand: 14.2.2023). 118  Lübbe-Wolff, NuR 1993, 217 (218). 119  Krämer, in: Lübbe-Wolff, Der Vollzug des europäischen Umweltrechts, 1996, S.  31 f.

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1. Teil: Grundlagen

struktur, so z. B. in die Restauration veralteter, undichter Abwasserleitungen oder aber in den Ausbau von Anlagen zur Gewinnung erneuerbarer Energien. An zweiter Stelle identifizierte etwa die Hälfte der Befragten unzureichende Umweltinformations- und Datenbestände als Problem.120 Soweit der Vollzug des EU-Umweltrechts bzw. des nationalen Umsetzungsrechts in den Aufgabenbereich der innerstaatlichen Verwaltungen fällt, drangen über lange Zeit hinweg nur wenig auswertbare Informationen zum Zustand der Umwelt oder zu konkreten Durchführungsmaßnahmen nach außen, so dass Rückschlüsse auf die administrativen Vollzugsleistungen kaum möglich waren.121 Eine stark nach innen orientierte Arbeitspraxis (sog. Silodenken) wurde vor allem bei spezialisierten Umweltbehörden beobachtet, die dem wechselseitigen Informationsaustausch und dem Aufbau von Kommunikationsbeziehungen mit anderen Behörden zu wenig Beachtung schenkten.122 2. Geringer Vollzugswille und fehlendes Umweltbewusstsein Als wichtige Voraussetzung für die erfolgreiche Implementation des EUUmweltrechts wurde ferner das Bestehen eines starken politischen Vollzugswillens erkannt,123 der nicht nur mit der Einstellung des jeweiligen Mitgliedstaats zum Hoheitsanspruch der EU, sondern vor allem mit der allgemeinen Akzeptanz des Umweltschutzes als politische Priorität in Zusammenhang steht. Hierbei muss berücksichtigt werden, dass die Bürgerinnen und Bürger eines Staates, vor allem aber wirtschaftliche Interessengruppen die nationalen Regierungen und Vollzugsbehörden vor Interessenkonflikte stellen kön120  IMPEL, Challenges in the Practical Implementation of EU Environmental Law and how IMPEL could help overcome them, Final report, 23.3.2015, S. 6, 43 f., abrufbar unter: https://www.impel.eu/actions/download-file/files/cd4e61c4-5e61-4cedb41d-c62aaaf8ad52/Implementation-Challenge-Report-23-March-2015.pdf (Stand: 14.2.2023); IEEP, Project Make it Work – Towards a roadmap for future EU environmental regulation, Background paper for the Expert workshop, 2–3 April 2014, 2014, S.  9, abrufbar unter: http://minisites.ieep.eu/assets/1832/Make_it_Work_-_Back ground_paper_for_Expert_Workshop.pdf (Stand: 14.2.2023). 121  Krämer, in: Lübbe-Wolff, Der Vollzug des europäischen Umweltrechts, 1996, S. 34. 122  IMPEL, Challenges in the Practical Implementation of EU Environmental Law and how IMPEL could help overcome them, Final report, 23.3.2015, S. 10, 78, abrufbar unter: https://www.impel.eu/actions/download-file/files/cd4e61c4-5e61-4ced-b4 1d-c62aaaf8ad52/Implementation-Challenge-Report-23-March-2015.pdf (Stand: 14.2. 2023). 123  IEEP, Project Make it Work – Towards a roadmap for future EU environmental regulation, Background paper for the Expert workshop, 2–3 April 2014, 2014, S. 9, abrufbar unter: https://minisites.ieep.eu/assets/1832/Make_it_Work_-_Background_ paper_for_Expert_Workshop.pdf (Stand: 14.2.2023).



B. Vollzugsdefizite im Umweltsektor59

nen. Empfinden einflussreiche Unternehmen die Umweltschutzvorschriften der EU als „Schikane“, die für sie nichts weiter als einen Mehraufwand an Kosten und Ressourcen bedeutet, werden sie darauf drängen, ihre Umsetzung möglichst lange hinauszuzögern. In der Praxis zeigen sich vor allem kommunale Behörden oft sensibel gegenüber den Bedürfnissen ortsansässiger Unternehmen, die durch die nationale Umsetzung des EU-Umweltrechts unter Druck geraten.124 Ein produktives Vollzugsklima verlangt daher ein stabiles Maß an Umweltbewusstsein, auf dessen Grundlage konkurrierende Interessen zurückgestellt und Einschränkungen im politischen, privaten und wirtschaftlichen Bereich zu Gunsten umweltpolitischer Ziele akzeptiert werden. Obwohl der Aspekt des fehlenden Umweltbewusstseins bis heute in Ursachenanalysen thematisiert wird,125 gelangten die von der Kommission bis 2020 jährlich veröffentlichten Spezial-Eurobarometer-Umfragen mit dem Ziel, das Meinungsbild der Unionsbürgerinnen und Bürger zum Thema Umwelt zu erforschen, stets zu äußerst positiven Ergebnissen: 2019 befanden 83 % von ca. 27.500126 Befragten aus allen Mitgliedstaaten das EU-Umweltrecht für notwendig, um die Umwelt in ihrem jeweiligen Staat zu schützen.127 Bereits eine 2017 veröffentlichte Erhebung des Europäischen Parlaments hatte ergeben, dass 75 % aller Befragten weitere EU-Maßnahmen im Bereich des Umwelt- und Klimaschutzes begrüßen würden.128 Die Auffassung, dass Umweltschutzentscheidungen gemeinsam innerhalb der EU und nicht von den nationalen Regierungen allein getroffen werden sollten, erhielt 2019 eine Zustimmungsrate von 70 %, und zeigte somit einen Zuwachs um 3 % im Vergleich zur vorangegangenen Befragung im Jahr 2017 bzw. 10 % im Ver124  Krämer, in: Lübbe-Wolff, Der Vollzug des europäischen Umweltrechts, 1996, S.  28 ff.; Tallberg, IO 2002, 609 (628). 125  Vgl. KOM, Mitteilung an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen über die Umsetzung des Umweltrechts der Europäischen Gemeinschaft, 18.11.2008, KOM(2008) 773 final, S. 3; Albin, DVBl 2000, 1483 (1484); Krämer, in: Demaret/ Govaere/Hanf, 30 Years of European Legal Studies at the College of Europe, 2005, S. 352. 126  Vgl. KOM, Spezial-Eurobarometer 501, Einstellungen der europäischen Bürger zur Umwelt, Factsheet Germany, Dezember 2019, S. 1, abrufbar unter: https:// europa.eu/eurobarometer/api/deliverable/download/file?deliverableId=72445 (Stand: 14.2.2023). 127  Lediglich 12 % stimmten überhaupt nicht zu; im Detail dazu: KOM, Special Eurobarometer 501 – March 2020, Report, Attitudes of European citizens towards the environment, 2019, S. 80, abrufbar unter: https://europa.eu/eurobarometer/api/deliver able/download/file?deliverableId=72616 (Stand: 14.2.2023). 128  EP, Two years until the 2019 European election, Special Eurobarometer of the European Parliament, 2017, S. 11, 25 f., abrufbar unter: https://www.europarl.europa. eu/RegData/etudes/STUD/2017/599336/EPRS_STU(2017)599336_EN.pdf (Stand: 14.2.2023).

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1. Teil: Grundlagen

gleich zu 2014.129 Ganze 83 % der Befragten waren zudem der Meinung, dass die EU überprüfen können sollte, ob Umweltschutzgesetze in den Mitgliedstaaten ordnungsgemäß umgesetzt werden.130 2019 gaben 94 % aller Befragten an, dass ihnen der Umweltschutz „ziemlich wichtig“ (41 %) oder sogar „sehr wichtig“ (53 %) sei, wobei Klimawandel, Luft- und Wasserverschmutzung sowie zunehmende Abfallmengen als besonders besorgniserregende Themen hervorgehoben wurden.131 Bereits in den Vorjahren hatte die Kommission ein vergleichbar umweltschutzfreund­ liches Meinungsbild festgestellt.132 Instabiles Umweltbewusstseins ist als Ursache nationaler Vollzugsdefizite dennoch nicht bedeutungslos geworden. Bis vor wenigen Jahren zählte der Umweltschutz nach Meinung der meisten Unionsbürgerinnen und Bürger noch nicht zu den wichtigsten unionspolitischen Angelegenheiten. Im Rahmen einer Befragung Ende des Jahres 2017 wurden vor allem die Themen Einwanderung (38 %) und Terrorismus (29 %) sowie die wirtschaftliche Situation innerhalb der EU (18 %) als akuteste Sorgen benannt. Der Umweltschutz belegte mit lediglich 8 % einen der hinteren Plätze vor den Themen Energieversorgung, Renten und Steuern (jeweils 4 %).133 Dieses Ergebnis verdeutlicht das Problem, dass der Vollzug des EU-Umweltrechts – obwohl von Unionsbürgerinnen und Bürgern aus allen Mitgliedstaaten prinzipiell als bedeutendes Ziel anerkannt – nicht selten zurückgestellt wird, sobald wirtschaftliche, soziale oder kulturelle Interessen entgegenstehen. Insbesondere in Zeiten wirtschaftlicher Krisen wird dem Umweltschutz nicht genügend 129  KOM, Special Eurobarometer 501 – March 2020, Report, Attitudes of European citizens towards the environment, 2019, S. 76, abrufbar unter: https://europa.eu/ eurobarometer/api/deliverable/download/file?deliverableId=72616 (Stand: 14.2.2023). 130  KOM, Special Eurobarometer 468 – November 2017, Report, Attittudes of European citizens towards the environment, 2017, S. 91, abrufbar unter: https://­ ­ europa.eu/eurobarometer/api/deliverable/download/file?deliverableId=65943 (Stand: 14.2.2023). 131  KOM, Special Eurobarometer 501 – March 2020, Report, Attitudes of European citizens towards the environment, 2019, S. 8, 17, abrufbar unter: https://europa.eu/euro barometer/api/deliverable/download/file?deliverableId=72616 (Stand: 14.2.2023). 132  Zur Entwicklung in den Vorjahren: KOM, Special Eurobarometer 468 – November 2017, Report, Attitudes of European citizens towards the environment, 2017, S.  8, abrufbar unter: https://europa.eu/eurobarometer/api/deliverable/download/ file?deliverableId=65943 (Stand: 14.2.2023); KOM, Spezial-Eurobarometer 501, Einstellungen der europäischen Bürger zur Umwelt, Factsheet Germany, Dezember 2019, S.  1, abrufbar unter: https://europa.eu/eurobarometer/api/deliverable/download/ file?deliverableId=72445 (Stand: 14.2.2023). 133  KOM, Standard Eurobarometer 89 Frühjahr 2018, Die öffentliche Meinung in der Europäischen Union, Erste Ergebnisse, 2018, S. 9, abrufbar unter: https://europa. eu/eurobarometer/api/deliverable/download/file?deliverableId=66386 (Stand: 14.2. 2023).



B. Vollzugsdefizite im Umweltsektor61

Aufmerksamkeit geschenkt.134 Den ökonomischen Vorteilen, die sich aus der Befolgung unionsrechtlicher Umweltvorgaben ergeben können,135 sind sich politische Entscheidungsträger, Bürgerinnen und Bürger oft nicht hinreichend bewusst.136 Neuere Erhebungen der Kommission geben in dieser Hinsicht Anlass zur Hoffnung: So rangierte das Thema Umwelt- und Klimawandel im Frühjahr 2021 mit 25 % gemeinsam mit dem Themenkomplex Einwanderung immerhin an zweiter Stelle der Prioritätenliste, wenngleich die wirtschaft­ liche Lage noch immer vom größten Anteil der Befragten – allerdings auch nur 27 % – als dringlichstes Problem der EU angesehen wurde. In neun Mitgliedstaaten, darunter Deutschland, Schweden, Frankreich und die Niederlande wurde Umwelt- und Klimawandel 2021 sogar zur obersten Priorität erklärt.137 3. Inkohärenz und Komplexität des EU-Umweltrechts Unabhängig von Faktoren wie dem politischen Vollzugswillen und der ressourcentechnischen Ausstattung nationaler Behörden, fehlt den Mitgliedstaaten oft bereits das Verständnis dafür, welche Umsetzungs- und Anwendungsmaßnahmen sie zur Erfüllung ihrer unionsrechtlichen Vollzugspflichten ergreifen müssen. Dies liegt einerseits daran, dass das EU-Umweltrecht eine hochkomplexe Materie ist,138 die von vielschichtigen ökologischen und chemischen Zusammenhängen, Wechselwirkungen zwischen Umweltmedien, diffusen Kausalverläufen und einer grundlegenden Unvorhersehbarkeit von Risiken geprägt ist.139 Andererseits wird das Verständnis des EU-Umweltrechts und der daraus resultierenden nationalen Vollzugspflichten oft durch 134  So bereits: Krämer, in: Lübbe-Wolff, Der Vollzug des europäischen Umwelt­ rechts, 1996, S. 30 f.; Krämer, in: Demaret/Govaere/Hanf, 30 Years of European Legal Studies at the College of Europe, 2005, S. 351. 135  Dazu: 1. Teil, B. I. 3. 136  IMPEL, Challenges in the Practical Implementation of EU Environmental Law and how IMPEL could help overcome them, Final report, 23.3.2015, S. 78, abrufbar unter: https://www.impel.eu/actions/download-file/files/cd4e61c4-5e61-4ced-b41d-c6 2aaaf8ad52/Implementation-Challenge-Report-23-March-2015.pdf (Stand: 14.2.2023). 137  KOM, Standard Eurobarometer 95 Frühjahr 2021, Die öffentliche Meinung in der Europäischen Union, Erste Ergebnisse, 2021, S. 23 ff., abrufbar unter: https:// webgate.ec.europa.eu/ebsm/api/public/deliverable/download?doc=true&deliverableId =76727 (Stand: 14.2.2023). 138  Albin, DVBl 2000, 1483 (1484); IEEP, Project Make it Work – Towards a roadmap for future EU environmental regulation, Background paper for the Expert workshop, 2–3 April 2014, 2014, S. 9, abrufbar unter: http://minisites.ieep.eu/as sets/1832/Make_it_Work_-_Background_paper_for_Expert_Workshop.pdf (Stand: 14.2.2023). 139  Saurer, EurUP 2016, 78 (78 f.).

62

1. Teil: Grundlagen

komplizierte Regelungstechniken und unpräzise Formulierungen erschwert, die unbeabsichtigte Missverständnisse und Fehlinterpretationen begünstigen.140 Werden Umsetzungsfristen unrealistisch knapp bemessen, kann dies die Mitgliedstaaten unter erheblichen Zeitdruck setzen und davon abhalten, die zu ihren jeweiligen rechtlichen, politischen und ressourcenökonomischen Gegebenheiten passendste, effektivste und kosteneffizienteste Umsetzungsmöglichkeit zu wählen.141 Kommt es zu Überschneidungen mit Rechtsakten aus anderen Rechtsgebieten oder Umweltthemenbereichen, wie etwa im Agrar-, Wasser- und Boden bzw. Planungsrecht, besteht eine besondere ­ Schwierigkeit darin, ein integratives Normsystem zu schaffen, das sämtliche EU-Umweltschutzbestimmungen berücksichtigt und widerspruchsfrei umsetzt.142 Soweit in den Mitgliedstaaten bereits in eigener Initiative Umweltgesetze erlassen wurden, lassen sich unionsrechtliche Vorgaben oft nicht reibungslos in das nationale System einarbeiten.143 Hinzu kommt, dass sich die EU-Organe in der Vergangenheit nicht immer darum bemüht haben „vollzugsfreundliche“ Regelungen zu erlassen, die in den Mitgliedstaaten mit überschaubarem Aufwand bei größtmöglichem Effekt implementiert werden können.144 4. Kooperations- und Koordinationsaufwand: Umweltschutz als grenzüberschreitende Herausforderung Eine weitere, gerade im Umweltsektor charakteristische Vollzugsschwierigkeit besteht in dem enormen interbehördlichen und internationalen Kooperations- und Koordinationsaufwand, den die ordnungsgemäße Durchführung grenzüberschreitender Maßnahmen erfordern kann. Umweltschäden durch 140  Dahingehend:

Tallberg, IO 2002, 609 (613). Project Make it Work – Towards a roadmap for future EU environmental regulation, Background paper for the Expert workshop, 2–3 April 2014, 2014, S. 9 f., abrufbar unter: https://minisites.ieep.eu/assets/1832/Make_it_Work_-_Background_ paper_for_Expert_Workshop.pdf (Stand: 14.2.2023). 142  IMPEL, Challenges in the Practical Implementation of EU Environmental Law and how IMPEL could help overcome them, Final report, 23.3.2015, S. 43, abrufbar unter: https://www.impel.eu/actions/download-file/files/cd4e61c4-5e61-4ced-b41d-c6 2aaaf8ad52/Implementation-Challenge-Report-23-March-2015.pdf (Stand: 14.2.2023); IEEP, Project Make it Work – Towards a roadmap for future EU environmental regulation, Background paper for the Expert workshop, 2–3 April 2014, 2014, S. 10, abrufbar unter: http://minisites.ieep.eu/assets/1832/Make_it_Work_-_Background_pa per_for_Expert_Workshop.pdf (Stand: 14.2.2023). 143  Calliess, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 6. Auflage 2022, Art. 192 AEUV Rn.  39 f. 144  Lübbe-Wolff, NuR 1993, 217 (226). 141  IEEP,



B. Vollzugsdefizite im Umweltsektor63

Schadstoffe in Luft oder Wasser sind häufig auf eine Kumulation geringfügiger, diffuser Emissionen aus mehreren Quellen zurückzuführen, die sich aufgrund ihres breiten Spektrums auf den Kompetenzbereich verschiedener Vollzugsakteure oder das Hoheitsgebiet unterschiedlicher Staaten verteilen können. Auch machen schädliche Umwelteinwirkungen keinen Halt vor Staatengrenzen. Denkt man etwa an die Schäden, die Unfälle in den Atomkraftwerken Doel oder Tihange hinter der belgischen Grenze auf deutschem Territorium verursachen könnten, bilden beide Staaten insoweit eine Schicksalsgemeinschaft. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, wie wichtig es für die gesamteuropäische Umweltqualität ist, dass alle Mitgliedstaaten ein gewisses Leistungsniveau beim Vollzug umweltrechtlicher Vorgaben erreichen. Ein besonderes Bedürfnis an gemeinsamen, koordinierten Maßnahmen unter Beteiligung verschiedener Hoheitsträger und Organisationen aus unterschiedlichen Staaten besteht etwa bei der Überwachung grenzüberscheitender Abfalltransporte, wobei divergierende Regelungsregimes, technische Standards und politische Rahmenbedingungen in den Staaten innerhalb und außerhalb der EU die bilaterale und multilaterale Zusammenarbeit zwischen verantwortlichen Hoheitsträgern und anderen in den Abfallkreislauf involvierten Organisationen erschweren.145 5. Das umweltrechtliche Repräsentationsdefizit Neben politischen und ressourcenökonomischen Vollzugshindernissen, die bei der Umsetzung und Anwendung des EU-Umweltrechts zwar besonders ausgeprägt sein mögen, prinzipiell aber auch in anderen Politikbereichen relevant werden können, zeichnet sich der Umweltsektor durch eine „charak­ teristische Repräsentationsschwäche“ aus,146 die die Durchsetzung umweltrechtlicher Vorgaben auf nationaler sowie supranationaler Ebene zusätzlich erschwert. Während die Befolgung wirtschaftsrechtlicher Bestimmungen regelmäßig nicht allein im objektiven Interesse an der Rechtmäßigkeit staat­ licher Umsetzungs- und Anwendungsmaßnahmen liegt, sondern zugleich den Interessen individuell betroffener Privater dient, bestehen originäre Eigen­ interessen an der Befolgung des EU-Umweltrechts in der Regel nicht.

145  IMPEL, Challenges in the Practical Implementation of EU Environmental Law and how IMPEL could help overcome them, Final report, 23.3.2015, S. 55, abrufbar unter: https://www.impel.eu/actions/download-file/files/cd4e61c4-5e61-4ced-b41d-c6 2aaaf8ad52/Implementation-Challenge-Report-23-March-2015.pdf (Stand: 14.2.2023). 146  Saurer, EurUP 2016, 78 (78); vgl. auch: Hedemann-Robinson, EEELRev 2015, 115 (122 f.); Krämer, in: Lübbe-Wolff, Der Vollzug des europäischen Umweltrechts, 1996, S.  7 f.

64

1. Teil: Grundlagen

Decken sich subjektive und objektive Interessen, lässt sich der Einzelne im Sinne einer funktionalen Subjektivierung147 mobilisieren, um die Einhaltung des EU-Rechts vor nationalen und europäischen Gerichten zu erstreiten. Zumindest in Staaten wie Deutschland, deren Rechtsschutzsystem – vorbehaltlich bestehender Verbandsklagemöglichkeiten – an die Geltendmachung einer Individualrechtsgutsverletzung anknüpft, bestehen einklagbare Eigeninteressen an der Befolgung umweltrechtlicher Vorgaben nur, soweit die menschliche Gesundheit auf dem Spiel steht. Beeinträchtigt eine Vertragsverletzung ausschließlich Umweltbelange – und somit Rechtsgüter der Allgemeinheit – existiert typischerweise kein subjektiv Betroffener, der den Vollzug des EUUmweltrechts gerichtlich durchsetzen könnte.148 Dass die Umwelt insoweit ein „Interesse ohne Gruppe“149 ist kommt zu den allgemeinen Vollzugshindernissen, die den EU-Rechtsvollzug in allen Politikbereichen behindern, erschwerend hinzu. Saurer spricht insoweit zutreffend von einer für den Umweltsektor typischen „doppelten Vollzugsschwäche“.150

III. Auswertung Das im Umweltsektor festgestellte Vollzugsdefizit lässt sich auf eine ganze Reihe verschiedener Ursachen zurückführen, die nicht allein in der mitgliedstaatlichen Sphäre liegen müssen, sondern bereits in der supranationalen Rechtsetzung sowie in den Eigenarten des Umweltrechts angelegt sein können. Während Verfehlungen von EU-Umweltzielen auf lange Sicht fatale Auswirkungen auf die Lebensbedingungen von Mensch und Tier haben können und bereits jetzt erhebliche Kosten verursachen, bietet die wirkungsvolle Umsetzung und Anwendung umweltrechtlicher Vorgaben zukunftsträchtige ökonomische Perspektiven mit großem Potenzial für den europäischen Wirtschaftsraum. In Gesellschaft und Politik werden diese Erkenntnisse zum Teil noch nicht ausreichend gewürdigt. Zwar wird der Umweltschutz grundsätzlich als Angelegenheit von hoher Bedeutung anerkannt. Oft werden (temporäre) Nachteile, wie hohe Investitionskosten und Umstellungsaufwand aber noch immer in den Vordergrund gestellt. Nicht selten haben Umweltbelange gegenüber scheinbar dringlicheren Bedürfnissen das Nachsehen.

147  Gärditz, EurUP 2015, 196 (207 ff.); Ludwigs, NVwZ 2018, 1417 (1421); Saurer, Der Einzelne im europäischen Verwaltungsrecht, 2014, 27 ff.; Schröder, NVwZ 2006, 389 (390). 148  Vgl. dazu: Saurer, EurUP 2016, 78 (78); Wegener, in: Lübbe-Wolff, Der Vollzug des europäischen Umweltrechts, 1996, 147 ff. 149  Krämer, in: Demaret/Govaere/Hanf, 30 Years of European Legal Studies at the College of Europe, 2005, S. 350. 150  Saurer, EurUP 2016, 78 (78).



C. Rahmenbedingungen der Vollzugskontrolle65

Da sich nationale Kontrollmechanismen vielfach als unzureichend erwiesen haben, kommt dem Vollzugskontrollsystem der EU im Umweltsektor besondere Bedeutung zu. Dies gilt umso mehr, da gute Vollzugsleistungen einzelner Mitgliedstaaten aufgrund des grenzüberschreitenden Charakters der Materie nicht ausreichen. Um effektiven Umweltschutz leisten zu können, müssen vielmehr alle Mitgliedstaaten ein vergleichbares Vollzugsniveau erreichen. Eine zentralisierte, die Gesamtsituation überwachende Kontrollin­ stanz ist hierfür die naheliegendste Lösung. Die EU, die auf Rechtsetzungsund Vollzugsebene selbst mit den Schwierigkeiten des Umweltrechts hadert und nationale Vollzugsdefizite in der Vergangenheit nicht selten vorprogrammiert hat, wird damit vor eine große Herausforderung gestellt.

C. Rahmenbedingungen der Vollzugskontrolle Um aufzeigen zu können, wie sich die Unionsorgane ihrer Kontrollaufgabe im Umweltsektor stellen und wie sich ihre Herangehensweise, insbesondere durch die Entstehung und Einbeziehung europaweit aktiver Netzwerke entwickelt hat, bedarf es eines grundlegenden Verständnisses für den Aufbau des EU-Vollzugskontrollsystems und seine wichtigsten Akteure. Dabei muss zunächst berücksichtigt werden, dass Vollzugskontrolle nicht nur auf EU-, sondern auch auf mitgliedstaatlicher Ebene stattfindet. Zwar bleiben die nationalen Vollzugskontrollsysteme vom Untersuchungsrahmen dieser Arbeit weitgehend ausgeschlossen. Um die supranationale Konzeption von Vollzugskontrolle vollumfänglich erfassen zu können, muss ihr mitgliedstaat­ liches Pendant zu Beginn dieses Kapitels aber wenigstens knapp umrissen werden.

I. Vollzugskontrolle in den Mitgliedstaaten Die Verantwortung der Mitgliedstaaten für den wirksamen Vollzug unionsrechtlicher Vorgaben ergibt sich einerseits aus Art. 4 III UAbs. 2 EUV,151 wonach sie „alle geeigneten Maßnahmen […] zur Erfüllung der Verpflichtungen, die sich aus den Verträgen oder den Handlungen der Organe der Union ergeben“ zu ergreifen haben sowie andererseits aus dem dualistischen Charakter des unionalen Rechtsschutzsystems, in dem nationale und supranationale Gerichte institutionell selbstständig nebeneinanderstehen.152 Art. 19 I UAbs. 2 EUV, demzufolge die Mitgliedstaaten „die erforderlichen Rechtsbeelni 2009, 54 (54). in: Dauses/Ludwigs, Hdb. des EU-Wirtschaftsrechts, 53. EL 2021, P. Einführung Rn. 1; noch zur Rechtslage vor dem Vertrag von Lissabon: Rodríguez Iglesias, NJW 2000, 1889 (1889); Schwarze, NJW 1992, 1065 (1071). 151  Ballesteros, 152  Klinke,

66

1. Teil: Grundlagen

helfe [schaffen], damit ein wirksamer Rechtsschutz in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen gewährleistet ist“, weist den Rechtsschutz in der EU primär den nationalen Gerichten zu.153 In systematischer Zusammenschau mit Art. 19 I UAbs. 1 EUV ergibt sich insoweit eine gemeinsame Verantwortung mit dem Europäischen Gerichtshof, die in „kooperativer Arbeitsteilung“154 bzw. im Verbund zwischen europäischen und nationalen Gerichten155 wahrgenommen wird. Auf staatlicher Ebene obliegt den Gerichten vor allem die Kontrolle des Verwaltungsvollzugs.156 Dies gilt grundsätzlich auch, soweit nationale Behörden unmittelbar geltendes Unionsrecht bzw. nationales Umsetzungsrecht anzuwenden haben.157 Der innerstaatlichen Verwaltung kommt wiederum gemeinsam mit der Judikative eine Kontrollfunktion gegenüber der Legis­ lative zu.158 Setzt der nationale Gesetzgeber EU-Recht nicht, verspätet oder fehlerhaft um, können staatliche Behörden und Gerichte über Instrumente, wie die vom EuGH entwickelte unmittelbare Wirkung von Richtlinien159 oder die Pflicht zur unionsrechts-160 bzw. richtlinienkonformen Auslegung161 dazu beitragen, Umsetzungsdefizite zu kompensieren und dem EU-Recht über die Anwendungsebene doch noch zur Geltung zur verhelfen. 153  Pernice,

EuR 2011, 151 (154).

Europarecht, 9. Auflage 2021, § 13 Rn. 2. Kahl, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 6. Auflage 2022, Art. 4 EUV Rn. 142; Pernice, EuR 2011, 151 (154); Terhechte, EuR 2008, 143 (159). 156  Albin, Die Vollzugskontrolle des europäischen Umweltrechts, 1999, S. 85. 157  Moench/Sander, in: Rengeling, Hdb. zum europäischen und deutschen Umweltrecht Bd. I, 2. Auflage 2003, § 46 Rn. 51 f.; zur Verwerfungskompetenz nationaler Behörden und Gerichte: EuGH, Rs. 106/77, Staatliche Finanzverwaltung/Sim­ menthal, Slg. 1978, 629 (Rn. 24); Rs. C-115/08, Oberösterreich/ČEZ, Slg. 2009, I-10265 (Rn. 138); Rs. C-173/09, Elchinov/Natsionalna zdravnoosiguritelna kasa, Slg. 2010, I-8889 (Rn. 31); Rs. C-5/14, Kernkraftwerke Lippe-Ems GmbH/Hauptzollamt Osnabrück, ECLI:EU:C:2015:354 (Rn. 32 f.); Gärditz, in: Rengeling/Middeke/ Gellermann, Hdb. des Rechtsschutzes in der Europäischen Union, 3. Auflage 2014, § 35 Rn. 11 f. 158  Albin, Die Vollzugskontrolle des europäischen Umweltrechts, 1999, S. 85; Albin, DVBl 2000, 1483 (1485). 159  EuGH, Rs. 41/74, van Duyn/Home Office, Slg. 1974, 1337, (Rn. 12); Ruffert, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 6. Auflage 2022, Art. 288 AEUV Rn. 47 ff. m. w. N. 160  EuGH, Rs. 157/86, Murphy/An Bord Telecom Eireann, Slg. 1988, 673, (Rn. 11); Rs. C-262/97, Rijksdienst voor Pensioenen/Engelbrecht, Slg. 2000, I-7321 (Rn. 38 f.); Rs. C-115/08, Oberösterreich/ČEZ, Slg. 2009, I-10265 (Rn. 138); Ruffert, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 6. Auflage 2022, Art. 1 AEUV Rn. 24. 161  EuGH, Rs. C-334/92, Wagner Miret/Fondo de garantía salarial, Slg. 1993, I-6911 (Rn. 20 f.); Classen/Oppermann/Nettesheim, Europarecht, 9. Auflage 2021, § 10 Rn. 31 ff.; Nettesheim, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der EU, 73. EL 2021, Art. 288 AEUV Rn. 133 f.; Schroeder, in: ­Streinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 288 AEUV Rn. 110 ff. 154  Classen/Oppermann/Nettesheim, 155  Dazu:



C. Rahmenbedingungen der Vollzugskontrolle67

Für die Vollzugskontrolle auf staatlicher Ebene spielt auch die nationale Öffentlichkeit eine entscheidende Rolle. Einerseits verfügen Bürgerinnen und Bürger gerade im Umweltsektor über weitreichende Informationsrechte,162 die es ihnen ermöglichen, Vollzugsdefizite aufzudecken und erforderlichenfalls als faktisch-politische Kraft Druck auf die verantwortlichen Hoheits­ träger auszuüben.163 Andererseits lässt sich ein starkes öffentliches Umweltbewusstsein ähnlich wie persönliche Interessen an der Durchsetzung individueller Rechte als Triebfeder gerichtlicher Kontrollen mobilisieren. Bereits 1963 befand der EuGH in der Rs. 26/62 (van Gend en Loos) „die Wachsamkeit der an der Wahrung ihrer Rechte interessierten Einzelnen [als] wirk­same Kontrolle, welche die durch die Kommission und die Mitgliedstaaten gemäß den Artikeln 169 EWGV [heute: Art. 258 AEUV] und 170 EWGV [heute: Art. 259 AEUV] ausgeübte Kontrolle ergänz[e]“.164 In Staaten, deren Rechtsschutzsystem an die Geltendmachung subjektiver Rechtsverletzungen geknüpft ist, leidet der Umweltschutz zwar unter einem charakteristischen Mangel klagebefugter juristischer oder natürlicher Personen,165 altruistische Beanstandungsklagen von Naturschutzverbänden bieten jedoch Möglichkeiten objektive EU-Umweltrechtsverstöße, die ausschließlich Umweltschutz­ güter und somit Allgemeinwohlinteressen beeinträchtigen, einer gerichtlichen Kontrolle zuzuführen, ohne Verletzungen in eigenen Rechten geltend machen zu müssen.166 Soweit die Mitgliedstaaten die Einhaltung unionsrechtlicher Vorgaben selbst gewährleisten, spricht die Literatur von einer dezentralen Vollzugskontrolle; ihr steht auf europäischer Ebene die zentrale Vollzugskontrolle gegenüber.167 Während staatliche Kontrollen die nationale Souveränität weitgehend unangetastet lassen, berühren supranationale Kontrollen durch die Organe der EU die nationale Integrität und Identität im Kern.168 Vor diesem Hinter162  Zum Recht auf Information nach Maßgabe des deutschen UIG: Schlacke, Umweltrecht, 8. Auflage 2021, § 5 Rn. 128 ff.; ein Überblick zu den Umweltinforma­ tionsansprüche in der Bundesrepublik und Baden-Württemberg findet sich bei: Eiermann, VBlBW 2021, 194 (194 ff.). 163  Albin, Die Vollzugskontrolle des europäischen Umweltrechts, 1999, S. 134 f. 164  EuGH, Rs. 26/62, van Gend & Loos/Niederländische Finanzverwaltung, Slg. 1963, 1 (26). 165  Dazu: 1. Teil, B. II. 5. 166  Zum Ausbau objektiver Klagerechte im Umweltsektor als Reaktion auf Durchsetzungsschwächen im nationalen Individualrechtsschutz: Gärditz, EurUP 2015, 196 (203 ff.); Gellermann, in: Ipsen/Stüer, FS Rengeling, 2008, S. 235 ff.; rechtsvergleichend zu Verbandsklagerechten in anderen Staaten: Saurer, ZUR 2018, 679 (680). 167  Ehlermann, in: Capotorti, Liber Amicorum Pierre Pescatore, 1987, S. 205; Wegener, in: Lübbe-Wolff, Der Vollzug des europäischen Umweltrechts, 1996, 157. 168  Everling, in: Depenheuer/Heintzen u. a., FS Isensee, 2007, S. 774.

68

1. Teil: Grundlagen

grund verwundert es nicht, dass der zentralen Vollzugskontrolle von staat­ licher Seite regelmäßig größerer Widerstand entgegenschlägt.

II. Vollzugskontrolle auf EU-Ebene Während bei der Vollzugskontrolle in den Mitgliedstaaten der Rechtsschutz durch die innerstaatliche Judikative im Zentrum steht,169 ist die Vollzugskontrolle auf EU-Ebene vor allem eine exekutive Kontrolle, die der objektivrechtlichen Wahrung des Unionsrechts dient und den Einzelnen eher reflex­ artig begünstigt.170 1. Die Schlüsselrolle der Kommission im Vollzugskontrollsystem der EU Im Zentrum des Vollzugskontrollsystems der EU steht zweifellos die Kommission. Als „genuin europäisches Organ“171 vertritt sie die supranationale Perspektive sowohl im Verhältnis zu den Mitgliedstaaten als auch gegenüber anderen EU-Organen.172 Speziell im Verhältnis zu Parlament und Rat, deren Tätigkeit neben europäischen Belangen auch durch nationale Interessenlagen beeinflusst werden, bezieht sie als exklusive Sachwalterin der EU eine Sonderstellung im unionspolitischen Gefüge, die etwa durch ihre in Art. 17 III UAbs. 2, UAbs. 3 EUV verankerte (Weisungs-)Unabhängigkeit zum Ausdruck gebracht wird.173 a) Die Kommission als „Motor der Integration“ Gemäß Art. 17 I 1 EUV ist die Kommission zur Förderung der Interessen der EU verpflichtet. In der Literatur wird sie in diesem Zusammenhang häufig als „Motor der Integration“174 bezeichnet. Der damit einhergehende Aufgabenbestand ist vielschichtig: Einerseits weisen ihr die Verträge mit ­ Art. 17 II EUV und 294 II AEUV das exklusive Initiativrecht im europäiIO 2002, 609 (614). in: Rengeling, Hdb. zum europäischen und deutschen Umweltrecht Bd. I, 2. Auflage 2003, § 46 Rn. 1. 171  Oppermann/Classen/Nettesheim, Europarecht, 9.  Auflage 2021, § 5 Rn. 95; Ruffert, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 6. Auflage 2022, Art. 17 EUV Rn. 2. 172  Voßkuhle/Wischmeyer, JuS 2018, 1184 (1187). 173  Haratsch, in: Pechstein/Nowak/Häde, Frankfurter Kommentar Bd. I EUV und GRC, 2017, Art. 17 EUV Rn. 1; Kugelmann, in: ­ Streinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 17 EUV Rn. 76/77. 174  Vielfach zitiert: Hallstein, Der unvollendete Bundesstaat, 1969, S. 56. 169  Tallberg,

170  Moench/Sander,



C. Rahmenbedingungen der Vollzugskontrolle69

schen Rechtsetzungsverfahren zu.175 Andererseits ist die Kommission auch Triebfeder politischer Initiativen, die den strategischen Kurs der EU in entscheidendem Umfang prägen.176 Funktional lässt sich das Tätigkeitsfeld der Kommission der Exekutive zuordnen, wobei sie zu wesentlichen Teilen Regierungsaufgaben wahrnimmt.177 Im Verbund mit nationalen Verwaltungsstrukturen178 erstreckt sich ihr Aufgabenkreis aber auch auf den administrativen Bereich (vgl. Art. 17 I 5 EUV), in dem sie als Hauptorgan der EU-Verwaltung fungiert.179 Nicht nur verfügt die Kommission in bestimmten Politikbereichen über eigene konkretindividuelle Entscheidungsbefugnisse,180 ihr fällt auch der Erlass abstraktgenereller (Tertiär-)rechtsakte sowie unverbindlicher Lenkungsmaßnahmen (z. B. Leitlinien oder Empfehlungen) für die Administrative zu, mit deren Hilfe grundlegende unionsrechtliche Vorgaben schnell und flexibel konkretisiert und die Schwerfälligkeit des legislativen Rechtsetzungsverfahrens in schnelllebigen, entwicklungsoffenen Rechtsgebieten wie dem Umweltsektor kompensiert werden kann.181 Da sich die Kommission somit weder als Regierungs- noch als Verwaltungsorgan qualifizieren lässt, wird sie in der rechtswissenschaftlichen Literatur als „atypische Institution“ oder als „Institution sui generis“ beschrieben.182

175  Zum Verhältnis zwischen Initiativrecht und Kontrollfunktion: Ehlermann, in: Grewe, FS Kutscher, 1981, S. 136 f. 176  In der Realität ergreifen freilich auch andere Akteure – vor allem die Mitgliedstaaten unmittelbar oder mittelbar über den Rat – Initiativen, die den politischen Kurs der EU beeinflussen und die Kommission auf einen Platz als reines Adiministrativ­ organ drängen sollen, vgl. dazu: Kugelmann, in: S ­ treinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 17  EUV Rn. 26; Schmidt/Schmitt von Sydow, in: von der Groeben/ Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht, 7. Auflage 2015, Art. 17 EUV Rn. 17. 177  Haratsch, in: Pechstein/Nowak/Häde, Frankfurter Kommentar Bd. I EUV und GRC, 2017, Art. 17 EUV Rn. 2; Klösters, Kompetenzen der EG-Kommission im innerstaatlichen Vollzug von Gemeinschaftsrecht, 1994, S. 86. 178  Ruffert, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 6. Auflage 2022, Art. 17 Rn. 3. 179  Augsberg, in: Terhechte, Verwaltungsrecht der EU, 2. Auflage 2022, § 6 Rn. 50; Mastenbroek/Martinsen, JEEP 2018, 422 (422, 429); Schmidt-Aßmann, Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, 2. Auflage 2006, S. 182. 180  Zu den Entscheidungsbefugnissen der Kommission im Bereich des EU-Kartellrechts, vgl.: Weiß, in: Terhechte, Verwaltungsrecht der EU, 2. Auflage 2022, § 18, S.  799 ff. 181  Kahl, in: Holoubek/Lang, Verfahren der Zusammenarbeit von Verwaltungs­ behörden in Europa, 2012, S. 25; Weiß, Der europäische Verwaltungsverbund, 2010, S.  78 f. 182  Schön-Quinlivan, in: Jordan/Adelle, Environmental Policy in the EU, 3. Auflage 2013, S. 96.

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1. Teil: Grundlagen

Im Umweltsektor ist die Kommission sehr aktiv. Nachdem in den ersten Jahren seit ihrer Einrichtung 1958 überhaupt keine Abteilung existierte, die sich mit Umweltangelegenheiten befasste, wurde 1973 erstmals eine Umwelteinheit in die damalige GD ENTR integriert.183 Zum Zeitpunkt ihrer Arbeitsaufnahme umfasste diese Unterabteilung gerade einmal fünf Bedienstete.184 Mittlerweile zählt die 1981 geschaffene GD ENV mit einem Personalbestand von mehr als 450 Bediensteten zu den einflussreichsten Generaldirektionen.185 2010 wurde mit der Generaldirektion Klimapolitik (GD CLIMA) sogar noch eine weitere Generaldirektion mit Umweltbezug geschaffen, die sich mit den Herausforderungen des Klimawandels befasst.186 b) Der Vollzugskontrollauftrag gemäß Art. 17 I 2 EUV Die Rolle der Kommission als Zentralgestalt im Vollzugskontrollsystem der EU ist unmittelbar in den Verträgen verankert. Art. 17 I 2 EUV weist ihr die Aufgabe zu, für die Anwendung des Unionsrechts zu sorgen und bestimmt sie somit zur „Hüterin des Unionsrechts“187, der die Aufsicht über die Befolgung europäischer Vorgaben obliegt.188 Ihrer Kontrolle unterfallen dabei alle Rechtssubjekte, die an das EU-Recht gebunden sind. Dementsprechend stehen sowohl Mitgliedstaaten als auch Unionsorgane unter ihrer Aufsicht. Speziell im Kartell- und Wettbewerbsrecht kommen auch private Rechtssubjekte als Adressaten kommissionseigener Aufsichtsmaßnahmen in Betracht.189 Dass ihr eine besondere Verantwortung für die Befolgung des Unionsrechts zukommt, belegt auch Art. 7 I UAbs. 1 S. 1 EUV, der der Kommission ein Vorschlagsrecht zur Feststellung einer eindeutigen Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der in Art. 2 EUV genannten Werte einräumt, 183  Schön-Quinlivan, in: Jordan/Adelle, Environmental Policy in the EU, 3. Auflage 2013, S. 95. 184  Schön-Quinlivan, in: Jordan/Adelle, Environmental Policy in the EU, 3. Auflage 2013, S. 104. 185  KOM, 2018 Annual Activity Report – GD ENV, 2018, S. 3, abrufbar unter: https://commission.europa.eu/system/files/2019-06/env_aar_2018_final.pdf.pdf (Stand: 14.2.2023). 186  Schön-Quinlivan, in: Jordan/Adelle, Environmental Policy in the EU, 3. Auflage 2013, S. 108. 187  Vgl. etwa: Andersen, The Enforcement of EU Law – The Role of the European Commission, 2012, S. 21; Burgi, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, Hdb. des Rechtsschutzes in der EU, 3. Auflage 2014, § 6 Rn. 2; Niedobitek, Europarecht – Grundlagen der Union, 2. Auflage 2020, S. 144; Schmidt/Schmitt von Sydow, in: von der Groeben, Europäisches Unionsrecht, 7. Auflage 2015, Art. 17 EUV Rn. 32; ­Streinz, Europarecht, 9. Auflage 2012, Rn. 396. 188  Ruffert, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 6. Auflage 2022, Art. 17 EUV Rn. 7. 189  Kugelmann, in: ­Streinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 17 EUV Rn. 36.



C. Rahmenbedingungen der Vollzugskontrolle71

zu denen nicht zuletzt das Rechtsstaatsprinzip in seiner unionsrechtlichen Ausprägung zählt.190 Wie bereits an anderer Stelle erörtert wurde, hat die Kommission nationale Umsetzungs- und Anwendungsakte gleichermaßen auf ihre Unionsrechtskonformität zu kontrollieren.191 Auch hinsichtlich der Frage, welche EU-Rechtsakte den Maßstab ihrer Kontrolltätigkeit bilden, lassen sich den Verträgen keine Einschränkungen entnehmen. Art. 17 I 2 EUV nennt sowohl die „Verträge“ als auch die „von den Organen kraft der Verträge erlassenen Maßnahmen“ als Rechtsakte, deren Befolgung gewährleistet werden muss. Erfasst werden neben primärrechtlichen Vorgaben also auch Sekundärrechtsakte sowie Entscheidungen des EuG und EuGH.192 Da ungeachtet der Aufnahme des Beschlusses als Handlungsform im Zuge des Vertrags von Lissabon Einigkeit darüber besteht, dass Art. 288 I AEUV keine abschließende Enume­ ration enthalten soll,193 lassen sich neben den im Vertragstext ausdrücklich genannten Maßnahmentypen auch unbenannte Rechtsakte sui generis194 unter Art. 17 I 2 EUV subsumieren, sofern sie von Unionsorganen auf Grundlage vertraglich gewährleisteter Kompetenzen erlassen wurden. aa) Beschränkung des Kontrollgegenstands auf Maßnahmen vorlagepflichtiger Akteure? Bereits in einem frühen Stadium der europäischen Integration wurde in systematischer Zusammenschau mit der Ausgestaltung des heute in Art. 267 AEUV geregelten Vorabentscheidungsverfahrens der Versuch unternommen, das Wächteramt der Kommission auf ein praktikables Maß zu reduzieren.195 Gemäß Art. 267 III AEUV stehen ausschließlich letztinstanzliche Gerichte in 190  Martenczuk, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der EU, 73. EL 2021, Art. 17 EUV Rn. 15. 191  Dazu: 1. Teil, A. I. 2. 192  Burgi, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, Hdb. des Rechtsschutzes in der EU, 3. Auflage 2014, § 6 Rn. 2; Huber, in: Rengeling, Hdb. zum europäischen und deutschen Umweltrecht Bd. I, 2. Auflage 2003, § 19 Rn. 26; Martenczuk, in: Grabitz/Hilf/ Nettesheim, Das Recht der EU, 73. EL. 2021, Art. 17 EUV Rn. 15. 193  Allg. M., vgl.: KONV, Final report of Working Group IX on Simplification, 29.11.02, CONV 424/02, WG IX 13, S. 6 f.; Ruffert, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 6. Auflage 2022, Art. 288 AEUV Rn. 100; für eine abschließende Aufzählung nur in Bezug auf solche Handlungsformen, die gegenüber Mitgliedstaaten oder Unionsbürgerinnen und -bürgern normative Bindungskraft entfalten: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der EU, 73. EL 2021, Art. 288 AEUV, Rn. 75, 83; ebenso zu Art. 249 EGV: Lecheler, DVBl 2008, 873 (873). 194  Lecheler, DVBl 2008, 873 (873); Ruffert, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 6. Auflage 2022, Art. 288 AEUV Rn. 100. 195  Vgl. Däubler, NJW 1968, 325 (326 f.).

72

1. Teil: Grundlagen

der Pflicht, den EuGH mit Fragen nach Art. 267 I AEUV zu befassen. Haben untere Gerichte Angelegenheiten mit unionsrechtlichem Bezug zu beurteilen, kommt ihnen gemäß Art. 267 II AEUV nur ein nicht justiziables Vorlagerecht zu, Verwaltungsbehörden verfügen nicht einmal über eine Vorlagemöglichkeit.196 Teile der Literatur zogen hieraus den Schluss, dass die Unionsverträge falsche Entscheidungen nicht-vorlageverpflichteter nationaler Akteure bewusst hinnehmen würden, auch wenn sie objektiv gegen europäisches Recht verstießen.197 Art. 267 AEUV wurde somit eine grundlegende Wertung entnommen, der zufolge lediglich Anwendungsentscheidungen höchstin­ stanzlicher Gerichte der zwingenden Kontrolle durch den EuGH im Vorabent­ scheidungsverfahren unterfielen. Für die Kommissionsaufsicht dürfte nichts anderes gelten. Da Urteile unterer Instanzen in der Regel keine über den Einzelfall hinausgehende negative Vorbildwirkung für andere Gerichte oder Behörden entfalten, käme ihnen nur geringes Gefährdungspotenzial für die Unionsrechtsordnung zu, das jedenfalls kein aufwändiges Vertragsverletzungsverfahren rechtfertigen könnte.198 Im Ergebnis lässt sich eine Einschränkung des Kontrollauftrags der Kommission mit dieser Argumentation nicht begründen. Zwar trifft es zu, dass nicht-vorlageverpflichtete staatliche Stellen Unionsrecht sowie nationales Umsetzungsrecht eigenverantwortlich anwenden. Soweit untere Gerichte und Behörden kein Vorabentscheidungsverfahren einleiten (können), tragen sie im Hinblick auf Art. 4 III UAbs. 2, UAbs. 3 Fall 2 EUV mit der Verantwortung aber auch das Risiko vertragswidriger Entscheidungen. Ein Freibrief für Unionsrechtsverstöße kann aus Art. 267 AEUV nicht hergeleitet werden.199 Im Gegenteil sprechen der Gedanke des effet utile sowie das unionsrecht­ liche Rechtsstaatsprinzip dafür, den in Art. 17 I 2 EUV verankerten Vollzugskontrollauftrag weit zu verstehen und auf Umsetzungs- sowie Anwendungsmaßnahmen aller Entscheidungsebenen zu erstrecken. So betont auch der EuGH in ständiger Rechtsprechung, dass grundsätzlich alle nationalen Hoheitsträger in der Pflicht stehen, EU-Vorgaben im Rahmen ihrer Zuständigkeiten zu befolgen, darunter auch alle nationalen Gerichte.200 Administrative

in: ­Streinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 258 AEUV Rn. 9. NJW 1968, 325 (327). 198  Ähnlich dazu bezieht auch der EuGH bei Beurteilung der Unionskonformität nationaler Regelungen ausschließlich signifikante gerichtliche Auslegungen ein, etwa solche oberster nationaler Gerichte: EuGH, Rs. C-129/00, Kommission/Italien, Slg. I-14637 (Rn.  31 f.). 199  Ehricke, in: ­Streinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 258 AEUV Rn. 9. 200  EuGH, Rs. 14/83, von Colson und Kamann/Land Nordrhein-Westfalen, Slg. 1984, 1891 (Rn. 26); Rs. C-91/92, Faccini Dori/Recreb, Slg. 1994, I-3325 (Rn. 21); dazu auch: Breuer, EuZW 2004, 199 (201). 196  Ehricke,

197  Däubler,



C. Rahmenbedingungen der Vollzugskontrolle73

Einzelfallentscheidungen werden regelmäßig sogar ohne gesonderte Begründung der Kontrolle durch die Kommission unterstellt.201 Hinzu kommt, dass der gedankliche Schluss von der Reichweite der Vorlageverpflichtung auf den Umfang des Vollzugskontrollauftrags der Kommission die hinter dem Vorabentscheidungsverfahren stehende Intention verkennt. Diese besteht darin, die einheitliche Auslegung und Anwendung unionsrechtlicher Vorgaben i. S. v. Art. 19 I 2 EUV zu gewährleisten. Entscheidet ein nach Art. 267 III AEUV verpflichtetes staatliches Instanzgericht nicht nur in inhaltlichem Widerspruch zu unionsrechtlichen Vorgaben, sondern auch unter Verstoß gegen seine Vorlagepflicht, hat die Kommission prinzipiell zwei Anknüpfungspunkte für die Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens.202 Indem Art. 267 III AEUV eine selbstständig justiziable Pflicht normiert, den EuGH mit entscheidungserheblichen Fragen zu befassen, soll sein Auslegungsmonopol203 gegenüber letztinstanzlichen nationalen Gerichten, deren Fehlentscheidungen typischerweise ein hohes Potenzial bergen, für die jeweilige staatliche Jurisdiktion und Administration negative Vorbildwirkungen zu entfalten, abgesichert werden. Dies bedeutet nicht, dass Unionsrechtsverletzungen unterer Entscheidungsebenen nach Wertung der Verträge als unerheblich oder unbeachtlich anzusehen sind. Die Vorlagepflicht gemäß Art. 267 III AEUV fungiert lediglich als zusätzlicher Mechanismus, um potenziell folgenschwere Fehlentscheidung zu vermeiden. Im Übrigen würde die Beschränkung des Kontrollauftrags der Kommission auf Entscheidungen vorlageverpflichteter Gerichte nur ein weiteres Zufallselement in die EUVollzugskontrolle integrieren. Die Kontrollierbarkeit nationaler Hoheitsakte hinge davon ab, dass der jeweils betroffene Rechtsbehelfsführer den Instanzenzug durchschreitet. Da keine Pflicht dazu besteht, Rechtsmittel bis zu einem vorlageverpflichteten Gericht einzulegen, bliebe diese Entscheidung der Willkür Einzelner überlassen.204

201  So hat der EuGH etwa die immissionsschutzrechtliche Genehmigung des Wärmekraftwerks Großkrotzenburg als tauglichen Gegenstand eines Vertragsverletzungsverfahrens bestätigt: EuGH, Rs. C-431/92, Kommission/Deutschland, Slg. 1995, I – 2211 (Rn. 22). 202  Ehricke, in: ­Streinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 258 AEUV Rn. 9; vgl. auch: Karpenstein, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der EU, 73. EL 2021, Art. 258 AEUV Rn. 67. 203  Ehricke, in: ­ Streinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 267 AEUV Rn. 8; Kreuzer/Wagner/Reder, in: Dauses/Ludwigs, Hdb. des EU-Wirtschaftsrechts, 53. EL 2021, R Rn. 30. 204  Bleckmann, Europarecht, 6. Auflage 1997, Rn. 813; Breuer, EuZW 2004, 199 (201); dahingehend auch: Ehricke, in: S ­ treinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 258 AEUV Rn. 9.

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1. Teil: Grundlagen

Auch ressourcenökonomische Defizite, die die Kommission in der Praxis daran hindern, einem umfassend dimensionierten Kontrollauftrag gerecht zu werden,205 können keine rechtliche Limitierung ihres Wächteramtes rechtfertigen. Geringe Kapazitäten mögen die Kontrolle des Unionsrechtsvollzugs faktisch behindern und damit Zweifel an ihrer Effektivität wecken. Die Glaubwürdigkeit der Kommission hätte aber ebenso zu leiden, würde man den Kreis potenzieller Kontrollgegenstände einschränken, nur um ihn ihrer realen Leistungsfähigkeit anzunähern. Eine solche Vorgehensweise käme einer Kapitulation vor den Anforderungen des Unionsrechts gleich. Anstatt die Ansprüche an die Kommission herabzusetzen, ist es effektivitäts- und effi­ zienzpolitisch vielmehr wünschenswert, bestehende Defizite im Vollzugskontrollsystem der EU zum Anlass konstruktiver Weiterentwicklungen zu nehmen. bb) Beschränkung des Kontrollmaßstabs auf „spezifisches Unionsrecht“? Ein weiterer, früher Restriktionsversuch des in Art. 17 I 2 EUV verankerten Wächteramts findet sich etwa bei Breuer. Seiner Auffassung zufolge müsste sich die Kommission in terminologischer Anlehnung an die verfassungsgerichtliche Untersuchungspraxis des deutschen BVerfG hinsichtlich nationaler Rechtsakte206 auf die Kontrolle „spezifische[r] Verletzungen von Gemeinschaftsrecht“ beschränken, worunter er die einzelfallbezogene Anwendung unmittelbar verbindlicher EU-Rechtsakte durch Unionsorgane und nationale Hoheitsträger sowie die normative Richtlinienumsetzung auf mitgliedstaatlicher Ebene verstand.207 Die Anwendungskontrolle am Maßstab nationaler Umsetzungsrechtsakte (abgesehen vom Fall der völligen Anwendungsverweigerung) sollte hingegen den Mitgliedstaaten vorbehalten bleiben. Zur Begründung äußerte Breuer vor allem kompetenzrechtliche Bedenken hinsichtlich der Vereinbarkeit eines flächendeckenden europäischen Vollzugskontrollsystems mit der Verwaltungshoheit föderaler Organisationseinheiten. In Kumulation mit der voranschreitenden Supranationalisierung föderaler Rechtsetzungskompetenzen sah er die Eigenstaatlichkeit der deutschen Bundesländer gefährdet; einer weitreichenden Kompetenzübertragung stünde in der Bundesrepublik das gemäß Art. 79 III GG unantastbare Bundesstaatsprinzip entgegen.208 205  Dahingehend: Everling, der von einer starken Zufallsabhängigkeit der Vollzugskontrolltätigkeit der Kommission spricht: Everling, in: Depenheuer/Heintzen u. a., FS Isensee, 2007, S. 780 f. 206  BVerfGE 7, 198 (207); Epping, Grundrechte, 9. Auflage 2021, Rn. 206. 207  Breuer, WiVerw 1990, 79 (114 f.). 208  Breuer spricht insoweit von der „bundesstaatlichen Erosion im Prozess der europäischen Integration“, Breuer, WiVerw 1990, 79 (110, 113 ff.).



C. Rahmenbedingungen der Vollzugskontrolle75

Grundsätzlich ist Breuer darin beizupflichten, dass der Kontrollauftrag der Kommission mit besonderer Rücksicht auf die Grenzen der EU-Verbandskompetenzen konturiert werden muss. In der Theorie mögen Vollzug und Vollzugskontrolle zwei verschiedene Handlungsebenen betreffen. Je nach Kontrollinstrument und Wirkungsdimension lässt sich aber nicht ausschließen, dass die Umsetzung bzw. Anwendung europäischer Rechtsakte auf staatlicher Ebene durch Einwirkungen von Seiten der Kommission interferiert wird. Dies gilt insbesondere für präventiv wirkende Kontrollinstrumente im Bereich Compliance Promotion, die die Befolgung unionsrechtlicher Vorgaben durch nationale Behörden antizipieren und somit steuernden Einfluss auf den mitgliedstaatlichen Vollzug in der Praxis nehmen sollen.209 Ob sich die Kommission bei ihrer Kontrolltätigkeit bzw. bei der eigenmächtigen Ausgestaltung ihres Vollzugskontrollinstrumentariums noch im Rahmen ihrer Verbandskompetenz bewegt, ist indes keine Frage, die sich pauschal mit Blick auf den Zuschnitt des in Art. 17 I 2 EUV verankerten Wächteramtes beantworten lässt. Ausschlaggebend ist vielmehr die Funktionsweise des jeweiligen Kontrollinstruments. Dass die fortschreitende Supranationalisierung föderaler Kompetenzen bereits Dimensionen angenommen hätte, die den Staatscharakter nationaler Föderalstrukturen insgesamt in Frage zu stellen drohen, ist im Übrigen nicht ersichtlich, so dass sich eine generelle Einschränkung des Vollzugskontrollauftrags der Kommission auch hiernach nicht rechtfertigen lässt. cc) Auswertung In Literatur und Praxis vermochte sich keiner der vorgeschlagenen Res­ triktionsversuche durchzusetzen.210 Vielmehr entspricht es dem Wortlaut des Art. 17 I 2 EUV, dem europäischen Rechtsstaatsprinzip sowie dem effet utile, den u. a. im Umweltsektor erheblichen Vollzugsdefiziten auf EU-Ebene mit einem Kontrollsystem zu begegnen, das prinzipiell alle nationalen Umsetzungs- und Anwendungsmaßnahmen am Maßstab des Gesamtbestands verbindlicher und unverbindlicher Unionsrechtsakte in den Blick nehmen könnte.211 Dass die Kommission in der Praxis über limitierte Kapazitäten verfügt und daher keinesfalls jede nationale Vollzugsmaßnahme auf allen Entscheidungsebenen mit derselben Intensität verfolgen kann, ist ein reales Problem, das einen strategischen Einsatz vorhandener Mittel besonders notwendig 209  Dazu:

1. Teil, A. III. 3. etwa: Ruffert, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 6. Auflage 2022, Art. 17 EUV Rn. 8. 211  Albin, DVBl 2000, 1483 (1487); Huber, in: Rengeling, Hdb. zum europäischen und deutschen Umweltrecht Bd. I, 2. Auflage 2003, § 19 Rn. 26; Ruffert, in: Calliess/ Ruffert, EUV/AEUV, 6. Auflage 2022, Art. 17 EUV Rn. 8. 210  Vgl.

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1. Teil: Grundlagen

macht.212 Anstatt aber den primärrechtlichen Vollzugskontrollauftrag restriktiv zu interpretieren und die Kommission somit dazu zu zwingen, ihre Kräfte auf Rechtsakte einer bestimmten Art, die von bestimmten Entscheidungs­ trägern erlassen wurden zu konzentrieren, gilt es Art. 17 I 2 EUV weit auszulegen und ihr die Möglichkeit zu belassen, flexible strategische Entscheidungen zu treffen, um die Unionsrechtsordnung auch in atypischen Situationen zu bewahren. Einen angemesseneren Ausgleich zwischen realer Leistungsfähigkeit und dem Interesse an der wirksamen Durchführung des EU-Rechts, der das Wächteramt der Kommission nicht von vornherein beschneidet, hat etwa der EuGH gefunden: Um einer krassen Überforderung durch Massenverfahren vorzubeugen, stellt er hohe Beweisanforderungen an das Vorliegen einer Vertragsverletzung. Die bloße Erklärung eines Mitgliedstaates, er könne nicht ausschließen, dass einzelne nationale Entscheidungen gegen Unionsrecht verstoßen, genüge nicht. Vielmehr bedürfe es hinreichend dokumentierter und detaillierter Nachweise für jede unionsrechtswidrige Einzelentscheidung.213 Dass die Kommission gegen alle von ihr vermuteten Bagatellverstöße vorgeht, dürfte vor diesem Hintergrund geradezu ausgeschlossen sein. Sieht sie jedoch Bedarf, einer bestimmten Maßnahme genauer nachzugehen, werden Einzelfallentscheidungen als Gegenstand der EU-Vollzugskontrolle nicht ausgeschlossen.214 2. Der Gerichtshof der Europäischen Union als oberste Kontrollinstanz Neben der Kommission spielt auch der Gerichtshof der EU i. S. v. Art. 19 I 1 EUV eine bedeutende Rolle im supranationalen Vollzugskontrollsystem. Die Tendenz, internationale Konflikte auf gerichtlichem Weg zu lösen, hat sich im historischen Kontext der Nachkriegszeit zur Vermeidung von Krieg und Diktatur entwickelt und bereits in der Frühphase der europäischen Integration Eingang in die Verträge gefunden.215 Gemäß Art. 19 I 2 EUV fällt dem Gerichtshof der EU die Aufgabe zu, „die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung der Verträge“ und der vom Unionsgesetzgeber oder der Kommission geschaffenen Normen zu sichern. Nach Art. 17 I 3 EUV steht er sogar noch über der Kommission, die „die Anwendung des Unionsrechts unter [seiner] Kontrolle [überwacht]“. Als Hüterin der Verträge spielt die Kommission zwar eine Schlüsselrolle bei der Sicherung der ordelni 2009, 54 (59). Rs. C-441/02, Kommission/Deutschland, Slg. I-3449 (Rn. 45 ff., 101). 214  Everling, in: Depenheuer/Heintzen u. a., FS Isensee, 2007, S. 781. 215  Everling, in: Depenheuer/Heintzen u. a., FS Isensee, 2007, S. 773, 775. 212  Ballesteros, 213  EuGH,



C. Rahmenbedingungen der Vollzugskontrolle77

nungsgemäßen Umsetzung und Anwendung des EU-Rechts,216 die Letztentscheidung über die Auslegung unionsrechtlicher Vorgaben verbleibt aber auch im Rahmen der Vollzugskontrolle bei der europäischen Gerichtsbarkeit.217 Die Rechtsprechung des EuGH befasst sich vor allem mit der Präzisierung ungenau formulierter EU-Vorgaben und der Schließung von Lücken im Unionsrecht.218 Im Zusammenhang mit der Kontrolle des dezentralen Unionsrechtsvollzugs ist er gemäß Art. 258 ff. AEUV nur für Klagen der Kommission oder der Mitgliedstaaten zuständig.219 Im Vertragsverletzungsverfahren ist er die letzte Entscheidungsinstanz, die allein zur Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens und zur Verhängung finanzieller Sanktionen berechtigt ist.220 Natürlichen und juristischen Personen steht nur der Weg zum EuG gegen Handlungen von Einrichtungen bzw. sonstigen Stellen der EU offen, sofern sie Adressaten des Rechtsakts oder davon unmittelbar und individuell betroffen sind, Art. 263 I 2, IV, 265 III, 256 I UAbs. 1 AEUV.221 Gegen unionsrechtswidrige Maßnahmen der Mitgliedstaaten sehen die Unionsverträge keine Möglichkeit vor, Individualklage zu den europäischen Gerichten zu erheben. Vielmehr bleiben Bürgerinnen und Bürger auf die nationalen Gerichte verwiesen, die erforderlichenfalls unter Einbeziehung des EuGH durch das Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 267 AEUV die Einhaltung des Unionsrechts sicherzustellen haben.

216  KOM, Mitteilung an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen – Aktionsplan der EU für einen besseren Vollzug des Umweltrechts und eine bessere Umweltordnungspolitik, 18.1.2018, COM(2018), 10 final, S. 8; dazu auch: Falke, ZUR 2018, 246 (246). 217  Schmidt/Schmitt von Sydow, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht, 7. Auflage 2015, Art. 17 EUV Rn. 33. 218  DNR, Brüsseler 1x1 für Umweltbewegte 2019–2024, S. 27, abrufbar unter: ­h ttps://www.dnr.de/fileadmin/EU-Koordination/Publikationen_und_Dokumente/ bruesseler1x1.pdf (Stand: 14.2.2023). 219  Krämer/Winter, in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach, Europarecht, 3. Auflage 2015, § 26 Rn. 73. 220  Wegener, in: Terhechte, Verwaltungsrecht der EU, 2. Auflage 2022, § 36 Rn. 82. 221  Zu den Anforderungen der „Plaumann-Formel“: EuGH, Rs. 25/62, Plaumann/ Kommission, Slg. 1963, 216 (238 f.); Rs. C-565/19 P, Carvalho u. a./Parlament und Rat, ECLI:EU:C:2021:252 (Rn. 46); Cremer, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 6. Auflage 2022, Art. 263 AEUV  Rn. 33 ff.; Wegener, ZUR 2019, 3 (7); zu den Schwierigkeiten, diese Anforderungen im Fall eines Umweltrechtsverstoßes zu erfüllen: Hedemann-Robinson, EEELRev 2015, 115 (122 f.).

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1. Teil: Grundlagen

3. Unterstützung durch Agenturen Eine weitere, in den Verträgen nicht ausdrücklich genannte Institution wurde im Umweltsektor mit der Schaffung der EUA in das Vollzugskontrollsystem der EU integriert. Agenturen sind Teil der mittelbaren EU-Eigenverwaltung,222 die mittlerweile mehr als 40 Ämter und Agenturen mit über 5000 Planstellen umfasst.223 Seit Beginn der europäischen Integration wurden die supranatio­ nalen Kompetenzen über den wirtschaftlichen Bereich hinaus immer weiter ausgedehnt.224 Um den dadurch gestiegenen Arbeitsaufwand bewältigen zu können, entwickelte sich auf europäischer Ebene ein seit den 1990er-Jahren anhaltender Diversifizierungs- bzw. Externisierungstrend225 (engl. treffend die Bezeichnung: Agencification226), in dessen Verlauf neue organisatorisch verselbstständigte, d.  h. keinem EU-Organ beigeordnete,227 Verwaltungs­ einrichtungen geschaffen wurden, die politikbereichsspezifische Aufgaben wahrnehmen, um die in den europäischen Verträgen aufgeführten Institutionen zu unterstützen, teilweise aber auch um eigene Hoheitsbefugnisse ­auszuüben.228 Nicht selten handelt es sich bei diesen ausgelagerten Auf­ gaben um solche, deren Erfüllung nur mit geballter fachlicher Expertise möglich ist.229 Da Agenturen nicht direkt in die Organisationsstruktur der EU-­Organe eingegliedert sind, unterliegt ihre Tätigkeit auch nicht denselben politischen Einflüssen, so dass sie in komplexen oder umstrittenen Themenbereichen weitgehend ungestört arbeiten können.230 Die Errichtung hochspezialisierter Agenturen ermöglicht also eine technokratische, ent­ politisierte und unabhängige Aufgabenerfüllung;231 sie fungieren sozusagen als verselbstständigte Fachbehörden im Rahmen der EU-EigenverwalEuroparecht, 9. Auflage 2021, § 6 Rn. 27. Process and Procedure in EU Administration, 2014, S. 34; Ruffert, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 6. Auflage 2022, Art. 298 AEUV Rn. 4. 224  Zur Entwicklung europäischer Agenturen: Hrbek, in: Bergmann, Handlexikon der EU, 6. Auflage 2021, Agenturen, Europäische. 225  Kahl, in: Holoubek/Lang, Verfahren der Zusammenarbeit von Verwaltungsbehörden in Europa, 2012, S. 29 f. m. w. N. 226  Zum Begriff weiterführend: Levi-Faur, JEPP 2011, 810 (811 ff.). 227  Oppermann/Classen/Nettesheim, Europarecht, 9. Auflage 2021, § 6 Rn. 27. 228  So etwa das Amt der Europäischen Union für geistiges Eigentum (EUIPO), die Agentur für Flugsicherheit (EASA) oder das Gemeinschaftliche Sortenamt (CPVO), Ruffert, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 6. Auflage 2022, Art. 298 AEUV Rn. 8. 229  Ruffert, DÖV 2007, 761 (767); Weiß, EuR 2016, 631 (631). 230  Vgl. Hrbek, in: Bergmann, Handlexikon der EU, 6. Auflage 2021, Agenturen, Europäische. 231  Ruffert, DÖV 2007, 761 (767). 222  Oppermann/Classen/Nettesheim, 223  Harlow/Rawlings,



C. Rahmenbedingungen der Vollzugskontrolle79

tung.232 Im Zentrum des europäischen Agenturwesens stehen die sog. dezentralen Agenturen233 bzw. Regulierungsagenturen234, die typischerweise auf unbestimmte Zeit durch jeweils eigene Gründungsverordnungen als Körperschaften oder Anstalten des europäischen öffentlichen Rechts errichtet werden.235 a) Errichtung und Organisation der Europäischen Umweltagentur Die EUA wurde mit der Verordnung (EWG) Nr. 1210/90 des Rates vom 7. Mai 1990 zur Errichtung einer Europäischen Umweltagentur und eines Europäischen Umweltinformations- und Umweltbeobachtungsnetzes236 unter Rückgriff auf Art. 130s EGV (heute: Art. 192 I AEUV) geschaffen. Dass der Rechtsakt auf eine Sachkompetenz gestützt wurde, war damals ein Novum, wurden doch bis dahin alle Agenturen auf Grundlage von Art. 308 EGV (heute: Art. 352 AEUV) errichtet.237 1994 nahm die EUA ihre operative Tätigkeit in Kopenhagen auf.238 War sie anfänglich mit einem halben Dutzend Mitarbeiter*innen schwach besetzt,239 umfasst sie heute ca. 200, darunter Experten für Umwelt und Nachhaltigkeit, Informationsmanagement und Kommunikation.240 Innerhalb der EUA sind alle Mitgliedstaaten vertreten. Europarecht, 2019, Rn. 602. (März 2022) listet die EU 34 Einrichtungen als dezentrale Agenturen, vgl. EU, Profile der Institutionen und Organe, https://european-union.europa.eu/insti tutions-law-budget/institutions-and-bodies/institutions-and-bodies-profiles_de (Stand: 14.2.2023). 234  Vgl. etwa Ruffert, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 6. Auflage 2022, Art. 298 AEUV Rn. 3. 235  Oppermann/Classen/Nettesheim, Europarecht, 9.  Auflage 2021, § 6 Rn. 27; Ruffert, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 6. Auflage 2022, Art. 298 AEUV Rn. 5. 236  Verordnung (EWG) Nr. 1210/90 des Rates vom 7. Mai 1990 zur Errichtung einer Europäischen Umweltagentur und eines Europäischen Umweltinformations- und Umweltbeobachtungsnetzes, ABl. 1990, Nr. L 120, S. 1 ff., neu gefasst als: Verordnung (EG) Nr. 401/2009 vom 23.4.2009 über die Europäische Umweltagentur und das Europäische Umweltinformations- und Umweltbeobachtungsnetz, ABl. 2009, Nr. L 126, S.  13 ff. 237  Huber, in: Rengeling, Hdb. zum europäischen und deutschen Umweltrecht, Bd. I, 2. Auflage 2003, § 19 Rn. 89; zur Problematik der unionsrechtlichen Gründungskompetenz: Herdegen, Europarecht, 23. Auflage 2021, § 7 Rn. 108; Saurer, DÖV 2014, 549 (550 ff.). 238  EUA, Who we are, 16.11.2021, https://www.eea.europa.eu/about-us/who (Stand: 3.3.2022). 239  Krämer, in: Demaret/Govaere/Hanf, 30 Years of European Legal Studies at the College of Europe, 2005, S. 342. 240  EU, Europäische Umweltagentur (EUA), o.  D., https://europa.eu/europeanunion/about-eu/agencies/eea_de (Stand: 14.2.2023). 232  Schöbener, 233  Derzeit

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1. Teil: Grundlagen

Gemäß Art. 19 i. V. m. 12. Erwgr. Verordnung (EG) Nr. 401/2009241 steht die Mitgliedschaft aber auch anderen Staaten offen, die mit der EU vergleichbare Interessen verfolgen. Die EUA ist organisatorisch und rechtlich unabhängig (11. Erwgr. Verordnung (EG) Nr. 401/2009). Wie jede dezentrale Agentur besitzt sie eine eigene Rechtspersönlichkeit, die in jedem Mitgliedstaat der weitestgehenden Rechtsund Geschäftsfähigkeit juristischer Personen nach nationalem Recht entspricht (Art. 7 Verordnung (EG) Nr. 401/2009). Geleitet und rechtlich vertreten wird sie durch den Exekutivdirektor (Art. 9 I UAbs. 1, II Verordnung (EG) Nr. 401/2009). Hauptorgan der EUA ist der Verwaltungsrat, dem jeweils ein Vertreter jedes Mitgliedstaates, zwei Vertreter der Kommission (Art. 8 I UAbs. 1 S. 1 Verordnung (EG) Nr. 401/2009) sowie zwei besonders qualifizierte wissenschaftliche Sachverständige angehören (Art. 8 I UAbs. 2 Verordnung (EG) Nr. 401/2009). Darüber hinaus besteht auch für Drittstaaten, die der EUA angehören die Möglichkeit, jeweils einen Vertreter zu entsenden (Art. 8 I UAbs. 1 S. 2 Verordnung (EG) Nr. 401/2009). Exekutivdirektor und Verwaltungsrat werden von einem wissenschaftlichen Beirat unterstützt, dessen Mitglieder über besondere Expertise im Fachbereich Umwelt verfügen (Art. 10 II Verordnung (EG) Nr. 401/2009). Als Hilfsorgan242 nimmt er zu allen wissenschaftlichen Fragen, die der EUA im Rahmen ihrer Tätigkeit begegnen, öffentlich Stellung (Art. 10 I UAbs. 1 Verordnung (EG) Nr. 401/2009). b) Aufgabenbereich und Kompetenzen Eine abstrakte Beschreibung des Aufgabenbestandes der EUA findet sich zunächst in Art. 1 II Verordnung (EG) Nr. 401/2009. Hierzu zählt einerseits die Bereitstellung objektiver, zuverlässiger und vergleich­barer Informationen, die EU-Institutionen und Mitgliedstaaten in die Lage versetzen sollen, wirksame Umweltschutzmaßnahmen zu ergrei­fen und zu bewerten. Andererseits soll die EUA den EU-Institutionen und Mitgliedstaaten technische und wissenschaftliche Unterstützung liefern. Konkretere Aufgabenbeschreibungen lassen sich Art. 2 a) – o) Verordnung (EG) Nr. 401/2009 entnehmen, der ins­ besondere die Einrichtung und Koordination des Europäischen Umweltinformations- und Umweltbeobachtungsnetzes (EIONET) als Rahmen für die Sammlung, Analyse, Auswertung und den Austausch von Informationen vorsieht (vgl. Art. 2 a) Verordnung (EG) Nr. 401/2009). Im ausdifferenzierten 241  Verordnung (EG) Nr. 401/2009 vom 23.4.2009 über die Europäische Umweltagentur und das Europäische Umweltinformations- und Umweltbeobachtungsnetz, ABl. 2009, Nr. L 126, S. 13 ff. 242  Kahl, UTR 1990, 119 (131).



C. Rahmenbedingungen der Vollzugskontrolle81

Gefüge der EU-Eigenverwaltung kommt der EUA überwiegend informa­ tionsverwaltende Funktion zu. Art. 3 I Verordnung (EG) Nr. 401/2009 stellt in diesem Zusammenhang klar, welche Art von Daten Gegenstand des Informationsverwaltungsauftrags der EUA sein sollen. Art. 3 II a) – h) Verordnung (EG) Nr. 401/2009 enthält ferner einen Katalog bestimmter Umweltgebiete, auf die sich ihre Tätigkeit unter besonderer Berücksichtigung grenzüberschreitender Phänomene konzentriert. Entsprechend ihres Aufgabenzuschnitts wird die EUA im Vollzugskontrollsystem der EU als Beobachterin243 bzw. informationsverwaltende Dienstleisterin244 mit exekutiver Hilfsfunktion relevant,245 die die Kommission bei der Überwachung von Umweltschutzmaßnahmen durch die Bereitstellung von Datenmaterial und nützlichen Kommunikationsstrukturen im Verhältnis zu nationalen Umwelteinrichtungen unterstützt246 bzw. die Mitgliedstaaten bei der Erfüllung ihrer Berichterstattungspflichten gegenüber der Kommission berät (vgl. Art. 2 c) Verordnung (EG) Nr. 401/2009). Eigene Vollzugskon­ trollkompetenzen kommen der EUA nicht zu; sie übt unmittelbar keine Hoheitsgewalt nach außen aus.247 Zwar sah der Kommissionvorschlag für die Errichtung einer Europäischen Umweltagentur aus dem Jahr 1989 die Möglichkeit vor, der EUA originäre Kommissionsaufgaben zu übertragen,248 so dass sie theoretisch Potenzial gehabt hätte, um als starke Akteurin mit In­ ­ spektionsbefugnissen in das Vollzugskontrollsystem der EU einzutreten, sogar das Europäische Parlament sprach sich in den Beratungen über den Verordnungsvorschlag dafür aus, ein europäisches Amt mit eigenen Kompetenzen zu errichten.249 Der Rat setzte sich allerdings gegenüber beiden Organen durch, so dass letztlich eine Agentur mit rein konsultativer Funktion geschaffen wurde.250

243  Hrbek, in: Bergmann, Handlexikon der EU, 6. Auflage 2021, Agenturen, Europäische. 244  Ruffert, in: Müller-Graff/Schmahl/Skouris, FS für Scheuing, 2011, S. 402. 245  Hrbek, in: Bergmann, Handlexikon der EU, 6. Auflage 2021, Agenturen, Europäische. 246  Calliess, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 6. Auflage 2022, Art. 192 AEUV Rn. 44. 247  Herdegen, Europarecht, 23. Auflage 2021, § 7 Rn. 107. 248  Vgl. Art. 4 II 4 Kommissionsvorschlag für eine Verordnung (EWG) des Rates zur Errichtung einer Europäischen Umweltagentur und eines Europäischen Umweltüberwachungs- und Informationsnetzes, ABl. 1989, Nr. C 217/7, S. 8. 249  Philipp, EuZW 1990, 6 (6); Philipp, EuZW 1990, 79 (79). 250  Treibende Kräfte hinter dieser Entscheidung waren insbesondere die Vertreter Großbritanniens, Spaniens und Deutschlands, Kahl, UTR 1990, 119 (128 f.).

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1. Teil: Grundlagen

4. Ergänzung des EU-Vollzugskontrollsystems durch Netzwerke Netzwerke stellen ähnlich wie Agenturen eine neuere Ergänzung des Vollzugskontrollsystems der EU dar. Im Unterschied zu den Agenturen, die topdown durch Sekundärrechtsakte von den Unionsorganen geschaffen werden, entwickeln sich Netzwerke oft aus intergouvernementalen, bottom-up gerichteten Initiativen heraus und erlangen erst mit der Zeit Bedeutung für die supranationale Vollzugskontrolle.251 Sie wie die Kommission, den Gerichtshof der EU oder die EUA als Akteure im Rahmen der EU-Vollzugskontrolle zu bezeichnen, würde ihrer Natur nicht ganz gerecht. Eher lässt sich die Bildung und Mobilisierung von Netzwerken als Mechanismus verstehen, der es der Hauptakteurin im supranationalen Vollzugskontrollsystem – d. h. der Kommission – ermöglicht, die Fähigkeiten und Kenntnisse nationaler Vollzugsbehörden oder sogar privater Akteure in die Erfüllung ihres Kontrollauftrags einzuspannen. Im Umweltsektor zeigt sich das Phänomen der Netzwerkbildung seit Beginn der 1990er-Jahre:252 Eine gemeinsame Umweltpolitik wurde von der ehemaligen EG bereits seit den frühen 1970ern verfolgt. Seither verzeichnete das europäische Umweltrecht ein rapides Wachstum. Wurden in den 1970ern noch etwa fünf Umweltrechtsakte pro Jahr verabschiedet, waren es in den späten 1980ern schon mehr als 20 Rechtsakte.253 Die mit dem Vollzug europäischer Umweltvorgaben betrauten Mitgliedstaaten konnten mit dieser Entwicklung kaum Schritt halten. Auf eine gefestigte Rechtsprechung, die bei der Interpretation europäischer Umweltvorgaben hätte helfen können, konnten unerfahrene, nationale Umweltbehörden im vergleichsweise jungen Politikfeld nicht zurückgreifen. Da verlässliche Informationsquellen und ein hohes Maß an Sachverstand schnell als notwendige Voraussetzungen für den wirksamen Vollzug identifiziert wurden, begannen nationale Vollzugsakteure früh, sich Unterstützung bei Umweltbehörden anderer Staaten, Ansprechpartnern auf europäischer Ebene oder anderen Umweltexperten zu suchen und entsprechende Beziehungsgeflechte aufzubauen.254 251  Vgl. zum ehemaligen Chester Network (heute: IMPEL): Migliorati, The Commission as a network administrator in EU multi-level governance?, TARN Working Paper 6/2017, S. 5. 252  Pink, Environmental Enforcement Networks: A Qualitative Analysis, 2010, S.  2, abrufbar unter: https://papers.ssrn.com/sol3/papers.cfm?abstract_id=1803179 (Stand: 14.2.2023). 253  Andersen/Eliassen, Making Policy in Europe: The Europification of National Policy-making, 2001, S. 59 f.; Ward/Williams, JCMS 1997, 440 (449). 254  Pink, Environmental Enforcement Networks: A Qualitative Analysis, 2010, S. 1 f., abrufbar unter: https://papers.ssrn.com/sol3/papers.cfm?abstract_id=1803179 (Stand: 14.2.2023).



D. Rahmenbedingungen des Unionsrechtsvollzugs83

Die EU-Organe bemerkten diese Entwicklung und identifizierten das Konzept des Austauschs zwischen staatlichen Stellen in kooperativen Netzwerkstrukturen als nutzbringenden Beitrag zum Vollzugskontrollinstrumentarium der EU. So benannte die Kommission u. a. in ihrem Aktionsplan 2018 eine Verbesserung der Zusammenarbeit mit den Mitgliedstaaten als Schlüsselfaktor für die wirksame Durchführung ihrer Compliance-Assurance-Strategie, wobei sie die Mitgliedstaaten konkret aufforderte, nationalen Behörden die Beteiligung in Kooperationsnetzen zu erleichtern.255 Welchen Mehrwert die Zusammenarbeit in Netzwerken als Ergänzung des EU-Vollzugskontrollinstrumen­ tariums genau leisten kann, wird im dritten Teil dieser Arbeit im Detail ­analysiert werden. Für ein grundlegendes Verständnis des europäischen Vollzugskontrollsystems genügt zunächst die Feststellung, dass nationale Vollzugsakteure nicht allein Objekt supranationaler Aufsichtsmaßnahmen sind, sondern – sozusagen im Wege eines Ebenen und Staaten übergreifenden Kontrollverbunds256 – in Anknüpfung an die erweiterte, kooperative Dimension des Kontrollbegriffs selbst bzw. gemeinsam in Netzwerken zur Sicherstellung der ordnungsgemäßen Umsetzung und Anwendung des EU-Umweltrechts beitragen und somit am supranationalen Vollzugskontrollsystem teilhaben.

D. Rahmenbedingungen des Unionsrechtsvollzugs Vollzugsdefizite katalysieren die Entwicklung neuer Kontrollinstrumente. Je größer die Schwierigkeiten nationaler Vollzugsakteure bei der Umsetzung, Anwendung und Durchsetzung des EU-Umweltrechts sind, desto stärker gewinnt die Schaffung eines effektiven und kohärenten Vollzugskontrollinstrumentariums auf europäischer Ebene an Bedeutung. Nachdem in den vorangegangenen Abschnitten die Vollzugsdefizite in den Mitgliedstaaten als Aus­ löser sowie die Hauptakteure des supranationalen Vollzugskontrollsystems dargestellt wurden, müssen schließlich noch die organisatorischen und kompetenzrechtlichen Rahmenbedingungen des eigentlichen Rechtsvollzugs als Gegenstand und Bezugspunkt der Vollzugskontrolle einer genaueren Betrachtung unterzogen werden, um ein fundiertes Verständnis für die Leistungsanforderungen zu entwickeln, denen vor allem die Kommission in ihrer Eigenschaft als Hüterin des Unionsrechts gerecht werden muss. 255  KOM, Mitteilung an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen – Aktionsplan der EU für einen besseren Vollzug des Umweltrechts und eine bessere Umweltordnungspolitik, 18.1.2018, COM(2018), 10 final, S. 8.; dazu auch: Falke, ZUR 2018, 246 (246). 256  Kahl, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle, Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. III, 2. Auflage 2013, § 47 Rn. 218 ff.; Kahl, Der Staat 2011, 353 (361 f.).

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1. Teil: Grundlagen

Der Vollzug unionsrechtlicher Vorgaben erfolgt im Verhältnis zwischen EU und Mitgliedstaaten innerhalb komplexer, bisweilen fragmentarisch wirkender Strukturen. Ein zusammenhängend geregeltes Kompetenzzuweisungssystem – wie es etwa in Art. 70 ff., 83 ff. GG der deutschen Verfassung normiert ist – sucht man in den europäischen Verträgen ebenso vergebens wie einen abschließenden Kompetenzkatalog.257 Auf das organisatorische Grundgerüst reduziert, folgt der Unionsrechtsvollzug dem organisatorischen Trennungs­ prinzip,258 wonach Mitgliedstaaten und EU einander ähnlich gegenüberstehen wie föderale Gliedstaaten und Bundesstaat.259 Als Bezeichnung für diese Konzeption hat sich in Anlehnung an das deutsche Verfassungsrecht im Schrifttum der einprägsame Begriff des Vollzugsföderalismus260 herausgebildet. Wie sich seit dem Vertrag von Lissabon ausdrücklich aus Art. 291 I, 192 IV AEUV ergibt, obliegt die Durchführung des EU-Umweltrechts grundsätzlich den Mitgliedstaaten – eine Aufgabe, die sich nicht nur an einzelne ­Hoheitsträger richtet, sondern die jeweilige Staatsgewalt im Ganzen trifft. ­Legislative, Judikative und Exekutive fällt demnach gleichermaßen die Verantwortung zu, Unionsrecht auf nationaler Ebene zu vollziehen.261 In Föderalstaaten steht unmittelbar nur der Gesamtstaat in der Pflicht, Vollzugsdefizite in den Gliedstaaten muss er sich allerdings zurechnen lassen. Kommen föderale Organisationseinheiten ihren unionsrechtlichen Verpflichtungen nicht nach, kann sich der Gesamtstaat im Außenverhältnis gegenüber der Kommission nicht exkulpieren.262 Die Pflicht, Unionsrecht effektiv durchzuführen, begründet also eine vielschichtige Aufgabe, die nationale Hoheitsträger aller Gewalten und Staats257  Kössinger, Die Durchführung des Europäischen Gemeinschaftsrechts im Bundesstaat, 1989, S. 18; Nettesheim, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der EU, 73. EL 2021, Art. 291 AEUV Rn. 4. 258  Schmidt-Aßmann, in: Cremer, FS Steinberger, 2002, S. 1375; Schmidt-Aßmann, Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, 2006, S. 381 ff.; Simantiras, Netzwerke im Europäischen Verwaltungsverbund, 2016, S. 20. 259  Grabitz, NJW 1989, 1776 (1777); a. A.: Frenz, DÖV 2010, 66 (68). 260  Chamon, EU-Agencies: Legal and Political Limits to the Transformation of the EU Administration, 2016, S. 48; Kahl, in: Holoubek/Lang, Verfahren der Zusammenarbeit von Verwaltungsbehörden in Europa, 2012, S. 17; Niedobitek, Europarecht – Grundlagen der Union, 2. Auflage 2020, S. 456; Schmidt, in: von der Groeben/Hatje/ Schwarze, Europäisches Unionsrecht, 7. Auflage 2015, Art. 291 AEUV Rn. 6  f.; Schütze, CMLR 2010, 1385 (1386 f., 1392 ff.); Stelkens, EuR 2012, 511 (540); Sydow, JZ 2012, 157 (159). 261  Vgl. Gellermann, in: S ­ treinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 291 AEUV Rn.  6 ff.; Pühs, Der Vollzug des Gemeinschaftsrechts, 1997, S. 96. 262  EuGH, Rs. 9/74, Donato Casagrande/München, Slg. 1974, 773 (779 f.); Burgi, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, Hdb. des Rechtsschutzes der Europäischen Union, 3. Auflage 2014, § 6 Rn. 60.



D. Rahmenbedingungen des Unionsrechtsvollzugs85

strukturebenen in Anspruch nimmt. Innerhalb des primärrechtlichen Rahmens der EU stellt Art. 291 I AEUV eine spezielle Ausprägung des Grundsatzes der loyalen Zusammenarbeit dar und ist somit lex specialis zu Art. 4 III UAbs. 2 EUV in Bezug auf die Durchführung verbindlicher EU-Rechts­ akte.263 Im Umweltsektor wird Art. 291 I AEUV wiederum vom Art. 192 IV AEUV verdrängt.264

I. Der legislative Vollzug des Unionsrechts In welchem Umfang ein EU-Rechtsakt durch den staatlichen Gesetzgeber in die nationale Rechtsordnung eingearbeitet werden muss, bemisst sich zuvorderst nach seiner Rechtsnatur. Insbesondere Richtlinien, die gemäß Art. 288 III AEUV nur hinsichtlich ihrer Zielsetzung Bindungswirkung gegenüber den Mitgliedstaaten entfalten, sind darauf angewiesen, auf staat­licher Ebene umgesetzt zu werden. Art. 288 III AEUV begründet insoweit eine speziellere Transpositionspflicht, die den in Art. 291 I AEUV, 4 III EUV verankerten Vollzugspflichten vorgeht.265 Bei der Entscheidung, wie die Richtlinienziele erreicht und wo die dazu ergriffenen Maßnahmen in der nationalen Rechtsordnung verankert werden sollen, verfügen die Mitgliedstaaten über Gestaltungsermessen. Die Umsetzung muss weder wörtlich noch durch ein formelles Parlamentsgesetz erfolgen.266 Soweit eine Richtlinie allerdings darauf abzielt, konkrete Rechte und Pflichten für den Einzelnen zu begründen, hat der EuGH Umsetzungsgrundsätze entwickelt, die den Spielraum staatlicher Hoheitsträger bei der Wahl ihrer Vorgehensweise beschränken: Um Rechtssicherheitserfordernissen zu genügen, müssen nationale Bestimmungen rechtliche Ansprüche eindeutig erkennen lassen und den Begünstigten in die Lage versetzen, sie gerichtlich geltend zu machen.267 Eine Umsetzung mittels Verwaltungsvorschriften wurde vor diesem Hintergrund für unzureichend befunden.268 263  Nettesheim, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der EU, 73. EL 2021, Art. 291 AEUV Rn. 5, 15 f.; Schmidt, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht, 7. Auflage 2015, Art. 291 AEUV Rn. 6; Sydow, JZ 2012, 157 (159). 264  Kahl, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 6. Auflage 2022, Art. 4 EUV Rn. 111. 265  Nettesheim, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der EU, 73. EL 2021, Art. 291 AEUV Rn. 15; Schütze, CMLR 2010, 1385 (1398). 266  EuGH, Rs. 29/84, Kommission/Deutschland, Slg. 1985, 1661 (Rn.  16); Rs. 363/85, Kommission/Italien, Slg. 1987, 1733 (Rn. 7); Rs. C-131/88, Kommission/ Deutschland, Slg. 1991, I-825 (Rn. 6). 267  EuGH, Rs. 363/85, Kommission/Italien, Slg. 1987, 1733 (Rn. 7); Rs. C-339/87, Kommission/Niederlande, Slg. 1990, I-851 (Rn. 51); Rs. C-131/88, Kommission/ Deutschland, Slg. 1991, I-825 (Rn. 6). 268  EuGH, Rs. C-361/88, Kommission/Deutschland, Slg. 1999, I-2567 (Rn. 21).

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1. Teil: Grundlagen

Grundsätzlich müssen Richtlinien vollständig und innerhalb des gesamten Staatsgebiets flächendeckend umgesetzt werden. Dies gilt selbst dann, wenn Bestimmungen in einzelnen Mitgliedstaaten faktisch wirkungslos bleiben, weil z. B. regulierte Wirtschaftszweige oder unter Schutz gestellte Arten dort nicht existieren. Nur in seltenen Fällen, in denen tatsächliche, insbesondere territoriale bzw. naturgegebene Bedingungen die Anwendung unionsrechtlicher Vorgaben dauerhaft ausschließen, ist ausnahmsweise keine Umsetzung erforderlich.269 Im Interesse der Rechtssicherheit müssen Richtlinienbestimmungen auch dann in zwingendes Recht transponiert werden, wenn eine damit unvereinbare Rechtspraxis auf nationaler Ebene gar nicht besteht.270 Staatliche Hoheitsträger können sich ihren Umsetzungspflichten also nicht unter Hinweis auf praktisch unionsrechtskonforme Zustände entziehen. Im Unterschied zu den Richtlinien, werden Verordnungen aufgrund ihrer unmittelbaren Wirkung gemäß Art. 288 II AEUV ab dem Zeitpunkt ihres InKraft-Tretens Bestandteil jeder mitgliedstaatlichen Rechtsordnung, ohne dass es Maßnahmen zur Umwandlung in nationales Recht bedürfte.271 Zwar stehen die Mitgliedstaaten auch hier in der Pflicht, mittels „geeignete[r] innerstaatliche[r] Maßnahmen“ für die „uneingeschränkte Anwendung“ der Verordnung zu sorgen.272 Der EuGH hat den Erlass nationaler Umsetzungsgesetze für Verordnungen allerdings für grundsätzlich unzulässig erklärt und insoweit ein staatliches Normwiederholungsverbot bzw. ein Verbot nationaler Parallelgesetzgebung273 ausgesprochen, da er befürchtete, Verordnungsbestimmungen könnten andernfalls nicht mehr als Unionsrecht erkannt und das eigene Auslegungsmonopol infolgedessen unterlaufen werden.274 Insbesondere dürfe die unmittelbare Geltung unionsrechtlicher Vorgaben nicht durch nationale Gesetze überlagert oder ihr Inhalt modifiziert werden.275 Solange 269  Vgl. die Beispiele bei: Krämer, EU Environmental Law, 7. Auflage 2011, Rn. 12–08. 270  EuGH, Rs. C-339/87, Kommission/Niederlande, Slg. 1990, I-851 (Rn. 22); Rs. C-131/88, Kommission/Deutschland, Slg. 1991, I-825 (Rn. 8 f.); Krämer, EU Environmental Law, 7. Auflage 2011, Rn. 12–07. 271  EuGH, Rs. 94/77, Zarbone/Amministrazione delle Finanze dello Stato, Slg. 1978, 99 (Rn. 22/27); Schroeder, in: ­Streinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 288 AEUV Rn. 43. 272  EuGH, Rs. 106/77, Staatliche Finanzverwaltung/Simmenthal II, Slg. 1978, 629 (Rn. 24); Rs. 72/85, Kommission/Niederlande, Slg. 1986, 1219 (LS 2, Rn. 10); Schroe­der, in: ­Streinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 288 AEUV Rn. 62. 273  Schroeder, in: ­Streinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 288 AEUV Rn. 43. 274  EuGH, Rs. 34/73, Variola Spa/Amministrazione delle Finanze dello Stato, Slg. 1973, 981 (Rn. 11); Nettesheim, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der EU, 73. EL 2021, Art. 288 AEUV Rn. 101. 275  EuGH, Rs. 34/73, Variola Spa/Amministrazione delle Finanze dello Stato, Slg. 1973, 981 (Rn. 10).



D. Rahmenbedingungen des Unionsrechtsvollzugs87

Unionsrecht als solches erkennbar bleibt, kann es indes erforderlich sein, kollidierende nationale Legislativakte aufzuheben oder sie durch Änderungsgesetze anzupassen.276 Obwohl Kollisionsfälle bereits über den unionsrechtlichen Anwendungsvorrang277 gelöst werden könnten, verlangt der EuGH die Aufhebung oder die Anpassung unvereinbarer innerstaatlicher Regelungen, um „Unklarheiten tatsächlicher Art“ für die Normadressaten auszuschließen.278 Unmittelbare Anwendbarkeit und Anwendungsvorrang allein vermögen für sich genommen nur eine Mindestgarantie zu geben, nicht aber die uneingeschränkte Ausführung rechtlicher Vorgaben zu gewährleisten.279 Eine Ausnahme vom Verbot der Parallelgesetzgebung besteht nur, wenn und soweit eine Verordnung den Erlass konkretisierender bzw. ergänzender Gesetze implizit oder explizit zulässt (sog. hinkende Verordnungen).280 Ist eine unmittelbar verbindliche EU-Verordnung darauf ausgelegt, auf staatlicher Ebene ausgefüllt zu werden, sind die Mitgliedstaaten nicht nur berechtigt, sondern gemäß Art. 291 I AEUV sogar verpflichtet, entsprechende Regelungen zu erlassen.281 Mit Rücksicht auf den Effektivitätsgrundsatz können innerstaatliche Rechtsetzungsbefugnisse hierbei nur so weit reichen, wie es für die Realisierung des jeweiligen Verordnungszwecks bzw. für die wirksame Durchführung des Unionsrechtsakts erforderlich ist.282 Letztlich kann also auch der Vollzug einer EU-Verordnung verlangen – je nach Rechtslage und Mitgliedstaat sogar unter erheblichem Aufwand283 – neue Legislativakte zu schaffen, abzuändern oder geltendes Recht aufzuheben. Im Umweltsektor kommt unter allen in Art. 288 AEUV aufgelisteten Handlungsformen der umsetzungsbedürftigen Richtlinie die quantitativ größ­ te Bedeutung zu.284 Im Vergleich zu Verordnungen und Beschlüssen, die ­ in: S ­ treinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 288 AEUV Rn. 47. zur Begründung: eA: EuGH, Rs. 11/70, Internationale Handelsgesellschaft mbH/Einfuhr- und Vorratsstelle für Getreide- und Futtermittel, Slg. 1970, 1125 (Rn. 3 f.); aA: BVerfGE 123, 267 (Rn. 331 ff.); zum Meinungsstand insgesamt: Haratsch/König/Pechstein, Europarecht, 12. Auflage 2021, Rn. 202 f. 278  EuGH, Rs. 168/85, Kommission/Italien, Slg. 1986, 2956 (Rn. 11); Rs. 74/86, Kommission/Deutschland, Slg. 1988, 2139 (Rn. 10). 279  EuGH, Rs. 72/85, Kommission/Niederlande, Slg. 1986, 1219 (Rn. 20); Rs. 168/ 85, Kommission/Italien, Slg. 1986, 2956 (Rn. 11). 280  Gellermann, in: ­­Streinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 291 AEUV Rn. 7; Härtel, Hdb. Europäische Rechtsetzung, 2006, S. 175; Ruffert, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 6. Auflage 2022, Art. 288 AEUV Rn. 22 f.; Begriff nach: Constantinesco, Das Recht der Europäischen Gemeinschaften Bd. 1, 1977, S. 562; zu Vollzugsschwierigkeiten „hinkender Verordnungen“ im Detail: Columbus, NL-BzAR 2008, 227 (227). 281  Gellermann, in: S ­ treinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 291 AEUV Rn. 7. 282  Columbus, NL-BzAR 2008, 227 (228). 283  Vgl. EuGH, Rs. 168/85, Kommission/Italien, Slg. 1986, 2956 (Rn. 9). 284  Dazu: 1. Teil, A. II. 276  Schroeder, 277  Vgl.

88

1. Teil: Grundlagen

unmittelbare Bindungskraft entfalten und Umsetzungsspielräume ausschließen, schonen Richtlinien die mitgliedstaatliche Souveränität.285 Gleichzeitig sind Umsetzungsspielräume aber auch anfälliger für Fehlinterpretationen. Da abstrakt-generelle Umsetzungsrechtsakte eine unbestimmte Vielzahl von Adressaten und Sachverhalten erfassen, ist ihre Unionsrechtskonformität von grundlegender Bedeutung für die korrekte Durchführung des EU-Rechts in den Mitgliedstaaten. Ein leistungsstarkes Kontrollsystem muss daher bei der Umsetzung des Unionsrechts ansetzen.

II. Der administrative Vollzug des Unionsrechts Die einzelfallbezogene Anwendung unionsrechtlicher Vorgaben erfolgt nach Art. 291 I AEUV grundsätzlich durch die nationalen Verwaltungsbehörden im indirekten bzw. dezentralen Verwaltungsvollzug,286 der den admi­ nistrativen Vollzug unmittelbar anwendbarer EU-Rechtsakte (unmittelbarer Vollzug) sowie den Vollzug nationaler Rechtsakte, die in Umsetzung unionsrechtlicher Vorgaben erlassen wurden (mittelbarer Vollzug) gleichermaßen umfasst (vgl. Abbildung 1).287 Der zentrale bzw. direkte Verwaltungsvollzug durch supranationale Behörden der EU stellt demgegenüber die Ausnahme dar.288 Soll Unionsrecht zentral durchgeführt werden, bedarf es mit Blick auf den Grundsatz der beschränkten Einzelermächtigung (Art. 5 I 1, II EUV) einer ausdrücklichen unionsrechtlichen Grundlage.289 Sind der EU-Ebene administrative Vollzugskompetenzen zugewiesen, wird ihrer Ausübung durch das Subsidiaritätsprinzip (Art. 5 I 2, III EUV) und den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz (Art. 5 I 2, IV EUV) Grenzen gesetzt.290

NZS 2010, 655 (656). Rs. 205–215/82, Deutsche Milchkontor GmbH u. a./BRD, Slg. 1983, 2633 (Rn. 2); Kahl, NVwZ 1996, 865 (866). 287  Maurer/Waldhoff, Allgemeines Verwaltungsrecht, 20.  Auflage 2020, §  22 Rn. 11; Nitschke, Harmonisierung des nationalen Verwaltungsvollzugs von EU-Umweltrecht, 2000, S. 22; Pechstein, EU-Prozessrecht, 4. Auflage 2011, Rn. 33; Sydow, JuS 2005, 97 (97); zu den verschiedenen Vollzugsmodi innerhalb der Kategorie des „indirekten Vollzugs“ (Bsp: „echter“ Vollzug bei der Aufstellung von Umweltplänen; Relevanz des UVP-Rechts für den „respektierenden“ Vollzug und Mischformen): Stelkens, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 9. Auflage 2018, Europäisches Verwaltungsrecht, Europäisierung des Verwaltungsrechts und Internationales Verwaltungsrecht, Rn.  121 ff. 288  Schmidt, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht, 7. Auflage 2015, Art. 291 AEUV Rn. 7 ff. 289  Vorhanden etwa im Wettbewerbsrecht (Art. 105, 106 III AEUV) sowie im Beihilfenrecht (Art. 108 III AEUV); Kahl, in: Holoubek/Lang, Verfahren der Zusammenarbeit von Verwaltungsbehörden in Europa, 2012, S. 17. 285  Husmann, 286  EuGH,



D. Rahmenbedingungen des Unionsrechtsvollzugs89 Der Vollzug des Unionsrechts

unionseigener (zentraler) Vollzug

mitgliedstaatlicher (dezentraler) Vollzug

unmittelbarer Vollzug

mittelbarer Vollzug

Abbildung 1: Der Verwaltungsvollzug des Unionsrechts291

Im Gegensatz zu den Mitgliedstaaten, die auf ihre eigenen Verwaltungs­ apparate zurückgreifen können, verfügt die Union nur über wenige Verwaltungsbehörden.292 Auf EU-Ebene werden Verwaltungsaufgaben vor allem von der Kommission bzw. ihren Dienststellen wahrgenommen, vgl. Art. 17 I 5 EUV. Sie ist die beherrschende Verwaltungsträgerin innerhalb der unmittelbaren EU-Eigenverwaltung.293 Soweit administrative Kompetenzen in den Aufgabenbereich rechtlich verselbstständigter Agenturen überführt werden, spricht man von der mittelbaren EU-Eigenverwaltung.294 1. Verwaltungsvollzug im europäischen Verwaltungsverbund Sowohl effizienz- als auch kohärenzpolitische Erwägungen haben in den vergangenen Jahrzehnten durch die Schaffung vielfach und multidirektional verflochtener, interinstitutioneller Kooperationsstrukturen zu einer kontinuierlichen Perforation des organisatorischen Trennungsprinzips geführt, das auf dem Paradigma einer Dichotomie zwischen zentraler und dezentraler Verwal290  Kahl, in: Holoubek/Lang, Verfahren der Zusammenarbeit von Verwaltungsbehörden in Europa, 2012, S. 17; Sydow, Verwaltungskooperation in der EU, 2004, S.  44 f. 291  Grafik in eigener Darstellung, in Anlehnung an: Maurer/Waldhoff, Allgemeines Verwaltungsrecht, 20. Auflage 2020, § 22 Rn. 11. 292  Frenz, DÖV 2010, 66 (66); Kenntner, EuZW 2005, 235 (235). 293  Gärditz, DÖV 2010, 453 (454); Möllers, EuR 2002, 483 (485); Schmidt-Aßmann, Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, 2. Auflage 2006, S. 182; Stelkens, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 9. Auflage 2018, Europäisches Verwaltungsrecht, Europäisierung des Verwaltungsrechts und Internationales Verwaltungsrecht, Rn. 156. 294  von Danwitz, Europäisches Verwaltungsrecht, 2008, S. 319 f.

90

1. Teil: Grundlagen

tung beruht.295 Da die Leistungsanforderungen an staatliche und unionseigene Verwaltungen mit wachsendem Bestand vollzugsbedürftiger EU-Rechtsakte signifikant gestiegen sind, kann ein effektiver Verwaltungsvollzug oft nur noch gemeinsam erreicht werden. Dies gilt umso mehr in grenzüberschreitend geprägten Bereichen wie dem Umweltsektor, in denen ein gesteigertes Kooperations- und Koordinationsbedürfnis besteht.296 Da hier immer weitreichendere organisatorische und prozedurale Kodependenzen zwischen nationalen und europäischen Behörden entstehen, wird die strenge Unterscheidung zwischen zentralem und dezentralem Vollzug der heutigen Ver­waltungsrealität nicht mehr gerecht.297 Greifen Elemente beider Verwaltungsebenen ineinander, spricht die Literatur von Verwaltungskooperation.298 Für besonders intensive Vernetzungen innerhalb des organisatorischen oder verfahrensrechtlichen Verwaltungsgefüges hat sich in Anlehnung an den Terminus des Staatenverbunds der weiterreichende Begriff des Verwaltungsverbunds299 etabliert. In den europäischen Verträgen schlägt sich diese Entwicklung nur an wenigen Stellen nieder: Einerseits ist die Verwaltungskooperation über die allgemeine Pflicht zur loyalen Zusammenarbeit in Art. 4 III EUV unionsverfassungsrechtlich rückgekoppelt.300 Andererseits erkennt der mit dem Vertrag von Lissabon in das Unionsprimärrecht inkorporierte Art. 197 AEUV den effektivitätspolitischen Mehrwert des Kooperationsgedankens an, indem er die effektive Durchführung des Unionsrechts durch die Mitgliedstaaten als Aufgabe von „gemeinsamem Interesse“ ausweist (Abs. 1) und mögliche Zusam295  Augsberg, in: Terhechte, Verwaltungsrecht der EU, 2. Auflage 2022, § 6 Rn. 50; Frenz, DÖV 2010, 66 (66); Pache, VVDStRL 2007, 106 (111); Ruffert, DÖV 2007, 761 (766). 296  Dazu: 1. Teil, B. II. 4. 297  Hofmann/Türk, ELJ 2007, 253 (254); Hofmann, ELJ 2009, 482 (498); Möllers, EuR 2002, 483 (506); Kahl, in: Holoubek/Lang, Verfahren der Zusammenarbeit von Verwaltungsbehörden in Europa, 2012, S. 18; Ludwigs, NVwZ 2018, 1417 (1418); Simantiras, Netzwerke im Europäischen Verwaltungsverbund, 2016, S. 18. 298  Britz, EuR 2006, 46 (46 f.); Groß, EuR 2005, 54 (54, 66); Kahl, in: Calliess/ Ruffert, EUV/AEUV, 6. Auflage 2022, Art. 4 EUV Rn. 102; Stelkens, in: Stelkens/ Bonk/Sachs, VwVfG, 9. Auflage 2018, Europäisches Verwaltungsrecht, Europäisierung des Verwaltungsrechts und Internationales Verwaltungsrecht, Rn. 191. 299  von Bogdandy, Der Staat 2001, 3 (18); Britz, EuR 2006, 46 (46 f.); Dörr, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der EU, 73. EL 2021, Art. 263 AEUV Rn. 37; Gärditz, DÖV 2010, 453 (462); Groß, EuR 2005, 53 (53, 66); Kahl, Der Staat 2011, 353 (354); Ruffert, DÖV 2007, 761 (761 ff.); Saurer, Der Einzelne im europäischen Verwaltungsrecht, 2014, S. 8; Schmidt-Aßmann, in: Cremer, FS Steinberger, 2002, S. 1381; Schmidt-Aßmann, in: Schmidt-Aßmann/Schöndorf-Haubold, Der Europäische Verwaltungsverbund, 2005, S. 7 ff.; Weiß, Der Europäische Verwaltungsverbund, 2010, S.  17 f. 300  Frenz, DÖV 2010, 66 (66 f.); Frenz, Hdb. Europarecht Bd. 5, 2010, Rn. 1905; Simantiras, Netzwerke im Europäischen Verwaltungsverbund, 2016, S. 20.



D. Rahmenbedingungen des Unionsrechtsvollzugs91

menarbeitsformen zwischen Union und Mitgliedstaaten benennt (Abs. 2).301 Im Detail erfolgt der Ausbau interadministrativer Kooperationsstrukturen vorwiegend über sektorspezifische Sekundärrechtsakte bzw. Durchführungsrechtsakte.302 Auch das EU-Umweltrecht blieb vom voranschreitenden Kooperationstrend nicht unberührt: Gemeinsame Verfahrensregelungen303, prozedural gestufte Entscheidungsstrukturen304 sowie behördenübergreifende Netzwerke305 beeinflussen die innerstaatliche Rechtsdurchführung zunehmend und relativieren das Regel-Ausnahme-Verhältnis zwischen dezentralem und zentralem Verwaltungsvollzug.306 2. Die institutionelle und verfahrensmäßige Autonomie der Mitgliedstaaten Wird Unionsrecht durch staatliche Behörden vollzogen, erfolgt die administrative Anwendung grundsätzlich nach Maßgabe des jeweiligen nationalen Verwaltungsverfahrens- und Organisationsrechts.307 In der Rechtswissenschaft wird insoweit von einer institutionellen und verfahrensmäßigen Autonomie gesprochen.308 Völlig frei sind die Mitgliedstaaten bei der Gestaltung ihrer Vollzugsbedingungen jedoch nicht. Vielmehr gilt auch hier Art. 4 III UAbs. 2 EUV, wonach sie sie zur Gewährleistung effektiver Durchführungsmodalitäten verpflichtet sind. Konkret begrenzt wird die nationale Verfahrens­ autonomie sowohl durch Wirksamkeitserfordernisse (Effektivitätsprinzip) als DÖV 2010, 66 (66). DÖV 2010, 453 (462); Simantiras, Netzwerke im Europäischen Verwaltungsverbund, 2016, S. 20. 303  So etwa die Vorgabe, vor Zulassung bestimmter Projekte eine gesonderte Umweltverträglichkeitsprüfung in das nationale Verwaltungsverfahren zu integrieren, Art. 2 I, II Richtlinie 2011/92/EU. 304  Zum gestuften Verfahren bei Gebietsausweisungen nach der FFH-Richtlinie vgl. Art. 4 II UAbs. 3, IV Richtlinie 92/43/EWG: Stelkens, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 9. Auflage 2018, Europäisches Verwaltungsrecht, Europäisierung des Verwaltungsrechts und Internationales Verwaltungsrecht, Rn. 192; Weiß, Die Verwaltung 2005, 517 (522 f.). 305  Insbesondere IMPEL; vgl. Beschl. Nr. 1386/20113/EU über ein allgemeines Umweltaktionsprogramm der Union für die Zeit bis 2020 „Gut leben innerhalb der Belastbarkeitsgrenzen unseres Planeten“, 20.11.2013, L357/171 (190). 306  Hofmann, ELRev 2009, 482 (498). 307  Herdegen, Europarecht, 23. Auflage 2021, § 10 Rn. 51; Stettner, in: Dauses/ Ludwigs, Hdb. des EU-Wirtschaftsrechts, 53. EL 2021, B.III. Rn. 33 ff., 49. 308  von Danwitz, DVBl 1998, 421 (430); Götz DVBl 2002, 1 (2); Kahl, in: Holoubek/Lang, Verfahren der Zusammenarbeit von Verwaltungsbehörden in Europa, 2012, S. 19; Pühs, Der Vollzug von Gemeinschaftsrecht, 1997, S. 96 f.; Stettner, in: Dauses/ Ludwigs, Hdb. des EU-Wirtschaftsrechts, 53. EL 2021, B. III. Rn. 9; Sydow, JuS 2005, 97 (97); Weiß, Die Verwaltung 2005, 517 (519). 301  Frenz,

302  Gärditz,

92

1. Teil: Grundlagen

auch durch das Gebot der einheitlichen Anwendung des Europarechts (Äquivalenzprinzip).309 Soweit das nationale Verwaltungsrecht mit diesen Anforderungen im Wege der unionsrechtskonformen Auslegung in Einklang gebracht werden muss,310 wird in der Rechtswissenschaft teilweise kritisch von einer fortschreitenden „Europäisierung“ nationaler Verwaltungsvorgaben gesprochen.311 Eine „Indienstnahme“312 des nationalen Verwaltungsrechts findet allerdings nur statt, solange auf Unionsebene keine vorrangig anwendbaren Verfahrensregelungen existieren.313 Über eine allgemeine Kompetenzgrundlage zur sachbereichsübergreifenden Regelung des Verwaltungsverfahrens sowie der Verwaltungsorganisation in den Mitgliedstaaten verfügt die EU nicht.314 Die Unionsverträge enthalten aber sektorspezifische Spezialermächtigungen, die aufgrund ihrer offenen sprachlichen Gestaltung die Regelung punktueller verfahrensrechtlicher Gesichtspunkte zulassen und als Grundlage für die weitere institutionelle Ausdifferenzierung der EU-Eigenverwaltung herangezogen werden können, soweit dies zur bestmöglichen Erreichung der unionspolitischen Ziele im betreffenden Sektor erforderlich ist.315 Als Kompetenzgrundlage im Umweltbereich kommt Art. 191 I i. V. m. 192 AEUV praktische Bedeutung zu. So finden sich verfahrensrelevante Vorgaben etwa innerhalb der EMAS-Verordnung (EG) Nr. 1221/2009316 oder der Umweltzeichen-Verordnung (EU) Nr. 66/2010317, die zur „Erreichung der in Art. 174 EGV 309  EuGH, Rs. 205–215/82, Deutsche Milchkontor GmbH u. a./BRD, Slg. 1983, 2633 (Rn. 17); Herdegen, Europarecht, 23. Auflage 2021, § 10 Rn. 51; Weiß, Die Verwaltung 2005, 517 (519). 310  EuGH, Rs. C-94/71, Schlüter & Maack/Hauptzollamt Hamburg-Jonas, Slg. 1972, 307 (Rn. 11); Rs. 205–215/82, Deutsche Milchkontor GmbH u. a./BRD, Slg. 1983, 2633 (Rn. 17). 311  EuGH, Rs. 20 –215/82, Deutsche Milchkontor GmbH u. a./BRD, Slg. 1983, 2633 (Rn.  17 ff.); Ludwigs, NVwZ 2018, 1407 (1408); Möllers, EuR 2002, 483 (502); Ruffert, DÖV 2010, 761 (761). 312  Ludwigs, NVwZ 2018, 1417 (1418); Schmidt-Aßmann, in: Isensee/Kirchof, HStR Bd. 5, 3. Auflage 2007, § 109 Rn. 40; Sydow, JuS 2005, 97 (97). 313  EuGH, Rs. 205–215/82, Deutsche Milchkontor GmbH u. a./BRD, Slg. 1983, 2633 (Rn. 17). 314  Ludwigs, NVwZ 2018, 1417 (1419); Möllers, EuR 2002, 483 (505). 315  Kahl, NVwZ 1996, 865 (866 f.); Pache, VVDStRL 2007, 106 (120). 316  Verordnung (EG) Nr. 1221/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. November 2009 über die freiwillige Teilnahme von Organisationen an einem Gemeinschaftssystem für Umweltmanagement und Umweltbetriebsprüfung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 761/2001, sowie der Beschlüsse der Kommission 2001/681/EG und 2006/193/EG, ABl. Nr. L 342, S. 1 ff. 317  Verordnung (EG) Nr. 66/2010 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. November 2009 über das EU-Umweltzeichen (Text von Bedeutung für den EWR), ABl. Nr. L 27, S. 1 ff.



D. Rahmenbedingungen des Unionsrechtsvollzugs93

[heute: Art. Art. 191 AEUV] genannten [Umwelt-]Ziele“ auf Grundlage von Art. 175 I EGV (heute: Art. 192 I AEUV) erlassen wurden.318 3. Vollzugsföderalismus nach Maßgabe des Art. 291 AEUV Mit Art. 291 I AEUV, demzufolge die Mitgliedstaaten „alle zur Durchführung der verbindlichen Rechtsakte der Union erforderlichen Maßnahmen nach innerstaatlichem Recht [ergreifen]“, hat der Grundsatz des dezentralen Vollzugs erstmals ausdrücklich Eingang in die Unionsverträge gefunden. Da die Durchführung europäischer Vorgaben aber bereits vor dem Vertrag von Lissabon entsprechend des allgemeinen unionsverfassungsrechtlichen Prinzips der beschränkten Einzelermächtigung (Art. 5 I 2, II EUV) im Zuständigkeitsbereich der Mitgliedstaaten lag319 stellt sich die Frage, welche Bedeutung Art. 291 I AEUV über eine rein deklaratorische Beschreibung des Verhältnisses zwischen nationaler und europäischer Ebene noch zukommen soll.320 Im Schrifttum wird Art. 291 I AEUV teilweise als konstitutive Kompetenzverteilungsvorschrift interpretiert, die die mitgliedstaatliche Souveränität bei der Durchführung des Unionsrechts akzentuiert.321 Andere Stimmen in der Literatur gehen sogar so weit, Art. 291 I AEUV im Bereich des administrativen Unionsrechtsvollzugs eine über die in Art. 5 I 2, III, IV EUV verankerten Prinzipien der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit hinausreichende kompetenzschützende Vorrangentscheidung zu Gunsten des dezentralen Voll­ zugs zu entnehmen.322

318  Zur Möglichkeit, normative Vollzugsregelungen für das mitgliedstaatliche Verwaltungsverfahren durch Durchführungsrechtsakte, Mitteilungen, Empfehlungen und Stellungnahmen zu erlassen: Sydow, JuS 2005, 97 (99) m. w. N. 319  EuGH, Rs. 205–215/82, Deutsche Milchkontor GmbH u. a./BRD, Slg. 1983, 2633 (Rn. 17); Gellermann, in: S ­ treinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 291 AEUV Rn. 1; Ilgner, Die Durchführung der Rechtsakte des europäischen Gesetzgebers durch die Europäische Kommission, 2014, S. 27; Pühs, Der Vollzug des Gemeinschaftsrechts, 1997, S. 77 f. 320  Für eine rein deklaratorische Bedeutung wohl: König, in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach, Europarecht, 3. Auflage 2015, § 2 Rn. 106. 321  Fabricius, EuZW 2014, 453 (453); Gellermann, in: ­Streinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 291  AEUV Rn. 1; Schwind, Netzwerke im Europäischen Verwaltungsrecht, 2017, S. 2. 322  So wohl: Augsberg, in: Terhechte, Verwaltungsrecht der EU, 2. Auflage 2022, § 6 Rn. 13; Kahl, Der Staat 2011, 353 (353); eingeschränkt auch: Nettesheim, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der EU, 73. EL 2021, Art. 291 AEUV Rn. 5; Weiß, Der europäische Verwaltungsverbund, 2010, S. 42.

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1. Teil: Grundlagen

a) Grammatische Auslegung Dem Normtext des Art. 291 I AEUV kommt für sich genommen nur wenig Aussagekraft zu. Auffällig ist zunächst die Ähnlichkeit zum Wortlaut des Art. 4 III UAbs. 2 EUV, der die Mitgliedstaaten zur effektiven Zusammen­ arbeit verpflichtet. Ebenso wie Art. 291 I AEUV spricht auch Art. 4 III UAbs. 2 EUV nicht davon, nationalen Entscheidungsträgern besondere Pflichten aufzuerlegen. Stattdessen wurde eine deskriptive Formulierung gewählt, die die Reichweite der Verpflichtungen, die sich aus dem Grundsatz der Unionstreue für die Mitgliedstaaten ergeben, kaum erkennen lässt. Als lex specialis zu Art. 4 III UAbs. 2 EUV begründet auch Art. 291 I AEUV Pflichten, die staatlichen Hoheitsträgern ein kooperatives, effektivitätssicherndes Verhalten bei der „Durchführung der verbindlichen Rechtsakte der Union“ abverlangen.323 Rückschlüsse auf einen zuständigkeitsregelnden ­Gehalt lassen sich hieraus nicht ziehen; über die verpflichtende Dimension hinaus wäre in Anbetracht der sehr offenen Formulierung eine kompetenzbezogene Lesart aber prinzipiell möglich.324 b) Die systematische Stellung des Art. 291 AEUV innerhalb des Vertragsgefüges Gegen eine Interpretation als Kompetenzverteilungsvorschrift scheint die Stellung des Art. 291 I AEUV im ersten Abschnitt des zweiten Kapitels des AEUV (Art. 288–292 AEUV) zu sprechen. Thematisch enthalten die Art. 288 ff. AEUV allgemeine Bestimmungen zu den Handlungsformen der Unionsorgane. Die Frage nach der im Einzelnen zulässigen und geeigneten Handlungsform stellt sich denklogisch aber nur in Bereichen, in denen der EU die Verbandskompetenz bereits zugewiesen ist. Eine das vertikale Kompetenzverhältnis zwischen EU und Mitgliedstaaten regelnde Vorschrift erschiene in diesem systematischen Kontext eher als Fremdkörper. Auch die Nähe zu Art. 290 AEUV liefert keinen Hinweis darauf, dass Art. 291 I AEUV verbandskompetenzregelnde Bedeutung zukommen soll: Zwar normiert Art. 290 I AEUV die Möglichkeit, Handlungsbefugnisse – be323  Deutscher Bundestag, Gesetzesentwurf der Bundesregierung, Entwurf eines Gesetzes zum Vertrag von Lissabon vom 13.12.2007, Drs. 16/8300, 28.2.2008, S. 191; Fabricius, EuZW 2014, 453 (453); Kahl, in: Holoubek/Lang, Verfahren der Zusammenarbeit von Verwaltungsbehörden in Europa, 2012, S. 18; Nettesheim, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der EU, 73. EL 2021, Art. 291 AEUV Rn. 5 f., 15 f.; Schmidt, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht, 7. Auflage 2015, Art. 291 AEUV Rn. 6; Sydow, JZ 2012, 157 (159). 324  Nettesheim, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der EU, 73. EL 2021, Art. 291 AEUV Rn. 5.



D. Rahmenbedingungen des Unionsrechtsvollzugs95

schränkt auf inhaltlich unwesentliche325 Vorschriften „ohne Gesetzescharakter“ – mittels eines Basisrechtsaktes auf die Kommission zu übertragen (sog. delegierte Rechtsetzung326). Nach Maßgabe des Grundsatzes nemo plus iuris transferre potest quam ipse habet können Parlament und Rat aber nur solche Kompetenzen übertragen, die ihnen auch zustehen. Neue EU-Verbandskompetenzen lassen sich aufgrund von Art. 290 I AEUV nicht begründen. Die Regelung eröffnet lediglich einen zusätzlichen delegierten Handlungsmodus, der zwar organkompetenzrechtliche Verschiebungen in der Horizontalen ermöglicht, die vertikale Verbandskompetenzverteilung zwischen EU und Mitgliedstaaten aber unberührt lässt.327 Die Verortung des Art. 291 AEUV innerhalb der Art. 288 ff. AEUV lässt sich indes unabhängig von der Frage, ob Art. 291 I AEUV eine Kompetenzverteilungsvorschrift mit konstitutivem Gehalt darstellt aus dem Zusammenhang mit Art. 291 II AEUV erklären. Art. 288 AEUV typisiert die wichtigsten Handlungsformen der EU-Organe, normiert aber keinen abschließenden Katalog. Art. 291 II AEUV ergänzt diese Aufzählung um die sog. Durchführungsrechtsakte, bei denen es sich – ebenso wie bei den in Art. 290 AEUV geregelten delegierten Rechtsakten – um Handlungsformen auf Grundlage abgeleiteter Befugnisse handelt.328 Auch wenn eine verbandskompetenzregelnde Vorschrift mit grundsätzlicher Bedeutung für das Verhältnis zwischen EU und Mitgliedstaaten in Art. 288 ff. AEUV sehr versteckt positioniert wäre, ließe sich ihre Stellung neben Art. 290 AEUV also doch sinnvoll begründen. c) Die norminterne Systematik des Art. 291 AEUV Sowohl die gemeinsame Verwendung des Durchführungsbegriffs als auch die systematische Zusammenfassung im selben Artikel lassen erkennen, dass 325  Dazu: Schmidt, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht, 7. Auflage 2015, Art. 290 AEUV Rn. 25 ff. 326  Ruffert, in: Schumann, Hierarchie, Kooperation und Integration im Europäischen Rechtsraum, 2015, S. 106; Sydow, JZ 2012, 157 (159). 327  Breuer, WiVerw 1990, 79 (116); Bruha/Münch, NJW 1987, 542 (544); Möstl, DVBl 2011, 1076 (1081); Nettesheim, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der EU, 73. EL 2021, Art. 291 AEUV Rn. 1. 328  Zur Unterscheidung zwischen delegierten Rechtsakten und Durchführungsrechtsakten: KOM, Mitteilung an das Europäische Parlament und den Rat: Umsetzung von Artikel 290 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union, 9.12.2009, KOM(2009) 673 final, S. 3 f.; Daiber, EuR 2012, 240 (241 f.); Epiney, NVwZ 2015, 704 (710); Groß, Die Legitimation der polyzentralen EU-Verwaltung, 2015, S.  12 f.; König, in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach, Europarecht, 3. Auflage 2015, § 2 Rn. 100; Möstl, DVBl 2011, 1076 (1081 f.).

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1. Teil: Grundlagen

Art. 291 I EUV nicht ohne Art. 291 II AEUV gelesen werden kann,329 sondern als Teil eines zusammenhängenden Regel-Ausnahme-Verhältnisses interpretiert werden muss.330 Rückschlüsse auf eine konstitutiv kompetenzverteilungsregelnde Bedeutung könnten sich demnach aus der regelungsinternen Beziehung zwischen den Absätzen ergeben. Eine kompetenzschützende Vorrangentscheidung zu Gunsten des dezentralen Verwaltungsvollzugs ließe sich Art. 291 I, II AEUV dabei nur unter drei Voraussetzungen entnehmen: Erstens müsste die Norm überhaupt die vertikale Kompetenzverteilung zwischen EU und Mitgliedstaaten betreffen (a). Zweitens müsste Art. 291 II AEUV die Übertragung administrativer Vollzugskompetenzen auf die Unionsorgane regeln (b). Drittens müssten die dort normierten Anforderungen über die in Art. 5 EUV enthaltenen Limitierungen hinausreichen und die Übertragung unionseigener Verwaltungskompetenzen somit als zusätzliche primärrecht­ liche Schranke erschweren (c). aa) Bezug zum vertikalen Kompetenzverhältnis Art. 291 II AEUV eröffnet dem Unionsgesetzgeber die Möglichkeit, der Kommission bzw. in besonders gelagerten Fällen auch dem Rat331 mittels eines Basisrechtsaktes332 Durchführungsbefugnisse zu übertragen. Da der Unionsgesetzgeber supranationale Verwaltungskompetenzen nicht einfach frei schaffen, sondern nur übertragen kann, soweit sie der EU bereits zugewiesen sind, scheint Art. 291 II AEUV ebenso wie Art 290 AEUV nur eine organkompetenzrechtliche Zuständigkeitsverschiebung zu regeln. Dass sich Art. 291 II AEUV hierauf nicht beschränken kann, ergibt sich allerdings aus Art. 291 III AEUV, wonach den Mitgliedstaaten kontrollierende Einflüsse auf die Ausübung übertragener Befugnisse gesichert werden müssen. Um diesem Erfordernis zu genügen, wurde auf Grundlage von Art. 291 III AEUV eine neue Komitologie-Verordnung (EU) Nr. 182/2011333 erlassen,334 die mit 329  Vgl. EuGH, Rs. C-521/15, Spanien/Kommission und Rat, ECLI:EU:C:2017:982 (Rn. 45). 330  Augsberg, in: Terhechte, Verwaltungsrecht der EU, 2. Auflage 2022, § 6 Rn. 31; Ludwigs, NVwZ 2018, 1417 (1419); Schmidt, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht, 7. Auflage 2015, Art. 291 AEUV Rn. 7; Stelkens, EuR 2012, 511 (512). 331  Vgl. dazu: Schmidt, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht, 7. Auflage 2015, Art. 291 AEUV Rn. 16 ff. 332  Art. 1 Komitologieverordnung (EU) Nr. 182/2011. 333  Verordnung (EU) Nr. 182/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Februar 2011 zur Festlegung der allgemeinen Regeln und Grundsätze, nach denen die Mitgliedstaaten die Wahrnehmung der Durchführungsbefugnisse durch die Kommission kontrollieren, ABl. 2011, Nr. L 55, S. 13 ff.



D. Rahmenbedingungen des Unionsrechtsvollzugs97

dem Beratungsverfahren und dem Prüfverfahren zwei Mechanismen zur Einbeziehung von Kontrollausschüssen vorsieht, die sich aus Vertretern der Mitgliedstaaten und der Kommission zusammensetzen.335 Im Bereich der Umweltpolitik kommt nach Art. 2 II b iii) Komitologie-Verordnung (EU) Nr. 182/2011 vor allem das Prüfverfahren zur Anwendung, das dem Kontroll­ ausschuss bei der Ausübung nach Art. 291 II AEUV übertragener Durchführungsbefugnisse ein Vetorecht zuweist, vgl. Art. 5 III Komitologie-Verordnung (EU) Nr. 182/2011.336 Sinn und Zweck kann hier nur sein, nationale Sou­veränitätsbeschränkungen zu kompensieren.337 Dass Art. 291 III AEUV auf Art. 291 II AEUV Bezug nimmt muss also bedeuten, dass die Übertragung von Befugnissen auf die Kommission oder den Rat mit Übergriffen auf die einzelstaatliche Vollzugszuständigkeit verbunden ist. Aus dem Regelungszusammenhang zwischen den Absätzen folgt somit, dass sich Art. 291 AEUV auf das vertikale Kompetenzgefüge zwischen EU und Mitgliedstaaten beziehen muss.338 bb) Art. 291 II AEUV als verwaltungskompetenzregelnde Ausnahme In der Literatur wird zum Teil vertreten, dass nach Art. 291 II–IV AEUV ausschließlich eine Kompetenz zum Erlass abstrakt-genereller Rechtsetzungsakte in Form von Durchführungsverordnungen oder Durchführungsbeschlüssen vermittelt werde,339 die die Bedingungen für die Umsetzung und Anwendung des Basisrechtsakts durch die Mitgliedstaaten unionsweit vereinheitlichen sollen.340 Art. 291 II AEUV würde nach dieser Konzeption also 334  Zur neuen Komitologieverordnung: Daiber, EuR 2012, 240 (244 ff.); Fabricius, EuZW 2014, 453 (454 ff.); Sydow, JZ 2012, 157 (160 ff.). 335  Nettesheim, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der EU, 73. EL 2021, Art. 291 AEUV Rn. 48; Ruffert, in: Schumann, Hierarchie, Kooperation und Integration im Europäischen Rechtsraum, 2015, S. 107 f. 336  Zum Prüfverfahren vgl.: König, in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach, Europarecht, 3. Auflage 2015, § 2 Rn. 109; Schmidt, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Europäi­ sches Unionsrecht, 7. Auflage 2015, Art. 291 AEUV Rn. 30 f. 337  Fabricius, EuZW 2014, 453 (454); Schmidt, in: von der Groeben/Schwarze/ Hatje, Europäisches Unionsrecht, 7. Auflage 2015, Art. 291 AEUV Rn. 7; Sydow, JZ 2012, 157 (159). 338  So im Ergebnis auch: Möstl, DVBl 2011, 1070 (1081). 339  Nettesheim, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der EU, 73. EL 2021, Art. 291 AEUV Rn. 19, 27 ff.; Stelkens, EuR 2012, 511 (531 ff., 543 f.). 340  EuGH, Rs. C-427/12, Kommission/Parlament und Rat, ECLI:EU:C:2014:170 (Rn. 39); KOM, Mitteilung an das Europäische Parlament und den Rat: Umsetzung von Artikel 290 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union, 9.12.2009, KOM(2009) 673 final, S. 3 f.; Fabricius, NVwZ 2014, 453 (453); Möllers, EuR 2002, 483 (496); Sydow, JZ 2012, 157 (159).

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1. Teil: Grundlagen

nur die Übertragung einer quasi-legislativen Befugnis zur Durchführungssteuerung341 und den damit verbundenen Übergriff auf die mitgliedstaatliche Verfahrensautonomie regeln.342 Ob die in Art. 291 II–IV AEUV normierten Anforderungen darüber hinaus auch für die Übertragung des verwaltungsmäßigen Vollzugs in Gestalt von Einzelakten gelten, ist im Schrifttum umstritten. Dafür entscheidend ist letztlich die Bedeutung des in Art. 291 II AEUV verwendeten Begriffs der „Durchführungsbefugnisse“.343 Zur Auslegung des in Art. 291 I AEUV gebrauchten Durchführungsterminus rekurriert die wohl herrschende Literaturauffassung344 auf die EuGHRechtsprechung zu Art. 211 Str. 4, 202 Str. 3 EGV bzw. 155 Str. 4 EWGV. Hiernach sei der Durchführungsbegriff prinzipiell weit zu verstehen und umfasse sowohl den Erlass abstrakt-genereller Rechtsetzungsakte als auch einzelfallbezogene Anwendungsentscheidungen.345 Ob Art. 291 II AEUV hieran anknüpfen und die Übertragung der in Art. 291 I AEUV gemeinten administrativen Vollzugskompetenzen auf Kommission oder Rat regeln will,346 erscheint mit Blick auf den Normtext zunächst zweifelhaft. Zwar spricht Art. 291 II AEUV u. a. in der deutschen Übersetzung korrespondierend zur „Durchführung“ in Art. 291 I AEUV von der Übertragung von „Durchführungsbefugnissen“.347 Übereinstimmende Formulierungen finden sich jedoch nicht in allen Sprachfassungen (vgl. ital.: l’attuazione/competenze di esecuzione; franz.: la mise en œuvre/compétences d’exécution), so dass die terminologischen Gemeinsamkeiten beider Absätze nicht überbewer341  Ilgner, Die Durchführung der Rechtsakte des europäischen Gesetzgebers durch die Europäische Kommission, 2014, S. 29 f. 342  Sydow, JZ 2012, 157 (159). 343  Vgl. KOM, Mitteilung an das Europäische Parlament und den Rat: Umsetzung von Artikel 290 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union, 9.12.2009, KOM(2009) 673 final, S. 3 f.; a. A.: Stelkens, der nicht dem Durchführungsbegriff, sondern vielmehr dem Maßnahmenbegriff eine Schlüsselstellung zuweist; Stelkens, EuR 2012, 511 (512). 344  Gellermann, in: ­Streinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 291 AEUV Rn. 2, 6; Ludwigs, NVwZ 2018, 1417 (1419); Ruffert, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 5. Auflage 2016, Art. 291  AEUV Rn. 1; Schmidt, in: von der Groeben/Schwarze/ Hatje, Europarecht, 7. Auflage 2015, Art. 291 AEUV Rn. 5 f. 345  EuGH, Rs. 25/75, Rey Soda/Cassa Conguaglio Zucchero, Slg. 1975, 1278 (Rn. 10/14); Rs. 16/88, Kommission/Rat, Slg. 1989, 3457 (Rn. 11); Rs. 22/88, Vreug­ denhil u. a./Minister van Landbouw en Visserij, Slg. 1989, 2049 (Rn. 16); Rs. C-37/02, C-38/02, Di Lenardo Adriano u. a./Ministero del Commercio con l’Estero, Slg. 2004, I-6911 (Rn. 55); Rs. C-122/04, Kommission/Parlament und Rat, Slg. 2006, I-2001 (Rn. 37). 346  Kritisch hierzu: Nettesheim, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der EU, 73. EL 2021, Art. 291 AEUV Rn. 29. 347  Ebenso: span.: „la ejecución/competencias de ejecución“; engl.: „implement/ implementing powers“.



D. Rahmenbedingungen des Unionsrechtsvollzugs99

tet werden dürfen.348 Nähme man die sprachliche Gestaltung der Norm ernst, müsste auch berücksichtigt werden, dass Art. 291 II AEUV als Übertragungsvoraussetzung auf einen Bedarf „einheitlicher Bedingungen für die Durchführung“ abstellt und nicht etwa einen Bedarf, unionsrechtliche Vorgaben einheitlich durchzuführen verlangt. Dass es auf solche terminologischen Spitzfindigkeiten nicht ankommen kann, belegt die Rechtsprechung des EuGH, der in der Rs. C-521/15 (Spanien/Rat und Kommission) selbst sehr unpräzise davon spricht, dass eine Übertragung von Durchführungsbefugnissen nach Art. 291 II AEUV nur in Betracht komme, soweit Unionsrechtsakte einer „einheitlichen Durchführung“ bedürfen.349 Dass Art. 291 II AEUV auch die Übertragung des verwaltungsmäßigen Einzelfallvollzugs regeln will, ergibt sich indes aus dem normgeschichtlichen Hintergrund. Inhaltlich knüpft der mit dem Vertrag von Lissabon neu geschaffene Art. 291 II AEUV an Art. 202 Str. 3 sowie Art. 211 Str. 4 EGV an, die nach allgemeiner Meinung als dessen Vorgängerregelungen anzusehen sind.350 Dass der Rat hiernach nicht nur über die Kompetenz verfügte, die Kommission mit der Befugnis zum Erlass abstrakt-genereller Durchführungsrechtsetzungsakte auszustatten, sondern ihr ebenso Einzelfallentscheidungsbefugnisse übertragen konnte, ist weithin anerkannt.351 Anhaltspunkte dafür, dass die Vertragsstaaten Art. 291 II AEUV eine andere Konzeption zugrunde legen wollten, gibt es nicht. Dementsprechend differenziert der Unionsgesetzgeber auch im Rahmen von Art. 2 II a) und b) der an Art. 291 III AEUV anknüpfenden Komitologie-Verordnung (EU) Nr. 182/2011 ausdrücklich zwischen Durchführungsrechtsakten von allgemeiner Tragweite und sonstigen Durchführungsrechtsakten. Im Übrigen wird diese Einschätzung durch die Rechtsprechung des EuGH gestützt, der sich in der Rs. C-440/14 P (NIOC/Rat und Parlament) ohne nähere Begründung auch im Rahmen von Art. 291 II AEUV für eine weite Auslegung des Durchführungsbegriffs aussprach.352 Mit der wohl herrschenden Auffassung muss Art. 291 II AEUV daher als „doppelfunktionale“353 Norm verstanden werden, die neben der quasi-legis348  So

auch: Stelkens, EuR 2012, 511 (512 f.). Rs. C-521/15, Spanien/Kommission und Rat, ECLI:EU:C:2017:982 (Rn.  47 f.). 350  Gellermann, in: ­Streinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 291 AEUV Rn. 2; Stelkens, EuR 2012, 511 (518). 351  Ilgner, Die Durchführung der Rechtsakte des europäischen Gesetzgebers durch die Europäische Kommission, 2014, S. 29 f.; Riedel, EuR 2012 (530 ff.); Stelkens, EuR 2012, 511 (518, 532). 352  EuGH, Rs. C-440/14 P, NIOC/Rat und Parlament, ECLI: EU:C:2016:128 (Rn. 36). 353  Stelkens, EuR 2012, 511 (518). 349  EuGH,

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1. Teil: Grundlagen

lativen Durchführungsrechtsetzung auch die Voraussetzungen für die Übertragung verwaltungsmäßiger Einzelfallentscheidungen auf die Unionsorgane regelt.354 Art. 291 II AEUV ist somit als umfassende Ausnahme zum mitgliedstaatlichen Verwaltungsvollzug zu interpretieren. Indem Art. 291 I AEUV den dezentralen Vollzug im unmittelbaren systematischen Kontext zum ­Regelfall erklärt, wird dieser über die allgemeinen unionsverfassungsrecht­ lichen Kompetenzverteilungsregeln hinaus besonders hervorgehoben, so dass Art. 291 I AEUV als spezielle Kompetenznorm zu sehen ist. cc) Art. 291 AEUV als kompetenzschützende Vorrangentscheidung Ob Art. 291 I AEUV darüber hinaus Bedeutung als Vorrangentscheidung zu Gunsten des mitgliedstaatlichen Vollzugs mit schützendem Gehalt gegenüber der Begründung unionseigener Verwaltungskompetenzen zukommt, hängt schließlich davon ab, ob die Regelung im Vergleich zu Art. 5 EUV weiterreichende Einschränkungen vorsieht. Art. 291 II AEUV knüpft die Übertragung von Durchführungsbedürfnissen an das Vorliegen eines „Bedarfs […] einheitlicher Bedingungen für die Durchführung der verbindlichen Rechtsakte der Union“. Ob diese Voraussetzung als Ausprägung des in Art. 5 III AEUV verankerten Subsidiaritätsprinzip interpretiert werden muss oder doch eher mit dem effet utile in Zusammenhang steht, wird in der Literatur unterschiedlich gesehen.355 Einigkeit besteht jedenfalls insoweit, dass dem kompetenzübertragenden Unionsgesetzgeber bei Beurteilung der Frage, ob die Voraussetzungen des Art. 291 II AEUV vorliegen, ähnlich weitreichender Ermessensspielraum zukommt wie hinsichtlich der dem Subsidiaritätsprinzip zugrundeliegenden Frage, ob Unionsziele auf EU-Ebene besser verwirklicht werden können.356 Dass der 354  Epiney, Umweltrecht der EU, 4. Auflage 2019, S. 78; Gellermann, in: ­Streinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 291 AEUV Rn. 3, 10; Ludwigs, NVwZ 2018, 1417 (1419); Ruffert, in: Schumann, Hierarchie, Kooperation und Integration im Europäischen Rechtsraum, 2015, S. 107; Ruffert, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 6. Auflage 2022, Art. 291 AEUV Rn. 2; Schmidt, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht, 7. Auflage 2015, Art. 291 AEUV Rn. 14; Stelkens, EuR 2012, 511 (511); wohl auch: KOM, Mitteilung an das Europäische Parlament und den Rat: Umsetzung von Artikel 290 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union, 9.12.2009, KOM(2009) 673 final, S. 3 f. 355  Für eine Nähe zum Subsidiaritätsprinzip: Gellermann, in: ­Streinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 291 AEUV Rn. 11; Ludwigs, NVwZ 2018, 1417 (1419); kritisch dazu: Nettesheim, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der EU, 73. EL 2021, Art. 291  AEUV Rn. 22 f.; Schmidt, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht, 7. Auflage 2015, Art. 291 AEUV Rn. 11. 356  Gellermann, in: S ­ treinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 291 AEUV Rn. 11; Nettesheim, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der EU, 73. EL 2021, Art. 291



D. Rahmenbedingungen des Unionsrechtsvollzugs101

EuGH Vollzugsmaßnahmen der EU im Ernstfall unter Hinweis auf Art. 291 AEUV verwerfen würde, erscheint demnach nur bei offensichtlich sachwidrigen oder rechtsmissbräuchlichen Beurteilungen denkbar.357 Ein effektiv kompetenzschützender Gehalt, demzufolge die Übertragung unionseigener Verwaltungszuständigkeiten über die Anforderungen des Art. 5 III EUV hi­ naus stets ein besonderes Rechtfertigungsbedürfnis auslösen würde, folgt aus Art. 291 AEUV nicht.358 Auch dem in Art. 291 III AEUV geregelten Erfordernis, den Mitglied­ staaten die Kontrolle über die Wahrnehmung von Durchführungsbefugnissen durch die Kommission zu sichern, lassen sich im Ergebnis keine über Art. 5 EUV hinausreichenden Einschränkungen entnehmen. Da die in der Komitologie-Verordnung (EU) Nr. 182/2011 normierten nationalen Kontrollbefugnisse zwar auf Kompetenzübertragungen auf die Kommission, nicht jedoch auf andere Verwaltungsakteure wie die europäischen Agenturen zugeschnitten sind, könnten letztere keine Durchführungsbefugnisse unter den in Art. 291 III AEUV geforderten Bedingungen ausüben, so dass Agenturen von der administrativen Vollzugstätigkeit der EU ausgeschlossen wären.359 Entwicklungsmöglichkeiten im Vollzugsbereich zu verschließen, die erst durch die Schaffung europäischer Agenturen eröffnet wurden, wäre in Anbetracht personeller Engpässe innerhalb der Kommissionsdienststellen jedoch wenig vorteilhaft. In der Rs. C-270/12 (Großbritannien und Nordirland/Kommission und Rat) stellte der EuGH dementsprechend klar, dass Art. 291 II AEUV einer Subdelegation delegierter Durchführungsbefugnisse360 an „Einrichtungen oder sonstige Stellen der Union“ nicht entgegenstehe. Zwar sehen die europäischen Verträge keine explizite Möglichkeit vor, ihnen Durchführungsbefugnisse zu vermitteln. Mit Art. 263 I 2, 265 I, 267 I b) AEUV würden allerdings Vorschriften existieren, die das Bestehen solcher Transfermöglichkeiten voraussetzen. Speziell in Situationen, in denen Entscheidungsträger über besonderes technisches Fachwissen verfügen müssen bestehe auch jenseits von Art. 291 II AEUV auf Grundlage politikbereichsspezifischer Ermächtigungen die Möglichkeit, Durchführungsbefugnisse auf Agenturen und AEUV Rn. 24; Schmidt, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht, 7. Auflage 2015, Art. 291 AEUV Rn. 10 f. 357  Vgl. EuGH, Rs. C-427/12, Kommission/Parlament und Rat, ECLI:EU:C:2014: 170 (Rn. 40); Gellermann, in: S ­ treinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 291 AEUV Rn. 11; Nettesheim, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der EU, 73. EL 2021, Art. 291 AEUV Rn. 18. 358  Ludwigs, NVwZ 2018, 1417 (1420); Nettesheim, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der EU, 73. EL 2021, Art. 291 AEUV Rn. 5; Stelkens, in: Stelkens/Bonk/ Sachs, VwVfG, 9. Auflage 2018, Europäisches Verwaltungsrecht Rn. 127 ff. 359  Stelkens, EuR 2012, 511 (516 f.). 360  Epiney, NVwZ 2015, 704 (705).

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1. Teil: Grundlagen

sonstige Stellen der Union zu übertragen, soweit dies erforderlich sei, um die Ziele des durchführungsbedürftigen Rechtsaktes zu erreichen.361 Vor diesem Hintergrund ist der wohl herrschenden Meinung dahingehend zu folgen, dass Art. 291 AEUV keine zusätzlichen primärrechtlichen Anforderungen an die Übertragung verwaltungsmäßiger Einzelfallentscheidungsbefugnisse auf Kommission und Rat stellt. Die Zulässigkeit einer solchen Übertragung ist ausschließlich an Art. 5 EUV zu messen. Eine effektiv kompetenzschützende Vorrangentscheidung lässt sich Art. 291 AEUV folglich nicht entnehmen.362 Dass Art. 291 AEUV den dezentralen Verwaltungsvollzug dennoch in gewissem Umfang gestärkt hat, zeigt sich im Vergleich zu seinen Vorgängerregelungen.363 Anders als Art. 202 Str. 3 und Art. 211 Str. 4 EGV steht der mit dem Vertrag von Lissabon eingeführte Art. 291 II AEUV im unmittelbaren systematischen Zusammenhang mit Art. 291 I AEUV, der den mitgliedstaatlichen Vollzug erstmals ausdrücklich zum Grundsatz erklärt.364 Hinzu kommt, dass mit Art. 291 III AEUV allein den Mitgliedstaaten, nicht etwa anderen EU-Institutionen, die Kontrolle über die Wahrnehmung von Durchführungsbefugnissen zugewiesen wurde,365 so dass sich der bis dahin geltende Komitologie-Beschluss 1999/468/EG366, der auch dem Rat konkrete Einflussmöglichkeiten auf den Erlass von Durchführungsrechtsakten eröffnete, mit dem Primärrecht nicht mehr vereinbaren ließ367 und das Komitologieverfahren neu

361  EuGH, Rs. C-217/12, Vereinigtes Königreich/Parlament, Rat, ECLI:EU:C:2014: 18 (Rn. 78 ff.); Rs. C-521/15, Spanien/Kommission und Rat, ECLI:EU:C:2017:982 (Rn. 43); kritisch zu dieser Argumentation: Epiney, NVwZ 2015, 704 (705); Ruffert, JuS 2014, 279 (280 f.). 362  Ebenso: Schmidt, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht, 7. Auflage 2015, Art. 291 AEUV Rn. 10; Stelkens, EuR 2012, 511 (511, 543, 544); dahingehend auch: Nettesheim, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der EU, 73. EL 2021, Art. 291 AEUV Rn. 18. 363  Vgl. auch: Gärditz, DÖV 2010, 453 (462); Weiß, Der europäische Verwaltungsverbund, 2010, S. 42. 364  Gellermann, in: ­Streinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 291 AEUV Rn. 3. 365  KOM, Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Festlegung der allgemeinen Regeln und Grundsätze, nach denen die Mitgliedstaaten die Wahrnehmung der Durchführungsbefugnisse durch die Kommission kontrollieren, 9.3.2010, KOM(2010) 83 endg., S. 3; Bast, CMLR 2012, 885 (912); Fabricius, EuZW 2014, 453 (454 f.); Schmidt, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht, 7. Auflage 2015, Art. 291 AEUV Rn. 7. 366  Beschluss Nr. 1999/468/EG des Rates vom 28. Juni 1999 zur Festlegung der Modalitäten für die Ausübung der der Kommission übertragenen Durchführungsbefugnisse, ABl. 1999, Nr. L 184, S. 23 ff. 367  Bast, CMLR 2012, 885 (912); Daiber, EuR 2012, 240 (246); zur Vereinbarkeit des Art. 11 Verordnung (EU) Nr. 182/2011 mit Art. 291 III AEUV: Fabricius, EuZW 2014, 453 (455).



D. Rahmenbedingungen des Unionsrechtsvollzugs103

geregelt werden musste.368 Eine latente Zurückhaltung gegenüber Zugriffen auf den dezentralen Verwaltungsvollzug ist in Art. 291 AEUV damit durchaus angelegt. Solange der EuGH hieraus keine weiterreichenden primärrechtlichen Schranken für die Übertragung von Verwaltungskompetenzen auf Unionsorgane herleitet, wirkt sich diese Stärkung der nationalen Souveränität rechtspraktisch allerdings nicht aus. d) Auswertung Art. 291 I, II AEUV regelt die Verbandskompetenzverteilung für den Vollzug unionsrechtlicher Vorgaben. Besondere Schutzwirkungen zu Gunsten nationaler Verwaltungskompetenzen folgen aus der Norm aber grundsätzlich nicht. Soweit Art. 291 AEUV nach hier vertretener Auffassung eine Stärkung des dezentralen Verwaltungsvollzugs zum Ausdruck bringt, hat diese Aussage höchstens das Potenzial, offensichtlich sachwidrige oder rechtsmissbräuchliche Übergriffe auf die nationale Souveränität abzuwenden. Obwohl Art. 291 AEUV unmittelbar nur den Vollzug selbst, nicht aber dessen Kontrolle durch die Unionsorgane regelt, könnten die darin enthaltenen Wertungen auch auf die Vollzugskontrollebene durchschlagen. Mit dem in Art. 291 I AEUV akzentuierten Grundsatz des dezentralen Vollzugs könnte die Kommission vor allem im Rahmen ihres Compliance-Promotion-Ansatzes in Konflikt geraten. Würde der staatliche Verwaltungsvollzug durch EUKontrollmaßnahmen in einem Ausmaß interferiert, das Entscheidungen faktisch auf die Unionsebene verschiebt, erschiene es zumindest in der Theorie denkbar, aus der in Art. 291 AEUV angelegten Stärkung der nationalen Ebene – sozusagen als Korrektiv in Extremfällen – eine Art kernbereichsschützenden Gehalt zu herzuleiten, der es gebieten würde, den Verwaltungsvollzug zumindest schwerpunktmäßig den Mitgliedstaaten zu belassen.

368  Kritisch zu Art. 11 Verordnung (EU) Nr. 182/2011: Fabricius, EuZW 2014, 453 (454 ff.); zur Zulässigkeit der Einbeziehung des Europäischen Parlaments: Hofmann, ELJ 2009, 482 (500).

2. Teil

Das Vertragsverletzungsverfahren als „klassisches“ Vollzugskontrollinstrument und seine Fortentwicklung Um analysieren zu können, wie sich die Entstehung und Einbeziehung von Umweltnetzwerken in des supranationale Vollzugskontrollsystems ausgewirkt hat, ist es zuvor erforderlich, das „klassische“ EU-Vollzugskontrollinstrumentarium als Vergleichsmaßstab in den Blick zu nehmen. Art. 17 I 2 EUV normiert lediglich eine Aufgabenzuweisung an die Kommission. Mit konkreten Vorgaben, wie sie ihren Vollzugskontrollauftrag erfüllen soll bzw. welche Instrumente ihr zu diesem Zweck zur Verfügung stehen, hält sich das Primärrecht allerdings zurück. Spezielle Sanktionskompetenzen im Fall eines Verstoßes gegen unionsrechtliche Vorgaben sehen die Verträge zwar im Bereich des Wettbewerbsrechts vor (vgl. Art. 103 II a AEUV1), nicht jedoch für das EU-Umweltrecht. Mit dem in Art. 258 ff. AEUV geregelten Vertragsverletzungsverfahren stellt der AEUV der Kommission nur ein politikbereichsunspezifisches Mittel zur Verfügung, um gegen Vollzugsdefizite in den Mitgliedstaaten vorzugehen.2 Das seit Beginn der europäischen Integration in den Verträgen verankerte Vertragsverletzungsverfahren dient der Durchsetzung (Enforcement) der mitgliedstaatlichen Pflicht, europäische Vorgaben auf nationaler Ebene wirksam umzusetzen und anzuwenden.3 Zwar vermittelt es der Kommission keine direkten Kompetenzen, selbst Sanktionen zu verhängen. Im Zusammenspiel mit dem EuGH bieten die Art. 258 ff. AEUV jedoch ein Instrumentarium, das gezielt darauf gerichtet ist, das Bestehen einer Vertragsverletzung verbindlich festzustellen und staatliche Widerstände erforderlichenfalls zu überwinden. Das Vertragsverletzungsverfahren lässt sich im unionsrechtlichen Kontext 1  Vgl. zu Geldbußen und Sanktionen im Bereich des europäischen Wettbewerbsrechts: Jung, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 6. Auflage 2022, Art. 103 AEUV Rn.  20 ff. 2  Hedemann-Robinson, EEELRev 2015, 115 (116). 3  Cremer, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 6.  Auflage 2022, Art. 259 AEUV Rn. 2; Wunderlich, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht, 7. Auflage 2015, Art. 258 AEUV Rn. 1.



A. Fallbeispiele und empirischer Befund

105

somit als Erscheinungsform der top-down gerichteten, imperativen Kontrolle qualifizieren. Zwar kommen alle Letztentscheidungsbefugnisse darüber, ob ein Mitgliedstaat tatsächlich gegen Unionsrecht verstoßen hat und deshalb Sanktionen unterworfen werden soll dem EuGH und nicht der Kommission zu (vgl. Art. 260 I, II UAbs. 2, III UAbs. 2 AEUV). Die Kommission nimmt jedoch wesentliche, den Verfahrensablauf gestaltende Funktionen wahr. Im Verhältnis zu den Mitgliedstaaten tritt sie dabei wie eine Anklägerin oder Staatsanwältin aus der Position einer übergeordnete Untersuchungsinstanz in Erscheinung, vor der es sich zu rechtfertigen gilt. Mit Blick auf die im Rahmen dieser Arbeit aufgeworfenen Frage, wie sich das supranationale Vollzugskontrollsystem im EU-Umweltrecht durch die Entstehung und Einbeziehung von Netzwerken entwickelt hat, muss geklärt werden, weshalb das vertraglich verankerte, schon immer zur Verfügung stehende und somit „klassische“ Kontrollinstrumentarium der Art. 258 ff. AEUV nicht genügt, um den effektiven Vollzug unionsrechtlicher Umweltvorgaben zu gewährleisten. Zu diesem Zweck soll das Vertragsverletzungsverfahren als primärrechtlicher Ausgangspunkt des europäischen Vollzugskontrollsystems einer genauen Betrachtung unterzogen werden. Unter Rückgriff auf das von der Kommission im Rahmen ihrer Jahresberichte veröffentlichte empirische Datenmaterial wird in einem ersten Schritt dargestellt, welche praktische Relevanz den Art. 258 ff. AEUV im Bereich des EU-Umweltrechts zukommt (A). Anschließend werden im Rahmen dieses Kapitels die Funktionsweise und Durchsetzungskraft des Vertragsverletzungsverfahrens analysiert (B) und seine Fortentwicklung durch Modifikationen und ergänzende Instrumente in den vergangenen Jahren untersucht (C). Schließlich soll geklärt werden, welche Defizite die wirksame Kontrolle des EU-Umweltrechtsvollzugs mit Hilfe des Vertragsverletzungsverfahrens nach wie vor erschweren (D) und den Rückgriff auf kooperative Vollzugskontrollmechanismen, wie Netzwerke, erforderlich machen.

A. Die Rolle des Vertragsverletzungsverfahrens für die Durchsetzung des EU-Umweltrechts: Fallbeispiele und empirischer Befund Das Vertragsverletzungsverfahren fand bereits 1957 im Frühstadium der europäischen Gemeinschaften Eingang in die Art. 169  ff. des damaligen EWGV. Echte praktische Relevanz als Vollzugskontrollinstrument erlangte es jedoch erst in den 1980er-Jahren: Waren zwischen 1953 und 1980 in knapp 30 Jahren gerade einmal 116 Vertragsverletzungsfälle vor den EuGH gelangt, erhob die Kommission allein 1981 und 1982 insgesamt 96 Vertragsverletzungsklagen, von denen die meisten Angelegenheiten Fälle der fehlerhaften

106

2. Teil: Das Vertragsverletzungsverfahren

Richtlinienumsetzung betrafen.4 Da von allen eröffneten Verfahren in der Regel nur ein kleiner Teil die gerichtliche Verfahrensphase erreicht, lässt ein erheblicher Anstieg an Klageerhebungen auf einen enormen quantitativen Bedeutungsgewinn des Vertragsverletzungsverfahrens schließen. So wurden ab Beginn des Jahres 2013 bis 2021 nach Information der digitalen Infringement Decisions Datenbank der Kommission5 zwar „nur“ 428 Vertragsverletzungsklagen6 erhoben, insgesamt wurden aber 6242 neue Verfahren initiiert.7 Von 262 Vertragsverletzungsurteilen des EuGH bestätigten 221, also etwa 84 % die Auffassungen der Kommission.8  A. Fallbeispiele und empirischer Befund Gerade im Umweltsektor spielt das Vertragsverletzungsverfahren als Vollzugskontrollinstrument eine tragende Rolle. Allein gegen die Bundesrepublik 4  Cremer, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 6.  Auflage 2022, Art. 258 AEUV Rn. 3; Ehricke, in: S ­ treinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 258 AEUV Rn. 4; Everling, EuR 1983 101 (124). 5  Im Einzelnen einsehbar unter: https://ec.europa.eu/atwork/applying-eu-law/in fringements-proceedings/infringement_decisions/ (Stand: 14.2.2023). 6  Berücksichtigt wurden alle Vertragsverletzungsklagen nach Art. 258, 260 oder 260 III AEUV im Zeitraum zwischen dem 1.1.2013 und dem 31.12.2019. 7  6242 Vertragsverletzungsfälle = 761 (2013) + 893 (2014) + 742 (2015) + 986 (2016) + 716 (2017) + 644 (2018) + 797 (2019) + 903 (2020). Zahlen nach: KOM, 31. Jahresbericht über die Kontrolle der Anwendung des EURechts (2013), 1.10.2014, COM(2014) 612 final, S. 12; KOM, Kontrolle der Anwendung des EU-Rechts: Jahresbericht 2014, 9.7.2015, COM(2015) 329 final, S. 13; KOM, Kontrolle der Anwendung des EU-Rechts: Jahresbericht 2015, 15.7.2016, COM(2016) 463 final, S. 25; KOM, Kontrolle der Anwendung des EU-Rechts Jahresbericht 2016, 6.7.2017, COM(2017) 370 final, S. 27; KOM, Staff Working Document, Part I: General statistical overview, 12.7.2018, SWD(2018) 377 final, S.  10; KOM,  Staff Working Document, Part I: General statistical overview, 4.7.2019, SWD(2019)285 final, S. 18; KOM, Staff Working Document, Part I: General statistical overview, 31.7.2020, SWD(2020) 147 final, S. 19; KOM, Staff Working Document, General statistical overview, 23.7.2021, SWD(2021) 212 final, S. 21. 8  262 Urteile in Verfahren nach Art. 258 und 260 II AEUV = 57 (2013) + 44 (2014) + 28 (2015) + 30 (2016) + 18 (2017) + 32 (2018) + 25 (2019) + 28 (2020); 221 Urteile zu Gunsten der Kommission = 36 (2013) + 40 (2014) + 21 (2015) + 25 (2016) + 18 (2017) + 31 (2018) + 23 (2019) + 27 (2020). Zahlen nach: KOM, 31. Jahresbericht über die Kontrolle der Anwendung des EURechts (2013), 1.10.2014, COM(2014) 612 final, S. 13 f.; KOM, Kontrolle der Anwendung des EU-Rechts: Jahresbericht 2014, 9.7.2015, COM(2015) 329 final, S. 16, 18; KOM, Kontrolle der Anwendung des EU-Rechts: Jahresbericht 2015, 15.7.2016, COM(2016) 463 final, S. 28 f.; KOM, Kontrolle der Anwendung des EU-Rechts Jahresbericht 2016, 6.7.2017, COM(2017) 370 final, S. 30 f.; KOM, Staff Working Document, Part I: General statistical overview, 12.7.2018, SWD(2018) 377 final, S. 13 f.; KOM, Staff Working Document, Part I: General statistical overview, 4.7.2019, SWD(2019)285 final, S. 21; KOM, Staff Working Document, Part I: General statistical overview, 31.7.2020, SWD(2020) 147 final, S. 23; KOM, Staff Working Document, General statistical overview, 23.7.2021, SWD(2021) 212 final, S. 24 f.



A. Fallbeispiele und empirischer Befund107

Deutschland sind in den letzten 20 Jahren über 150 Verfahren geführt und teilweise mit Vertragsverletzungsurteilen abgeschlossen worden.9 Wichtige Entscheidungen ergingen bereits zu Beginn der 1990er-Jahre: So befand der EuGH in der Rs. C-237/90 (Kommission/Deutschland)10 die Umsetzung der damaligen Trinkwasserrichtlinie (80/778/EWG11) durch die nationale Trinkwasser-Verordnung für ungenügend, weil das innerstaatliche Umsetzungsrecht über die Richtlinienvorgaben hinausgehende Abweichungen von Anforderungen an die Trinkwasserqualität zuließ und die Behörden der Länder nicht verpflichtete, den Bundesbehörden die Zulassung von Abweichungen nach der Trinkwasser-Verordnung mitzuteilen. 1991 hatte sich der EuGH in zwei ­Verfahren12 mit der Umsetzung der mittlerweile aufgehobenen Luftreinhaltungsrichtlinien für Schwefeldioxyd/Schwebestaub (80/779/EWG13) und Blei (82/884/EWG14) durch die TA Luft sowie mit der generellen Eignung von Verwaltungsvorschriften zur Umsetzung von Richtlinien zu befassen. Zur Durchsetzung der ehemaligen Richtlinie über die Umweltverträglichkeitsprüfung (85/337/EWG15) eröffnete die Kommission gleich eine ganze 9  Untersuchungszeitpunkt: 28.2.2022, einsehbar in der Vertragsverletzungsdatenbank der Kommission unter: https://ec.europa.eu/atwork/applying-eu-law/infringe ments-proceedings/infringement_decisions/index.cfm?lang_code=EN&typeOfSearch =true&active_only=0&noncom=0&r_dossier=&decision_date_from=&decision_ date_to=&EM=DE&DG=ENV&title=&submit=Search (Stand: 14.2.2023). 10  EuGH, Rs. C-237/90, Kommission/Deutschland, Slg. 1992, I-5973. 11  Richtlinie 80/778/EWG des Rates vom 15. Juli 1980 über die Qualität von Wasser für den menschlichen Gebrauch, ABl. 1980, Nr. L 229, S. 1 ff., aufgehoben und ersetzt durch die Richtlinie 98/83/EG des Rates vom 3. November 1998 über die Qualität von Wasser für den menschlichen Gebrauch, ABl. 1998, Nr. L 330, S. 32 ff. 12  EuGH, Rs. C-361/88, Kommission/Deutschland, Slg. 1991, I-2567; Rs. C-59/89, Kommission/Deutschland, Slg. 1991, I-2607. 13  Richtlinie 80/779/EWG des Rates vom 15. Juli 1980 über Grenzwerte und Leitwerte der Luftqualität für Schwefeldioxid und Schwebestaub, ABl. 1980, Nr. L 229, S. 30 ff., aufgehoben durch die Richtlinie 1999/30/EG des Rates vom 22. April 1999 über Grenzwerte für Schwefeldioxid, Stickstoffdioxid und Stickstoffoxide, Partikel und Blei in der Luft, ABl. 1999, Nr. L 163, S. 41 ff., wiederum aufgehoben durch die Richtlinie 2008/50/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. Mai 2008 über Luftqualität und saubere Luft für Europa, ABl. 2008, Nr. L 152, S.  1 ff. 14  Richtlinie 82/884/EWG des Rates vom 3.12.1982 betreffend einen Grenzwert für den Bleigehalt in der Luft, ABl. 1982, Nr. L 378, S. 15 ff., aufgehoben durch die Richtlinie 1999/30/EG des Rates vom 22. April 1999 über Grenzwerte für Schwefeldioxid, Stickstoffdioxid und Stickstoffoxide, Partikel und Blei in der Luft, ABl. 1999, Nr. L 163, S. 41 ff., wiederum aufgehoben durch die Richtlinie 2008/50/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. Mai 2008 über Luftqualität und saubere Luft für Europa, ABl. 2008, Nr. L 152, S. 1 ff. 15  Richtlinie 85/337/EWG des Rates vom 27. Juni 1985 über die Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten öffentlichen und privaten Projekten, ABl. 1986,

108

2. Teil: Das Vertragsverletzungsverfahren

Reihe von Vertragsverletzungsverfahren gegen die Bundesrepublik:16 Erstmals befasst wurde der EuGH 1995 in der Rs. C-431/92 (Kommission/ Deutschland)17 mit der Nichtanwendung der damals noch nicht umgesetzten Richtlinie bei der Genehmigung eines neuen Kraftwerkblocks für das Wärmekraftwerk Großkrotzenburg. Während diese erste Vertragsverletzungsklage noch abgewiesen wurde, stellte der EuGH in der Rs. C-301/95 (Kommission/ Deutschland)18 drei Jahre später aus diversen Gründen sowohl einen Verstoß gegen die Pflicht zur vollständigen Richtlinienumsetzung als auch einen Verstoß gegen staatliche Mitteilungspflichten fest. 2005 folgten Vertragsverletzungsverfahren über die Nichtumsetzung der Änderungsrichtlinie (97/11/ EG19) in Bezug auf Straßenbauvorhaben in Rheinland-Pfalz und NordrheinWestfalen20 sowie ihre Nichtanwendung im Verfahren zur Genehmigung der Errichtung und des Betriebs einer Feuerungsanlage für Holzgas auf dem Gelände der Nivelsteiner Sandwerke.21 Eine umfassende Reform des deutschen UmwRG bewirkte in jüngerer Zeit das Vertragsverletzungsurteil in der Rs. C-137/14 (Kommission/Deutsch­ land)22, in dessen Rahmen die Unionsrechtswidrigkeit verwaltungsprozes­ sualer Vorgaben, u. a. der in § 2 III UmwRG vorgesehenen materiellen Präklusionsvorschrift festgestellt wurde. Seither gibt vor allem die Umsetzung Nr. L 175, S. 40 ff., geändert durch Richtlinie 97/11/EG des Rates vom 3. März 1997 zur Änderung der Richtlinie 85/337/EWG über die Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten öffentlichen und privaten Projekten, ABl. 1997, Nr. L 73, S. 5 ff., aufgehoben durch die Richtlinie 2011/92/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über die Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten öffentlichen und privaten Projekten, ABl. 2012, Nr. L 26, S. 1 ff. 16  Vgl. aber auch Verfahren gegen andere Mitgliedstaaten, die den Vollzug der UVP-Richtlinie zum Gegenstand hatten: EuGH, Rs. C-230/00, Kommission/Belgien, Slg. 2001, I-4591; Rs- C-474/99, Kommission/Spanien, Slg. 2002, I-5293; Rs. C-117/ 02, Kommission/Portugal, Slg. 2004, I-5517; Rs. C-227/01, Kommission/Spanien, Slg. 2004, I-8253; Rs. C-83/03, Kommission/Italien, Slg. 2005, I-4747; Rs. C-508/03, Kommission/UK, Slg. 2006, I-3969; Rs. C-66/06, Kommission/Irland, Slg. 2008, I-158; Rs. C-427/07, Kommission/Irland, Slg. 2009, I-6277; Rs. C-50/09, Kommission/Irland, Slg. 2011, I-873; Rs. C-404/09, Kommission/Spanien, Slg. 2011, I-11853. 17  EuGH, Rs. C-431/92, Kommission/Deutschland, Slg. 1995, I-2189; dazu: Calliess, NVwZ 1996, 339 (339 ff.). 18  EuGH, Rs. C-301/95, Kommission/Deutschland, Slg. 1998, I-6135. 19  Richtlinie 97/11/EG des Rates vom 3. März 1997 zur Änderung der Richtlinie 85/337/EWG über die Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten öffentlichen und privaten Projekten, ABl. 1997, Nr. L 73, S. 5 ff. 20  EuGH, Rs. C-531/03, Kommission/Deutschland, ECLI:EU:C:2005:159. 21  EuGH, Rs. C-247/06, Kommission/Deutschland, Slg. 2008, I-150. 22  EuGH, Rs. C-137/14, Kommission/Deutschland, ECLI:EU:C:2015:683, m. Anm. dazu: Keller/Rövekamp, NVwZ 2015, 1665 (1672 f.); Missling, EnWZ 2016, 78 (83 ff.); Sobotta, EuWZ 2016, 66 (72 ff.).



A. Fallbeispiele und empirischer Befund109

des materiellen EU-Umweltrechts der Kommission Anlass zur Kritik. So wurden im Jahr 2020 sieben neue Vertragsverletzungsverfahren23 gegen die Bundesrepublik Deutschland eröffnet, die etwa die potenziell unzureichende Umsetzung der Seveso-III-Richtlinie (2012/18/EU24) und der Industrieemissionsrichtlinie (2010//75/EU) in nationales Recht sowie drei Fälle der Nichtmitteilung nationaler Maßnahmen zur Umsetzung der Änderungsrichtlinien zur Abfallrahmenrichtlinie (2018/851/EU25), zur Richtlinie über Verpackungen und Verpackungsabfälle (2018/852/EU26) und zur Richtlinie über Abfalldeponien (2018/850/EU27) betrafen.28 In der unionsweiten Gesamtschau zeigt eine Auswertung des von der Kommission jährlich veröffentlichten statistischen Datenmaterials, dass zwischen 2013 und 2021 stets mehr als 1300 Vertragsverletzungsverfahren in Bearbeitung waren, von denen konstant etwa 20 % dem Umweltsektor entstammten (Abbildung 2). Das EU-Umweltrecht zählt damit regelmäßig zu den verfahrensintensivsten Politikfeldern. Mit 298 Fällen im Jahr 201829,

23  Im Einzelnen einsehbar in der Vertragsverletzungsdatenbank der Kommission unter: https://ec.europa.eu/atwork/applying-eu-law/infringements-proceedings/infringe ment_decisions/index.cfm?lang_code=EN&typeOfSearch=false&active_only=0 &noncom=0&r_dossier=&decision_date_from=01 %2F01 %2F2020&decision_date_ to=31 %2F12 %2F2020&d_type=1&d_type=115&d_type=6&d_type=7&EM=DE&D G=ENV&title=&submit=Search (Stand: 14.2.2023). 24  Richtlinie 2012/18/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. Juli 2012 zur Beherrschung der Gefahren schwerer Unfälle mit gefährlichen Stoffen, zur Änderung und anschließenden Aufhebung der Richtlinie 96/82/EG des Rates, ABl. 2012, Nr. L 197, S. 1 ff. 25  Richtlinie (EU) 2018/851 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 30. Mai 2018 zur Änderung der Richtlinie 2008/98/EG über Abfälle, ABl. 2018, Nr. L 150, S. 109 ff. 26  Richtlinie (EU) 2018/852 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 30. Mai 2018 zur Änderung der Richtlinie 94/62/EG über Verpackungen und Verpackungsabfälle, ABl. 2018, Nr. L 150, S. 141 ff. 27  Richtlinie (EU) 2018/850 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 30. Mai 2018 zur Änderung der Richtlinie 1999/31/EG über Abfalldeponien, ABl. 2018, Nr. L 150, S. 100 ff. 28  Vgl. zu den genannten Fällen die folgenden Pressemitteilungen der Kommission: KOM, Pressemitteilung, Vertragsverletzungsverfahren: Drei neue Beschlüsse zu Deutschland, 2.7.2020, juris; KOM, Pressemitteilung, Vertragsverletzungsverfahren: Kommission leitet in sechs Fällen rechtliche Schritte gegen Deutschland ein, 14.5.2020, juris; KOM, Pressemitteilung, Vertragsverletzungsverfahren: Deutschland muss bei Umweltschutz und Anerkennung von Berufsqualifikationen nachbessern, 2.11.2020, juris. 29  Gefolgt von den Bereichen Mobilität und Verkehr (244 Fälle) sowie Binnenmarkt, Industrie, Unternehmertum und KMU (177 Fälle): KOM, Staff Working Document, Part I: General statistical overview, 4.7.2019, SWD(2019) 285 final, S. 20.

110

2. Teil: Das Vertragsverletzungsverfahren

ϯϮϳ

2013

2014

2015

2016

2017

2018

2019

Insgesamt

1786 ϰϰϰ

Ϯϵϴ

1564

ϯϬϳ

1571

Ϯϲϵ

1559

1657

Ϯϳϲ

1368

ϯϮϮ

1347

ϯϯϰ

1300

327 Fällen im Jahr 201930 und 444 Fällen im Jahr 202031 bildeten Vertragsverletzungsangelegenheiten, die EU-Umweltrechtsverstöße zum Gegenstand hatten, sogar die größte Gruppe unter den laufenden Verfahren.

2020

im Umweltbereich

Abbildung 2: Zum Jahresende offene Vertragsverletzungsverfahren nach Jahren32



Auch neue Verfahren kommen jedes Jahr hinzu (Abbildung 3). Zwar schwankt die Anzahl umweltrelevanter Fälle hier stärker – so wurden 2018 lediglich 73 Vertragsverletzungsverfahren initiiert, während z. B. 2013 und 2020 mehr als die dreifache Menge anfiel. Dennoch rangiert der Umweltsektor unter den jährlich neu eröffneten Verfahren fast immer unter den besonders intensiv betroffenen Politikbereichen. Nach einem vorläufigen Tiefststand 2018 kamen 2019 und 2020 mit 175 bzw. 236 Fällen wieder die mit Abstand meisten neuen Vertragsverletzungsverfahren aus dem Umweltsektor 30  Gefolgt von den Bereichen Binnenmarkt, Industrie, Unternehmertum und KMU (241 Fälle) sowie Mobilität und Verkehr (203 Fälle): KOM, Staff Working Document, Part I: General statistical overview, 31.7.2020, SWD(2020) 147 final, S. 22. 31  KOM, Staff Working Document, General statistical overview, 23.7.2021, SWD(2021) 212 final, S. 23 f. 32  Grafik in eigener Darstellung, Zahlen nach: KOM, 31. Jahresbericht über die Kontrolle der Anwendung des EU-Rechts (2013), 1.10.2014, COM(2014) 612 final, S.  12 f.; KOM, Kontrolle der Anwendung des EU-Rechts: Jahresbericht 2014, 9.7.2015, COM(2015) 329 final, S. 14 f.; KOM, Kontrolle der Anwendung des EURechts: Jahresbericht 2015, 15.7.2016, COM(2016) 463 final, S. 26 f.; KOM, Kon­ trolle der Anwendung des EU-Rechts Jahresbericht 2016, 6.7.2017, COM(2017) 370 final, S.  29 f.; KOM, Staff Working Document, Part I: General statistical overview, 12.7.2018, SWD(2018) 377 final, S. 12 f.; KOM, Staff Working Document, Part I: General statistical overview, 4.7.2019, SWD(2019) 285 final, S. 19 f.; KOM, Staff Working Document, Part I: General statistical overview, 31.7.2020, SWD(2020) 147 final, S. 22; KOM, Staff Working Document, General statistical overview, 23.7.2021, SWD(2021) 212 final, S. 23 f.



A. Fallbeispiele und empirischer Befund111

Insgesamt

2017

903

644

Ϯϯϲ

2016

ϭϳϱ

2015

ϳϯ

ϴϵ

716

ϭϮϲ

2014

ϭϳϯ

ϭϳϰ

2013

797

986 742

893

ϮϮϯ

761

hinzu.33 Eine eindeutig auf- oder absteigende Entwicklungstendenz lässt sich somit nicht erkennen. Ungeachtet teilweise erheblicher Fluktuationen zeigt sich im Gesamtproporz dennoch eine gewisse Konstanz: Von den zwischen 2013 und 2021 insgesamt 6242 initiierten Verfahren entfielen 1302 auf den Umweltsektor, so dass die 20 % Quote letzten Endes auch hier Bestätigung gefunden hat.

2018

2019

2020

im Umweltbereich

Abbildung 3: Neu eröffnete Vertragsverletzungsverfahren nach Jahren34

Die Kommission unterscheidet bei der Anwendung des Vertragsverletzungsverfahrens im Rahmen ihrer Vollzugskontrolltätigkeit grundsätzlich zwischen Fällen der Nichtmitteilung nationaler Maßnahmen zur Umsetzung von EU-Richtlinien, Fällen der fehlerhaften/verspäteten Richtlinienumsetzung und Fällen der fehlerhaften Rechtsanwendung.35 In der Praxis betreffen 33  KOM, Staff Working Document, Part I: General statistical overview, 31.7.2020, SWD(2020) 147 final, S. 20; KOM, Staff Working Document, General statistical overview, 23.7.2021, SWD(2021) 212 final, S. 21. 34  Grafik in eigener Darstellung, Zahlen nach: KOM, Staff Working Document – Monitoring the Application of EU Law in EU Policy Areas, 23.12.2014, SWD(2014) 359 final, S. 38; KOM, Staff Working Document: Monitoring the application of Union law – Part I: Policy areas, 9.5.2015, S. 66; KOM, Staff Working Document – Part I: Policy areas, 15.7.2016, SWD(2016) 230 final, S. 42; KOM, Staff Working Document – Part I: Policy areas, 6.7.2017, SWD(2017) 259 final, S. 27; KOM, Staff Work­ ing Document – Part II: Policy areas, 12.7.2018, SWD(2018) 378 final, S. 27; KOM, Staff Working Document – Part II: Policy areas, 4.7.2019, SWD(2019) 286 final, S. 30; KOM, Staff Working Document – Part II: Policy areas, 31.7.2020, S. 29; KOM, Staff Working Document, Part I: General statistical overview, 12.7.2018, SWD(2018) 377 final, S. 10; KOM, Staff Working Document, Part I: General statistical overview, 4.7.2019, SWD(2019)285 final, S. 18; KOM, Staff Working Document, Part I: General statistical overview, 31.7.2020, SWD(2020) 147 final, S. 19; KOM, Staff Working Document, General statistical overview, 23.7.2021, SWD(2021) 212 final, S. 21. 35  Dazu: 1. Teil, A. II.



112

2. Teil: Das Vertragsverletzungsverfahren

die meisten Vertragsverletzungsverfahren Fälle der verspäteten Richtlinien­ umsetzung: 599 von 903 im Verlauf des Jahres 2020 eröffneten Vertragsverletzungsverfahren, d. h. immerhin 66 %, hatten Verspätungen bei der Richt­ linienumsetzung zum Gegenstand.36 In den Vorjahren wurde diese Quote teilweise noch übertroffen. Während 2019 nur 50 % aller initiierten Vertragsverletzungsverfahren Verspätungsfälle betrafen,37 waren es 2018 immerhin 65 %, 2017 sogar 77 % und 2016 ganze 86 %.38 Im Umweltsektor zeigt sich ein etwas niedriger Proporz. Handelte es sich 2019 bei gerade einmal 34 % aller neu eröffneten Verfahren gegen EU-Umweltrechtsverletzungen um Fälle der verspäteten Umsetzung,39 waren es 2018 ca. 56 %,40 2017 sogar 65 %41 und 2016 wieder nur 56 %.42 Fächert man die Verteilung der Gesamtzahl laufender Vertragsverletzungsverfahren auf die Mitgliedstaaten auf, tritt deutlich zutage, dass – abgesehen vom vereinigten Königreich, das sich seit dem Brexit am 31.01.2020 ohnehin in einer besonderen Situation befindet – die meisten Verfahren sowohl politikbereichsunabhängig als auch im Umweltsektor auf Griechenland und Spanien entfallen. Während Ende des Jahres 2020 gegen Griechenland 29 und gegen Spanien sogar 30 Verstöße gegen EU-Umweltrecht verfolgt wurden, liefen gegen die Bundesrepublik 15 Verfahren. Im internationalen Vergleich rangierte Deutschland damit im oberen Drittel (Abbildung 4).

36  KOM, Staff Working Document, General statistical overview, 23.7.2021, SWD(2021) 212 final, S. 21 f. 37  KOM, Staff Working Document, Part I: General statistical overview, 31.7.2020, SWD(2020) 147 final, S. 26. 38  KOM, Staff Working Document, Part I: General statistical overview, 4.7.2019, SWD(2019) 285 final, S. 18. 39  59 von 175 neu eröffneten Vertragsverletzungsverfahren im Umweltsektor betrafen Fälle der verspäteten Richtlinienumsetzung, Staff Working Document, Part II: policy areas, 31.7.2020, SWD(2020) 147 final, S. 32. 40  41 von 73 neu eröffneten Vertragsverletzungsverfahren im Umweltsektor betrafen Fälle der verspäteten Richtlinienumsetzung: KOM, Staff Working Document, Part xII: policy areas, 4.7.2019, SWD(2019) 286 final, S. 32. 41  113 von 173 neu eröffneten Vertragsverletzungsverfahren im Umweltsektor betrafen Fälle der verspäteten Richtlinienumsetzung: KOM, Staff Working Document, Part II: policy areas, 12.7.2018, SWD(2018) 377 final, S. 30. 42  50 von 89 neu eröffneten Vertragsverletzungsverfahren im Umweltsektor betrafen Fälle der verspäteten Richtlinienumsetzung: KOM, Staff Working Document, Part I: Policy areas, 6.7.2017, SWD(2017) 259 final, S. 29.

86 67 59

57

56

29 23

22

21

20

18

18

18

16

16

16

15

14

14

14

14

13

13

11

10

10

9

8

8

30

36

45

47

78

80

78

74

73 64

66

70

79

81 61 46 40

41

37

46 8

EE LU DK NL LT FI LV BE HU CY MT HR SE IE DE CZ PT SL AT BG PL SK RO IT FR EL ES UK

7

31

39

88

99

B. Funktionsweise und Durchsetzungskraft113

97



Insgesamt

im Umweltbereich

Abbildung 4: Ende 2020 offene Vertragsverletzungsverfahren nach Mitgliedstaaten43

B. Funktionsweise und Durchsetzungskraft des Vertragsverletzungsverfahrens Sowohl die normhierarchische Spitzenstellung des AEUV als auch der frühe unionsgeschichtliche Entstehungszeitpunkt sprechen dafür, dem Vertragsverletzungsverfahren innerhalb des EU-Vollzugskontrollsystems zentrale Bedeutung zuzuweisen. Dies gilt umso mehr mit Blick auf Art. 344 AEUV, wonach die in den europäischen Verträgen vorgesehenen Streitregelungsmechanismen für abschließend erklärt und damit völkerrechtliche Mechanismen ausgeschlossen werden.44

I. Das Vertragsverletzungsverfahren als Kontrollinstrument der Kommission Bei formaler Betrachtung ist die Kommission nicht die einzige zur Ver­ fahrenseröffnung berechtigte Institution. Da gemäß Art. 259 AEUV auch die Mitgliedstaaten ein Vertragsverletzungsverfahren initiieren können, handelt 43  Grafik in eigener Darstellung, Zahlen nach: KOM, Staff Working Document, General statistical overview, 23.7.2021, SWD(2021) 212 final, S. 23; GD ENV, Legal Enforcement, Statistics on environmental infringements, Infringements per MS in 2020, abrufbar unter: https://ec.europa.eu/environment/legal/law/pdf/statistics%20 MS%20from%202007%20to%202020.pdf (Stand: 3.3.2022). 44  Hobe, Europarecht, 9. Auflage 2017, Rn. 519.



114

2. Teil: Das Vertragsverletzungsverfahren

es sich grundsätzlich um kein exklusives, der Kommission allein vorbehaltenes Kontrollmittel. In der Praxis fällt die (quantitative) Bedeutung der sog. Staatenklagen45 nach Art. 259 AEUV aber völlig hinter der der kommis­ sionsgeführten Aufsichtsklagen46 zurück. Wohl um politische Spannungen zu vermeiden und diplomatische Beziehungen nicht unnötig zu belasten, ziehen es die Mitgliedstaaten in der Regel vor, die Kontrolle des Unionsrechtsvollzugs der Kommission zu überlassen.47 Da diese Aufgabe gemäß Art. 17 I 2 EUV ohnehin der Kommission und nicht den Mitgliedstaaten zugewiesen ist, dürfen letztere ihr Klagerecht auch erst ausüben, nachdem die Kommission Gelegenheit hatte, sich mit der Angelegenheit zu befassen (vgl. Art. 259 2 AEUV).48 Wie gering die praktische Relevanz des Verfahrens nach Art. 259 AEUV tatsächlich ist, zeigt der empirische Befund: Bis 2020 ergingen insgesamt nur sechs Urteile aufgrund von Art. 259 AEUV.49 Keines davon betraf die Durchsetzung umweltrechtlicher Vorgaben. Dass die Mitgliedstaaten in der Theorie ebenfalls über das Recht verfügen, Vertragsverletzungsverfahren zu eröffnen und somit an der Vollzugskontrolle des EURechts mitzuwirken, stellt die Position der Kommission als initiativberechtigte Zentralgestalt also nicht ernsthaft in Frage. Das Verfahren nach Art. 259 AEUV soll daher in der nachfolgenden Darstellung außen vor bleiben.

II. Verfahrensstruktur Aus dem AEUV ergibt sich eine zweistufige Verfahrensstruktur. Unterscheiden lassen sich das sog. Erstverfahren50 gemäß Art. 258 AEUV, in dessen Verlauf geklärt werden muss, ob ein Mitgliedstaat gegen unionsrechtliche Vorgaben verstoßen hat und an dessen Ende ein Vertragsverletzungs­ 45  Karpenstein, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der EU, 73. EL 2021, Art. 259 AEUV Rn. 22. 46  Burgi, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, Hdb. des Rechtsschutzes in der EU, 3. Auflage 2014, § 6 Rn. 2; Pechstein, EU-Prozessrecht, 4. Auflage 2011, Rn. 261 ff. 47  Burgi, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, Hdb. des Rechtsschutzes in der EU, 3. Auflage 2014, § 6 Rn. 3; Ehricke, in: S ­treinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 259 AEUV  Rn. 3; Gormley, in: Jakab/Kochenov, The Enforcement of EU Law and Values, 2017, S. 65 f. 48  Karpenstein, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der EU, 73. EL 2021, Art. 259 AEUV, Rn. 1. 49  EuGH, Rs. 141/78, Frankreich/Vereinigtes Königreich, Slg. 1979, 2923; Rs. C-388/95, Belgien/Spanien, Slg. 2000, I-3123; Rs. C-145/04, Spanien/Vereinigtes Königreich, Slg. 2006, I-7917; Rs. C-364/10, Ungarn/Slowakei, ECLI:EU:C:2012:630; Rs. C-591/17, Österreich/Deutschland, ECLI:EU:C:2019:504; Rs. C-457/18, Slowenien/Kroatien, ECLI:EU:C:2020:65. 50  Borchardt, in: Dauses/Ludwigs, Hdb. des EU-Wirtschaftsrechts, 53. EL 2021, P.I. Rn. 52; Szukala, Das Implementationssystem europäischer Politik, 2012, S. 195.



B. Funktionsweise und Durchsetzungskraft115

urteil gemäß Art. 260 I AEUV stehen kann sowie das nachfolgende Zweitverfahren51 bzw. Sanktionsverfahren52 nach Art. 260 II AEUV, mit dessen Hilfe gegen einen Mitgliedstaat vorgegangen werden kann, der einem Vertragsverletzungsurteil nicht nachgekommen ist. Da das Zweitverfahren somit an das Ergebnis des Erstverfahrens anknüpft, werden im Folgenden zunächst Ablauf und instrumenteller Zuschnitt des Erstverfahrens dargestellt. Das Zweitverfahren wird anschließend skizziert, im Detail aber erst bei der Frage nach der Durchsetzungskraft des Vertragsverletzungsverfahrens in die Analyse einbezogen. 1. Das Vertragsverletzungsverfahren gemäß Art. 258 AEUV: Das Erstverfahren Im Rahmen des Erstverfahrens nach Art. 258 AEUV lassen sich erneut zwei Etappen voneinander unterscheiden. Wird ein Vertragsverletzungsverfahren von der Kommission initiiert, durchläuft die Angelegenheit zunächst eine außergerichtliche, administrative Verfahrensphase (das sog. formelle Vorverfahren53), in der die Untersuchung des vermuteten Unionsrechtsverstoßes mit dem Ziel im Vordergrund steht, das Vertragsverletzungsverfahren in einem frühen Stadium zu beenden und so den Eintritt in die gerichtliche Verfahrensphase zu vermeiden. Die zweite, gerichtliche Verfahrensphase wird von der Kommission durch die Erhebung einer Vertragsverletzungsklage vor dem EuGH eingeleitet. a) Die außergerichtliche Verfahrensphase: Das formelle Vorverfahren Ist die Kommission der Auffassung, ein Mitgliedstaat habe gegen eine Vertragspflicht verstoßen, eröffnet sie die außergerichtliche Verfahrensphase, indem sie den betroffenen Mitgliedstaat mittels eines Mahnschreibens54 dazu auffordert, zu einer konkreten Umsetzungsmaßnahme oder Anwendungspra51  Borchardt, Die rechtlichen Grundlagen der EU, 7.  Auflage 2020, Rn. 643; Wunderlich, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht, 7. Auflage 2015, Art. 260 AEUV Rn. 31. 52  Karpenstein, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der EU, 73. EL 2021, Art. 260 AEUV Rn. 74; Pechstein, EU-Prozessrecht, 4. Auflage 2011, Rn. 312 ff. 53  Pechstein, EU-Prozessrecht, 4. Auflage 2011, Rn. 268. 54  Der Terminus des „Mahnschreibens“ findet in Art. 258 ff. AEUV zwar keine ausdrückliche Verwendung, wird aber vom EuGH sowie in der rechtswissenschaft­ lichen Literatur einhellig anerkannt, vgl. EuGH, Rs. 274/83, Kommission/Italien, Slg. 1985, 1077 (Rn. 17 ff.); Ehricke, in: S ­treinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 258 AEUV Rn. 18; Sach/Simm, in: Rengeling, Hdb. zum europäischen und deutschen Umweltrecht Bd. I, 2. Auflage 2003, § 44 Rn. 40.

116

2. Teil: Das Vertragsverletzungsverfahren

xis Stellung zu nehmen. Um den ersten Kontakt zwischen Kommission und Mitgliedstaat handelt es sich dabei regelmäßig nicht. Obgleich in Art. 258 AEUV nicht explizit vorausgesetzt, entspricht es der gängigen ­Praxis, bereits im Vorfeld des formellen Vorverfahrens ein zusätzliches informelles Vorverfahren durchzuführen55, in dessen Rahmen dem betroffenen Mitgliedstaat Gelegenheit gegeben wird, die Kommission von der Vertragskonformität seines Verhaltens zu überzeugen oder die potenzielle Vertragsverletzung zu korrigieren. Auf diese Weise kann die formale Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens sowie die damit einhergehende negative Wahrnehmung durch die Öffentlichkeit vermieden werden.56 Tritt die Kommission in die formelle außergerichtliche Phase des Vertragsverletzungsverfahrens ein, liegen aus ihrer Sicht also bereits hinreichende Anhaltspunkte vor, die auf einen Unionsrechtsverstoß schließen lassen.57 Eröffnet die Kommission das formelle Vorverfahren, hat das Mahnschreiben nach gängiger Kommissionspraxis die Umstände zu benennen, die eine Vertragsverletzung vermuten lassen.58 Sinn und Zweck dieser Vorgehensweise ist es, den betroffenen Mitgliedstaat in die Lage zu versetzen, eine auf die Vorwürfe zugeschnittene Verteidigungsstrategie zu entwickeln.59 Die Verfahrenseröffnung muss ausdrücklich festgestellt und dem Mitgliedstaat eine im Einzelfall angemessene60 – regelmäßig zweimonatige61 – Frist gesetzt werden, innerhalb der er die nationalen Gegebenheiten prüfen und sich

55  Ehlers, Jura 2007, 684 (686); Hauser, Das Vertragsverletzungsverfahren als Instrument des Europäischen Umweltrechts, 2004, S. 25; Sach/Simm, in: Rengeling, Hdb. zum europäischen und deutschen Umweltrecht Bd. I, 2. Auflage 2003, § 44 Rn.  38 f. 56  Gurreck/Otto, JuS 2015, 1079 (1079). 57  Hedemann-Robinson, Enforcement of European Union Environmental Law, 2. Edition 2015, S. 42, 62. 58  EuGH, Rs. C-192/84, Kommission/Griechenland, Slg. 1985, 3973 (Rn. 20); Rs. 274/83, Kommission/Italien, Slg. 1985, 1077 (Rn. 21); Ehricke, in: ­Streinz, EUV/ AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 258 AEUV Rn. 19; Hauser, Das Vertragsverletzungsverfahren als Instrument des Europäischen Umweltrechts, 2004, S. 26. 59  EuGH, Rs. 211/81, Kommission/Dänemark, Slg. 1982, 4547 (Rn. 8); Rs. 74/82, Kommission/Irland, Slg. 1984, 317 (Rn. 13); Rs. 51/83, Kommission/Italien, Slg. 1984, 2793 (Rn. 4); Rs. 293/85, Kommission/Belgien, Slg. 1988, 305 (Rn. 13); Hedemann-Robinson, Enforcement of European Union Environmental Law, 2. Edition 2015, S. 71. 60  EuGH, Rs. 293/85, Kommission/Belgien, Slg. 1988, 305 (Rn. 14). 61  In seltenen Fällen legt die Kommission eine kürzere Äußerungsfrist fest: Eh­ ricke, in: S ­ treinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 258 AEUV Rn. 21; HedemannRobinson, Enforcement of European Union Environmental Law, 2. Edition 2015, S. 42; Sach/Simm, in: Rengeling, Hdb. zum europäischen und deutschen Umweltrecht Bd. I, 2. Auflage 2003, § 44 Rn. 41.



B. Funktionsweise und Durchsetzungskraft117

zum Kommissionsvorwurf äußern kann (vgl. Art. 258 I Hs. 2 AEUV).62 Zwar sind die Mitgliedstaaten gemäß Art. 337 AEUV, 4 III EUV grundsätzlich dazu verpflichtet, an Kommissionsuntersuchungen auch durch Auskünfte über die nationale Durchführungssituation mitzuwirken. Da das Vertragsverletzungsverfahren aber ein Beanstandungsverfahren darstellt, in dessen Rahmen die Kommission die Beweislast für das Vorliegen einer Vertragsverletzung trägt,63 besteht keine Äußerungspflicht.64 Indem sie dem betroffenen Mitgliedstaat Gelegenheit zur Äußerung gibt, erfüllt die Kommission ihm gegenüber ihre unionsrechtliche Treuepflicht65 sowie ihre verfahrensrechtliche Pflicht zur Gewährung rechtlichen Gehörs.66 In der Praxis bleiben Mahnschreiben häufig unbeantwortet; die Möglichkeit, entlastende Argumente im späteren Verfahrensverlauf vorzubringen, bleibt dem betroffenen Mitgliedstaat unbenommen.67 Reicht er auch im gerichtlichen Verfahren keinen entlastenden Schriftsatz ein, kann der EuGH schließlich ein Versäumnisurteil gegen ihn erlassen. Im gerichtlichen Verfahren wird dann lediglich die Schlüssigkeit des Kommissionvortrags überprüft.68 Reagiert der Mitgliedstaat auf das Mahnschreiben nicht oder vermögen seine Ausführungen nicht zu überzeugen, übermittelt die Kommission ihm nach Art. 258 I Hs. 1 AEUV eine mit Gründen versehene Stellungnahme, in der sie die beanstandete Vertragsverletzung förmlich feststellt.69 Die Stellungnahme muss eine zusammenhängende Darstellung aller tatsächlichen und rechtlichen Faktoren und ihrer Bewertung enthalten, die der Überzeugung, der betroffene Mitgliedstaat habe eine Vertragspflicht verletzt, zu62  EuGH, Rs. 293/85, Kommission/Belgien, Slg. 1988, 305 (Rn. 13 f.); Rs. 85/85, Kommission/Belgien, Slg. 1986, 1149 (Rn. 11); Hauser, Das Vertragsverletzungsverfahren als Instrument des Europäischen Umweltrechts, 2004, S. 26. 63  EuGH, Rs. C-217/97, Kommission/Deutschland, Slg. 1997, I-5087 (Rn. 22); Rs. 96/81, Kommission/Niederlande, Slg. 1982, 1791, (Rn. 6); Ehlers, Jura 2007, 684 (688); Hedemann-Robinson, Enforcement of European Union Environmental Law, 2. Edition 2015, S. 72. 64  Ehricke, in: S ­ treinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, Art, 258 AEUV Rn. 18; Hauser, Das Vertragsverletzungsverfahren als Instrument des Europäischen Umweltrechts, 2004, S. 26; Sach/Simm, in: Rengeling, Hdb. zum europäischen und deutschen Umweltrecht Bd. I, 2. Auflage 2003, § 44 Rn. 41. 65  Ehricke, in: S ­ treinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 258 AEUV Rn. 19. 66  EuGH, Rs. 31/69, Kommission/Italien, Slg. 1970, 25 (Rn. 13); Rs. 51/83, Kommission/Italien, Slg. 1984, 2793 (Rn. 5); Rs. 274/83, Kommission/Italien, Slg. 1985, 1077 (Rn. 20); Hauser, Das Vertragsverletzungsverfahren als Instrument des Euro­ päischen Umweltrechts, 2004, S. 26; Sobotta, ZUR 2008, 72 (73). 67  Ehricke, in: S ­ treinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 258 AEUV Rn. 21. 68  EuGH, Rs. 68/88, Kommission/Griechendland, Slg. 1989, 2965 (Rn. 7); Ehricke, in: S ­ treinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 258 AEUV Rn. 35. 69  EuGH, Rs. 74/82, Kommission/Irland, Slg. 1984, 317 (Rn. 13).

118

2. Teil: Das Vertragsverletzungsverfahren

grunde liegen.70 Da in diesem zweiten Stadium des formellen Vorverfahrens bereits Untersuchungen in Bezug auf die beanstandeten Durchführungsmaßnahmen angestellt worden sein sollten, stellt der EuGH an die Detailgenauigkeit der Stellungnahme höhere Anforderungen als an den Inhalt des verfahrenseröffnenden Mahnschreibens.71 Darüber hinaus wird dem Mitgliedstaat eine letzte, meist erneut auf zwei Monate befristete72 Gelegenheit zur Äußerung bzw. freiwilligen Herstellung unionsrechtskonformer Zustände gegeben, um eine gerichtliche Auseinandersetzung abzuwenden.73 Verstreicht die Frist ungenutzt, entscheidet die Kommission darüber, eine Vertragsverletzungsklage vor dem EuGH zu erheben74 und damit die gerichtliche Verfahrensphase einzuleiten. Die mit Gründen versehene Stellungnahme schließt das formelle Vorverfahren ab75 und legt den Verfahrensgegenstand für das Verfahren vor dem EuGH endgültig fest.76 b) Die gerichtliche Verfahrensphase Gemäß Art. 260 I AEUV bleibt die abschließende Entscheidung darüber, ob der betroffene Mitgliedstaat tatsächlich gegen Unionsrecht verstoßen hat, dem EuGH vorbehalten, der insoweit seinem aus Art. 17 I 3 EUV resultierenden Kontrollauftrag gegenüber der Kommission gerecht wird. Die Vertragsverletzungsklage ist begründet, wenn ein Unionsrechtsverstoß vorliegt, der dem betroffenen Mitgliedstaat zugerechnet werden kann.77 Maßgeblicher 70  EuGH, Rs. 274/83, Kommission/Italien, Slg. 1985, 1077 (Rn. 21); Rs. 85/85, Kommission/Belgien, Slg. 1986, 1149 (Rn. 11); Rs. C-257/94, Kommission/Niederlande, Slg. 1997, I-5699 (Rn. 61); Ehlers, Jura 2007, 684 (686); Ehricke, in: ­Streinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 258 AEUV Rn. 23. 71  EuGH, Rs. 274/83, Kommission/Italien, Slg. 1985, 1077 (Rn. 21). 72  Auf Antrag des betroffenen Mitgliedstaates kann diese Frist um drei Monate verlängert werden, sofern er weitere Zeit benötigt, um ein Gesetzgebungsverfahren im Anschluss an die begründete Stellungnahme abzuschließen; Hedemann-Robinson, Enforcement of European Union Environmental Law, 2. Edition 2015, S. 43; Sach/ Simm, in: Rengeling, Hdb. zum europäischen und deutschen Umweltrecht Bd. I, 2. Auflage 2003, § 44 Rn. 42. 73  EuGH, Rs. 85/85, Kommission/Belgien, Slg. 1986, 1149 (Rn. 11); Hauser, Das Vertragsverletzungsverfahren als Instrument des Europäischen Umweltrechts, 2004, S. 27; Sach/Simm, in: Rengeling, Hdb. zum europäischen und deutschen Umweltrecht Bd. I, 2. Auflage 2003, § 44 Rn. 42. 74  Zu den formellen Anforderungen an die Klageschrift vgl. Art. 21 EuGH-Satzung. 75  EuGH, Rs. 74/82, Kommission/Irland, Slg. 1984, 317 (Rn. 13). 76  Hedemann-Robinson, Enforcement of European Union Environmental Law, 2. Edition 2015, S. 72. 77  Ehricke, in: ­Streinz, EUV/AEUV, 2. Auflage 2012, Art. 258 AEUV Rn. 34.



B. Funktionsweise und Durchsetzungskraft119

Zeitpunkt ist hierbei der Ablauf der in der mit Gründen versehenen Stellungnahme gesetzten Frist.78 Das Vertragsverletzungsverfahren stellt ein objektivrechtliches Kontrollverfahren mit Ordnungscharakter dar.79 Auf eine Verletzung subjektiver Rechte der Kommission oder der Unionsbürgerinnen und Bürger kommt es nicht an; die Kommission erfüllt ihren Vollzugskontrollauftrag im allgemeinen Interesse.80 Ohne Relevanz ist auch die Frage, ob den betroffenen Mitgliedstaat ein Verschulden trifft oder ob er einen Schaden verursacht hat.81 Primäre Intention des Vertragsverletzungsverfahrens ist gerade nicht die Bestrafung mitgliedstaatlicher Unionsrechtsverstöße, sondern die schnellstmögliche Herstellung unionsrechtskonformer Zustände.82 Obwohl das Verfahren nicht direkt darauf abzielt, können im Einzelfall auch mittelbar individualrechtsschützende Wirkungen entstehen.83 Zwar vermögen einzelne Unionsbürgerinnen und Bürger nicht selbst Vertragsverletzungsklage zum EuGH erheben, das Urteil des EuGH erwächst jedoch gegenüber allen Organen des betroffenen Mitgliedstaates in Rechtskraft und kann somit präjudizielle Wirkungen für nachfolgende Staatshaftungsprozesse vor den nationalen Gerichten entfalten.84 Von besonderer Bedeutung für ein systematisches Verständnis der Funk­ tionsweise des Vertragsverletzungsverfahrens als Vollzugskontrollinstrument ist schließlich die Wirkungsdimension des Vertragsverletzungsurteils. Gemäß Art. 260 I AEUV wird der Unionsrechtsverstoß lediglich festgestellt. Gestal78  EuGH, Rs. C-347/88, Kommission/Griechenland, Slg. 1990, 4747 (Rn. 40); Rs. C-54/08, Kommission/Deutschland, Slg. 2011, I-4355 (Rn. 126). 79  Ehricke, in: S ­ treinz, EUV/AEUV, 2. Auflage 2012, Art. 258 AEUV Rn. 1; Everling, in: Depenheuer/Heintzen u. a., FS Isensee, 2007, S. 77; Wunderlich, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht, 7. Auflage 2015, Art. 258 AEUV Rn. 2; zur individualrechtlichen Bedeutung des Vertragsverletzungsverfahrens: Pechstein, EU-Prozessrecht, 4. Auflage 2011, Rn. 256; Prete/Smulders, CMLR 2010, 9 (13). 80  EuGH, Rs. C-431/92, Kommission/Deutschland, Slg. 1995, I-2189 (Rn. 21); Rs. 167/73, Kommission/Frankreich, Slg. 1974, 359 (Rn. 15); Cremer, in: Calliess/ Ruffert, EUV/AEUV, 6. Auflage 2022, Art. 258 AEUV Rn. 2; Everling, in: Depenheuer/Heintzen u. a., FS Isensee, 2007, S. 777. 81  EuGH, Rs. C-263/96, Kommission/Belgien, Slg. 1997, I-7435 (Rn.  30); Rs. C-20/01 und C-28/01, Kommission/Deutschland u. a., Slg. 2003, I-3609 (Rn. 42); Ehlers, Jura 2007, 684 (688). 82  Ehricke, in: S ­ treinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 258 AEUV Rn. 1; Wunderlich, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht, 7. Auflage 2015, Art. 258 AEUV Rn. 3. 83  Burgi, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, Hdb. des Rechtsschutzes in der EU, 3. Auflage 2014, § 6 Rn. 2; Ehricke, in: S ­treinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 258 AEUV Rn. 2; Sach/Simm, in: Rengeling, Hdb. zum europäischen und deutschen Umweltrecht Bd. I, 2. Auflage 2003, § 44 Rn. 14; Sobotta, ZUR 2008, 72 (73). 84  Ehlers, Jura 2007, 684 (684).

120

2. Teil: Das Vertragsverletzungsverfahren

tende Wirkungen kommen der Entscheidung des EuGH folglich nicht zu.85 Art. 260 I Hs. 2 AEUV knüpft daran jedoch eine Korrekturpflicht, die dem betroffenen Mitgliedstaat aufgibt, das beanstandete Verhalten zu beseitigen.86 In zeitlicher Hinsicht bestimmt Art. 260 I AEUV weder selbst eine Frist für die Neutralisierung des Vertragsverstoßes, noch berechtigt die Norm die Unionsorgane dazu.87 In ständiger Rechtsprechung hat der EuGH jedoch klargestellt, dass der betroffene Mitgliedstaat im „Interesse an einer sofortigen und einheitlichen Anwendung des [Unions-]rechts“ möglichst sofort mit der Korrektur des für unionsrechtswidrig befundenen Verhaltens beginnen und sie „binnen kürzester Zeit abschließen“ muss.88 2. Das Vertragsverletzungsverfahren gemäß Art. 260 II AEUV: Das Zweitverfahren Wird ein Unionsrechtsverstoß im Anschluss an das Erstverfahren nicht beseitigt, kann die Kommission gemäß Art. 260 II AEUV ein Zweitverfahren (im Folgenden auch: Sanktionsverfahren) gegen den betroffenen Mitgliedstaat anstrengen. Kommt ein Mitgliedstaat seinen gemäß Art. 260 I AEUV an das Vertragsverletzungsurteil anknüpfenden Korrekturpflichten nicht nach, liegt darin ein erneuter Unionsrechtsverstoß, gegen den Kommission und EuGH – nunmehr unter vereinfachten Bedingungen – vorgehen können. Hoffte Generalanwalt Langrange in den Anfangsjahren der EG noch darauf, dass ein zweites Vertragsverletzungsverfahren wegen Missachtung des Ver85  EuGH, Rs. C-105/02, Kommission/Deutschland, Slg. 2006, I-9659 (Rn. 44); Burgi, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, Hdb. des Rechtsschutzes in der EU, § 6 Rn.  4, 49 f.; Cremer, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 6. Auflage 2022, Art. 260 AEUV Rn. 2; Sach/Simm, in: Rengeling, Hdb. zum europäischen und deutschen Umweltrecht Bd. I, 2. Auflage 2003, § 44 Rn. 44. 86  Ionescu, Innerstaatliche Wirkungen des Vertragsverletzungsverfahrens, 2016, S.  266 ff.; Stelkens, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 9. Auflage 2018, Europäisches Verwaltungsrecht, Europäisierung des Verwaltungsrechts und Internationales Verwaltungsrecht, Rn. 149. 87  EuGH, Rs. C-473/93, Kommission/Luxemburg, Slg. 1996, I-3207 (Rn. 52); Cremer, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 6. Auflage 2022, Art. 260 AEUV Rn. 6; Karpenstein, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der EU, 73.  EL 2021, Art. 260  AEUV  Rn. 5; Wunderlich, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht, 7. Auflage 2015, Art. 260 AEUV Rn. 3. 88  EuGH, Rs. 131/84, Kommission/Italien, Slg. 1985, 3531 (Rn. 7); Rs. 169/87, Kommission/Frankreich, Slg. 1988, 4093 (Rn. 14); Rs. C-328/90, Kommission/Griechenland, Slg. 1992, I–425, (Rn. 6); Rs. C-387/97, Kommission/Griechenland, Slg. 2000, I-5047 (Rn. 82); Rs. C-278/01, Kommission/Spanien, Slg. 2003, I-14141, (Rn. 27); Rs. C-568/07, Kommission/Griechenland, Slg. 2009, I-4505, (Rn. 51); Hedemann-Robinson, Enforcement of European Union Environmental Law, 2. Edition 2015, S. 65.



B. Funktionsweise und Durchsetzungskraft121

tragsverletzungsurteils am Ende des Erstverfahrens (im Folgenden auch: Erst­urteil) niemals erforderlich sein werde,89 wurde der Sanktionsmechanismus des Zweitverfahrens von der Kommission seither zunehmend in Anspruch genommen und sogar vertragsrechtlich verschärft.90 In seiner formalen Struktur ähnelt das Zweitverfahren dem in Art. 258 AEUV normierten Erstverfahren.91 Im Unterschied zum Erstverfahren wurde das administrative Vorverfahren des Zweitverfahrens mit Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon aber verkürzt, um die Gesamtverfahrensdauer zu reduzieren.92 Art. 260 II UAbs. 1 S. 1 AEUV setzt nur noch voraus, dass dem betroffenen Mitgliedstaat vor Eintritt in die gerichtliche Verfahrensphase Gelegenheit zur Äußerung gegeben wird. Demnach genügt das Versenden eines Mahnschreibens zur Verfahrenseröffnung. Einer mit Gründen versehenen Stellungnahme, wie sie Art. 258 I Hs. 1 AEUV ausdrücklich fordert, bedarf es nicht. Diese Einsparung ist nicht zuletzt dem Untersuchungsgegenstand des Zweitverfahrens geschuldet. Im Gegensatz zum administrativen Vorverfahren nach Art. 258 I AEUV zielt das administrative Vorverfahren des Zweitverfahrens nicht mehr darauf ab, Umsetzungs- oder Anwendungsmaßnahmen auf nationaler Ebene zu überprüfen. Die Kommission hat nur noch zu verifizieren, ob der gemäß Art. 260 I AEUV verurteilte Mitgliedstaat seinen Korrekturpflichten unverzüglich Folge geleistet oder zumindest mit ihrer Erfüllung begonnen hat. Um über die Versendung eines Mahnschreibens zur Eröffnung eines Zweitverfahrens nach Art. 260 II AEUV entscheiden zu können, ersucht die Kommission den betroffenen Mitgliedstaat nur wenige Monate nach Abschluss des Erstverfahrens um die Vorlage eines Zeitplans, aus dem sich die zur Befolgung des Vertragsverletzungsurteils erforderlichen Maßnahmen ergeben sollen.93 Kommt es am Ende des Zweitverfahrens zu einem zweiten Vertragsverletzungsurteil (im Folgenden: Sanktionsurteil94), kann der EuGH eine Vertragsverletzung nicht nur feststellen, sondern zudem die Zahlung finanzieller Sanktionen in Gestalt eines Pauschalbetrags oder Zwangsgelds verhängen, 89  EuGH, Rs. 7/61, Kommission/Italien, Slg. 1961, 695, Schlussanträge von Generalanwalt Lagrange vom 29. November 1961, S. 735. 90  Dazu im Detail: 2. Teil, B. IV. 2. 91  KOM, Mitteilung – Anwendung von Artikel 260 Absatz 3 AEUV, ABl. 2011, Nr. C 12, S. 1 f.; Hedemann-Robinson, Enforcement of European Union Environmental Law, 2. Edition 2015, S. 65. 92  KOM, Mitteilung – Anwendung von Artikel 260 Absatz 3 AEUV, ABl. 2011, Nr. C 12, S. 1. 93  Hedemann-Robinson, Enforcement of European Union Environmental Law, 2. Edition 2015, S. 65. 94  Vgl. etwa: Klamert, EuR 2018, 159 (159  ff.); Wendenburg/Reichert, NVwZ 2017, 1338 (1339).

122

2. Teil: Das Vertragsverletzungsverfahren

Art. 260 II UAbs. 2 AEUV.95 Ein entscheidender Unterschied zwischen Erstund Zweitverfahren zeigt sich demnach in der Verfahrensintention. Während das Erstverfahren nach Art. 258 AEUV ausschließlich im allgemeinen Unionsinteresse darauf abzielt, objektiv unionsrechtskonforme Zustände herzustellen, sollen Mitgliedstaaten, die das Kooperationsverhältnis mit der EU in Frage stellen, indem sie einem Vertragsverletzungsurteil des EuGH nicht nachkommen im Zweitverfahren auch zur Verantwortung gezogen werden.96 Dabei gilt es zu berücksichtigen, dass das Sanktionsurteil kein zweites Vertragsverletzungsurteil wegen desselben Ausgangsverstoßes darstellt, sondern gesondert an die Verletzung der sich aus Art. 260 I AEUV in Folge des ersten Vertragsverletzungsurteils entstandenen Korrekturpflicht anknüpft.97 3. Stoßrichtung und Funktionen Da die Einleitung eines Verfahrens gemäß Art. 258 I AEUV an einen bereits akuten Unionsrechtsverstoß anknüpft, ermöglicht das Vertragsverletzungsverfahren als Instrument der kommissionseigenen Vollzugskontrolle zuvorderst eine ex-post gerichtete Korrektur mit Rechtsaufsichtscharakter,98 wie sie für Durchsetzungsinstrumente99 typisch ist. Kommunizieren Kommission und EuGH im Verfahrensverlauf ihre Vorstellungen darüber, welche inhaltlichen Anforderungen konkrete Unionsrechtssätze an die nationale Durchführung stellen, kann ein Vertragsverletzungsverfahren aber auch dazu beitragen, künftigen bzw. wiederholten Verstößen vorzubeugen. Zudem erhöht die drohende Perspektive, von einem Vertragsverletzungsverfahren betroffen zu werden den politischen Durchführungsdruck auf die nationale Ebene, so dass eine zumindest reflexartige Präventionswirkung anzunehmen ist.100 95  EuGH, Rs. C-105/02, Kommission/Deutschland, Slg. 2006, I-9659 (Rn. 44); Burgi, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, Hdb. des Rechtsschutzes in der EU, § 6 Rn.  4, 49 f.; Cremer, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 6. Auflage 2022, Art. 260 AEUV Rn. 10; Sach/Simm, in: Rengeling, Hdb. zum europäischen und deutschen Umweltrecht Bd. I, 2. Auflage 2003, § 44 Rn. 44. 96  Hedemann-Robinson, Enforcement of European Union Environmental Law, 2. Edition 2015, S. 65. 97  Träbert, Sanktionen der Europäischen Union gegenüber ihren Mitgliedstaaten, 2010, S. 213. 98  Stelkens, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 9. Auflage 2018, Europäisches Verwaltungsrecht, Europäisierung des Verwaltungsrechts und Internationales Verwaltungsrecht, Rn. 148. 99  Wunderlich, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht, 7. Auflage 2015, Art. 258 AEUV Rn. 1. 100  Dahingehend vor allem vor dem Hintergrund drohender finanzieller Sanktionen: Wennerås, CMLR 2012, 145 (166).



B. Funktionsweise und Durchsetzungskraft123

Für die Funktionsweise des Vertragsverletzungsverfahrens als Vollzugskontrollinstrument ist vor allem seine mehrfach gestufte Struktur entscheidend: In der Praxis lassen sich die meisten Vertragsverletzungsverfahren ohne Vertragsverletzungsurteil erledigen, etwa weil sich die Vorwürfe gegen den betroffenen Mitgliedstaat als unbegründet erweisen oder weil bereits der kommunikative Kontakt zwischen Kommission und Mitgliedstaat im Verfahrensverlauf zu einer einvernehmlichen Lösung geführt hat.101 Die in verschiedene Etappen gegliederte Verfahrensstruktur erfüllt damit eine Sieb­ funktion,102 die dem gemeinsamen Interesse an einer effektiven Verwirklichung der Ziele der EU möglichst effizient Rechnung tragen soll, ohne dabei zu intensiv und somit akzeptanzschädigend auf die mitgliedstaatliche Sou­ veränitätssphäre überzugreifen.103 Wie der EuGH in der Rs. C-3/96 (Kommission/Niederlande) zur Einhaltung der damaligen Vogelschutzrichtlinie (79/409/EWG104) ausführte, verfolge gerade das außergerichtliche Vorverfahren das Ziel, „dem Mitgliedstaat Gelegenheit zu geben, seinen Standpunkt zu rechtfertigen oder ihm gegebenenfalls zu ermöglichen, freiwillig den Anforderungen des Vertrages nachzukommen.“ Das Vertragsverletzungsverfahren werde nur fortgeführt, soweit das Schlichtungsbemühen der Kommission erfolglos bleibe.105 Das administrative Vorverfahren dient also einerseits dazu, dem betroffenen Mitgliedstaat eine Verteidigungsmöglichkeit einzuräumen und damit ein faires Verfahren zu gewährleisten, andererseits kommt ihm eine außergerichtliche Schlichtungsfunktion zu.106 Kann ein Mitgliedstaat die Bedenken der Kommission ausräumen oder die Vertragsverletzung korrigieren, fehlt es an einem für die Klage vor dem EuGH erforderlichen objektiven Rechts­ schutzbedürfnis.107 Neben der Entlastung des EuGH bietet das administrative Vorverfahren vor allem dem betroffenen Mitgliedstaat den Vorteil, eine Vertragsverletzungsangelegenheit im bilateralen Kontakt mit der Kommission bereinigen zu können und sich so der von einer Vertragsverletzungsklage 101  Sobotta,

ZUR 2008, 72 (72). NVwZ 1999, 475 (477). 103  Ähnlich auch: Pechstein, EU-Prozessrecht, 4. Auflage 2011, Rn. 266. 104  Richtlinie 79/409/EWG des Rates vom 2.4.1979 über die Erhaltung der wildlebenden Vogelarten, ABl. 1979, Nr. L 103, S. 1 ff., aufgehoben durch Richtlinie 2009/ 147/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 30. November 2009 über die Erhaltung der wildlebenden Vogelarten, ABl. 2010, Nr. L 20, S. 7 ff. 105  EuGH, Rs. C-3/96, Kommission/Niederlande, Slg. 1998, I-3031 (Rn. 16). 106  EuGH, Rs. 74/82, Kommission/Irland, Slg. 1984, 317 (Rn. 13); Ehlers, Jura 2007, 684 (686); Hedemann-Robinson, Enforcement of European Union Environmental Law, 2. Edition 2015, S. 40, 71. 107  Dörr/Lenz, Europäischer Verwaltungsrechtsschutz, 2.  Auflage 2019, Rn. 66; Ehlers, Jura 2007, 684 (688); Ehricke, in: S ­ treinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 258 AEUV Rn. 29. 102  Scheuing,

124

2. Teil: Das Vertragsverletzungsverfahren

ausgehenden Anprangerungswirkung108 bzw. dem damit verbundenen diplomatischen Gesichtsverlust109 zu entziehen. Aus mitgliedstaatlicher Perspektive erfüllt die gestufte Struktur des Vertragsverletzungsverfahrens also auch eine verhältnismäßigkeitssichernde Funktion, die der sensiblen Beziehung zwischen Unionsorganen und Mitgliedstaaten Rechnung trägt.110 Wie stark die Sieb- und Schlichtungsfunktionen des Vertragsverletzungsverfahrens in der Praxis zum Tragen kommen, lässt sich anhand des von der Kommission in ihren Jahresberichten über die Kontrolle der Anwendung des EU-Rechts111 veröffentlichten Datenmaterials erkennen. Im Verhältnis zur Gesamtzahl der versendeten Mahnschreiben gibt die Kommission nur in einem Bruchteil aller Verfahren auch eine begründete Stellungnahme ab. Weniger als 20 % aller Vertragsverletzungsverfahren gelangen in die gerichtliche Verfahrensphase;112 noch seltener kommt es zu einem Vertragsverletzungsurteil nach Art. 260 I AEUV oder einem Zweitverfahren nach Art. 260 II AEUV. In den Jahren 2018 bis 2020 wurden insgesamt 2118 Vertragsverletzungsfälle abgeschlossen. 1469 dieser Fälle (69 %) konnten bereits im Anschluss an das formal verfahrenseröffnende Mahnschreiben zu den Akten gelegt werden. In 523 Fällen (25 %) beendete die Kommission das Verfahren nach Abgabe einer begründeten Stellungnahme i. S. v. Art. 258 I Hs. 1 AEUV. 40 Fälle (2 %) wurden geschlossen, nachdem sich die Kommission zur Anrufung des EuGH entschieden, aber noch bevor sie den entsprechenden Antrag übermittelt hatte. 35 Fälle (1,6 %) zog die Kommission im Verlauf der gerichtlichen Verfahrensphase zurück, bevor ein Vertragsverletzungsurteil erging. Nur 51 aller abgeschlossenen Fälle (2,4 %) wurden von der Kommission im Anschluss an ein gerichtliches Erst- oder Zweiturteil für beendet erklärt (Abbildung 5). Auch im Umweltsektor gelangen nur die wenigsten Vertragsverletzungsverfahren über das administrative Vorverfahren hinaus. Während die Kommission in Umweltangelegenheiten 2018 und 2019 insgesamt 248 neue Verfahren eröffnete, wurden dem EuGH in diesem Zeitraum nur 19 Fälle im Verfahren nach Art. 258 AEUV übermittelt. Nur in 2 Fällen wurde der Gerichtshof im Rahmen eines Zweitverfahrens nach Art. 260 II AEUV angerufen.113 108  Cremer, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 6. Auflage 2022, Art. 260 AEUV Rn. 3. 109  Pechstein,

EU-Prozessrecht, 4. Auflage 2011, Rn. 266. auch: Ehricke, in: ­Streinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 258

110  Dahingehend

AEUV Rn. 13. 111  Abrufbar unter: https://ec.europa.eu/info/publications/annual-reports-monitor ing-application-eu-law_en (Stand: 14.2.2023). 112  Burgi, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, Hdb. des Rechtsschutzes in der EU, 3. Auflage 2014, § 6 Rn. 3; Ehlers, Jura 2007, 684 (686). 113  KOM, Staff Working Document Part II: Policy areas, SWD(2018) 378 final, S.  27 ff.; KOM, Staff Working Document Part II: Policy areas, 4.7.2019, SWD(2019)



B. Funktionsweise und Durchsetzungskraft125 632

Geschlossene Fälle insgesamt

681 355

Nach Mahnschreiben

510

Nach begündeter Stellungnahme Nach Anrufungsentscheidung

Nach Anrufung des EuGH Nach Vertragsverletzungsurteil

160 144

805

604

219

18 13 9 21 9 5 19 19 13

2018

2019

Abbildung 5: Vertragsverletzungsverfahren nach

2020 Beendigungsstadium114

III. Instrumenteller Zuschnitt und funktionale Grenzen Um verstehen zu können, welche Bedeutung dem Vertragsverletzungsverfahren in seiner Eigenschaft als klassisches Vollzugskontrollinstrument zukommt, muss neben dem Verfahrensablauf und seinen Funktionen auch die Frage nach dem instrumentellen Zuschnitt geklärt werden. Ob das Vertragsverletzungsverfahren als universelles Instrument zur Durchsetzung unionsrechtlicher Vorgaben in allen Bereichen eingesetzt werden kann oder ob die Kommission dabei bestimmten Einschränkungen unterworfen ist, hängt einerseits davon ab, welche rechtlichen Maßstäbe bei der Kontrolle nationaler Umsetzungs- und Anwendungsleistungen anzulegen sind, andererseits kommt es darauf an, welche nationalen Vollzugsakte zum Gegenstand eines Vertragsverletzungsverfahrens gemacht werden können.

286 final, S. 30 f.; KOM, Staff Working Document, Part II: policy areas, 4.7.2019, SWD(2019) 286 final, S. 29 ff.; für das Jahr 2020 wurde von der Kommission kein umweltsektorsspezifisches Datenmaterial zur Verfügung gestellt. 114  Grafik in eigener Darstellung, Zahlen nach: KOM, Staff Working Document, Part I: General statistical overview, SWD(2019) 285 final, S. 21; KOM, Staff Working Document, Part I: General statistical overview, 31.7.2020, SWD(2020) 147 final, S. 23; Staff Working Document, Part II: policy areas, 4.7.2019, SWD(2019) 286 final, S. 32; KOM, Staff Working Document, General statistical overview, 23.7.2021, SWD(2021) 212 final, S. 24.



126

2. Teil: Das Vertragsverletzungsverfahren

1. Der Kontrollmaßstab Dem Wortlaut des Art. 258 I Hs. 1 AEUV zufolge werden nationale Hoheitsakte lediglich daraufhin kontrolliert, ob sie gegen „Verpflichtungen aus den Verträgen“ verstoßen. Da sich der Vertragstext je nach Amtssprache unterscheidet, kommt der Wortlautauslegung auf Unionsebene zwar grundsätzlich geringere Aussagekraft zu als etwa innerhalb des deutschen Auslegungskanons. Anstatt nähere Spezifizierungen vorzunehmen, beziehen sich die englische sowie die französische Fassung aber ebenfalls nur auf „obligations under the Treaty“ bzw. „obligations qui lui incombent en virtu des taités“. Nimmt man diese Formulierung ernst, scheint sich der Überprüfungsmaßstab in den EU-Verträgen, d. h. im Primärrecht zu erschöpfen. Gegen diese Betrachtungsweise spricht jedoch, dass auch die Pflicht zur Durchführung sekundärrechtlicher Vorgaben und allgemeiner Rechtsgrundsätze auf die europäischen Verträge zurückzuführen ist. Dies gilt jedenfalls, soweit Art. 288 II– IV AEUV Verordnungen, Rechtsakte und Beschlüsse gegenüber den Mitgliedstaaten für verbindlich erklärt;115 jeder Verstoß stellt damit zugleich eine Verletzung des Primärrechts dar.116 Auch der Zuschnitt des unionsrechtlichen Kontrollauftrags spricht für eine extensive Auslegung.117 Da die Kommission gemäß Art. 17 I 2 EUV nicht nur die Umsetzung und Anwendung der europäischen Verträge, sondern den Vollzug aller „kraft der Verträge erlassenen Maßnahmen“ zu gewährleisten hat, erfasst ihr Kontrollauftrag primär- sowie sekundärrechtliche, geschriebene und ungeschriebene EU-Vorgaben, ebenso wie Abkommen mit Drittstaaten.118 Diesem umfassenden Aufgabenzuschnitt kann die Kommission nur gerecht werden, wenn ihr Instrumente mit kongruentem Prüfungsmaßstab zur Verfügung gestellt werden.119 Insoweit entspricht es dem unionsrecht­ lichen Effektivitätsgedanken, dass Kommission und EuGH Maßnahmen der Mitgliedstaaten im Rahmen des Vertragsverletzungsverfahrens nicht nur auf ihre Vereinbarkeit mit den EU-Verträgen, sondern anhand des gesamten Unions-Acquis überprüfen können.120 Im Grundsatz ist das Vertragsverlet-

NJW 1968, 325 (326). Jura 2007, 684 (685). 117  Ehlers, Jura 2007, 684 (685); Ehricke, in: ­ Streinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 258 AEUV Rn. 6. 118  Ehricke, in: ­Streinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 258 AEUV Rn. 6. 119  Dahingehend auch: Bleckmann, Europarecht, 6. Auflage 1997, Rn. 815. 120  So im Ergebnis auch: Cremer, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 6. Auflage 2022, Art. 258 AEUV Rn. 33; Ehricke, in: S ­ treinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 258  AEUV Rn.  6; Wunderlich, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht, 7. Auflage 2015, Art. 258 AEUV Rn. 5. 115  Däubler, 116  Ehlers,



B. Funktionsweise und Durchsetzungskraft127

zungsverfahren also als Universalinstrument zur Durchsetzung sämtlicher EU-Bestimmungen, u. a. des EU-Umweltrechts, konzipiert. 2. Der Kontrollgegenstand Auch der Kreis nationaler Rechtsakte, die Gegenstand eines Vertragsverletzungsverfahrens sein können, wird durch Art. 258 ff. AEUV nicht explizit eingeschränkt. Art. 258 I Hs. 1 AEUV sowie Art. 260 I AEUV umfassen ihrer Formulierung entsprechend alle Maßnahmen, mit denen ein Träger öffentlicher Gewalt gegen unionsrechtliche Pflichten verstößt. Solange es sich der betroffene Staat zurechnen lassen muss, kommt neben aktiven Handlungen auch jedes Unterlassen, das einer unionsrechtlichen Handlungspflicht zuwiderläuft, als Verfahrensgegenstand in Betracht.121 Da die Pflicht zur Durchführung des EU-Rechts gemäß Art. 4 III EUV, 291 I AEUV die Mitgliedstaaten jeweils im Ganzen trifft, unterscheiden Kommission und EuGH nicht zwischen Unionsrechtsverstößen des Gesamtstaats und Verstößen seiner föderalen Organisationseinheiten.122 Doch auch wenn der primärrechtliche Rahmen dem Anwendungsbereich des Vertragsverletzungsverfahrens keine ausdrücklichen Grenzen setzt, bedeutet dies nicht zwangsläufig, dass es sich tatsächlich in jeder Situation zielführend einsetzen lässt. Ob das Vertragsverletzungsverfahren als Kontroll­ instrument zur Anwendung gelangen kann, erscheint etwa dann fraglich, wenn die Vertragsverletzung bereits irreparable Schäden verursacht hat oder die Korrektur unionsrechtswidriger Zustände aus anderen Gründen unmöglich ist. Die Verfahrensintention spricht jedenfalls für eine Einschränkung des Anwendungsbereichs. Anstatt Mitgliedstaaten für vergangene Vertragsverletzungen zu strafen, zielt das Vertragsverletzungsverfahren auf die Herstellung unionsrechtskonformer Zustände ab. Erschöpfen sich die rechtlichen Wirkungen einer Rechtsverletzung von selbst oder lassen sich ihre Konsequenzen nicht mehr beseitigen, kann dieses Ziel nicht bzw. nicht vollständig realisiert werden. Speziell bei Verstößen gegen das EU-Umweltrecht sind irreparable Umweltschäden und irreversible Rechtsverstöße – z. B. durch die kurzzeitige Überschreitung eines Grenzwerts oder einer Fischfangquote123 – keine Seltenheit, so dass die Anwendbarkeit des Vertragsverletzungsverfahrens hier 121  EuGH, Rs. C-31/69, Kommission/Italien, Slg. 1970, 25 (Rn. 9); Wunderlich, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht, 7. Auflage 2015, Art. 258 AEUV Rn. 6. 122  EuGH, Rs. C-Rs. 77/69, Kommission/Belgien, Slg. 1970, 237 (Rn. 15/16). 123  Karpenstein, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der EU, 73. EL 2021, Art. 258 AEUV Rn. 3.

128

2. Teil: Das Vertragsverletzungsverfahren

durchaus in Frage stehen kann. In der Rechtsprechungspraxis des EuGH werden Klagen gegen Vertragsverletzungen, deren Wirkung sich bereits vor oder während des Vorverfahrens erschöpft haben und deshalb nicht mehr korrigiert werden können regelmäßig unter Verweis auf die Verfahrensintention sowie Art. 258 II AEUV, wonach eine Klage auf Feststellung einer Vertragsverletzung nur erhoben werden kann, wenn der betreffende Mitgliedstaat der mit Gründen versehenen Stellungnahme nicht nachgekommen ist, als unzulässig abgewiesen.124 Im Zusammenhang mit einer naturgemäß unumkehrbaren Fristüberschreitung betonte der EuGH in der Rs. C-03/84 (Kommission/Deutschland) aber, dass sich ein Mitgliedstaat in Fällen, in denen ein Unionsrechtsverstoß nicht mehr behoben werden könne, seiner Verantwortung für die Herstellung unionsrechtskonformer Zustände nicht durch das bloße Eingeständnis seines Fehlverhaltens entziehen können solle.125 In der Literatur wird daraus überwiegend gefolgert, dass das Vertragsverletzungsverfahren bei irreparablen Unionsrechtsverstößen aufgrund seiner politischen Steuerungswirkung immerhin dann zum Einsatz gelangen könne, wenn konkrete Umstände die Annahme einer unmittelbaren Wiederholungsgefahr rechtfertigen.126 Der Anwendungsbereich des Vertragsverletzungsverfahrens bliebe folglich nur dann verschlossen, wenn auch in Zukunft kein Beitrag zur Durchsetzung des EU-Rechts geleistet werden könnte. Der Effektivitätsgedanke und damit die Wirksamkeit der Art. 258 ff. AEUV werden durch diese Einschränkung nicht ernsthaft in Frage gestellt. 3. Auswertung Das Vertragsverletzungsverfahren bietet ein universelles Vollzugskontrollinstrumentarium, dessen Anwendungsbereich prinzipiell die Überprüfung aller nationalen Umsetzungs- und Anwendungsmaßnahmen am Maßstab des gesamten EU-Rechts ermöglicht. Mit Blick auf die erhebliche Belastungswirkung für den betroffenen Mitgliedstaat ist es grundsätzlich geboten, das „schwere Geschütz“127 des Vertragsverletzungsverfahrens auf Fälle zu beschränken, in denen unionsrechtskonforme Zustände tatsächlich hergestellt 124  EuGH, Rs. C-362/90, Kommission/Italien, Slg. 1992, I-2352 (Rn.  9  ff.); Rs. C-276/99, Kommission/Deutschland, Slg. 2001, I-8055 (Rn. 24 ff.); Rs. C-327/05, Kommission/Griechenland, Slg. 2007, 8203 (Rn. 29). 125  EuGH, Rs. C-303/84, Kommission/Deutschland, Slg. 1986, 1117 (Rn. 11); anders wohl: EuGH, Rs. C-362/90, Kommission/Italien, Slg. 1992, I-2353 (Rn. 11 ff.). 126  Ehricke, in: S ­ treinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 258 AEUV Rn. 3; Karpenstein, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der EU, 73. EL 2021, Art. 258 AEUV Rn. 3; dahingehend auch: Rs. C-276/99, Kommission/Deutschland, Slg. 2001, I-8055 (Rn. 32). 127  Kenntner, EuZW 2005, 235 (236).



B. Funktionsweise und Durchsetzungskraft129

werden können. Im Übrigen muss das Durchsetzungspotenzial des Vertragsverletzungsverfahrens individuell beurteilt werden. So könnte es in besonders gravierenden Einzelfällen, die wiederholte Unionsrechtsverstöße oder negative Vorbildwirkungen für andere Mitgliedstaaten befürchten lassen, „pädagogisch“ genutzt werden, um eine Vertragsverletzung verbindlich und öffentlichkeitswirksam festzustellen und die EU-Mitgliedstaaten dazu zu veranlassen, zumindest in Zukunft größere Sorgfalt bei der Durchführung unionsrecht­licher Bestimmungen walten zu lassen. Soll der Eintritt in die gerichtliche Verfahrensphase nicht scheitern, muss die Kommission dem EuGH insoweit konkrete Gründe präsentieren, die seine Befassung rechtfertigen.

IV. Rechtliche und politische Durchsetzungskraft des Vertragsverletzungsverfahrens Wird eine potenzielle Vertragsverletzung weder in der außergerichtlichen noch in der gerichtlichen Verfahrensphase behoben, stellt der EuGH das Bestehen eines Unionsrechtsverstoßes per Vertragsverletzungsurteil verbindlich fest. Zwar konstituiert Art. 260 I AEUV eine Korrekturpflicht des betroffenen Mitgliedstaates, soweit der EuGH zu seinen Lasten entscheidet. Kann oder will der Mitgliedstaat dieser Pflicht aber nicht nachkommen, stellt sich die Frage, ob und wie die Herstellung unionsrechtskonformer Zustände nach Art. 258 ff. AEUV dennoch gewährleistet werden kann. Da kooperative und einsichtsfähige Mitgliedstaaten nach der mehrstufigen Konzeption des Vertragsverletzungsverfahrens prinzipiell ausreichend Gelegenheit haben, ein Urteil i. S. v. Art. 260 I AEUV abzuwenden, ist die unionsgerichtliche Feststellung einer Vertragsverletzung stets mit einem Stigma behaftet, das das internationale Ansehen gefährdet, den betroffenen Mitgliedstaat in eine politische Drucksituation versetzen und letztlich zur Erfüllung seiner Korrekturpflicht veranlassen kann. Da das Vertragsverletzungsverfahren keinen strafenden Charakter haben soll, ist diese Anprangerungswirkung als durchsetzungsfördernder Nebeneffekt zu sehen,128 der wenig Aufschluss über die intentionsgemäße Durchsetzungskraft des Vertragsverletzungsverfahrens gibt. Würde sich die instrumentelle Durchsetzungskraft des Vertragsverletzungsverfahrens darin erschöpfen, die verantwortlichen nationalen Hoheitsträger politisch in Zugzwang zu versetzen, bliebe Kommission und EuGH nichts anderes übrig als darauf zu hoffen, dass der betroffene Mitgliedstaat dem Vertragsvertragsverletzungsurteil letzten Endes aus „freitragendem Respekt“129 gegenüber der EU, d. h. aus unionsfreundlicher Gesinnung Folge leisten werde. 128  Ehricke,

in: S ­ treinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 258 AEUV Rn. 1. in: Behrens/Koch, Umweltschutz in der EG, 1991, S. 72 f.

129  Scheuing,

130

2. Teil: Das Vertragsverletzungsverfahren

Ob das Vertragsverletzungsverfahren auch über rechtliche Mechanismen verfügt, um die Herstellung unionsrechtskonformer Zustände im gemeinsamen Interesse an der Verwirklichung der Ziele der EU weiter voranzutreiben, soll im Folgenden geklärt werden. Letztlich steht hinter der Frage nach dem Durchsetzungspotenzial des Vertragsverletzungsverfahrens die Frage, ob es sich bei diesem, vom AEUV bereitgestellten Durchsetzungsinstrumentarium um ein Instrumentarium mit politischem oder rechtlichem Wirkungsschwerpunkt handelt.130 1. Das Vertragsverletzungsurteil Im Gegensatz zur Nichtigkeitsklage, bei deren Begründetheit der Gerichtshof eine angegriffene Maßnahme gemäß Art. 264 I AEUV für „nichtig“ erklären kann, vermittelt Art. 260 I AEUV dem EuGH keine Aufhebungsbefugnis. Der Vertragstext ermöglicht lediglich eine gerichtliche Feststellung,131 weshalb Literatur und Rechtsprechung mittlerweile einhellig davon ausgehen, dass der EuGH der Vertragsverletzung weder selbst abhelfen, noch konkrete Maßnahmen anordnen kann, die der adressierte Mitgliedstaat ergreifen muss, um den festgestellten Unionsrechtsverstoß zu korrigieren.132 Das Vertragsverletzungsurteil entfaltet demnach keine unmittelbar rechtsgestaltenden Wirkungen; insbesondere stellt es keinen eigenständigen Vollstreckungstitel dar.133 Rein deklaratorischer Natur ist die Entscheidung des EuGH dennoch nicht. Gibt er einer Vertragsverletzungsklage statt, wirkt die Feststellung des Unionsrechtsverstoßes nicht nur inter partes, sondern auch präjudiziell für die Be130  Dazu

ausführlich: Smith, ELRev 2008, 777 (784). Rs. C-105/02, Kommission/Deutschland, Slg. 2006, I-9659 (Rn. 44); Burgi, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, Hdb. des Rechtsschutzes in der EU, § 6 Rn.  4, 49 f.; Cremer, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 6. Auflage 2022, Art. 260 AEUV Rn. 2; Sach/Simm, in: Rengeling, Hdb. zum europäischen und deutschen Umweltrecht Bd. I, 2. Auflage 2003, § 44 Rn. 44. 132  EuGH, Rs. C-104/02, Kommission/Deutschland, Slg. 2005, I-2689 (Rn. 49); Rs. C-105/02, Kommission/Deutschland, Slg. 2006, I-9659 (Rn. 44); eine Ausnahme besteht denklogisch nur, wenn es sich bei dem verfahrensgegenständlichen Verhalten um ein konkretes Unterlassen handelt. Stellt der EuGH die Unionsrechtswidrigkeit dieses Unterlassens fest, ist der betroffene Mitgliedstaat zwangläufig verpflichtet, die erforderliche Maßnahme zu ergreifen; so etwa im Beihilfenverfahren, soweit der Mitgliedstaat einer unionsrechtlichen Rückforderungspflicht nicht nachkommt, vgl. Cremer, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 6. Auflage 2022, Art. 260 AEUV Rn. 3; Karpenstein, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der EU, 73. EL 2021, Art. 260 AEUV  Rn.  4 f. 133  Albin, Die Vollzugskontrolle des europäischen Umweltrechts, 1999, S. 271; Cremer, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 6. Auflage 2022, Art. 260 AEUV Rn. 2; Tsikrikas, Die Wirkungen des Urteils des EuGH im Vertragsverletzungsverfahren, 1990, S.  65 m. w. N. 131  EuGH,



B. Funktionsweise und Durchsetzungskraft131

teiligten künftiger Rechtsstreitigkeiten.134 Art. 260 I Hs. 2 AEUV knüpft an das Vertragsverletzungsurteil zudem ex lege die Pflicht des betroffenen Staates, den Unionsrechtsverstoß zu korrigieren, d. h. alle „Maßnahmen zu ergreifen, die sich aus dem Urteil des Gerichtshofs ergeben“. Art. 260 I AEUV verleiht dem EuGH somit zwar keine Befugnis zur Abhilfe, normiert aber die vertragsrechtliche Folge eines stattgebenden Vertragsverletzungsurteils.135 Verfügt der betroffene Staat bei der Herstellung unionsrechtskonformer Zustände über mehrere Abhilfemöglichkeiten, unterfällt die Wahl der Mittel sowie die Regulierung der jeweiligen Befolgungsmodalitäten seiner institu­ tionellen und verfahrensmäßigen Autonomie.136 Die Prüfung und Entscheidung, welche Maßnahmen ergriffen werden sollen, um die Behebung des Unionsrechtsverstoßes rechtlich zu realisieren, obliegt also den jeweils zuständigen Hoheitsträgern des betroffenen Mitgliedstaates. Der EuGH beurteilt letztlich nur, ob auf nationaler Ebene Anpassungsbedarf an das EU-Recht besteht. In seinen Urteilsgründen kann er zwar Ratschläge formulieren, wie er die festgestellte Vertragsverletzung beseitigt sehen möchte,137 diesen Hinweisen kommt jedoch nur indikative138 und keine echte imperative Wirkung zu.139 Auf diese Weise bleibt die staatliche Souveränität – soweit es mit Blick auf das Ziel, unionsrechtliche Vorgaben durchzusetzen möglich ist – weitgehend unberührt.140 a) Umfang der Befolgungspflicht Die Maßnahmen, die der betroffene Staat gemäß Art. 260 I Hs. 2 AEUV zu ergreifen hat, müssen sich „aus dem Urteil des Gerichtshofs ergeben“. Mit Blick auf den ebenfalls unionsrechtlich anerkannten Bestimmtheitsgrund­ satz141 liegt es nahe, dieses Erfordernis dahingehend zu verstehen, dass der 134  EuGH, Rs. C-526/08, Kommission/Luxemburg, Slg. 2010, I-6151 Rn. 25 ff.; Karpenstein, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der EU, 73. EL 2021, Art. 260 AEUV Rn. 8. 135  Karpenstein, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der EU, 73. EL 2021, Art. 260 AEUV Rn. 5, 9. 136  Kremer, EuR 2007, 470 (474); Zellhofer/Solek, EuZW 2015, 622 (622). 137  Ehricke, in: S ­ treinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 260 AEUV Rn. 3. 138  Karpenstein, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der EU, 73. EL 2021, Art. 260  AEUV  Rn. 6; Wunderlich, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht, 7. Auflage 2015, Art. 260 AEUV Rn. 3. 139  Cremer, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 6. Auflage 2022, Art. 260 AEUV Rn. 2; Karpenstein, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der EU, 73. EL 2021, Art. 260 AEUV Rn. 6. 140  Ehricke, in: S ­ treinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 260 AEUV Rn. 1. 141  EuGH, Rs. 169/80, Zollverwaltung/Gondrand Freses, Slg. 1981, 1931 (Rn. 17).

132

2. Teil: Das Vertragsverletzungsverfahren

adressierte Mitgliedstaat erkennen können muss, wie weitreichend er in Folge eines Vertragsverletzungsurteils zur Abhilfe verpflichtet ist. Beschränkt sich der Urteilstenor darauf, die Vertragswidrigkeit eines bestimmten Verhaltens festzustellen, ergibt sich daraus in der Regel nur die Pflicht, dieses Verhalten ex-nunc einzustellen.142 Eine den Bestimmtheitsanforderungen des Art. 260 I Hs. 2 AEUV entsprechende Pflicht zur rückwirkenden Folgenbeseitigung kann jedoch begründet werden, wenn die Nichtbeseitigung einer Verstoßfolge selbst zum unmittelbaren Verfahrensgegenstand gemacht und explizit in den Urteilstenor einbezogen wird – so wie es der gängigen Praxis im Bereich des Beihilfenrechts entspricht.143 Im Beihilfenrecht legt die Kommission üblicherweise bereits in der Klageschrift ihre Auffassung dar, zu welchen Maßnahmen der betroffene Mitgliedstaat im Falle einer Verurteilung verpflichtet sein soll. Bei einem Verstoß gegen das Beihilfenverbot aus Art. 107 I AEUV verlangt sie regelmäßig auch die Rückforderung der zu Unrecht gewährten Beihilfe.144 Tenoriert der EuGH eine Vertragsverletzung durch die Nichtbefolgung dieser Rückforderungs­ entscheidung,145 stellt die Einziehung der ausgezahlten Beihilfen, d. h. die Folgenbeseitigung ex-tunc die einzige Möglichkeit dar, um den Unionsrechtsverstoß zu beseitigen. Im Umweltsektor können sich ex-tunc gerichtete Korrekturpflichten auch implizit aus dem Urteilstenor ergeben. Von einer implizit rückwirkenden Pflicht geht etwa Albin146 im Fall einer Vertragsverletzung durch die Realisierung eines Bauprojekts aus, die sich evident nur durch den Abbruch der bereits errichteten Anlage oder Anlagenteile lasse. Als Beispiel benennt sie das Urteil des EuGH in der Rs. C-355/90 (Kommission/Spanien)147, in der ein Verstoß gegen Vorgaben der Vogelschutzrichtlinie (79/409/EWG) durch den Bau einer Straße, eines Deichs sowie durch die Schaffung von Industriegebieten durch den Staat im Bereich der Santoña-Marschen festgestellt und 142  Karpenstein, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der EU, 73. EL 2021, Art. 260 AEUV Rn. 15. 143  Karpenstein, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der EU, 73. EL 2020, Art. 260 AEUV Rn. 16 ff.; Wunderlich, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht, 7. Auflage 2015, Art. 260 AEUV Rn. 9; ablehnend: Ehricke, in: ­Streinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 260 AEUV Rn. 8; Pechstein, EU-Prozessrecht, 4. Auflage 2011, Rn. 311. 144  Ausdrücklich für zulässig erklärt in: EuGH, Rs. C-70/72, Kommission/Deutschland, Slg. 1973, 813 (Rn. 13); dazu auch: Ortlepp, Das Vertragsverletzungsverfahren, 1987, S.  121 ff. 145  So etwa in: EuGH, Rs. C-5/89, Kommission/Deutschland, Slg. 1990, I-3437 (Ls. 1). 146  Albin, Die Vollzugskontrolle des europäischen Umweltrechts, 1999, S. 278. 147  EuGH, Rs. C-355/90, Kommission/Spanien, Slg. 1993, I-4221.



B. Funktionsweise und Durchsetzungskraft133

Spanien in der Folge zum Abriss bzw. zum Rückbau veranlasst wurde.148 Besteht hingegen keine offensichtliche Notwendigkeit der rückwirkenden Beseitigung, liegt es an der Kommission zu entscheiden, ob und inwieweit Verstoßfolgen explizit zum Gegenstand des Vertragsverletzungsverfahrens gemacht werden sollen. b) Das Behauptungsvermögen unionsrechtlicher Korrekturpflichten gegenüber mitgliedstaatlichen Einwänden Da die mit dem Unionsrechtsvollzug betrauten Mitgliedstaaten bei der Korrektur gerichtlich festgestellter Vertragsverletzungen über institutionelle und verfahrensmäßige Autonomie verfügen, hängt die Gestalt und Qualität nationaler Lösungsansätze u. a. davon ab, welche Handlungsbefugnisse die jeweilige mitgliedstaatliche Rechtsordnung eröffnet. Dies wirft wiederum die Frage auf, ob sich der verurteilte Mitgliedstaat seinen Pflichten aus Art. 260 I Hs. 2 AEUV unter Hinweis auf (verfassungs-)rechtliche oder politische Gegebenheiten, die der Neutralisierung einer Vertragsverletzung auf nationaler Ebene entgegenstehen, temporär oder sogar endgültig entziehen kann. Oft sieht sich der Gesamtstaat vielfältigen Partikularinteressen gegenüber, die die Herstellung unionsrechtskonformer Zustände auf nationaler Ebene erschweren. Dies gilt besonders in föderal strukturierten Staaten, in denen gliedstaatliche und kommunale Organisationseinheiten koordiniert werden müssen, um ein effektives Durchführungsniveau zu erreichen. Liegen die zur Korrektur des Unionsrechtsverstoßes erforderlichen Handlungsbefugnisse nach Maßgabe der nationalen Rechtsordnungen im Kompetenzbereich föderaler oder regionaler Hoheitsträger, fällt letztlich ihnen die Aufgabe zu, die festgestellte Vertragsverletzung zu beheben. Die nationale Kompetenzordnung wird durch unionsrechtliche Handlungspflichten nicht modifiziert. Zeigt sich die föderale Ebene aber nicht willens, eine Vertragsverletzung abzustellen, fehlt es dem Gesamtstaat vielfach an Möglichkeiten, die erforderlichen Maßnahmen zu erzwingen. Dass innenpolitische Unstimmigkeiten und kompetenzrechtliche Konflikte der Erfüllung unionsrechtlicher Pflichten nicht entgegengehalten werden können, ergibt sich aus den völkerrechtlichen Wurzeln der EU. Im Völkerrecht wird jeder Staat als einheitliches Völkerrechtssubjekt begriffen, so dass die innerstaatliche Verantwortungsdistribution ebenso wie regionale und lokale Interessendisparitäten außen vor bleiben. Aus völkerrechtlicher Perspek148  Da die Vertragsverletzung hier allein ein Handeln des Staates betraf, standen subjektive Interessen einer Beseitigung nicht entgegen: Albin, DVBl 2000, 1483 (1489).

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2. Teil: Das Vertragsverletzungsverfahren

tive kommt es also nicht darauf an, ob eine rechtswidrige Maßnahme dem Gesamtstaat, einem Gliedstaat oder einem bestimmten Hoheitsträger anzulasten sind.149 Maßgeblich ist allein die Verantwortlichkeit des betroffenen Mitgliedstaats „als solche[m],“150 d. h. die Zurechnung eines Verhaltens zum Völkerrechtssubjekt. Übertragen auf die Verhältnisse innerhalb der EU wird in der Literatur einprägsam von der „Landesblindheit der Gemeinschaft“151 gesprochen. In der Konsequenz trifft auch die Pflicht zur Herstellung unionsrechtskonformer Zustände gemäß Art. 260 I Hs. 2 AEUV den gesamten Staat, ohne Rücksicht auf mögliche interne Koordinationsschwierigkeiten. Verantwortlich und passiv parteifähig sind demnach die Gesamtstaaten, nicht hingegen staatliche Organe und Behörden, Gliedstaaten oder sonstige Gebietskörperschaften.152 Politische oder rechtliche Umstände, die sich aus der Sphäre eines Staates, insbesondere aus seiner bundesstaatlichen Organisation ergeben, können nicht zur Rechtfertigung einer Vertragsverletzung angeführt werden.153 Doch auch unabhängig von den besonderen Herausforderungen föderaler Staatsstrukturen können verfassungsrechtliche Grundsätze und Verfahrensmechanismen die zeitnahe Befolgung eines Vertragsverletzungsurteils in den Mitgliedstaaten erschweren. Muss etwa in Deutschland ein formelles Bundesgesetz geändert werden, um einen Unionsrechtsverstoß zu beheben, können in diesen Zeitraum fallende Parlamentswahlen die erforderlichen Gesetzgebungsverfahren aufgrund der Diskontinuität des Bundestags verzögern. Auch in diesem Fall kann sich der betroffene Mitgliedstaat seiner Befolgungspflicht nicht entziehen. Er kann sogar verpflichtet sein – etwa über entsprechende Verwaltungsanweisungen – unverzüglich Maßnahmen zur übergangsweisen Herstellung unionsrechtskonformer Zustände zu ergreifen.154 Rein politische Argumente, wie etwa Opportunitätserwägungen während eines laufenden Wahlkampfes, werden nicht berücksichtigt.155 149  EuGH,

Rs. C-224/01, Köbler/Österreich, Slg. 2003, 10239 (Rn. 32). Rs. C-Rs. 77/69, Kommission/Belgien, Slg. 1970, 237 (Rn. 15/16). 151  Epiney, EuR 1994, 301 (304); Ipsen, in: Baur/Müller-Graff, FS Börner, 1992, S. 176. 152  Ehlers, Jura 2007, 684 (685); Ehricke, in: ­ Streinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 258 AEUV Rn. 33. 153  EuGH, Rs. C-473/99, Kommission/Österreich, Slg. 2001, I-4527 (Rn. 12); Rs. C-423/00, Kommission/Belgien, Slg. 2002, I-593 (Rn. 16); Ehricke, in: ­Streinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 258 AEUV Rn. 8; Everling, in: Depenheuer/Heintzen u. a., FS-Isensee, 2007, S. 783 f. 154  Karpenstein, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der EU, 73. EL 2021, Art. 260  AEUV Rn. 10; Ehricke, in: S ­treinz, AEUV/AEUV, 3.  Auflage 2018, Art. 260  AEUV Rn. 7; Wunderlich, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht, 7. Auflage 2015, Art. 260 AEUV Rn. 5. 155  Ehricke, in: ­Streinz, AEUV/AEUV, 2. Auflage 2012, Art. 258 AEUV Rn. 35. 150  EuGH,



B. Funktionsweise und Durchsetzungskraft135

2. Finanzielle Sanktionen im Vertragsverletzungsverfahren Im Zuge des Vertrags von Maastricht wurde dem EuGH mit der Novellierung des Art. 171 II UAbs. 2 EGV (heute: Art. 260 II UAbs. 2 AEUV) 1993 die Möglichkeit eingeräumt, dem betroffenen Mitgliedstaat mit Abschluss des Zweitverfahrens die Zahlung eines Pauschalbetrags oder eines Zwangsgelds aufzugeben. Zwar hatte der EuGH bereits zuvor Mitgliedstaaten wegen der Nichtbefolgung eines ersten Vertragsverletzungsurteils im Rahmen eines zweiten Verfahrens verurteilt, um so den politischen Druck zu erhöhen.156 In Ermangelung weiterreichender Kompetenzgrundlagen konnte aber auch das Urteil im Zweitverfahren lediglich feststellende Wirkung entfalten,157 so dass der betroffene Mitgliedstaat die Befolgung seiner Pflichten aus dem ersten Urteil im Ergebnis verweigern konnte, ohne (rechtliche) Konsequenzen fürchten zu müssen.158 Mit der Möglichkeit, finanzielle Sanktionen für die Nichtbefolgung des ersten Vertragsverletzungsurteils zu verhängen, sollte nun eine „nicht unerhebliche Lücke im Rechtsschutzsystem des Vertrags“159 geschlossen werden. a) Pauschalbetrag und Zwangsgeld i. S. v. Art. 260 II AEUV Sowohl Pauschalbetrag als auch Zwangsgeld verfolgen den Zweck, die von einem Vertragsverletzungsurteil betroffenen Mitgliedstaaten dazu zu veranlassen, ihre Korrekturpflichten gemäß Art. 260 I Hs. 2 AEUV zu befolgen und den festgestellten Unionsrechtsverstoß zu beseitigen.160 Indem sie den ansonsten nicht unmittelbar spürbaren Pflichten gemäß Art. 260 I Hs. 2 AEUV wirtschaftliches Gewicht verleihen, wecken sie ein finanzielles Eigeninteresse, Vertragsverletzungen abzustellen und künftig zu vermeiden. Pauschalbetrag sowie Zwangsgeld fungieren damit als verhaltenssteuernde Finanzsanktionen, die dem Feststellungurteil im Vertragsverletzungsverfahren den nötigen Überzeugungsdruck verleihen sollen.161

156  EuGH, Rs. 48/71, Kommission/Italien, Slg. 1972, 529 (Rn. 1/2); Rs. C-24/80 R und C-97/80 R, Kommission/Italien, Slg. 1980, 1319 (Rn. 12). 157  Thiele, EuR 2008, 320 (320). 158  Heidig, EuR 2000, 782 (782 f.); Thiele, EuR 2008, 320 (320). 159  Thiele, EuR 2008, 320 (321); Wägenbaur, in: Due/Lutter/Schwarze, FS für Ulrich Everling Bd. 2, 1995, S. 1615. 160  EuGH, Rs. C-304/02, Kommission/Frankreich, Slg. 2005, I-6263 (Rn. 80, 91); Rs. C-177/04, Kommission/Frankreich, Slg. 2006, I-2461 (Rn. 60). 161  Vgl. EuGH, Rs. C-304/02, Kommission/Frankreich, Slg. 2005, I-6263 (Rn. 91); Rs. C-177/04, Kommission/Frankreich, Slg. 2006, I-2461 (Rn. 60); Pechstein, EUProzessrecht, 4. Auflage 2011, Rn. 312.

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2. Teil: Das Vertragsverletzungsverfahren

Pauschalbetrag und Zwangsgeld unterscheiden sich in ihrer Funktionsweise und Steuerungsrichtung.162 Der Pauschalbetrag wird vom EuGH fest beziffert und begründet eine einmalige Zahlungspflicht. Er dient dem Zweck, den vergangenen Verstoß für den Zeitraum zwischen Erst- und Zweiturteil im Sinne eines Bußgeldes abzugelten.163 Der Pauschalbetrag entfaltet damit sowohl Repressionswirkung164 als auch – aufgrund seiner abschreckenden Dimension – Präventionswirkung zur Vorbeugung künftiger erneuter Vertragsverstöße.165 Demgegenüber bezieht sich das Zwangsgeld auf die Zeitspanne ab Erlass des Zweiturteils bis zur schlussendlichen Beseitigung der Vertragsverletzung durch den Mitgliedstaat (Abbildung 6).166 Da das Zwangsgeld als Tagessatz festgelegt wird, steigt der Gesamtbetrag mit jedem fortschreitenden Tag bis zur Korrektur der Vertragsverletzung. Als Druck­ mittel soll es die Mitgliedstaaten dazu anhalten, unionsrechtskonforme Zustände zeitnah herzustellen.167 Das Zwangsgeld dient damit im Gegensatz zum ­Pauschalbetrag der Restitution der festgestellten Vertragsverletzung.168 Als Druckmittel kommt ihm eine Beugefunktion169 zu, die den Widerstand des betroffenen Mitgliedstaates überwinden soll. Die Möglichkeit, finanzielle Sanktionen gemäß Art. 260 II AEUV zu verhängen, stellt in der gestuften Struktur des Vertragsverletzungsverfahrens die ultima ratio dar.170 Bevor finanzieller Druck auf die staatliche Vollzugsebene ausgeübt werden kann, bedarf es neben eines abgeschlossenen Erstverfahrens noch eines vollständig durchlaufenen Zweitverfahrens sowie eines abschließenden Sanktionsurteils. Innerhalb des Erstverfahrens nach Art. 258 AEUV können Pauschalbetrag und Zwangsgeld gemäß Art. 260 III UAbs. 2 AEUV nur beantragt werden, wenn das Verfahren an die Verletzung nationaler Notifizierungspflichten anknüpft.171 Von der Möglichkeit, einem Mitgliedstaat finan162  Vgl. dazu: EuGH, Rs. C-304/02, Kommission/Frankreich, Slg. 2005, I-6263 (Rn. 81, 84). 163  EuGH, Rs. C-304/02, Kommission/Frankreich, Slg. 2005, I-6263 (Rn. 81), Ehlers, Jura 2007, 684 (689); Sach/Simm, in: Rengeling, Hdb. zum europäischen und deutschen Umweltrecht Bd. I, 2. Auflage 2003, § 44 Rn. 75. 164  Pechstein, EU-Prozessrecht, 4. Auflage 2011, Rn. 317. 165  Thiele, EuR 2008, 320 (326). 166  KOM, Verfahren für die Berechnung des Zwangsgeldes Nach Artikel 171 EGVerfahren, ABl. 1997, Nr. C 63, S. 2; KOM, Mitteilung – Anwendung von Artikel 228 EG-Vertrag, 9.12.2005, SEK(2005)1658, Rn. 14. 167  EuGH, Rs. C-304/02, Kommission/Frankreich, Slg. 2005, I-6263 (Rn. 81). 168  Thiele, EuR 2008, 320 (327). 169  Pechstein, EU-Prozessrecht, 4. Auflage 2011, Rn. 317; Thiele, EuR 2008, 320 (327). 170  Klamert, EuR 2018, 159 (162); Prete/Smulders, CMLR 2010, 9 (9). 171  Dazu: 2. Teil, B. II. 2.



B. Funktionsweise und Durchsetzungskraft137

zielle Sanktionen aufzuerlegen, machte der EuGH erstmals im Jahr 2000 Gebrauch, indem er Griechenland zur Zahlung eines Zwangsgelds von 20.000 Euro pro Tag verurteilte.172 1. Urteil

2. Urteil

Ende der Vertragsverletzung

ǁĂŶŐƐŐĞůĚ

WĂƵƐĐŚĂůďĞƚƌĂŐ

ĂƵĞƌĚĞƌsĞƌƚƌĂŐƐǀĞƌůĞƚnjƵŶŐ Höhe der Zahlungspflicht Entstehung der Zahlungspflicht Sanktionsfreier Zeitraum 

Abbildung 6: Wirkungsdimension finanzieller Sanktionen nach Art. 260 II AEUV

Da Art. 260 II UAbs. 2 AEUV Zwangsgeld „oder“ Pauschalbetrag scheinbar als Alternativen formuliert, wurde in der Literatur zunächst darüber gestritten, ob Pauschalbetrag und Zwangsgeld nur alternativ oder auch kumulativ verhängt werden dürfen.173 Klärung in dieser Frage brachte der EuGH, der sich mit der konkreten Möglichkeit einer Auferlegung beider Sanktionsmittel in der Rs. C-304/02 (Kommission/Frankreich) ausführlich auseinandersetzte. Hierbei führte er aus, dass die auf den ersten Blick auf eine Alternativität von Pauschalbetrag und Zwangsgeld hindeutende Konjunktion „oder“ auch kumulative Bedeutung haben könne.174 Ebenso verstand Generalanwalt Geelhoed die Formulierung als „einschließendes oder“, das einer Kombination beider Finanzsanktionen nicht entgegenstehe. Maßgeblich sei das Ziel, europäische Vorgaben so effektiv wie möglich durchzusetzen. In diesem Zusammenhang verwies er auf verschiedene Vorschriften des damaligen EGV, die das Wort „oder“ ihres Kontexts entsprechend ebenfalls „einschließend“ verwendeten.175 Würde das „oder“ durch ein „und“ ersetzt, 172  EuGH,

Rs. C-387/97, Kommission/Griechenland, Slg. 2000, I-5047. EuR 2008, 320 (332) m. w. N.; gegen eine Kumulierung etwa: Wägenbaur, in: Due/Lutter/Schwarze, FS für Ulrich Everling Bd. 2, 1995, S. 1618. 174  EuGH, Rs. C-304/02, Kommission/Frankreich, Slg. 2005, I-6263 (Rn. 83 f.). 175  EuGH, Rs. C-304/02, Kommission/Frankreich, Slg. 2005, I-6263, Schlussanträge des Generalanwalts Geelhoed vom 18.11.2004, Rn. 45. 173  Thiele,

138

2. Teil: Das Vertragsverletzungsverfahren

müsste hingegen davon ausgegangen werden, dass beide Finanzsanktionen ausschließlich kumulativ beantragt und verhängt werden könnten.176 Auch stellte der EuGH klar, dass die Kumulation beider Finanzsanktionen nicht gegen den Grundsatz ne bis in idem verstoße, da sie sich in funktionaler Hinsicht unterscheiden.177 Während das Zwangsgeld darauf abziele, Maßnahmen, die „die Tendenz hätte[n], sich fortzusetzen, so schnell wie möglich abzustellen“, diene der Pauschalbetrag dazu, die Fortdauer des Unionsrechtsverstoßes seit dem ersten Vertragsverletzungsurteil und die damit verbundenen Konsequenzen für die EU sowie die Interessen Einzelner abzugelten.178 Ob ein Mitgliedstaat zur Zahlung eines Zwangsgelds und/oder eines Pauschalbetrags zu verurteilen sei, müsse daher im Einzelfall nach Maßgabe des erforderlichen Überzeugungsdrucks entschieden werden.179 Hatte die Kommission zunächst das Zwangsgeld als Sanktionsmittel bevorzugt,180 begründete sie im Anschluss an die Entscheidung des EuGH mit ihrer dritten Mitteilung zur Anwendung von Art. 228 EGV nunmehr die stehende Übung, bei Verstößen gegen geltendes Unionsrecht im Zweitverfahren beide Sanktionen zu beantragen.181 Der retrospektiv gerichtete Pauschalbetrag als Sanktion für bereits vergangene Rechtsverletzungen wirft die Frage auf, ob dem Vertragsverletzungsverfahren nicht doch strafender bzw. strafähnlicher Charakter zukommt.182 Da er sich auf den Zeitraum zwischen erstem Vertragsverletzungsurteil und Sanktionsurteil bezieht, steht die Auferlegung eines Pauschalbetrags selbst dann noch im Raum, wenn dem Verstoß noch vor dem Zweiturteil abgeholfen worden ist.183 Für verhaltenssteuernde Einflüsse scheint es an dieser Stelle zu spät zu sein. Dennoch darf der Pauschalbetrag nicht als reine Strafpauschale aufgefasst werden. Schließlich kann seine Abschreckungswirkung verhindern, dass Mitgliedstaaten die Entscheidung des EuGH abwarten, anstatt die Vertragsverletzung bereits im informellen oder formellen Vorverfahren unter Rücksprache mit der Kommission, spätestens aber vor Einleitung EuR 2008, 320 (333). Rs. C-304/02, Kommission/Frankreich, Slg. 2005, I-6263 (Rn. 84); Handroušek, JEEPL 2012, 235 (Fn. 14). 178  EuGH, Rs. C-304/02, Kommission/Frankreich, Slg. 2005, I-6263 (Rn. 81). 179  EuGH, Rs. C-304/02, Kommission/Frankreich, Slg. 2005, I-6263 (Rn. 91 ff.); Rs. C-177/04, Kommission/Frankreich, Slg. 2006, I-2461 (Rn. 60 ff.). 180  KOM, Mitteilung über die Anwendung von Artikel 171 EG-Vertrag, ABl. 1996, Nr. C 242, S. 7. 181  KOM, Mitteilung – Anwendung von Artikel 228 EG-Vertrag, 9.12.2005, SEK(2005)1658, Rn. 10.3. 182  Vgl. Ehlers, Jura 2007, 684 (689); Everling, in: Depenheuer/Heintzen u. a., FS Isensee, 2007, S. 788. 183  Thiele, EuR 2010, 30 (36). 176  Thiele,

177  EuGH,



B. Funktionsweise und Durchsetzungskraft139

des Zweitverfahrens gemäß Art. 260 II AEUV zu korrigieren. Jedenfalls solange sich die Kommission auf die Forderung eines Zwangsgeldes beschränkte, musste sie feststellen, dass Mitgliedstaaten ihre Unionsrechtsverstöße häufig erst im Endstadium des Zweitverfahrens abstellten.184 b) Berechnungsmethode Wie der EuGH in seinem Urteil in der Rs. 68/88 (Kommission/Griechenland) klargestellt hat, müssen Sanktionen für Verstöße gegen EU-Recht „wirksam, verhältnismäßig und abschreckend“ sein.185 Diesem Vorbild entsprechend hat die Kommission der Berechnung von Pauschalbeträgen und Zwangsgeldern ähnliche Parameter zugrunde gelegt. Maßgeblich für die Berechnung beider Sanktionsmittel sind neben der Dauer des Verstoßes auch dessen Schwere sowie die zur Prävention neuer Vertragsverstöße erforder­ liche Abschreckungswirkung unter Berücksichtigung des Verhältnismäßig­ keits­grundsatzes und des Grundsatzes der Gleichbehandlung der Mitgliedstaaten.186 Zu ihren Berechnungskriterien äußerte sich die Kommission erstmals 1996 im Rahmen ihrer Mitteilung über die Kriterien zur Anwendung von Art. 171 EGV.187 1997 folgte die Mitteilung über das Verfahren für die Berechnung des Zwangsgeldes nach Artikel 171 EGV, mit der sie ihren Berechnungsvorgang für das Zwangsgeld standardisierte und transparenter gestaltete.188 Ihre genaue Berechnungsmethode für Pauschalbeträge legte die Kommission 2005 dar.189 Hiernach wird sowohl Pauschalbeträgen als auch Zwangsgeldern ein für alle EU-Staaten einheitlicher Grundbetrag zugrunde gelegt, der zunächst im Abstand von drei Jahren, seit 2010 jährlich,190 der Inflation sowie 184  KOM, Mitteilung – Anwendung von Artikel 228 EG-Vertrag, 9.12.2005, SEK(2005)1658, S. Rn. 10.1. 185  EuGH, Rs. 68/88, Kommission/Griechenland, Slg. 1989, 2965 (Rn.  24); Rs. C-387/97, Kommission/Griechenland, Slg. 2000, I-5047 (Rn. 85). 186  Thiele, EuR 2008, 320 (335 f.). 187  KOM, Mitteilung über die Anwendung von Artikel 171 EG-Vertrag, ABl. 1996, Nr. C 242, S. 6 ff. 188  KOM, Verfahren für die Berechnung des Zwangsgeldes Nach Artikel 171 EGVerfahren, ABl. 1997, Nr. C 63, S. 2 ff.; zum weiteren Verlauf vgl. Pauling, EuZW 2006, 492 (492 ff.). 189  KOM, Mitteilung – Anwendung von Artikel 228 EG-Vertrag, 9.12.2005, SEK(2005)1658, Rn.  19 ff. 190  KOM, Mitteilung über die Anwendung von Artikel 260 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union Aktualisierung der Daten zur Berechnung der Pauschalbeträge und Zwangsgelder, die die Kommission dem Gerichtshof bei Vertragsverletzungsverfahren vorschlägt, 15.7.2010, SEK(2010)923/3, S. 2 f.

140

2. Teil: Das Vertragsverletzungsverfahren

der Entwicklung des Bruttoinlandprodukts in den Mitgliedstaaten angepasst und auf verschiedene Multiplikationsfaktoren angewandt wird. Der Grundbetrag für die Pauschalbeträge beträgt seit 2021 1.052 Euro, der Grundbetrag für Zwangsgelder wurde auf 3.154 Euro festgelegt.191 Der signifikant höhere Betrag für die Berechnung des Zwangsgeldes wird von der Kommission damit begründet, dass das Zwangsgeld an die Nichtbefolgung gleich zweier EuGH-Urteile anknüpfe und daher einen deutlich schwereren Verstoß sank­ tioniere.192 Die Höhe des Zwangsgeldes bemisst sich nach Tagessätzen, die errechnet werden, indem der Grundbetrag mit einem Schwerekoeffizienten193 und einem Dauerkoeffizienten194 multipliziert wird. Um den nötigen Überzeugungsdruck zu erzeugen hat die Kommission zudem mit dem Faktor „n“195 einen Koeffizienten in die Berechnungsformel integriert, der der finanziellen Leistungsfähigkeit jedes einzelnen Mitgliedstaates auf Grundlage seines Bruttoinlandsprodukts Rechnung tragen196 und somit gewährleisten soll, dass die Sanktion den jeweiligen Adressaten an empfindlicher Stelle trifft.197

191  KOM, Mitteilung – Anpassung der Berechnung der von der Kommission im Rahmen von Vertragsverletzungsverfahren vor dem Gerichtshof der Europäischen Union vorgeschlagenen Pauschalbeträge und Zwangsgelder nach dem Austritt des Vereinigten Königreichs, ABl. 2021, Nr. C 129, S. 4 f. 192  KOM, Mitteilung – Anwendung von Artikel 228 EG-Vertrag, 9.12.2005, SEK(2005)1658, Rn. 23.2. 193  Dazu: KOM, Mitteilung – Anwendung von Artikel 228 EG-Vertrag, 9.12.2005, SEK(2005)1658, S. 8. 194  Dazu: KOM, Verfahren für die Berechnung des Zwangsgeldes Nach Artikel 171 EG-Verfahren, ABl. 1997, Nr. C 63, S. 3 f.; KOM, Mitteilung – Anwendung von Artikel 228 EG-Vertrag, 9.12.2005, SEK(2005)1658, Rn. 17. 195  Dazu: KOM, Mitteilung – Anwendung von Artikel 228 EG-Vertrag, 9.12.2005, SEK(2005) 1658, Rn. 18 ff.; KOM, Mitteilung – Änderung der Berechnungsmethode für Pauschalbeträge und Tagessätze für das Zwangsgeld, die von der Kommission im Rahmen von Vertragsverletzungsverfahren vor dem Gerichtshof der Europäischen Union vorgeschlagen werden, ABl. 2019, Nr. C 70, S. 1, 3. 196  Der niedrigste Faktor n wurde 2021 mit 0,08 für Malta festgelegt. Mit 4,95 wurde für die Bundesrepublik Deutschland der höchste Länderfaktor bestimmt, vgl. KOM, Mitteilung – Anpassung der Berechnung der von der Kommission im Rahmen von Vertragsverletzungsverfahren vor dem Gerichtshof der Europäischen Union vorgeschlagenen Pauschalbeträge und Zwangsgelder nach dem Austritt des Vereinigten Königreichs, ABl. 2021, Nr. C 129, S. 3 f. 197  KOM, Mitteilung – Anwendung von Artikel 228 EG-Vertrag, 9.12.2005, SEK(2005)1658, Rn. 18; KOM, Mitteilung – Änderung der Berechnungsmethode für Pauschalbeträge und Tagessätze für das Zwangsgeld, die von der Kommission im Rahmen von Vertragsverletzungsverfahren vor dem Gerichtshof der Europäischen Union vorgeschlagen werden, ABl. 2019, Nr. C 70, S. 1.



B. Funktionsweise und Durchsetzungskraft141

TagessatzZwangsgeld198 = (Grundbetrag × Dauerkoeffizient × Schwerekoeffizient) × n

Da das Zwangsgeld die möglichst schnelle Abstellung der Vertragsverletzung bewirken soll, wird der Tagessatz mit der Anzahl der Tage multipliziert, die zwischen dem Tag des Zweiturteils und der vollständigen Korrektur des unionsrechtswidrigen Verhaltens gemäß Art. 260 I Hs. 2 AEUV liegen.199 Eine betragsmäßige Obergrenze existiert dabei nicht. Der Gesamtbetrag des zu entrichtenden Zwangsgelds kann daher deutlich höher ausfallen als der Pauschalbetrag. Auch für die Bestimmung des Pauschalbetrags wird zunächst ein Tagessatz errechnet, der mit der Anzahl der Tage multipliziert wird, die der Unionsrechtsverstoß ab dem Tag des ersten Vertragsverletzungsurteils gemäß Art. 260 I AEUV bis zum Tag der Korrektur des Unionsrechtsverstoßes, maximal aber bis zu dem Tag, an dem das Sanktionsurteil nach Art. 260 II AEUV ergeht, fortdauert. Bei der Berechnung des Tagessatzes für den Pauschalbetrag wird auf die Anwendung des Dauerkoeffizienten verzichtet.200 Auf welche Weise der EuGH Pauschalbeträge und Zwangsgelder bestimmt wurde bisher nicht offengelegt. Rechtlich ist er weder an die Vorschläge der Kommission noch an ihre Berechnungsmethoden gebunden. Sowohl bei der Frage, ob finanzielle Sanktionen verhängt werden sollen als auch bei der Wahl der Art und der Bestimmung der Höhe verfügt er über weite Ermessensspielräume.201 In der Praxis zeigt sich jedoch, dass sich der EuGH an den Vorschlägen der Kommission orientiert. Regelmäßig beziffert er Pauschalbeträge und Zwangsgelder ähnlich.202 Obwohl die Kommission nur unverbindliche Sanktionsvorschläge äußern kann, liefert sie dem EuGH somit doch eine bedeutende Entscheidungsgrundlage, über die sie faktisch beeinflusst, ob und in welcher Höhe der EuGH dem betroffenen Mitgliedstaat im Einzelfall Zahlungspflichten gemäß Art. 260 II UAbs. 2, III UAbs. 2 AEUV auferlegt.

198  KOM, Verfahren für die Berechnung des Zwangsgeldes Nach Artikel 171 EGVerfahren, ABl. 1997, Nr. C 63, S. 2, 4. 199  KOM, Verfahren für die Berechnung des Zwangsgeldes Nach Artikel 171 EGVerfahren, ABl. 1997, Nr. C 63, S. 4. 200  KOM, Mitteilung – Anwendung von Artikel 228 EG-Vertrag, 9.12.2005, SEK(2005)1658, Rn. 23.2. 201  Thiele, EuR 2008, 320 (329). 202  Albin, DVBl 2000, 1483 (1490); vgl. etwa in der Rs. C-387/97, Kommission/ Griechenland, in der der EuGH ein Zwangsgeld von 20.000 Euro pro Tag verhängte und damit knapp hinter dem von der Kommission vorgeschlagenen Betrag von 24.600 Euro zurückblieb.

142

2. Teil: Das Vertragsverletzungsverfahren

c) General and persistent infringements Von praktischer Bedeutung für das Sanktionsverfahren nach Art. 260 II AEUV ist zudem die Möglichkeit der Kommission, eine allgemeine und verfestigte unionsrechtswidrige Verwaltungspraxis (engl.: general and persistent breach) nachzuweisen.203 Prinzipiell trägt die Kommission im Vertragsverletzungsverfahren die Beweislast für das Vorliegen einer Vertragsverletzung.204 Nur soweit ein Unionsrechtsverstoß im Erstverfahren nach Art. 260 I AEUV vom EuGH festgestellt wurde, kann gemäß Art. 260 II AEUV im Anschluss ein Zweitverfahren eröffnet werden. Bezieht sich die Fest­stellung auf Einzelfälle, müsste die Kommission bei jedem Verdacht einer weiteren Vertragsverletzung ein neues Erstverfahren anstrengen. In der Rs. C-494/01 (Kommission/Irland) hat der EuGH jedoch in einem umweltrechtlichen Fall aufgrund mehrerer Verstöße gegen Bestimmungen der damaligen Abfallrahmenrichtlinie (91/156/EWG205) vom Nachweis einer Vielzahl von Verstößen gegen dieselbe EU-Vorgabe erstmals auf das Vorliegen einer generellen unionsrechtswidrigen Verwaltungspraxis geschlossen,206 die in ihrer Gesamtheit zum Gegenstand eines Sanktionsverfahrens gemacht werden kann. Dies hat zur Folge, dass neue, ähnlich gelagerte Verstöße darauf schließen lassen, dass die generelle unionsrechtswidrige Verwaltungspraxis fortbesteht, selbst wenn der betroffene Mitgliedstaat jene konkreten Vertragsverletzungen, die bereits Gegenstand eines Erstverfahrens waren im Anschluss an das erste Vertragsverletzungsurteil behoben hat. Die Kommission wird somit gemäß Art. 260 II AEUV in die Lage versetzt, direkt finanzielle Sanktionen zu beantragen, ohne wegen eines erneuten Verstoßes ein weiteres Erstverfahren durchführen zu müssen.207 Im Sanktionsverfahren obliegt es dann dem Mitgliedstaat darzulegen, dass es sich bei der beanstandeten Maßnahme um einen Einzelfall und nicht um die Fortsetzung einer generellen unionsrechtswidrigen Verwaltungspraxis handelt.208

203  Ehricke, in: S ­ treinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 258 AEUV Rn. 34; Handroušek, JEEPL 2012, 235 (247 f.); Wennerås, CMLR 2006, 31 (33 ff.). 204  Dazu: 2. Teil, B. II. 1. a). 205  Richtlinie 2006/12/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. ­April 2006 über Abfälle, ABl. 2006, Nr. L 114, S. 9 ff., aufgehoben durch: Richt­ linie 2008/98/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 19. November 2008 über Abfälle und zur Aufhebung bestimmter Richtlinien, ABl. 2008, Nr. L 312, S.  3 ff. 206  EuGH, Rs. C-494/01, Kommission/Irland, Slg. 2005, I-3331 (Rn. 27, 48 ff.). 207  Ehricke, in: S ­ treinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 258 AEUV Rn. 34; Wennerås, CMLR 2006, 31 (42 ff.). 208  EuGH, Rs. C-494/01, Kommission/Irland, Slg. 2005, I-3331 (Rn.  46); Rs. C-135/05, Kommission/Italien, Slg. 2007, I-3475 (Rn. 32); Ehricke, in: ­Streinz,



B. Funktionsweise und Durchsetzungskraft143

3. Die Vollstreckung unionsgerichtlicher Vertragsverletzungs- und Sanktionsurteile Kommt ein EU-Mitgliedstaat seinen Korrekturpflichten gemäß Art. 260 I Hs. 2 AEUV in Folge eines Vertragsverletzungsurteils oder seinen Zahlungspflichten aufgrund eines Sanktionsurteils nicht nach, stellt sich die Frage, ob ihm gegenüber eine Möglichkeit zur zwangsweisen Durchsetzung besteht. Wie sich aus Art. 280 AEUV ergibt, handelt es sich bei Urteilen der Unionsgerichtsbarkeit grundsätzlich um vollsteckbare Titel.209 Vertragsverletzungsurteile werden hiervon nicht ausdrücklich ausgenommen, so dass auch sie scheinbar nach Maßgabe der in Art. 299 AEUV bestimmten Regeln für die Vollstreckung von Entscheidungen der Kommission und des Rates vollstreckt werden können. Art. 299 I AEUV normiert jedoch gewisse Einschränkungen, die im Ergebnis zum Ausschluss unionsgerichtlicher Vertragsverletzungs- und Sanktionsurteile aus dem Kreis der vollstreckbaren Urteile führen würden. Von maßgeblicher Bedeutung ist daher die Frage, in welchem Umfang Art. 280 AEUV auf Art. 299 AEUV verweist. Verstünde man die Verweisung uneingeschränkt, könnten bereits nach Art. 299 I Hs. 1 AEUV nur solche Urteile vollstreckt werden, die eine Zahlung auferlegen. Da das erste Vertragsverletzungsurteil gemäß Art. 260 I AEUV Unionsrechtsverstöße zunächst nur feststellt, aber keine Zahlungsverpflichtungen begründet, ließe es sich allenfalls dann vollstrecken, wenn der EuGH dem betroffenen Mitgliedstaat ausnahmsweise im Erstverfahren gemäß Art. 260 II UAbs. 2 AEUV die Zahlung eines Zwangsgelds oder eines Pauschalbetrags aufgegeben hätte. Weiterhin spricht Art. 299 I Hs. 2 AEUV auch Entscheidungen über Zahlungsforderungen die Vollstreckungstitelqualität ab, wenn sie sich gegen Staaten richten. Da dem EuGH im Vertragsverletzungsverfahren typischerweise ein Mitgliedstaat gegenübersteht, würde der Verweis auf Art. 299 I Hs. 2 AEUV nicht nur die Vollstreckung des ersten Vertragsverletzungsurteils, sondern auch die Vollstreckung der durch Sanktionsurteile begründeten Zahlungspflichten ausschließen. Gegen eine umfassende Verweisung wird im Schrifttum210 vor allem systematisch argumentiert, dass Art. 280 AEUV Urteile des EuGH bereits aus EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 258 AEUV Rn. 34; Karpenstein, in: Grabitz/Hilf/ Nettesheim, Das Recht der EU, 73. EL 2021, Art. 258 AEUV Rn. 64. 209  Träbert, Sanktionen der Europäischen Union gegenüber ihren Mitgliedstaaten, 2010, S. 203. 210  Vgl. etwa: Gaitanides, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht, 7. Auflage 2015, Art. 280 AEUV Rn. 7; Klamert, EuR 2018, 159 (167 ff.); Stoll/Rigod, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der EU, 73. EL 2021, Art. 280 AEUV Rn. 5; Wegener, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 6. Auflage 2022, Art. 280 AEUV Rn. 1.

144

2. Teil: Das Vertragsverletzungsverfahren

sich heraus zu Vollstreckungstiteln erkläre und insoweit keiner inhaltlichen Ergänzung durch Art. 299 I AEUV bedürfe.211 Verstehe man Art. 280 AEUV als eigenständige Regelung, verweise sie denklogisch nur auf Art. 299 AEUV, soweit sie selbst keine Vorgaben treffe. Dies gelte nur für die das Vollstreckungsverfahren betreffenden Absätze II bis IV. In Ermangelung eines unionseigenen Vollstreckungsapparats werden die national zuständigen Behörden gemäß Art. 299 II–IV AEUV nach Maßgabe des jeweiligen mitgliedstaatlichen Zwangsvollstreckungsrechts damit betraut, EU-Entscheidungen zu vollstrecken. Für die Bestimmung des Kreises vollstreckbarer Urteile bestehe demgegenüber kein Bedarf für einen Verweisungszusammenhang mit Art. 299 I AEUV.212 Für eine umfassende Verweisung spricht indes der Wortlaut des Art. 280 AEUV, der sich undifferenziert auf alle Absätze des Art. 299 AEUV bezieht.213 Insbesondere legen es aber gewichtige kompetenzrechtliche, systematische und entstehungsgeschichtliche Argumente nahe, Vertragsverletzungs- und Sanktionsurteile gemäß Art. 299 I AEUV als Vollstreckungstitel auszuschließen. Zunächst gilt es zu berücksichtigen, dass die Verbandskompetenz für die Durchführung unionsrechtlicher Vorgaben gemäß Art. 291 I AEUV grundsätzlich bei den Mitgliedstaaten liegt.214 Soweit nationalen Hoheitsträgern dabei Umsetzungs- bzw. Handlungsspielräume eröffnet sind, verbleiben ihnen auch bei der Korrektur festgestellter Vertragsverletzungen Freiräume. Da der EuGH über keine originären Fachaufsichts- bzw. Anordnungsbefugnisse verfügt,215 dürfen nationale Maßnahmen, die zur Abhilfe einer Vertragsverletzung ergriffen werden, nicht ohne ausdrückliche Ermächtigung ersetzt oder determiniert werden. Eine solche Ermächtigung wurde in den Unionsverträgen aber gerade nicht niedergelegt. Zumindest in Situationen, in denen Unionsrecht auf verschiedene Weise durchgeführt werden kann, muss die Vollstreckung einer Vertragsverletzungsentscheidung daher an der Souveränität des betroffenen Mitgliedstaates scheitern.216 Weiterhin spricht der systematische Zusammenhang zwischen Art. 260 I und II AEUV, wonach für den Fall der Missachtung des ersten Vertragsverlet211  Jakobs, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, Hdb. des Rechtsschutzes in der EU, 3. Auflage 2014, § 31 Rn. 6. 212  Ähnlich auch andere Autoren, die Urteile des EuGH bereits ihrer Natur gemäß als Titel qualifizieren, vgl. Klamert, EuR 2018, 159 (169). 213  Härtel, EuR 2001, 617 (621 f.); Heidig, EuR 2000, 768 (790). 214  Dazu: 1. Teil, D. II. 3. 215  Sach/Simm, in: Rengeling, Hdb. zum europäischen und deutschen Umweltrecht Bd. I, 2. Auflage 2003, § 44 Rn. 44. 216  Härtel, EuR 2001, 617 (621 f.); Heidig, EuR 2000, 768 (790); Pechstein, EUProzessrecht, 4. Auflage 2011, Rn. 318; Wunderlich, in: von der Groeben/Schwarze/ Hatje, Europäisches Unionsrecht, 7. Auflage 2015, Art. 260 AEUV Rn. 39.



B. Funktionsweise und Durchsetzungskraft145

zungsurteils ein Sanktionsverfahren gemäß Art. 260 II AEUV eingeleitet werden kann, das wiederum an den Verstoß gegen Art. 260 I AEUV anknüpft dafür, das Sanktionsverfahren bereits als Vollstreckungsverfahren des ersten Vertragsverletzungsurteils und insoweit als lex specialis gegenüber Art. 280, 299 AEUV zu begreifen.217 Ein Zweitverfahren wäre schließlich überflüssig, wenn bereits eine andere Möglichkeit bestünde, das erste Vertragsverletzungsurteil zwangsweise durchzusetzen. Entstehungsgeschichtlich kommt hinzu, dass der EuGH erst durch den Vertrag von Maastricht von den Vertragsstaaten mit der Kompetenz ausgestattet wurde, finanzielle Sanktionen zu verhängen. Diese „Aufrüstung“ lässt darauf schließen, dass dem EuGH nach Auffassung der Vertragsstaaten bis dahin keine adäquaten Durchsetzungsmittel zur Verfügung standen. Vor diesem Hintergrund erscheint es vorzugswürdig, den Verweis in Art. 280 AEUV mit Teilen des Schrifttums218 auch auf Art. 299 I AEUV zu beziehen und damit Gerichtsentscheidungen, die sich an Mitgliedstaaten richten als Vollstreckungstitel auszuschließen. Doch selbst nach Maßgabe der Gegenauffassung, die die in Art. 299 I AEUV normierten Einschränkungen nicht auf EuGH-Urteile erstreckt, können Vertragsverletzungsurteile nach nationalem Zwangsvollstreckungsrecht nur durchgesetzt werden, soweit ihr Inhalt nach allgemeinen Regeln der Vollstreckung fähig ist. Vollstreckungsfähig sind grundsätzlich sämtliche Leistungsentscheidungen, unabhängig davon, ob sie ein Handeln, Dulden oder Unterlassen verlangen. Da der EuGH Unionsrechtsverstöße im Erstverfahren lediglich feststellt, aber keinen Leistungsbefehl erteilt, ist der Inhalt eines Vertragsverletzungsurteils gemäß Art. 260 I AEUV nicht vollstreckungsfähig.219 Etwas anderes könnte für das Sanktionsurteil gelten, mit dem der EuGH Pauschalbeträge und Zwangsgelder verhängt und somit den betroffenen Mitgliedstaat zur Zahlung verpflichtet. Sieht man hierin einen 217  Dahingehend auch der EuGH, der das Sanktionsverfahren selbst ausdrücklich als „Vollstreckungsverfahren“ bezeichnet hat: EuGH, Rs. C-304/02, Kommission/ Frankreich, Slg. 2005, I-6263 (Rn. 92); Rs. C-292/11 P, Kommission/Portugal, ECLI:EU:C:2014:3 (Rn. 40); ebenso: Wohlfahrt, in: Dauses/Ludwigs, Hdb. des EUWirtschaftsrechts 53. EL 2021, P IV Fn. 123. 218  Vgl. etwa: Hobe, Europarecht, 9. Auflage 2017, Rn. 520; Träbert, Sanktionen der Europäischen Union gegenüber ihren Mitgliedstaaten, 2010, S. 203 ff.; Wunderlich, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht, 7. Auflage 2015, Art. 260 AEUV Rn. 39. 219  So auch: Gaitanides, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht, 7. Auflage 2015, Art. 280 AEUV Rn. 4, 7; Hauser, Das Vertragsverletzungsverfahren als Instrument des Europäischen Umweltrechts, 2004, S. 29; Jakobs, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, Hdb. des Rechtsschutzes in der EU, 3. Auflage 2014, § 31  Rn. 8; Wohlfahrt, in: Dauses/Ludwigs, Hdb. des EU-Wirtschaftsrechts, 53. EL 2021, P IV Rn. 181.

146

2. Teil: Das Vertragsverletzungsverfahren

Leistungsbefehl, ließe sich der Beschlussinhalt zwar nach allgemeinen Regeln vollstrecken.220 Auch hier wäre die Vollstreckung aber gemäß Art. 299 II AEUV nationalen Hoheitsträgern zugewiesen, so dass der betroffene Mitgliedstaat die Zahlungsforderungen gegen sich selbst vollstrecken müsste. Weigert er sich, Pauschalbetrag und Zwangsgeld zu entrichten, wäre es un­ realistisch anzunehmen, dass er Vollstreckungsmaßnahmen gegen sich selbst ergreifen würde.221 Zu den rechtlichen Bedenken hinsichtlich der Frage, ob Urteile und Entscheidungen des EuGH gegenüber Mitgliedstaaten vollstreckt werden können, kommt also hinzu, dass sie sich praktisch nicht zur Vollstreckung gemäß Art. 299 II AEUV nach Maßgabe des jeweils einschlägigen nationalen Vollstreckungsrechts durch mitgliedstaatliche Behörden eignen. Im Ergebnis bieten die unionsrechtlichen Rahmenbedingungen gemäß Art. 280, 299 II AEUV also keine effektive Möglichkeit, die an das Vertragsverletzungsurteil anknüpfenden Korrekturpflichten sowie die Pflichten zur Entrichtung finanzieller Sanktionen zu vollstrecken. Würde sich ein betroffener EU-Mitgliedstaat den Durchsetzungsmechanismen des Vertragsverletzungsverfahrens rigoros verweigern, blieben Kommission und EuGH keine Mittel, die Befolgung eines Vertragsverletzungsurteils mit rechtlichen Mitteln zu erzwingen.222 In der Literatur wird in diesem Zusammenhang von einem gefährlichen Vollstreckungsdefizit223 gesprochen. Gegenwärtig sind diese Bedenken noch theoretischer Natur, zumal die Mitgliedstaaten ihren Korrektur- und Zahlungspflichten früher oder später immer nachgekommen sind.224 Bedenkt man jedoch die Tragweite einer völligen Missachtung der Autorität des EuGH, verwundert es wenig, dass die Bewältigung einer solchen politischen Krise nur mit politischen Mitteln225 geleistet werden könnte.

220  Dahingehend: Gaitanides, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht, 7. Auflage 2015, Art. 280 AEUV Rn. 7; Wohlfahrt, in: Dauses/Ludwigs, Hdb. des EU-Wirtschaftsrechts, 53. EL 2021, P IV Rn. 183. 221  Zum Problem auch: Härtel, EuR 2001, 617 (621 f.); Träbert, Sanktionen der Europäischen Union gegenüber ihren Mitgliedstaaten, 2010, S. 205 f. 222  Zur theoretischen Möglichkeit eines Sanktionsbeschlusses nach Art. 7 EUV i.V. m. Art. 354 AEUV: von Borries, in: Ipsen/Stüer, FS Rengeling, 2008, S. 507; Träbert, Sanktionen der Europäischen Union gegenüber ihren Mitgliedstaaten, 2010, S.  210 ff. 223  Jakobs, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, Hdb. des Rechtsschutzes in der EU, 3. Auflage 2014, § 31 Rn. 13; Pechstein, EU-Prozessrecht, 4. Auflage 2011, Rn. 318. 224  Zu den möglichen Gründen hierfür: Klamert, EuR 2018, 159 (160 f.). 225  Vgl. von Borries, in: Ipsen/Stüer, FS Everling, 2008, S. 507.



B. Funktionsweise und Durchsetzungskraft147

4. Staatshaftung als Sanktionsmittel Neben finanziellen Sanktionen gemäß Art. 260 II AEUV kann in der Praxis auch das staatliche Interesse daran, finanzielle Belastungen durch Staatshaftungsansprüche zu vermeiden, zu einer möglichst schnellen Korrektur unionsrechtswidriger Verhaltensweisen und damit zur Durchsetzung eines Vertragsverletzungsurteils beitragen.226 Zwar sind Staatshaftungsansprüche als Schadensersatzansprüche prinzipiell auf die Verwirklichung individueller Interessen gerichtet. Ähnlich wie der unmittelbaren Anwendbarkeit von Richtlinien kommt ihnen aber zugleich Sanktionscharakter zu.227 Um die Rechte Einzelner zu schützen, müssen Unionsbürgerinnen und -bürger nach Auffassung des EuGH einen Ersatz für Schäden verlangen können, die auf Verstöße gegen Unionsrecht zurückzuführen und dem betroffenen Mitgliedstaat zuzurechnen sind.228 Ob Staatshaftungsansprüche gegenüber unionsrechtswidrig handelnden Mitgliedstaaten geltend gemacht werden oder nicht, kann die Kommission aber nicht direkt beeinflussen; über das Bestehen eines Staatshaftungsanspruchs entscheiden allein die nationalen Gerichte auf Betreiben der Geschädigten.229 Die verbindliche Feststellung einer Vertragsverletzung gemäß Art. 260 I AEUV ist auch keine Anspruchsvoraussetzung. Da der Einzelne gerade keine Vertragsverletzungsklage vor dem EuGH erheben kann, hingen seine Möglichkeiten, Entschädigungsansprüche geltend zu machen andernfalls nicht nur davon ab, dass die Kommission den ursächlichen Verstoß zufällig in eigener Initiative zum Gegenstand eines Vertragsverletzungsverfahrens macht.230 Staatshaftungsansprüche kämen auch nur in den wenigen Vertragsverletzungsfällen in Betracht, die mit einem Vertragsverletzungsurteil enden. Der EuGH soll im Vertragsverletzungsverfahren aber nur als ultima ratio angerufen werden, wenn der betrof226  EuGH, Rs. C-6/90 und C-9/90, Francovich u. a./Italien und Bonifaci u. a./Italien, Slg. 1991, I-5357, (Rn. 42); Rs. C-445/06, Dänische Schlachthofgesellschaft/ Deutschland, Slg. 2009, I-2119 (Rn. 31); Burgi, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, Hdb. des Rechtsschutzes in der EU, 3. Auflage 2014, § 6 Rn. 57. 227  Klamert, EuR 2018, 159 (166 f.). 228  EuGH, Rs. C-6/90 und C-9/90, Francovich u. a./Italien und Bonifaci u. a./Italien, Slg. 1991, I-5357, (Rn. 37); Rs. C-46/93 und 48/93, Brasserie du pêcheur/ Deutschland und The Queen/Secretary of State for Transport u. a., Slg. 1996, I-1029 (Rn. 17, 39); Rs. C-178/94, Dillenkofer u. a./Deutschland, Slg. 1996, I-4845 (Rn. 20); Rs. C-445/06, Dänische Schlachthofgesellschaft/Deutschland, Slg. 2009, I-2119 (Rn. 67). 229  Burgi, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, Hdb. des Rechtsschutzes in der EU, 3. Auflage 2014, § 6 Rn. 57. 230  EuGH, Rs. C-46/93 und 48/93, Brasserie du pêcheur/Deutschland und The Queen/Secretary of State for Transport, ex parte Factortame u. a., Slg. 1996, I-1029 (Rn. 95).

148

2. Teil: Das Vertragsverletzungsverfahren

fene Mitgliedstaat nicht bereits im administrativen Vorverfahren unionsrechtskonforme Zustände herstellt. Schließlich zielt das Vertragsverletzungsverfahren auf die wirksame Durchführung europarechtlicher Vorgaben ab; durchgeführt wird daher eine objektive Rechtmäßigkeitskontrolle im Allgemeininteresse, während die Staatshaftung als Ausprägung europarechtlicher Grundsätze den Schutz individueller Rechtspositionen bezweckt.231 Soweit sich aus der Aussicht auf drohende Haftungsansprüche positive Synergieeffekte auf die Befolgungsbereitschaft der Mitgliedstaaten ergeben, sind diese faktischer, reflexartiger Natur. Da es in Umweltangelegenheiten oft an subjektiv betroffenen Klägern mangelt, dürfte die Vermeidung kostspieliger Staatshaftungsansprüche ohnehin kaum Anreize setzen können, festgestellte Unionsrechtsverstöße schnellstmöglich zu beseitigen. Verglichen mit anderen Politikbereichen erweist sich die Durchsetzung des EU-Umweltrechts hier wieder einmal als besonders problematisch. 5. Effektivitätspolitische Bewertung Das Vertragsverletzungsverfahren ist das einzige politikbereichsüber­ greifende Vollzugskontrollinstrument, das der Kommission direkt durch die Unionsverträge zur Verfügung gestellt wird. Seiner rechtlichen und politischen Durchsetzungskraft sind jedoch Grenzen gesetzt, die die Herstellung unionsrechtskonformer Zustände letzten Endes in Frage stellen können und von der Kooperationsbereitschaft der Mitgliedstaaten abhängig machen. a) Das Vertragsverletzungsverfahren als politisches und rechtliches Durchsetzungsinstrument Zwar zielt das Vertragsverletzungsverfahren in seiner Eigenschaft als objektives Kontrollverfahren unmittelbar auf die Herstellung unionskonformer Zustände und nicht auf die öffentliche Anprangerung einzelner Mitgliedstaaten ab.232 Die Aussicht, von einem Vertragsverletzungsverfahren betroffen zu werden, wirkt aber zumindest reflexartig als politisches Druckmittel. Zwar sind die Mitgliedstaaten in der Regel bestrebt, bereits die Verfahrenseröffnung und den damit einhergehenden diplomatischen Gesichtsverlust zu vermeiden. Mit Blick auf den Umstand, dass in der Vergangenheit schon einmal gegen jeden Mitgliedstaat Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet wurden, stellt sich die Frage, wie lange die politische Drucksituation noch effektive 231  EuGH, Rs. C-445/06, Dänische Schlachthofgesellschaft/Deutschland, Slg. 2009, I-2119 (Rn. 67). 232  Everling, in: Depenheuer/Heintzen u. a., FS Isensee, 2007, S. 776.



B. Funktionsweise und Durchsetzungskraft149

Anreize zu setzen vermag. Wird das Vertragsverletzungsverfahren zu häufig eingesetzt, droht das Prinzip „blaming and shaming“ an Kraft zu verlieren und zumindest die Eröffnung eines Erstverfahrens zum Kavaliersdelikt zu werden. Um die Effektivität des Vertragsverletzungsverfahrens zu erhalten, dürfte also auch die Kommission bestrebt sein, die Verfahrenseröffnung nicht zum Regelfall werden zu lassen.233 Die Angst um das internationale Ansehen stellt jedoch nicht den einzigen Faktor dar, der die Mitgliedstaaten in eine kooperationsfördernde Druck­ situation versetzen kann. Unmittelbare Anreiz- und Abschreckungswirkungen kommen dem Vertragsverletzungsverfahren vor allem in Zusammenschau mit der Drohwirkung zu, die die Aussicht auf ein Sanktionsurteil und die damit verbundenen Finanzsanktionen gemäß Art. 260 II AEUV entfaltet. Da Pauschalbeträge und Zwangsgelder von Kommission und EuGH nach Kriterien berechnet werden, die den Besonderheiten des jeweiligen Mitgliedstaates Rechnung tragen, lässt sich gewährleisten, dass die verhängten Sanktionen den unionsrechtswidrig handelnden Mitgliedstaat empfindlich treffen. Zeigt sich ein Mitgliedstaat dennoch uneinsichtig, können allerdings Jahre verstreichen, bis der Unionsrechtsverstoß gerichtlich festgestellt und das unionsrechtswidrige Verhalten behoben wird. Da das Feststellungsurteil i.  S.  v. Art. 260I AEUV keinen zwangsweise durchsetzbaren Inhalt hat und dem Mitgliedstaat in der Regel bis zum Zweiturteil keine Zahlungspflichten auferlegt werden können, hat er über einen langen Zeitraum hinweg keine Konsequenzen zu befürchten. Da der Pauschalbetrag erst für den Zeitraum ab Erlass des Ersturteils verhängt wird, kann der betroffene Staat jedenfalls bis zum Ersturteil völlig sanktionslos gegen Unionsrecht verstoßen. Drohende Finanzsanktionen treten damit in zeitliche Distanz und wirken weniger präsent. Korrigiert der Mitgliedstaat die beanstandete Vertragsverletzung im Verlauf des Zweitverfahrens, aber noch vor dem abschließenden Sanktionsurteil, kann er sich zumindest der Zahlung des in der Regel deutlich höheren Zwangsgelds vollständig entziehen. In rechtlicher Hinsicht begründet das Sanktionsurteil gemäß Art. 260 II UAbs. 2 AEUV zwar wirksame Zahlungspflichten, die die Mitgliedstaaten zur Befolgung ihrer Korrekturpflichten aus dem Ersturteil veranlassen sollen. Würde ein Mitgliedstaat die Zahlung aber partout verweigern, bestünde kein effektives Mittel, Zwangsgeld und Pauschalbetrag gegen seinen Willen beizutreiben. Zwar sind solche Bedenken gegenwärtig noch theoretischer Natur, im Ernstfall würde die zeitaufwändige, mehrstufige Verfahrensstruktur, ohne Möglichkeit Entscheidungen zwangsweise durchzusetzen, EU und Kommission aber nur wenig „Schlagkraft“ bieten. Kommission und EuGH blieben 233  Ähnlich:

Ortlepp, Das Vertragsverletzungsverfahren, 1987, S. 76.

150

2. Teil: Das Vertragsverletzungsverfahren

im Ergebnis also doch auf die mitgliedstaatliche Kooperationsbereitschaft sowie die Anerkennung ihrer Autorität durch den jeweils betroffenen Mitgliedstaat angewiesen. Die rechtlich wenig schneidige Verfahrensgestaltung lässt sich allerdings aus der Natur der EU heraus erklären. Als konsensual geschaffener Staaten­ verbund,234 bezieht die EU ihre Kompetenzen aus der freiwilligen Selbstbeschränkung ihrer Mitgliedstaaten. Dieser Konzeption entspricht es, dass auch das Vertragsverletzungsverfahren gemäß Art. 258 ff. AEUV auf der Vorstellung aufbaut, jeder betroffene Staat sei zumindest im Grundsatz bereit und willens, die gemeinsam gesetzten Ziele der EU zu verwirklichen und sich unionsrechtskonform zu verhalten. Das Vertragsverletzungsverfahren ist folglich nur drauf gerichtet, das Verhalten von Staaten, die sich selbst als Teil der EU verstehen zu Gunsten des Effektivitätsgrundsatzes zu korrigieren. Darauf, eine schlechthin unionsfeindliche Grundhaltung zu überwinden, ist es nicht ausgerichtet. Würde sich ein Mitgliedstaat dauerhaft weigern, Unionsrecht Folge zu leisten und somit die Autorität des EuGH untergraben, stünde letztlich nicht nur die Durchführung einzelner Bestimmungen, sondern die gesamte europäische Integration in Frage.235 Das „klassische“ Vertragsverletzungsverfahren ist folglich sowohl ein politisch als auch ein rechtlich wirkendes Kontrollinstrument. Da die EU aber einen freiwilligen Zusammenschluss europäischer Staaten ohne eigene Staatsqualität bildet, bleiben ihre Handlungsmöglichkeiten in rechtlicher Hinsicht durch die mitgliedstaatliche Souveränität, in politischer Hinsicht durch die naturgegebene Prämisse der freiwilligen Zugehörigkeit begrenzt. Sehr illustrativ spricht etwa Ehricke von einer „politisch sensible[n] Nahtstelle zwischen Unionsrecht und mitgliedstaatlicher Politik“.236 c) Praktische Eignung für die Durchsetzung des EU-Umweltrechts Da sich der Anwendungsbereich des Vertragsverletzungsverfahrens auf sämtliche Politikbereiche erstreckt, erfasst er das EU-Umweltrecht zunächst wie jede andere Materie auch. Empirische Untersuchungen zeigen allerdings, dass Angelegenheiten mit Umweltbezug in der Verfahrenspraxis eine quantitativ exponierte Stellung zukommen. Regelmäßig betrifft ein großer Teil aller Vertragsverletzungsverfahren Verstöße gegen das EU-Umweltrecht.237 Dies 234  BVerfGE 89, 155 (Ls. 2, 3a, 8, Rn. 90, 94 f., 100, 103, 108, 112, 152, 162; Maastricht); 123, 267 (Ls. 1, Rn. 229; Lissabon). 235  Träbert, Sanktionen der Europäischen Union gegenüber ihren Mitgliedstaaten, 2010, S. 214. 236  Ehricke, in: ­Streinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 258 AEUV Rn. 13. 237  Dazu: 2. Teil, A.



B. Funktionsweise und Durchsetzungskraft151

mag zum einen an der Komplexität und besonderen Verstoßanfälligkeit europäischer Rechtsakte in diesem Bereich liegen, andererseits aber auch an den auf subjektive Rechtsverletzungen ausgelegten nationalen Durchsetzungsmechanismen.238 Während die gerichtliche Durchsetzung in den Mitgliedstaaten durch das Fehlen subjektiv betroffener Kläger erschwert wird, macht die Natur des Vertragsverletzungsverfahrens als objektives Kontrollverfahren es gerade im Umweltbereich zu einem praxisrelevanten Durchsetzungsinstrument, in dessen Rahmen die Kommission kein besonderes Rechtsschutzbedürfnis oder Klageinteresse nachzuweisen hat.239 Die hohe Anzahl jährlich neu eröffneter Vertragsverletzungsverfahren mit Umweltrechtsbezug verwundert vor diesem Hintergrund nicht. Werden etwa Tier- und Pflanzenarten durch Unionsrechtsverstöße gefährdet, kann – vorbehaltlich bestehender Verbandsklagemöglichkeiten – auf nationaler Ebene gegebenenfalls kein Gerichtsverfahren eingeleitet werden. In der Folge lassen sich Fragen zur Auslegung des EU-Umweltrechts auch nicht über das Vorabentscheidungsverfahren gemäß Art. 267 AEUV klären, so dass letzten Endes nur die Kommission ein unionsgerichtliches Verfahren initiieren kann.

V. Die Rolle der Kommission im Vertragsverletzungsverfahren Im Vertragsverletzungsverfahren steht dem Mitgliedstaat zunächst nur die Kommission, später auch der EuGH als Kontrollinstanz gegenüber. Obwohl gemäß Art. 17 I 2 EUV die Kommission damit betraut ist, die Durchführung unionsrechtlicher Vorgaben zu gewährleisten, fällt die verbindliche Letztentscheidung, ob eine beanstandete Umsetzungs- oder Anwendungsmaßnahme gegen Unionsrecht verstößt nach Art. 260 I AEUV, Art. 17 I 3 EUV in den Aufgabenkreis des EuGH. Der EuGH bleibt damit exklusiv zuständig für alle Entscheidungen über die Auslegung und Anwendung des EU-Rechts.240 Dennoch kommt der Kommission als Akteurin im Vertragsverletzungsverfahren eine zentrale Rolle zu, die sie einerseits befähigt, den prozeduralen Ablauf aktiv zu gestalten und ihr andererseits Möglichkeiten eröffnet, den Inhalt unionsgerichtlicher Vertragsverletzungs- und Sanktionsurteile zu beeinflussen. 238  Dazu:

1. Teil, A. II. 5. Rs. C-431/92, Kommission/Deutschland, Slg. 1995, I-2189 (Rn. 21); Rs. 167/73, Kommission/Frankreich, Slg. 1974, 359 (Rn. 15); Sach/Simm, in: Rengeling, Hdb. zum europäischen und deutschen Umweltrecht Bd. I, 2. Auflage 2003, § 44 Rn. 15, 58; Scheuing, NVwZ 1999, 475 (476). 240  Träbert, Sanktionen der Europäischen Union gegenüber ihren Mitgliedstaaten, 2010, S. 212. 239  EuGH,

152

2. Teil: Das Vertragsverletzungsverfahren

1. Einfluss auf den Verfahrensverlauf Während der außergerichtlichen Verfahrensphase fungiert die Kommission als Kontrollinstanz mit autonomen Handlungs- und Entscheidungsbefugnissen. Hier ist sie zugleich Initiator und Motor des Verfahrens und damit bereits ab Verfahrensbeginn Zentralgestalt. a) Initiativfunktion Nach Maßgabe der Art. 258 ff. AEUV ist die Kommission das einzige EUOrgan, das über die Kompetenz verfügt, ein Vertragsverletzungsverfahren zu eröffnen. Gelangt sie zu der Auffassung, dass ein Staat gegen EU-Recht verstoßen hat, liegt es in ihrem Kompetenzbereich ein Vertragsverletzungsverfahren durch die Versendung eines Mahnschreibens zu eröffnen. Die Rolle der Kommission als Verfahrensinitiatorin beschränkt sich dabei nicht auf das Erstverfahren. Auch für die Eröffnung des Zweitverfahrens kommt es gemäß Art. 260 II UAbs. 1 1 AEUV auf ihre Auffassung in der Frage an, ob der betroffene Mitgliedstaat das vorangegangene Feststellungsurteil befolgt und den Unionsrechtsverstoß behoben hat. Damit steht die Kommission im Zen­ trum eines wichtigen Entscheidungsmoments. Bevor ein Mitgliedstaat überhaupt Gefahr läuft, vom EuGH nach Art. 260 II UAbs. 2 AEUV mit finan­ ziellen Sanktionen belastet zu werden, hat die Kommission die Weichen für das Zweitverfahren zu stellen. b) Die Kommission als Herrin des Verfahrens Die prozedurale Schlüsselrolle der Kommission erschöpft sich nicht in ihrem Initiativrecht. Im Vorfeld jeder Verfahrensetappe bedarf es einer separaten Entscheidung über den weiteren Verfahrensverlauf. Entscheidungsträgerin ist gemäß Art. 258 I, II, 260 II UAbs. 2 AEUV „die Kommission“; es gilt insoweit das Kollegialprinzip.241 Einzelne Kommissare verfügen im Vertragsverletzungsverfahren über keine Handlungsbefugnisse.242 In Folge der Einleitung eines Erst- oder Zweitverfahrens beschließt die Kommission über die Abgabe einer mit Gründen versehenen Stellungnahme 241  EuGH, Rs. C-191/95, Kommission/Deutschland, Slg. 1998, I-5449 (Rn. 34, 40); ausreichend hierfür ist, dass das Kollegium gemeinsam berät und die politische Verantwortung trägt, ein kollegialer Beschluss ist nicht erforderlich, Ehlers, Jura 2007, 684 (686 f.). 242  Zum genauen Ablauf der Behandlung von Vertragsverletzungsverfahren innerhalb der Kommission: Gormley, in: Jakab/Kochenov, The Enforcement of EU Law and Values, 2017, S. 67 f.



B. Funktionsweise und Durchsetzungskraft153

nach Art. 258 I AEUV sowie gemäß Art. 258 II, 260 II UAbs. 1 AEUV über die Erhebung einer Vertragsverletzungsklage vor dem EuGH. Die Kommission bestimmt damit nicht nur, ob ein Verfahren durchgeführt wird, sondern auch bis zu welchem Stadium es voranschreitet. Neben dem prozeduralen Verlauf steuert sie auch dessen Geschwindigkeit. Zwar liegt die Ursache für Verzögerungen häufig im Verantwortungsbereich der Mitgliedstaaten, etwa wenn nationale Hoheitsträger die Auskunft verweigern, selbst erst Informationen beschaffen müssen bzw. eine potenzielle Vertragsverletzung nicht korrigieren können oder wollen. Da es jedoch Aufgabe der Kommission ist, dem betroffenen Staat eine im konkreten Fall angemessene Äußerungsfrist zu setzen,243 verfügt sie über steuernde Einflussmöglichkeiten. Sie entscheidet, wie viel Geduld sie letztlich zu investieren bereit ist – zumindest soweit Informationsdefizite den Verfahrensfortschritt nicht faktisch lähmen. Ihre Rolle als prozedurale Triebfeder erschöpft sich erst in dem Moment, in dem die Kommission den EuGH mit einem potenziellen Unionsrechtsverstoß befasst. Ob das Vertragsverletzungsverfahren im Verlauf der gerichtlichen Verfahrens­ phase eingestellt oder mit einem Urteil beendet wird, obliegt ausschließlich seiner Entscheidungsgewalt, vgl. Art. 260 I, II UAbs. 2 AEUV. c) Rechtliche Rahmenbedingungen Art und Ausmaß, in dem die Kommission gestaltenden Einfluss auf den Verlauf des Vertragsverletzungsverfahrens nehmen kann, hängt davon ab, welchen rechtlichen Bindungen sie bei ihren Entscheidungen unterliegt. Daher gilt es auf erster Stufe zu klären, ob ihr als Hüterin der Verträge die Rechtspflicht zufällt, potenzielle Unionsrechtsverstöße mit Hilfe des Vertragsverletzungsverfahrens zu verfolgen; auf zweiter Stufe stellt sich die Frage, ob die Kommission von Bürgern, Mitgliedstaaten oder anderen Unionsorganen mit prozessualen Mitteln dazu gezwungen werden kann, sich mit einer potenziellen Vertragsverletzung zu beschäftigen, ein Verfahren zu eröffnen oder sogar Klage vor dem EuGH zu erheben. aa) Rechtspflicht zur Verfolgung einer Vertragsverletzung Ob die Kommission zur Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens durch die Versendung eines Mahnschreibens verpflichtet ist oder ob die Verfahrenseröffnung in ihrem Ermessen steht, wurde in der Literatur zeitweise lebhaft diskutiert.

243  Dazu:

2. Teil, B. II. 1. a).

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2. Teil: Das Vertragsverletzungsverfahren

Die Verwendung des Indikativs in Art. 258 I Hs. 1 AEUV, wonach die Kommission eine mit Gründen versehene Stellungnahme „abgibt“, sofern sie der Auffassung ist, ein Mitgliedstaat habe gegen seine Vertragspflichten verstoßen, spricht zunächst gegen die Annahme eines Entscheidungsspielraums.244 Zwar wird das Erstverfahren bereits durch die Versendung eines Mahnschreibens und nicht erst durch die mit Gründen versehene Stellungnahme initiiert. Nähme man jedoch – wie es der Wortlaut des Art. 258 I Hs. 1 AEUV andeutet – eine Pflicht zur Abgabe einer mit Gründen versehenen Stellungnahme an, könnte die Kommission dieser nicht nachkommen, ohne zuvor das Verfahren eröffnet und dem Mitgliedstaat gemäß Art. 258 I Hs. 2 AEUV Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben zu haben. Die Pflicht zur Abgabe einer mit Gründen versehenen Stellungnahme würde also zugleich eine Pflicht zur Verfahrenseröffnung durch die Versendung eines Mahnschreibens implizieren. Nach der Formulierung des Art. 258 II AEUV („kann“) scheint die Entscheidung, ob die Kommission nach Abschluss des außergerichtlichen Vorverfahrens Klage erheben wird, hingegen in ihrem Ermessen zu stehen.245 Nähme man den Vertragstext ernst, träfe die Kommission also eine Rechtspflicht, das außergerichtliche Verfahren zu eröffnen, sofern sie vom Vorliegen einer Vertragsverletzung überzeugt ist. Beim Voranschreiten in die gericht­ liche Verfahrensphase stünden ihr hingegen Entscheidungsspielräume offen. Mag eine solche Differenzierung innerhalb des Verfahrensverlaufs auf den ersten Blick widersinnig erscheinen, wurden im Schrifttum doch umfassende Erklärungsversuche unternommen. Denkbar wäre etwa eine ressourcen­ ökonomische bzw. unionspolitische Argumentation: Wie sich aus der mehrstufigen Verfahrensstruktur des Vertragsverletzungsverfahrens ergibt, hat die Kommission vorrangig im außergerichtlichen Verfahren auf die Herstellung unionsrechtskonformer Zustände hinzuwirken. Mit Blick auf den erheblichen Ansehensverlust und die drohenden Finanzsanktionen im Falle einer Verurteilung im Erst- bzw. Zweitverfahren wirkt die gerichtliche Verfahrensphase für den betroffenen Mitgliedstaat deutlich belastender als die bilaterale Auseinandersetzung mit der Kommission. Der Kommission in der Frage, ob sie die gerichtliche Verfahrensphase einleiten wird Entscheidungsermessen einzuräumen, gäbe ihr die Möglichkeit, bei Bedarf politisches Fingerspitzen­

244  Ehricke, in: S ­ treinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 258 AEUV Rn. 30; Karpenstein, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der EU, 73. EL 2021, Art. 258 AEUV Rn. 14; Wunderlich, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unionrecht, 7. Auflage 2015, Art. 258 AEUV Rn. 17. 245  Ehricke, in: S ­ treinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 258 AEUV Rn. 30; Karpenstein, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der EU, 73. EL 2021, Art. 258 AEUV Rn. 48.



B. Funktionsweise und Durchsetzungskraft155

gefühl zu zeigen246 und den EuGH vor Überlastungen durch Fälle von untergeordneter Bedeutung zu schützen.247 Gleichzeitig könnte die Entscheidung über die Einleitung der außergerichtlichen Verfahrensphase als gebundene Entscheidung ausgestaltet sein, um der enormen Bedeutung des effektiven Unionsrechtsvollzugs und dem Wächteramt der Kommission Rechnung zu tragen.248 Für eine Rechtspflicht zur Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens spricht neben dem Wortlaut des Primärrechts der unionsrechtliche Effektivitätsgedanke, der sich auch im in Art. 258 AEUV und Art. 17 EUV verankerten Legalitätsprinzip wiederfindet.249 Nur wenn die Kommission eine Pflicht zur Einleitung des formellen Vorverfahrens trifft, kann gewährleistet werden, dass jeder Vertragsverletzung nachgegangen wird. Stünde ihr hingegen Ermessen zu, bestünde die Gefahr, dass Vertragsverletzungen einzelner Mitgliedstaaten – etwa in konfliktträchtigen Situationen – zu Gunsten des politischen Friedens zumindest über eine gewisse Zeit hinweg trotz des Risikos irreparabler Schäden toleriert werden. Ermessensspielräume könnten die Mitgliedstaaten geradezu dazu verleiten, unionsrechtliche Vorgaben zu missachten und auf die diplomatische Zurückhaltung der Kommission zu hoffen. Im Übrigen würde eine Verfolgung aller Vertragsverletzungen dem Grundsatz der Gleichbehandlung am einfachsten gerecht.250 Während in der älteren Literatur mit ähnlicher Argumentation und in Anknüpfung an die Formulierung des Art. 258 I Hs. 1, II AEUV eine Verfolgungspflicht für das Vorverfahren angenommen wurde,251 hat der EuGH die im Wortlaut angelegte Differenzierung nicht aufgegriffen. Vielmehr geht die ständige Rechtsprechung davon aus, dass alle Entscheidungen über die Einleitung des außergerichtlichen Verfahrens, das Voranschreiten in die gerichtliche Verfahrensphase sowie die Wahl des geeigneten Zeitpunkts gleichermaßen im Ermessen der Kommission stehen.252 Seine Auffassung begründet der 246  Däubler, NJW 1968, 325 (329); in diesem Sinne auch: Cremer, in: Calliess/ Ruffert, EUV/AEUV, 6. Auflage 2022, Art. 258 AEUV Rn. 43. 247  Ähnlich: Burgi, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, Hdb. des Rechtsschutzes in der EU, 3. Auflage 2014, § 6 Rn. 25; Ortlepp, Das Vertragsverletzungsverfahren, 1987, S. 76. 248  Däubler, NJW 1968, 325 (329). 249  Ehricke, in: S ­ treinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 258 AEUV Rn. 30. 250  Ortlepp, Das Vertragsverletzungsverfahren, 1987, S. 76 f. 251  Albin, Die Vollzugskontrolle des europäischen Umweltrechts, 1999, S. 290; Thiele, EuR 2008, 320 (325); anders bereits: Stotz, in: Rengeling, Hdb. zum europäischen und deutschen Umweltrecht Bd. I, 2. Auflage 2003, § 45 Rn. 12. 252  EuGH, Rs. 247/87, Star Fruit/Kommission, Slg. 1989, 291 (Rn. 11); Rs. C-87/ 89, Sonito u. a./Kommission, Slg. 1990, I-1981 (Rn. 6); Rs. C-205/98, Kommission/ Österreich, Slg. 2000, I-7367 (Rn. 44); Ehlers, Jura 2007, 684 (686); ebenso das

156

2. Teil: Das Vertragsverletzungsverfahren

EuGH zunächst mit der Zielsetzung des Vertragsverletzungsverfahrens, der Kommission ein Instrument an die Hand zu geben, mit dessen Hilfe sie ihren Kontrollauftrag erfüllen kann.253 Gemäß Art. 17 I 2 EUV sei ihr allein die Rolle der Hüterin der Verträge zugewiesen. Könne sie in bestimmten Fällen zum Einschreiten verpflichtet werden, würde dieses Monopol in Frage gestellt. Zudem knüpfe Art. 258 I AEUV die Eröffnung der außergerichtlichen Verfahrensphase daran, dass nach Auffassung der Kommission eine Vertragsverletzung vorliege; gewisse Entscheidungsspielräume müssen hier denk­ logisch existieren.254 Dass eine Rechtspflicht zur Einleitung des außergerichtlichen Vorverfahrens nicht in jeder Situation bestehen kann, wurde im Übrigen auch unter denjenigen Literaturvertretern anerkannt, die der Kommission prinzipiell keinen Ermessensspielraum zuerkennen wollten. So wurde vorgeschlagen, eine Pflicht der Kommission etwa in Bagatellfällen255 oder bei Verstößen gegen EU-Recht durch nationale Gerichte abzulehnen.256 Mittlerweile hat sich die Mehrheit im Schrifttum der Auffassung des EuGH angeschlossen und der Kommission entgegen des Vertragstextes weite Spielräume auch bei der Einleitung des (außergerichtlichen) Vertragsverletzungsverfahrens nach Art. 258 I AEUV zuerkannt.257 bb) Prozessuale Durchsetzungsmöglichkeiten und gerichtliche Überprüfbarkeit Da die Kommission keine Pflicht zur Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens oder zur Erhebung einer Vertragsverletzungsklage trifft, kann auch der Einzelne über kein entsprechendes Recht verfügen, das es ihm erSelbstverständnis der Kommission: KOM, Mitteilung das Europäische Parlament und den Europäischen Bürgerbeauftragten über die Beziehungen zum Beschwerdeführer bei Verstößen gegen das Gemeinschaftsrecht, 20.3.2002, KOM(2002) 141 endg., Anhang Nr. 2 UAbs. 3, Nr. 9 UAbs. 2. 253  EuGH, Rs. C-247/87, Rs. C-35/96, Kommission/Italien, Slg. 1998, I-3851 (Rn. 26); Rs. C-62/98, Kommission/Portugal, Slg. 2000, I-5171 (Rn. 37); Rs. C-84/98, Kommission/Portugal, Slg. 2000, I-5215 (Rn. 46). 254  Vgl. EuGH, Rs. C-247/87, Star Fruit/Kommission, Slg. 1989, 2 (Rn. 12); Rs. C-35/96, Kommission/Italien, Slg. 1998, I-3851 (Rn. 27); Rs. C-87/89, Sonito/ Kommission, Slg. 1990, I-1981 (Rn. 7); Rs. C-456/05, Kommission/Deutschland, Slg. 2007, I-10517 (Rn. 22). 255  Vgl. Burgi, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, Hdb. des Rechtsschutzes in der EU, 3. Auflage 2014, § 6 Rn. 25 m. w. N. 256  Ehricke, in: ­Streinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 258 AEUV Rn. 30. 257  So etwa: Burgi, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, Hdb. des Rechtsschutzes in der EU, 3. Auflage 2014, § 6 Rn. 25; Dörr/Lenz, Europäischer Verwaltungsrechtsschutz, 2.  Auflage 2019, Rn. 67; Pechstein, EU-Prozessrecht, 4.  Auflage 2011, Rn. 258; Wunderlich, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht, 7. Auflage 2015, EU-Recht Art. 258 AEUV Rn. 17.



B. Funktionsweise und Durchsetzungskraft157

möglichen würden, eine bestimmte Entscheidung zu verlangen und einzuklagen.258 Das Ermessen der Kommission ist einer Überprüfung durch den EuGH grundsätzlich entzogen.259 Zudem bietet das unionsgerichtliche Rechtsschutzsystem keine Möglichkeit, Kommissionsentscheidungen im Vertragsverletzungsverfahren einer Rechtmäßigkeitskontrolle zu unterziehen. Da allein der Gerichtshof für die verbindliche Feststellung eines Unionsrechtsverstoßes zuständig ist, während die Entscheidungen der Kommission nur die dem gerichtlichen Verfahren vorgelagerten Phasen betreffen,260 handelt es sich bei ihnen weder um Rechtsakte, die „an [eine natürliche Person] zu richten sind“261 und mit Hilfe einer Untätigkeitsklage gemäß Art. 265 III AEUV eingefordert werden können262 noch betreffen sie Dritte „unmittelbar und individuell“,263 so dass auch eine Nichtigkeitsklage gemäß Art. 263 IV AEUV ausscheiden muss.264 Da es sich beim Vertragsverletzungsverfahren um ein Verfahren mit rein objektivem Ordnungscharakter handelt, würde sich selbst ein abschließendes Feststellungsurteil nicht unmittelbar auf die Rechtsstellung des Einzelnen auswirken.265 Auch Schadensersatzansprüche aufgrund

258  EuGH, Rs. C-87/89, Sonito u. a./Kommission, Slg. 1990, I-1981 (Rn. 6  ff.); Rs. 247/87, Star Fruit/Kommission, Slg. 1989, 291 (Rn. 11); Cremer, in: Calliess/ Ruffert, EUV/AEUV, 6. Auflage 2022, Art. 258 AEUV Rn. 45; Stotz, in: Rengeling, Hdb. zum europäischen und deutschen Umweltrecht Bd. I, 2. Auflage 2003, § 45 Rn. 23. 259  Burgi, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, Hdb. des Rechtsschutzes in der EU, 3. Auflage 2014, § 6 Rn. 25; Wunderlich, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht, 7. Auflage 2015, Art. 258 AEUV Rn. 17. 260  Stotz, in: Rengeling, Hdb. zum europäischen und deutschen Umweltrecht Bd. I, 2. Auflage 2003, § 45 Rn. 23. 261  Pechstein, EU-Prozessrecht, 4. Auflage 2011, Rn. 257. 262  EuGH, Rs. 247/87, Star Fruit/Kommission, Slg. 1989, 291 (Rn. 11 ff.); Cremer, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 6. Auflage 2022, Art. 258 AEUV Rn. 45; Ehlers, Jura 2007, 684 (686); Ehricke, in: ­Streinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 258 AEUV Rn. 2. 263  EuGH, Rs. 247/87, Star Fruit/Kommission, Slg. 1989, 291 (Rn. 13); Burgi, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, Hdb. des Rechtsschutzes in der EU, 3. Auflage 2014, § 6 Rn. 25. 264  EuGH, Rs. C-29/92, Asia Motor France/Kommission, Slg. 1992, I-3935 (Rn. 21); Rs. C-107/95 P, Bundesverband der Bilanzbuchhalter/Kommission, Slg. 1997, I-947 (Rn. 19); Burgi, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, Hdb. des Rechtsschutzes in der EU, 3. Auflage 2014, § 6 Rn. 25; Ehricke, in: ­Streinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 258 AEUV Rn. 2, 18. 265  Zur mittelbar individual-rechtlichen Bedeutung: Ehricke, in: S ­treinz, EUV/ AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 258 AEUV Rn. 2; Wunderlich, in: von der Groeben/ Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht, 7. Auflage 2015, Art. 258 AEUV Rn. 2.

158

2. Teil: Das Vertragsverletzungsverfahren

eines pflichtwidrigen Unterlassens der Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens wurden vom EuGH als unzulässig abgewiesen.266  cc) Ermessensreduktion und Selbstbindung Dass der Kommission im Rahmen des Vertragsverletzungsverfahrens weitreichendes Ermessen zukommt, bedeutet nicht, dass sie völlig frei von rechtlichen Bindungen über die Eröffnung eines Vertragsverletzungsverfahrens bzw. die Erhebung einer Vertragsverletzungsklage entscheiden kann. Vielmehr besteht Ermessen nur im Rahmen der allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts – insbesondere des Gleichbehandlungsgrundsatzes – sowie im Einklang mit den die Kommission bindenden Rechtsvorschriften.267 In Einzelfällen kann sich das Ermessen der Kommission sogar zu einer Verfolgungspflicht verdichten. Dies wird im Schrifttum etwa dann angenommen, wenn eine Vertragsverletzung besonders evident ist oder eine besonders gravierende Beeinträchtigung von Schutzgütern droht.268 Mit dem Ziel, eine effizientere Behandlung und Beilegung von Vertragsverletzungsangelegenheiten zu erreichen, gebrauchte die Kommission ihre Ermessensspielräume in ihrer Mitteilung Zur besseren Kontrolle der Anwendung des Gemeinschaftsrechts 2002 erstmals, um prioritäre Fallgruppen festzulegen, die sie im Wege des Vertragsverletzungsverfahrens schneller und intensiver verfolgen wollte.269 Indem sie andere Fälle ausdrücklich als „weniger vorrangig“ bezeichnete, stellte die Kommission zum ersten Mal klar, dass aus ihrer Sicht überhaupt qualitative Unterschiede zwischen Rechtsverstößen bestanden.270 Gleichzeitig legte sie offen, welchen Vertragsverletzungen sie besondere Bedeutung zumaß. War die Publikation der Kommission im Jahr 2002 noch ein echtes Novum, hat sie ihre Verfolgungsprioritäten seither in unregelmäßigen Abständen aktualisiert.271 266  EuGH, Rs. C-72/90, Asia Motor France/Kommission, Slg. 1990, I-2181 (Rn. 13); Wunderlich, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht, 7. Auflage 2015, Art. 258 AEUV Rn. 17. 267  Vgl. dahingehend: EuG, verb. Rs. T-440/03, T-121/04 u. a., Arizmendi/Rat und Kommission, Slg 2009, II-4883 (Rn. 66); Karpenstein, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der EU, 73. EL 2021, Art. 258 AEUV Rn. 16; Stotz, in: Rengeling, Hdb. zum europäischen und deutschen Umweltrecht Bd. I, 2. Auflage 2003, § 45 Rn. 31a. 268  Cremer, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 6. Auflage 2022, Art. 258 AEUV Rn. 43; Wunderlich, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht, 7. Auflage 2015, Art. 258 AEUV Rn. 17. 269  KOM, Mitteilung zur besseren Kontrolle der Anwendung des Gemeinschaftsrechts, 11.12.2002, KOM(2002) 725 endg., S. 12 f. 270  Smith, ELRev 2008, 777 (783). 271  So etwa in: KOM, Mitteilung – Ein Europa der Ergebnisse – Anwendung des Gemeinschaftsrechts, 5.9.2007, KOM(2007) 502 endg., S. 9; KOM, Mitteilung – EU-



B. Funktionsweise und Durchsetzungskraft159

Unter dem Programmsatz „in großen Fragen Größe und Ehrgeiz zeigen und in kleinen Fragen Zurückhaltung und Bescheidenheit üben“ (engl.: Bigger and more ambitions on big things and smaller and more modest on small things)272 erklärte die ehemalige Juncker-Kommission 2016 mit der Mitteilung EU-Recht: Bessere Ergebnisse durch bessere Anwendung, ihren Ansatz bei der Verfolgung von Vertragsverletzungen noch strategischer gestalten zu wollen.273 Ermessensspielräume wolle die Kommission in erster Linie nutzen, um schwerwiegendste Verstöße gegen EU-Recht zu verfolgen, die die Interessen der Bürgerinnen und Bürger und der Wirtschaft beeinträchtigen. Vorrangig forciere sie die Überprüfung der Umsetzungsebene sowie Fälle, in denen ein Mitgliedstaat Umsetzungsmaßnahmen nicht mitgeteilt oder Richtlinien nicht ordnungsgemäß umgesetzt habe, einem Urteil des Gerichtshofs nicht nachgekommen sei oder den finanziellen Interessen der EU schwer geschadet oder ausschließliche Zuständigkeiten der EU missachtet habe. Um die Befolgung der sich aus einem Vertragsverletzungsurteil gemäß Art. 260 I AEUV ergebenden Korrekturpflichten sicherzustellen, wolle sich die Kommission auf systemische Schwächen in den nationalen Rechtsordnungen oder Rechtspraktiken konzentrieren, die das Funktionieren des institutionellen Rahmens der EU beeinträchtigen. Dies seien insbesondere Behinderungen der Durchführung von Vorabentscheidungsverfahren, das Fehlen nationaler Rechtsbehelfe zur Durchsetzung unionsrechtlicher Vorgaben sowie Beeinträchtigungen der Anwendung von EU-Recht durch nationale Rechtsnormen nach Maßgabe rechtsstaatlicher Grundsätze und Art. 47 GrCh. Einen besonderen Fokus lege sie dabei auf Mitgliedstaaten, die EU-Recht fortlaufend missachten. Im Unterschied zu ihrem 2007 noch grundsätzlich umfassenden Verfolgungsansatz stellte die Kommission nunmehr klar, in Fällen von untergeordneter Bedeutung, z. B. bei vereinzelten unionsrechtswidrigen Rechtsanwendungen, die nicht auf eine allgemeine Praxis schließen lassen, auf die Anstrengung eines Vertragsverletzungsverfahrens verzichten und auf geeignete Mechanismen des nationalen Rechtsschutzes oder das Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 267 AEUV verweisen zu wollen.274 Recht: Bessere Ergebnisse durch bessere Anwendung, 21.12.2016, COM(2016) 8600 final S.  8 ff. 272  Jean-Claude Juncker, A New Start for Europe: My Agenda for Jobs, Growth, Fairness and Democratic Change – Political Guidelines for the next European Commission, Opening Statement in the European Parliament Plenary Session, 15.7.2014, S. 3, abrufbar unter: https://www.parlementairemonitor.nl/9353000/d/political guide lines-juncker commission.pdf (Stand: 14.2.2023). 273  KOM, Mitteilung – EU-Recht: Bessere Ergebnisse durch bessere Anwendung, 21.12.2016, COM(2016) 8600 final, S. 9. 274  KOM, Mitteilung – EU-Recht: Bessere Ergebnisse durch bessere Anwendung, 21.12.2016, COM(2016) 8600 final, S. 9 f.

160

2. Teil: Das Vertragsverletzungsverfahren

Grundsätzlich wurde die Prioritätensetzung der Kommission im Schrifttum aus politischen Gründen mit Verweis auf den in Art. 5 I 2, III AEUV verankerten Subsidiaritätsgrundsatz positiv bewertet.275 Fraglich ist jedoch, ob die Kommission an ihre Prioritätensetzung auch rechtlich gebunden ist und insoweit eine Einschränkung ihres Ermessensspielraums vorgenommen hat. Da sie sich ihre Handlungsprioritäten in einem informellen, kommissionsinternen Prozess selbst gesetzt hat, stellen die diesbezüglichen Mitteilungen der Kommission jedenfalls keine EU-Akte mit Gesetzgebungscharakter i. S. d. Art. 288 II–IV AEUV dar, zu deren Erlass ein ordentliches oder besonderes Rechtsetzungsverfahren gemäß Art. 289 III i. V. m. 294 AEUV unter Beteiligung von Rat und Parlament erforderlich gewesen wäre.276 Ob Kommis­ sionsmitteilungen als Handlungsformen jenseits des nach herrschender Auffassung nicht abschließenden Katalogs des Art. 288 AEUV277 Rechtswirkungen erzeugen sollen, muss anhand ihres jeweiligen Inhalts beurteilt werden.278 Lässt dessen Auslegung den kommissionseigenen Willen erkennen, sich zur Einhaltung der selbst festgelegten Handlungsmaßstäbe zu verpflichten, können bei entsprechender Kompetenzgrundlage auch Mitteilungen über ihren informatorisch „mitteilenden“ Gehalt hinaus unmittelbare Rechtswirkungen entfalten.279 Im Übrigen käme vermittelt über die Konstruktion der unionsrechtlichen Grundsätze des Vertrauensschutzes und der Gleichbehandlung auch eine Einschränkung des Kommissionsermessens im Wege der Selbstbindung in Betracht.280 Aus kompetenzrechtlicher Perspektive stünde einer unmittelbar rechtswirksamen Beschränkung eigener Ermessensspielräume prinzipiell nichts entgegen. Dass sich konkrete Handlungspflichten aus der Bestimmung prioritärer Fallgruppen im Verfahren gemäß Art. 258 ff. AEUV ergeben sollen, ist jedoch nicht ersichtlich. Während eine bloße Berücksichtigungspflicht EuR 2019, 557 (559). zur Unterscheidung zwischen Rechtshandlungen mit und ohne Gesetzgebungscharakter: Nettesheim, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der EU, 73. EL 2021, Art. 290  AEUV Rn. 2; Schroeder, in: ­Streinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 288 AEUV Rn. 3. 277  Schroeder, in: ­Streinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 288 AEUV Rn. 2. 278  Vgl. EuGH, 22/70, Kommission/Rat der EG, Slg. 1971, 263 (Rn. 44/45 ff.). 279  Härtel, Hdb. Europäische Rechtsetzung, 2006, § 13 Rn. 32. 280  Zur Selbstbindung der Kommission: EuGH, Rs. C-288/96, Deutschland/Kommission, Slg. 2000, I-8237 (Rn. 62); Rs. C-171/00 P, Libéros/Kommission, Slg. 2002, I-451 (Rn. 35); verb. Rsen. C-189/02 P, C-202/02 P, C-205/02 P bis C-208/02 P und C-213/02 P, Dansk Rørindustri u. a./Kommission, Slg. 2005, I-5425 (Rn. 209 ff.); EuG, Rs. T-73/04, Carbone-Lorraine/Kommission, Slg. 2008, II-2661 (Rn. 70 f.); Rs. T-304/08, Smurfit Kappa Group plc/Kommission, ECLI:EU:T:2012:351 (Rn. 84); Frenz, WRP 2010, 224 (225 ff.); von Graevenitz, EuZW 2013, 169 (171); Soltész, EuZW 2013, 881 (882). 275  Wunderlich, 276  Vgl.



B. Funktionsweise und Durchsetzungskraft161

des Prioritätscharakters in der Praxis kaum überprüft werden könnte, würde etwa ein Verbot, potenzielle Vertragsverletzungen mit niederem Status zu verfolgen, solange gleichzeitig die Bearbeitung prioritärer Angelegenheiten aussteht, die politische Flexibilität der Kommission zu weit beschränken. Darüber hinaus lässt sich auch der Textgestaltung kein Bindungswille entnehmen. Inhaltlich entspricht der Charakter selbst gesetzter Prioritäten einer unverbindlichen Absichtserklärung. Insbesondere lassen sich Mitteilungen mit rein informatorischem Gehalt im Zusammenhang mit der Funktionsweise des Vertragsverletzungsverfahrens teleologisch erklären. Dass die Kommission ihre interne Vorgehensweise offenlegt, folgt einerseits der Bestrebung, interne Arbeitsvorgänge transparent zu gestalten. Andererseits zeigt die Priorisierung, wo die Kommission beim Vollzug des EU-Rechts besondere Sorgfalt verlangt. Indem sie ihre Vorgehensweise sowie die damit verbundenen Wertungen offenlegt, trägt sie dazu bei, Mitgliedstaaten für bestimmte Fallgruppen zu sensibilisieren und die einschüchternde Wirkung des Vertragsverletzungsverfahrens zu steigern bzw. auf Prioritätskonstellationen zu konzentrieren. Rechtswirksamer Selbstbeschränkungen bedarf es dazu nicht. Da das auf Kooperation angewiesene Vertragsverletzungsverfahren zur effektiven Nutzung im Einzelfall strategisch motivierte oder politisch feinfühlige Entscheidungen erfordern kann, besteht kein Grund zu der Annahme, dass die Kommission ihre Handlungsspielräume gegenüber den Mitgliedstaaten an abstrakt formulierte Prioritäten binden wollte. Gegen die Rechtsverbindlichkeit spricht im Übrigen auch die Veröffent­ lichung der maßgeblichen Mitteilungen in der Abteilung C des Amtsblattes, in der unverbindliche Handlungen jenseits der in Art. 288 AEUV genannten Handlungsformen regelmäßig publiziert werden.281 Soweit die Kommission also mitteilt, welchen Vertragsverletzungen sie vorrangig nachgehen wird, trifft sie allgemeine Aussagen mit Informationscharakter, die sich in ihrer faktisch-politischen Wirkungsdimension erschöpfen. Vor diesem Hintergrund beschränkt die Prioritätensetzung der Kommission das ihr eingeräumte Ermessen auch nicht mittelbar. Zwar unterliegt die Kommission bei der Ermessensausübung den Bindungen der unionsrechtlichen Grundsätze des Vertrauensschutzes und der Gleichbehandlung. Mit Blick auf ihre offenkundig rein transparenzfördernde Intention eignen sich die einschlägigen Kommissionsmitteilungen aber nicht dazu, den Mitgliedstaaten schützenswertes Vertrauen in ein bestimmtes Entscheidungsverhalten zu vermitteln, so dass höchstens

281  Vgl.

Rn. 2.

dazu: Schroeder, in: S ­ treinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 288 AEUV

162

2. Teil: Das Vertragsverletzungsverfahren

der Grundsatz der Gleichbehandlung zu einer gewissen Verdichtung des Kommissionsermessens führen könnte.282 d) Exkurs: Die Rolle der Kommission im Verfahren nach Art. 259 AEUV Auch im Rahmen des Vertragsverletzungsverfahrens nach Art. 259 AEUV kommt der Kommission eine tragende Rolle zu. Möchte ein Staat vor dem EuGH Klage erheben, muss er gemäß Art. 259 II AEUV ein kontradiktorisches Vorverfahren283 durchführen, an dem die Kommission zu beteiligen ist. Anders als im Aufsichtsverfahren tritt sie hier nicht als Anklägerin auf, sondern erfüllt die Funktion einer Schiedsrichterin,284 die den beteiligten Staaten gleichermaßen Gelegenheit zur Äußerung gewährt, zwischen ihnen vermittelt und im Falle eines unbegründeten Vorwurfs darauf hinwirkt, dass der Mitgliedstaat seine Klage nicht weiterverfolgt.285 Die Kommission als Dritte in das Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 259 AEUV einzubeziehen dient nicht zuletzt dazu, sie von bisher unentdeckten Vertragsverletzungen in Kenntnis zu setzen, so dass sie ihrer Aufgabe als Hüterin der Verträge und Kontrollinstanz bei Bedarf auch in eigener Initiative nachgehen kann.286 So ist sie nicht gehindert, neben dem Verfahren nach Art. 259 AEUV selbst ein Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 258 AEUV zu eröffnen.287 Gemäß Art. 259 III AEUV kann die Kommission eine begründete Stellungnahme abgeben; sieht sie davon ab, bleibt das Klagerecht des jeweiligen Mitgliedstaates aber unberührt. Die Stellungnahme stellt folglich keine Sachentschei-

282  Anders wohl die sehr großzügige Rechtsprechung des EuGH, wonach es der Kommission sogar freistehen soll, ein Vertragsverletzungsverfahren lediglich gegen bestimmte Mitgliedstaaten, die sich hinsichtlich der Einhaltung des Gemeinschaftsrechts in einer vergleichbaren Lage befinden, einzuleiten und für die Einleitung gegen andere Mitgliedstaaten bis zum Abschluss dieser Verfahren abzuwarten: EuGH, Rs. C-531/06, Kommission/Italien, Slg 2009, I-4103 (Rn. 24); Verstöße gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz ebenfalls ablehnend: EuGH, Rs. C-79/94, Kommission/ Griechenland, Slg. 1995, I-1082 (Rn. 10); Rs. C-304/02, Kommission/Frankreich, Slg. 2005, I-6318 (Rn. 86). 283  Karpenstein, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der EU, 73. EL 2021, Art. 259 AEUV Rn. 23. 284  Ehlers, Jura 2007, 684 (687); Ehricke, in: ­ Streinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 259 AEUV Rn. 4; Pechstein, EU-Prozessrecht, 4. Auflage 2011, Rn. 326. 285  Burgi, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, Hdb. des Rechtsschutzes in der EU, 3. Auflage 2014, § 6 Rn. 3. 286  Ehricke, in: ­Streinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 259 AEUV Rn. 4, 12. 287  Cremer, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 6. Auflage 2022 Art. 259 AEUV Rn. 4; Pechstein, EU-Prozessrecht, 4. Auflage 2011, Rn. 259.



B. Funktionsweise und Durchsetzungskraft163

dungsvoraussetzung dar, sondern ermöglicht lediglich eine „gutachterliche Äußerung zum Streitgegenstand“.288 2. Einfluss auf den Entscheidungsinhalt Neben ihrem Einfluss auf den prozeduralen Ablauf verfügt die Kommission auch über gewisse Möglichkeiten, den materiellen Inhalt des Vertragsverletzungsurteils nach Art. 260 I AEUV sowie des Sanktionsurteils gemäß Art. 260 II UAbs. 2 AEUV mitzugestalten. a) Einfluss auf den Inhalt des Vertragsverletzungsurteils nach Art. 260 I AEUV Zwar ist die Beurteilung, ob ein Mitgliedstaat gegen Unionsrecht verstoßen hat dem EuGH vorbehalten. Die Kommission legt jedoch von vornherein fest, mit welchen Durchführungsmaßnahmen sich der EuGH zu befassen hat. Der Gegenstand des Erstverfahrens wird bereits mit Eröffnung der formellen außergerichtlichen Verfahrensphase durch den Inhalt des Mahnschreibens determiniert.289 Kann die Kommission ihre Bedenken in dieser frühen Verfahrensphase nur oberflächlich artikulieren, konturiert sie zunächst die äußeren Grenzen des Verfahrensgegenstandes; da das Mahnschreiben nur in einer ersten Zusammenfassung der Vorwürfe besteht, sind an den Detaillierungsgrad keine zu hohen Anforderungen zu stellen.290 Ihre Ausführungen kann die Kommission im Rahmen der mit Gründen versehenen Stellungnahme oder bei Klageerhebung noch präzisieren.291 Da dem Mitgliedstaat gemäß Art. 258 I Hs. 2 AEUV bei Verfahrensbeginn aber Gelegenheit zur Äußerung gegeben werden muss, kann sie Konkretisierungen nur innerhalb des inhaltlichen Rahmens vornehmen, den sie durch das verfahrenseröffnende Mahn-

288  Ehricke, in: S ­ treinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 259 AEUV Rn. 9; Karpenstein, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der EU, 73. EL 2021, Art. 259 AEUV Rn. 16; Pechstein, EU-Prozessrecht, 4. Auflage 2011, Rn. 329. 289  EuGH, Rs. C-341/97, Kommission/Niederlande, Slg. 2000, I-6611 (Rn. 17); Rs. C-191/95, Kommission/Deutschland, Slg. 1998, I-5449 (Rn. 55); Rs. C-230/99, Kommission/Frankreich, Slg. 2001, I-1169 (Rn. 31); Ehlers, Jura 2007, 684 (686); Sobotta, ZUR 2008, 72 (72). 290  EuGH, Rs. C-279/94, Kommission/Italien, Slg. 1997, I-4743 (Rn.  15); Rs. C-191/95, Kommission/Deutschland, Slg. 1998, I-5449 (Rn. 54); Ehricke, in: ­­Streinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 258 AEUV Rn. 19. 291  Vgl. zu den Anforderungen an eine mit Gründen versehene Stellungnahme: Ehricke, in: S ­ treinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 258 AEUV Rn. 23; Sobotta, ZUR 2008, 72 (72).

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2. Teil: Das Vertragsverletzungsverfahren

schreiben gesetzt hat. Das rechtliche Gehör bestimmt somit das Maß, in dem der Verfahrensgegenstand zulässigerweise konkretisiert werden darf.292 Im weiteren Verfahrensverlauf gilt der Kontinuitätsgrundsatz, wonach der Verfahrensgegenstand in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht niemals weitergehen kann als in der vorangegangenen Verfahrensphase.293 Möchte die Kommission den Gegenstand eines Vertragsverletzungsverfahrens auf neue Maßnahmen ausdehnen oder sieht sie weitere Unionsrechtssätze verletzt, muss sie ein neues Mahnschreiben versenden, um dem betroffenen Staat die Möglichkeit zu eröffnen, eine korrespondierende Verteidigungsstrategie zu entwickeln und sich zu den Vorwürfen zu äußern.294 Soweit Art. 258 I AEUV ein Vorverfahren explizit verlangt, kann auch der EuGH nicht einfach auf Teile der außergerichtlichen Verfahrensphase verzichten und den Verfahrensgegenstand eigenmächtig erweitern, ohne selbst gegen Unionsrecht zu verstoßen. Der AEUV normiert insoweit eine wesentliche Garantie zu Gunsten der betroffenen Mitgliedstaaten.295 Eine Einschränkung des Verfahrensgegenstands ist mit Blick auf das mitgliedstaatliche Recht auf rechtliches Gehör und den im AEUV beschriebenen Verfahrensvorgaben indes unbedenklich.296 b) Einfluss auf den Inhalt des Sanktionsurteils gemäß Art. 260 II AEUV Über Möglichkeiten zur Beeinflussung des abschließenden Urteilsinhalts verfügt die Kommission auch im Zweitverfahren. Zwar liegt die Verhängungsbefugnis für Pauschalbeträge und Zwangsgelder nach Art.  260 II UAbs. 2 AEUV beim EuGH, der Kommission steht gemäß Art. 260 II UAbs. 1, III UAbs. 1 AEUV aber eine Benennungsbefugnis hinsichtlich der Art und Höhe finanzieller Sanktionen zu.297 Strittig ist in diesem Zusammenhang, ob die Kommission in jedem Zweitverfahren dazu verpflichtet ist, eine 292  Vgl. Dörr/Lenz, Europäischer Verwaltungsrechtsschutz, 2.  Auflage 2019, Rn. 65; Ehlers, Jura 2007, 684 (686); Pechstein, EU-Prozessrecht, 4. Auflage 2011, Rn. 267. 293  Cremer, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 6. Auflage 2022, Art. 258 AEUV Rn. 30; Ehricke, in: ­Streinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 258 AEUV Rn. 25. 294  EuGH, Rs. C-365/97, Kommission/Italien, Slg. 1999, I-7773 (Rn.  23); Rs. C-191/95, Kommission/Deutschland, Slg. 1998, I-5449 (Rn. 55); Rs. C-230/99, Kommission/Frankreich, Slg. 2001, I-1169 (Rn. 31); Ehlers, Jura 2007, 684 (686); Ehricke, in: S ­ treinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 258 AEUV Rn. 20. 295  EuGH, Rs. C-365/97, Kommission/Italien, Slg. 1999, I-7773 (Rn. 23). 296  EuGH, Rs. 203/03, Kommission/Österreich, Slg. 2005, I-935 (Rn.  29); Rs. C-177/04, Kommission/Frankreich, Slg. 2006, I-2461 (Rn. 37); Ehlers, Jura 2007, 684 (686). 297  Thiele, EuR 2008, 320 (329).



B. Funktionsweise und Durchsetzungskraft165

oder mehrere Sanktionen zu beantragen oder ob sie nach eigenem (Entschließungs-)Ermessen auch davon absehen könnte. Gemäß Art. 260 II UAbs. 1 S. 2 AEUV „benennt“ die Kommission Pauschalbeträge oder Zwangsgelder betragsmäßig. Vergleichbare imperative Formulierungen finden sich etwa in den italienischen („precisa“), spanischen („indicará“) und französischen („indique“) Fassungen des Vertragstexts, so dass eine Verpflichtung zur Beantragung finanzieller Sanktionen im Verlauf eines Zweitverfahrens zu bestehen scheint.298 Auch der Gegenschluss zu Fällen der Nichtmitteilung, in denen die Kommission finanzielle Sanktionen nach Maßgabe des mit dem Vertrag von Lissabon neu eingeführten Art. 260 III UAbs. 1 AEUV bereits im Erstverfahren beantragen „kann […], wenn sie dies für zweckmäßig hält“, spricht für eine Vorschlagspflicht im regulären Zweitverfahren. Dass der Wortlautauslegung nicht zu viel Bedeutung beigemessen werden darf, verdeutlicht indes Art. 258 I Hs. 1 AEUV, der zwar ebenfalls im Imperativ formuliert ist, nach Auffassung des EuGH sowie der heute herrschenden Lehre aber keine Pflicht zur Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens begründet.299 Sowohl der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz als auch der Effektivitätsgedanke sprechen wiederum gegen eine Pflicht – etwa in minder schweren Fällen oder bei geringer Wahrscheinlichkeit eines wiederholten Verstoßes – finanzielle Sanktionen vorzuschlagen. Zwar wird in der Literatur zum Teil vorgetragen, die Kommission könne in ungeeigneten Fällen auch gleich von der Eröffnung eines Zweitverfahrens absehen, so dass sie auch im Fall einer Vorschlagspflicht über ausreichende Möglichkeiten verfüge, den Umständen des Einzelfalls flexibel Rechnung zu tragen.300 Diese Argumentation verkennt jedoch, dass die unionsgerichtliche Feststellung der Nichtbefolgung eines ersten Vertragsverletzungsurteils und der damit einhergehende politische Ansehensverlust auch ohne finanzielle Sanktionen zur Korrektur der Vertragsverletzung verhelfen können. In diesem Sinne hat sich der EuGH etwa in der Rs. C-119/04 (Kommission/Italien)301 im Zweiturteil auf die Feststellung einer erneuten Vertragsverletzung beschränkt, obwohl die Kommission die Verhängung eines Zwangsgeldes gefordert hatte. Der Kommission bei der Beantragung finanzieller Sanktionen nicht nur ein Auswahl- sondern auch ein Entschließungsermessen zuzuerkennen, würde also einen ange298  Thiele, EuR 2008, 320 (327); für eine Vorschlagspflicht auch: Karpenstein, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der EU, 73. EL 2021, Art. 260 AEUV Rn. 33; Wunderlich, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht, 7. Auflage 2015, Art. 260 AEUV Rn. 20. 299  Dazu: 2. Teil, B. V. 1. c) aa). 300  Vgl. Thiele, EuR 2008, 320 (328). 301  EuGH, Rs. C-119/04, Kommission/Italien, Slg. 2006, I-6885 (Rn. 46).

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2. Teil: Das Vertragsverletzungsverfahren

messenen und differenzierten Einsatz des ihr mit Art. 260 II UAbs. 1 AEUV zur Verfügung gestellten Vollzugskontrollinstrumentariums ermöglichen, der ihrer politisch und rechtlich komplexen Aufgabe als Hüterin der Verträge entspricht. Die imperative Gestaltung des Vertragstexts ist deshalb dahingehend zu verstehen, dass sich die Kommission im Fall einer Klageerhebung im Zweitverfahren zwar zu Sanktionen und Höhe äußern muss, mit entsprechender Begründung kann sie aber von einem Sanktionsantrag absehen.302 In diesem Sinne hatte auch die Kommission in ihrer ersten Mitteilung über die Anwendung von Art. 171 EGV im Jahr 1996 betont, dass sie nicht in allen Fällen die Verhängung von Sanktionen beantragen müsse.303 Der Vorschlag der Kommission stellt nach Auffassung des Gerichtshofs einen nützlichen, aber unverbindlichen Bezugspunkt dar.304 Zwar wurde unter Hinweis auf den zivilprozessualen Grundsatz ne ultra petita von Teilen der Literatur angenommen, der EuGH dürfe lediglich zu Gunsten des betroffenen Mitgliedstaates vom Vorschlag der Kommission abweichen, nicht aber darüber hinausgehen.305 Das Sanktionsverfahren nach Art. 260 II AEUV lässt sich mit einem Zivilverfahren aber nicht vergleichen.306 Mag die Kommission im Vertragsverletzungsverfahren im kontradiktorischen Sinne die Rolle der Klägerin einnehmen, zielt das Sanktionsverfahren des AEUV aber gerade nicht darauf ab, Ansprüche gerichtlich geltend zu machen. Vielmehr dient es dazu, den betroffenen Mitgliedstaat durch wirtschaftlichen Zwang zur Befolgung des Ersturteils i. S. v. Art. 260 I AEUV zu veranlassen.307 Es handelt sich um ein „besonderes gerichtliches Verfahren der Urteilsvollstreckung“308 und damit um ein Verfahren sui generis.309 Zum selben Ergebnis gelangt man über einen Gegenschluss zu Art. 260 III UAbs. 2 S. 1 AEUV, wonach der Gerichtshof finanzielle Sanktionen im Erstverfahren nur „bis zur Höhe des 302  So auch: Borchardt, in: Dauses/Ludwigs, Hdb. des EU-Wirtschaftsrechts, 53. EL 2021, P.I. Rn. 52; Klieve, EuR 2006, 399 (414). 303  KOM, Mitteilung über die Anwendung von Artikel 171 EG-Vertrag, ABl. 1996 Nr. C 242, S. 7. 304  EuGH, Rs. C-387/97, Kommission/Griechenland, Slg. 2000, 5047 (Rn. 89); Rs. C-304/02, Kommission/Frankreich, Slg. 2005, I-6263 (Rn. 103); Thiele, EuR 2008, 320 (329). 305  Middeke/Szczekalla, JZ 1993, 284 (287); Wägenbaur, in: Due/Lutter/Schwarze, FS für Everling, Bd. II, 1995, S. 1621. 306  EuGH, Rs. C-304/02, Kommission/Frankreich, Slg. 2005, I-6263 (Rn. 91); Thiele, EuR 2008, 320 (329 f.). 307  EuGH, Rs. C-304/02, Kommission/Frankreich, Slg. 2005, I-6263 (Rn. 91); im Ergebnis auch: Karpenstein, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der EU, 73. EL 2021, Art. 260 AEUV Rn. 54. 308  EuGH, Rs. C-387/97, Kommission/Griechenland, Slg. 2000, I-5047, Schlussanträge des Generalanwalts Ruiz-Jarabo Colomer, Rn. 33, 42. 309  Thiele, EuR 2008, 320 (330).



B. Funktionsweise und Durchsetzungskraft167

von der Kommission genannten Betrags“ verhängen kann. Für das Zweitverfahren sieht der Vertragstext gerade keine vergleichbare Beschränkung vor.310 Obwohl die Kommission lediglich unverbindliche Sanktionsvorschläge äußern und somit nicht unmittelbar an der inhaltlichen Gestaltung des Sanktionsurteils mitwirken kann, liefert sie dem EuGH in der Praxis eine wichtige Entscheidungsgrundlage, an der er sich bei der Verhängung und Bezifferung von Pauschalbeträgen und Zwangsgeldern oft orientiert.311 Auf diese Weise nimmt sie immerhin faktischen Einfluss darauf, ob und in welcher Höhe einem im Zweitverfahren zu verurteilenden Mitgliedstaat Zahlungspflichten gemäß Art. 260 II UAbs. 2, III UAbs. 2 AEUV auferlegt werden. 3. Auswertung Der EuGH mag die verantwortliche Letztentscheidungsinstanz darstellen, die Kommission bildet jedoch den Dreh- und Angelpunkt des Vertragsverletzungsverfahrens. Ihr Aktionsschwerpunkt liegt vor allem auf dem prozeduralen Aspekt. Bis zur Klageerhebung vor dem EuGH steht der Verfahrensablauf allein im Ermessen der Kommission, die insoweit als Herrin des Verfahrens nicht nur über die Verfahrenseröffnung, sondern auch über dessen Fortgang und die Dauer der einzelnen Verfahrensschritte entscheidet. Zwar trägt sie durch die Veröffentlichung von Mitteilungen zur Verfahrenstransparenz bei. Der EuGH hat eine Kontrolle ihrer Ermessensausübung allerdings stets verweigert, so dass die Kommission ihre Entscheidungsbefugnisse im Vertragsverletzungsverfahren weitgehend312 unkontrolliert ausübt.313 Die Rolle der Kommission beschränkt sich in Anbetracht ihrer vielfältigen Einflussmöglichkeiten nicht darauf, den EuGH bei seinen Entscheidungen durch vorbereitende Verfahrensschritte zu entlasten. Vielmehr übt sie als Zentralgestalt in einer starken politischen und rechtlichen Stellung neben prozeduralen Entscheidungsbefugnissen auch Einfluss auf den Inhalt unionsgerichtlicher Feststellungs- und Sanktionsentscheidungen aus. Indem sie bereits mit Versendung des Mahnschreibens die äußeren Konturen des Verfahrensgegenstands festlegt, stellt die Kommission von Anfang an die Weichen für die Urteile des EuGH. 

EuR 2008, 320 (330); Thiele, EuR 2010, 30 (35). 2. Teil, B. IV. 2. b). 312  Zur Rolle des Europäischen Bürgerbeauftragten: 2. Teil, C. I. 3. b). 313  Kritisch vor allem zur Qualität und Aussagekraft der Jahresberichte der Kommission über ihre Verfolgungspraxis: Smith, ELRev 2008, 777 (784 ff.). 310  Thiele, 311  Dazu:

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2. Teil: Das Vertragsverletzungsverfahren

a) Investigationsaufgabe Da die Kommission im Vertragsverletzungsverfahren bis hin zur Klage vor dem EuGH über jeden Verfahrensschritt gesondert entscheidet und im gerichtlichen Verfahren die Beweislast für das Vorliegen der Vertragsverletzung trägt, tritt sie dem betroffenen Mitgliedstaat zunächst in der Rolle einer Investigationsinstanz gegenüber, die bereits vor Versendung des verfahrenseröffnenden Mahnschreibens darum bestrebt ist, Informationen über staatliche Vollzugsleistungen zu sammeln und auszuwerten. Da auch die Nichtmitteilung nationaler Vollzugsmaßnahmen vor dem Hintergrund unionsrechtlicher Notifizierungspflichten sowie des Grundsatzes der loyalen Zusammenarbeit Anknüpfungspunkt für ein Vertragsverletzungsverfahren sein kann, kann sich der Mitgliedstaat nicht durch Schweigen aus der Affäre ziehen. Will er die Einleitung formeller Verfahrensschritte vermeiden, muss er die Kommission von der Unionsrechtmäßigkeit seines Verhaltens überzeugen oder den nationalen Unionsrechtsvollzug ihren Vorstellungen anpassen; in jedem Fall muss er sich mit der Kommission auseinandersetzen. Selbst im Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 259 AEUV führt kein Weg an ihr vorbei. Aus der prozeduralen Schlüsselstellung der Kommission ergibt sich somit eine übergeordnete Position, in der sie den Mitgliedstaaten ähnlich wie ein Staatsanwalt dem Beschuldigten im Rahmen eines strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens begegnet. b) Kommunikationsaufgabe Neben ihrer Investigationsaufgabe kommt der Kommission auch eine Kommunikationsaufgabe zu. So beschränkt sie sich im unmittelbaren Kontakt zu den Mitgliedstaaten nicht darauf, unionsrechtswidrig handelnde Hoheitsträger zu „überführen“. Vorrangig wirkt sie darauf hin, ein Verfahren vor dem EuGH einvernehmlich abzuwenden, indem sie dem Mitgliedstaat ihre Erwartungshaltung und Sichtweise kommuniziert. Die Kommission verfügt insoweit über eine ambivalente Autorität, die nicht nur aus ihren prozeduralen Entscheidungsbefugnissen, sondern auch aus dem Fehlen materieller Letztentscheidungskompetenzen resultiert – eine Kombination, die sich positiv auf das Verfahrensklima auswirken kann. Einerseits hat der betroffene Mitgliedstaat im Dialog mit der Kommission keine unmittelbaren rechtlichen Nachteile zu fürchten, so dass eine kooperative Auseinandersetzung unter moderatem politischem Druck möglich bleibt. Andererseits nimmt die Kommission eine zentrale Verfahrensstellung ein, die sie in die Position einer ernstzunehmenden Gesprächspartnerin versetzt.



B. Funktionsweise und Durchsetzungskraft169

c) Selektionsaufgabe Aus ihren Ermessensspielräumen ergibt sich schließlich eine Selektionsaufgabe, mit der die Kommission nicht nur Effektivitäts- und Verhältnismäßigkeitserwägungen, sondern auch einzelfallbezogenen politischen Umständen Rechnung tragen kann. Jede Verfahrensphase fordert eine aktive Entscheidung. Damit bleibt gewährleistet, dass der EuGH nur mit Angelegen­ heiten befasst wird, in denen ein Urteil effektiv zur Durchsetzung des EU-Rechts beitragen kann und nicht mit Bagatellen überlastet wird. Weiterhin steht es der Kommission frei, der Verfolgung bestimmter Vertragsverletzungen Priorität einzuräumen und so sicherzustellen, dass besonders dringende und schwerwiegende Fälle schneller und intensiver bearbeitet werden.

VI. Schwachstellen des Vertragsverletzungsverfahrens Wie die Ausführungen im Rahmen dieses Kapitels gezeigt haben, zeichnet sich das Kontrollinstrumentarium der Art. 258 ff. AEUV vor allem durch seine mehrfach gestufte Verfahrensstruktur sowie die zentrale Stellung der Kommission aus. Im Zweitverfahren nach Art. 260 II AEUV bietet die Verhängung finanzieller Sanktionen durch den EuGH eine prinzipiell effektive Möglichkeit, unionsrechtliche Vorgaben in den Mitgliedstaaten durchzusetzen. Da das Vertragsverletzungsverfahren aber von der Prämisse eines gemeinsamen europäischen Integrationswillens ausgeht, würde seine Durchschlagskraft an ihre Grenzen stoßen, sobald sich ein Mitgliedstaat der Autorität der EU-Organe endgültig widersetzen würde. Das Fehlen weiterer In­ strumente zur Vollstreckung unionsgerichtlicher Sanktionsurteile könnte sich vor diesem Hintergrund als Schwachstelle erweisen. Da eine absolute Verweigerung, unionsgerichtlichen Urteilen Folge zu leisten aber den der EU zugrunde liegenden Konsens in seiner Gesamtheit in Frage stellen würde, wären fehlende Instrumente zur zwangsweisen Beitreibung von Pauschalbeträgen oder Zwangsgeldern nur die Konsequenz eines weitaus tiefgreifenderen Problems. Doch auch unabhängig vom Worst-Case-Szenario einer mitgliedstaatlichen Totalverweigerung bietet das Vertragsverletzungsverfahren keine optimale Lösung, um die Durchführung des EU-Umweltrechts in den Mitgliedstaaten sicherzustellen. Im Folgenden sollen nun diejenigen Schwachstellen genauer betrachtet werden, die die Effektivität des Vertragsverletzungsverfahrens auch in einer grundsätzlich intakten EU, in der die Autorität des EuGH anerkannt wird, in Frage stellen können.

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2. Teil: Das Vertragsverletzungsverfahren

1. Informations- und Überwachungsdefizite Bevor die Kommission mit Hilfe des Vertragsverletzungsverfahrens gegen staatliche Durchführungsdefizite vorgehen kann, muss sie von der vermeintlichen Vertragsverletzung und ihren Umständen zunächst Kenntnis erlangen. Da sie im Vertragsverletzungsverfahren die Beweislast für das Vorliegen eines Unionsrechtsverstoßes trägt,314 ist der Zugriff auf eine zuverlässige und umfassende Informationsgrundlage für eine effektive Vollzugskontrolltätigkeit von entscheidender Bedeutung. Um den relevanten Sachverhalt in Fällen mit Umweltbezug aufzuklären, kann die Kommission zwei Arten von Informationen nutzen: Einerseits bieten Informationen über mitgliedstaatliche Umsetzungs- und Anwendungsmaßnahmen direkte Einblicke in die nationalen Vollzugsbemühungen. Andererseits können Informationen über die Umweltqualität, Umweltbelastungen und Umweltempfindlichkeiten315 – sog. Umweltdaten – wertvolle Rückschlüsse auf die Vollzugssituation in den Mitgliedstaaten zulassen.316 Da ungesicherte Informationsbestände gerade im Umweltbereich Probleme bereiten, überrascht es nur wenig, dass sich dieses Informationsdefizit auch auf die Vollzugskontrolltätigkeit der Kommission auswirkt. Erschwerend kommt hinzu, dass der Kommission aktive und passive Investigationsbefugnisse nur in sehr eingeschränktem Umfang zur Verfügung stehen. a) Aktive Investigation: Auskunftsrechte und Inspektionsbefugnisse Im Verhältnis zu den Mitgliedstaaten, die mit der Durchführung des EUUmweltrechts betraut sind, ist die Kommission weder Fach- noch Rechtsaufsichtsbehörde. Über Weisungsbefugnisse gegenüber nationalen Stellen verfügt sie nicht.317 Aktive Investigationskompetenzen, die es ihr ermöglichen würden, selbst im Hinblick auf eine potenzielle Vertragsverletzung Ermittlungen anzustellen, kommen ihr zumindest im Umweltsektor kaum zu.318 314  EuGH, Rs. C-217/97, Kommission/Deutschland, Slg. 1997, I-5087 (Rn. 22); Rs. 96/81, Kommission/Niederlande, Slg. 1982, 1791 (Rn. 6); Hedemann-Robinson, Enforcement of European Union Environmental Law, 2. Edition 2015, S. 72. 315  Sommer, Verwaltungskooperation am Beispiel administrativer Informationsverfahren im Europäischen Umweltrecht, 2003, S. 218. 316  Albin, Die Vollzugskontrolle des europäischen Umweltrechts, 1999, S. 245. 317  Bergmann, Handlexikon der EU, 6. Auflage 2021, Unionsrechtsvollzug; Sommer, in: Schmidt-Aßmann/Schöndorf-Haubold, Der Europäische Verwaltungsverbund, 2005, S. 67; Sommer, Verwaltungskooperation am Beispiel administrativer Informa­ tionsverfahren im Europäischen Umweltrecht, 2003, S. 508; Stettner, in: Dauses/ Ludwigs, Hdb. des EU-Wirtschaftsrecht, 53. EL 2021, B.III. Rn. 53. 318  Zu Aufsichtsbefugnissen in anderen Politikbereichen vgl. etwa: Kahl, Der Staat 2011, 353 (374 ff.).



B. Funktionsweise und Durchsetzungskraft171

Maßgeblich sind insoweit die sekundärrechtlich eingeräumten Befugnisse; aus dem in Art. 17 I 2 EUV verankerten Vollzugskontrollauftrag lassen sich indes weder konkrete Investigationsrechte der Kommission noch rechtliche Handlungspflichten der Mitgliedstaaten herleiten.319 Um im Zusammenhang mit konkreten Fragestellungen an Informationen zu gelangen, räumen zahlreiche Sekundärrechtsakte im Umweltbereich der Kommission einzelfallbezogene Auskunfts- oder Informationszugangsrechte ein.320 Der Terminus Auskunft wird in den betreffenden Rechtsakten nicht zwangsläufig verwendet. Stattdessen kann auch die Rede davon sein, der Kommission „auf Anfrage“321 oder „auf Antrag“322 bestimmte Informationen „zugänglich machen“ zu müssen. Kennzeichnend für Auskunfts- und Informationszugangsrechte ist, dass die Kommission nicht nur als passive Informationsempfängerin auftritt, sondern selbst durch konkrete Ersuchen die Ini­tiative ergreifen und damit gezielt Informationen einholen kann.323 Ein grundsätzlich wichtiges Instrument für die Ermittlung von Unionsrechtsverstößen ist die Durchführung einzelfallbezogener oder regelmäßig stattfindender Kontrollen vor Ort. Anders als etwa im Wettbewerbs- und Beihilfenrecht324 oder im Bereich der Fischereipolitik325 kommen der KomUmweltrecht der EU, 4. Auflage 2019, S. 80 f. Die integrierte Umweltverwaltung in der Europäischen Union, 2013, S.  217 f.; Sommer, Verwaltungskooperation am Beispiel administrativer Informationsverfahren im Europäischen Umweltrecht, 2003, S. 105. 321  Vgl. z. B. Art. 15 IV der Richtlinie 91/271/EWG des Rates vom 21. Mai 1991 über die Behandlung von kommunalem Abwasser, ABl. 1991, Nr. L 135, S. 40 ff. 322  Vgl. z.B. Art. 9 V der Richtlinie 91/414/EWG des Rates vom 15. Juli 1991 über das Inverkehrbringen von Pflanzenschutzmitteln, ABl. 1991, Nr. L 230, S. 1 ff., aufgehoben durch die Verordnung (EG) Nr. 1107/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. Oktober 2009 über das Inverkehrbringen von Pflanzenschutzmitteln und zur Aufhebung der Richtlinien 79/117/EWG und 91/414/EWG des Rates, ABl. 2009, Nr. L 309, S. 1 ff. 323  Zur Abgrenzung zwischen Auskunfts- und Unterrichtungspflichten: Latour, Die integrierte Umweltverwaltung in der Europäischen Union, 2013, S. 218. 324  Vgl. die Auskunftsverlangen (Art. 18), Befragungsrechte (Art. 19) und Nachprüfungsbefugnisse (Art. 20, 21) der Verordnung (EG) Nr. 1/2003 des Rates vom 16. Dezember 2002 zur Durchführung der in den Artikeln 81 und 82 des Vertrags niedergelegten Wettbewerbsregeln, ABl. 2003, Nr. L 1, S. 1 ff. 325  Vgl. Art. 97 ff. Verordnung (EG) Nr. 1224/2009 des Rates vom 20. November 2009 zur Einführung einer gemeinschaftlichen Kontrollregelung zur Sicherstellung der Einhaltung der Vorschriften der gemeinsamen Fischereipolitik und zur Änderung der Verordnungen (EG) Nr. 847/96, (EG) Nr. 2371/2002, (EG) Nr. 811/2004, (EG) Nr. 768/2005, (EG) Nr. 2115/2005, (EG) Nr. 2166/2005, (EG) Nr. 388/2006, (EG) Nr. 509/2007, (EG) Nr. 676/2007, (EG) Nr. 1098/2007, (EG) Nr. 1300/2008, (EG) Nr. 1342/2008 sowie zur Aufhebung der Verordnungen (EWG) Nr. 2847/93, (EG) Nr. 1627/94 und (EG) Nr. 1966/2006, ABl. 2009, Nr. L 343, S. 1 ff. 319  Epiney, 320  Latour,

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2. Teil: Das Vertragsverletzungsverfahren

mission im Umweltsektor keine aktiven Investigationsbefugnisse zu, die es ihr ermöglichen würden, Inspektionen oder Messungen auf den Territorien der Mitgliedstaaten durchzuführen.326 Zwar beschränkt das Unionsprimärrecht die Kommission nicht drauf, Auskünfte einzuholen. Nach Art. 337 Hs. 1 AEUV ist sie sogar ausdrücklich dazu berechtigt „alle erforderlichen Nachprüfungen“ zur Erfüllung ihrer Aufgaben vorzunehmen. Aktive Datenerhebungs- oder Nachprüfungsmaßnahmen auf staatlichem Hoheitsgebiet bedeuten jedoch einen gravierenden Eingriff in die mitgliedstaatliche Sou­ veränität,327 der ohne eine gesonderte sekundärrechtliche Ermächtigung, die den Erfordernissen der Subsidiarität (Art. 5 I 2, III EUV) und der Verhältnismäßigkeit (Art. 5 I 2, IV EUV) Rechnung trägt, nicht zulässig ist. Art. 337 Hs. 1 AEUV genügt als Kompetenzgrundlage insoweit nicht.328 Da der EUAcquis für den Umweltbereich keine entsprechenden Befugnisse vorsieht, kann die Kommission aktive Investigationsmaßnahmen in den Mitgliedstaaten nur ergreifen, soweit nationale Hoheitsträger oder Privatpersonen ihr dies freiwillig gestatten. Die Einführung eines EU-Inspektorats mit eigenen Befugnissen als Teil der EU-Eigenverwaltung wurde in der Vergangenheit vor allem im Zusammenhang mit der Schaffung und kompetenzrechtlichen Ausstattung der EUA diskutiert. Zwar sah Art. 20 der EUA-Gründungsverordnung (EWG) Nr. 1210/90 einen Prüfauftrag des europäischen Gesetzgebers bezgl. einer Beteiligung der EUA an der Überwachung der Durchführung europäischer Rechtsakte vor.329 Eine Aufgabenausweitung der EUA fand jedoch nie statt, vielmehr wurde der Prüfauftrag mit der Verordnungsänderung durch die Änderungsverordnung (EG) Nr. 993/1999330 ersatzlos gestrichen. Abgesehen vom Widerstand der Mitgliedstaaten, die intensiven Übergriffen in ihren 326  Hedemann-Robinson, Enforcement of European Union Environmental Law, 2. Edition 2015, S. 60, 73; Huber, in: Rengeling, Hdb. zum europäischen und deutschen Umweltrecht Bd. I, 2. Auflage 2003, § 19 Rn. 32 ff.; Krämer, in: Lübbe-Wolff, Der Vollzug des europäischen Umweltrechts, 1996, S. 13; Macrory, CMLR 1992, 347 (362); Scheuing, NVwZ 1999, 475 (477). 327  Sommer, in: Schmidt-Aßmann/Schöndorf-Haubold, Der Europäische Verwaltungsverbund, 2005, S. 65. 328  Huber, in: Rengeling, Hdb. zum europäischen und deutschen Umweltrecht Bd. I, 2. Auflage 2003, § 19 Rn. 33. 329  Albin, Die Vollzugskontrolle des europäischen Umweltrechts, 1999, S. 244 f.; Bernardo, in: Schneider/Velasco Caballero, Strukturen des Europäischen Verwaltungsverbunds, 2009, S. 169; Sommer, Verwaltungskooperation am Beispiel administrativer Informationsverfahren im Europäischen Umweltrecht, 2003, S. 538 ff. 330  Verordnung (EG) Nr. 933/1999 des Rates vom 29. April 1999 zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1210/90 zur Errichtung einer Europäischen Umweltagentur und eines Europäischen Umweltinformations- und Umweltbeobachtungsnetzes, ABl. 1999, Nr. L 117, S. 1 ff.



B. Funktionsweise und Durchsetzungskraft173

Hoheitsbereich durch ein EU-Umweltinspektorat ablehnend gegenüberstanden, spielten vor allem ressourcenpolitische Gründe eine Rolle. Schließlich wäre eine unionsweit flächendeckende Inspektionstätigkeit mit enormem Kosten- und Personalaufwand verbunden, der sich in Anbetracht der knappen ressourcenökonomischen Ausstattung der EU-Institutionen nicht bewältigen ließe.331 b) Passive Investigation: Die Kommission als Informationsempfängerin Zwar kommen der Kommission über bloße Auskunftsrechte hinaus keine eigenen, aktiven Investigationsbefugnisse zu. Gemäß Art. 4 III EUV sind die Mitgliedstaaten aber dazu verpflichtet, sie bei der Erfüllung ihres Vollzugskontrollauftrags zu unterstützen.332 Verschiedene Umweltrechtsakte nehmen daher staatliche Stellen in die Pflicht, der Kommission Informationen über die Umsetzung und Anwendung unionsrechtlicher Vorgaben auf nationaler Ebene oder den Zustand der Umwelt zu übermitteln. Die EU-Mitgliedstaaten treffen insoweit Informationspflichten, die es der Kommission ermöglichen sollen, den Vollzug des EU-Umweltrechts zu überwachen, ohne eigene Nachforschungen anstellen zu müssen. Als Informationsempfängerin bleibt sie passiv und auf die Informationsgewinnung und Weitergabe durch staatliche Stellen angewiesen. Der Begriff der Informationspflicht fungiert dabei als übergeordnete Bezeichnung, die neben bloßen Mitteilungspflichten zur Übermittlung bereits vorhandener Informationen auch Informationsbeschaffungspflichten umfasst, die die vorgelagerte Informationsgewinnung betreffen und mit den Mitteilungspflichten typischerweise in engem Zusammenhang stehen.333 Zwar können sich Informationspflichten hinsichtlich ihres Auslösetatbestands, ihrer Form und ihres Umfangs erheblich unterscheiden. Werden die Mitgliedstaaten im Rahmen eines Sekundärrechtsakts aber zur Übermittlung bzw. Mitteilung verpflichtet, wird in der Regel die Übersendung eines Schriftstücks verlangt.334

331  von Borries, in: Ipsen/Stüer, FS Rengeling, 2008, S. 502; Hedemann-Robinson, Enforcement of European Union Environmental Law, 2. Edition 2015, S. 73. 332  Epiney, Umweltrecht der EU, 4. Auflage 2019, S. 81 f. 333  Sommer, Verwaltungskooperation am Beispiel administrativer Informationsverfahren im Europäischen Umweltrecht, 2003, S. 99 f. 334  Sommer, Verwaltungskooperation am Beispiel administrativer Informationsverfahren im Europäischen Umweltrecht, 2003, S. 100.

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2. Teil: Das Vertragsverletzungsverfahren

aa) Mitteilungspflichten (1) Unterrichtungspflichten Auf passiver Seite können den Mitgliedstaaten gegenüber der Kommission zunächst einzelfallbezogene Unterrichtungspflichten zukommen. Im EU-Sekundärrecht finden sie sich vor allem in Gestalt von Warnpflichten vor Umweltgefahren oder im Zusammenhang mit der Genehmigung von Produkten und Anlagen.335 Unterrichtungspflichten werden typischerweise durch konkrete, in den jeweiligen Rechtsnormen bestimmte Ereignisse ausgelöst, die im Einfluss- oder zumindest im Kenntnisbereich des unterrichtungspflichtigen Staates liegen.336 Eine Abgrenzung zu den ebenfalls punktuellen Auskunftsrechten fällt dabei nicht immer leicht.337 Während Informationen aufgrund von Auskunftsrechten aber nur reaktiv, in Folge eines Auskunftsersuchens der Kommission übermittelt werden, müssen die Mitgliedstaaten, um ihren Unterrichtungspflichten nachzukommen, zuerst aktiv werden.338 Zwar kann die Kommission schon bei der Ausarbeitung umweltrechtlicher Sekundärrechtsakte auf eine bestimmte Gestaltung der normativen Auslösetat­ bestände hinwirken. In der eigentlichen Unterrichtungssituation fungiert sie aber ausschließlich als passive Informationsempfängerin. (2) Berichtspflichten Neben punktuellen Unterrichtungspflichten, nehmen einige Umweltricht­ linien und Verordnungen die Mitgliedstaaten in die Pflicht, der Kommission in regelmäßigen zeitlichen Abständen über den Umweltzustand oder die Durchführung konkreter Umweltbestimmungen Bericht zu erstatten.339 So 335  Vgl. z. B. die Pflicht der Mitgliedstaaten, die Kommission über die auf ihrem Hoheitsgebiet eingetretenen schweren Unfälle zu unterrichten, Art. 18 I der Richtlinie 2012/18/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. Juli 2012 zur Beherrschung der Gefahren schwerer Unfälle mit gefährlichen Stoffen, zur Änderung und anschließenden Aufhebung der Richtlinie 96/82/EG des Rates, ABl. 2012, Nr. L 197, S. 1 ff. 336  Sommer, Verwaltungskooperation am Beispiel administrativer Informationsverfahren im Europäischen Umweltrecht, 2003, S. 107. 337  So können Auskunftsrechte mit dem Begriff „Unterrichtung“ und Unterrichtungspflichten als „Auskunft“ bezeichnet werden, vgl. Sommer, Verwaltungskooperation am Beispiel administrativer Informationsverfahren im Europäischen Umweltrecht, 2003, S. 106 m. w. N. 338  Latour, Die integrierte Umweltverwaltung in der Europäischen Union, 2013, S.  218 f.; Sommer, Verwaltungskooperation am Beispiel administrativer Informationsverfahren im Europäischen Umweltrecht, 2003, S. 100, 107. 339  Sach/Simm, in: Rengeling, Hdb. zum europäischen und deutschen Umweltrecht Bd. I, 2. Auflage 2003, § 44 Rn. 27.



B. Funktionsweise und Durchsetzungskraft175

verlangt z. B. Art. 17 I der Habitat-Richtlinie (92/43/EG) alle 6 Jahre einen Bericht über die zur Durchführung der Richtlinie ergriffenen Maßnahmen, der vor allem Informationen über Erhaltungsmaßnahmen und ihre Auswirkungen auf den Erhaltungszustand geschützter Lebensräume und Arten sowie die wichtigsten Ergebnisse der in der Richtlinie vorgeschriebenen Überwachungsmaßnahmen enthalten soll.340 Berichtspflichten stellen qualifizierte Mitteilungspflichten dar, die über die bloße Informationsübermittlung hinaus eine systematische und periodische Auswertung gesammelter Daten zum Zweck der Berichtzusammenstellung erfordern.341 Defizite in der nationalen Berichterstattungspraxis wurden bereits in den 1980er-Jahren als Problem identifiziert. Da das EU-Sekundärrecht keine klaren Anforderungen an Form, Inhalt oder Detailierungsgrad der geforderten Berichte stellte, unterschieden sich die von den Mitgliedstaaten erarbeiteten Materialien qualitativ stark. Da die Einzelstaaten ihre Berichtspflichten oft vernachlässigten bzw. nur oberflächlich erfüllten und Verwaltungsmaßnahmen vorwiegend abstrakt beschrieben, Darstellungen beschönigten oder aber selbst durch Informationsdefizite behindert wurden,342 ließ sich anhand der mitgeteilten Informationen meistens nicht erkennen, wie effektiv das EUUmweltrecht auf nationaler Ebene tatsächlich vollzogen wurde.343 1991 unternahm der europäische Gesetzgeber mit Erlass der Berichtspflichtenricht­ linie (91/692/EWG344) den Versuch, die bis dahin völlig heterogene Berichterstattung durch sektorale Vereinheitlichungen der Berichterstattungszeiträume und die systematische Verwendung von Fragebögen zum Zweck der Informationsgewinnung zu harmonisieren und zu verbessern. Mit Beschluss Nr. 2018/853/EU345 wurde die Berichtspflichtenrichtlinie im Jahr 2018 wie340  Vgl. auch: Art. 16 der Richtlinie 91/271/EWG des Rates vom 21. Mai 1991 über die Behandlung von kommunalem Abwasser, ABl. 1991, Nr. L 135, S. 40 ff.; Art. 7 Richtlinie 2004/42/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. April 2004 über die Begrenzung der Emissionen flüchtiger organischer Verbindungen aufgrund der Verwendung organischer Lösemittel in bestimmten Farben und Lacken und in Produkten der Fahrzeugreparaturlackierung sowie zur Änderung der Richtlinie 1999/13/EG, ABl. 2004, Nr. L 143, S. 87 ff. 341  Latour, Die integrierte Umweltverwaltung in der Europäischen Union, 2013, S. 220. 342  Albin, DVBl 2000, 1483 (1488). 343  Krämer, in: Lübbe-Wolff, Der Vollzug des europäischen Umweltrechts, 1996, S. 24; Sach/Simm, in: Rengeling, Hdb. zum europäischen und deutschen Umweltrecht Bd. I, 2. Auflage 2003, § 44 Rn. 27. 344  Richtlinie des Rates vom 23. Dezember 1991 zur Vereinheitlichung und zweckmäßigen Gestaltung der Berichte über die Durchführung bestimmter Umweltschutzrichtlinien (91/692/EWG), ABl. 1991, Nr. L 377, S. 48 ff. 345  Beschluss Nr. 2018/853/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 30. Mai 2018 zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 1257/2013 und der Richtlinien

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2. Teil: Das Vertragsverletzungsverfahren

der aufgehoben und durch punktuelle Anpassungen einzelner EU-Rechtsakte ersetzt. Einerseits waren die mit der Berichtspflichtenrichtlinie 1991 geänderten Umweltrichtlinien mittlerweile größtenteils aufgehoben oder verändert worden, so dass die dort vorgesehenen Ergänzungen gegenstandslos ge­ worden waren (vgl. Erwgr. 7 des Beschlusses Nr. 2018/853/EU). Andererseits befanden die Unionsorgane das Berichterstattungssystem, wie es die Berichtspflichtenrichtlinie zu etablieren suchte, im Rahmen des Beschlusses ausdrücklich für zu aufwändig und ineffektiv (vgl. Erwgr. 4 des Beschlusses Nr. 2018/853/EU),346 wobei besonders die mangelnde Integration elektronischer Hilfsmittel kritisiert wurde (vgl. Erwgr. 5 des Beschlusses Nr. 2018/853/ EU).347 Zwar kommen die Mitgliedstaaten ihren Berichtspflichten heute überwiegend nach.348 Als Informationsquelle für eine praxisorientierte Anwendungskontrolle des EU-Umweltrechts eignen sich die staatlichen Durchführungs­ berichte aber noch immer nur bedingt. Die Systematisierungs- und Effektivierungsbemühungen der EU-Organe brachten hier nicht den gewünschten Fortschritt. Zumindest leisteten sie aber einen Beitrag dazu, den kommunikativen Kontakt zwischen Kommission und Mitgliedstaaten anzuregen.349 (3) Richtlinienbezogene Mitteilungspflichten Um der Kommission die Kontrolle der Umsetzung europäischer Richt­ linien zu ermöglichen, beinhalten heute alle EU-Richtlinien Bestimmungen, die die Mitgliedstaaten in Anknüpfung an den Kooperationsgedanken des Art. 4 III EUV350 dazu verpflichten, die Kommission über alle auf nationaler Ebene ergriffenen bzw. geplanten Umsetzungsmaßnahmen in Kenntnis zu 94/63/EG und 2009/31/EG des Europäischen Parlaments und des Rates und der Richtlinien 86/278/EWG und 87/217/EWG des Rates in Bezug auf Verfahrensvorschriften auf dem Gebiet der Umweltberichterstattung und zur Aufhebung der Richtlinie 91/692/EWG des Rates, ABl. 2018 Nr. L 150, S. 155 ff. 346  In jüngeren Umweltrichtlinien und Neuregelungen waren die in der Berichterstattungsrichtlinie (91/692/EWG) statuierten Anforderungen bereits nicht mehr aufgegriffen worden. 347  Zum ReportNet-System des EIONET: 3. Teil, C. II. 2. 348  Latour, Die integrierte Umweltverwaltung in der Europäischen Union, 2013, S. 223. 349  Sach/Simm, in: Rengeling, Hdb. zum europäischen und deutschen Umweltrecht Bd. I, 2. Auflage 2003, § 44 Rn. 28. 350  DG IPOL, Tools for Ensuring Implementation and Application of EU Law and Evaluation of their Effectiveness – Study, 2013, S. 38, abrufbar unter: https://www. europarl.europa.eu/RegData/etudes/etudes/join/2013/493014/IPOL-JURI_ET(2013)49 3014_EN.pdf (Stand: 14.2.2023).



B. Funktionsweise und Durchsetzungskraft177

setzen.351 Das Generalsekretariat der Kommission fungiert den Mitgliedstaaten gegenüber als zentrale Kontaktstelle.352 Kommen sie ihren Mitteilungspflichten frühzeitig nach, vermag die Kommission sie bereits in der Umsetzungsphase zu beraten und von vornherein auf eine pünktliche, ordnungs­ gemäße Umsetzung hinzuwirken.353 Das für den jeweiligen Sachbereich zuständige Kommissionsmitglied sowie die Kommissionspräsidentin haben die Befugnis, die Mitgliedstaaten an den Ablauf von Umsetzungsfristen zu erinnern und erforderlichenfalls anzumahnen, ihren Mitteilungspflichten nachzukommen.354 Bleiben sie dennoch säumig, kann die Kommission bereits auf Grundlage dieser Unionsrechtsverletzung ein Vertragsverletzungsverfahren gemäß Art. 258 I AEUV (i. V. m. Art. 260 III AEUV) eröffnen, das die Nichtmitteilung nationaler Umsetzungsmaßnahmen zum Gegenstand hat. Ob der betroffene Einzelstaat die EU-Richtlinie darüber hinaus nicht oder fehlerhaft umgesetzt hat, spielt im Rahmen dieses Verfahrens keine Rolle.355 bb) Informationsbeschaffungspflichten: Staatliche Umweltüberwachungs- und Inspektionspflichten Über die Pflicht zur Mitteilung vorhandener Daten hinaus, enthalten vielen Sekundärrechtsakten auch eine Pflicht zur Beschaffung neuer Informa­ tionen. Als logische Voraussetzung für die Erfüllung unionsrechtlicher Mitteilungspflichten sind Informationsbeschaffungs- und Mitteilungspflichten oft eng miteinander verbunden.356 Im Zusammenhang mit der Kontrolle des EU-Umweltrechts spielen vor allem solche Informationsbeschaffungspflich-

351  Vgl. z. B.: Art. 19 der Richtlinie 91/271/EWG des Rates vom 21. Mai 1991 über die Behandlung von kommunalem Abwasser, ABl. 1991, Nr. L 135, S. 40 ff.; Art. 18 I UAbs. 1, II der Richtlinie 2006/7/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. Februar 2006 über die Qualität der Badegewässer und deren Bewirtschaftung und zur Aufhebung der Richtlinie 76/160/EWG, ABl. 2006, Nr. L 64, S. 37 ff.; Art. 33 der Richtlinie 2008/50/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. Mai 2008 über Luftqualität und saubere Luft für Europa, ABl. 2008, Nr. L 152, S. 1 ff. 352  KOM, Mitteilung zur besseren Kontrolle der Anwendung des Gemeinschaftsrechts, 11.12.2002, KOM(2002) 725 endg., S. 10. 353  Sach/Simm, in: Rengeling, Hdb. zum europäischen und deutschen Umweltrecht Bd. I, 2. Auflage 2003, § 44 Rn. 24. 354  KOM, Mitteilung zur besseren Kontrolle der Anwendung des Gemeinschaftsrechts, 11.12.2002, KOM(2002) 725 endg., S. 20. 355  Smith, Centralized Enforcement, Legitimacy and Good Governance in the EU, 2010, S. 101. 356  Latour, Die integrierte Umweltverwaltung in der Europäischen Union, 2013, S.  213 f.

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2. Teil: Das Vertragsverletzungsverfahren

ten357 eine Rolle, die durch fortgesetzte Messungen und Beobachtungen des Umweltzustands (sog. Umweltmonitoring358) oder durch regelmäßige oder einzelfallbezogener Kontrollen in den Mitgliedstaaten gewonnen werden.359 Informationsbeschaffungspflichten in Gestalt von Umweltbeobachtungsbzw. Umweltmonitoringpflichten sind in der Regel in Bereichen vorgesehen, in denen die Mitgliedstaaten eigene Systeme zur Überwachung des Umweltzustands zu errichten haben.360 Sie zeichnen sich besonders durch ihren kontinuierlichen Charakter aus, der sie von punktuellen, anlassbezogenen Ermittlungspflichten unterscheidet.361 Im Wege des Umweltmonitorings generierte Daten können prinzipiell für eine Vielzahl von Zwecken verwendet werden, u. a. ermöglichen sie wertvolle Rückschlüsse auf die nationalen Vollzugsleistungen, die sich die Kommission im Rahmen ihrer Vollzugskontrolltätigkeit zunutze machen kann.362 Auch unionsrechtlich vorgegebene Einzelfallkontrollen, wie Stichprobenkontrollen oder Inspektionen, können zur Schaffung einer Informationsgrundlage für die Vollzugskontrolltätigkeit der Kommission beitragen. Während kontinuierliche Mess- und Umweltbeobachtungspflichten in der Regel darauf ausgelegt sind, Immissionsdaten im Zusammenhang mit einem be357  Sommer, Verwaltungskooperation am Beispiel administrativer Informationsverfahren im Europäischen Umweltrecht, 2003, S. 99 ff.; Sommer, in: Schmidt-Aßmann/ Schöndorf-Haubold, Der Europäische Verwaltungsverbund, 2005, S. 65 ff. 358  Zum Begriff des „Umweltmonitoring“: von Lersner, in: Wegener/Calliess, Europäisches Umweltrecht als Chance, 1992, S. 84; Sommer, Verwaltungskooperation am Beispiel administrativer Informationsverfahren im Europäischen Umweltrecht, 2003, S. 166 ff.; allgemein zum Begriff des „Monitoring“: Sachariew, YIEL 1991, 31 (34 f.). 359  Latour, Die integrierte Umweltverwaltung in der Europäischen Union, 2013, S.  213 f. 360  Vgl. die periodischen Messpflichten zum Zweck der Ausweisung gefährdeter Gebiete und zur Fortschreibung der Ausweisung sowie die Pflicht zum Aufbau nationaler Überwachungsprogramme: Art. 6 und 5 VI der Richtlinie 91/676/EWG ­ des Rates vom 12. Dezember 1991 zum Schutz der Gewässer vor Verunreinigung durch Nitrat aus landwirtschaftlichen Quellen, ABl. 1991, Nr. L 375, S. 1 ff.; die Pflichten zur Überwachung der Badegewässerqualität: Art. 3 der Richtlinie 2006/7/ EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. Februar 2006 über die Qualität der Badegewässer und deren Bewirtschaftung und zur Aufhebung der Richtlinie 76/160/EWG, ABl. 2006, Nr. L 64, S. 37 ff.; die Pflichten zur Überwachung der Trinkwasserqualität: Art. 7 der Richtlinie 98/83/EG des Rates vom 3. November 1998 über die Qualität von Wasser für den menschlichen Gebrauch, ABl. 1998, Nr. L 330, S.  32 ff. 361  Vgl. Sachariew, YIEL 1991, 31 (34); Sommer, Verwaltungskooperation am Beispiel administrativer Informationsverfahren im Europäischen Umweltrecht, 2003, S. 166. 362  Albin, Die Vollzugskontrolle des europäischen Umweltrechts, 1999, S. 245.



B. Funktionsweise und Durchsetzungskraft179

stimmten Umweltmedium zu sammeln, geben punktuelle oder wiederkehrende Kontrollen vor allem Aufschluss über die einzelfallbezogene Anwendung des Unionsrechts in den Mitgliedstaaten;363 während mit Hilfe von Kontrollen unbekannte Unionsrechtsverstöße im Zusammenhang mit bekannten Aktivitäten aufgedeckt werden sollen, ermöglichen nicht-anlassbezogene Messungen und Beobachtungen die Entdeckung unbekannter, umweltrechtswidriger Vorgänge.364 Nicht selten sehen Umweltsekundärrechtsakte Moni­ toring- und Kontrollpflichten gleichermaßen als Teil desselben Überwachungskonzepts vor.365 Unter dem Begriff der Inspektion versteht der Unionsgesetzgeber speziell solche Kontrollen, die vor Ort durchgeführt werden und etwa Inaugenscheinnahmen technischer Anlagen und Dokumente oder die Entnahme von Proben umfassen.366 Anders als in anderen Politikbereichen existiert im Umweltsektor kein einheitlicher Rechtsrahmen für Inspektionen.367 Zwar können einzelne Rechtsakte die Kommission dazu ermächtigen, Kontrollmodalitäten im Rahmen von Durchführungsbestimmungen festzulegen. Soweit jedoch keine unionsrechtlichen Vorgaben existieren, sind die Mitgliedstaaten bei der Ausgestaltung ihres Inspektionswesens frei.368 Die Bedeutung von Inspektionen als vollzugssicherndes Instrument wurde bereits früh erkannt. Uneinigkeit bestand jedoch hinsichtlich der Frage, auf welche Weise nationale Inspektionspflichten zum Gegenstand europäischer Vorgaben gemacht werden sollen. Während sich das Europäische Parlament für den Erlass einer verbindlichen EU-Richtlinie aussprach, scheiterte dieses Unterfangen am Widerstand des Rates.369 Um bestehende nationale Informationssysteme und Praktiken dennoch zu vereinheitlichen, wurden mit der Empfehlung 2001/331/EG zur Festlegung von Mindestkriterien für Inspektio363  Sommer, Verwaltungskooperation am Beispiel administrativer Informationsverfahren im Europäischen Umweltrecht, 2003, S. 172 ff. 364  Angelov/Cashman, in: Faure/De Smedt/Stas, Environmental Enforcement Networks, 2015, S. 361. 365  Sowohl zu Anlageninspektionen als auch zur periodischen Überwachung der Emissionen in der Luft verpflichten etwa: Art. 23 und 38 der Richtlinie 2010/75/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 24. November 2010 über Industrieemissionen (integrierte Vermeidung und Verminderung der Umweltverschmutzung), ABl. 2010, Nr. 334, S. 17 ff. 366  Sommer, Verwaltungskooperation am Beispiel administrativer Informationsverfahren im Europäischen Umweltrecht, 2003, S. 175 f. 367  Angelov/Cashman, in: Faure/De Smedt/Stas, Environmental Enforcement Networks, 2015, S. 353. 368  Sommer, Verwaltungskooperation am Beispiel administrativer Informationsverfahren im Europäischen Umweltrecht, 2003, S. 178. 369  Angelov/Cashman, in: Faure/De Smedt/Stas, Environmental Enforcement Networks, 2015, S. 358.

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2. Teil: Das Vertragsverletzungsverfahren

nen (engl.: Recommendation providing for minimum criteria for environmental inspections in the Member States; RMCEI370) gewisse Mindeststandards formuliert. Das als Empfehlung i. S. v. Art. 288 V AEUV angenommene Dokument entfaltet allerding keine rechtliche Bindungskraft. Hinzu kommt, dass die Kommission die RMCEI bereits im Jahr 2007 für überarbeitungsbedürftig erachtet hat.371 Zwar wurden seither verschiedene Konferenzen und Workshops durchgeführt, in deren Rahmen sich die Kommission mit nationalen Experten des IMPEL-Netzwerks über eine Modernisierung beraten hat.372 Auch wurde das Thema von Rat und Kommission immer wieder aufgegriffen, die den Wert von Inspektionen für die Vollzugssicherung betonten und eine Verbesserung des europäischen Rahmens für Inspektionen und Überwachungen anregten.373 In Abkehr vom bisherigen, unverbindlichen Ansatz forderte das 7. Umweltaktionsprogramm sogar eine Ausweitung verbindlicher Kriterien für Kontrollen und Monitoringmaßnahmen.374 Konkrete Entwürfe wurden bis heute allerdings nicht vorgelegt. Obwohl sich auf den RMCEI basierende Detailregelungen mittlerweile in einigen, verbindlichen Umweltrechtsakten finden,375 gleicht das europäische Inspektionsregime eher einem Flickwerk denn einem effektiven, einheitlichen Rechtsrahmen. 370  Empfehlung 2001/331/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. April 2001 zur Festlegung von Mindestkriterien für Umweltinspektionen in den Mitgliedstaaten, ABl. 2001, Nr. L 118, S. 41 ff. 371  KOM, Mitteilung an den Rat, das Europäische Parlament, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen über die Überprüfung der Empfehlung 2001/331/EG zur Festlegung von Mindestkriterien für Umweltinspektionen in den Mitgliedstaaten, 14.11.2007, KOM(2007) 707 endg. 372  Vgl. dazu im Detail: KOM, Implementation, Environmental Inspections, o. D., https://ec.europa.eu/environment/legal/law/inspections.htm (Stand: 3.3.2022). 373  Rat, Conclusions on setting the framework for a Seventh EU Environment Action Programme, 11.6.2012, S. 4, abrufbar unter: https://www.consilium.europa.eu/ uedocs/cms_data/docs/pressdata/en/envir/130788.pdf (Stand: 14.2.2023); KOM, Mitteilung an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen – Konkretere Vorteile aus den Umweltmaßnahmen der EU: Schaffung von Vertrauen durch mehr Information und größere Reaktionsbereitschaft der Behörden, 7.3.2012, COM(2012) 95 final, S. 8 ff. 374  Vgl. Nr. 65 des Beschlusses Nr. 1386/2013/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. November 2013 über ein allgemeines Umweltaktionsprogramm der Union für die Zeit bis 2020 „Gut leben innerhalb der Belastbarkeitsgrenzen unseres Planeten“, ABl. 2013, Nr. L 354, S. 171 ff. 375  Vgl. etwa Art. 20 der Richtlinie 2012/18/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. Juli 2012 zur Beherrschung der Gefahren schwerer Unfälle mit gefährlichen Stoffen, zur Änderung und anschließenden Aufhebung der Richtlinie 96/82/EG des Rates, ABl. 2012, Nr. L 197, S. 1 ff.; Art. 23 der Richtlinie 2012/19/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. Juli 2012 über Elektro- und Elektronik-Altgeräte, ABl. 2012, Nr. L 197, S. 38 ff.; Art. 23 der Richtlinie 2010/75/ EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 24. November 2010 über Indus-



B. Funktionsweise und Durchsetzungskraft181

cc) Bewertung mit Blick auf das Vertragsverletzungsverfahren Anstatt bei der Ermittlung potenzieller Vertragsverletzungen auf eigene, aktive Investigationsbefugnisse zurückgreifen zu können, ist die Kommission im Umweltsektor stark auf die Zusammenarbeit mit den Mitgliedstaaten angewiesen, die in ihrem jeweiligen Hoheitsbereich allein zur Datenerhebung durch Kontrollen bzw. Umweltmonitoring berechtigt sind und daher als wichtige Informationsquelle fungieren.376 Inwieweit dieser Umstand die Kommission bei der Durchsetzung des EU-Umweltrechts mit Hilfe des Vertragsverletzungsverfahrens behindert, hängt zunächst von der Art der Vertragsverletzung ab. Über Fälle der verspäteten Mitteilung bzw. Nichtmitteilung nationaler Umsetzungsmaßnahmen erlangt die Kommission automatisch Kenntnis. Ob ein Mitgliedstaat seine Mitteilungspflichten ihr gegenüber erfüllt hat, kann sie als Informationsempfängerin am besten beurteilen, ohne dafür aktive Ermittlungen anstellen zu müssen.377 In der Praxis ist die Kommission mit den ihr zur Verfügung stehenden passiven Investigationsbefugnissen also durchaus in der Lage, Fälle der Nichtmitteilung zu identifizieren und mit Hilfe des Vertragsverletzungsverfahrens zu verfolgen.378 Auch in Fällen der inhaltlich fehlerhaften Umsetzung bzw. Nichtumsetzung europäischer Umweltrichtlinien bereitet die schwache Kompetenzausstattung der Kommission nur geringe Probleme. Indem der Unionsgesetzgeber den Mitgliedstaaten selbstständig durchsetzbare, formale Pflichten zur Mitteilung nationaler Umsetzungsmaßnahmen auferlegt, sichert er der Kommission eine Informationsbasis, die ihr zu Kontrollzwecken einen Überblick über die nationalen Umsetzungsleistungen verschafft.379 Haben die Mitgliedstaaten der Kommission fristgerecht alle Umsetzungsrechtsakte mitgeteilt, kann sie auf dieser Grundlage prüfen, ob und inwieweit den Erfordernissen einer Richtlinie entsprochen wurde.380 Da das EU-Umweltrecht eine sehr komplexe Materie bildet, die auf vielfältige, zum Teil unübersichtliche Weise in nationales Recht transponiert werden kann, stellt die inhaltliche Kontrolle der Richtli­nienumsetzung eine herausfordernde Aufgabe dar, deren Erfüllung trieemissionen (integrierte Vermeidung und Verminderung der Umweltverschmutzung), ABl. 2010, Nr. 334, S. 17 ff. 376  Vgl. Sobotta, ZUR 2008, 72 (73). 377  KOM, 18th Annual report on Monitoring the Application of Community Law (2000) – Introduction, sector by sector, 16.7.2001, COM(2001) 309 final, S. 11. 378  Sobotta, ZUR 2008, 72 (73). 379  Hedemann-Robinson, Enforcement of European Union Environmental Law, 2. Edition 2015, S. 60. 380  KOM, Mitteilung zur besseren Kontrolle der Anwendung des Gemeinschaftsrechts, 11.12.2002, KOM(2002) 725 endg., S. 21; Sobotta, ZUR 2008, 72 (73).

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2. Teil: Das Vertragsverletzungsverfahren

fundierte Kenntnisse der staatlichen Rechtslage erfordert. Einfache Hilfsmittel wie Auskunftsrechte oder informelle Dialoge mit nationalen Experten können die Untersuchung möglicher Umsetzungsdefizite ebenso erleichtern wie der Rückgriff auf öffentlich zugängliche Normtexte oder Gesetzesbegründungen. Für die Umsetzungskontrolle sind Messungen und Kontrollen vor Ort hingegen weniger relevant. So stellte der EuGH in der Rs. 382/96 (Kommission/Irland) zur Umsetzung der ehemaligen Richtlinie über die Umweltverträglichkeitsprüfung (85/337/EWG) klar, dass die Fehlerhaftigkeit der Richtlinienumsetzung anhand des Wortlauts der in Frage stehenden Umsetzungsrechtsakte zu beurteilen sei. Dass sich die fehlerhafte Umsetzung in Gestalt tatsächlicher Umweltschäden materialisiert habe, brauche die Kommission nicht nachzuweisen. Schließlich ziele die europäische Umweltpolitik darauf ab, Umweltschäden präventiv zu vermeiden, anstatt ihre Auswirkungen nachträglich zu bekämpfen.381 Das Urteil des EuGH ist insoweit von Bedeutung, als dass es den Mitgliedstaaten im Vertragsverletzungsverfahren die Möglichkeit nimmt, sich in Fällen der fehlerhaften Richtlinienumsetzung auf die Beweislast der Kommission zu berufen, um gezielte Vorteile aus ihren knappen Investigationsbefugnissen zu ziehen.382 Fälle, die die Umsetzung des europäischen Richtlinienrechts zum Gegenstand haben, lassen sich daher in der Regel auch ohne Mess- und Inspektionsbefugnisse effektiv verfolgen. Das Fehlen aktiver Investigationsbefugnisse macht sich vor allem bei der Kontrolle der Anwendungsebene bemerkbar. Zwar sehen verschiedene europäische Umweltrechtsakte Berichtspflichten vor, zu deren Erfüllung staatliche Stellen Informationen gegebenenfalls zunächst über Monitoringmaß­ nahmen und Kontrollen beschaffen müssen. Die von den Mitgliedstaaten übermittelten Informationen enthalten aber oft keine hinreichend konkreten Hinweise auf Vertragsverletzungen. Fordert die Kommission staatliche Stellen zur Durchführung bestimmter Ermittlungen auf, um einem konkreten Verdacht nachzugehen, trifft die Einzelstaaten gemäß Art. 4 III EUV zwar eine Kooperationspflicht.383 De facto hängt der Erfolg der Ermittlungen aber von ihrer Bereitschaft ab, die Kommission mit fallspezifischen Informationen und Beweismitteln zu versorgen. Der Mitgliedstaat, gegen den der Verdacht einer Vertragsverletzung besteht, steckt insoweit in einem interessenspolitischen Dilemma: Obwohl er sich gegen den Vorwurf einer Vertragsverletzung verteidigen muss, ist er zugleich der wichtigste Ermittler gegen die 381  EuGH,

Rs. C-392/96, Kommission/Irland, Slg. 1999, I-5901 (Rn. 60 ff.). Enforcement of European Union Environmental Law, 2. Edition 2015, S. 73. 383  Sommer, Verwaltungskooperation am Beispiel administrativer Informationsverfahren im Europäischen Umweltrecht, 2003, S. 183. 382  Hedemann-Robinson,



B. Funktionsweise und Durchsetzungskraft183

eigenen Behörden.384 Verzögern widerwillig kooperierende Staaten die Durchsetzung des Unionsrechts, lassen sich irreversible Umweltschäden oft nicht mehr abwenden. Erneut zeigt sich also die Interdependenz zwischen der rechtlichen Durchsetzungskraft des Vertragsverletzungsverfahrens einerseits und der Kooperation zwischen EU und Mitgliedstaaten andererseits. Doch selbst wenn die Kommission auf staatlichem Territorium über aktive Investigationsbefugnisse verfügen würde, ließe sich eine systematische, flächendeckende Überprüfung mit Blick auf die enorme Menge nationaler Rechtsanwendungsmaßnahmen kaum realisieren, so dass die Entdeckung nationaler Unionsrechtsverstöße vor allem vom Zufall abhinge. Trotz effektivitätspolitischer Bedenken ist es immerhin eine kompetenz- und ressourcenschonende Lösung, die Informationsbeschaffung vor Ort den Mitgliedstaaten zu überlassen. 2. Verfahrensbedingte Schwächen: Der Zeitfaktor Neben dem Fehlen aktiver Investigationsbefugnisse auf Seiten der Kommission stellt auch der hohe Zeitaufwand ein Problem dar, das die Effektivität des Vertragsverletzungsverfahrens als Instrument zur Durchsetzung unionsrechtlicher Vorgaben behindern kann. In der Praxis hängt die zeitliche Verfahrenskomponente größtenteils von einzelfallbezogenen Faktoren ab, etwa von der Komplexität des Untersuchungsgegenstands, der Art der Vertragsverletzung oder der Kooperationsbereitschaft der betroffenen Mitgliedstaaten.385 Zwar kann es vorkommen, dass ein Mitgliedstaat entgegen seiner unionsrechtlichen Loyalitätspflichten gezielt versucht, die Ermittlungen der Kommission zu erschweren oder hinauszuzögern; auch kann die suboptimale Organisation staatlicher Bearbeitungsvorgänge zu zeitlichen Verzögerungen führen, die außerhalb der kommis­ sionseigenen Sphäre begründet sind.386 Unabhängig davon ist eine gewisse Schwerfälligkeit387 aber bereits in der mehrstufigen Verfahrensarchitektur angelegt und daher untrennbar mit der Funktionsweise des Vertragsverlet384  Hedemann-Robinson, Enforcement of European Union Environmental Law, 2. Edition 2015, S. 61. 385  Hedemann-Robinson, Enforcement of European Union Environmental Law, 2. Edition 2015, S. 66. 386  Dazu: von Borries, in: Ipsen/Stüer, FS Rengeling, 2008, S. 503 f.; vgl. auch die Forderung der Kommission nach der Einrichtung nationaler Koordinierungsstellen: KOM, Mitteilung zur besseren Kontrolle der Anwendung des Gemeinschaftsrechts, 11.12.2002, KOM(2002) 725 endg., S. 9. 387  Albin, DVBl 2000, 1483 (1487); Handroušek, JEEPL 2012, 235 (235); Scheuing, NVwZ 1999, 475 (477); Smith, in: Drake/Smith, New Directions in the Effective Enforcement of EU Law and Policy, 2016, S. 47.

184

2. Teil: Das Vertragsverletzungsverfahren

zungsverfahrens verbunden.388 So errechnete Krämer auf Grundlage von 18 Vertragsverletzungsurteilen, die im Zeitraum zwischen 1992 und 1994 im Bereich des Umweltschutzes ergangenen waren, eine durchschnittliche Dauer von 4,5 Jahren sowohl für das Erst- als auch für das Zweitverfahren. Das längste Erstverfahren nahm von der Versendung des verfahrenseröffnenden Mahnschreibens bis hin zum Feststellungsurteil des EuGH sogar 85 Monate – d. h. etwa 7 Jahre – in Anspruch.389 Zwar konnte das Vertragsverletzungsverfahren mit der Einführung des e-Curia-Systems390, das es Mitgliedstaaten und EU-Institutionen erlaubt, Verfahrensdokumente auf elektronischem Weg einzureichen und zuzustellen, erleichtert werden. Den von Hedemann-Robinson fast 20 Jahre nach Krämer durchgeführten Untersuchungen umweltrelevanter Vertragsverletzungsangelegenheiten zufolge lag die regelmäßige Dauer eines vollständigen – d. h. auch das informelle Vorverfahren umfassenden – Erstverfahrens zwischen 2010 und 2012 aber noch immer bei mehr als 40 Monaten.391 Für ein daran anschließendes Zweitverfahren errechnete er eine durchschnittliche Dauer von weiteren 32 Monaten,392 so dass bis zu einem mit finanziellen Sanktionen bewehrten Zweiturteil mehr als sechs Jahre verstreichen konnten. Eine kürzere Verfahrensdauer von nur 22 Monaten antizipierte HedemannRobinson lediglich in Fällen der Nichtmitteilung nationaler Umsetzungsmaß­ nahmen,393 in denen die Kommission üblicherweise auf die Durchführung eines informellen Vorverfahrens verzichtet. Soweit die Kommission die Mitgliedstaaten in regelmäßigen Abständen an ihre Mitteilungspflichten erinnert, besteht im Falle eines Versäumnisses kein Grund, in informellem Rahmen auf eine einvernehmliche Lösung hinzuwirken. Der Mitgliedstaat hat seinen 388  Ehricke, in: S ­ treinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 258 AEUV Rn. 36; Pechstein, EU-Prozessrecht, 4. Auflage 2011, Rn. 323. 389  Krämer, EuGRZ 1995, 45 (46); von 7 oder sogar 8 Jahren sprechend auch: Scheuing, NVwZ 1999, 475 (477). 390  Beschluss des Gerichtshofs vom 13. September 2011 über die Einreichung und die Zustellung von Verfahrensschriftstücken im Wege der Anwendung e-Curia, ABl. 2011, Nr. C 289, S. 7 ff., aufgehoben und ersetzt durch: Beschluss des Gerichtshofs vom 16. Oktober 2018 über die Einreichung und die Zustellung von Verfahrensschriftstücken im Wege der Anwendung e-Curia, ABl. 2018, Nr. L 293, S. 36. 391  Zur Dauer der einzelnen Verfahrensschritte im Detail: Hedemann-Robinson, Enforcement of European Union Environmental Law, 2. Edition 2015, S. 68 f.; dahingehend auch Ehricke, der die Dauer des Vorverfahrens auf 12–18 Monate und die Dauer des gerichtlichen Verfahrens auf ca. 17 Monate schätzt, vgl. Ehricke, in: ­­Streinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 258 AEUV Rn. 36. 392  Zur Dauer der einzelnen Verfahrensschritte im Detail: Hedemann-Robinson, Enforcement of European Union Environmental Law, 2. Edition 2015, S. 151. 393  Hedemann-Robinson, Enforcement of European Union Environmental Law, 2. Edition 2015, S. 67.



B. Funktionsweise und Durchsetzungskraft185

Unwillen, unionsrechtliche Verpflichtungen rechtzeitig zu erfüllen, bereits demonstriert, indem er nationale Umsetzungsmaßnahmen trotz klarer Aufforderung nicht mitgeteilt hat.394 Da Mitteilungspflichtverletzungen leicht zu erkennen sind, werden Mahnschreiben zur Eröffnung des formellen Vorverfahrens sogar automatisch versendet.395 Hinzu kommt, dass in Fällen der Nichtmitteilung nur die wenigsten Angelegenheiten die gerichtliche Verfahrensphase erreichen. Da über Verstöße gegen Mitteilungspflichten in der Regel keine rechtlichen Unklarheiten bestehen, lassen es die Mitgliedstaaten eher nicht auf ein Verfahren vor dem EuGH ankommen.396 Obwohl der Zeitaufwand im Instrumentarium nach Art. 258 ff. AEUV bereits vor Jahrzehnten als Schwachstelle identifiziert wurde, konnte eine effektive Verkürzung überlanger Verfahrensdauern bisher nicht erreicht werden. Ausweislich des von der Kommission jährlich veröffentlichten Single Market Scoreboards nimmt allein das außergerichtliche Verfahren in der Regel mehrere Jahre in Anspruch.397 Fälle der Nichtmitteilung nicht eingerechnet, befanden sich die im Dezember des Jahres 2019 im formellen Vorverfahren anhängigen Vertragsverletzungsfälle seit durchschnittlich 34,8 Monaten in Bearbeitung.398 Bis Dezember 2020 stieg das „Durchschnittsalter“ aktiver Vertragsverletzungsverfahren in der außergerichtlichen Phase sogar auf 37,3 Monate.399 Fälle aus den Bereichen Wasserwirtschaft sowie Fälle im 394  Vgl. Holzinger, Politik des kleinsten gemeinsamen Nenners?, 1994, S. 103; dazu: 2. Teil, B. II. 1. a). 395  KOM, Mitteilung zur besseren Kontrolle der Anwendung des Gemeinschaftsrechts, 11.12.2002, KOM 2002(725) endg., S. 20; Sobotta, ZUR 2008, 72 (73). 396  Sobotta, ZUR 2008, 72 (73). 397  Für das Vorverfahren in Nichtmitteilungsfällen hat sich die Kommission eine „Benchmarkvorgabe“ von 12 Monaten gesetzt. In Fällen der fehlerhaften Anwendung von Unionsrecht können die Untersuchungen der Kommission hingegen deutlich mehr Zeit in Anspruch nehmen, zumal hier eine Vielzahl von Fakten über die praktische Anwendungssituation gesammelt, verifiziert und ausgewertet werden muss, bevor die Kommission weitere Schritte unternehmen kann. Für das Vorverfahren im Zweitverfahren hat sich die Kommission einen Zeitrahmen zwischen 12 und 24 Monaten gesetzt, vgl. dazu: KOM, Mitteilung der Kommission – Ein Europa der Ergebnisse – Anwendung des Gemeinschaftsrechts, 5.9.2007, KOM(2007) 502 endg., S. 10; Hedemann-Robinson, Enforcement of European Union Environmental Law, 2. Edition 2015, S. 63, 65. 398  Ausgehend vom Zeitpunkt der Versendung des verfahrenseröffnenden Mahnschreibens: KOM, Single Market Scoreboard, Infringements, 12/2018–12/2019, Duration of Infringement proceedings, abrufbar unter: https://ec.europa.eu/internal_mar ket/scoreboard/_docs/2020/07/performance_by_governance_tool/infringements_en. pdf (Stand: 14.2.2023). 399  KOM, Single Market Scoreboard, Infringements, 12/2019–12/2020, Duration of Infringement proceedings, abrufbar unter: https://ec.europa.eu/internal_market/ scoreboard/_docs/2021/12/governance-tools/infringements_en.pdf (Stand: 14.2.2023).

186

2. Teil: Das Vertragsverletzungsverfahren

Zusammenhang mit schädlichen Umwelteinwirkungen lagen mit 34,4 bzw. 32,5  Monaten unter diesem Mittelwert, während Luftverschmutzungsangelegenheiten den politikbereichsübergreifenden Durchschnitt mit 40,1  Monaten Laufzeit überstiegen.400 Weiterhin wurde errechnet, dass die Mitgliedstaaten im Zeitraum zwischen 2015 und 2020 weitere 31,7 Monate und damit ca. 50 % länger als noch vor fünf Jahren benötigten, um eine gerichtlich fest­ gestellte Vertragsverletzung zufriedenstellend zu korrigieren und einen Abschluss des Verfahrens zu ermöglichen; für den Zeitraum zwischen 2014 und 2019 lag die durchschnittliche Dauer noch bei 29,5  Monaten.401 Bevor ein erst nach langjährigem Verfahren ergangenes Vertragsverletzungsurteil tatsächlich zur Herstellung unionsrechtskonformer Zustände führt, verstreichen also nicht selten weitere zwei bis drei Jahre. Gerade im Umweltbereich, in dem fortgesetzte EU-Rechtsverletzungen irreversible Umweltschäden und schwerwiegende Verzerrungen des Binnenmarktes zur Folge haben können, birgt diese spät einsetzende Durchsetzungskraft ein erhebliches Risiko. 3. Kapazitätsgrenzen Schließlich wird der Kommission die Erfüllung ihres Vollzugskontrollauftrags auch durch das Fehlen hinreichender Ressourcenkapazitäten und administrativer Strukturen erschwert.402 Wie bereits an anderer Stelle dargestellt, versucht die Kommission ihre Kapazitätsgrenzen durch die Festlegung strategischer Prioritäten bei der Verfolgung mitgliedstaatlicher Vertragsverletzungen abzufedern.403 Bei zu selektivem Vorgehen liefe sie jedoch Gefahr, ihre eigene Glaubwürdigkeit als Vollzugskontrollinstanz in Frage zu stellen404 und die Mitgliedstaaten dazu zu verleiten, sich im Fall einer Vertragsverletzung darauf zu verlassen, nicht belangt zu werden.

400  KOM, Single Market Scoreboard, Infringements, 12/2019–12/2020, Average duration by sector, S. 15 f., abrufbar unter: https://ec.europa.eu/internal_market/score board/_docs/2021/12/governance-tools/infringements_en.pdf (Stand: 14.2.2023). 401  KOM, Single Market Scoreboard, Infringements, 12/2019–12/2020, Time Taken to Comply with Court ruling, abrufbar unter: https://ec.europa.eu/internal_market/ scoreboard/_docs/2021/12/governance-tools/infringements_en.pdf (Stand: 14.2.2023); KOM, Single Market Scoreboard, Infringements, 12/2018–12/2019, Time Taken to Comply with Court ruling, abrufbar unter: https://ec.europa.eu/internal_market/score board/_docs/2020/07/performance_by_governance_tool/infringements_en.pdf (Stand: 14.2.2023). 402  Epiney, Umweltrecht der EU, 4. Auflage 2019, S. 81 f.; Wennerås, in: Jakab/ Kochenov, The Enforcement of EU Law and Values, 2017, S. 80. 403  Dazu: 2. Teil, B. V. 1. c) cc). 404  Vgl. Dehousse, JEPP 1997, 246 (253).



C. Fortentwicklung des Vertragsverletzungsverfahrens187

Ressourcentechnische Schwierigkeiten stellen sich nicht nur bei der Verfolgung und Bearbeitung bereits entdeckter Vertragsverletzungsangelegenheiten, selbst wenn diese im Einzelfall noch umfassende Aufklärungs- und Kommunikationsarbeit verlangen. Bemerkbar machen sich die Kapazitätsgrenzen der Kommission vor allem bei der Überwachung des Unionsrechtsvollzugs zur Ermittlung neuer potenzieller Rechtsverstöße. Zwar verfügt die GD ENV heute über mehr als 450 Mitarbeiter*innen.405 Mit Blick auf den enormen, stetig wachsenden Umfang unionsrechtlicher Umweltvorgaben und die unüberschaubare Vielzahl nationaler Umsetzungs- und Anwendungsmaßnahmen kann die Kommission eine zentral auf EU-Ebene organisierte, flächendeckende Überwachung sämtlicher Vollzugsvorgänge mit den ihr zur Verfügung stehenden Mitteln nicht leisten. Im Verhältnis zur geografischen Größe der EU ist sie zu schwach besetzt. Während die Kommission bei der Kontrolle der EU-Richtlinienumsetzung immerhin auf die Informationen zurückgreifen kann, die ihr von den Mitgliedstaaten in Erfüllung ihrer sekundärrechtlichen Mittelungspflichten zugetragen wurden, stößt sie vor allem bei der Kontrolle der Anwendung des EU-Rechts in den Mitgliedstaaten an ihre Grenzen.406 Zwar sind für die Anwendungskontrolle zuvorderst die Mitgliedstaaten in Ausübung ihrer Vollzugskompetenzen verantwortlich. Um zu gewährleisten, dass Unionsrecht bzw. Recht, das in Umsetzung unionsrechtlicher Vorgaben ergangen ist, auch im Vergleich zu „rein“ nationalem Recht effektiv vollzogen wird, darf sich die Kommission jedoch nicht blind auf die mitgliedstaatlichen Durchsetzungsmechanismen verlassen.407 Dies gilt vor allem im umweltrechtlichen Bereich, in dem effektive gerichtliche Kontrollen in den Mitgliedstaaten oft am Fehlen subjektiv betroffener Kläger scheitern.408 Ob eine Vertragsverletzung entdeckt und verfolgt wird, hängt somit in gewissem Maße vom Zufall ab.409

C. Fortentwicklung des Vertragsverletzungsverfahrens Um das Vollzugskontrollinstrumentarium des Vertragsverletzungsverfahrens effektiver zu gestalten und seine Durchsetzungskraft zu verschärfen, 405  KOM, 2018 Annual Activity Report – GD ENV, 2018, S. 3, abrufbar unter: https://commission.europa.eu/system/files/2019-06/env_aar_2018_final.pdf.pdf (Stand: 14.2.2023). 406  Everling, in: Depenheuer/Heintzen u. a., FS-Isensee, 2007, S. 780 f. 407  Epiney, Umweltrecht der EU, 4. Auflage 2019, S. 81 f.; Meßerschmidt, Euro­ päisches Umweltrecht, 2011, § 2 Rn. 442. 408  Dazu: 1. Teil, B. II. 5. 409  Everling, in: Depenheuer/Heintzen u. a., FS-Isensee, 2007, S. 782.

188

2. Teil: Das Vertragsverletzungsverfahren

wurden in den vergangenen Jahren immer wieder Initiativen ergriffen, die entweder das Verfahren selbst fortentwickeln oder um unterstützende Instrumente ergänzen sollten. Zwar blieb das Vertragsverletzungsverfahren in seiner Funktionsweise grundlegend unangetastet. Über Vertragsänderungen und verfolgungspolitische Kurskorrekturen der Kommission wurde jedoch mehrfach „nachgerüstet“.410 Mit voranschreitender Entwicklung der heutigen EU hin zu einer Rechtsund Wertegemeinschaft wurde der wirksamen Umsetzung und Anwendung europäischer Vorgaben zunehmend Bedeutung beigemessen. Wie das Vertrauen in das europäische Regime gestärkt, die Kluft zwischen Union und ihren Bürgerinnen bzw. Bürgern überwunden und die Politik europäischer Institutionen sachgerechter und wirksamer gestaltet werden kann, wurde vor allem im Zuge der Good Governance Debatte vor dem Hintergrund der anstehenden EU-Osterweiterung zu Beginn der 2000er-Jahre diskutiert.411 Angestoßen durch das ablehnende Referendum Irlands zur Notifizierung des Vertrags von Nizza wurde eine Reform der Unionspolitik unter Rückgriff auf die Grundsätze der Offenheit, Partizipation, Verantwortlichkeit, Effektivität und Kohärenz, hin zu einer demokratischeren und rechtsstaatlichen Form des Regierens angestrebt.412 Die Kommission forcierte in diesem Zusammenhang eine Rückbesinnung auf ihre Kernaufgaben: Um dem Rechtsstaatsprinzip als Grundlage der Union zur Durchsetzung zu verhelfen und die Glaubwürdigkeit der Unionspolitik zu steigern, hob sie im Rahmen ihrer Verlautbarung Europäisches Regieren – ein Weißbuch ihre Rolle als Hüterin der Verträge hervor, zu der die sorgfältige Überwachung der Rechtsanwendung ebenso gehöre, wie die „energische“ Verfolgung von Vertragsverletzungen.413 In ihrer daran anknüpfenden Mitteilung zur besseren Kontrolle der Anwendung des Gemeinschaftsrechts stellte die Kommission zunächst die Bedeutung präventiver Strategien zur Vermeidung nationaler Vertragsverletzungen in den Vordergrund.414 Gleichzeitig akzentuierte sie aber den Stellenwert des Vertragsverletzungsverfahrens, indem sie betonte, dass Präventionsmaßnahmen „die Verantwortung der Kommission für die Kontrolle der Anwendung

EuR 2020, 332 (333). dazu: KOM, Europäisches Regieren – ein Weißbuch, 25.1.2001, KOM(2001) 428 endg., S. 1 f.; Smith, ELRev 2008, 777 (781 f.). 412  KOM, Europäisches Regieren – ein Weißbuch, 25.1.2001, KOM(2001) 428 endg., S.  7 f. 413  KOM, Europäisches Regieren – ein Weißbuch, 25.1.2001, KOM(2001) 428 endg., S. 6, 21; vgl. auch später: KOM, Mitteilung zur besseren Kontrolle der Anwendung des Gemeinschaftsrechts, 11.12.2002, KOM(2002) 725 endg., S. 1 f. 414  KOM, Mitteilung zur besseren Kontrolle der Anwendung des Gemeinschaftsrechts, 11.12.2002, KOM(2002) 725 endg., S. 5 ff. 410  Gundel, 411  Vgl.



C. Fortentwicklung des Vertragsverletzungsverfahrens189

des Gemeinschaftsrechts, die Verfolgung von Verstößen und, falls nötig, für die Erhebung einer Klage nicht ersetzen“ könnten.415 Ausgehend von ihrer Mitteilung Strategische Überlegungen zur Verbesserung der Rechtsetzung in der Europäischen Union416 aus dem Jahr 2006, an die sich u. a. das Programm zur Gewährleistung der Effizienz und Leistungsfähigkeit der Rechtsetzung (engl.: regulatory fitness and performance programme; REFIT)417 als Teil der europäischen Agenda für bessere Rechtsetzung418 anschlossen, begann die Kommission ihre Rolle als Hüterin der Verträge zunehmend mit ihrer gesetzgeberischen Initiativfunktion zu verbinden. In der Literatur wurde dieser Ansatz bisweilen als „Wandel der Kon­ trollkultur“, fort vom ex-post gerichteten Ansatz des Vertragsverletzungsverfahrens und hin zu einer stärkeren Betonung präventiver Kontrollmaßnahmen gewertet.419 Ergänzungen und Fortentwicklungen des Vertragsverletzungsverfahrens durch Hilfsinstrumente wie die Vertragsverletzungsbeschwerde, das EU-Pilot-Verfahren, das mit dem Vertrag von Lissabon neu eingeführte verkürzte Verfahren nach Art. 260 III AEUV sowie die erst 2019 unions­ gerichtlich bestätigte Möglichkeit, einstweilige Anordnungen nach Art. 279 AEUV auch in Vertragsverletzungsangelegenheiten zu treffen zeigen jedoch, dass das Vertragsverletzungsverfahren i. S. v. Art. 258 ff. AEUV in den letzten Jahren keineswegs vernachlässigt, sondern vielmehr parallel ausgebaut wurde.

I. Die Vertragsverletzungsbeschwerde Während die Kommission zur Kontrolle nationaler Umsetzungsmaßnahmen auf Informationen zurückgreifen kann, die ihr von den Mitgliedstaaten in Erfüllung sekundärrechtlicher Mitteilungspflichten übermittelt werden,420 415  KOM, Mitteilung zur besseren Kontrolle der Anwendung des Gemeinschaftsrechts, 11.12.2002, KOM(2002) 725 endg., S. 11. 416  KOM, Mitteilung an den Rat, das Europäische Parlament, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen – Strategische Überlegungen zur Verbesserung der Rechtsetzung in der Europäischen Union, 14.11.2006, KOM(2006) 689 endg. 417  KOM, Mitteilung an den Rat, das Europäische Parlament, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen – Regulatorische Eignung der EU-Vorschriften, 12.12.2012, KOM(2012) 746 final. 418  KOM, Mitteilung an den Rat, das Europäische Parlament, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen – Bessere Ergebnisse durch bessere Rechtsetzung – Eine Agenda der EU, 19.5.2015, COM(2015) 215 final. 419  So wohl: von Borries, in: Ipsen/Stüer, FS Rengeling, 2008, S. 502. 420  Dazu: 2. Teil, B. VI. 1.

190

2. Teil: Das Vertragsverletzungsverfahren

ist sie bei der Anwendungskontrolle auf alternative Informationsquellen angewiesen. Als besonders wertvoll hat sich dabei der Input privater Akteure erwiesen, die sich über Vertragsverletzungsbeschwerden421 an die Kommission wenden können. Auf diese Weise wird die Kontrolle des EU-Rechtsvollzugs für Bedenken natürlicher Personen, Unternehmen, NGOs und anderer Interessenträger geöffnet, die Beobachtungen aus größerer Sachnähe zur nationalen Vollzugsebene anstellen können und eine Überwachungsbandbreite ermöglichen, die die Kommission mit ihren eigenen Personalbeständen niemals zu leisten im Stande wäre.422 Um möglichst ungehindert auf die Zivilgesellschaft als Informationsquelle zurückgreifen zu können, wurden bereits 1989 bzw. 1999 standardisierte Formblätter423 veröffentlicht, mit deren Hilfe jedermann die Kommission per Beschwerde über vermutete Unionsrechtsverstöße in Kenntnis setzen konnte.424 Während das ausgefüllte Formular zunächst per Brief, Fax oder Email an das Generalsekretariat der Kommission oder eines ihrer Presse- und Informationsbüros in den Mitgliedstaaten gesendet werden musste,425 besteht heute die Möglichkeit, Vertragsverletzungsbeschwerden vollständig digital mit Hilfe einer Eingabemaske über die Internetseite der Kommission einzubringen.426

421  Sobotta, ZUR 2008, 72 (72 ff.); mit Bezug zum Umweltrecht auch „Umweltbeschwerde“: Scheuing, NVwZ 1999, 475 (481). 422  Albin, DVBl 2000, 1483 (1487); Huber, in: Rengeling, Hdb. zum europäischen und deutschen Umweltrecht Bd. I, 2. Auflage 2003, § 19 Rn. 28. 423  KOM, Beschwerde bei der Kommission der Europäischen Gemeinschaften wegen Nichteinhaltung der Rechtsvorschriften der Gemeinschaft, ABl. 1989, Nr. C 26, S.  6 ff.; KOM, Nichtbeachtung des Gemeinschaftsrechts durch einen Mitgliedstaat: Standardformular zwecks Einreichung einer Beschwerde bei der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, ABl. 1999, Nr. C 119, S. 5 ff. 424  Hedemann-Robinson, Enforcement of European Union Environmental Law, 2. Edition 2015, S. 60; Scheuing, NVwZ 1999, 475 (481). 425  KOM, Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Europäischen Bürgerbeauftragten über die Beziehungen zum Beschwerdeführer bei Verstößen gegen das Gemeinschaftsrecht, 20.3.2002, KOM(2002) 141 final, S. 6; KOM, Beschwerde bei der Kommission der Europäischen Gemeinschaften wegen Nichteinhaltung der Rechtsvorschriften der Gemeinschaft, ABl. 1989, Nr. C 26, S. 7. 426  KOM, Beschwerdeformular zur Meldung eines Verstoßes gegen das EU-Recht, o.  D., abrufbar unter: https://ec.europa.eu/assets/sg/report-a-breach/complaints_de/­ index.html (Stand: 14.2.2023).



C. Fortentwicklung des Vertragsverletzungsverfahrens191

1. Die Vertragsverletzungsbeschwerde in der Praxis: Empirischer Befund Die Möglichkeit zur Beschwerde bei der Kommission wird in der Praxis aktiv genutzt. Ausweislich ihrer Jahresberichte über die Kontrolle der Anwendung des EU-Rechts gingen zwischen 2012 und 2020 durchschnittlich etwa 3600 Beschwerden pro Jahr bei der Kommission ein (Abbildung 7). Abgesehen von einem kleinen Einbruch 2015 stieg die Zahl neu vorgebrachter Vertragsverletzungsbeschwerden in diesem Zeitraum stetig an. Ein vorläufiger Höchststand von 3850 Beschwerden wurde im Jahr 2018 erreicht.427 2019 folgte erstmals ein leichter Rückgang auf 3525 neue Beschwerden, der sich 2020 allerdings nicht fortsetzte.428 Im Umweltsektor zeigte sich eine nahezu gegenläufige Tendenz. Bis 2016 ging die Zahl neuer Vertragsverletzungsbeschwerden fortlaufend zurück (Abbildung 7). Bezogen sich 2012 mit 588 Beschwerden noch die meisten auf die Durchführung des EU-Umweltrechts,429 rangierten Fälle aus diesem Bereich 2016 mit 348 Beschwerden nur noch an fünfter Stelle.430 Auf eine generelle Verbesserung nationaler Vollzugsleistungen im Umweltsektor kann daraus nicht geschlossen werden. Schließlich stieg die Zahl neuer Beschwerden 2017 erneut auf 518,431 2019 und 2020 bezogen sich wieder die zweitmeisten Fälle auf die Durchführung umweltrechtlicher Vorgaben.432 Da die Feststellung, ob ein Mitgliedstaat EU-Umweltrecht verletzt hat gemäß Art. 260 I AEUV dem EuGH vorbehalten bleibt, trifft allein die sinkende oder steigende Anzahl neuer Eingaben auch keine Aussage darüber, inwieweit sich die vorgetragenen Bedenken als begründet erwiesen haben.

427  KOM, Staff Working Document, Part I: General statistical overview, 4.7.2019, SWD(2019) 285 final, S. 12. 428  KOM, Staff Working Document, Part I: General statistical overview, 31.7.2020, SWD(2020) 147 final, S. 15; KOM, Staff Working Document, General statistical overview, 23.7.2021, SWD(2021) 212 final, S. 17. 429  Hedemann-Robinson, Enforcement of European Union Environmental Law, 2. Edition 2015, S. 247; KOM, 30. Jahresbericht über die Kontrolle der Anwendung des Gemeinschaftsrechts (2012), 22.10.2013, KOM(2013) 726 final, S. 6. 430  KOM, Kontrolle der Anwendung des EU-Rechts Jahresbericht 2016, 6.7.2017 COM(2017) 370 final, S. 23. 431  KOM, Staff Working Document, Part I: General statistical overview 12.7.2018, SWD(2018) 377 final, S. 6. 432  Spitzenreiter 2019 und 2020 war mit 986 bzw. 1243 Beschwerden der Bereich Justiz und Verbraucher: KOM, Staff Working Document, Part I: General statistical overview, 31.7.2020, SWD(2020) 147 final, S. 15; KOM, Staff Working Document, General statistical overview, 23.7.2021, SWD(2021) 212 final, S. 17.

192

2. Teil: Das Vertragsverletzungsverfahren

3505

3715

3141

588

2012

520

2013

508

2014

3450

363 2015

3783

348 2016

Beschwerden in Umweltangelegenheiten

3786

518

2017

3850

339 2018

3525

443

2019

3727

397 2020

Beschwerden insgesamt

Abbildung 7: Neue Beschwerden nach Jahren433

In der Praxis wird der Großteil aller Vertragsverletzungsbeschwerden von der Kommission nicht weiterverfolgt. Bietet eine Beschwerde keine hinreichenden Anhaltspunkte für das Vorliegen eines Unionsrechtsverstoßes, genügt die Eingabe formalen Anforderungen nicht oder liegt die Angelegenheit außerhalb des Kompetenzbereichs der Kommission, wird sie sofort für erledigt erklärt. In einigen Fällen ziehen Beschwerdeführende ihre Beschwerden auch selbst zurück. So gab die Kommission in ihrem Jahresbericht 2020 an, 3207 Beschwerden bearbeitet zu haben. Davon wurden 3017 Beschwerdeverfahren für abgeschlossen erklärt, ohne weitere informelle Untersuchungen oder formelle Verfahrensschritte nach sich zu ziehen. Weiterverfolgt wurden 190 Fälle;434 dies entspricht einem Proporz von gerade einmal 6 %. Dennoch 433  Grafik in eigener Darstellung, Zahlen nach: KOM, Bericht der Kommission, Kontrolle der Anwendung des EU-Rechts, Jahresbericht 2015, 15.7.2016, COM(2016) 453 endg. S. 19; KOM, Staff Working Document, Part I: Policy areas, 15.7.2016, SWD(2016) 230 final, S. 39; KOM, Kontrolle der Anwendung des EU-Rechts Jahresbericht 2016, 6.7.2017, COM(2017) 370 final, S. 22; KOM, Staff Working Document, Part I: Policy areas, 6.7.2017, SWD(2017) 253 final, S. 24; KOM, Staff Working Document, Part I: General statistical overview, 12.7.2018, SWD(2018) 377 final, S. 10; KOM, Monitoring the Application of Union law 2017 Annual Report, Part II: Policy areas, 12.7.2018, SWD(2018) 378 final, S. 24; KOM, Staff Working Document, Part I: General statistical overview, 4.7.2019, SWD(2019) 285 final, S. 12; KOM, Staff Working Document, Part I: General statistical overview, 31.7.2020, SWD(2020) 147 final, S. 15; KOM, Staff Working Document, General statistical overview, 23.7.2021, SWD(2021) 212 final, S. 17. 434  KOM, Staff Working Document, General statistical overview, 23.7.2021, SWD(2021) 212 final, S. 17 f.





C. Fortentwicklung des Vertragsverletzungsverfahrens193

hat die Kommission bisher keine Versuche unternommen, die Zahl jährlich eingehender Vertragsverletzungsbeschwerden zu reduzieren. Zwar verursacht ihre Bearbeitung hohen Bearbeitungsaufwand in den Kommissionsdienststellen, die Wahrscheinlichkeit, aufschlussreiche Angaben von Seiten der Zivilgesellschaft zu erhalten, steigt jedoch mit zunehmender Popularität des Beschwerdeverfahrens in der Bevölkerung. Obwohl die Kommission stets mit knappen Ressourcen zu kämpfen hat, scheint der verhältnismäßige Nutzen der Vertragsverletzungsbeschwerde für sie außer Frage zu stehen. So betonte die Kommission bereits in mehreren Mitteilungen die „immense Bedeu­ tung“435 bzw. „unentbehrliche“436 Rolle privater Beschwerden bei der Aufdeckung von Unionsrechtsverstößen. Wurden im Jahr 2020 insgesamt 903 Mahnschreiben zur Eröffnung neuer Vertragsverletzungsverfahren versendet, gingen lediglich 306 dieser Fälle (ca. 34 %) auf eigene Untersuchungen der Kommission zurück.437 Alle übrigen Fälle wurden durch andere Erkenntnisquellen angestoßen. Inwieweit es sich dabei um beschwerdebasierte Vertragsverletzungsverfahren handelte, wurde in den neueren Jahresberichten der Kommission nicht klar aufgeschlüsselt. Da unter der Rubrik „Detecting breaches“ neben dem Beschwerdeverfahren auch auf die Ausübung des unionsrechtlichen Petitionsrechts eingegangen wird, zählt die Kommission zum hohen Anteil an Verfahren, die nicht allein auf eigenen Untersuchungen beruhen, offenbar auch solche Fälle, auf die sie über das EU-Parlament aufgrund von Petitionen oder Anfragen aufmerksam gemacht wurde.438 Weiterhin lässt die Darstellungspraxis der Kommission in ihren Jahresberichten bis 2010 darauf schließen, dass sie auch Fälle der Nichtmitteilung von den auf eigene Untersuchungen zurückgehenden Vertragsverletzungsverfahren unterscheidet.439 Inwieweit Be435  KOM, Mitteilung an das Europäische Parlament und den Europäischen Bürgerbeauftragten über die Beziehungen zum Beschwerdeführer bei Verstößen gegen das Gemeinschaftsrecht, 20.3.2002, KOM(2002) 141 final, S. 2; KOM, Mitteilung an den Rat und das Europäische Parlament – Aktualisierung der Mitteilung über Beziehungen zu Beschwerdeführern in Fällen der Anwendung von Unionsrecht, 2.4.2012, KOM(2012) 154 final, S. 2. 436  KOM, Mitteilung zur besseren Kontrolle der Anwendung des Gemeinschaftsrechts, 11.12.2002, KOM(2002) 725 endg., S. 11, 14. 437  KOM, Staff Working Document, General statistical overview, 23.7.2021, SWD(2021) 212 final, S. 21. 438  KOM, Staff Working Document, General statistical overview, 23.7.2021, SWD(2021) 212 final, S. 15 ff. 439  Die Kommission unterschied in ihren älteren Berichten zwischen Vertragsverletzungsverfahren, die in eigener Initiative eröffnet wurden, beschwerdebasierten Verfahren und Fällen der Nichtmitteilung, vgl. etwa: KOM, Bericht der Kommission: 28. Jahresbericht über die Kontrolle der Anwendung des EU-Rechts (2010), 29.9.2011, KOM(2011) 588 endg., S. 3 f.

194

2. Teil: Das Vertragsverletzungsverfahren

schwerden aus der Zivilgesellschaft tatsächlich ursächlich für die Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens werden, lässt sich vor diesem Hintergrund kaum konkret beziffern. In jedem Fall ergibt sich aus den Jahres­ berichten der Kommission, dass die auf Untersuchungen in Eigeninitiative basierenden Vertragsverletzungsverfahren regelmäßig den kleineren Anteil ausmachen. Eine aufgeschlüsselte Darstellung für den Umweltbereich findet sich bei Hedemann-Robinson für die Jahre 2004 bis 2011: Von allen in diesem Zeitraum eröffneten Vertragsverletzungsverfahren gingen 43,5 % auf Beschwerden, 42 % auf kommissionseigene Untersuchungen und 14,5 % auf Mitteilungsversäumnisse zurück.440 2. Funktionsweise Die Kommission beschreibt die Vertragsverletzungsbeschwerde als „schrift­ liche Eingabe […], mit der auf Maßnahmen, Unterlassungen oder Praktiken eines Mitgliedstaates hingewiesen wird, die gegen Unionsrecht verstoßen“.441 Beschwerde erheben kann prinzipiell jeder, der der Ansicht ist, dass eine innerstaatliche Regelung oder Verwaltungspraxis einen Verstoß gegen eine Bestimmung oder einen Grundsatz des EU-Rechts darstellt.442 Reicht eine natürliche Person, ein Unternehmen oder eine Vereinigung ein ordnungsgemäß ausgefülltes Beschwerdeformular ein, wird der Eingang der Beschwerde zunächst beim Generalsekretariat der Kommission registriert.443 Mit CHAP (Complaint handling/Accueil des plaignants) steht hierfür seit September 2009 eine IT-Anwendung zur Verfügung, die die Registrierung und Bearbeitung vorgetragener Vertragsverletzungsbeschwerden sowie ihre spätere Überführung in das EU-Pilotsystem444 automatisiert und damit erleichtert.445 440  Vgl. die Aufstellung Hedemann-Robinsons, wonach im Umweltsektor zwischen 2004 und 2011 4682 neue Vertragsverletzungsverfahren eröffnet wurden, davon 2036 aufgrund von Beschwerden, 1968 aufgrund von kommissionseigenen Untersuchungen und 678 in Fällen der Nichtmitteilung: Hedemann-Robinson, Enforcement of European Union Environmental Law, 2. Edition 2015, S. 247. 441  KOM, Mitteilung an den Rat und das Europäische Parlament – Aktualisierung der Mitteilung über Beziehungen zu Beschwerdeführern in Fällen der Anwendung von Unionsrecht, 2.4.2012, KOM(2012) 154 final, S. 4. 442  KOM, Nichtbeachtung des Gemeinschaftsrechts durch einen Mitgliedstaat: Standardformular zwecks Einreichung einer Beschwerde bei der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, ABl. 1999, Nr. C 119, S. 7. 443  Cremer, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 6. Auflage 2022, Art. 258 AEUV Rn. 4. 444  Dazu: 2. Teil, C. II. 445  KOM, Mitteilung an den Rat und das Europäische Parlament – Aktualisierung der Mitteilung über Beziehungen zu Beschwerdeführern in Fällen der Anwendung von Unionsrecht, 2.4.2012, KOM(2012) 154 final, S. 2.



C. Fortentwicklung des Vertragsverletzungsverfahrens195

Mit Hilfe von CHAP werden zunächst alle Einlassungen ohne inhaltliche Prüfung gespeichert, solange sie den formalen Anforderungen an eine Beschwerde entsprechen. Nicht registriert werden nur Eingaben, die den potenziell gegen Unionsrecht verstoßenden Mitgliedstaat nicht erkennen lassen, anonyme und begründungslose Schreiben sowie Schreiben, denen der Bezug zum Unionsrecht fehlt. Darüber hinaus kann eine Beschwerde nur gegen staatliche Stellen, nicht gegen das Verhalten privater Akteure gerichtet werden.446 Zudem lehnt die Kommission die Registrierung solcher Eingaben als Beschwerden ab, die sich nur auf Gründe stützen, zu denen sie bereits öffentlich Stellung bezogen hat.447 Natürliche Personen und Unternehmen können bei der Formulierung ihrer Beschwerden kostenlos auf die Hilfe eines EU-Beratungsdienstes zurückgreifen, der gegenwärtig aus 65 Rechtssachverständigen des Aktionsdienstes der Europäischen Bürger (ECAS)448 besteht.449 Dass Beschwerdeführende Beweismittel für ihre Bedenken vorbringen, ist nicht erforderlich. Es genügt, dass ihre Angaben konkret genug sind, um eine Nachprüfung durch die Kommission zu ermöglichen.450 Hat die Kommission eine Vertragsverletzungsbeschwerde registriert, prüft sie die Eingabe inhaltlich und entscheidet über ihre weitere Vorgehensweise. Bietet eine Beschwerde Anlass, an der Unionsrechtmäßigkeit nationaler Maßnahmen zu zweifeln – begründet sie also sozusagen einen Anfangsverdacht451 – stellt die Kommission in der Regel zunächst informelle Ermittlungen in Zusammenarbeit mit dem betroffenen Mitgliedstaat an.452 So kann sie im Rahmen ihrer limitierten aktiven und passiven Investigationsbefugnisse etwa Sachverständigengutachten in Auftrag geben, Auskünfte von staatlichen Stellen einholen oder sich Urkunden vorlegen lassen.453 Mehrere gegen den446  KOM, Nichtbeachtung des Gemeinschaftsrechts durch einen Mitgliedstaat: Standardformular zwecks Einreichung einer Beschwerde bei der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, ABl. 1999, Nr. C 119, S. 7. 447  KOM, Mitteilung an das Europäische Parlament und den Europäischen Bürgerbeauftragten über die Beziehungen zum Beschwerdeführer bei Verstößen gegen das Gemeinschaftsrecht, 20.3.2002, KOM(2002) 141 final, S. 4 f.; KOM, Mitteilung an den Rat und das Europäische Parlament – Aktualisierung der Mitteilung über Beziehungen zu Beschwerdeführern in Fällen der Anwendung von Unionsrecht, 2.4.2012, KOM(2012) 154 final, S. 5. 448  Zur offiziellen Homepage: https://ecas.org/about-us/ (Stand: 14.2.2023). 449  Ihr Europa, Beratung, o.  D., abrufbar unter: https://europa.eu/youreurope/­ advice/index_de.htm (Stand: 14.2.2023). 450  Krämer, in: Gündling/Weber, Dicke Luft in Europa, 1998, S. 212. 451  Sobotta, ZUR 2008, 72 (74). 452  KOM, Legal Enforcement – Complaints, petitions and other sources of infringement information, o. D., http://ec.europa.eu/environment/legal/law/complaints. htm (Stand: 14.2.2023); Sobotta, ZUR 2008, 72 (74). 453  Krämer, in: Gündling/Weber, Dicke Luft in Europa, 1998, S. 212.

196

2. Teil: Das Vertragsverletzungsverfahren

selben Mitgliedstaat laufende Beschwerdeverfahren werden gegebenenfalls in Paketsitzungen gemeinsam diskutiert.454 Die Möglichkeit zur Vertragsverletzungsbeschwerde ist grundsätzlich nicht auf den Umweltsektor beschränkt. Ein besonderer Wert wird dem Beschwerdeverfahren in Literatur und Praxis aber für diejenigen Sektoren zuerkannt, in denen die Kommission, wie im Umweltbereich, über keine speziellen Investigationsbefugnisse verfügt.455 Da an die Beschwerde nur wenige formale Voraussetzungen geknüpft sind, insbesondere keine subjektive Betroffenheit gefordert wird,456 eignet sie sich uneingeschränkt zur Beanstandung objektiver Unionsrechtsverstöße. Gerade im Umweltrecht eröffnet die Beschwerde Umweltschutzverbänden und privaten Umweltschützern eine Gelegenheit, die Kommission auf objektive EU-Umweltrechtsverstöße aufmerksam zu machen, selbst wenn dadurch ausschließlich Tiere, Pflanzen oder Umweltmedien, d. h. gerade keine subjektiv-öffentlichen Rechtspositionen beeinträchtigt werden. Die Nützlichkeit der Vertragsverletzungsbeschwerde hängt vor allem von der Qualität der Informationen ab, die der Kommission zugetragen werden. Zwar dürfte die besondere Komplexität europäischer Umweltrechtsakte der breiten Öffentlichkeit erschweren, Umweltrechtsverletzungen fundiert zu begründen. Verfügt aber nur eine beschwerdeführende Person über die nötigen Fachkenntnisse, um die komplexen ökologischen und technischen Zusammenhänge, die den Umweltsektor zu einem besonders herausfordernden Regelungsgebiet machen zu durchschauen, kann sie bereits als Einzelne sinnvoll zur Kontrolle des EU-Umweltrechtsvollzugs beitragen.457 Anders als die europäische Bürgerinitiative, mit der sich die Kommission gemäß Art. 11 IV EUV nur befassen muss, wenn sie die Unterstützung von mindestens einer Million Unionsbürgerinnen und Bürgern gewinnen kann, setzt die Beschwerde kein kollektives Vorgehen voraus. Da die Eröffnung eines Vertragsverletzungsverfahrens nicht eingeklagt werden kann,458 gilt es allerdings 454  Sobotta,

ZUR 2008, 72 (74). Enforcement of European Union Environmental Law, 2. Edition 2015, S. 204. 456  KOM, Nichtbeachtung des Gemeinschaftsrechts durch einen Mitgliedstaat: Standardformular zwecks Einreichung einer Beschwerde bei der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, ABl. 1999, Nr. C 119, S. 7; KOM, Mitteilung an das Europäische Parlament und den Europäischen Bürgerbeauftragten über die Beziehungen zum Beschwerdeführer bei Verstößen gegen das Gemeinschaftsrecht, 20.3.2002, KOM(2002) 141 final, S. 4; KOM, Mitteilung an den Rat und das Europäische Parlament – Aktualisierung der Mitteilung über Beziehungen zu Beschwerdeführern in Fällen der Anwendung von Unionsrecht, 2.4.2012, KOM(2012) 154 final, S. 4. 457  Hedemann-Robinson, Enforcement of European Union Environmental Law, 2. Edition 2015, S. 205. 458  Dazu: 2. Teil, B. V. 1. c) cc). 455  Hedemann-Robinson,



C. Fortentwicklung des Vertragsverletzungsverfahrens197

zu berücksichtigen, dass die Vertragsverletzungsbeschwerde keinen mit nationalen Rechtsbehelfen vergleichbaren Rechtsschutz gewährt.459 Das Beschwerdeverfahren bietet zunächst nur eine – mit Blick auf die große Entscheidungsfreiheit der Kommission schwer einschätzbare – Chance, Kontrollmaßnahmen anzuregen.460 3. Die Rolle der Kommission im Verhältnis zu Beschwerdeführenden Soweit die Kommission bei der Verfolgung potenzieller Unionsrechtsverstöße über Ermessen verfügt, beschränken sich ihre Spielräume nicht nur auf Entscheidungen im unmittelbaren Zusammenhang mit der Eröffnung und dem Ablauf des eigentlichen Vertragsverletzungsverfahrens. Soll das unionsgerichtlich anerkannte Kommissionsermessen nicht unterwandert werden, müssen ihr im Rahmen des Beschwerdeverfahrens entsprechende Spielräume zustehen.461 Die Kommission dazu zu verpflichten, Beschwerden auf eine bestimmte Weise weiterzuverfolgen, ließe sich mit ihrer Stellung als Hüterin der Verträge kaum vereinbaren. Außerdem widerspräche die Annahme konkreter Verfolgungspflichten der hier vertretenen Auffassung, wonach auch die Entscheidung, kein Vertragsverletzungsverfahren einzuleiten der unionsgerichtlichen Kontrolle entzogen ist.462 Um ihre Ermessensspielräume vor Einmischungen zu schützen, war die Kommission stets bestrebt, ihre Entscheidungsprozesse undurchsichtig zu halten.463 Ob eine Entscheidung rechtlich geboten oder aber politisch motiviert war, ließ sich nicht nachvollziehen. Mit der Vertragsverletzungsbeschwerde wurde das ursprünglich nahezu her459  Bevor Beschwerdeführende auf der Internetseite der Kommission auf das Beschwerdeformular zugreifen können, werden sie sogar ausdrücklich darüber informiert, dass „die Bearbeitung der Beschwerde durch die Kommission […] wahrscheinlich nicht unmittelbar zur Lösung ihres persönlichen Anliegens führen“ wird, vgl. KOM, Beschwerdeformular zur Meldung eines Verstoßes gegen das EU-Recht, o.D, abrufbar unter: https://ec.europa.eu/assets/sg/report-a-breach/complaints_de/index. html (Stand: 14.2.2023). 460  Hedemann-Robinson, Enforcement of European Union Environmental Law, 2. Edition 2015, S. 204. 461  So jedenfalls die Kommission: KOM, Nichtbeachtung des Gemeinschaftsrechts durch einen Mitgliedstaat: Standardformular zwecks Einreichung einer Beschwerde bei der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, ABl. 1999, Nr. C 119, S. 7; KOM, Mitteilung an das Europäische Parlament und den Europäischen Bürgerbeauftragten über die Beziehungen zum Beschwerdeführer bei Verstößen gegen das Gemeinschaftsrecht, 20.3.2002, KOM(2002) 141 final, S. 4; KOM, Mitteilung an den Rat und das Europäische Parlament – Aktualisierung der Mitteilung über Beziehungen zu Beschwerdeführern in Fällen der Anwendung von Unionsrecht, 2.4.2012, KOM(2012) 154 final, S. 4; Sobotta, ZUR 2008, 72 (74). 462  Dazu: 2. Teil, B. V. 1. c) bb) und cc). 463  Peters, CMLR 2005, 697 (718).

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2. Teil: Das Vertragsverletzungsverfahren

metische Vertragsverletzungsverfahren jedoch um ein partizipatorisches Element ergänzt, das erstmals die Frage nach einer transparenteren Gestaltung kommissionsinterner Entscheidungsprozesse zu Gunsten einer effektiven Mobilisierung der Zivilgesellschaft aufwarf und das Vertragsverletzungsverfahrens in seiner heutigen Form entscheidend prägte. a) Rechtliche Grundlagen des Beschwerdeverfahrens Die Vertragsverletzungsbeschwerde zur Kommission ist eine Ausprägung des in Art. 20 II d) Var. 3, 24 UAbs. 4 AEUV verankerten Kommunikationsrechts464 und insoweit Teil des Grundsatzes der transparenten und guten Verwaltung der EU.465 Danach ist es Unionsbürgerinnen und Bürgern gestattet, sich in einer der Sprachen der Verträge mit Anfragen, Bitten, Beschwerden und sonstigen Anliegen unmittelbar an die in Art. 13 EUV genannten Organe und Einrichtungen zu wenden und eine Antwort in derselben Sprache zu erhalten.466 Eine korrespondierende Regelung findet sich in Art. 41 IV GrCh. Anders als Art. 24 UAbs. 4 AEUV knüpft die Norm jedoch nicht an den Unionsbürgerstatus an, so dass sich grundsätzlich „jede Person“ – und damit auch Angehörige dritter Staaten – gegenüber den Unionsorganen auf ein entsprechendes Recht berufen können.467 Zwar gewährt der Vertragstext explizit nur das Recht, Anliegen „schriftlich“ vorzutragen. Das Schriftlichkeitserfordernis ist in diesem Zusammenhang allerdings weit auszulegen, so dass es jedenfalls dem Einsatz effizienzsteigernder elektronischer Kommunikationstechniken nicht entgegensteht.468 Dem aus Art. 20 II d) Var. 3, 24 UAbs. 4 AEUV folgenden Recht, sich an die EU-Organe zu wenden und eine Antwort zu erhalten, steht auf Seiten der Kommission zunächst die primärrechtliche Pflicht gegenüber, Eingaben entgegenzunehmen und sich inhaltlich damit auseinanderzusetzen. Eine rein formale Eingangsbestätigung würde der hinter den in Art. 24 AEUV aufgeführten Partizipationsrechten stehenden Intention, Unionsbürgerinnen und 464  Abweichend von einem „Korrespondenzrecht“ sprechend: Magiera, in: ­Streinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 24 AEUV Rn. 1. 465  Haag, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht, 7. Auflage 2015, Art. 24 AEUV Rn. 8. 466  Haag, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht, 7. Auflage 2015, Art. 24 AEUV Rn. 9, 11; Magiera, in: S ­ treinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 24 AEUV Rn. 10; Nettesheim, in: Grabitz/Hilf/vNettesheim, Das Recht der EU, 73. EL 2021, Art. 24 AEUV Rn. 5. 467  Dazu im Detail: Magiera, in: Meyer/Hölscheidt, GrCh, 5.  Auflage 2019, Art. 41 GrCh Rn. 22 ff. 468  Nettesheim, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der EU, 73. EL 2021, Art. 24 AEUV Rn. 6.



C. Fortentwicklung des Vertragsverletzungsverfahrens199

Bürger in die Tätigkeit der Unionsorgane einzubeziehen nicht gerecht.469 Zum Ablauf des Beschwerdeverfahrens bestehen zwar keine primär- oder sekundärrechtlichen Regelungen. Die Kommission hat ihre Handhabungs­ praxis jedoch in verschiedenen Mitteilungen 2002470, 2012471 und 2016472 offengelegt, Verfahrensgarantien gegenüber Beschwerdeführenden übernommen, sich zur Durchführung bestimmter Verfahrensschritte verpflichtet und somit das Beschwerdeverfahren zunehmend formalisiert.473 So garantiert die Kommission, alle eingehenden Beschwerden zu registrieren, ihren Eingang schriftlich zu bestätigen, Beschwerdeführende über das Voranschreiten ihrer Eingabe auf dem Laufenden zu halten und über jede Beschwerde prinzipiell innerhalb eines Jahres zu entscheiden. Weiterhin hat sie sich verpflichtet, Beschwerdeführende im Fall einer beabsichtigten Verfahrenseinstellung über die Gründe zu informieren und ihnen Gelegenheit zu geben, ihre Gegenvorstellungen vorzutragen oder neue Tatsachen einzubringen, die eine Vertragsverletzung möglich erscheinen lassen.474 Mag es sich bei der Vertragsverletzungsbeschwerde auch um keinen förmlichen Rechtsbehelf handeln, wird in der Literatur doch von einer Verregelung des Beschwerdeverfahrens gesprochen.475 In diesem Sinne qualifiziert auch Saurer die Vertragsverletzungsbeschwerde zur Kommission als Grenzfall an der „Schnittstelle zwischen formellen und informellen Kontrollinstrumenten“.476 469  Haag, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht, 7. Auflage 2015, Art. 24 AEUV Rn. 9; Sobotta, ZUR 2008, 72 (74). 470  KOM, Mitteilung an das Europäische Parlament und den Europäischen Bürgerbeauftragten über die Beziehungen zum Beschwerdeführer bei Verstößen gegen das Gemeinschaftsrecht, 20.3.2002, KOM(2002) 141 final. 471  KOM, Mitteilung an den Rat und das Europäische Parlament – Aktualisierung der Mitteilung über Beziehungen zu Beschwerdeführern in Fällen der Anwendung von Unionsrecht, 2.4.2012, KOM(2012) 154 final. 472  KOM, Mitteilung – EU-Recht: Bessere Ergebnisse durch bessere Anwendung, 21.12.2016, COM(2016) 8600 final, Anhang. 473  Hält sich die Kommission bei der Bearbeitung einer Beschwerde nicht an die den Beschwerdeführenden im Wege der Selbstverpflichtung zugestandenen Verfahrensgarantien, steht den Beschwerdeführenden der Weg zum Bürgerbeauftragten offen, vgl. etwa die Entscheidungen des Europäischen Bürgerbeauftragten vom 29.10.1996, 206/95/IJH, Nr. 3.2; 9.3.1999, 1060/97/OV, Nr. 2 ff.; 24.8.2001, 493/2000/ ME, Nr. 1.3 ff.; 12.12.2005, 3317/2004/GG, Nr. 2.13. 474  KOM, Mitteilung an das Europäische Parlament und den Europäischen Bürgerbeauftragten über die Beziehungen zum Beschwerdeführer bei Verstößen gegen das Gemeinschaftsrecht, 20.3.2002, KOM(2002) 141 final, S. 7 f.; KOM, Mitteilung der Kommission an den Rat und das Europäische Parlament – Aktualisierung der Mitteilung über Beziehungen zu Beschwerdeführern in Fällen der Anwendung von Unionsrecht, 2.4.2012, KOM(2012) 154 final, S. 7. 475  Sobotta, ZUR 2008, 72 (75). 476  Saurer, EurUP 2016, 78 (84).

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2. Teil: Das Vertragsverletzungsverfahren

b) Die Vertragsverletzungsbeschwerde im Spannungsfeld zwischen Partizipationsrechten und Kommissionsermessen Schon bevor das heute in Art. 20 II d) Var. 3, 24 UAbs. 4 AEUV geregelte Kommunikationsrecht 1997 mit dem Vertrag von Amsterdam Eingang in das Unionsprimärrecht fand, konnten die Unionsorgane Eingaben im Rahmen ihrer Zuständigkeit entgegennehmen und prüfen.477 Bereits 1993 hatte sich die Kommission mittels einer interinstitutionellen Vereinbarung mit Rat und Parlament dazu verpflichtet, den „persönlichen, telefonischen und brieflichen Kontakt“ mit Bürgerinnen und Bürgern zu verbessern.478 Die zunehmende Formalisierung des Beschwerdeverfahrens sowie die damit verbundene Stärkung der Verfahrensstellung der Beschwerdeführenden zu Beginn der ­ 2000er Jahre gingen jedoch nicht auf eine eigene Initiative der Kommission zurück. Ausschlaggebend war vielmehr das Drängen des Europäischen Bürgerbeauftragten (Art. 24 III, 228 AEUV), der sich unmittelbar nach seinem Amtsantritt 1995 mit einer ganzen Reihe von Beschwerden über die Behandlung von Vertragsverletzungsbeschwerden durch die Kommission konfrontiert sah und dementsprechende Untersuchungen anstellte.479 Zwar verfügt der Europäische Bürgerbeauftragte über keine rechtlichen Durchsetzungsoder Sank­ tionsbefugnisse, mit denen er die Kommission dazu zwingen könnte, seine Empfehlungen oder Entscheidungen zu befolgen.480 Zur Kon­ trolle der Verwaltungstätigkeit der EU-Institutionen stehen ihm jedoch Investigationsbefugnisse zur Verfügung, mit deren Hilfe Missstände aufgedeckt, bekannt gemacht und somit politischer Druck aufgebaut werden kann. Der Bürgerbeauftragte fungiert insoweit als einzige neutrale Kontrollinstanz, die den Umgang der Kommission mit Vertragsverletzungsangelegenheiten in gewissem Umfang überwachen und einer Kontrolle durch das EU-Parlament zugänglich machen kann.481 Um die unionsgerichtlich geschützte Ermessensausübung der Kommission unangetastet zu lassen, bezogen sich die Untersuchungen des Bürgerbeauf477  Haag, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht, 7. Auflage 2015, Art. 24 AEUV Rn. 8. 478  EP/Rat/KOM, Interinstitutionelle Erklärung über Demokratie, Transparenz und Subsidiarität, ABl. 1993, Nr. C 329, S. 133. 479  Smith, ELRev 2008, 777 (788); zum Beschwerdeverfahren vor dem Europäischen Bürgerbeauftragten: Peters, CMLR 2005, 697 (705 f.). 480  So z.  B. die Entscheidung des Europäischen Bürgerbeauftragten vom 12.12.2005, 3317/2004/GG, in der der Bürgerbeauftragte festgestellt hat, dass die Kommission das Schreiben des Beschwerdeführenden als neue Beschwerde registriert hat. 481  Huber, ­Streinz, EUA/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 288 AEUV Rn. 8 ff.; Smith, ELP 2008, 777 (790).



C. Fortentwicklung des Vertragsverletzungsverfahrens201

tragten nur auf die verfahrensrechtlichen Beziehungen zwischen Beschwerdeführenden und Kommission.482 Im Ergebnis einigten sich Kommission und Bürgerbeauftragter auf die Übernahme bestimmter Verfahrensgarantien via Soft Law – eine Forderung, der die Kommission 2002 mit der Veröffentlichung ihrer Mitteilung über die Beziehungen zum Beschwerdeführer nachkam.483 In einer Untersuchung aus dem Jahr 2006 forderte der Bürgerbeauftragte die Kommission erstmals auf, über die Behandlung einer konkreten Vertragsverletzungsbeschwerde, die das Verbot von Wettdienstleistungen in Niedersachsen zum Gegenstand hatte, Rechenschaft abzulegen.484 Die Kommission hatte auf Anfragen des Beschwerdeführers nicht reagiert und insoweit gegen ihre Verfahrenspflichten verstoßen. Schließlich räumte sie ein, die Beschwerde bewusst ignoriert zu haben, da es sich um eine politisch brisante Angelegenheit gehandelt hatte, über deren weitere Handhabung im Kollegium kein Konsens erzielt werden konnte. Hatte die Kommission ihre Entscheidungsprozesse und Motive bisher stets im Dunkeln gehalten, gab sie nun zu, politische Opportunitätserwägungen über die Durchsetzung der EURechtsordnung gestellt zu haben.485 Indem der Bürgerbeauftragte die Ermessensausübung der Kommission in einem Sonderbericht an das Parlament offen kritisierte,486 wurde die Stellung der Kommission als politisch und rechtlich unangreifbare Kontrollinstanz erstmals hinterfragt. Als Folge der Einbeziehung europäischer Bürgerinnen, Bürger und Unternehmen in die Vollzugskontrolltätigkeit der Kommission wurde demnach ein grundlegender Konflikt offengelegt, dem die Kommission bei der Durchsetzung des EU-Rechts mit Hilfe des Vertragsverletzungsverfahrens schon immer gegenübergestanden hatte. Einerseits gebietet es die rechtliche Natur des Vertragsverletzungsverfahrens als Durchsetzungsinstrument, alle EU-Rechtsverstöße gleichermaßen zu verfolgen, andererseits kann der auf Kooperation und Konsens angelegte Charakter der EU ein politisch motiviertes Handeln 482  Bürgerbeauftragter, Jahresbericht des Europäischen Bürgerbeauftragten für das Jahr 1997, 20.4.1998, S. 301 ff., abrufbar unter: https://www.ombudsman.europa.eu/ pdf/de/3447 (Stand: 14.2.2023) sowie anschließend: Entscheidung des Europäischen Bürgerbeauftragten vom 30.1.2001, 995/98/OV. 483  KOM, Mitteilung an das Europäische Parlament und den Europäischen Bürgerbeauftragten über die Beziehungen zum Beschwerdeführer bei Verstößen gegen das Gemeinschaftsrecht, 20.3.2002, KOM(2002) 141 final; dazu auch: Peters, CMLR 2005, 697 (719 ff.). 484  Vgl. dazu: Entscheidung des Europäischen Bürgerbeauftragten vom 1.6.2006, 289/005/(WP)GG. 485  Smith, ELRev 2008, 777 (790 f.). 486  Bürgerbeauftragter, Special Report to the European Parliament from the European Ombudsman following the draft recommendation to the European Commission in complaint, 30.5.2006, 289/2005/(WP)GG, abrufbar unter: https://www.ombuds man.europa.eu/en/special-report/en/409 (14.2.2023).

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2. Teil: Das Vertragsverletzungsverfahren

erforderlich machen. Stellt die Kommission politische Erwägungen offensichtlich in den Vordergrund, droht sie die Glaubwürdigkeit der EU und den Stellenwert der Rechtsstaatlichkeit in Frage zu stellen. Räumt sie der Wirksamkeit des EU-Rechts absoluten Vorrang vor politischen Erwägungen ein, riskiert sie die Akzeptanz der Mitgliedstaaten zu verlieren und somit im Ergebnis auch die vom Grundkonsens der Autorität der Unionsorgane getragene Funktionsfähigkeit des Vertragsverletzungsverfahrens. Zwar ist eine gewisse Transparenz entscheidende Voraussetzung für die aktive und nützliche Partizipation der Zivilgesellschaft – niemand wird der Kommission Beschwerden vortragen, wenn sie sich damit nicht erkennbar beschäftigt – eine gewisse Undurchsichtigkeit ist jedoch strategisch vorteilhaft, um den komplexen politischen Beziehungen zwischen EU und Mitgliedstaaten Rechnung zu tragen.487 Vor diesem Hintergrund lässt sich erklären, weshalb Beschwerdeführenden weder im Beschwerdeverfahren noch im Rahmen eines nachfolgenden Vertragsverletzungsverfahrens die Position eines echten Verfahrensbeteiligten zukommt. Obwohl die Kommission die Stellung der Beschwerdeführenden in ihren Mitteilungen gestärkt hat, bleiben sie in die Rolle „privilegierter Informanten“ verwiesen.488 Schließlich sollen der bilaterale Charakter des Vertragsverletzungsverfahrens sowie das (politische) Ermessen der Kommission, das ihr bei der Entscheidung über das ob und wann der Verfahrenseinleitung zukommt, durch die Einbeziehung der Zivilgesellschaft in die Überwachung des Unionsrechtsvollzugs nicht in Frage gestellt werden.489 Ein spezielles Recht auf Anhörung oder Akteneinsicht wurde Beschwerdeführenden nicht zuerkannt.490 Dem in Art. 15 II AEUV und Art. 1 I, 2 I Dokumentenzugangs-Verordnung (EG) Nr. 1049/2001491 statuierten Anspruch auf Zugang zu Dokumenten, die sich im Rahmen eines informellen Vorverfahrens oder Vertragsverletzungsverfahrens im Besitz der Kommission befinden, 487  Vgl. auch zum problematischen Verhältnis zwischen Informationsrechten der Beschwerdeführenden und den Geheimhaltungsinteressen der Mitgliedstaaten im Zusammenhang mit dem Zugang zu Dokumenten: Sobotta, ZUR 2008, 72 (76). 488  Scheuing, NVwZ 1999, 475 (481); a. A. aufgrund der mittlerweile gestärkten Stellung der Beschwerdeführenden: Sobotta, ZUR 2008, 72 (78 f.). 489  KOM, Mitteilung an das Europäische Parlament und den Europäischen Bürgerbeauftragten über die Beziehungen zum Beschwerdeführer bei Verstößen gegen das Gemeinschaftsrecht, 20.3.2002, KOM(2002) 141 final, S. 2; KOM, Mitteilung an den Rat und das Europäische Parlament – Aktualisierung der Mitteilung über Beziehungen zu Beschwerdeführern in Fällen der Anwendung von Unionsrecht, 2.4.2012, KOM(2012) 154 final, S. 2 f.; Peters, CMLR 2005, 697 (719). 490  Sobotta, ZUR 2008, 72 (75). 491  Verordnung (EG) Nr. 1049/2001 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 30. Mai 2001 über den Zugang der Öffentlichkeit zu Dokumenten des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission, ABl. 2001, Nr. L 145, S. 43 ff.



C. Fortentwicklung des Vertragsverletzungsverfahrens203

kann eine allgemeine Vertraulichkeitsvermutung492 aufgrund der in Art. 4 II Gedankenstr. 3 Dokumentenzugangs-Verordnung (EG) Nr. 1049/2001 vorgesehenen Ausnahme entgegengehalten werden, solange das Verfahren anhängig ist bzw. bis die Einleitung eines förmlichen Vertragsverletzungsverfahrens endgültig verworfen wird.493 c) Die Bedeutung der Vertragsverletzungsbeschwerde für die Entwicklung des Vertragsverletzungsverfahrens Obwohl die Kommission ihre Entscheidungsspielräume, die für ein kooperatives Verhandlungsklima im Verhältnis zwischen EU und Mitgliedstaaten ausschlaggebend sein können, so weit wie möglich geschützt hat, markiert die Einbeziehung privater Akteure in ihre Vollzugskontrolltätigkeit, vermittelt über den Europäischen Bürgerbeauftragten, dennoch den Startpunkt für eine Fortentwicklung des Vertragsverletzungsverfahrens hin zu einem transparenteren Ansatz. Zwar kann die Kommission sogar in Fällen, in denen sie vom Vorliegen eines Unionsrechtsverstoßes überzeugt ist beschließen, die Angelegenheit (vorerst) nicht weiterzuverfolgen, ohne dass die Beschwerdeführenden oder andere Unionsorgane die Zweckmäßigkeit ihrer Entscheidung überprüfen könnten.494 Trotzdem hat die Mobilisierung von Privatpersonen und Unternehmen die Vollzugskontrolltätigkeit der Kommission verändert. Indem sich die Kommission dazu verpflichtet hat, Beschwerdeführende über den Verfahrensverlauf zu informieren, Gründe für eine beabsichtigte Verfahrenseinstellung mitzuteilen und Gelegenheit zur Äußerung einzuräumen, hat sie ihre Tätigkeit für politische Kontrollen geöffnet.495

492  EuGH, Rs. C-514/07 P, C-528/07 P und C-532/07 P, Schweden/API und Kommission, Slg. 2010, 8533 (Rn. 94, 103); Rs. C‑514/11 P und C‑605/11 P, LPN und Finnland/Kommission, ECLI:EU:C:2013:738 (Rn. 63 ff.); Rs. C-213/15P, Kommission/Breyer, ECLI:EU:C:2017:563 (Rn. 41). 493  EuGH, Rs. C‑514/11 P und C‑605/11 P, LPN und Finnland/Kommission, ECLI:EU:C:2013:738 (Rn. 63 ff.); Rs C-562/14P, Schweden/Kommission, ECLI:EU:C: 2017:356 (Rn. 94); zur Rechtslage vor Erlass der Verordnung (EG) Nr. 1049/2001: EuG, Rs. T-105/95, WWF UK/Kommission, Slg. 1997, II-313 (Rn. 63); Rs. T-191/99, Petrie u. a./Kommission, Slg. 2001, II-3677 (Rn. 68). 494  Entscheidung des Europäischen Bürgerbeauftragten vom 30.1.2001, 995/98/ OV, Nr. 2.6 f.; eine rechtliche Beanstandung der Ermessensentscheidung der Kommission durch den Europäischen Bürgerbeauftragten käme höchstens, in offenkundigen Ausnahmefällen in Betracht, etwa wenn die Kommissionsentscheidung einer gefestigten Rechtsprechung des EuGH eindeutig zuwiderliefe, vgl. Sobotta, ZUR 2008, 72 (76). 495  Sach/Simm, in: Rengeling, Handbuch zum europäischen und deutschen Umweltrecht, Bd. I, 2. Auflage 2003, § 44, Rn. 49; Smith, ELP 2008, 777 (792).

204

2. Teil: Das Vertragsverletzungsverfahren

Verletzt die Kommission Verfahrensrechte der Beschwerdeführenden, können sie sich mit einer Beschwerde an den Europäischen Bürgerbeauftragten wenden, der wiederum tiefergehende – für die Kommission mit unangenehmem Verwaltungsaufwand verbundene – Untersuchungen anstellen und die Angelegenheit der Kontrolle durch das Europäische Parlament und seine Ausschüsse zuführen kann. Zwar beschränkt sich die Aufsicht des Bürgerbeauftragten über das Vertragsverletzungsverfahren offiziell darauf, die Einhaltung prozeduraler Vorgaben sicherzustellen. De facto fällt eine klare Abgrenzung allerdings schwer; wie die Untersuchungen des Bürgerbeauftragten 2006 gezeigt haben, lässt auch die Beanstandung prozeduraler Missstände die Substanz kommissioninterner Ermessensentscheidungen oft nicht unberührt.496 Durch die Verpflichtung, Gründe für die Einstellung eines Verfahrens mitzuteilen, kann die Vorgehensweise der Kommission zudem zum Gegenstand öffent­licher Presse- und Medienberichte gemacht, in Fachkreisen diskutiert und kritisiert werden.497 Auch wenn ihre Ermessensausübung formal unangetastet bleibt, gestaltet die Einbeziehung der europäischen Zivilgesellschaft die Vollzugskontrolltätigkeit der Kommission und damit auch die Handhabung des Vertragsverletzungsverfahrens in politischer Hinsicht überprüfbarer. Politischer Druck von Seiten der Zivilgesellschaft kann wiederum dazu beitragen, Entscheidungsprozesse zu beschleunigen, Pattsituationen bei der Entscheidungsfindung im Kollegium der Kommissare zu vermeiden und somit – unterstützt durch die Tätigkeit des Europäischen Bürgerbeauftragten – die Qualität des Vertragsverletzungsverfahrens zu verbessern.498 4. Auswertung Bei der Vertragsverletzungsbeschwerde handelt es sich um eine wichtige Informationsquelle, die die Kommission bei der Kontrolle des Unionsrechtsvollzug in den Mitgliedstaaten unterstützt.499 Indem sie ihre Tätigkeit gegenüber Anregungen von außen öffnet und natürliche sowie juristische Personen in ihre Kontrolltätigkeit einbezieht, tritt sie mit Unionsbürgerinnen und Bürgern, Unternehmen, Umweltverbänden und sonstigen Interessenträgern in eine Kooperationsbeziehung, die nicht nur der Informationsbeschaffung dient, sondern auch das Vertrauen in die Kommission als Vollzugskontroll­ instanz der EU stärken kann.500 Beschwerden über mögliche Verstöße gegen CMLR 2005, 697 (722). ZUR 2008, 72 (76). 498  Dahingehend auch: Peters, CMLR 2005, 697 (721 f.). 499  Hedemann-Robinson, Enforcement of European Union Environmental Law, 2. Edition 2015, S. 204. 500  Krämer, in: Gündling/Weber, Dicke Luft in Europa, 1998, S. 212. 496  Peters,

497  Sobotta,



C. Fortentwicklung des Vertragsverletzungsverfahrens205

EU-Recht bieten der Kommission also nicht nur eine Option, Kontrollschwierigkeiten, die sich aus Ressourcendefiziten und knappen Investigationsbefugnissen ergeben, abzufedern.501 Gleichzeitig wird die Zivilgesellschaft durch die Möglichkeit, Beschwerden über nationale Unionsrechtsverstöße einzubringen stärker in die Verantwortung für den ordnungsgemäßen Vollzug unionsrechtlicher Vorgaben einbezogen. Die Kommission greift damit einen Ansatz auf, der auch die Rechtsprechung des EuGH – beispielsweise zur Direktwirkung von Richtlinien502 – durchzieht. Im Rechtsschutzgefüge der EU soll natürlichen und juristischen Personen nicht nur das Recht zukommen, ihre subjektiven Rechte durchzusetzen, sie sollen auch für die praktische Durchführung des EU-Rechts aktiviert werden.503 Ihre Flexibilität büßt die Kommission durch die Inklusion privater Akteure in ihre Kontrolltätigkeit kaum ein. Die schwache Stellung der Beschwerdeführenden, ebenso wie das Fehlen einer justiziablen Verfolgungspflicht belassen ihr genügend Raum, kooperative Lösungen gemeinsam mit den vertragsbrüchigen Mitgliedstaaten zu entwickeln. Gleichzeitig fördert die, wenn auch nur eingeschränkte, Einbeziehung privater Beschwerdeführender aber die Transparenz der Vollzugskontrolltätigkeit der Kommission und macht sie politischen Kontrollen zugänglich.

II. Das EU-Pilot-Verfahren Da der Einsatz des Vertragsverletzungsverfahrens nicht nur mit erheb­ lichem Aufwand, sondern auch mit intensiven Eingriffen in die staatliche Souveränität verbunden ist, versucht die Kommission zunächst im Rahmen eines informellen Vorverfahrens auf eine freiwillige Beseitigung der Vertragsverletzung durch den betroffenen Mitgliedstaat hinzuwirken.504 Während der Mitgliedstaat somit noch Gelegenheit erhält, umstrittene Durchführungsmaßnahmen zu rechtfertigen und die Bedenken der Kommission zu zerstreuen, bevor ein Vertragsverletzungsverfahren gegen ihn eingeleitet wird, kann die Kommission ihre eigene Rechtsauffassung darlegen und im Wege 501  Cremer,

Rn. 4.

in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 6. Auflage 2022, Art. 258 AEUV

502  EuGH, Rs. 8/81, Becker/Finanzamt Münster, Slg. 1982, 53 (Rn.  17  ff.); Rs. C-152/84, Marshall/Southampton and South-West Hampshire Area Health Authority, Slg. 1986, 723 (Rn. 46 f.); Rs. C-222/84, Johnston/Chief Constable of the Royal Ulster Constabulary, Slg. 1986, 165 (Rn. 47 ff.). 503  Everling, NVwZ 1993, 209 (214 f.). 504  Albin, Die Vollzugskontrolle des europäischen Umweltrechts, 1999, S. 288; Ortlepp, Das Vertragsverletzungsverfahren, 1987, S. 68; Sach/Simm, in: Rengeling, Hdb. zum europäischen und deutschen Umweltrecht Bd. I, 2. Auflage 2003, § 44 Rn. 38.

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2. Teil: Das Vertragsverletzungsverfahren

der mutuellen Verständigung effektive Strategien zur Behebung der vermuteten Vertragsverletzung vorantreiben. Der informelle Charakter dieses Dialogs, in dem der betroffene Staat noch nicht mit dem außenpolitischen „Makel“ des Vertragsverletzungsverfahrens behaftet ist,505 kann dabei die Mitwirkungsbereitschaft nationaler Behörden gegenüber Ermittlungsmaßnahmen der Kommission erhöhen und dazu beitragen, Mitgliedstaaten für schnelle, außergerichtliche Lösungen empfänglich zu machen. Bis 2008 bestanden für das informelle Vorverfahren keine strukturgebenden Vorgaben.506 Zwischen der Kommission und den zuständigen staatlichen Stellen wurde über Verwaltungsschreiben507 in unbegrenzter Zahl über einen nicht näher bestimmten Zeitraum hinweg kommuniziert. Dem positiven Effekt des informellen Vorverfahrens auf die nationale Kooperationsbereitschaft stand seine bisweilen unverhältnismäßig lange und schwer abschätzbare Dauer gegenüber. In ihrer Mitteilung aus dem Jahr 2007 Ein Europa der Ergebnisse – Anwendung des Gemeinschaftsrechts betonte die Kommission daher die Notwendigkeit, schnellere Lösungen zu finden und auch Vertragsverletzungsbeschwerden privater Akteure zeitnah und angemessen zu behandeln.508 Um den interinstitutionellen Konfliktlösungsdialog im informellen Vorverfahren effizienter zu gestalten, schlug sie die Durchführung eines Pilotversuchs vor, in dessen Rahmen die Arbeitsmethodik von Kommission und Mitgliedstaaten durch strukturgebende Verfahrensschritte verbessert werden sollte.509 Das Projekt wurde Mitte April 2008510 durch die Einführung des EU-PilotVerfahrens realisiert.511 Zunächst nahmen lediglich 15 Mitgliedstaaten daran 505  Dazu:

2. Teil, B. II. 3. Evaluierungsbericht zum Projekt „EU-Pilot“, 3.3.2010, KOM(2010) 70 endg. S. 2; Koops, EU Compliance Mechanisms – The Interaction between the Infringement Procedures, IMS, SOLVIT and EU-Pilot, Amsterdam Centre for European Law and Governance Working Paper Series 2011–08, S. 15. 507  Sog. „pre-letters of formal notice/pre-LFN“; Hedemann-Robinson, Enforcement of European Union Environmental Law, 2. Edition 2015, S. 63. 508  KOM, Mitteilung, Ein Europa der Ergebnisse – Anwendung des Gemeinschaftsrechts, 5.9.2007, KOM(2007) 502 endg., S. 2, 9; KOM, 25. Jahresbericht über die Kontrolle der Anwendung des EU-Rechts (2007), 18.11.2008, KOM(2008) 777 endg., S. 9. 509  KOM, Mitteilung, Ein Europa der Ergebnisse – Anwendung des Gemeinschaftsrechts, 5.9.2007, KOM(2007) 502 endg., S. 8. 510  Exakter Projektbeginn am 15.04.2008; KOM, 25. Jahresbericht über die Kontrolle der Anwendung des EU-Rechts (2007), 18.11.2008, KOM(2008) 777 endg., S. 9. 511  Zum Unterschied zwischen dem EU-Pilot-Verfahren und dem außergericht­ lichen Konfliktlösungsmechanismus in Binnenmarktsangelegenheiten SOLVIT: ­Koops, EU Compliance Mechanisms – The Interaction between the Infringement 506  KOM,



C. Fortentwicklung des Vertragsverletzungsverfahrens207

teil.512 Evaluierungsberichte 2010513 und 2011514 sollten zeigen, ob sich das Verfahren für den unionsweiten Einsatz eignete. Nachdem mit den Jahren sämtliche EU-Mitgliedstaaten in das Projekt einbezogen worden waren, beteiligte sich zuletzt Kroatien im Anschluss an seinen EU-Beitritt 2013.515 1. Funktionsweise und Kernelemente des EU-Pilot-Verfahrens a) Strukturierung der informellen Vorverfahrensphase Mit Einführung des EU-Pilot-Verfahrens wurde das bis dahin unstrukturierte informelle Vorverfahren gestrafft. Erlangt die Kommission von einer potenziellen Vertragsverletzung etwa aufgrund einer Vertragsverletzungsbeschwerde516 Kenntnis, prüft sie zunächst, inwieweit sich die Angelegenheit für eine kooperative Konfliktlösung eignet. Leitet sie daraufhin ein EU-PilotVerfahren ein, erstellt sie ein Dossier, inklusive Fallbeschreibung und konkreten Fragen, die dem Mitgliedstaat zur Beantwortung übermittelt werden. Die Kommunikation zwischen Kommission und Mitgliedstaat verläuft dabei gebündelt über besondere Pilot-Kontaktstellen.517 Für die Ausarbeitung und Procedures, IMS, SOLVIT and EU-Pilot, Amsterdam Centre for European Law and Governance Working Paper Series 2011–08, S. 17. 512  Seit 2008 nahmen am EU-Pilot-Projekt teil: Dänemark, Deutschland, Italien, Finnland, Irland, Litauen, die Niederlande, Österreich, Portugal, Schweden, Slowenien, Spanien, Tschechische Republik, Ungarn und das Vereinigte Königreich, KOM, Evaluierungsbericht zum Projekt „EU-Pilot“, 3.3.2010, KOM(2010) 70 endg. S. 3; KOM, Binnenmarktsanzeiger, Leistungsbewertung nach Governance-Instrument, EUPilot, Berichtszeitraum: 1.6/2012–26.3/2013, S. 2, abrufbar unter: https://ec.europa. eu/internal_market/scoreboard/_docs/2013/eu-pilot/2013-scoreboard-eu-pilot_de.pdf (Stand: 14.2.2023). 513  KOM, 25. Jahresbericht über die Kontrolle der Anwendung des EU-Rechts (2007), 18.11.2008, KOM(2008) 777 endg., S. 9. 514  KOM, Evaluierungsbericht zum Projekt „EU-Pilot“, 3.3.2010, KOM(2010) 70 endg., S. 8. 515  KOM, Binnenmarktsanzeiger, Leistungsbewertung nach Governance-Instrument, EU-Pilot, Berichtszeitraum: 01/2012–12/2013, S. 4, abrufbar unter: https:// ec.europa.eu/internal_market/scoreboard/_docs/2014/07/eu-pilot/2014-07-scoreboardeu-pilot_de.pdf (Stand: 14.2.2023). 516  Etwa einem Drittel aller jährlich neu angelegten Dossiers liegen Anfragen und Beschwerden privater Akteure zugrunde (2013: 32 %; 2014: 36 %; 2015: 33 %), vgl. die Zahlen, in: KOM, 31. Jahresbericht über die Kontrolle der Anwendung des EURechts (2013), 1.10.2014, KOM(2014) 612 endg., S. 11; 479 von 1502 neu eröffneten EU-Pilot-Vorgängen: 31,89 %; KOM, Kontrolle der Anwendung des EU-Rechts: Jahresbericht 2014, 9.7.2015, KOM(2015) 329 endg., S. 11; KOM, Kontrolle der Anwendung des EU-Rechts Jahresbericht 2015, 15.7.2016, KOM(2016) 463 endg., S. 22. 517  KOM, Mitteilung, Ein Europa der Ergebnisse – Anwendung des Gemeinschaftsrechts, 5.9.2007, KOM(2007) 502 endg., S. 8; KOM, Staff Working Document,

208

2. Teil: Das Vertragsverletzungsverfahren

Übersendung eines Antwortschreibens wird dem betroffenen Mitgliedstaat ein unverbindlicher Zeitrahmen von zehn Wochen vorgegeben.518 Die für den jeweiligen Politikbereich zuständige GD prüft die erhaltenen Antworten und bezieht ihrerseits innerhalb von zehn Wochen dazu Stellung.519 Akzeptiert sie die Ausführungen des Mitgliedstaats, kann sie selbst ohne Anrufung des Kollegiums der Kommissare entscheiden, das EU-PilotVerfahren einzustellen.520 Geht sie indes von einer Verletzung unionsrechtlicher Vorgaben aus, kann sie im Rahmen ihrer Stellungnahme weitere Informationen anfordern oder Lösungsvorschläge unterbreiten, die das Vollzugsdefizit bereinigen sollen. Korrigiert der betroffene Mitgliedstaat die nationale Rechtslage daraufhin, kann die bearbeitende GD das EU-Pilot-Verfahren beenden und die Angelegenheit für erledigt erklären. Andernfalls entscheidet die Kommission im Kollegium, ob sie die Angelegenheit im förmlichen Vertragsverletzungsverfahrens i. S. v. Art. 258 AEUV weiterverfolgen will.521 b) Digitalisierung und Technisierung Zu Beginn eines EU-Pilot-Verfahrens werden alle Dossiers in einem ITSystem registriert und nach Abschluss archiviert.522 Während des Verfahrens fungiert das IT-System als Übermittlungsinstrument und Kontaktnetz. Antworten und Stellungnahmen werden ausgetauscht, indem die Pilot-Kontaktstellen der Mitgliedstaaten oder der befassten Kommissionsdienststelle sie direkt einspeisen.523 Die Öffentlichkeit hat auf das IT-System keinen Zu-

Facts on the functioning of the system up to the beginning of February 2010, 3.3.2010, SEC(2010), 182 final, S. 3 ff.; Wunderlich, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht, 7. Auflage 2015, Art. 258 AEUV Rn. 15. 518  KOM, Evaluierungsbericht zum Projekt „EU-Pilot“, 3.3.2010, KOM(2010) 70 endg., S. 6; KOM, Zweiter Evaluierungsbericht zum Projekt „EU-Pilot“, 21.12.2011, KOM(2011) 930 endg., S. 3, 5. 519  Der Richtwert von zehn Wochen gilt erst seit dem ersten Evaluierungsbericht im März 2010 auch für die Reaktion der Europäischen Kommission: KOM, Zweiter Evaluierungsbericht zum Projekt „EU-Pilot“, 21.12.2011, KOM(2011) 930 endg., S. 2. 520  Smith, in: Drake/Smith, New Directions in the Effective Enforcement of EU Law and Policy, 2016, S. 65. 521  KOM, Mitteilung, Ein Europa der Ergebnisse – Anwendung des Gemeinschaftsrechts, 5.9.2007, KOM(2007) 502 endg., S. 8. 522  KOM, Staff Working Document, Facts on the functioning of the system up to the beginning of February 2010, 3.3.2010, SEC(2010), 182 final, S. 4. 523  KOM, Evaluierungsbericht zum Projekt „EU-Pilot“, 3.3.2010, KOM(2010) 70 endg. S. 2; KOM, Staff Working Document, Facts on the functioning of the system up to the beginning of February 2010, 3.3.2010, SEC(2010) 182 final, S. 4.



C. Fortentwicklung des Vertragsverletzungsverfahrens209

griff.524 Anstatt die Transparenz außergerichtlicher Auseinandersetzungen zu erhöhen, soll der informelle Dialog zwischen Kommission und Mitgliedstaaten seinen vertraulichen Charakter beibehalten. Kommunikationsvorgänge, Verfahrensfortschritte sowie die gesamte Rechts- und Sachlage sollen nachvollziehbar dokumentiert werden, um konstruktive Schlussfolgerungen zu ermöglichen und unnötige oder doppelte Erkundigungen zu vermeiden.525 Die technische Übermittlungsfunktion beschleunigt und vereinfacht dabei die Kommunikation. Als zentrales Abwicklungsinstrument des EU-Pilot-Verfahrens wurde mit der EU-Pilot-Datenbank ein elektronisches Werkzeug geschaffen, das alle fallbezogenen Informationen und Dokumente in digitalisierter Form erfasste und insoweit die allgemeine Verstoß-Datenbank NIF526 um ein spezielleres System ergänzte.527 Zwar wurde die EU-Pilot-Datenbank gemeinsam mit NIF zum Ende des Jahres 2020 von der universellen VertragsverletzungsApplikation THEMIS abgelöst.528 Die effizienzbetonte Nutzung eines spe­ ziellen IT-Systems verdeutlichte jedoch schon zu Beginn des EU-Pilot-Projekts das moderne Leitbild bürokratischer Organisationstechnik,529 an dem sich die Kommission bei der Weiterwicklung ihrer Vollzugskontrolltätigkeit fortlaufend auszurichten versucht. c) Organisatorische Restrukturierung: Die zentralen Kontaktstellen Indem die Kommission alle teilnehmenden Mitgliedstaaten aufforderte, zentrale Pilot-Kontaktstellen einzurichten, über die sämtliche Kommunika­ tionsvorgänge zwischen nationalen Behörden und der Kommission innerhalb

524  DG IPOL, Tools for Ensuring Implementation and Application of EU Law and Evaluation of their Effectiveness, 2013, S. 74, abrufbar unter: https://www.europarl. europa.eu/RegData/etudes/etudes/join/2013/493014/IPOL-JURI_ET(2013)493014_ EN.pdf (Stand: 14.2.2023). 525  KOM, Evaluierungsbericht zum Projekt „EU-Pilot“, 3.3.2010, KOM(2010) 70 endg., S. 2. 526  KOM, 28. Jahresbericht über die Kontrolle der Anwendung des EU-Rechts (2010), 29.9.2011, KOM(2011) 588 endg., S. 3. 527  KOM, Evaluierungsbericht zum Projekt „EU-Pilot“, 3.3.2010, KOM(2010) 70 endg., S. 2. 528  Dazu: KOM – ISA2, THEMIS: Managing infringements made easier, 21.1.2021, https://ec.europa.eu/isa2/news/themis-managing-infringements-made-easier_en (Stand: 14.2.2023). 529  Smith, in: Arnull/Chalmers, The Oxford Handbook of European Union Law, 2015, S. 366.

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2. Teil: Das Vertragsverletzungsverfahren

des EU-Pilot-Verfahrens abgewickelt werden sollten,530 wurde zudem eine organisatorische Umstrukturierung angestoßen. Im EU-Pilot-Verfahrens fungieren die nationalen Kontaktstellen als Bindeglieder zwischen Fachbehörden auf mitgliedstaatlicher Ebene und der zuständigen Kommissionsdienststelle, die als zentrale Ansprechpartner den Kommunikationsfluss bündeln.531 Aus Kommissionsperspektive bietet diese Organisation praktische Vorteile. In Anbetracht knapper personeller Ressourcen, fiele es den Kommissionsdienststellen oft schwer, die in der Angelegenheit relevante nationale Stelle selbst zu ermitteln. Indem der Kommission pro Mitgliedstaat nur ein einziger Ansprechpartner gegenübergestellt wird, lässt sich dieser Aufwand vermeiden und die Kommunikation insgesamt erleichtern. Die besondere Bedeutung nationaler Kontaktstellen besteht also zunächst in ihrer Konzentrationsfunktion für alle ein- und ausgehenden Angelegenheiten. Auch innerhalb des staatlichen Behördengefüges tragen die zentralen Kontaktstellen zum fließenden Verfahrensablauf bei. Da die Pilot-Kontaktstellen regelmäßig weder über die Kapazitäten noch über die erforderlichen Informationen, Erfahrungen oder Kenntnisse verfügen, um selbstständig angemessene Antwortschreiben erarbeiten zu können, werden Fragen der Kommission in den meisten Mitgliedstaaten an die zuständigen Fachbehörden weitergeleitet.532 Im Verhältnis zu den staatlichen Verwaltungsapparaten liegt der Bedeutungsschwerpunkt der Kontaktstellen also vor allem in ihrer Funktion als Distributions- bzw. Koordinationseinheiten. Wie stark die Kontaktstellen in die Erarbeitung nationaler Antwortschreiben einbezogen werden, wird von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat unterschiedlich gehandhabt: In Deutschland ist die EU-Pilot-Anlaufstelle im Fachbereich Europa des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie (BMWi) verortet.533 Als „europarechtliches Kompetenzzentrum“ der Bundesregierung nimmt die Europaabteilung viele Aufgaben ressortübergreifend wahr, die im Zusammenhang mit den Angelegenheiten der EU stehen, darunter sämtliche 530  KOM, Mitteilung, Ein Europa der Ergebnisse – Anwendung des Gemeinschaftsrechts, 5.9.2007, KOM(2007) 502 endg., S. 8. 531  KOM, Staff Working Document, Facts on the functioning of the System up to the beginning of February 2010, SEC(2010) 182 final, S. 2; Handroušek, JEEPL 2012, 235 (246). 532  Zu den nationalen Bearbeitungsverfahren im Einzelnen: KOM, Staff Working Document, Facts on the functioning of the system up to the beginning of February 2010, 3.3.2010, SEC(2010) 182 final, S. 2 f. 533  BMWi, Schlaglichter der Wirtschaftspolitik, Monatsbericht 3-2015, 29 (30), abrufbar unter: https://www.bmwi.de/Redaktion/DE/Publikationen/Schlaglichter-derWirtschaftspolitik/schlaglichter-der-wirtschaftspolitik-03-2015.pdf?__blob=publica tionFile&v=11 (Stand: 14.2.2023).



C. Fortentwicklung des Vertragsverletzungsverfahrens211

außergerichtliche Auseinandersetzungen mit der Kommission über potenzielle Vertragsverletzungen der Bundesrepublik oder einzelner Länder. Unnötige und aussichtslose Klageverfahren zu vermeiden, benennt das Kompetenzzentrum bei seiner Tätigkeitsbeschreibung als Priorität.534 Das BMWi kanalisiert alle Kommunikationsvorgänge, die von der Kommission ausgehen und vice versa.535 Während der Inhalt nationaler Antwortschreiben und Stellungnahmen im Außenverhältnis zur Kommission der Bundesrepublik ­ Deutschland als Staat zugerechnet wird,536 sind im föderal organisierten Innenverhältnis – je nach Verteilung der Gesetzgebungs- bzw. Verwaltungskompetenzen – die Fachministerien des Bundes oder der Länder politisch verantwortlich. Sieht das europarechtliche Kompetenzzentrum Bedarf, kann es den Ausarbeitungsprozess unterstützen, indem es die Ministerien rechtlich berät. Zudem überprüft das BMWi alle nationalen Antwortschreiben, bevor es sie in das IT-System der EU einspeist und an die befasste Kommissionsdienststelle übermittelt.537 Für die Bundesrepublik lässt sich demnach festhalten, dass der zentralen Kontaktstelle eine eher schwache Position bei der Formulierung nationaler Stellungnahmen im EU-Pilot-Verfahren zukommt. Die Fachministerien erstellen ihre Antworten eigenverantwortlich. Das BMWi kann überwachen, koordinieren, vermitteln und beraten, über eigene inhaltliche Gestaltungsmöglichkeiten verfügt es allerdings nicht. Die Vorgehensweise Deutschlands ist jedoch keineswegs zwingend. Durch eine besonders starke Stellung der zentralen Kontaktstelle zeichnet sich etwa das ungarische Beantwortungsverfahren in der Gestalt, wie es 2011 im Zuge des zweiten Evaluierungsberichts zum EU-Pilot-Projekt gegenüber der ­Kommission dargestellt wurde aus.538 Im Gegensatz zum deutschen Modell obliegt es hier der zentralen Kontaktstelle selbst, Antworten im EU-Pilot534  BMWi, Aufgaben des Kompetenzzentrums Europarecht, o.  D., http://www. bmwi.de/Redaktion/DE/Artikel/Europa/aufgaben-des-kompetenzzentrums-europarecht.html (Stand: 14.2.2023). 535  KOM, Staff Working Document, Facts on the functioning of the system up to the beginning of February 2010, 3.3.2010, SEC(2010) 182 final, S. 2. 536  Dazu: B. IV. 1. b) aa). 537  KOM, Staff Working Document, Facts on the functioning of the system up to the beginning of February 2010, 3.3.2010, SEC(2010) 182 final, S. 2. 538  In Ungarn befand sich die Kontaktstelle ursprünglich in der Sektion für Europarecht innerhalb der Abteilung „EU-Binnenmarkt und Rechtsangelegenheiten“ des Ministeriums für auswärtige Angelegenheiten und Handel (Ministry of Foreign Affairs and Trade, Internal Market and Legal Affairs Department, Section for EU Law), vgl. KOM, Staff Working Document, Functioning of the system, 21.12.2011, SEC(2011) 1629/2 final, S. 4; 2014 wurde sie im Zuge politischer Umstrukturierungen in das Justizministerium verlegt, vgl. European Network of Environmental Law Organizations, National Level Access to Infringement Documents – Comparative Analysis, Justice and Environment 2016, S. 3, abrufbar unter: http://www.justice

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2. Teil: Das Vertragsverletzungsverfahren

Verfahren zu skizzieren, wobei sie auf Stellungnahmen der Fachministerien zurückgreifen kann. Der Entwurf wird daraufhin in einer speziellen Arbeits­ gruppe,539 an der alle betroffenen Ministerien teilnehmen,540 diskutiert und ausformuliert bis eine Einigung zwischen allen Beteiligten erreicht wird. Die finale Fassung lädt die Kontaktstelle in das IT-System.541 d) Auswertung Durch das EU-Pilot-Verfahren wurde die informelle Vorverfahrensphase strukturiert, technisiert und ressourcenökonomischer organisiert. Zwar scheint diese Entwicklung mit dem Konzept eines informellen Konfliktlösungs­ dialogs auf den ersten Blick nur schwer vereinbar zu sein. Informalität darf in diesem Zusammenhang aber nicht mit absoluter Verfahrensfreiheit gleich­ gestellt werden. Maßgeblich ist vielmehr, dass das Verfahren den Charakter einer bedarfsgeleiteten Kooperation in vertraulicher Atmosphäre, jenseits der Drohkulisse des Vertragsverletzungsverfahrens beibehält. Die im EU-Pilot-Verfahren vorgesehenen Verfahrensschritte und Zeitrahmen entsprechen einer durch Kommissionsmitteilungen begründeten Praxis. Rechtsverbindliche Regelungen, die eine Abweichung verhindern gibt es nicht. Zwar wird standardmäßig von nur zwei Kommunikationsvorgängen zwischen Kommission und Mitgliedstaat ausgegangen. Darüber hinausreichende Kontakte bleiben aber in jedem Verfahrensstadium zulässig.542 Gerade in Umweltangelegenheiten, deren Einschätzung häufig ein hohes Maß an technischem Fachwissen sowie detaillierte Kenntnisse der nationalen Gegebenheiten voraussetzt, muss es der Kommission möglich sein, durch Rückfragen fundierte Bewertungsgrundlagen zu erarbeiten. Soll der angepeilte Zeitrahmen von jeweils zehn Wochen für die Formulierung des nationalen Beantwortungsschreibens sowie dessen Bewertung durch die Kommission eingehalten werden, lassen sich dennoch nicht unendlich viele Kommunikaandenvironment.org/fileadmin/user_upload/Publications/2016/National_level_access_ to_infringement_documents_for_web.pdf (Stand: 3.3.2022). 539  KOM, Staff Working Document, Functioning of the system, 21.12.2011, SEC(2011) 1629/2 final, S. 4. 540  KOM, Staff Working Document, Facts on the functioning of the system up to the beginning of February 2010, 3.3.2010, SEC(2010) 182 final, S. 2. 541  KOM, Staff Working Document, Functioning of the system, 21.12.2011, SEC(2011) 1629/2 final, S. 4. 542  KOM, Evaluierungsbericht zum Projekt „EU-Pilot“, 3.3.2010, KOM(2010) 70 endg., S. 4; Hedemann-Robinson, Enforcement of European Union Environmental Law, 2. Edition 2015, S. 63; Smith, The Evolution of Infringement and Sanction Procedures, in: Arnull/Chalmers, The Oxford Handbook of European Union Law, 2015, S. 360.



C. Fortentwicklung des Vertragsverletzungsverfahrens213

tionsvorgänge realisieren. Der Konfliktlösungsstruktur des EU-Pilot-Verfahrens kommt insoweit eine Orientierungsfunktion zu. Auch wenn für das EU-Pilot-Verfahren keine verbindlichen Regelungen geschaffen wurden, zeigt es doch, wie bilaterale Verständigungen im Vorfeld eines Vertragsverletzungsverfahrens aussehen sollen. Vor diesem Hintergrund wirkt das EUPilot-Verfahren wie der Versuch, eine Hybridlösung zwischen dem formal strengen Vertragsverletzungsverfahren und dem zuvor völlig informellen Kontakt über Verwaltungsschreiben zu konstruieren. 2. Einsatzbereich und Entwicklungsgeschichte Hatte die Kommission über die Einleitung eines EU-Pilot-Verfahrens zunächst nur von Fall zu Fall entschieden,543 wurde es ab März 2010 als Standardverfahren vor der Einleitung eines förmlichen Vertragsverletzungsverfahrens eingesetzt und damit umfassend in die Vollzugskontrollpraxis der Kommission inkorporiert.544 Im Rahmen ihres ersten Evaluierungsberichtes beschied die Kommission dem EU-Pilot-Verfahren positive Resultate. Ihre Begründung stützte sie vor allem auf die „Erfolgsquote“ des Verfahrens, wonach in der Erprobungsphase bis März 2010 85 % aller im EU-Pilot-Verfahren bearbeiteten Dossiers mit einer akzeptablen Antwort des jeweils betroffenen Mitgliedstaats abgeschlossen werden konnten.545 Als weiteren Leistungsindikator berief sich die Kommission auf einen seit Projektbeginn 2008 zu verzeichnenden Rückgang anhängiger Vertragsverletzungsverfahren (Abbildung 8). Jedenfalls mittelbar konnte die Erfolgsquote des EU-Pilot-Verfahrens mit dieser Entwicklung in Zusammenhang gebracht werden. In direkter Abhängigkeit steht die Anzahl zum Ende eines Jahres aktiver Vertragsverletzungsverfahren sowohl zum Jahresaufkommen neuer Verfahren als auch zur Menge der während des Jahres abgeschlossenen Ver-

543  Vgl. dazu: KOM, Staff Working Document, Facts on the functioning of the system up to the beginning of February 2010 – Accompanying document to the report from the Commission „EU-Pilot Evaluation Report“, 3.3.2010, SEC(2010) 182 final, S. 5. 544  Nur in Fällen der Nichtmitteilung nationaler Umsetzungsmaßnahmen wurde die Durchführung des EU-Pilot-Verfahrens für aussichtslos befunden, vgl. Koops, EU Compliance Mechanisms – The Interaction between the Infringement Procedures, IMS, SOLVIT and EU-Pilot, Amsterdam Centre for European Law and Governance Working Paper Series 2011–08, S. 20; Smith, in: Arnull/Chalmers, Oxford Handbook of European Law, 2015, S. 360. 545  KOM, Evaluierungsbericht zum Projekt „EU-Pilot“, 3.3.2010, KOM(2010) 70 endg., S. 3.

214

2. Teil: Das Vertragsverletzungsverfahren

fahren.546 Auf beide Parameter vermag sich das EU-Pilot-Verfahren förderlich auszuwirken, indem es die Eröffnung neuer Vertragsverletzungsverfahren vermeidet und die Bearbeitungsgeschwindigkeit durch strukturierte und kooperative Vorarbeit erhöht.547 1500

EU-Pilot - 15

837

800

Dez 20

Dez 19

692 Dez 18

664

Dez 15

Dez 17

826 Nov 14

Nov 11

Nov 10

Nov 09

Nov 08

Nov 07

600 500

Einschränkung 732

807 Nov 13

700

829

800

Nov 12

922

900

EU-Pilot - 27 EU-Pilot - 28

674

1000

Dez 16

1091

1100

EU-Pilot - 25 1256

1200

1326

1300

1332

1400

Anhängige Vertragsverletzungsverfahren

Abbildung 8: Entwicklung des Vertragsverletzungsverfahrens mit dem EU-Pilot-Projekt548

546  Die Zahl zum Jahresende anhängiger Vertragsverletzungsverfahren ergibt sich aus der Zahl zum Ende des vergangenen Jahres anhängiger Vertragsverletzungsverfahren, addiert mit der Zahl neu eröffneter Vertragsverletzungsverfahren, abzüglich der Zahl während des Jahres abgeschlossener Verfahren. 547  Gegenüber einem Kausalzusammenhang skeptisch äußerten sich staatliche Akteure aus Spanien und Lettland. Sie führen die abnehmende Zahl anhängiger Vertragsverletzungsverfahren nicht zwingend auf die Einführung des EU-Pilot-Verfahrens, sondern auf verbesserte Praktiken bei der Implementation infolge größerer Erfahrungen mit der Umsetzung unionsrechtlicher Vorgaben zurück, DGIPOL, Tools for ensuring implementation and application of EU Law and evaluation of their effectiveness, 2013, S. 72. 548  Grafik in eigener Darstellung, Zahlen nach: KOM, Single Market Scoreboard, Infringements, 12/201 –12/2019, Changes in numbers of infringement cases, abrufbar unter: https://ec.europa.eu/internal_market/scoreboard/_docs/2020/07/performance_ by_governance_tool/infringements_en.pdf (Stand: 14.2.2023); KOM, Single Market Scoreboard, Infringements, 12/2019–12/2020, Changes in numbers of infringement cases, abrufbar unter: https://ec.europa.eu/internal_market/scoreboard/_docs/2021/12/ governance-tools/infringements_en.pdf (Stand: 14.2.2023).



C. Fortentwicklung des Vertragsverletzungsverfahrens215

Auch auf Seiten der Mitgliedstaaten stieß das EU-Pilot-Verfahren über­ wiegend auf positive Resonanz. Wie eine vom Europäischen Parlament in Auftrag gegebene 2013 veröffentlichte Studie ergab, empfanden die meisten Mitgliedstaaten das EU-Pilot-Verfahren als Effizienzsteigerung gegenüber informellen bilateralen Kommunikationsvorgängen durch Verwaltungsschreiben, wie sie bis 2008 dem Modus Procedendi entsprachen. Geschätzt wurde vor allem die Gelegenheit, Probleme anzusprechen, die sich erst im Anschluss an die Umsetzung bzw. im Zuge der Anwendung europäischer Vorgaben gezeigt hatten und daher nicht in die nationalen Durchführungsbemühungen einbezogen werden konnten.549 Positiv bewertet wurde außerdem die Beschleunigungswirkung des EU-Pilot-Verfahrens. Zwar sei der für die Erarbeitung nationaler Antwortschreiben vorgegebene Zeitraum von zehn Wochen (70 Tagen) eher knapp bemessen. Seit Projektbeginn Mitte April 2008 bis zur zweiten Evaluation des EU-Pilot-Verfahrens 2011 errechnete die Kommission jedoch einen internationalen Gesamtdurchschnitt von nur 67 Tagen,550 woraus geschlossen wurde, dass die Mitgliedstaaten grundsätzlich in der Lage seien, den Zeitrahmen einzuhalten.551 Deutlich skeptischer wurde das EU-Pilot-Verfahren im Rahmen einer Befragung regionaler und lokaler Fachbehörden sowie privater Interessenvertreter betrachtet.552 Hier gaben nationale Akteure zu bedenken, dass die von der Kommission als maßgeblich erachtete „Erfolgsquote“ für sich genommen keine Aussage über die Qualität der im Verfahren erarbeiteten Lösungen treffe. „Erfolg“ in diesem Sinne werde anhand der Quantität vermiedener Vertragsverletzungsverfahren gemessen. Das EU-Pilot-Verfahren sei daher als Instrument mit vorwiegend prozeduralem Nutzen zu sehen, das der Kommission die Bearbeitung von Vertragsverletzungsangelegenheiten verfahrenstechnisch und ressourcenökonomisch erleichtern solle, nicht aber zur Erar549  DGIPOL, Tools for Ensuring Implementation and Application of EU Law and Evaluation of their Effectiveness, 2013, S. 70. 550  KOM, Zweiter Evaluierungsbericht zum Projekt „EU-Pilot“, 21.12.2011, KOM(2011) 930 endg., S. 5; der Gesamtdurchschnitt errechnet sich aus der Summe der mittleren Reaktionszeiten aller teilnehmenden Mitgliedstaaten geteilt durch ihre Anzahl. 551  Seit Mitte Juni des Jahres 2012 wird die durchschnittliche Reaktionsleistung jedes einzelnen Mitgliedstaates im Single Market Scoreboard der EU publiziert, seit 2013 informiert die Europäische Kommission darüber im Jahresrhythmus. 2014 fand die zeitliche Komponente des EU-Pilot-Verfahrens erstmals Eingang in den offiziellen Jahresbericht über die Kontrolle der Anwendung des EU-Rechts; vgl. http://ec. europa.eu/internal_market/scoreboard/_archives/2013/07/performance_by_govern ance_tool/eu_pilot/index_de.htm (Stand: 14.2.2023). 552  Für eine Übersicht der Befragten: DGIPOL, Tools for Ensuring Implementation and Application of EU Law and Evaluation of their Effectiveness, 2013, Annex 3 II, S. 129 f.

216

2. Teil: Das Vertragsverletzungsverfahren

beitung zufriedenstellender Lösungen für Probleme beitrage, die der Kommission durch Beschwerden über Private zugetragen wurden.553 Beanstandet wurde in diesem Zusammenhang auch die Zwischenschaltung nationaler Kontaktstellen, die die Kommunikation mit nationalen Entscheidungsträgern übernehmen und somit zwar die Kommission entlasten, gleichzeitig aber eine unmittelbare, problemlösungsorientierte Auseinandersetzung zwischen Kommission und nationalen Behörden entbehrlich machen würden.554 Zu den möglichen Auswirkungen des EU-Pilot-Verfahrens auf die Bearbeitung von Vertragsverletzungsbeschwerden sowie die Beziehung zwischen Kommission und Beschwerdeführenden äußerte sich im rechtswissenschaft­ lichen Diskurs vor allem Smith kritisch: Indem die Bearbeitung der An­ gelegenheit über das Kontaktstellen-System auf die nationalen Behörden ­abgewälzt werde, werde auch die Befassung mit den Beschwerdeführenden ­weiter­gereicht, obwohl die nationalen Behörden an die von der Kommission übernommenen Verfahrensgarantien nicht gebunden seien.555 Soweit die Kommission mit ihrer Mittelung 2002 die Stellung der Beschwerdeführenden gestärkt habe,556 laufe dieser Fortschritt Smith zufolge Gefahr, durch die Einführung des EU-Pilot-Projekts wieder rückgängig gemacht zu werden. Die Intransparenz des EU-Pilot-Verfahrens gefährde zudem das Vertrauen der EU-Bürgerinnen und Bürger, Unternehmen und NGOs in die Problem­ lösungskompetenz der Kommission.557 Im Übrigen wurden auch Bedenken am standardisierten Einsatz des Verfahrens geäußert. Im Wege eines strukturierten Dialogs sollten zwar frühzeitig Problemlösungen entwickelt und Vertragsverletzungsverfahren vermieden werden. Keinesfalls aber dürfe das ohnehin zeitaufwändige Vertragsverletzungsverfahren um eine weitere außergerichtliche Vorverfahrensphase ergänzt und somit in die Länge gezogen werden.558 Diese Gefahr muss letzten Endes auch die Kommission erkannt haben. Obwohl sie dem EU-Pilot-Verfahren in ihren Evaluationen 2010 und 2011 zunächst positive Ergebnisse 553  DGIPOL, Tools for Ensuring Implementation and Application of EU Law and Evaluation of their Effectiveness, 2013, S. 70, 72 f.; vgl. auch: Smith, in: Drake/ Smith, New Directions in the Effective Enforcement of EU Law and Policy, 2016, S. 68. 554  Vgl. dazu: Smith, ELRev 2008, 777 (800 ff.). 555  Krämer, From Great Principles to Daily Practice – Improving Citizen Involvement, EnvPL 2014, 247 (252); kritisch vor allem zum damit einhergehenden Ausfall des Europäischen Bürgerbeauftragten als Kontrollinstanz: Smith, ELRev 2008, 777 (798 ff.). 556  Dazu: 2. Teil, C. I. 3. a). 557  DGIPOL, Tools for Ensuring Implementation and Application of EU Law and Evaluation of their Effectiveness, 2013, S. 72 ff.; Andersen, The Enforcement of EU Law, 2012, S. 77 f. 558  Wiederum kritisch dazu: Smith, ELRev 2008, 777 (798).



C. Fortentwicklung des Vertragsverletzungsverfahrens217

beschieden hatte, revidierte sie 2016 mit der Mitteilung EU-Recht: Bessere Ergebnisse durch bessere Anwendung ihre seit 2010 bestehende Anwendungspraxis und verkündete, Vertragsverletzungsverfahren fortan ohne Rückgriff auf EU-Pilot einleiten zu wollen, es sei denn die Durchführung werde in einem bestimmten Fall als sinnvoll erachtet.559 In der Folge wurde die Anzahl jährlich neu eingeleiteter EU-Pilot-Verfahren drastisch reduziert. Waren 2016 noch 790 neue Verfahren eingeleitet worden, fiel die Zahl 2017 auf lediglich 178.560 Waren zum Ende des Jahres 2015 noch 1260 Verfahren anhängig,561 waren es Ende 2019 nur noch 499.562 Gleichzeitig begann die Anzahl anhängiger Vertragsverletzungsverfahren wieder zu steigen (vgl. Abbildung 8). Obwohl das EU-Pilot-Verfahren in bestimmten Fällen noch immer Anwendung findet, hat es seine praktische Relevanz damit weitgehend verloren. Ob das System in Zukunft wieder einen Aufschwung erfahren wird, bleibt abzuwarten. In ihrem Langfristigen Aktionsplan zur besseren Umsetzung und Durchsetzung der Binnenmarktsvorschriften 2020 hat die Kommission jedenfalls angekündigt, das EU-Pilot-Verfahren wieder besser nutzen, auf eine rasche und wirksame Unterstützung lösungsorientierter Dialoge mit den Mitgliedstaaten ausrichten und anhand objektiver Kriterien und Zeitpläne strukturieren zu wollen.563 3. Auswertung Als außergerichtliche Konfliktlösungsstruktur hat das EU-Pilot-Verfahren den kooperativen, auf Verständigung und Konsens angelegten Charakter des Verhältnisses zwischen EU und Mitgliedstaaten unterstrichen und die zentrale Rolle der Mitgliedstaaten beim Vollzug des EU-Rechts gestärkt.564 Seine Rückentwicklung vom Standardprozedere zu einem Instrument mit Ausnahmecharakter ist daher als Verschärfung des Kommissionskurses bei der Ver559  KOM, Mitteilung – EU-Recht: Bessere Ergebnisse durch bessere Anwendung, 21.12.2016, COM(2016) 8600 final, S. 12. 560  KOM, Staff Working Document, Part I: General statistical overview, 12.7.2018, SWD(2018) 377 final, S. 8. 561  KOM, Kontrolle der Anwendung des EU-Rechts: Jahresbericht 2015, 15.7.2016, COM(2016) 463 final, S. 23. 562  KOM, Staff Working Document, Part I: General statistical overview, 31.7.2020, SWD(2020) 147 final, S. 17. 563  KOM, Mitteilung an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen – Langfristiger Aktionsplan zur besseren Umsetzung und Durchsetzung der Binnenmarktvorschriften, 10.3.2020, COM(2020) 94 final, S. 18. 564  Dahingehend auch: Andersen, The Enforcement of EU Law, 2012, S. 76 f., 86 ff.

218

2. Teil: Das Vertragsverletzungsverfahren

folgung von Unionsrechtsverstößen zu werten.565 Wurde den Mitgliedstaaten mit dem EU-Pilot-Verfahren zunächst stets Gelegenheit gegeben, Vollzugsdefizite frei von öffentlichem Druck und der Gefahr eines diplomatischen Ansehensverlusts zu diskutieren, behält sich die Kommission nun vor, ein förmliches Vertragsverletzungsverfahren sofort oder nach einer sehr kurzen informellen Austauschphase zu eröffnen. Auf die vorgeschaltete Durchführung eines EU-Pilot-Verfahrens können sich die Mitgliedstaaten nicht mehr verlassen. Mit Wegfall des EU-Pilot-Verfahrens rückt das förmliche Vertragsverletzungsverfahren als Durchsetzungsinstrument wieder in den Vordergrund. Wie die Kommission in ihrer Mitteilung 2016 erklärt hat, stellt zwar auch das Vertragsverletzungsverfahren selbst ein Mit­tel dar, um mit den Mitgliedstaaten in Dialog zu treten und gemeinsame Lösungen zu finden.566 Wegen der mit ihm verbundenen öffentlichen Anprangerungswirkung sowie der drohenden Aussicht auf die Verhängung finanzieller Sanktionen ist das Verfahren nach Art. 258, 260 I AEUV aber stärker imperativ geprägt als das EU-PilotVerfahren. Im Zentrum des Vertragsverletzungsverfahrens steht die Kommission nicht mehr nur als Gesprächspartnerin, sondern als übergeordnete Kontrollinstanz, die über die Erhebung einer Vertragsverletzungsklage vor dem EuGH sowie die Beantragung von Pauschalbeträgen oder Zwangsgeldern entscheidet. Indem die Kommission den Einsatz des EU-Pilot-Verfahrens 2016 auf geeignete Einzelfälle reduziert hat, hat sie ihre eigene Stellung als übergeordnete Kontrollinstanz wieder gestärkt. Soweit das EU-Pilot-Verfahren heute noch Verwendung findet, bleibt ihr Aktionsspektrum dennoch um ein auf Kooperation ausgelegtes Instrument, in dessen Rahmen die Aufklärungs- und Begründungsarbeit weitgehend an mitgliedstaatliche Kontaktstellen und Fachbehörden delegiert werden kann, erweitert.

III. Die Einführung des verkürzten Verfahrens gemäß Art. 260 III AEUV Da die Kommission finanzielle Sanktionen gemäß Art. 260 II AEUV grundsätzlich erst in der gerichtlichen Phase des Zweitverfahrens beantragen kann, müssen die Mitgliedstaaten die Verhängung eines Zwangsgeldes oder eines Pauschalbetrags durch den EuGH erst in einem sehr späten Verfahrensstadium fürchten; kommt ein unionsrechtswidrig handelnder Mitgliedstaat einem gegen ihn ergangenen ersten Vertragsverletzungsurteil gemäß Art. 260 I AEUV unverzüglich nach, kann er sich der Eröffnung eines Zweitverfahrens 565  So

auch: Wendenburg/Reichert, NVwZ 2017, 1338 (1344). Mitteilung – EU-Recht: Bessere Ergebnisse durch bessere Anwendung, 21.12.2016, COM(2016) 8600 final., S. 12. 566  KOM,



C. Fortentwicklung des Vertragsverletzungsverfahrens219

und damit auch der Verhängung finanzieller Sanktionen vollständig entziehen, selbst wenn er bis dahin bereits über Jahre hinweg gegen Unionsrecht verstoßen hat.567 Um dieser Schwäche zu begegnen und die Durchsetzungskraft des Vertragsverletzungsverfahrens zu stärken, wurde das klassische Vollzugskontrollinstrumentarium durch den Vertrag von Lissabon in zweierlei Hinsicht modifiziert: Einerseits wurde das bis dahin in Art. 228 II UAbs. 1 EGV vorgesehene Erfordernis einer mit Gründen versehenen Stellungnahme aus dem Zweitverfahren herausgenommen und die außergerichtliche Verfahrensphase somit verkürzt.568 Andererseits wurde der Kommission mit der Einführung eines neuen Art. 260 III AEUV die Möglichkeit eingeräumt, bereits den Feststellungsantrag im Erstverfahren mit einem Annexantrag auf Verhängung finanzieller Sanktionen zu verbinden.569 Mit Art. 260 III AEUV wurde also ein verkürzten bzw. fast-track-Verfahren570 geschaffen, das es in bestimmten Fällen gestattet, Erst- und Zweitverfahren zu komprimieren. 1. Funktionsweise Wie sich der Mitteilung der Kommission über die Anwendung von Art. 260 III AEUV aus dem Jahr 2011 entnehmen lässt, soll es sich bei dem Antrag nach Art. 260 III UAbs. 1 AEUV um ein „völlig neues Instrument“ handeln, das darauf abzielt, die Mitgliedstaaten zu veranlassen, Richtlinien innerhalb der dafür vorgesehenen Fristen umzusetzen.571 Auch in der rechtswissenschaftlichen Literatur wird der Charakter des fast-track-Verfahrens als echtes Novum nicht in Frage gestellt. Cremer spricht in diesem Zusammenhang von einem „gänzlich neue[n] Sanktionsverfahren“572, Karpenstein sogar von einer „radikalen Neuerung“.573 Anders als der Antrag nach Art. 260 II UAbs. 1 AEUV im Zweitverfahren, dient der Antrag nach Art. 260 III UAbs. 1 AEUV gerade nicht der Durchset567  Wennerås,

S. 80.

in: Jakab/Kochenov, The Enforcement of EU Law and Values, 2017,

568  EuGH, Rs. C-610/10, Kommission/Spanien, ECLI:EU:C:2012:781 (Rn. 43); Handroušek, JEEPL 2012, 235 (243); Peers, EPL 2012, 33 (37). 569  Karpenstein, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der EU, 73. EL 2021, Art. 260 AEUV Rn. 56, 64. 570  Klamert, EuR 2018, 159 (167); Sobotta, ZUR 2008, 72 (73). 571  KOM, Mitteilung – Anwendung von Artikel 260 Absatz 3 AEUV, ABl. 2011, Nr. C 12, S. 2; Borchardt, in: Dauses/Ludwigs, Hdb. des EU-Wirtschaftsrechts, 53. EL 2021, P.I. Rn. 52; Thiele, EuR 2008, 30 (35). 572  Cremer, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 6. Auflage 2022, Art. 260 AEUV Rn. 20. 573  Karpenstein, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der EU, 73. EL 2021, Art. 260 AEUV Rn. 56.

220

2. Teil: Das Vertragsverletzungsverfahren

zung eines ersten Vertragsverletzungsurteils.574 Indem Art. 260 III AEUV die Durchsetzung staatlicher Mitteilungspflichten mit Hilfe von Pauschalbeträgen und Zwangsgeldern direkt im Erstverfahren nach Art. 258 AEUV gestattet, wird vielmehr eine Ausnahme vom regulären mehrstufigen Verfahrensablauf normiert,575 die es ermöglicht, auf eine doppelte Verfahrensführung zu verzichten und die Gesamtdauer des Vertragsverletzungsverfahrens um die Zeitspanne bis zum Abschluss des Zweitverfahrens zu reduzieren.576 Im Vergleich zum regulär zweigliedrigen Vertragsverletzungsverfahren bedeutet das beschleunigte Verfahren nach Art. 258, 260 III AEUV für den betroffenen Mitgliedstaat eine erhebliche Verschärfung. Da finanzielle Sanktionen bereits im Falle eines Ersturteils drohen, setzen die Berechnungszeiträume von Pauschalbetrag und Zwangsgeld deutlich früher an. Während ein Zwangsgeld nunmehr für den Zeitraum im Anschluss an das erste (und einzige) Vertragsverletzungsurteil verhängt wird, berechnet sich der Pauschalbetrag bereits ab dem Tag nach Ablauf der in der jeweiligen Richtlinie festgelegten Umsetzungsfrist.577 Verhängt der EuGH eine finanzielle Sanktion, gilt die Zahlungsverpflichtung gemäß Art. 260 III UAbs. 2 S. 2 AEUV erst ab dem im Urteil festgelegten Zeitpunkt. Bestimmt der EuGH einen Zeitpunkt in der Zukunft, kann er dem betroffenen Mitgliedstaat somit noch eine letzte Frist einräumen, um das Wirksamwerden finanzieller Sanktionen abzuwenden.578 Nach Auffassung der Kommission wäre es jedoch angemessen, den Tag der Urteilsverkündung regelmäßig als den Tag festzulegen, an dem auch die Zahlungsverpflichtung entsteht.579 Ein nicht abgegoltener, sanktionsfreier Zeitraum, wie er im regulären Verfahren zwischen dem Ablauf der Umsetzungsfrist und dem ersten Vertragsverletzungsurteil vorgesehen ist, bestünde im Verfahren nach Art. 258, 260 III AEUV dann nicht (Abbildung 9).580 Der Wortlaut des Art. 260 III UAbs. 2 S. 2 AEUV ließe eine solche Praxis jedenfalls zu. Zwar erachteten Teile der Literatur eine „Gnadenfrist“ unter Hinweis 574  A. A. noch: EuGH, Rs. C-543/17, Kommission/Belgien, ECLI:EU:C:2019:573, Schlussanträge von Generalanwalt Szpuna vom 11.4.2019, Rn. 42. 575  Cremer, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 6. Auflage 2022, Art. 260 AEUV Rn. 20; Gáspár-Szilágyi, EPL 2013, 281 (281); Klamert, EuR 2018, 159 (162). 576  Wendenburg/Reichert, NVwZ 2017, 1338 (1339 f.); Wendenburg, EuR 2019, 637 (637). 577  EuGH, Rs. C-549/18, Kommission/Rumänien, ECLI:EU:C:2020:563 (Rn. 79); Rs. C-550/18, Kommission/Irland, ECLI:EU:C:2020:564 (Rn. 90); KOM, Mitteilung – Anwendung von Artikel 260 Absatz 3 AEUV, ABl. 2011, Nr. C 12, S. 4. 578  Für eine Verpflichtung hierzu: Karpenstein, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der EU, 73. EL 2021, Art. 260 AEUV, Rn. 70; wohl auch: Wendenburg, EuR 2019, 637 (645). 579  KOM, Mitteilung – Anwendung von Artikel 260 Absatz 3 AEUV, ABl. 2011, Nr. C 12, S. 5. 580  Wendenburg, EuR 2019, 637 (638).



C. Fortentwicklung des Vertragsverletzungsverfahrens221

auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz für zwingend geboten.581 Der EuGH hat diese Bedenken allerdings nicht aufgegriffen, sondern den Tag der Urteilsverkündung ohne nähere Begründung als Zeitpunkt für die Entstehung der Zahlungspflicht benannt.582

Ablauf der Umsetzungsfrist

Urteil

Ende der Vertragsverletzung

ǁĂŶŐƐŐĞůĚ

WĂƵƐĐŚĂůďĞƚƌĂŐ     ĂƵĞƌĚĞƌsĞƌƚƌĂŐƐǀĞƌůĞƚnjƵŶŐ    Höhe der Zahlungspflicht

Entstehung der Zahlungspflicht



Abbildung 9: Wirkungsdimension finanzieller Sanktionen nach Art. 260 III AEUV

2. Instrumenteller Zuschnitt Nach Art. 260 III UAbs. 1 AEUV kommt ein Antrag auf die Verhängung finanzieller Sanktionen im Erstverfahren in Betracht, wenn ein Mitgliedstaat gegen seine Verpflichtung verstoßen hat, Maßnahmen zur Umsetzung einer gemäß einem „Gesetzgebungsverfahren“ erlassenen Richtlinie mitzuteilen. Erfasst werden demnach nur Mitteilungspflichten mit Bezug zu sekundärrechtlichen Richtlinien, die im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren583 nach Art. 289 I, 294 AEUV oder im besonderen Gesetzgebungsverfahren, das gemäß Art. 289 II AEUV in bestimmten vertraglich geregelten Fällen Anwen581  Vgl. etwa: von Borries, in: Ipsen/Stüer, FS Everling, 2008, S. 506; Schröder, DÖV 2009, 61 (65). 582  EuGH, Rs. C-543/17, Kommission/Belgien, ECLI:EU:C:2019:573 (Ls. 3). 583  Art. 294 ff. AEUV sowie der Begriff des „Gesetzgebungsverfahrens“ fanden erst mit dem Vertrag von Lissabon Eingang in das EU-Recht. Zur Frage, ob auch Altrichtlinien, die vor dem 1.12.2009 erlassen wurden, Gegenstand eines verkürzten Verfahrens gemäß Art. 258, 260 III AEUV sein können: Peers, EPL 2012, 33 (39 ff.).

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2. Teil: Das Vertragsverletzungsverfahren

dung findet, erlassen wurden.584 Steht hingegen die Umsetzung delegierter Rechtsakte (Art. 290 I AEUV) oder Durchführungsrichtlinien (Art. 291 II AEUV) in Frage, kann auf finanzielle Sanktionen erst im Rahmen eines Zweitverfahrens nach Art. 260 II AEUV zurückgegriffen werden.585 Im Übrigen wurde in der Rechtswissenschaft lange Zeit spekuliert, in welchen Situationen Art. 260 III AEUV zum Einsatz gelangen soll.586 Unsicherheit bestand einerseits über den Anwendungsbereich des Instruments. Andererseits wurde diskutiert, welchen Anforderungen die Mitgliedstaaten genügen müssten, um sich finanziellen Sanktionen im verkürzten Verfahren entziehen zu können. Eine unionsgerichtliche Klärung dieser Fragen ließ lange auf sich warten. Erst 2019 – also 10 Jahre nach dem Vertrag von Lissabon – erhielt der EuGH in der Rs. C-543/17 (Kommission/Belgien)587 Gelegenheit, ein nach Art. 260 III AEUV beantragtes Zwangsgeld bereits im Erstverfahren zu verhängen und sich in diesem Zusammenhang zur Auslegung der Norm zu äußern. a) Anwendungsbereich des Art. 260 III AEUV aa) Auslegungsschwierigkeiten und formalistische Betrachtungsweise In Bezug auf den Anwendungsbereich stellt sich zunächst die Frage, ob ein verkürztes Verfahren nach Art. 258, 260 III AEUV ausschließlich in Fällen der Nichtmitteilung nationaler Umsetzungsmaßnahmen durchgeführt werden kann oder darüber hinaus auch Konstellationen der unvollständigen oder sogar inhaltlich unionsrechtswidrigen Richtlinienumsetzung erfasst. Da der Normtext explizit von einem Verstoß gegen die Verpflichtung, „Maßnahmen zur Umsetzung einer […] Richtlinie mitzuteilen“ spricht, scheint das in Art. 260 III AEUV vorgesehene fast-track-Verfahren an die rein formale Verletzung staatlicher Mitteilungspflichten anzuknüpfen.588 584  Borchardt, in: Dauses/Ludwigs, Hdb. des EU-Wirtschaftsrechts, 53. EL 2021, P.I. Rn. 52; Cremer, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 6. Auflage 2022, Art. 260 AEUV Rn. 20; Hummer, Neueste Entwicklungen im Zusammenspiel von Europarecht und nationalem Recht der Mitgliedstaaten, 2010, S. 606 f.; Karpenstein, in: Grabitz/ Hilf/Nettesheim, Das Recht der EU, 73. EL 2021, Art. 260 AEUV Rn. 59. 585  KOM, Mitteilung –Anwendung von Artikel 260 Absatz 3 AEUV, ABl. 2011, Nr. C 12, S. 3; Handroušek, JEEPL 2012, 235 (244). 586  Kritisch in der Frage, ob ein neues Instrument zur frühzeitigen Verhängung finanzieller Sanktionen überhaupt erforderlich war: Everling, EuR 2009 Beiheft, 71 (83); Thiele, EuR 2010, 30 (35 f.). 587  EuGH, Rs. C-543/17, Kommission/Belgien, ECLI:EU:C:2019:573. 588  So wohl die überwiegende Auffassung in der Literatur: Cremer, in: Calliess/ Ruffert, EUV/AEUV, 6. Auflage 2022, Art. 260 AEUV Rn. 21; Everling, EuR 2009



C. Fortentwicklung des Vertragsverletzungsverfahrens223

Würde man der Norm eine streng am Wortlaut orientierte Auslegung zugrunde legen, hätte dies jedoch zur Folge, dass finanzielle Sanktionen auch dann frühzeitig beantragt bzw. verhängt werden könnten, wenn ein Mitgliedstaat EU-Richtlinien inhaltlich ordnungsgemäß umgesetzt, die Mitteilung der betreffenden Maßnahmen aber versäumt hätte.589 Bei rein formaler Betrachtung müssten finanzielle Sanktionen hingegen ausscheiden, wenn der betroffene Mitgliedstaat gar keine Umsetzungsmaßnahmen getroffen, der Kommission aber wahrheitswidrig Bericht erstattet hätte. Mit Blick auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, die Intensität der Vertragsverletzung sowie die Zielsetzung des Art. 260 III AEUV, die Mitgliedstaaten zu einer pünktlichen Richtlinienumsetzung anzuhalten, erschiene eine unmittelbare Verurteilung zur Zahlung eines Pauschalbetrags oder eines Zwangsgelds aber nur im letztgenannten Fall gerechtfertigt.590 Jedenfalls weckt dieses Ergebnis Zweifel an einer „rein formalistische[n]“591 Interpretation, die den Anwendungsbereich des Art. 260 III AEUV – entsprechend seines Wortlauts – auf formale Mitteilungspflichtverletzungen beschränkt. Im Schrifttum wird der Normtext überwiegend kritisch betrachtet, teilweise sogar als „unglücklich“ bezeichnet.592 Zwar tendieren weite Teile der Literatur dahin, Art. 260 III AEUV als Instrument mit formalem Anknüpfungspunkt zu verstehen und dementsprechend restriktiv auszulegen. Auch unter den Befürwortern einer formalistischen Interpretation besteht aber weitgehend Einigkeit darüber, dass Umgehungsversuchen der Mitgliedstaaten durch die wahrheitswidrige Behauptung oder die Mitteilung völlig unzureichender Umsetzungsmaßnahmen Vorschub geleistet werden müsse, um zu verhindern, dass sie den Anwendungsbereich des Art. 260 III AEUV unterwandern. Die Frage, welche Missbrauchsgrenzen gezogen werden könnten, wird im Detail unterschiedlich beantwortet. So schlägt etwa Cremer vor, Art. 260 III AEUV auch in Fällen anzuwenden, in denen die mitgeteilten Beiheft, 71 (82); Hummer, Neueste Entwicklungen im Zusammenspiel von Europarecht und nationalem Recht der Mitgliedstaaten, 2010, S. 606; Wendenburg/Reichert, NVwZ 2017, 1338 (1339 f.). 589  Kritisch dazu: Cremer, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 6.  Auflage 2022, Art. 260 AEUV Rn. 22; Everling, EuR 2009 Beiheft, 71 (82); Thiele, EuR 2010, 30 (35). 590  A. A. wohl Gundel, der auf die Möglichkeit verweist, geringfügigen Vertragsverletzungen in Fällen, in denen der Mitgliedstaat eine Richtlinie umgesetzt und nur die formale Mitteilung versäumt hat, bei der Bestimmung der Höhe der Sanktionen oder durch ein Absehen von der Klage Rechnung zu tragen: Gundel, EuR 2020, 332 (337). 591  EuGH, Rs. C-543/17, Kommission/Belgien, ECLI:EU:C:2019:573 (Rn. 31). 592  Karpenstein, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der EU, 73. EL 2021, Art. 260  AEUV Rn. 58; Thiele, EuR 2010, 30 (35); sehr kritisch auch: Cremer, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 6. Auflage 2022, Art. 260 AEUV Rn. 20 ff.

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2. Teil: Das Vertragsverletzungsverfahren

Umsetzungsmaßnahmen nicht einmal den Anschein der Ordnungsgemäßheit erwecken.593 Andere Autoren sprechen sich dafür aus, wahrheitswidrige Behauptungen als Nichtmitteilung i. S. d. Norm zu qualifizieren, da ein solches Verhalten generell ungeeignet sei, sekundärrechtliche Mitteilungspflichten zu erfüllten.594 bb) Anwendbarkeit auf Fälle der fehlerhaften Richtlinienumsetzung Weitgehender Konsens besteht darin, Fälle der inhaltlich fehlerhaften Richtlinienumsetzung auszuschließen.595 Die Kommission nimmt bei der Bestimmung des Anwendungsbereichs von Art. 260 III AEUV eine grund­ legende Differenzierung zwischen Fällen der vollständigen und Fällen der ordnungsgemäßen Richtlinienumsetzung vor.596 Allein aus dem Umstand, dass ein Mitgliedstaat zur Umsetzung jeder einzelnen Richtlinienbestimmung Maßnahmen ergriffen habe, dürfe noch nicht auf ihre Vereinbarkeit mit unionsrechtlichen Anforderungen geschlossen werden.597 Anders ausgedrückt geht die Kommission davon aus, dass eine Richtlinie zwar vollständig, aber dennoch unrichtig umgesetzt werden kann. Da Untersuchungen, ob die mitgeteilten Maßnahmen den Anforderungen der jeweiligen Richtlinie genügen, nicht selten mit komplexen rechtlichen Problemen verbunden sind, die sorgfältige und oft langwierige Ermittlungen und Auseinandersetzungen mit dem betroffenen Mitgliedstaat erforderlich machen, eignen sie sich kaum für eine Verfolgung im verkürzten Verfahren. Meinungsverschiedenheiten darüber, ob die mitgeteilten Maßnahmen eine Richtlinie inhaltlich unionsrechtskonform umsetzen, müssen daher dem Verfahren nach Art. 258, 260 I, II AEUV vorbehalten bleiben.598 U. a. in der Rs. C-543/17 (Kommission/Belgien) hat der EuGH diese Auffassung bestätigt.599 593  Cremer, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 6. Auflage 2022, Art. 260 AEUV Rn. 23. 594  Gundel, EuR 2020, 332 (337); vgl. auch die Ausführungen von Generalanwalt Szpunar, der eine „simulierte Mitteilung“ als Nichtmitteilung qualifizierte: EuGH, Rs. C-543/17, Kommission/Belgien, ECLI:EU:C:2019:573, Schlussanträge von Generalanwalt Szpuna vom 11.4.2019, Rn. 80. 595  Vgl. Thiele, EuR 2008, 30 (35); Wendenburg, EuR 2019, 637 (651). 596  KOM, Mitteilung – EU-Recht: Bessere Ergebnisse durch bessere Anwendung, 21.12.2016, COM(2016) 8600 final, S. 16. 597  EuGH, Rs. C-543/17, Kommission/Belgien, ECLI:EU:C:2019:573 (Rn.  34 f.). 598  KOM, Mitteilung – Anwendung von Artikel 260 Absatz 3 AEUV, ABl. 2011, Nr. C 12, S. 3; kritisch dazu: Wennerås, in: Jakab/Kochenov, The Enforcement of EU Law and Values, 2017, S. 88 f. 599  EuGH, Rs. C-543/17, Kommission/Belgien, ECLI:EU:C:2019:573 (Rn. 59); bestätigt auch in: EuGH, Rs. C-549/18, Kommission/Rumänien, ECLI:EU:C:2020:563 (Rn. 45 f.); Rs. C-550/18, Kommission/Irland, ECLI:EU:C:2020:564 (Rn.  55 f.).



C. Fortentwicklung des Vertragsverletzungsverfahrens225

cc) Anwendbarkeit auf Fälle der unvollständigen Richtlinienumsetzung Hinsichtlich der lang umstrittenen Frage, ob die Durchführung eines verkürzten Verfahrens nach Art. 258, 260 III AEUV auch in Fällen der unterlassenen bzw. unvollständigen Richtlinienumsetzung in Betracht kommen soll, hat sich der EuGH in der Rs. C-543/17 (Kommission/Belgien) gegen eine rein formalistische Betrachtungsweise des Art. 260 III AEUV ausgesprochen und insoweit die im unionsgerichtlichen Verfahren umfassend dargelegte Auffassung der Kommission bestätigt.600 (1) Die Argumentation der Kommission Für die Einbeziehung unvollständiger Umsetzungskonstellationen in den Anwendungsbereich des fast-track-Verfahrens führte die Kommission zunächst ein entstehungsgeschichtliches Argument an. Da der Normtext des heutigen Art. 260 III AEUV große Ähnlichkeit zu dem im gescheiterten EU-Verfassungsvertrag vorgesehenen Art. III-267 III EU-Verfassung601 aufweisen würde, könnte bei der Bestimmung des Anwendungsbereichs von Art. 260 III AEUV auf die Ausführungen des Europäischen Konvents hierzu zurückgegriffen werden.602 Wie sich dem Abschlussbericht des Arbeitskreises über die Arbeitsweise des Gerichtshofes, dessen Vorschläge im Entwurf des Konvents aufgegriffen worden waren entnehmen ließe, seien lediglich Fälle der nicht ordnungsgemäßen Umsetzung – d. h. Fälle der inhaltlich fehlerhaften Umsetzung – aus dem Anwendungsbereich des fast-track-Verfahrens ausgeschlossen worden.603 Die Kommission ging davon aus, dass für Art. 260 III AEUV nichts anderes gelten sollte. Tatsächlich deutet auf einen konzeptionellen Kurswechsel zwischen dem Europäischen Verfassungsentwurf und dem Vertrag von Lissabon nichts hin, so dass dem entstehungsgeschichtlichen Argument durchaus Überzeugungskraft innewohnt. 600  EuGH,

Rs. C-543/17, Kommission/Belgien, ECLI:EU:C:2019:573 (Rn. 31). Vorschlag des Arbeitskreises ̧über die Arbeitsweise des Gerichtshofs noch als Art. 226 III bezeichnet, vgl. KONV, Übermittlungsvermerk des Präsidiums für den Konvent, Artikel über den Gerichtshof und das Gericht, 2.5.2003, CONV 734/03, S. 15, abrufbar unter: https://www.europarl.europa.eu/meetdocs_all/committees/conv/ 20030520/734000de.pdf (Stand: 14.2.2023). 602  EuGH, Rs. C-543/17, Kommission/Belgien, ECLI:EU:C:2019:573 (Rn.  34 f.). 603  KONV, Schlussbericht des Arbeitskreises über die Arbeitsweise des Gerichtshofs, 25.3.2003, CONV 636/03, S. 11 Fn. 2, abrufbar unter: https://www.europarl. europa.eu/meetdocs_all/committees/conv/20030403/03c_de.pdf (Stand: 14.2.2023); KONV, Übermittlungsvermerk des Präsidiums für den Konvent, Artikel über den Gerichtshof und das Gericht, 2.5.2003, CONV 734/03, S. 16 Fn. 1, abrufbar unter: ­https://www.europarl.europa.eu/meetdocs_all/committees/conv/20030520/734000de. pdf (Stand: 14.3.2023). 601  Im

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2. Teil: Das Vertragsverletzungsverfahren

Weiterhin stellte die Kommission formalistischen Interpretationsansätzen, die den Anwendungsbereich des Instruments auf reine Mitteilungspflichtverletzungen beschränken wollten, den Effektivitätsgedanken gegenüber. Bereits in einer Mitteilung aus dem Jahr 2011 hatte sie klargestellt, dass das Ziel des neu eingeführten Sanktionsmechanismus darin bestünde, „die Mitgliedstaaten stärker dazu anzuhalten, Richtlinien innerhalb der vom Gesetzgeber festgelegten Fristen umzusetzen und so sicherzustellen, dass die Rechts­ vorschriften der Union tatsächlich wirksam sind“.604 Bliebe der Anwendungsbereich des Art. 260 III AEUV auf formale Mitteilungsversäumnisse beschränkt, ließe sich mit Hilfe von Pauschalbeträgen und Zwangsgeldern unmittelbar nur die vollständige Erfüllung nationaler Mitteilungspflichten erreichen, nicht aber die eigentlich gewollte Richtlinienumsetzung gewährleisten.605 Im Ergebnis ist den teleologischen Erwägungen der Kommission bei­ zupflichten. Abgesehen vom Wortlaut des Art. 260 III AEUV spricht nichts dafür, Fälle der unterlassenen bzw. unvollständigen Umsetzung aus dem Anwendungsbereich der Norm auszunehmen. Schwierige Rechtsfragen, wie sie sich bei der Beurteilung der inhaltlichen Richtigkeit einzelner Umsetzungsmaßnahmen ergeben können, werden hier i. d. R. nicht aufgeworfen. Weiterhin gehen Umsetzungs- und Mitteilungsdefizite oft miteinander einher, so dass auch wertungsmäßig kein klarer Unterschied gemacht werden kann. Hat ein Mitgliedstaat keine Umsetzungsmaßnahmen ergriffen, kann er der Kommission – zumindest wahrheitsgemäß – auch nichts mitteilen, so dass auf die unvollständige oder unterlassene Umsetzung grundsätzlich immer eine Mitteilungspflichtverletzung folgen müsste.606 Im Abschlussbericht des Arbeitskreises über die Arbeitsweise des Gerichtshofes wurde daher gar nicht erst zwischen Fällen der Nichtmitteilung und der Nichtumsetzung differenziert.607 Da die unterlassene oder unvollständige Umsetzung von EU-Richt­ linienbestimmungen regelmäßig ursächlich dafür ist, dass ein Mitgliedstaat seinen Mitteilungspflichten nicht oder nur unvollständig nachkommt, wäre die Beschränkung des Art. 260 III AEUV auf die Durchsetzung formaler Mitteilungspflichten nicht interessengerecht. Eröffnet die Nichtmitteilung – 604  KOM, Mitteilung – Anwendung von Artikel 260 Absatz 3 AEUV, ABl. 2011, Nr. C 12, S. 2. 605  EuGH, Rs. C-543/17, Kommission/Belgien, ECLI:EU:C:2019:573 (Rn. 31, 36). 606  Thiele, EuR 2010, 30 (35). 607  „In der Praxis unterscheidet man diese Fälle der Nichtmitteilung – in denen der betreffende Mitgliedstaat keine Umsetzungsmaßnahme getroffen hat – von den Fällen der nicht ordnungsgemäßen Umsetzung“, KONV, Schlussbericht des Arbeitskreises über die Arbeitsweise des Gerichtshofs, 25.3.2003, CONV 636/03, S. 11 Fn. 2.



C. Fortentwicklung des Vertragsverletzungsverfahrens227

sozusagen als Folgefehler der Nichtumsetzung – den Anwendungsbereich des Art. 260 III AEUV, muss dies im Gedanken an den unionsrechtlichen Effektivitätsgrundsatz erst recht für die eigentliche Ursache, d. h. die unvollständige oder unterlassene Umsetzung gelten. Wie fließend der Übergang zwischen Nichtmitteilung und Nichtumsetzung sein kann, zeigt ein Blick auf den in der Literatur bisher nur theoretisch diskutierten Extremfäll, in dem ein Mitgliedstaat unzutreffende Angaben macht, um seinen unionsrechtlichen Mitteilungspflichten zumindest formal nachzukommen. Da es sich bei den Pflichten zur Mitteilung nationaler Umsetzungsmaßnahmen um eine Ausprägung des unionsrechtlichen Loyalitätsgedankens handelt, erschiene es selbst bei rein formaler Betrachtung zweifelhaft, dass Mitteilungspflichten durch unwahre Behauptungen, die unter klarem Verstoß gegen den Loyalitätsgrundsatz getätigt werden, überhaupt erfüllt werden könnten.608 Sieht man in der wahrheitswidrigen Mitteilung nichtexistenter Umsetzungsmaßnahmen zugleich eine Mitteilungspflichtverletzung, verwischen die Grenzen zwischen Fällen der unvollständigen Umsetzung und Fällen der unvollständigen Mitteilung völlig. Erstreckt man den Anwendungsbereich des Art. 260 III AEUV auf beide Konstellationen, lassen sich Abgrenzungsschwierigkeiten und damit einhergehende Rechtsunsicherheiten vermeiden. (2) D  ie Gegenposition: Rechtssicherheits- und ­Verhältnismäßigkeitsbedenken Das Königreich Belgien sowie die dem Vertragsverletzungsverfahren auf Seiten des Betroffenen beigetretenen Streithelfer sprachen sich hingegen für eine restriktivere Anwendungsbereichsbestimmung aus. Zur Begründung wurden einerseits Rechtssicherheitsüberlegungen angeführt: Würden Fälle der unvollständigen Umsetzung und Mitteilung gleichermaßen erfasst, könnte der betroffene Mitgliedstaat kaum noch erkennen, wann ein Antrag nach Art. 260 III AEUV drohen würde.609 Andererseits wies Belgien auf die Notwenigkeit einer verhältnismäßigen Anwendung des fast-track-Verfahrens hin. Wären finanzielle Sanktionen in allen Fällen der unvollständigen Richtlinien­ umsetzung zu befürchten, würden für die unvollständige Umsetzung dieselben Konsequenzen drohen, wie für die Missachtung eines Vertragsverletzungsurteils i. S. v. Art. 260 I AEUV. Würde ein Mitgliedstaat ein Vertragsverletzungsurteil nicht befolgen, läge darin aber bereits eine wiederholte Vertragsverletzung, die in ihrer Intensität deutlich über die unvollständige

608  Kritisch dazu: Cremer, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 6.  Auflage 2022, Art. 260 AEUV Rn. 23; Gundel, EuR 2020, 332 (337). 609  EuGH, Rs. C-543/17, Kommission/Belgien, ECLI:EU:C:2019:573 (Rn. 40).

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2. Teil: Das Vertragsverletzungsverfahren

Richtlinienumsetzung hinausginge und daher nicht mit einfachen Fällen der unterlassenen oder unvollständigen Umsetzung verglichen werden könnte.610 Mit Blick auf die Zielsetzung und Funktionsweise des Art. 260 III AEUV konnten sich diese Bedenken zu Recht nicht durchsetzen. Zwar lässt sich nicht bestreiten, dass Art. 260 III AEUV nur innerhalb der Grenzen zum Einsatz gebracht werden kann, die sich aus den unionsrechtlichen Geboten der Verhältnismäßigkeit und Rechtssicherheit ergeben. Hinsichtlich des Rechtssicherheitsgedankens, der seinerseits Bestandteil des Rechtsstaatlichkeitsgrundsatzes ist,611 muss jedoch berücksichtigt werden, dass die Kommission den Erfordernissen von Transparenz und Rechtssicherheit auch Rechnung tragen kann, indem sie – wie in der Vergangenheit bereits mehrfach geschehen612 – über Mitteilungen offenlegt, wie sie ihre Entscheidungs­ kompetenzen bei der Beantragung finanzieller Sanktionen im verkürzten Verfahren handhaben will. Zudem hätte die restriktive Anwendung des Art. 260 III AEUV auf formale Nichtmitteilungsfälle zur Folge, dass Mit­ teilungspflichtverletzungen klar von Fällen der unvollständigen Umsetzung unterschieden werden müssten. Da Mitteilungspflichtverletzungen und Umsetzungsversäumnisse aber oft in engem Zusammenhang stehen, ist eine klare Differenzierung zwischen beiden Fallgruppen nicht einfach. Die weite Auslegung des Anwendungsbereichs von Art. 260 III AEUV verstößt auch nicht gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Schließlich kommt dem Zweck, eine fristgerechte Richtlinienumsetzung zu gewährleisten, enorme Bedeutung für die Verwirklichung der Ziele der EU zu. Zwar mag bereits die verschärfte Verfolgung formaler Mitteilungsverstöße dazu beitragen, das Bewusstsein der Mitgliedstaaten für die hohe Bedeutung der pünktlichen Richtlinienumsetzung zu schärfen. Im Gegensatz zu Fällen der fehlerhaften Umsetzung, in denen Pauschalbeträge und Zwangsgelder unstrittig erst im Rahmen eines Zweitverfahrens beantragt und verhängt werden können, eignen sich Fälle der unterlassenen und unvollständigen Umsetzung aber beinahe ebenso wie Mitteilungsversäumnisse dazu, im fast-track-Verfahren nach Art. 260 III AEUV behandelt zu werden. Das zeitlich aufwändige Zweitverfahren muss dazu nicht erst durchlaufen, ein Urteil des EuGH nicht abgewartet werden. Weiterhin deutet die unvollständige Umsetzung, ebenso wie unvollständige Mitteilungen auf einen gewissen Mangel an Koopera­ tionsbereitschaft oder zumindest Nachlässigkeit bei der Erfüllung unionsrechtlicher Pflichten hin. Dies gilt insbesondere in Fällen, in denen der be610  EuGH,

Rs. C-543/17, Kommission/Belgien, ECLI:EU:C:2019:573 (Rn. 41). im Detail: 3. Teil, D. II. 2. a). 612  KOM, Mitteilung – Anwendung von Artikel 260 Absatz 3 AEUV, ABl. 2011, Nr. C 12, S. 1 ff.; KOM, Mitteilung – EU-Recht: Bessere Ergebnisse durch bessere Anwendung, 21.12.2016, COM(2016) 8600 final, S. 15. 611  Dazu



C. Fortentwicklung des Vertragsverletzungsverfahrens229

troffene Mitgliedstaat völlig untätig geblieben ist. Dem jeweiligen Mitgliedstaat im Rahmen eines langwierigen, zweigliedrigen Vertragsverletzungsverfahrens Gelegenheit zu geben, den Konsequenzen für sein Verhalten zu entgehen, erschiene hier unverdient. Umso leichter lässt sich eine Durchbrechung der zweistufigen Struktur zu Gunsten des Effektivitätsgedankens rechtfertigen. Zwar sind Einzelfälle denkbar, in denen die Verhängung finanzieller Sanktionen im Rahmen des Erstverfahrens eine unverhältnismäßige Härte darstellen würde. Den Anwendungsbereich von Art. 260 III AEUV deshalb pauschal zu verkürzen, würde aber die Effektivität des Instruments in Frage stellen und bietet daher keine interessensgerechte Lösung. Vielmehr hat die Kommission Bagatellverstößen und atypischen Situationen einzelfallbezogen Rechnung zu tragen. Gemäß Art. 260 III 1 AEUV steht die Entscheidung, ob ein Pauschalbetrag oder ein Zwangsgeld beantragt werden soll, ausdrücklich in ihrem Ermessen. Zwar hat die Kommission bereits mehrfach angekündigt, umfassend und systematisch von Art. 260 III AEUV Gebrauch machen zu wollen.613 Soweit hierin eine Selbstbindung gesehen wird,614 gilt diese aber nur für den Regelfall, so dass die Kommission in atypisch gelagerten Situationen von ihrer Praxis abrücken und ihre Entscheidung an der besonderen Interessenlage des Einzelfalls ausrichten kann. Dementsprechend hat sie sich ausdrücklich vorbehalten, in Ausnahmefällen von der Anwendung des Art. 260 III AEUV abzusehen.615 (3) Auswertung und Beurteilung durch den EuGH Im Ergebnis überzeugt die Auffassung der Kommission, der zufolge sich der Anwendungsbereich des Art. 260 III AEUV nicht allein auf die Durchsetzung formaler Mitteilungspflichten beschränken kann. Setzen EU-Mitgliedstaaten eine Richtlinie unvollständig oder gar nicht um, müssen sie damit 613  KOM, Mitteilung – Anwendung von Artikel 260 Absatz 3 AEUV, ABl. 2011, Nr. C 12, S. 3; KOM, Mitteilung – EU-Recht: Bessere Ergebnisse durch bessere Anwendung, 21.12.2016, COM(2016) 8600 final, S. 15. 614  Zur Selbstbindung der Kommission: EuGH, Rs. C-288/96, Deutschland/Kommission, Slg. 2000, I-8237 (Rn. 62); Rs. C-171/00 P, Libéros/Kommission, Slg. 2002, I-451 (Rn. 35); verb. Rsen. C-189/02 P, C-202/02 P, C-205/02 P bis C-208/02 P und C-213/02 P, Dansk Rørindustri u. a./Kommission, Slg. 2005, I-5425 (Rn. 209 ff.); EuG, Rs. T-73/04, Carbone-Lorraine/Kommission, Slg. 2008, II-2661 (Rn. 70 f.); Rs. T-304/08, Smurfit Kappa Group plc/Kommission, ECLI:EU:T:2012:351 (Rn. 84); Frenz, WRP 2010, 224 (225 ff.); von Graevenitz, EuZW 2013, 169 (171); Soltész, EuZW 2013, 881 (882). 615  KOM, Mitteilung – Anwendung von Artikel 260 Absatz 3 AEUV, ABl. 2011, Nr. C 12, S. 3.

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2. Teil: Das Vertragsverletzungsverfahren

rechnen, bereits im Rahmen des Erstverfahrens mittels finanzieller Sanktionen zur Rechenschaft gezogen zu werden. Entstehungsgeschichte und Normzweck legen diese Interpretation gleichermaßen nahe. Zwar deutet der Wortlaut eher auf eine rein formalistische Auslegung hin, der EuGH hat jedoch bereits mehrfach darauf hingewiesen, dass bei der Auslegung einer Vorschrift des Unionsrechts nicht nur ihr Wortlaut zu berücksichtigen ist, sondern auch ihr Kontext und das gesamte Unionsrecht.616 In der Rs. C-543/17 (Kommission/Belgien) hat sich der EuGH der Norm­ auslegung der Kommission weitgehend angeschlossen. Die Verhängung finanzieller Sanktionen gegen Belgien stütze er nicht allein auf das Versäumnis, nationale Umsetzungsmaßnahmen mitzuteilen, sondern ebenso auf die Ursache dieser Pflichtverletzung, d. h. auf die unvollständige Umsetzung617 der Art. 2 Nrn. 7 bis 9 und 11, Art. 4 V und Art. 8 der Richtlinie 2014/61/ EU618. Hierbei fällt auf, dass sich der EuGH – im Unterschied zum Vorbringen der Kommission – in seiner Urteilsbegründung gar nicht mit der Frage befasst hat, ob sich der Anwendungsbereich des Art. 260 III AEUV neben Fällen der unterbliebenen Mitteilung auch auf die unterbliebene bzw. unvollständige Umsetzung erstrecke. Stattdessen begründete er, warum sich die Anwendung des Instruments auf diese Fallgruppen beschränken müsse.619 EuGH und Kommission kommen damit zwar zum selben Ergebnis, gehen bei der Bestimmung des Anwendungsbereichs aber von unterschiedlichen Punkten aus. Zwar hat der EuGH die Differenzierung zwischen vollständiger und ordnungsgemäßer Umsetzung aufgegriffen. Während es die Kommission aber für begründungsbedürftig hielt, Art. 260 III AEUV über formale Mitteilungspflichtverletzungen hinaus auf Fälle der unvollständigen Umsetzung anzuwenden, sah der EuGH vielmehr ein Bedürfnis, die Unanwendbarkeit des Instruments auf Fragen der ordnungsgemäßen Richtlinienumsetzung zu rechtfertigen. Die Argumentationsrichtung des EuGH lässt somit auf eine stark effektivitätsorientierte Grundhaltung schließen. Indem der EuGH die Überprüfung der Unionsrechtskonformität nationaler Umsetzungsmaßnahmen auf das reguläre Verfahren nach Art. 258, 260 I, II AEUV verwiesen hat, hat er zudem deutlich gemacht, dass es ihm für die Bestimmung des Anwen616  EuGH, Rs. C-283/81, CILFIT/Ministero della Sanità, Slg. 1982, 3415 (Rn. 20); Rs. C‑583/11 P, Kanatami/Parlament, ECLI:EU:C:2013:625 (Rn. 50); Rs. C-621/18, Wightman u. a./Secretary of State for Exiting the European Union, ECLI:EU:C:2018:999 (Rn. 47); Rs. C-543/17, Kommission/Belgien, ECLI:EU:C:2019:573 (Rn. 49). 617  EuGH, Rs. C-543/17, Kommission/Belgien, ECLI:EU:C:2019:573 (Rn. 68). 618  Richtlinie 2014/61/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. Mai 2014 über Maßnahmen zur Reduzierung der Kosten des Ausbaus von Hochgeschwindigkeitsnetzen für die elektronische Kommunikation, ABl. 2014, Nr. L 155, S.  1 ff. 619  EuGH, Rs. C-543/17, Kommission/Belgien, ECLI:EU:C:2019:573 (Rn.  55 ff.).



C. Fortentwicklung des Vertragsverletzungsverfahrens231

dungsbereichs des fast-track-Verfahrens weniger auf die Schwere der Vertragsverletzung ankommt,620 sondern vielmehr darauf, das Instrument in allen Fällen zu nutzen, in denen es sich dazu eignet, leicht erkennbare Unionsrechtsverstöße einer schnellen Lösung zuzuführen. Dabei beschränkt der EuGH das Verfahren nach Art. 258, 260 III AEUV nicht auf die Kontrolle formaler Mitteilungspflichten, sondern bezieht die eigentliche Umsetzung ein, soweit die Nichtmitteilung nationaler Umsetzungsmaßnahmen ohne inhaltliche Prüfung auf ihr Fehlen schließen lässt.621 b) Pflichtverletzung: „Maßnahmen zur Umsetzung […] mitzuteilen“ Neben der Frage nach dem Anwendungsbereich der Norm, standen in der Rs. C-543/17 (Kommission/Belgien) auch die Voraussetzungen für das Vorliegen einer Verletzung staatlicher Mitteilungspflichten i. S. v. Art. 260 III AEUV in Streit. Der EuGH bestätigte im Ergebnis die Rechtsauffassung der Kommission, die die Durchführung eines fast-track-Verfahrens nicht auf Fälle beschränkt sah, in denen der betroffene Mitgliedstaat die Mitteilung staatlicher Umsetzungsmaßnahmen vollständig unterlassen hatte und somit gänzlich untätig geblieben war.622 Vielmehr qualifizierte sie bereits die ­unvollständige Mitteilung staatlicher Umsetzungsakte als Pflichtverletzung nach Maßgabe des Art. 260 III AEUV − beispielsweise in Fällen, in denen die gemeldeten Umsetzungsmaßnahmen nur einen Teil des Hoheitsgebiets oder nur einen Teil der betroffenen Richtlinie abdeckten.623 Zur Begründung stützte sich der EuGH vorwiegend auf die Gefahr missbräuchlichen Verhaltens. Dürfte die Kommission finanzielle Sanktionen im Erstverfahren nur bei völliger Untätigkeit des betroffenen Mitgliedstaates beantragen, hätte er es letztlich in der Hand, einem Antrag nach Art. 260 III AEUV durch die Umsetzung und Mitteilung vereinzelter, untergeordneter Richtlinienbestimmungen zu entgehen.624 Weiterhin nahm der EuGH auf die 620  So aber Teile der Literatur, vgl. etwa: Everling, EuR 2009 Beiheft, 71 (83); Karpenstein, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der EU, 73. EL 2021, Art. 260 AEUV Rn. 62; Klamert, EuR 2018, 159 (162 f.). 621  Ähnlich auch: Gundel, EuR 2020, 332 (339 f.); zur Praxis einer prima facie Überprüfung der Kommission: Gáspár-Szilágyi, EPL 2013, 281 (283 f.). 622  EuGH, Rs. C-543/17, Kommission/Belgien, ECLI:EU:C:2019:573 (Rn.  53 f.); a. A. noch: KONV, Schlussbericht des Arbeitskreises ̧über die Arbeitsweise des Gerichtshofs, 25.3.2003, CONV 636/03, S. 11 Fn. 2, abrufbar unter: https://www.euro parl.europa.eu/meetdocs_all/committees/conv/20030403/03c_de.pdf (Stand: 14.2. 2023); vgl. zum Ganzen: Gáspár-Szilágyi, EPL 2013, 281 (284 ff.). 623  KOM, Mitteilung – Anwendung von Artikel 260 Absatz 3 AEUV, ABl. 2011, Nr. C 12, S. 3. 624  EuGH, Rs. C-543/17, Kommission/Belgien, ECLI:EU:C:2019:573 (Rn.  52 ff.).

232

2. Teil: Das Vertragsverletzungsverfahren

einschränkungslose Formulierung des Vertragstextes Bezug, wonach früh­ zeitige Finanzsanktionen drohen, wenn „Maßnahmen zur Umsetzung“ nicht mitgeteilt werden.625 Würde Art. 260 III AEUV die vollständige Untätigkeit des betroffenen Mitgliedstaates voraussetzen, müsste im Normtext von der Nichtmitteilung „der“ oder „aller“ Maßnahmen zur Umsetzung gesprochen werden.626 Weiterhin stellte der EuGH klar, dass ein Mitgliedstaat seine originär aus der unionsrechtlichen Loyalitätspflicht gemäß Art. 4 III EUV erwachsenden Mitteilungspflichten nur erfüllen würde, sofern er der Kommission „hinreichend klare und genaue Informationen über Maßnahmen zur Umsetzung der Richtlinie“, erforderlichenfalls unter Rückblick auf eine artikelscharfe Konkordanztabelle übermittelte. Den Erfordernissen der Rechtssicherheit würde dabei nur genüge getan, wenn für jede einzelne Richtlinienbestimmung genau angegeben würde, welche nationalen Vorschriften und Rechtsakte zu ihrer Umsetzung erlassen worden sind.627 Indem der EuGH hohe Anforderungen an die Qualität und Artikelschärfe nationaler Umsetzungsmittelungen stellt, zugleich aber die unvollständige Mitteilung nationaler Umsetzungsmaßnahmen als Pflichtverletzung i. S. d. Art. 260 III AEUV genügen lässt, hat er eine weite Interpretation gewählt, nach der die Voraussetzungen für die Durchführung eines verkürzten Verfahrens in vergleichsweise vielen Fällen vorliegen dürften; je schwerer es den Mitgliedstaaten fällt, ihren Mitteilungspflichten nachzukommen, um sich der Verhängung finanzieller Sanktionen nach Art. 260 III AEUV zu entziehen, desto stärker steigt die Sanktionsgefahr.628 Zwar mag die Interpretation des EuGH mit Blick auf den Effektivitätsgrundsatz vorzugswürdig sein, gleichzeitig bietet sie aber auch Anlass zur Kritik. Hätten die Mitgliedstaaten wegen jedes noch so geringfügen Umsetzungs- und Mitteilungsversäumnisses die Verhängung frühzeitiger Finanzsanktionen zu befürchten, ließe sich das Instrument nur schwer mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz (Art. 5 I 2, IV EUV) sowie den unionsrechtlichen Loyalitätspflichten (Art. 4 III EUV) vereinbaren, die EU-Organe und Mitgliedstaaten gleichermaßen treffen und zu denen auch die Pflicht zur gegenseitigen Rücksichtnahme zählt. Vor diesem Hintergrund wurde in der Literatur einschränkend vorgeschlagen, das Vorliegen einer tatbestandlichen Pflichtverletzung etwa dann auszuschließen, wenn sie sich nur auf einzelne oder untergeordnete Richtlinienbe-

625  EuGH,

Rs. C-543/17, Kommission/Belgien, ECLI:EU:C:2019:573 (Rn. 37). EuR 2019, 637 (640). 627  EuGH, Rs. C-543/17, Kommission/Belgien, ECLI:EU:C:2019:573 (Rn. 59). 628  Wendenburg, EuR 2019, 637 (640 f.). 626  Wendenburg,



C. Fortentwicklung des Vertragsverletzungsverfahrens233

stimmungen beziehe.629 Bedenken im Hinblick auf die Verhältnismäßigkeit scheint auch der EuGH zu haben. Obwohl er den Anwendungsbereich des Art. 260 III AEUV im Sinne des unionsrechtlichen effet utile großzügig bestimmt und die Anforderungen an die Erfüllung staatlicher Mitteilungspflichten hoch angesetzt hat, gibt er zu bedenken, dass der betroffene Mitgliedstaat im Falle eines verkürzten Verfahrens die Möglichkeit einbüße, sich gegen die Auffassung der Kommission jenseits des Drucks drohender finanzieller Situationen zur Wehr zu setzen. Die Auslegung des Art. 260 III AEUV dürfe daher nicht zu einseitig zu Gunsten des Effektivitätsgrundsatzes ausfallen. Vielmehr müsse das verfolgte Ziel, die pünktliche Umsetzung europäischer Richtlinien zu gewährleisten, mit den Verteidigungsrechten und der Verfahrensstellung der Mitgliedstaaten in Ausgleich gebracht werden.630 Vor diesem Hintergrund erscheint es unwahrscheinlich, dass Kommission und EuGH in naher Zukunft dazu übergehen werden, in Bagatellfällen von der Möglichkeit eines fast-track-Verfahrens Gebrauch zu machen. 3. Die Rolle der Kommission: Rechtliche Grenzen der Ermessensausübung Ausweislich des Normtexts („wenn sie es für zweckmäßig hält“) verfügt die Kommission im Anwendungsbereich des Art. 260 III AEUV sowohl in der Frage, ob sie von der Möglichkeit, ein verkürztes Verfahren durchzuführen Gebrauch machen möchte, als auch bei der Bestimmung der Art und des Umfangs der beantragten Sanktionen über Ermessen.631 Ebenso wie im regulären Sanktionsverfahren hat sie die Wahl zwischen Pauschalbetrag und Zwangsgeld, die nach dem Wortlaut des Art. 260 III 1 AEUV („oder“) einander zwar als Alternativen gegenüberzustehen scheinen, wohl aber auch kumulativ vorgeschlagen werden können.632 Die abschließende Entscheidung, ob der betroffene Mitgliedstaat unionsrechtliche Pflichten verletzt hat und deshalb mit finanziellen Sanktionen belegt werden soll, obliegt wiederum dem EuGH. Im Unterschied zum regulären Verfahren nach Art. 258, 260 II AEUV gilt im Anwendungsbereich von Art. 260 III AEUV allerdings der 629  Dahingehend: Karpenstein, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der EU, 73. EL 2021, Art. 260 AEUV Rn. 62; Klamert, EuR 2018, 159 (162 f.). 630  EuGH, Rs. C-543/17, Kommission/Belgien, ECLI:EU:C:2019:573 (Rn.  57 f.). 631  Borchardt, in: Dauses/Ludwigs, Hdb. des EU-Wirtschaftsrechts, 53. EL 2021, P.I. Rn. 52; Hummer, Neueste Entwicklungen im Zusammenspiel von Europarecht und nationalem Recht der Mitgliedstaaten, 2010, S. 607; Wunderlich, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht, 7. Auflage 2015, Art. 260 AEUV Rn. 32. 632  KOM, Mitteilung – Anwendung von Artikel 260 Absatz 3 AEUV, ABl. 2011, Nr. C 12, S. 3.

234

2. Teil: Das Vertragsverletzungsverfahren

Grundsatz ne ultra petita: Der EuGH kann Sanktionen maximal „bis zur Höhe des von der Kommission genannten Betrags“ festsetzen, wobei er lediglich an den Maximalbetrag, nicht aber an die Berechnungsmethoden der Kommission gebunden ist.633 Die Kommission hat im Rahmen zweier Mitteilungen 2011 und 2017 offengelegt, wie sie ihre Entscheidungsspielräume im Zusammenhang mit Art. 260 III AEUV ausüben möchte. In beiden Verlautbarungen erklärte sie, dass sie in allen geeigneten Fällen „umfassend und systematisch“ vom Sanktionsantrag nach Art. 260 III AEUV Gebrauch machen werde.634 Für die Berechnung von Pauschalbeträgen und Zwangsgeldern wolle sie dieselben Kriterien heranziehen, wie unter Art. 260 II AEUV.635 Während sich die Kommission 2011 aber noch dahingehend äußerte, die Anwendung von Art. 260 III AEUV auf die Beantragung eines Zwangsgelds beschränken zu wollen, kündigte sie 2017 als Reaktion auf ihre Negativerfahrungen mit den mitgliedstaatlichen Umsetzungsleistungen an, künftig neben einem Zwangsgeld regelmäßig auch einen Pauschalbetrag fordern zu wollen. Da der Pauschalbetrag darauf gerichtet ist, die (rückblickende) Dauer einer Unionsrechtsverletzung bis zu ihrer unionsgerichtlichen Feststellung abzugelten, besteht ein Klageinteresse prinzipiell selbst dann fort, wenn der betroffene Mitgliedstaat noch während des Verfahrens kooperiert; nur das auf die Erzwingung eines künftigen Verhaltens gerichtete Zwangsgeld würde in diesem Fall gegenstandslos. Die Kommission beabsichtigt Vertragsverletzungsklagen nicht mehr allein deshalb zurückzuziehen, weil der betroffene Mitgliedstaat seinen Pflichten im Verlauf des Verfahrens nachgekommen ist.636 4. Auswertung Mit dem verkürzten Vertragsverletzungsverfahren gemäß Art.  258, 260 III AEUV wurde der Kommission ein Instrument an die Hand gegeben, 633  Karpenstein, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der EU, 73. EL 2021, Art. 260 AEUV Rn. 67. 634  KOM, Mitteilung – Anwendung von Artikel 260 Absatz 3 AEUV, ABl. 2011, Nr. C 12, S. 3; KOM, Mitteilung – EU-Recht: Bessere Ergebnisse durch bessere Anwendung, 21.12.2016, COM(2016) 8600 final, S. 15; kritisch zur Vereinbarkeit einer automatischen Inanspruchnahme des Instruments mit den Ermessensspielräumen der Kommission: Wunderlich, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht, 7. Auflage 2015, Art. 260 AEUV Rn. 32. 635  KOM, Mitteilung – Anwendung von Artikel 260 Absatz 3 AEUV, ABl. 2011, Nr. C 12, S. 3 f. 636  KOM, Mitteilung – EU-Recht: Bessere Ergebnisse durch bessere Anwendung, 21.12.2016, COM(2016) 8600 final, S. 15 f.; kritisch dazu: Karpenstein, in: Grabitz/ Hilf/Nettesheim, Das Recht der EU, 73. EL 2021, Art. 260 AEUV Rn. 68.



C. Fortentwicklung des Vertragsverletzungsverfahrens235

das die Gesamtverfahrensdauer in geeigneten Fällen reduziert und den Umsetzungsdruck auf die Mitgliedstaaten in zeitlicher sowie finanzieller Hinsicht verstärkt. Da die Verhängung finanzieller Sanktionen einen gravierenden Eingriff in die mitgliedstaatliche Souveränität darstellt,637 zeigt die Ausweitung unionsgerichtlicher Sanktionsmöglichkeiten in Fällen der Nichtmitteilung, ebenso wie in Fällen der unterlassenen oder unvollständigen Richtlinienumsetzung, welcher Stellenwert der pünktlichen Richtlinienumsetzung für das Gelingen der Unionspolitik aus Sicht der Unionsorgane und Vertragsstaaten zukommt. Dies gilt nicht zuletzt für den Umweltsektor, in dem Richtlinien traditionell die häufigste Handlungsform darstellen.638 Mit Einführung des Art. 260 III AEUV wurden die Handlungsspielräume der Kommission erweitert.639 Indem sie die Handhabung ihres Antragsrechts in den vergangenen Jahren verschärfte, besann sich die Kommission verstärkt auf ihre Rolle als imperative Kontrollinstanz, die zur Realisierung unionsrechtlicher Vorgaben bereit ist, Widerstände in den Mitgliedstaaten zu überwinden. Betrachtet man diese Entwicklung im Zusammenhang mit der 2019 erklärten Einschränkung der Nutzung des EU-Pilot-Verfahrens,640 zeichnet sich bei der Anwendung des Vertragsverletzungsverfahrens eine gewisse Gegenentwicklung zum kooperativen Kurs ab, den die Kommission im Rahmen ihres präventiv verstoßvermeidenden Ansatzes eingeschlagen hat. Auf den ersten Blick scheint Art. 260 III AEUV durchaus Potenzial zu haben, die Mitgliedstaaten zu einer pünktlicheren Umsetzung des EU-Richtlinienrechts zu veranlassen. Gewisse effektivitätspolitische Bedenken am Konzept des fast-track-Verfahrens bestehen dennoch. Zunächst dürfte die internationale Anprangerungswirkung, die mit der Verhängung finanzieller Sanktionen einhergeht, im Anwendungsbereich des Art. 260 III AEUV vergleichsweise gering ausfallen. Sanktioniert werden hier bereits einfache Umsetzungs- bzw. Mitteilungsverstöße. Damit Pauschalbeträge oder Zwangsgelder gemäß Art. 260 II AEUV im Zweitverfahren verhängt werden können, muss der betroffene Mitgliedstaat hingegen doppelt und – mit Blick auf die Dauer gleich zweier Vertragsverletzungsverfahren – deutlich länger gegen Unionsrecht verstoßen haben. Der Ansehensverlust, der mit einem Sanktionsurteil im Zweitverfahren mitschwingt, dürfte demnach deutlich über die Missbilligung hinausgehen, die eine Sanktion nach Art. 260 III AEUV zum Ausdruck bringt. Auch die weite Auslegung des Anwendungsbereichs durch den EuGH in Kombination mit den hohen Anforderungen, die er an die Erin: Depenheuer/Heintzen u. a., FS-Isensee, 2007, S. 774. Enforcement of European Union Environmental Law, 2. Edition 2015, S. 44. 639  Gáspár-Szilágyi, EPL 2013, 281 (281). 640  Dazu: 2. Teil, C. II. 2. 637  Everling,

638  Hedemann-Robinson,

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2. Teil: Das Vertragsverletzungsverfahren

füllung nationaler Mitteilungspflichten stellt, könnten sich vor diesem Hintergrund als problematisch erweisen. Je geringer die Voraussetzungen sind, unter denen ein Umsetzungs- bzw. Mitteilungsverstoß sanktioniert wird, desto weniger Aufsehen erregt die Verhängung eines Pauschalbetrags oder eines Zwangsgelds in der internationalen Wahrnehmung. Geraten alle Mitgliedstaaten gelegentlich in diese Situation, drohen Pflichtverletzungen i. S. v. Art. 260 III AEUV in Zukunft als Kavaliersdelikte und Finanzsanktionen als Ärgernisse angesehen zu werden. Mit Blick auf die enorme Vielzahl an umsetzungsbedürftigen Richtlinienbestimmungen wird die Verletzung staatlicher Mitteilungspflichten bereits heute als eher „alltäglicher Verstoß“ angesehen.641 Angesichts der hohen Bedeutung der pünktlichen und vollständigen Richtlinienumsetzung für das Erreichen der Ziele der EU, erscheint diese Bagatellisierung bedenklich. Selbst die Verletzung formaler Mitteilungspflichten sollte nicht leichtfertig abgetan werden, dienen sie der Kommission doch dazu, wertvolle Informationsgrundlagen für die Erfüllung ihres Vollzugskontrollauftrags zu generieren.

IV. Die einstweilige Anordnung, Art. 279 AEUV Wie bereits die Einführung eines verkürzten Verfahrens in Art. 260 III AEUV, ebenso wie das von der Kommission initiierte EU-Pilot-Projekt gezeigt haben, bemühen sich die EU-Organe fortgesetzt darum, die Gesamtdauer des Vertragsverletzungsverfahrens zu reduzieren. Da überlange Verfahren speziell im Umweltbereich die Gefahr bergen, irreparable Schäden zu verursachen, die Umweltziele der EU in Frage zu stellen und empfindliche Verschiebungen des Binnenmarktes zu bewirken,642 besteht hier ein besonders dringendes Bedürfnis, die Mitgliedstaaten möglichst sofort von weiteren Schädigungen abzuhalten. Art. 279 AEUV räumt dem EuGH die Möglichkeit ein, in den bei ihm anhängigen Rechtssachen einstweilige Anordnungen zu treffen. Auch wenn in der Praxis bisher nur selten davon Gebrauch gemacht worden ist, hat der EuGH der Kommission eine entsprechende Antragsbefugnis auch in Vertragsverletzungsangelegenheiten zugesprochen.643 Da einstweilige Anordnungen das unionsgerichtliche Hauptsachverfahren nicht präjudizieren dürfen (Art. 162 IV EuGHVerfO), können sie grundsätzlich nur bis zur Entscheidung in der Hauptsache erlassen und aufrechterhalten werden (Art. 162 III EuGHVerfO). Mit Blick auf das Ziel, die volle Wirksamkeit künftiger EntEuR 2010, 30 (36). 1. Teil, B. I. 643  EuGH, Rs. 62/77 R, Kommission/Irland, Slg. 1977, 937 (Rn. 26/29); Rs. 293/ 85 R, Kommission/Belgien, Slg. 1985, 3521 (Rn. 23 f.). 641  Thiele, 642  Dazu:



C. Fortentwicklung des Vertragsverletzungsverfahrens237

scheidungen zu sichern und Lücken im Rechtsschutzsystem der EU zu vermeiden,644 kommen sie in Vertragsverletzungsangelegenheiten also bis zur Verkündung des Vertragsverletzungsurteils gemäß Art. 260 I AEUV in Betracht; eine einstweilige Anordnung im Anschluss an die Feststellung einer Vertragsverletzung wurde vom EuGH hingegen für unnötig befunden.645 Angeordnet werden kann prinzipiell jedes Ge- oder Verbot, das zur vorläufigen Gestaltung oder Sicherung des in der Hauptsache betroffenen Rechtsverhältnisses erforderlich ist,646 so etwa auch die vorläufige Aufhebung bzw. Nichtanwendung und damit die Suspension einer möglicherweise unionsrechtswidrigen Maßnahme.647 In Umweltangelegenheiten hat der EuGH von der Möglichkeit, einstweilige Anordnungen bis zur abschließenden Entscheidung über das Vorliegen einer Vertragsverletzung zu treffen, bereits Gebrauch gemacht. Zwei dieser Verfahren bezogen sich auf Verstöße bei der Umsetzung von Art. 9 der Vogelschutzrichtlinie (79/409/EWG) in ihrer damals geltenden Fassung. Sowohl in der Rs. C-503/06 R (Kommission/Italien)648 als auch in der Rs. C-76/08 R (Kommission/Malta)649 wurde den Mitgliedstaaten aufgegeben, illegale Jagdunternehmungen bis zur Verkündung des Feststellungsurteils gemäß ­ Art. 260 I AEUV zu unterbinden bzw. fehlerhaft umgesetzte Ausnahmetatbestände nicht anzuwenden. In einer jüngeren Entscheidung wies der EuGHVizepräsident die Republik Polen in der Rs. C-441/17 R (Kommission/ Polen)650 an, mit Blick auf einen möglichen Verstoß sowohl gegen Art. 4 und 5 der Habitat-Richtlinie (92/43/EWG) als auch gegen Art. 6 I, III, 12 I der aktuellen Vogelschutzrichtlinie (2009/147/EG), Maßnahmen der aktiven Waldbewirtschaftung in den Lebensräumen bestimmter Arten einzustellen

644  Vgl. EuGH, Rs. C-441/17 R, Kommission/Polen, ECLI:EU:C:2017:877 (Rn. 94); Karpenstein, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der EU, 73. EL Juni 2021, Art. 258 AEUV Rn. 83. 645  EuGH, Rs. C-24/80 R und C-97/80 R, Kommission/Frankreich, Slg. 1980, 13 19 (Rn. 19). 646  Wegener, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, Hdb. des Rechtsschutzes in der EU, 3. Auflage 2014, § 20 Rn. 2. 647  EuGH, Rs. 42/82 R, Kommission/Frankreich, Slg. 1982, 841 (Rn. 21); Rs. 171/ 83 R, Kommission/Frankreich, Slg. 1983, 2621 (Rn. 27); Rs. 194/88 R, Kommission/ Italien, Slg. 1988, 5647 (Rn. 17); Rs. C-195/90 R, Kommission/Deutschland, Slg. 1990, I-3351 (Rn. 48 ff); Rs. C-503/06 R, Kommission/Italien, Slg. 2006, I-141 (Rn. 20); Rs. C-573/08 R, Kommission/Italien, Slg. 2009, I-217 (Rn. 31); Stoll/Rigod, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der EU, 73. EL 2021, Art. 279 AEUV, Rn. 15. 648  EuGH-Präsident, Rs. C-503/06 R, Kommission/Italien, Slg. 2006, I-141. 649  EuGH-Präsident, Rs. C-76/08 R, Kommission/Malta, Slg. 2008, I-64. 650  EuGH-Vizepräsident, Rs. C-441/17 R, Kommission/Polen, ECLI:EU:C:2017: 877.

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2. Teil: Das Vertragsverletzungsverfahren

und die Beseitigung toter Fichten sowie das Fällen von Bäumen im geschützten Urwald Białowieża mit sofortiger Wirkung zu beenden.651 1. Die Zulässigkeit einstweiliger Anordnungen in Vertragsverletzungsangelegenheiten Einstweilige Anordnungen i. S. v. Art. 279 AEUV mögen dazu beitragen, lange Verfahrensdauern als Risikofaktor für das Entstehen irreversibler Schäden abzufedern. Kompetenzrechtlich ist die unionsgerichtliche Anordnung vorläufiger Ge- und Verbote in Vertragsverletzungsangelegenheiten aber nicht unbedenklich. Zwar beschränkt sich der Normtext des Art. 279 AEUV nicht auf bestimmte Verfahrensarten.652 Charakteristikum der einstweiligen Anordnung ist jedoch ihre Konnexität zum Hauptsacheverfahren (vgl. Art. 160 II VerfO-EuGH).653 Im Wege einer einstweiligen Anordnung können daher nur solche Maßnahmen gefordert werden, die auch in der Hauptsache erreicht werden könnten.654 Ein Antrag nach Art. 279 AEUV, der das im Hauptsacheverfahren verfolgte Ziel überschreitet, ist unzulässig.655 Da das Vertragsverletzungsverfahren lediglich auf eine Feststellung gerichtet ist, scheint die Anordnung vorläufiger Handlungs- oder Unterlassungspflichten für den betroffenen Mitgliedstaat aber über das im Hauptsacheverfahren erreichbare Ergebnis hinauszureichen.656 Teile der Literatur sehen darin eine eigenmächtige Erweiterung der in Art. 260 I AEUV klar festgelegten Kompetenzen des EuGH.657 651  Dazu: Grzeszczak/Karolewski, Bialowieza Forest, the Spruce Bark Beetle and the EU Law Controversy in Poland, 27.11.2017, DOI: 10.17176/20171127-182151 (Stand: 14.2.2023). 652  EuGH, Rs. 61/77 R, Kommission/Irland, Slg. 1977, 937, Schlussanträge von Generalanwalt Reischl vom 21.5.1977, S. 953. 653  Ehricke, in: S ­ treinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 279 AEUV Rn. 16; Wegener, in: Calliess/Ruffert, 6. Auflage 2022, Art. 279 AEUV Rn. 12; Wegener, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, Hdb. des Rechtsschutzes in der EU, 3. Auflage 2014, § 20 Rn. 6. 654  EuGH, Rs. 88/76 R, Exportation des Sucres/Kommission, Slg. 1976, 1585 (Rn. 2/6); Rs. C-313/90 R, CIRFS u. a./Kommission, Slg. 1991, 2557 (Rn. 23). 655  EuGH, Rs. C-313/90 R, CIRFS u. a./Kommission, Slg. 1991, 2557 (Rn. 23 f.); Wegener, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, Hdb. des Rechtsschutzes in der EU, 3. Auflage 2014, § 20 Rn. 6. 656  Ehricke, in: S ­ treinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 258 AEUV Rn. 37; Gaitanides, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht, 7. Auflage 2015, Art. 279 AEUV Rn. 26; Karpenstein, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der EU, 73. EL 2021, Art. 258 AEUV Rn. 83; Pechstein, EU-Prozessrecht, 4. Auflage 2011, Rn. 323. 657  EuGH, Rs. C-31/77 R und 53/77 R, Kommission/Großbritannien, Slg. 1977, 929, Schlussanträge von Generalanwalt Mayras vom 20.5.1977, S. 935 f.; Cremer, in:



C. Fortentwicklung des Vertragsverletzungsverfahrens239

Bei genauer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass zwischen den Rechtswirkungen einer auf die Nichtanwendung nationaler Rechtsakte oder die Unterlassung bestimmter Maßnahmen gerichteten Anordnung nach Art. 279 AEUV und den Rechtswirkungen eines Feststellungsurteils gemäß Art. 260 I AEUV keine wesentlichen Unterschiede bestehen.658 Schließlich können einstweilige Anordnungen ebenso wenig wie Feststellungsurteile nach Art. 280, 299 AEUV vollstreckt werden. Zwar bestimmt die im Schrifttum h. M. den Urteilsbegriff i. S. v. Art. 280 AEUV großzügig, so dass neben Urteilen im eigentlichen Sinne auch Beschlüsse vom Anwendungsbereich der Norm erfasst werden.659 Ebenso wie der Vollstreckung finanzieller Sanktionen i.  S.  v. Art. 260 II AEUV steht Art. 299 I Hs. 2 AEUV aber auch einer Vollstreckung einstweiliger Anordnungen durch die Mitgliedstaaten gegen sich selbst entgegen.660 Hinzu kommt, dass die Pflicht zur Herstellung unionsrechtskonformer Zustände nicht erst durch das Feststellungsurteil gemäß Art. 260 I AEUV begründet wird, sondern bereits aus den einzelnen EU-(Sekundär-)Rechtsakten i. V. m. Art. 4 III UAbs. 2 EUV resultiert. Durch die einstweilige Anordnung wird sie lediglich konkretisiert.661 Ähnlichkeit besteht insoweit zu der ex lege an das Vertragsverletzungsurteil anknüpfenden Pflicht, die „Maßnahmen zu ergreifen, die sich aus dem Urteil des Gerichtshofs ergeben“. Dass auch der EuGH keine relevante Überschreitung der in Art. 260 I AEUV verankerten Feststellungsbefugnis sieht, begründet Cremer662 überzeugend mit Blick auf die Ausführungen des Gerichtshofs in den verbundenen Rs. C-24/80 R und C-97/80 R (Kommission/Frankreich), in denen der EuGH den Erlass einer einstweiligen Anordnung nach Feststellung einer Vertragsverletzung ausdrücklich für „nicht erforderlich“ erachtete, da „der Gegenstand [der einstweiligen Anordnung] im Wesentlichen dem [Vertragsverletzungs-]Urteil […]“ entspreche.663 Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 6. Auflage 2022, Art. 258 AEUV Rn. 38; Ehricke, in: ­Streinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 279 AEUV Rn. 16; Pechstein, EU-Prozessrecht, 4. Auflage 2011, Rn. 324. 658  So auch: Cremer, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 6. Auflage 2022, Art. 258 AEUV Rn. 38; kritisch dazu: Wunderlich, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht, 7. Auflage 2015, Art. 258 AEUV Rn. 48. 659  Ehricke, in: S ­ treinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 280 AEUV Rn. 5; Jakobs, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, Hdb. des Rechtsschutzes in der EU, 3. Auflage 2014, § 31 Rn. 4. 660  Dazu: 2. Teil, B. IV. 3. 661  Karpenstein, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der EU, 73. EL 2021, Art. 258 AEUV Rn. 84. 662  Cremer, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 6. Auflage 2022, Art. 258 AEUV Rn. 38. 663  EuGH, Rs. C-24/80 R und C-97/80 R, Kommission/Frankreich, Slg. 1980, 13 19 (Rn. 19).

240

2. Teil: Das Vertragsverletzungsverfahren

Doch auch wenn der Erlass einstweiliger Anordnungen zur Sicherung der Wirksamkeit künftiger Vertragsverletzungsurteile grundsätzlich zulässig sein dürfte, sprechen die kompetenzrechtlichen Grenzen des Art. 260 I AEUV dafür, dem EuGH eine gewisse Zurückhaltung bei der Ausübung seiner Anordnungsbefugnisse abzuverlangen. Da die Korrektur eines verbindlich festgestellten Unionsrechtsverstoßes im Zuständigkeitsbereich der Mitgliedstaaten belassen bleibt, kann für die Durchführung vorläufiger Maßnahmen nichts anderes gelten.664 Keinesfalls darf der EuGH über Art. 279 AEUV EU-Organe mit Ersatzvornahmebefugnissen gegenüber nationalen Hoheitsträgern ausstatten und auf diese Weise die Durchführung unionsrechtlicher Vorgaben auf die EU-Ebene verlagern. Sind im konkreten Fall mehrere Möglichkeiten gegeben, die Wirksamkeit eines anstehenden Vertragsverletzungsurteils sicherzustellen, ist es mit Blick auf die institutionelle und verfahrensrechtliche Autonomie der Mitgliedstaaten geboten, die genaue Vorgehensweise so weit wie möglich ihrer Souveränität zu überlassen.665 Unproblematisch können vorläufige Handlungs- und Unterlassungspflichten nur dann bestimmt werden, wenn ein konkretes Handeln oder Unterlassen Gegenstand des Vertragsverletzungsverfahrens ist, so dass denklogisch nur die vorläufige Unterlassung der beanstandeten Maßnahme bzw. die Vornahme der geforderten Maßnahme den Unionsrechtsverstoß beenden666 und sich die an das Feststellungsurteil gemäß Art. 260 I AEUV anknüpfende – nunmehr endgültige – Korrekturpflicht zu einer konkreten Handlungs- bzw. Unterlassungspflicht verdichten würde.667 Im Übrigen muss berücksichtigt werden, dass vorläufige Maßnahmen nur in besonders dringenden Fällen verlangt werden können.668 Wird eine einstweilige Anordnung i. S. v. Art. 279 AEUV beantragt, prüft der EuGH sowohl ihre Notwendigkeit, um schwere, nicht wiedergutzumachende Schäden zu verhindern als auch die Eilbedürftigkeit der Angelegenheit. Weiterhin nimmt er eine Interessenabwägung vor, in deren Rahmen die Belange des betroffenen Mitgliedstaates dem Interesse an der Anordnung – insbesondere der Schwere und Wahrscheinlichkeit des drohenden Schadens – gegenüberge-

664  Dahingehend: Karpenstein, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der EU, 57. EL Juni 2019, Art. 258 AEUV Rn. 83. 665  Mit diesem Argument für eine Beschränkung auf einstweilige Feststellungen plädierend: Ehricke, in: S ­treinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 258 AEUV Rn. 37. 666  Wunderlich, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht, 7. Auflage 2015, Art. 258 AEUV Rn. 48. 667  Dazu: 2. Teil, B. IV. 1. a) bb). 668  KOM, Environment – Legal enforcement, 7.8.2019, https://ec.europa.eu/envi ronment/legal/law/procedure.htm (Stand: 3.3.2022).



C. Fortentwicklung des Vertragsverletzungsverfahrens241

stellt werden.669 Der Erlass einer einstweiligen Anordnung setzt demnach eine Situation voraus, in der Effektivitätsinteressen besonders gefährdet sind bzw. ein Abwarten der Entscheidung in der Hauptsache unzumutbar wäre. Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass das Instrument der einstweiligen Anordnung in Vertragsverletzungsangelegenheiten bisher eher selten zum Einsatz gekommen ist. 2. Finanzielle Sanktionen zur Durchsetzung einstweiliger Anordnungen Welches Potenzial der einstweiligen Anordnung trotz ihres stark einzelfallbezogenen Anwendungsbereichs und ihrer konnexitätsbedingten Einschränkungen für einen effektivitätsorientierten Umgang mit Vertragsverletzungsangelegenheiten bietet, zeigt vor allem die jüngere Rechtsprechung des EuGH, der die aus Art. 279 AEUV erwachsenden Kompetenzen extensiv ausgelegt und die Durchsetzungskraft des Instruments in bemerkenswerter Weise verschärft hat. So hat der EuGH in der Rs. 441/17 (Kommission/Polen) erstmals die Verhängung finanzieller Zwangsmittel während eines laufenden Vertragsverletzungsverfahrens für den Fall der Nichtbefolgung einer einstweiligen Anordnung für von der Kompetenzordnung gedeckt befunden.670 Da Art. 260 II, III AEUV die Möglichkeit, einem Mitgliedstaat finanzielle Sanktionen aufzuerlegen ausdrücklich nur im Hauptsacheverfahren vorsieht, war bis zu diesem Zeitpunkt unklar, welche Sanktionen einem Mitgliedstaat bei Verstößen gegen einstweilige Anordnungen drohen. In der Rs. C-441/17 (Kommission/Polen) wurde für den Falle einer Zuwiderhandlung nun ein Zwangsgeld in Höhe von 100.000 Euro pro Tag verhängt.671 Der EuGH begründete seine Entscheidung dabei wie folgt: Da Art. 279 AEUV die Befugnis einräume, alle einstweiligen Anordnungen zu erlassen, die für erforderlich gehalten werden, um die „volle Wirksamkeit“ der Hauptsacheentscheidung zu gewährleisten, müsse dies mit Blick auf das Rechtsstaatsprinzip auch die Befugnis umfassen, bei der Nichtbefolgung einer einstweiligen Anordnung ein Zwangsgeld aufzuerlegen.672

669  Cremer, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 6. Auflage 2022, Art. 258 AEUV Rn. 37; Richter, EuZW 2014, 416 (416); Wunderlich, in: von der Groeben/Schwarze/ Hatje, Europäisches Unionsrecht, 7. Auflage 2015, Art. 258 AEUV Rn. 49. 670  EuGH, Rs. C-441/17 R, Kommission/Polen, ECLI:EU:C:2017:877 (Rn. 102). 671  Karpenstein, EuZW 2018, 97 (97). 672  EuGH, Rs. C-441/17 R, Kommission/Polen, ECLI:EU:C:2017:877 (Rn. 102).

242

2. Teil: Das Vertragsverletzungsverfahren

3. Auswertung Indem der EuGH die Möglichkeit, einstweilige Anordnungen zu treffen auch auf Vertragsverletzungsverfahren erstreckt hat, hat er der EU-Vollzugskontrolle ein Instrument hinzugefügt, das dort ansetzt, wo die Schwerfälligkeit des klassischen Vertragsverletzungsverfahrens nicht mehr durch verfahrensinterne Beschleunigungsmaßnahmen, wie Fristverkürzungen oder den Verzicht auf informelle Gespräche im Vorfeld der Verfahrenseröffnung, ausgeglichen werden kann. Berücksichtigt werden muss dabei, dass nur der EuGH, nicht aber die Kommission über die Kompetenz verfügt, einstweilige Anordnungen zu treffen. Da sich Art. 279 AEUV ausdrücklich nur auf Rechtssachen bezieht, die beim EuGH „anhängig sind“, kommen vorläufige Maßnahmen zur Sicherung eines künftigen Vertragsverletzungsurteils erst in Betracht, nachdem das Vertragsverletzungsverfahren in die gerichtliche Verfahrensphase eingetreten ist, d. h. nachdem die Kommission Vertragsverletzungsklage in der Hauptsache erhoben hat. Eine sofortige – wenn auch nur vorläufige – Beseitigung nationaler Unionsrechtsverstöße lässt sich demnach auch über Art. 279 AEUV nicht erreichen. Bemühungen, das außergericht­ liche Vorverfahren zu verkürzen werden somit nicht obsolet, sondern lediglich ergänzt. Dafür, dass die systematische Beantragung einstweiliger Anordnungen Teil der gängigen Vollzugskontrollpraxis der Kommission werden könnte, gibt es gegenwärtig keine Anhaltspunkte. Indem der EuGH vorläufige Handlungsgebote und -verbote in seiner neueren Rechtsprechung mit finanziellen Sanktionen bewehrt hat, hat er jedoch eine Perspektive eröffnet, die bei der Fortentwicklung des Vertragsverletzungsverfahrens in Zukunft eine Rolle spielen könnte.

D. Auswertung Die EU ist längst über eine rein wirtschaftlich orientierte Interessengemeinschaft hinausgewachsen. Als Rechts- und Wertegemeinschaft kann die Bedeutung der wirksamen Durchführung unionsrechtlicher Vorgaben gar nicht überschätzt werden. Schließlich ist es die Rechtsordnung der EU, die die Mitgliedsstaaten bindet, der Hoheitsgewalt supranationaler Institutionen unterwirft und damit die EU von traditionellen Formen völkerrechtlicher Vereinbarungen unterscheidet.673 Obwohl sich die EU mit Voranschreiten des komplexen europäischen Integrationsprozesses stetig weiterentwickelt hat, ist das Vertragsverletzungsverfahren nach wie vor von Bedeutung für die Verwirklichung ihrer Ziele. Zwar 673  Smith,

ELRev 2008, 777 (780).



D. Auswertung243

ist die Kommission in den vergangenen Jahren dazu übergegangen, zunehmend auch den Wert präventiver Kontrollmaßnahmen zu betonen, so dass in der Literatur zum Teil schon von einem strategischen „Wandel der Kontrollkultur“ gesprochen wurde.674 Wie das vorangegangene Kapitel zeigt, wurde das Vertragsverletzungsverfahren beim Ausbau der Vollzugskontrollstrategie der Kommission aber keineswegs vernachlässigt. Auch wenn die Art. 258 ff. AEUV in ihren Grundzügen weitgehend unverändert geblieben sind, haben Ergänzungen im Vertragsrecht, ungeregelte Initiativen der Kommission sowie die Rechtsprechung des EuGH dazu beigetragen, Verfahrensabläufe effektiver zu gestalten und die in der Verfahrensstruktur sowie der kompetenzund ressourcentechnisch knappen Ausstattung der Kommission an­gelegten Schwächen durch ergänzende Instrumente abzumildern. Dass das Vollzugskontrollinstrumentarium des Vertragsverletzungsverfahrens nicht in den Hintergrund getreten ist, belegen auch die konstant hohen Zahlen laufender Verfahren.675

I. Das Vertragsverletzungsverfahren als imperativ-kooperatives Instrument Als Durchsetzungsinstrument ist das Vertragsverletzungsverfahren darauf ausgelegt, unionsrechtlichen Vorgaben zur Wirksamkeit zu verhelfen, selbst wenn dazu zunächst der Wille des betroffenen Mitgliedstaates gebeugt werden muss. Eine Besonderheit, die das Vertragsverletzungsverfahren von na­ tionalen Durchsetzungsmechanismen unterscheidet, besteht dabei darin, dass es sowohl imperative – also auf Befehl und Zwang ausgerichtete – als auch kooperative, auf Konsens ausgelegte Elemente in sich vereint. Während die Möglichkeit, finanzielle Sanktionen zu beantragen und zu verhängen Ausdruck eines imperativen Ansatzes ist, der darauf abzielt, nationale Widerstände im Gemeinschaftsinteresse zu überwinden, zeigen Verfahrenselemente wie das EU-Pilot-Verfahren, das formelle außergerichtliche Vorverfahren sowie das Fehlen wirksamer Möglichkeiten zur zwangsweisen Vollstreckung finanzieller Sanktionen eine konsensorientierte Ausrichtung, die sich mit nationalen Konzepten repressiver Durchsetzungsinstrumente nur schwer vereinbaren lässt. Gerade diese Kombination führt allerdings dazu, dass die Effektivität des Vertragsverletzungsverfahrens im rechtswissenschaftlichen Diskurs unterschiedlich beurteilt wird. Während einige Autoren die „Zahnlosigkeit“ des Instrumentariums gerade aufgrund seiner kooperativen Bestandteile kriti­ sieren,676 werten andere Stimmen das Vertragsverletzungsverfahren bzw. die Borries, in: Ipsen/Stüer, FS Rengeling, 2008, S. 502. 2. Teil, A. 676  So etwa: Handroušek, JEEPL 2012, 235 (236). 674  von

675  Dazu:

244

2. Teil: Das Vertragsverletzungsverfahren

Verhängung finanzieller Sanktionen als äußerst intensiven Eingriff in den Kern mitgliedstaatlicher Souveränität, wie er nicht einmal in Bundesstaaten im Verhältnis zwischen Bund und Gliedstaaten beobachtet werden könne.677 Ein Blick auf die Entwicklungen des Vertragsverletzungsverfahrens macht deutlich, dass die imperative Komponente in den vergangenen Jahren gestärkt worden ist. So ist die Kommission nicht nur dazu übergegangen, Pauschalbeträge und Zwangsgelder kumulativ zu beantragen. Mit Art. 260 III AEUV wurde ihr auch die Möglichkeit eingeräumt, bereits im Erstverfahren auf die Verhängung finanzieller Sanktionen hinzuwirken. Die Beantragung einstweiliger Anordnungen gemäß Art. 279 AEUV bietet zudem eine Option, nationale Angelegenheiten vorläufig zu regeln und den betroffenen Mitgliedstaat daran zu hindern, durch fortgesetzte Vertragsverletzungen irreparable Schäden zu verursachen. Zwar fand mit der Einführung des EU-Pilot-Verfahrens auch eine Stärkung der kooperativen Komponente statt.678 Durch die Beschränkung seines Einsatzbereichs auf im Einzelfall geeignete Fälle, wurde diese Entwicklung allerdings teilweise wieder zurückgenommen.

II. Das Vertragsverletzungsverfahren als rechtlich-politisches Instrument Eine weitere Besonderheit des Vertragsverletzungsverfahrens ergibt sich aus seiner Einbettung in das komplexe Verhältnis zwischen Kommission, EuGH und den Mitgliedstaaten. Soweit der Kommission bei der Verfahrenshandhabung weitreichendes, überwiegend unkontrollierbares Ermessen in entscheidenden Fragen der Verfahrensgestaltung zugestanden wird, bestehen auch Freiräume für politische Erwägungen, die neben dem rechtlichen Interesse an der Durchsetzung des EU-Rechts eine Rolle spielen können. Obwohl das Vertragsverletzungsverfahren also der Verwirklichung des Rechtsstaatsprinzips auf europäischer Ebene zu dienen bestimmt ist, wohnt den Art. 258 ff. AEUV sowohl der Charakter eines rechtlichen als auch eines politischen Instrumentariums inne679 – eine Doppelnatur, die die Kommission nicht selten vor Interessenskonflikte stellt.680

677  Zur Notwendigkeit eines starken rechtlichen Instruments, um das Fehlen eines traditionellen Zusammenhalts auszugleichen, wie er im Bundesstaat in der Regel vorhanden ist: Everling, in: Depenheuer/Heintzen u. a., FS-Isensee, 2007, S. 790 f. 678  Dahingehend wohl auch: Smith, in: Drake/Smith, New Directions in the Effective Enforcement of EU Law and Policy, 2016, S. 51. 679  Dazu: 2. Teil, B. IV. 5. a). 680  Vgl. etwa die Erkenntnisse des Europäischen Bürgerbeauftragten bei der Untersuchung konkreter Beschwerdeverfahren: 2. Teil, C. I. 3. b).



D. Auswertung245

Indem das Aktionsspektrum der Kommission in den vergangenen Jahren um neue Instrumente ergänzt wurde, wurden ihre ohnehin schon großen Ermessensspielräume erweitert. Anstatt ein reguläres, zweistufiges Vertragsverletzungsverfahren durchzuführen, kann sich die Kommission nunmehr dazu entschließen, schneller gegen einen Mitgliedstaat vorzugehen und ein ein­ stufiges fast-track-Verfahren i. S. v. Art. 260 III AEUV zu initiieren. Sieht sie hingegen ein Bedürfnis und die Chance, brisante Situationen in informellem Rahmen einer konsensualen Lösung zuzuführen, besteht im Einzelfall die Option, einen strukturierten Dialog im Rahmen des EU-Pilot-Verfahrens anzustrengen. Auf diese Weise kann die Kommission politischen Interessenlagen individueller Rechnung tragen und ihre Vollzugskontrollstrategie an das konkrete Verhältnis zum betroffenen Mitgliedstaat anpassen. Kontrolliert wird die kommissionseigene Verfolgungspraxis nur bedingt, etwa durch das Europäische Parlament bzw. den Europäischen Bürgerbeauftragten. Eine gewisse Öffnung hat zwar durch die Formalisierung des Beschwerdeverfahrens und die damit verbundene stärkere Einbeziehung privater Akteure stattgefunden. In Bezug auf die Verfahrensoffenheit, Entscheidungstransparenz und Überprüfbarkeit hat das Vertragsverletzungsverfahren allerdings nur kleine Fortschritte gemacht. Noch immer zeigt sich die Kommission darum bemüht, ihre Ermessensspielräume zu bewahren. Soweit sie sich an bestimmte Vorgehensweisen selbst gebunden hat, stehen diese Verpflichtungen einer Abweichung im Einzelfall nicht entgegen. Da die Kommission nicht dazu gezwungen werden kann, ein Vertragsverletzungsverfahren zu eröffnen, dürfte sich auch die Einhaltung selbst festgelegter Prioritäten oder Verfolgungspraktiken nicht überprüfen lassen. Im Ergebnis lässt sich daher festhalten, dass die am Vertragsverletzungsverfahren vorgenommenen Ergänzungen und Erweiterungen eher sein politisches Potenzial, denn seine rechtliche Durchschlagskraft gestärkt haben. Trotz kleiner Zugeständnisse an die Beschwerdeführenden bietet das Vertragsverletzungsverfahren der Kommission ein ihr exklusiv vorbehaltenes Vollzugskontrollinstrumentarium,681 das sich auf die interinstitutionelle Auseinandersetzung mit den Mitgliedstaaten konzentriert und Außenstehenden wenig Einblick gewährt. Zwar hat die Kommission ihre Vorgehensweise in den vergangenen Jahren im Rahmen von Mitteilungen offengelegt, die Undurchsichtigkeit interner Kommunikationsprozesse und Entscheidungsgründe bleibt jedoch ein wesentliches Kernelement, das die Kommission zur unumstrittenen Zentralgestalt des Vertragsverletzungsverfahrens macht.

681  Smith, in: Drake/Smith, New Directions in the Effective Enforcement of EU Law and Policy, 2016, S. 57.

246

2. Teil: Das Vertragsverletzungsverfahren

III. Das Vertragsverletzungsverfahren als Ausgangspunkt der Vollzugskontrolle Obwohl das Vertragsverletzungsverfahren von den Vertragsstaaten wohl als „klassisches“ EU-Vollzugskontrollinstrumentarium für die Kommission konzipiert und im Primärrecht verankert wurde, haben die vorangegangenen Ausführungen gezeigt, dass sich seine Funktionsweise und Wirkungsdimension mit herkömmlichen mitgliedstaatlichen Aufsichtsstrukturen und Durchsetzungsinstrumenten nur bedingt vergleichen lassen. Mit den Art. 258 ff. AEUV wird der Kommission ein Instrumentarium an die Hand gegeben, das die Aufgabe einer top-down gerichteten, imperativen Vollzugskontrolle im grundlegend konsensual geprägten Kontext der EU erfüllen soll. Dennoch bietet die supranationale Rechtsdurchsetzung nur eingeschränkt Möglichkeiten zur Ausübung rechtlichen Zwangs. Im Unterschied zur mit Anordnungskompetenzen bewehrten exekutiven Rechtsaufsicht oder judikativen Kon­ trollen in den Mitgliedstaaten ist das Vertragsverletzungsverfahren bei der Durchsetzung unionsrechtlicher Vorgaben stark auf seine politische Durchschlagskraft angewiesen. Frei von Schwächen ist dieser Mechanismus nicht. Einerseits können politische Verhandlungen zwischen Kommission und Mitgliedstaaten das ohnehin schwerfällige Verfahren weiter verlangsamen. Andererseits kommt es aufgrund seines ex-post gerichteten Charakters erst zum Tragen, wenn bereits genügend Anhaltspunkte für einen EU-Rechtsverstoß vorliegen und die Kommission davon Kenntnis erlangt hat. In sensiblen Politikbereichen wie dem Umweltsektor, in dem Vertragsverletzungen schnell zu Umweltschäden und empfindlichen Binnenmarktsverzerrungen führen, kann es an dieser Stelle bereits zu spät sein. Dass im Rahmen der EU-Vollzugskontrolle grundsätzlich Eile geboten ist, zeigen die kontinuierlichen Bemühungen der Kommission, das Vertragsverletzungsverfahren zu beschleunigen. Obwohl den Art. 258 ff. AEUV bei der Durchsetzung unionsrechtlicher Vorgaben noch immer große Bedeutung zukommt, lassen die im Rahmen dieses Kapitels aufgezeigten Schwachstellen doch erkennen, dass das primärrechtlich verankerte Vollzugskontrollinstrumentarium allein nicht ausreicht, um die wirksame Umsetzung und Anwendung des EU-Umweltrechts in den Mitgliedstaaten zu gewährleisten. Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass die Kommission dazu übergegangen ist, neben Instrumenten zur Verschärfung der imperativen Durchsetzungskraft des Vertragsverletzungsverfahrens auch präventive Vertragsverletzungsvermeidungsstrategien zu entwickeln, die gerade nicht auf rechtliche Zwangswirkungen setzen, sondern sich vor allem den Kooperationsgedanken zu Eigen machen.

3. Teil

Netzwerke im Bereich der Vollzugskontrolle Ausgehend von den Funktionen und Schwächen des „klassischen“ Vertragsverletzungsverfahrens soll schließlich analysiert werden, welche Rolle die Entstehung und Einbeziehung europaweit aktiver Umweltnetzwerke in das Vollzugskontrollsystem der EU spielt. Im Umweltsektor beschränkt sich das supranationale Vollzugskontroll­ instrumentarium schon lange nicht mehr auf die in Art. 258 ff. AEUV vorgesehenen Mittel. Unter dem Begriff der Vollzugssicherung (Compliance Assurance) hat die Kommission ein umfassendes Konzept entworfen, das drei strategische Ansätze miteinander kombiniert. So umfasst Compliance Assurance neben Maßnahmen zur Durchsetzung (Enforcement) auch Maßnahmen zur präventiven Unterstützung (Compliance Promotion) und Überwachung (Compliance Monitoring) des Unionsrechtsvollzugs,1 die teilweise aufeinander aufbauen und Synergieeffekte untereinander erzielen können. Während Compliance Promotion die Einhaltung unionsrechtlicher Vorgaben fördern, Vollzugsdefizite vermeiden und somit den Monitoringbedarf reduzieren soll, stellen Durchsetzungsmaßnahmen sicher, dass im Wege des Compliance Monitoring identifizierte Vertragsverletzungen nicht ohne Konsequenzen bleiben.2 In den vergangenen Jahren wurde eine kaum überschaubare Vielzahl von Instrumenten entwickelt, die den dezentralen Unionsrechtsvollzug unterstützen oder zu seiner Überwachung beitragen sollen. Eine umfassende Über1  IEEP, Make it Work – Principles on Drafting Provisions on Compliance Assurance in RU Environmental Law, Juli 2015, S. 8, abrufbar unter: http://minisites.ieep. eu/assets/1791/MiW_drafting_principles_on_compliance_assurance_July_2015.pdf (Stand: 14.2.2023); KOM, Communication on an Action Plan on Environmental Compliance Assurance – Roadmap, 15.2.2017, S. 1, abrufbar unter: https://ec.europa. eu/smart-regulation/roadmaps/docs/2015_env_066_environmental_compliance_assur ance_en.pdf (Stand: 14.2.2023); KOM, Mitteilung an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen – Aktionsplan der EU für einen besseren Vollzug des Umweltrechts und eine bessere Umweltordnungspolitik, 18.1.2018, COM(2018), 10 final, S. 2 f.; KOM, Environmental Compliance Assurance, o. D., https://ec.europa.eu/environment/legal/com pliance_en.htm (Stand: 14.2.2023). 2  Angelov/Cashman, in: Faure/De Smedt/Stas, Environmental Enforcement Networks, 2015, S. 361.

248

3. Teil: Netzwerke im Bereich der Vollzugskontrolle

sicht sucht man in diesem Bereich vergebens.3 Jenseits des Vertragsverletzungsverfahrens spielt sich die Vollzugskontrolltätigkeit der Kommission weitgehend im Dunkeln ab.4 In ihren Jahresberichten werden Compliance Promotion und Monitoring-Maßnahmen nur selten erwähnt, während das Vertragsverletzungsverfahren ausführlich dargestellt wird. Da die schwerfälligen Art. 258 ff. AEUV lediglich eine eingriffsintensive ex-post Kontrolle ermöglichen, muss jedoch davon ausgegangen werden, dass Unterstützungsund Überwachungsmaßnahmen nicht nur unselbstständige Ergänzungen zur Verfahrensvorbereitung darstellen, sondern de facto den Großteil der Vollzugskontrolltätigkeit der Kommission ausmachen. Aufschlussreich sind in diesem Zusammenhang die Bemühungen Smiths, das undurchsichtige EU-Vollzugskontrollinstrumentarium anhand transparenzbezogener Kriterien in einem Schichtenmodell (sog. „layered model of enforcement“5) zu systematisieren. Während sie das Vertragsverletzungsverfahren als „visible layer“6 im Sinne einer metaphorischen „Spitze des Eisbergs“ qualifiziert, die aufgrund ihrer Verankerung im AEUV und der relativ umfangreichen Berichterstattung durch Kommission und Presse den kleinsten, aber dennoch sichtbarsten Teil der Vollzugskontrolltätigkeit der Kommission ausmache, ordnet Smith ergänzende Instrumente, wie etwa das EU-Pilot-Verfahren sowie technische Hilfsmittel, wie Datenbanken oder Kommunikationstechnologien, einer „invisible administrative layer“ zu, die sich vorbereitend oder begleitend zum Vertragsverletzungsverfahren im Hintergrund abspiele. Den größten Teil kommissionseigener Vollzugskontrolltätigkeit bilde schließlich eine „impenetrable layer“, bestehend aus Compliance Promotion- und Monitoring-Aktivitäten, die von der europäischen Öffentlichkeit kaum oder gar nicht wahrgenommen werden.7 Soweit die Kommission selbst Einblicke in ihr Aktivitätsspektrum gewährt hat, blieben ihre Ausführungen überwiegend auf die Formulierung allgemeiner strategischer Überlegungen oder punktuelle Darstellungen einzelner Maßnahmen beschränkt. Während sie in ihrer Mitteilung über die Umsetzung des 3  Ein gewisses Maß an Übersicht bietet: DG IPOL, Tools for Ensuring Implementation and Application of EU Law and Evaluation of their Effectiveness – Study, 2013, S.  38  ff., abrufbar unter: https://www.europarl.europa.eu/RegData/etudes/ etudes/join/2013/493014/IPOL-JURI_ET(2013)493014_EN.pdf (Stand: 14.2.2023). 4  Smith, in: Drake/Smith, New Directions in the Effective Enforcement of EU Law and Policy, 2016, S. 45 f. 5  Smith, in: Drake/Smith, New Directions in the Effective Enforcement of EU Law and Policy, 2016, S. 48 ff. 6  Smith, in: Drake/Smith, New Directions in the Effective Enforcement of EU Law and Policy, 2016, S. 55 ff. 7  Smith, in: Drake/Smith, New Directions in the Effective Enforcement of EU Law and Policy, 2016, S. 64 ff.



3. Teil: Netzwerke im Bereich der Vollzugskontrolle249

Umweltrechts der Europäischen Gemeinschaft 2008 zunächst Ideen für neue, vollzugsunterstützende Instrumente präsentierte,8 betonte sie 2012 vor allem den Wert gesicherter Informationsbestände für die effektive Durchführung des EU-Umweltrechts sowie die Notwendigkeit, nationale Vollzugsüberwachungs- und Überprüfungsaktivitäten durch Inspektoren, Umweltbehörden, Staatsanwälte, Polizisten, Richter, NGOs, Bürgerinnen und Bürger zu verbessern.9 In ihrem Aktionsplan 2018 griff die Kommission diese Überlegungen auf, indem sie die Bedeutung solcher Unterstützungsbemühungen hervorhob, die den Informationsaustausch und die Stärkung der Zusammenarbeit mit vollzugsrelevanten Berufsgruppen in den Mitgliedstaaten zum Gegenstand haben.10 Im Ergebnis sollte mit dem Aktionsplan 2018 vor allem dem „Erfordernis der konkreten Unterstützung von Praktikern nachgekommen [werden], die innerhalb der EU daran arbeiten, die Vollzugssituation und die Ordnungspolitik im Umweltbereich zu verbessern“.11 Als treibende Kraft hinter der Weiterentwicklung der europäischen Compliance-Assurance-Strategie, wurde an verschiedenen Stellen die Arbeit freiwilliger, grenzüberschreitender bzw. ­ ­Gesamteuropa umfassender (sog. paneuropäischer12) Netzwerke betont,13 die 8  KOM, Mitteilung an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen über die Umsetzung des Umweltrechts der Europäischen Gemeinschaft, 18.11.2008, KOM(2008) 773 endg., S. 5 ff. 9  KOM, Mitteilung an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen – Konkretere Vorteile aus den Umweltmaßnahmen der EU: Schaffung von Vertrauen durch mehr Information und größere Reaktionsbereitschaft der Behörden, 7.3.2012, COM(2012) 95 final, S.  4 ff. 10  Als Unterstützungsleistungen der EU-Ebene wurden vor allem benannt: EUPraktikernetzwerke, Zugang zu EU-generierten Datenquellen (insbesondere Satellitenbildern), allgemein zugängliche Informationsportale, Mechanismen zur Erleichterung der Kooperation, Koordination, des Erfahrungs- und des Wissensaustauschs innerhalb der EU, Ausbildungsprogramme, Ausbildungsmaterial und Orientierungshilfen, Informationen und Leitfäden zu bewährten Verfahren und EU-Finanzhilfen, vgl. KOM, Mitteilung an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen – Aktionsplan der EU für einen besseren Vollzug des Umweltrechts und eine bessere Umweltordnungspolitik, 18.1.2018, COM(2018) 10 final, S. 4 f. 11  KOM, Mitteilung an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen – Aktionsplan der EU für einen besseren Vollzug des Umweltrechts und eine bessere Umweltordnungspolitik, 18.1.2018, COM(2018) 10 final, S. 9. 12  Vgl. Erwgr. 5, Art. 2 b) Commission Decision of 18.1.2018: Setting up a group of experts on environmental compliance and governance, 18.1.2018, C(2018) 10 final; Dehousse, JEPP 1997, 248 (255). 13  KOM, Staff Working Document, Environmental Compliance Assurance – scope, concept and need for EU actions, 18.1.2018, SWD(2018) 10 final, S. 15 f.

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3. Teil: Netzwerke im Bereich der Vollzugskontrolle

von der Kommission sowohl finanziell als auch politisch gefördert werden, um den Staaten und Ebenen übergreifenden Austausch von Informationen, Praxiserfahrungen, Fachwissen und die Durchführung koordinierter Vollzugsmaßnahmen in den Mitgliedstaaten voranzutreiben. Der Entstehung paneuropäischer Netzwerke im Zusammenhang mit der EU-Vollzugskontrolle wurde zumindest in der deutschsprachigen Fachliteratur bisher nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Als Bestandteil der weitgehend ungeregelten, intransparenten Compliance-Assurance-Strategie der Kommission spielt sich Netzwerkzusammenarbeit überwiegend losgelöst von rechtlichen Grundlagen, in einem kaum einsehbaren Raum im Binnenverhältnis zwischen EU und Mitgliedstaaten ab. Auffallend ist, dass sich Netzwerke vor allem in Bereichen gebildet haben, in denen sich die EU-Mitgliedstaaten zu Gunsten der eigenen Souveränität gegen die Erweiterung unionseigener Kontrollkompetenzen, etwa durch die Einrichtung europäischer In­ spektorate ausgesprochen haben. So existieren gerade im Umweltsektor zahlreiche Netzwerke, die sich unter stärkerer oder geringerer Beteiligung der Kommission dem Ziel verschrieben haben, nationale Behörden dabei zu unterstützen, umweltrechtliche Vorgaben wirksam zu vollziehen und bzw. oder Vollzugsdefizite zu identifizieren. Nachdem in der ersten Hälfte dieser Arbeit das primärrechtlich verankerte, eher klassisch-imperativ konzipierte Vertragsverletzungsverfahren und seine Fortentwicklung einer genauen Untersuchung unterzogen wurde, soll im Folgenden der Einsatz von Netzwerken als komplexe Teilmaterie der Compliance-Assurance-Strategie der Kommission näher beleuchtet und dem Vertragsverletzungsverfahren gegenübergestellt werden. Während in einem ersten Schritt die theoretischen Grundlagen des Netzwerkphänomens zu erläutern sind (A), werden im Anschluss die wichtigsten Netzwerke, die dem EU-Umweltrechtsvollzug zu dienen bestimmt sind einer genaueren Betrachtung unterzogen, wobei zwischen Netzwerken im Bereich Compliance Promotion (B) und Monitoring (C) differenziert wird. Ein besonderer Schwerpunkt liegt dabei nicht nur auf der Darstellung von Nutzen und Funktionsweise, ebenso soll untersucht werden, inwieweit sich die Instrumentalisierung von Netzwerken als Mechanismus der EU-Vollzugskontrolle mit der Rolle der Kommission als Hüterin der Verträge und den primärrechtlichen Grundlagen der EU vereinbaren lässt (D).



A. Grundlagen der Netzwerkanalyse251

A. Grundlagen der Netzwerkanalyse Der Begriff des Netzwerks findet zur Beschreibung und Analyse in vielen Wissenschaftsdisziplinen Verwendung.14 Originär aus der Politikwissenschaft stammend,15 wurde unter dem Terminus des Politiknetzwerks eine Vielzahl unterschiedlicher Analysekonzepte und Theorien16 entwickelt, um Beziehungs- und Interessengeflechte zwischen politischen und gesellschaftlichen Akteuren auf verschiedenen Ebenen (von der Kommunal- bis hin zur Weltpolitik) zu erforschen.17 Auch die Wirtschaftswissenschaft kennt mit Beschaffungs-, Produktions- und Distributionsnetzwerken verschiedene Netzwerkmodelle.18 In der Mathematik wurde mit der sog. Graphentheorie eine Analysemethode geschaffen, die netzartige Strukturen in Natur und Technik (z. B. Straßennetze, Wassernetze, Computernetze oder chemische Moleküle) als abgegrenzte Mengen von Knoten und Kanten darstellt.19 Weitere Rezeptionen des Netzwerkbegriffs finden sich in der volkswirtschaftlichen Forschung im Bereich der neuen Institutionenökonomik20 sowie im Zusammenhang mit der soziologischen Systemtheorie Luhmanns21 unter dem Terminus des sozialen Netzwerks.22 Im Zeitalter der Digitalisierung und Globalisierung sind Netzwerke längst kein rein wissenschaftliches Konzept mehr, sondern omnipräsenter Bestandteil des alltäglichen Lebens. Täglich werden berufliche und private Kontakte geknüpft, vernetzt, gepflegt und ausgebaut. In der globalisierten Privatwirtschaft arbeiten Unternehmen in internationalen Unternehmensnetzwerken in: Boysen u. a., Netzwerke 2007, S. 70 f. in: Boysen u. a., Netzwerke 2007, S. 226; Kahl, in: Holoubek/ Lang, Verfahren der Zusammenarbeit von Verwaltungsbehörden in Europa, 2012, S. 31. 16  Zu gleich sieben verschiedenen Politiknetzwerkbegriffen: Schneider, in: Schneider/Janning/Leifeld/Malang, Politiknetzwerke, 2009, S. 11 ff. 17  Schneider, in: Schneider/Janning/Leifeld/Malang, Politiknetzwerke, 2009, S. 7. 18  Vgl. dazu: Himpel, Industrielle Beschaffungsnetzwerke, 1996, S. 39 ff. 19  Vgl. dazu: Kielmannsegg, in: Boysen u. a., Netzwerke 2007, S. 85; weiterführend zur mathematischen Graphentheorie: Tittmann, Graphentheorie: Eine anwendungsorientierte Einführung, 3. Auflage 2019, S. 11 ff. 20  Zum Netzwerkbegriff in der „neuen Institutionenökonomik“: Arnst, in: Boysen u. a., Netzwerke 2007, S. 71; Schwind, Netzwerke im Europäischen Verwaltungsrecht, 2017, S. 22 ff.; zur „Institutionenökonomik“ im Ganzen: Erlei/Leschke/Sauerland, Neue Institutionenökonomik, 3. Auflage 2016. 21  Luhmann, Soziale Systeme, 1987. 22  Zum Netzwerkbegriff im Zusammenhang mit der „Theorie der sozialen Systeme“: Holzer/Fuhse, in: Stegbauer/Häußling, Handbuch Netzwerkforschung, 2010, S.  313 ff.; Schwind, Netzwerke im Europäischen Verwaltungsrecht, 2017, S. 31 ff. m. w. N. 14  Arnst,

15  Goldmann,

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3. Teil: Netzwerke im Bereich der Vollzugskontrolle

zusammen, um sich Wettbewerbsvorteile zu sichern, gemeinsame Ressourcen zu nutzen und neue Märkte zu erschließen.23 Milliarden Menschen aus aller Welt sind in sozialen Netzwerken aktiv.24 Computer- und Mobilfunknetzwerke bilden Infrastrukturen für den Austausch einer Unmenge an Daten.25 Selbst das aus dem Englischen übernommene, allgegenwärtige Internet ist etymologisch die Kurzform für Internetwork.26 Dass Netzwerke heute auch in der Rechtswissenschaft eine Rolle spielen, ist vor diesem Hintergrund nicht überraschend. Gerade im Bereich des EURechtsvollzugs, in dem zahlreiche Akteure aus verschiedenen Staaten auf nationaler und supranationaler Ebene über große räumliche Distanzen hinweg funktional und politisch zusammenwirken müssen, um den Rechtsakten der EU zur vollen Wirksamkeit zu verhelfen, erscheint die Bildung von Netzwerken nahezu unvermeidlich.

I. Rezeptionsschwierigkeiten in der Rechtswissenschaft Das Phänomen der Netzwerkbildung ist seit Beginn der 2000er-Jahre27 immer wieder Gegenstand rechtswissenschaftlicher Untersuchungen gewesen. Mittlerweile umfasst das internationale Schrifttum zahlreiche Beiträge, die sich mit der Entwicklung von Netzwerkstrukturen auf staatlicher, europäischer und internationaler Ebene auseinandersetzen und Netzwerke aus unterschiedlichen Perspektiven – als abstraktes Konzept, oder aber im Lichte konkreter Rechtsakte – eingehenden rechtstheoretischen, rechtsdogmatischen und phänomenologischen Analysen, Systematisierungs- und Ausdifferenzierungsversuchen unterziehen.28 Die Netzwerkidee wurde in der Rechtswissenschaft zunächst kritisch betrachtet und nur zurückhaltend in den juristischen Kontext übertragen, handelt es sich doch um eine konturlose Entwicklung mit unüberschaubar vielen 23  Schwind, Netzwerke im Europäischen Verwaltungsrecht, 2017, S. 1; Wipprich, Größe und Struktur von Unternehmensnetzwerken, 2008, S. 9 ff. 24  Schwind, Netzwerke im Europäischen Verwaltungsrecht, 2017, S. 1. 25  Pink, in: Faure/De Smedt/Stas, Environmental Enforcement Networks, 2015, S. 17; weiterführend zum Netzwerkbegriff in der Informatik: Schwind, Netzwerke im Europäischen Verwaltungsrecht, 2017, S. 20 ff. 26  Oxford English Dictionary, internet, n., o. D., https://www.oed.com/view/Entry/ 248411 (Stand: 14.2.2023). 27  In diesem Zusammenhang von einem unionsrechtlichen „Netzwerkboom“ sprechend: Schwind, Netzwerke im Europäischen Verwaltungsrecht, 2017, S. 1, 171. 28  Schwind, Netzwerke im Europäischen Verwaltungsrecht, 2017, S. 151; Typisierungsversuche verschiedener Erscheinungsformen des Netzwerks finden sich etwa bei: Kahl, in: Holoubek/Lang, Verfahren der Zusammenarbeit von Verwaltungsbehörden in Europa, 2012, S. 34 ff.; Slaughter, A New World Order, 2004, S. 51.



A. Grundlagen der Netzwerkanalyse253

Erscheinungsformen. Ob das Netzwerk im europarechtlichen Sinne eine neue rechtsdogmatische Kategorie der Verwaltungskooperation im ausdifferenzierten institutionellen Gefüge der EU-Verwaltung oder lediglich eine aus der Politikwissenschaft entliehene Metapher darstellt, die zur Deskription eines Entwicklungstrends in der Rechtswirklichkeit herangezogen werden kann, stand von Grund auf in Frage. Die meisten im Schrifttum vorgenommenen Untersuchungen verfolgten interdisziplinäre Ansätze, in deren Rahmen sie sich einem möglichen rechtlichen Gehalt des Netzwerkbegriffs über andere Wissenschaftsdisziplinen anzunähern versuchten.29 Weite Teile des Schrifttums gelangten letztlich zu dem Schluss, der Netzwerkbegriff sei zu unbestimmt, um ihm einen rechtsdogmatischen Gehalt zuzugestehen.30 So konstatierte etwa Buxbaum 1993: „Network is not a legal concept“.31 Die Übernahme des Terminus aus der Politik- in die Rechtswissenschaft rechtfertige sich lediglich durch das Bedürfnis, adäquate sprachliche Bezeichnungen für tatsächliche Entwicklungen zu finden, die mit Hilfe etablierter juristischer Begriffe nicht mehr zutreffend beschrieben werden können.32 Da Netzwerke in den vergangenen Jahren immerhin in einigen sektorspezifischen Sekundärrechtsakten33 institutionell verfestigt34 wurden und insoweit eine „normativen Verdichtung“35 erfahren haben, kann diese Auffassung heute nur noch bedingt überzeugen.36 29  Simantiras, Netzwerke im Europäischen Verwaltungsverbund, 2016, S.  22; beispielsweise: Kemmerer, in: Boysen u. a., Netzwerke 2007, S. 205 ff. 30  So wohl: Möllers, ZaöRV 2005, 351 (380); Sydow, Verwaltungskooperation in der EU, 2004, S. 79. 31  Buxbaum, JITE 1993, 698 (704). 32  Nowrot, in: Boysen u. a., Netzwerke 2007, S. 16; Nowrot, in: Tietje/Nowrot, Internationales Wirtschaftsrecht, 3. Auflage 2022, S. 92 f; Sydow, Verwaltungskooperation in der EU, 2004, S. 79. 33  Vgl. etwa: Erwgr. 15–18, 32, Verordnung (EG) Nr. 1/2003 des Rates vom 16. Dezember 2002 zur Durchführung der in den Artikeln 81 und 82 des Vertrags niedergelegten Wettbewerbsregeln, ABl. 2003, Nr. L 1, S. 4; Art. 36, 50, 52 Verordnung (EG) Nr. 178/2002, des Europäischen Parlaments und des Rates vom 28. Januar 2002 zur Festlegung der allgemeinen Grundsätze und Anforderungen des Lebensmittelrechts, zur Errichtung der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit und zur Festlegung von Verfahren zur Lebensmittelsicherheit, ABl. 2002, Nr. L 31, S. 18, 21 f.; Art. 1 ff. 2008/381/EG: Entscheidung des Rates vom 14. Mai 2008 zur Einrichtung eines Europäischen Migrationsnetzwerks, ABl. 2008, Nr. L 131, S. 8 ff. 34  Nowrot, in: Boysen u. a., Netzwerke 2007, S. 61. 35  Kahl, in: Holoubek/Lang, Verfahren der Zusammenarbeit von Verwaltungsbehörden in Europa, 2012, S. 32 f. 36  Ambivalent daher: Franzius, Gewährleistung im Recht, 2009, S. 479, Fn. 320 („weder eindeutig deskriptiv noch eindeutig normativ“); Kahl, in: Holoubek/Lang, Verfahren der Zusammenarbeit von Verwaltungsbehörden in Europa, 2012, S. 32 f. (nur „partielle Juridifizierung“); Schliesky, DÖV 2009, 641 (649) („Der Begriff des

254

3. Teil: Netzwerke im Bereich der Vollzugskontrolle

II. Netzwerke als Bestandteil der Compliance-Assurance-Strategie der Kommission Mit zunehmendem Umweltbewusstsein ist auf EU-Ebene und in den Mitgliedstaaten die Erkenntnis gereift, dass es sich bei der Verwirklichung eines hohen Umweltschutzniveaus und der Verbesserung der Umweltqualität, wie sie nach Maßgabe der Europäischen Verträge (Art. 3 III UAbs. 1 S. 2 EUV, Art. 114 III AEUV) explizit angestrebt werden, um Aufgaben handelt, die Mitgliedstaaten und EU-Institutionen nur gemeinsam erfüllen können. Tatsächlich stellt die unionsweite Vollzugssicherung Kommission und Mitgliedstaaten gleichermaßen vor Herausforderungen, die sie im Alleingang kaum zu bewältigen im Stande wären. In der Vergangenheit betonte die Kommission daher wiederholt – auch in ihrem Aktionsplan 2018 – das Element der Kooperation mit vollzugsrelevanten, staatlichen Stellen als entscheidenden Faktor für eine effektive Vollzugssicherung.37 Die Zusammenarbeit in Netzwerken als Teil der Compliance-Assurance-Strategie bringt diese Erkenntnis unmittelbar zum Ausdruck. 1. Vorteile der Zusammenarbeit in Netzwerken: Kooperationsbedürfnisse von Kommission und Mitgliedstaaten Netzwerke verkörpern den Kooperationsgedanken wie kein anderes Arbeitsverhältnis innerhalb des (verwaltungs-)organisatorischen Gefüges der EU. Ein enger Zusammenhang besteht dabei zum Gedanken der Partizipation.38 Durch die Beteiligung staatlicher oder sogar privater Akteure werden Informationen, Erfahrungen und Ressourcen, die jenseits der kommissions­ eigenen Sphäre vorhanden sind, mobilisiert und für die Vollzugskontrolltätigkeit der Kommission nutzbar gemacht. Partizipation bezeichnet somit eine wenigstens einseitige Form der Kooperation zwischen Kommission und Mitgliedstaaten. Im Vergleich zum traditionellen, vom Verständnis einer zentralen, übergeordneten Untersuchungsinstanz geprägten Vollzugskontroll­ konzept kristallisiert sich hier ein scheinbar gegenläufiger Ansatz heraus. Die Kommission beschränkt sich nicht darauf, den Vollzug des EU-Umweltrechts aus der Distanz der Unionsperspektive heraus zu überwachen, um bei EntdeNetzwerks scheint […] nicht nur empirisch, sondern auch normativ geeignet, die arbeitsteiligen Prozesse […] zu erfassen […].“). 37  KOM, Mitteilung an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen – Aktionsplan der EU für einen besseren Vollzug des Umweltrechts und eine bessere Umweltordnungspolitik, 18.1.2018, COM(2018) 10 final, S. 1. 38  Vgl. etwa: Benz, in: Tömmel, Die Europäische Union – Governance und PolicyMaking, 2008, S. 48.



A. Grundlagen der Netzwerkanalyse255

ckung einer möglichen Vertragsverletzung durch die Einleitung eines Verfahrens gemäß Art. 258 ff. AEUV – sozusagen von oben – korrigierend einzugreifen. Vielmehr bemüht sie sich um eine größere Nähebeziehung zu den Mitgliedstaaten, in deren Rahmen sie den Vollzug anleiten und nationalen Akteuren Hilfsmittel zur Verfügung stellen kann. Anstatt Regelungsanpassungsbedürfnisse oder Vollzugsdefizite selbst zu ermitteln, greift die Kommission zunehmend auf Informationen und Impulse zurück, die von der mitgliedstaatlichen Ebene oder sogar aus der privaten Sphäre – also von unten – an sie herangetragen werden. a) Grenz- und kompetenzüberschreitende Koordination Netzwerke entstehen typischerweise in Politikbereichen oder im Zusammenhang mit Angelegenheiten, in denen territoriale oder sachliche Verantwortungs- bzw. Kompetenzgrenzen zu Gunsten eines gemeinsamen Interesses überschritten werden müssen.39 Im Umweltbereich ist genau dies der Fall; schädliche Umwelteinwirkungen nehmen keine Rücksicht auf Staatsgrenzen. So handelt es sich etwa beim Schutz grenzüberschreitender Gewässer und zusammenhängender natürlicher Lebensräume um Aufgaben, die die Behörden eines einzelnen Mitgliedstaates allein nicht erfüllen können. Erstreckt sich z.  B. eine Flussgebietseinheit über mehrere Hoheitsgebiete, fordert Art. 13 II, III Wasserrahmenrichtlinie (2000/60/EG) von den Mitgliedstaaten Bemühungen zur koordinierten Aufstellung eines einheitlichen, internationalen Bewirtschaftungsplans für die Einzugsgebiete. Überschreitet beispielsweise ein Gewässer Staatengrenzen, besteht die Gefahr, dass sich dem Wasser zugeführte Schadstoffe mit dem natürlichen Wasserfluss ausbreiten. Beeinträchtigt eine Emissionsquelle die Wasserqualität international, kann ein guter ökologischer, hydrologischer und hydrogeologischer Gewässerzustand nur gemeinsam wiederhergestellt werden. Werden etwa Abfälle unter Verstoß gegen unionsrechtliche Vorgaben verschifft, müssen Umweltbehörden, Polizei-, Zoll- und Strafverfolgungsbehörden verschiedener Staaten über die Grenzen ihrer sachlich und örtlich limitierten Zuständigkeiten hinweg koordiniert zusammenwirken, um Transportrouten nachzuvollziehen, Ladungen ausfindig zu machen und abzufangen. Andernfalls würde jeder Grenzübertritt den wirksamen Umweltrechtsvollzug in Frage stellen. Kooperationsbedürfnisse bestehen jedoch nicht nur in Fällen, in denen die erfolgreiche Durchführung unionsrechtlicher Umweltvorgaben auf ein aktives, staatenübergreifend koordiniertes Vorgehen verschiedener nationaler und 39  Schöndorf-Haubold, in: Boysen u. a., Netzwerke 2007, S. 152; Schuppert, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle, Grundlagen des Verwaltungsrechts Bd. 1, 2. Auflage 2012, § 16 Rn. 151.

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3. Teil: Netzwerke im Bereich der Vollzugskontrolle

europäischer Vollzugsakteure angewiesen ist. Auch jenseits gemeinsamer Vollzugsmaßnahmen können EU und Mitgliedstaaten vom Aufbau grenzüberschreitender Kooperationsbeziehungen profitieren, ihre individuellen Vollzugsleistungen verbessern und somit im Ergebnis das gesamteuropäische Vollzugsniveau steigern. Besondere Bedeutung kommt der Vernetzung nationaler und europäischer Vollzugsakteure im Bereich der informationellen Zusammenarbeit, aber auch für den Austausch und die Vermittlung vollzugs­ relevanter Fachkenntnisse zu. b) Informationelle Zusammenarbeit Die Qualität des Unionsrechtsvollzugs hängt maßgeblich von einer effektiven Informationsgewinnung und -verwaltung ab.40 Bereits im Zusammenhang mit der Verwirklichung des 3. Umweltaktionsprogramms (1982–1986)41 betonte der Gesetzgeber der damaligen EG die Bedeutung „kohären­te[r] und vergleichbare[r] Informationen über den Zustand der Umwelt und der natür­ lichen Ressourcen in der Gemeinschaft“42 und erklärte den Aufbau „eine[r] Basis für Informationen“ in verschiedenen Umweltbereichen zum Ziel.43 Da die Kommission im Umweltsektor weder über eigene Inspektionskompetenzen noch über ausreichende personelle Ressourcen für eine flächendeckende Überwachung verfügt und somit nur eingeschränkt selbst Informationen über Umsetzungs- und Anwendungsmaßnahmen oder den Zustand der Umwelt in den Mitgliedstaaten sammeln kann, ist sie auf die informationelle Zusammenarbeit mit nationalen Akteuren, die mit den politischen, recht­ lichen, ökonomischen und demografischen Besonderheiten ihres Zuständig40  Schwind, Netzwerke im Europäischen Verwaltungsrecht, 2017, S. 3; Sommer, Verwaltungskooperation am Beispiel administrativer Informationsverfahren im Europäischen Umweltrecht, 2003, S. 100; Sommer, in: Schmidt-Aßmann/Schöndorf-Haubold, Der Europäische Verwaltungsverbund, 2005, S. 58. 41  Entschließung des Rates, der Europäischen Gemeinschaften und der im Rat vereinigten Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten vom 7. Februar 1983 zur Fortschreibung und Durchführung einer Umweltpolitik und eines Aktionsprogramms der Europäischen Gemeinschaften für den Umweltschutz (1982–1986), ABl. 1983, Nr. C 46, S.  1 ff. 42  Erwgr. 1 Entscheidung 85/338/EWG des Rates vom 27. Juni 1985 über die Annahme des Arbeitsprogramms der Kommission für ein Versuchsvorhaben für die Zusammenstellung, Koordinierung und Abstimmung der Informationen über den Zustand der Umwelt und der natürlichen Ressourcen in der Gemeinschaft, ABl. 1985, Nr. L 176, S. 14. 43  Erwgr. 3 Entscheidung 85/338/EWG des Rates vom 27. Juni 1985 über die Annahme des Arbeitsprogramms der Kommission für ein Versuchsvorhaben für die Zusammenstellung, Koordinierung und Abstimmung der Informationen über den Zustand der Umwelt und der natürlichen Ressourcen in der Gemeinschaft, ABl. 1985, Nr. L 176, S. 14 f.



A. Grundlagen der Netzwerkanalyse257

keitsbereichs vertraut sind, angewiesen.44 So bietet der Austausch mit lokalen, regionalen und nationalen Umweltbehörden oder politischen Entscheidungsträgern Gelegenheit, wertvolle Einblicke in den praktischen Vollzugs­ alltag mitgliedstaatlicher Stellen zu gewinnen. Gerade untere Behördenebenen verfügen i. d. R. über einen gewissen Informationsvorsprung in Bezug auf die Lage vor Ort.45 Erlangt die Kommission Einsicht in ihre Arbeit, kann dies nicht nur dabei helfen, nationale Vollzugsleistungen zu überwachen, sondern auch Vollzugsschwierigkeiten zu verstehen und bedarfsgeleitete Unterstützung anzubieten. Auch staatliche Akteure können von der informationellen Zusammenarbeit profitieren. Fundierte Entscheidungen, die effektiv zum Umweltschutz und zur Förderung der Nachhaltigkeit beitragen, lassen sich ohne stabile Informationsgrundlagen nicht treffen.46 Fehlt es an qualitativ hochwertigen Informationen über den Zustand der Umwelt, werden drohende Umweltschäden nicht oder zu spät erkannt, so dass Umweltbehörden und politische Entscheidungsträger ihre Maßnahmen nicht an den realen Gegebenheiten ausrichten können. Dasselbe gilt für den Fall, dass Umweltinformationen zwar vorhanden sind, aber ineffizient verwaltet werden. Erschweren unübersichtliche Systeme das Auffinden bestimmter Informationen oder werden sie zur weiteren Nutzung nicht aufbereitet, lässt sich nicht gewährleisten, dass relevante Fakten alle verantwortlichen Vollzugsakteure erreichen. Bilateral ausgetauschte Informationen verbleiben oft im Binnenverhältnis zwischen auskunftsersuchender und auskunftserteilender Stelle.47 Eine zuverlässige Informationsdistribution findet nicht statt.48 Sammeln und verwalten europäische, nationale, regionale und lokale Einrichtungen Umweltinformationen unabhängig voneinander, besteht die Gefahr einer Fragmentierung. Um gemeinsame, koordinierte und synergetische Informationssysteme zu schaffen, müssen EU-Institutionen und Mitgliedstaaten sowie die Mitgliedstaaten untereinander zusammenarbeiten. Da Kommission und EUA im Vergleich zu nationalen Behörden über größere Informationsverwaltungskapazitäten verfügen, kommt ihnen dabei nicht selten eine exponierte Stellung als Organisatorin49 bzw. Moderatorin zu.50 44  Dazu:

2. Teil, B. VI. 1. in: Schmidt-Aßmann/Schöndorf-Haubold, Der Europäische Verwaltungsverbund, 2005, S. 58. 46  Heußner, Informationssysteme im Europäischen Verwaltungsverbund, 2007, S. 5; Schwind, Netzwerke im Europäischen Verwaltungsrecht, 2017, S. 3. 47  Schwind, Netzwerke im Europäischen Verwaltungsrecht, 2017, S. 168. 48  Schwind, Netzwerke im Europäischen Verwaltungsrecht, 2017, S. 3. 49  Sommer, Verwaltungskooperation am Beispiel administrativer Informationsverfahren im Europäischen Umweltrecht, 2003, S. 211. 50  Schwind, Netzwerke im Europäischen Verwaltungsrecht, 2017, S. 303 f. 45  Sommer,

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3. Teil: Netzwerke im Bereich der Vollzugskontrolle

c) Austausch von Fachwissen Weiterhin ergibt sich ein besonderes Kooperationsbedürfnis im Umweltsektor aus der Komplexität der Materie. Vielschichtige naturwissenschaft­ liche Zusammenhänge, grenzüberschreitende Umweltmedien, diffuse Schadstoffquellen sowie technische Aspekte fordern ein hohes Maß an Sachverstand, um nationale Vollzugsmaßnahmen überhaupt bewerten und potenzielle Defizite bei der Umsetzung und Anwendung unionsrechtlicher Vorgaben identifizieren zu können.51 Verfügen die Kommission bzw. ihre GD ENV von sich aus nicht über dieses Fachwissen, muss es anderweitig beschafft werden. In diesen Fällen existiert ein starkes Bedürfnis, Umweltexperten aus nationalen Umweltbehörden, anderen staatlichen Einrichtungen oder auch privaten Organisationen heranzuziehen, sich mit ihnen auszutauschen und ihre Fachkenntnisse mit den eigenen zu verbinden. Auch auf Seiten der Mitgliedstaaten besteht ein großes Interesse am Austausch von Fachwissen – sowohl untereinander als auch im Verhältnis zu den EU-Institutionen. Da Umweltschäden und -gefahren oft nicht sofort erkennbar sind, durch komplexe naturwissenschaftliche Vorgänge oder erst durch die Kumulation verschiedener Ursachen hervorgerufen werden, laufen unerfahrene Entscheidungsträger Gefahr, Risiken falsch zu bewerten, Maßnahmen zu spät zu ergreifen oder Vorkehrungen zu treffen, die sich im Nach­ hinein als unzureichend erweisen.52 Der kommunikative Austausch mit der Kommission, der EUA sowie anderen nationalen Vollzugsakteuren und Umweltexperten kann dazu beitragen, fehlenden Sachverstand und geringe Erfahrungswerte zu kompensieren, neue Kenntnisse zu erwerben und das fachliche Niveau vollzugsrelevanter Berufsgruppen in den Mitgliedstaaten anzuheben. Zu den Hauptursachen staatlicher Vollzugsdefizite zählen auch Verständnisschwierigkeiten bei der Umsetzung und Anwendung des EU-Umweltrechts.53 Unklar formulierte, inkohärente Vorgaben führen oft zu unfreiwilligen Unionsrechtsverstößen. Nicht selten werden Anforderungen an die Durchführung europäischer Umweltrechtsakte in den Mitgliedstaaten schlicht fehlinterpretiert.54 Kontakte zwischen der Kommission und staatlichen Stellen können solche Missverständnisse aufklären und versehentlichen Ver51  Dazu:

1. Teil, B. II. 3. 1. Teil, B. II. 3. 53  KOM, Mitteilung an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen – Aktionsplan der EU für einen besseren Vollzug des Umweltrechts und eine bessere Umweltordnungspolitik, 18.1.2018, COM(2018), 10 final, S. 2. 54  Dazu: 1. Teil, B. II. 3. 52  Dazu:



A. Grundlagen der Netzwerkanalyse259

tragsverletzungen vorbeugen. Zwar entscheidet letztlich der EuGH über Inhalt und Auslegung des Unionsrechts. Als Hüterin der Verträge, der die Eröffnung des Vertragsverletzungsverfahrens obliegt, kommt der Einschätzung der Kommission aber ebenfalls Gewicht zu. Dies gilt umso mehr, da die Kommission als allein initiativberechtigtes EU-Organ auch eine wichtige Rolle bei der Ausarbeitung neuer und der Umgestaltung bestehender EUUmweltrechtsakte spielt. 2. Rechtliche Rahmenbedingungen: Verortung im europäischen Verwaltungssystem Ein Kooperationsbedürfnis besteht vor allem im Bereich des administrativen Rechtsvollzugs, in dem nationale Praktiker*innen und Entscheidungsträger auf verschiedenen Verwaltungsebenen täglich mit der Anwendung des EU-Umweltrechts bzw. des nationalen Umsetzungsrechts zu tun haben. Nicht ohne Grund werden (Umwelt-)Netzwerke in der Rechtswissenschaft überwiegend als Organisationsform der Verwaltungskooperation diskutiert.55 Zwar existieren mit ENPE und EUFJE auch Netzwerke für Staatsanwaltschaft und Richterschaft, dennoch handelt es sich bei den meisten Netzwerken, die sich dem Ziel, die effektive Durchführung des EU-Umweltrechts sicherzustellen verschrieben haben um Behördennetzwerke, in denen Vertreter mitgliedstaatlicher Verwaltungen mit EU-Institutionen sowie untereinander zusammenarbeiten. Um also ein tiefergehendes Verständnis für die Netzwerkidee im Bereich der Vollzugssicherung entwickeln zu können, muss geklärt werden, ob und wie sich das Phänomen der Netzwerkbildung in das europäische System der Mehrebenenverwaltung einfügt. a) Das Kooperationsprinzip in der EU Das System des Unionsrechtsvollzugs wird durch zwei einander gegenüberstehende Prinzipien geprägt: Das organisatorische Trennungsprinzip56 auf der einen Seite sowie das funktionale Kooperationsprinzip57 auf der anderen Seite.58 55  Augsberg, in: Terhechte, Verwaltungsrecht der EU, 2. Auflage 2022, § 6 Rn. 51, 53 ff.; Pache, VVDStRL 2007, 106 (132). 56  Zum Begriff: Pache, VVDStRL 2007, 106 (109); Schmidt-Aßmann, Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, 2006, S. 381 ff.; Sydow, Verwaltungskooperation in der EU, 2004, S. 1 f. 57  Zum Begriff: Augsberg, in: Terhechte, Verwaltungsrecht der EU, 2. Auflage 2022, § 6 Rn. 12 f.; Kahl, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 6. Auflage 2022, Art. 4 EUV Rn. 102; Sydow, Verwaltungskooperation in der EU, 2004, S. 3 f. 58  Vgl. Hofmann, in: Schmidt-Aßmann/Schöndorf-Haubold, Der Europäische Verwaltungsverbund, 2005, S. 354 f.; Schmidt-Aßmann, in: Cremer, FS Steinberger, 2002,

260

3. Teil: Netzwerke im Bereich der Vollzugskontrolle

Das Trennungsprinzip gebietet eine grundlegende Trennung zwischen zentralem und dezentralem Vollzug.59 Auf diese Weise soll die Vollzugskompetenzverteilung zwischen EU und Mitgliedstaaten gesichert und dem Grundsatz der beschränkten Einzelermächtigung (Art. 5 I 1, II EUV) sowie dem Subsidiaritätsprinzip (Art. 5 I 2, III EUV) Rechnung getragen werden.60 Bezogen auf den administrativen Unionsrechtsvollzug ergibt sich daraus ein Gebot der institutionellen und verfahrensmäßigen Trennung zwischen der mitgliedstaatlichen und der europäischen Verwaltungsebene, das den Mitgliedstaaten beim Vollzug unionsrechtlicher Vorgaben größtmögliche Freiheiten in der Modalitätengestaltung sichern soll (sog. Autonomieziel).61 Das Kooperationsprinzip bildet das Gegengewicht zum Trennungsprinzip.62 Als wichtigstes Subprinzip des allgemein in Art. 4 III EUV verankerten Grundsatzes der Unionstreue63 verpflichtet es Mitgliedstaaten und EU gleichermaßen dazu, bei der Verwirklichung der Unionsziele loyal zusammenzuarbeiten. Dies gilt sowohl für das vertikale Verhältnis zwischen europäischer und nationaler Ebene als auch für das horizontale Verhältnis zwischen den einzelnen Mitgliedstaaten.64 Die Verpflichtung zur loyalen Zusammenarbeit wirkt dabei reziprok; sie besteht also nicht nur in eine Richtung, sondern gilt wechselbezüglich zwischen allen mitgliedstaatlichen Trägern öffentlicher Gewalt und EU-Institutionen.65 Im Interesse eines möglichst effektiven Unionsrechtsvollzugs müssen Trennungsprinzip und Kooperationsprinzip zueinander in Beziehung gesetzt werden. Zwar spricht der Effektivitätsgrundsatz zunächst dafür, den EURechtsvollzug der möglichst sachnahen, nationalen Entscheidungsebene zu überlassen. Andererseits können Kohärenzinteressen und damit ebenfalls der Effektivitätsgrundsatz für einen zentralen Vollzug sprechen, wenn sich die einheitliche Geltung unionsrechtlicher Vorgaben andernfalls nicht gewährS. 1375; Simantiras, Netzwerke im Europäischen Verwaltungsverbund, 2016, S. 19 f.; Sommer, in: Schmidt-Aßmann/Schöndorf-Haubold, Der Europäische Verwaltungsverbund, 2005, S. 59; ähnlich auch Britz, die stattdessen von „Verteilung“ und „Verflechtung“ spricht: Britz, EuR 2006, 46 (48). 59  Dazu: 1. Teil, D. II. 1. 60  Britz, EuR 2006, 46 (49); Schmidt-Aßmann, in: Schmidt-Aßmann/SchöndorfHaubold, Der Europäische Verwaltungsverbund, 2005, S. 2. 61  Britz, EuR 2006, 46 (49); ähnlich auch: Pache, VVDStRL 2007, 106 (109). 62  Kahl, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 6. Auflage 2022, Art. 4 EUV Rn. 109. 63  Kahl, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 6. Auflage 2022, Art. 4 EUV Rn. 102. 64  Kahl, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 6. Auflage 2022, Art. 4 EUV Rn. 109; Schmidt-Aßmann, Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, 2. Auflage 2006, S. 383. 65  EuGH, Rs. C-2/88 Imm, Zwartfeld u. a., Slg. 1990, I-3365 (Rn. 17); Kahl, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 6. Auflage 2022, Art. 4 EUV Rn. 109.



A. Grundlagen der Netzwerkanalyse261

leisten ließe.66 Durch kooperative Verflechtungen kann letztlich beiden Interessenlagen Rechnung getragen werden. Im administrativen Bereich arbeiten EU-Institutionen und mitgliedstaatliche Hoheitsträger deshalb schon seit Jahren zusammen.67 Da die EU originär über keinen eigenen Verwaltungsunterbau verfügt, waren ihre Institutionen von Anfang an auf den administrativen Vollzug durch nationale Behörden angewiesen.68 Die nationalen Verwaltungen sind wiederum – trotz ihrer gemeinsamen Vollzugsaufgabe – an staatliche Verwaltungstraditionen und -strukturen gebunden, so dass dem stark harmonisierten Unionsrecht auf nationaler Ebene heterogene Verwaltungsbedingungen gegenüberstehen.69 Werden nun Unionsinstitutionen in den Verwaltungsvollzug der Mitgliedstaaten eingebunden, können sie als staatenübergreifende Kraft harmonisierend und kohärenzfördernd wirken und so die Schwächen des dezentralen Vollzugsmodus kompensieren.70 Dies gilt umso mehr, da die Unionsorgane in Ausübung ihrer Organisationsgewalt im Bereich der EUEigenverwaltung mittlerweile eine größere Zahl unterstützender Ausschüsse, Gremien, beigeordneter Behörden und Agenturen geschaffen haben,71 die zum Teil ebenfalls Verwaltungsaufgaben wahrnehmen und somit ähnlich eines Verwaltungsunterbaus72 selbst zum effektiven Vollzug des Unionsrechts beitragen können. Eine administrative Zusammenarbeit ist damit bereits in der Grundkonzeption der EU angelegt.73 In Anlehnung an den Terminus der europäischen Rechtsgemeinschaft, wird daher im Schrifttum von einer europäischen Verwaltungsgemeinschaft gesprochen.74 Zwar ergibt sich aus dem Prinzip der beschränkten Einzelermächtigung und dem Subsidiaritätsprinzip in Zusammenschau mit dem Konzept des Vollzugsföderalismus (Art. 5 II, III EUV, 291 I AEUV), dass der Unionsrechts-

EuR 2006, 46 (50); ähnlich auch: Hofmann, WEP 2008, 662 (666). 1. Teil, D. II. 1. 68  Augsberg, in: Terhechte, Verwaltungsrecht der EU, 2.  Auflage 2022, § 6 Rn. 13; Frenz, DÖV 2010, 66 (67); Mastenbroek/Martinsen, JEPP 2018, 422 (423); Weiß, Die Verwaltung 2005, 517 (519). 69  Frenz, DÖV 2010, 66 (66); Winter, EuR 2005, 255 (258 f.). 70  Britz, EuR 2006, 46 (49); Schwind, Netzwerke im Europäischen Verwaltungsrecht, 2017, S. 2; dahingehend auch: Augsberg, in: Terhechte, Verwaltungsrecht der EU, 2. Auflage 2022, § 6 Rn. 50. 71  Dazu: 1. Teil, C. II. 3. 72  Groß, EuR 2005, 54 (54, 66); Pache, VVDStRL 2007, 106 (110 f.). 73  Frenz, DÖV 2010, 66 (67); Schwind, Netzwerke im Europäischen Verwaltungsrecht, 2017, S. 2. 74  Schmidt-Aßmann, in: Blankenagel/Pernice u. a., FS für Häberle, 2004, S. 396; ebenfalls für diesen Begriff plädierend: Siedentopf/Speer, DÖV 2002, 753 (763). 66  Britz,

67  Dazu:

262

3. Teil: Netzwerke im Bereich der Vollzugskontrolle

vollzug grundsätzlich den Mitgliedstaaten obliegt.75 Soll dieser Grundsatz aber im Interesse einer effektiven, kohärenten Rechtsanwendung durchbrochen werden, ist dies mit unionsrechtlicher Grundlage möglich.76 Anders als im deutschen Verwaltungsrecht besteht kein unionsrechtliches Verbot der Mischverwaltung.77 Eine trennscharfe Grenze zwischen EU-Eigenverwaltung und den Verwaltungen der Mitgliedstaaten wird mit zunehmender Verflechtung beider Ebenen immer schwieriger.78 Viele Sekundärrechtsakte sehen mittlerweile eine Zusammenarbeit zwischen staatlichen und europäischen Stellen im Rahmen mehrstufiger Verwaltungsverfahren vor. So verpflichtet etwa Art. 4 I Habitat-Richtlinie (92/43/EWG) die Mitgliedstaaten dazu, der Kommission Vorschläge für Fauna-Flora-Habitat-Gebiete zu melden. Anschließend obliegt es gemäß Art. 4 II Habitat-Richtlinie der Kommission, die vorgeschlagenen Gebiete zu prüfen und im Einvernehmen mit den Mitgliedstaaten über ihre Aufnahme in die Liste von Gebieten mit gemeinschaftlicher Bedeutung zu entscheiden. Auch die REACH-Verordnung (EG) Nr. 1907/ 200679 setzt im Rahmen der Bewertung chemischer Stoffe sowie bei der Entwicklung der Kriterien für die Stoffbewertung auf Zusammenarbeit, vgl. Art. 44 I 1 REACH-Verordnung (EG) Nr. 1907/2006. Andere Unionsrechtsakte sehen wiederum Kooperationsformen vor, die von einfachen, bilateralen Amtshilfeleistungen in einzelnen Angelegenheiten bis hin zum Aufbau komplexer, multilateral vernetzter Behördennetzwerke reichen.80 Das in Art. 4 III EUV verankerte Kooperationsprinzip gilt prinzipiell auch im Bereich der Vollzugssicherung. Um die effektive Umsetzung und Anwendung unionsrechtlicher Vorgaben zu gewährleisten, sind auch hier Verflechtungen entstanden, die es EU-Akteuren – insbesondere der Kommission – 75  Dazu:

1. Teil, D. II. 3. Der Staat 2011, 353 (354). 77  Britz, EuR 2006, 46 (48); Frenz, DÖV 2010, 66 (68); Eekhoff, Die Verbundsaufsicht, 2006, S. 190; Kahl, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 6. Auflage 2022, Art. 4 EUV Rn. 109; Stelkens, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 9. Auflage 2018, Europäisches Verwaltungsrecht, Europäisierung des Verwaltungsrechts und Internationales Verwaltungsrecht, Rn. 194; Weiß, Die Verwaltung 2005, 517 (529). 78  Britz, EuR 2006, 46 (46); Groß, EuR 2005, 54 (54); Hofmann/Türk, ELJ 2007, 253 (254); Weiß, Der Europäische Verwaltungsverbund, 2010, S. 13. 79  Verordnung (EG) Nr. 1907/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 18. Dezember 2006 zur Registrierung, Bewertung, Zulassung und Beschränkung chemischer Stoffe (REACH), zur Schaffung einer Europäischen Agentur für chemische Stoffe, zur Änderung der Richtlinie 1999/45/EG und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 793/93 des Rates, der Verordnung (EG) Nr. 1488/94 der Kommission, der Richtlinie 76/769/EWG des Rates sowie der Richtlinien 91/155/EWG, 93/67/EWG, 93/105/EG und 2000/21/EG der Kommission, ABl. 2006, Nr. L 396, S.  1 ff. 80  Schmidt-Aßmann, in: Hofmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle, Grundlagen des Verwaltungsrechts Bd. I, 2. Auflage 2012, § 5 Rn. 26. 76  Kahl,



A. Grundlagen der Netzwerkanalyse263

ermöglichen, auf den nationalen Unionsrechtsvollzug steuernd und harmonisierend einzuwirken, ohne den Mitgliedstaaten ihre grundsätzliche Vollzugszuständigkeit zu entziehen. Auch hier stehen Trennung und Verbindung, Alleinzuständigkeit und Zusammenarbeit im Wechselspiel zueinander, so dass letzten Endes nicht nur die Dichotomie zwischen direktem und indirektem Vollzug, sondern auch die Grenzen zwischen Vollzug und Kontrolle zunehmend verwischen.81 b) Verwaltungskooperation – Verwaltungsverbund – Netzwerk Um die das Trennungsprinzip überwindenden Formen des administrativen Unionsrechtsvollzugs darzustellen, haben sich in der europäischen Verwaltungsrechtswissenschaft verschiedene Termini etabliert. Geläufig ist zunächst der Begriff der Verwaltungskooperation.82 Im Mehrebenensystem der EU findet er Verwendung, um das „organisationsrechtliche Phänomen“83 zu beschreiben, das auf die effektivitätsorientierte Zusammenarbeit zwischen mehreren Behörden derselben Ebene (horizontale Verwaltungskooperation) sowie zwischen Unionseinrichtungen und mitgliedstaatlichen Behörden (vertikale Verwaltungskooperation) gerichtet ist.84 Die Verwaltungskooperation ist nicht nur über die allgemeine Pflicht zur loyalen Zusammenarbeit in Art. 4 III EUV, sondern auch über den mit dem Vertrag von Lissabon in den Vertragstext aufgenommenen Art. 197 I AEUV unionsverfassungsrechtlich rückgekoppelt.85 Ihre Ausgestaltung erfolgt über eine Reihe konkretisierender, sektorspezifischer Sekundärrechtsakte,86 die in ihrer Gesamtheit das sog. 81  Britz, EuR 2006, 46 (46); Groß, EuR 2005, 53 (53); Hofmann/Türk, ELJ 2007, 253 (254); Schmidt-Aßmann, in: Cremer, FS Steinberger, 2002, S. 1375; Simantiras, Netzwerke im Europäischen Verwaltungsverbund, 2016, S. 19; Weiß, Die Verwaltung 2005, 517 (520 f.). 82  Dazu: 1. Teil, D. II. 1. 83  Augsberg, in: Terhechte, Verwaltungsrecht der EU, 2.  Auflage 2022, § 6 Rn. 50. 84  Augsberg, in: Terhechte, Verwaltungsrecht der EU, 2.  Auflage 2022, § 6 Rn. 50; Ruffert, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 6. Auflage 2022, Art. 197 AEUV Rn. 21; Sydow, JuS 2005, 97 (99). 85  Frenz, DÖV 2010, 66 (66 f.); Frenz, Hdb. Europarecht Bd. 5, 2010, Rn. 1905; Schwind, Netzwerke im Europäischen Verwaltungsrecht, 2017, S. 2; Simantiras, Netzwerke im Europäischen Verwaltungsverbund, 2016, S. 20; zur Frage, ob sich aus dem Grundsatz loyaler Zusammenarbeit unmittelbare Unterrichtungs- und Koopera­ tionspflichten ergeben können: Sydow, Verwaltungskooperation in der EU, 2004, S. 33 f. 86  Gärditz, DÖV 2010, 453 (462); Kahl, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 6. Auflage 2022, Art. 4 EUV Rn. 102; Kahl, in: Holoubek/Lang, Verfahren der Zusammenarbeit von Verwaltungsbehörden in Europa, 2012, S. 20; Simantiras, Netzwerke im Europäischen Verwaltungsverbund, 2016, S. 20.

264

3. Teil: Netzwerke im Bereich der Vollzugskontrolle

Verwaltungskooperationsrecht87 bilden. Verwaltungskooperation kann dabei auf vielfältige Weise erfolgen. So können Sekundärrechtsakte Anhörungserfordernisse, Informationspflichten, Berücksichtigungspflichten, gestufte Entscheidungsverfahren, aber auch enger verflochtene, horizontale und vertikale Formen der Zusammenarbeit vorsehen.88 Über einfache Formen der Verwaltungskooperation hinaus reicht das Konzept des europäischen Verwaltungsverbunds.89 In der Rechtswissenschaft wird der Verwaltungsverbund teilweise als graduelle Steigerung zur Verwaltungskooperation begriffen.90 Der Begriff des Verwaltungsverbunds hat sich im Schrifttum zwar etabliert, ähnlich wie dem Netzwerkbegriff fehlt es ihm aber an Präzision. Wie bei der rechtswissenschaftlichen Rezeption des Netzwerkbegriffs lehnen es Teile der Literatur daher ab, dem Verwaltungsverbund normativen Gehalt zuzugestehen.91 Als metaphorische Ordnungsidee mit rein deskriptiv-analytischem Charakter92 beschränke sich der Terminus darauf, besonders enge Erscheinungsformen vertikaler und horizontaler Verflechtungen zwischen unionseigenen und nationalen Stellen, die langfristig in wenigstens einer wesentlichen Entscheidungsphase bei der Durchführung des Unionsrechts zusammenwirken, sprachlich zu visualisieren.93 Es handle sich somit um ein Sinnbild des Wechselspiels zwischen dem im Unionsprimärrecht angelegten Trennungsprinzip und dem funktionalen Kooperationsprinzip.94 Schmidt-Aßmann spricht insoweit von einem kontinuierlich zusammen87  Augsberg, in: Terhechte, Verwaltungsrecht der EU, 2.  Auflage 2022, § 6 Rn. 50; Kahl, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 6. Auflage 2022, Art. 4 EUV Rn. 102; Schmidt-Aßmann, Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, 2. Auflage 2006, S. 388; Sydow, Verwaltungskooperation in der EU, 2004, S. 21 ff. 88  Zu verschiedenen Grundtypen des Mehrebenenverwaltungsvollzugs: Weiß, Die Verwaltung 2005, 517 (522 ff.). 89  Dazu: 1. Teil, D. II. 1. 90  Stelkens, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 9.  Auflage 2018, Europäisches Verwaltungsrecht, Europäisierung des Verwaltungsrechts und Internationales Verwaltungsrecht, Rn. 191; Weiß, Der Europäische Verwaltungsverbund, 2010, S. 18; a. A. etwa: Britz, EuR 2006, 46 (53). 91  So wohl: Britz, EuR 2006, 46 (46 f.); Kahl, Der Staat 2011, 353 (354); Ruffert, DÖV 2007, 761 (762, 770); Stelkens, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 9. Auflage 2018, Europäisches Verwaltungsrecht, Europäisierung des Verwaltungsrechts und Internationales Verwaltungsrecht, Rn. 191. 92  Britz, EuR 2006, 46 (47); Kahl, Der Staat 2011, 353 (355); Kahl, in: Holoubek/ Lang, Verfahren der Zusammenarbeit von Verwaltungsbehörden in Europa, 2012, S. 19; Ruffert, DÖV 2010, 761 (762); Schöndorf-Haubold, in: Schmidt-Aßmann/ Schöndorf-Haubold, Der Europäische Verwaltungsverbund, 2005, S. 7. 93  In Anlehnung an: Kahl, Der Staat 2011, 353 (355); Kahl, in: Holoubek/Lang, Verfahren der Zusammenarbeit von Verwaltungsbehörden in Europa, 2012, S. 19 f.; Schmidt-Aßmann, in: Cremer, FS Steinberger, 2002, S. 1381 f.; Weiß, Der Europäische Verwaltungsverbund, 2010, S. 17 f.



A. Grundlagen der Netzwerkanalyse265

wachsenden „Informations-, Entscheidungs- und Kontrollverbund“95 zwischen europäischen und nationalen Verwaltungsträgern, der das durch das Trennungsprinzip geprägte, starre Konzept des Mehrebenensystems zunehmend verdränge.96 Die Ordnungsidee vom europäischen Verwaltungsverbund hat ihr Endstadium indes noch lange nicht erreicht: Der fortschreitende Integrationsprozess sowie die stetig steigende Zahl vollzugsbedürftiger Unionsrechtsakte machen es erforderlich, fortwährend neue Kooperationsformen zu entwickeln, um die Informationsdistribution auf Unionsebene zu verbessern und Herausforderungen beim Vollzug unionsrechtlicher Vorgaben bewältigen zu können.97 An dieser Stelle fügt sich die Netzwerkkooperation in das Gesamtbild ein. Die Herausbildung paneuropäischer Behördennetzwerke ist das Produkt eines Evolutionsprozesses,98 den das Verwaltungsgefüge der EU in den vergangenen Jahrzehnten durchlaufen hat. Als Ebenen übergreifende Form der Behördenkooperation zwischen den Verwaltungen der Mitgliedstaaten und der EU-Eigenverwaltung erweitern sie die Idee des Verwaltungsverbunds um dauerhafte, multilaterale und heterarchisch strukturierte, funktionale Einhei­ten,99 die punktuelle Formen der Zusammenarbeit ergänzen100 und die Verwaltungsorganisation der EU weiter vom klassischen Konzept eines durch trennbare, hierarchische Schichten konstruierten Systems entfernen.101 Netzwerke bewegen sich an der Schnittstelle zwischen EU-Eigenverwaltung und mitgliedstaatlicher Verwaltung; sie sind Ausdruck einer „Änderung des Aggregats­zustandes der Verwaltung“ hin zur Entwicklung flexibler Koope­rationsgefüge,102 die 94  Britz, EuR 2006, 46 (48); Simantiras, Netzwerke im Europäischen Verwaltungsverbund, 2016, S. 20; sinngemäß ebenso: Kahl, in: Holoubek/Lang, Verfahren der Zusammenarbeit von Verwaltungsbehörden in Europa, 2012, S. 19. 95  Frenz, Hdb. Europarecht Bd. 5, 2010, Rn. 1897; Pache, VVDStRL 2007, 106 (110 f.); Schmidt-Aßmann, in: Schmidt-Aßmann/Schöndorf-Haubold, Der Europäische Verwaltungsverbund, 2005, S. 22. 96  Frenz, DÖV 2010, 66 (67); hierfür auch: Weiß, Der Europäische Verwaltungsverbund, 2010, S. 18. 97  Schwind, Netzwerke im Europäischen Verwaltungsrecht, 2017, S. 4. 98  Augsberg, in: Terhechte, Verwaltungsrecht der EU, 2.  Auflage 2022, § 6 Rn. 51; Migliorati, The Commission as a network administrator in EU multi-level governance?, TARN Working Paper 6/2017, S. 1. 99  Pache, VVDStRL 2007, 106 (132); Schwind, Netzwerke im Europäischen Verwaltungsrecht, 2017, S. 4. 100  Schwind, Netzwerke im Europäischen Verwaltungsrecht, 2017, S. 167. 101  Sydow, Verwaltungskooperation in der EU, 2004, S. 78; vgl. auch Wettner, Die Amtshilfe im Europäischen Verwaltungsrecht, 2005, S. 290 f. 102  Augsberg, in: Terhechte, Verwaltungsrecht der EU, 2.  Auflage 2022, § 6 Rn. 51; Schmidt-Aßmann, in: Schmidt-Aßmann/Hoffmann-Riem, Strukturen des Europäischen Verwaltungsrechts, 1999, S. 39 f.

266

3. Teil: Netzwerke im Bereich der Vollzugskontrolle

kontinuierlich zur Aufweichung des Trennungsprinzips beiträgt. Im Schrifttum wird das Netzwerkphänomen auch mit dem europäischen Agencification103-Trend in Zusammenhang gebracht.104 Zwar verfügen Netzwerke im Unterschied zu Agenturen nicht zwangsläufig über eine eigene Rechtspersönlichkeit.105 Das europäische Verwaltungsgefüge wird aber sowohl durch die Einrichtung von Agenturen als auch durch die Bildung kooperativer Netzwerksstrukturen um verselbstständigte Organisationsein­heiten106 ergänzt, die aus einem funktionalen Bedürfnis an glaubwürdigen, fachkundigen Informa­ tionsverwaltungskapazitäten hervorgegangen sind.107 Agenturen und Netzwerke koexistieren mittlerweile in den meisten Politikbereichen.108 Im Umweltsektor hat die EUA eine starke Anbindung an die vorhandenen Netzwerkstrukturen erfahren, so dass beispielsweise Levi-Faur bereits von einer Hybrid­organisation – der „networked agency“ – spricht, die die Agentur den Netzwerken annähert.109

III. Charakteristika europäischer Netzwerkstrukturen In der EU existieren Netzwerke in vielfältigen Erscheinungsformen, so dass sich eine allgemeinverbindliche Definition „des“ Netzwerks kaum vornehmen lässt.110 Sehr abstrakt beschreibt etwa Augsberg Netzwerke als „eine noch vergleichsweise lose Koppelung unterschiedlicher Organisationseinhei103  Zum Begriff der „agencification“ weiterführend: Levi-Faur, JEPP 2011, 810 (811 ff.). 104  Eberlein/Grande, JIPP 2005, 89 (101); Maggetti, WEP 2014, 497 (498); Migliorati, The Commission as a network administrator in EU multi-level governance?, TARN Working Paper 6/2017, S. 1. 105  Migliorati, The Commission as a network administrator in EU multi-level governance?, TARN Working Paper 6/2017, S. 1; Simantiras, Netzwerke im Euro­ päischen Verwaltungsverbund, 2016, S. 39 f. 106  Maggetti, WEP 2014, 497 (498); Simantiras, Netzwerke im Europäischen Verwaltungsverbund, 2016, S. 19, 21, 40. 107  Migliorati, The Commission as a network administrator in EU multi-level governance?, TARN Working Paper 6/2017, S. 3; vergleichend im Detail: Weiß, Der Europäische Verwaltungsverbund, 2010, S. 85 ff. 108  Eine umfassende Übersicht bietet: Levi-Faur, JEPP 2011, 810 (818 ff.). 109  Mit weiteren Ausführungen zur entgegengesetzten Hybridform des „agencificated networks“: Levi-Faur, JEPP 2011, 810 (825); weitergehend noch Weiß, der im Rahmen seiner Theorie von der „Konvergenz von Netzwerken und Agenturen“ beide Kooperationsformen für „austauschbar“ erachtet: Weiß, Der Europäische Verwaltungsverbund, 2010, S. 105 ff. 110  Kahl, in: Holoubek/Lang, Verfahren der Zusammenarbeit von Verwaltungsbehörden in Europa, 2012, S. 32; Schwind, Netzwerke im Europäischen Verwaltungsrecht, 2017, S. 152 f.



A. Grundlagen der Netzwerkanalyse267

ten zu einem funktionsbezogenen Agglomerat“.111 Die Kommission selbst hat sich ähnlich geäußert und das „Netz nationaler Agenturen“ als „strukturiertes Ganzes, dem miteinander kommunizierende Einrichtungen angehören und bei dem jedes Mitglied einen Teil der Verantwortung für die Verwirk­ lichung gemeinsamer Ziele übernimmt“112 beschrieben. Die im Rahmen dieser Arbeit dargestellten Netzwerke verfolgen das Ziel, den dezentralen Vollzug des EU-Umweltrechts zu fördern, Vollzugsdefizite zu identifizieren, auszugleichen113 und so die Kluft zwischen dem abstrakten Erwartungshorizont der EU-Umweltpolitik und dem praktischen Unionsrechtsvollzug in den Mitgliedstaaten zu verkleinern.114 Ihre Tätigkeit besteht vorwiegend darin, vollzugsrelevante Akteure zusammenzubringen und ihnen eine Plattform zu bieten, über die Informationen, Erfahrungen und Fachwissen bereitgestellt und ausgetauscht, Vollzugsmaßnahmen koordiniert oder gemeinsame Ressourcen mobilisiert werden können.115 Weiterhin lassen sich einige organisations-, akteurs- und tätigkeitsbezogene Merkmale herausarbeiten, die für die meisten unter dem Netzwerkbegriff beschriebenen Koopera­ tionsformen derart charakteristisch sind, dass ihnen geradezu konstitutive Bedeutung für die Zuordnung zu dieser Bezeichnungskategorie zukommt. 1. Organisatorische Merkmale a) Polyzentrität Charakteristisch für die Bauweise aller Netzwerke ist zunächst ihre polyzentrische116 Struktur: Netzwerke bilden multilaterale Beziehungsgeflechte, in denen eigenständige Organisationseinheiten zueinander in Beziehung tre111  Augsberg, in: Terhechte, Verwaltungsrecht der EU, 2. Auflage 2022, § 6 Rn. 51; ähnlich auch: Nowrot, in: Boysen u. a., Netzwerke 2007, S. 19; Simantiras, Netzwerke im Europäischen Verwaltungsverbund, 2016, S. 20 f. 112  KOM, Mitteilung – Verwaltung der Gemeinschaftsprogramme über ein Netz nationaler Agenturen, 13.11.2001, KOM(2001) 648 endg., S. 6. 113  Mastenbroek/Martinsen, JEPP 2018, 422 (423  f.); ebenso zu verbundartigen Vollzugsstrukturen im Allgemeinen: Britz, EuR 2006, 46 (49). 114  Im Zusammenhang mit der Erscheinungsform der sog. „regulatory networks“: Blauberger/Rittberger, Regulation & Governance 2015, 367 (369); Dehousse, JEPP 1997, 246 (254 ff.); Eberlein/Grande, JEPP 2005, 89 (89, 91, 100); im Zusammenhang mit „implementing networks“: Mastenbroek/Martinsen, JEPP 2018, 422 (422, 424); zu verbundartigen Vollzugsstrukturen im Allgemeinen: Britz, EuR 2006, 46 (49). 115  Vgl. Kahl, in: Holoubek/Lang, Verfahren der Zusammenarbeit von Verwaltungsbehörden in Europa, 2012, S. 33; Mastenbroek/Martinsen, JEPP 2018, 422 (424, 428). 116  Nowrot, in: Boysen u. a., Netzwerke 2007, S. 16; Nowrot, in: Tietje/Nowrot, Internationales Wirtschaftsrecht, 3. Auflage 2022, S. 92; Simantiras, Netzwerke im

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3. Teil: Netzwerke im Bereich der Vollzugskontrolle

ten, ohne selbst in den dadurch entstehenden, intern strukturierten Netzwerkkonstruktionen aufgelöst zu werden.117 Als Erscheinungsform europäischer Behördenkooperation setzen sich Netzwerke aus verschiedenen Verwaltungseinheiten (nationale Behörden, EU-Organe oder Agenturen) zusammen, deren Vertreter innerhalb des Netzwerks direkt miteinander interagieren.118 Die Selbstständigkeit dieser Verwaltungseinheiten bleibt auch innerhalb des Netzwerks bestehen;119 eine organisatorische Eingliederung der Netzwerkmitglieder in eine übergeordnete Behörde findet nicht statt.120 Das Netzwerk bildet selbst jedoch eine funktionale Einheit, deren Handeln im Verhältnis zu den mitgliedstaatlichen Verwaltungen verselbstständigt ist und daher nicht den Einschränkungen nationaler Verwaltungshierarchien und -traditionen unterliegt.121 Simantiras spricht insoweit von einer „Emergenz von Netzwerken“, die sich durch das Streben nach einem effektiven Rechtsvollzug im Spannungsverhältnis zwischen Zentralisierungsbedürfnissen und mitgliedstaatlichem Souveränitätsdenken erklären lasse.122 b) Heterarchie Der Netzwerkbegriff wurde aus anderen Wissenschaftsdisziplinen übernommen, um Kooperationsgefüge zu beschreiben, deren Qualität sich mittels herkömmlicher Vorstellungen von Rangordnungen und hierarchischen Weisungsbeziehungen nicht erfassen lässt.123 Ein insoweit entscheidendes architektonisches Charakteristikum der meisten Netzwerkstrukturen ist ihre hete­r­ archische Bauweise.124 Anders als Systeme mit klassisch-vertikaler Ordnungsstruktur, wie etwa der Verwaltungsapparat der Bundesrepublik, der sich Europäischen Verwaltungsverbund, 2016, S. 39 f.; zur Polyzentrität der EU selbst: Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 2001, S. 215 ff. 117  Sydow, Verwaltungskooperation in der EU, 2004, S. 79. 118  Simantiras, Netzwerke im Europäischen Verwaltungsverbund, 2016, S. 21; Sydow, Verwaltungskooperation in der EU, 2004, S. 79. 119  Pache, VVDStRL 2007, 116 (132); Schöndorf-Haubold, in: Boysen u. a., Netzwerke 2007, S. 151; Simantiras, Netzwerke im Europäischen Verwaltungsverbund, 2016, S. 21; Sydow, Verwaltungskooperation in der EU, 2004, S. 79. 120  Schöndorf-Haubold, in: Boysen u. a., Netzwerke 2007, S. 152. 121  Simantiras, Netzwerke im Europäischen Verwaltungsverbund, 2016, S. 21, 40. 122  Simantiras, Netzwerke im Europäischen Verwaltungsverbund, 2016, S. 20 ff. 123  Möllers, ZaöRV 2005, 351 (380 f.); Schliesky, DÖV 2009, 641 (643); Sydow, Verwaltungskooperation in der EU, 2004, S. 79. 124  Vgl. Blauberger/Rittberger, Regulation & Governance 2015, 367 (368); Kielmannsegg, in: Boysen u. a., Netzwerke 2007, S. 86; Ladeur, The European Environment Agency and Prospects for a European Network of Environmental Administrations, 1996, S. 12; Mastenbroek/Martinsen, JEPP 2018, 422 (424); Schöndorf-Haubold, in: Boysen u. a., Netzwerke 2007, S. 151; Schwind, Netzwerke im Europäischen



A. Grundlagen der Netzwerkanalyse269

aus oberen, mittleren und unteren Behörden zusammensetzt, verzweigen sich Netzwerke in die Horizontale. Netzwerkarbeit beschreibt in der Regel eine Kooperationsform auf gleichgeordneter Ebene zwischen gleichberechtigten Akteuren, die weder durch Weisungsbefugnisse beeinflusst noch durch hierarchische Rückanbindungen gegenüber übergeordneten Entscheidungsträgern geprägt ist. Nicht selten kommt es vor, dass einzelne Akteure – etwa die Kommission oder die EUA – eine exponierte Stellung im Netzwerk einnehmen, sei es aus faktischen Gründen, weil sie über ein übergeordnetes Maß an Expertise und Ressourcen verfügen oder aber weil sie sekundärrechtlich mit besonderen Handlungs- oder sogar Überwachungsbefugnissen ausgestattet sind.125 Ungeachtet solcher punktuellen Durchbrechungen bleibt die heterarchische Grundstruktur aber doch ein fundamentales Konstruktionselement der Netzwerkidee, das sie von klassisch-hierarchischen Organisationskonzepten unterscheidet, die auf der Vorstellung trennbarer Über- und Unterordnungsverhältnisse mit klar verteilten Aufgaben aufbauen126 und durch einseitige, top-down gerichtete Weisungsbefugnisse bestimmt werden. 2. Akteursbezogene Merkmale a) Entwicklungsoffenheit Ein weiteres Merkmal der Netzwerkidee besteht darin, dass sich der Kreis der involvierten Akteure weder auf Hoheitsträger,127 noch auf Akteure einer Handlungsebene im Mehrebenensystem der EU beschränken muss.128 Netzwerkstrukturen zeichnen sich durch ihre besondere Offenheit129 gegenüber einer Vielzahl potenzieller Kooperationspartner aus, die es sowohl ermöglicht, Ebenen übergreifende Beziehungen zwischen nationalen Akteuren und Verwaltungsrecht, 2017, S. 300 ff.; Sydow, Verwaltungskooperation in der EU, 2004, S. 79. 125  Schwind spricht in diesem Zusammenhang von „Netzwerkmoderatoren“ und „hierarchischen Ausbrechern“, vgl. Schwind, Netzwerke im Europäischen Verwaltungsrecht, 2017, S. 303 f. 126  Ladeur, The new European Agencies – European Environment Agency and Prospects for a European Network of Environmental Administrations, 1996, S. 12. 127  Dehousse, JEPP 1997, 248 (256); Schöndorf-Haubold, in: Boysen u. a., Netzwerke 2007, S. 152. 128  Vgl. Goldmann, in: Boysen u. a., Netzwerke 2007, S. 226; Mastenbroek/Martinsen, JEPP 2018, 422 (423 f.); Saurer, EJRR 2011, 51 (52); Ward/Williams, JCMS 1997, 440 (446). 129  Ladeur, The new European Agencies – The European Environment Agency and Prospects for a European Network of Environmental Administrations, 1996, S. 12; Migliorati, The Commission as a network administrator in EU multi-level governance?, TARN Working Paper 6/2017, S. 1; Schliesky, DÖV 2009, 641 (642 f.).

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3. Teil: Netzwerke im Bereich der Vollzugskontrolle

EU-Institutionen herzustellen, als auch Verbindungen zu anderen Netzwerken, Forschungseinrichtungen, Sachverständigen, NGOs, Unternehmen oder sogar Unionsbürgerinnen und Bürgern – d. h. zur privaten Sphäre – zu knüpfen.130 In der Rechtswissenschaft werden diese Ebenen und/oder Sphären übergreifenden Netzwerke vorwiegend unter dem Oberbegriff der transna­ tionalen Netzwerke131 diskutiert. Auch in territorialer Hinsicht weist die Akteurskonstellation im Netzwerk besondere Entwicklungsoffenheit auf. Der Netzwerkbeitritt wird typischerweise nicht durch Rechtsakt angeordnet, sondern erfolgt freiwillig.132 Wollen sich Hoheitsträger oder Einrichtungen aus Drittstaaten beteiligen, steht ihrer Mitgliedschaft nichts entgegen. Akteure können bei entsprechendem Konsens in das Kooperationsverhältnis eingebunden oder ausgeschlossen werden.133 Netzwerke verfolgen damit einen flexiblen, inklusiven Ansatz, der unterschiedliche Fähigkeiten und Perspektiven zur Erreichung eines bestimmten Ziels zusammenführen soll.134 b) Repräsentation Die richtige Zusammensetzung des Mitgliederbestands zählt zu den grundlegenden Herausforderungen der Netzwerkbildung. Zwar könnte die Inklusion regionaler und lokaler Akteure, die mit kleingliedrigen Interessenlagen und Besonderheiten vertraut sind, die Zusammenarbeit bereichern. Kapazitätsgrenzen müssen aber auch bei der Netzwerkdimensionierung beachtet werden. Mag der Aufbau möglichst umfangreicher Informationsbestände prinzipiell erstrebenswert erscheinen, steigert ein übergroßer Datenpool gleichzeitig den Verwaltungsaufwand.135 Werden zu viele verschiedene Interessengruppen in die Zusammenarbeit einbezogen, besteht zudem die Gefahr

130  Zur Unterscheidung zwischen dem verwaltungsrechtlichen Netzwerkbegriff und dem weiteren verwaltungswissenschaftlichen Netzwerkbegriff: Kahl, in: Holoubek/Lang, Verfahren der Zusammenarbeit von Verwaltungsbehörden in Europa, 2012, S. 29. 131  Vgl. etwa: Bach/Francesco/Maggetti/Ruffing, Public Administration 2016, 9 (9 ff.); Eberlein/Grande, JIPP 2005, 89 (89 ff.); Martens, JEI 2008, 635 (635 ff.); Kemmerer, in: Boysen, Netzwerke 2007, S. 201, zum Begriff des „Transnationalen“ im Detail: Dilling/Markus, ZUR 2016, 3 (4). 132  Dilling, in: Knill/Lenschow, Implementing EU-Environmental Policy, 2000, S. 63; Levi-Faur, JEPP 2011, 810 (823); Schöndorf-Haubold, in: Boysen u. a., Netzwerke 2007, S. 152. 133  Schliesky, DÖV 2009, 641 (644). 134  Dehousse, JEPP 1997, 248 (256). 135  Schwind, Netzwerke im Europäischen Verwaltungsrecht, 2017, S. 297.



A. Grundlagen der Netzwerkanalyse271

eines dialoghemmenden „lobbying overloads“.136 Um die Komplexität der Kommunikationsbeziehungen zu reduzieren und auf relevante Perspektiven, Interessenlagen, Ressourcen, Fachkenntnisse und Erfahrungen zu beschrän­ ken,137 wird bei der Netzwerkdimensionierung auf das Prinzip der Repräsentation zurückgegriffen. So beschränkt sich der Inklusionsbereich administrativer Behördennetzwerke typischerweise auf die obersten Verwaltungsebenen – in der Bundesrepublik etwa die sachlich zuständigen Bundesministerien138 – die wiederum alle mittleren und unteren Behörden ihres Staates repräsentieren. Direkte Kommunikation findet nur zwischen Vertretern der obersten Verwaltungsebenen statt. Untergeordnete Behörden bleiben darauf verwiesen, über nationale Subnetzwerke und Kontaktstellen,139 vermittelt durch die eigentlichen Netzwerkmitglieder mitzuwirken. Der einzelstaatliche Input wird damit kanalisiert, bevor er das Netzwerk erreicht. Umgekehrt obliegt den Kontaktstellen die Weitergabe der Arbeitsergebnisse (im Folgenden: Netzwerk Output) an die nationalen Behörden, die nicht direkt am Netzwerk beteiligt sind.140 3. Tätigkeitsbezogene Merkmale a) Informalität Während einige Netzwerke, wie etwa das Europäische Wettbewerbsnetz (engl.: European Competition Network; ECN) oder auch das Europäische Umweltinformations- und Beobachtungsnetzwerk (engl.: European Environment Information and Observation Network; EIONET) durch EU-Sekundärrechtsakte geschaffen und geregelt wurden,141 sind viele Netzwerkstrukturen flexibel strukturierte Produkte freiwilliger, oft spontaner Initiativen nationaler Hoheitsträger oder sonstiger – gegebenenfalls sogar privater – Interessengruppen, die weder rechtlich institutionalisiert noch in ihrer Arbeitsweise

136  Im Zusammenhang mit Netzwerken im Bereich der Politikgestaltung: Ward/ Williams, JCMS 1997, 440 (444, 451). 137  Schwind, Netzwerke im Europäischen Verwaltungsrecht, 2017, S. 299. 138  Schwind, Netzwerke im Europäischen Verwaltungsrecht, 2017, S. 298 f. 139  Zu Kontaktstellennetzwerken im Netzwerk europäischer Sicherheitsbehörden und Produktsicherheitsbehörden: Schwind, Netzwerke im Europäischen Verwaltungsrecht, 2017, S. 195 f. und 209 f. 140  Schwind, Netzwerke im Europäischen Verwaltungsrecht, 2017, S. 299. 141  Zur Unterscheidung unionsrechtlich institutionalisierter Europäischer Regu­ lierungsnetzwerke von rein informalen Netzwerken (z. B. IMPEL): Migliorati, The Commission as a network administrator in EU multi-level governance?, TARN Working Paper 6/2017, S. 2 f.

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3. Teil: Netzwerke im Bereich der Vollzugskontrolle

formalrechtlichen Vorgaben unterworfen sind.142 Der Grad der Formalisierung kann sich von Netzwerk zu Netzwerk unterscheiden. Eine gewisse Informalität143 ist jedoch gerade im Umweltbereich für Netzwerkstrukturen kennzeichnend. Zusammenarbeit jenseits formalrechtlicher Vorgaben bietet den beteiligten Akteuren Freiräume und fördert das Kooperationsklima. Informalität schafft flexible, unbürokratische Arbeitsbedingungen, die es ermöglichen, die Form der Zusammenarbeit auf die Bedürfnisse und Probleme der im Netzwerk kooperierenden Akteure auszurichten und passende Lösungsansätze zu entwickeln.144 Im informellen Rahmen muss sich Netzwerkarbeit allein am Effektivitätsgedanken messen. So können etwa Informationen ausgetauscht werden, ohne dass es auf förmliche Verfahrenshandlungen wie etwa ein konkretes Amtshilfeersuchen ankäme.145 b) Kontinuität Ein Charakteristikum der Netzwerkarbeit, das sie von punktuellen Formen der Kooperation unterscheidet, ist ferner ihre Kontinuität.146 Während etwa Amtshilfehandlungen im Bereich der Verwaltungskooperation nur ad-hoc, auf Ersuchen einer Verwaltungseinheit gegenüber einer anderen im Zusammenhang mit einer konkreten Vollzugsproblematik geleistet werden,147 handelt es sich bei Netzwerken um relativ dauerhaft verfestigte Strukturen,148 die den Aufbau langfristiger Arbeits- und Vertrauensbeziehungen ermöglichen.149 142  Vgl. Nowrot, in: Tietje/Nowrot, Internationales Wirtschaftsrecht, 3. Auflage 2022, S. 92. 143  Blauberger/Rittberger, Regulation & Governance 2015, 367 (368, 374); Kahl, in: Holoubek/Lang, Verfahren der Zusammenarbeit von Verwaltungsbehörden in Europa, 2012, S. 29; Schliesky, DÖV 2009, 641 (643). 144  Blauberger/Rittberger, Regulation & Governance 2015, 367 (374). 145  Schwind, Netzwerke im Europäischen Verwaltungsrecht, 2017, S. 168. 146  Kahl, in: Holoubek/Lang, Verfahren der Zusammenarbeit von Verwaltungsbehörden in Europa, 2012, S. 31. 147  Kahl, in: Holoubek/Lang, Verfahren der Zusammenarbeit von Verwaltungsbehörden in Europa, 2012, S. 32; Schwind, Netzwerke im Europäischen Verwaltungsrecht, 2017, S. 167 f.; zu Netzwerken als Infrastruktur der Amtshilfe: Wettner, Die Amtshilfe im Europäischen Verwaltungsrecht, 2005, S. 289 ff. 148  Kahl, in: Holoubek/Lang, Verfahren der Zusammenarbeit von Verwaltungsbehörden in Europa, 2012, S. 29; Kemmerer, in: Boysen u. a., Netzwerke 2007, S. 201; Pache, VVDStRL 2007, 106 (132); Schmidt-Aßmann, in: Hoffmann-Riem/SchmidtAßmann/Voßkuhle, Grundlagen des Verwaltungsrechts Bd. 1, 2. Auflage 2012, § 5 Rn. 26; Schöndorf-Haubold, in: Boysen u. a., Netzwerke 2007, S. 152; Sydow, Verwaltungskooperation in der EU, 2004, S. 79. 149  Schöndorf-Haubold, in: Boysen u.  a., Netzwerke 2007, S. 151; Slaughter, Stanford Journal of International Law 2004, 283 (290); Sydow, Verwaltungskooperation in der EU, 2004, S. 79.



A. Grundlagen der Netzwerkanalyse273

c) Interdependenz Die Effektivität der Zusammenarbeit in Netzwerken hängt vom Zusammenspiel der vernetzen Akteure ab. Da Netzwerkarbeit typischerweise auf freiwilliger Basis erfolgt, beruht ihre Operabilität weniger auf rechtlichen Kompetenzen als auf der Kooperations- bzw. Partizipationsbereitschaft der beteiligten Netzwerkmitglieder.150 Grundlegend ist ein Prinzip des gegenseitigen „Gebens und Nehmens“.151 Netzwerke sind darauf ausgerichtet, Austauschverhältnisse zu begründen, in denen sich die Beteiligten gegenseitig unterstützen, bereichern und voneinander lernen sollen. Diese wechselseitige Abhängigkeit152 ist ein grundlegender Gedanke, der sich etwa in der Mobilisierung gemeinsamer Ressourcen, der Generierung fundierter Informationsbestände oder dem Austausch von Fachwissen niederschlägt. Synallagmatische Leistungs- und Gegenleistungspflichten werden nicht begründet.153 Die Effektivität der Netzwerkzusammenarbeit hängt aber maßgeblich von den Beiträgen der eingegliederten Kooperationspartner ab. d) Technische Komponente Eine letzte Gemeinsamkeit liegt schließlich in der grundlegenden Bedeutung, die technischen Innovationen bei der Netzwerkarbeit in der heutigen Rechtswirklichkeit zukommt.154 Zwar existierten multilateral vernetzte Beziehungsgeflechte bereits vor der Erfindung des Internets. Moderne Informations- und Telekommunikationsmedien eröffneten aber ungeahnte Möglichkeiten, Kommunikationsbeziehungen zwischen einer Vielzahl von Akteuren über große räumliche Distanzen hinweg zuverlässig herzustellen. So können im Rahmen von Online-Konferenzen und Online-Seminaren virtuelle Kontakte geknüpft und gepflegt werden, ohne dass dabei großer Organisationsoder Reiseaufwand entsteht. Emails, Telefonverbindungen, Chatforen und Konferenzprogramme bieten schnelle und flexible Verbindungen in die ganze Welt. Die Bedeutung technischer Hilfsmittel mag sich von Netzwerk zu Netzwerk, je nach Arbeitsweise und Aufgabenkreis unterscheiden. Ohne das 150  Vgl. Dilling, in: Knill/Lenschow, Implementing EU-Environmental Policy, 2000, S. 63. 151  Schwind, Netzwerke im Europäischen Verwaltungsrecht, 2017, S. 296. 152  Blauberger/Rittberger, Regulation & Governance 2015, 367 (368); Kielmannsegg, in: Boysen u. a., Netzwerke 2007, S. 86; insoweit von „diffuser Reziprozität“ sprechend: Sydow, Verwaltungskooperation in der EU, 2004, S. 79. 153  Schwind, Netzwerke im Europäischen Verwaltungsrecht, 2017, S. 296. 154  Zu den Merkmalen des „Paradigmas der Informationstechnologie“ als Ausgangspunkt der Netzwerkforschung: Castells, Der Aufstieg der Netzwerkgesellschaft, 2017, S.  80 ff.; Schliesky, DÖV 2009, 641 (643).

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3. Teil: Netzwerke im Bereich der Vollzugskontrolle

Internet als Informationsverarbeitungsmedium wären Vernetzungen im heutigen Umfang aber keinesfalls denkbar.155 Digitalisierung und Technisierung spielen vor allem im Bereich der informationellen Zusammenarbeit eine entscheidende Rolle. Der Aufbau und die Betreuung effektiver Informationssysteme zählen zu den typischen Aufgaben paneuropäischer Netzwerke. Wird in Sekundärrechtsakten156 von Informa­ tionssystemen gesprochen, ist damit zwar nicht zwangsläufig eine technische bzw. digitale Form der Informationskooperation gemeint.157 Vielmehr wird der Begriff vom EU-Gesetzgeber unspezifisch verwendet, um die Einrichtung eines Informationsaustauschverfahrens anzuordnen,158 ohne Vorgaben für die genaue Ausgestaltung zu treffen.159 In modernen Netzwerken werden Informationssysteme aber in der Regel durch technische Informationsaustauschverfahren160 in Gestalt digitaler Datenbanken oder Internetplattformen eingerichtet, in die Informationen aus einer Vielzahl von Quellen eingespeist und einem weiten Benutzerkreis – z. B. der Kommission, nationalen Behör155  Schliesky, DÖV 2009, 641 (643); zur Bedeutung elektronischer Kommunikationsinfrastrukturen für die Verwaltung im Ganzen: Ladeur, in: Hoffmann-Riem/ Schmidt-Aßmann/Voßkuhle, Grundlagen des Verwaltungsrechts Bd. II, 2. Auflage 2012, § 21 Rn. 85 ff.; Roßnagel, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann, Verwaltungsrecht in der Informationsgesellschaft, 2000, S. 258 ff. 156  Vgl. etwa Art. 19 II 1 der Seveso II-Richtlinie, die in ihrer ursprünglichen Fassung (96/82/EG zur Beherrschung der Gefahren bei schweren Unfällen mit gefährlichen Stoffen, ABl. 1997, Nr. L 10, S. 13 ff.) nur die Einrichtung eines unspezifischen „Registrier- und Informationssystems“ vorsieht, während Art. 21 III 1 der Seveso IIIRichtlinie (2012/18/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. Juli 2012 zur Beherrschung der Gefahren schwerer Unfälle mit gefährlichen Stoffen, zur Änderung und anschließenden Aufhebung der Richtlinie 96/82/EG des Rates, ABl. 2012, Nr. L 107, S. 1 ff.) konkret von „Datenbank“ spricht. 157  Dahingehend allerdings Heußner, die den Begriff des „Informationssystems“ weitgehend dem des „Informationsnetzwerks“ annähert, vgl. Heußner, Informationssysteme im Europäischen Verwaltungsverbund, 2007, S. 5, 17 f. 158  Heußner, Informationssysteme im Europäischen Verwaltungsverbund, 2007, S. 5; Schwind, Netzwerke im Europäischen Verwaltungsrecht, 2017, S. 17; Sommer, in: Schmidt-Aßmann/Schöndorf-Haubold, Der Europäische Verwaltungsverbund, 2005, S. 71. 159  Wird die Kommission mit der Errichtung eines nicht näher spezifizierten „Informationssystems“ beauftragt, kommt ihr in Fragen der Ausgestaltung dieses Systems im Rahmen ihrer Durchführungsbefugnisse weiter Gestaltungsspielraum zu, dazu mit konkreten Beispielen: Sommer, Verwaltungskooperation am Beispiel administrativer Informationsverfahren im Europäischen Umweltrecht, 2003, S. 211 f. 160  So versteht etwa die Kommission „Informationssysteme“ als „PC, elektronische Organiser, Mobiltelefone, interne und externe Netze, […] Netze, Server und sonstige Infrastrukturen des Internet“, KOM, Vorschlag für einen Rahmenbeschluss des Rates über Angriffe auf Informationssysteme, 19.4.2002, KOM(2002) 173 endg., S. 2.



A. Grundlagen der Netzwerkanalyse275

den oder sogar der Öffentlichkeit – unmittelbar oder in aufbereiteter Form zum Abruf zur Verfügung gestellt werden können.161 Online-Datenbanken sind leichter zugänglich als Archive. Informationen lassen sich in digitaler Form flexibel verwalten, schnell aktualisieren und standortunabhängig überall bereitstellen.162 Die Verwendung kompatibler Datenformate ermöglicht es, Synergien zwischen verschiedenen Informationssammelstellen zu nutzen und doppelten Arbeitsaufwand zu vermeiden. Hochkomplexe Mess- und Beobachtungstechnologien erschließen neue Methoden, um kleinste Veränderungen in der Umwelt sogar in Echtzeit nachvollziehen zu können.163 Bevor computerbasierte Technologien die Entstehung digitaler Informa­ tionsströme ermöglichten, wurden Informationen vorwiegend im bilateralen Verhältnis, über anlassbezogene Auskunftsersuchen eingeholt.164 Als sich Netzwerkstrukturen mit fortschreitender Verbreitung moderner Informationsund Kommunikationstechnologien in der europäischen Verwaltungswirklichkeit etablierten, wurden Amtshilfe- und Berichtspflichten zunehmend durch EDV-gestützte Informationssysteme ergänzt165 bzw. ersetzt,166 die im Gegensatz zu punktuellen, bilateralen Formen der Informationskooperation universell wirken167 und eine kontinuierliche und europaweite Informationszirkulation zwischen zahlreichen Vollzugsakteuren und EU-Institutionen in allen Stadien des Unionsrechtsvollzugs gestatten. 4. Auswertung Für den Begriff des Netzwerks existiert keine allgemein anerkannte Definition. Unabhängig von systemtheoretischen Konzepten lässt sich sein deskriptiver Gehalt mit Blick auf die eben dargestellten Charakteristika aber zumindest näher konkretisieren. Netzwerke sind demnach polyzentrische, informelle Organisationsstrukturen, die einem Ebenen und/oder Staaten übergreifenden Kreis von Akteuren Raum für eine auf Dauer angelegte, interde161  Vgl. dazu auch: Sommer, in: Schmidt-Aßmann/Schöndorf-Haubold, Der Europäische Verwaltungsverbund, 2005, S. 62 f. 162  Roßnagel, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann, Verwaltungsrecht in der Informationsgesellschaft, 2000, S. 326; Schliesky, DÖV 2009, 641 (648). 163  Dazu: 3. Teil, A. II. 1. b). 164  Galetta/Hofmann/Schneider, EPL 2014, 65 (65); Sommer, in: Schmidt-Aßmann/Schöndorf-Haubold, Der Europäische Verwaltungsverbund, 2005, S. 61 ff. 165  Schwind, Netzwerke im Europäischen Verwaltungsrecht, 2017, S. 168. 166  Sommer, Verwaltungskooperation am Beispiel administrativer Informationsverfahren im Europäischen Umweltrecht, 2003, S. 209; Sommer, in: Schmidt-Aßmann/ Schöndorf-Haubold, Der Europäische Verwaltungsverbund, 2005, S. 62. 167  Castells, Der Aufstieg der Netzwerkgesellschaft, 2017, S. 81.

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3. Teil: Netzwerke im Bereich der Vollzugskontrolle

pendente Zusammenarbeit auf Augenhöhe bieten.168 Da sich die Ausprägung dieser Merkmale von Netzwerk zu Netzwerk unterscheiden kann, ermöglichen sie lediglich eine Annäherung an den Gehalt des Netzwerkbegriffs. Diesen zu erfassen, ist jedoch von entscheidender Bedeutung für die nachfolgenden Untersuchungen, in deren Rahmen geklärt werden soll, wie Netzwerke zur Sicherstellung des EU-Umweltrechtsvollzugs in den Mitgliedstaaten beitragen können und welcher Wert ihnen dabei gegenüber Kontrollen im hierarchisch-imperativen Sinn zukommt.

B. Netzwerke im Bereich Compliance Promotion I. Compliance Promotion als Teil der Vollzugssicherungsstrategie der Kommission Unter Compliance Promotion versteht die Kommission „alle Maßnahmen, die Adressaten umweltrechtlicher Verpflichtungen dabei unterstützen, ihren Verpflichtungen aus dem EU-Umweltrecht nachzukommen“.169 Die GD ENV sieht darin eine Schlüsselaktivität, die eine bessere und rechtzeitige Umsetzung und Anwendung unionsrechtlicher Umweltvorgaben erreichen und Vertragsverletzungen vermeiden soll.170 Anders als das ex-post eingreifende Vertragsverletzungsverfahren verfolgt Compliance Promotion einen präventiven Ansatz, der erstmals im Rahmen der Kommissionsmitteilung Ein Europa der Ergebnisse171 2007 angedacht und seither kontinuierlich fortentwickelt wurde.172 Die grundlegende Idee besteht darin, Durch168  Ähnlich: Dilling, in: Knill/Lenschow, Implementing EU-Environmental Pol­icy, 2000, S. 63; Kahl, in: Holoubek/Lang, Verfahren der Zusammenarbeit von Verwaltungsbehörden in Europa, 2012, S. 29; Sydow, Verwaltungskooperation in der EU, 2004, S. 78 f.; zur Verwendung der Netzwerkmetapher im europäischen Planungsrecht: Gärditz, Europäisches Planungsrecht, 2009, S. 110. 169  KOM, Mitteilung an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen – Aktionsplan der EU für einen besseren Vollzug des Umweltrechts und eine bessere Umweltordnungspolitik, 18.1.2018, COM(2018) 10 final, S. 2. 170  KOM, Legal enforcement – Compliance Promotion, o. D., https://ec.europa.eu/ environment/legal/law/compliance.htm (Stand: 3.3.2022). 171  KOM, Mitteilung, Ein Europa der Ergebnisse – Anwendung des Gemeinschaftsrechts, 5.9.2007, KOM(2007) 502 endg, S. 5 ff. 172  KOM, Mitteilung an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen über die Umsetzung des Umweltrechts der Europäischen Gemeinschaft, 18.11.2008, KOM(2008) 773 endg.; KOM, Mitteilung an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen – Konkretere Vorteile aus den Umweltmaßnahmen der EU: Schaffung von Vertrauen durch



B. Netzwerke im Bereich Compliance Promotion277

führbarkeits- und Praktikabilitätserwägungen bereits in die Ausarbeitung europäischer Umweltrechtsakte einfließen zu lassen und in allen Phasen des Policy Cycles im Blick zu behalten.173 Anstatt bereits begangene EURechtsverstöße nachträglich zu beheben, sollen die für den Vollzug verantwortlichen staatlichen Akteure schon während der Umsetzung und Anwendung durch vollzugsunterstützende Maßnahmen angeleitet werden. Der Kooperationsgedanke spielt dabei eine tragende Rolle. Anstatt die Einhaltung des EU-Umweltrechts mittels imperativer, top-down gerichteter Kontrollen zu erzwingen, sollen Mitgliedstaaten und EU-Institutionen gemeinsam darauf hinarbeiten, unionsrechtliche Umweltvorgaben effektiv zu gestalten und wirksam durchzuführen.174 Hierzu haben sich in der Vergangenheit Netzwerke gebildet, an denen verschiedene vollzugsrelevante Akteure beteiligt sind. Das in diesem Zusammenhang wohl bedeutendste Netzwerk ist das Netzwerk der Europäischen Union für die Implementation und Durchsetzung des Umweltrechts (engl.: European Union Network for the Implementation and Enforcement of Environmental Law; IMPEL), dessen Nutzen für die Verbesserung des Umweltrechtsvollzugs in den Mitgliedstaaten bereits in den 6. und 7. Umweltaktionsprogrammen der EU ausdrücklich Anerkennung gefunden hat.175 Neben IMPEL hat die Kommission mittlerweile auch eine ganze Reihe anderer Netzwerke für besonders wertvoll erachtet. So errichtete sie mit Beschluss vom 18.1.2018176 das Forum für den Vollzug des Umweltrechts und die Umweltordnungspolitik (engl.: Environmental Compliance and Governance Forum),177 das die Realisierung des Aktionsplans 2018 lenken und den Austausch mit Vertretern der wichtigsten Netzwerke im Be-

mehr Information und größere Reaktionsbereitschaft der Behörden, 7.3.2012, COM(2012) 95 final. 173  KOM, Mitteilung, Ein Europa der Ergebnisse – Anwendung des Gemeinschaftsrechts, 5.9.2007, KOM(2007) 502 endg, S. 5. 174  KOM, Legal enforcement – Compliance Promotion, o. D., https://ec.europa.eu/ environment/legal/law/compliance.htm (Stand: 3.3.2022). 175  Vgl. Art. 3 Nr. 2 4. Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1600/2002/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Juli 2002 über das sechste Umweltaktionsprogramm der Europäischen Gemeinschaft, ABl. 2002, Nr. L 242, S. 4; Nr. 63, 65 iii) Beschluss Nr. 1386/2013/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. November 2013 über ein allgemeines Umweltaktionsprogramm der Union für die Zeit bis 2020 „Gut leben innerhalb der Belastbarkeitsgrenzen unseres Planeten“, ABl. 2013, Nr. L 354, S. 190 ff. 176  KOM, Commission Decision of 18.1.2018: setting up a group of experts on environmental compliance and governance, 18.1.2018, C(2018) 10 final. 177  Vgl. dazu: KOM, Environmental Compliance Assurance, o.  D., https://ec. europa.eu/environment/legal/compliance_en.htm (Stand: 14.2.2023).

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3. Teil: Netzwerke im Bereich der Vollzugskontrolle

reich Compliance Promotion ermöglichen soll.178 Nach Maßgabe von Art. 4 Nr. 2 des Kommissionbeschlusses zählen hierzu neben IMPEL: –– ­ das Netzwerk der Leitungen Europäischer Umweltschutzbehörden  (engl.: Network of the Heads of Environment Protection Agencies; NEPA), –– ­ das Europäische Forum für Umweltrichter  (engl.: European Union Forum of Judges for the Environment; EUFJE), –– ­ das Europäische Netz der Staatsanwälte für Umwelt  (engl.: European Network of Prosecutors for the Environment; ENPE), –– ­ das Europäische Netzwerk für Umweltkriminalität  (engl.: European Network for Environmental Crime; EnviCrimeNet) sowie andere EU-Agenturen und Vereinigungen, deren Aufgabenbereich jedoch nicht speziell auf das EU-Umweltrecht zugeschnitten ist.179 Zuletzt wurden die Unterstützung und Zusammenarbeit mit den hier aufgezählten Netzwerken sogar in Art. 3 1. (a) des Vorschlags für den Beschluss eines 8. Umweltaktionsprogramms für die Zeit bis 2030 aufgenommen, so dass die Relevanz paneuropäischer Netzwerke im Umweltsektor als Bestandteil der supranationalen Compliance-Assurance-Strategie nunmehr auch formale Anerkennung durch das Europäische Parlament und den Rat der EU erfahren könnte.180 Da eine umfassende Darstellung aller umweltrelevanten Netzwerkstrukturen mit Bezug zum Compliance-Promotion-Ansatz den Rahmen dieser Arbeit sprengen würde, konzentrieren sich die nachfolgenden Ausführungen speziell auf diejenigen Netzwerke, die die Kommission in ihrem Aktionsplan 2018 bzw. innerhalb ihres Beschlusses über die Errichtung des Forums für den Vollzug des Umweltrechts und die Umweltordnungspolitik explizit benannt und ihnen somit einen gewissen Stellenwert zuerkannt hat. Untersucht werden IMPEL, NEPA, EUFJE, ENPE und EnviCrimeNet im Hinblick auf ihre Organisation und Funktionsweise unter besonderer Berücksichtigung der Bedeutung des Einsatzes innovativer Technologien sowie der Stellung der Kommission als Vollzugssicherungsinstanz im Verhältnis zu den am jeweili178  KOM, Mitteilung an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen – Aktionsplan der EU für einen besseren Vollzug des Umweltrechts und eine bessere Umweltordnungspolitik, 18.1.2018, COM(2018) 10 final, S. 8. 179  Diese sind: Das Europäische Polizeiamt (Europol), die Agentur der Europäischen Union für justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen (Eurojust) und die Europäische Organisation der Obersten Rechnungskontrollbehörden (engl.: European Organization of Supreme Audit Institutions; EUROSAI). 180  Rat, Proposal for a Decision of the European Parliament and of the Council on a General Union Environment Action Programme to 2030 – Letter to the Chair of the European Parliament Committee of the Enviroment, Publich Health and Food Safety (ENVI), Procedure 2020/0300/COD, 10.12.2021, 14758/21 ANNEX, S. 21.



B. Netzwerke im Bereich Compliance Promotion279

gen Netzwerk beteiligten nationalen Vollzugsakteuren. Zuvorderst gilt es jedoch eine terminologische Klarstellung zu treffen, die die Beschreibung des Netzwerkphänomens in diesem Bereich erleichtern sollen.

II. Der Begriff des „Practitioner Networks“ i. S. d. EU-Kommission Ungeachtet der Frage, ob dem Netzwerkbegriff im unionsrechtlichen Kontext lediglich deskriptiver oder auch normativer Gehalt zukommt, ist die Herausbildung einer homogenen Terminologie für den rechtswissenschaftlichen Diskurs bis heute nicht gelungen; stattdessen finden in der Literatur viele verschiedene Begriffe Verwendung, die eine strukturierte Auseinandersetzung mit der Materie erschweren: Transnationale Netzwerke (engl.: transnational networks181), Behördennetzwerke (engl.: administrative networks182), transnationale Behördennetzwerke (engl.: transnational administrative networks183), transgouvernementale Netzwerke (engl.: transgovernmental networks184), Regulierungsnetzwerke (engl.: regulatory networks185), Vollzugsnetzwerke186 (engl.: implementing networks187), Expertennetzwerke188, Informationsnetzwerke (engl.: information networks189) und Durchsetzungsnetzwerke (engl.: enforcement networks190) sind nur einige Beispiele.191

181  Vgl. etwa: Bach/Francesco/Maggetti/Ruffing, Public Administration 2016, 9 ff.; Eberlein/Grande, JIPP 2005, 89 (89 ff.); Martens, JEI 2008, 635 (635 ff.). 182  Vgl. etwa: Martens, Scandinavian Political Studies 2008, 27 (27 ff.); Saurer, EJRR 2011, 51 (51 ff.). 183  Vgl. etwa: Bach/Francesco/Maggetti/Ruffing, Public Administration 2016, 9 (9 ff.). 184  Vgl. etwa: Eberlein/Newman, Governance 2008, 25 (25 ff.); Hobolth/Martinsen, JEPP 2013, 1406 (1406 ff.); Hollis, Cooperation and Conflict 2010, 312 (312 ff.); Raustiala, VJIL 2002, 1 (1 ff.). 185  Vgl. etwa: van Boetzelaer/Princen, JCMS 2012, 819 (819 ff.); Kelemen/Tarrant, Regulation & Governance 2017, 213 (213 ff.); Maggetti, EJPR 2014, 480 (480 ff.); Maggetti/Gilardi, JEPP 2014, 1293 (1293 ff.); Yesilkagit, JEPP 2011, 962 (962 ff.). 186  Vgl. etwa: Kahl, in: Holoubek/Lang, Verfahren der Zusammenarbeit von Verwaltungsbehörden in Europa, 2012, S. 35 ff. 187  Vgl. etwa: Mastenbroek/Martinsen, JEPP 2018, 422 (422). 188  Sydow, Verwaltungskooperation in der EU, 2004, S. 79, 83 ff. 189  Slaughter, A New World Order, 2004, S. 52 ff. 190  Pink, in: Faure/De Smedt/Stat, Environmental Enforcement Networks, 2015, S.  153 ff.; Slaughter, A New World Order, 2004, S. 55 ff. 191  Zur heterogenen Terminologie in der rechtswissenschaftlichen Literatur auch: Mastenbroek/Martinsen, JEPP 2018, 422 (423).

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3. Teil: Netzwerke im Bereich der Vollzugskontrolle

Soweit die Kommission in ihrem Aktionsplan 2018 im Zusammenhang mit ihren Compliance Promotion Bemühungen selbst von Netzwerken spricht, verwendet sie den in der Rechtswissenschaft bisher unbelegten Begriff des Practitioner Networks192. Bezeichnet werden damit solche Netzwerkstrukturen, die die Zusammenarbeit bestimmter, im Alltag für den Umweltrechtsvollzug verantwortlicher Berufsgruppen – namentlich Behörden-, Inspektions- und Polizeipersonal, Staatsanwalt- und Richterschaft – forcieren.193 Der netzwerktypische Inklusionsaspekt bleibt dabei hinter seinen Möglichkeiten zurück. Spricht die Kommission von Practitioner Networks, bezieht sie sich nur auf solche Organisationsformen, die sich aus nationalen und europäischen Hoheitsträgern zusammensetzen.194 Private Akteure werden gegebenenfalls in einzelne Projekte und Aktivitäten einbezogen, zum festen Mitgliederbestand gehören sie in der Regel aber nicht. In organisatorischer Hinsicht bilden die von der Kommission als Practitioner Networks benannten Strukturen eine Teilmenge der im Rahmen dieser Arbeit bereits angesprochenen Behördennetzwerke. Hierbei handelt es sich per Definition Schmidt-Aßmanns um „Formen verdichteter und verstetigter Zusammenarbeit zwischen Hoheitsträgern, oft durch elektronische Vernetzung unterstützt“.195 Eine Gleichsetzung beider Termini wäre dennoch verfehlt. Während die allgemeine Qualifizierung einer Kooperationsform als Behördennetzwerk keine Aussage darüber trifft, ob sich ein Netzwerk aus Hoheitsträgern verschiedener oder identischer Fach- und Verantwortungsbereiche zusammensetzt oder welche Ziele im funktionalen Kollektiv verfolgt werden, verwendet die Kommission den Begriff des Practitioner Networks konkreter. Demnach sind Practitioner Networks zwar Behördennetzwerke, gemeint sind allerdings nur solche Behördennetzwerke, die sich aus Hoheitsträgern jeweils einer bestimmten Berufsgruppe zusammensetzen und darauf gerichtet sind, den Vollzug des EU-Umweltrechts in den Mitgliedstaaten zu unterstützen. Aus Gründen der Darstellung bietet es sich an, die in der Netzwerkdiskussion bestehenden terminologischen Ungereimtheiten im Folgen192  KOM, Mitteilung an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen – Aktionsplan der EU für einen besseren Vollzug des Umweltrechts und eine bessere Umweltordnungspolitik, 18.1.2018, COM(2018) 10 final, S. 4; als Professional Networks bezeichnet hingegen in: KOM, Commission Decision of 18.1.2018: setting up a group of experts on environmental compliance and governance, 18.1.2018, C(2018) 10 final. 193  KOM, Mitteilung an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen – Aktionsplan der EU für einen besseren Vollzug des Umweltrechts und eine bessere Umweltordnungspolitik, 18.1.2018, COM(2018) 10 final, S. 5. 194  Mastenbroek/Martinsen, JEPP 2018, 422 (423 f.). 195  Schmidt-Aßmann, in: Hofmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle, G ­ rundlagen des Verwaltungsrechts Bd. I, 2. Auflage 2012, § 5 Rn. 26.



B. Netzwerke im Bereich Compliance Promotion281

den zu umgehen und den von der Kommission verwendeten Begriff aufzugreifen, um die im Umweltsektor zur Verwirklichung des Compliance-Promotion-Ansatzes beitragenden Netzwerke unter einer gemeinsamen Oberbezeichnung beschreiben zu können. In funktionaler Hinsicht sind die von der Kommission als Practitioner Networks bezeichneten Kooperationsstrukturen zuallererst Informationsnetzwerke196, die gebildet werden, um den Grenz und Ebenen übergreifenden Austausch von Informationen, Praxiserfahrungen und Fachkenntnissen in verschiedenen Bereichen der EU-Umweltpolitik zu verbessern.197 Da der effektive Vollzug unionsrechtlicher Vorgaben ganz entscheidend vom Vorhandensein gesicherter Informationsgrundlagen abhängt,198 lassen sich die Einrichtung, Unterhaltung und Förderung solcher Netzwerke ohne Zweifel als Maßnahmen mit vollzugsunterstützendem Wert qualifizieren.199

III. Practitioner Networks im Bereich der EU-Umweltpolitik Unter den Politikbereichen der EU zählt der Umweltsektor zu den wohl am stärksten vernetzten Sektoren.200 Die Netzwerkidee ist hier mittlerweile seit mehr als 30 Jahren präsent.201 Bereits 1990 schlug die Kommission im Rahmen ihres Green Papers in the Urban Environment202 den Aufbau partnerschaftlicher Kooperationsbeziehungen zwischen europäischen und nationalen Akteuren in Netzwerken und Subnetzwerken als Maßnahmen vor, u. a. um an vergleichbares Datenmaterial über den Umweltzustand im städtischen Raum zu gelangen, den Dialog mit Bürgerinnen und Bürgern, Unternehmen und sonstigen NGOs anzuregen und die interregionale Kooperation zwischen 196  Im EU-Sekundärrecht auch „Informationsnetze“: vgl. Art. 1 I Verordnung (EG) NR. 1217/2009 des Rates vom 30. November 2009 zur Bildung eines Informa­ tionsnetzes landwirtschaftlicher Buchführungen über die Einkommenslage und die betriebswirtschaftlichen Verhältnisse landwirtschaftlicher Betriebe in der Europäischen Gemeinschaft, ABl. 2009, Nr. L 328, S. 27 ff. 197  Schwind, Netzwerke im Europäischen Verwaltungsrecht, 2017, S. 167. 198  Sommer, in: Schmidt-Aßmann/Schöndorf-Haubold, Der Europäische Verwaltungsverbund, 2005, S. 58. 199  Ähnlich: Schwind, Netzwerke im Europäischen Verwaltungsrecht, 2017, S.  171 f. 200  Levi-Faur, JEPP 2011, 810 (823); Migliorati, The Commission as a network administrator in EU multi-level governance?, TARN Working Paper 6/2017, S. 4. 201  Pink, Environmental Enforcement Networks: A Qualitative Analysis, 2010, S. 2, abrufbar unter: https://papers.ssrn.com/sol3/Delivery.cfm/SSRN_ID1821042_ code1245760.pdf?abstractid=1803179&mirid=1 (Stand: 14.2.2023). 202  Zur Entstehung und Entwicklung im Detail: Ward/Williams, JCMS 1997, 440 (447 ff.).

282

3. Teil: Netzwerke im Bereich der Vollzugskontrolle

Behörden zu stärken.203 Zwar hatte die Initiative mit negativen Einflüssen zu kämpfen, zu denen neben Kompetenzstreitigkeiten zwischen Kommission und Mitgliedstaaten auch intrainstitutionelle macht- und budgetpolitische Auseinandersetzungen unter den Generaldirektionen der Kommission gehörten. Dennoch wurden 1997 ganze 28 Netzwerke und Kooperationsprojekte mit Bezug zum Umweltzustand im städtischen Raum gezählt, an denen insgesamt 228 Städte aus ganz Europa beteiligt waren.204 Heute existieren Netzwerke, die es sich zum Ziel gesetzt haben, die Durchführung umweltrechtlicher Vorgaben zu verbessern, in allen Größenordnungen auf staatlicher, staatenübergreifender und sogar globaler Ebene. Vorreiter dieser Entwicklung war das Internationale Netzwerk für die Einhaltung und Durchsetzung von Umweltvorschriften (engl.: International Network for Environmental Compliance; INECE), das 1989 als bilaterales Austauschverhältnis zwischen der US-Umweltschutzagentur (engl.: Environmental Protection Agency; EPA) und dem niederländischen Umweltministerium gegründet wurde205 und mittlerweile eine Gemeinschaft von mehr als 4.000 Experten aus über 150 Staaten umfasst, die in internationalen Organisationen, Regierungen, Forschungseinrichtungen, den Medien und NGOs tätig sind.206 Als Impulsgeber für die Herausbildung zahlreicher Umweltnetzwerke, lieferte bereits die erste internationale INECE-Konferenz in Utrecht die In­ spiration zur Gründung des IMPEL-Netzwerks, das wiederum in vielen Weltregionen zum Vorbild für die Errichtung eigener Netzwerke genommen wurde,207 etwa für das Arab Network for Environmental Compliance and Enforcement (ANECE),208 das Australasian Environmental Law Enforcement and Regulators Network (AELERT),209 das Asian Environmental Compliance 203  Vgl. Ziff. 5.9, 5.10 und 5.12 in: KOM, Green paper on the Urban Environment: Communication from the Commission to the Council and the Parliament, 27.6.1990, COM(1990) 218 final, S. 52 ff. 204  Ward/Williams, JCMS 1997, 440 (452 ff.). 205  Farmer, Hdb. of Environmental Protection and Enforcement, 2007, S. 249. 206  INECE Secretariat, About, o. D., https://inece.org/about/ (Stand: 14.2.2023); Farmer, Hdb. of Environmental Protection and Enforcement, 2007, S. 249 f.; Zaelke/ Markowitz/Koparova, in: Hale/Held, Hdb. of Transnational Governance, 2011, S. 96. 207  Zaelke/Markowitz/Koparova, in: Hale/Held, Hdb. of Transnational Governance, 2011, S. 99 ff. 208  Dazu: INECE Secretariat, Arab Network for Environmental Compliance and Enforcement (ANECE), o.  D., https://inece.org/about/networks/show/12 (Stand: 14.2.2023). 209  Dazu: INECE Secretariat, Australasian Environmental Law Enforcement and Regulators Network (AELERT), o. D., https://inece.org/about/networks/show/9 (Stand: 14.2.2023); zur Website: https://www.aelert.net/ (Stand: 14.2.2023).



B. Netzwerke im Bereich Compliance Promotion283

and Enforcement Network (AECEN),210 das Regulatory Environmental Programme Implementation Network in Osteuropa, Kaukasus und Zentralasien (REPIN),211 die Commission for Environmental Cooperation in Nordamerika (CEC),212 die Comisión Centroamericana de Ambiente y Desarollo in Zen­ tralamerika (CCAD),213 das East African Network for Environmental Com­ pliance and Enforcement (EANECE),214 das Red Latinoamericana de Fis­ calización y Cumplimiento Ambiental (REDLAFICA)215 und das Maghreb Enforcement Network (NECEMA)216.217 1. IMPEL: Der Prototyp IMPEL wurde als Experten-Forum für den Erfahrungs- und Informationsaustausch in Fragen des praktischen Vollzugs umweltrechtlicher Vorgaben konzipiert.218 Bereits 1997 erkannte der Rat das IMPEL-Netzwerk im Rahmen seiner Entschließung zur Formulierung, Durchführung und Durchsetzung des Umweltrechts der Gemeinschaft als „sehr nützliches informelles Instrument für die Verbesse­rung der Durchführung, der Inspektion und der Durchsetzung“219 an und forderte die Mitgliedstaaten auf, ihre Zusammenar210  Dazu: Farmer, Hdb. of Environmental Protection & Enforcement, 2007, S.  257 ff.; INECE Secretariat, Asian Environmental Compliance and Enforcement Network (AECEN), o. D., https://inece.org/about/networks/show/8 (Stand: 14.2.2023); zur Website http://aecen.atspace.com/ (Stand: 14.2.2023). 211  Dazu: Farmer, Hdb. of Environmental Protection & Enforcement, 2007, S. 259 f.; zur Website: http://www.oecd.org (Stand: 14.2.2023). 212  Dazu: Farmer, Hdb. of Environmental Protection & Enforcement, 2007, S.  255 ff.; zur Website: http://www.cec.org (Stand: 14.2.2023). 213  Zur Website: https://www.sica.int/ccad/breve.aspx (Stand: 14.2.2023). 214  Dazu: INECE Secretariat, East African Network for Environmental Compliance and Enforcement (EANECE), o. D., https://inece.org/about/networks/show/3 (Stand: 14.2.2023); zur Website: https://eanece.org/ (Stand: 14.2.2023). 215  INECE Secretariat, Red Latinoamericana de Fiscalización y Cumplimiento Ambiental (REDLAFICA), o.  D., https://inece.org/about/networks/show/7 (Stand: 14.2.2023); zur Website: http://www.redlafica.org/ (Stand: 14.2.2023). 216  Farmer, Hdb. of Environmental Protection & Enforcement, 2007, S. 260 f. 217  Weitere nationale und internationale Umweltnetzwerke, vgl. die Aufzählung, in: Pink, in: Faure/De Smedt/Stas, Environmental Enforcement Networks, 2015, S.  xiv ff. 218  KOM, Progress Report from the Commission on the implementation of the European Community programme of policy and action in relation to the environment and sustainable development „Towards Sustainability“, 10.01.1996, COM(95) 624 final; IMPEL, IMPEL-TFS Conference 2007 Report, 21.–23.3.2007, S. 3. 219  Ziff. 19 der Entschließung des Rates vom Oktober1997 zur Formulierung, Durchführung und Durchsetzung des Umweltrechts der Gemeinschaft, ABl. 1997, Nr. C 321, S. 1 ff.

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3. Teil: Netzwerke im Bereich der Vollzugskontrolle

beit zur Bekämpfung illegaler Praktiken mit grenzüberschreitenden Umweltfolgen u. a. durch die Förderung von IMPEL-Initiativen zu intensivieren.220 Heute gilt IMPEL als eines der weitreichendsten Netzwerke mit größter Bedeutung für den EU-Umweltrechtsvollzug221 – eine Stellung, die nicht zuletzt dadurch gestärkt wurde, dass die Verbesserung des Informationsaustauschs über bewährte Verfahren mit Hilfe des IMPEL-Netzwerks auch im 6. (2002– 2012)222 und 7. (2014–2020)223 Umweltaktionsprogramm ausdrücklich als Maßnahme zur Erreichung der in den Programmen beschriebenen Ziele genannt und der Unterstützungswert des Netzwerks somit formal anerkannt wurde.224 IMPEL ist ein Netzwerk nationaler Vollzugspraktiker*innen, das sich aus Vertretern staatlicher Verwaltungen zusammensetzt. Im Gegensatz zu anderen Netzwerken, wie etwa dem von der EUA koordinierten EIONET, handelt es sich bei IMPEL gerade nicht um eine unionsgetragene Kooperationsstruktur, sondern um eine Vereinigung außerhalb des organisatorischen Rahmens der EU.225 Trägergesellschaft des Netzwerks ist keine EU-Institution, sondern die IMPEL a.i.s.b.l. (franz.: Associacion internationale sans but lucrativ)226 – eine privatrechtliche, nach belgischem Recht eingetragene, gemeinnützige Vereinigung mit Sitz in Brüssel.227

220  Ziff. 18 der Entschließung des Rates vom Oktober1997 zur Formulierung, Durchführung und Durchsetzung des Umweltrechts der Gemeinschaft, ABl. 1997, Nr. C 321, S. 1 ff. 221  Angelov/Cashman, in: Faure/De Smedt/Stas, Environmental Enforcement Networks, 2015, S. 371; Saurer, EurUP 2016, 78 (86). 222  Beschluss Nr. 1600/2002/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Juli 2002 über das sechste Umweltaktionsprogramm der Europäischen Gemeinschaft, ABl. 2002, Nr. L 242, S. 1 ff. 223  Beschluss Nr. 1386/2013/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. November 2013 über ein allgemeines Umweltaktionsprogramm der Union für die Zeit bis 2020 „Gut leben innerhalb der Belastbarkeitsgrenzen unseres Planeten“, ABl. 2013, Nr. L 354, S. 171 ff. 224  Hedemann-Robinson, Enforcement of European Union Environmental Law: Legal Issues and Challenges, 2. Edition 2015, S. 549. 225  Scherer/Heselhaus, in: Dauses/Ludwigs, Hdb. des EU-Wirtschaftsrechts, 53. EL 2021, O. Rn. 204. 226  Schwind, Netzwerke im Europäischen Verwaltungsrecht, 2017, S. 174. 227  IMPEL, About IMPEL, o.  D., https://www.impel.eu/en/about-impel (Stand: 14.2.2023); Migliorati, The Commission as a network administrator in EU multi-level governance?, TARN Working Paper 6/2017, S. 1.



B. Netzwerke im Bereich Compliance Promotion285

a) Grundlagen: Von Chester nach Brüssel Die Idee eines Netzwerkes zur Unterstützung des EU-Umweltrechtsvollzugs entstand zu Beginn der 1990er-Jahre. 1991 ergab eine unter niederländischer Ratspräsidentschaft durchgeführte Studie, dass dem Ausbau des Gesamtbestands europäischer Umweltrechtsakte eine Stagnation des Qualitätsniveaus in der Vollzugspraxis gegenüberstehe.228 Daraufhin wurde 1992 auf einer Tagung der Umweltminister in Chester das Network of EC Environmental Enforcement Agencies gegründet, das erstmals unter dem Vorsitz des Vereinigten Königreichs zusammentrat und im Folgenden als Chester-Netzwerk bezeichnet wurde.229 Als 1993 im 5. Umweltaktionsprogramm (1992–2000)230 der damaligen EG ein vollzugsförderndes Netz zum Zweck des Informations- und Erfahrungsaustauschs angekündigt wurde, bestand zunächst Uneinigkeit darüber, ob das bereits bestehende Chester-Netzwerk diese Rolle übernehmen könne.231 Diskutiert wurde vor allem darüber, ob seine Organisationsstruktur der Konzeption des im 5. Umweltaktionsprogramm skizzierten Netzwerks, das aus der Kommission sowie aus Vertretern mitgliedstaatlicher Behörden bestehen und durch die Kommission überwacht werden sollte, genügen könne. Speziell die Kommission, die die Einrichtung eines europäischen Umweltinspektorats mit eigenen Kompetenzen bevorzugt hätte, stand der Tauglichkeit des Chester-Netzwerks zunächst skeptisch gegenüber.232 Mochte das ChesterNetzwerk bei seiner Gründung noch als rein intergouvernementaler Zusammenschluss, ohne direkten Bezug zu europäischen Akteuren gedacht gewesen sein,233 wurde nun zunehmend die Zusammenarbeit mit der supranationalen 228  Farmer, Hdb. of Environmental Protection and Enforcement, 2007, S. 252; IMPEL, History of IMPEL – Collaborating across Europe to achieve a better environment, o. D., S. 1, abrufbar unter: https://www.impel-network.eu/wp-content/uploads/ 2015/07/History-of-IMPEL.pdf (Stand: 14.2.2023); Shears, elni 2005, 8 (8). 229  KOM, Mitteilung, Durchführung des Umweltrechts in der Gemeinschaft, 22.10.1996, KOM(96) 500 endg., S. 23; Migliorati, The Commission as a network administrator in EU multi-level governance?, TARN Working Paper 6/2017, S. 5; Shears, elni 2005, 8 (8). 230  5. Umweltaktionsprogramm, Ein Programm der Europäischen Gemeinschaft für Umweltpolitik und Maßnahmen im Hinblick auf eine dauerhafte und umweltgerechte Entwicklung, ABl. 1993, Nr. C 138, S. 80. 231  IMPEL, History of IMPEL – Collaborating across Europe to achieve a better environment, o. D., S. 1, abrufbar unter: https://www.impel-network.eu/wp-content/ uploads/2015/07/History-of-IMPEL.pdf (Stand: 14.2.2023). 232  Hedemann-Robinson, Enforcement of European Union Environmental Law: Legal Issues and Challenges, 2. Edition 2015, S. 547. 233  Migliorati, The Commission as a network administrator in EU multi-level governance?, TARN Working Paper 6/2017, S. 5.

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3. Teil: Netzwerke im Bereich der Vollzugskontrolle

Ebene forciert, die Stellung der Kommission im Netzwerk gestärkt und sein Tätigkeitsfeld auf die europäischen Umweltziele abgestimmt. Bis 1996 konnten die Bedenken der Kommission zerstreut und das Chester-Netzwerk, nunmehr als IMPEL-Netzwerk i. S. d. 5. Umweltaktionsprogramms anerkannt werden.234 Seit der Gründung des IMPEL-Netzwerks sind mittlerweile mehr als 20 Jahre vergangen, in deren Verlauf die Netzwerktätigkeit vor allem auf Betreiben der Kommission fortlaufend ausgebaut und gefördert wurde.235 Einen wichtigen Wegpunkt markierte die Gründung der Trägergesellschaft IMPEL a.i.s.b.l., durch die das bis dato rein informelle Netzwerk organisatorische Selbstständigkeit erlangte.236 Während sich die Arbeitsgruppen des Chester-Netzwerks 1992 noch allesamt mit den technischen, rechtlichen und prozeduralen Aspekten der Anlagengenehmigung befassten,237 arbeiten heute fünf Expertenteams an Projekten in verschiedenen Umweltthemenbereichen.238 Um der kontinuierlichen Erweiterung des Netzwerks gerecht zu werden, wurde IMPEL bereits mehrfach organisatorisch restrukturiert, zuletzt 2014 in Folge der Vereinbarung über eine neue strategische Richtung für IMPEL.239 Die allgemeine Zielsetzung des Netzwerks blieb dagegen seit seiner Gründung weitgehend unverändert. So trifft die Beschreibung, die die Kommission bereits 1996 im Rahmen ihrer Mitteilung über die Durchführung des Umweltrechts in der Gemeinschaft vorgenommen hat, im Kern auch heute noch zu. Die umfassende Aufgabe von IMPEL bestehe demnach darin, sich mit der Anwendung und Kontrolle des Umweltrechts zu befassen, darunter vor allem mit der Frage, wie sichergestellt werden könne, dass europäische Umweltvorgaben von nationalen, regionalen und lokalen Behörden besser 234  KOM, Progress Report on the implementation of the European Community programme of policy and action in relation to the environment and sustainable development „Towards Sustainability“, 10.01.1996, COM(95) 624 final. 235  Migliorati, The Commission as a network administrator in EU multi-level governance?, TARN Working Paper 6/2017, S. 9. 236  IMPEL, About IMPEL, o.  D., https://www.impel.eu/en/about-impel (Stand: 14.2.2023). 237  Sach/Simm, in: Rengeling, Hdb. zum europäischen und deutschen Umweltrecht, Bd. I, 2. Auflage 2003, § 44 Rn. 69; Sommer, Verwaltungskooperation am Beispiel administrativer Informationsverfahren im Europäischen Umweltrecht, 2003, S. 250. 238  Die fünf Expertenteams arbeiten in den Bereichen „Industrie und Luft“, „Abfall und grenzüberschreitende Abfallverbringung“, „Wasser und Land“, „Naturschutz“ und „Cross-cutting-tools“. 239  IMPEL, Better implementation for the future – a new strategic direction for IMPEL, 5.8.2014, S. 1; abrufbar unter: https://www.impel-network.eu/wp-content/ uploads/2014/08/New-Strategic-Direction-for-IMPEL.pdf (Stand: 14.2.2023).



B. Netzwerke im Bereich Compliance Promotion287

durchgeführt werden; in diesem Zusammenhang könne IMPEL sowohl die Zusammenarbeit zwischen der Kommission und den Mitgliedstaaten als auch die interne Koordinierung zwischen verschiedenen staatlichen Durchsetzungseinrichtungen verbessern.240 Bis heute hat sich IMPEL zu einer zentralen Beratungsinstitution für nationale Behörden, die Kommission und andere EU-Institutionen entwickelt.241 Seinen Mitgliedern bietet das Netzwerk weitreichende Möglichkeiten, Schwierigkeiten beim Vollzug des EU-Umweltrechts mit Praktiker*innen aus anderen Staaten jenseits bürokratischer Hindernisse zu diskutieren und gemeinsame Lösungen für spezifische Probleme zu erarbeiten. Im Zentrum der Netzwerkaktivität stehen vorwiegend Projekte, die darauf abzielen, ein gemeinsames, grenzüberschreitendes Bewusstsein für die Bedeutung des Umweltrechtsvollzugs aufzubauen, Informationen und Praxiserfahrungen auszutauschen, Fachwissen zu vermitteln, Vollzugskapazitäten zu bündeln und gute Vollzugspraktiken zu verbreiten.242 Das Arbeitsfeld des Netzwerks beschränkt sich dabei auf die Vollzugsebene, politische Entscheidungen bleiben den dafür zuständigen Hoheitsträgern der EU und der Mitgliedstaaten überlassen.243 b) Aufbau und Funktionsweise Das IMPEL-Netzwerk wird in der Rechtswissenschaft als Prototyp umweltpolitischer Netzwerkkooperation angesehen.244 Als typische Netzwerkstruktur bildet es eine heterarchisch gebaute, polyzentrische Struktur, die verschiedene, für sich genommen selbstständige Akteure zu einer funktionalen Einheit verkoppelt. Den Rahmen dieser funktionalen Einheit bildet die privatrechtliche NGO IMPEL a.i.s.b.l., in deren Organisation ein multilateral vernetztes Geflecht aus Vertretern nationaler Verwaltungen eingegliedert ist.245 240  KOM, Mitteilung, Durchführung des Umweltrechts in der Gemeinschaft vom 22.10.1996, KOM(96) 500 endg., S. 23 f. 241  BMUV, IMPEL, 25.6.2020, https://www.bmuv.de/themen/europa-internationa les/europa/eu-recht/impel (Stand: 14.2.2023). 242  IMPEL, About IMPEL, o.  D., https://www.impel.eu/en/about-impel (Stand: 14.2.2023). 243  IMPEL, IMPEL’s Multi Annual Strategic Work Programme 2016–2020, 25.4.2016, S. 4, abrufbar unter: https://www.impel-network.eu/wp-content/uploads/ 2014/11/IMPEL-Strategic-Work-Programme-2016-to-2020-Final-29-April-2016.pdf (Stand: 14.2.2023). 244  Sommer, Verwaltungskooperation am Beispiel administrativer Informationsverfahren im Europäischen Umweltrecht, 2003, S. 250. 245  Schwind, Netzwerke im Europäischen Verwaltungsrecht, 2017, S. 176.

288

3. Teil: Netzwerke im Bereich der Vollzugskontrolle

aa) Die IMPEL a.i.s.b.l. Die IMPEL a.i.s.b.l. ist als Trägergesellschaft des IMPEL-Netzwerks für dessen Leitung und Koordination verantwortlich. Sie setzt sich aus verschiedenen Organen und Organisationseinheiten zusammen, denen neben der Aufgabe, die politische und strategische Fortentwicklung von IMPEL als Beratungs- und Kooperationsinstitution im europäischen Raum zu dirigieren, vor allem Verwaltungsaufgaben zufallen. Wesentliche Organisationseinheiten der IMPEL a.i.s.b.l. sind die Generalversammlung (engl.: General Assembly), der Vorstand (engl.: Board) sowie fünf Expertenteams mit unterschiedlichem umweltpolitischem Zuschnitt, die allesamt durch die Kommunikationsgruppe und das Sekretariat unterstützt werden (Abbildung 10). Ihre personellen Ressourcen bestehen überwiegend aus temporär zur Verfügung gestellten Mitarbeiter*innen der Mitgliederorganisationen des IMPEL-Netzwerks.246

Kommunikationsgruppe

Sekretariat

Generalversammlung

Vorstand

Expertenteams

Industrie und Luft

Abfall und grenzüberschreitende Abfallverbringung

Wasser und Land

Naturschutz

Übergreifende Instrumente

Abbildung 10: Organisationsstruktur der IMPEL a.i.s.b.l.247

246  IMPEL, IMPEL’s Multi Annual Strategic Work Programme 2016–2020, 25.4.2016, S. 6, abrufbar unter: https://www.impel-network.eu/wp-content/uploads/ 2014/11/IMPEL-Strategic-Work-Programme-2016-to-2020-Final-29-April-2016.pdf (Stand: 14.2.2023). 247  Grafik in eigener Darstellung, in Anlehnung an: IMPEL, Organization, o. D., http://impel-network.eu/wp-content/uploads/2014/11/impel_4-2.jpg (Stand: 14.2.2023).



B. Netzwerke im Bereich Compliance Promotion289

(1) Die Generalversammlung Die Generalversammlung stellt die höchste Autorität der IMPEL a.i.s.b.l. und damit auch des IMPEL-Netzwerks dar. Sie bestimmt den politischen Kurs,248 berät und entscheidet über die Aufnahme neuer Netzwerkmitglieder,249 das Budget für das jährliche Aktionsprogramm, Projektvorschläge und Projektberichte. Personell setzt sich die Generalversammlung aus sog. IMPEL-­ Koordinatoren zusammen, die von den Netzwerk-Mitgliedern eines jeden Staates als Repräsentanten bestimmt werden.250 Sie tritt regelmäßig einmal pro Jahr zusammen.251 (2) Der Vorstand Der Vorstand trägt als Exekutivorgan die Verantwortung für die Imple­ mentation der Beschlüsse der Generalversammlung in den Arbeitsalltag des ­IMPEL-Netzwerks. Weiterhin verwaltet er das von der Generalversammlung bewilligte Budget und lokalisiert Bereiche, in denen zusätzliche Mittel benötigt werden. Darüber hinaus pflegt er Beziehungen zu netzwerkexternen Interessengruppen und Akteuren. Gegenwärtig besteht der Vorstand aus acht Mitgliedern: Dem Vorstandsvorsitzenden, seinem Stellvertreter, den Teamleitern der fünf Expertengruppen sowie dem Manager des IMPEL-Sekreta­ riats.252 (3) Expertenteams Die IMPEL-Expertenteams umfassen fünf umweltpolitische Themenbereiche, in denen das Netzwerk derzeit aktiv ist. Diese Teamstruktur löste zu Beginn des Arbeitszeitraums (2016–2020) das bisherige Zwei-Cluster-System ab, in dessen Rahmen sich „Cluster I“ (Genehmigung, Inspektion und Durch248  IMPEL, IMPEL’s Multi Annual Strategic Work Programme 2016–2020, 25.4.2016, S. 1, abrufbar unter: https://www.impel-network.eu/wp-content/uploads/ 2014/11/IMPEL-Strategic-Work-Programme-2016-to-2020-Final-29-April-2016.pdf (Stand: 14.2.2023). 249  IMPEL, Becoming a member, o.  D., https://www.impel.eu/en/about-impel/be coming-a-member (Stand: 14.2.2023). 250  IMPEL, Organization, o. D., https://www.impel.eu/en/about-impel/organization (Stand: 14.2.2023). 251  IMPEL, Better implementation for the future – a new strategic direction for IMPEL, 5.8.2014, S. 4, abrufbar unter: https://www.impel-network.eu/wp-content/ uploads/2014/08/New-Strategic-Direction-for-IMPEL.pdf (Stand: 14.2.2023). 252  IMPEL, Organization, o. D., https://www.impel.eu/en/about-impel/organization (Stand: 14.2.2023).

290

3. Teil: Netzwerke im Bereich der Vollzugskontrolle

setzung) mit den rechtlichen, praktischen und technischen Bedingungen einer verbesserten Implementation umweltrechtlicher Vorgaben befasste, während „Cluster TSF“ die Durchführung abfallrechtlicher Bestimmungen, insbesondere der Verordnung über die Verbringung von Abfällen (EG) Nr. 1013/2006253 zum Gegenstand hatte.254 Den aktuell fünf Expertenteams kommt die Aufgabe zu, im Rahmen von Projekten Ansätze und Maßnahmen zu entwickeln, die dazu beitragen sollen, Vollzugsdefizite im Umweltbereich zu verringern. Projekte werden von Teamleitern organisiert und von einer themenübergreifenden Programm-Management-Gruppe in einen einzigen, dem Budgetrahmen entsprechenden, nach Prioritäten geordneten Programmvorschlag eingearbeitet, der der Generalversammlung zur Entscheidung vorgelegt wird.255 Innerhalb des jeweiligen Arbeitsbereichs werden laufende Projekte beobachtet und die Qualität ihrer Resultate evaluiert.256 Die fünf IMPEL-Expertenteams umfassen die Themenbereiche: Industrie und Luft257, Abfall und grenzüberschreitende Abfallverbringung258, Wasser und Land259, Naturschutz260 und Cross Cutting Tools. Während die ersten 253  Verordnung (EG) Nr. 1013/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 14. Juni 2006 über die Verbringung von Abfällen, ABl. 2006, Nr. L 190, S. 1 ff. 254  Hedemann-Robinson, Enforcement of European Union Environmental Law: Legal Issues and Challenges, 2. Edition 2015, S. 551. 255  IMPEL, Better Implementation for the Future – a new strategic direction for IMPEL, 5.8.2014, S. 3, abrufbar unter: https://www.impel-network.eu/wp-content/ uploads/2014/08/New-Strategic-Direction-for-IMPEL.pdf (Stand: 14.2.2023). 256  IMPEL, Organization, o. D., https://www.impel.eu/en/about-impel/organization (Stand: 14.2.2023); IMPEL, Better implementation for the future – a new strategic direction for IMPEL, 5.8.2014, S. 2, abrufbar unter: https://www.impel-network.eu/ wp-content/uploads/2014/08/New-Strategic-Direction-for-IMPEL.pdf (Stand: 14.2. 2023). 257  Das Expertenteam Industrie und Luft befasst sich insbesondere mit der Umsetzung und Durchsetzung der Industrieemissionsrichtlinie (2010/75/EU), der Luftqualitätsrichtlinie (2008/50/EG) und der Seveso III-Richtlinie (2012/18/EU) über die Beherrschung der Gefahren schwerer Unfälle mit gefährlichen Stoffen, vgl. IMPEL, Industry and air, o. D., https://www.impel.eu/en/expert-teams/industry-and-air, (Stand: 14.2.2023). 258  Das Expertenteam Abfall und grenzüberschreitende Abfallverbringung befasst sich mit der praktischen Implementation des internationalen und europäischen Abfallrechts, konkret mit der europäischen Verordnung über die Verbringung von Abfällen (Nr. 1013/2006), der Abfallrahmenrichtlinie (2008/98/EG), der Richtlinie über Elek­ tronik- und Altgeräte (2012/19/EU) und der Abfalldeponierichtlinie (1999/31/EG), vgl. IMPEL, Waste and TFS, o. D., https://www.impel.eu/en/expert-teams/waste-andtfs (Stand: 14.2.2023). 259  Das Expertenteam Wasser und Land befasst sich mit den Konsequenzen rücksichtsloser Land- und Bodennutzung und den Gefahren für die Qualität der Fluss-, See- und Grundwasserressourcen. Im Zentrum vollzugsfördernder Aktivitäten stehen



B. Netzwerke im Bereich Compliance Promotion291

vier Expertenteams jeweils für einen spezifischen Umweltbereich verantwortlich sind, arbeitet das Team Cross Cutting Tools sektorübergreifend an der Entwicklung neuer Strategien, Instrumente und sonstiger (technischer) Hilfsmittel, die einerseits die Implementationsbemühungen möglichst aller Netzwerk-Akteure in allen Umweltbereichen unterstützen,261 andererseits aber auch der Kommission dabei helfen sollen, neue Vollzugskontrollinstrumente auf EU-Ebene und in den Mitgliedstaaten zu etablieren.262 Die ­IMPEL-Expertenteams arbeiten im Rahmen ihrer Projekte mit einer Vielzahl netzwerkexterner Behörden, EU-Institutionen, NGOs oder auch anderen Netzwerken zusammen, darunter die EUA, das Europäische Büro für die integrierte Vermeidung und Verminderung der Umweltverschmutzung (engl.: European Integrated Pollution Prevention and Control Bureau; EIPPCB),263 das Umweltimplementationsnetzwerk der Beitrittsstaaten (engl.: Environmental Compliance and Enforcement Network for Accession; ECENA)264, ENPE265, EUFJE266, EnviCrimeNet267, Birdlife Europe268 oder der World Wide Fund for Nature (WWF)269.

Bemühungen um die Implementation der Wasserrahmenrichtlinie (2000/60/EG), der Nitratrichtlinie (91/676/EWG) und der Marinestrategie-Rahmenrichtlinie (2008/56/ EG), IMPEL, Water and land, o. D., https://www.impel.eu/en/expert-teams/water-andland (Stand: 14.2.2023). 260  Das Expertenteam Naturschutz befasst sich mit der Realisierung der EU-Biodiversitätsstrategie, insbesondere mit der vollständigen Umsetzung der VogelschutzRichtlinie (2009/147/EG), der Habitat-Richtlinie (92/43/EWG) sowie der Realisierung der „Roadmap towards Eliminatig Illegal Killing of Birds“ und des „Action Plan on Wildlife Trafficking“, vgl. IMPEL, Nature Protection, o. D., https://www.impel.eu/ en/expert-teams/nature-protection/ (Stand: 14.2.2023). 261  IMPEL, Cross-cutting tools and approaches, o.  D., https://www.impel.eu/en/ expert-teams/cross-cutting-tools-and-approaches (Stand: 14.2.2023). 262  IMPEL, IMPEL’s Multi Annual Strategic Work Programme 2016–2020, 25.4.2016, S. 20, abrufbar unter: https://www.impel-network.eu/wp-content/uploads/ 2014/11/IMPEL-Strategic-Work-Programme-2016-to-2020-Final-29-April-2016.pdf (Stand: 14.2.2023). 263  Zur Website: https://eippcb.jrc.ec.europa.eu/ (Stand: 14.2.2023). 264  Zur Website: http://ecena.rec.org/ (Stand: 14.2.2023). 265  Zur Website: https://www.environmentalprosecutors.eu/ (Stand: 14.2.2023). 266  Zur Website: https://www.eufje.org/ (Stand: 14.2.2023). 267  Zur Website: https://www.envicrimenet.eu/ (Stand: 14.2.2023). 268  Zur Website: https://www.birdlife.org/ (Stand: 14.2.2023). 269  Zur Website: https://www.worldwildlife.org/ (Stand: 14.2.2023).

292

3. Teil: Netzwerke im Bereich der Vollzugskontrolle

bb) Netzwerkmitglieder Innerhalb des organisatorischen Rahmens der IMPEL a.i.s.b.l. setzt sich das IMPEL-Netzwerk aus Vertretern nationaler Verwaltungen zusammen.270 Der Beitritt zum Netzwerk ist in keinem Rechtsakt vorgeschrieben, sondern erfolgt auf freiwilliger Basis. Seinen internen Statuten zufolge steht die Teilnahme allen staatlichen Stellen frei, die mit der Umsetzung, Anwendung oder Durchsetzung umweltrechtlicher Vorgaben befasst sind.271 In der Praxis gehören vorwiegend nationale Ministerien,272 teilweise aber auch regionale Behörden zu IMPEL.273 Der Inklusionsbereich des Netzwerks ist dabei weder an den EU-Mitgliedschaftsstatus gebunden noch territorial auf Organisationen, die innerhalb der EU tätig werden beschränkt. Auch Umweltbehörden aus EU-Beitrittskandidaten, Mitgliedstaaten des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR) und der Europäischen Freihandelszone (EFTA) sind im Netzwerk vertreten, darunter solche aus der ehemaligen Jugoslawischen Republik, Serbien, Albanien, Island, Mazedonien, Norwegen, der Schweiz sowie der Türkei.274 Gegenwärtig zählen über 55 Mitglieder aus 36 Staaten zu ­IMPEL.275 Weiterhin kooperiert das Netzwerk auch mit anderen internationalen und europäischen Einrichtungen, Organisationen und Netzwerken, wie dem Sekretariat des Basler Übereinkommens276, INECE277, der European Organization of Supreme Audit Institutions (EUROSAI)278, dem European Statistical Office (EUROSTAT)279, NEPA280 oder EIONET281. 270  Zur Übersicht aller Mitgliederorganisationen des IMPEL-Netzwerks: IMPEL, Members and Observers, o. D., https://www.impel-network.eu/about-impel/membersand-observers/ (Stand: 14.2.2023). 271  IMPEL, Becoming a member, o.  D., https://www.impel.eu/en/about-impel/be coming-a-member (Stand: 14.2.2023). 272  Deutscher Vertreter innerhalb des Netzwerks ist das sektorübergreifend zuständige Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz, BMUV, IMPEL, 25.6.2020, https://www.bmuv.de/themen/europa-in ternationales/europa/eu-recht/impel (Stand: 14.2.2023). 273  Z.  B. das Land Salzburg, die Agenzia Regionale per la Prozezione dell’Ambiente (APRA) Lombardia oder die Envoronmental Inspection Authority of the Basque Government. 274  IMPEL, Members and Observers, o. D., https://www.impel-network.eu/aboutimpel/members-and-observers/ (Stand: 14.2.2023). 275  IMPEL, About IMPEL, o.  D., https://www.impel.eu/en/about-impel (Stand: 14.2.2023). 276  Zur Webiste: http://www.basel.int/ (Stand: 14.2.2023). 277  Zur Website: https://www.inece.org/ (Stand: 14.2.2023). 278  Zur Website: https://www.eurosai.org/ (Stand: 14.2.2023). 279  Zur Website: http://ec.europa.eu/eurostat/de/home (Stand: 14.2.2023). 280  Zur Website: https://www.eionet.europa.eu/ (Stand: 14.2.2023).



B. Netzwerke im Bereich Compliance Promotion293

cc) Die Europäische Kommission (1) Das Verhältnis zwischen Kommission und IMPEL Um die Bedeutung des IMPEL-Netzwerks innerhalb der Compliance-Assurance-Strategie der Kommission begreifen zu können, muss geklärt werden, in welchem Verhältnis Kommission und Netzwerk zueinanderstehen. Die Beziehung zur Kommission hat sich seit der Gründung des ChesterNetzwerks 1992 stetig gewandelt. So wurde das Netzwerk zunächst als informelle Kooperationsstruktur auf rein zwischenstaatlicher Ebene, ganz ohne Beteiligung der Kommission ins Leben gerufen.282 Als es in Reaktion auf das 5. Umweltaktionsprogramm aber begann, seine Organisation und sein Mandat europäischen Anforderungen anzupassen, drängte die Kommission das Chester-Netzwerk zunehmend in ihre Sphäre.283 1994 ließ sie sich zunächst den geteilten Vorsitz in der Generalversammlung, gemeinsam mit jeweils dem Mitgliedstaat, der zugleich den Ratsvorsitz führte, einräumen.284 1997 wurde das IMPEL-Netzwerk mit einem eigenen Sekretariat ausgestattet, dessen Finanzierung und Betreuung die GD ENV übernahm.285 Etwa zur selben Zeit wurde die Kommission selbst als Mitglied in das Netzwerk eingegliedert.286

281  Vgl. Art. 3 III Verordnung (EG) Nr. 401/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. April 2009 über die Europäische Umweltagentur und das Europäische Umweltinformations- und Umweltbeobachtungsnetz, ABl. 2009, Nr. L 126, S.  13 ff. 282  Hedemann-Robinson, Enforcement of European Union Environmental Law: Legal Issues and Challenges, 2. Edition 2015, S. 548 f.; Martens, Scandinavian Political Studies 2008, 27 (33); Sach/Simm, in: Rengeling, Hdb. zum europäischen und deutschen Umweltrecht, Bd. I, 2. Auflage 2003, § 44 Rn. 68. 283  Migliorati, The Commission as a network administrator in EU multi-level governance?, TARN Working Paper 6/2017, S. 7. 284  KOM, Mitteilung, Durchführung des Umweltrechts in der Gemeinschaft, 22.10.1996, KOM(96) 500 endg., S. 23; IMPEL, History of IMPEL – Collaborating across Europe to achieve a better environment, o. D., S. 1, abrufbar unter: https:// www.impel-network.eu/wp-content/uploads/2015/07/History-of-IMPEL.pdf (Stand: 14.2.2023); Migliorati, The Commission as a network administrator in EU multi-level governance?, TARN Working Paper 6/2017, S. 5. 285  Zum eher hierarchisch geprägten Verhältnis zwischen der Kommission und anderen Netzwerkmitgliedern in dieser Zeit ausführlich: Migliorati, The Commission as a network administrator in EU multi-level governance?, TARN Working Paper 6/2017, S.  7 f. 286  Farmer, Hdb. of Environmental Protection and Enforcement, 2007, S. 252; Migliorati, The Commission as a network administrator in EU multi-level governance?, TARN Working Paper 6/2017, S. 6.

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3. Teil: Netzwerke im Bereich der Vollzugskontrolle

Als sich IMPEL mit Errichtung der IMPEL a.i.s.b.l. organisationsrechtlich emanzipierte, zog sich die Kommission auf die Position einer Beobachterin287 zurück. Ihre Stellung und ihr Stimmrecht in der Generalversammlung büßte sie damit ein. Eine enge Kooperationsbeziehung wird jedoch bis heute unterhalten, wobei die Kommission nunmehr als externe Akteurin in die Arbeit des IMPEL-Netzwerks einbezogen wird.288 Triebfeder dieses formalen Outsourcings war allen voran die Kommission selbst, die damit einerseits finanzielle Interessen verfolgte, aber auch eine Stärkung der Position des Netzwerks bewirken und ihm die internationale Anerkennung als unabhängige, vertrauenswürdige Kapazität im Bereich des Umweltrechtsvollzugs sichern wollte.289 Im Ergebnis lässt sich festhalten, dass sich IMPEL zunächst in die Sphäre der Kommission hinein-, dann aber wieder hinausentwickelt hat. Die Kommission war an allen Entwicklungen des Netzwerks aktiv beteiligt.290 Trotz anfänglicher Skepsis erkannte sie IMPEL früh als nützliches Instrument zur Verbesserung des europäischen Umweltrechtsvollzugs.291 Indem sie die Bedeutung von IMPEL in ihren Verlautbarungen betonte und die Mitgliedstaaten zur verstärkten Zusammenarbeit innerhalb des Netzwerks aufforderte,292 aber auch indem sie die thematische Ausdehnung seines Tätigkeitsfelds vor287  Die Beobachterrolle der Kommission muss von den sog. „Observern“ unterschieden werden, zu denen IMPEL nur die European Federation of Environmental Health (EFEH) und das THEMIS network zählt, vgl.: IMPEL, Members and Ob­ servers, o.  D., https://www.impel-network.eu/about-impel/members-and-observers/ (Stand: 14.2.2023). 288  Hedemann-Robinson, Enforcement of European Union Environmental Law: Legal Issues and Challenges, 2. Edition 2015, S. 547; Migliorati, The Commission as a network administrator in EU multi-level governance?, TARN Working Paper 6/2017, S. 6. 289  Migliorati, The Commission as a network administrator in EU multi-level governance?, TARN Working Paper 6/2017, S. 8 f. 290  Migliorati, The Commission as a network administrator in EU multi-level governance?, TARN Working Paper 6/2017, S. 9. 291  Hedemann-Robinson, Enforcement of European Union Environmental Law: Legal Issues and Challenges, 2. Edition 2015, S. 556. 292  Vgl. etwa: KOM, Mitteilung – Eine thematische Strategie für Abfallvermeidung und -recycling, 27.5.2003, KOM(2003) 301 endg., S. 34; KOM, Mitteilung an den Rat und das Europäische Parlament – Überprüfung der Umweltpolitik 2003, 2.2.2004, KOM(2003) 745/2 endg., S. 32; KOM, Mitteilung an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen – Grundstoffmärkte und Rohstoffe: Herausforderungen und Lösungsansätze, 2.2.2011, KOM(2011) 95 endg., S. 22 f.; KOM, Mitteilung an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- Und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen – Konkretere Vorteile aus den Umweltmaßnahmen der EU: Schaffung von Vertrauen durch mehr Information und größere Reaktionsbereitschaft der Behörden, 7.3.2012, KOM(2012) 95 final, S. 9; KOM, Mitteilung – EU-



B. Netzwerke im Bereich Compliance Promotion295

antrieb293 und auf die Gründung der formal unabhängigen IMPEL a.i.s.b.l. hinwirkte, fungierte sie seit jeher und bis heute als wichtigste Förderin. Auch das finanzielle Gewicht der Kommission, die die Arbeit von IMPEL zu etwa 70  % über das LIFE-Programm294 kofinanziert und damit existenzielle Grundlagen schafft, darf nicht unterschätzt werden.295 Wie stark ihr Einfluss in der Realität ist, zeigt sich etwa darin, dass die von IMPEL verfolgten Ziele mit dem politischen Kurs der EU regelmäßig kongruieren. (2) Ausgestaltung des Kooperationsverhältnisses Rechtsverbindliche Vorgaben, die die Organisation, den Mitgliederbestand oder aber das Kooperationsverhältnis zwischen Kommission und IMPEL regeln würden, existieren nicht. Wie ihre Zusammenarbeit ausgestaltet ist, ergibt sich vor allem aus einem Memorandum of Understanding (MoU)296, das von der Kommission und dem Vorstandsvorsitzenden der IMPEL a.i.s.b.l. im Anschluss an die organisatorische Verselbstständigung des Netzwerks unterzeichnet wurde. In Art. 1 Nr. 1 MoU verständigen sich beide Seiten zunächst auf eine wechselseitige Zusammenarbeit im übergeordneten Inte­ resse an der effektiven Implementation des EU-Umweltrechts. In den nach­ folgenden Artikeln werden die Modalitäten dieser Kooperation näher kon­ kretisiert. So erklärt sich die IMPEL a.i.s.b.l. bereit, die Kommission über die Ausarbeitung der IMPEL-Jahresprogramme und Mehrjahresarbeitsprogramme zu informieren sowie Anregungen und Vorschläge von ihrer Seite zu bedenken (vgl. Art. 2 Nr. 1 MoU). Im Gegenzug soll die Kommission IMPEL über neue politische Initiativen, Rechtsetzungs- und Evaluationsverfahren unterrichten und ihrerseits von IMPEL vorgetragene Anregungen einbeziehen (vgl. Art. 2 Nr. 2 MoU). Recht: Bessere Ergebnisse durch bessere Anwendung, 21.12.2016, KOM(2016) 8600 final, S. 6. 293  Migliorati, The Commission as a network administrator in EU multi-level governance?, TARN Working Paper 6/2017, S. 9. 294  Verordnung (EU) Nr. 1293/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Dezember 2013 zur Aufstellung des Programms für die Umwelt und Klimapolitik (LIFE) und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 614/2007, ABl. 2013, Nr. L 347, S. 185 ff.; zu den geförderten Projekten im Einzelnen: EASME, LIFE Programme 2014–2020 data hub, o. D., https://life.easme-web.eu/ (Stand: 14.2.2023). 295  IMPEL, Becoming a member, o.  D., https://www.impel.eu/en/about-impel/be coming-a-member (Stand: 14.2.2023); Migliorati, The Commission as a network administrator in EU multi-level governance?, TARN Working Paper 6/2017, S. 8. 296  Memorandum of Understanding on Core Elements of Future Co-operation between the Commission and IMPEL a.i.s.b.l., 2009, abrufbar unter: http://impelnetwork.eu/wp-content/uploads/2014/11/MoU-between-IMPEL-and-European-Com mission.pdf (Stand: 14.2.2023).

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3. Teil: Netzwerke im Bereich der Vollzugskontrolle

In Angelegenheiten, die der Verbesserung der Praktikabilität und Durchsetzbarkeit des EU-Umweltrechts dienen, soll der Kommission das gesamte IMPEL-Expertenwissen zur Verfügung gestellt werden (vgl. Art. 2 Nr. 3 MoU). Art. 3 MoU betrifft die Beteiligung der Kommission an Projekten und Versammlungen. Demnach kann die Kommission mit entsprechendem Einverständnis als Beobachterin an Treffen der Generalversammlung, Workshops, Expertengruppentreffen und anderen IMPEL-Veranstaltungen teilnehmen (Art. 3 Nr. 1 MoU). In Projekte darf sie ebenfalls einbezogen werden, soweit sie darum ersucht und keinen Einfluss auf die Netzwerkorganisation erhält (vgl. Art. 3 Nr. 3 MoU). Zwei Mal pro Jahr treten Kommission und Vorstand zusammen, um Informationen auszutauschen und geplante, laufende und abgeschlossene Netzwerkprojekte zu besprechen (vgl. Art. 3 Nr. 2 MoU). Zu Expertentreffen, Workshops und anderen Veranstaltungen der Kommission, die die Verbesserung des Umweltrechtsvollzugs oder des Umweltinspektionswesens zum Gegenstand haben, soll wiederum IMPEL eingeladen werden (vgl. Art. 4 Nr. 2 MoU). Kontakte zwischen beiden Parteien laufen dabei über speziell benannte Stellen innerhalb der GD ENV und der IMPEL a.i.s.b.l. (Art. 5 Nr. 1 MoU). Wie sich aus Art. 1 Nr. 4 MoU ausdrücklich ergibt, handelt es sich bei dem Memorandum of Understanding zwischen Kommission und IMPEL a.i.s.b.l. um ein rechtlich unverbindliches Dokument, ohne Vertragscharakter. Dennoch lassen die darin statuierten Absichtserklärungen Rückschlüsse auf die Beschaffenheit der Kooperationsbeziehung zu. Die Zusammenarbeit zwischen IMPEL und der Kommission begründet demnach ein Verhältnis wechselseitiger Information und Konsultation, in dem beide Seiten von der Expertise und Perspektive des jeweils anderen profitieren wollen. Die in Art. 2 Nr. 3 MoU erklärte Absicht, der Kommission bei Bedarf alle fachlichen Ressourcen IMPELs zur Verfügung stellen zu wollen, deutet dabei an, dass das IMPEL-Netzwerk gegenüber der Kommission eher als unterstützende, zuarbeitende Kraft, denn als Kooperationspartner auf Augenhöhe fungieren soll.297 Unterstützungs- und Informationspflichten oder gar Weisungsbeziehungen werden allerdings nicht begründet. Die Zusammenarbeit zwischen IMPEL und Kommission beruht allein auf der Kooperationsbereitschaft der Beteiligten.

297  Ähnlich: Martens, JEI 2008, 635 (642); Migliorati, The Commission as a network administrator in EU multi-level governance?, TARN Working Paper 6/2017, S. 7; Schwind, Netzwerke im Europäischen Verwaltungsrecht, 2017, S. 177.



B. Netzwerke im Bereich Compliance Promotion297

c) Arbeitsweise und Einsatz digitaler Hilfsmittel aa) Arbeitsschwerpunkt und Projektorganisation Mit dem Ziel, die Implementation umweltrechtlicher Vorgaben in Europa zu vereinheitlichen und zu verbessern, konzentriert sich die Arbeit des ­IMPEL-Netzwerks auf die praktische bzw. technische Seite des administrativen EU-Umweltrechtsvollzugs, jenseits politischer Interessenskonflikte und Machtkämpfe.298 Über eigene Vollzugs-, Kontroll- oder Durchsetzungskompetenzen verfügt das Netzwerk nicht,299 seine Bedeutung liegt vielmehr im proaktiven,300 vollzugsvorbereitenden301 Bereich zwischen der Umsetzungsund der Anwendungsebene. Da es sich bei IMPEL weder um eine staatliche noch um eine EU-Institution handelt, zeichnet sich die Arbeitsweise des Netzwerks primär durch ihre Informalität aus.302 Bindende rechtliche Vorgaben und bürokratische Hürden, die die Zusammenarbeit behindern könnten, existieren nicht.303 Die Netzwerktätigkeit steht vollumfänglich zur Disposition der eingegliederten Akteure, die sie ihren Bedürfnissen entsprechend anpassen können. Maßnahmen, Methoden und Strategien zur Verbesserung des EU-Umweltrechtsvollzugs werden innerhalb der Expertenteams in ad hoc Projektgruppen entwickelt.304 Die Teilnahme an Projekten steht Praktiker*innen offen, die in einer zum Netzwerk gehörenden Umweltbehörde arbeiten.305 Bei Bedarf kann auch Fachwissen netzwerkexterner Behörden, EU-Institutionen, NGOs oder sonstiger Experten angefordert und einbezogen werden. Für jedes Projekt wird ein gesonderter Projektplan, ein sog. Terms of Reference, erstellt, der neben dem Projektablauf auch Ziele, Vorgaben für die Qualitätskontrolle so298  Vgl. Hedemann-Robinson, Enforcement of European Union Environmental Law: Legal Issues and Challenges, 2. Edition 2015, S. 555; Migliorati, The Commission as a network administrator in EU multi-level governance?, TARN Working Paper 6/2017, S. 10. 299  Sach/Simm, in: Rengeling, Hdb. zum europäischen und deutschen Umweltrecht, Bd. I, 2. Auflage 2003, § 44 Rn. 69. 300  Mastenbroek/Martinsen, JEPP 2018, 422 (427). 301  Schwind, Netzwerke im Europäischen Verwaltungsrecht, 2017, S. 172. 302  IMPEL, About IMPEL – Organization, o. D., https://www.impel.eu/en/aboutimpel/organization (Stand: 14.2.2023). 303  Schwind, Netzwerke im Europäischen Verwaltungsrecht, 2017, S. 181; Werner, in: Lübbe-Wolff, Der Vollzug des europäischen Umweltrechts, 1996, S. 137. 304  IMPEL, IMPEL Annual Work Programme 2018, 30.1.2018, abrufbar unter ­https://www.impel-network.eu/wp-content/uploads/2018/07/Annual-Work-Program me-2018-FINAL.pdf (Stand: 14.2.2023). 305  IMPEL, About IMPEL – Organization, o. D., https://www.impel.eu/en/aboutimpel/organization (Stand: 14.2.2023).

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3. Teil: Netzwerke im Bereich der Vollzugskontrolle

wie Strategien zur Verbreitung der Projektergebnisse enthält.306 Die gemeinsame Arbeit an Projekten wird vor allem durch den Einsatz moderner Infor­ mations- und Kommunikationstechnologien bestimmt. Netzwerkmitglieder kommunizieren untereinander überwiegend digital im Rahmen von OnlineKonferenzen, Webinaren oder über E-Mails. Mit Blick auf den geografisch weiten Inklusionsbereich des Netzwerks, verwundert diese Vorgehensweise nicht. Zwar veranstaltet IMPEL auch Tagungen, zu denen sich alle Teilnehmer*innen an einem Ort einfinden. Präsenzveranstaltungen sind für die alltägliche Zusammenarbeit aber zu kosten- und organisationsintensiv. bb) Projektbeispiele Um Vollzugsakteure möglichst effektiv zu unterstützen, verfolgt IMPEL verschiedene Ansätze. Hierzu zählen neben dem Informations- und Erfahrungsaustausch (1) Maßnahmen, die auf den Aufbau fachkundiger Vollzugskapazitäten gerichtet sind (2) sowie Maßnahmen, die die grenzüberschreitende Koordination fördern sollen (3). Um das Tätigkeitsfeld des Netzwerks zu veranschaulichen, werden im Folgenden einige IMPEL-Projekte exemplarisch dargestellt. (1) „Sharing best practice“: Informations- und Erfahrungsaustausch Der Informations- und Erfahrungsaustausch zwischen nationalen Vollzugsakteuren bildet die Grundlage jeder Zusammenarbeit innerhalb des Netzwerks: IMPEL versteht sich selbst als Forum, das es Praktiker*innen ermöglichen soll, Vollzugsschwierigkeiten und Einzelheiten mitgliedstaatlicher Vollzugssysteme in kollegialem Umfeld,307 jenseits staatlicher oder europäischer Organisationsstrukturen zu diskutieren, gute Verwaltungspraktiken zu verbreiten und gemeinsame Lösungen für spezifische Probleme zu finden.308 So veranstaltet IMPEL Konferenzen, Workshops und andere Aktivitäten, die Behördenpersonal und Umweltinspektoren zu dem Zweck zusammenbringen, sich gegenseitig Möglichkeiten zur Effektivierung ihrer Tätigkeit aufzuzei306  IMPEL, About IMPEL – Strategy, o. D., https://www.impel.eu/en/about-impel/ strategy (Stand: 14.2.2023). 307  Migliorati, The Commission as a network administrator in EU multi-level governance?, TARN Working Paper 6/2017, S. 10. 308  IMPEL, IMPEL’s Multi Annual Strategic Work Programme 2016–2020, 25.4.2016, S. 5, abrufbar unter: https://www.impel-network.eu/wp-content/uploads/ 2014/11/IMPEL-Strategic-Work-Programme-2016-to-2020-Final-29-April-2016.pdf (Stand: 14.2.2023); Sach/Simm, in: Rengeling, Hdb. zum europäischen und deutschen Umweltrecht, Bd. I, 2. Auflage 2003, § 44 Rn. 69.



B. Netzwerke im Bereich Compliance Promotion299

gen.309 Auf Grundlage der gewonnenen Erkenntnisse erarbeitet IMPEL Studienberichte, technische Leitfäden und Empfehlungen, die über die Website des Netzwerks zugänglich gemacht werden. Diese Projektergebnisse können von nationalen Akteuren herangezogen werden, um sich Anregungen zur Verbesserung ihrer eigenen Vollzugspraxis zu holen. Außerdem bieten sie der Kommission eine wichtige Informationsquelle, die Vollzugsdefizite in den Mitgliedstaaten offenlegen und Verbesserungspotenzial bei der Gestaltung europäischer Rechtsakte und Vollzugsunterstützungsmaßnahmen aufzeigen kann. –– Wie nationale Vollzugsakteure vom geballten Fachwissen ihrer Kollegen profitieren können, zeigt die von IMPEL im Bereich der Umweltinspektionen geschaffene IMPEL Review Initiative (IRI).310 Hierbei handelt es sich um ein freiwilliges peer-review-System, das es Netzwerkmitgliedern ermöglicht, ihre Inspektorate einer Überprüfung und Bewertung durch andere Netzwerkmitglieder zu unterziehen. Viele EU-Mitgliedsstaaten – darunter auch Deutschland311 – haben von dieser Möglichkeit bereits Gebrauch gemacht. Durchgeführt wird die Überprüfung von jeweils einem Expertenteam, bestehend aus ausgewählten Mitgliedern des IMPEL-Netzwerks. Gute Inspektionspraktiken des Gastgebers werden gesammelt und mit Verbesserungsvorschlägen in einem Abschlussbericht zusammengefasst. Dieser kann den betroffenen Staat dabei unterstützen, sein Inspek­ tionswesen zu verbessern. Gleichzeitig können andere Staaten mit ähnlicher Inspektionspraxis Rückschlüsse auf ihre eigene Effektivität ziehen und sich an den Empfehlungen der IMPEL-Experten orientieren.312 –– Wie gerade die Kommission von IMPEL profitieren kann, zeigt die Ausarbeitung der Empfehlung 2001/331/EG zur Festlegung von Mindestkriterien für Inspektionen (engl.: Recommendation providing for minimum criteria for environmental inspections in the Member States; RMCEI)313, die zwar nur unverbindliche Vorgaben u. a. für die Planung und Ausführung von 309  IMPEL, A Position Paper from the IMPEL Network on „Environmental Compliance Assurance“, 13.6.2017, S. 2, abrufbar unter: https://www.impel-network.eu/ wp-content/uploads/2017/06/EnvCompliance-Assurance-Position-Paper-IMPEL.pdf (Stand: 14.2.2023). 310  IMPEL, IMPEL Review Initiative (IRI), August 2016, abrufbar unter: https:// www.impel-network.eu/wp-content/uploads/2016/08/IRI-Pack_August-2016.pdf (14.2.2023). 311  Bisherige IMPEL-Berichte, abrufbar unter: https://www.impel-network.eu/ tools/impel-review-initiative-tool/ (Stand: 14.2.2023). 312  Farmer, Hdb. of Environmental Protection and Enforcement, 2007, S. 254. 313  Empfehlung (2001/331/EG) des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. April 2001 zur Festlegung von Mindestkriterien für Umweltinspektionen in den Mitgliedstaaten, ABl. 2001, Nr. L 118, S. 41 ff.

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3. Teil: Netzwerke im Bereich der Vollzugskontrolle

Inspektionen enthält,314 im Laufe der Zeit aber auch einigen verbindlichen Regelungen zugrunde gelegt wurde.315 Einen Vorschlag für die Empfehlung auszuarbeiten oblag zunächst der Kommission. Dabei bediente sie sich in erheblichem Umfang der Ressourcen und Fachkenntnisse des ­IMPEL-Netzwerks, das 1997 mit dem Bericht Minimum Criteria for In­ spections eine wichtige Arbeitsgrundlage geschaffen hatte. In der Folge trug IMPEL, etwa durch die Ausarbeitung einer schrittweisen Anleitung für die Planung nationaler Umweltinspektionen dazu bei, den Mitgliedstaaten die Implementation der RMCEI in die alltägliche Inspektionspraxis zu erleichtern.316 Als die Kommission 2007 eine Überarbeitung der Kriterien anregte,317 griff sie erneut auf die Expertise des Netzwerks zurück, das im Rahmen seines Berichts Input to the review process through a report on the possibility for further development of the RMCEI umfangreiches Fachwissen und Erfahrungswerte beisteuerte.318 (2) „Capacity building“ durch Wissensvermittlung Knappe personelle, fachliche und finanzielle Ressourcen wurden in verschiedenen Studien zur Durchführung umweltrechtlicher Vorgaben als eine der Hauptursachen für das Vollzugsdefizit im Umweltsektor identifiziert.319 Ein wichtiger Teil der Arbeit des IMPEL-Netzwerks besteht daher darin, staatlichen Stellen bei der Entwicklung und Anwendung innovativer Metho314  Vgl. dazu im Detail: Hedemann-Robinson, Enforcement of European Union Environmental Law: Legal Issues and Challenges, 2. Edition 2015, S. 558 ff. 315  Vgl. etwa Art. 20 der Richtlinie 2012/18/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. Juli 2012 zur Beherrschung der Gefahren schwerer Unfälle mit gefährlichen Stoffen, zur Änderung und anschließenden Aufhebung der Richtlinie 96/82/EG des Rates, ABl. 2012, Nr. L 197, S. 1 ff.; Art. 23 der Richtlinie 2012/19/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. Juli 2012 über Elektro- und Elektronik-Altgeräte, ABl. 2012, Nr. L 197, S. 38 ff.; Art. 23 der Richtlinie 2010/75/ EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 24. November 2010 über Industrieemissionen (integrierte Vermeidung und Verminderung der Umweltverschmutzung), ABl. 2010, Nr. L 334, S. 17 ff. 316  IMPEL, „Doing the right things II“ step-by-step-guidance book for planning of environmental inspection, November 2007, abrufbar unter: https://www.impel-net work.eu/wp-content/uploads/2016/06/step-by-step-guidance-book-final-2007-12-11. pdf (Stand: 14.2.2023). 317  KOM, Mitteilung an den Rat, das Europäische Parlament, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen über die Überprüfung der Empfehlung 2001/331/EG zur Festlegung von Mindestkriterien für Umwelt­ inspektionen in den Mitgliedstaaten, 14.11.2007, KOM(2007) 707 endg. 318  KOM, Implementation, Environmental Inspections, Review of RMCEI 2007– 2008, o. D., https://ec.europa.eu/environment/legal/law/rmcei.htm (Stand: 3.3.2022). 319  Dazu: 1. Teil, B. II. 1.



B. Netzwerke im Bereich Compliance Promotion301

den, die es ihnen ermöglichen, vorhandene Mittel effizient zu gebrauchen, durch die Bereitstellung und Vermittlung von Fachwissen, Anleitungen und technischer Unterstützung Hilfe zu leisten.320 So versucht IMPEL einerseits Synergieeffekte durch die Kooperation mit anderen Informationsplattformen, Netzwerken und Datenbanken zu erzielen,321 andererseits aber auch selbst eine Wissens- und Innovationszentrale aufzubauen, über die modernste und zukunftsträchtige Vollzugsinstrumente sowie neue cutting-edge-Technologien vorgestellt und Online-Fortbildungsseminare, Workshops, Sprachkurse sowie Schulungsmaterialien angeboten werden.322 IMPEL verfolgt damit das Ziel, den weltweit besten und modernsten Methoden für die Anleitung, Überwachung und Durchsetzung des EU-Umweltrechts den Weg zu bereiten. Gleichzeitig trägt die Wissensvermittlung dazu bei, den Kreis potenzieller IMPELExperten zu erweitern und fachkundige Personalbestände innerhalb nationaler Verwaltungen aufzubauen.323 –– Mit dem Portal for Environmental Enforcers (PREVENT) wurde von ­IMPEL eine Online-Plattform für Ausbildungs- und Schulungsmaterialien ins Leben gerufen, mit deren Hilfe der Aufbau leistungsstarker, fachkundiger Vollzugskapazitäten in den Mitgliedstaaten gefördert werden soll. PREVENT ist eine Gemeinschaftsarbeit mehrerer Projektgruppen, die aus der Zusammenarbeit zwischen Experten aus unterschiedlichen Umweltbereichen hervorgegangen ist.324 Bereitgestellt werden hier Materialien zu den Themen grenzüberscheitende Abfallverbringung325, Artenschutz326 320  IMPEL, IMPEL’s Multi Annual Strategic Work Programme 2016–2020, 25.4.2016, S. 5 f., abrufbar unter: https://www.impel-network.eu/wp-content/uploads/ 2014/11/IMPEL-Strategic-Work-Programme-2016-to-2020-Final-29-April-2016.pdf (Stand: 14.2.2023). 321  IMPEL, A Position Paper from the IMPEL Network on „Environmental Compliance Assurance“, 13.6.2017, S. 4, abrufbar unter: https://www.impel-network.eu/ wp-content/uploads/2017/06/EnvCompliance-Assurance-Position-Paper-IMPEL.pdf (Stand: 14.2.2023). 322  IMPEL, IMPEL’s Multi Annual Strategic Work Programme 2016–2020, 25.4.2016, S. 5, abrufbar unter: https://www.impel-network.eu/wp-content/uploads/ 2014/11/IMPEL-Strategic-Work-Programme-2016-to-2020-Final-29-April-2016.pdf (Stand: 14.2.2023). 323  IMPEL, A Position Paper from the IMPEL Network on „Environmental Compliance Assurance“, 13.6.2017, S. 3 f., abrufbar unter: https://www.impel-network.eu/ wp-content/uploads/2017/06/EnvCompliance-Assurance-Position-Paper-IMPEL.pdf (Stand: 14.2.2023). 324  IMPEL, About IMPEL, o.  D., https://www.impel.eu/en/about-impel (Stand: 14.2.2023). 325  Vgl. dazu: IMPEL, Shipment of Waste, o. D., https://www.impel-prevent.eu/ module-category/waste/ (Stand: 14.2.2023). 326  Vgl. dazu: IMPEL, WildLife, o.  D., https://www.impel-prevent.eu/module-ca tegory/wildlife/ (Stand: 14.2.2023).

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3. Teil: Netzwerke im Bereich der Vollzugskontrolle

und Abfallkriminalität327, die Strafverfolgungsbehörden, Zoll- und Hafenbehörden, Staatsanwaltschaft und Richterschaft mit Fachwissen und Informationen über bewährte Praktiken versorgen. –– ­ Mit dem Strategic Project to Increase the Detection and Disruption of Environmental Crime in the Western Balkans (SPIDER WEB) wurde in den Jahren 2018 und 2019 ein kapazitätsbildendes Schulungsprojekt speziell für die Staaten des westlichen Balkans (Albanien, Bosnien Herzegowina, Nordmakedonien, Kosovo, Montenegro und Serbien) in den Bereichen Naturschutz und Abfallwirtschaft durchgeführt. Ziel des Projekts war es, das Umweltbewusstsein in diesen Staaten zu stärken und Umweltde­ likte – etwa die Tötung, den Besitz oder den Handel mit Exemplaren geschützter Tier- und Pflanzenarten, illegale Abholzungen oder illegale Abfalltransporte – zu bekämpfen.328 Im Rahmen des Projekts wurde zunächst die praktische Vollzugssituation in den betroffenen Staaten analysiert und der jeweilige Ausbildungsbedarf ermittelt.329 Anschließend wurden bedarfsgeleitete Ausbildungspläne erstellt, Schulungsmaterialien ausgearbeitet, Workshops durchgeführt und schließlich individuelle Empfehlungen für jeden teilnehmenden Staat ausgesprochen.330 (3) „Coordinated actions“: Rechtsvollzug durch gemeinsames Vorgehen In Anbetracht der hohen Bedeutung grenzüberschreitend abgestimmter Maßnahmen in vielen Bereichen des EU-Umweltrechtsvollzugs umfasst das Arbeitsprogramm des IMPEL-Netzwerkes auch Projekte zur Schaffung und Bereitstellung schneller, elektronischer Kommunikationswege, die den anlassbezogenen Austausch über konkrete Beobachtungen und Vorfälle anregen und Vollzugsakteure dabei unterstützen, koordiniert einzuschreiten.331 327  Vgl. dazu: IMPEL, Waste Crime, o. D., https://www.impel-prevent.eu/modulecategory/waste-crime/ (Stand: 14.2.2023). 328  IMPEL, SPIDER WEB: Strategic Project to Increase the Detection and Disruption of Environmental Crime in the Western Balkans, o. D., https://www.impelnetwork.eu/projects/spiderweb/ (Stand: 14.2.2023). 329  Vgl. dazu: IMPEL, Strategic Project to Increase the Detection and Disruption of Environmental Crime in the Western Balkans, Training needs Assessment Report, Juli 2019, S. 8, abrufbar unter: https://www.impel-network.eu/wp-content/uploads/ 2020/03/SPIDER-WEB-Project-Training-Needs-Assessment-TNA-D.1.2.pdf (Stand: 14.2.2023). 330  Zum Ablauf des Projekts: IMPEL, SPIDER WEB: Strategic Project to Increase the Detection and Disruption of Environmental Crime in the Western Balkans, o. D., https://www.impel-network.eu/projects/spiderweb/ (Stand: 14.2.2023). 331  IMPEL, IMPEL’s Multi Annual Strategic Work Programme 2016–2020, 25.4.2016, S. 5, abrufbar unter: https://www.impel-network.eu/wp-content/uploads/



B. Netzwerke im Bereich Compliance Promotion303

–– ­ Ein Beispiel für ein koordinationsförderndes Projekt ist IMPEL-Enforcement and Stakeholders Information exchange (IMPEL-ESIX), das von IMPEL geschaffen wurde, um die praktische Zusammenarbeit beim Vollzug der Vogelschutzrichtlinie (2009/147/EG), der Habitat-Richtlinie ­ (92/43/EWG) und der Holzhandels-Verordnung (EU) Nr. 995/2010332 zu unterstützen. IMPEL-ESIX bietet ein gesichertes, elektronisches EchtzeitKommunikationssystem, mit dessen Hilfe sich nationale Naturschutzbehörden gegenseitig über illegale Wilderei-, Schmuggel- und Tierhandelsaktivitäten in Kenntnis setzten und grenzüberschreitende Verfolgungsmaßnahmen abstimmen können.333 Als zusätzliche Augen und Ohrenpaare haben auch politische Entscheidungsträger oder sonstige Interessensgruppen über IMPEL-ESIX die Möglichkeit, auf verdächtige Vorgänge aufmerksam zu machen.334 Sie können sich an den Systemmoderator wenden, der die Relevanz ihrer Eingabe prüft und Kontakt zwischen dem Absender und den für die Verfolgung der Angelegenheit zuständigen Behörden herstellt.335 –– ­ Auf die Förderung einer intensiven, grenzüberschreitenden Zusammenarbeit konzentriert sich auch das von IMPEL 2018 initiierte Shipment of Waste Enforcement Actions Project (SWEAP).336 SWEAP soll die Mitgliedstaaten bei der Erfüllung ihrer in der europäischen Verordnung über die Verbringung von Abfällen (EG) Nr. 1013/2006 enthaltenen Inspek­ tionspflichten unterstützen und dabei helfen, illegalen Abfallhandel zu verhindern, aufzudecken und zu unterbrechen.337 Neben dem Austausch 2014/11/IMPEL-Strategic-Work-Programme-2016-to-2020-Final-29-April-2016.pdf (Stand: 14.2.2023). 332  Verordnung (EU) Nr. 995/2010 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Oktober 2010 über die Verpflichtungen von Marktteilnehmern, die Holz und Holzerzeugnisse in Verkehr bringen, ABl. 2010, Nr. L 925, S. 23 ff. 333  IMPEL, IKB exchange of information between Enforcement and other Stakeholders (IMPEL-ESIX), o. D., https://www.impel-network.eu/projects/ikb-exchange-of-in formation-between-enforcement-and-other-stakeholders-impel-esix/ (Stand: 14.2.2023). 334  Von einer Beteiligungsquote von 45  % Durchsetzungsbehörden gegenüber 55 % NGOs und politischen Entscheidungsträgern sprechend: IMPEL, ToR for IKB Exchange of Intelligence (IMPEL-ESIX), 27.11.2019, S. 2, abrufbar unter: https:// www.impel-network.eu/wp-content/uploads/2019/08/2020_20-ToR-IMPEL-ESIX.pdf (Stand: 14.2.2023). 335  IMPEL, International Killing of Birds (IKB): ESIX, 23.10.2019, abrufbar ­unter: https://www.impel-network.eu/wp-content/uploads/2019/10/IMPEL-project-ab stracts-ESIX.pdf (Stand: 14.2.2023). 336  IMPEL, IMPEL’s LIFE SWEAP launches new project website, 27.11.2018, ­h ttps://www.impel-network.eu/impels-life-sweap-launches-new-project-website/ (Stand: 14.2.2023). 337  SWEAP, About SWEAP, o.  D., https://www.sweap.eu/about-sweap/ (Stand: 14.2.2023).

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3. Teil: Netzwerke im Bereich der Vollzugskontrolle

von Erfahrungen und einem Angebot an kapazitätsbildenden Kursen und Schulungsmaterialien338 bildet insbesondere die Durchführung europaweit koordinierter Inspektionen von Abfallentsorgungsmaßnahmen und Abfalltransporten den Kern Projekts.339 Von 45.000 bis zum Ende des Projektzeitraums 2023 angestrebten Inspektionen, wurden bis März 2020 mehr als 32.000 durchgeführt.340 Mit dem Ziel, die Routen und Bestimmungs­ orte internationaler Abfalltransporte überprüfen und erforderlichenfalls die Rückführung illegal verbrachter Abfälle organisieren zu können, werden Kontakte zu Behörden aus Drittstaaten, NGOs und anderen Umweltnetzwerken geknüpft und gepflegt.341 Weiterhin werden im Rahmen von SWEAP innovative, digitale Hilfsinstrumente entwickelt, darunter eine ­ Berichtsapplikation für mobile Geräte, die Vollzugsakteuren die Sammlung und den Austausch von Inspektionsdaten ermöglicht sowie ein GPSTracking-System, mit dessen Hilfe grenzüberschreitende Abfalltransporte nachverfolgt und genaue Daten über Routen und Endziele gewonnen werden können.342 cc) Wirkungsdimensionen der Netzwerkzusammenarbeit (1) IMPEL aus Perspektive der Mitgliedstaaten IMPEL ist ein Modellversuch, der auf Grundlage intergouvernementaler Verständigung, Flexibilität, Informalität und Freiwilligkeit zur Verbesserung der Durchführung des EU-Umweltrechts beitragen soll.343 Von der Zusammenarbeit innerhalb des Netzwerks profitieren zuvorderst die darin eingegliederten staatlichen Verwaltungen, die durch den Austausch von Informa­ tionen und Erfahrungen, die Vermittlung von Fachwissen und die Förderung 338  SWEAP, Capacity building & training, o.  D., https://www.sweap.eu/projectactions/capacity-building-training/ (Stand: 14.2.2023). 339  SWEAP, Co-Ordinated Inspections, o. D., https://www.sweap.eu/project-actions/ co-ordinated-inspections/ (Stand: 14.2.2023). 340  IMPEL, LIFE SWEAP-Handout, 6.12.2019, abrufbar unter: https://www. sweap.eu/wp-content/uploads/2019/12/IMP030_Handout_SWEAP_screen.pdf (Stand: 14.2.2023); SWEAP, SWEAP inspection results 2018–March 2020, 07/2020, abrufbar unter: https://www.sweap.eu/wp-content/uploads/2020/07/SWEAP-inspection-results2018-2020-updated.pdf (Stand: 14.2.2023). 341  SWEAP, International co-operation & awareness-raising, o. D., https://www.sweap. eu/project-actions/international-co-operation-and-awareness-raising/ (Stand: 14.2.2023). 342  SWEAP, Innovative tools, o.  D., https://www.sweap.eu/project-actions/innova tive-tools/ (Stand: 14.2.2023); SWEAP, Inspection Data Reporting Application, ­https://www.sweap.eu/inspection-data-reporting-application/ (Stand: 14.2.2023). 343  Hedemann-Robinson, Enforcement of European Union Environmental Law: Legal Issues and Challenges, 2. Edition 2015, S. 555.



B. Netzwerke im Bereich Compliance Promotion305

koordinierter Maßnahmen in die Lage versetzt werden sollen, ihre Vollzugpraxis im Umweltbereich effektiver und effizienter zu gestalten. Da weder das IMPEL-Netzwerk noch die IMPEL a.i.s.b.l. mit eigenen Vollzugs- oder Kontrollbefugnissen ausgestattet sind, muss sich die Netzwerktätigkeit auf rechtlich unverbindliche Unterstützungsleistungen beschränken.344 Direkte Übergriffe in die staatliche Vollzugssphäre finden nicht statt. In welchem Umfang nationale Praktiker*innen von den über das Netzwerk angebotenen Programmen und Hilfsmitteln Gebrauch machen, wie stark sie sich in Projekte einbringen und welchen Nutzen sie aus den Projektergebnissen ziehen, liegt in ihrem eigenen Verantwortungsbereich. Soweit es durch die Zusammen­ arbeit im Netzwerk zu einer Angleichung des administrativen Umweltrechtsvollzugs in Europa kommt, geschieht dies, ohne durch unionsrechtliche Vollzugsregelungen vorgeschrieben zu werden.345 Weder wird der Grundsatz des dezentralen Vollzugs durchbrochen noch wird die nationale Vollzugsautonomie angetastet. IMPEL bietet den Mitgliedstaaten also weitreichende Möglichkeiten, von den in Europa vorhandenen Ressourcen und Wissensbeständen im eigenen Interesse und den eigenen Bedürfnissen entsprechend, ohne Souveränitätsverluste Gebrauch zu machen. Ein entscheidender Faktor für das Funktionieren des Netzwerks liegt in seiner Zusammensetzung. Als Practitioner Network im Sinne der Kommis­ sionsterminologie involviert IMPEL eine Vielzahl staatlicher Behörden und Inspektorate, deren Personal im Arbeitsalltag mit vergleichbaren Herausforderungen konfrontiert wird und Probleme weniger aus politischer, denn aus praktischer bzw. technischer Perspektive angeht. Ihnen bietet das Netzwerk eine Plattform, auf der sie in netzwerktypisch kollegialem Rahmen, außerhalb der Drohkulisse eines Vertragsverletzungsverfahrens über Vollzugsschwierigkeiten und Bewältigungsstrategien diskutieren und Lösungen für spezifische Probleme entwickeln können.346 Indem IMPEL Vollzugsakteure aus verschiedenen Staaten zusammenbringt und Kooperationsbeziehungen zu anderen Netzwerken und Organisationen unterhält, kann das Netzwerk wichtige Kontakte innerhalb und außerhalb der EU vermitteln und so einen Bei344  Vgl. IMPEL, Challenges in the Practical Implementation of EU Environmental Law and how IMPEL could help overcome them, Final report, 23.3.2015, S. 19, abrufbar unter: https://impel-network.eu/wp-content/uploads/2015/07/Implementa tion-Challenge-Report-23-March-2015.pdf (Stand: 14.2.2023); Migliorati, The Commission as a network administrator in EU multi-level governance?, TARN Working Paper 6/2017, S. 14; Sach/Simm, in: Rengeling, Hdb. zum europäischen und deutschen Umweltrecht, Bd. I, 2. Auflage 2003, § 44 Rn. 69. 345  Vgl. Latour, Die integrierte Umweltverwaltung in der Europäischen Union, 2013, S. 157. 346  Migliorati, The Commission as a network administrator in EU multi-level governance?, TARN Working Paper 6/2017, S. 10.

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3. Teil: Netzwerke im Bereich der Vollzugskontrolle

trag für das gesamteuropäische Implementationsniveau leisten.347 Da IMPEL überwiegend durch das LIFE-Programm der EU finanziert wird, bleibt der Kostenaufwand für die Netzwerkmitglieder überschaubar.348 Im Rahmen der Ursachenerforschungsstudie Challenges in the practical Implementation of EU environmental law and how IMPEL could help over­coming them wurden die in das Netzwerk eingegliederten Akteure gefragt, welche Art von Unterstützung durch das IMPEL-Netzwerk sie bei der Überwindung von Vollzugsschwierigkeiten für besonders hilfreich erachten. Die Auswertung von 38 beantworteten Fragebögen349 ergab, dass der Austausch praktischer Erfahrungen aus Sicht beinahe aller Antwortenden (ca. 90 %) einen besonderen Nutzen biete, während die Entwicklung innovativer Werkzeuge, die Vermittlung technischer bzw. umwelttechnischer Fachkenntnisse und die Durchführung von peer reviews jeweils nur in etwa der Hälfte aller beantworteten Frage­ bögen als nützliche Unterstützungsleistung genannt wurden.350 (2) IMPEL aus Perspektive der Kommission Da die Kommission selbst nicht zum Mitgliederbestand des Netzwerks zählt, mag die Zuordnung von IMPEL zum Kontrollinstrumentarium der Kommission auf den ersten Blick fragwürdig erscheinen. Berücksichtigt werden muss jedoch, dass es sich bei IMPEL um ein informelles Netzwerk handelt, dessen Mitgliedschaft keine rechtlichen Befugnisse mit sich bringt. Weicht ein Netzwerkmitglied von den Empfehlungen und Arbeitsergebnissen der Projektgruppen ab, stehen weder den Organen der IMPEL a.i.s.b.l. noch den anderen Netzwerkmitgliedern Weisungs- oder Disziplinierungsbefugnisse zu. Alle Einflüsse innerhalb des Netzwerks, die sich verhaltenssteuernd auf die Vollzugstätigkeit in den Mitgliedstaaten auswirken, sind rein faktischer Natur. Über Möglichkeiten zur faktischen Einwirkung auf die Arbeit des 347  IMPEL, Challenges in the Practical Implementation of EU Environmental Law and how IMPEL could help overcome them, Final report, 23.3.2015, S. 20, abrufbar unter: https://impel-network.eu/wp-content/uploads/2015/07/ImplementationChallenge-Report-23-March-2015.pdf (Stand: 14.2.2023). 348  Der Mitgliedschaftsbeitrag pro Organisation beträgt aktuell 5.000 Euro im Jahr, vgl. IMPEL, Becoming a member, o. D., https://www.impel.eu/en/about-impel/becom ing-a-member (Stand: 14.2.2023). 349  IMPEL, Challenges in the practical Implementation of EU environmental law and how IMPEL could help overcoming them, 23.3.2015, S. 33 ff., abrufbar unter: http://impel-network.eu/wp-content/uploads/2015/07/Implementation-Challenge-Re port-23-March-2015.pdf (Stand: 14.2.2023). 350  Vgl. dazu die grafische Darstellung in: IMPEL, Challenges in the practical Implementation of EU environmental law and how IMPEL could help overcoming them, 23.3.2015, S. 45, abrufbar unter: http://impel-betwork.eu/wp-content/uploads/ 2015/07/Implementation-Challenge-Report-23-March-2015.pdf (Stand: 14.2.2023).



B. Netzwerke im Bereich Compliance Promotion307

IMPEL-Netzwerks und somit auch auf den Umweltrechtsvollzug durch na­ tionale Behörden verfügt die Kommission aber auch ohne formalen Mitgliedsstatus. Gerade im Sinne ihres vollzugsunterstützenden CompliancePromotion-Ansatzes eröffnet IMPEL nicht nur seinen Mitgliedern, sondern auch der Kommission Gelegenheiten, lenkend bzw. anleitend Einfluss zu nehmen und so zur Gewährleistung der Durchführung des EU-Umweltrechts beizutragen. Als Netzwerk, zu dessen Kerntätigkeiten der grenzüberschreitende Austausch von Informationen zählt, bietet IMPEL auch nützliche Synergieeffekte für den ebenfalls zur Compliance-Assurance-Strategie der Kommission gehörenden Aspekt des Vollzugs-Monitorings. Durchsetzungsfunk­ tionen kommen dem Netzwerk mit Blick auf seine charakteristische Informalität und Kompetenzlosigkeit hingegen nicht zu.351 (a) IMPEL als Compliance-Promotion-Mechanismus Bei der Zusammenarbeit mit IMPEL steht grundsätzlich der vollzugsunterstützende, proaktive Aspekt im Vordergrund.352 Die Kommission kann an diesem Ansatz mitarbeiten, indem sie ihre Perspektive und Expertise in das Netzwerk einbringt. Solange sie als Mitglied direkt in das Netzwerk eingebunden war nutzte die Kommission IMPEL intensiv als Plattform, um nationale Vollzugsakteure anzuleiten und steuernde Impulse zu geben.353 Wie sich aus dem 2009 unterzeichneten MoU ergibt, kann sie aber auch als externe Akteurin noch an der Netzwerkzusammenarbeit mitwirken, indem sie IMPEL mit Informationen über legislative und politische Entwicklungen auf EU-Ebene versorgt, Projekte anstößt, an Diskussionsrunden, Tagungen, Studien oder an Umfragen teilnimmt. Von organisatorischen Entscheidungen ist die Kommission zwar formal ausgeschlossen,354 da IMPEL aber größtenteils über das LIFE-Projekt finanziert und von der Kommission politisch gefördert wird, ist das Netzwerk nur bedingt unabhängig.355 351  Vgl. Migliorati, The Commission as a network administrator in EU multi-­level governance?, TARN Working Paper 6/2017, S. 14. 352  Mastenbroek/Martinsen, JEPP 2018, 422 (427). 353  Migliorati spricht insoweit von einer Rolle als „primus inter partes“: Migliorati, The Commission as a network administrator in EU multi-level governance?, TARN Working Paper 6/2017, S. 9 f.; vgl. zum Verhältnis zwischen Kommission und IMPEL vor Gründung der Trägergesellschaft auch: Martens, JEI 2008, 635 (642 f.). 354  Vgl. etwa Art. 1 Nr. 2 und Art. 3 Nr. 2 und Nr. 2 Memorandum of Understanding on Core Elements of Future Co-operation between the Commission and IMPEL a.i.s.b.l., 2009, abrufbar unter: http://impel-network.eu/wp-content/uploads/2014/11/ MoU-between-IMPEL-and-European-Commission.pdf (Stand: 14.2.2023). 355  Migliorati spricht insoweit von einer „semi-autonomous organisation“, Migliorati, The Commission as a network administrator in EU multi-level governance?, TARN Working Paper 6/2017, S. 7.

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3. Teil: Netzwerke im Bereich der Vollzugskontrolle

Prinzipiell vermag die Kommission auf das IMPEL-Netzwerk sogar in doppelter Hinsicht kontrollierend einzuwirken. Einerseits verfügt sie über großes finanzielles und politisches Gewicht, das es ihr ermöglicht, die Ziele von IMPEL de facto mitzubestimmen. Die Kommission fungiert insoweit als dirigierende Kraft356 hinter dem Netzwerk, mit der sie es von außen – sozusagen auf Makroebene – in eine gewisse Richtung drängt. Andererseits kann die Kommission durch die Mitarbeit an Projekten noch immer mit ihrer eigenen Expertise dazu beitragen, einzelnen Netzwerkteilnehmern ein besseres Verständnis für die Umweltrechtsakte der EU zu vermitteln. Insoweit verfügt die Kommission auch über eine unterstützende Kraft, die es ihr ermöglicht, den nationalen Umweltrechtsvollzug von innen – sozusagen auf Mikro­ ebene – anzuleiten.357 Einer von Migliorati durchgeführten Befragung verschiedener Beteiligter des IMPEL-Netzwerks zufolge seien die direkten Beiträge der Kommission zu Projektarbeiten seit Einrichtung der formal unabhängigen IMPEL a.i.s.b.l. allerdings stark zurückgegangen.358 Vor diesem Hintergrund muss davon ausgegangen werden, dass die Kommission IMPEL und damit auch die darin eingegliederten nationalen Verwaltungen fast nur noch über dirigierende, finanzielle und politische Impulse von außen beeinflusst, anstatt sich an der eigentlichen Netzwerkarbeit selbst vollzugsunterstützend zu beteiligen. (b) IMPEL als Compliance-Monitoring-Mechanismus Wird die Kommission durch die Zusammenarbeit mit IMPEL auf eine potenzielle Vertragsverletzung aufmerksam, kann sie auf dieser Informationsgrundlage sogar ein Vertragsverletzungsverfahren eröffnen. Insoweit kommt dem Netzwerk auch für das Vollzugs-Monitoring gewisse Bedeutung zu. Zwar werden über IMPEL viele Informationen ausgetauscht, die die Vollzugsleistungen in den Mitgliedstaaten betreffen. Ein Überwachungsnetzwerk ist IMPEL dennoch nicht. Da es sich ausschließlich aus Repräsentanten nationaler Umweltverwaltungen zusammensetzt, ist das Netzwerk vorrangig von mitgliedstaatlichen Bedürfnissen geprägt. Eine Pflicht, die Kommission mit Informationen über mögliche Vertragsverletzungen zu versorgen, trifft weder die Netzwerteilnehmer noch die IMPEL a.i.s.b.l. Zwar sieht das MoU ­zwischen Kommission und IMPEL a.i.s.b.l. ein gewisses Maß an informatio356  Insoweit von einem „Orchestrator“ sprechend: Migliorati, The Commission as a network administrator in EU multi-level governance?, TARN Working Paper 6/2017, S.  3 f. 357  Dazu im Detail: Migliorati, The Commission as a network administrator in EU multi-level governance?, TARN Working Paper 6/2017, S. 7 ff. 358  Migliorati, The Commission as a network administrator in EU multi-level governance?, TARN Working Paper 6/2017, S. 10.



B. Netzwerke im Bereich Compliance Promotion309

neller Zusammenarbeit vor. Dem MoU kommt aber gerade keine Vertragsqualität zu.359 Die Annahme einer Pflicht zur Anzeige nationaler Unionsrechtsverletzungen liefe der Funktion von IMPEL, Vollzugsakteuren eine freiwillige, auf wechselseitigem Vertrauen aufbauende informelle Koopera­ tionsplattform zu bieten vielmehr zuwider. Wird die Kommission dennoch über IMPEL auf Vollzugsdefizite aufmerksam, liegt hierin folglich eine – aus Kommissionssicht sicherlich nicht unerwünschte – Begleiterscheinung. (c) IMPEL als Mechanismus zur Unterstützung der Compliance Promotion Die Kommission kann durch die Zusammenarbeit mit IMPEL aber nicht nur den Mitgliedstaaten Vollzugsunterstützung leisten. Für die Kontrolle des EU-Umweltrechtsvollzug ist vor allem die Unterstützung von Bedeutung, die sie ihrerseits durch die Kooperation mit dem Netzwerk erhält. Im Bereich Compliance Promotion konzentriert sich die Kommission darauf, Leitlinien, Bewertungskriterien, Anleitungen oder sogar Vorschläge für Rechtsakte auszuarbeiten, die den nationalen Umweltrechtsvollzug steuern, effektiver gestalten und vereinheitlichen sollen. In den vergangenen Jahren wurden vollzugssteuernde Vorgaben z. B. für die Durchführung nationaler Umweltinspektionen zunehmend in rechtsverbindliche Legislativakte inte­ griert.360 Andere Vorgaben, die in Gestalt von Empfehlungen ausgesprochen werden, bleiben als Soft Law rechtlich unverbindlich.361 In jedem Fall fordert die Ausarbeitung und Aktualisierung solcher vollzugsunterstützenden, steuernden Elemente aber ein hohes Maß an Expertise, das nicht nur (umwelt-)technisches Fachwissen umfasst, sondern auch Praktikabilitätserwägungen im nationalen Vollzugsalltag in den Blick nehmen muss. Durch die Zusammenarbeit mit IMPEL wird die Kommission dabei unterstützt, diesen Anforderungen gerecht zu werden. So erhält sie durch den Austausch mit nationalen Praktiker*innen und anderen Experten Zugriff auf 359  Dazu:

3. Teil, B. III. 1. b) cc) (2). etwa Art. 20 der Richtlinie 2012/18/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. Juli 2012 zur Beherrschung der Gefahren schwerer Unfälle mit gefährlichen Stoffen, zur Änderung und anschließenden Aufhebung der Richtlinie 96/82/EG des Rates, ABl. 2012, Nr. L 197, S. 1 ff.; Art. 23 der Richtlinie 2012/19/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. Juli 2012 über Elektro- und Elektronik-Altgeräte, ABl. 2012, Nr. L 197, S. 38 ff.; Art. 23 der Richtlinie 2010/75/ EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 24. November 2010 über Industrieemissionen (integrierte Vermeidung und Verminderung der Umweltverschmutzung), ABl. 2010, Nr. 334, S. 17 ff. 361  KOM, Leitfaden – Entwicklungen der Windenergie und Natura 2000, 2012, abrufbar unter: https://op.europa.eu/de/publication-detail/-/publication/65364c77-b5 b8-4ab6-919d-8f4e3c6eb5c2 (Stand: 14.2.2023). 360  Vgl.

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3. Teil: Netzwerke im Bereich der Vollzugskontrolle

Informationen und Fachkenntnisse, die sie verwenden kann, um realitätsnahe, vollzugsunterstützende Leitfäden, Kriterien und Leitlinien zu formulieren oder bereits existierendes Material zu verbessern.362 Um sich neue Wissensgrundlagen zu verschaffen, hat die Kommission IMPEL bereits mehrfach mit der Durchführung bestimmter Studien beauftragt363 und sich so die Ressourcen des Netzwerks zunutze gemacht. Indem sie über die Zusammenarbeit mit IMPEL Einblicke in die staatliche Vollzugsrealität erhält, wird die Kommission in die Lage versetzt, ihre vollzugsunterstützenden Maßnahmen stärker am Bedarf der nationalen Ebene auszurichten und somit wirksamer zu gestalten. Sind Durchführungsschwierigkeiten bereits auf legislativer Ebene, d. h. im Rechtsakt angelegt, können nationale Akteure die Kommission darauf aufmerksam machen und so auf eine praktikablere, kohärentere und verständlichere Gestaltung des Unions-Acquis hinwirken.364 Zwischen Kommission und Mitgliedstaaten bietet IMPEL demnach eine Art zwischengeschaltete Plattform, auf der sich europäische Erwartungen und nationale Bedürfnisse treffen.365 Vor diesem Hintergrund fungiert IMPEL nicht nur als Mechanismus der EU-Vollzugskontrolle im Bereich Compliance Promotion, sondern auch als beratendes Hilfsinstrument zur Verbesserung dieses Kon­ trollansatzes.366 2. NEPA: Das Netz europäischer Umweltbehörden Ein mit IMPEL vergleichbares Konzept verfolgt das 2003 geschaffene Netzwerk der Leitungen Europäischer Umweltschutzbehörden (engl.: Network of the Heads of Environment Protection Agencies; NEPA).367 Wie ­IMPEL handelt es sich auch bei NEPA um ein Netzwerk, das auf intergouvernementaler Ebene durch Konsens geschaffen wurde. Im Gegensatz zu 362  Zur Rolle von IMPEL bei der Ausarbeitung der Empfehlung 2001/331/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. April 2001 zur Festlegung von Mindestkriterien für Umweltinspektionen in den Mitgliedstaaten (RMCEI), ABl. 2001, Nr. L 118, S. 41 ff.; KOM, Implementation, Environmental Inspections, o. D., https:// ec.europa.eu/environment/legal/law/inspections.htm (Stand: 3.3.2022). 363  Vgl. etwa: KOM, Study on Evaluating and Improving the Article 6.3 Permit Procedure for Natura 2000 Sites – final report, November 2013, abrufbar unter: ­https://op.europa.eu/en/publication-detail/-/publication/e61dfab8-1fb5-43f1-913f-cf6f e22843fb/language-en (Stand: 14.2.2023). 364  Vgl. Latour, Die integrierte Umweltverwaltung in der Europäischen Union, 2013, S. 156; Schröder, NVwZ 2006, 389 (392). 365  Vgl. Migliorati, The Commission as a network administrator in EU multi-level governance?, TARN Working Paper 6/2017, S. 2. 366  Ähnlich: Hedemann-Robinson, Enforcement of European Union Environmental Law: Legal Issues and Challenges, 2. Edition 2015, S. 556. 367  EPA-Network, About, o. D., https://epanet.eea.europa.eu/about (Stand: 14.2.2023).



B. Netzwerke im Bereich Compliance Promotion311

IMPEL, dessen Arbeit in den 6. und 7. Umweltaktionsprogrammen der EU sowie in Art. 3 III UAbs. 2 Verordnung (EG) Nr. 401/2009 erwähnt wurde,368 hat das NEPA bis heute allerdings keine Anerkennung von Seiten des Unions­ gesetzgebers erfahren. a) Aufbau und Verhältnis zur EU-Kommission Das NEPA ist ein rein informelles Netzwerk, das sich aus obersten Umweltbehörden und vergleichbaren Einrichtungen auf Leitungsebene aus derzeit 37 Staaten sowie der EUA zusammensetzt.369 Wie bei IMPEL umfasst der Inklusionsbereich des Netzwerks also nicht nur Umweltbehörden aus EU-Mitgliedstaaten, sondern auch Einrichtungen aus Drittstaaten mit geografischem Bezug zum europäischen Kontinent. Das NEPA unterscheidet sich von IMPEL vor allem durch sein Verhältnis zu den Einrichtungen der EU. Während IMPEL EU-Akteure nur noch punktuell als externe Kooperationspartner heranzieht, zählt mit der EUA eine EU-Institution direkt zum Mitgliederbestand des NEPA. Indem die EUA das NEPA-Sekretariat in ihren Räumlichkeiten in Kopenhagen beherbergt und betreut,370 Netzwerk-Sitzungen organisiert und andere Koordinationsaufgaben wahrnimmt,371 spielt sie sogar eine besondere Rolle, die sich mit der Stellung der Kommission innerhalb des IMPEL-Netzwerks in der Zeit vor Einrichtung der IMPEL a.i.s.b.l. vergleichen lässt. Über eine privatrechtlich organisierte Trägergesellschaft mit eigenem Sitz verfügt das NEPA nicht. Folglich kommt ihm auch nicht dieselbe organisatorische Unabhängigkeit wie dem IMPEL-Netzwerk zu. Im Unterschied zur EUA ist die Kommission kein Mitglied des NEPA. Als ständiger Gast nimmt sie jedoch an Sitzungen teil.372

368  Hedemann-Robinson, Enforcement of European Union Environmental Law: Legal Issues and Challenges, 2. Edition 2015, S. 549. 369  Neben den EU-Mitgliedstaaten vertretene Staaten sind: Albanien, Island, Kosovo, Norwegen, Serbien, Schweiz, England, Schottland und Wales, vgl. im Detail zum Mitgliederbestand: EPA-Network, Members, o. D., https://epanet.eea.europa.eu/ our-group (Stand: 14.2.2023). 370  EUA, EPA-Network, o.  D., https://www.eea.europa.eu/about-us/who/epa-net work (Stand: 14.2.2023). 371  Latour, Die integrierte Umweltverwaltung in der Europäischen Union, 2013, S. 234. 372  UBA, EPA-Netzwerk, 4.3.2019, https://www.umweltbundesamt.de/themen/ nachhaltigkeit-strategien-internationales/internationale-zusammenarbeit/epa-netzwerk (Stand: 14.2.2023).

312

3. Teil: Netzwerke im Bereich der Vollzugskontrolle

b) Zielsetzung und Arbeitsweise Ähnlich wie IMPEL verfolgt auch das NEPA das Ziel, die Durchführung des EU-Umweltrechts durch den Austausch von Informationen und Erfahrungen zu verbessern.373 Die internationale Zusammenarbeit soll dabei vor allem durch regelmäßige persönliche Kontakte auf Leitungsebene gefördert werden. Weiterhin zielt das NEPA darauf ab, die Zusammenarbeit mit der Kommission und der EUA zu stärken.374 Die Kooperation im Netzwerk soll den beteiligten Umweltbehörden Möglichkeiten eröffnen, ihre Ansichten und Belange im internationalen Diskurs gegenüber anderen Staaten, insbesondere aber gegenüber der Kommission stärker zur Geltung zu bringen.375 Da jede Umweltbehörde in Europa in einen individuellen nationalpolitischen und rechtlichen Kontext eingebettet ist und sich Mandate und Stellungen innerhalb des jeweiligen verwaltungsorganisatorischen Gefüges unterscheiden,376 fördert der wechselseitige Austausch auf Leitungsebene die Bildung von Interessenlagern, die ihre Positionen auf internationaler und supranationaler Ebene besser vertreten können als ein einzelner Mitgliedstaat. Die Arbeitsweise des NEPA wird durch zwei Kernelemente bestimmt.377 Einerseits werden jährlich zwei Plenarsitzungen veranstaltet,378 in deren Rahmen sich die Leiter der Mitgliederorganisationen persönlich begegnen, um aktuelle Themen zu diskutieren und sich mit strategischen und organisatorischen Fragen des Netzwerks zu befassen.379 Andererseits bietet das NEPA acht Arbeitsgruppen,380 in denen themenspezifische Berichte, Empfeh373  EPA-Network, About, o.  D., https://epanet.eea.europa.eu/about (Stand: 14.2.2023); Latour, Die integrierte Umweltverwaltung in der Europäischen Union, 2013, S. 233. 374  Latour, Die integrierte Umweltverwaltung in der Europäischen Union, 2013, S. 233; UBA, EPA-Netzwerk, 4.3.2019, https://www.umweltbundesamt.de/themen/ nachhaltigkeit-strategien-internationales/internationale-zusammenarbeit/epa-netzwerk (Stand: 14.2.2023). 375  UBA, EPA-Netzwerk, 4.3.2019, https://www.umweltbundesamt.de/themen/ nachhaltigkeit-strategien-internationales/internationale-zusammenarbeit/epa-netzwerk (Stand: 14.2.2023). 376  EPA-Network, About, o. D., https://epanet.eea.europa.eu/about (Stand: 14.2.2023). 377  UBA, EPA-Netzwerk, 4.3.2019, https://www.umweltbundesamt.de/themen/ nachhaltigkeit-strategien-internationales/internationale-zusammenarbeit/epa-netzwerk (Stand: 14.2.2023). 378  Zu den Plenarsitzungen des NEPA: EPA-Network, Epa Network plenary meetings, o.  D., https://epanet.eea.europa.eu/reports-letters/plenary-meetings (Stand: 14.2.2023). 379  EUA, EPA-Network, o.  D., https://www.eea.europa.eu/about-us/who/epa-net work (Stand: 14.2.2023). 380  Das NEPA bietet Arbeitsgruppen zu folgenden Themen: Bessere Regulierung, Citizen Science, Klimawandel, Gentechnisch modifizierte Organismen, Lärmbekämp-



B. Netzwerke im Bereich Compliance Promotion313

lungen und Stellungnahmen erarbeitet werden.381 Einige dieser Erzeugnisse bieten Praxisleitfäden zur Unterstützung des nationalen EU-Umweltrechtsvollzugs, gerichtet an die in den europäischen Staaten verantwortlichen Vollzugsbehörden.382 Andere adressieren die Generaldirektionen der Kommission, tragen Vorschläge zur Umgestaltung bestehender EU-Umweltrechtsakte vor oder liefern Einschätzungen zur Umweltpolitik in bestimmten Bereichen.383 c) Wirkungsdimension: NEPA aus Perspektive der Kommission Wie IMPEL wird auch das NEPA für die Kommission im Bereich Com­ pliance Promotion relevant. So bietet das Netzwerk zunächst eine Plattform, auf der sie den Umweltzustand in Europa gemeinsam mit Vertretern der obersten nationalen Umweltbehörden und der EUA analysieren, Gefahren identifizieren und gemeinsame Lösungsansätze entwickeln kann. Um doppelten Arbeitsaufwand zu vermeiden, fällt der EUA die Aufgabe zu, die Tätigkeit des NEPA mit anderen Umweltnetzwerken, wie z. B. IMPEL, zu koordinieren.384 Für die Kommission spielt NEPA aber vor allem als Beratungsund Unterstützungsinstitution eine Rolle, die sie über Probleme bei der Umsetzung der EU-Umweltpolitik in den Mitgliedstaaten informieren und dazu beitragen kann, vollzugsunterstützende Maßnahmen oder auch EU-Umweltrechtsakte im Hinblick auf ihre Praktikabilität und Durchsetzbarkeit zu verbessern.385 Insoweit fungiert das Netzwerk als typischer bottom-up-Mechanismus, über den Anregungen von der nationalen Ebene in die Arbeitsebene der Kommission eingebracht werden. Dass die Kommission diesen Nutzen erkannt hat, zeigt sich darin, dass sie NEPA ebenso wie IMPEL in das En­ vironmental Compliance and Governance Forum berufen hat.386 fung, Plastik in der Umwelt, Grün- und Kreislaufwirtschaft sowie Green Finance, vgl. EPA-Network, About, o. D., https://epanet.eea.europa.eu/about (Stand: 14.2.2023). 381  Zum NEPA-Publikations-Archiv: https://epanet.eea.europa.eu/reports-letters/ reports (Stand: 14.2.2023). 382  Bsp: EPA-Network, Critical noise values in EU (IG Noise), 9.10.2019, abrufbar unter: https://epanet.eea.europa.eu/reports-letters/reports-and-letters/ig-noise_criti cal-noise-values-in-eu.pdf/view (Stand: 14.2.2023). 383  Bsp: EPA-Network, Recommendations on 2. EU Adaption Strategy (IG CCA), 11.9.2020, abrufbar unter: https://epanet.eea.europa.eu/reports-letters/reports-and-let ters/letter-2nd-eu-adaptation-strategy_ig-cca.pdf/view (Stand: 14.2.2023). 384  Latour, Die integrierte Umweltverwaltung in der Europäischen Union, 2013, S. 234. 385  Latour, Die integrierte Umweltverwaltung in der Europäischen Union, 2013, S.  233 f. 386  Dazu: 3. Teil, B. I.

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3. Teil: Netzwerke im Bereich der Vollzugskontrolle

3. EUFJE: Das Richterforum Dass Umweltnetzwerke nicht allein im administrativen Bereich eine Rolle spielen, verdeutlicht das Europäische Forum für Umweltrichter (engl.: European Union Forum of Judges for the Environment; EUFJE). EUFJE wurde 2004 auf Basis des Gedankens gegründet, dass eine unabhängige Justiz von essenzieller Bedeutung für die Implementation, insbesondere für die Durchsetzung nationaler und internationaler Umweltrechtsakte sei.387 Die Idee, ein gemeinsames Forum für Richter*innen zu schaffen, die mit der Auslegung und Anwendung nationaler und internationaler Umweltrechtsakte befasst sind war schon damals nicht neu. Bereits Mitte der ­1990er-Jahre hatte das Judges Programme des United Nations Environmental Programme (UNEP)388 damit begonnen, regionale Symposien für Richter*in­ nen im Bereich des Umweltrechts in verschiedenen Teilen der Welt auszurichten. In Kooperation mit dem South African Constitutional Court veranstaltete UNEP 2002 ein Global Judges Symposium in Johannisburg, auf dem etwa 70 Richter*innen und Repräsentant*innen internationaler Gerichte zusammenkamen, um die Bedeutung der Justiz für die rechtlichen Belange des Umweltschutzes und der Nachhaltigkeit zu diskutieren.389 Im Rahmen dieser Veranstaltung wurde der Justiz eine besondere Verantwortung zuerkannt, dem sich schnell entwickelnden Rechtsrahmen aus nationalen und internationalen Umweltrechtsakten, Erklärungen und Abkommen zu praktischer Wirksamkeit zu verhelfen. Da insbesondere fehlendes Fachwissen und Informa­ tionsdefizite die Justiz daran hinderten, ihre Schlüsselrolle zu erfüllen,390 wurden der Aufbau ausreichender Kapazitäten an ausgebildetem Fachpersonal und die überregionale bzw. internationale Zusammenarbeit aller Akteure im Bereich der Justiz als besondere Bedürfnisse identifiziert.391

387  UNEP, Rio+20 Declaration on Justice, Governance and Law für Environmental Sustainability, 2012, S.  3, abrufbar unter: https://wedocs.unep.org/bitstream/ handle/20.500.11822/9969/advancing_justice_governance_law.pdf?sequence=1& isAllowed=y (Stand: 14.2.2023). 388  Zur Website: https://www.unep.org/about-un-environment (Stand: 14.2.2023). 389  EUFJE, Presentation, 2020, https://www.eufje.org/index.php?option=com_con tent&view=article&id=41&Itemid=230&lang=en (Stand: 14.2.2023); Lavrysen, in: Faure/De Smedt, Environmental Enforcement Networks, 2015, S. 276. 390  Lavrysen, in: Faure/De Smedt, Environmental Enforcement Networks, 2015, S.  278 ff. 391  Vgl. dazu: Global Judges Symposium, The Johannesburg Principles on the Role of Law and Sustainable Development adopted at the Global Judges Symposium held in Johannesburg, South Africa on 18–20 August 2002, 20.8.2002, S. 3 ff., abrufbar unter: https://www.eufje.org/images/DocDivers/Johannesburg  %20Principles.pdf (Stand: 14.2.2023).



B. Netzwerke im Bereich Compliance Promotion315

a) Aufbau und Verhältnis zur EU-Kommission Das EUFJE wurde in Reaktion auf das Symposium von Johannisburg als ständiges Forum für die geografische Region Europa gegründet, um das Bewusstsein der Justiz für ihre Verantwortung für den Fortschritt einer nachhaltigen Entwicklung zu stärken.392 Unionsrechtliche Grundlagen, die die Errichtung des EUFJE anordnen, Handlungskompetenzen zuweisen oder seine Arbeitsweise regeln gibt es nicht. Wie IMPEL wird aber auch das EUFJE von einer gemeinnützigen Vereinigung nach belgischem Recht (a.i.s.b.l.) getragen, die intern durch eine Generalversammlung (engl.: General Assembly), einen Vorstand (engl.: Board) und ein Generalsekretariat (engl.: General Secretariat) strukturiert ist und die Netzwerkmitglieder in einer einheitlichen Gesellschaftsform organisiert (vgl. Art. 6–11 EUFJE-Statuten393). EUFJE bildet ein Practitioner Network für Akteure aus dem Bereich der Justiz. Die Teilnahme steht Verfassungs-, Verwaltungs-, Straf- oder Zivil­ richter*innen auf allen Ebenen des Justizwesens offen, die Interesse am Umweltrecht haben und einem Gericht eines EU- oder EFTA-Staates, dem EuGH oder dem EGMR angehören. Richter*innen aus Drittstaaten oder EUBeitrittsstaaten können von der Generalversammlung als „associated members“ oder Beobachter zugelassen werden (vgl. Art. 4 EUFJE-Statuten). Mittlerweile umfasst das im Rahmen von EUFJE geknüpfte Netzwerk ca. 100 Richter*innen aus 40 Staaten.394 Die Kommission, der Rat und UNEP sind zwar selbst nicht als Mitglieder involviert, ihre Vertreter können aber als Beobachter an Veranstaltungen des EUFJE teilnehmen.395 In der Generalversammlung kommt ihnen lediglich beratende Funktion zu. Über ein eigenes Stimmrecht verfügen sie nicht (vgl. Art. 6 III EUFJE-Statuten).

392  EUFJE, Presentation, 2020, https://www.eufje.org/index.php?option=com_con tent&view=article&id=41&Itemid=230&lang=en (Stand: 14.2.2023). 393  EUFJE, EUFJE Bylaws, 14.9.2019, abrufbar unter: http://eufje.org/images/ DocDivers/Bylaws2019.pdf (Stand: 14.2.2023). 394  Zum Mitgliederbestand: EUFJE, Members, 2020, https://www.eufje.org/in dex.php?option=com_content&view=article&id=43&Itemid=232&lang=en (Stand: 14.2.2023). 395  EUFJE, Members, 2020, https://www.eufje.org/index.php?option=com_content &view=article&id=43&Itemid=232&lang=en (Stand: 14.2.2023); Lavrysen, in: Faure/ De Smedt, Environmental Enforcement Networks, 2015, S. 285.

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3. Teil: Netzwerke im Bereich der Vollzugskontrolle

b) Zielsetzung und Arbeitsweise Nach den internen Statuten des EUFJE396 ist die Wissensvermittlung das erklärte Ziel der Vereinigung. Durch den Austausch praktischer Erfahrungen, die in der Rechtsprechung zu umweltrelevanten Fragen oder bei der Ausbildung von Staatsanwalt- und Richterschaft im Zusammenhang mit dem Umweltrecht gewonnen werden konnten, soll der Aufbau fachkundiger Personalbestände in der Justiz gefördert werden.397 Zu den Kerntätigkeiten des EUFJE zählt zunächst der Aufbau von Kontakten zwischen Netzwerkmitgliedern, Beobachtern und anderen EU-Einrichtungen zum Zweck des gegenseitigen Lehrens und Lernens. Darüber hinaus initiiert und fördert EUFJE die Durchführung von Studien, Rechtsprechungsübersichten und veranstaltet jährliche Kolloquien, die zu einem tiefergehenden Verständnis für das EU-Umweltrecht beitragen sollen (vgl. Art. 3 II–VI EUFJE-Statuten). Auf internationaler Ebene beteiligt sich EUFJE an den Aktivitäten zur Umsetzung der AarhusKonvention, insbesondere an denen der Task Force für den Zugang zu ­Gerichten in Umweltsachen. Darüber hinaus unterhält das Netzwerk enge Kooperationsbeziehungen zu anderen Practitioner Networks; z.  B. unterstützte EUFJE das IMPEL-Netzwerk im Rahmen des SPIDERWEB Projekts398 bei der Ausarbeitung von Schulungsmaterialien für das Justizpersonal in den Staaten des westlichen Balkans.399 c) Wirkungsdimension: EUFJE aus Perspektive der Kommission Für die Kommission als Vollzugskontrollinstanz ist die Arbeit von EUFJE von besonderem Interesse, kann sie über die Zusammenarbeit mit dem Netzwerk doch darauf hinwirken, dass EU-Umweltrechtsakte von der Justiz in den Mitgliedstaaten wirkungsvoll und ihren Vorstellungen entsprechend durchgesetzt werden. Tatsächlich unterstützt die Kommission EUFJE sehr aktiv. So rief sie 2008 ein Kooperationsprogramm ins Leben, in dessen Rahmen Ausbildungsmaterialien zu verschiedenen umweltrechtlichen Themen erarbeitet und eine Vielzahl von Seminaren und Workshops veranstaltet wur-

396  EUFJE, Aarhus, 2020, https://www.eufje.org/index.php?option=com_content& view=article&id=62&Itemid=253&lang=en (Stand: 14.2.2023). 397  EUFJE, Welcome, 2020, https://www.eufje.org/index.php?option=com_content &view=article&id=40&Itemid=228&lang=en (Stand: 14.2.2023); Lavrysen, in: Faure/ De Smedt, Environmental Enforcement Networks, 2015, S. 284 f. 398  Dazu: 3. Teil, B. III. 1. c) bb) (2). 399  EUFJE, Cooperation with other environmental enforcement networks, 2020, https://www.eufje.org/index.php?option=com_content&view=article&id=65&Itemid= 256&lang=en (Stand: 14.2.2023).



B. Netzwerke im Bereich Compliance Promotion317

den.400 2012 beauftragte sie die Europäische Rechtsakademie (ERA) in Trier damit, im Rahmen des Projekts Cooperation with National Judges in the Field of Environmental Law komplette Ausbildungsmodule zu entwickeln, die von Ausbildungseinrichtungen in ganz Europa direkt eingesetzt werden können und neben E-Learning-Tools auch Hintergrundmaterialien, Übungen mit Lösungsvorschlägen und Anleitungen zur Organisation und Durchführung von Workshops zur Verfügung stellen.401 Im Gegenzug profitiert die Kommission selbst von EUFJE als Beratungsinstanz. So konsultiert die GD ENV das EUFJE regelmäßig bei der Ausarbeitung neuer Vorschläge für EU-Umweltrechtsakte, die die Belange der Justiz betreffen – etwa den Zugang zu den Gerichten in Umweltangelegenheiten – sowie bei der Evaluation bestehender Rechtsakte und politischer Initiativen. U. a. wurde das Netzwerk zur Bewertung der Umweltkriminalitätsrichtlinie (2008/99/EG402), der Umwelthaftungsrichtlinie (2004/35/EG403) und des Aktionsplans der EU zur Bekämpfung des illegalen Artenhandels404 herangezogen.405 4. EnviCrimeNet und ENPE: Netzwerke im Bereich der Umweltstrafverfolgung Neben dem IMPEL-Netzwerk, dessen Tätigkeit primär auf die Unterstützung nationaler Verwaltungsbehörden gerichtet ist, und EUFJE, das die gerichtliche Durchsetzung umweltrechtlicher Vorgaben fördern soll, wurden mit dem Europäischen Netzwerk für Umweltkriminalität (engl.: European Network for Environmental Crime; EnviCrimeNet) und dem Europäischen 400  Lavrysen, in: Faure/De Smedt, Environmental Enforcement Networks, 2015, S.  286 f. 401  ERA, Cooperation with National Judges in the Field of Environmental Law, o. D., https://www.era.int/cgi-bin/cms?_SID=NEW&_sprache=de&_bereich=artikel&_ aktion=detail&idartikel=123789 (Stand: 14.2.2023). 402  Richtlinie 2008/99/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 19. November 2008 über den strafrechtlichen Schutz der Umwelt, ABl. 2008, Nr. L 328, S.  28 ff. 403  Richtlinie 2004/35/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. April 2004 über Umwelthaftung zur Vermeidung und Sanierung von Umweltschäden, ABl. 2004, Nr. L 143, S. 56 ff. 404  KOM, Mitteilung an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen – Aktionsplan der EU zur Bekämpfung des illegalen Artenhandels, 26.2.2016, KOM(2016) 87 final. 405  EUFJE, European Commission, DG Environment, 2020, https://www.eufje. org/index.php?option=com_content&view=article&id=63&Itemid=254&lang=en (Stand: 14.2.2023); Lavrysen, in: Faure/De Smedt, Environmental Enforcement Networks, 2015, S. 287.

318

3. Teil: Netzwerke im Bereich der Vollzugskontrolle

Netz der Staatsanwälte für Umwelt (engl.: European Network of Prosecutors for the Environment; ENPE) weitere Practitioner Networks geschaffen, die die Relevanz des Netzwerkkonzepts auf den Bereich der Umweltstrafverfolgung erstrecken.406 Internationale Umweltkriminalität stellt eine zunehmende Bedrohung für die Umweltziele der EU dar.407 Qualifizierte das Europäische Polizeiamt (Europol) diesen Bereich 2013 noch als „aufkommende Bedrohung“,408 wurde Umweltkriminalität bereits 2017 vom Europäischen Rat in die Prioritätenliste des Vierjahresplans für die Bekämpfung schwerer und organisierter Kriminalität (EU-Politikzyklus 2018–2021) aufgenommen.409 Der Begriff Umweltkriminalität wurde dabei an keiner Stelle verbindlich definiert.410 Die Kommission schlägt jedoch einen weiten, über das reine Umweltstrafrecht hinausreichenden Ansatz vor, der „jede Verletzung umweltrechtlicher Vorgaben, die erhebliche Schäden und Risiken für die Umwelt oder die menschliche Gesundheit verursachen“ unter dem Terminus Umweltkriminalität erfasst.411 Verstöße gegen das EU-Umweltrecht können in der Praxis äußerst lukrativ sein. So lassen sich etwa durch den illegalen Handel mit gefährdeten Tieroder Pflanzenarten, illegale Abfallgeschäfte oder Abholzungen enorme Profite erzielen, die sogar mit der Rentabilität des organisierten Drogenhandels konkurrieren können.412 Das finanzielle Gewicht solcher Aktivitäten wurde in einem Bericht des Umweltbundesamts (UBA) aus dem Jahr 2018 auf 110 406  Falke, ZUR 2018, 246 (246); KOM, Mitteilung an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen – Aktionsplan der EU für einen besseren Vollzug des Umweltrechts und eine bessere Umweltordnungspolitik, 18.1.2018, KOM(2018) 10 final, S. 5. 407  EnviCrimeNet, Intelligence Project on Environmental Crime, 20.2.2015, S. 4, abrufbar unter: https://www.europol.europa.eu/sites/default/files/documents/ipec_re port_on_environmental_crime_in_europe.pdf (Stand: 14.2.2023). 408  Europol, EU Serious and Organised Crime Threat Assessment, 2013, S. 39, abrufbar unter: https://www.europol.europa.eu/sites/default/files/documents/socta2013. pdf (Stand: 14.2.2023). 409  Rat, Council conclusions on setting the EU’s priorities for the fight against organised and serious international crime between 2018 and 2021, 2.5.2017, 9450/17, S. 8; beibehalten für den Zeitraum 2022–2025: Rat, Council conclusions on setting the EU’s priorities for the fight against organised and serious international crime between 2022 and 2025, 12.5.2021, 8665/21, S. 10. 410  Vgl. dazu: Richtlinie 2008/99/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 19. November 2008 über den strafrechtlichen Schutz der Umwelt, ABl. 2008 Nr. L 328, S. 28 ff. 411  KOM, Combating Environmental Crime, o.  D., https://ec.europa.eu/environ ment/legal/crime/ (Stand: 3.3.2022). 412  Europol, EU Serious and Organised Crime Threat Assessment, 2017, S. 41, abrufbar unter: https://www.europol.europa.eu/sites/default/files/documents/report_ socta2017_1.pdf (Stand: 14.2.2023).



B. Netzwerke im Bereich Compliance Promotion319

bis 281 Milliarden US-Dollar pro Jahr geschätzt.413 Gleichzeitig bleiben die Sanktionen deutlich hinter der Strafandrohung für Drogendelikte zurück.414 Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass Umweltdelikte zunehmend systematisch durch organisierte Gruppen begangen werden. Erschwert wird ihre Verfolgung vor allem durch drei Faktoren: Erstens findet Umweltkriminalität häufig unter dem Deckmantel legaler wirtschaft­ licher Betätigungen statt; nicht selten werden Unternehmensstrukturen zur Tarnung geschaffen oder instrumentalisiert, so dass sie sich von legalen Geschäften kaum unterscheiden lassen.415 Zweitens schlägt sich die Komplexität natürlicher Umweltzusammenhänge auch bei der Strafverfolgung nieder. Zwar kann die Begehung von Umweltdelikten erhebliche Schäden für Mensch und Umwelt zur Folge haben, etwa Krankheiten oder Naturkatastrophen verursachen, irreversible Klimaveränderungen hervorrufen oder die Artenvielfalt verringern. Oft sind diese Schäden aber das Ergebnis mehrerer, kumulativer Umweltrechtsverletzungen, so dass sie sich keiner illegalen Aktivität eindeutig zuordnen lassen. Da Schäden häufig nicht sofort in Erscheinung treten, wird ihre Entdeckung zusätzlich erschwert.416 Drittens haben Umweltdelikte meistens grenzüberschreitenden Charakter.417 Sollen z. B. ille413  UBA, Status quo und Weiterentwicklung des Umweltstrafrechts und anderer Sanktionen: Instrumente zur Verbesserung der Befolgung, 135/2019, S. 12, abrufbar unter: https://www.umweltbundesamt.de/sites/default/files/medien/1410/publikationen /2019-11-07_texte_135-2019_umweltstrafrecht_0.pdf (Stand: 14.2.2023); einer 2011 durchgeführten Studie zufolge stehen 3 der 12 lukrativsten internationalen kriminellen Aktivitäten (illegaler Artenhandel, illegaler Holzhandel und illegaler Fischhandel) in Zusammenhang mit der Begehung von Umweltdelikten, vgl. Europol, Environmental Crime, o.  D., https://www.europol.europa.eu/crime-areas-and-trends/crimeareas/environmental-crime (Stand: 14.2.2023). 414  Zur Effektivität der Sanktionen in den Mitgliedstaaten im Detail: KOM, Staff Working Document, Evaluation of the Directive 2008/99/EC of the European Parliament and of the Council of 19 November 2008 on the protection of the environment through criminal law (Environmental Crime Directive), 28.10.2020, SWD(2020) 259 final Part I, S. 59 ff.; EEB, Implement for Life – Crime and Punishment, 2020, S. 21  f., abrufbar unter: https://mk0eeborgicuypctuf7e.kinstacdn.com/wp-content/up loads/2020/03/Crime-and-punishment-March-2020.pdf (Stand: 14.2.2023). 415  EnviCrimeNet, Intelligence Project on Environmental Crime, 20.2.2015, S. 1, abrufbar unter: https://www.europol.europa.eu/sites/default/files/documents/ipec_re port_on_environmental_crime_in_europe.pdf (Stand: 14.2.2023); Europol, Environmental Crime, o.  D., https://www.europol.europa.eu/crime-areas-and-trends/crimeareas/environmental-crime (Stand: 14.2.2023). 416  EnviCrimeNet, Intelligence Project on Environmental Crime, 20.2.2015, S. 1, abrufbar unter: https://www.europol.europa.eu/sites/default/files/documents/ipec_re port_on_environmental_crime_in_europe.pdf (Stand: 14.2.2023). 417  KOM, Combating Environmental Crime, o. D., https://environment.ec.europa. eu/law-and-governance/compliance-assurance/combating-environmental-crime_en (Stand: 14.2.2023).

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3. Teil: Netzwerke im Bereich der Vollzugskontrolle

gale Tier-, Pflanzen- oder Abfalltransporte verfolgt und abgefangen werden, hängt der Erfolg davon ab, dass Behörden verschiedener Staaten koordiniert zusammenarbeiten.418 Hierzu zählt zum einen der schnelle und verlässliche Austausch relevanter Informationen, zum anderen aber auch die Durchführung gemeinsamer Maßnahmen vor Ort. Ein hohes, europaweit vergleich­ bares Niveau an Fachwissen innerhalb der verantwortlichen Stellen ist dafür notwendige Voraussetzung. a) EnviCrimeNet: Europäische Polizeibeamte gegen Umweltkriminalität Um den besonderen Herausforderungen bei der Bekämpfung grenzüberschreitender Umweltkriminalität zu begegnen, wurde aufgrund einer Entschließung des Rates419 mit EnviCrimeNet im Jahr 2011 ein informelles Netzwerk geschaffen, das Polizeibeamt*innen, die im europäischen Raum mit der Verfolgung von Umweltdelikten betraut sind, miteinander verbindet. EnviCrimeNet zielt darauf ab, das Bewusstsein nationaler Strafverfolgungsbehörden für die ökonomische und ökologische Bedeutung internationaler Umweltkriminalität und die Schwere von Straftaten in diesem Bereich zu stärken, Wissen zu vermitteln und den Austausch praktischer Erfahrungen zu fördern.420 Neben der Ausarbeitung von Schulungsmaterialien werden Ermittlungsmethoden gesammelt, Strategien und Taktiken bei der Verfolgung von Umweltdelikten diskutiert und Erscheinungsformen krimineller Aktivitäten und Entwicklungstrends analysiert.421 Dabei arbeitet EnviCrimeNet mit der Kommission, EUFJE, ENPE, Eurojust, Europol, Interpol und anderen Organisationen und Netzwerken zusammen. Als rein informelles Netzwerk ohne Trägergesellschaft wird EnviCrimeNet vor allem von Europol unterstützt, dessen Personal Sekretariatsaufgaben erfüllt und die Website des Netzwerks betreut.422 EnviCrimeNet und Europol führen auch gemeinsame Projekte durch, so etwa das 2015 abgeschlossene Intelligence Project on 418  Zu den Schwierigkeiten grenzüberschreitender Zusammenarbeit: EnviCrimeNet, Intelligence Project on Environmental Crime, 20.2.2015, S. 16 f., abrufbar unter: https://www.europol.europa.eu/sites/default/files/documents/ipec_report_on_environ mental_crime_in_europe.pdf (Stand: 14.2.2023). 419  Council resolution on the creation of EnviCrimeNet, 9/10.6.2011, 10291/11. 420  EnviCrimeNet, Intelligence Project on Environmental Crime, 20.2.2015, S. 1, abrufbar unter: https://www.europol.europa.eu/sites/default/files/documents/ipec_re port_on_environmental_crime_in_europe.pdf (Stand: 14.2.2023). 421  Angelov/Cashman, in: Faure/De Smedt/Stas, Environmental Enforcement Networks, 2015, S. 371. 422  Angelov/Cashman, in: Faure/De Smedt/Stas, Environmental Enforcement Networks, 2015, S. 371; Europol, Environmental Crime, o. D., https://www.europol.eu ropa.eu/crime-areas-and-trends/crime-areas/environmental-crime (Stand: 14.2.2023).



B. Netzwerke im Bereich Compliance Promotion321

Environmental Crime (IPEC), in dessen Verlauf Datenmaterial aus mehr als 50 Fragebögen, Interviews, Studien und Statistiken ausgewertet wurde, um eine Wissensbasis über verschiedene Formen der Umweltkriminalität und ihre Auswirkungen aufzubauen und Hindernisse zu identifizieren, denen nationale Strafverfolgungsbehörden bei der Bekämpfung von Umweltstraftaten gegenüberstehen.423 b) ENPE: Europäische Staatsanwälte gegen Umweltkriminalität ENPE wurde im Jahr 2012 nach dem Vorbild des EUFJE gegründet,424 um die Arbeit von Staatsanwaltschaften und anderen Strafverfolgungsbehörden, die an der Bekämpfung der internationalen Umweltkriminalität mitwirken, zu unterstützen und das Umweltstrafrecht als integralen Bestandteil der Strafverfolgung zu etablieren. Ebenso wie EUFJE und IMPEL wird ENPE seit 2016 von einer organisatorisch unabhängigen, gemeinnützigen Vereinigung nach belgischem Recht, der ENPE a.i.s.b.l., getragen,425 die ihren internen Statuten426 zufolge im Rechtsverkehr auch das Akronym INPA als Bezeichnung führt (vgl. Art. 2 ENPE-Statuten). Die Mitgliedschaft im Netzwerk steht allen Organisationen frei, die sich in einem EU- oder EFTA-Staat, einem EU-Beitrittsstaat oder Kooperationsstaat der EUA mit der Verfolgung von Umweltstraftaten befassen. Darüber hinaus können auch andere natürliche und juristische Personen, die ähnliche Tätigkeiten ausüben und mit ENPE gemeinsame Interessen verfolgen zur Unterstützung in die Netzwerkzusammenarbeit einbezogen werden (vgl. Art. 6.1 ENPE-Statuten). EU-Institutionen, wie die Kommission, nehmen als Beobachter ohne Stimmrecht an den Sitzungen der Generalversammlung teil (vgl. Art. 1 6) Nr. 2, 9.1 ENPE-Statuten). Im Übrigen kooperiert ENPE auch mit anderen Organisationen wie EUFJE, Europol und Eurojust.427 423  EnviCrimeNet, Intelligence Project on Environmental Crime, 20.2.2015, S. 1, abrufbar unter: https://www.europol.europa.eu/sites/default/files/documents/ipec_re port_on_environmental_crime_in_europe.pdf (Stand: 14.2.2023). 424  Angelov/Cashman, in: Faure/De Smedt/Stas, Environmental Enforcement Networks, 2015, S. 369 f.; ENPE, Willkommen im Europäischen Netzwerk der Staats­ anwälte für Umwelt, o.  D., https://www.environmentalprosecutors.eu/background (Stand: 14.2.2023). 425  ENPE, Willkommen im Europäischen Netzwerk der Staatsanwälte für Umwelt, o. D., https://www.environmentalprosecutors.eu/background (Stand: 14.2.2023). 426  ENPE, Statutes, o.  D., https://environmentalprosecutors.eu/statutes (Stand: 14.2.2023). 427  Eurojust, Rise in environmental crime addressed at ENPE and Eurojust conference – Press Release, 29.10.2019, https://www.eurojust.europa.eu/rise-environmen tal-crime-addressed-enpe-and-eurojust-conference (Stand: 14.2.2023).

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3. Teil: Netzwerke im Bereich der Vollzugskontrolle

ENPE arbeitet in verschiedenen Arbeitsgruppen an der wirksamen Bekämpfung von Artenschutzkriminalität,428 der Verfolgung illegaler Aktivitäten im Zusammenhang mit der Sammlung, Verbringung und Entsorgung von Abfällen429 sowie der Verfolgung von Verstößen gegen Vorschriften, die zur Umsetzung der Industrieemissionsrichtlinie (2010/75/EU) ergangen sind.430 Nach den Statuten des Netzwerks fördert ENPE u. a. den Austausch von Informationen und Erfahrungen mit der Ermittlung, Verfolgung und Sanktionierung von Umweltstraftaten, die Wissensvermittlung zum Umweltstrafrecht sowie die Sammlung von Daten über die Umweltkriminalität in Europa (vgl. Art. 4.1 ENPE-Statuten). Neben der Erarbeitung von Leitlinien, Strategien, Schulungsmaterialien und Mindeststandards, die die Verfolgung von Umweltstraftaten allgemein verbessern sollen, spielt vor allem der operative Aspekt bei ENPE eine Rolle: So bietet das Netzwerk eine Kommunikationsplattform, die es seinen Mitgliedern ermöglicht, sich gegenseitig über konkrete Ermittlungs- und Strafverfolgungsmaßnahmen in Kenntnis zu setzen, ihre Vorgehensweise untereinander abzusprechen und grenzüberschreitende Verfolgungsmaßnahmen zu koordinieren.431 Aus Perspektive der Kommission kommt ENPE ähnliche Bedeutung wie dessen Vorbildnetzwerk EUFJE zu: Während sie ENPE einerseits als Plattform nutzen kann, um nationale Strafverfolgungsbehörden über legislative und umweltpolitische Entwicklungen auf EU-Ebene zu informieren, Projekte anzuregen und somit selbst den Umweltrechtsvollzug in den Mitgliedstaaten zu unterstützen, beansprucht sie ENPE ihrerseits als Beratungsinstanz, die ihr im Rahmen von Expertentreffen und Konferenzen Einblicke in die alltägliche Umweltstrafverfolgung gewähren soll.432

428  ENPE, Arbeitsgruppe 1 – Wildtierkriminalität, o. D., https://www.environmen talprosecutors.eu/wildlife-crime (Stand: 14.2.2023). 429  ENPE, Arbeitsgruppe 2 – Abfallkriminalität, o.  D., https://www.environmen talprosecutors.eu/waste-crime (Stand: 14.2.2023). 430  ENPE, Arbeitsgruppe 3 – Luftverschmutzung, o. D., https://www.environmen talprosecutors.eu/air-pollution (Stand: 14.2.2023). 431  ENPE, Willkommen im Europäischen Netzwerk der Staatsanwälte für Umwelt, o. D., https://www.environmentalprosecutors.eu/background (Stand: 14.2.2023); zur Effektivität und Tätigkeit von ENPE ausführlich: Martinius/Mastenbroek, EJRR 2019, 485 (495 ff.). 432  Angelov/Cashman, in: Faure/De Smedt/Stas, Environmental Enforcement Networks, 2015, S. 370.



B. Netzwerke im Bereich Compliance Promotion323

5. Bestandsaufnahme: Practitioner Networks als heterogene Materie Im Zuge der Globalisierung wird das Umweltrecht zunehmend durch informelle Kooperationsstrukturen geprägt.433 Die Analyse der von der Kommission als Practitioner Networks bezeichneten Erscheinungsformen hat insoweit ein äußerst heterogenes Bild gezeigt. So unterscheiden sich die im Rahmen dieses Kapitels beschriebenen Netzwerke nicht nur in Details, sondern in wesentlichen Punkten, wie dem Grad ihrer organisatorischen Selbstständigkeit und Informalität, ihrem Mitgliederbestand sowie der Art ihrer Entstehung. Während für IMPEL, EUFJE und ENPE eigene Trägergesellschaften gegründet wurden, die organisatorische Aufgaben in gewisser Unabhängigkeit von den Institutionen der EU wahrnehmen, verfügen NEPA und EnviCrimeNet lediglich über rechtlich unselbstständige Sekretariate, die von der EUA bzw. von Europol betreut werden. Zwar haben sich auch IMPEL, EUFJE und ENPE in den Frühphasen nach ihrer jeweiligen Errichtung zunächst ohne strukturgebende Trägergesellschaften betätigt. Eine generelle Entwicklungstendenz europäischer Practitioner Networks in Richtung einer organisatorischen Verselbstständigung kann hieraus jedoch nicht gefolgert werden. Schließlich existiert z. B. das NEPA mittlerweile seit beinahe drei Jahrzehnten, ohne durch die Schaffung einer Trägergesellschaft restrukturiert worden zu sein. Mögen sich die Arbeitsbeziehungen in allen Netzwerken durch ein gewisses Maß an Informalität auszeichnen, zeigen sich auch hier Unterschiede. Während etwa die Statuten von ENPE Vorgaben für den Ablauf von Vorstandsversammlungen treffen und bestimmte Entscheidungsverfahren formalisieren,434 bieten frei strukturierte Netzwerke ohne Trägergesellschaften in der Regel größere Flexibilität bei der netzwerkinternen Organisation. Auch in der Netzwerkzusammensetzung zeigen sich verschiedene Varianten. Während sich IMPEL, NEPA und EnviCrimeNet aus Verwaltungsakteuren zusammensetzen, zeigt EUFJE, dass sich Netzwerke nicht auf den adminis­ trativen Bereich beschränken müssen, sondern auch für Akteure der nationalen Judikativen einen Mehrwert bieten können. Nicht einmal in ihrer Entstehung gleichen Practitioner Networks einander zwangsläufig. Während die meisten Netzwerke das Resultat bottom-up gerichteter Initiativen der Mitgliedstaaten darstellen, wurde z. B. EnviCrimeNet aufgrund eines Ratsbeschlusses aus der Unionssphäre heraus errichtet. Der Begriff des Practitioner Networks, wie er von der Kommission verwendet wird, beschreibt also ein weites Feld unterschiedlich gestalteter funk433  Dilling/Markus,

ZUR 2016, 3 (3). EJRR 2019, 485 (498).

434  Martinius/Mastenbroek,

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3. Teil: Netzwerke im Bereich der Vollzugskontrolle

tionaler Einheiten. Doch obwohl die dargestellten Netzwerke in vielen Belangen variieren, sind sie allesamt Ausdruck ein und derselben Bestrebung, möglichst günstige Bedingungen zu schaffen, um den Vollzug des EU-Umweltrechts als gemeinsame Herausforderung anzugehen. Insoweit lassen sich nicht nur Unterschiede, sondern auch Gemeinsamkeiten erkennen, die Practitioner Networks zu einem zentralen Bestandteil des Compliance-PromotionAnsatzes der Kommission machen: –– ­ Jedes Practitioner Network setzt sich aus Teilnehmern mit vergleichbarem beruflichem Hintergrund zusammen. Damit bleibt gewährleistet, dass die beteiligten Akteure auf ähnliche Erfahrungen zurückgreifen können, in ihrem Arbeitsalltag mit ähnlichen Herausforderungen konfrontiert werden und auf vergleichbarem Niveau diskutieren können. Während berufsgruppenübergreifende Netzwerke Gefahr laufen würden, zu viele verschiedene Perspektiven und Problemstellungen einzubeziehen, so dass die Zusammenarbeit oberflächlich und diffus geraten könnte, ist es gerade der nach Berufsgruppen differenzierende Zuschnitt, der die Ausrichtung der Netzwerktätigkeit an den realen Bedürfnissen nationaler Vollzugsakteure gewährleistet und Practitioner Networks zu funktionalen Einheiten macht, die sich grundsätzlich dazu eignen, praxisorientierte Vollzugsunterstützung jenseits politischer Diskussionen zu leisten. –– ­ Da die Mitgliedschaft in Netzwerken freiwilliger Natur ist, bleibt gesichert, dass sich nur solche Akteure an der Zusammenarbeit beteiligen, die die mit dem jeweiligen Netzwerk verfolgten Ziele in Bezug auf den EUUmweltrechtsvollzug teilen.435 Lähmende Uneinigkeiten und Diskussionen, wie sie die Unionspolitik auf intergouvernementaler Ebene häufig beeinträchtigen, werden im netzwerkinternen Bereich somit weitgehend vermieden. –– ­ Obwohl jedes Practitioner Network für sich genommen eine Einheit bildet, bestehen auch zu anderen Berufs- bzw. Interessengruppen Verbindungen, die eine netzwerkeübergreifende Zusammenarbeit zu Gunsten des effektiven EU-Umweltrechtsvollzugs ermöglichen. Anstatt also einen isolierten, hermetischen Raum zu bilden, in dem ausschließlich Mitglieder desselben Netzwerks interagieren, sind Practitioner Networks typischerweise in ein komplexes Beziehungsgeflecht aus Behörden, anderen Netzwerken und EU-Institutionen eingebettet, über das gemeinsam koordinierte Projekte initiiert und erforderlicher Input gewonnen werden kann. Auch wenn ihre Einflussmöglichkeiten auf die verschiedenen Netzwerke unterschiedlich ausgeprägt sein mögen, fungiert gerade die Kommission im Verhältnis zu allen Practitioner Networks als wichtige Kooperationspartnerin. 435  Dahingehend unter dem Schlagwort „shared logic of appropriateness“ auch: Martinius/Mastenbroek, EJRR 2019, 485 (491, 498).



B. Netzwerke im Bereich Compliance Promotion325

Practitioner Networks werden als möglichst günstige Kooperationsrahmen konzipiert, um jenseits klassischer, hierarchisch-imperativ geprägter Kon­ trollstrukturen Vollzugsunterstützung zu leisten. Wie effektiv sich ihre Tätigkeit in der Praxis auswirkt, lässt sich mit Blick auf die netzwerktypische Informalität und die Unverbindlichkeit ihrer Arbeitsergebnisse kaum beurteilen. Da es jedem Mitgliedstaat selbst überlassen bleibt, Nutzen aus der Zusammenarbeit zu ziehen, fehlt es an objektiv vergleichbaren Bewertungsgrundlagen. Das praktische Leistungsvermögen der dargestellten Netzwerkstrukturen ist in der Vollzugsrealität somit stark von einzelfallbezogenen Faktoren abhängig – darunter vor allem von nationalen Gegebenheiten – so dass eine pauschale Evaluation im Rahmen dieser Arbeit nicht geleistet werden kann.436 Die Idee, die Zusammenarbeit nationaler Vollzugsakteure in Practitioner Networks als Compliance-Promotion-Mechanismus zu nutzen bietet aber jedenfalls theoretisches Potenzial, das nunmehr als Bestandteil des EUVollzugskontrollsystems im Kontext politischer und rechtlicher Widerstände, denen die Kommission bei der Erfüllung ihres Vollzugskontrollauftrags regelmäßig begegnet, einer abschließenden Analyse unterzogen werden soll.

IV. Auswertung Nachdem also Arbeitsweise und Rahmenbedingungen umweltrelevanter Practitioner Networks ausführlich dargestellt wurden, gilt es den Blick auf die übergeordnete Fragestellung zu richten und herauszuarbeiten, wie Netzwerke im Bereich Compliance Promotion zur supranationalen Kontrolle des EU-Umweltrechtsvollzugs beitragen und den in Art. 258 ff. AEUV verankerten Enforcement Ansatz ergänzen. Hierbei soll vor allem darauf eingegangen werden, inwieweit die im Bereich der imperativen EU-Vollzugskontrolle festgestellten Kompetenz- und Ressourcendefizite durch die Einbeziehung bzw. Instrumentalisierung informeller Kooperationseinheiten kompensiert werden können. Practitioner Networks haben in den vergangenen Jahren entscheidend zur Fortentwicklung des Compliance-Promotion-Ansatzes beigetragen. Zwar sahen Kommission und Parlament zu Beginn der 1990er-Jahre noch imperative Instrumente, wie bindende Vollzugsregelungen oder den Aufbau eines den Mitgliedstaaten übergeordneten EU-Umweltinspektorats mit eigenen Investigations- oder sogar Anordnungsbefugnissen als besten Weg, um den Vollzug europäischer Umweltrechtsakte in den Mitgliedstaaten zu steuern. In Anbetracht ressourcenökonomischer und kompetenzpolitischer Hindernisse haben 436  Ein Versuch, analytische Rahmenkriterien für die Bewertung der Effektivität europäischer Verwaltungsnetzwerke zu entwickeln, findet sich bei: Martinius/Mastenbroek, EJRR 2019, 485 (487 ff.).

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3. Teil: Netzwerke im Bereich der Vollzugskontrolle

sich stattdessen aber konsensuale Formen der Zusammenarbeit etabliert, die mit dem Netzwerkboom der 2000er-Jahre in den Vordergrund gerückt sind. Das IMPEL-Netzwerk lässt sich in diesem Zusammenhang als Modellversuch verstehen, auf Grundlage intergouvernementaler Verständigung, Flexibilität, Informalität und Freiwilligkeit zur Verbesserung des EU-Umweltrechtsvollzugs beizutragen.437 Heute fungiert IMPEL als Vorbild für viele andere Practitioner Networks, die von der Kommission gefördert und als Quelle wertvoller Expertise aktiv in Anspruch genommen werden. Von der früheren Skepsis gegenüber freiwilligen Kooperationsformen ist nichts mehr zu spüren.438 Dem Vormarsch paneuropäischer Netzwerke blies vor allem der technische Fortschritt Wind in die Segel, der kommunikative Vernetzungen in alle Lebensbereiche integrierte und die schnelle, kostengünstige Verbreitung von Daten an eine Vielzahl von Empfängern alltäglich machte. Als Teil ein und derselben Durchsetzungskette werden Netzwerke für Polizeipersonal, Inspektorate, Staatsanwaltschaften und Gerichte heute nicht mehr nur im Zusammenhang mit der Genehmigung von Industrieanlagen, sondern in allen Umweltteilbereichen, insbesondere im Kampf gegen die internationale Umweltkriminalität relevant.439 1. Practitioner Networks als kompetenz- und ressourcenpolitische Kompromisslösung Mit Blick auf ihre heterarchische, polyzentrische Bauweise und ihren dauerhaften, aber gleichzeitig informellen Charakter bietet die Zusammenarbeit in Practitioner Networks Vorteile, die Institutionen der EU-Eigenverwaltung nicht leisten könnten. Zunächst lässt sich festhalten, dass Practitioner Networks in finanzieller wie rechtlicher Hinsicht eine Kompromisslösung darstellen.440 Während die Einrichtung einer zentralen EU-Kontrollinstitution mit eigenen Vollzugs-, Investigations- oder Durchsetzungskompetenzen einen sehr starken Eingriff in die mitgliedstaatliche Souveränität bedeuten und von vielen nationalen 437  Hedemann-Robinson, Enforcement of European Union Environmental Law: Legal Issues and Challenges, 2. Edition 2015, S. 555. 438  Hedemann-Robinson, Enforcement of European Union Environmental Law: Legal Issues and Challenges, 2. Edition 2015, S. 556. 439  EUFJE, Cooperation with other environmental enforcement networks, 2020, https://www.eufje.org/index.php?option=com_content&view=article&id=65&Itemid= 256&lang=en (Stand: 14.2.2023). 440  Vgl. dazu im Einzelnen: Migliorati, The Commission as a network administrator in EU multi-level governance?, TARN Working Paper 6/2017, S. 11; im Zusammenhang mit der Entstehung europäischer Regulierungsnetzwerke ebenso: Coen/ Thatcher, JPP 2008, 49 (67).



B. Netzwerke im Bereich Compliance Promotion327

Vollzugsakteuren als Missachtung ihrer fachlichen Kompetenzen gewertet werden würde, bieten informelle Netzwerke den Mitgliedstaaten eine i. d. R. willkommene Gelegenheit, ihre Effektivität bei der Gewährleistung des Unionsrechtsvollzugs auf freiwilliger Basis zu steigern, ohne Machtverluste fürchten zu müssen. Neben erheblichen Einschränkungen der nationalen Vollzugsautonomie, würde die Schaffung einer zentralen, vollzugssteuernden EU-Institution auch enorme Kosten verursachen, die sich finanzpolitisch kaum rechtfertigen ließen. Zwar werden auch Practitioner Networks größtenteils durch EU-Mittel finanziert.441 Da sich Netzwerke aber aus mehreren selbstständigen Einheiten zusammensetzen, können die in diesen Einheiten bereits vorhandenen Ressourcen mobilisiert und für die Zusammenarbeit genutzt werden.442 Practitioner Networks produzieren daher bei weitem nicht dieselben Kosten, wie es der Auf- oder Ausbau einer EU-Agentur mit eigenen Personalbeständen täte.443 Die Bildung von Netzwerken liegt damit im allseitigen Interesse. Während die Mitgliedstaaten die freiwillige, heterarchische Zusammenarbeit gegenüber der Abgabe eigener Vollzugskompetenzen an die EU-Eigenverwaltung bevorzugen dürften, bieten Netzwerke der Kommission eine Möglichkeit, ihre Verwaltungskapazitäten unter Rückgriff auf staatliche Ressourcen kostengünstig auszudehnen.444 Neben kompetenzrechtlichen und ressourcenökonomischen Vorteilen hat die Zusammenarbeit in Practitioner Networks auch funktionale Vorzüge ge441  Verordnung (EU) Nr. 1293/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Dezember 2013 zur Aufstellung des Programms für die Umwelt und Klimapolitik (LIFE) und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 614/2007, ABl. 2013, Nr. L 347, S. 185 ff. 442  Migliorati, The Commission as a network administrator in EU multi-level governance?, TARN Working Paper 6/2017, S. 4. 443  Für das Jahr 2018 hat die IMPEL-Generalversammlung ein Gesamtbudget von nur etwa 500.000 Euro für insgesamt 22 laufende Projekte bewilligt, während der EUA im selben Jahr ein Gesamtbudget von 63 Mio. Euro zur Verfügung stand; im Vergleich dazu werden die Kosten, die der EU aus der defizitären Umsetzung umweltrechtlicher Vorgaben erwachsen, von der Kommission auf jährlich 50 Mrd. Euro geschätzt; vgl. IMPEL, IMPEL Annual Work Programme 2018, 30.1.2018, abrufbar unter: https://www.impel-network.eu/wp-content/uploads/2018/07/Annual-Work-Pro gramme-2018-FINAL.pdf (Stand: 14.2.2023); EUA, Statement of revenue and expenditure of the European Environment Agency for the financial year 2018, ABl. 2018, Nr. C108, S. 12. ff.; KOM, Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen, Konkretere Vorteile aus den Umweltmaßnahmen der EU: Schaffung von Vertrauen durch mehr Information und größere Reaktionsbereitschaft der Behörden, 7.3.2012, KOM(2012) 95 endg., S. 3. 444  Migliorati, The Commission as a network administrator in EU multi-level governance?, TARN Working Paper 6/2017, S. 1.

328

3. Teil: Netzwerke im Bereich der Vollzugskontrolle

genüber top-down gerichteten Kontrollen. So wäre der Erlass rechtsverbindlicher Vollzugsregelungen zwar geeignet, den Unionsrechtsvollzug in den Mitgliedstaaten zu steuern und zu harmonisieren. Einheitliche EU-Vorgaben bergen neben der kompetenzrechtlichen Problematik aber immer das Risiko, den rechtlichen und politischen Besonderheiten einzelner Mitgliedstaaten oder Regionen nicht gerecht zu werden. Anstatt eine grobe, möglicherweise unpassende Einheitslösung unionsweit festzulegen, können im Rahmen von Practitioner Networks viel spezifischere Lösungen erarbeitet werden.445 Über den Austausch bewährter Praktiken und die Bereitstellung unverbindlicher Leitfäden, Schulungsunterlagen und technischer Hilfsmittel trägt die Netzwerkarbeit somit zu einer schonenden Vereinheitlichung nationaler Vollzugsaktivitäten bei, die den Erlass verbindlicher Vollzugsregelungen bis zu einem gewissen Grad entbehrlich machen bzw. abwenden kann.446 2. Practitioner Networks als selbsttätige Vollzugsunterstützungsinstrumente Indem die Kommission Netzwerke finanziert, politisch fördert und dabei unterstützt, wiederum mitgliedstaatliche Akteure beim Vollzug des EU-Umweltrechts und somit bei der Realisierung der Umweltziele der EU zu unterstützen, leistet sie indirekt selbst Vollzugsunterstützung. Zwar arbeitet die Kommission zum Teil auch direkt an Projekten und anderen Netzwerkaktivitäten mit, in der Regel beschränkt sie sich aber darauf, Practitioner Networks von außen zu orchestrieren.447 Ein Übergriff in die staatliche Vollzugssphäre findet dabei nicht statt, vielmehr konzentriert sich die Kommission darauf, die nationale Kontroll- und Sanktionspraxis in Europa, etwa durch aufwändige Ausbildungs- und Vernetzungsprogramme für nationale Beamt*innen und sonstige Experten zu koordinieren und zu verbessern.448 Auf diese Weise fördert sie die administrative Integration sozusagen durch die Hintertür.449 Gleichzeitig greift sie aber auch selbst im Rahmen von Ausschüssen und 445  Migliorati, The Commission as a network administrator in EU multi-level governance?, TARN Working Paper 6/2017, S. 12. 446  Vgl. Eberlein/Newman, Governance 2008, 25 (25  f.); Hedemann-Robinson, Enforcement of European Union Environmental Law: Legal Issues and Challenges, 2. Edition 2015, S. 555 ff.; Martens, Journal of European Integration 2008, 635 (640); ähnlich auch: Mastenbroek/Martinsen, JEPP 2018, 422 (428). 447  Migliorati, The Commission as a network administrator in EU multi-level governance?, TARN Working Paper 6/2017, S. 3. 448  Szukala, Das Implementationssystem europäischer Politik, 2012, S. 215. 449  Martens, Journal of European Integration 2008, 635 (636, 646 ff.); Migliorati, The Commission as a network administrator in EU multi-level governance?, TARN Working Paper 6/2017, S. 7.



B. Netzwerke im Bereich Compliance Promotion329

Konferenzen auf die in den Netzwerken vorhandene berufliche Expertise zurück, um EU-Umweltrechtsakte, Leitfäden und andere von ihr bereitgestellte Hilfsmittel zu verbessern und neue Instrumente zu entwickeln. Faktisch gerät die Vollzugskontrolle damit umso mehr zu einer Form der Verwaltungszusammenarbeit.450 Eine Besonderheit paneuropäische Practitioner Networks besteht darin, dass sie ihren Beitrag zum Compliance-Promotion-Ansatz der Kommission in mehr oder weniger stark ausgeprägter Selbstständigkeit leisten. Wie die Dezentralisierung eines Netzwerks aus den Händen der Kommission, bis hin zu einer teilweise autonomen Einheit aussehen kann, zeigt die Entwicklung von IMPEL.451 Betrachtet man die anderen im Rahmen dieser Arbeit analysierten Practitioner Networks fällt auf, dass einige von ihnen – konkret EUFJE und ENPE – bereits kurze Zeit nach ihrer Entstehung mit privatrechtrechtlichen Trägergesellschaften, die sich mit der IMPEL a.i.s.b.l. vergleichen lassen und den Netzwerken formale Unabhängigkeit von den Institutionen der EU gewähren, ausgestattet wurden, während NEPA und EnviCrimeNet dieses Evolutionsstadium nicht erreicht haben. Im Umweltbereich koexistieren formal unabhängige Netzwerke folglich mit solchen, die organisatorisch und funktional (noch) in die Sphäre einer EU-Institution eingebunden sind.452 Zwar werden sowohl unionsabhängige als auch (teil-)autonome Netzwerke von der Kommission finanziell und politisch gefördert. Gerade im Verhältnis zu organisatorisch selbstständigen Netzwerken mit eigener Trägergesellschaft beschränkt sich die Kommission aber überwiegend darauf, koordinierende bzw. dirigierende Impulse von außen zu setzen, anstatt die eigentliche netzwerkinterne Zusammenarbeit mitzugestalten. Als freiwillige, heterarchische und entwicklungsoffene Kooperationsstrukturen, lassen sich Netzwerke ohnehin nur schwer kontrollieren.453 Practitioner Networks haben bei der Gestaltung ihrer Kooperationstätigkeit weitgehend freie Hand. Zur Entwicklung des IMPEL-Netzwerks lässt sich sagen, dass die Kommission ein intergouvernemental gegründetes Netzwerk zunächst vorgefunden, unter ihre Fittiche genommen und den Umweltzielen der EU entsprechend gestaltet hat, um es später wieder sich selbst zu überlassen. Seither funktioniert IMPEL als relativ kostengünstiger Selbstläufer, der von der Kommission zwar noch hintergründig dirigiert wird, im Übrigen aber auch ohne ihr direktes Zutun an der Verbesserung und Vereinheitlichung des Netzwerke im Europäischen Verwaltungsrecht, 2017, S. 6. The Commission as a network administrator in EU multi-level governance?, TARN Working Paper 6/2017, S. 11. 452  Levi-Faur, JEPP 2011, 810 (823). 453  Migliorati, The Commission as a network administrator in EU multi-level governance?, TARN Working Paper 6/2017, S. 1. 450  Schwind,

451  Migliorati,

330

3. Teil: Netzwerke im Bereich der Vollzugskontrolle

EU-Umweltrechtsvollzugs mitwirkt. Während die Betreuung der NEPA- und EnviCrimeNet-Sekretariate für die EUA bzw. Europol noch gewisse Arbeitsbelastungen bedeuten, verursachen Netzwerke, die mit einer eigenen Trägergesellschaft, Organen und einem eigenen Sitz ausgestattet wurden, den EUInstitutionen keinen Personal- oder Arbeitsaufwand mehr. Nicht zuletzt deshalb dürften Practitioner Networks als nahezu selbsttätige Compliance Promotion Mechanismen aus Sicht der vielbeschäftigten Kommission interessant bleiben. 3. Practitioner Networks als „quasi-marktwirtschaftliche“ Mechanismen: Angebot und Nachfrage als effektivitätsbestimmender Faktor Netzwerke verbinden und koordinieren nationale und gegebenenfalls europäische Vollzugsakteure unter informellen Bedingungen.454 Darin liegt sowohl ihre Stärke als auch ihre Schwäche. Zunächst einmal hängt die Effek­tivität der Netzwerkarbeit im Bereich Compliance Promotion entscheidend davon ab, wie sehr sich ihre Mitglieder einbringen.455 Engagieren sich Netzwerkmitglieder unterschiedlich stark, droht die Kooperationsbeziehung aus dem Gleichgewicht zu geraten. Zwar können Wissensvermittlungsprojekte und der damit verbundene Aufbau fachkundiger Kapazitäten dazu beitragen, die Balance wiederherzustellen. Selbst wenn die Zusammenarbeit aber gute Resultate erzielt, kann nicht mit rechtlichen Mitteln gewährleistet werden, dass die entwickelten Praxisleitfäden und technischen Werkzeuge tatsächlich in den Vollzugsalltag implementiert werden. Da Practitioner Networks auf rein freiwilliger Basis existieren und in Ermangelung eigener Entscheidungskompetenzen über keine Durchsetzungskraft verfügen, bleiben ihnen Leistungsgrenzen gesetzt.456 In der Rechtswissenschaft wird die Zusammenarbeit in vollzugsunterstützenden Netzwerken daher teilweise kritisch betrachtet.457 JCMS 1997, 440 (461). Hdb. of Environmental Protection and Enforcement, 2007, S. 261. 456  Vgl. Hedemann-Robinson, Enforcement of European Union Environmental Law: Legal Issues and Challenges, 2. Edition 2015, S. 555; Migliorati, The Commission as a network administrator in EU multi-level governance?, TARN Working Paper 6/2017, S. 7, 13 f. 457  So vertritt etwa Epiney die Auffassung, IMPEL könne wegen seiner informellen und konsensualen Natur nicht zu einer effektiven Vollzugskontrolle beitragen: Epiney, Umweltrecht der EU, 4. Auflage 2019, S. 82; die tatsächliche Effektivität von Netzwerken als schwer zu beurteilen erachtet: Pink, Environmental Enforcement Networks: A Qualitative Analysis, 2010, S. 12, abrufbar unter: https://papers.ssrn.com/ sol3/Delivery.cfm/SSRN_ID1821042_code1245760.pdf?abstractid=1803179& 454  Ward/Williams, 455  Farmer,



B. Netzwerke im Bereich Compliance Promotion331

Soweit die Effektivität europaweit aktiver Practitioner Networks generell bestritten wird, wird jedoch eine Gesetzmäßigkeit verkannt, die jedem konsensualen Beziehungsgeflecht immanent ist: Um Mitgliedstaaten ohne rechtlichen Zwang zur aktiven Mitwirkung und zur Verwendung des Netzwerk Outputs zu bewegen, muss vor allem sichergestellt werden, dass es sich für sie lohnt. Ähnlich wie bei marktwirtschaftlichen Mechanismen spielt das Verhältnis zwischen Angebot und Nachfrage eine Rolle. Solange Netzwerke bedarfsgerechte Projekte und attraktive Hilfsmittel anbieten, die nationalen Vollzugsakteuren die wirksame Durchführung des EU-Umweltrechts effektiv erleichtern, werden die Mitgliedstaaten Practitioner Networks bereitwillig nutzen, so dass es faktisch gar keiner rechtlichen Zwangsmittel bedarf. Da die Kommission über finanziellen und politischen Einfluss verfügt und in gewissem Umfang auch an der netzwerkinternen Zusammenarbeit teilnehmen, insbesondere Projekte anregen kann, verfügt sie über Steuerungsmöglichkeiten, die es ihr gestatten, die Netzwerktätigkeit für nationale Vollzugsakteure möglichst nützlich zu gestalten und auf die Übereinstimmung zwischen dem Vollzugssicherungsinteresse der EU und den Eigeninteressen der Mitgliedstaaten hinzuwirken. IMPEL selbst scheint die entscheidende Bedeutung einer am Bedarf seiner Mitglieder ausgerichteten Tätigkeit zumindest erkannt zu haben. So wurde die verstärkte Anpassung der Netzwerktätigkeit an die Bedürfnisse nationaler Vollzugsakteure zuletzt im Rahmen der Arbeitsstrategie für den Arbeitszeitraum (2016–2020) zur Priorität erklärt.458 4. Kompensationspotenzial gegenüber Kompetenz- und Ressourcendefiziten der Kommission Abschließend zu klären, bleibt die Frage des Kompensationspotenzials gegenüber Kompetenz- und Ressourcendefiziten, die der Kommission die Erfüllung ihres Vollzugskontrollauftrags erschweren. Indem Practitioner Networks darauf hinarbeiten, den administrativen Vollzug unionsrechtlicher Umweltvorgaben im Alltag zu verbessern, leisten sie einen unmittelbaren Beitrag zur Compliance-Assurance-Strategie der EU. Zwar hat sich die Kommission aus vielen Netzwerken auf die Position einer Beobachterin bzw. externen Kooperationspartnerin zurückgezogen. Je selbstständiger die Netzwerkarbeit aber abläuft, desto weniger Zeit- und Personalaufwand entstehen den EU-Institutionen mit ihrer Betreuung. Im Optimalfall kann die Kommismirid=1 (Stand: 14.2.2023); kritisch zur Funktion von Regulierungsnetzwerken: Coen/Thatcher, JPP 2008, 49 (67 f.). 458  IMPEL, IMPEL’s Multi Annual Strategic Work Programme 2016–2020, 25.4.2016, S. 2 ff., abrufbar unter: https://www.impel-network.eu/wp-content/uploads/ 2014/11/IMPEL-Strategic-Work-Programme-2016-to-2020-Final-29-April-2016.pdf (Stand: 14.2.2023).

332

3. Teil: Netzwerke im Bereich der Vollzugskontrolle

sion Netzwerke sogar ganz ohne Einmischung für sich arbeiten lassen und sich auf ihre finanzielle und politische Förderung beschränken. Soweit Practitioner Networks effektiv funktionieren, können sie durchaus dazu beitragen, das Ressourcendefizit der Kommission im Vollzugskontrollbereich auszugleichen.459 Schwieriger lässt sich feststellen, inwieweit die Zusammenarbeit in Netzwerken das Fehlen aktiver Investigationsbefugnisse kompensieren kann. Jedenfalls im Umweltbereich verfügen Netzwerke bisher über keine eigenen Überwachungs- und Inspektionskompetenzen, die sich die Kommission zunutze machen könnte.460 Werden EU-Umweltrechtsverstöße proaktiv vermieden, kommt es jedoch seltener zu Situationen, in denen Investigationsmaßnahmen zur Erforschung mutmaßlicher Vertragsverletzungen ergriffen werden müssten. Müssen weniger Vertragsverletzungsverfahren eröffnet werden, sinkt zugleich die Arbeitsbelastung von Kommission und EuGH, so dass die dennoch eingeleiteten Verfahren schneller und sorgfältiger bearbeitet werden können. Inwieweit der Rückgriff auf Practitioner Networks Kompetenz- und Ressourcendefizite in der Praxis reduzieren bzw. ausgleichen kann, hängt in entscheidendem Umfang von der Mitwirkungsbereitschaft der am Netzwerk beteiligten, nationalen Behörden und Staaten ab. Schließlich entstehen der Kommission die eben beschriebenen Vorteile nur, wenn die vorhandenen Netzwerkstrukturen effektiv arbeiten und ihre Vollzugsunterstützungsaufgabe erfüllen. Zwar verfügt die Kommission über Mittel, Kooperationsbeziehungen zu fördern und auf einen bedarfsgerechten, den EU-Umweltzielen entsprechenden Zuschnitt der Netzwerktätigkeit hinzuwirken. Letztlich bleibt Compliance Promotion aber ebenso wie der Bestand der EU selbst eine Frage des Konsenses.

459  Dahingehend: Eberlein/Newman, Governance 2008, 25 (28 f.); Migliorati, The Commission as a network administrator in EU multi-level governance?, TARN Working Paper 6/2017, S. 3. 460  Daran anknüpfende Bedenken, Netzwerke könnten fehlende Inspektionsbefugnisse nicht ausgleichen, vgl. Angelov/Cashman, in: Faure/De Smedt/Stas, Environmental Enforcement Networks, 2015, S. 373; a. A. wohl: Sommer, in: Schmidt-Aßmann/Schöndorf-Haubold, Der Europäische Verwaltungsverbund, 2005, S. 58.



C. Netzwerke im Bereich Compliance Monitoring333

C. Netzwerke im Bereich Compliance Monitoring I. Compliance Monitoring als Teil der Vollzugssicherungsstrategie der Kommission Den zweiten Baustein der Compliance-Assurance-Strategie der Kommission bildet das Compliance Monitoring. In diesen Bereich fallen alle „Maßnahmen, die der Feststellung dienen, ob Adressaten von umweltrechtlichen Verpflichtungen diesen nachkommen oder ob Rechtsverstöße vorliegen“.461 Dazu zählen insbesondere Umweltinspektionen, polizeiliche Ermittlungen oder die Prüfung öffentlicher Vertragsverletzungsbeschwerden, die dazu beitragen sollen, vertrauenswürdige Informationen und Beweismaterial über die Umsetzung und Anwendung des EU-Umweltrechtsvollzugs in den Mitgliedstaaten zu gewinnen.462 Da jedes Einschreiten von Seiten der Kommission zunächst voraussetzt, dass sie Kenntnis von einer möglichen Vertragsver­ letzung erlangt hat,463 ist ihr Überwachungsinstrumentarium von ebenso entscheidender Bedeutung für die Vollzugskontrolle wie jene Instrumente, mit denen Vertragsverletzungen vermieden oder unionsrechtliche Vorgaben durchgesetzt werden.464 Da die Kommission im Umweltsektor über keine eigenen Inspektionsbefugnisse verfügt, ist sie im Bereich Compliance Monitoring in besonderem Maße auf die Kooperation mit nationalen Behörden, Umweltexperten und anderen Informationsquellen angewiesen.465 Um die Durchführung des EUUmweltrechts in den Mitgliedstaaten zu sichern und ressourcentechnische sowie kompetenzrechtliche Defizite zu kompensieren, greift sie auch hier auf Netzwerke zurück. Während sich mit den Practitioner Networks im Bereich Compliance Promotion aber viele informelle Kooperationsstrukturen weitgehend ohne Zutun der EU-Institutionen entwickelt haben, zeigt sich im Bereich Compliance Monitoring kein vergleichbar starker Trend zur intergouvernementaler Netzwerkbildung. Dies lässt sich vor allem damit erklären, 461  KOM, Mitteilung an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen – Aktionsplan der EU für einen besseren Vollzug des Umweltrechts und eine bessere Umweltordnungspolitik, 18.1.2018, COM(2018) 10 final, S. 3. 462  KOM, Environmental Compliance Assurance, o.  D., https://ec.europa.eu/envi ronment/legal/compliance_en.htm (Stand: 3.3.2022). 463  Ehricke, in: S ­ treinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 258 AEUV Rn. 15; Sach/Simm, in: Hdb. zum europäischen und deutschen Umweltrecht Bd. I, 2. Auflage 2003, § 44 Rn. 24. 464  Hedemann-Robinson, Enforcement of European Union Environmental Law, 2. Edition 2015, S. 60. 465  Dazu: 2. Teil, B. VI. 1.

334

3. Teil: Netzwerke im Bereich der Vollzugskontrolle

dass die Mitgliedstaaten kein Interesse daran haben, an ihrer eigenen Überwachung mitzuwirken. Im Compliance Promotion Bereich werden Netzwerke zuvorderst geschaffen, um nationale Vollzugsakteure zu unterstützen und somit die Gefahr, von einem Vertragsverletzungsverfahren betroffen zu werden zu reduzieren. Zwar handelt es sich auch bei Practitioner Networks wie IMPEL um Informationsnetzwerke, deren Tätigkeit Aufschluss über nationale Vollzugsleistungen geben und die Kommission im Einzelfall auf Defizite aufmerksam machen kann. Als informelle Diskussionsforen, die Angehörigen bestimmter Berufsgruppen ein vertrauliches Kooperationsklima bieten sollen, liegt ihre Zielsetzung aber gerade nicht darin, Netzwerkmitglieder bei der Kommission „anzuschwärzen“; für das Kooperationsklima wäre eine solche Perspektive sogar kontraproduktiv.466 Anders als die Zusammenarbeit in Practitioner Networks kommen Netzwerke im Monitoring Bereich vor allem der Kommission bei der Erfüllung ihres Vollzugskontrollauftrags zugute. Da den Mitgliedstaaten typischerweise nicht daran gelegen ist, ins Visier einer Kommissionsuntersuchung zu geraten, überrascht das Fehlen bottom-up gebildeter Netzwerke hier nicht. Soweit Netzwerke zu Überwachungszwecken existieren, wurden sie vielmehr unter Beteiligung der Institutionen der EU geschaffen. Das mit Abstand bedeutendste Netzwerk im Bereich Compliance Monitoring ist das Europäische Umweltinformations- und Beobachtungsnetzwerk (engl.: European Environment Information and Observation Network; EIONET).

II. EIONET: Das Europäische Umweltinformations- und Beobachtungsnetzwerk EIONET wurde in Zusammenarbeit zwischen der EUA und den Mitgliedstaaten durch die Verordnung (EWG) Nr. 1210/90 des Rates vom 7. Mai 1990467 aufgebaut, die neben der Errichtung der EUA auch die Schaffung eines europäischen Umweltinformations- und Umweltbeobachtungsnetzes vorsah (vgl. Erwgr. 8, Art. 1 I, 4 Verordnung (EWG) Nr. 1210/90). Seine Tätigkeit nahm das Netzwerk 1994 zunächst mit nur wenigen Mitgliedern auf.468 Der Gedanke eines europäischen Informationsnetzwerks zur sektorübergreifenden Bereitstellung von Umweltdaten war bereits damals nicht neu, 466  Vgl.

Dazu: 3. Teil, B. III. 1. c) cc) (2) (b). (EWG) Nr. 1210/90 des Rates vom 7. Mai 1990 zur Errichtung einer Europäischen Umweltagentur und eines Europäischen Umweltinformationsund Umweltbeobachtungsnetzes, ABl. 1990, Nr. L 120, S. 1 ff. 468  EUA, EIONET connects – Sharing environmental information in Europe, 2012, S. 4, abrufbar unter: https://www.eea.europa.eu/publications/eionet-connects/ at_download/file (Stand: 14.2.2023). 467  Verordnung



C. Netzwerke im Bereich Compliance Monitoring335

sondern ging auf den von EIONET übernommenen Aufgabenbestand des 1985 initiierten CORINE-Umweltdatenprogramms469 zurück (vgl. Art. 2 i, iii Verordnung (EWG) Nr. 1210/90).470 Heute gehören EIONET Experten aus ca. 350 Einrichtungen an, die insgesamt aus 38 Staaten (32 EUA-Mitgliedstaaten und 6 Kooperationsstaaten)471 stammen.472 Der Wirkungsbereich des Netzwerks beschränkt sich demnach nicht auf die territorialen Grenzen der EU, sondern spiegelt vielmehr den grenzüberschreitenden Charakter umweltschutztechnischer Herausforderungen wider.473 1. Aufbau und Funktionsweise a) Die Europäische Umweltagentur EIONET ist vor allem das Umweltinformationsnetzwerk der EUA. Noch heute werden EIONET und EUA zusammenhängend im Rahmen derselben Verordnung (EG) Nr. 401/2009474 geregelt. Auf der offiziellen Homepage der 469  Geschaffen auf Grundlage von: Entscheidung 85/338/EWG des Rates vom 27. Juni 1985 über die Annahme des Arbeitsprogramms der Kommission für ein Versuchsvorhaben für die Zusammenstellung, Koordinierung und Abstimmung der Informationen über den Zustand der Umwelt und der natürlichen Ressourcen in der Gemeinschaft, ABl. 1985, Nr. L 176, S. 14 ff.; verlängert durch die Entscheidung 90/150/ EWG des Rates vom 22. März 1990 zur Änderung der Entscheidung 85/338/EWG über die Annahme des Arbeitsprogramms der Kommission für ein Versuchsvorhaben für die Zusammenstellung, Koordinierung und Abstimmung der Informationen über den Zustand der Umwelt und der natürlichen Ressourcen in der Gemeinschaft (90/150/EWG), ABl. 1990, Nr. L 81, S. 38 ff.; im Detail dazu: Koeppel, in: Pillmann/ Jaeschke, Informatik für den Umweltschutz 1990, 782 (782 ff.). 470  Khuchua, HanseLRev 2009, 79 (80); Runge, DVBl 2005, 542 (544); Sommer, Verwaltungskooperation am Beispiel administrativer Informationsverfahren im Europäischen Umweltrecht, 2003, S. 221. 471  Mitglieder sind: Die EU-Mitgliedstaaten (ab dem 31.1.2020 ohne Großbritannien) sowie fünf vertraglich angebundene Drittstaaten (Island, Liechtenstein, Norwegen, die Schweiz und die Türkei); kooperierende Staaten sind: Albanien, Bosnien Herzegowina, Nordmazedonien, Montenegro, Serbien sowie Kosovo; vgl. EIONET, About EIONET Countries, 22.6.2022, https://www.EIONET.europa.eu/countries (Stand: 14.2.2023). 472  EUA, Who we are, 16.11.2021, https://www.eea.europa.eu/about-us/who (Stand: 3.3.2022); EIONET, European Environment Information and Observation Network, o. D., https://www.EIONET.europa.eu/ (Stand: 14.2.2023). 473  Khuchua, HanseLRev 2009, 79 (82); vgl. auch Art. 19 Verordnung (EG) Nr. 401/2009, wonach die EUA auch Drittstaaten offensteht. 474  Verordnung (EG) Nr. 401/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. April 2009 über die Europäische Umweltagentur und das Europäische Umweltinformations- und Umweltbeobachtungsnetz, ABl. 2009, Nr. L 126, S. 13 ff.

336

3. Teil: Netzwerke im Bereich der Vollzugskontrolle

EU wird die EUA als „wichtige Informationsquelle für alle an der Entwicklung, Annahme, Umsetzung und Bewertung der Umweltpolitik Beteiligten, aber auch für die breite Öffentlichkeit“ beschrieben.475 Um diese Funktion erfüllen zu können, ist EIONET von grundlegender Bedeutung.476 Die Tätigkeit von EIONET steht mit dem Informationsmandat der EUA sowie mit den ihr gegenüber sekundärrechtlich begründeten Berichtspflichten der Mitgliedstaaten in untrennbarem Zusammenhang.477 Der Auf- und Ausbau sowie der Unterhalt des Netzwerks liegen im Verantwortungsbereich der EUA; von ihr wird EIONET koordiniert und geleitet.478 Gemeinsam mit der EUA bildet das Netzwerk eine „multipolare Mehr­ ebenenstruktur“479, bestehend aus den themenspezifischen Ansprechstellen (engl.: European Topic Centres; ETC), den innerstaatlichen Anlaufstellen (engl.: National Focus Points; NFP) und den wichtigsten Bestandteilen na­ tionaler Umweltnetzwerke (engl.: Main Component Elements; MCE), vgl. Art. 4 I, III–VI Verordnung (EG) Nr. 401/2009. Die EUA fungiert dabei als zentraler Knotenpunkt,480 der als Managementzentrale des Netzwerks übergreifende Informationsinstrumente entwickelt und die Qualität des ihr zugetragenen Datenmaterials verbessert.481 Sehr bildlich spricht etwa Kahl von einer „Spinne in diesem Netz, bei der alle Fäden zusammenlaufen und die diese Fäden in filigraner Weise zu einem funktionierenden Ganzen zusam­ menführt.“482

475  EU, Europäische Umweltagentur (EUA), o.  D., https://europa.eu/europeanunion/about-eu/agencies/eea_de (Stand: 14.2.2023). 476  Heußner, Informationssysteme im Europäischen Verwaltungsverbund, 2007, S. 5; Runge, DVBl 2005, 542 (544). 477  Heußner, Informationssysteme im Europäischen Verwaltungsverbund, 2007, S. 68; Khuchua, HanseLRev 2009, 79 (88). 478  EUA, Who we are, 16.11.2021, https://www.eea.europa.eu/about-us/who (Stand: 3.3.2022). 479  Bernardo, in: Schneider/Velasco Caballero, Strukturen des Europäischen Verwaltungsverbunds, 2009, S. 170. 480  KOM, Mitteilung der Kommission an den Rat – Überprüfung der Europäischen Umweltagentur (EUA), 22.12.2003, KOM(2003) 800 final, S. 15; Heußner, Informationssysteme im Europäischen Verwaltungsverbund, 2007, S. 5; Kahl, UTR 1996, 119 (132); Runge, DVBl 2005, 542 (544); Saurer, EuR 2010, 51 (54 f.); Schwind, Netzwerke im Europäischen Verwaltungsrecht, 2017, S. 174. 481  Runge, DVBl 2005, 542 (542, 545). 482  Kahl, UTR 1996, 119 (132).



C. Netzwerke im Bereich Compliance Monitoring337

b) Themenspezifische Ansprechstellen Auf Unionsebene wird die Netzwerkstruktur durch die themenspezifischen Ansprechstellen (ETC) geprägt (vgl. Art. 4 I c), III–VI Verordnung (EG) Nr. 401/2009). Hierbei handelt es sich um internationale Arbeitsgemeinschaften, in denen Experten aus verschiedenen Staaten in jeweils einem speziellen Umweltfachbereich (z. B. Luftqualität, Gesundheit und Umwelt, Klimawandel, Abfall, Natur und biologische Vielfalt, Energie usw.) mit der EUA zusammenarbeiten.483 Jedes ETC besteht aus einer federführenden Organisation und einer Vielzahl weiterer, spezialisierter Behörden, Forschungseinrichtungen und anderen Organisationen aus den Bereichen Umweltforschung und Informationsverwaltung. ETC fungieren als Zentren thematischer Expertise, die fachliche Ressourcen bündeln und die Arbeitskapazität der EUA in bestimmten Bereichen erweitern. Dies gilt nicht nur in fachlicher, sondern auch in geografischer Hinsicht. So lassen sich über die ETC auch Informationen und Daten aus Staaten beziehen, die mit EIONET kooperieren, selbst aber nicht Mitglied der EUA sind.484 Innerhalb des EIONET existieren derzeit acht ETC,485 die von der EUA auf vertraglicher Grundlage mit besonderen Aufgaben bei der Durchführung ihrer Mehrjahres-Arbeitsprogramme und Jahresarbeitsprogramme betraut wurden (Art. 4 III UAbs. 2 Verordnung (EG) Nr. 401/2009).486

483  EIONET, European Environment Information and Observation Network, o. D., https://www.EIONET.europa.eu/ (Stand: 14.2.2023); Runge, DVBl 2005, 542 (544). 484  EUA, EIONET connects – Sharing environmental information in Europe, 2012, S. 5, abrufbar unter: https://www.eea.europa.eu/publications/eionet-connects/ at_download/file (Stand: 14.2.2023). 485  EIONET, European Topic Centres, 1.1.2022, https://www.EIONET.europa.eu/ etcs (Stand: 14.2.2023). 486  Z. B. arbeitet das ETC für biologische Vielfalt daran, die Bereitstellung von Informationen, die für die Umsetzung von Naturschutz- und Biodiversitätspolitiken sowie die Durchführung der Berner Konvention relevant werden, zu ermöglichen, Berichterstattungssysteme aufzubauen und die EUA bei der Entwicklung des Euro­ päischen Biodiversitäts-Datenzentrums und des europäischen Portals für biologische Vielfalt (engl.: Biodiversity Information System for Europe; BISE) zu unterstützen, vgl. EUA, EIONET connects – Sharing environmental information in Europe, 2012, S. 5, abrufbar unter: https://www.eea.europa.eu/publications/eionet-connects/at_down load/file (Stand: 14.2.2023).

338

3. Teil: Netzwerke im Bereich der Vollzugskontrolle

c) Innerstaatliche Anlaufstellen Der Informationsfluss zwischen der staatlichen Ebene und der EUA wird über eine Art Kontaktstellensystem487 organisiert. Um den Informationsfluss aus der nationalen Umweltüberwachungstätigkeit zu kanalisieren,488 benennen die EUA-Mitgliedstaaten jeweils eine innerstaatliche Anlaufstelle (NFP), die der EUA als zentrale Ansprechpartnerin zur Verfügung steht und mit den ETC kooperiert (Art. 4 I b, III Verordnung (EG) Nr. 401/2009).489 Im Verhältnis zur nationalen Ebene fungieren sie als Netzwerkknotenpunkte, die wiederum Zentren staatlicher Informationsdienste und Subnetzwerke bilden und die Sammlung und Weitergabe von Informationen koordinieren. Als NFP können sowohl einzelne Experten als auch Expertengruppen benannt werden, die in einer staatlichen bzw. staatlich finanzierten und autorisierten Umweltorganisation tätig sind. In der Regel werden sie in obersten Umweltämtern oder Umweltministerien eingerichtet.490 Als Schnittstelle zwischen der europäischen und der nationalen Ebene besteht der Aufgabenkreis der NFP darin, Aktivitäten, die im Zusammenhang mit der Durchführung des mehrjährigen Arbeitsprogramms der EUA stehen auf staatlicher Ebene zu organisieren, zwischen den Ebenen zu vermitteln und Informationen von nationalen Einrichtungen und Netzwerken weiterzugeben.491 d) Die wichtigsten Bestandteile innerstaatlicher Umweltnetzwerke und nationale Referenzzentren Die unterste Organisationsstufe bilden schließlich die wichtigsten Bestandteile nationaler Umweltnetzwerke (MCE) – staatliche Stellen, die Umwelt­ daten auf nationaler Ebene sammeln, analysieren und bereitstellen und über besondere Erfahrungen auf dem Gebiet der Informationsverwaltung oder Umweltwissenschaft verfügen (vgl. Art. 4 I a), II Verordnung (EG) Nr. 401/

487  Zu Kontaktstellennetzwerken im Netzwerk europäischer Sicherheitsbehörden und Produktsicherheitsbehörden: Schwind, Netzwerke im Europäischen Verwaltungsrecht, 2017, S. 195 f. und 209 f. 488  Runge, DVBl 2005, 542 (544). 489  EUA, EIONET connects – Sharing environmental information in Europe, 2012, S. 6, abrufbar unter: https://www.eea.europa.eu/publications/eionet-connects/ at_download/file (Stand: 14.2.2023). 490  Vgl. die nach Staaten alphabetisch geordnete Auflistung aller NFP in: EUA, EIONET connects – Sharing environmental information in Europe, 2012, S. 6, abrufbar unter: https://www.eea.europa.eu/publications/eionet-connects/at_download/file (Stand: 14.2.2023). 491  Vgl. Runge, DVBl 2005, 542 (544).



C. Netzwerke im Bereich Compliance Monitoring339

2009).492 Teil der MCE sind die sog. nationalen Referenzzenten (engl.: National Reference Centres; NRC), die im Auftrag der Mitgliedstaaten und teilweise in direkter Zusammenarbeit mit den internationalen ETC mit speziellen Umwelthemen befasst sind.493 Ihr Aufgabenbereich deckt sich in der Regel mit dem Aufgabenbereich eines ETC.494 Sie bilden Ausgangspunkte für themenspezifische Netzwerke, an die sich wiederum eine Vielzahl staat­ licher Institutionen, Sachverständiger und sonstiger Organisationen anschließen kann.495 Gemeinsam mit den ETC stärken die NRC die Verbindung zwischen den Mitgliedern des Netzwerks und bringen hochkarätiges Fachwissen in die Zusammenarbeit ein.496

ETC ETC

ETC

ETC ETC

ETC

NRC NRC

kooperiert

koordiniert

kooperiert

koordiniert

EUA

NRC

NFP

NRC

NRC

NRC

ETC

NRC

NRC

Abbildung 11: EIONET-Struktur497

492  EUA, EIONET connects – Sharing environmental information in Europe, 2012, S. 7, abrufbar unter: https://www.eea.europa.eu/publications/eionet-connects/ at_download/file (Stand: 14.2.2023); Runge, DVBl 2005, 542 (544). 493  EU, Europäische Umweltagentur (EUA), o.  D., https://europa.eu/europeanunion/about-eu/agencies/eea_de (Stand: 14.2.2023); Kahl, UTR 1996, 119 (131). 494  Runge, DVBl 2005, 542 (544). 495  EIONET, European Environment Information and Observation Network, o. D., https://www.EIONET.europa.eu/ (Stand: 14.2.2023). 496  KOM, Mitteilung an den Rat – Überprüfung der Europäischen Umweltagentur (EUA), 22.12.2003, KOM(2003) 800 final, S. 16. 497  Grafik in eigener Darstellung, angelehnt an: EUA, Über EIONET, 22.6.2022, https://www.eea.europa.eu/de/about-us/countries-and-eionet (Stand: 14.2.2023).

340

3. Teil: Netzwerke im Bereich der Vollzugskontrolle

2. Tätigkeit und Relevanz moderner Informations- und Kommunikationstechnologien EIONET hat sich seit Aufnahme seiner Tätigkeit im Jahr 1994 kontinuierlich weiterentwickelt.498 Die EUA verbuchte das Netzwerk bereits 2003 als Erfolgsgeschichte. Als wichtigste Infrastruktur in der dezentralen Organisation der EUA bilde EIONET den primären Datenkanal, über den Informationen sowie große Mengen an Fachwissen aus ganz Europa fließen.499 Heute kann EIONET auf eine umfassende IT-Infrastruktur zugreifen, die den ETC, NFP, NRC und der EUA einen ständigen Austausch untereinander sowie die Kommunikation mit EU-Institutionen und allen an das Netzwerk angeschlossenen nationalen Stellen ermöglicht. Zusätzlich zur regelmäßigen online-Zusammenarbeit stellen Workshops, in denen Projekte und Arbeitsergebnisse vorgestellt und Erfahrungen ausgetauscht werden, auch persönliche Kontakte zwischen Netzwerkakteuren bzw. ihren Staaten her.500 Nach Angaben der Kommission habe die Zusammenarbeit im Netzwerk nicht nur bestehende innerstaatliche Berichterstattungssysteme gestärkt. Auch neue EU-Mitgliedstaaten, die vor ihrem Beitritt über keine eignen Überwachungs- und Berichterstattungssysteme verfügten, konnten beim Auf- bzw. Ausbau eigener Kapazitäten von der Expertise erfahrener Staaten profitieren. Drittstaatliche Mitglieder und Kooperationspartner würden ermutigt, eigene Berichterstattungssysteme so zu gestalten, dass sie internationalen Anforderungen entsprächen und mit den Informationssystemen der EU kompatibel seien.501 Ein Blick auf die Website des EIONET lässt erkennen, wie groß die Bedeutung moderner Informations- und Kommunikationstechnologien, speziell des Internets, für die Arbeit im Netzwerk mittlerweile ist.502 Um EIONETMitgliedern Zugang zu eingespeisten Informationen zu gewähren, wird ihnen über das EIONET-Portal eine ganze Reihe webbasierter Werkzeuge und Dienste zur Verfügung gestellt, die die Vernetzung, den Austausch und die Sammlung von Daten innerhalb des EIONET erleichtern sollen. Neben Inhalten, zu denen nur eingeloggte Netzwerkakteure Zugang haben, werden 498  EUA, EIONET connects – Sharing environmental information in Europe, 2012, S. 9, abrufbar unter: https://www.eea.europa.eu/publications/eionet-connects/ at_download/file (Stand: 14.2.2023). 499  KOM, Mitteilung an den Rat – Überprüfung der Europäischen Umweltagentur (EUA), 22.12.2003, KOM(2003) 800 final, S. 16. 500  Vgl. Sommer, Verwaltungskooperation am Beispiel administrativer Informa­ tionsverfahren im Europäischen Umweltrecht, 2003, S. 556. 501  EUA, EIONET connects – Sharing environmental information in Europe, 2012, S. 9, abrufbar unter: https://www.eea.europa.eu/publications/eionet-connects/ at_download/file (Stand: 14.2.2023). 502  Vgl. auch Runge, DVBl 2005, 542 (546).



C. Netzwerke im Bereich Compliance Monitoring341

viele Informationen auch der breiten Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt (vgl. Art. 2 m) Verordnung (EG) Nr. 401/2009).503 Zu den wichtigsten Diensten, die das EIONET-Portal bereithält oder die mit ihm verlinkt sind, zählen z. B. das EIONET-Forum, der EIONET-Planer und Reportnet: –– Mit dem EIONET-Forum bietet das EIONET-Portal eine Internetplattform, die themenspezifischen Interessengruppen (engl.: Interest Groups; IG), bestehend aus Akteuren aus dem gesamten geographischen Raum des ­EIONET, einen gemeinsamen virtuellen Arbeitsplatz zur Verfügung stellt, den sie nutzen können, um sich zu organisieren, Informationen oder Dokumente auszutauschen oder Diskussionsrunden durchzuführen. Mitglieder können hierbei die Rolle des IG-Administrators übernehmen; je nach Rolle und Bedarf lassen sich über individuelle Zugriffsprofile auch Zugriffsrechte einzelner Mitglieder flexibel gewähren oder beschränken.504 Das EIONET-Forum unterscheidet zwischen öffentlich zugänglichen Interessengruppen, die jedem Internetnutzer Inhalte wie Tätigkeitsbeschreibungen, Arbeitsmaterialien oder Kontaktinformationen zur Verfügung stellen und solchen Interessengruppen, auf die nur über einen eingeloggten EIONET-Account zugegriffen werden kann.505 –– Der EIONET-Planer ermöglicht die Terminierung, Aktualisierung und Koordination verschiedener EIONET-Veranstaltungen. Eingetragen werden alle Tagungen und Webinare des Verwaltungsrates (Art. 8 Verordnung (EG) Nr. 401/2009), des Büros (Art. 8 II UAbs. 2 Verordnung (EG) Nr. 401/2009), des wissenschaftlichen Beirats (Art. 10 Verordnung (EG) Nr. 401/2009) sowie sonstige EIONET Veranstaltungen. Weiterhin werden die Veröffentlichungsdaten wichtiger EUA-Publikationen in den Planer aufgenommen. Eingetragen werden auch Fristen für die Erfüllung mitgliedstaatlicher Berichtspflichten, soweit ihre Überwachung in den Verantwortungsbereich der EUA fällt, wobei direkte Verknüpfungen mit der Reporting Obligation Database (ROD)506 hergestellt werden.507 503  EIONET, European Environment Information and Observation Network, o. D., https://www.EIONET.europa.eu/ (Stand: 14.2.2023). 504  EIONET, EIONET Forum – Introduction & Help, o.  D., https://forum.EIO NET.europa.eu/help (Stand: 14.2.2023). 505  Neben dem EIONET-Forum existiert auch die Internetplattform EIONETProject, die auf Basis derselben Software und unter Verwendung eines weitgehend identischen Interfaces virtuelle Arbeitsräume für bestimmte ad-hoc Aktivitäten anbietet, vgl. EIONET, Workspace (networking tools and services), o. D., https://www.­ EIONET.europa.eu/workspace/index (Stand: 14.2.2023). 506  EIONET, Reporting Obligations Database (ROD), o. D., https://rod.EIONET. europa.eu/ (Stand: 14.2.2023). 507  Zum EIONET-Planer: https://eionet.devel4cph.eea.europa.eu/planner (Stand: 14.2.2023).

342

3. Teil: Netzwerke im Bereich der Vollzugskontrolle

–– ­ Reportnet ist eine internetgestützte Dateninfrastruktur, die von EIONET ursprünglich dazu geschaffen wurde, EUA-Mitglieder und Kooperationsstaaten bei der Erfüllung unionsrechtlicher bzw. sonstiger völkerrechtlicher Berichterstattungspflichten zu unterstützen. Der Aufbau des ReportnetSystems begann im Jahr 2000, seit 2002 ist es in Betrieb. 2018 hat die EUA das Projekt Reportnet 3.0 initiiert, um das eReporting-System mit der neusten IT auszustatten.508 Reportnet stellt seinen Benutzern eine Vielzahl webbasierter Werkzeuge zur Verfügung, die eine Übersicht über bestehende Berichtspflichten und ihre Fristen gewähren und die Informa­ tionsübermittlung erleichtern. Hierzu zählen etwa das Data Repository509, das eine digitale Datenablage, geordnet nach Staaten und Rechtsquellen ermöglicht, die Content Registry510, die eine schnelle digitale Durchsuchung verfügbarer Informationsressourcen im Reportnet mit Hilfe von Meta-Daten gestattet und den Zugriff auf Umweltinformationen vereinfacht oder das Data Dictionary,511 auf dessen Website technische Anforderungen an die in den Berichtspflichten geforderten Daten definiert oder näher konkretisiert sowie Tabellen und Checklisten zur Verfügung gestellt werden, die nationale Stellen bei der Zusammenstellung und Übermittlung der Daten unterstützen sollen. Auch die Report Obligation Database (ROD)512 ist Teil des Reportnet. Sie bietet einen Überblick über alle Umweltberichtspflichten, die die Mitgliedstaaten gegenüber der EUA, der GD ENV, EUROSTAT, der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (engl.: Organisation for Economic Co-operation and Development; OECD), der Wirtschaftskommission für Europa der Vereinten Nationen (engl.: United Nations Economic Commission for Europe; UNECE), anderen EU-Agenturen oder internationalen Organisationen treffen. Für Mitteilungspflichten über die Umsetzung und Anwendung von EU-Rechtsakten ist ROD hingegen nicht zugeschnitten.

508  EIONET, About Reportnet, o.  D., https://www.eionet.europa.eu/reportnet/ about-reportnet-1 (Stand: 14.2.2023). 509  EIONET, Central Data Repostory, o. D., http://cdr.EIONET.europa.eu/ (Stand: 14.2.2023). 510  EIONET, What is Ver.7 Content Registry?, o. D., https://cr.EIONET.europa.eu/ (Stand: 14.2.2023). 511  EIONET, Data Dictionary, o.  D., http://dd.EIONET.europa.eu/ (Stand: 14.2. 2023); hierzu im Detail: EUA, User Guide Data Dictionary, 2.4.2015, https://dd.eionet. europa.eu/documentation/DD-User-Guide.pdf (Stand: 14.2.2023). 512  EIONET, What is ROD?, o. D., https://rod.EIONET.europa.eu/ (Stand: 14.2. 2023).



C. Netzwerke im Bereich Compliance Monitoring343

3. Eingliederung in das gemeinsame Umweltinformationssystem (SEIS) Die EUA arbeitet kontinuierlich daran, die im Rahmen von EIONET sowie im Verhältnis zu anderen Netzwerken und Informationssystemen verwendeten Informationsaustauschverfahren zu modernisieren. Von besonderer Bedeutung ist in diesem Zusammenhang die Initiative zur Errichtung eines Gemeinsamen Umweltinformationssystems (engl.: Shared Environment ­Information System; SEIS). SEIS wurde 2009 im Anschluss an die Mitteilung der Kommission Hin zu einem gemeinsamen Umweltinformationssystem (SEIS)513 ins Leben gerufen. Ziel der Initiative ist es, ein zusammenhängendes elektronisches „Systems der Systeme“ zu errichten, das bereits existierende nationale oder europäische Informationsinfrastrukturen, Umweltdatenbanken und Webdienste aufgreift, mit technischen Hilfsmitteln interoperabel gestaltet und in ein gemeinsames System integriert,514 das nationale, regionale, lokale und internationale Datenflüsse aus dem gesamten Umweltbereich verbindet.515 Das Konzept baut auf Erfahrungen und Grundsätzen auf, die aus der Arbeit des EIONET gewonnen wurden.516 Um unionsrechtliche Berichtspflichten erfüllen und den Vollzug umweltrechtlicher Vorgaben überschauen zu können, müssen in den Mitgliedstaaten und auf EU-Ebene große Datenmengen gesammelt werden. In der Vergangenheit konnte dieses Material nicht immer effizient genutzt werden – etwa weil das Vorhandensein bereits erhobener Informationen in einer Behörde anderen Behörden unbekannt blieb oder weil finanzielle, technische und prozedurale Hindernisse ihre effektive Nutzung und Verbreitung verhinderten.517 Da dieselben Umweltdaten oft für die Arbeit mehrerer Akteure relevant werden, folgt SEIS dem Prinzip: „mon513  KOM, Mitteilung an den Rat, das Europäische Parlament, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen hin zu einem gemeinsamen Umweltinformationssystem (SEIS), KOM(2008) 46 final. 514  Bernardo, in: Schneider/Velasco Caballero, Strukturen des Europäischen Verwaltungsverbunds, 2009, S. 172; EUA, Gemeinsames Umweltinformationssystem (SEIS), 23.11.2020, https://www.eea.europa.eu/de/about-us/what/gemeinsames-um weltinformationssystem-seis (Stand: 14.2.2023). 515  KOM, Mitteilung an den Rat, das Europäische Parlament, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen hin zu einem gemeinsamen Umweltinformationssystem (SEIS), KOM(2008) 46 final, S. 6. 516  EUA, EIONET connects – Sharing environmental information in Europe, 2012, S. 13, abrufbar unter: https://www.eea.europa.eu/publications/eionet-connects/ at_download/file (Stand: 14.2.2023). 517  KOM, Why is SEIS needed, 2.8.2019, https://ec.europa.eu/environment/ar chives/seis/why.htm (Stand: 14.2.2023); KOM, Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss

344

3. Teil: Netzwerke im Bereich der Vollzugskontrolle

itor once for timely and multi-purpose uses“, wonach Informationen aus unterschiedlichsten Quellen von vielen Seiten zugänglich und zu mehreren Zwecken nutzbar gemacht werden sollen, während redundante Berichterstattungsbemühungen, die doppelten Arbeitsaufwand verursachen, vermieden werden sollen.518 Heute beschreibt die EUA SEIS auf ihrer Homepage als „Schlüsselfaktor für das Wachstum unserer Wissensbasis“.519 Im Zusammenhang mit der Entwicklung und Modernisierung europäischer Informationsdienste und Netzwerke formulierte die Kommission die sog. SEIS-Grundsätze520, die gewährleisten sollen, dass nationale wie internationale Umweltinformationssysteme kompatibel organisiert und Daten effektiv genutzt werden.521 Mittlerweile haben viele Informationsstrukturen die sieben SEIS-Grundsätze in ihre Informationsverwaltungstätigkeit implementiert, darunter nicht nur EIONET, sondern auch internationale, nationale, regionale und lokale Informationssysteme und Netzwerke.522

und den Ausschuss der Regionen hin zu einem gemeinsamen Umweltinformationssystem (SEIS), KOM(2008) 46 final, S. 3. 518  KOM, Why is SEIS needed?, 2.8.2019, https://ec.europa.eu/environment/ archives/seis/why.htm (Stand: 14.2.2023); KOM, What is the Shared Environmental System?, 2.8.2019, https://ec.europa.eu/environment/archives/seis/what.htm (Stand: 14.2.2023). 519  EUA, Gemeinsames Umweltinformationssystem (SEIS), 23.11.2021, https:// www.eea.europa.eu/de/about-us/what/gemeinsames-umweltinformationssystem-seis (Stand: 14.2.2023). 520  Die sieben SEIS-Grundsätze lauten: „Informationen sollten 1.) so nah wie möglich an ihrer Quelle verwaltet werden; 2.) einmal erhoben und für viele verschiedene Zwecke ausgetauscht werden; 3.) jederzeit abrufbereit sein, um Berichtspflichten mühelos nachkommen zu können; 4.) für alle Nutzer leicht zugänglich sein; 5.) so zugänglich sein, dass Vergleiche auf einer geeigneten geografischen Ebene sowie die Beteiligung der Bürger möglich sind; 6.) der allgemeinen Öffentlichkeit auf nationaler Ebene in den jeweiligen Landessprachen uneingeschränkt zugänglich sein; 7.) auf einheitlichen, kostenlosen und offenen Software-Standards beruhen“, EUA, Gemeinsames Umweltinformationssystem (SEIS), 23.11.2021, https://www.eea.europa.eu/de/ about-us/what/gemeinsames-umweltinformationssystem-seis (Stand: 14.2.2023). 521  KOM, Mitteilung an den Rat, das Europäische Parlament, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen hin zu einem gemeinsamen Umweltinformationssystem (SEIS), KOM(2008) 46 final, S. 3. 522  Zu den wichtigsten über SEIS integrierten Informationssystemen gehören neben EIONET etwa das europäische Erdbeobachtungssystem Copernicus sowie das europäische OzonWeb, das die Ozonwerte in allen Teilen Europas im jeweils geografischen Zusammenhang visualisiert und so ihre kontinuierliche Überwachung ermöglicht.



C. Netzwerke im Bereich Compliance Monitoring345

4. Rechtliche Grundlagen des EIONET: Entscheidungs- und Datenerhebungsbefugnisse der EUA Im Unterschied zu den im vorangegangenen Kapitel diskutierten Practitioner Networks wurde EIONET nach Maßgabe der mittlerweile aufgehobenen Verordnung (EWG) Nr. 1210/90 vom 7. Mai 1990 zur Errichtung einer Europäischen Umweltagentur und eines Europäischen Umweltinformationsund Umweltbeobachtungsnetzes geschaffen und somit sekundärrechtlich institu­ tionalisiert. Als Verordnungsgrundlage wurde die sektorspezifische Kompetenznorm Art. 130s EWGV (heute: Art. 192 I AEUV) herangezogen. Während die Verordnung immerhin einige Regelungen zur Organisation, Rechtsstellung und Finanzierung der EUA trifft, existieren hinsichtlich der Kooperationsbeziehungen innerhalb des EIONET, der Netzwerkzusammensetzung sowie der Informationsübermittlungsmodalitäten nur wenige recht­ liche Vorgaben.523 Art. 4 II UAbs. 2 Verordnung (EG) Nr. 401/2009 verpflichtet die Mitgliedstaaten zunächst ganz allgemein zur angemessenen Kooperation sowie zur Mitarbeit an den Arbeitsprogrammen der EUA durch die landesweite Sammlung, Zusammenfassung und Analyse von Daten. Eine Befugnis zur verbindlichen Konkretisierung dieser Zusammenarbeitspflicht kommt der EUA nicht zu.524 Da ihre Arbeitsprogramme keine unmittelbare rechtliche Bindungskraft entfalten,525 bleibt der genaue Gehalt der Kooperationspflicht weitgehend unklar. Den Mitgliedstaaten kommen in der Folge erhebliche Spielräume bei der Zusammenarbeit mit der EUA, auch im Rahmen von EIONET zu.526 Welche Daten auf nationaler Ebene erhoben und in das Netzwerk eingespeist werden müssen, lässt sich der Verordnung (EG) Nr. 401/2009 selbst nicht entnehmen. Nach Art. 4 I Verordnung (EG) Nr. 401/2009 baut EIONET auf bereits existierenden sowie freiwillig neu geschaffenen Informations­ infrastrukturen und den darin vorhandenen Datenbeständen auf.527 Pflichten zur Einrichtung neuer nationaler Informationsnetze sowie konkrete Umweltbeobachtungs- oder Berichterstattungspflichten sieht die Verordnung weder direkt vor noch überträgt sie eine entsprechende Regelungskompetenz auf die EUA. Indem die Verordnung auf Vorhandenes abstellt, knüpft sie vielmehr an nationalrechtliche Bestimmungen, vor allem aber an spezielle EUDVBl 2005, 542 (545). Verwaltungskooperation am Beispiel administrativer Informationsverfahren im Europäischen Umweltrecht, 2003, S. 219 f., 544. 525  Runge, DVBl 2005, 542 (544). 526  Sommer, Verwaltungskooperation am Beispiel administrativer Informationsverfahren im Europäischen Umweltrecht, 2003, S. 544. 527  Sommer, Verwaltungskooperation am Beispiel administrativer Informationsverfahren im Europäischen Umweltrecht, 2003, S. 171, 221. 523  Runge,

524  Sommer,

346

3. Teil: Netzwerke im Bereich der Vollzugskontrolle

Sekundärrechtsakte an, denen gemäß bestimmte mitgliedstaatliche Stellen zur Umweltüberwachung und Berichterstattung verpflichtet werden.528 Darüber hinausreichende Überwachungspflichten kann die EUA nur durch öffentlich-rechtliche Verträge mit den betreffenden nationalen Akteuren begründen.529 Die Datenerhebung obliegt grundsätzlich den Mitgliedstaaten in eigener Verantwortung; weder ist die EUA mit der Befugnis ausgestattet, ohne ihre Einwilligung eigene Messstellen oder Beobachtungsstationen auf nationalen Hoheitsgebieten zu errichten noch verfügt sie über sonstige Datenerhebungs- oder Nachprüfungsbefugnisse.530 Regelungskompetenzen für die Durchführung bestehender Überwachungspflichten kommen ihr nach Maßgabe der Verordnung (EG) Nr. 401/2009 nicht zu.531 In Bezug auf die Zusammensetzung des Netzwerks enthält die Verordnung (EG) Nr. 401/2009 ebenfalls keine festen Vorgaben: Nach Art. 4 I a Verordnung (EG) Nr. 401/2009 konstituiert sich EIONET u. a. aus den „wichtigsten Bestandteilen“ innerstaatlicher Informationsnetze. Welche Stellen dies sind, legt die Verordnung nicht statisch fest. Werden neue Informationsinfrastrukturen aufgebaut oder bestehende Systeme im Lauf der Zeit verändert, ändert sich damit auch der Kreis der Stellen, die zu den wesentlichen Bestandteilen gehören. Indem Art. 4 I a Verordnung (EG) Nr. 401/2009 den Mitgliederbestand nur abstrakt bezeichnet, wird der für die Kooperationsform des Netzwerks typischen Entwicklungsoffenheit532 ähnlich eines dynamischen Verweises Rechnung getragen. Art. 4 II UAbs. 1 Verordnung (EG) Nr. 401/2009 enthält in diesem Zusammenhang eine Aktualisierungspflicht, der zufolge die Mitgliedstaaten die EUA regelmäßig über ihre wichtigsten Bestandteile und damit über die aktuell zu EIONET gehörenden Einrichtungen zu unterrichten 528  Heußner, Informationssysteme im Europäischen Verwaltungsverbund, 2007, S. 69; Sommer, Verwaltungskooperation am Beispiel administrativer Informationsverfahren im Europäischen Umweltrecht, 2003, S. 171, 220. 529  Runge, DVBl 2005, 542 (545); Sommer, Verwaltungskooperation am Beispiel administrativer Informationsverfahren im Europäischen Umweltrecht, 2003, S. 220. 530  Bernardo, in: Schneider/Velasco Caballero, Strukturen des Europäischen Verwaltungsverbunds, 2009, S. 170; Heußner, Informationssysteme im Europäischen Verwaltungsverbund, 2007, S. 69; zur Datenerhebung im Eigenvollzug im Detail: Sommer, Verwaltungskooperation am Beispiel administrativer Informationsverfahren im Europäischen Umweltrecht, 2003, S. 537 ff. 531  Vgl. dazu auch die Kompetenzverteilung im Rahmen des Sekundärrechts: Während Sekundärrechtsakte Durchführungskompetenzen typischerweise der Kommission übertragen (z. B. Erwgr. 22 Richtlinie 2001/81/EG vom 23. Oktober 2001 ̧über nationale Emissionshöchstmengen für bestimmte Luftschadstoffe, ABl. 2001, Nr. L 309, S. 22 ff.), bleibt die EUA auf unterstützende Tätigkeiten beschränkt (z. B. Art. 7 III Richtlinie 2001/91/EG); dazu mit weiteren Beispielen: Sommer, Verwaltungskooperation am Beispiel administrativer Informationsverfahren im Europäischen Umweltrecht, 2003, S. 542 f. 532  Dazu: 3. Teil, A. III. 2. a).



C. Netzwerke im Bereich Compliance Monitoring347

haben. In der Frage, welche Bestandteile innerstaatlicher Informationsnetze die „wichtigsten“ sind, verfügen sie über Entscheidungsspielräume; der durch die Verordnung vorgegebenen Beschränkung auf „wichtigste“ Bestandteile lässt sich lediglich entnehmen, dass zwar nicht unbedingt nur die obersten Umweltbehörden, aber auch nicht sämtliche Bestandteile innerstaatlicher Informationsinfrastrukturen auf allen Entscheidungsebenen vom Inklusionsbereich des EIONET erfasst sein sollen.533 Der EUA kommen auch hinsichtlich der Frage, welche Stellen zum Netzwerk gehören, keine Datenerhebungsbefugnisse zu.534 In Bezug auf die Datenbeschaffungs- und Übermittlungsmodalitäten räumt Art. 5 UAbs. 1 Verordnung (EG) Nr. 401/2009 der EUA ausdrücklich die Befugnis ein, in ihrer Eigenschaft als in allen Mitgliedstaaten rechts- und geschäftsfähige Person (Art. 7 Verordnung (EG) Nr. 401/2009) individuelle öffentlich-rechtliche Verträge535 zu schließen, die die Aufgabenstellung, die Art, den Umfang und den Zeitraum der zu übermittelnden Umweltinforma­ tionen mit den zum Netzwerk gehörenden staatlichen und privaten Stellen konkretisieren.536 Ein einheitliches Regelungsregime sieht die Verordnung hierfür nicht vor.537 Für die Ausgestaltung der Kommunikationsbeziehungen zwischen den NFP, NRC und sonstigen wichtigen Bestandteilen innerstaat­ licher Informationsnetzwerke tragen im Übrigen die Mitgliedstaaten allein die Verantwortung.538 5. Wirkungsdimensionen der Netzwerkzusammenarbeit EIONET ist ein sektorübergreifendes Informationsnetzwerk, das zur Verbesserung der Umweltinformationsverwaltung in ganz Europa beitragen soll. Als Informationsdienstleistungssystem wird das Netzwerk sowohl von nationalen Stellen als auch von EU-Institutionen und sogar von der Öffentlichkeit in Anspruch genommen.539 Die über EIONET bereitgestellten Umweltdaten Netzwerke im Europäischen Verwaltungsrecht, 2017, S. 178. in: Schneider/Velasco Caballero, Strukturen des Europäischen Verwaltungsverbunds, 2009, S. 170. 535  Im Detail dazu: Sommer, Verwaltungskooperation am Beispiel administrativer Informationsverfahren im Europäischen Umweltrecht, 2003, S. 536 f. 536  Heußner, Informationssysteme im Europäischen Verwaltungsverbund, 2007, S. 70; Runge, DVBl 2005, 542 (545 f.); Sommer, Verwaltungskooperation am Beispiel administrativer Informationsverfahren im Europäischen Umweltrecht, 2003, S. 536. 537  von Bogdandy, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann (Hrsg.), Verwaltungsrecht in der Informationsgesellschaft, 2000, S. 179 f.; Runge, DVBl 2005, 542 (545 f.). 538  Runge, DVBl 2005, 542 (Fn. 32). 539  KOM, Mitteilung an den Rat – Überprüfung der Europäischen Umweltagentur (EUA), 22.12.2003, KOM(2003) 800 final, S. 1, 10. 533  Schwind,

534  Bernardo,

348

3. Teil: Netzwerke im Bereich der Vollzugskontrolle

können zu verschiedenen Zwecken nutzbar gemacht werden. Für die Gewährleistung des effektiven EU-Umweltrechtsvollzugs werden sie sogar in doppelter Hinsicht relevant. Einerseits fördert EIONET den Unionsrechtsvollzug durch die Mitgliedstaaten, indem es nationalen Vollzugsakteuren Umweltdaten als Entscheidungsgrundlage zur Verfügung stellt. Andererseits unterstützt die Bereitstellung von Umweltdaten über das Netzwerk die Kommission bei der Überwachung nationaler Vollzugsleistungen und kommt somit der supranationalen Vollzugskontrolle zugute. Das Leistungsangebot des Netzwerks wird maßgeblich durch den Umstand bestimmt, dass seiner Zentralgestalt – der EUA – keine eigenen Vollzugsoder Kontrollbefugnisse übertragen worden sind.540 Als ausschließlich konsultative Datensammlungsbehörde541 muss sie sich auf Hilfstätigkeiten mit unterstützendem Charakter beschränken, die weder in die staatliche Vollzugssphäre noch in die Kontrolltätigkeit der Kommission übergreifen. Unterstützung leistet das von der EUA betriebene EIONET daher vor allem durch die Bündelung und Leitung von Datenströmen, die im Zusammenhang mit der Erfüllung sekundärrechtlich oder nationalrechtlich begründeter Umweltberichtspflichten entstehen.542 Als sog. „Netzwerk der Netzwerke“ übernimmt EIONET hier die Themen, Staaten und Ebenen übergreifende Koordination der in den Mitgliedstaaten vorhandenen Umweltinformationsnetze.543 Ein besonderer Mehrwert der informationellen Zusammenarbeit im Rahmen von EIONET liegt in der Vereinigung von behördlichem und wissenschaftlichem Sachverstand, den staatliche oder auch nicht-staatliche Forschungseinrichtungen durch ihre Mitarbeit in den ETC in das Netzwerk induzieren. Im Gegensatz zu punktuellen Formen der Informationszusammen­ arbeit, stellt EIONET seinen Benutzern Daten nicht nur anlassbezogen zur Verfügung, sondern bietet ständigen Zugriff zu einem umfassenden und ak­ tuellen Wissenspool.544 Im Zentrum des Netzwerks fungiert die EUA als Moderatorin545 und neutrale Clearingstelle546, über die Informationen analy540  Dazu:

1. Teil, C. II. 3. DVBl 2005, 542 (543). 542  Sommer, Verwaltungskooperation am Beispiel administrativer Informationsverfahren im Europäischen Umweltrecht, 2003, S. 544. 543  Augsberg, in: Terhechte, Verwaltungsrecht der EU, 2. Auflage 2022, § 6 Rn. 52; Heußner, Informationssysteme im Europäischen Verwaltungsverbund, 2007, S. 5; Schwind, Netzwerke im Europäischen Verwaltungsrecht, 2017, S. 63. 544  Schwind, Netzwerke im Europäischen Verwaltungsrecht, 2017, S. 182. 545  Schwind, Netzwerke im Europäischen Verwaltungsrecht, 2017, S. 174. 546  Heußner, Informationssysteme im Europäischen Verwaltungsverbund, 2007, S. 5; Schwind, Netzwerke im Europäischen Verwaltungsrecht, 2017, S. 63; zum Begriff des „Clearinghouse“ im Detail: Sommer, Verwaltungskooperation am Beispiel administrativer Informationsverfahren im Europäischen Umweltrecht, 2003, S. 211 f. 541  Runge,



C. Netzwerke im Bereich Compliance Monitoring349

siert und ihre Qualität und Kohärenz verbessert werden können. Die opera­ tiven Vorteile, die die Netzwerkzusammenarbeitet im Vergleich zu traditionellen, punktuellen und hierarchisch strukturierten Handlungsformen bietet, gehen trotz der exponierten Position der EUA nicht verloren. Da die EUA als Informationsverwaltungskapazität den zentralen Knotenpunkt des Netzwerks bildet, werden Informationen zwar überwiegend im vertikalen Verhältnis ausgetauscht. Die Informationsstrukturen innerhalb des Netzwerks vermitteln neben der vertikalen Beziehung zwischen Mitgliedstaaten und EUA aber auch horizontale Vernetzungen zwischen mitgliedstaatlichen Umweltverwaltungen und Forschungseinrichtungen in ganz Europa.547 a) EIONET als Compliance-Promotion-Mechanismus Zu den vollzugsfördernden Aufgaben der EUA und damit auch des von ihr betriebenen Netzwerks gehören vor allem die Unterstützung nationaler Vollzugsakteure bei der Ausarbeitung und Durchführung von wirksamen und sinnvollen Umweltmaßnahmen (vgl. Art. 2 b) Verordnung (EG) Nr. 401/2009), die Förderung des Informationsaustauschs über die besten ver­fügbaren Technologien zur Verhütung oder Verringerung von Umweltschäden (Art. 2 k) Verordnung (EG) Nr. 401/2009) sowie die Beratung einzelner Mitgliedstaaten bei der Einrichtung und Erweiterung nationaler Überwachungssysteme, soweit explizit um Beratung ersucht und die Erfüllung anderer Aufgaben nicht beeinträchtigt wird (Art. 2 d) Verordnung (EG) Nr. 401/2009). Aus Perspektive der mitgliedstaatlichen Vollzugsakteure erfüllt EIONET damit ähnliche Funktionen wie das IMPEL-Netzwerk. Auch im Hinblick auf ihre organisatorische Gestaltung zeigen EIONET und IMPEL Gemeinsamkeiten: Während EIONET konzentrisch um die EUA angeordnet ist, fungiert die privatrechtliche IMPEL a.i.s.b.l. als Trägergesellschaft des IMPEL-Netzwerks, in die alle Netzwerkakteure eingegliedert sind. Obwohl es sich bei der EUA um eine EU-Institution handelt, lässt sich ihre Stellung mit der Stellung der IMPEL a.i.s.b.l. vergleichen, die als privatrechtlich organisierte Einheit ebenfalls für die Koordination der Netzwerkzusammenarbeit verantwortlich ist.548 Ebenso wie innerhalb des IMPEL-Netzwerks werden die in das EIONET eingegliederten Akteure über Kommunikationsbeziehungen und ­ Vereinbarungen koordiniert, nicht hingegen durch top-down gerichtete Weisungen und Sanktionen. Im Unterschied zu IMPEL ist im Rahmen von EIONET aber nicht die Kommission diejenige EU-Institution, von deren ­ 547  Bernardo, in: Schneider/Velasco Caballero, Strukturen des Europäischen Verwaltungsverbunds, 2009, S. 164, 170; Heußner, Informationssysteme im Europäischen Verwaltungsverbund, 2007, S. 67; Runge, DVBl 2005, 542 (548). 548  Vgl. im Detail: Schwind, Netzwerke im Europäischen Verwaltungsrecht, 2017, S.  176 ff.

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3. Teil: Netzwerke im Bereich der Vollzugskontrolle

Unterstützung mitgliedstaatliche Vollzugsakteure profitieren, sondern vor allem die EUA.549 Die Kommission kann nationalen Akteuren über EIONET zwar ebenfalls Informationen zukommen lassen, etwa indem sie das Netzwerk zur Bereitstellung von Infor­ mationen über Verfahren und bewähr­ te Praktiken für Umweltverträglichkeitsprüfungen (Art. 2 o) Verordnung (EG) Nr. 401/2009) oder zur Verbreitung von Informationen über die Ergebnisse einschlägiger Umweltfor­schungen (Art. 2 n) Verordnung (EG) Nr. 401/2009) ersucht.550 In seiner vollzugsunterstützenden Dimension bleibt EIONET aber vorrangig ein von der EUA betriebener Mechanismus, dessen Potenzial im Bereich Compliance Promotion hinter seiner Bedeutung für die Überwachung des EU-Umweltrechtsvollzugs zurücksteht. b) EIONET als Mechanismus zur Unterstützung des Compliance Monitorings Aus Perspektive der Kommission wird EIONET vor allem im Rahmen des Compliance Monitorings relevant.551 Zwar enthalten viele Sekundärrechtsakte Berichtspflichten über den Zustand der Umwelt, die der Kommission wichtige Rückschlüsse auf die Wirksamkeit des nationalen EU-Umweltrechtsvollzugs ermöglichen.552 Diese Informationen in den Mitgliedstaaten oder auf EU-Ebene zusammenzutragen reicht für eine effektive Vollzugsüberwachung allerdings nicht aus. Um Vollzugsdefizite identifizieren oder auch politischen Handlungsbedarf erkennen zu können, müssen gesammelte Daten ressourcenaufwändig analysiert, ausgewertet und bedarfsgerecht verwaltet werden.553 Um die Kapazitäten der ohnehin knapp ausgestatteten Kommission zu schonen und gleichzeitig eine unabhängige, objektive und damit glaubwürdige Informationsstelle zu schaffen, wurde die Aufgabe der Informationsverwaltung im Umweltbereich auf die EUA und das von ihr betriebene EIONET ausgelagert.554

549  Runge, DVBl 2005, 542 (548); Schwind, Netzwerke im Europäischen Verwaltungsrecht, 2017, S. 174; Sommer, Verwaltungskooperation am Beispiel administrativer Informationsverfahren im Europäischen Umweltrecht, 2003, S. 541 f. 550  Ähnlich auch: Schwind, Netzwerke im Europäischen Verwaltungsrecht, 2017, S. 176. 551  Vgl. Bernardo, in: Schneider/Velasco Caballero, Strukturen des Europäischen Verwaltungsverbunds, 2009, S. 169; Heußner, Informationssysteme im Europäischen Verwaltungsverbund, 2007, S. 70; Runge, DVBl 2005, 542 (Rn. 548); Schwind, Netzwerke im Europäischen Verwaltungsrecht, 2017, S. 174, 180. 552  Albin, Die Vollzugskontrolle des europäischen Umweltrechts, 1999, S. 245. 553  Vgl. Schwind, Netzwerke im Europäischen Verwaltungsrecht, 2017, S. 172 f. 554  Khuchua, HanseLRev 2009, 79 (87); Runge, DVBl 2005, 542 (Rn. 547).



C. Netzwerke im Bereich Compliance Monitoring351

Wie sich aus Art. 4 I Verordnung (EG) Nr. 401/2009 ergibt, zählt die Hüterin der Verträge selbst nicht zu den unmittelbar in die Netzwerkstruktur eingegliederten Akteuren, dennoch steht sie mit der EUA in ständigem Dialog.555 EIONET bildet im Verhältnis zwischen Kommission und EUA eine grundlegende Umweltdateninfrastruktur, über die Informationen gebündelt und mit Fachwissen angereichert werden.556 Der mit der Koordination des Netzwerks betrauten EUA fällt dabei nicht nur die Aufgabe zu, der Kommission die für sie relevanten Umweltdaten zugänglich zu machen (vgl. Art. 2 e) Verordnung (EG) Nr. 401/2009), sie ist auch verpflichtet, die Vergleichbarkeit europäischer Umweltdaten zu fördern (vgl. Art. 2 f) Verordnung (EG) Nr. 401/2009). Über EIONET, das als multilaterale Struktur eine Vielzahl informationsverwaltender Stellen miteinander verbindet und damit die nötigen Kommunikationsbeziehungen aufbaut, arbeitet die EUA mit den ETC und NFP darauf hin, gemeinsame europäische Qualitätsstandards und Berichterstattungsanforderungen zu etablieren.557 Die Kommission soll auf diese Weise in die Lage versetzt werden, die Leistungen verschiedener Mitgliedstaaten bei der Durchführung des EU-Umweltrechts zu vergleichen und anhand ihrer Berichte zutreffend zu beurteilen. Mag die EUA im Verhältnis zur Kommission auch über ein gewisses Maß an organisatorischer Unabhängigkeit und Weisungsfreiheit verfügen, ist sie ihr als unterstützende, zuarbeitende Akteurin doch funktional untergeordnet.558 Im Gegensatz zu IMPEL, das als Netzwerk nationaler Umweltbehörden der mitgliedstaatlichen Sphäre zugehört und von ihren Bedürfnissen geprägt ist, wird das Leistungsangebot von EIONET maßgeblich von der EUA im Unionsinteresse bestimmt, deren Dienste sich von Anfang an besonders auf die Unterstützung der Kommission und ihre Bedürfnisse richteten.559 Obwohl die Kommission nicht in das EIONET eingegliedert ist, gehört sie zu seinen direkten „Nutznießern“. Aus ihrer Sicht konstituiert das dezentral organisierte, zentral koordinierte560 EIONET vorrangig einen die VollzugsNetzwerke im Europäischen Verwaltungsrecht, 2017, S. 174. Runge, DVBl 2005, 542 (Rn. 547). 557  EUA, EIONET connects – Sharing environmental information in Europe, 2012, S. 9, abrufbar unter: https://www.eea.europa.eu/publications/eionet-connects/ at_download/file (Stand: 14.2.2023). 558  Sommer, Verwaltungskooperation am Beispiel administrativer Informationsverfahren im Europäischen Umweltrecht, 2003, S. 543. 559  KOM, Mitteilung an den Rat – Überprüfung der Europäischen Umweltagentur (EUA), 22.12.2003, KOM(2003) 800 final, S. 10; Scherer/Heselhaus, in: Dauses/ Ludwigs, Hdb. des EU-Wirtschaftsrechts, 53. EL 2021, O. Rn. 208; vgl. auch: Art. 2 b), e) Verordnung (EG) Nr. 401/2009, wonach „insbesondere“ die Weitergabe und der Gebrauch von Umweltinformationen an die Kommission betont wird. 560  Bernardo, in: Schneider/Velasco Caballero, Strukturen des Europäischen Verwaltungsverbunds, 2009, S. 164. 555  Schwind, 556  Vgl.

352

3. Teil: Netzwerke im Bereich der Vollzugskontrolle

überwachung unterstützenden Mechanismus, über den sie auf Umweltdaten aus nationalen Überwachungsnetzwerken, Informationssammelzentren oder Forschungseinrichtungen zugreifen und sie in ihre Vollzugsüberwachungs­ tätigkeit einbeziehen kann. 6. Auswertung Mit EIONET wurde ein bedeutender Datenkanal geschaffen, über den die Umweltberichterstattung innerhalb der EU strukturiert und koordiniert wird. Im Bereich Compliance Monitoring, in dem die Kommission zur Überwachung des EU-Umweltrechtsvollzugs auf die mitgliedstaatliche Berichterstattung angewiesen ist, fungiert EIONET als unterstützendes zuarbeitendes Hilfsmittel,561 das eine flächendeckende Übersicht über den Zustand der Umwelt in Europa vermitteln soll. Der partizipative Ansatz, der sich auch bei der Unterstützung der EU-Vollzugskontrolle durch die Zusammenarbeit in Practitioner Networks zeigt, schlägt sich hier in der Einbeziehung nationaler Umweltinformationssysteme, Behörden, staatlicher und nicht-staatlicher Forschungseinrichtungen sowie sonstiger Einrichtungen mit besonderer Expertise in bestimmten Umweltfachbereichen innerhalb der EU oder sogar aus Drittstaaten nieder. Auf diese Weise werden nicht nur Ressourcen mobilisiert. Die umfangreiche Mitwirkung fachkundiger Stellen bietet schon für sich genommen einen Mehrwert, aus dem eine Verbesserung der Datenqualität resultiert. Dennoch ist EIONET nicht frei von strukturimmanenten Schwächen.562 Zwar mag die Einbeziehung bestehender innerstaatlicher Umweltinformations- und Beobachtungsnetzwerke der schnellste Weg zum Aufbau eines paneuropäischen Umweltinformationssystems gewesen sein. Gleichzeitig verursacht die Mitwirkung zahlreicher nationaler Akteure, ebenso wie die dezentrale Sammlung themenspezifischer Informationen innerhalb der ETC einen enormen Koordinationsaufwand.563 Hinzu kommt, dass Mechanismen, die auf dem Prinzip der Partizipation aufbauen, stehts in Abhängigkeit zur Leistungsfähigkeit und Kooperationsbereitschaft der einbezogenen Teilnehmer stehen.564 Vor dem Hintergrund, dass der EUA als Zentralakteurin des EIONET weder eigene Datenerhebungs- noch Nachprüfungsbefugnisse zukommen, lassen sich selbst Unterstützungsleistungen nur in Zusammenarbeit Netzwerke im Europäischen Verwaltungsrecht, 2017, S. 174, 176. DVBl 2005, 542 (Rn. 549). 563  Runge, DVBl 2005, 542 (Rn. 548). 564  Albin, Die Vollzugskontrolle des europäischen Umweltrechts, 1999, S. 245; ähnlich auch: Heußner, Informationssysteme im Europäischen Verwaltungsverbund, 2007, S. 65. 561  Schwind, 562  Runge,



C. Netzwerke im Bereich Compliance Monitoring353

mit den Mitgliedstaaten erbringen.565 Defizite bei der Ausgestaltung nationaler Informationsstrukturen schlagen damit zwangsläufig auf das EIONET durch; zumindest in der Anfangsphase des Netzwerks wurden organisatorische und qualitative Unterschiede innerstaatlicher Systeme noch als leistungsbeeinträchtigender Faktor problematisiert.566 Da Umweltdaten bereits auf nationaler Ebene gesammelt und vorbewertet werden, hängt ihre Qualität grundlegend von der Mitwirkungsbereitschaft der Mitgliedstaaten ab. In Anbetracht des Umstands, dass die Kommission EIONET bekanntermaßen zu Überwachungszwecken nutzt, besteht hier die Gefahr, dass Informationen vorgefiltert oder beschönigt werden.567 Neutralitätseinbußen lassen sich durch die Einigung auf gemeinsame Bewertungsstandards und die Einbeziehung unpolitischer Akteure aus Wissenschaft und Forschung mindern, aber nie völlig ausschließen. Ein zentralisiertes, vollständig unionseigenes Überwachungssystem, das ohne die Beteiligung nationaler Informationsnetzwerke auskäme, würde diese Probleme zwar beheben. Ein solches System aufzubauen, wäre aber nicht nur mit Blick auf die enormen Ressourcendefizite der Kommission und der EUA realitätsfern, sondern auch mit erheblichen Eingriffen in die staatliche Souveränitätssphäre verbunden.568 Das partizipative EIONET bietet demgegenüber eine Kompromiss­ lösung, in der die aufgezeigten Schwächen als Kehrseite einer ansonsten wirtschaftlich, kompetenzrechtlich und effektivitätspolitisch sinnvollen Kooperationsstruktur hingenommen werden müssen.569 Ähnlich wie die vollzugsunterstützenden Practitioner Networks funktioniert auch EIONET auf Basis des Kooperationsprinzips. Dieser Umstand schlägt sich nicht zuletzt in der Ausgestaltung seiner sekundärrechtlichen Rahmenbedingungen nieder. Anstatt detaillierte Vorgaben für alle Bereiche der Zusammenarbeit zwischen den Netzwerkteilnehmern top-down festzulegen, beschränkt sich die Verordnung (EG) Nr. 401/2009 auf die Regelung einiger struktureller Grundlagen. Indem sie den Mitgliedstaaten Spielräume bei der Erfüllung ihrer Kooperationspflicht belässt, trägt sie staatlichen Souveränitätsinteressen und Kompetenzdefiziten auf EU-Ebene Rechnung. Die genaue Ausgestaltung der Arbeitsbeziehungen erfolgt über individuelle Ver565  Sommer, Verwaltungskooperation am Beispiel administrativer Informationsverfahren im Europäischen Umweltrecht, 2003, S. 544. 566  KOM, Mitteilung an den Rat – Überprüfung der Europäischen Umweltagentur (EUA), 22.12.2003, KOM(2003) 800 final, S. 16; Khuchua, HanseLRev 2009, 79 (89). 567  Runge, DVBl 2005, 542 (Rn. 548); vgl. auch: Schwind, Netzwerke im Europäischen Verwaltungsrecht, 2017, S. 170. 568  Bernardo, in: Schneider/Velasco Caballero, Strukturen des Europäischen Verwaltungsverbunds, 2009, S. 164. 569  Runge, DVBl 2005, 542 (Rn. 548).

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3. Teil: Netzwerke im Bereich der Vollzugskontrolle

einbarungen zwischen der EUA und den involvierten nationalen Stellen. Zwar kann die EUA durch die Verwendung von Standardverträgen und allgemeinen Geschäftsbedingungen auf eine gewisse Einheitlichkeit hinwirken.570 Im Endeffekt bleiben die Arbeitsbeziehungen innerhalb des Netzwerks aber dem Konsens und der Kooperationsbereitschaft der Beteiligten überlassen. Da die Verordnung nicht statisch festschreibt, welche Stellen zu den „wichtigsten Bestandteilen innerstaatlicher Netzwerke“ gehören und zudem die vertragliche Anbindung drittstaatlicher Einrichtungen gestattet, bringt sie schließlich den dynamischen, entwicklungsoffenen Charakter der Netzwerk­ idee zum Ausdruck, die eine flexible Teilhabe verschiedenster Behörden und sonstiger Umweltexperten ermöglicht. Die Vollzugskontrollkompetenzen der Kommission werden über EIONET nicht erweitert. Das Netzwerk trägt lediglich dazu bei, die Umweltbericht­ erstattung als Mittel der Vollzugsüberwachung zu effektivieren. Die Bedeutung moderner Kommunikations- und Informationstechnologien kann dabei gar nicht überschätzt werden. Mag der Wert der elektronischen Datenübertragung zunächst vor allem in der Beschleunigung und Vereinfachung grenzüberschreitender Informationsaustauschvorgänge bestanden haben, werden im Rahmen von EIONET heute ständig neue webbasierte Dienste entwickelt, die den Mitgliedstaaten die Erfüllung ihrer Umweltberichtspflichten nicht nur technisch erleichtern, sondern ihnen auch inhaltliche Hilfestellung bieten oder den Aufbau horizontaler Kontakte zu anderen fachkundigen Akteuren ermöglichen. Die Inanspruchnahme, der über EIONET angebotenen Leistungen wird über das Internet signifikant erleichtert. Offeriert das Netzwerk seinen Mitgliedern attraktive Unterstützung, kann dies für die Netzwerkzusammenarbeit nur zuträglich sein. Je größer der Nutzen ist, den die Mitgliedstaaten aus dem Netzwerk ziehen können, desto intensiver werden sie sich ihrerseits um die Zusammenarbeit bemühen, ohne dass dies durch disziplinierende Weisungs- oder Sanktionskompetenzen erzwungen werden müsste. Generell ist die Informationskooperation im Umweltsektor stark von dem Bestreben geprägt, ein gemeinsames Umweltinformationssystem für ganz Europa zu schaffen. Als integraler Bestandteil von SEIS ist auch EIONET mittlerweile an eine Vielzahl anderer Informationssysteme angebunden. Das dafür erforderliche Maß an Kompatibilität und Interoperabilität ließe sich ohne moderne Kommunikations- und Informationstechnologien keinesfalls erreichen.

570  Runge,

DVBl 2005, 542 (546).



D. Bewertung am Maßstab primärrechtlicher Grundsätze355

D. Bewertung am Maßstab primärrechtlicher Grundsätze Im Umweltbereich existiert bisher kein Netzwerk, das mit eigenen Vollzugs-, Kontroll- bzw. sonstigen hoheitlichen Entscheidungskompetenzen ausgestattet oder zum Erlass rechtsverbindlicher Vollzugsvorgaben befugt ist. Unter den Practitioner Networks hat vor allem IMPEL Erwähnung in den Umweltaktionsprogrammen der EU gefunden und somit ein gewisses Maß an formaler Anerkennung erfahren. Rechtliche Vorgaben, die dem IMPELNetzwerk ein klares Mandat zuweisen, seinen Teilnehmerkreis bestimmen oder die netzwerkinterne Arbeitsweise regulieren bzw. bürokratisieren würden, gibt es dennoch nicht. Da für umweltrelevante Practitioner Networks also kein einschränkender Rechtsrahmen existiert, bieten sie nationalen Vollzugsakteuren sehr flexible Möglichkeiten, ihre Tätigkeit in sachlicher Hinsicht auszudehnen und ihren Teilnehmerkreis über die Grenzen der EU hinaus zu erweitern, sofern ein entsprechender Konsens mit den übrigen Netzwerkmitgliedern bzw. der jeweiligen Netzwerk-Trägergesellschaft gebildet werden kann. Im Monitoring Bereich mag EIONET auf einer formalrechtlichen Grundlage beruhen. Diese ist jedoch offen gestaltet und lässt weite Spielräume bei der Netzwerkzusammensetzung sowie bei der Gestaltung der Beziehungen zwischen Netzwerkteilnehmern. Obwohl EIONET im Unterschied zu den Practitioner Networks sekundärrechtlich institutionalisiert ist, arbeitet das Netzwerk weitgehend ohne formalisierte Kooperationspflichten und verfahrensrechtliche Vorgaben in starker Abhängigkeit zur mitgliedstaatlichen Kooperationsbereitschaft.571 Die Kommission, deren Vollzugskontrolltätigkeit im Umweltsektor durch Ressourcen- und Kompetenzdefizite erschwert wird, sieht die freiwillige Zusammenarbeit zwischen nationalen Praktiker*innen bzw. informationsverwaltenden Stellen im Rahmen kooperationsfördernd konzipierter Strukturen als Chance, um die Vollzugsleistungen der Mitgliedstaaten als Teil ihres Compliance-Promotion-Ansatzes durch steuernde Einwirkungen zu verbessern bzw. verlässliche Informationen zu Compliance Monitoring Zwecken zu gewinnen. Die Überbrückung kompetenzieller Schwächen mit Hilfe informeller, konsensualer Handlungsinstrumente ist jedenfalls keine unbekannte Strategie. Seit Jahren werden zwischen Unionsorganen, mitgliedstaatlichen Behörden oder Wirtschafts- und Sozialakteuren Umweltvereinbarungen572 571  Vgl. Sommer, Verwaltungskooperation am Beispiel administrativer Informa­ tionsverfahren im Europäischen Umweltrecht, 2003, S. 544. 572  Vgl. z. B. die 2008 abgelaufene Umweltvereinbarung des Verbands der euro­ päischen Automobilhersteller (ACEA), dokumentiert in: KOM, Mitteilung an den Rat und das Europäische Parlament – Umsetzung der Strategie der Gemeinschaft zur Minderung der CO2-Emissionen von Personenkraftwagen: Eine Umweltvereinbarung mit der europäischen Automobilindustrie, 29.7.1998, KOM(1998) 495 endg.

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3. Teil: Netzwerke im Bereich der Vollzugskontrolle

über die Einhaltung umweltpolitischer Vorgaben getroffen, die freiwillige Verpflichtungen begründen und die Verwirklichung der EU-Umweltziele ohne verbindliche Rechtsakte im Wege der Selbstregulierung erreichen sollen.573 An der Zusammenarbeit in den hier dargestellten Netzwerken nimmt die Kommission in der Regel nicht unmittelbar teil. Indem sie politischen bzw. finanziellen Einfluss auf die vollzugsunterstützende Arbeit von Practitioner Networks ausübt, erhält sie jedoch Gelegenheit – sozusagen auf indirektem Weg, vermittelt über das jeweilige Netzwerk – selbst Einfluss auf den mitgliedstaatlichen EU-Umweltrechtsvollzug zu nehmen. Zudem ist sie primäre Nutznießerin der Informationsverwaltungstätigkeit der EUA im Rahmen von EIONET und insoweit ebenfalls in der Position, die Netzwerkarbeit ihren Bedürfnissen entsprechend zu beeinflussen. In rechtlicher Hinsicht ist dieser Ansatz nicht unbedenklich. Auch wenn die Kommission diesbezüglich keinen ausdrücklichen sekundärrechtlichen Einschränkungen unterworfen ist, kann sie sich die auf Informalität und Konsens beruhenden Netzwerke im Rahmen ihrer Vollzugskontrolltätigkeit doch nur zunutze machen, soweit eine solche Instrumentalisierung mit dem primärrechtlichen Rechtsrahmen in Einklang steht. Dabei stellt sich zuvorderst die Frage, ob sich die potenziell vollzugssteuernde Einflussnahme der Kommission auf die Netzwerkarbeit noch mit der europäischen Kompetenzordnung vereinbaren lässt (I.). Weiterhin gilt es zu klären, ob die Zusammenarbeit in Practitioner Networks und EIONET überhaupt selbst den unionsprimärrechtlichen Anforderungen an Legalität und Legitimität entspricht (II.). Abschließend soll mittels eines vergleichenden Blicks auf Netzwerke in anderen Politikbereichen der Frage nachgegangen werden, wie sich Netzwerke im Umweltsektor in Zukunft weiterentwickeln oder aber an ihre rechtlichen Grenzen stoßen könnten (III.).

573  KOM, Mitteilung, Aktionsplan „Vereinfachung und Verbesserung des Regelungsumfelds“, 5.6.2002, KOM(2002) 278 endg., S. 11 f.; KOM, Mitteilung an das Europäische Parlament, den Rat, den Wirtschafts- und Sozialausschuss und den ­Ausschuss der Regionen – Umweltvereinbarungen auf Gemeinschaftsebene im Rahmen des Aktionsplans „Vereinfachung und Verbesserung des Regelungsumfelds“, 17.7.2002, KOM(2002) 412 endg., S. 1 ff.; zu Umweltvereinbarungen im Unionsrecht im Detail: Epiney, Umweltrecht der EU, 4. Auflage 2019, S. 61 ff.; Giebel, Vereinbarungen als Instrument des Umweltschutzes, 2001, S. 179 ff.; Meßerschmidt, Europäisches Umweltrecht 2011, § 5 Rn. 207 ff.



D. Bewertung am Maßstab primärrechtlicher Grundsätze357

I. Netzwerke im Lichte der Kompetenzordnung 1. Verstoß gegen den Grundsatz des dezentralen Vollzugs Die europäische Kompetenzordnung macht eine Abgrenzung von Zuständigkeiten in horizontaler sowie vertikaler Richtung erforderlich. In Ebenen übergreifend koordinierten, kooperativen oder sogar parallelen Vollzugskonzepten stellen sich vor allem Probleme der vertikalen Zuständigkeitsverteilung zwischen der EU-Ebene und der mitgliedstaatlichen Ebene.574 Nach Maßgabe des Grundsatzes der beschränkten Einzelermächtigung (Art. 5 I 1, II EUV) liegt die Kompetenz zur Ausübung hoheitlicher Befugnisse prin­ zipiell bei den Mitgliedstaaten. Für den Bereich des administrativen Rechtsvollzugs hat dieses Regel-Ausnahme-Verhältnis in Art. 291 I AEUV ausdrückliche Bestätigung gefunden. Soweit Art. 291 I AEUV über seinen deskriptiven Gehalt hinaus normativ-kompetenzschützende Bedeutung beigemessen wird,575 muss bei der Fortentwicklung vernetzter Vollzugsstrukturen beachtet werden, dass der Zuständigkeitsschwerpunkt entsprechend des Grundsatzes des dezentralen Vollzugs auf mitgliedstaatlicher Ebene verbleiben muss und nicht zu stark durch komplex vernetzte Ausprägungen der Behördenkooperation perforiert werden darf. Will die EU-Ebene Vollzugskompetenzen an sich ziehen, unterliegt sie den Einschränkungen des Subsidiaritätsprinzips (Art. 5 I 2, III EUV) sowie des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes (Art. 5 I 2, IV EUV), die den Ausnahmecharakter des zentralen Vollzugsmodus sichern und nicht durch Verantwortungsverschiebungen im Rahmen von verflochtenen Verfahren unterwandert werden dürfen.576 Indem die Kommission Einfluss auf die Tätigkeit umweltrelevanter Netzwerke nimmt, könnte sie diese Grenzen überschreiten. In der rechtswissenschaftlichen Fachliteratur wird die Vereinbarkeit kommissionsbeeinflusster Netzwerke mit der europäischen Kompetenzordnung vor allem im Bereich des Wettbewerbsrechts problematisiert, in dem die Kommission neben den nationalen Behörden für den Vollzug unionsrecht­ licher Vorgaben verantwortlich ist. Gemäß Art. 4 Verordnung (EG) Nr. 1/ 2003577 verfügen nationale Behörden mit Ausnahme der Feststellung der Nichtanwendbarkeit des EU-Wettbewerbsrechts über dieselben Entscheidungsbefugnisse wie die Kommission. Um die durch diese Dezentralisierung Die Verwaltung 2005, 517 (521 f.). 1. Teil, D. II. 3. 576  Zur Frage nach der einschlägigen Kompetenzgrundlage für die Begründung unionseigener Vollzugskompetenzen: Weiß, Die Verwaltung 2005, 517 (530 ff.). 577  Verordnung (EG) Nr. 1/2003 des Rates vom 16. Dezember 2002 zur Durchführung der in den Artikeln 81 und 82 des Vertrags niedergelegten Wettbewerbs­regeln, ABl. 2002, Nr. L 1, S. 1 ff. 574  Weiß,

575  Dazu:

358

3. Teil: Netzwerke im Bereich der Vollzugskontrolle

entstehende Gefahr für die Einheitlichkeit des Wettbewerbsrechtsvollzugs abzufangen, bindet das Unionsrecht staatliche Vollzugsbehörden und die Kommission in ein gemeinsames Netzwerk europäischer Wettbewerbsbehörden ein (Erwgr. 15 Verordnung (EG) Nr. 1/2003; engl.: European Competition Network; ECN), in dem sie sich gegenseitig durch Informationen und Konsultationen unterstützen und auf einen kohärenten Vollzug achten sollen.578 Zwar ist auch dieses Netzwerk im Grundsatz heterarchisch angelegt und von der Gleichheit und Unabhängigkeit aller Beteiligten geprägt. Der Kommission kommt in ihrer Funktion als Hüterin der Verträge aber eine Letztentscheidungsverantwortung zu, die sich etwa in ihrem Recht äußert, ein bei einer nationalen Behörde anhängiges Verfahren nach Art. 11 VI Verordnung (EG) Nr. 1/2003 an sich zu ziehen579 und mit rechtlicher Bindungskraft für nationale Behörden und Gerichte zu entscheiden (Art. 16 I Verordnung (EG) Nr. 1/2003). Damit verfügt die Kommission über weitreichende Möglichkeiten, um auf die staatliche Vollzugssphäre überzugreifen. Trotz paralleler Zuständigkeiten im Bereich des Wettbewerbsrechts ist ihre Stellung im Ergebnis stärker.580 Resultat ist das Entstehen eines von Weiß als „seltsame[n] Zwitter zwischen direktem und indirektem Vollzug“581 bezeichneten Hybridgefüges,582 das mit dem in Art. 5 EUV und Art. 291 I AEUV angelegten EU-Vollzugsföderalismus nur mit Mühe unter Verweis auf Art. 105 AEUV, der eine ausdrückliche Sonderstellung der Kommission im Bereich des EU-Wettbewerbsrechts primärrechtlich anordnet, vereinbart werden kann.583 Für den Umweltsektor existiert eine vergleichbare vertragsunmittelbare Regelung nicht. Eine Letztentscheidungsverantwortung der Kommission lässt sich auch nicht nach allgemeinen Regeln unter Hinweis auf Art. 17 I 2 EUV begründen, der für sich genommen keine Vollzugskompetenzen vermittelt. Die Stellung der Kommission gegenüber den hier dargestellten Netzwerken in den Bereichen Compliance Promotion und Compliance Monitoring ist allerdings eine völlig andere als innerhalb des ECN. Im Verhältnis zu den Practitioner Networks verfügt die Kommission zwar über finanziellen und 578  Nr. 2 der Gemeinsamen Erklärung des Rates und der Kommission zur Arbeitsweise des Netzwerks europäischer Wettbewerbsbehörden, Ratsdokument 15432/02 ADD 1. 579  Dazu kritisch: Kahl, in: Holoubek/Lang, Verfahren der Zusammenarbeit von Verwaltungsbehörden in Europa, 2012, S. 35 ff.; Schwind, Netzwerke im Europäischen Verwaltungsrecht, 2017, S. 237 ff. 580  Kallfaß, EuR 2018, 175 (178); Weiß, Die Verwaltung 2005, 517 (528). 581  Weiß, Die Verwaltung 2005, 517 (530). 582  Bildlich von der Kommission als „Spinne im Netz“ sprechend: Terhechte, ZaöRV 2008, 689 (704). 583  Weiß, Die Verwaltung 2005, 517 (528).



D. Bewertung am Maßstab primärrechtlicher Grundsätze359

politischen Einfluss, der es ihr gestattet, die Netzwerkarbeit in eine bestimmte Richtung zu dirigieren und so auf die Realisierung der Umweltziele der EU abzustimmen. Interventions- und Letztentscheidungsbefugnisse, die ihr ein direktes rechtliches Übergreifen in die nationale Vollzugssphäre ermöglichen und die Vollzugsverantwortung im Umweltbereich auf die EU-Ebene verschieben würden, kommen ihr dabei allerdings nicht zu. Eine unionsrechtswidrige Überwindung des Grundsatzes des dezentralen Vollzugs, wie sie im Bereich des Wettbewerbsrechts diskutiert wird, ist vor diesem Hintergrund nicht zu befürchten. Dasselbe gilt für die Betätigung des Überwachungsnetzwerks EIONET. EIONET beschränkt sich auf die informationelle Unterstützung nationaler und supranationaler Akteure, darunter vor allem der Kommission. Über Vollzugs‑, Kontroll- oder sonstige Sachentscheidungskompetenzen, verfügt weder das Netzwerk in seiner Eigenschaft als funktionale Organisationseinheit noch die EUA als Zentralgestalt innerhalb des Netzwerks.584 Eine Beeinflussung der mitgliedstaatlichen Vollzugsebene, die dem Grundsatz des dezentralen Vollzugs zuwiderlaufen könnte findet nicht statt.585 Als ausschließlich unterstützendes Informationsnetzwerk kommt EIONET mit einem Minimum an Souveränitätsbeschränkung aus, das sich mit den unionsprimärrechtlichen Grundsätzen der beschränkten Einzelermächtigung, der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit ohne weiteres vereinbaren lässt.586 Soweit die Netzwerktätigkeit an Informationen anknüpft, die in den Mitgliedstaaten aufgrund von Verpflichtungen aus speziellen EU-Sekundärrechtsakten gesammelt werden, müssen diese Sekundärrechtsakte natürlich ihrerseits den unionsprimärrechtlichen Anforderungen des Art. 5 EUV genügen. Da zur Festlegung von Informationsübermittlungsmodalitäten auf individuelle Vereinbarungen zwischen der EUA und den am EIONET beteiligten nationalen Einrichtungen verwiesen wird, bleibt auch die staatliche Verfahrensautonomie geschont. Schließlich liegt ein Konsenserfordernis in der Natur jedes Vertrags. Lehnen nationale Akteure bestimmte Vertragsinhalte ab, kann eine Einigung prinzipiell nicht erzwungen werden. Andernfalls würde der EUA eine Regelungskompetenz für das Informationsaustauschverfahren eingeräumt, die mit Blick auf Art. 5 UAbs. 1 Verordnung (EG) Nr. 401/2009, 584  Runge, DVBl 2005, 542 (543); zum in Art. 20 der ursprünglichen Verordnung (EWG) Nr. 1210/1990 vorgesehenen Prüfauftrag des europäischen Gesetzgebers bezgl. einer Beteiligung der EUA an der Überwachung der Durchführung europäischer Rechtsakte: Albin, Die Vollzugskontrolle des europäischen Umweltrechts, 1999, S.  244 f.; Bernardo, in: Schneider/Velasco Caballero, Strukturen des Europäischen Verwaltungsverbunds, 2009, S. 169; Sommer, Verwaltungskooperation am Beispiel administrativer Informationsverfahren im Europäischen Umweltrecht, 2003, S. 538 ff. 585  Schwind, Netzwerke im Europäischen Verwaltungsrecht, 2017, S. 179 f. 586  Vgl. Schwind, Netzwerke im Europäischen Verwaltungsrecht, 2017, S. 170.

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3. Teil: Netzwerke im Bereich der Vollzugskontrolle

der ausdrücklich „Vereinbarungen“ und „Verträge“ als Mittel der rechtlichen Gestaltung vorsieht, nicht zugedacht ist.587 Art. 5 UAbs. 2 Verordnung (EG) Nr. 401/2009, der den Mitgliedstaaten die Möglichkeit einräumt, den Abschluss solcher Verwaltungsvereinbarungen vom Einvernehmen des NFP abhängig zu machen und sich so eine neutrale Kontrolle zu bewahren,588 steht der Annahme einer unionsrechtlichen Einigungspflicht ebenfalls entgegen. Wäre die EUA zur Regelung der Informationsübermittlungsmodalitäten innerhalb des EIONET berechtigt, bliebe für eine Kontrolle durch die Mitgliedstaaten kein Raum. Doch auch wenn eine Einigungspflicht innerstaat­ licher Stellen und Einrichtungen im Grundsatz abzulehnen ist, kann eine völlig grundlose Verweigerung des Vertragsschlusses wohl einen Verstoß gegen die sekundärrechtlichen Kooperationspflichten (Art. 4 II UAbs. 2 Verordnung (EG) Nr. 401/2009) bzw. das unionsprimärrechtliche Loyalitätsgebot (Art. 4 III EUV) begründen.589 2. Vollzugssteuerung durch Practitioner Networks: Eine Umgehung des Grundsatzes der beschränkten Einzelermächtigung? Der Ansatz der Kommission, sich Netzwerke im Rahmen ihrer Compliance-Assurance-Strategie zunutze zu machen, könnte mit dem Grundsatz der beschränkten Einzelermächtigung in Konflikt stehen, soweit sie dadurch faktisch-mittelbare Einwirkungsmöglichkeiten auf die staatliche Vollzugssphäre erlangt, die ihr nach Maßgabe des EU-Acquis eigentlich nicht zustehen würden. Als sektorübergreifende Dienstleistungsstruktur, die ausschließlich mit der Verwaltung von Umweltinformationen befasst ist, kann EIONET sowohl den Vollzug des EU-Umweltrechts durch die Mitgliedstaaten als auch die Überwachung nationaler Vollzugsleistungen durch die Kommission unterstützen. Da über EIONET nur solche Daten ausgetauscht und übermittelt werden, die in den Mitgliedstaaten aus eigenem Entschluss oder aufgrund spezieller sekundärrechtlicher Berichtspflichten gesammelt wurden, werden die Inspektions- und Ermittlungsbefugnisse der Kommission durch den Rückgriff auf das Netzwerk nicht erweitert. EIONET trägt lediglich dazu bei, vorhandenes Datenmaterial besser zu nutzen, relevante Informationen den richtigen Infor587  So im Ergebnis auch: Sommer, Verwaltungskooperation am Beispiel administrativer Informationsverfahren im Europäischen Umweltrecht, 2003, S. 537, 542 f. 588  Sommer, Verwaltungskooperation am Beispiel administrativer Informationsverfahren im Europäischen Umweltrecht, 2003, S. 537. 589  Insoweit für eine Bemühungspflicht aber gegen eine inhaltliche Einigungspflicht: Sommer, Verwaltungskooperation am Beispiel administrativer Informationsverfahren im Europäischen Umweltrecht, 2003, S. 537, 544.



D. Bewertung am Maßstab primärrechtlicher Grundsätze361

mationsströmen zuzuführen und Ressourcendefizite, die der Kommission die Auswertung und Verwendung vollzugsrelevanter Daten erschweren, zu kompensieren. Besondere kompetenzrechtliche Anforderungen müssen dabei nicht beachtet werden. Demgegenüber zielen die hier dargestellten Practitioner Networks gerade darauf ab, nationale Vollzugspraktiken zum Besseren zu verändern. Wirkt die Kommission steuernd auf die Netzwerkarbeit ein oder sogar selbst daran mit, kann nicht ausgeschlossen werden, dass sie – sofern die Vollzugsakteure eines Mitgliedstaates die Ergebnisse der Netzwerkarbeit in ihre Vollzugspraxis integrieren – damit steuernden Einfluss auf die mitgliedstaatliche Vollzugsebene nimmt. Da Practitioner Networks im Umweltsektor keine hoheitlichen Entscheidungskompetenzen wahrnehmen, sondern auf den Austausch und die Verbreitung vollzugspraktischer Informationen beschränkt bleiben, wird das Fehlen rechtlicher Grundlagen für ihr Tätigwerden in der Rechtswissenschaft nicht weiter problematisiert.590 Zwar können die hier dargestellten Netzwerke keine verbindlichen, das Vollzugsverfahren in den Mitgliedstaaten regelnden Rechtsakte erlassen. Faktisch vermag aber auch der Austausch von Praxiserfahrungen und Fachwissen sowie die Erarbeitung unverbindlicher Leitfäden, Handlungsempfehlungen und Studien den nationalen Vollzug des EU-Umweltrechts anzuleiten, zu beeinflussen und durch die Schaffung gemeinsamer Wissensgrundlagen sogar auf eine Harmonisierung des EU-Umweltrechtsvollzugs in den Mitgliedstaaten hinzuwirken.591 Ähnliche weiche Steuerungsmöglichkeiten sieht auch das Handlungsinstrumentarium der Kommission vor. Im Unterschied zu den in die heterarchisch konzipierten Netzwerkstrukturen eingebundenen Akteuren macht die Kommission davon aber typischerweise aus einer hoheitlichen Position he­ raus Gebrauch. Soweit das Unionsprimärrecht auch an rechtlich unverbind­ liche, aber faktisch vollzugssteuernde Maßnahmen besondere kompetenzrechtliche Anforderungen stellt, darf sich die Kommission diesen nicht entziehen. Nutzt sie die Arbeit der Practitioner Networks zu einem Durchgriff auf die nationale Vollzugssphäre, könnte sie diese Anforderungen bewusst umgehen. Im Folgenden muss also geklärt werden, unter welchen kompe­ tenzrecht­ lichen Voraussetzungen der nationale EU-Umweltrechtsvollzug durch unionsrechtliche Vorgaben geregelt und harmonisiert werden kann und ob diese Voraussetzungen auf die faktisch vollzugssteuernde Tätigkeit umweltrelevanter Practitioner Networks übertragen werden müssen, soweit die Kommission als dirigierende Kraft im Hintergrund agiert. 590  So etwa: Schwind, der das IMPEL-Netzwerk als Netzwerk für den „schlichten“ Informationsaustausch qualifiziert, vgl. Schwind, Netzwerke im Europäischen Verwaltungsrecht, 2017, S. 183 f. 591  Schwind, Netzwerke im Europäischen Verwaltungsrecht, 2017, S. 307.

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3. Teil: Netzwerke im Bereich der Vollzugskontrolle

a) Vollzugssteuerung durch verbindliche EU-Rechtsakte Um den Unionsrechtsvollzug in den Mitgliedstaaten durch rechtsverbind­ liche, vorrangig anwendbare EU-Bestimmungen harmonisieren zu können, bedarf der Unionsgesetzgeber einer dem Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung (Art. 5 I 1, II EUV) entsprechenden Kompetenzgrundlage. Soweit der Unionsgesetzgeber im Umweltsektor vollzugsregelnde Vorgaben erlässt, werden diese typischerweise auf die in Art. 192 I AEUV592 (i. V. m. Art. 114 AEUV)593 enthaltene Sachkompetenz gestützt, die nicht nur zur Setzung materiellen Rechts, sondern auch zum Erlass verfahrens- und sogar organisationsbezogener Regelungen für den Vollzug berechtigt.594 Neben der Festlegung sekundärrechtlicher Verfahrensbestimmungen durch den Unionsgesetzgeber kann auch die Kommission verbindliche Vollzugsregelungen in Form von delegierten Rechtsakten (Art. 290 AEUV) oder Durchführungsrechtsakten (Art. 291 II – III AEUV) erlassen.595 Zwar ist hierfür keine vertragsunmittelbare Kompetenzgrundlage erforderlich, wohl aber eine abgeleitete Ermächtigung. Der Unionsgesetzgeber muss der Kommission im Rahmen eines Basisrechtsakts entsprechende Befugnisse übertragen, von denen sie nur nach Maßgabe der in Art. 290, 291 II, III AEUV sowie in der Komitologie-Verordnung (EU) Nr. 182/2011 vorgesehenen Anforderungen Gebrauch machen kann.596 Sieht das Unionsrecht keine Vollzugsregelungen vor, gilt für die Mitgliedstaaten das Prinzip der institutionellen und verfahrensmäßigen Autonomie, wobei die Pflicht zur loyalen Zusammenarbeit 592  Für auf Art. 192 I AEUV (ex-Art. 175 I EGV) gestützte verfahrensorganisatorische Vorgaben, vgl. etwa: Art. 11 I der Verordnung (EG) Nr. 1221/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25.11.2009 über die freiwillige Teilnahme von Organisationen an einem Gemeinschaftssystem für das Umweltmanagement und Umweltbetriebsprüfung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 761/2001, sowie der Beschlüsse der Kommission 2001/681/EG und 2006/193/EG. ABl. 2009, Nr. L 342, S. 1 ff.; ebenso Art. 19 II der Richtlinie 2007/2/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 14.3.2007 zur Schaffung einer Geodateninfrastruktur in der Europäischen Gemeinschaft (INSPIRE), ABl. 2007, Nr. L 108, S. 1 ff. 593  Zum Verhältnis zwischen Art. 192 I AEUV und Art. 114 AEUV: EuGH, Rs. C-155/91, Kommission/Parlament, Slg. 1993, I-939 (Rn. 19 ff.); Rs. C-187/93, Parlament/Rat, Slg. 1994, I-2857 (Rn. 25 ff.); Scherer/Heselhau, in: Dauses/Ludwigs, Hdb. des EU-Wirtschaftsrechts, 53. EL 2021, O. Rn. 113 ff. m. w. N. 594  Sydow, JuS 2005, 97 (98 f.). 595  Zur Abgrenzung zwischen horizontal übertragenen Befugnissen (Art.  290 AEUV) und vertikal übertragenen Befugnissen (Art. 291 II, III AEUV): Gellermann, in: S ­ treinz, EUA/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 291 AEUV Rn. 2; Möstl, DVBl 2011, 1076 (1081). 596  Vgl. z. B. Art. 19 der Verordnung (EG) Nr. 338/97 des Rates vom 9. Dezember 1996 über den Schutz von Exemplaren wildlebender Tier- und Pflanzenarten durch Überwachung des Handels, ABl. 1997, Nr. L 61, S. 1 ff.



D. Bewertung am Maßstab primärrechtlicher Grundsätze363

(Art. 4 III EUV) mit den Unionsorganen, der Effektivitätsgrundsatz und das Äquivalenzprinzip den Staaten bei der Gestaltung ihrer organisatorischen und verfahrensrechtlichen Rahmenbedingungen gewisse Grenzen vorgeben.597 b) Vollzugssteuerung durch Soft Law Zusätzlich zu rechtsverbindlichen Formen der normativen Vollzugssteuerung greift vor allem die Kommission – in selteneren Fällen auch Parlament und Rat – auf Empfehlungen und Stellungnahmen sowie primärrechtlich ungeschriebene Handlungsformen wie Leitlinien und Mitteilungen zurück, die zwar keine unmittelbare Bindungskraft entfalten,598 den nationalen Rechtsvollzug aber dennoch steuern und eine Vereinheitlichung der staat­ lichen Vollzugspraxis zur Folge haben können.599 Da die die in Art. 290 und 291 AEUV statuierten Voraussetzungen nicht unterlaufen werden dürfen, kann die Kommission von vollzugssteuernden Handlungsformen, die keine delegierten Rechtsakte oder Durchführungsrechtsakte darstellen nur Gebrauch machen, soweit sie sich eindeutig unterhalb der Schwelle zur Rechtsverbindlichkeit bewegen.600 In der Rechtswissenschaft hat sich für diesen Bereich des EU-Organhandelns der Begriff des Soft Law601 etabliert. Waren Kommissionsmitteilungen, Stellungnahmen, Empfehlungen und vor allem Leitlinien zunächst überwiegend im Bereich des Wettbewerbsrechts zu finden,602 wird mittlerweile auch der Umweltsektor von einer Vielzahl solcher Bekanntmachungen geprägt.603 597  Dazu:

1. Teil, D. II. 2. Rechtsverbindlichkeit von Empfehlungen und Stellungnahmen, vgl. Art. 288 V AEUV. 599  von Graevenitz, EuZW 2013, 169 (169); Kahl, Der Staat 2011, 353 (372); Möstl, DVBl 2011, 1076 (1080); Senden, ULRev 2005, 79 (81 f.); Sydow, JuS 2005, 97 (99); Thomas, EuR 2009, 423 (423 ff.). 600  von Graevenitz, EuZW 2013, 169 (169); Möstl, DVBl 2011, 1076 (1080, 1082). 601  Zum Begriff etwa: Kahl, Der Staat 2011, 353 (372); Möstl, DVBl 2011, 1076 (1080); Müller-Graff, EuR 2012, 18 (18 ff.); Schwarze, EuR 2011, 3 (3 ff.); zu den verschiedenen Erscheinungsformen des Soft Law vgl. EP, Rechtsausschuss, Arbeitsdokument zu institutionellen und rechtlichen Auswirkungen der Anwendung der In­ strumente des „Soft law“, 22.2.2007, PE 384.581 v 02-00 (Dok. 653346), S. 2. 602  Populäres Beispiel ist etwa die Bekanntmachung der Kommission über die Definition des relevanten Marktes im Sinne des Wettbewerbsrechts der Gemeinschaft; ABl. 1997, Nr. C 327, S. 5 ff. 603  Vgl. z. B.: Empfehlung 2001/331/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. April 2001 zur Festlegung von Mindestkriterien für Umweltinspektionen in den Mitgliedstaaten, ABl. 2001, Nr. L 118, S. 41 ff.; KOM, Mitteilung – Leit­ linien der Kommission für die Straffung der Umweltverträglichkeitsprüfung gemäß 598  Zur

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3. Teil: Netzwerke im Bereich der Vollzugskontrolle

Fraglich ist, inwieweit auch für Maßnahmen mit Soft-Law-Charakter eine ausdrückliche Ermächtigungsgrundlage erforderlich ist. Jedenfalls solche Verlautbarungen, die EU-Rechtsakte lediglich erläutern oder über Handlungsparameter informieren, an denen sich die Kommission bei der Ausübung bestimmter Entscheidungsbefugnisse orientieren oder an die sie sich sogar binden möchte,604 kann die Kommission autonom, kraft der ihr eigenen Organisationsgewalt ohne ausdrückliche Ermächtigungsgrundlage e­rlassen.605 Soweit Soft Law aber darauf gerichtet ist, auf die staatliche Vollzugsrealität etwa durch die Formulierung zusätzlicher Verhaltensregeln oder Verhaltenserwartungen606 einzuwirken und damit über den innenrechtlichen Bereich hinauszureichen, kann ihm zumindest eine gewisse faktische Bindungskraft607 nicht abgesprochen werden. Schließlich werden Verlautbarungen der Kommission üblicherweise auf Grundlage langjähriger Erfahrungen, unter Einbeziehung fachkundiger Expertengruppen erarbeitet; für die Auslegung des EU-Rechts bieten sie eine wichtige Erkenntnisquelle.608 Zwar hat letzten Endes der EuGH über die Auslegung unionsrechtlicher Vorgaben zu entscheiden. Mit Blick auf ihre Befugnis zur Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens kommt aber auch der Auffassung der Kommission Gewicht zu. In der Praxis genießt ihr Soft Law daher eine „natürliche Autorität“609, die seine Berücksichtigung durch nationale Behörden im Regelfall auch ohne unionsrechtliche Befolgungspflicht sicherstellt. Teilweise wird aus dem in Art. 4 III EUV enthaltenen Gebot der loyalen Zusammenarbeit sogar eine Rechtspflicht nationaler Stellen gefolgert, sich mit den Verlautbarungen der

Artikel 2 Absatz 3 der Richtlinie über die Umweltverträglichkeitsprüfung (Richtlinie 2011/92/EU des Europäischen Parlaments und des Rates in der durch die Richtlinie 2014/52/EU geänderten Fassung), 27.7.2017, C(2016) 4701 final; KOM, Mitteilung – Leitfaden zu Windkraftprojekten und den Naturschutzvorschriften der EU, 18.11.2020, C(2020) 7730 final; KOM, Natura 2000 – Gebietsmanagement, Die Vorgaben des Artikels 6 der Habitat-Richtlinie 92/43/EWG, ABl. 2019, Nr. C 33, S. 1 ff. 604  Zur Selbstbindung der Kommission: EuGH, Rs. C-288/96, Deutschland/Kommission, Slg. 2000, I-8237 (Rn. 62); Rs. C-171/00 P, Libéros/Kommission, Slg. 2002, I-451 (Rn. 35); verb. Rsen. C-189/02 P, C-202/02 P, C-205/02 P bis C-208/02 P und C-213/02 P, Dansk Rørindustri u. a./Kommission, Slg. 2005, I-5425 (Rn. 209 ff.); EuG, Rs. T-73/04, Carbone-Lorraine/Kommission, Slg. 2008, II-2661 (Rn. 70 f.); Rs. T-304/08, Smurfit Kappa Group plc/Kommission, ECLI:EU:T:2012:351 (Rn. 84); Frenz, WRP 2010, 224 (225 ff.); von Graevenitz, EuZW 2013, 169 (171); Soltész, EuZW 2013, 881 (882). 605  Möstl, DVBl 2011, 1076 (1082). 606  von Graevenitz, EuZW 2013, 169 (169); Schwarze, EuR 2011, 3 (5). 607  Frenz, WRP 2010, 224 (229); von Graevenitz, EuZW 2013, 169 (169); Thomas, EuR 2009, 423 (442); kritisch dazu: Soltész, EuZW 2013, 881 (881 f.). 608  Thomas, EuR 2009, 423 (437). 609  Thomas, EuR 2009, 423 (442).



D. Bewertung am Maßstab primärrechtlicher Grundsätze365

Kommission auseinanderzusetzen und Abweichungen zu begründen.610 Eine umfassende Befolgungspflicht lässt sich daraus aber jedenfalls nicht her­ leiten.611 Andernfalls wären nationale Vollzugsbehörden, vermittelt über Art. 4 III EUV, an jede Meinungsäußerung der Kommission automatisch gebunden, so dass die in Art. 288 AEUV angelegte Unterscheidung zwischen Handlungsformen mit verbindlicher und unverbindlicher Wirkung eingeebnet und die in Art. 290, 291 II, III AEUV vorgesehenen Anforderungen unterlaufen werden würden.612 Die Verlautbarungen der Kommission können allerdings mittelbare Bindungskraft entfalten, wenn sie von mitgliedstaatlichen Vollzugsbehörden tatsächlich aktiv angewendet werden. Zwar befolgen nationale Stellen europäisches Soft Law zunächst freiwillig. Wird dadurch aber eine Verwaltungspraxis begründet, können sie über die unionsrechtlichen Grundsätze der Gleichbehandlung und des Vertrauensschutzes dazu verpflichtet sein, vergleichbare Angelegenheiten nach denselben Maßstäben zu behandeln.613 Wird europäisches Soft Law auf diese Weise rechtlich relevant, resultiert seine Bindungskraft nicht aus der Erlassentscheidung der Kommission, sondern aus der Anwendungsentscheidung der Mitgliedstaaten. Eine generelle Befugnis der Kommission zum Erlass von Soft Law entnahm der EuGH in der Rs. C-303/90 (Frankreich/Kommission) Art. 211 3. Gedankenstrich EWGV,614 dem nach dem Vertrag von Lissabon am ehesten Art. 292 4 AEUV entsprechen dürfte.615 Zum Schutz staatlicher Kompetenzen erscheint es allerdings sachgerecht, auch für den Erlass unverbindlicher bzw. nicht vollverbindlicher Bekanntmachungen eine konkretere Grundlage zu fordern, soweit die Kommission eine Steuerungswirkung gegenüber der nationalen Vollzugsebene bezweckt. So wird auch in Literatur und Rechtsprechung zumeist vertreten, dass die Kommission vollzugssteuerndes 610  Bezogen auf eine Empfehlung: EuGH, Rs. C-322/88, Grimaldi/Fonds des maladies professionnelles, Slg. 1989, 4407 (Rn. 18); sogar von einer Pflicht zur „empfehlungskonformen Auslegung“ sprechend: von Bogdandy/Bast/Arndt, ZaöRV 2002, 77 (116, 122). 611  So wohl auch: EuGH, Rs. 229/86, Brother Industries/Kommission, Slg. 1987, 3757 (3763); a. A. aber: Schweda, WuW 2004, 1133 (1140, 1142). 612  Frenz, WRP 2010, 224 (229 f.); Pampel, EuZW 2005, 11 (12 f.); Pohlmann, WuW 2005, 1005 (1005 ff.); Thomas, EuR 2009, 423 (434 f.). 613  Frenz, WRP 2010, 224 (229). 614  EuGH, Rs. C-303/90, Frankreich/Kommission, Slg. 1991, I-5315 (Rn. 30); dazu auch: Senden; Utrecht Law Review 2005, 79 (88 f.); bezogen auf Empfehlungen: von Bogdandy/Bast/Arndt, Handlungsformen im Unionsrecht, 2002, S. 115. 615  Vgl. Schlussanträge der Generalanwältin Kokott in der Rs. C-226/11, Expedia Inc./Autorité de la concurrence u. a., ECLI:EU:C:2014:45 (Rn. 29 f.); von Graevenitz, EuZW 2013, 169 (170).

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3. Teil: Netzwerke im Bereich der Vollzugskontrolle

Soft Law nur schaffen dürfe, wenn sie primär- oder sekundärrechtlich explizit dazu ermächtigt worden oder aber mit Vollzugs-, Vollzugsüberwachungsoder Lenkungsbefugnissen ausgestattet sei,616 aus denen sich die Befugnis zur Formulierung unverbindlicher Verlautbarungen implizit – sozusagen als ungeschriebener Annex – ergebe.617 Der in Art. 17 I 2 EUV verankerte Vollzugskontrollauftrag kann für eine entsprechende Kompetenzausstattung nicht genügen,618 da er selbst keine Vollzugskompetenzen begründet619 und aufgrund seines umfassenden Zuschnitts eine Art faktische Regelungskompetenz in allen Bereichen eröffnen würde. Erlässt die Kommission verhaltenslenkendes Soft Law, obwohl es ihr an einer speziellen primär- oder sekundärrechtlichen Grundlage fehlt, müssen diese Verlautbarungen bei der Umsetzung und Anwendung des EU-Rechts unberücksichtigt bleiben.620 c) Die Übertragbarkeit kompetenzrechtlicher Anforderungen: Netzwerk Output als verdecktes Soft Law? Das Prinzip des Vollzugsföderalismus dient zuvorderst dem Schutz mitgliedstaatlicher Vollzugsbefugnisse vor Übergriffen durch die Organe der EU. Ob dieselben souveränitätsschützenden Anforderungen, die an den Erlass faktisch vollzugssteuernder Soft Law-Bestimmungen der Kommission gestellt werden auch auf die Zusammenarbeit zwischen Kommission und Practitioner Networks übertragbar sind, hängt folglich davon ab, ob nationale Vollzugskompetenzen in diesem Bereich ein vergleichbares Schutzbedürfnis aufweisen. Indem die Kommission Netzwerke finanziell und politisch fördert, konkrete Projekte anregt oder – heutzutage eher selten – selbst an netzwerkinternen Projekten mitwirkt, kann sie die Ausarbeitung vollzugsunterstützender Leitfäden, Empfehlungen, Schulungsunterlagen und anderer Materialien indirekt oder direkt mitbeeinflussen.621 Eine explizite oder implizite Ermächtigung müsste dafür aber nur gefordert werden, wenn sich die Ergebnisse der Netzwerkzusammenarbeit (der sog. Netzwerk Output) in ihrer Wirkungsweise gegenüber der staatlichen Vollzugsebene mit den Wirkungen rechtlich unver616  von Graevenitz, EuZW 2013, 169 (170); Möstl, DVBl 2011, 1076 (1082); Senden, ULRev 2005, 79 (91). 617  EuGH, Rs. C-311/94, IJssel-Vliet Combinatie BV/Minister van Economische Zaken, Slg. 1996, I-5023 (Rn. 32); Möstl, DVBl 2011, 1070 (1082); Senden; ULRev 2005, 79 (89 f.); ähnlich auch: Thomas, EuR 2009, 423 (424). 618  So im Ergebnis auch: Frenz, WRP 2010, 224 (225); a. A. wohl: Senden; ­ULRev 2005, 79 (90 f.). 619  Weiß, Die Verwaltung 2005, 517 (528). 620  von Graevenitz, EuZW 2013, 169 (170). 621  Dazu: 3. Teil, B. III. 1. c) cc) (2).



D. Bewertung am Maßstab primärrechtlicher Grundsätze367

bindlicher Kommissionsmitteilungen, Leitlinien und anderer Verlautbarungen vergleichen ließen, die auf die Lenkung und Vereinheitlichung des nationalen Umweltrechtsvollzugs gerichtet sind. Eine erste Gemeinsamkeit zwischen dem Soft Law der Kommission und dem Netzwerk Output informeller Practitioner Networks liegt in dem dahinterstehenden Bestreben, den effektivitätsorientierten Koordinierungs- und Kooperationsbedürfnissen staatlicher Vollzugsvorgänge in Europa Rechnung zu tragen.622 Werden Leitfäden, Handlungsempfehlungen, Interpretationshilfen oder Studien über gute Verwaltungspraktiken von Practitioner Networks erarbeitet, kommt diesen Dokumenten von sich aus keine rechtliche Bindungskraft zu. Ähnlich wie das Soft Law der Kommission kann aber auch der Netzwerk Output faktischen Einfluss auf die Gestaltung innerstaatlicher Verfahrensabläufe beim Vollzug des EU-Rechts nehmen. Da die Zusammenarbeit innerhalb der Netzwerke darauf gerichtet ist, nationale Vollzugsleistungen effektiv zu verbessern, liegt in der tatsächlichen Integration der gemeinsam gewonnenen Erkenntnisse in den Arbeitsalltag staatlicher Vollzugs­ akteure sogar der Sinn der Netzwerkarbeit. Wird der Netzwerk Output von staatlichen Vollzugsakteuren freiwillig adaptiert, kann dies ebenso zur Entstehung einer nationalen Vollzugspraxis, die über die unionsrechtlichen Grundsätze der Gleichbehandlung und des Vertrauensschutzes mittelbare Bindungskraft entfaltet beitragen, wie die Befolgung europäischer Soft LawBestimmungen. Dem Netzwerk Output dürfte dabei eine ähnliche fachliche Autorität zukommen wie den Verlautbarungen der Kommission. Schließlich werden auch die in Netzwerken produzierten Ergebnisse unter Rückgriff auf langjährige Erfahrungen vollzugsrelevanter Berufsgruppen erarbeitet. Hinzu kommt, dass sich die Kommission bei der Ausarbeitung ihrer Verlautbarungen aktiv der Unterstützung durch Practitioner Networks bedient, so dass ihr Soft Law seine Glaubwürdigkeit letztlich aus derselben Expertise bezieht.623 Während Netzwerkarbeit aber allein darauf gerichtet ist, praktische Verbesserungen in der staatlichen Vollzugsrealität herbeizuführen, liegt der Wirkungsschwerpunkt europäischer Soft Law-Bestimmungen oft im politischen Bereich. Veröffentlicht die Kommission vollzugslenkende Mitteilungen, Leitlinien oder andere Verlautbarungen, fungieren diese nicht selten als Wegbereiter für künftige verbindliche EU-Rechtsakte. Werden unverbindliche Verhaltensnormen oder Verhaltenserwartungen formuliert, verbleibt ihre Be622  Dazu:

3. Teil, A. II. 1., 2. Rolle von IMPEL bei der Ausarbeitung der Empfehlung 2001/331/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. April 2001 zur Festlegung von Mindestkriterien für Umweltinspektionen in den Mitgliedstaaten (RMCEI), ABl. 2001, Nr. L 118, S. 41 ff.: KOM, Implementation, Environmental Inspections, o. D., https:// ec.europa.eu/environment/legal/law/inspections.htm (Stand: 3.3.2022). 623  Zur

368

3. Teil: Netzwerke im Bereich der Vollzugskontrolle

folgung prinzipiell im Ermessen der Mitgliedstaaten. Gegenüber verbindlichen EU-Rechtsakten bieten Soft Law-Bestimmungen folglich eine autonomieschonende Alternative, die von den Mitgliedstaaten in kompetenzpolitisch besonders umkämpften Bereichen leichter akzeptiert wird. Indem die Unionsorgane die Einhaltung europäischer Vorgaben zunächst dem Willen der Mitgliedstaaten überlassen, ermöglichen sie eine flexible, sukzessive Integration, an der sich alle Mitgliedstaaten, mit denen ein Konsens über das politische und rechtliche Erfordernis harmonisierter Vorgaben besteht, beteiligen können.624 Soft Law gestattet es den Organen der EU somit, die Befolgungsbereitschaft der Mitgliedstaaten gegenüber bestimmten Regelungs­ inhalten abzusehen. Befolgen die meisten Mitgliedstaaten unverbindliche Vorgaben bereits freiwillig, ist gegenüber entsprechenden verbindlichen Regelungen wenig Widerstand zu erwarten. Leitfäden, Empfehlungen und anderen Dokumenten, die in Practitioner Networks ausgearbeitet werden, kommt diese explorative Funktion nicht zu. Zwar kann auch die Übertragung des Netzwerk Outputs in den realen Vollzugsalltag nationaler Akteure gewisse Rückschlüsse auf die Bereitschaft eines Mitgliedstaates, sich im gemeinschaftlichen Interesse an der Verwirk­ lichung der Umweltziele der EU bestimmten Verfahrensvorgaben zu unterwerfen liefern. Wird der Netzwerk Output in einem Mitgliedstaat nicht oder nicht vollständig genutzt, kann dies aber auch technische, organisatorische oder ressourcenpolitische Gründe haben. Gegenstand der Netzwerkarbeit ist schließlich gerade nicht das Austarieren souveränitätspolitischer Interessen, sondern die Verbesserung der rein praktischen Seite des EU-Rechtsvollzugs. Da sich die vollzugsunterstützende Arbeit umweltrelevanter Practitioner Networks also zumindest nicht gezielt darauf richtet, die Grenzen mitgliedstaatlicher Akzeptanz gegenüber verbindlichen, harmonisierenden EU-Rechtsakten auszuloten, besteht kein vergleichbares Bedürfnis, die nationale Vollzugssouveränität vor Übergriffen zu schützen. Im Übrigen muss berücksichtigt werden, dass die Kommission zwar über Möglichkeiten verfügt, direkten oder indirekten Einfluss auf die Arbeit umweltrelevanter Practitioner Networks zu nehmen. An der eigentlichen Gestaltung des Netzwerk Outputs sind aber vor allem nationale Vollzugsakteure beteiligt, so dass sich die erarbeiteten Resultate aus mitgliedstaatlicher Perspektive nicht als Werk der Kommission oder eines anderen Unionsorgans darstellen. Wird ein Dokument etwa von den Mitgliedern des IMPEL-Netzwerks erarbeitet, tritt ausdrücklich IMPEL als Urheber hervor. Standardmäßig wird im Rahmen eines Disclaimers sogar darauf hingewiesen, dass hier ausschließlich die Sichtweise der Autoren, nicht unbedingt aber die Sicht624  von

Bogdandy/Bast/Arndt, ZaöRV 2002, 77 (117).



D. Bewertung am Maßstab primärrechtlicher Grundsätze369

weise der Kommission wiedergegeben wird.625 Mit Blick auf den generell freiwilligen Charakter der Zusammenarbeit in Netzwerken kann also kein Zweifel über die Unverbindlichkeit ihrer Resultate entstehen. Während es sich bei dem von staatlichen Vollzugsakteuren gemeinsam erarbeiten Netzwerk Output eindeutig um bloße Verhaltensvorschläge handelt, muss die Rechtsverbindlichkeit von Verhaltensnormen und Verhaltenserwartungen der Kommission im Einzelnen erst geklärt werden.626 Erlässt die Kommission solche Vorgaben als Soft Law, gebietet die Rechtssicherheit prinzipiell eine klare Abgrenzung zu verbindlichen delegierten Rechtsakten oder Durchführungsrechtsakten.627 Da fließende Übergänge die Abgrenzung oft erschweren, kommt dem Kompetenzschutz der Mitgliedstaaten beim Erlass von Soft Law besondere Bedeutung zu, die eine strikte Beachtung unionprimärrecht­ licher Anforderungen an die Kompetenzgrundlage und -ausübung erforderlich macht. Im Ergebnis kann die auf die Verbesserung des EU-Umweltrechtsvollzugs gerichtete Arbeit von Practitioner Networks zwar faktisch vollzugssteuernd wirken. Nationale Vollzugskompetenzen sind dabei aber kaum schutzbedürftig. Insbesondere hinter der politischen Dimension des europäischen Soft Law bleibt die faktische Bindungskraft des Netzwerk Outputs klar zurück. Soweit die Kommission die Arbeit europäischer Practitioner Networks im Sinne ihres Compliance-Promotion-Ansatzes vollzugssteuernd nutzt, lässt sich das Erfordernis einer expliziten oder impliziten primär- oder sekundärrechtlichen Ermächtigungsgrundlage daher nicht auf die Netzwerkzusammenarbeit übertragen. Für die Kommission dürfte die Förderung vollzugs­ unterstützender Netzwerke dadurch nur noch interessanter werden. Zwar bietet ihr der Erlass unverbindlicher Soft Law-Bestimmungen weiterreichende, auch politische Möglichkeiten, den nationalen Unionsrechtsvollzug mit weichen Mitteln in eine bestimmte Richtung zu lenken. Primärrechtlich bleibt sie dabei aber stets an die ihr übertragenen Vollzugs-, Vollzugsüberwachungs- und Durchsetzungsbefugnisse gebunden. Über fehlende Weisungsund Investigationsbefugnisse im Umweltsektor kann ihr der Erlass von Soft Law also nicht hinweghelfen. Practitioner Networks sind demgegenüber nicht an den Kompetenzbereich der Kommission gebunden. Indem die Kommission die Netzwerkzusammenarbeit von außen dirigiert oder sogar selbst 625  „The content does not necessarily represent the view of the national administrations or the European Commission“, vgl. etwa: IMPEL, Doing the right things III Step-by-step guidance book for planning of environmental inspections, February 2008, S. 3, abrufbar unter: https://www.impel-network.eu/wp-content/uploads/2016 /06/DTRT-III-Final.pdf (Stand: 14.2.2023). 626  Lecheler, DVBl 2008, 873 (874); von Graevenitz, EuZW 2013, 169 (170). 627  Adam, Die Mitteilungen der Kommission: Verwaltungsvorschriften des Europäischen Gemeinschaftsrechts?, 1999, S. 91; Frenz, WRP 2010, 224 (225).

370

3. Teil: Netzwerke im Bereich der Vollzugskontrolle

daran mitwirkt, kann sie ihren Einflussbereich auch ohne formalrechtliche Ermächtigung in die staatliche Vollzugssphäre hinein erstrecken, ohne dabei gegen die europäische Kompetenzordnung zu verstoßen. d) Faktische Bindungskraft des Netzwerk Outputs Im Umweltsektor verfügen Netzwerke über keine rechtlichen Entscheidungsbefugnisse, die eine finale und imperative Steuerung des EU-Umweltrechtsvollzugs in den Mitgliedstaaten ermöglichen würden. Zwar kann sich die Zusammenarbeit mit ausländischen Fachbehörden in Netzwerken oder auch der kommunikative Kontakt mit EU-Institutionen auf das Vollzugshandeln eines Staates auswirken, so dass ein Auseinanderfallen zwischen formeller und materieller Entscheidungsverantwortung bis hin zu einer unzulässigen Vollzugsbeeinflussung theoretisch möglich erscheint. Aus kompetenzrechtlicher Perspektive bestehen jedoch keine Bedenken, solange die abschließende Entscheidung über die Implementation der Ergebnisse der Zusammenarbeit in die eigene Vollzugspraxis beim zuständigen nationalen Hoheitsträger verbleibt.628 Ob dies der Fall ist, hängt wiederum vom Grad der faktischen Bindungswirkung des Netzwerk Outputs ab. IMPEL, EUFJE, ENPE, NEPA und EnviCrimeNet genießen als Beratungsinstanzen in Fragen des EU-Umweltrechtsvollzugs einen hohen Stellenwert – ein Umstand, der zuletzt dadurch deutlich zutage getreten ist, dass die Kommission Vertreter aus allen genannten Netzwerken in das Forum für den Vollzug des Umweltrechts und die Umweltordnungspolitik berufen hat.629 Mit Blick auf die besondere Expertise der beteiligten Vollzugsakteure bilden Practitioner Networks eine Art epistemische Gemeinschaften630, deren Leitfäden, Handlungsempfehlungen und Stellungnahmen vor allem aufgrund ihrer fachlichen Autorität befolgt werden.631 Besonderer politischer Befolgungsdruck wird indes weder von Seiten der Kommission632 noch über die anderen am Netzwerk beteiligten Mitgliedstaaten ausgeübt. Entscheiden sich nationale Hoheitsträger dazu, den Netzwerk Output in ihre Vollzugspraxis zu integrieren, tun sie dies freiwillig. Fügen sich die kooperativ erarbeiteten Empfehlungen und Leitfäden in ein staatliches Vollzugssystem nicht ein oder können sie etwa aus ressourcentechnischen Gründen nicht befolgt werden, ist dies nicht weiter rechtfertigungsbedürftig. Mechanismen zur Befolgungskon628  Zum Problem auch: Schwind, Netzwerke im Europäischen Verwaltungsrecht, 2017, S.  308 f. 629  Dazu: 3. Teil, B. I. 630  Maggetti, WEP 2014, 497 (498); zum Begriff genauer: Haas, IO 1992, 1 (3 ff.). 631  Vgl. Haas, IO 1992, 1 (3 ff.); Maggetti, WEP 2014, 497 (498). 632  Dazu soeben: 3. Teil, D. I. 2. c).



D. Bewertung am Maßstab primärrechtlicher Grundsätze371

trolle, etwa in Gestalt von Berichts- oder Rechenschaftspflichten, sind im Rahmen von Practitioner Networks nicht vorgesehen. Eine Besonderheit der Zusammenarbeit besteht schließlich gerade darin, nationalen Vollzugsakteuren unpolitische, fachlich-technische Austauschplattformen zu bieten. Um dies zu ermöglichen, muss die gegebenenfalls politisch aufgeladene Entscheidung, inwieweit der Netzwerk Output auf nationaler Ebene tatsächlich genutzt werden soll denklogisch nachgelagert und außerhalb des Netzwerks durch den national zuständigen Hoheitsträger getroffen werden. Leitfäden, Empfehlungen und Stellungnahmen können vor diesem Hintergrund lediglich Optionen aufzeigen, die letztendliche Befolgungsentscheidung national zuständiger Hoheitsträger aber nicht vorprogrammieren. Für eine nur geringe faktische Bindungskraft spricht im Übrigen auch die Freiwilligkeit der Mitgliedschaft im Netzwerk. Zwar mag sich ein vollzugsharmonisierender Effekt durch den Austausch guter Praktiken und Informa­ tionen mit der Zeit zwangsläufig einstellen. Die Zusammenarbeit ist unmittelbar aber nur auf die Verbesserung, nicht auf die europaweite Vereinheit­ lichung des staatlichen Vollzugshandelns gerichtet.633 Der Entscheidung ­nationaler Behörden, sich an den beschriebenen Practitioner Networks zu beteiligen, kann kein darüber hinausreichender Erklärungswert beigemessen werden, der zur Entstehung einer politischen Drucksituation und damit zu einer Intensivierung der faktischen Bindungswirkung des Netzwerk Outputs beitragen könnte. Die europäische Kompetenzordnung sowie die damit zusammenhängende Vollzugs- und Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten bleiben somit weitgehend unangetastet.634

II. Legitimität und Legalität in Netzwerken Neben der Einhaltung der Kompetenzordnung zählen vor allem das Demokratieprinzip und das Rechtsstaatsprinzip zu den unionsrechtlichen Konstitutionsvoraussetzungen, denen jede Ausübung von Hoheitsgewalt auf Unionsebene und in den Mitgliedstaaten entsprechen muss. Rechtsstaatliche und demokratische Anforderungen sind nicht nur für die EU-Rechtsetzung maßstabsbildend, sondern ebenso für den EU-Rechtsvollzug und die Vollzugskontrolle durch die Kommission.635 Als Phänomen der kooperativen Wahrnehmung von Vollzugs- und Vollzugskontrollaufgaben innerhalb des euro­ päischen Verwaltungsverbunds haben auch Staaten und Ebenen übergreifende 633  Zur Abgrenzung zum Netzwerktypus der sog. Regulierungsnetzwerke noch: 3. Teil, D. II. 3. 634  So im Ergebnis auch: Schwind, Netzwerke im Europäischen Verwaltungsrecht, 2017, S. 241. 635  Vgl. Weiß, Der Europäische Verwaltungsverbund, 2010, S. 165.

372

3. Teil: Netzwerke im Bereich der Vollzugskontrolle

Netzwerke besagten Grundsätzen zu genügen.636 Komplexe Verflechtungen im Hinblick auf die Verantwortungsverteilung gestalten eine Beurteilung ihrer Tätigkeit anhand demokratischer und rechtsstaatlicher Maßstäbe allerdings kompliziert. Ob die hier dargestellte Zusammenarbeit in den Bereichen Compliance Promotion und Compliance Monitoring unionsprimärrechtlichen Legitimations- und Legalitätsanforderungen entspricht, muss daher einer kritischen Betrachtung unterzogen werden. 1. Demokratische Legitimationsanforderungen a) Das Demokratieprinzip in der EU Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sind nicht nur in den EU-Mitgliedstaaten von fundamentaler Bedeutung. Nach Art. 2 EUV gehören sie auch zu den grundlegenden Werten der EU.637 Der Gehalt des europäischen Demokratiebegriffs sowie die genauen inhaltlichen Anforderungen an die demokratische Legitimation der Union sind bis heute jedoch nicht abschließend geklärt.638 Da das Demokratieprinzip den Regierungssystemen aller Mitgliedstaaten zugrunde liegt (vgl. Art. 2 II EUV), hat die europäische Konzeption eine Vorprägung auf nationaler Ebene erfahren. Das Demokratieverständnis variiert jedoch von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat in teilweise so erheblichem Umfang, dass eine Übertragung aus dem nationalen Kontext auf die Unionsebene zu unpassenden Ergebnissen oder sogar Strukturbrüchen führen würde.639 In der Rechtswissenschaft wird dem europäischen Demokratiebegriff daher ein auf die Besonderheiten der EU zugeschnittener, unionsspezifischer Ansatz zugrunde gelegt,640 der in den Art. 9 ff. EUV näher konkretisiert wird und einen repräsentativen Ansatz (Art. 10 I EUV) mit partizipativen Elementen kombiniert (vgl. etwa Art. 11 VVDStRL 2007, 106 (136). Bedeutung von Demokratie und Rechtsstaat als Teil der „Grundsätze der [Unions]rechtsordnung“ bekräftigend: EuGH, verb. Rsen. C-402/05 P und C-415/05 P, Kadi und Al Barakaat/Rat und Kommission, Slg. 2008, I-6351 (Rn. 303 f.); ihre Bedeutung betonend auch: EuGH, Rs. C-91/05, Kommission/Rat, Slg. 2008, I-3651 (Rn. 65 f.); Rs. C-403/05, Parlament/Rat, Slg. 2007, I-9045 (Rn. 56). 638  Calliess, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 6.  Auflage 2022, Art. 2 EUV Rn. 21. 639  Calliess, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 6.  Auflage 2022, Art. 2 EUV Rn. 21; Hilf/Schorkopf, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der EU, 73. EL 2021, Art. 2 Rn. 30; Pechstein, in: S ­ treinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 2 EUV Rn. 4. 640  Calliess, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 6. Auflage 2022, Art. 2 EUV Rn. 21; Kanalan/Wilhelm/Schwander, Der Staat 2017, 193 (207 f.); dahingehend wohl auch: Müller-Graff, in: Dauses/Ludwigs, Hdb. des EU-Wirtschaftsrechts, 53. EL 2021, A.I. Rn. 104. 636  Pache, 637  Die



D. Bewertung am Maßstab primärrechtlicher Grundsätze373

IV EUV).641 Gleichzeitig werden die Legitimationsanforderungen an die supranationale Hoheitsgewalt durch nationale Wertvorstellungen angereichert,642 so dass ihr genauer Gehalt doch nicht völlig losgelöst, sondern vielmehr in Zusammenschau mit den unterschiedlichen mitgliedstaatlichen Ausprägungen des Demokratieprinzips bestimmt werden muss.643 Zwar mag eine gewisse Einschränkung demokratischer Anforderungen in der Struktur der EU, der Stellung des Europäischen Parlaments und der Besetzung des Rates angelegt sein.644 Ebenso wie in den Mitgliedstaaten, ergibt sich aus dem Demokratieprinzip der EU aber die zentrale Grundanforderung einer Rückan­ bindung jedes Hoheitsträgers an den Willen der Unionsbürgerinnen und Bürger,645 die die öffentliche Gewalt durch Mehrheitsentscheidungen sachlich und personell bestimmen.646 b) Demokratische Legitimationskonzepte vor dem Hintergrund Staaten und Ebenen übergreifender Behördenkooperation In der Staatsrechtslehre wird dem Demokratieprinzip traditionell die Konzeption einer linearen Legitimationskette zugrunde gelegt, die sich parlamentsvermittelt auf ein einziges Legitimationssubjekt – das Volk, das insoweit als politische Einheit zu betrachten ist – zurückgeführt werden können muss (sog. monistische Demokratiekonzeption647). Auf die EU-Ebene lässt sich dieser Ansatz in Ermangelung einer hinreichend homogenen Gemeinschaft europäischer Bürgerinnen und Bürger bzw. eines Volkes im klassischdemokratischen Sinn nur bedingt übertragen.648 Vor allem innerhalb des 641  Gerkrath, EuGRZ 2006, 371 (377 f.); Jacqué, in: von der Groeben/Schwarze/ Hatje, Europäisches Unionsrecht, 7. Auflage 2015, Art. 2 EUV Rn. 7; Schmidt-Aßmann, in: Hofmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle, Grundlagen des Verwaltungsrechts Bd. I, 2. Auflage 2012, § 5 Rn. 60. 642  Vgl. Gerkrath, EuGRZ 2006, 371 (379). 643  Vgl. Kanalan/Wilhelm/Schwander, Der Staat 2017, 193 (207 f.). 644  Vgl. zum Problem des demokratischen Defizits in der EU: Pechstein, in: ­Streinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 2 EUV Rn. 4; Schroeder, Grundkurs Europarecht, 6. Auflage 2019, § 4 Rn. 5 ff.; Schöbener/Knauff, Allgemeine Staatslehre, 4. Auflage 2019, § 5 Rn. 99 ff. 645  Pache, VVDStRL 2007, 106 (137). 646  Hilf/Schorkopf, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der EU, 73. EL 2021, Art. 2 Rn. 26. 647  Dazu ausführlich: Oppermann/Classen/Nettesheim, Europarecht, 9.  Auflage 2021, § 15 Rn. 5; Weißgärber, Die Legitimation unabhängiger europäischer und nationaler Agenturen, 2015, S. 65 ff.; kritisch zur monistischen Demokratietheorie: Bryde, StW/StP 1994, 305 (321 ff.); Petersen, Demokratie und Grundgesetz, 2008, S. 15 ff. 648  Vgl. Kokott, VVDStRL 2003, 11 (30); Weiß, Der Europäische Verwaltungsverbund, 2010, S. 169; Weißgärber, Die Legitimation unabhängiger europäischer und nationaler Agenturen, 2016, S. 209 f.

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3. Teil: Netzwerke im Bereich der Vollzugskontrolle

komplex verflochtenen, pluralistisch zusammengesetzten Verwaltungsverbunds, in dessen Rahmen Hoheitsentscheidungen zunehmend unter Beteiligung verschiedenstaatlicher und europäischer Behörden oder im Rahmen Staaten und Ebenen übergreifender Kooperationsnetzwerke getroffen werden, lässt sich eine demokratische Legitimationskette zu einem Volk nicht herstellen. Um der sich kontinuierlich weiter verschränkenden modernen Kooperationsrealität Rechnung zu tragen und der an sich wünschenswerten649 effektivitätsorientierten Diversifizierung des europäischen Verwaltungsverbunds nicht im Wege zu stehen, muss das Demokratieprinzip sowohl auf staatlicher Ebene als auch auf Unionsebene fortentwickelt werden.650 Wie sich aus Art. 10 EUV ausdrücklich ergibt, ist ein duales Legitima­ tionskonzept651, in dessen Rahmen Hoheitsgewalt einerseits über das von allen Unionsbürgerinnen und Bürgern direkt gewählte Parlament auf das Volk zurückgeführt wird (Art. 10 II 1 EUV), während die Mitgliedstaaten im Europäischen Rat sowie im Rat der EU andererseits durch die von ihrem jeweiligen Staatsvolk legitimierten Regierungschefs bzw. den Regierungen repräsentiert werden (Art. 10 II 2 EUV) bereits in der Organstruktur der EU angelegt.652 Zwar nähert sich der Gedanke einer von unterschiedlichen Völkern und Gesetzgebern abgeleiteten Legitimation der europäischen Kooperationsrealität an. Um der Individualität und Vielschichtigkeit Staaten und Ebenen übergreifender Formen des Zusammenwirkens, an denen sich nicht nur EU-Institutionen, sondern auch Behörden anderer Staaten mit ihren jeweiligen Interessen beteiligen gerecht zu werden, genügt auch die gekoppelte Legitimation über das Europäische Parlament und die nationalen Parlamente nicht.653 Vielmehr bedarf es eines noch entwicklungsoffeneren, anpassungsfähigen Legitima­ tionskonzepts, das territorial geprägte Legitimationstheorien überwindet654 649  Sich positiv äußernd etwa: Slaughter, A New World Order, 2004, 51 ff.; Tietje, JWT 2002, 501 (509). 650  Dahingehend auch: Weiß, Der Europäische Verwaltungsverbund, 2010, S.  165 f. 651  Holznagel/Schumacher, in: Joost/Oetker/Paschke, FS Säcker, 2011 S. 749; Schmidt-Aßmann, in: Hofmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle, Grundlagen des Verwaltungsrechts Bd. I, 2. Auflage 2012, § 5 Rn. 60; Weißgärber, Die Legitimation unabhängiger europäischer und nationaler Agenturen, 2015, S. 209 ff. 652  Vgl. Calliess, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 6. Auflage 2022, Art. 2 EUV Rn. 23; Gerkrath, EuGRZ 2006, 371 (376 f.); Sydow, Verwaltungskooperation in der EU, 2004, S. 243; Weiß, Der Europäische Verwaltungsverbund, 2010, S. 165. 653  Weiß, Der Europäische Verwaltungsverbund, 2010, S. 166; zur Legitimationsproblematik in der EU-Eigenverwaltung im Einzelnen: Trute, in: Hoffmann-Riem/ Schmidt-Aßmann/Voßkuhle, Grundlagen des Verwaltungsrechts Bd. I, 2.  Auflage 2012, § 6 Rn. 102 ff. 654  Insoweit eher zurückhaltend von einer bloßen „Lockerung des Territorialitätsprinzips“ sprechend: Ladeur/Möllers, DVBl 2005, 525 (527).



D. Bewertung am Maßstab primärrechtlicher Grundsätze375

und individuellen Besonderheiten bei der Gestaltung konkreter Kooperationsbeziehungen flexibel Rechnung tragen kann. In der Rechtswissenschaft wird vor diesem Hintergrund die Übertragbarkeit verschiedenster systemtheoretischer Ansätze auf die modernen Erscheinungsformen der Behördenkooperation und Netzwerkbildung innerhalb des europäischen Verwaltungsverbunds diskutiert, wobei in Abkehr von rein Input-orientierten klassischen Demokratietheorien, die als Legitimationsherstellungsmodus auf den politischen und rechtlichen Input durch die Mitbestimmung und Partizipation der Bürgerinnen und Bürger abstellen, vor allem outputorientierte Konzepte als demokratietheoretische Alternativen in Betracht gezogen werden.655 Während Input-orientierte Modelle für jede Ausübung von Hoheitsgewalt eine auf ein demokratisch legitimiertes Organ rückführbare Grundlage verlangen – sei es in sachlicher Hinsicht durch exante festgelegte Handlungsvorgaben in Form von Parlamentsgesetzen oder funktional äquivalenten Rechtsakten bzw. in personeller Hinsicht durch rückführbare Ernennungsentscheidungen – orientieren sich outputorientierte Konzepte primär an der Ergebnisqualität.656 Exemplarisch sei an dieser Stelle auf die komplexe Demokratietheorie Scharpfs657 zu verweisen, der zufolge InputDefizite innerhalb der EU durch die Effektivität658 ihrer Pro­blemlösefähigkeit bei der Realisierung der gemeinwohlorientierten Integra­ tionsziele – d. h. durch die Qualität des Entscheidungs-Outputs – als legitimationsstiftender Faktor anerkannt werden müsse.659 Andere Ansätze versuchen demokratische Legitimation wiederum durch partizipative Elemente herzustellen, so etwa die von Bessettes geprägte deliberative Demokratietheorie660, die vereinfacht ausgedrückt im Wege einer diskursiven Meinungsbildung unter Einbeziehung der Bürgerinnen und Bürger über den rationalen und produktiven Austausch von Argumenten vernünftige Entscheidungen zu gewährleisten sucht. 655  Vgl. zur Legitimationsproblematik im Detail: Oppermann/Classen/Nettesheim, Europarecht, 9. Auflage 2021, § 15 Rn. 2, 24 ff.; Simantiras, Netzwerke im Europäischen Verwaltungsverbund, 2016, S. 115 ff. 656  Groß, JZ 2012, 1087 (1090); Rosanvallon, Demokratische Legitimität, 2016, S. 16. 657  Grundlegend: Scharpf, Demokratietheorie zwischen Utopie und Anpassung, 1970, S.  66 f.; Scharpf, in: Schuppert/Pernice/Haltern, Europarechtswissenschaft, 2005, S. 705 ff.; weiterführend: Simantiras, Netzwerke im Europäischen Verwaltungsverbund, 2016, S. 115 ff. 658  Zur Bedeutung von Effektivität und Output auch: Möllers, CMLR 2006, 313 (317); zur Effektivität als Maßstab: Oppermann/Classen/Nettesheim, Europarecht, 9. Auflage 2021, § 15 Rn. 2, 9. 659  Scharpf, in: Schuppert/Pernice/Haltern, Europarechtswissenschaft, 2005, S.  708 ff. 660  Grundlegend: Bessette, in: Goldwin/Schambra, How democratic is the constitution?, 1980, S. 102 ff.; weiterführend: Möllers, ZaöRV 2005, 351 (382 ff.).

376

3. Teil: Netzwerke im Bereich der Vollzugskontrolle

Wenngleich im Detail erhebliche Differenzen über das der EU zugrunde zu legende Legitimationskonzept bestehen,661 herrscht doch weitgehende Einigkeit insoweit, als es das stets komplexer werdende Gefüge des europäischen Verwaltungsverbunds gebietet, für jede Erscheinungsform der Behördenkooperation individuell nach einem komplexen, bei wertender Gesamt­ betrachtung angemessenen Legitimationsniveau zu fragen, das sich neben Legitimationsketten auch aus anderen, pluralen Legitimationsbausteinen zusammensetzen kann.662 Kann den Anforderungen des Demokratieprinzips im Rahmen Staaten und Ebenen übergreifender Entscheidungsvorgänge nicht allein über die Anbindung aller Beteiligten auf die von ihnen repräsentierten staatlichen Verwaltungsapparate und Staatsvölker gewährleistet werden, müssen andere legitimationssteigernde Kriterien gefunden werden, die das demokratische Input-Defizit kompensieren können. Zur Entwicklung legitimationsstiftender Faktoren greifen verschiedene Autoren auf das gesamte Spektrum demokratietheoretischer Ansätze zurück, die insoweit keine konzeptuellen Alternativen darstellen, sondern vielmehr nebeneinander zur Anwendung gelangen. So beschreibt etwa Pache die bestmögliche Erledigung von Gemeinwohlaufgaben als demokratisches Erfordernis, das als „ergänzender Legitimationsbaustein“ für das Verwaltungshandeln innerhalb des europäischen Verwaltungsverbunds herangezogen werden könne.663 Gleichzeitig sieht er die Möglichkeit, demokratischen Erfordernissen mittels partizipativer Elemente, durch die Einbeziehung betroffener Unionsbürgerinnen und Bürger oder bestimmter Interessengruppen in Entscheidungsprozesse Rechnung zu tragen.664 Da Entscheidungsinhalte nicht selten das Produkt komplexer Interessengeflechte und wechselseitiger Beeinflussungen durch Behörden verschiedener Staaten abbilden, die eine eindeutige Zuordnung materieller Entscheidungsbeiträge geradezu unmöglich machen, fällt im Verwaltungsverbund vor allem der Verfahrensgestaltung die Aufgabe zu, verschiedene Legitimationsbausteine zu kombinieren und ein angemessenes Legitimationsniveau sicherzustellen.665

661  Übersichtsweise:

Follesdal, TJPP, 2006, 441 (445 ff.). AöR 2005, 5 (67); insoweit von einer „pluralen Bausteinlegitimation“ sprechend: Schliesky, DÖV 2009, 641 (648); Weiß, Der Europäische Verwaltungsverbund, 2010, S. 166; enumerativ Rechtsbindung, Transparenz, Begründungserfordernis und Verantwortungsklarheit benennend: Sydow, Verwaltungskooperation in der EU, 2004, S. 243 f. 663  Pache, VVDStRL 2007, 106 (141). 664  Pache, VVDStRL 2007, 106 (139 f.); Weiß, Der Europäische Verwaltungsverbund, 2010, S. 166 f.; weiterführend zur „Pluralität legitimationsstiftender Faktoren“: Hoffmann-Riem, AöR 2005, 5 (67). 662  Hoffmann-Riem,



D. Bewertung am Maßstab primärrechtlicher Grundsätze377

c) Demokratische Legitimation in Practitioner Networks Als Erscheinungsform der Staaten und Ebenen übergreifenden Verbandskooperation müssen auch Netzwerke ein angemessenes demokratisches Legitimationsniveau gewährleisten.666 Da die im Rahmen dieser Arbeit dargestellten Practitioner Networks nicht durch den Unionsgesetzgeber geschaffen wurden, lassen sie sich sachlich und personell weder über das Europäische Parlament auf eine Mehrheitsentscheidung der Unionsbürgerinnen und Bürger zurückführen noch über den Rat an die Mitgliedstaaten rückanbinden. Wie alle Netzwerke bilden Practitioner Networks allerdings polyzentrische Strukturen, die sich aus verschiedenen, klar identifizierbaren nationalen Hoheitsträgern zusammensetzen, die ihre staatliche Prägung auch innerhalb des Netzwerks behalten. Zwar kann die Zuordnung sachlicher Verantwortlichkeiten innerhalb informeller Kooperationsbeziehungen durch undurchsichtige Vorgänge und Zusammenhänge erschwert werden.667 In personeller Hinsicht besteht jedoch kein Zweifel, dass sich sämtliche an der Zusammenarbeit in Practitioner Networks beteiligte Akteure direkt – d. h. ohne Umweg über die EU-Organe – auf die Verwaltungsapparate ihrer jeweiligen Mitgliedstaaten und von dort aus im Sinne einer klassischen Legitimationskette über die Regierungsebene auf den parlamentarischen Gesetzgeber und schließlich auf den Willen des betreffenden Staatsvolks zurückführen lassen. Eine gewisse demokratische Grundlage ist also vorhanden. Zieht man darüber hinaus den outputorientierten Effektivitätsgedanken heran, dürften Practitioner Networks noch an Legitimation gewinnen. Schließlich wurden sie geschaffen, um den staatlichen EU-Umweltrechtsvollzug in kollegialem Rahmen jenseits bürokratischer Hindernisse wirksam zu verbessern und mittels technokratischen Sachverstandes zur Realisierung der gemeinwohlorientierten Umweltziele der EU beizutragen. Auch Partizipationsmöglichkeiten, die die Anbindung hoheitlicher Tätigkeiten an die Unionsbürgerinnen und Bürger im deliberativ-demokratischen Sinn stärken können, sind im Tätigkeitsfeld Staaten und Ebenen übergreifender Practitioner Networks in Ansätzen vorgesehen. Zwar fallen private Akteure bisher nicht in ihren Inklusionsbereich, auch existieren keine festgeschriebenen Verfahrensvorgaben, die Unionsbürgerinnen und Bürgern formale Beteiligungsrechte einräumen würden. Die hier dargestellten Practitioner Networks 665  Schliesky, DÖV 2009, 641 (648); Weiß, Der Europäische Verwaltungsverbund, 2010, S. 166; zu alternativen Lösungsansätzen für das Legitimationsproblem: Sydow, Verwaltungskooperation in der EU, 2004, S. 244 ff.; vom „Modell einer pluralen Legitimation“ sprechend: Schmidt-Aßmann, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle, Grundlagen des Verwaltungsrechts Bd. I, 2. Auflage 2012, § 5 Rn. 60. 666  Simantiras, Netzwerke im Europäischen Verwaltungsverbund, 2016, S. 47. 667  Dazu im Detail noch: 3. Teil, D. II. 2. b).

378

3. Teil: Netzwerke im Bereich der Vollzugskontrolle

unterhalten jedoch nicht nur Kontakte zu EU-Institutionen, staatlichen Einrichtungen und anderen Netzwerken, sondern auch zu Umweltschutzorganisationen, wie z. B. dem WWF, Forschungseinrichtungen und sonstigen privaten Interessengruppen, die in Netzwerkprojekte, Diskussionsrunden und andere Veranstaltungen einbezogen werden und so am fachlichen Diskurs teilhaben können. Im Übrigen bietet die charakteristische Entwicklungsoffenheit der Netzwerkstrukturen noch Ausbaupotenzial, das es theoretisch ermög­lichen würde, private Akteure stärker in die Zusammenarbeit einzubinden und so bei Bedarf das demokratische Legitimationsniveau zu steigern. Gleichzeitig muss berücksichtigt werden, dass weder die im Rahmen dieser Arbeit beschriebenen Practitioner Networks als funktionale Organisationseinheiten noch die darin eingegliederten Vollzugsakteure hoheitliche Entscheidungskompetenzen ausüben. Der gemeinschaftlich produzierte Netzwerk Output mag vollzugsbeeinflussende oder sogar langfristig harmonisierende Wirkungen haben, verglichen mit der faktischen und politischen Bindungskraft des europäischen Soft Laws oder der gezielt harmonisierenden Wirkung konsensualer Vollzugsstandards, wie sie im Rahmen von Regulierungsnetzwerken vereinbart werden, bleibt der Tätigkeitsbereich europaweit aktiver Practitioner Networks aber vor allem auf Beratungs-, Informations-, und Unterstützungsangebote beschränkt, die von Kommission und Mitgliedstaaten optional in Anspruch genommen werden können. Obwohl einige Netzwerke im Umweltsektor mittlerweile mit eigenen Trägergesellschaften ausgestattet sind und insoweit eine gewisse organisatorische Formalisierung erfahren haben, sind sie dennoch keine EU-Institutionen. EU-Institutionen werden zwar von allen Practitioner Networks in irgendeiner Form in die Zusammenarbeit einbezogen,668 ihre Kooperationsbeziehung richtet sich jedoch nicht auf die gemeinsame Erfüllung hoheitlicher Aufgaben. An die Betätigung paneuropäischer Practitioner Networks dürfen vor diesem Hintergrund keine zu hohen Legitimationsanforderungen gestellt werden. Jedenfalls solange sie sich auch weiterhin auf unverbindliche, unterstützende Tätigkeiten beschränken, ist die Legitimationsproblematik im Umweltsektor von vergleichsweise geringer Bedeutung. Rechtliche Relevanz kommt der Zusammenarbeit in umweltrelevanten Practitioner Networks lediglich zu, wenn sich staatliche Hoheitsträger oder EU-Institutionen die erarbeiteten Erkenntnisse und Methoden freiwillig zu eigen machen, indem sie bei der Gestaltung neuer Umweltrechtsakte auf ihre Vorarbeit zurückgreifen oder aber politische Strategien mit Hilfe des Netzwerk Outputs fortentwickeln. Da die finale Entscheidung, im Rahmen der 668  Zur

Rolle der Kommission im Rahmen von IMPEL: 3. Teil, B. III. 1. b) cc).



D. Bewertung am Maßstab primärrechtlicher Grundsätze379

EU-Vollzugskontrolle oder auf nationaler Vollzugsebene vom Leistungsangebot eines Practitioner Networks Gebrauch zu machen den nationalen Hoheitsträgern obliegt, kommt es vor allem auf ihre demokratische Legitimation an. Der Grundsatz der Demokratie steht der Arbeit mit bzw. der Instrumentalisierung von Netzwerken im Bereich Compliance Promotion also prinzipiell nicht entgegen. d) Demokratische Legitimation im EIONET Da EIONET im Unterschied zu den Practitioner Networks im Compliance Promotion Bereich mit der Verordnung (EG) Nr. 401/2009 auf einer formalrechtlichen Grundlage beruht, vermittelt bereits der Unionsgesetzgeber dem Netzwerk ein gewisses Maß an demokratischer Input-Legitimation durch die Bürgerinnen und Bürger der EU, die neben der Zuordnung der Netzwerkmitglieder zu den Verwaltungsapparaten der Mitgliedstaaten legitimationsstiftend wirkt. Zwar wurde die Gründungsverordnung (EWG) Nr. 1210/90 vom 7. Mai 1990 entsprechend des damaligen EWGV ausdrücklich nur als Verordnung „des Rates“ erlassen; im Zuge ihrer Neufassung 2009 wurde das Europäische Parlament jedoch nach Maßgabe des Mitentscheidungsverfahrens gemäß Art. 251 EGV (heute: Ordentliches Gesetzgebungsverfahren gemäß Art. 284 AEUV) in den Rechtsetzungsprozess einbezogen, so dass die Verordnung (EG) Nr. 401/2009 nunmehr als gemeinsame Verordnung „des Europäischen Parlaments und des Rates“ demokratisch rückgekoppelt ist. aa) Weisungsabhängigkeit als notwendige Legitimationsvoraussetzung Ein demokratisches Defizit könnte aus der zentralen Stellung der EUA innerhalb des EIONET resultieren, die ihre informationsverwaltende Tätigkeit als EU-Agentur weitgehend weisungsunabhängig jenseits klassisch-hierarchischer Verwaltungsstrukturen wahrnimmt. Aus dem Umstand, dass die EUA in keinen hierarchischen Verwaltungsapparat eingegliedert ist, lässt sich aber nicht zwangsläufig auf einen Verstoß gegen die legitimatorischen Anforderungen des europäischen Demokratieprinzips schließen. Das traditionelle, durch vertikale Weisungsbeziehungen geprägte Legitimationskonzept, wie es etwa der deutschen Administrative zugrunde liegt, ermöglicht primär die Kontrolle der Verwaltung durch die an der Spitze der Exekutive stehende Regierung. Zwar lässt sich die Regierungsebene der Bundesrepublik entsprechend des klassisch-monistischen Input-orientierten Modells auf eine Wahlentscheidung des Staatsvolks zurückführen; die Legitimationskette bis hin zum Parlament ist jedoch lang, so dass das Bestehen hierarchischer Weisungsbeziehungen im Ergebnis einen eher schwachen Sicherungsmechanis-

380

3. Teil: Netzwerke im Bereich der Vollzugskontrolle

mus für die Einflüsse der unmittelbar legitimierten Legislative bzw. des dahinterstehenden Volkes bietet.669 Dass demokratische Legitimation prinzipiell auch ohne Weisungsrechte hergestellt werden kann, hat der EuGH mit seiner Entscheidung in der Rs. C-518/07 (Kommission/Deutschland) zur Umsetzung der ehemaligen europäischen Datenschutzrichtlinie (95/46/EG670) ausdrücklich klargestellt. Hinsichtlich der Frage, inwieweit die nationalen Datenschutzbeauftragten bei der Überwachung des nicht-öffentlichen Bereichs verwaltungsinterne Unabhängigkeit genießen müssen, sah die Bundesrepublik ihre Einbindung in die Aufsichtsstrukturen des staatlichen Verwaltungsapparats als unverzichtbare Notwendigkeit, um demokratischen Anforderungen genügen zu können. Der EuGH betonte jedoch, dass das europäische Demokratieprinzip die Einrichtung mehr oder weniger regierungsunabhängiger öffentlicher Stellen außerhalb des klassisch hierarchischen Verwaltungsaufbaus nicht verbiete. Zwar dürfe der parlamentarische Einfluss auf diese Stellen nicht völlig fehlen. Eine demokratische Rückanbindung könne jedoch auch durch die gesetzliche Festlegung von Kompetenzen, gerichtliche Kontrollen oder die Auferlegung von Rechenschaftspflichten gegenüber dem demokratisch legitimierten Gesetzgeber gewährleistet werden.671 Die Auffassung des EuGH wird durch einen rechtsvergleichenden Blick auf die internationale Behördenlandschaft bestätigt, in der eine Vielzahl weisungsfreier Verwaltungsbehörden existiert. So wurde etwa in Frankreich die Errichtung unabhängiger Aufsichtsbehörden in Bereichen, die von politischen Einflüssen freigehalten werden sollen vom Verfassungsrat für zulässig erklärt, soweit ihre Kompetenzen durch den ­Gesetzgeber klar begrenzt und Rechtsgarantien für Bürgerinnen und Bürger vorgesehen seien.672

669  Dahingehend

auch: Groß, JZ 2012, 1087 (1091). 95/46/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 24. Oktober 1995 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten und zum freien Datenverkehr, ABl. 1995, Nr. L 281, S. 31 ff., aufgehoben durch die Verordnung (EU) 2016/679 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. April 2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten, zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung der Richtlinie 95/46/ EG (Datenschutz-Grundverordnung), ABL. 2016, Nr. L 119, S. 1 ff. 671  EuGH, Rs. C-518/07, Kommission/Deutschland, Slg. 2010, I-1885 (Rn. 41 ff.). 672  Im Detail dazu: Epron, RFDA 2011, 1007 (1015); zu den sog. „zelfstandig bestuursorgaan“ in den Niederlanden sowie der „administración institutional“ in Spanien: Groß, JZ 2012, 1087 (1091) m. w. N. 670  Richtlinie



D. Bewertung am Maßstab primärrechtlicher Grundsätze381

bb) Andere legitimationsstiftende Faktoren In der Rechtswissenschaft wurde die demokratische Legitimation europäischer Agenturen im Zuge der zunehmenden Ausdifferenzierung der EU-Eigenverwaltung umfassend problematisiert.673 In Ermangelung eines einheitlichen unionsrechtlichen Rahmens für Agenturen, lässt sich die Frage nach ihren legitimierenden Faktoren allerdings nicht generell, sondern nur einzelfallbezogen mit Blick auf die Ausgestaltung und des Aufgabenzuschnitts der jeweiligen Agentur beantworten.674 Eine institutionelle Legitimation durch formalen Rechtsakt, der Aufbau und Kompetenzen festlegt, wird jedoch von den meisten Literaturvertretern gefordert, um in sachlicher sowie personeller Hinsicht eine Input-orientierte Basislegitimation zu gewährleisten.675 (1) Input-Legitimation Die der EUA und EIONET zugrundeliegende Verordnung (EG) Nr. 401/ 2009 normiert an verschiedenen Stellen legitimationsstiftende Elemente, die bei der Beurteilung der Wahrung demokratischer Anforderungen zu berücksichtigen sind. Im Sinne des in der Europarechtswissenschaft entwickelten dualen Legitimationskonzepts stärkt vor allem die Zusammensetzung des Verwaltungsrats nach Art. 8 I Verordnung (EG) Nr. 401/2009 das Legitimationsniveau. Der Verwaltungsrat ist das zentrale Entscheidungsgremium der EUA. Gemäß Art. 8 IV, V Verordnung (EG) Nr. 401/2009 ist er für die Ausarbeitung ihrer Jahresprogramme und Mehrjahresprogramme verantwortlich. Nach Art. 9 I Verordnung (EG) Nr. 401/2009 bestimmt er zudem den Exekutivdirektor, der als Leiter und rechtlicher Vertreter der EUA u. a. für die Durchführung der vom Verwaltungsrat gefassten Beschlüsse sowie der angenommenen Programme verantwortlich ist. Der Verwaltungsrat setzt sich gemäß Art. 8 I UAbs. 1 Verordnung (EG) Nr. 401/2009 vorwiegend aus Vertretern der Mitgliedstaaten zusammen, die über die Anbindung an ihren jeweiligen Verwaltungsapparat durch ihr jeweiliges Staatsvolk legitimiert wer673  Vgl. z. B.: Fischer-Appelt, Agenturen der EG, 1999, S. 184 ff.; Wittinger, EuR 2008, 609 (622 ff.); zur demokratischen Legitimation der europäischen Grenzschutzagentur (FRONTEX) und der Europäischen Bankaufsichtsbehörde (EBA): Groß, JZ 2012, 1087 (1088 ff.). 674  Groß, JZ 2012, 1087 (1091); mit Bezug zur Ausgestaltung unabhängiger Stellen auf nationaler Ebene, wohl aber auf EU-Agenturen übertragbar: EuGH, Rs. C-518/07, Kommission/Deutschland, Slg. 2010, I-1885 (Rn. 43 ff.). 675  Vgl. Holznagel/Schumacher, in: Joost/Oetker/Paschke, FS Säcker, 2011, S. 750; Michel, Institutionelles Gleich­gewicht und Agenturen, 2015, S. 123 f.; Trute, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle, Grundlagen des Verwaltungsrechts Bd. I, 2. Auflage 2012, § 6 Rn. 108.

382

3. Teil: Netzwerke im Bereich der Vollzugskontrolle

den.676 Zwei Mitglieder werden von der Kommission bestimmt, deren Hoheitsmacht über das Verfahren ihrer Einsetzung mit Zustimmung des Europäischen Parlaments ebenfalls demokratisch rückführbar ist. Daneben verfügt das Europäische Parlament auch über direktere Einflussmöglichkeiten auf die personelle Zusammensetzung des Verwaltungsrats – bestimmt es doch zumindest zwei auf dem Gebiet des Umweltschutzes besonders qualifizierte wissenschaftliche Persönlichkei­ten als Mitglieder, vgl. Art. 8 I UAbs. 2 Verordnung (EG) Nr. 401/2009. Eine in sachlicher Hinsicht entscheidende Rolle spielt das Europäische Parlament gemäß Art. 12 II, IV Verordnung (EG) Nr. 401/2009 bei der Feststellung des Haushaltsplans sowie bei der Bewilligung von Zuschüssen an die EUA. Als Teil der Haushaltsbehörde kommt ihm gemeinsam mit dem Rat das Budgetrecht zu. In diesem Zusammenhang trifft den Verwaltungsrat gegenüber Kommission, Rat und Parlament auch eine Rechenschaftspflicht bezüglich aller geplanten Vorhaben, die erhebliche finanzielle Auswirkungen auf die Finanzierung des Haushaltsplans der EUA haben könnten, vgl. Art. 12 II, VI Verordnung (EG) Nr. 401/2009. Verglichen mit anderen Agenturen erweist sich die institutionelle Legitimation der EUA damit als eher schwach. So räumt etwa die Verordnung (EU) Nr. 1093/2010677 über die Errichtung der Europäischen Bankaufsichtsbehörde (engl.: European Banking Authority; EBA) dem Europäischen Parlament deutlich weitere Steuerungsmöglichkeiten ein, darunter z. B. ein mit dem Rat gemeinsam auszuübendes Widerrufs- bzw. Einspruchsrecht, dem die normative Tätigkeit der EBA bei der Setzung technischer Regulierungs­ standards unterliegt, vgl. Art. 12 I, 13 Verordnung (EU) Nr. 1093/2010. Da­ rüber hinaus treffen den Vorsitzenden gegenüber Parlament und Rat nach Art. 50 Verordnung (EU) Nr. 1093/2010 umfassende Rechenschaftspflichten. Art. 51 II Verordnung (EU) Nr. 1093/2010 sieht zudem ein Bestätigungserfordernis des Exekutivdirektors durch das Parlament vor.678 Hierbei darf jedoch nicht verkannt werden, dass der EBA im Vergleich zur rein beratendinformationsverwaltenden EUA deutlich weiterreichende Entscheidungsbefugnisse zukommen, die ein signifikant höheres Legitimationsniveau erfordern. So normiert Art. 16 Verordnung (EU) Nr. 1093/2010 die Befugnis zur Herausgabe von Leitlinien und Empfehlungen für nationale Behörden und 676  Vgl.

Latour, Die integrierte Umweltverwaltung in der EU, 2013, S. 36. (EU) Nr. 1093/2010 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 24. November 2010 zur Errichtung einer Europäischen Aufsichtsbehörde (Europäische Bankenaufsichtsbehörde), zur Änderung des Beschlusses Nr. 716/2009/EG und zur Aufhebung des Beschlusses 2009/78/EG der Kommission, ABl. 2010, Nr. L 331, S.  12 ff. 678  Zur demokratischen Legitimation der EBA im Detail: Groß, JZ 2012, 1087 (1093). 677  Verordnung



D. Bewertung am Maßstab primärrechtlicher Grundsätze383

Finanzinstitute, um „kohärente, effiziente und wirksame Aufsichtspraktiken zu schaffen und eine gemeinsame, einheitli­che und kohärente Anwendung des Unionsrechts sicherzustellen“. Ferner vermag die EBA nach Maßgabe von Art. 17, 18 und 19 Verordnung (EU) Nr. 1093/2010 im Falle einer Unionsrechtsverletzung durch nationale Stellen, in Krisensituationen oder bei Meinungsverschiedenheiten zwischen zuständigen Behörden sogar verbindliche Einzelfallentscheidungen zu treffen und nationale Behörden und Finanzinstitute durch Beschluss zu bestimmten Maßnahmen zu verpflichten. Die Kompetenzen der EUA bleiben dahinter weit zurück, so dass die mit deutlich weniger legitimationsstiftenden Elementen angereicherte Verordnung (EG) Nr. 401/2009 keine ernsthaften legitimatorischen Bedenken weckt. Neben der institutionellen Legitimation durch eine formalrechtliche Grundlage ist auch das Bestehen funktionsfähiger Rechtsschutzmöglichkeiten ein Faktor, der für die Frage nach der demokratischen Rückkopplung europäischer Agenturen eine Rolle spielt.679 Zwar ist die EUA nicht in einen durch Weisungsbeziehungen geprägten hierarchischen Verwaltungsapparat eingegliedert. Dies muss jedoch nicht bedeuten, dass ihre Tätigkeit keiner Kontrolle unterliegt. Obwohl EU-Agenturen in Art. 263 AEUV nicht explizit erwähnt werden, hat der EuGH die Möglichkeit, Nichtigkeitsklage gegen ihre Handlungen zu erheben anerkannt.680 Da die EUA keine hoheitlichen Entscheidungsbefugnisse ausübt, dürfte diese Möglichkeit in der Praxis allerding von untergeordneter Bedeutung sein. Immerhin unterliegt ihre unterstützende Informationsverwaltungstätigkeit noch der Kontrolle durch den Europäischen Bürgerbeauftragten,681 an den sich Bürgerinnen und Bürger bei Missständen in der EU-Eigenverwaltung wenden können.682 (2) Output-Legitimation Neben ihren legitimationsstiftenden rechtlichen Grundlagen können auch die Arbeitsergebnisse der EUA herangezogen werden, um – nunmehr im Sinne outputorientierter Legitimationstheorien – das Bestehen eines angemessenen demokratischen Niveaus anhand von Qualität und Funktionalität zu begründen. Dabei gilt es zunächst anzuerkennen, dass gerade die Verselbstständigung europäischer Agenturen ihre Verwaltungstätigkeit sichtbarer gestaltet und damit öffentlichen Kontrollen zugänglicher macht.683 Gute Arbeitsergebnisse mögen sich dennoch nicht garantieren lassen. Immerhin EuR 2001, 809 (819). Rs. T-411/06, Sogelma/EAR, Slg. I 2008, 7421 (Rn. 33 ff.). 681  Dazu: 2. Teil, C. I. 3. b). 682  Groß, JZ 2012, 1087 (1092). 683  Groß, JZ 2012, 1087 (1091). 679  Heitsch, 680  EuGH,

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3. Teil: Netzwerke im Bereich der Vollzugskontrolle

sind EU-Agenturen aber aufgrund ihrer Weisungsunabhängigkeit vor dem Einfall sachfremder bzw. nationalstaatlich geprägter Partikularinteressen, wie sie auf Regierungsebene oft relevant werden, stärker geschützt, so dass ihnen innerhalb der EU-Eigenverwaltung sogar eine demokratiesichernde Funktion zukommen kann.684 Konkret im Fall von EUA und EIONET spielt zudem die Integration privater Expertise im Sinne einer partizipativen Legitimation eine Rolle. Nach Art. 10 I Verordnung (EG) Nr. 401/2009 werden Verwaltungsrat und Exekutivdirektor durch den wissenschaftlichen Beirat unterstützt, dessen Auswahl gemäß Art. 10 II Verordnung (EG) Nr. 401/2009 dem seinerseits Input-legitimierten Verwaltungsrat obliegt. Der wissenschaftliche Beirat bringt nun eine expertokratische Komponente in die Organisation der EUA ein, die gesellschaftliche Kräfte integriert und zugleich nach Maßgabe outputorientierter Legitimationsmodelle zur Verbesserung der Ergebnisqualität der Informa­ tionsverwaltungstätigkeit der EUA beiträgt. Schließlich muss auch gesehen werden, dass das Ergebnis der Informa­ tionsverwaltungstätigkeit, die die EUA über EIONET ausübt, bereits für sich genommen das Demokratieprinzip in der EU stärkt. Indem Informationen gesammelt, verarbeitet und zumindest in Teilen der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden, steigert die Arbeit der EUA die Transparenz der darauf aufbauenden rechtlichen und politischen Entscheidungen in den Mitgliedstaaten sowie auf EU-Ebene. Die Transparenz staatlichen Handelns ist wiederum denklogischer Bestandteil des Demokratieprinzips.685 So führte das BVerfG bereits 1975 überzeugend aus, dass Demokratie auf Vertrauen basiere. Vertrauen ohne Transparenz, die erlaube zu verfolgen, was politisch geschieht, sei jedoch nicht möglich.686 In den Unionsverträgen tritt der Grundsatz der Transparenz an verschiedenen Stellen – etwa in Art. 1 I und 10 III 2 EUV sowie in Art. 15 III AEUV – deutlich hervor.687 Besonders Art. 11 I, II EUV, der den kommunikativen Austausch zwischen EU-Organen 684  Vgl. Groß, JZ 2012, 1087 (1091); ähnlich auch: Trute, in: Hoffmann-Riem/ Schmidt-Aßmann/Voßkuhle, Grundlagen des Verwaltungsrechts Bd. I, 2.  Auflage 2012, § 6 Rn. 107. 685  Calliess, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 6.  Auflage 2022, Art. 1 EUV Rn. 84; Curtin, CMLR 2000, 7 (10); Lübbe-Wolff, VVDStRL 2001, 242 (276 ff.); Nettesheim, in: Das Recht der EU, 73. EL 2021, Art. 1 EUV Rn. 36; Schmidt-Aßmann, Verwaltungsrechtliche Dogmatik, 2013, S. 158; kritisch zur Einordnung des Transparenzprinzips als Rechtsgrundsatz: Timmermans, in: Kapteyn/McDonnell/Mortelmans/Timmermans, The law of the European Union and the European Communities, 2009, S. 168. 686  BVerfGE 40, 296, (327) = NJW 1975, 2331 (2335). 687  EuGH, Verb. Rs. C-92 und 93/09; Volker und Markus Schecke und Eifert, Slg. 2010, I-11063 (Rn. 68).



D. Bewertung am Maßstab primärrechtlicher Grundsätze385

und den Bürgerinnen und Bürgern der EU unterstreicht, betont die spezifische Bedeutung von Transparenz als demokratisches Element, ohne das demokratische Kontrolle weder ausgeübt noch Verantwortung eingefordert werden kann.688 Führt man diese Überlegung fort, gelangt man zwangsläufig zu dem Ergebnis, dass transparenzfördernde Tätigkeiten wie die Informa­ tionsverwaltung und Verbreitung durch die EUA im Rahmen von EIONET ihrerseits legitimationsstiftend wirken und damit bereits von sich aus demokratischen Anforderungen genügen dürften. cc) Ergebnis In der Bilanz kann am Bestehen eines ausreichenden Legitimationsniveaus, wie es nach dem Konzept der pluralen Bausteinlegitimation gefordert wird, kein Zweifel bestehen. Auch wenn die EUA und das von ihr betriebene Netzwerk EIONET klassisch-monistischen Legitimationsmethoden nur eingeschränkt zugänglich sind, existiert eine ganze Reihe Input- sowie Output-legitimierender Faktoren, die im Vergleich zu den zuvor diskutierten, völlig ungeregelten Practitioner Networks eine deutlich stabilere demokratische Grundlage bilden. Da EIONET zudem nur rein beratende bzw. unterstützende, von sich aus demokratiefördernde Informationsverwaltungstätigkeiten ausübt und im Unterschied zu den Practitioner Networks nicht einmal versucht, steuernden Einfluss auf die nationale Vollzugspraxis zu nehmen, sind die legitimatorischen Anforderungen an das Netzwerk und seine Zentralgestalt – die EUA – ohnehin niedrig anzusetzen. Sollte die EUA in Zukunft mit echten Entscheidungsbefugnissen ausgestattet werden, ließe sich die Legitimationsfrage weniger eindeutig beantworten. Zwar existiert mit der Verordnung (EG) Nr. 401/2009 eine sekundärrechtliche Grundlage. Die gegenwärtig darin vorgesehenen personellen und budgetrechtlichen Legitimationselemente sind jedoch eher schwach ausgeprägt. Da der europäische Gesetzgeber die Kompetenz zur Änderung der Rechtsgrundlage und insoweit die Kontrolle über die Organisation der EUA und EIONET hat, stünde es ihm jedoch frei, die Verordnung um stärkere legitimationsstiftende Instrumente wie weitere Berichtspflichten, parlamentarische Mitentscheidungs- oder Vetorechte zu ergänzen.689

688  Calliess, in: Calliess/Ruffert, EUA/AEUV, 6.  Auflage 2022, Art. 1 EUV Rn. 84; Schmidt-Aßmann, in: Hofmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle, Grundlagen des Verwaltungsrechts Bd. I, 2. Auflage 2012, § 5 Rn. 61. 689  Groß, JZ 2012, 1087 (1092).

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3. Teil: Netzwerke im Bereich der Vollzugskontrolle

2. Rechtsstaatliche Legalitätsanforderungen a) Das Rechtsstaatsprinzip in der EU Wie das Demokratieprinzip zählt auch das Rechtsstaatsprinzip zu den auf staatlicher Ebene geprägten Grundsätzen der EU.690 Da es sich bei der EU um einen Staatenverbund691 ohne Staatsqualität handelt, ist die Übertragung des Rechtsstaatsprinzips auf die Unionsebene begrifflich mit gewissen Schwierigkeiten verbunden.692 Dennoch wird in der deutschen Textfassung die Rechtsstaatlichkeit693 neben den anderen Grundwerten der EU in Art. 2 EUV ausdrücklich genannt.694 Mag das Konzept der Rechtsstaatlichkeit in den Mitgliedstaaten zum Teil unterschiedlich ausgeformt sein, lässt sich sein inhaltlicher Grundgedanke, die Ausübung hoheitlicher Gewalt rechtlichen Bindungen zu unterwerfen, doch auf die Unionsebene übertragen.695 Mit speziellem Bezug zur EU leitete der EuGH aus dem Rechtsstaatsprinzip bestimmte Grundsätze ab, die nunmehr als richterrechtliche allgemeine Rechtsgrundsätze zu den primärrechtlichen Anforderungen an die Ausübung hoheitlicher Befugnisse zählen,696 darunter etwa das Gebot der Rechtssicherheit, das Willkürverbot, die Achtung der Grundrechte und Gleichheit vor dem in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 6. Auflage 2022, Art. 2 EUV Rn. 26. 89, 155 (Ls. 2, 3a, 8, Rn. 90, 94 f., 100, 103, 108, 112, 152, 162; Maastricht); 123, 267 (Ls. 1, Rn. 229; Lissabon). 692  Der EuGH sowie einige Autoren in der Rechtswissenschaft verwenden daher den englischen Terminus der „Rule of Law“ oder sprechen von „Rechtsgemeinschaft“, vgl. EuGH, Rs. 294/83, Les Verts/Parlament, Slg. 1986, 1339 (Rn. 23); Haltern, ­Europarecht Bd. 2, 3. Auflage 2017, § 5 Rn. 1; Krygier, in: Rosenfeld/Sajo, The Oxford Handbook of Comparative Constitional Law, 2012, S. 233 ff.; kritisch zur ­ Verwendung des Begriffs „Rechtsstaatlichkeit“: Hilf/Schorkopf, in: Grabitz/Hilf/ Nettesheim, Das Recht der EU, 73. EL 2021, Art. 2 EUV, Rn. 34; Zuleeg, Der rechtliche Zusammenhalt der EU, 2004, S. 135. 693  Engl.: „Rule of Law“, franz.: „État de droit“, ital.: „Stato di diritto“, span.: „Estado de derecho“. 694  Zur Aufnahme des Begriffs der „Rechtsstaatlichkeit“ in den EUV: Nickel, EuR 2017, 663 (664 ff.). 695  Vgl. EuGH, Rs. 294/83, Les Verts/Parlament, Slg. 1986, 1339 (Rn. 23); Calliess, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 6. Auflage 2022, Art. 2 EUV Rn. 26; Hilf/ Schorkopf, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der EU, 73. EL 2021, Art. 2 EUV Rn. 34. 696  Vgl. z. B. die Ausführungen des EuGH zum Bestimmtheitsgrundsatz: EuGH, Rs. 169/80, Administration des douanes/Gondrand Frères und Garancini, Slg. 1981, 1931 (Rn. 17); bzw. zum Rückwirkungsverbot: EuGH, Rs. C-90/95P, Henri de Compte/Parlament, Slg. 1997, I-1999 (Rn. 35 ff.); eine Übersicht zur relevanten Rechtsprechung des EuGH bietet: KOM, Anhänge zu Mitteilung an das Europäische Parlament und den Rat – Ein neuer EU-Rahmen zur Stärkung des Rechtsstaatsprinzips, 11.3.2014, COM(2014) 158 final, Annex I. 690  Calliess,

691  BVerfGE



D. Bewertung am Maßstab primärrechtlicher Grundsätze387

Gesetz sowie das Gebot effektiven Rechtsschutzes und der Haftungsklarheit.697 In engem Zusammenhang steht das Rechtsstaatsprinzip zum Demokratieprinzip und dem sich daraus ergebenden Erfordernis einer demokratischen Legitimation.698 Um die Frage nach der Rückführbarkeit einer Hoheitsentscheidung auf den Willen der Bürgerinnen und Bürger beantworten zu können, muss zunächst erkennbar sein, welcher Behörde oder Institution sie zuzurechnen ist; gleichzeitig besitzt nur der im Rahmen eines bestimmten Sachbereichs zuständige Hoheitsträger die erforderliche demokratische Legitimation.699 Rechtsstaatliche Legalität und demokratische Legitimation bedingen sich insoweit auch auf EU-Ebene gegenseitig. In Kumulation lässt sich Rechtsstaatlichkeit und Demokratie daher ein Gebot der klaren Verantwortungsverteilung innerhalb des Verhältnisses zwischen EU und Mitgliedstaaten entnehmen,700 dem auch im Rahmen des verflochtenen europäischen Verwaltungsverbunds Rechnung getragen werden muss. Mit Bezug zum europäischen Verwaltungsgefüge ergibt sich aus dem Gebot der Verantwortungsklarheit eine Pflicht, Verantwortung so zu verteilen, dass Transparenz über Zuständigkeiten und Verfahren besteht, die Partizipation Betroffener und Interessierter am Verfahren ermöglicht wird und Verwaltungsaufgaben effizient wahrgenommen werden.701 Im Ergebnis soll damit eine eindeutige Zuordnung einzelner Verfahrensschritte und Entscheidungsteile zu einzelnen Ebenen und Verwaltungseinrichtungen und somit die Zuordnung von Verwaltungsentscheidungen zu bestimmten Verwaltungsträgern ermöglicht werden.702 Die Verantwortungsverteilungsproblematik ist prinzipiell in allen Formen der Staaten und Ebenen übergreifenden Kooperation angelegt, die sich durch die Zusammenarbeit rechtlich eigenständiger Akteure bzw. Handlungseinheiten auszeichnen. Schwierigkeiten ergeben sich etwa im Rahmen von mehrstufigen Verwaltungsverfahren, an denen sich Behörden verschiedener Staa697  Vgl. etwa die Aufzählung der richterrechtlich entwickelten Grundsätze in: KOM, Mitteilung an das Europäische Parlament und den Rat – Ein neuer EU-Rahmen zur Stärkung des Rechtsstaatsprinzips, 11.3.2014, COM(2014) 158 final, S. 4; zum Gebot des effektiven Rechtsschutzes – insbesondere der Rechtswegklarheit – und dem Gebot der klaren Haftungsverteilung vgl. im Detail: Pache, VVDStRL 2007, 106 (140 f.). 698  Gerkrath, EuGRZ 2006, 371 (374); Hilf/Schorkopf, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der EU, 73. EL 2021 Art. 2 Rn. 27. 699  Schliesky, DÖV 2009, 641 (645). 700  Pache, VVDStRL 2007, 106 (136). 701  Pache, VVDStRL 2007, 106 (140); Schliesky, DÖV 2009, 641 (645). 702  Pache, VVDStRL 2007, 106 (141).

388

3. Teil: Netzwerke im Bereich der Vollzugskontrolle

ten sowie EU-Institution mit präjudizieller Relevanz beteiligen.703 Ist die Verantwortungsverteilung für den Adressaten einer Verwaltungsmaßnahme hier nicht klar erkennbar, entstehen Probleme in Bezug auf die Rechtswegklarheit und die Jurisdiktionsgewalt nationaler und europäischer Gerichte innerhalb des noch immer auf dem Trennungsprinzip aufbauenden Rechtsschutzsystems der EU, die mit dem Gebot des effektiven Rechtsschutzes und der eindeutigen Haftungszuweisung wesentliche Kernelemente des europäischen Rechtsstaatsprinzips in Frage stellen können.704 b) Rechtsstaatliche Legalität als Problem in der Netzwerkdebatte Da Netzwerke besonders komplex verflochtene Formen des kooperativen Zusammenwirkens staatlicher und gegebenenfalls europäischer Hoheitsträger darstellen, wurde das Problem der Verantwortungsklarheit auch im Rahmen der rechtswissenschaftlichen Netzwerkdebatte aufgegriffen.705 Dass sich die Zusammenarbeit in Netzwerken nicht ohne weiteres an traditionellen, staatlich geprägten Konzepten der administrativen und politischen Verantwortungsdistribution messen lässt, ergibt sich bereits aus ihrer polyzentrischen und heterarchischen Bauweise. Da Netzwerke polyzentrisch zusammengesetzte Beziehungsgeflechte bilden, lassen sich die beteiligten nationalen Behörden auch innerhalb des Netzwerks noch einem bestimmten Verwaltungsapparat zuordnen, anstatt sozusagen als Teile einer neuen Institution darin aufzugehen.706 Tritt ein Netzwerk als Urheber eines Projekts oder einer Publikation in Erscheinung, wird damit dennoch eine Gesamtverantwortung der vernetzten Akteure ausgedrückt. Obwohl die Netzwerkmitglieder ihre orga­ nisatorische Selbstständigkeit also prinzipiell behalten, lassen sich interne ­Verantwortungs- und Zurechnungszusammenhänge bei der Erarbeitung des Netzwerk Outputs von außen nicht mehr erkennen. Die netzwerktypische heterarchische Bauweise erschwert die Zuweisung klarer Verantwortungsbereiche auch im netzwerkinternen Bereich. Denklogisch gilt: Je mehr Akteure an einer Entscheidung beteiligt werden, desto eher verwischt die Verantwor703  Zum problematischen Verhältnis zwischen nationalem und europäischem Rechtsschutz bei der Durchführung der FFH-Richtlinie: Weiß, Die Verwaltung 2005, 517 (522 ff.; 537 ff.). 704  Pache, VVDStRL 2007, 106 (141); vgl. ausführlich zu den daran anknüpfenden Geboten des effektiven Rechtsschutzes und der eindeutigen Haftungszuweisung Hofmann, in: Schmidt-Aßmann/Schöndorf-Haubold, Der Europäische Verwaltungsverbund, 2005, S. 354 ff.; Schmidt-Aßmann, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/ Voßkuhle, Grundlagen des Verwaltungsrechts Bd. I, 2. Auflage 2012, § 5 Rn. 80 ff. 705  Zur Problematik der Zuständigkeitsverdopplung auf europäischer und nationaler Ebene im Wettbewerbsrecht: Weiß, Die Verwaltung 2005, 517 (526 f.). 706  Dazu: 3. Teil, A. III. a).



D. Bewertung am Maßstab primärrechtlicher Grundsätze389

tungsklarheit. In klassischen, vertikal konstruierten Verwaltungsapparaten kann das Hierarchieprinzip diesem Problem abhelfen, indem es Vorgesetzte als Verantwortungsträger hervortreten lässt und nachvollziehbare Verantwortungsketten innerhalb der Verwaltung konstruiert. Während das Hierarchieprinzip über Weisungs- und Aufsichtsbefugnisse zur Legalität adminis­ trativer Entscheidungen beiträgt und gleichzeitig die demokratische Legi­ timation sichert,707 sind Verantwortungsgefälle innerhalb heterarchischer Strukturen grundsätzlich nicht angelegt. Zwar existieren z. B. im Wettbewerbsrecht Netzwerke, in deren Rahmen einzelne Akteure im Verhältnis zu anderen Netzwerkmitgliedern mit bestimmten Kontroll- bzw. Entscheidungsbefugnissen ausgestattet sind.708 Jenseits vertikaler Strukturelemente lassen sich originär staatliche Organisationsprinzipien, wie die Verantwortung der Exekutive gegenüber dem parlamentarischen Gesetzgeber oder die Verwaltungshierarchie aber nicht zur Identifikation klarer Verantwortungsstränge auf den netzwerkinternen Bereich übertragen.709 Abgesehen von ihren strukturellen Merkmalen wird auch die Arbeitsweise paneuropäischer Behördennetzwerke dem Gebot der Verantwortungsklarheit kaum gerecht. Während die Verantwortungsverteilung in mehrstufigen Verwaltungsverfahren durch klare Verfahrensregelungen transparent gestaltet werden kann, zeichnet sich die Arbeit in Netzwerken durch Informalität aus. Zwar bietet das Fehlen rechtlicher Verfahrens- oder Formvorschriften, ebenso wie die dynamische Veränderlichkeit der involvierten Akteurskonstellationen ein hohes Maß an Flexibilität, um Aufgaben effektivitätsorientiert zu erfüllen. Im Gegenzug gestaltet sich der netzwerkinterne Bereich aber oft zu undurchsichtig, um Einzelbeiträge zur Zusammenarbeit isolieren zu können, wodurch nicht nur die Zuordnung zu einem bestimmten Verantwortungsbereich, sondern letztlich auch die Rückführung einer Entscheidung auf ein bestimmtes Staatsvolk erschwert wird.710 Inwieweit EU-Institutionen oder die Behörden eines Staates durch die Zusammenarbeit die Verwaltungspraxis eines anderen Staates beeinflussen, lässt sich kaum erkennen.711 DÖV 2009, 641 (646). Art. 11 VI sowie die Art. 17 ff. der Verordnung (EG) Nr. 1/2003 des Rates vom 16. Dezember 2002 zur Durchführung der in den Artikeln 81 und 82 des Vertrags niedergelegten Wettbewerbsregeln, ABl. 2003, Nr. L 1, S. 1 ff., die der Kommission eigene Beschlusskompetenzen und Ermittlungsbefugnisse gegenüber nationalen, am Europäischen Netzwerk der Wettbewerbsbehörden beteiligten Behörden zuweisen, vgl. im Detail dazu: Kahl, in: Holoubek/Lang, Verfahren der Zusammenarbeit von Verwaltungsbehörden in Europa, 2012, S. 35 ff. 709  Simantiras, Netzwerke im Europäischen Verwaltungsverbund, 2016, S. 48. 710  Kritisch zur Zuordnungsklarheit: Gärditz, Europäisches Planungsrecht, 2009, S.  116 f.; Schliesky, DÖV 2009, 641 (645 f.); Schwind, Netzwerke im Europäischen Verwaltungsrecht, 2017, S. 309 ff. 711  Möllers, ZaöRV 2005, 352 (379). 707  Schliesky, 708  Vgl.

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3. Teil: Netzwerke im Bereich der Vollzugskontrolle

Zwar wurden in der Rechtswissenschaft verschiedene Möglichkeiten diskutiert, um rechtsstaatlichen Legalitätsanforderungen im Rahmen der die Rechtswirklichkeit in zunehmendem Maße prägenden Zusammenarbeit in Staaten und grenzüberschreitenden Netzwerken mittels einfachgesetzlicher Organisations- und Verfahrensregelungen Rechnung zu tragen.712 Die Übertragung hoheitlicher Entscheidungsbefugnisse auf Netzwerke wird mit Blick auf die fehlende Verantwortungsklarheit aber nach wie vor kritisch betrachtet. c) Rechtsstaatliche Legalität in Practitioner Networks In umweltbezogenen Practitioner Networks besteht das Problem der Verantwortungsklarheit nur in Ansätzen. Zwar lässt sich Verantwortung auch hier nur schwer zuordnen. Da Practitioner Networks bzw. die darin eingegliederten nationalen Behörden aber keine hoheitlichen Vollzugs- oder Kon­ trollbefugnisse wahrnehmen, sondern sich auf den Austausch von Informa­ tionen, Praxiserfahrungen und Fachwissen sowie die Förderung grenzüberschreitender Kooperationsbeziehungen beschränken, stellt sich die Frage nach der rechtsstaatlichen Legalität höchstens dann, wenn nationale Hoheitsträger oder EU-Institutionen den prinzipiell unverbindlichen Netzwerk Output in verbindlichen Rechtsnormen, Weisungen, Verwaltungsvorschriften oder Soft Law aufgreifen. Mag den Ergebnissen der Netzwerkarbeit in der Praxis auch ein hoher Stellenwert und somit eine gewisse vollzugssteuernde Wirkung zukommen, bleibt diese doch hinter der faktischen Bindungskraft des europäischen Soft Laws zurück.713 Zwar setzen sich Practitioner Networks im Umweltsektor aus nationalen Hoheitsträgern zusammen, sie fungieren jedoch als Expertenforen mit nur beratender Funktion. Welches Netzwerkmitglied welchen Beitrag zur Erarbeitung eines bestimmten Leitfadens oder einer Studie geliefert hat, ist im Ergebnis unerheblich; greift ein nationaler oder supranationaler Hoheitsträger freiwillig die Ergebnisse der Zusammenarbeit auf, fällt diese Entscheidung eindeutig und ausschließlich in seinen Verantwortungsbereich. Letztlich lässt sich deshalb auch die an das Gebot der Verantwortungsklarheit anknüpfende komplexe Folgeproblematik der gerichtlichen Kontrollierbarkeit Staaten und Ebenen übergreifender Netzwerkarbeit714 durch einen Verweis auf die jeweiligen nationalen und euro­ 712  Insoweit auf das Modell der „Zuständigkeitsverzahnung“ als Option für die Gewährleistung rechtsstaatlicher und demokratischer Funktionen verweisend: Schliesky, eGovernment in Deutschland, 2006, S. 12 ff.; Schliesky, DÖV 2009, 641 (646 ff.). 713  Dazu: 3. Teil, D. I. 2. b) und c). 714  Vgl. dazu im Detail: Schwind, Netzwerke im Europäischen Verwaltungsrecht, 2017, S.  319 ff.; Weiß, Die Verwaltung 2005, 517 (537 ff.).



D. Bewertung am Maßstab primärrechtlicher Grundsätze391

päischen gerichtlichen Rechtsschutzsysteme sowie die administrativen und parlamentarischen Kontrollmechanismen umgehen, die ihrerseits rechtsstaatlichen und demokratischen Anforderungen genügen müssen. Zumindest in ihrer derzeit rein beratenden, auf unverbindliche Unterstützungsmaßnahmen beschränkten Funktion müssen Practitioner Networks im Umweltbereich also keinen gesteigerten primärrechtlichen Legalitätsanforderungen entsprechen. Nationalen Vollzugsakteuren bieten sie dadurch einen umso freieren Kooperationsrahmen, dessen Tätigkeit sich ganz allein an den Bedürfnissen der Beteiligten und dem gemeinsamen Interesse an einem möglichst wirksamen Vollzug des EU-Umweltrechts ausrichten kann. Der Kommission wiederum eröffnen niedrige primärrechtliche Anforderungen flexible Möglichkeiten, um weitgehend ungehindert auf die Entwicklung und Effektivierung der Netzwerkzusammenarbeit Einfluss zu nehmen und sich Practitioner Networks in ihrer Eigenschaft als nahezu selbstständig arbeitende Vollzugsförderungseinheiten zunutze zu machen. d) Rechtsstaatliche Legalität im EIONET Da EIONET ebenfalls keine Entscheidungsbefugnisse gegenüber Dritten wahrnimmt, lassen sich die vorangegangenen Ausführungen zu den Practitioner Networks auch auf EIONET übertragen. Macht eine staatliche oder europäische Stelle von dem über das Netzwerk zur Verfügung gestellten Informationsangebot Gebrauch, bleibt die Entscheidungsverantwortung bei der informationsbeziehenden Stelle. Obwohl die Bereitstellung von Umweltinformationen zur Schaffung einer verlässlichen Informationsgrundlage beitragen und somit denklogisch auch Einfluss auf den Entscheidungsinhalt nehmen soll, kommt es zu keiner Zuständigkeitsverlagerung auf das Netzwerk und somit zu keiner Verantwortungsverwischung. Eine das Rechtsstaatsprinzip gefährdende Verantwortungszuweisungsproblematik ergibt sich auch nicht aus der exponierten Stellung der EUA, die innerhalb des Netzwerks mit Koordinierungsaufgaben betraut ist. Soweit die EUA Beschlüsse fasst, weist Art. 8 I Verordnung (EG) Nr. 401/2009 den Verwaltungsrat als zentrales Entscheidungsgremium sowie nach Art. 9 I Verordnung (EG) Nr. 401/2009 den Exekutivdirektor als Leiter der Agentur aus. Art. 8 Verordnung (EG) Nr. 401/2009 regelt dabei nicht nur die Zusammensetzung des Verwaltungsrats, sondern auch das Stimmgewicht seiner Mitglieder sowie das Erfordernis einer Zweidrittelmehrheit zur Beschlussfassung. Das Verfahren der Beschlussfassung folgt dabei einer Geschäftsordnung, die sich der Verwaltungsrat nach Art. 8 II 1 Verordnung (EG) Nr. 401/2009 selbst gibt. Die Verordnung (EG) Nr. 401/2009 liefert somit eine am Maßstab des Rechtsstaatsprinzips ausgerichtete organisations- und verfahrensrechtliche

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3. Teil: Netzwerke im Bereich der Vollzugskontrolle

Grundlage. Für den hypothetischen Fall, dass die Rolle von EIONET in Zukunft ausgebaut werden sollte, böte sie zudem einen rechtlichen Rahmen, der bei Bedarf vom Unionsgesetzgeber um detailliertere Organisations- und Verfahrensvorschriften ergänzt werden und somit eine klare Zuordnung von Entscheidungsbeiträgen und Verfahrensteilen ermöglichen könnte.715 Da EUA und EIONET auf Grundlage von Art. 192 AEUV und somit im Unterschied zu vielen anderen Agenturen auf Basis einer EU-Sachkompetenz errichtet wurden, stellt sich in diesem Zusammenhang auch nicht die in Rechtsprechung und Literatur diskutierte Frage, ob die Heranziehung der Binnenmarktsharmonisierungskompetenz aus Art. 114 AEUV für die Errichtung und Regelung europäischer Agenturen rechtsstaatlichen Anforderungen genügt.716 3. Perspektiven und Grenzen Die im Rahmen dieser Arbeit durchgeführten rechtlichen Untersuchungen haben gezeigt, dass Practitioner Networks in ihrer derzeitigen Gestalt als informelle Vollzugsunterstützungsmechanismen sowie EIONET als ausschließlich beratendes, informationsverwaltendes Netzwerk weder besonderen kompetenzrechtlichen noch demokratischen oder rechtsstaatlichen Bedenken begegnen. Dies gilt grundsätzlich auch dann, wenn die Kommission direkten oder indirekten Einfluss auf die Netzwerkarbeit ausübt. Während EIONET auf einer formalrechtlichen Grundlage beruht, die bei Bedarf durch stärker legitimierende, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sichernde Elemente angereichert werden könnte und somit eine zumindest theoretische Entwicklungsoffenheit zeigt, arbeiten Practitioner Networks im Umweltsektor noch völlig frei von organisatorischen Vorgaben, Kompetenzgrundlagen und Kontrollmechanismen. Ob diese völlig informellen Formen der Kooperation auch in Zukunft ohne einen unionsrechtlichen Rahmen auskommen werden, hängt davon ab, wie sie sich fortan weiterentwickeln werden. a) Practitioner Networks als langfristig vollzugsharmonisierende Kraft Rechtsakte, die Netzwerke ähnlich einer EU-Agentur mit der Wahrnehmung formalrechtlicher Entscheidungskompetenzen betrauen oder nationale Hoheitsträger dazu verpflichten, Entscheidungen im Benehmen mit bestimmten Netzwerken zu treffen, sucht man im Gesamtbestand des Unionsrechts DÖV 2009, 641 (647). Detail dazu: EuGH, Rs. C-217/04, Vereinigtes Königreich/Parlament und Rat, Slg. 2006, I-03771 (Rn. 42 ff.); Rs. 270/12, Vereinigtes Königreich/Parlament und Rat, ECLI:EU:C:2014:18 (Rn. 97 ff.); Saurer, DÖV 2014, 549 (551 ff.). 715  Schliesky, 716  Im



D. Bewertung am Maßstab primärrechtlicher Grundsätze393

vergebens.717 Zwar stattet das Sekundärrecht vor allem im Wettbewerbs-718 und Finanzaufsichtsrecht719 einzelne Netzwerkakteure mit besonderen Aufsichts- und Entscheidungsbefugnissen aus. Solche hierarchischen Strukturelemente beschränken sich aber typischerweise auf Netzwerke, in denen neben nationalen Behörden auch EU-Institutionen unmittelbar in die Zusammenarbeit eingegliedert sind und eine exponierte Stellung einnehmen.720 Im Bereich umweltrelevanter Practitioner Networks sind EU-Institutionen – Ausnahme ist etwa die EUA im Rahmen von NEPA – nie direkt in die Netzwerkstruktur eingegliedert. Zudem zeigen die Entwicklungen von IMPEL, EUFJE und ENPE eine gewisse Verselbstständigungs- und Dezentralisierungstendenz, die vor allem eine stärkere Einbindung der Kommission in naher Zukunft unwahrscheinlich erscheinen lässt. Bedeutung für den mitgliedstaatlichen EU-Umweltrechtsvollzug kommt der Zusammenarbeit in Practitioner Networks allerdings auch ohne rechtliche Entscheidungskompetenzen zu. Zwar lassen sich netzwerkintern erarbeitete Studien, Empfehlungen und Leitfäden weder als verdecktes Soft Law der Kommission qualifizieren noch kann der Netzwerk Output im Hinblick auf seine politische Wirkungsdimension damit verglichen werden.721 Auf lange Sicht trägt aber auch die Schaffung gemeinsamer Wissensgrundlagen sowie Netzwerke im Europäischen Verwaltungsrecht, 2017, S. 310 f. Art. 11 VI sowie die Art. 17 ff. der Verordnung (EG) Nr. 1/2003 des Rates vom 16. Dezember 2002 zur Durchführung der in den Artikeln 81 und 82 des Vertrags niedergelegten Wettbewerbsregeln, ABl. 2003, Nr. L 1, S. 1 ff.; im Detail dazu: Kahl, in: Holoubek/Lang, Verfahren der Zusammenarbeit von Verwaltungsbehörden in Europa, 2012, S. 35 ff. 719  Vgl. etwa die Selbsteintrittsrechte gemäß Art. 17 I der Verordnung (EU) Nr. 1093/2010 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 24. November 2010 zur Errichtung einer Europäischen Aufsichtsbehörde (Europäische Bankenaufsichtsbehörde), zur Änderung des Beschlusses Nr. 716/2009/EG und zur Aufhebung des Beschlusses 2009/78/EG der Kommission, ABl. 2010, Nr. L 331, S. 12 ff.; Art. 17 I der Verordnung (EU) Nr. 1095/2010 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 24. November 2010 zur Errichtung einer Europäischen Aufsichtsbehörde (Europäische Wertpapier- und Marktaufsichtsbehörde), zur Änderung des Beschlusses Nr. 716/2009/EG und zur Aufhebung des Beschlusses 2009/77/EG der Kommission, ABl. 2010, Nr. L 331, S. 85 ff. und Art. 17 I; Verordnung (EU) Nr. 1094/2010 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 24. November 2010 zur Errichtung einer Europäischen Aufsichtsbehörde (Europäische Aufsichtsbehörde für das Versicherungswesen und die betriebliche Altersversorgung), zur Änderung des Beschlusses Nr. 716/2009/EG und zur Aufhebung des Beschlusses 2009/79/EG der Kommission, ABl. 2010, Nr. L 331, S. 48 ff. 720  In diesem Zusammenhang von einem Netzwerk „im Schatten der Hierarchie“ bzw. an der Grenze zu einem „vertikalen Aufsichtsverbund“ sprechend: Kahl, in: Holoubek/Lang, Verfahren der Zusammenarbeit von Verwaltungsbehörden in Europa, 2012, S. 37. 721  Dazu: 3. Teil, D. I. 2. b) und c). 717  Schwind, 718  Vgl.

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3. Teil: Netzwerke im Bereich der Vollzugskontrolle

die Verbreitung guter Praktiken zu einer Harmonisierung des EU-Umweltrechtsvollzugs in den Mitgliedstaaten bei.722 Solange Practitioner Networks im Umweltsektor ihr Tätigkeitsfeld auf Informations- und Unterstützungsangebote beschränken, stehen dieser Langzeitwirkung keine rechtlichen Hindernisse entgegen. Zu klären bleibt jedoch, ob ihnen darüber hinaus Potenzial innewohnt, in Zukunft gezielter auf die Steuerung und Harmonisierung natio­naler Vollzugsvorgänge hinzuwirken oder ob ihnen insoweit rechtliche Grenzen gesetzt sind. b) Vollzugsregulierung als Entwicklungsperspektive Innerhalb des europäischen Verwaltungsverbunds haben sich in den vergangenen Jahrzehnten Netzwerke entwickelt, die den Unionsrechtsvollzug in unterschiedlichen Politikbereichen deutlich intensiver beeinflussen als dies im Umweltsektor bisher der Fall ist. Eine besondere Kategorie bilden dabei die in der Rechtswissenschaft unter dem Begriff der Regulierungsnetzwerke723 diskutierten Formen der Behördenkooperation, die auf die konsensuale Harmonisierung der Vollzugspraxis verschiedener Staaten durch die Ausarbeitung gemeinsamer Handlungsempfehlungen, technischer Standards, Verhaltenskodizes oder anderer Formen des Soft Law gerichtet sind.724 Während Informationsnetzwerke primär dem Wissens- und Erfahrungsaustausch dienen, zielt die Zusammenarbeit in Regulierungsnetzwerken stärker auf die Setzung vollzugsgestaltender Impulse ab. Von Informationsnetzwerken unterscheiden sich Regulierungsnetzwerke in der Regel auch durch ein höheres Maß an rechtlicher Formalisierung, das ihnen die Erfüllung bestimmter Funktionen mit möglichst starker faktischer Bindungskraft ermöglichen soll und das heterarchische Netzwerkkonzept oft mit ausgeprägten vertikalen Strukturelementen zu einem hierarchisch-heterarchischen Hybrid­ gefüge kombiniert.725 Zwar verfügen auch Regulierungsnetzwerke typischerNetzwerke im Europäischen Verwaltungsrecht, 2017, S. 307. Typus der Regulierungsnetzwerke vgl.: Gundel, in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach, Europarecht, 3. Auflage 2015, § 3 Rn. 143 f.; Kahl, in: Holoubek/Lang, Verfahren der Zusammenarbeit von Verwaltungsbehörden in Europa, 2012, S. 37 ff.; Schwind, Netzwerke im Europäischen Verwaltungsrecht, 2017, S. 241 ff.; im Übrigen in der englischsprachigen Fachliteratur unter dem Begriff der „Regulatory Networks“ diskutiert: Blauberger/Rittberger, Regulation & Governance 2015, 367 (367  ff.); Coen/Thatcher, JPP 2008, 49 (49 ff.); Dehousse, JEPP 1997, 246 (254 ff.); Levi-Faur, JEPP 2011, 810 (810 ff.); Maggetti, WEP 2014, 497 (497 ff.); Thatcher, JEPP 2011, 790 (791 f.). 724  Schwind, Netzwerke im Europäischen Verwaltungsrecht, 2017, S. 241 ff. 725  Coen/Thatcher, JPP 2008, 49 (52, 56 f.); dahingehend auch: Kahl, in: Holoubek/Lang, Verfahren der Zusammenarbeit von Verwaltungsbehörden in Europa, 2012, S. 37. 722  Schwind, 723  Zum



D. Bewertung am Maßstab primärrechtlicher Grundsätze395

weise über keine eigenen Rechtsetzungs- oder Entscheidungskompetenzen, so dass den über sie erarbeiteten Standards keine unmittelbare rechtliche Bindungskraft zukommen kann.726 Da konsensual geschaffene Vorgaben aber in der Regel auch ohne Zwang befolgt werden, ist die Frage der Rechtsverbindlichkeit für ihre Steuerungswirkung letztlich zweitrangig.727 Regulierungsnetzwerke werden gebildet, um einem besonderen Koordinationserfordernis bei der Implementation unionsrechtlicher Vorgaben Rechnung zu tragen.728 Sie finden sich vor allem in Politikbereichen, in denen die Funktionsfähigkeit des Binnenmarkts nicht ohne einheitlich regulierendes Eingreifen staatlicher bzw. europäischer Stellen gewährleistet werden kann.729 Zu den wichtigsten Bereichen, in denen ein besonderes Bedürfnis nach einer einheitlichen Marktregulierung durch die Herausbildung vollzugsharmonisierender Netzwerkstrukturen besteht, zählen etwa der Telekommu­ nikationssektor,730 in dem die Kommission lange Zeit allein regulierend tätig war sowie der Bereich der Energieversorgung,731 der bereits aus technischen Gründen einheitlicher Vollzugsstandards bedarf. Bedenkt man den oft grenzüberschreitenden Charakter schädlicher Umwelteinwirkungen, der ein Zusammenwirken von Behörden mehrerer Staaten erforderlich machen kann sowie die stark ausgeprägte technische Komponente des EU-Umweltrechtsvollzugs, besteht im Umweltsektor prinzipiell ebenfalls ein Bedürfnis, Vollzugsvorgaben auf Grundlage gemeinsamer Expertise durch sektorspezifische Absprachen zu schaffen. Da die dargestellten Practitioner Networks bereits im Status quo zur Harmonisierung des EU-Umweltrechtsvollzugs in den Mitgliedstaaten beitragen, erscheint die Idee einer künftigen Fortentwicklung in den Bereich der Regulierungsnetzwerke zumindest nicht ausgeschlossen.

JPP 2008, 49 (64). Maggetti, WEP 2014, 497 (499); ähnlich zur Bindungskraft völkerrechtlicher Absprachen: Möllers, ZaöRV 2005, 352 (378); Wolfrum, in: Ipsen, FS Rauschning, 2001, S. 407 f. 728  Coen/Thatcher, JPP 2008, 49 (66). 729  Schwind, Netzwerke im Europäischen Verwaltungsrecht, 2017, S. 241. 730  Zum Netzwerk europäischer Telekommunikations-Regulierungsbehörden weiterführend: Kahl, in: Holoubek/Lang, Verfahren der Zusammenarbeit von Verwaltungsbehörden in Europa, 2012, S. 38 ff.; Schwind, Netzwerke im Europäischen Verwaltungsrecht, 2017, S. 242 ff. 731  Dazu weiterführend: Kahl, in: Holoubek/Lang, Verfahren der Zusammenarbeit von Verwaltungsbehörden in Europa, 2012, S. 41 ff.; Maggetti, WEP 2014, 497 (499 ff.); Schwind, Netzwerke im Europäischen Verwaltungsrecht, 2017, S. 257 ff.; ähnlich auch zum europäischen System der Finanzaufsicht als Regulierungsverbund mit der Befugnis zum Erlass „technischer Standards“: Kämmerer, NVwZ 2011, 1281 (1286 f.); Kaufhold, Die Verwaltung 2013, 21 (49 f.); Thiele, Finanzaufsicht, 2014, S.  50 ff. 726  Coen/Thatcher, 727  Vgl.

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3. Teil: Netzwerke im Bereich der Vollzugskontrolle

Tatsächlich gehen die meisten formalisierten Regulierungsnetzwerke auf informelle Formen intergouvernementaler Zusammenarbeit zurück, die sich zunächst – ähnliche wie IMPEL, ENPE oder EUFJE – zu informellen Organisationseinheiten verdichtet haben. Die Rolle der EU bestand also weniger darin, neue Kooperationsstrukturen zu schaffen, sondern bereits bestehende Organisationseinheiten aufzugreifen, unionsrechtlich zu überformen und in die eigene Staaten und Ebenen übergreifende Regulierungsorganisation zu integrieren.732 Eine solche Entwicklung lässt sich etwa im Telekommunikationssektor beobachten, in dem die 1997 intergouvernemental gegründete Independent Regualtors Group (IRG)733 um die per Kommissionsbeschluss eingerichtete, im Übrigen informelle Gruppe Europäischer Regulierungsbehörden (engl.: European Regulators Group; ERG)734 und später um das sie ablösende, nunmehr umfassend rechtlich formalisierte Gremium Europäischer Regulierungsbehörden für Elektronische Kommunikation (GEREK; engl.: Body of European Regulators for Electronic Communications, BEREC) ergänzt wurde.735 Im Bereich der Energieregulierung führte die unionsrechtliche Formalisierung von Netzwerkstrukturen sogar zur Entstehung der mit der Kommission und den Mitgliedstaaten kooperierenden Agentur für die Zusammenarbeit der Energieregulierungsbehörden (engl.: Agency for the Cooperation of Energy Regulators; ACER).736 Eine unionsrechtliche Rezeption der im Umweltsektor bestehenden Practitioner Networks mit dem Ziel der Einbindung in ein potenzielles Umweltregulierungsnetzwerk, wäre vor diesem Hintergrund also kein völlig ungewöhnliches Phänomen. 732  Ladeur/Möllers, DVBl 2005, 525 (527); Möllers, ZaöRV 2005, 352 (365); zur Entwicklung in verschiedenen Sektoren: Coen/Thatcher, JPP 2008, 49 (56 ff.). 733  Coen/Thatcher, JPP 2008, 49 (56); Oster/Wagne, in: Dauses/Ludwigs, Hdb. des EU-Wirtschaftsrechts, 53. EL 2021, E.V. Rn. 128. 734  Beschluss Nr. 2002/627/EG der Kommission vom 29. Juli 2002 zur Einrichtung der Gruppe Europäischer Regulierungsstellen für elektronische Kommunikationsnetze und -dienste, ABl. 2002, Nr. L 200, S. 38; vgl. zur Entstehung und Ausgestaltung der ERG: Coen/Thatcher, JPP 2008, 49 (60 ff.); Hermeier, Der Europäische Regulierungsverbund im EG-Rechtsrahmen für Telekommunikation, 2009, S. 188 ff.; Weiß, Der Europäische Verwaltungsverbund, 2010, S. 93 ff. 735  Vgl. Holznagel/Schumacher, in: Joost/Oetker/Paschke, FS Säcker, 2011, S. 746; Oster/Wagne, in: Dauses/Ludwigs, Hdb. des EU-Wirtschaftsrechts, 53. EL 2021, E.V. Rn. 127. 736  Verordnung (EG) Nr. 713/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Juli 2009 zur Gründung einer Agentur für die Zusammenarbeit der Energieregulierungsbehörden, ABl. 2009, Nr. L 211, S. 1 ff., ersetzt durch die Verordnung (EU) 2019/942 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. Juni 2019 zur Gründung einer Agentur der Europäischen Union für die Zusammenarbeit der Energieregulierungsbehörden, ABl. 2019, Nr. L 158, S. 22 ff.; zur Entwicklung: Kahl, in: Holoubek/Lang, Verfahren der Zusammenarbeit von Verwaltungsbehörden in Europa, 2012, S. 44; Thatcher, JEEP 2011, 790 (804 f.).



D. Bewertung am Maßstab primärrechtlicher Grundsätze397

c) Rechtliche Bedenken: Das Problem der „auswärtigen Verselbstständigung“ Practitioner Networks wie IMPEL sind in ihrer derzeitigen Form reine Informationsnetzwerke,737 deren erklärtes Ziel nicht die Vereinheitlichung, sondern die Verbesserung nationaler Vollzugsleistungen ist. Verbesserungen sollen dabei nicht unbedingt durch Harmonisierung, sondern vor allem durch koordiniertes Handeln sowie durch die Entwicklung spezifischer Lösungen für spezifische Vollzugsprobleme unter Einbeziehung einzelstaatlicher, regionaler oder sogar lokaler Besonderheiten erreicht werden. Da der den Netzwerken zugrunde liegende Konsens nicht gezielt auf die Festlegung einer einheitlichen Vollzugspraxis, sondern auf das Aufzeigen optionaler Verbesserungsmöglichkeiten für den individuellen Bedarf gerichtet ist, kommt dem Netzwerk Output umweltrelevanter Practitioner Networks deutlich geringere Steuerungswirkung und faktische Bindungskraft zu, als den in Regulierungsnetzwerken erarbeiteten Vollzugsstandards.738 Doch selbst wenn die beteiligten Behörden künftig dazu im Stande wären, einen Konsens über bestimmte Ansätze und Prinzipien zu bilden739 und auf dieser Grundlage gemeinsame Vollzugsstandards festlegen würden, stellt sich die Frage, unter welchen Voraussetzungen ihr Tätigkeitsfeld in den Bereich der Vollzugsregulierung ausgedehnt werden könnte. Da die im Rahmen dieser Arbeit dargestellten Practitioner Networks selbst keine EU-Institutionen darstellen, bisher keine unionsrechtliche Formalisierung erfahren haben und EU-Institutionen eher als externe Kooperationspartner, denn als vollwertige Netzwerkmitglieder einbeziehen, ist zunächst an eine eigenmächtige Kompetenzerweiterung durch die eingegliederten Behörden mittels zwischenstaatlicher Vereinbarungen im völkerrechtlichen Sinne zu denken. Schwierigkeiten im Hinblick auf die Anforderungen des Demokratieprinzips sowie die Kompetenzordnungen der Mitgliedstaaten sieht hier etwa Möllers, der darauf hinweist, dass die Kompetenz zur Wahrnehmung auswärtiger Angelegenheiten und somit auch die Kompetenz zum Aufbau internationaler Arbeitsbeziehungen in der Regel bei den Regierungen der Mitgliedstaaten, nicht jedoch bei den der Regierungsebene typischerweise untergeordneten Fachbehörden liegt.740 Würden Fachbehörden verschiedener Staaten aus eigener Initiative informelle Kontakte knüpfen, drohe die für die internationale Koordination prinzipiell verantwortliche Regierungsebene 737  So auch: Schwind, Netzwerke im Europäischen Verwaltungsrecht, 2017, S.  170 ff. 738  Vgl. Schwind, Netzwerke im Europäischen Verwaltungsrecht, 2017, S. 241 ff. 739  Slaughter, A New World Order, 2004, S. 61. 740  Zur Kompetenzordnung in der BRD: Möllers, ZaöRV 2005, 352 (372).

398

3. Teil: Netzwerke im Bereich der Vollzugskontrolle

übergangen und der demokratische Legitimationszusammenhang unterbrochen zu werden.741 Gehen informelle Kooperationsbeziehungen über den Austausch von Informationen hinaus bis hin zur konsensualen Absprache sektorspezifischer Vollzugsstandards, sieht Möllers die Gefahr einer „auswärtigen Verselbstständigung“742, die die hierarchische Verantwortlichkeit innerhalb des nationalen Verwaltungsapparates durchbreche und die nationalen Kompetenzordnungen verletze. Wollen Fachbehörden gemeinsam mit ihren Entsprechungsbehörden anderer Staaten vollzugsregulierend tätig werden, könne eine entsprechende Vereinbarung daher nur im Auftrag der jeweiligen Regierungen bzw. auf Grundlage einer gesetzlichen Delegation der Regierungskompetenz zur Wahrnehmung auswärtiger Angelegenheiten getroffen werden.743 Wie auch Möllers feststellt, vermag die Ableitung von Regierungskompetenzen das demokratische Legitimationsdilemma, das sich in Staaten und Ebenen übergreifenden Regulierungsnetzwerken stellt, nicht abschließend zu lösen. Werden Vollzugsstandards gemeinsam mit Behörden anderer Staaten festgelegt, fließen nicht nur auswärtige Interessen und Standpunkte in die Vollzugstätigkeit der national zuständigen Akteure ein. Gestalten Behörden die staatliche Vollzugpraxis innerhalb eines Netzwerks gemeinsam, nehmen ausländische Behörden auch an der Hoheitsgewalt von Staaten Teil, in denen sie gerade nicht im klassisch-monistischen Sinn legitimiert sind.744 Informelle intergouvernementale bzw. interbehördliche Kontakte, die keinen klaren legitimationsstiftenden Verfahrensregeln folgen, dürften hier kaum in der Lage sein, das resultierende demokratische Defizit zu kompensieren und ein angemessenes Legitimationsniveau zu gewährleisten.745 Ein eigenmächtiger, wilder Ausbau von Netzwerkstrukturen wäre demnach auch im Umwelt­ sektor nicht ohne weiteres möglich. Um Kompetenzen unter Berücksichtigung demokratischer und rechtsstaatlicher Erfordernisse auf ein internationales Behördengeflecht zu verlagern und damit sozusagen zu transnationalisieren, bietet sich zumindest im Bereich der EU-Mitgliedstaaten weniger die Übertragung von unten – also ausgehend von der staatlichen Ebene –, sondern vielmehr die Übertragung ZaöRV 2005, 352 (353 ff.). DVBl 2005, 525 (527); Möllers, ZaöRV 2005, 352 (355). 743  Ladeur/Möllers, DVBl 2005, 525 (528); zur Zulässigkeit der Delegation: Möllers, ZaöRV 2005, 352 (373). 744  Ladeur/Möllers, DVBl 2005, 525 (527). 745  Ebenso wohl Schmidt-Aßmann, Verwaltungsrechtliche Dogmatik, 2013, S. 158; Schwind, Netzwerke im Europäischen Verwaltungsrecht, 2017, S. 311 f. sowie Möllers, der als Lösung des Problems für die Entwicklung eines völkerrechtlichen Verwaltungsrechts plädiert: vgl. Möllers, ZaöRV 2005, 352 (384). 741  Möllers,

742  Ladeur/Möllers,



D. Bewertung am Maßstab primärrechtlicher Grundsätze399

von oben über die EU-Ebene an.746 Zwar muss jede Form von Hoheitsgewalt entsprechend des Grundsatzes der beschränkten Einzelermächtigung zunächst von den Mitgliedstaaten und somit von unten auf die EU übertragen werden. Gibt die EU-Ebene Kompetenzen aber an die nationalen Fachbehörden zurück bzw. transferiert sie sie auf eine zwischen EU und Mitgliedstaaten liegende Netzwerkebene,747 bestehen viele Möglichkeiten, das Beziehungsgeflecht organisatorisch in das institutionelle Gefüge des Verwaltungsverbunds zu integrieren und an legalitätssichernde Aufsichtsstrukturen zu binden. Weiterhin kann der Unionsgesetzgeber unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes sowie des Subsidiaritätsprinzips Verfahrensregelungen für die Staaten und Ebenen übergreifende Zusammenarbeit erlassen, die den komplexen demokratischen Anforderungen Rechnung tragen und staatliche Fachbehörden ohne Umweg über die nationalen Regierungen miteinander verkoppeln können.748 Im Ergebnis lässt sich also festhalten, dass die hier diskutierten Practitioner Networks ihr Tätigkeitsfeld auf informellem Weg nicht einfach in eigener Initiative oder in Reaktion auf politischen Druck von Seiten der Kommission in den Bereich der Vollzugsregulierung hinein ausdehnen können. Der hohe Grad an Informalität, der Practitioner Networks im Umweltsektor gegenwärtig prägt, lässt sich mit Blick auf die Erfordernisse rechtsstaatlicher Legalität und demokratischer Legitimation nur aufrechterhalten, solange sich ihr Einfluss auf bloße Unterstützungs- und Informationsleistungen für die zuständigen nationalen Vollzugsakteure und EU-Institutionen beschränkt. Diese Tätigkeiten mögen ebenfalls vollzugsharmonisierend wirken, ihre faktische Bindungskraft bleibt aber klar hinter dem Output gezielt vollzugssteuernder Regulierungsnetzwerke zurück. Eine Erweiterung gestalterischer Befugnisse auf die Vollzugspraxis der Mitgliedstaaten käme im Umweltsektor nur im Zuge einer unionsrechtlichen Formalisierung bestehender Netzwerkstrukturen in Betracht. d) Netzwerkformalisierung am Beispiel des Gremiums Europäischer Regulierungsbehörden für Elektronische Kommunikation (GEREK) Sollen bestimmte Akteure mit der (faktischen) Harmonisierung der Vollzugspraxis in den EU-Mitgliedstaaten betraut werden, bedarf es dazu eines 746  Zum Konzept der „double delegation of powers and functions“ auf Regulierungsnetzwerke: Coen/Thatcher, JPP 2008, 49 (48); Maggetti, WEP 2014, 497 (498). 747  Insoweit von einer dritten „transnationalen“ Ebene sprechend: Ladeur/Möllers, DVBl 2005, 525 (527). 748  Vgl. Möllers, ZaöRV 2005, 352 (365).

400

3. Teil: Netzwerke im Bereich der Vollzugskontrolle

Rechtsrahmens, der die Zusammenarbeit legitimatorisch absichert und die Erfüllung rechtsstaatlicher Erfordernisse verfahrens- und organisationsrechtlich gewährleistet. So könnten verfahrensrechtliche Vorkehrungen getroffen werden, die Entscheidungsabläufe möglichst transparent gestalten, die Publizität des Netzwerk Outputs gegenüber der Öffentlichkeit gewährleisten und den Willensbildungsprozess der Behörden auch gegenüber unterrepräsentierten Interessengruppen öffnen.749 In organisatorischer Hinsicht dürfen Regulierungsnetzwerke nicht einfach im rechtsfreien Raum zwischen den Ebenen schweben, sondern müssen so weit wie möglich in die Regulierungsstruktur und Legitimationszusammenhänge zwischen EU und Mitgliedstaaten eingegliedert werden. Anhaltspunkte, wie umweltrelevante Practitioner Networks in formalisierter Form aussehen könnten, liefert die verfahrens- und organisationsrechtliche Gestaltung des Gremiums Europäischer Regulierungsbehörden für Elektronische Kommunikation (GEREK), das nationale Regulierungsbehörden in einer gemeinsamen Organisationsstruktur miteinander vernetzt und ihnen sowie den Institutionen der EU als Beratungsinstanz und Ansprechpartnerin zur Verfügung steht.750 GEREK wurde 2010 im Zuge der Reform des EU-Telekommunikationsrechts durch die GEREK-Verordnung (EG) Nr. 1211/2009751 als EU-Insti­ tution ohne eigene Rechtspersönlichkeit752 eingerichtet, um die einheitliche Umsetzung des Rechtsrahmens für die elektronische Kommunikation innerhalb der EU durch die Bereitstellung eines kohärenten Regulierungsansatzes zu gewährleisten (Art. 3 II GEREK-Verordnung (EU) Nr. 2018/1971). Während das Gremium nationale Regulierungsbehörden vor allem durch die Erarbeitung guter Regulierungspraktiken, Leitlinien, Empfehlungen und Berichte in allen technischen Fragen, die die elektronische Kommunikation betreffen, von Amts wegen unterstützt (Art. 4 I b) GEREK-Verordnung (EU) 749  Vgl.

Möllers, ZaöRV 2005, 352 (385). in: Dauses/Ludwigs, Hdb. des EU-Wirtschaftsrechts, 31. EL 2021, E.V. Rn. 127; Schwind, Netzwerke im Europäischen Verwaltungsrecht, 2017, S.  243 f. 751  Verordnung (EG) Nr. 1211/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. November 2009 zur Einrichtung des Gremiums Europäischer Regulierungsstellen für elektronische Kommunikation (GEREK) und des Büros, ABl. 2009, Nr. L 337, S. 1, aufgehoben und ersetzt durch: Verordnung (EU) 2018/1971 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Dezember 2018 zur Einrichtung des Gre­ miums europäischer Regulierungsstellen für elektronische Kommunikation (GEREK) und der Agentur zur Unterstützung des GEREK (GEREK-Büro), zur Änderung der Verordnung (EU) 2015/2120 und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1211/2009, ABl. 2007, Nr. L 321, S. 1 ff. 752  Holznagel/Schumacher, in: Joost/Oetker/Paschke, FS Säcker, 2011, S. 746; Oster/Wagne, in: Dauses/Ludwigs, Hdb. des EU-Wirtschaftsrechts, 53. EL 2021, E.V. Rn. 127. 750  Oster/Wagne,



D. Bewertung am Maßstab primärrechtlicher Grundsätze401

Nr. 2018/1971), berät es die Kommission auf Antrag bei der Ausarbeitung von Gesetzesentwürfen (Art. 4 I b) GEREK-Verordnung (EU) Nr. 2018/1971). Als von politischen Einflüssen unabhängiges Forum für die Zusammenarbeit zwischen nationalen Regulierungsbehörden und der Kommission (Erwgr. 5 und 22, Art. 3 III GEREK-Verordnung (EU) Nr. 2018/1971) erfüllt GEREK die Funktion, Fachwissen im Bereich der elektronischen Kommunikation zu bündeln und den beteiligten Akteuren eine Diskussionsplattform zur Verfügung zu stellen (Erwgr. 5, 6, 13 und 17 sowie Art. 3 IV GEREK-Verordnung (EU) Nr. 2018/1971). Zwar wird GEREK in der Verordnung nicht ausdrücklich als Netzwerk bezeichnet. Mit Blick auf seine Zusammensetzung aus den selbstständigen Telekommunikations-Regulierungsbehörden der Mitgliedstaaten und seine grundsätzlich horizontale Struktur, liegt eine Einordnung unter den Netzwerkbegriff allerdings nahe.753 Vergleicht man den Aufgabenzuschnitt des GEREK mit dem Tätigkeitsfeld der Practitioner Networks im Umweltsektor, sind die Ähnlichkeiten unverkennbar.754 Während für IMPEL, NEPA, EUFJE, ENPE oder EnviCrimeNet aber weder organisations- noch verfahrensrechtliche Vorgaben existieren, hat das Netzwerk europäischer Telekommunikations-Regulierungsbehörden mit der Institutionalisierung des GEREK eine weitreichende unionsrechtliche Formalisierung erfahren. So enthält die GEREK-Verordnung nicht nur Vorgaben zur Organisation (Art. 5–13 GEREK-Verordnung (EU) Nr. 2018/1971), sondern auch zu Transparenz und Datenschutz (Art. 36 und 37 GEREKVerordnung (EU) Nr. 2018/1971), Haftungsfragen (Art. 44 GEREK-Verordnung (EU) Nr. 2018/1971) sowie zur Zusammenarbeit mit Drittstaaten und internationalen Organisationen (Art. 35 GEREK-Verordnung (EU) Nr. 2018/ 1971). Den eingegliederten Fachbehörden kommt bei der Erfüllung ihrer Aufgaben weitreichende Unabhängigkeit zu. Indem sich die GEREK-Verordnung inhaltlich nicht an die staatlichen Regierungen, sondern direkt an die fachspezifischen nationalen Regulierungsbehörden wendet, wird ihre Verselbstständigung von der politischen Kontrolle der jeweiligen Regierungsebene formal anerkannt und eine direkte effektivitätsorientierte Verknüpfung zwischen nationalen Fachbehörden hergestellt.755 Der Kommission, die selbst nicht Mitglied des GEREK ist, werden innerhalb der Kooperationsbeziehung ähnliche Befugnisse zur Beteiligung an der 753  Kahl, in: Holoubek/Lang, Verfahren der Zusammenarbeit von Verwaltungsbehörden in Europa, 2012, S. 41; anders wohl Schwind, der zwischen dem Netzwerk europäischer Telekommunikations-Regulierungsbehörden und GEREK unterscheidet: Schwind, Netzwerke im Europäischen Verwaltungsrecht, 2017, S. 256. 754  So wohl auch: Schwind, Netzwerke im Europäischen Verwaltungsrecht, 2017, S. 243. 755  Möllers, ZaöRV 2005, 352 (365).

402

3. Teil: Netzwerke im Bereich der Vollzugskontrolle

Netzwerkzusammenarbeit eingeräumt wie im Rahmen von IMPEL. So verfügt sie über das Recht, an allen Sitzungen des Regulierungsrates ohne Stimmrecht (Art. 7 IV GEREK-Verordnung (EU) Nr. 2018/1971) sowie an Arbeitsgruppen (Art. 13 III GEREK-Verordnung (EU) Nr. 2018/1971) teilzunehmen. Gemäß Art. 4 I b) GEREK-Verordnung (EU) Nr. 2018/1971 hat sie zudem das Recht, Unterstützung und Beratung des GEREK bei der Erarbeitung von Gesetzesentwürfen zu beatragen. Doch wenngleich das Verhältnis der Kommission zu GEREK ihrer Beziehung gegenüber den noch immer informellen Practitioner Networks im Umweltsektor auf den ersten Blick ähnelt, kommt der Kommission gegenüber GEREK doch eine stärke Stellung zu. Während die Kommission im Rahmen von IMPEL von Organisationsentscheidungen, die das Netzwerk betreffen ausgeschlossen sein soll, ist ein Kommissionsvertreter direktes Mitglied im Regulierungsrat von GEREK (Art. 15 I GEREK-Verordnung (EU) Nr. 2018/1971). Zudem ist die Kommission sowohl in die Ausarbeitung der jährlichen und mehrjährigen Arbeitsprogramme als auch des Haushaltsplans eingebunden (Art. 21, 23 I UAbs. 2, 24 III, IV GEREK-Verordnung (EU) Nr. 2018/1971). Aussagen zur Bindungskraft des von GEREK erlassenen Soft Laws enthalten sowohl Art. 4 IV GEREK-Verordnung (EU) Nr. 2018/ 1971 als auch Art. 10 II der Richtlinie über elektronische Kommunikation (2018/1972/EU756), wonach die nationalen Regulierungsbehörden sowie die Kommission allen Leitlinien, Stellungnahmen, Empfehlungen, gemeinsamen Standpunkten und bewährten Verfahren „weitestmöglich Rechnung tragen“ sollen. Zwar sprechen die relativierende Formulierung sowie das Fehlen rechtlicher Konsequenzen bzw. Sanktionen bei Verstößen innerhalb der GEREKVerordnung und der Richtlinie über elektronische Kommunikation gegen eine absolute, formalrechtliche Befolgungspflicht.757 Die Entscheidung staatlicher Hoheitsträger, GEREK-Standards zu missachten, könnte mit Blick auf Art. 4 III EUV aber einer Rechtfertigung bedürfen. Ähnlich wie in den Practitioner Networks im Umweltsektor spielt der Austausch von Informationen, Praxiserfahrungen und Fachwissen auch bei der Tätigkeit von GEREK eine zentrale Rolle.758 Zwar handelt es sich bei dem Gremium um eine institutionalisierte EU-Einrichtung. Agenturqualität hat es jedoch (noch) nicht.759 Vergleichbar mit der Rolle von IMPEL in der Debatte 756  Richtlinie (EU) 2018/1972 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Dezember 2018 über den europäischen Kodex für die elektronische Kommunikation (Neufassung), ABl. 2018, Nr. L 321, S. 36 ff. 757  Insoweit von einer „Obliegenheit“ sprechend: Schwind, Netzwerke im Europäischen Verwaltungsrecht, 2017, S. 246. 758  Vgl. Schwind, Netzwerke im Europäischen Verwaltungsrecht, 2017, S. 242, 251 f. 759  BNetzA, BEREC, o.  D., https://www.bundesnetzagentur.de/DE/Allgemeines/ DieBundesnetzagentur/Internationales/Telekommunikation/BEREC/start.html (Stand: 14.2.2023).



D. Bewertung am Maßstab primärrechtlicher Grundsätze403

um die Einrichtung eines EU-Umweltinspektorats, wurde auch GEREK zunächst als Surrogat einer europäischen Telekommunikationsagentur760 mit eigenen Entscheidungskompetenzen geschaffen,761 deren Errichtung am Widerstand der EU-Mitgliedstaaten scheiterte.762 Da GEREK in den vergangenen Jahren kontinuierlich mit neuen Befugnissen763 ausgestattet wurde und bei seiner Aufgabenerfüllung an Stelle eines eigenen Sekretariats mittlerweile von einer EU-Agentur mit eigener Rechtspersönlichkeit – dem GEREKBüro764 (vgl. Art. 2, 5 a) – j) GEREK-Verordnung (EU) Nr. 2018/1971) – unterstützt wird, wird das Gremium in der Literatur überwiegend als eine Art Vorstufe zur Einrichtung einer EU-Agentur aufgefasst.765 Zwar hatte die Kommission in ihrem 2016 ausgearbeiteten Vorschlag für eine neue, die bisherige Verordnung (EG) Nr. 1211/2009 ersetzende GEREK-Verordnung ­ angeregt, die Verwaltungsstruktur des Gremiums durch seine Umwandlung in eine EU-Agentur zu stärken.766 Der neuen GEREK- Verordnung (EU) Nr. 2018/1971 lässt sich neben einer deutlichen Erweiterung des Aufgaben­ repertoires allerdings keine organisationsrechtliche Statusänderung entnehmen. Im Umweltbereich gibt es bisher keine konkreten Anhaltspunkte, die auf einen mit dem Telekommunikationssektor vergleichbaren Entwicklungskurs hindeuten würden. Die Frage, inwieweit umweltrelevante Practitioner Networks in Zukunft mit Elementen der Regulierung angereichert und formali760  Vgl. KOM, Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Einrichtung der Europäischen Behörde für die Märkte der elektronischen Kommunikation, 13.11.2007, KOM(2007) 699 endg. 761  Kahl, in: Holoubek/Lang, Verfahren der Zusammenarbeit von Verwaltungsbehörden in Europa, 2012, S. 38. 762  Zur Einrichtung formalisierter Regelungsnetzwerke als Alternative zur Errichtung selbstständiger EU-Regulierungsagenturen: Thatcher, JEEP 2011, 790 (804 f.). 763  Insbesondere wurde GEREK die Aufgabe übertragen, „in enger Zusammenarbeit mit der Kommission Leitlinien für die Umsetzung der Verpflichtungen der nationalen Regulierungsbehörden“ zu erlassen, Art. 5 III Verordnung (EU) 2015/2120 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. November 2015 über Maßnahmen zum Zugang zum offenen Internet und zur Änderung der Richtlinie 2002/22/EG über den Universaldienst und Nutzerrechte bei elektronischen Kommunikationsnetzen und -diensten sowie der Verordnung (EU) Nr. 531/2012 über das Roaming in öffentlichen Mobilfunknetzen in der Union, ABl. 2015, Nr. L 310, S. 1 ff. 764  Dazu im Detail: Schwind, Netzwerke im Europäischen Verwaltungsrecht, 2017, S.  247 f. 765  Coen/Thatcher, JPP 2008, 49 (55 f.); Kahl, in: Holoubek/Lang, Verfahren der Zusammenarbeit von Verwaltungsbehörden in Europa, 2012, S. 38; sogar bereits von einer Regulierungsagentur sprechend: Thatcher, JEEP 2011, 790 (804 f.). 766  KOM, Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Einrichtung des Gremiums europäischer Regulierungsstellen für elektronische Kommunikation (GEREK), 14.9.2016, COM(2016) 591 final, S. 2.

404

3. Teil: Netzwerke im Bereich der Vollzugskontrolle

siert werden könnten, ist also zumindest gegenwärtig theoretischer Natur. GEREK, das zwar weisungsunabhängig und umfassend formalisiert ist, aber dennoch keine EU-Agentur darstellt, bietet eine Gestaltungsidee, die in Anbetracht eines gewissen Harmonisierungsbedürfnisses im Bereich des EUUmweltrechtsvollzugs als Entwicklungsperspektive relevant werden könnte. Schließlich lässt sich der informelle Charakter der hier dargestellten Practitioner Networks nur aufrechterhalten, solange sich ihr Tätigkeitsspektrum auf Unterstützungs- und Informationstätigkeiten beschränkt, ohne dabei auf eine gezielte Harmonisierung des EU-Umweltrechtsvollzugs hinzuarbeiten. Sollten umweltrelevante Practitioner Networks eines Tages weiterreichende (Regulierungs-)Aufgaben übernehmen, bedürfte es dazu einer unionsrechtlichen Überformung bestehender Netzwerkstrukturen, die zumindest für administrative Behördennetzwerke nicht ausgeschlossen erscheint. Für das aus Rich­ ter*innen zusammengesetzte EUFJE dürfte eine entsprechende, die Bindungskraft und Harmonisierungswirkung des Netzwerk Outputs verstärkende Fortentwicklung mit Blick auf den Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit indes nicht in Frage kommen.

E. Auswertung Netzwerke sind in den vergangenen Jahren zu einem festen Bestandteil des EU-Vollzugskontrollsystems in den Bereichen Compliance Promotion und Compliance Monitoring avanciert. Der im europäischen Verwaltungs- und Kontrollverbund verankerte Kooperationsgedanke wurde durch diese Entwicklung nicht nur aufgegriffen, sondern geradezu in seiner Essenz zum Ausdruck gebracht. Zwar ist die Kommission in der Regel nicht direkt an der netzwerkinternen Zusammenarbeit beteiligt oder in die Mitgliederstruktur eingegliedert. Über finanzielle oder politische Einflüsse vermag sie dennoch auf Ziele und Aktivitäten umweltrelevanter Netzwerke einzuwirken und sie somit gewissermaßen für sich bzw. in ihrem Sinne arbeiten zu lassen. Die supranationale Vollzugskontrolltätigkeit kann hiervon profitieren, ohne dass es dazu des Einsatzes kommissionseigener Kapazitäten bedürfte. Im Compliance Promotion Bereich kann die Kommission die in den Practitioner Networks IMPEL, NEPA, EUFJE, ENPE und EnviCrimeNet vorhandenen Ressourcen und Fachkenntnisse mobilisieren, Initiativen zur Verbesserung des EU-Umweltrechtsvollzugs anregen oder die dort konzentrierte Expertise selbst zu Beratungszwecken bei der Ausarbeitung neuer EU-Umweltrechtsakte oder bei der Weiterentwicklung ihrer Compliance-AssuranceStrategie heranziehen. Auf eigene Regelungs- oder Anordnungsbefugnisse muss sie dabei nicht zurückgreifen, so dass ihre kompetenzrechtlich schwache Ausstattung an dieser Stelle keine Rolle spielt. Die Förderung von Prac-



E. Auswertung405

titioner Networks instrumentalisiert das mitgliedstaatliche Eigeninteresse, EU-Umweltrechtsakte ordnungsgemäß zu befolgen und Vertragsverletzungsverfahren zu vermeiden. Aus Perspektive der Kommission eröffnen sich somit Möglichkeiten, Impulse zu setzen und im Wege einer indirekten Steuerung auf die Vollzugsebene einzuwirken. Die staatliche Souveränität wird dabei geschont, so dass Widerstände, die der Kommission direkte, imperative Kontrollen erschweren könnten, umgangen werden. Im Compliance Monitoring Bereich unterstützt das von der EUA koordinierte EIONET die Kommission durch die Bereitstellung qualitativ hochwertiger, aussagekräftig aufbereiteter und möglichst vergleichbarer Umweltdaten. EIONET fungiert dabei als Informationsverarbeitungs- und Übermittlungssystem, das den maximalen Nutzen aus bereits bestehenden Informationspflichten herausholen soll und dem Umstand Rechnung trägt, dass die Kommission bei der Vollzugsüberwachung im Umweltsektor auf die Mitgliedstaaten als Informationsquelle angewiesen ist. An der Kompetenzordnung der EU sowie den unionsrechtlichen Ausprägungen des Demokratie- und Rechtsstaatsprinzips gemessen, stößt die freiwillige Kooperation in Netzwerken weder im Bereich Compliance Promotion noch im Bereich Compliance Monitoring auf Bedenken. Dies gilt zumindest, solange sich die bezeichneten Kooperationsstrukturen auch weiterhin auf beratende oder informationsverwaltende Unterstützungsleistungen beschränken und die letztendliche Implementation des Netzwerk Outputs umweltrelevanter Practitioner Networks sowie die Inanspruchnahme des über EIONET bereitgestellten Informationsangebots der Entscheidung nationaler Hoheitsträger überlassen.

4. Teil

Imperative und kooperative Kontrollen als Träger des Vollzugskontrollsystems im EU-Umweltrecht: Beschreibungsmodell und Thesen Den dezentralen Vollzug des hochkomplexen, anspruchsvollen EU-Umweltrechts aus der supranationalen Perspektive heraus zu kontrollieren, entspricht einem Balanceakt im Spannungsverhältnis zwischen dem Bedürfnis, Unionsrecht notfalls gegen den Willen der Mitgliedstaaten zur Geltung zu verhelfen und dem Erfordernis, Rücksicht auf die nationale Souveränität zu nehmen, um den grundlegenden Konsens über die europäische Integration nicht zu gefährden. Vollzugskontrolle verlangt dementsprechend nicht nur die Ausübung von Kontrollkompetenzen und den Aufbau eines aufgabengerechten effektiven Instrumentariums, sondern auch politische Sensibilität. Anstatt jeden Verstoß mit dem großkalibrigen Vertragsverletzungsverfahren zu verfolgen, bedarf es eines abgewogenen und differenzierten Vorgehens, um die Akzeptanz der Mitgliedstaaten nicht zu verlieren, gleichzeitig aber das Erreichen der europäischen Umweltziele sicherzustellen.1 Die Kommission hat diese Problematik offenbar erkannt und eine umfangreiche Compliance-Assurance-Strategie entwickelt, die verschiedene Handlungs­alternativen bietet und ständig um neue Instrumente, Initiativen und Strategien erweitert wird. Vor diesem Hintergrund gilt es nun die eingangs aufgeworfene Frage zu beantworten, wie sich die Entstehung und Einbeziehung europaweit aktiver Netzwerke auf die Vollzugskontrolle des EU-Umweltrechts ausgewirkt hat. Hierzu konnten auf Grundlage der Untersuchungen im Rahmen dieser Arbeit drei Thesen entwickelt werden.

A. Herausbildung einer imperativ-kooperativen Zwei-Säulen-Struktur Nachdem die Sicherstellung des effektiven Vollzugs in den Mitgliedstaaten für lange Zeit hinter der legislativen Entwicklung des EU-Umweltrechts zurückgestanden hatte, wurde das Vollzugskontrollsystem der Union in den vergangenen Jahren zu einem diversen System ausgebaut, das entgegen tra1  Everling,

in: Depenheuer/Heintzen u. a., FS Isensee, 2007, S. 791.



A. Herausbildung einer imperativ-kooperativen Zwei-Säulen-Struktur 407

ditionellen, vom nationalstaatlichen Aufsichtsbegriff geprägten Kontroll­ konzeptionen präventive und repressive, imperative top-down- sowie kooperative bottom-up-Instrumente miteinander verbindet. Ähnlich wie bereits in der englischsprachigen Fachliteratur unter Heranziehung des Begriffspaars Enforcement und Management modellhaft beschrieben,2 lassen auch die im Rahmen dieser Arbeit durchgeführten Untersuchungen erkennen, dass das EU-Vollzugskontrollsystem heute im Wesentlichen von zwei Säulen getragen wird,3 die sich mit Blick auf ihre Entwicklungsgeschichten und Motiva­ tionsgrundlagen voneinander abgrenzen lassen.

I. Imperative Durchsetzung und kooperative Problembewältigung als Säulen der Vollzugskontrolle Die erste Säule bildet die imperative Durchsetzung unionsrechtlicher Vorgaben, deren Kernstück das in die Jahre gekommene, aber keinesfalls bedeutungslos gewordene4 Vertragsverletzungsverfahren konstituiert. Die Motivation dieses „klassischen“ kontrollpolitischen Ansatzes besteht darin, den Vollzug des EU-(Umwelt-)Rechts in den Mitgliedstaaten auch unter Überwindung nationaler Widerstände zu erreichen. Da das Vertragsverletzungsverfahren seit jeher im Primärrecht verankert ist und bereits in einem frühen Entwicklungsstadium der europäischen Integration praktische Relevanz erlangt hat,5 war diese erste Säule schon immer Teil des Vollzugskontrollsystems der EU. Durch Initiativen zur Verbesserung der Verfahrensmechanismen wurde die imperative Durchsetzung von der Kommission im Rahmen von Mitteilungen, durch die Vertragsstaaten im Zuge des Vertrags von Lissabon, aber auch durch die unionsgerichtliche Rechtsprechung in den vergangenen Jahren stetig ausgebaut und weiter gestärkt. Zu diesen Initiativen zählten neben dem verschärften Einsatz finanzieller Sanktionen,6 der Mobili2  Dazu:

1. Teil, A. III. 2. dem Vertragsverletzungsverfahren und der Einbeziehung nationaler Behörden in Netzwerke vom Beschwerderecht der europäischen Öffentlichkeit als „third component“ sprechend: Hedemann-Robinson, EEELRev 2015, 115 (117); um von einer dritten Säule sprechen zu können, wird die Beteiligung der europäischen Öffentlichkeit im Rahmen dieser Arbeit dagegen noch nicht als stark genug ausgeprägt angesehen. 4  So bereits die Prognose Macrorys 1992: Macrory, CMLR 1992, 347 (348); ebenfalls: KOM, Mitteilung an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen, Sicherung der Vorteile aus der EU-Umweltpolitik durch regelmäßige Umsetzungskontrollen, 27.5.2016, COM(2016) 316 final, S. 4. 5  Dazu: 2. Teil, A. 6  Dazu: 2. Teil, B. IV. 2. a). 3  Neben

408 4. Teil: Imperative und kooperative Kontrollen im Vollzugskontrollsystem

sierung der Unionsbürgerinnen und Bürger durch Vertragsverletzungs­ beschwerden7 und der Einführung des EU-Pilot-Verfahrens8 durch die Kommission auch die Aufnahme eines verkürzten Verfahrens in das Primärrecht9 sowie der Erlass einstweiliger Anordnungen durch den EuGH.10 Auf der anderen Seite hat die Kommission unter den kontrollpolitischen Leitbegriffen Compliance Promotion und Compliance Monitoring weitgehend ungeregelte Mechanismen gefördert, die auf die kooperative Bewältigung bestehender Vollzugs- und Vollzugskontrollprobleme hinarbeiten. In jüngerer Zeit ist somit eine zweite Säule errichtet worden, die sich in funk­ tionswesentlichen Merkmalen von der imperativen Durchsetzung im Wege des Vertragsverletzungsverfahrens unterscheidet. Die Zusammenarbeit mitgliedstaatlicher und/oder europäischer Vollzugsakteure in international aktiven Netzwerken verkörpert die Idee der kooperativen Problembewältigung in ihrer Reinform. Sie bildet den integralen Bestandteil dieser zweiten Säule, der durch den Austausch von Erfahrungen und Informationen nicht nur auf staatlicher Ebene dringend benötigte Vollzugskapazitäten aufbauen, sondern auch Ressourcen- und Kompetenzdefizite der Kommission bei der Über­ wachung des dezentralen Vollzugs kompensieren soll.11 Mit den Practitioner Networks IMPEL, EUFJE, ENPE, NEPA und EnviCrimeNet sowie dem Umweltüberwachungsnetzwerk EIONET haben sich Strukturen herausgebildet, in denen nationale Behörden miteinander kooperieren und von der Kommission zwar gefördert bzw. teilweise dirigiert werden, aber dennoch nahezu selbsttätig darauf hinarbeiten, den EU-Umweltrechtsvollzug in den Mitgliedstaaten zu verbessern und den Rückgriff auf Instrumente der imperativen Durchsetzung zu vermeiden.

II. Wesensmerkmale imperativer und kooperativer Kontrollen im Vergleich Kooperative Problembewältigungsmechanismen, insbesondere Netzwerkstrukturen, haben seit den 1990er-Jahren stark an Bedeutung gewonnen, so dass ihnen im Verhältnis zu der seit jeher bestehenden ersten Säule der imperativen Durchsetzung mittlerweile die Funktion eines äquivalenten Trägers des EU-Vollzugskontrollsystems zukommt. Mit dem Ziel, die Vollzugs­ leistungen staatlicher Behörden Schritt für Schritt zu verbessern, ohne das machtpolitische Spannungsverhältnis zwischen nationalem Souveränitätsden7  Dazu:

2. Teil, C. I. 2. Teil, C. II. 9  Dazu: 2. Teil, C. III. 10  Dazu: 2. Teil, C. IV. 11  Dahingehend: Mastenbroek/Martinsen, JEPP 2018, 422 (422 f.). 8  Dazu:



A. Herausbildung einer imperativ-kooperativen Zwei-Säulen-Struktur 409

ken und der voranschreitenden europäischen Integration überzustrapazieren, greift die Kommission heute auf beide Säulen zurück, indem sie imperative Durchsetzungs- und kooperative Problembewältigungsmechanismen kombi­ niert,12 so dass auch imperative Vollzugskontrollinstrumente mit Elementen der Zusammenarbeit durchgesetzt werden, während der Einsatz kooperativer Instrumente nicht frei von politischem oder finanziellem Befolgungsdruck sein muss. Überschneidungen und Überlagerungen zwischen kooperativen und imperativen Kontrollen lassen sich dementsprechend nicht ausschließen. Bevor jedoch im Folgenden darauf eingegangen werden kann, an welchen Stellen und in welchem Umfang sich die hier dargestellten Säulen einander annähern, soll zu Verständniszwecken zunächst aufgezeigt werden, dass sich ihre Ausganspunkte – sozusagen die Fundamente beider Säulen – nicht nur in ihrer jeweiligen Entwicklungsgeschichte und kontrollpolitischen Motivation unterscheiden, sondern sich zumindest im Grundsatz auch anhand konkreter Wesensmerkmale voneinander abgrenzen lassen. Die Tragweite, aber auch die Feinheiten beider Säulen lassen sich nur anhand einer vergleichenden Betrachtung verdeutlichen, wobei der Darstellungsfokus zunächst auf die funktionswesentlichen Unterschiede gelegt werden soll. 1. Vollzugskontrolle in hierarchischen und heterarchischen Strukturen Im Unterschied zu den kooperativen Problemlösungsmechanismen, zu denen die Zusammenarbeit in Netzwerken zählt, zeichnet sich das imperative Vertragsverletzungsverfahren zunächst durch seine hierarchische Struktur aus, die für die Wirkungsweise des Instruments nicht nur wichtig, sondern funktionswesentlich ist. Der Mechanismus des Vertragsverletzungsverfahrens arbeitet mit finanziellem und politischem Überzeugungsdruck, den die Kommission nur aufbauen kann, weil ihr im Verhältnis zu den Mitgliedstaaten eine übergeordnete Position zukommt. Zwar obliegt die Letztentscheidung über das Vorliegen einer Vertragsverletzung oder die Verhängung einer finanziellen Sanktion dem EuGH. Auch bietet das Vertragsverletzungsverfahren im Ernstfall keine Möglichkeit, Urteile gegenüber einem absolut befolgungsbzw. zahlungsunwilligen Staat zwangsweise durchzusetzen.13 Die Kommission entscheidet jedoch über die Einleitung, den Gegenstand und den Fortgang des Verfahrens.14 Damit hat sie es in der Hand, eine Drohkulisse aufzubauen und den Druck auf nationale Entscheidungsträger zu regulieren.

IO 2002, 609 (632). 2. Teil, B. IV. 3. 14  Dazu: 2. Teil, B. V. 12  Tallberg, 13  Dazu:

410 4. Teil: Imperative und kooperative Kontrollen im Vollzugskontrollsystem

Dass eine im Grundsatz heterarchische Bauweise zu den typischen Netzwerkcharakteristika zählt, wurde im dritten Teil dieser Arbeit bereits ein­ gehend erörtert.15 Insbesondere die hier diskutierten Practitioner Networks, IMPEL, NEPA, EUFJE, ENPE und EnviCrimeNet zielen darauf ab, Vollzugsprobleme in den Mitgliedstaaten auf Augenhöhe in einem kollegialen Umfeld zu lösen. Da ein effektives, entpolitisiertes Kooperationsklima durch die Beteiligung einer übergeordneten Aufsichtsinstanz gestört werden würde, hat sich die Kommission aus allen dargestellten Netzwerken weitgehend zurückgezogen. Schließlich wäre bereits eine mit anderen Netzwerkmitgliedern gleichberechtigte Teilnahme geeignet, das Problemlösungspotenzial paneuropäischer Umweltnetzwerke herabzusetzen, da die Mitgliedstaaten stets fürchten müssten, durch den Austausch vollzugsrelevanter Informationen Vollzugsdefizite zu verraten und deshalb von der Kommission ins Visier eines Vertragsverletzungsverfahrens genommen zu werden. Eine unbefangene, allein an der Verbesserung nationaler Vollzugspraktiken orientierte Zusammenarbeit wäre unter diesen Bedingungen kaum möglich. Die heterarchische Bauweise ist für die Funktionsfähigkeit europäischer Practitioner Networks als kooperative Problemlösungsmechanismen demnach von gleichermaßen wesentlicher Bedeutung wie die übergeordnete Position der Kommission für die Durchsetzungskraft des Vertragsverletzungsverfahrens. Eine grundlegend heterarchische Bauweise zeigt auch EIONET, in dessen Zentrum mit der EUA zwar eine Unionsinstitution steht, die trotz ihrer formalen Unabhängigkeit u. a. als Informationsdienstleister für die Kommission agiert.16 Da die EUA aber selbst über keine Eingriffsbefugnisse gegenüber den Mitgliedstaaten verfügt, schließt ihre Funktion als Knotenpunkt und Moderatorin eine Zusammenarbeit auf Augenhöhe nicht aus. Letztlich handelt es sich bei EIONET ebenfalls um einen kooperativen Problembewältigungsmechanismus, der zwar auch den mitgliedstaatlichen Vollzug durch Informationen unterstützt, vor allem aber Informationsgewinnungs- und Aufarbeitungskapazitäten mobilisiert, die der Kommission in Ermangelung eigener Ressourcen und aktiver Investigationsbefugnisse bei der Überwachung des EUUmweltrechtsvollzugs zugutekommen. Während über die Säule der imperativen Durchsetzung also politischer Druck aufgebaut wird, um die Befolgung unionsrechtlicher Vorgaben zu erreichen, soll die Zusammenarbeit in Netzwerken dies gerade vermeiden, um die Mitgliedstaaten zu einer möglichst bereitwilligen, eigenständigen – und für die Kommission somit ressourcenschonenden – Verbesserung ihrer Vollzugsleistungen anzuregen. Zwar wirkt die Kommission im Hintergrund noch immer als finanziell und politisch dirigierende Kraft, so dass sie zumindest 15  Dazu: 16  Dazu:

3. Teil, A. III. 1. b). 3. Teil, C. II. 5. b).



A. Herausbildung einer imperativ-kooperativen Zwei-Säulen-Struktur 411

von außen Leistungsdruck auf die dargestellten Netzwerke ausüben kann. Im netzwerkinternen Bereich kommt es jedoch maßgeblich auf das Bestehen einer vertraulichen, gleichgeordneten Atmosphäre an, die möglichst alle Mitglieder motiviert, Vollzugsprobleme offen zu diskutieren, bei Schwierigkeiten um Rat zu bitten und ungeschönte Informationen bereitzustellen. 2. Monopolisierte und partizipative Vollzugskontrolle Ein weiteres funktionswesentliches Merkmal, das die erste Säule der Vollzugskontrolle auszeichnet, ist die darin vorgesehene Monopolstellung der Kommission. Zwar können grundsätzlich auch die Mitgliedstaaten nach Maßgabe des praktisch bisher kaum relevanten Art. 259 AEUV Vertragsverletzungsklage erheben. Auch hier bleibt die Kommission aber in einer dominierenden Position, die sie von nationalen Entscheidungsträgern, aber auch von anderen Unionsorganen unterscheidet.17 Das bedeutendere, von der Kommission initiierte Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 258 AEUV kennt keine anderen Verfahrensbeteiligten als die Kommission, den EuGH und den jeweils betroffenen Mitgliedstaat. Werden im Verfahrensverlauf Stellungnahmen ausgetauscht, bleiben diese grundsätzlich bis zum Abschluss des Verfahrens unter Verschluss.18 Selbst gegenüber Beschwerdeführenden, die die Entdeckung der potenziellen Vertragsverletzung überhaupt erst ermöglicht haben, kommen der Kommission nur sporadische Informationspflichten zu.19 Eine Partizipation Außenstehender zum Zweck der Verifikation einer vermuteten Vertragsverletzung sieht der Mechanismus des Vertragsverletzungsverfahrens bisher nicht vor. Die zweite Säule kooperativer Problembewältigungsmechanismen folgt einem grundsätzlich gegenläufigen Konzept. Um Vollzugsprobleme in den Mitgliedstaaten möglichst effektiv lösen zu können, setzen Netzwerke auf die Partizipation einer geeigneten Auswahl, leistungsfähiger und lernwilliger 17  Dazu:

2. Teil, V. 1. d). Art. 4 II Str. 3, 6 I 1 der Verordnung (EG) Nr. 1049/2001 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 30. Mai 2001 über den Zugang der Öffentlichkeit zu Dokumenten des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission, ABl. 2001, Nr. L 145, S. 143 ff. sowie Art. 6 I 1 der Verordnung (EG) Nr. 1367/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. September 2006 über die Anwendung der Bestimmungen des Übereinkommens von Århus über den Zugang zu Informationen, die Öffentlichkeitsbeteiligung an Entscheidungsverfahren und den Zugang zu Gerichten in Umweltangelegenheiten auf Organe und Einrichtungen der Gemeinschaft, ABl. 2006, Nr. L 264, S. 13 ff.; zur Vertraulichkeitsvermutung im Vorverfahren: EuGH, verb. Rs. C‑514/11 P und C‑605/11 P, LPN, Finnland u. a./Kommission, ECLI:EU:C:2013:738 (Rn. 50 ff.); zur Vertraulichkeitsvermutung im EU-Pilot-Verfahren: EuGH, Rs. C-562/14 P, Schweden/Kommission, ECLI:EU:C:2017:356 (Rn. 38 ff.). 19  Dazu: 2. Teil, C. I. 3. b). 18  Vgl.

412 4. Teil: Imperative und kooperative Kontrollen im Vollzugskontrollsystem

Vollzugs- und Überwachungsakteure aus allen EU-Mitgliedstaaten.20 Während Vertragsverletzungsverfahren in der Praxis nahezu ausschließlich von der Kommission initiiert werden, können Netzwerkprojekte von allen Mitgliedern angeregt werden und neben Vollzugsbehörden auf punktueller oder dauerhafter Basis auch NGOs, Forschungseinrichtungen oder sonstige Interessengruppen einbeziehen. Der Erfolg der Zusammenarbeit hängt von der Mitwirkung aller Beteiligten ab. Für das Vertragsverletzungsverfahren gilt das nur bedingt. Weigert sich ein betroffener Mitgliedstaat etwa im EU-Pilotverfahren oder im formellen Vorverfahren, bilaterale Gespräche zu führen, kann die Kommission das Verfahren auch ohne seine Mitwirkung auf die nächste Stufe versetzen. Zwar trifft sie die Pflicht, dem betroffenen Mitgliedstaat Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben. Macht er hiervon keinen Gebrauch, kann das Vertragsverletzungsverfahren aber dennoch weitergeführt werden. 3. Formelle und informelle Vollzugskontrolle Eine weitere funktionswesentliche Diskrepanz zwischen der imperativ angelegten ersten Säule und der kooperativen Bewältigung von Vollzugs- und Vollzugskontrollproblemen in der zweiten Säule zeigt sich schließlich im Grad ihrer rechtlichen Formalisierung. Das Vertragsverletzungsverfahren ist das förmlichste Instrument, das der Kommission zur Erfüllung ihres Vollzugskontrollauftrags zur Verfügung steht. Da die Eckpunkte des Verfahrensablaufs in Art. 258 ff. AEUV primärrechtlich geregelt sind, verfügt die Kommission bei seiner Handhabung über vergleichsweise wenig Flexibilität. Zwar kommen ihr an einigen Stellen – so etwa bei der Gestaltung des informellen Vorverfahrens, der Bestimmung von Äußerungsfristen, der Entscheidung über die Einleitung des außergerichtlichen Vorverfahrens oder die Erhebung einer Vertragsverletzungsklage – Spielräume zu.21 Die Grundstruktur des Instruments ist in den Art. 258 ff. AEUV jedoch ebenso festgeschrieben wie die Voraussetzungen für eine Verfahrensbeschleunigung in Art. 260 III AEUV. Da bereits die Einleitung des Vertragsverletzungsverfahrens gegen einen Mitgliedstaat mit politischem Ansehensverlust und somit mit einem intensiven Eingriff in die nationale Souveränität verbunden ist, hat die Kommission dem unionsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, dem Gleichbehandlungsgrundsatz, dem Recht auf ein faires Verfahren und dem damit zusammenhängenden Anspruch auf rechtliches Gehör sowie den sich selbst durch Mitteilungen auferlegten Bindungen Rechnung zu tragen. Ein eigenmächtiger Ausbau des Vertragsverlet20  Dazu: 21  Dazu:

3. Teil, A. III. 2. a). 2. Teil, B. V. 1. c) und 2.



A. Herausbildung einer imperativ-kooperativen Zwei-Säulen-Struktur 413

zungsverfahrens durch die Kommission ist aufgrund des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung nur möglich, soweit sie keine neuen impera­ tiven Vollzugskontrollkompetenzen begründet, sondern lediglich – wie etwa durch ihre Strategien zur verstärkten Prioritätensetzung22 oder durch den vermehrten Einsatz finanzieller Sanktionen – von den Spielräumen Gebrauch macht, die in Art. 258 ff. AEUV bereits angelegt sind. Soweit der Kommission mit dem verkürzten Verfahren weitere Befugnisse zur Intensivierung der Drohkulisse des Vertragsverletzungsverfahrens in Fällen der Nichtmitteilung eingeräumt wurden, musste hierfür mit Art. 260 III AEUV eine gesonderte rechtliche Grundlage geschaffen werden. Kooperative Problemlösungsmechanismen zeichnen sich demgegenüber durch ihre charakteristische Informalität aus.23 Wie die Untersuchungen europaweit aktiver Umweltnetzwerke am Maßstab primärrechtlicher Grundlagen im dritten Teil dieser Arbeit gezeigt haben, sind die Netzwerkmitglieder bei der Ausgestaltung ihrer Kooperationsbeziehungen im Unterschied zur Kommission im Vertragsverletzungsverfahren weitgehend frei von unionsprimär- und sekundärrechtlichen Einschränkungen. Da für die Zusammenarbeit in Netzwerken zumindest im Umweltsektor keine mitgliedstaatlichen Kompetenzen an die Unionsebene abgegeben wurden, spielen der Grundsatz der beschränkten Einzelermächtigung sowie das daran anknüpfende Subsidiaritätsprinzip hier keine Rolle. In Ermangelung hoheitlicher Entscheidungsbefugnisse einzelner Netzwerkakteure bzw. des Netzwerks im Ganzen bleiben auch die Anforderungen an die demokratische Legitimation und die rechtsstaatliche Legitimität gering.24 Im Umweltsektor kann sich allein EIONET auf eine sekundärrechtliche Grundlage stützen. Wie die Ausführungen im dritten Teil dazu gezeigt haben, begründet die Verordnung (EG) Nr. 401/2009 selbst jedoch keine neuen Informationspflichten. Vielmehr bezweckt sie die Schaffung eines organisatorischen Rahmens für die effektive Erfüllung anderweitig geregelter Informationspflichten unter Einbeziehung der EUA. Auch bei der Auswahl der in das Netzwerk eingegliederten nationalen Stellen verfügen die Mitgliedstaaten über weite Spielräume.25 Während nationale Vollzugsakteure ihre Zusammenarbeit in Netzwerken also allein an den eigenen Bedürfnissen und dem Interesse am effektiven Vollzug des EU-Umweltrechts ausrichten und gestalten können, bewegt sich die Kommission bei der imperativen Durchsetzung mit Hilfe des Vertragsverletzungsverfahrens in einem deutlich unflexibleren Rahmen. Soweit sie bei der kooperativen Lösung nationaler Vollzugsprobleme gegenüber staatli22  Dazu:

2. Teil, B. V. 1. c) cc). 3. Teil, A. III. 3. a). 24  Dazu: 3. Teil, D. II. 25  Dazu: 3. Teil, C. II. 4. 23  Dazu:

414 4. Teil: Imperative und kooperative Kontrollen im Vollzugskontrollsystem

chen Akteuren ohne rechtliche Anordnungs- oder Entscheidungsbefugnisse auskommt und sich – etwa im Verhältnis zu den hier diskutierten Practitioner Networks IMPEL, NEPA, EUFJE, ENPE und EnviCrimeNet – auf politische und finanzielle Steuerungsmethoden beschränkt, ist die Kommission bei der Schaffung und Förderung neuer kooperativer Problemlösungsmechanismen grundsätzlich freier als beim Ausbau ihres imperativen Durchsetzungsinstrumentariums.

III. Ausbau kooperativer Elemente innerhalb der ersten Säule Während sich die imperative Durchsetzung des EU-Umweltrechts also als im Grundsatz hierarchisch konzipierte formalisierte Kontrolle, bei der der Kommission eine Monopolstellung zukommt darstellt, zeichnet sich die kooperative Problembewältigung durch prinzipiell heterarchische Strukturen aus, die der Zusammenarbeit verschiedener Akteure einen informellen, kaum durch primär- oder sekundärrechtliche Grenzen limitierten Rahmen bieten und auf die Partizipation eines verständigen ressourcenreichen Teilnehmerkreises angewiesen sind. Maßgeblich für das Verständnis der hier dargestellten Zwei-Säulen-Struktur als Beschreibungsmodell des EU-Vollzugskontrollsystems im Umweltsektor sind jedoch nicht nur die erkennbaren funktionswesentlichen Unterschiede zwischen beiden Kontrollkonzepten, sondern ­ferner die Erkenntnis, dass die soeben beschriebenen Merkmale zwar die imperative Durchsetzung einerseits bzw. die kooperative Bewältigung von Vollzugs- und Vollzugskontrollproblemen andererseits in ihrer jeweiligen Ausgangsidee prägen. Beide Säulen als isolierte Gegensätze ohne Bezug zueinander gegenüberzustellen, würde der Vollzugskontrollrealität jedoch nicht gerecht. Vielmehr zeigen die im zweiten Teil dieser Arbeit dargestellten Ergänzungen des Vertragsverletzungsverfahrens, dass im Bereich der entstehungsgeschichtlich älteren ersten Säule nicht nur Versuche unternommen wurden, die imperative Durchsetzungskraft des Vertragsverletzungsverfahrens zu stärken, sondern auch kooperative Elemente eingebaut wurden, um das Instrument im Ergebnis effektiver zu gestalten. Dass das Vertragsverletzungsverfahren nicht völlig ohne Kooperationselemente auskommt, ist keine neue Erkenntnis. Da die Kommission über keine Handlungskompetenzen verfügt, die ihr die Durchsetzung eines Vertragsverletzungsurteils im Wege der Ersatzvornahme, ohne Mitwirkung oder sogar gegen den erklärten Willen des betroffenen Mitgliedstaates ermöglichen würden, bleibt sie letzten Endes immer auf die Kooperationsbereitschaft nationaler Entscheidungsträger angewiesen.26 Zwar wurde das Vertragsverletzungsverfahren in den vergangenen Jahren durch die Einführung des ver26  Dazu:

2. Teil, B. IV. 3.



A. Herausbildung einer imperativ-kooperativen Zwei-Säulen-Struktur 415

kürzten Verfahrens nach Art. 260 III AEUV, den Erlass einstweiliger Anordnungen gemäß Art. 279 AEUV sowie die Verschärfung finanzieller Sanktionen um Komponenten ergänzt, die zweifellos auf eine Steigerung der imperativen Durchsetzungskraft gerichtet waren und die Schwerfälligkeit des Vertragsverletzungsverfahrens abfedern sollten. Darüber hinaus haben jedoch auch Ideen der Netzwerkbildung, Informalität und Partizipation Eingang in das grundsätzlich imperative Durchsetzungsinstrumentarium der Kommission gefunden – so durch die Förderung privater Vertragsverletzungsbeschwerden als Informationsquelle27 sowie durch die Einführung des EUPilot-Verfahrens, das eine strukturierte, technisch und kommunikativ vernetzte Beilegung von Vertragsverletzungsangelegenheiten vor Eröffnung des eigentlichen Verfahrens ermöglichen sollte.28 1. Partizipation durch Vertragsverletzungsbeschwerden Mit der Mobilisierung privater Beschwerdeführender als Informanten über mögliche Unionsrechtsverstöße wurde das Vertragsverletzungsverfahren erstmals um ein partizipatives Element ergänzt, das der Erkenntnis um das Fehlen ausreichender Inspektionsbefugnisse und Kapazitäten auf Seiten der Kommission und dem limitierten Erkenntniswert nationaler Berichtspflichten Rechnung trägt. Zur Entstehung eines Netzwerks mag es hierbei nicht gekommen sein. Der Einbeziehung europäischer Bürgerinnen und Bürger, privater Unternehmen und NGOs liegt jedoch eine ähnliche Idee zugrunde. Anstatt die Übertragung weitreichender Überwachungskompetenzen an die Kommission, die EUA oder ein neu zu schaffendes europäisches Umwelt­ inspektorat gegenüber den souveränitätsorientierten Mitgliedstaaten durchzufechten und die Schwierigkeit einer angemessenen Ressourcenausstattung zu bewältigen, will sich die Kommission das in den Mitgliedstaaten vorhandene Potenzial zunutze machen. Zwar bestehen mit Blick auf den beschränkten Status der Beschwerdeführenden im Vertragsverletzungsverfahren noch immer Möglichkeiten, die europäische Vertragsverletzungsbeschwerde auszubauen und stärker zu gewichten. In der Praxis geht jedoch bereits heute ein beträchtlicher Anteil aller Vertragsverletzungsverfahren auf Beschwerden Privater zurück,29 so dass sich dieses Hilfsinstrument vor allem im Umwelt­ bereich als wichtig erwiesen hat, in dem verständige Einzelpersonen, Unternehmen oder Forschungseinrichtungen oft über größere Sachnähe, tiefere Kenntnisse und einen leichteren Zugang zur Materie verfügen.

27  Dazu:

2. Teil, C. I. 2. Teil, C. II. 29  Dazu: 2. Teil, C. I. 3. c). 28  Dazu:

416 4. Teil: Imperative und kooperative Kontrollen im Vollzugskontrollsystem

Mit der Förderung privater Vertragsverletzungsbeschwerden und der Stärkung der – noch immer sehr limitierten – Verfahrensstellung der dahinterstehenden Beschwerdeführenden wurde das vertrauliche Vertragsverletzungsverfahren zumindest teilweise gegenüber der euro­ päischen Öffentlichkeit geöffnet und eine für beide Seiten lohnende kooperative Beziehung zur Kommission aufgebaut. Unionsbürgerinnen und Bürgern bietet die Vertragsverletzungsbeschwerde die Möglichkeit, eigenes Wissen einzubringen und die Kommission gezielt mit vermuteten Vertragsverletzungen zu befassen. Sie werden in die Lage versetzt, am europäischen Vollzugskontrollgeschehen in eingeschränktem Umfang mitzuwirken und die politische Aufmerksamkeit auf Defizite im mitgliedstaatlichen Vollzugsgeschehen zu lenken. Im Gegenzug reduziert sich der Investigationsaufwand der kompetenziell und ressourcentechnisch schlecht ausgestatteten Kommission durch den Rückgriff auf Augen und Ohren in der Bevölkerung. Die Kommission wird bei der Überwachung des EU-Umweltrechtsvollzugs also entlastet. Ihre praktische Monopolstellung im Vertragsverletzungsverfahren bleibt ihr dennoch unbenommen. Schließlich erhalten Unionsbürgerinnen und Bürger über die Vertragsverletzungsbeschwerde keine Gelegenheit, ein Verfahren nach Art. 258 ff. AEUV selbst zu initiieren oder die in der Frage über die Verfahrenseröffnung über Ermessen verfügende30 Kommission zu einer entsprechenden Entscheidung zu zwingen. 2. Kooperation im informellen Vorverfahren Auch mit der Schaffung des dem Vertragsverletzungsverfahren vorgelagerten EU-Pilot-Verfahrens wurden Ideen aufgegriffen, die ebenso der Entstehung und Einbeziehung europaweit aktiver Umweltnetzwerke zugrunde liegen. Zwar sollte EU-Pilot dem informellen Vorverfahren auch eine klarere Struktur geben. Vor allem ging es jedoch darum, ein Konfliktlösungsinstrument zu schaffen, in dem Mitgliedstaaten und Kommission gemeinsam an der Beseitigung möglicher Vollzugsdefizite arbeiten, um die Einleitung des umständlichen, arbeitsintensiven förmlichen Vertragsverletzungsverfahrens nach Möglichkeit abzuwenden. Hinter dem EU-Pilot-Verfahren steht somit dieselbe kontrollpolitische Vermeidungsmotivation wie sie auch hinter der zweiten Säule kooperativer Problembewältigungsstrategien steht. Wie bei der Zusammenarbeit in Netzwerken setzt die Kommission bei EUPilot auf die Schaffung eines Arbeitsklimas, in dem – verglichen mit dem förmlichen Vertragsverletzungsverfahren – geringerer politischer Druck ausgeübt und eine bereitwillige Kommunikation mit den Mitgliedstaaten gefördert wird. Soweit Vollzugsdefizite nicht auf fehlenden Befolgungswillen, 30  Dazu:

2. Teil, B. V. 1. c) aa).



A. Herausbildung einer imperativ-kooperativen Zwei-Säulen-Struktur 417

sondern etwa auf ein fahrlässiges oder sogar unvermeidbares Unverständnis für die umzusetzenden und anzuwendenden EU-Umweltvorgaben zurückzuführen sind, bietet das EU-Pilot-Verfahren einen Rahmen, in dem die Kommission in Zusammenarbeit mit dem jeweils betroffenen Mitgliedstaat zur Entwicklung von Lösungen beitragen will, um die nationale Rechtslage den Anforderungen des EU-Umweltrechts anzupassen. Zwar steht die Kommission dem betroffenen Mitgliedstaat auch im EUPilot-Verfahren als übergeordnete Untersuchungsinstanz gegenüber, die es letztlich zu überzeugen gilt, von der Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens abzusehen. Der vorgelagerte Kontakt zeigt jedoch ein flacheres hierarchisches Gefälle, das dem Umstand geschuldet ist, dass sich der betroffene Mitgliedstaat gerade noch nicht in der akuten politischen Drucksituation des förmlichen Vertragsverletzungsverfahrens befindet. Das EU-Pilot-Verfahren verdeutlicht somit die Vorzugswürdigkeit kooperativer Lösungen, die aber – im Unterschied zur Zusammenarbeit in Practitioner Networks – nicht von den nationalen Behörden unter sich, sondern von den Mitgliedstaaten gemeinsam mit der Kommission und zudem bereits mit der konkreten Aussicht, zum Betroffenen eines Vertragsverletzungsverfahrens gemacht zu werden gefunden werden sollen. Im Vergleich zur Kooperation in Behördennetzwerken bewirkt EU-Pilot also eine klare graduelle Steigerung des politischen Befolgungsdrucks in Richtung imperativer Durchsetzung, der jedoch noch hinter dem eigentlichen Vertragsverletzungsverfahren zurückbleibt. Das EU-Pilot-Verfahren mag in Anbetracht seines engen Sachzusammenhangs mit dem Vertragsverletzungsverfahren nach hier vertretener Auffassung als Teil der ersten Säule zu qualifizieren sein. Es durchsetzt sie aber mit einem kooperativen Problembewältigungselement. Die Idee einer bilateralen Auseinandersetzung zwischen Kommission und Mitgliedstaat im Vorfeld der Versendung eines förmlichen Aufforderungsschreibens ist zwar nicht neu; bereits vor Einführung des EU-Pilot-Verfahrens wurde im Rahmen des informellen Vorverfahrens versucht, eine einvernehmliche Behebung des Vollzugsdefizits in einem möglichst frühen Stadium zu erreichen. Mit EU-Pilot wurde jedoch der Versuch unternommen, den Kooperationsaspekt durch die Einführung eines einheitlichen, zum Teil automatisierten Verfahrens vor allem in zeitlicher Hinsicht effektiver zu gestalten und somit zu stärken. Zwar gelangt das EU-Pilot-Verfahren in der heutigen Vollzugskontrollpraxis nur noch in seltenen, besonders geeigneten Fällen zur Anwendung. Allein die Einführung des Verfahrens belegt jedoch, dass die Idee der kooperativen Problembewältigung auch bei der imperativen Durchsetzung unionsrecht­ licher Vorgaben präsent ist und von der Kommission gegenüber der Einleitung eines einschneidenden Vertragsverletzungsverfahrens grundsätzlich bevorzugt wird.

418 4. Teil: Imperative und kooperative Kontrollen im Vollzugskontrollsystem

3. Auswirkungen auf die Zwei-Säulen-Struktur der supranationalen Vollzugskontrolle im EU-Umweltrecht Das supranationale System zur Kontrolle des EU-Umweltrechtsvollzugs mag sich im Grundsatz als Zwei-Säulen-Struktur darstellen. Die jeweils prägenden Wesensmerkmale einer Säule stehen der anderen jedoch nicht in einem Exklusivitätsverhältnis gegenüber, das einen gleichzeitigen Rückgriff auf Instrumente beider Säulen ausschließen würde. Zwar bildet das hierarchische, formelle Vertragsverletzungsverfahren, in dem die Kommission eine Monopolstellung innehat, den Kernbereich der ersten Säule, während die heterarchische, partizipative und informelle Kontrolle mit Hilfe von nahezu selbstständig zur Verbesserung nationaler Vollzugsleistungen beitragenden Netzwerken im Zentrum der zweiten Säule steht. Beide Ansätze sind jedoch weniger als unabhängig voneinander zu betrachtende Alternativkonzepte zu sehen, sondern vielmehr als kumulativ tragende Konstruktionspfeiler, zwischen denen sich die Kommission weitgehend frei bewegen kann, indem sie bei ihrer Vollzugskontrolltätigkeit Instrumente beider Säulen nutzt und – solange hierfür keine Übertragung neuer hoheitlicher Kompetenzen erforderlich ist – neue Instrumente schafft, die die hier beschriebene Zwei-Säulen-Struktur bildlich gesprochen um die Statik verbessernde Querstreben oder Verbindungselemente ergänzen. Die zuvor dargestellten, für die imperative Durchsetzung bzw. die kooperative Problembewältigung grundlegenden Wesensmerkmale lassen sich vor diesem Hintergrund als Eckpunkte eines Spektrums verstehen, in dem die Kommission ihre Vollzugskontrolltätigkeit gestaltet. Umso deutlicher wird dies mit Blick auf den Umstand, dass selbst im unmittelbaren funktionalen Zusammenhang mit dem Vertragsverletzungsverfahren und somit ausgehend von der ersten Säule mit der Vertragsverletzungsbeschwerde und dem EU-Pilot-Verfahren Hilfsinstrumente geschaffen wurden, die von Gedanken der Kooperation und Partizipation geprägt sind und sich somit – wiederum bildlich gesprochen – in Richtung der zweiten Säule erstrecken. Ihren imperativen Charakter hat die erste Säule dennoch nicht verloren. Jedenfalls bisher wurden kooperative Elemente lediglich zur Unterstützung bzw. zum Zweck des Ausgleichs kompetenzieller und ressourcentechnischer Defizite im Arbeitsresort der Kommission sowie funktionaler Schwächen des Vertragsverletzungsverfahrens „angebaut“. So sollte die europäische Öffentlichkeit mit Hilfe der Vertragsverletzungsbeschwerde zwar als Informationsquelle bei der Überwachung des EU-(Umwelt-)rechtsvollzugs mobilisiert werden. Zum Aufbau einer echten wechselbezüglichen Kooperationsbeziehung zwischen Unionsbürgerinnen und Bürgern, Unternehmen, NGOs oder anderen privaten Interessengruppen und der Kommission, in der alle Beteiligten auf Augenhöhe zusammenarbeiten, ist es jedoch nicht gekommen. Zwar haben Private über die Vertragsverletzungsbeschwerde die Möglichkeit



B. Technisierung und Digitalisierung als Triebfeder 419

erhalten, Kommissionsuntersuchungen anzuregen. Über rechtlichen Einfluss auf die Einleitung und den Ablauf eines Vertragsverletzungsverfahrens verfügen sie jedoch nicht, so dass die hierarchisch übergeordnete Monopolstellung der Kommission als funktionswesentliche Voraussetzung der imperativen Durchsetzung im Kern unberührt bleibt. Der Einführung des EU-Pilot-Verfahrens lag zwar die Idee einer kooperativen Problembewältigung jenseits der Drohkulisse des förmlichen Vertragsverletzungsverfahrens zugrunde. Mag das EU-Pilot-Verfahren im Hinblick auf sein weniger steiles hierarchisches Gefälle im Vergleich zu dem in Art. 258 ff. AEUV geregelten Vertragsverletzungsverfahren von der imperativen Durchsetzung im „klassischen“ Sinn abweichen, bleibt die Kommission letzten Endes aber auch hier in ihrer für die erste Säule typischen übergeordneten Sonderstellung. Bemerkenswert ist schließlich, dass sich gegenläufige Versuche, die zweite Säule kooperativer Problembewältigungsmechanismen um imperative Elemente zu ergänzen, nicht beobachten lassen – ein Umstand, der nicht zuletzt daraus resultieren dürfte, dass der Kommission für die Schaffung neuer imperativer Durchsetzungsinstrumente zunächst entsprechende Handlungskompetenzen übertragen werden müssten, während der Ausbau kooperativer Elemente in der Regel keinen Eingriff in die nationale Souveränität erfordert. Um auf Grundlage dieser Beobachtung von einem Bedeutungsverlust der ersten Säule sprechen zu können, sind die im Rahmen dieser Arbeit analysierten Versuche, das Vertragsverletzungsverfahren durch Ideen der Kooperation und Partizipation zu verbessern noch zu schwach ausgeprägt. Der Anbau kooperativer Elemente an die erste Säule belegt dennoch einen Bedeutungsgewinn internationaler Formen der Zusammenarbeit sowie die Omnipräsenz des Kooperationsgedankens als Grundlage der EU selbst.

B. Technisierung und Digitalisierung als Triebfederbeider Säulen supranationaler Vollzugskontrolle im EU-Umweltrecht In Anknüpfung an die soeben dargelegte These, wonach in den vergangenen Jahren neben der imperativen Durchsetzung eine zweite Säule kooperativer Problembewältigungsmechanismen entstanden und erstarkt ist, die das supranationale System zur Kontrolle des EU-Umweltrechts mitträgt, lässt sich mit Blick auf die im Rahmen dieser Arbeit durchgeführten Untersuchungen eine zweite These entwickeln – nämlich, dass sowohl der Aufbau der zweiten Säule, dabei allen voran die Herausbildung von Netzwerken in den Bereichen Compliance Promotion und Compliance Monitoring als auch der Ausbau der ersten Säule maßgeblich durch den enormen Fortschritt in den Bereichen Technisierung und Digitalisierung bestimmt wurde.

420 4. Teil: Imperative und kooperative Kontrollen im Vollzugskontrollsystem

I. Technisierung und Digitalisierung als Voraussetzung für die Entstehung und Funktionalität kooperativer Problembewältigungsmechanismen Die Zusammenarbeit in den Practitioner Networks IMPEL, EUFJE, NEPA, ENPE und EnviCrimeNet ebenso wie im Informations- und Beobachtungsnetzwerk EIONET wird maßgeblich durch den Einsatz technischer Hilfs­ mittel geprägt, angefangen von der kommunikationsmedientechnischen Verbindung einer Vielzahl von Akteuren, ohne die die Entstehung vergleichbar weitläufiger Netzwerkstrukturen undenkbar gewesen wäre (1.), über die Bereitstellung von Umweltdaten, Schulungsunterlagen, Studien, Empfehlungen – d. h. des Netzwerk Outputs – die die Einflussreichweite und Wirkungsdimension der Netzwerke definiert (2.), bis hin zur Entwicklung innovativer webbasierter Dienste, die nationalen Vollzugsakteuren die Anwendung des EU-Umweltrechts bzw. des nationalen Transformationsrechts in der Praxis erleichtern sollen (3.) 1. Erschließung schneller Kommunikationswege über das Internet Technisierung und Digitalisierung bilden heute zweifellos einen Schlüsselfaktor für jede Form der Grenzen und Ebenen übergreifenden Zusammenarbeit. Gerade in der geografisch weitläufigen EU lassen sich persönliche Zusammenkünfte zwischen nationalen Vollzugsbehörden oder politischen Entscheidungsträgern nur mit erheblichem Reise- und Organisationsaufwand bewerkstelligen. Mit dem Briefverkehr existierte zwar schon immer ein Kommunikationsmedium, das einen Informationsaustausch über Distanzen hinweg ermöglichte. Gerade im Umweltsektor, in dem ein schnelles Handeln für die Vermeidung irreversibler Umweltschäden entscheidend sein kann, war die Kommunikation auf dem Postweg aber oft zu schwerfällig, um die Durchführung unionsrechtlicher Umweltvorgaben effektiv gewährleisten zu können. Moderne Kommunikations- und Informationstechnologien, vor allem die Erfindung des Internets, haben diese Probleme gelöst, die Funktionsweise von Kommunikationsbeziehungen revolutioniert und die Grenzen und Ebenen überschreitende Zusammenarbeit zwischen nationalen Vollzugsakteuren untereinander sowie im Verhältnis zu den Institutionen der EU deutlich attraktiver gestaltet. Das Internet ist die am schnellsten wachsende Infrastruktur.31 Seitdem Informationen über das Internet in Echtzeit übermittelt werden können, stehen Entfernungen und Standortgebundenheiten flexiblen Rückfragen oder sogar echten Diskussionen völlig unabhängig davon, wo 31  Roßnagel, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann, Verwaltungsrecht in der Informationsgesellschaft, 2000, S. 258.



B. Technisierung und Digitalisierung als Triebfeder 421

sich die Beteiligten geografisch aufhalten, nicht mehr entgegen. Tatsächlich hat das Internet die Kommunikation technisch in einer Weise flexibel, schnell und einfach gestaltet, wie sie zu Beginn der europäischen Integration keinesfalls vorhergesehen werden konnte. 2. Informationsdistribution an eine Adressatenvielzahl Neben dem Zeitfaktor und der Distanz zwischen unionsweit verteilten Kooperationspartnern stand die Zusammenarbeit zum Zweck der Verbesserung des EU-Umweltrechtsvollzugs bzw. seiner Kontrolle auch vor der He­ rausforderung, relevante Informationen einem enorm großen Personenkreis zukommen lassen zu müssen. Musste in der Vergangenheit noch auf Rundbriefe und Veröffentlichungen zurückgegriffen werden, lassen sich Informa­ tionen heute digital über das Internet per E-Mail, über Upload-Plattformen oder Datenbanken einem entweder von Vornherein durch Zugangsrechte festgelegten Benutzerkreis oder sogar der breiten Öffentlichkeit zugänglich machen. Die Reichweite kooperativer Problembewältigungsmechanismen konnte dementsprechend stark ausgedehnt, ihre Popularität durch die einfache Zugänglichkeit und das weite Spektrum nützlicher Informationen gesteigert werden. Technische Möglichkeiten der Informationsdistribution spielen jedoch nicht nur für die Verbreitung des erarbeiteten Netzwerk Outputs eine Rolle. Effektive Kooperation setzt vielmehr bereits die Schaffung gemeinsamer Informationsgrundlagen voraus. Durch die Digitalisierung von Informationen an Stelle ihrer Sammlung in Papierarchiven, ist es um ein Vielfaches einfacher geworden, Informationen schnell mit zahlreichen Akteuren zu teilen, zu verknüpfen, weiterzuverarbeiten, zu speichern und durch den Einsatz von Metadaten auffindbar zu machen, so dass letzten Endes nicht nur die Informationsgeschwindigkeit an Fahrt gewonnen, sondern auch doppelter Informationsbeschaffungsaufwand durch den Ausbau interoperabler digitaler Informationssysteme vermieden werden kann. 3. Entwicklung innovativer technischer Hilfsmittel Neben Verbesserungen der Kommunikationsgeschwindigkeit und Informationsdistribution haben Fortschritte bei der Technisierung und Digitalisierung auch völlig neue Perspektiven eröffnet, die kooperative Problemlösung mit kreativen technischen Hilfsmitteln anzureichern. Sowohl nationale Behörden in Netzwerken als auch die Kommission selbst haben in den vergangenen Jahren verschiedene webbasierte Anwendungen oder sogar ganze Toolkits entwickelt, die nationale Vollzugsakteure bei der praktischen Anwendung

422 4. Teil: Imperative und kooperative Kontrollen im Vollzugskontrollsystem

europäischer Umweltvorgaben oder des nationalen Umsetzungsrechts bei ihrer alltäglichen Arbeit unterstützen sollen. So befasst sich im Rahmen des IMPEL-Netzwerks eine ganze Arbeitsgruppe mit der Entwicklung digitaler Cross Cutting Tools, die politischen Entscheidungsträgern auf allen Ebenen die Ausarbeitung, Durchführung, Überwachung und Evaluation von Klimaanpassungsstrategien und -plänen erleichtern sollen. Der technische Fortschritt bietet vielfältige Möglichkeiten, neue digitale Hilfsinstrumente zu entwickeln und bereitzustellen. Zwar spielten diese Spielereien beim Vollzug des EU-Umweltrechts und seiner supranationalen Kontrolle bisher eine eher ergänzende Rolle. Dass Netzwerke und Kommission in Zukunft immer weitere, in der Praxis mehr oder minder nützliche Unterstützungsinstrumente erarbeiten werden, ist jedoch abzusehen. Ob eine bahnbrechende Innovation dabei sein wird, bleibt abzuwarten.

II. Technisierung und Digitalisierung als Antrieb des Ausbaus des Vertragsverletzungsverfahrens Ebenso wie die Zusammenarbeit in Netzwerken hat die Entwicklung moderner Kommunikationstechnologien auch die Gestaltung des Vertragsverletzungsverfahrens, d. h. der ersten Säule der Vollzugskontrolle geprägt. Soweit die Kommission bei der Überwachung und Durchsetzung des EU-Umweltrechts etwa auf Vertragsverletzungsbeschwerden europäischer Bürgerinnen und Bürger setzt, bietet das für jedermann erreichbare Internet eine schnelle, unkomplizierte Kommunikationsstruktur, die es Beschwerdeführenden leicht macht, ihre Bedenken vorzutragen, Rückfragen zu beantworten, schnelle Reaktionen zu erhalten und somit formale Hindernisse für die Kontaktaufnahme abbaut. Ohne den enormen Fortschritt im Bereich der Telekommunikations- und Informationstechnologie hätte die Vertragsverletzungsbeschwerden ihre hohe Popularität als Informationsquelle der Kommission kaum erreichen können. Auch der Austausch zwischen den Mitgliedstaaten und der Kommission im eigentlichen Vertragsverletzungsverfahren wurde durch die Entwicklung und Benutzung IT-gestützter Kontaktnetze signifikant vereinfacht. Materialien zu Vertragsverletzungsverfahren werden nicht länger in Aktenarchiven gesammelt, sondern in digitaler Form in Datenbanken erfasst.32 Eine OnlinePlattform ermöglicht die direkte Einspeisung und automatisierte Übermittlung verfahrensrelevanter Eingaben, die Überprüfung von den Mitgliedstaaten übermittelter Umsetzungsinformationen und die Vorbereitung von Ver-

32  Dazu:

2. Teil, C. II. 1. b).



C. Wechselwirkungen423

tragsverletzungsverfahren durch die Generaldirektionen der Kommission.33 Zwar bleibt das Vertragsverletzungsverfahren ob seiner mehrstufigen Struktur sperrig. Kommunikationsvorgänge laufen heute aber deutlich schneller und unaufwändiger ab als noch vor 30 Jahren. Auch das Vertragsverletzungsverfahren baut also auf Kontaktnetzwerken zu nationalen Ansprechpartnern auf, die durch technische Innovationen im Informationszeitalter immer engmaschiger und flexibler gestaltet werden.

C. Wechselwirkungen zwischen der Entstehung von Netzwerken und der Technisierung und Digitalisierung des Vollzugskontrollsystems im EU-Umweltrecht Obwohl die Kommission den Kern der Exekutive in der EU bildet, sind ihre finanziellen und personellen Ressourcen, ebenso wie ihre Kompetenzen in Bezug auf die Überwachung und Durchsetzung des EU-Umweltrechts begrenzt.34 Um den kohärenten Vollzug unionsrechtlicher Umweltvorgaben dennoch sicherzustellen, ist sie beim Ausbau ihres Kontrollinstrumentariums in den vergangenen Jahren zweigleisig gefahren: Einerseits wurde die imperative Durchsetzungskraft des Vertragsverletzungsverfahrens durch Kommissionsinitiativen und Strategien, aber auch durch instrumentelle Ergänzungen im Rahmen des Vertrags von Lissabon erhöht und das „klassische“ Vollzugskontrollinstrument aufgewertet. Andererseits hat die Kommission eine starke Säule kooperativer Problemlösungsmechanismen aufgebaut, die den EU-Umweltrechtsvollzug in den Mitgliedstaaten fördern (Compliance Promotion) und seine Überwachung (Compliance Monitoring) verbessern sollen, ohne die Schaffung großer Ressourcenbestände oder die Übertragung weiterer Kon­ trollkompetenzen auf die Unionsebene zu verlangen. Umweltnetzwerke konstituieren in diesem System nicht nur einen elementaren Bestandteil der zweiten Säule, die der Netzwerkbildung zugrunde liegenden Gedanken der Kooperation und Partizipation haben auch Eingang in die imperative Durchsetzung unionsrechtlicher Vorgaben gefunden und somit das supranationale System zur Kontrolle des EU-Umweltrechts in seiner Gesamtheit beeinflusst. Aufbauend auf der hier formulierten zweiten These, wonach Fortschritte in den Bereichen Technisierung und Digitalisierung als Triebfeder für diese Entwicklung anzusehen sind, soll nun eine dritte These formuliert werden. Moderne Kommunikations- und Informationstechnologien haben die Herausbildung pan­ europäischer Umweltnetzwerke nicht nur vorangetrieben. Sie gewinnen auch 33  Zur universellen Vertragsverletzungs-Applikation THEMIS: KOM – ISA2, THEMIS: Managing infringements made easier, 21.1.2021, https://ec.europa.eu/isa2/ news/themis-managing-infringements-made-easier_en (Stand: 14.2.2023). 34  Mastenbroek/Martinsen, JEPP 2018, 422 (422 f.).

424 4. Teil: Imperative und kooperative Kontrollen im Vollzugskontrollsystem

ihrerseits durch den zunehmenden Einsatz von Netzwerken immer stärker an Bedeutung – eine Erkenntnis, die sich aus der Betrachtung der Auswirkungen ergibt, die die Einbeziehung europäischer Practitioner Networks sowie ­EIONET auf das Gesamtkonstrukt der EU-Vollzugskontrolle verursacht hat.

I. Stärkung des Kooperationsgedankens Offensichtliche und unmittelbare Konsequenz ist zunächst, dass durch die Einbeziehung und Förderung der Netzwerke IMPEL, ENPE, EUFJE, NEPA, EnviCrimeNet und EIONET der Kooperationsgedanke gegenüber dem hinter dem Vertragsverletzungsverfahren stehenden, traditionell imperativen Kon­ trollkonzept betont und in erheblichem Umfang gestärkt wurde. Da die Kommission erkannt hat, dass der Umweltsektor auf kooperative Problemlösungsmechanismen angewiesen ist,35 bietet er heute eindrucksvolle Beispiele für den Einsatz entsprechender Instrumente. Zwar kommt dem Vertragsverletzungsverfahren und der exponierten Stellung der Kommission als Aufsichtsinstanz noch immer Bedeutung zu. Mehr denn je erfüllt sie ihre Aufgaben als Hüterin der Verträge aber durch Instrumente und Mechanismen der Zusammenarbeit. Die im Rahmen dieser Arbeit dargestellten Umweltnetzwerke sind insoweit als institutionelle Innovation zu sehen.36 Mag zu Beginn des Netzwerktrends der einfache Gedanke im Vordergrund gestanden haben, gleichgesinnte Personen, die durch dieselben oder ähnliche Herausforderungen geeint werden zusammenzubringen,37 haben sich Umweltnetzwerke heute zu ernstzunehmenden Faktoren im Bereich Vollzug und Vollzugskontrolle entwickelt. Einerseits führen sie wertvolle Expertise in den Bereichen Vollzug und Vollzugskontrolle zusammen. Andererseits sind sie Ausdruck eines Ansatzes, gemeinsame Vollzugs- und Überwachungskapazitäten aufzubau­ en,38 den die Kommission mit finanziellen und politischen Mitteln strategisch beeinflusst und als Agenten in eigener Sache konditioniert.39 In gewisser Weise sind die hier dargestellten Umweltnetzwerke damit Diener zweier Herren, die einerseits den Vollzug auf nationaler Ebene im Eigeninteresse der Mitgliedstaaten fördern, andererseits aber die Vollzugskontrolltätigkeit der Kommission unterstützen.40 35  Tallberg, IO 2002, 609 (634); ebenfalls früh wurde in der Literatur erkannt, dass eine effektive Vollzugskontrolle mittels imperativer top-down gerichteter Mechanismen kaum erreicht werden kann, vgl. Macrory, CMLR 1992, 347 (368 f.). 36  Vgl. Hobolth/Martinsen, JEPP 2013, 1406 (1407). 37  Pink, in: Faure/De Smedt/Stas, Environmental Networks, 2015, S. 31. 38  Mastenbroek/Martinsen, JEPP 2018, 422 (423). 39  Vgl. Levi-Faur, JEPP 2011, 810 (823); Mastenbroek/Martinsen, JEPP 2018, 422 (427). 40  Dahingehend: Egeberg/Trondal, Public Administration 2009, 779 (779).



C. Wechselwirkungen425

Eine vollständige Abkehr vom imperativen Durchführungskonzept ist dennoch nicht zu erwarten. Vielmehr greifen Vertragsverletzungsverfahren und kooperative Problemlösungsmechanismen wie Netzwerke funktional ineinander. Sind Vollzugsdefizite nicht auf willentlichen Ungehorsam, sondern auf einen Mangel an Kapazitäten oder Unklarheiten bei der Normauslegung ­zurückzuführen, macht die zwangsweise Durchsetzung keinen Sinn.41 Während einige politische und ökonomische Probleme supranationalen Unter­ stützungsbemühungen unzugänglich sind, lassen sich Informations- und Fachpersonaldefizite durch Kapazitätsbildungsmaßnahmen und Verständnisschwierigkeiten durch unverbindliche mediative Gespräche mit der Kom­ mission viel eher beheben als im eingriffsintensiven Vertragsverletzungsverfahren.42 Das Durchsetzungsinstrument wird hingegen als ultima ratio für befolgungsunwillige Mitgliedstaaten sowie als latente Bedrohung benötigt, um befolgungsträgen Mitgliedstaaten einen Stoß in die richtige Richtung zu versetzen.43

II. Stärkung der Bedeutung von Technisierung und Digitalisierung Aus der Stärkung des Kooperationsgedankens folgt schließlich eine denklogische Erhöhung des Stellenwerts von Technisierung und Digitalisierung. Die Erfindung internetgestützter Kommunikationstechnologien sowie die zunehmende Informationsdigitalisierung fungierten zunächst als Triebfedern für den Aufbau kooperativer Problemlösungsmechanismen. Ihre Rolle beschränkt sich jedoch nicht auf die eines Entwicklungsmotors. Auch bereits etablierte Kooperationsmechanismen bleiben auf die Nutzung moderner Kommunikations- und Informationstechnologien angewiesen. Zwar haben die im Rahmen dieser Arbeit durchgeführten Untersuchungen gezeigt, dass die imperative Durchsetzung ebenfalls vom technischen Fortschritt profitiert hat. Wirklich funktionswesentlich sind internetgestützte Kommunikationstechnologien und digitale Datenarchive in diesem Bereich allerdings nicht. Das Vertragsverletzungsverfahren existierte bereits vor dem Internetzeitalter. Das Kernstück der ersten Säule der Vollzugskontrolle wurde somit ohne Rücksicht auf technische Erfindungen konzipiert, während die zweite Säule aufbauend auf die verfügbaren kommunikationstechnischen Möglichkeiten 41  Chayes/Hadler Chayes, The New Sovereignty: Compliance with International Regulatory Agreements, 1995, S. 22. 42  Tallberg, IO 2002, 609 (614). 43  Tallberg, IO 2002, 609 (635); Victor/Raustiala/Skolnikoff, The Implementation and Effectiveness of International Environmental Commitments: Theory and Evidence, 1998, S. 683.

426 4. Teil: Imperative und kooperative Kontrollen im Vollzugskontrollsystem

von Grund auf neu errichtet wurde. Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass die Funktionsbereitschaft moderner Telekommunikations- und Informationstechnologien für die Effektivität kooperativer Problemlösungsmechanismen zu den existenziellen Voraussetzungen gehört. Je stärker die zweite Säule innerhalb des EU-Vollzugskontrollsystems an Bedeutung gewinnt, desto stärker steigt somit auch der Stellenwert von Technisierung und Digitalisierung.

Zusammenfassung und Ausblick Den Untersuchungen im Rahmen dieser Arbeit lag die Beobachtung zugrunde, dass die Umsetzung und Anwendung des umfangreichen und komplexen EU-Umweltrechts in den Mitgliedstaaten häufig weit hinter den Erwartungen des Unionsgesetzgebers zurückbleiben. Da die europäischen Umweltziele ohne entsprechend hohes Vollzugsniveau, das in allen Mitglied­ staaten die wirksame und unverfälschte Durchführung des EU-Rechts gewährleistet, nicht erreicht werden können und die Legislativtätigkeit der Union praktisch ins Leere gehen würde, ist die supranationale Vollzugskontrolle des EU-Umweltrechts zunehmend ins Zentrum politischer Aufmerksamkeit gerückt, wobei vor allem die Kommission in ihrer primärrechtlich verankerten Funktion als Vollzugskontrollinstanz und Hüterin der Verträge zahlreiche Initiativen zur Verbesserung und Weiterentwicklung ergriffen hat. Bemühungen, den EU-Umweltrechtsvollzug zu verbessern, sind auch auf mitgliedstaatlicher Ebene erkennbar. Bereits seit den 1990er-Jahren lässt sich beobachten, wie sich nationale Behörden zu Netzwerken zusammenschließen, deren Zielsetzung darauf gerichtet ist, sich im Wege der wechselseitigen Kooperation durch den Austausch von Informationen und Fachwissen dabei zu unterstützen, das Umweltrecht der EU wirksam in die alltägliche Behördenpraxis zu implementieren. Die Kommission, die zur Erfüllung ihres Vollzugskontrollauftrags im Umweltsektor sowohl mit personellen und finanziellen Ressourcenengpässen als auch mit fehlenden Investigations-, Anordnungs- und Sanktionskompetenzen zu kämpfen hat, hat die Entstehung vollzugsunterstützender Netzwerke als potenziell nutzbringende Entwicklung für die Verbesserung des EU-Umweltrechtsvollzugs erkannt und die Förderung der Zusammenarbeit in Netzwerken in ihre eigene Vollzugssicherungsstrategie integriert. Das supranationale Instrumentarium zur Kontrolle des EU-Umweltrechtsvollzugs ist eine undurchsichtige Materie, in die von Seiten der Kommission nur selten Einblicke gewährt wird. Die deutsche Rechtswissenschaft hat sich in der Regel darauf beschränkt, das in Art. 258 ff. AEUV verankerte Vertragsverletzungsverfahren zu untersuchen. Darüber hinaus findet ein wissenschaftlicher Diskurs – speziell auch im Zusammenhang mit der Entwicklung vollzugsunterstützender Netzwerke – überwiegend im englischsprachigen Raum statt. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit sollte dieses in der deutschen Rechtswissenschaft bisher wenig bearbeitete Feld erschlossen und weiteren Untersuchungen zugänglich gemacht werden.

428

Zusammenfassung und Ausblick

I. 1. Teil – Grundlagen Kontrolle wird in den Mitgliedstaaten regelmäßig mit dem Konzept einer übergeordneten Aufsicht mit eigenen Befehls- und Anordnungskompetenzen in Verbindung gebracht. Übertragen auf die supranationale Ebene griffe dieses Verständnis zu kurz. Da die EU bereits in ihren Grundlagen auf dem völkerrechtlichen Konsens der Vertragsstaaten beruht und in Ermangelung eigener Staatsqualität über keine originäre Staatsgewalt verfügt, kann auch der Unionsrechtsvollzug nicht allein im top-down gerichteten, klassisch-imperativen Sinn mittels Befehl und Zwang sichergestellt werden. Heranzuziehen ist vielmehr ein weiter kontrolltheoretischer Maßstab, der jede rechtliche oder faktische Chance als Kontrolle begreift, die geeignet ist, auf das Kontrollobjekt so einzuwirken, dass eine Annäherung des Ist-Zustands an einen angestrebten Soll-Zustand erreicht werden kann.1 Auf Grundlage dieser Konzeption kann Kontrolle auch über bottom-up gerichtete Mechanismen, unter Rückgriff auf den Kooperationsgedanken geleistet werden. Die Kommission hat diese Möglichkeit erkannt und eine dreidimensionale Strategie zur Vollzugssicherung (Compliance Assurance) entworfen, die neben imperativ angelegten Maßnahmen zur Durchsetzung (Enforcement) europäischer Umweltvorgaben auch kooperative Maßnahmen zur präventiven Unterstützung des Unionsrechtsvollzugs (Compliance Promotion) sowie Maßnahmen zur Überwachung (Compliance Monitoring) nationaler Vollzugsleistungen umfasst. Der Vollzug des EU-Umweltrechts hat sich in den vergangenen Jahrzehnten als neuralgischer Punkt erwiesen. Zwar ist die unionsweit wirksame Durchführung umweltrechtlicher Vorgaben nicht nur für die Einheitlichkeit des Binnenmarktes entscheidend, sondern ebenso geeignet, erhebliche ökonomische Entwicklungs- und Gewinnperspektiven im stetig an Bedeutung gewinnenden Green Tech-Sektor zu eröffnen. Von den Mitgliedstaaten wurden europäische Umweltvorgaben oft aber als unerwünschte Einschränkung nationaler Wirtschaftsinteressen wahrgenommen, deren Befolgung es zu vermeiden oder hinauszuzögern galt. Obwohl sich ein europaweites Umweltbewusstsein mittlerweile gefestigt zu haben scheint, scheitert die ordnungsgemäße Umsetzung und Anwendung des EU-Umweltrechts noch immer häufig unfreiwillig am Fehlen entscheidungswesentlicher Umweltinformationen, an mehrdeutig formulierten Legislativakten oder an der Komplexität der Materie, die ein hohes Maß an wissenschaftlicher und technischer Expertise verlangt, Auslegungsschwierigkeiten begünstigt und eine kohärente Einarbeitung in die nationalen Rechtsordnungen erschwert. Hinzu kommt, dass staatliche Rechtsschutzsysteme in der Regel an die Geltendmachung subjektiver 1  Weber,

Wirtschaft und Gesellschaft, 5. Auflage 1972, S. 28.



Zusammenfassung und Ausblick429

Rechtsverletzungen anknüpfen. Vorbehaltlich der Möglichkeit, Verbandsklage zu erheben, existiert für die Durchsetzung im allgemeinen Interesse liegender Umweltschutzbestimmungen durch nationale Gerichte vielfach kein betrof­ fener Kläger. Zu den allgemeinen Schwierigkeiten, die der Unionsrechtvollzug durch die Mitgliedstaaten mit sich bringt, tritt im Umweltsektor somit eine politikbereichsspezifische „doppelte Vollzugsschwäche“2 hinzu, die die Schaffung eines effektiven Kontrollsystems auf supranationaler Ebene unabdinglich macht. Die Kommission, der gemäß Art. 17 I 2 EUV unter der Kontrolle des Gerichtshofs der Europäischen Union ein zumindest theoretisch umfassender Vollzugskontrollauftrag für die Überprüfung sämtlicher Umsetzungs- und Anwendungsmaßnahmen am Maßstab des gesamten EU-Acquis zugewiesen ist, stellt in diesem System die unbestrittene Zentralgestalt dar. Unterstützt wird sie von der EUA, die im Zuge eines anhaltenden Diversifizierungstrends als organisatorisch unabhängige Institution errichtet wurde. Da die Mitgliedstaaten der Schaffung eines europäischen Umweltinspektorats bzw. der Übertragung eigenständiger Investigationsbefugnisse entgegengetreten sind, beschränkt sich ihre Mitwirkung auf informationsverwaltende Leistungen, wie die Sammlung und Aufbereitung umweltrelevanter Daten oder die Bereitstellung nützlicher Kommunikationsstrukturen. Die Entstehung vollzugsunterstützender Umweltnetzwerke fügt sich in diesen Kontext ein – bilden Netzwerke doch eine kooperative, freiwillige und damit souveränitätsschonende Alternative zur Übertragung weitreichender Kontrollkompetenzen auf die Unionsebene. Für das europäische Vollzugsgefüge, in dem die Durchführung unionsrechtlicher Vorgaben prinzipiell den Mitgliedstaaten obliegt, während Organe und Einrichtungen der EU Unionsrecht nur ausnahmsweise selbst vollziehen, hat sich im Schrifttum der Begriff des Vollzugsföderalismus etabliert. Eine organisatorische Trennung zwischen dezentraler und zentraler Ebene bildet die Vollzugsrealität aber vor allem im Bereich des Verwaltungsvollzugs längst nicht mehr zutreffend ab. Mit Blick auf das Interesse, EU-Recht möglichst wirksam durchzuführen, hat sich das Verhältnis zwischen nationalen und supranationalen Vollzugsakteuren über punktuelle Formen der Verwaltungskooperation hinaus zu einem europäischen Verwaltungsverbund ent­ wickelt, in dem die Entstehung von Verwaltungsnetzwerken eine besonders komplex verflochtene Form der Zusammenarbeit beschreibt. Ob Art. 291 I AEUV, der mit dem Vertrag von Lissabon neu eingeführt wurde und den Grundsatz des dezentralen Vollzugs durch die Mitgliedstaaten explizit im Primärrecht verankert vor diesem Hintergrund eine Kompetenzstärkung bewirken oder den kompetenzrechtlichen Grundsatz nur deklaratorisch wieder2  Saurer,

EurUP 2016, 78 (78).

430

Zusammenfassung und Ausblick

geben soll, wird in der Literatur uneinheitlich beurteilt. Mag auch die norm­ interne Systematik des Art. 291 I AEUV im Verhältnis zu Art. 291 II–IV AEUV dafür sprechen, der Regelung einen verbandskompetenzregelnden Gehalt zuzuweisen, können der Norm konkrete Schutzwirkungen zu Gunsten nationaler Verwaltungskompetenzen aber doch bestenfalls eingeschränkt im Sinne eines Kernbereichsschutzes vor missbräuchlichen Übergriffen in die Staatbliche Souveränität entnommen werden.

II. 2. Teil – Das Vertragsverletzungsverfahren als klassisches Vollzugskontrollinstrument und seine Fortentwicklung Ausgangspunkt des supranationalen Vollzugskontrollsystems und integra­ tionsgeschichtlich ältestes Kontrollinstrument ist das im Primärrecht verankerte Vertragsverletzungsverfahren. Als Universalinstrument kann es prinzipiell in sämtlichen Politikbereichen eingesetzt werden. Aus den Jahresberichten der Kommission ergibt sich jedoch, dass Verstöße gegen EU-Umweltrecht besonders häufig zum Gegenstand eines Verfahrens nach Art. 258 ff. AEUV gemacht werden. Da das Vertragsverletzungsverfahren darauf abzielt, die Befolgung unionsrechtlicher Vorgaben erforderlichenfalls unter Überwindung staatlicher Widerstände sicherzustellen und mit ganz erheblichen Eingriffen in die staatliche Souveränität enden kann, kommt ihm im EU-Vollzugskon­ trollsystem noch am ehesten die Funktion eines im klassischen Sinne imperativen Durchsetzungsinstruments mit Aufsichtscharakter zu. Die Kommission tritt gegenüber dem betroffenen Mitgliedstaat als übergeordnete Untersuchungsinstanz, Klägerin und Herrin des Verfahrens auf, in deren Ermessen die Bestimmung des Verfahrensgegenstands, die Einleitung und die Fortführung des Verfahrens stehen; die verbindliche Entscheidung über das Vorliegen einer Vertragsverletzung bleibt entsprechend der ihm gemäß Art. 17 I 3 EUV im Vollzugskontrollsystem der EU zugedachten Rolle dem EuGH vorbehalten. Wie eine genaue Analyse der Funktionsweise des in Art. 258 ff. AEUV verankerten Kontrollmechanismus zeigt, resultiert die Durchsetzungskraft des Vertragsverletzungsverfahrens zu einem großen Teil aus dem Aufbau und der Regulierung politischen Drucks. Die mehrstufige Verfahrensstruktur eröffnet der Kommission flexible Möglichkeiten, einen betroffenen Mitgliedstaat durch die graduelle Steigerung vom bloßen internationalen Ansehensverlust bis hin zur Verhängung finanzieller Sanktionen zur Korrektur unionsrechtswidriger Zustände zu bewegen. Ziel des Vertragsverletzungsverfahrens ist es, dem EU-Recht möglichst schnell zur Wirksamkeit zu verhelfen. Die Feststellung einer Vertragsverletzung durch Urteil nach Art. 260 I AEUV, vor



Zusammenfassung und Ausblick431

allem aber die Verhängung finanzieller Sanktionen sollen mit Blick auf den fehlenden Strafcharakter des Verfahrens ultima ratio bleiben. Doch auch wenn das Vertragsverletzungsverfahren als Instrument mit politischer Wirkungsdimension in den meisten Fällen zum Ziel führt, kommt ihm in rechtlicher Hinsicht nur limitierte Durchsetzungskraft zu. Bis ein erstes feststellendes Vertragsverletzungsurteil ergeht, können aufgrund der mehrstufigen und daher schwerfälligen Verfahrensstruktur mehrere Jahre verstreichen. Zwar knüpft der AEUV an das Vertragsverletzungsurteil eine unionsrechtliche Befolgungspflicht, die im Ergebnis auf die Korrektur des Unionsrechtsverstoßes gerichtet ist. Weder Kommission noch EuGH verfügen aber über die Kompetenz, konkrete Abhilfemaßnahmen anzuordnen. Pauschalbetrag und Zwangsgeld können nach heute unstrittiger Auffassung zwar kumulativ verhängt werden. Da sie aber erst im Anschluss an ein ebenfalls zeitaufwändiges Zweitverfahren drohen und frühestens an die Nichtbefolgung des Ersturteils anknüpfen, bleiben zum Teil langjährige Unionsrechtsverstöße folgenlos. Zeigt sich ein Mitgliedstaat absolut befolgungsunwillig, verfügen die Unionsorgane über keine weiteren Mittel, Vertragsverletzungsurteile zwangsweise zu vollstrecken. Die Durchsetzungskraft des Vertragsverletzungsverfahrens bleibt letzten Endes also stets auf das Vorliegen eines grundlegenden Konsenses über das Bestehen der EU und die Anerkennung der Autorität ihrer Organe angewiesen. Um das Vertragsverletzungsverfahren als Vollzugskontrollinstrument effektiver zu gestalten, seine Durchsetzungskraft zu stärken und Schwächen auszugleichen, wurde in den vergangenen Jahren im Wege von Vertragsänderungen und Verbesserungsinitiativen der Kommission mehrfach „nachgerüstet“. Neben Maßnahmen zur strategischeren Prioritätensetzung bei der Verfolgung von Vertragsverletzungen und einer signifikanten Verschärfung ihrer Vorgehensweise bei der Beantragung von Sanktionsmitteln, hat sich die Kommission um die Einbeziehung europäischer Bürgerinnen und Bürger, privater Unternehmen, Forschungseinrichtungen und NGOs im Wege der Vertragsverletzungsbeschwerde bemüht. Zwar bietet die Vertragsverletzungsbeschwerde gerade im Umweltsektor, in dem die Kommission – abgesehen von Auskunftsrechten – über keine aktiven Investigationskompetenzen verfügt und daher stark auf die vollständige und unverfälschte Mitteilung nationaler Vollzugsmaßnahmen durch die Mitgliedstaaten angewiesen ist, eine wichtige Informationsquelle. Im eigentlichen Vertragsverletzungsverfahren bleiben die Beschwerdeführenden aber weitgehend außen vor. Die Weiterverfolgung einer Vertragsverletzungsangelegenheit können sie nicht erzwingen; auf Drängen des Europäischen Ombudsmanns hat die Kommission lediglich Verfahrensgarantien übernommen, die die Beschwerdeführenden in die Position „privilegierter Informanten“ versetzen und deren Einhaltung der Kon­ trolle durch den Ombudsmann unterliegt.

432

Zusammenfassung und Ausblick

Um das Vertragsverletzungsverfahren zu beschleunigen und seine Schwerfälligkeit zu kompensieren, hat die Kommission mit der Einführung des EUPilot-Verfahrens den Versuch unternommen, das bisherige informelle, dem eigentlichen Vertragsverletzungsverfahren vorgeschaltete Vorverfahren durch ein klar strukturiertes, technisch automatisiertes und durch zeitliche Richtwerte bestimmtes Verfahren zu ersetzen. Unionsrechtsverstöße sollten im Rahmen dieses vertraulichen und mit geringerem politischem Druck verbundenen Schlichtungsverfahrens verstärkt im Wege einer kooperativen Verständigung mit den Mitgliedstaaten korrigiert werden. Doch obwohl EU-Pilot zweifach evaluiert und von der Kommission für nützlich befunden wurde, gelangt das Verfahren heute nur noch in besonders geeigneten Ausnahmefällen zur Anwendung. Eine weitere Möglichkeit, der Schwerfälligkeit des Vertragsverletzungsverfahrens abzuhelfen wurde mit dem Vertrag von Lissabon geschaffen, der mit Art. 260 III AEUV der Kommission nunmehr die Kompetenz einräumt, in Fällen der Nichtmitteilung ein „fast-track“ Verfahren anzustrengen und schon gemeinsam mit der erstmaligen Feststellung einer Vertragsverletzung die Verhängung finanzieller Sanktionen zu beantragen. Schließlich wurde die rechtliche Durchsetzungskraft des Vertragsverletzungsverfahrens auch durch die unionsgerichtliche Anerkennung der Möglichkeit gestärkt, einstweilige Anordnungen gemäß Art. 279 AEUV zu treffen und mit finanziellen Sanktionen zu bewehren, um die vor allem im Umweltsektor drohende Gefahr irreversibler Schäden bis zur abschließenden Entscheidung über das Bestehen bzw. Nichtbestehen einer Vertragsverletzung abzufedern.

III. 3. Teil – Netzwerke im Bereich der Vollzugskontrolle Die Entstehung von Netzwerken zur Unterstützung des EU-Umweltrechtsvollzugs stellt gegenüber dem traditionsreichen, primärrechtlich verankerten Vertragsverletzungsverfahren eine jüngere und weitgehend ungeregelte Entwicklung dar. Aus der Politik- und Sozialwissenschaft entlehnt, bereitete die Rezeption des Netzwerkbegriffs als rechtswissenschaftliche Beschreibungskategorie seit Beginn des Netzwerktrends Schwierigkeiten. Doch auch wenn sich eine einheitliche Netzwerkdefinition ob ihrer diversen Gestaltungsformen im europäischen Kontext nicht etablieren konnte, lassen sich organisatorische, akteursbezogene und tätigkeitsbezogene Charakteristika identifi­ zieren, die eine Annäherung an den deskriptiven Gehalt des Netzwerkbegriffs im rechtswissenschaftlichen Sinne, unabhängig von systemtheoretischen Konzepten als polyzentrische, informelle Organisationsstruktur, die einem Ebenen und/oder Staaten übergreifenden Kreis von Akteuren Raum für eine auf Dauer angelegte, interdependente Zusammenarbeit auf Augenhöhe bietet, ermöglichen.3



Zusammenfassung und Ausblick433

Unter Bezugnahme auf den europäischen Kooperationsgedanken identifiziert die Kommission die Förderung der Zusammenarbeit staatlicher Hoheitsträger, die in der alltäglichen Vollzugspraxis mit der Durchführung des EUUmweltrechts befasst sind, in sog. Practitioner Networks als wichtigen Compliance-Promotion-Mechanismus. Das vollzugsfördernde Potenzial dieser Kooperationsform ist offensichtlich. Die Vernetzung nationaler Vollzugsakteure erleichtert nicht nur die Staaten und Kompetenzgrenzen überschreitende Koordination nationaler Behördenaktivitäten, sie ermöglicht auch einen regen Austausch entscheidungsrelevanter Informationen, bewährter Vollzugspraktiken, die Vermittlung umwelttechnischen Sachverstandes und somit den Aufbau fachlich versierter Personalbestände im Zuge eines Prozesses des gegenseitigen Lehrens und Lernens. Da Practitioner Networks in der Regel auf zwischenstaatlicher Ebene, ohne Beteiligung einer EU-Institution in bottom-up gerichteten Initiativen errichtet werden und freiwillig bzw. nahezu selbsttätig zur Verbesserung des EU-Umweltrechtsvollzugs in den Mitgliedstaaten beitragen, erleichtert ihre Tätigkeit den Vollzugskontrollauftrag der Kommission, ohne dass letztere dafür eigene Personalressourcen einsetzen oder um die Übertragung weiterer imperativer Kontrollkompetenzen streiten müsste. Im Umweltsektor haben sich mit dem Netzwerk der Europäischen Union für die Implementation und Durchsetzung des Umweltrechts (engl.: European Union Network for the Implementation and Enforcement of Environmental Law; IMPEL), dem Netzwerk der Leitungen Europäischer Umweltschutzbehörden (engl.: Network of the Heads of Environment Protection Agencies; NEPA), dem Europäischen Netzwerk für Umweltkriminalität (engl.: European Network for Environmental Crime; EnviCrimeNet), dem Europäischen Netz der Staatsanwälte für Umwelt (engl.: European Network of Prosecutors for the Environment; ENPE) und dem Europäischen Forum für Umweltrichter (engl.: European Union Forum of Judges for the Environment; EUFJE) Netzwerke für Umweltinspektoren, oberste Umweltbehörden, Polizeibeamte, Staatsanwälte und Richter mit Bezug zur Durchführung des EU-Umweltrechts gebildet. Bedeutendstes Netzwerk und Prototyp ist dabei das IMPELNetzwerk, das sich nach dem Vorbild des global aktiven Internationalen Netzwerks für die Einhaltung und Durchsetzung von Umweltvorschriften (engl.: International Network for Environmental Compliance; INECE) aus dem 1992 gegründeten Chester-Netzwerk entwickelt hat. Heute arbeiten im Rahmen von IMPEL mehr als 55 Mitglieder aus 36 Staaten in verschiedenen 3  Ähnlich: Dilling, in: Knill/Lenschow, Implementing EU-Environmental Policy, 2000, S. 63; Kahl, in: Holoubek/Lang, Verfahren der Zusammenarbeit von Verwaltungsbehörden in Europa, 2012, S. 29; Sydow, Verwaltungskooperation in der EU, 2004, S.  78 f.

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Zusammenfassung und Ausblick

Umweltthemenbereichen zusammen,4 um sich u. a. durch die Bewertung nationaler Umweltinspektionssysteme, die Ausarbeitung von Leitfäden, die Bereitstellung von Schulungsunterlagen oder die Entwicklung technisch innovativer Hilfsmittel beim Vollzug des EU-Umweltrechts gegenseitig zu unterstützen. Mag sich die Kommission zunächst selbst als IMPEL-Mitglied aktiv an der Zusammenarbeit beteiligt und direkten Einfluss auf die Netzwerktätigkeit ausgeübt haben, gehört sie heute nicht mehr zum eigentlichen Mitgliederbestand. Anstatt über die GD ENV organisiert zu werden, verfügt IMPEL über eine formal unabhängige, der Kommission nicht beigeordnete privatrechtliche Trägergesellschaft, die das Netzwerk leitet und verwaltet. Die Kommission hat sich indes auf die Position einer von außen dirigierenden Kraft zurückgezogen, von der aus sie IMPEL sozusagen als selbsttätig vollzugsfördernde Arbeitsgemeinschaft in die Sicherstellung des mitgliedstaatlichen EU-Umweltrechtsvollzugs einschalten und durch finanziellen und politischen Einfluss in gewissem Umfang steuern kann. Während sich ähnliche Verselbstständigungsprozesse auch in der Entwicklungsgeschichte von ENPE und EUFJE beobachten lassen, gehört zum Mitgliederbestand des NEPA neben obersten staatlichen Umweltbehörden und vergleichbaren nationalen Einrichtungen auch die EUA, die als EU-Institution eine direkte Verbindung zur supranationalen Ebene herstellt. Während die meisten Practitioner Networks, wie IMPEL, intergouvernemental errichtet wurden, ist EnviCrimeNet das Resultat eines Ratsbeschlusses aus der Unionssphäre, das bis heute von der europäischen Institution Europol betreut wird und über keine eigene Trägergesellschaft verfügt. Auch wenn die von der Kommission benannten Practitioner Networks also in ihrer Struktur und Arbeitsweise gewisse Gemeinsamkeiten aufweisen, bestehen gravierende Unterschiede hinsichtlich des Grades ihrer organisatorischen Selbstständigkeit, ihrem Mitgliederbestand und der Art ihrer Entstehung, so dass Practi­ tioner Networks im Umweltsektor als äußerst heterogene Materie anzusehen sind. Dass Netzwerke nicht nur im Bereich Compliance Promotion eine Rolle spielen, zeigt das Europäische Umweltinformations- und Beobachtungsnetzwerk (engl.: European Environment Information and Observation Network; EIONET), das im Bereich Compliance Monitoring von der EUA, d. h. von einer EU-Institution als Zentralgestalt geleitet und betrieben wird. Während sich Practitioner Networks auf die Verbesserung nationaler Vollzugspraktiken konzentrieren, steht im Rahmen von EIONET die Sammlung, Aufbereitung und Bereitstellung umweltbezogener Informationen im Vordergrund, die ­sowohl nationale Stellen bei rechtlichen oder politischen Vollzugsentschei4  IMPEL, About IMPEL, o.  D., https://www.impel.eu/en/about-impel (Stand: 14.2.2023).



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dungen, insbesondere aber die Kommission bei der Überwachung des EUUmweltrechtsvollzugs unterstützen sollen. Eine zentrale Rolle bei der informationellen Zusammenarbeit im Rahmen von EIONET spielen der Einsatz moderner Kommunikationstechnologien sowie die Digitalisierung umweltbezogener Datenbestände. Als Bestandteil des europaweiten, gemeinsamen Umweltinformationssystems SEIS, tragen vor allem internetgestützte Datenübermittlungs- und Archivierungstechnologien dazu bei, die netzwerkinterne Umweltinformationsverwaltung zu vereinfachen, EIONET mit anderen Informationssystemen kompatibel zu gestalten, Datenströme zu optimieren und sicherzustellen, dass entscheidungsrelevante Informationen die verantwort­ lichen staatlichen und europäischen Entscheidungsträger erreichen bzw. ihnen weitgehend barrierefrei zugänglich sind. Am Maßstab primärrechtlicher Grundlagen betrachtet, stößt die Errichtung und Einbeziehung europaweit aktiver Umweltnetzwerke in den Bereichen Compliance Promotion und Compliance Monitoring auf keine ernsthaften Bedenken. Da die vollzugsfördernde Zusammenarbeit in Practitioner Networks freiwillig erfolgt, bieten sie eine ressourcen- und souveränitätsschonende Kompromisslösung gegenüber der Übertragung unionseigener Kon­ trollkompetenzen. Dass netzwerkintern erarbeitete Leitlinien und Praxisempfehlungen keine rechtliche Bindungskraft entfalten und dementsprechend auf die freiwillige Implementation in die nationale Vollzugspraxis angewiesen sind, macht die Zusammenarbeit in Practitioner Networks auch nicht per se ineffektiv. Wie in jeder konsensual geprägten Arbeitsbeziehung hängt die Wirksamkeit der Kooperation vom Engagement der Beteiligten ab. Practitioner Networks folgen insoweit „quasi-marktwirtschaftlichen“ Gesetzmäßigkeiten. Die effektive Mitwirkung der Netzwerkmitglieder an der Zusammenarbeit sowie die Befolgung des Netzwerk Outputs durch Vollzugsakteure in den Mitgliedstaaten dürfte jedenfalls so lange gesichert sein, wie dies ihren Eigeninteressen entspricht. Da Practitioner Networks keinen formalisierenden rechtlichen Vorgaben unterliegen, bieten sie prinzipiell ein ausreichendes Maß an Flexibilität, um die Netzwerktätigkeit an den realen Bedürfnissen ihrer Mitglieder auszurichten und gleichzeitig ihre Konnexität mit dem europäischen Interesse an der Verbesserung nationaler Vollzugsleistungen sicherzustellen. Im Umweltsektor existiert gegenwärtig kein Netzwerk, das über eine Kompetenz zum Erlass verbindlicher Rechtsakte verfügt. Zwar können netzwerkintern erarbeitete Empfehlungen oder Leitlinien einen gewissen faktischen Befolgungsdruck erzeugen und somit steuernden Einfluss auf den Vollzug des EU-Umweltrechts in den Mitgliedstaaten ausüben. Mit dem Soft Law der Kommission vergleichbare faktische Bindungskraft kommt diesen Arbeitsergebnissen allerdings nicht zu, so dass die Instrumentalisierung europäischer Practitioner Networks durch die Kommission zu Vollzugskontroll-

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zwecken keiner gesonderten unionsrechtlichen Grundlage bedarf und daher – trotz des Fehlens eines Rechtsrahmens – nicht gegen den Grundsatz der beschränkten Einzelermächtigung verstößt. Da ein Eingriff in die Vollzugskompetenz der Mitgliedstaaten durch die freiwillige Zusammenarbeit in Netzwerken nicht stattfindet, wird auch der in Art. 291 I AEUV formulierte Grundsatz des dezentralen Vollzugs nicht untergraben. Das auf Unionsebene anerkannte Demokratieprinzip stellt ebenfalls keine erheblich einschränkenden Anforderungen. Mag es der Zusammenarbeit in Practitioner Networks an einer unionsrechtlichen Grundlage und somit an einer legitimierenden Entscheidung des Unionsgesetzgebers fehlen, lassen sich die beteiligten Hoheitsträger doch stets einem bestimmten Staat zuordnen und somit auf ein Staatsvolk zurückführen. Alternative Demokratietheorien sehen zudem die Möglichkeit, ein angemessenes Legitimationsniveau durch ergänzende Legitimationsstränge bzw. Legitimationsbausteine herzustellen und demokratische Input-Defizite durch outputorientierte Kriterien, wie etwa ein besonderes Maß an Leistungsfähigkeit bei der Realisierung gemeinwohlorientierter Integrationsziele, partizipative Elemente oder ver­ fahrensrechtliche Vorkehrungen zu kompensieren. Zieht man den outputorientierten Effektivitätsgedanken heran, wirkt der in Practitioner Networks vorhandene technokratische Sachverstand zusätzlich legitimationsstiftend. Schließlich dürfen primärrechtliche Legitimationsanforderungen auch deshalb nicht zu streng bemessen werden, weil die Entscheidung, die Arbeitsergebnisse europäischer Compliance Promotion Netzwerke in die nationale Vollzugspraxis einzuarbeiten stets den über ihr jeweiliges Staatsvolk legitimierten nationalen Vollzugsakteuren überlassen bleibt. Für das Umwelt­ informations- und Beobachtungsnetzwerk EIONET gilt insoweit ähnliches. Da EIONET im Unterschied zu den Practitioner Networks mit der Verordnung (EG) Nr. 401/2009 auf einer formalrechtlichen Grundlage beruht, vermittelt ihm sogar der Unionsgesetzgeber ein gewisses Maß an demokratischer Input-Legitimation, die neben der Zuordnung der Netzwerkmitglieder zu den Verwaltungsapparaten der Mitgliedstaaten legitimationsstiftend wirkt. Weder begründet die weitgehende Weisungsunabhängigkeit der EUA, die ihre Informationsverwaltungstätigkeit jenseits klassisch-hierarchischer Verwaltungsstrukturen wahrnimmt, einen Legitimationsverstoß. Noch lässt die Arbeits­ effektivität der hochspezialisierten EUA Zweifel am Bestehen eines ausreichenden Legitimationsniveaus, gemessen an effektivitäts- bzw. outputorientierten Kriterien. Auch an der Vereinbarkeit umweltrelevanter Netzwerke mit dem eng an das Demokratieprinzip geknüpften Rechtsstaatsprinzip bestehen keine ernsthaften Zweifel. Zwar ergibt sich aus dem Rechtsstaatsgedanken ein Gebot der Verantwortungsklarheit, dem die Zusammenarbeit zwischen diskutierenden, sich gegenseitig beeinflussenden Netzwerkakteuren in Practitioner Net-



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works kaum gerecht zu werden scheint. Solange sich Practitioner Networks aber auf rein unterstützende Tätigkeiten beschränken und keine eigenen Entscheidungskompetenzen ausüben, bleibt die Implementation des unverbindlichen Netzwerk Outputs von der klar zurechenbaren Anwendungsentscheidung staatlicher Hoheitsträger abhängig. Auch EIONET wird lediglich beratend bzw. unterstützend tätig. Macht eine staatliche oder europäische Stelle von dem über EIONET bereitgestellten Informationsangebot Gebrauch, lässt sich die Entscheidungsverantwortung eindeutig der informationsbeziehenden Stelle zurechnen. Obwohl die Bereitstellung von Umweltinformationen zur Schaffung einer verlässlichen Informationsgrundlage beiträgt und somit denklogisch auch Einfluss auf den Entscheidungsinhalt nimmt, kommt es zu keiner Verantwortungsverwischung.

IV. 4. Teil – Imperative und kooperative Kontrollen als Träger des Vollzugskontrollsystems im EU-Umweltrecht: Beschreibungsmodell und Thesen Das supranationale Vollzugskontrollsystem im EU-Umweltrecht wurde in den vergangenen Jahrzehnten neben dem eher klassisch-imperativ auf die Durchsetzung unionsrechtlicher Vorgaben gerichteten Vertragsverletzungsverfahren zunehmend auf kooperative Problembewältigungsmechanismen gestützt, zu denen insbesondere die Zusammenarbeit in den Practitioner Networks IMPEL, NEPA, ENPE, EUFJE und EnviCrimeNet sowie im Umweltinformations- und Beobachtungsnetzwerk EIONET gehört. Bildlich gesprochen hat sich somit eine Zwei-Säulen-Struktur entwickelt, die das EUVollzugskontrollsystem im Umweltsektor trägt und in deren Rahmen die Kommission kooperative und imperative Vollzugskontrollmechanismen miteinander kombinieren und bedarfsgerichtet anwenden kann. In ihren grundlegenden Wesensmerkmalen lassen sich beide Säulen zunächst klar unterscheiden. Die Funktionsweise des imperativen Vertragsverletzungsverfahrens basiert zuvorderst auf dem Aufbau politischen Drucks über eine hierarchische Struktur innerhalb eines primärrechtlich verankerten, weitgehend formalisierten Rechtsrahmens, wobei der Kommission eine übergeordnete Monopolstellung zugewiesen ist. Die Zusammenarbeit in Netz­ werken verlangt demgegenüber ein heterarchisches, möglichst informelles Arbeitsklima ohne direkte Kommissionsbeteiligung, in das sich nationale Fachbehörden einbringen sollen, ohne Bedenken haben zu müssen, zum Betroffenen eines Vertragsverletzungsverfahrens gemacht zu werden. Um die Verfahrenseffektivität zu steigern, wurde jedoch auch das Vertragsverletzungsverfahren in den vergangenen Jahren um kooperative Elemente ergänzt, die den imperativen Charakter dieser ersten Säule der Vollzugskontrolle mit Blick auf ihre noch untergeordnete Bedeutung zwar nicht in Frage stellen,

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dennoch aber gewisse Verbindungselemente zur zweiten Säule kooperativer Problembewältigungsmechanismen schaffen. So wurde das Vertragsverletzungsverfahren mit der Stärkung der Vertragsverletzungsbeschwerde um ein partizipatives Element ergänzt, das das prinzipiell hermetisch zwischen Kommission, EuGH und betroffenem Mitgliedstaat durchgeführte Verfahren in eingeschränktem Umfang für private Beschwerdeführende öffnet. Daneben wurde mit dem als Schlichtungsmechanismus konzipierten EU-PilotVerfahren der Vorrang konsensualer Lösungen gegenüber einschneidenden finanziellen Sanktionen betont. Das supranationale System zur Kontrolle des EU-Umweltrechtsvollzugs mag sich also im Grundsatz als Zwei-SäulenStruktur darstellen, die für die imperative Durchsetzung bzw. die kooperative Pro­blembewältigung grundlegenden Wesensmerkmale sind jedoch eher als Eckpunkte eines Spektrums zu verstehen, in dem die Kommission ihre Vollzugskontrolltätigkeit flexibel ausübt. Eine Gemeinsamkeit beider Säulen besteht in der Bedeutung, die der voranschreitenden Technisierung und Digitalisierung als Triebfeder neuerer Entwicklungen zukommt. Während moderne Kommunikationstechnologien – insbesondere die Entwicklung des Internets – im Rahmen des Vertragsverletzungsverfahrens die Kommunikation zwischen Kommission und Mitgliedstaat erleichtert und beschleunigt haben, ist ihre Bedeutung für den beobachteten Ausbau kooperativer Problembewältigungsmechanismen noch sehr viel wesentlicher. Hier eröffnet das Internet nicht nur neue unkomplizierte Kommunikationswege. Die Entstehung weitreichender Netzwerke in den Bereichen Compliance Promotion und Compliance Monitoring, wie sie heute existieren, wäre ohne den technischen Fortschritt der vergangenen Jahre gar nicht erst denkbar gewesen. Die Möglichkeit, Informationen und Arbeits­ ergebnisse in digitaler Form bereitzustellen und auszutauschen, erhöht nicht nur die Reichweite dieser Netzwerke, sondern auch ihre Kompatibilität. Internetgestützte Hilfsmittel, die den praktischen EU-Umweltrechtsvollzug erleichtern sollen, existieren schon heute. Ob sich die Zusammenarbeit in Practitioner Networks künftig noch stärker darauf richten wird, innovative digitale Unterstützungswerkzeuge zu entwickeln, bleibt abzuwarten. Bereits jetzt lässt sich allerdings beobachten, dass Technisierung und Digitalisierung ihrerseits im Sinne einer Wechselwirkung durch den Ausbau europaweit verzweigter Netzwerke im Bereich der EU-Vollzugskontrolle weiter an Bedeutung gewinnen.

V. Ausblick Im Umweltsektor haben sowohl imperative Durchsetzungsinstrumente als auch kooperative Problembewältigungsmechanismen ihre Daseinsberechtigung. Moderne technische Kommunikationsmöglichkeiten, die die Vernet-



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zung nationaler Vollzugsakteure mit wenig Aufwand zulassen, haben jedoch vor allem den kooperativen Kontrollansatz erstarken lassen, so dass die Kommission neben ihrer Rolle als Untersuchungsinstanz, computersprachlich ausgedrückt, verstärkt als Host, Systemmoderator oder Netzwerkorchestrator auftritt. Die Entstehung paneuropäischer Netzwerke in den Bereichen Compliance Promotion und Compliance Monitoring und ihre Einbeziehung in das Compliance-Assurance-Konzept der Kommission hat den Charakter der Vollzugskontrolle somit weiter vom national geprägten imperativ-hierarchischen Aufsichtskonzept fortgeschoben. Da ein plötzlicher Sinneswandel der Mitgliedstaaten dahingehend, der Kommission oder anderen Unionsinstitutionen einschneidende Inspektions- und Anordnungsbefugnisse zu übertragen in naher Zukunft nicht zu erwarten ist, kann davon ausgegangen werden, dass sich die Entwicklung des EU-Vollzugskontroll-instrumentariums auch weiterhin schwerpunktmäßig auf die Schaffung kooperativer Problemlösungsmechanismen konzentrieren wird. Das Netzwerkkonzept wird dabei sehr wahrscheinlich eine Rolle spielen. Da die Schaffung eines einheitlichen europäischen Netzwerkrechts bisher nicht angedacht ist, bleibt mit Spannung abzuwarten, welchen Kurs vor allem die bisher völlig ungeregelten Practitioner Networks wie IMPEL, EUFJE, ENPE, NEPA oder EnviCrimeNet in Zukunft einschlagen werden. Der Vergleich mit (Regulierungs-)Netzwerken in anderen Politikbereichen zeigt, dass Potenzial für eine weitergehende rechtliche Institutionalisierung vorhanden ist. Die Kommission und der Unionsgesetzgeber müssen hierbei jedoch erwägen, ob Netzwerke im Umweltsektor einer stärkeren Formalisierung gegebenenfalls in Kombination mit der Zuweisung eigener Regulierungs- oder Entscheidungskompetenzen überhaupt bedürfen oder ob es den Bedürfnissen nationaler Vollzugsakteure doch eher entspricht, Netzwerken ihre weitgehende rechtliche Bindungslosigkeit und die damit einhergehende Flexibilität bei der Ausgestaltung interner Kooperationsbeziehungen zu belassen.

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Stichwortverzeichnis Agencification  78, 266 Agenturen  78 ff., 101, 266 Amtshilfe  262, 272 Aufsicht  42, 46, 70, 246, 389 Aufsichtsbehörde  170, 380 ff. Auskunftsrechte  170 ff. Auslegungsmonopol  73, 86 Bürgerbeschwerde siehe Vertrags­ verletzungsbeschwerde Bürgerinitiative  196 CHAP  194 f. Compliance Assurance  46 ff., 247 ff., 428 Compliance Enforcement  47 f., 104, 247, 325, 406 ff., 428 Compliance Monitoring  47, 247 f., 308 f., 333 f., 350 ff., 405, 428 Compliance Promotion  47, 247 f., 276 ff., 307 f., 309 f., 325, 349 ff., 404 f., 428 Datenbank  106, 209, 274 f., 343, 422 Delegierte Rechtsakte  222, 362 f. Demokratieprinzip  372 ff. Digitalisierung siehe Technisierung und Digitalisierung Direktwirkung von Richtlinien  205 Doppelte Vollzugsschwäche  64, 429 Durchführung  34 f., 38 f., 93 ff. Durchführungsrechtsakte  95, 222, 362 Durchsetzung siehe Compliance Enforcement ECAS  195 ECN  358 f. e-Curia  184

Effektivitätsgrundsatz  87, 91 f., 232 f., 260 Einstweilige Anordnung  236 ff., 415, 432 EIONET  334 ff., 359 f., 360 f., 379 ff., 391 f., 434 ff. Enforcement siehe Compliance Enforcement Enforcement-Management-Debatte  44 f., 407 ENPE  278, 317, 321 ff. EnviCrimeNet  278, 317, 320 f. EUA  78 ff., 311 ff., 334 ff., 379 f. EUFJE  278, 314 ff. EU-Pilot  205 ff., 243 f., 245, 416 f., 432 Europäischer Bürgerbeauftragter  200 ff., 383 Fast-track Verfahren siehe Verkürztes Verfahren Finanzielle Sanktionen  121, 135 ff., 241 f. − Berechnung  139 ff. − Pauschalbetrag  135 ff., 149, 164 − Zwangsgeld  135 ff., 149, 164 Forum für den Vollzug des Umweltrechts und die Umweltordnungspolitik  277 f., 370 GD CLIMA  70 GD ENTR  70 GD ENV  33, 70, 187, 293, 317 General and persistent infringements  142 GEREK  396, 399 ff. Gerichtshof der Europäischen Union  76 f. Good Governance  188

462 Stichwortverzeichnis Green Tech  53 ff., 428 Grundsatz der beschränkten Einzel­ ermächtigung  88, 260, 360 ff., 413, 436 IMPEL    277 f., 283 ff., 326, 349 f., 433 f. − Arbeitsweise  297 ff. − Aufbau  287 ff. − IMPEL a.i.s.b.l. 284, 286, 287 f., 294 ff., 349 − IMPEL-ESIX  303 − IRI  299 − Netzwerkmitglieder  292 f. − PREVENT  301 f. − SPIDER WEB  302, 316 − SWEAP  303 f. − Verhältnis zur Kommission  293 ff. Individualklage  77 INECE  282 Informationelle Zusammenarbeit  256 f., 274, 348, 435 Informations- und Kommunikations­ technologien  275, 298, 340 ff., 354, 422, 425 f. Informationsdefizit  57 f., 170, 314 Informationskooperation siehe Informationelle Zusammenarbeit Informationspflicht  173 ff., 413 − Berichtspflichten  174 ff. − Informationsbeschaffungspflicht  177 f. − Mitteilungspflicht  174 ff., 184 f., 221 ff. − Unterrichtungspflichten  174 Informationssystem  274 f., 343 f., 352 Initiativfunktion  68 ff., 152 Inspektion  171 ff., 178 ff., 299 f., 303 f. Inspektorat  25, 172 f., 299, 325 f. Institutionelle und verfahrensmäßige Autonomie  91 f., 131, 133, 240, 362 Internet  252, 273 f., 354, 420 ff., 438 Investigation  168, 170 ff. − Aktive Investigation  170 ff. − Passive Investigation  173 ff.

Kommission  46 ff. − Gegenüber Beschwerdeführenden  197 ff. − Im IMPEL  293 ff. − Im Vertragsverletzungsverfahren  151 ff., 162 f., 233 f., 411 f. − Im Vollzugskontrollsystem  68 ff. Kommunikation  168, 207 ff., 271 Kommunikationsrecht  198, 200 Kompetenzordnung  357 ff. Kontrolle − Begriff  41 ff. − Imperative Kontrolle  29, 44, 243 f., 406 ff., 437 f. − Kontrollverbund  83 − Kooperative Kontrolle  29, 42 ff., 244, 406 ff., 437 f. Kooperation  42 ff., 90 f., 254 f., 333 f., 424 f. − Kooperationspflicht  182, 345 − Kooperationsprinzip  259 ff., 353 − Kooperative Problembewältigung  407 ff. − Verwaltungskooperation  90, 259 f., 263 ff. Koordination  44, 62 f., 255 f., 348 LIFE  306, 307 Loyale Zusammenarbeit  85, 90, 260, 362 f. Monitoring siehe Compliance Moni­ toring NEPA  278, 310 ff. Netzwerke  27, 29 f., 82 f., 247 ff., 432 ff. − Behördennetzwerk  259, 265, 279 f. − Heterarchie  268 f., 327, 388 f., 410 − Informalität  271 f., 297, 232, 399, 413 − Kontinuität  272 f. − Netzwerk Output  270, 366 f., 390 − Netzwerkphänomen  266 − Polyzentrität  267 f., 377, 388

Stichwortverzeichnis463 − Repräsentation  270 f. − Rezeption  252 ff. − Transnational  270 Nichtigkeitsklage  130, 157, 383 Nichtmitteilung  39 f., 168, 181, 184 f., 193, 222 ff. Ökoindustrie  54 ff. Ombudsmann siehe Europäischer Bürgerbeauftragter Organisatorisches Trennungsprinzip  84, 89, 259 f., 388 Partizipation  198 f., 254, 352, 411, 415 f., 424 Petitionsrecht  193 Practitioner Networks  279 ff., 325 ff., 333 f., 377 ff., 390 f., 410 f. Rechtsstaatsprinzip  386 ff. REFIT  189 Regulatory gap  29 Regulierungsnetzwerke  394 ff. Reportnet  342 Repräsentationsdefizit  63 f. RMCEI  179 ff., 299 f. SEIS  344 f. Selbstbindung  158 ff., 229 Soft Law  309, 363 ff., 366 ff., 390, 435 Technisierung und Digitalisierung  208 f., 274, 419 ff., 423 ff. THEMIS  209 Überwachung siehe Compliance Monitoring Umweltbewusstsein  58 ff. Umweltdaten  170, 334 f., 347 f., 351 f., 353 Umweltkriminalität  318 f. Umweltvereinbarungen  355 f. Unionsrechtsvollzug siehe Vollzug Ursachen für das Vollzugsdefizit  48 ff.

Verbandsklage  64, 151, 429 Verfahrensautonomie siehe Institutio­ nelle und verfahrensmäßige Autonomie Verkürztes Verfahren  218 ff. Vertragsverletzungsbeschwerde  189 ff., 216, 415 f. Vertragsverletzungsverfahren  104 ff., 409 ff., 430 ff. − Aufsichtsklage  114 − Beweislast  117, 142, 168, 170, 182 − Dauer  183 ff. − Durchsetzungskraft  129 ff., 187, 414 f., 423 − Ermessen  153 ff., 202, 245 − Erstverfahren  115 ff. − Folgenbeseitigung  131 ff. − Formelles Vorverfahren  115 ff. − Gerichtliche Verfahrensphase  118 ff. − Informelles Vorverfahren  116, 205 ff. − Kapazitätsgrenzen  30, 186 f. − Mahnschreiben  115 ff., 163 f., 167 − Prioritäten  159 ff. − Sanktionsurteil  121 f., 136, 149, 164 ff. − Staatenklage  114, 162 f. − Staatshaftung  147 f. − Vertragsverletzungsurteil  119 f., 130 ff. − Vollstreckung  143 ff., 239 − Zweitverfahren  120 ff., 135, 164 ff. Verwaltungsverbund  29, 89 ff., 263 ff., 374, 387, 429 Verwaltungsverfahren  91 f., 262, 387 f. Vollzug  34 ff., 83 ff. − Administrativer Vollzug  88 ff., 259 ff., 357 − Begriff  34 ff. − Dezentraler Vollzug  88 f., 93 ff., 260, 357 ff. − Legislativer Vollzug  85 ff. − Zentraler Vollzug  88 f., 260

464 Stichwortverzeichnis Vollzugsdefizit  39 ff., 48 ff. Vollzugsföderalismus  84, 93 ff., 366, 429 Vollzugskompetenz  88, 92, 187, 357 ff., 366 ff. Vollzugskontrolle siehe Kontrolle

Vorabentscheidungsverfahren  71 ff., 151, 159 Wettbewerbsrecht  70, 104, 357 f. Zugang zu Dokumenten  202 f., 411